Geschichte der deutschen Poetik: Band 4 Das neunzehnte Jahrhundert [Reprint 2014 ed.] 9783110856811, 9783110053296


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German Pages 756 [760] Year 1959

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Table of contents :
VORWORT ZUM VIERTEN BAND
INHALT DES VIERTEN BANDES
Einleitung
I. Das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik
Klassizistische Sonderbestrebung: Der Münchener Dichterkreis
II. Die politische Tendenz-Programmatik und Weltanschauungs-Ästhetik
III. Die Zielprägung des ideellen und „poetischen” Realismus
IV. Gattungstheoretische Sonderbeiträge
Exkurse und Anmerkungen
I. Exkurse zur werkimmanenten Poetik
II. Exkurse zur fachwissenschaftlichen Poetik
III. Anmerkungen
Verzeichnis der Begriffe, Merk- und Kennwörter
Verzeichnis der Namen
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Geschichte der deutschen Poetik: Band 4 Das neunzehnte Jahrhundert [Reprint 2014 ed.]
 9783110856811, 9783110053296

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GESCHICHTE DER DEUTSCHEN P O E T I K IV

GRUNDRISS DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE UNTER M I T W I R K U N G ZAHLREICHER FACHGELEHRTER

BEGRÜNDET VON

H E R M A N N PAUL WEIL. ORD. P R O F E S S O R DER D E U T S C H E N P H I L O L O G I E AN DER U N I V E R S I T Ä T M Ü N C H E N

13/IV

BERLIN

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT ic COMP.

1959

GESCHICHTE DER DEUTSCHEN POETIK VON

BRUNO MARKWARDT PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT GREIFSWALD

BAND IV: DAS NEUNZEHNTE JAHRHUNDERT

BERLIN

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - K A R L J . TRÜBNER - VEIT Sc COMP.

1959

© Archiv-Nr. 4 3 0 3 5 9

— Printed in Germany — Copyright 1 9 3 9 by Walter d- Gruyter Äc C o . , Berlin

Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdruckes, der photomtchanischen Wiedergabe-, der H< r s t ü l u n g von Photokopien

und Mikrofilmen,

Satz: Walter de Gruyter & C o . , Berlin W 3 5

auch auszugsweise,

vorbehalten

D r u c k : T h o r m a n n & G o e t s c h , Berlin

VORWORT ZUM VIERTEN BAND Ähnlich wie Band II und III im Gesamtkomplex dieser „Geschichte der deutschen Poetik" eine Einheit in sich bilden, die die gemeinsame Einleitung (Band II, S. 1—24) sichtbar zu machen versuchte, greift auch die Einleitung zum vorliegenden vierten Band bereits über auf Band V, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts würdigen will. Wenn der „Konsequente Realismus" (Naturalismus) diesem Band V zugewiesen und nicht schon hier mitbehandelt wurde, so waren zunächst technische Gründe der Raumverteilung bestimmend. Aber gleichzeitig waren Erwägungen des rechten Ansatzes für das 20. Jahrhundert beteiligt. Denn es ergibt sich aus dieser Verlagerung auch ein nicht unwesentlicher Vorteil. Fast alle bedeutenden Richtungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Neuromantik, Neuklassik und Expressionismus finden ihre Position vorerst einmal durch die Opposition gegen den Naturalismus. Insofern mag jene Verschiebung eine gewisse Berechtigung haben. Der vorliegende Band IV führt also vom Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik bis zu den gattungstheoretischen Sonderbeiträgen im Raum und Rahmen des ideellen und poetischen Realismus. Der „Exkurs zur fachwissenschaftlichen Poetik" ergab sich aus der Entwicklung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die bewährte Gruppe der helfenden Kräfte — Dr. Gustav E r d m a n n , Inge S c h w e l g e n g r ä b e r und meine Frau Irmgard M a r k w a r d t - O e s e r — und ihr selbstloser Einsatz für die Sache blieben dieselben wie in Band III; so bleibt auch mein Dank entsprechend nachdrücklich und herzlich. Etwas knapp vielleicht. Aber dieses Mal mui3 ein besonderes Wort des Dankes dem Verlag gelten, der gleichsam zusätzlich zur Poetik noch die mir zum heutigen Tage gewidmete Festschrift übernommen hat. Nicht nur der Termin des Abschlusses dieses vierten Bandes legt diesen Hinweis auch sachlich nahe, sondern ebenso der Umstand, daß eine ganze Reihe der Festschriftbeiträge das Sondergebiet der Literaturphilosophie, Poetik und Kunsttheorie betreffen, während andere es berühren, wieder andere es nach der sprachlichen und

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VORWORT ZUM VIERTEN BAND

sprachphilosophischen Seite hin ergänzen oder Probleme der Publizistik und Theaterwissenschaft einbeziehen. Auch darf ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, schon an dieser Stelle den zahlreichen Mitarbeitern der Festschrift meinen fast beschämten Dank auszusprechen für die geistig gewichtigen Geschenke, die sie auf den Geburtstagstisch des Jubilars vielfach als völlig unerwartete Überraschungen gelegt haben. Der fünfte Band ist in seinen wesentlichen Teilen bereits gesetzt worden. Nur die Anmerkungen bedürfen noch der Ergänzung. Greifswald, den 19. April 1959 Bruno Markwardt

INHALT DES VIERTEN BANDES Seite

Vorwort

V

Einleitung

ι

I. Das Wegsuchen zwischen Nachklassik romantik (einschließlich „Biedermeier" realismus) Klassizistische Dichterkreis

Sonderbestrebung:

und Nachund Früh22

Der Münchener 113

II. Die politische Tendenz-Programmatik und Weltanschauungs-Poetik (Junges Deutschland und Vormärz)

146

III. Die Zielprägung des ideellen und „poetischen" Realismus

256

IV. Gattungstheoretische Sonderbeiträge

336

Exkurse und Anmerkungen I. Exkurse zur werkimmanenten Poetik

417

II. Exkurs zur fachwissenschaftlichen Poetik

486

III. Anmerkungen Verzeichnis der Begriffe, Merk- und Kennwörter Verzeichnis der Namen

510 . . . .

699 740

Einleitung Es darf angeknüpft werden an die Einleitung von Band II (dort S. 1—24), die sich bemühte, die Entwicklung des dichterischen Kunstwollens von der Aufklärung bis zur Romantik stichworthaft zu skizzieren und damit Band III einbezog. Bei aller Abstufung war dort eine gewisse Einheit gesichert durch das Streben zum Kunstwerk hin. Man näherte sich im Kunstwollen zunächst einmal diesem idealen Kunstwerk, bald durch verfrühte Vorwegnahme (Aufklärung), und man nährte sich zuletzt von seiner scheinbar unerschöpflichen Substanz (Romantik). Dazwischen lag die jugendliche Infragestellung des in der Aufklärung vorschnell Verlangten (Sturm und Drang) und die reife Fraglosigkeit des Erreichten (Klassik). Alles dies bewegte sich im Raum und Rahmen der „Kunstperiode", anfangs tastend, dann jugendlich anspruchsvoll, weiterhin in gesicherter Gestaltung und schließlich im Verwalten und Verändern des überkommenen Erwerbs. Wenn aber Heinrich Heines herbes Wort vom „Ende der Kunstperiode", bei deren Abgrenzung nach rückwärts schwerlich die Aufklärung gebührend zur Geltung kam, zu Recht bestand, so hatten das 19. und 20. Jahrhundert von vornherein und dann immer wieder zu kämpfen gegen das Urteil und Vorurteil, eigentlich nicht mehr den Geist und den Wert der „Periode" bestimmen zu können. Vom dichterischen Kunstwollen her gesehen, bedurfte es also verdoppelter Anstrengungen, um die einstige Geltung auch weiterhin geltend zu machen, um mit der dichterischen Aussage das früher erworbene Anrecht und den früher erhobenen Anspruch irgendwie zu behaupten und zu bestätigen. Kein Wunder, daß die forcierten Talente in die Bresche springen mußten, wo die schöpferischen Geister versagten, daß die Haltung hinwegtäuschen mußte über die teilweise mangelnde Gestaltung, daß die Quantität des gehobenen Mittelmaßes auszugleichen suchte, was an Qualität des spontanen Kunstvermögens gebrach. Kein Wunder auch, daß man sich angewiesen sah auf ein Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik wie späterhin zwischen Neuklassik und Neuromantik. Denn den Trumpf, den man zeitweise in der Hand zu haben glaubte, den Realismus, konnte man nur ausspielen in einem von 1

Markwardt,

Poetik

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vornherein problematischen Zusammenspiel mit eben den Gewalten, die das Ende der „Kunstperiode" anzukündigen scheinen: den Naturwissenschaften, der Technik, der „Wirtschaft", der „Gesellschaft". Nach dem Ansatz, der an Goethes schöne Gegenständlichkeit anknüpfte, nach dem Frührealismus, der zugleich die Wirklichkeit des Wunders der Romantik abbaute und das Wunder der Wirklichkeit der jüngeren Romantik ausbaute, glaubte der ideelle und „poetische'' Realismus eine Synthese gefunden zu haben. Aber bei näherem und schärferem Zusehen enthüllte sie sich als eine vorschnelle Notlösung, die aus der motivischen, inhaltlichen Not eine gestaltungsmäßige, formale Tugend sich zu gewinnen meinte. Und der „konsequente" Realismus (Naturalismus) belehrte sie reichlich schonungslos, aber in seiner Art und von seinem „Ansatz" her wahrhaftig, dahingehend, daß ein echter Realismus beim nur „Poetischen" schlechterdings nicht stehenbleiben dürfe. Wiederum mußte der „poetische" Realismus sich überprüfen und überrunden lassen vom „politischen" Realismus nach der inhaltlichen Seite hin, vom romantisierenden, gleichsam magischen Neurealismus (Surrealismus) nach der „formalen" Seite hin. Kurz, auch der Realismus, der den Ausweg aus der Ausweglosigkeit gefunden zu haben hoffte, blieb ein Versuch, das Ende der Kunstperiode noch etwas (und zwar zeitlich beträchtlich) hinauszuzögern, ganz abgesehen davon, daß sich sehr bald Stimmen anmeldeten, die gegen die äußere Wirklichkeit die innere Wirklichkeit, gegen das Wirkliche das Wahre, gegen das Wunder der Wirklichkeit die Wirklichkeit des Wunders, in welcher Form und Fassung immer, zur Geltung zu bringen suchten (Kulminationspunkt: Existenzialphilosophie). — Schon inzwischen war die Echtheit des Gestimmtseins gegen die Bestimmtheit und exakte Bestimmbarkeit des Wahren, weil Wirklichen und daher vermeintlich Echten, wirksam und künstlerisch wirkungsvoll ausgespielt worden (Neuromantik). Und die Religion wurde immer erneut — bis in die Gegenwart hinein — als die machtvolle Gegenspielerin und Verbündete der Poesie aufgesucht, wo man sich von der Naturwissenschaft in der poetischen Kernsubstanz bedrängt und bedroht fühlte. Anfangs freilich hatte man den Gegner nicht gar so ernst genommen, indem man das „Maschinenwesen" noch relativ zuversichtlich in das Kunstwesen einzubauen unternommen hatte (Goethes „Wanderjahre"). Man sah damals noch die poetischen

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Seiten, etwa die graziösen Bewegungen der Heimarbeiterinnen beim Garnbereiten usw. Dadurch angeregt, hat man es zunächst einmal (und längere Zeit hindurch) mit einer „Poetisierung der Technik" versucht, um dem Gegner den Wind aus den Segeln zu nehmen. Friedrich Hebbel läßt noch die Könige an dem grandiosen Spinnennetz der Telephonleitungen „weben", und Gerhart Hauptmann gewinnt dem nächtlichen D-Zug lyrisch-romantische Werte ab. Bis in die Gegenwart hinein sucht der Dichter mit Hilfe der poetischen Technik der Phantasie der herzlos wirklichen Technik der Industrie irgendwie die „poetischen" Möglichkeiten abzusehen und nicht selten mit rührender (bis erschütternder) Geduld immer erneut abzuringen. Aber im edlen Eifer entging ihm häufig genug die Gefahr eines Umschlagens und Umspringens seiner „Poetisierung der Technik" in eine entseelende „Technisierung der Poesie". Er erkannte nicht, daß man ihm dort, wo sein deutender Finger feingliedrig eingriff, zugleich die ganze gestaltende Künstlerhand nahm oder doch weitgehend lähmte. Er glaubte die Kunst der Technik durch seine Kunsttechnik entwaffnen und entgiften zu können. Ja, es reizte ihn geradezu, den Wettbewerb zwischen der Kunst der Technik und der Technik der Kunst aufzunehmen, und zwar nicht nur im Raum utopischer Zukunftsromane. Es wurde schon ein Epos (Hebbels „Mutter und Kind") und ein lyrisches Gedicht (G. Hauptmanns „Im Nachtzug") erwähnt. Die gesamte „Arbeiterdichtung" bemüht sich um eine Poetisierung selbst des an sich Unpoetischsten: der Fabrik und ihrer Arbeitsgänge, nachdem schon frühzeitig die Dampfkraft „verdichtet" worden war. Es wäre ungerecht zu behaupten, daß die Dichter der „Forderung des Tages" und so ihrer Pflicht ausgewichen seien. Bis zum Visionären und Ekstatischen hin versuchten sie mit ihren Darstellungsmitteln die technische Entwicklung in der formenden Gewalt zu behalten und sie durch Konzentration zu überbieten (Georg Kaisers „Gas" u. a. im Expressionismus) . Andere wieder suchten sich der Aussichtslosigkeit eines derartigen Wettbewerbs zu entziehen. Ihnen war bewußt, daß man den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben konnte. Sie verwarfen die Entscheidung und Vermischung der „unbegrenzten Möglichkeiten" des Technischen und arbeiteten auf eine reinliche Scheidung hin. Man flüchtete in das Konservative überzeitlicher Kunstnormen und Kunstformen (Münchener Dichterkreis und Neu1*

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klassik) oder in die Reservate des Schönen schlechtweg (Kreis um Stefan George) oder in das Rauschhafte der Stimmung jenseits aller Nutzwerte und Zweckwirkung (Neuromantik). Man machte geltend in der Theorie und gültig für die Praxis, daß die Kunst vorab eine Form und der Mensch vorab eine Seele habe. Man rief triebhafte Gewalten und Gegenkräfte zur Hilfe (Frank Wedekind), um das Urmächtige des Organischen vom Übermächtigen des Mechanischen freizukämpfen. Man berief sich auf das Biologische (E. G. Kolbenheyer), um dem Logischen mathematischen Gepräges standhalten zu können, und man suchte das Stampfen der Maschinen und das Rattern der Motoren zu übertönen nicht durch Lautstärke, sondern durch das geheimnisvolle Aufklingen des Glasperienspiels (H. Hesse). Weltdeutung wurde dergestalt ausgespielt gegen Weltgeltung. Kein Wunder, daß zeitweise dem Weltanschauungsroman die nächste Zukunft zu gehören schien, wobei zugleich seine lange Vernachlässigung als Kunstwert, aber auch seine lange Vorbereitung als Kunstgattung wesentlich mitgewirkt haben dürfte. Dieses kaum noch erwartete Aufholen des Romans gegenüber den bislang (zum mindesten in der Kunsttheorie) bevorzugten Gattungen betrifft nicht nur die deutsche Nationalliteratur (Th. Mann, H. Hesse, E. G. Kolbenheyer, R. Musil, H. Broch), sondern auch die Weltliteratur. Sollte am Ende das „epische Theater" nur ein Eingeständnis dieser Entwicklung und ein Einverständnis mit dieser Erscheinung darstellen, so sehr es immer seine theatralischen Sonderrechte anmelden mag ? Freilich droht zeitweise der Spezialistenroman (der Spezialkenntnisse auch beim Leser voraussetzt) wiederum seinerseits einen Wettbewerb mit dem wissenschaftlichen Spezialistentum aufzunehmen. Aber auch das „epische Theater" B. Brechts erhebt Anspruch, ein „wissenschaftliches" Theater zu sein („Theater eines wissenschaftlichen Zeitalters"). Das würde, vereinfacht und vergröbert gesagt, eben doch bedeuten, daß die Kunst auf Umwegen und nach Umwegen wiederum dem Sog der wissenschaftlichen Hauptströmung nachgibt, um zuletzt willig-widerwillig in sie einzumünden. Wie einst das 19. Jahrhundert im Stadium einer Poetisierung der Technik stand, würde also die Gegenwartsdichtung des 20. Jahrhunderts im Zeichen einer „Poetisierung der Wissenschaft" schlechtweg stehen. Und wenn das 19. Jahrhundert zunächst den Historismus hervortreibt als künstlerisch nicht allzu gerade gewachsenes Gebilde die-

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ser Arbeitsgemeinschaft von Poesie und Wissenschaft, wenn dann (und teilweise noch heute) die Naturwissenschaft die Richtung des Wettlaufs mit dem „poetischen" Schatten bestimmt, so wäre vielleicht die Philosophie (ob Existenzialphilosophie oder Gesellschaftsphilosophie) der Richtungsweiser einer jüngeren Spielform jener wissenschaftlich sich ausweisenden „Poesie". Selbst die Heimatkunst, lange Zeit ein verläßlicher Zufluchtsort für alle Wissenschaftsmüden, beginnt mehr und mehr den Ehrgeiz zu entfalten, die wissenschaftliche Volkskunde als repräsentativen Ausweis für ihr Daseinsrecht in Anspruch zu nehmen. Man schlägt geduldig das Wörterbuch des Volksaberglaubens nach, bevor man die volkstümlichen Gespenster in Bewegung zu bringen wagt. Bestünden nicht mehr die Unabwägbarkeiten der dichterischen Phantasie, man wöge dem Dichter die Anteile fein dosiert und wissenschaftlich fein doziert zu, die seinem Wohlbefinden dienlich sind oder es zu sein vorgeben. Bestünde nicht mehr die Unerklärbarkeit der dichterischen Formung (denn von Kunsttechnik und Verfahrensweisen ist hier die Rede nicht), so würde eine kunstgerechte Planung auch die kunstechte Vollendung von vornherein in sich einschließen. Die Romantik hatte es noch verhältnismäßig leicht, die Naturwissenschaft mit der Poesie zu versöhnen, weil damals die „Nachtseiten" der Natur im Vordergrunde auch des wissenschaftlichen Interesses standen. Aber mit den Grellheiten der Tagesbeleuchtung fertig zu werden, die schon den Naturalisten blendeten (und verblendeten), dürfte ein poetisch weit schwierigeres Unterfangen sein. Die vermeintliche Überwindung dieser Schwierigkeiten durch den Naturalismus, der glaubte, den Stier bei den Hörnern genommen zu haben, ohne zu bemerken, daß er von dem Stier auf die Hörner genommen worden war, endete nicht von ungefähr bei einer „Überwindung des Naturalismus" (H. Bahr, auch S. Lublinski). Und längst totgesagte Lebenskräfte der Dichtkunst beanspruchten erneut und ζ. T. recht erfolgreich ihr an sich theoretisch verleugnetes und praktisch scheinbar verlorenes Lebensrecht (Neuklassik, Neuromantik, Heimatkunst). Aber man sagte den Dichtern nicht nur, daß die Naturwissenschaft oder die Wissenschaft überhaupt, für die die Naturwissenschaft mit Vorliebe fungierte, das moderne Schicksal und der Sinn des Lebens, jedenfalls eines sinnvollen, weil zweckvollen Lebens sei. Nicht nur Napoleon machte es Goethe klar, daß die Politik das moderne „Schicksal" sei. Und Ludolf Wienbarg beteuerte und be-

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dauerte, daß in Deutschland die „ästhetische Bildung viel zu früh gekommen" sei, während vernünftigerweise die „politische" Bildung der „ästhetischen" vorauszugehen habe {,,Ästhetische Feldzüge" , 1834). Die Politik sollte aber in Wirklichkeit und für die Wirklichkeit des gegenwartsnahen Menschen nicht nur das „Schicksal" ersetzen, sondern auch die Religion. Sie wurde als Religion des Diesseits postuliert, manifestiert, demonstriert und folglich auch poetisiert. Während in der Dichtung der Freiheitskriege das Politische weitgehend in Deckung gebracht wurde mit dem Nationalen und Volkstümlichen (genauer: Volkswürdigen), begann es im „Jungen Deutschland" mehr und mehr das scharfe Profil des Parteipolitischen anzunehmen, obwohl die ganze Schein-Revolution wesentlich im literarisch-ästhetischen Bereich „verlief" .vorging und verging. Und nur wenige hielten es mit Freiligrath, der den Dichter (wenigstens zunächst) höher stellen wollte als auf die „Zinnen der Partei". Die Ablösung der Religion des „Jenseits" durch die Politik als Glaubens- und Heilslehre des „Diesseits" spiegelt sich unverkennbar in der bevorzugten Stoßrichtung der Jungdeutschen gegen den Kirchenglauben und die kirchlichen Institutionen. Im Naturalismus ging diese Heilslehre des Diesseitsglaubens — also die Politik — bereits eine Waffenbrüderschaft ein mit der damals modernen Naturwissenschaft. An die Stelle der Religionskritik (L. Feuerbach, D. Strauß u. a.) trat bereits die Gesellschaftskritik. Kunstwollen und Kunstschaffen, Theoretisieren und Produzieren paßten sich dieser Wandlung in der Gewichtsverlagerung der Schwerpunkte entsprechend an. Doch behielt die Religionskritik die Funktion eines Begleitmotivs, während das Leitmotiv in der angedeuteten Weise ausgewechselt worden war. Gegen Kriegsende und nach dem ersten Weltkriege, gegen Ausgang des zweiten Weltkrieges und nachher wiederholten sich ähnliche Vorgänge in situationsgemäß abgewandelter Form und mit ständig zunehmender idealer und realer Gewalt. Und wenn Joseph von Eichendorff als letzter, später Ritter der Romantik noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint hatte, daß die fruchtbaren Revolutionen von der Religion ausgegangen seien (vgl. Band III), so war man jetzt, gestützt durch die historische Wirklichkeit, überzeugt, daß Revolutionen nur von der Politik ausgehen und fruchtbar sich entfalten könnten. Kurz, die religiöse Zweckbindung der Dichtkunst im 16. und 17. Jahrhundert, die von der

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Zweckbefreitheit und Eigengeltung der Kunst im 18. Jahrhundert abgelöst worden war (wobei es sich immer nur um vorherrschende Tendenzen und Haltungen handelt, vgl. Einleitung zu Band I), während die Romantik nach dem vorübergehenden Primat der Philosophie die Prävalenz der Religion erneut manifestiert hatte (Z. Werner, Eichendorff), wich besonders in den genannten Epochen des 19. und 20. Jahrhunderts einer politischen Zweckbindung, die zur Zweckverpflichtung als gesellschaftliche Funktion der Dichtkunst veredelt, programmatisch und prinzipiell verankert und auch im Kunstschaffen weitgehend verwirklicht oder doch angestrebt wurde. Das Kunstwollen hatte sich mit dem politischen Wollen auseinanderzusetzen, wobei der Dichter naturgemäß und zeitgemäß nicht mehr „mit dem König gehen", auch nicht nur mit dem Volk gehen, sondern mit dem Politiker gehen sollte. Wo er sich seine Position aus der Opposition gewann, blieb er doch mittelbar der Zeitpolitik zugeordnet und oft auch untergeordnet. Aus dem „rückwärtsschauenden Propheten" sollte nicht nur ein „moderner" Mensch (A. Holz), sondern ein vorausblickender Propagandist werden. Die Form wurde dabei nur insoweit geduldet, als sie Wirkungsform war, die versprach und verbürgte, den Inhalt wirksam zu verstärken. In allen derartigen Epochen (schon seit der Aufklärung) pflegt die Bewertung des Inhalts als des Trägers der Idee zu überwiegen. Die Poesie hat zu veranschaulichen, was eigentlich gemeint ist. Der Dichter hat zu demonstrieren, was der Politiker formuliert. Die Fabel ist die Hauptsache; die Dichtung hat „fabelhaft" zu wirken. Sie ist Gesinnungsdichtung im Dienst der Gemeinschaft. Die Künstlerpersönlichkeit hat sich der Gruppenpersönlichkeit hinzugeben. Und jene gewinnt, soweit diese gewinnt. Das Opfer des Künstlers verstärkt seine Geltung, indem er die Gültigkeit der Gesellschaft bestätigt. Die religiöse Erbauungsliteratur findet dergestalt ihr Gegenstück in der politischen Anschauungsliteratur, indem die religiöse Läuterungsdichtung ersetzt wird durch die politische Erläuterungsdichtung. Ob und inwieweit das Kunstwollen nur verharrt beim Veranschaulichen oder ein Vergegenständlichen erreicht, ob überhaupt das Wollen stärker sich durchsetzt als die Kunst, kann hier nicht im Einzelnen erörtert und belegt werden. Nicht alles, was nicht reine Konjunktur ist, ist deshalb schon reine Kunst. Aber auch: nicht alles, was nicht reine Form ist, ist deshalb schon „Unpoesie". Und die skeptische

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Frage, ob man streckenweise denn überhaupt noch „Kunst" wirklich „wollte", ist leichter aufzuwerfen als zu beantworten, wie es leichter ist, das „Rechte" zu wollen als das Gerechte zu wirken, nicht nur in der Kunst, auch in der Kunstkritik und in der Kunstgeschichte. Es scheint daher ein gewagtes Unternehmen zu sein, auch für den hier zu würdigenden Zeitraum die Kunstleistung am Kunstwollen zu messen und gerecht abzuschätzen, ganz einfach deshalb, weil schon die Echtheit und Unmittelbarkeit des Kunstwollens vielfach in Frage steht und damit auch der Wertungsmaßstab. Gewiß wechselte auch in früheren Kunstperioden oder von Periode zu Periode durchweg der Wertungsmaßstab. (Und nicht nur Julius Petersen klagt über den „Paßzwang der Polarität".) Aber der Maßstab wechselte mit dem Kunstwollen, das an sich und in sich jeweils gesichert und relativ gefestigt war. Außerdem beschleunigt sich die Ablösung und die Auswechselung der Kunstrichtungen und ihrer „Programme" in einem Grade, der mehr von Nervosität als von Kraft zeugt. Man kuriert an der Kunst fast soviel herum wie an der Erziehung. Und es erhebt sich die bange Frage, ob diese Schnellkuren (denn alles muß möglichst schnell gehen), die das Ende der „Kunstperiode" aufhalten sollten, es nicht umgekehrt beschleunigten. Man gewinnt nämlich nicht den Eindruck, daß diese „Schnelligkeit" mit der „Schnelligkeits"-Vorstellung im früheren Genie-Begriff zusammenhängt. Man gewinnt eher den Eindruck, daß sie mit der Schnelligkeit der Technik in einen gewagten Wettbewerb geraten ist. Da sich Programme leichter aufstellen als verwirklichen lassen, tritt das Kunstschaffen häufiger in Widerspruch zu dem Kunstwollen, und häufiger noch bleibt es hinter ihm zurück. Ja vielfach kommt es gar nicht erst zum Tragen. Damit sind keineswegs nur oder vorzugsweise die politisch gefärbten Literatur-Programme gemeint. Auch in der Neuklassik etwa entspricht die Kunstleistung nicht entfernt dem hohen Kunstanspruch, mindestens ebensowenig wie im „Jungen Deutschland", das klug genug war, den reinen Kunstanspruch der Poesie zugunsten der Prosa (im engeren und weiteren Sinne) von vornherein gleichsam freiwillig einzuschränken. Daß sich freilich in und bei dieser Beschränkung nun sogleich der „Meister" gezeigt habe, wird kaum jemand ernstlich behaupten wollen; er müßte dann schon an Heinrich Heine denken, der als Dichter jedoch mehr Romantiker einerseits und Realist andererseits war und eben aus dieser Span-

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nung ein „Kunstwerk", aber auch ein virtuoses „Kunststück" machte, das ohne Ironie und Selbstironie schlechthin nicht auskommen konnte. Auch kann die freiwillige Einschränkung des Kunstanspruchs im gelähmten oder doch gedrosselten Kunstwollen zu weit gehen. Das dürfte in der literarischen Programmatik des Naturalismus der Fall gewesen sein. Die Grenzen wurden bei aller betonten motivisch-stofflichen Ausweitung im ästhetisch-geistigen Betracht so eng gezogen, daß der Künstler sich darin nicht recht bewegen konnte und daher, soweit er wirklich bedeutender Künstler war wie Gerhart Hauptmann, sehr bald diese Grenzen durchbrach. Die rein kunsttechnische Unmöglichkeit, die Richtlinien des „konsequenten Realismus" einzuhalten, ist zudem von der Sonderforschung hinreichend mit Beispielen belegt worden. In der Struktur etwa des propagierten (und propagandistischen) Zustandsdramas mußte der „Bote aus der Fremde" helfen, den Zustand in dramatische Bewegung zu setzen. Und es ist ebenso kennzeichnend wie folgerichtig, daß aus dem Notbehelf geradezu ein „strukturbedingender Faktor" geworden ist. Immerhin stellt der Naturalismus ein bemerkenswertes Beispiel dafür, daß ein stark weltanschaulich gebundenes Kunstwollen nicht von vornherein zur künstlerischen Unfruchtbarkeit verurteilt ist und sein muß. Nur muß man von solchen Richtungen nicht die Erreichung hoher und höchster Kunstwerte verlangen. Sie können nur leisten, was sie lieben, also nur einen kunsttechnisch etwas aufgehöhten Durchschnitt, der indessen zugleich kunsterzieherisch wirken und daher auch so verstanden sein will. Auffälliger jedenfalls ist das Versagen der Kunstleistung in Richtungen von hohem, oft exklusivem Kunstanspruch. Die Neuklassik wurde schon genannt. Aber vorher stand es mit der Formkunst im Münchener Dichterkreise nicht viel anders, abgesehen etwa von Paul Heyse. Und selbst der Kreis um Stefan George hatte nur einen „Meister", dessen Dichtertum zudem merklich zum Virtuosentum tendierte; denn H. v. Hofmannsthal ging bald eigene Wege. Allgemein wird gleichzeitig die U n s i c h e r h e i t in der W a h l der D i c h t u n g s g a t t u n g erkennbar, die dem jeweiligen Kunstwollen am besten zuzuordnen gewesen wäre. Der Naturalismus ζ. B. ist durch sein Programm am ehesten auf den Roman angewiesen, bringt aber — zum mindesten in Deutschland — auf diesem Gebiet nichts wirklich Herausragendes zustande. Er will durchaus (und durchum) das Drama erzwingen. Aber die künstle-

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risch ausgebauten szenischen Anmerkungen und Bühnenanweisungen, die an Umfang häufig bis zu einem Viertel des Gesamtbestandes reichen, verraten überzeugend, wohin eigentlich das zentrale Kunstwollen strebte. Das ist gewiß kein „episches Theater" im Sinne B. Brechts; aber es ist wie ein Sich-Anmelden des epischen Anspruchs mitten im vermeintlich dramatischen Sich-Aussprechen des Dialogs. Man fühlte selber, daß die Aussage im Dialog dem eigenen und eigentlichen Kunstwollen kein Genüge tat. Die Neuklassik hätte gattungstypologisch zum Epos neigen müssen oder zur antikisierenden Elegie. Beide Gattungen wurden indessen in der Kunstleistung vernachlässigt. Der Ehrgeiz war wieder auf das Drama gerichtet und auf die dem Drama zugeneigte epische Sonderform der Novelle. Freilich wird man, um diese latenten Neigungen erkennen zu können, nicht nur oder doch nicht vorwiegend die formulierte Poetik der Neuklassik befragen dürfen. Sie war von vornherein als Selbstrechtfertigungspoetik (besonders bei Paul Ernst) auf Drama und Novelle hin angelegt und erweckt so bewußt den Anschein einer Deckung von Kunstprogramm und Kunstleistung. Das tiefer liegende Kunstwollen, wie es sich, wenngleich nur gebrochen, im Kunstschaffen spiegelt, also die werkimmanente Poetik verrät den Zwiespalt zwischen Kunstwollen und Gattungswahl. Das Kunstwollen der Neuromantik und die vorwiegende Begabung der Neuromantiker verwiesen auf die Lyrik oder vielleicht noch auf die lyrische Stimmungsnovelle. Arthur Schnitzlers „Anatol" wirkt dementsprechend wie eine dialogisierte und scheindramatisch konzentrierte Sammlung von lyrisch-elegischen Stimmungsnovellen; ebenso leuchtet durch den „Schleier der Beatrice" das unverkennbare Antlitz der Stimmungsnovelle. Hugo von Hofmannsthals „Der Tor und der Tod" zehrt im künstlerisch Wertvollen durchaus vom Lyrischen, sein erneuertes „Jedermann"Spiel vom Lyrischen in einer oratorienhaft-legendären Spielform. Immerhin äußert sich jene Unsicherheit in der Wahl der programm-gemäßen Gattung bei den Neuromantikern weniger stark als in den oben genannten Richtungen. Das erklärt sich freilich bei näherem Zusehen daraus, daß sie der Ausbildung einer straffen Programmatik von vornherein merklich auswichen, an sich wohl aus dem richtigen Empfinden heraus, daß geborene Lyriker dazu wenig berufen und verpflichtet sind. Auf der anderen Seite waren sie ästhetisch fein empfindend genug, um im Kunstschaffen nicht mit Gewalt etwas erzwingen zu wollen (wie Paul Ernst), wozu ihre

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Begabung nicht reichte. Daher bekennen sie sich auch in ihren Dramen unverhohlen und unverwechselbar zur Kurzform des Lyrikers, vor allem H. von Hofmannsthal, aber in seinen zahlreichen Einaktern und Zyklen von Szenengruppen auch A. Schnitzler. Die eigentliche lyrische Stimmungsnovelle, obgleich man sie im Drama umkreist und von ihr mit merklicher Macht angezogen wird, tritt im Kunstschaffen über Gebühr zurück, obwohl sie nachweisbar bleibt. Im Expressionismus überwiegt der Wert der Lyrik, gemäß dem expressiven Kunstwollen. Am Drama droht man wiederum zu scheitern, so stürmisch man es umwirbt. Der Roman fällt fast ganz aus, weil Dauerekstasen kaum glaubhaft durchzuhalten sind. Bei alledem ist nun dies bemerkenswert: obwohl man — oder weil man — in der praktischen Wahl der Gattung unsicher war, bemühte man sich theoretisch in auffallendem Grade um Wesen und Wirkung der Dichtungsgattung und Dichtungsart. Nicht ohne leise Mahnung an die Fachwissenschaft stellte ein bekannter Literaturhistoriker fest, daß sich in neuerer Zeit die Dichter selber viel mehr als die Forscher um eine Gattungs- und Arttheorie bemüht haben. Der Umstand, daß in der folgenden Darstellung innerhalb dieses vierten Bandes ein Sonderkapitel der Gattungsund Arttheorie eingeräumt werden mußte, um wenigstens den Beiträgen der G. Freytag, R.Wagner, Fr. Spielhagen, Th.Fontane, Th. Storm, Wilhelm Jordan gerecht zu werden, bestätigt das Zutreffende jenes Hinweises. Auch der fünfte Band hätte hinreichend Stoff für ein derartiges Kapitel geboten, wenn man etwa die Beiträge J. Wassermanns (Erzählung), Albrecht Schaeffers (Tragödie, Epos, Ballade, Sonett), B.Brechts (Drama, Lehrstück, Theater) u. a. mit denen H. v. Hofmannsthals, R. M. Rilkes, P. Emsts zusammengefaßt hätte. Es waren mehr arbeitstechnische Bedenken stofforganisierender (und umfangbeschränkender) Art, die davon abrieten. An sich sind jene intensiven Bemühungen um eine Klärung und Bestimmung der Gattungen und Sonderformen durchaus zu begrüßen. Sie zeugen von der Gewissenhaftigkeit im dichterischen Arbeitsverfahren. Und sie beweisen — in größerem Zusammenhang gesehen — aufs neue das schon häufiger bemerkte (Band II und III) Bedürfnis der schaffenden Künstler nach praktisch verwendbaren Aufschlüssen und „Handhaben", nach einem rechten Erfassen und Verwenden des jeweils besten kunsttechnischen Handwerks-

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zeuges. Denn nicht nur der jüngere Rilke hat von Rodin gelernt, wie sehr es auf das rechte Handhaben des richtigen Handwerkszeuges ankommt. Das Wissen um Gattung oder Sonderform und deren immanente Gesetzlichkeiten gehörte dazu. Dieses Wissen versprach Macht, indem man einer Gattung oder Art ganz mächtig zu werden trachtete. Mit allgemeiner Kunstphilosophie kam man da einfach nicht weiter, wo die Sonderleistung Sonderansprüche stellte. Kurz, auch die Theorie spezialisierte sich, um besser produzieren zu können. Das „Ende der Kunstperiode" kann nicht gar so unabwendbar sein, wo man sich so ernsthaft und zäh um eine saubere, gediegene Grundlage der künstlerischen Arbeit bemüht zeigt. Und haben Hebbel und Hauptmann, haben Georg Kaiser und Fritz von Unruh, haben Wedekind und Brecht nicht erwiesen, daß es, ganz abgesehen von Grillparzer und Otto Ludwig, von G. Büchner und Chr. D. Grabbe, auch jenseits der Kunstperiode zum mindesten eine periodische Kunst gibt, die das Dramatische und Theatralische runder oder auch wohl robuster herausarbeitet, als es in der „Kunstperiode" jenseits Schillers geschehen war? War innerhalb der „Kunstperiode" das Lyrische wirklich so reich, daß es die lyrische Bereicherung durch Eduard Mörike, Heinrich Heine, Theodor Storm, Hugo von Hofmannsthal, Rainer M. Rilke, Ernst Stadler, Gottfried Benn u . a . hätte ohne Schaden an der Geltung der Gattung entbehren können ? Wiegt der Roman Goethes, der zudem ohne die Wegbahnung Wielands und die Wegerkundung K. Ph. Moritz' kaum zu denken und zu deuten wäre, wirklich an künstlerischem Gewicht soviel schwerer als die neueren Romane Gottfried Kellers, Theodor Fontanes, Thomas und Heinrich Manns oder auch Arnold Zweigs? Bedeutet Carl Spittelers „Olympischer Frühling" wirklich einen so beträchtlichen Rückfall des Epos hinter Goethes „Hermann und Dorothea" oder gar Vossens „Luise" ? Vermögen sich nicht Rilkes „Duineser Elegien" zu behaupten neben und nach Goethes „Römischen Elegien" ? Hat nicht Bertolt Brecht in Drama und Lyrik eine früher kaum geahnte neue Welt erschlossen ? Ragt und reicht nicht Frank Wedekind weit über die Sturm- und Drangdramatik der „Kunstperiode" ins Zukünftige hinaus? Und hat nicht George die klassische Strenge L. v. Stolbergs weit hinter sich gelassen ? Uberbietet nicht die schwermütige Süße und der köstliche Klang des Lyrismus Hofmannsthals bei weitem die süßliche Sentimentalität Matthissons, den Schiller noch überschätzen konnte?

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Kurz: war nicht das vermeintliche Ende der ,,Kunstperiode" zugleich der Anfang einer kämpferischen Kunstepoche, die sich wohl ehrfurchtsvoll beugte vor der Tradition, aber keineswegs verzichtete auf eine eigene Produktion ? Solange der Mensch menschenwürdig und der Künstler kunstwertig bleibt, kann keine Macht der Welt die Wucht, die Würde und die Weite der Kunst verkümmern lassen. Denn immer ist Sturm und Drang lebendig, ob nun im Jungen Deutschland oder im Jüngsten Deutschland (Naturalismus) oder im Expressionismus; immer ist die kostbare Gegenständlichkeit der Klassik gegenwärtig, ob nun im Formkultus des Münchener Dichterkreises oder im Kreise um Stefan George oder im starren (bis sturen) Neuklassizismus von Paul Ernst oder in Albrecht Schaeffers nötigem Nachtrag. Und allenthalben meldet die Romantik ihre unverlierbaren Rechte an im ewigen Ringen mit den nicht zu verleugnenden Rechten der neuerstrebten und neuerlebten Aufklärung. Vorerst scheint die Neu-Aufklärung im Neurealismus zu enden und sich künstlerisch zu vollenden, während die Neu-Romantik einen Neu-Symbolismus hervortreibt. War die Kunst, — eine gewiß geliebte Kunst — für A. Schopenhauer noch ein Quietiv, so wurde sie von Fr. Nietzsche aufgewertet zu einem Aktiv, zu einem besten der möglichen Wege in die beste der möglichen Welten, zwar nicht endgültig, aber doch vorübergehend. Und auch der kritische Schlag, der sie traf, wurde zuletzt doch wieder zu einem wunderbar belebenden Zauberschlag. Aufklärung und Romantik berühren und befruchten sich sonderbar und wunderbar genug in der Kunstphilosophie eines philosophischen Künstlers, indem Nietzsche noch einmal die Nachtseiten der Naturwissenschaften in Machtseiten der Geisteswissenschaften umbildete und emporbildete. Er schien das Rätsel zu lösen, wie einer scheinbar kunstverlorenen Epoche der Impuls einer neuen kunstverbundenen, in der Kunst sich selber findenden und damit das ewig Schöpferische entbindenden Kultur- und Kunstperiode zu gewinnen war. Er schuf — besonders im „Zarathustra" — jene Mythologie, die einst Fr. Schlegel projektiert und postuliert hatte. Er erzwang die Einheit von Konzentration und Vision, von begrifflicher Dichte und begreifbarer Dichtung, von Schau und Anschauung, von Formel und Formung, von barocker Pracht und priesterlicher Prägung, ja in der letzten Instanz von Aufklärung und Romantik, von Kulturwillen und Kunstwollen. Er förderte noch einmal das edle Erz der Kultur und Kunst aus dem tiefen

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Schacht der „Nachtseiten" der Naturwissenschaften. Denn selbst noch der Erblehre und Zuchtwahl, dem Kampf ums Dasein und dem Kampf um das Menschsein entwand er Möglichkeiten, die auf dem Realismus gründeten und dennoch die Romantik als NeuRomantik entzündeten, weltanschaulich freilich auch manches anzündeten. Er vermochte noch einmal den „Gipfel der modernen Romantik" (S. Lublinski) zu erklimmen, weil er sowohl die Naturwissenschaft wie die Technik zu romantisieren vermochte. Soziologie und Biologie verbündeten sich zu einer Eintracht, die alle Zwietracht übertraf. Denn wenn man das Übermenschliche erzwingen konnte durch künstlich-biologische Zucht, so konnte man auch das vermeintlich Unmögliche einer Neuentwicklung der Kunstperiode erringen durch künstlerisch-ästhetische Zucht. An dieser Stelle berührt sich auch in Nietzsche das Neuromantische mit dem Neuklassischen, wie andererseits das Romantische mit dem Realistischen. Und vielleicht beruht das Wunder der Wirkung und Nachwirkung Nietzsches nicht zuletzt auf dem Dominierenden und Imponierenden dieses Wechselspiels von Realismus und Romantik, von Biologie und Mythologie, von Kulturwillen und Kunstwollen, von Naturweite und Kulturwert. Denn was alle Kunst niederzureißen schien, wurde hier unversehens dem Aufbau der Kunst und Kultur dienstbar gemacht, indem Nietzsche das an sich zu reißen wußte, was an sich niederzureißen drohte. Er machte dergestalt nicht nur aus der zeitlichen Not eine überzeitliche Tugend, sondern auch aus der individuellen Nötigung eine universelle Notwendigkeit, aus der individuellen Setzung eine überindividuelle Satzung. Und während er der Naturwissenschaft nachgab, gab er der Kunstwissenschaft neue Aufgaben, gab er ihr vor allem jenes Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen, das unter dem übermächtigen Druck des Zweckvollen der Wissenschaft ganz in Verlust zu geraten drohte. Um seinen Namen versammelten sich daher neben den gefällig Mißdeutenden und gewissenlos Mißbrauchenden alle diejenigen, die den Wettstreit der Kunst mit dem Können noch nicht aufgegeben hatten. Und das geschah nicht zuletzt deshalb, weil hier eine Sprache und Sprachgestaltung wirksam wurde, die den Glauben an die Wucht und Würde und Weite des Wortes neu zu erwecken wußte. Das künstlerische Wesen und Wort Nietzsches widerlegte am lebendigsten die vorschnelle Theorie Heines vom

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Ende der Kunstperiode. Und es war wie ein zauberkräftiges Zeichen, daß sowohl derjenige, der jenes ,,Ende" festlegte, als auch derjenige, der jenes Ende widerlegte, über eine werbende Gewalt des Wortes, des künstlerisch geformten und doch organisch gewachsenen Wortes verfügte, wie sie selbst innerhalb der privilegierten „Kunstperiode" nur sehr selten anzutreffen gewesen war. Zum mindesten dann, wenn man Dichtung als Wortkunst oder das Dichtungswerk als „Sprachkunstwerk" (W. Kayser) faßt, muß in Nietzsche — trotz aller weltanschaulichen Irrwege und Abwege — der Wegbahner in eine neue Kunstperiode der dichterischen Sprachgestaltung gesehen werden. Der Stil des „Zarathustra" hat nicht weniger nachgewirkt als der Stil des „Faust". Und Heines Stil — gerade seine Prosa — nähert sich wenigstens strekkenweise dem Wertgrad der Stilmeisterschaft Lessings. Nicht ohne Künstleranspruch, aber auch nicht ohne Berechtigung hat Nietzsche bekanntlich Heine und sich selber als die bedeutendsten Stilisten des (XIX.) Jahrhunderts bezeichnet. Näher zur Gegenwart hin vermochte Thomas Mann ein ähnliches Ansehen als Stilist zu erwerben. Das Ästhetische lag bei Nietzsche vorzüglich im Stil des DichterPhilosophen. Und es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß es dieser bannende Stil war, der seiner Weltanschauung, die vermeintlich befreite, das, .Fesselnde" des lustbetont Leitenden und schmerzgewohnt Verleitenden verlieh. Der Rhythmus seiner Prosa war in der Tat ein „Tanz in Ketten". Kein Wunder, daß er dazu führte und verführte, gleichsam lachend und singend in Ketten hineinzutanzen. Auch bei seinem einstigen „Erzieher" Arthur Schopenhauer darf die Suggestivkraft eines glänzenden Prosastils nicht unterschätzt werden. Und Schopenhauers nahe Einwirkung etwa auf Franz Grillparzer, oder seine Fernwirkung etwa auf die Dekadenz der fin de siecle-Stimmung und selbst noch auf sein weltanschauliches Gegenspiel in der Existenzialphilosophie der Heidegger und Jaspers, das für den Expressionismus und den Neusymbolismus „relevant" wurde, ist nicht zuletzt zurückzuführen auf die Macht und Meisterschaft seiner ebenso überredenden wie überzeugenden Wortgebärde. Schon insofern liegt bei Schopenhauer und Nietzsche eine ästhetische Weltanschauung vor. Dennoch widerstrebt es, bei ihnen von einer ausgeprägten Weltanschauungsästhetik zu sprechen. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil eine vorzüglich politisch gefärbte Weltanschauungsästhetik in

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Epochen wie dem Jungen Deutschland oder dem Jüngsten Deutschland (Naturalismus) oder dem „sozialistischen Realismus" als politischer Spielart des Neurealismus vorliegt, die sämtlich teils wesenhaft, teils zeitlich beiden Philosophen fernliegen. Eine ästhetische Weltanschauung deckt sich keineswegs mit einer Weltanschauungsästhetik. Denn die ästhetische Weltanschauung benutzt und benötigt das Ästhetische als bloßes Mittel zum Zweck einer letztlich außerpolitischen Konzeption und Konstellation, während die Weltanschauungsästhetik das Politische, zum mindesten das Kulturpolitische als Zweck und Ziel ansieht, das dementsprechend in die Zentralstellung aufrückt. Bei der Weltanschauungsästhetik steht nicht nur im Wortbild die Weltanschauung, und zwar die ausgesprochen politische und kulturpolitische Weltanschauung voran als die vordringliche Aufgabe. Für sie „funktioniert" die Ästhetik nur dann und dort, wenn sie und wo sie eine gesellschaftliche Funktion vertritt und erfüllt. Eine nur ästhetische Weltanschauung dagegen gönnt dem Individuellen und Subjektiven einen relativ freieren Spielraum. Beide moralisieren beim Ästhetisieren. Aber die ästhetische Weltanschauung bekleidet das Weltanschauliche mit „Poesie", die Weltanschauungsästhetik behängt das Poetische mit Politik. Die ästhetische Weltanschauung bleibt bürgerlich verbindlich, die Weltanschauungsästhetik wird sozial (bis sozialistisch) verpflichtend. Die ästhetische Weltanschauung bleibt dialogisch in der Zwiesprache des Ichs mit dem Du, die Weltanschauungsästhetik wird dialektisch im Emportreiben des Zwiespalts von Einsamkeit und Gemeinsamkeit, von Einzelpersönlichkeit und Gruppenpersönlichkeit, von Widerstreit und Einheit. Der Titanismus des Vereinzelten trat in Widerspruch mit der Perfektibilität der Vereinigten. Und es galt, diesen Widerspruch nicht zerstörend, sondern aufbauend wirken zu lassen. Es kam darauf an, sich nicht an diesem Widerspruch aufzureiben, sondern sich an ihm und durch ihn zu erheben, indem man ihn in einem höheren Dritten „aufhob". Hier ist der „geistige Ort", wo Hegel einsetzt. Ihm steht nicht die werbende Gewalt des Wortes zur Verfügung, denn er ist nichts weniger als ein Dichter-Denker. Und nicht nur Schopenhauer ist der Ansicht, daß Hegels Sprachstil ein einziges Verhängnis und eine Sünde wider den Geist der deutschen Sprache darstellt. Aber ihm steht die Intuition der Idee zur Verfügung, und die Stärke

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seiner Dialektik überwindet alle Schwächen seiner Diktion. Zunächst einmal war es seine Geschichtsphilosophie, die auf die Dichtkunst einwirkte, ζ. B. bei Friedrich Hebbel, während ihre Einwirkung auf Chr. D. Grabbe umstritten bleibt. Aber im weiteren Verlauf der Entwicklung gewann seine Dialektik mehr und mehr an werbender Kraft. Und der wissenschaftliche Materialismus eines Karl Marx und Friedrich Engels konnte bei aller Verwurzelung im ökonomischen nicht die treibende Keimkraft der Dialektik Hegels entbehren, so weit man sie auch immer umbilden und für eigene Zwecke umbiegen mochte und mußte. Mochte der Entwicklungsgedanke bei Leibniz besser aufgehoben und dann von Herder richtiger und redlicher verwaltet sein, weil Hegel — darin fast aufklärerisch — in seiner Gegenwart staatstheoretisch vorschnell einen Abschluß ansetzte, die dialektische Methode blieb dennoch weitgehend und weiterweisend entwicklungsfähig, ob nun in Hegels eigenem Sinne oder im Sinne seiner mehr oder minder ungetreuen Schüler revolutionärer bzw. linksradikaler Richtung. Er zunächst hatte daran geglaubt und denkmethodisch gewöhnt, im Widerspruch nicht ein Zerstörendes und Aufreibendes, sondern ein Vorantreibendes zu sehen, das deshalb nicht als fortschrittfeindlich zu bekämpfen, sondern als fortschrittfordernd zu begrüßen war. Wahrscheinlich wäre er nachträglich selber erschrocken über das Gericht, das er angerichtet hatte, denn sein Konservatismus darf nicht nur — und nicht einmal vorwiegend — als zeitgemäße und situationsgemäße Konzeption oder gar Konjunktur angesehen werden. Seine Antrittsvorlesung in Heidelberg (Okt. 1816) hatte nicht von ungefähr den Wunsch ausgesprochen, daß der „bisher nach außen gerissene Geist" (Freiheitskriege) nun wieder „in sich zurückkehren" möge, damit „die Gemüter über die Interessen des Tages sich erheben und für das Wahre, Ewige und Göttliche empfänglich" seien. Aber schon im Dezember 1830 muß er (angesichts der Julirevolution) feststellen: „Gegenwärtig hat das ungeheure politische Interesse alle anderen verschlungen, eine Krise, in der alles, was sonst gegolten, problematisch gemacht zu werden scheint". Das war kurz vor seinem Tode, und so mag das Erschrecken des Sechzigjährigen verständlicher werden. Und während er „in Epoche zu machen" schien, wurde er unversehens epochemachend, nicht nur für das epochemachende Drama der Dramentheorie Fr. Hebbels, das die großen Wandlungen der Ent2

M a r k w a r d t , Poetik IV

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wicklungswenden herausarbeiten sollte aus dem kämpferisch gespannten „Lebensprozeß an sich", den das Drama vorstellt und darstellt. Hegel wirkte mindestens ebenso stark auf Hebbel wie Schopenhauer auf Grillparzer oder Nietzsche auf Wedekind, auch auf die Neuromantik und alle bislang folgenden Kunstrichtungen, abgesehen vom Neurealismus, der in seiner sozialistischen Ausprägung auf Hegel zurücksprang, wenn auch auf einen „zeitgemäß" interpretierten und entsprechend variierten Hegel. Dieses nachhaltige Weiterwirken Hegels und seiner Philosophie (etwa auch auf K. Gutzkow) wurde längere Zeit übersehen, weil es sich für die Dichtkunst und deren Theorie durchweg in der Stille vollzog, ohne die laute Größe des Zarathustratons Nietzsches, der unmittelbar den Ton angab. Zwischen beiden rangierte in der Lautstärke des Zuspruchs oder Einspruchs etwa Schopenhauer, der bald so entschieden von Hegel abrückte, wie später Nietzsche von ihm abrücken zu müssen meinte. Das mag genügen, um einleitend das Hineinspielen der jeweiligen Zeitphilosophie in die Poetik und Literaturtheorie anklingen zu lassen. Diese Poetik nun war also zum Teil Weltanschauungsästhetik gemäß dem Ringen zwischen Politik und Poesie im 19. und 20. Jahrhundert. Zum Teil aber orientierte sie sich auch nur an einer ästhetischen Weltanschauung, wobei die Politik den Primat bereits weitgehend aufgeben mußte. In beiden Fällen behielt jedoch die alte Aufklärung das neue Wort. Daneben verwaltete die Poetik des im Folgenden zu würdigenden Zeitraums, der immerhin reichlich ein Jahrhundert umfaßt, die Traditionswerte der Klassik und der Romantik, zunächst im Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik unter streckenweise biedermeierlichen Wegweisern oder doch Wegzeichen, später im Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik. In dem Maße jedoch, wie sich die Romantik teils von vornherein behauptete, teils erneut gegen aufklärerische und naturwissenschaftliche Strömungen durchsetzte, sah sich auch die Poetik immer wieder in das nur scheinbar zeitweise gelähmte oder doch geschwächte Kraftfeld der Religion (oder doch des Religiösen) gestellt. Im Biedermeier verdichtet sich deutlich der religiöse Impuls. Aber das geschieht vor allem dort, wo das Bieder meierliche dem Romantischen zugekehrt ist. Deshalb spricht man — zum mindesten in der Kunsttheorie — besser von einer biedermeierlich getönten Nachromantik, gerade auch mit Rücksicht auf die be-

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wegenden religiösen Kräfte, die bei Annette von Droste-Hülshoff so gut Leben ausstrahlen wie bei Eduard Mörike oder Adalbert Stifter. Dadurch wird zugleich die Zuordnung der späteren Neuromantik erleichtert, die doch rein zeitlich ebenfalls eine „Nachromantik" war und etwa bei Hugo von Hofmannsthal oder Rainer Maria Rilke, aber auch bei kleineren Geistern wie Richard Schaukal ausgeprägt religiöse Züge trägt. Der weltanschauliche Traggrund des Expressionismus ruht, nicht nur bei Franz Werfel, mit breiten Schichten im Religiösen. Und selbst weniger beachtete Sonderrichtungen wie der Charon-Kreis um Otto zur Linde und Rudolf Pannwitz sind ohne religiöse Verwurzelung weder zu denken noch zu deuten. In den einzelnen Abschnitten wird darzulegen sein, wie man sich dabei selbst die vermeintlich unversöhnlichen Gegner Philosophie und Naturwissenschaft keineswegs selten zu Bundesgenossen zu gewinnen weiß. Gerade dort, wo sie in ihrem Kernbestand sich gefährdet fühlt, sucht die Poesie und die Dichtungsdeutung neue Belebung aus einer Berührung mit der Religion. Und der Rückzug auf die innere Wirklichkeit ist durchweg keine Flucht, sondern birgt in sich die Sicherung einer Zuflucht zu unverlierbaren Werten des Gemüts. Selbst weitgehend divergierende Richtungen wie Heimatkunst einerseits und Neusymbolismus andererseits begegnen sich im Bedürfnis nach religiöser Vertiefung. Aber was in der Heimatkunst mehr eine wertbewahrende Position und Tradition bleibt (Fr. Lienhard, Timm Kröger u. a.), wird im Neusymbolismus zu einer wertemehrenden Funktion. Die beschauliche Träumerei im Gottesfrieden der Heimatkunst ist zur beschwörenden Traumvision im Gottesstreitertum des Neusymbolismus aktiviert, ζ. T. auch dämonisiert (Ernst Barlach in seinen Dichtungen, aber auch Gerhart Hauptmann: „Der Große Traum"). Und der Surrealismus spielt allenthalben das Außernatürliche in das Übernatürliche hinüber (Kafka, Musil, Broch, Η. H. Jahnn, Werfeis „Stern der Ungeborenen"). Auch dort noch, wo zunächst eine unversöhnliche Kampfansage aufklingt, wie im Jungen Deutschland oder im Jüngsten Deutschland (Naturalismus), sind oft überraschende Umbrüche der Besinnung und Gesinnung zu beobachten. Schließlich hat Heinrich Heine sein „Nach Damaskus" so gut erlebt und bekannt wie August Strindberg. Und selbst in Nietzsches fanatischer Abwehr liegt doch zugleich ein fortgesetztes Sichbezogenfühlen, ein Stück Liebeshaß, der dann im freilich unzulänglichen Weiter2*

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bilden der Lehre Nietzsches durch Rudolf Pannwitz, vollends aber im Eigenweg anderer Charontiker wie Rudolf Paulsen oder Karl Röttger wieder in eine echte Gottesliebe umgebogen und umgebildet wird. Ebenso ist die Macht der Mystik keinesfalls endgültig gebrochen durch die Macht des „Maschinenzeitalters". Sie ist dem angeblichen „Naturalisten" Gerhart Hauptmann ebenso vertraut im Raum des Symbolismus (und darüber hinaus; siehe oben) wie Ernst Barlach im Raum des Expressionismus, wie Alfred Döblin in seiner nachexpressionistischen Schaffensperiode oder Robert Musil im Raum des Neusymbolismus. Die werkimmanente Poetik Hermann Hesses ist durchsetzt von religiösen Nährstoffen der Seele und gesundenden Wirkstoffen des Gemüts. Und noch im priesterlichen Kult der Kunst an sich, wie ihn Stefan George repräsentiert und manifestiert, steht hinter der Vergötzung die ewige Sehnsucht nach der Vergottung. — Vorerst gilt es, das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik sichtbar werden zu lassen unter Einbeziehung des Biedermeier einerseits und des Frührealismus andererseits. Ein Pressen des Kunstwollens auf den modisch gewordenen, aber kunstphilosophisch nicht recht überzeugenden Begriff „Biedermeier" ist dabei bewußt vermieden worden. Schon gelegentlich der gebührenden Schätzung und gebotenen Abschätzung der Reichweite des religionumhegten Bezirks stellten sich Bedenken ein, das Biedermeierliche zum Hauptwort und das Nachromantische zum bloßen Beiwort zu machen (nachromantischer Biedermeier). Weit berechtigter und ratsamer scheint es, das Nachromantische zum Hauptwort und das Biedermeierliche zum Beiwort zu wählen (biedermeierliche Nachromantik). Vollends das Idyllische, das vielfach zum Zentralwert des „literarischen Biedermeier" erhoben worden ist, ermöglicht eine Dehnung und Deutung sowohl zum Klassischen wie zum Romantischen hin. Außerdem lockert eine Erscheinung wie Franz Grillparzer die religiöse Umschränkung vom Weltanschaulichen her zu weit, um sie vom Kunstanschaulichen her auch nur notdürftig noch unter dem Richtungswort Biedermeier betrachten und bewerten zu können. Ähnlich strebt das Kunstwollen Adalbert Stifters schon viel zu weit in den poetischen und ideellen Realismus hinüber, als daß man es ohne Einbuße der Erkenntnis von Stifters entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung auf ein bloßes Biedermeiertum reduzieren dürfte. Wo biedermeierliche Züge das Gesamtgepräge des Kunstwollens wesentlich bestimmen wie ζ. B.

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bei Eduard Mörike oder Annette von Droste-Hülshoff, werden sie in das Gesamtbild eingezeichnet werden. Aber selbst in diesen Fällen wird sich erweisen, daß im Biedermeierliehen kein ausreichendes Kriterium liegt, um die ganze, oft unterschätzte Spannweite ihres Wollens und Wirkens zu begreifen. Die in dieser Einleitung bereits mehrfach berührten philosophischen Grundlagen des Jahrhunderts geschlossen voranzustellen, erschien nicht ratsam, weil dadurch die wesentlichen Vertreter der Philosophie (Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, ζ. Τ auch Feuerbach) zu sehr aus der jeweiligen Einsatzstelle ihrer Wirkung auf die Literaturphilosophie und Poetik hätten herausgelöst werden müssen. Vielmehr liegt es z.B. nahe, vor der Würdigung Grillparzers einige erinnernde Hinweise auf S c h o p e n h a u e r und seine Kunstphilosophie zu geben; Hegel dagegen — obwohl in der Philosophiegeschichte zeitlich und wirkungsmäßig voranstehend — kann und muß in der Geschichte der Poetik erst dort besonders interessieren, wo sich die Darstellung der Dramaturgie Hebbels nähert. Wenn Hegel nicht schon im Zusammenhang mit dem Jungen Deutschland besprochen wird, so deshalb, weil dort seine Einwirkung im künstlerischen und kunsttheoretischen Ertrag und das Hegelverständnis der Jungdeutschen mehr als umstritten ist, was im einzelnen noch zu besprechen sein wird. N i e t z s c h e schließlich wird in das Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik einzulagern sein.

I. Das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik einschließlich „Biedermeier" und Frührealismus Franz Grillparzer, auch für die Poetik und Kunsttheorie eine der wesentlichsten Dichtergestalten der nachklassischen Epoche, hat seine Kenntnis Schopenhauers schon früh, im Erscheinungsjahr der ,,Welt als Wille und Vorstellung" (1819), durch eine einschlägige Notiz bezeugt, und durch sein ganzes Werkschaffen hindurch lassen sich starke Parallelen zu den Anschauungen Schopenhauers verfolgen, die es erforderlich machen, zunächst einmal von diesem zu sprechen. Es gibt Philosophen, die ihren Systembau nicht für geschlossen halten, solange sie nicht auch eine „Ästhetik" verfaßt haben. Und es gibt Philosophen, die gar keine gesonderte Ästhetik geschrieben haben, aber deren System innerlich eine Ästhetik enthält und nicht vollendet wäre, wenn nicht alles von einer künstlerischen Sicht seine letzte Klarheit und tiefste Weisheit empfangen hätte. Zu diesem zweiten Typus, zu den Gestaltdenkern gehört A r t h u r S c h o p e n h a u e r (1788—1860). Und er gehört auch zu den sprachnahen Denkern, deren Gewalt über das Wort nicht nur ausreichte, die Wissenschaftsprosa und die denkerische Kampfprosa ruckhaft voranzutreiben, sondern soviel an überschüssiger Formungskraft in sich barg und an gestaltungsfrohem Reichtum, daß sie selbst noch der dichterischen Wortkunst fördernde Antriebe zu bieten vermochten. Und wer könnte ehrlich an die Echtheit einer „Ästhetik" glauben, die in dem Stil Hegels verfaßt ist. Das lichtvolle und nicht nur geistvolle Gepräge der Sprachgestaltung Schopenhauers widerlegt schon seinen so gern zur Schau getragenen Pessimismus. Zugespitzt: so ganz wertlos kann die Welt nicht sein, in der ein so wertvoller Stil möglich ist. Es kann doch nicht ganz die „schlechteste der möglichen Welten" sein. Und von Leibniz' bester der möglichen Welten ist ein gut Stück zu retten. Damit aber enthüllt man schon die Doppelgesichtigkeit des Schopenhauerschen Pessimismus. Er ist Wirklichkeitspessimist, aber im Grunde Kunstoptimist. Ja, manchmal

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„BIEDERMEIER"

UND FRÜHREALISMUS

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möchte man meinen, daß er nur deshalb so vom Leben niedergestimmt war, um sich von der Kunst, besonders seiner geliebten Musik, um so höher stimmen zu lassen. Die Kunst empfängt einen außerirdischen, fast religiös getönten Schimmer. Und ihr tiefer Glanz bedarf der düsteren Folie. Oder bietet Schopenhauer sie nur als Trostpreis an in all der Trostlosigkeit des Daseins ? Es fällt nicht immer leicht, sich von Fall zu Fall für die eine oder die andere Lösung zu entscheiden. Denn Schopenhauer denkt nicht so unerbittlich scharf, wie er sich den Anschein gibt. Er ist nämlich nicht allein Scharfgeist, sondern auch Schöngeist. Das mildert, aber es trübt auch. Wenn die Welt nur meine Vorstellung ist im Sinne des klassischen Idealismus, so mag sie am Ende ruhig ein Trauerspiel sein. Auch ein Trauerspiel kann schön sein auf Grund „Unseres Vergnügens an tragischen Gegenständen" (Schiller), zum mindesten kann es erhaben sein. Und auch im Urwillen Schopenhauers und dessen Objektivierungen liegt das Gefühl des Erhabenen bereit, das innig an das Schöne angrenzt. Verneine ich die Sinnerfülltheit der erfahrenen Geschichte, so gewinnt der Sinn der erfundenen Geschichte. Kurz, was Schopenhauer auf der einen Seite so rücksichtslos raubt, das scheint er auf der anderen Seite so rücksichtsvoll zu schenken. Er schenkt es vor allem der Kunst. Und so wird es der Künstler sehen, der nicht so geneigt zu sein pflegt, „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" (1813) nachzugrübeln. So umständlich hatte Schopenhauer auch nur formuliert, weil es sich um eine amtliche Schrift (Diss.) handelte. Daher besitzt Schopenhauer für Künstler eine so starke Anziehungskraft, auch wenn ihnen nicht ganz klar ist, wie er mit Kants Ding an sich oder dem intelligiblen Charakter oder Fichtes Ich umgesprungen ist und ob er ein Recht dazu hatte oder warum er nicht viel mehr über den Ursprung der Kunst ausgesagt hat. Nicht umsonst hat Schopenhauer für den DichterDenker Nietzsche eine so starke Bannkraft besessen, die auch dann noch nachwirkte, als Nietzsche sie längst gebrochen und abgeschüttelt zu haben glaubte. Das wird noch späterhin bei dem Eingehen auf Nietzsche wenigstens andeutend sichtbar zu machen sein. Nicht so ganz mit Unrecht ist bereits von anderer Seite der Gedanke aufgeworfen worden, ob nicht, wenn man den „Erzieher" und seinen Schüler vergleicht, Nietzsche von beiden der weit radikalere Pessimist gewesen sei. Allerdings müßte man dann gegen die Sirenenklänge der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der

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ZWISCHEN N A C H K L A S S I K

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Musik" ebenso gefeit sein wie gegen das Posaunengedröhn des „Zarathustra". Denn Schopenhauer hielt es nicht einmal der Mühe wert, in dieser armseligen Welt noch so etwas wie eine neue Religion begründen zu wollen. Da genügte ihm im ganzen die Nothilfe des Buddhismus. Man darf nicht übersehen, daß Nietzsche seinen großen Weltschmerz oder Welten-Schmerz gern ein wenig theatralisch in Szene setzt. Und vielleicht dachte er nur an seine Gesundheit (bzw. Krankheit), wenn er klagt: „Wer das verlor, was du verlorst / Macht nirgends halt" oder doch auch an seine früh verlorene Gesundheit und nicht nur an seinen verlorenen Gott. Schopenhauer glaubt nicht einmal an die Spielform eines „produktiven Nihilismus", aus der Nietzsche Ernst machen möchte. Er bedurfte wahrscheinlich auch gar nicht erst der mürrischmüden Stimmung der Reaktions- und Restaurationszeit, die seinem früh erschienenen Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung" (1819) zu einem verspäteten Erfolg verhalf. Er besaß selber einen hinreichenden Vorrat an Mißstimmung. Eben deshalb bedurfte er der Umstimmung durch die Gewalt der Musik, von der schon Kleist als Künstler gezeugt (und gezehrt) hatte. Zunächst scheint Schopenhauer der „Kritik der reinen Vernunft" fast provozierend eine Kritik der reinen (bloßen) Unvernunft entgegenzusetzen. Aber Kleists Kritik des reinen Gefühls, die unbewußt ja auch gegen Kant sich richtete, ist dem scheinbar nur analysierenden Verstand Schopenhauers durchaus nicht so ganz fremd. Das Kunstgefühl zum mindesten gilt ihm nicht als das schlechteste Kriterium. Aber für ihn entsteht Tragik nicht dort, wo das Gefühl versagt (Kleist), und auch nicht dort, wo der Wille versagt (Schiller). Vielmehr ist Tragik uranfänglich da, weil der blinde Urwille dazu zwingt, daß alle Vernunft versagt und weil diesem Willen die „Entzweiung mit sich selbst wesentlich ist". Nicht die Diskrepanz von Moralität und Kausalität bewirkt das Tragische (Lessing), höchstens das Tragikomische, obwohl zu berücksichtigen ist, daß Schopenhauer von den Kategorien erkenntnistheoretisch (als Relation) am ehesten noch die Kausalität gelten läßt. So wahr der Wille eine metaphysische Macht ist und keine psychologische Funktion, ist ein Wille zur Macht im Sinne Nietzsches ein barer Unsinn. Das wäre etwa so, als wollte jemand eine Zange mit derselben Zange zu erfassen versuchen (Problematik der Erkenntnistheorie). Das uranfängliche Leid läßt sich nicht mit robusten Gegengiften heilen, sondern nur lindern

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„BIEDERMEIER"

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durch schmerzdämpfende Mittel. Solch ein Mittel ist die Kunst. Daher spricht Schopenhauer von der Musik vor allem als von einem „Quietiv". Der Wille zur Macht setzt die Willensfreiheit voraus, und die leugnet Schopenhauer. Auch die ewige Wiederkehr oder Wiederkunft wäre für ihn sinnlos, weil Wiederholtes, denselben Bedingungen unterworfen, zu denselben (trostlosen) Erträgen führen würde. Etwas anderes wäre es schon mit der Seelenwanderung indischer Ausprägung. Welterkenntnis führt zur Weltverneinung und zur Lebensverneinung, genauer zur Verneinung des „Willens zum Leben". Nur Lebensweisheit kann die brutalsten Triumphe des Urwillens etwas abschwächen. Es wäre aber übertrieben, ein System der Lebensweisheit zu konstruieren. Das würde sich nicht rentieren. Verantworten lassen sich bestenfalls „Aphorismen zur Lebensweisheit". Denn man soll nicht zuviel geistiges Kapital in ein von vornherein verlorenes Geschäft stecken (im Rahmen der ,,Parerga und Paralipomena", 1851). Nach alledem müßte Schopenhauer ein Gegner auch des Willens zur Kunst, also des Kunstwollens sein. Faßt man das Kunstwollen rein äußerlich und oberflächlich als eine ganz willkürliche Funktion des Kunstverstandes, dann ist das auch zutreffend. Aber in dem Falle würde sich das Kunstwollen im wesentlichen beschränken auf die Kunsttechnik, die von der Darstellungsabsicht in der Tat weitgehend bewußt für bestimmte Zwecke und Wirkungen in Dienst gestellt werden kann. Das hieße jedoch den Künstler auf den Virtuosen einengen und abdrängen. Kunst wollen im weiteren allgemeineren Sinne umfaßt auch die Kunsttechnik. Es erschöpft sich aber nicht mit ihr. Und es deckt sich auch nicht mit ihr. Kunstwollen im prägnanten und vertieften Sinne meint in dieser Darstellung — und das klang wohl schon gelegentlich an — die ganze Vielfalt an produktiven Kräften, die im Kunstwertschaffenden ihm oft unbewußt weben, streben und wirken als das immanente Kunstgesetz, „nach dem er angetreten". Auch also die spontanen Impulse, die Überfälle aus der Überfülle, das Spontane des sparsamen Reichtums und das Splendide der Verschwendung, die Demut des Dienstes und das Hochgemute der Beherrschung der technischen Mittel. Jene Kräftegruppe des Überfallartigen, Spontanen, Dranghaften, Treibend-Getriebenen gewinnt nun gerade durch Schopenhauers Phänomen des Urwillens zum mindesten gleichnishaft eine wertvolle Bestätigung. Besonders auf der höchsten Stufe des Willens, wo er in das Bewußtsein über-

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geht, also das Geistig-Bewußte sich mit dem Triebhaft-Unbewußten verschmelzen kann, sind beide Komponenten des Kunstwollens anzutreffen oder doch als Analogiebildungen anzusiedeln. Man kann zum mindesten den Urwillen Schopenhauers beschwören gegen die Geister, die den Terminus Kunstwollen — jeder knappe Terminus vergröbert, weil er vereinfacht —• allzu geflissentlich auf den Vorstellungsbezirk „gelenkte Kunst" abschieben und ihn dann dort kaltstellen möchten. Schopenhauer weiß sehr gut, daß er ruhig seinen Urwillen ansetzen kann, ohne um das Schicksal der Kunst beunruhigt zu sein. Ja, vielleicht war seine Konzeption des Urwillens von vornherein eine letztlich ästhetisch-künstlerische Konzeption oder doch eine Entsprechung dazu. Jedenfalls würden die Objektivationen des „Willens zum Leben" etwa den Objektivationen des Willens zur Kunst und damit dem Kunstwollen entsprechen. Nicht von ungefähr rettet Schopenhauer die Kunstgebilde in das Reich der „Ideen", so daß sie durch „Kontemplation" gerade Lebensmöglichkeit gleichsam in dem toten Winkel erhalten, wohin der brutale Sturm des „blinden" Willens nicht reicht. Zwar hat Schopenhauer über den Willen in der Kunst keine Ästhetik geschrieben wie er „Ober den Willen in der Natur" (1836) eine Art von Naturphilosophie schrieb. Und es soll auch vermieden werden, den in dieser Darstellung häufig gebrauchten Terminus Kunstwollen zu eng mit dem „Willen" Schopenhauers in Beziehung zu setzen. Vielleicht ähnelt er mehr dem, was Alois Rietsehl für die Geschichte der bildenden Kunst durchzusetzen versucht hat. Denn Schopenhauer neigt zu einer starken Intellektualisierung der Kunst, die erst auf jener höchsten Stufe gedeihen kann, wo die reine Erkenntnis regiert. Schopenhauer konnte über den Willen in der Kunst schon deshalb keine Sonderschrift vorlegen, weil in der Kunst ja gerade der Wille als Wille entwaffnet werden sollte, indem die kontemplative Haltung ihre Rechte geltend machte. Dabei wird ein gewisser Zug zur Wirkungspoetik fühlbar, indem das „Quietiv des Willens" auf die erstrebenswerte Wirkung der Kunst hinweist. Auf der anderen Seite zeigt Schopenhauer eine starke Neigung zum Geniekultus und damit zur Schöpfungspoetik und Gestaltungspoetik gemäß seinem Anteilnehmen an kunsttechnischen Fragen. Es ist bei dem Grundansatz die unverkennbare Abhängigkeit von dem interesselosen Wohlgefallen Kants wirksam, der darin seinerseits weitgehend dem Kunsttheoretiker Fr. Justus

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Riedel aus dem Wieland-Kreise gefolgt war. Die tragenden Strukturen liegen also letzten Endes in der Aufklärung. Die ,,Parerga und Paralipomena" enthalten ein kurzes Kapitel „Zur Metaphysik des Schönen und Ästhetik". Es handelt sich aber dabei nicht um ein ausgeführtes System der Ästhetik, sondern um einen skizzenhaften Entwurf. Die grundlegende Frage: „wie ist Wohlgefallen und Freude an einem Gegenstande möglich ohne irgendeine Beziehung desselben auf unser Wollen?" steht ganz nahe bei Kant. Aber es leuchtet ein, daß Schopenhauer den Vorteil hat, diese Willens-Freiheit an seine Theorie von der Welt als Wille enger anschließen zu können. Es handelt sich dabei in Schopenhauers Kunstphilosophie letztlich um ein ähnliches „Anderssein" wie in Hegels Naturphilosophie. Nur insofern wird der Mensch willensfrei in diesem Bezirk, als er vom zweckhaft begehrenden Willen sich befreit fühlt. Da aber vom Willen die Unlust und das Unglück kommen, so kann der Kunstgenießende seiner Willens-Freiheit frohwerden. Der Einwand, daß mit der Aufhebung des Leidens (am Willen) auch die Freude verloren gehe, erledigt sich durch die These Schopenhauers, daß Glück immer nur in der Abwesenheit von Unglück bestehe, Freude also in der Abwesenheit von Leid. Und da das Leid durch den Willen bewirkt wird, der Wille aber in der Kunst lahmgelegt wird, so erzeugt die Kunst Leidlosigkeit und damit ästhetisches Lustgefühl im Sinne eines Wohlgefallens ohne bedrückendes Willensgewicht. Die Welt als Wille (ordine prior) wird dabei abgelöst und erlöst durch die Welt als Vorstellung (ordine posterior), doch so, daß die Vorstellung zugleich von ästhetischem Gepräge und also lustbetont, weil leidentlastet und willensbefreit ist: „Das vollkommene Genügen, die finale Beruhigung, der wahre wünschenswerte Zustand stellen sich uns immer nur im Bilde dar, im K u n s t w e r k , im Gedicht, in der Musik". Und man könnte sogar von hier aus zur Hoffnung geführt (in Schopenhauers Sinne verführt) werden, daß jene Werte auch sonst „irgendwo vorhanden sein" müßten. Die Kunst deutet also wenigstens die Perspektive eines Weges aus all der Ausweglosigkeit des dem Willen versklavten Lebens an. Denn der Wille zur Kunst trägt nicht den Kainsstempel des Willens zum Leben. Im Bereiche der Kunst wird das Ich zu einem „reinen Subjekt des Erkennens", das frei und fähig wird zum Erfassen des „Dauernden in allem Wechsel". Gestützt auf die Ideen Piatos, entwirft Schopenhauer etwa folgendes Bild vom künstlerischen Schaffens-

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Vorgang. Die Schwierigkeit liegt bei der Konzeption darin, daß der Ansporn des Willens fehlt und fehlen muß. Denn die reine anschauende Erkenntnis „muß absichtslos tätig, folglich willenlos sein". Auf dieser Stufe entscheidet ganz das Unvorsätzliche, Unabsichtliche und selbst Unbewußte und Instinktive. Die Gefahr einer Einmischung des Urwillens triebhafter Art an dieser Stelle übersieht Schopenhauer oder übergeht sie doch stillschweigend. Selbst sein geliebter Satz vom zureichenden Grunde verliert hier die Geltung. Bei der „Ausführung" jedoch wird jene „Besonnenheit", die den Dichter über den Durchschnittsmenschen erhebt, wieder dem Willen unterstellt und damit auch dem Satz vom zureichenden Grunde unterworfen, weil hier bereits Zwecke übergreifen. Denn auf dieser Stufe müssen die „Kunstmittel zu Kunstzwecken" besonnen-sinnvoll verwandt werden. So muß ζ. B. der Dichter auf dieser Stufe die planvolle Anordnung des Stoffes, den stilistischen Ausdruck bis hin zum Metrum wachsam bewußt seinem Darstellungswillen unterwerfen. Auch das Fachwort von den f r e i e n Künsten muß Schopenhauer Hilfestellung leisten, um die relative Willensfreiheit zu exerzieren und zu demonstrieren. Dennoch ist beim Ringen des Intellekts mit dem Willen eine so starke Beanspruchung nötig, daß Genialität nicht selten an Wahnsinn grenzt (Vorwegnahme Lombrosos). Schopenhauer hebt weiterhin die Relativität der Zeit und das Stellvertretende des Einzelfalles „für tausende" von anderen Fällen innerhalb der Kunst hervor. Er nähert sich dabei dem Begriff des Typischen als dem Gattungsbegriff („Offenbarung der Idee seiner Gattung"). Der Dichter nimmt ζ. B. „aus dem endlosen Gewirre des überall in unaufhörlicher Bewegung dahineilenden Menschenlebens eine einzige Szene (Drama), ja oft nur eine Stimmung und Empfindung heraus (Lyrik), um uns daran zu zeigen, was das Leben und Wesen des Menschen sei". Die Poesie habe die Aufgabe, über die Phantasie zur Anschauung zu führen. Ihre Funktion besteht darin, „durch Worte die Phantasie ins Spiel zu versetzen". In ihr hat — wie in der Kunst überhaupt — die anschauende Erkenntnis den Vorrang gegenüber der abstrakten Erkenntnis. Schopenhauer würde also die abstrakte Richtung des Expressionismus nicht gutheißen können. In dem Maße, wie die Form der Kunst vom bloßen Stoff erlöst, kommt sie den platonischen Ideen näher. Das wird besonders an der bildenden Kunst demonstriert. Das Schöne ist für Schopenhauer so eng mit dem Schauen verbunden, daß er es

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von englisch „shew" (sic!) ableitet. Nur auf der obersten Stufe seiner Objektivation kann der „Wille" ästhetische Werte wie „Schönheit und Grazie" erreichen. Erfrischend stößt der glänzende Stilist Schopenhauer vor gegen die „Vandalen", welche die deutsche Sprache „verhunzen". Das Rokoko findet — als lockeres Spiel seinem lastenden Ernst fremd — keine Gnade vor seinen Augen. Dagegen ist ihm die schöpferische Stimmung durchaus vertraut und daher der Terminus Konzeption durchaus lieb, weil er das Fruchtträchtige trifft. Poesie soll eine Angelegenheit des Festtags bleiben und nicht dem Alltag und seinem Erwerb dienen. Freilich unterschätzt Schopenhauer bei dieser Gelegenheit, daß der Dichter ebensowenig vom Ertrag seines Dichtens wie der Philosoph vom Ertrag seines Denkens leben kann. Dem Schicksalsbegriff in der Tragödie ist Schopenhauer schon deshalb abhold, weil ein Kampf mit dem Schicksal Willensfreiheit voraussetzt, wenn er nicht ebenso sinnlos wie aussichtslos wirken soll. Der Determinismus bringt es mit sich, daß jede Form der Schicksalstragödie, vor allem aber das Motiv eines Kampfes gegen das Schicksal sinnlos wird. In Grillparzers „Medea" klingt vieles nach nicht nur von Schopenhauers Weltanschauung, sondern auch von seiner Kunstanschauung: Schatten und Traum sind die Erträge des vermeintlich heroischen Ringens. Die christliche Vorsehung aber sei nichts weiter als „das christianisierte Schicksal". Das würde sich also gegen die Schicksalsdramatiker (A. Müllner, Z. Werner, E. v. Houwald usw.) richten. Die Funktion des Chors im Drama vergleicht er mit der ständig begleitenden Funktion des Basses in der Musik. Außerdem vertritt der Chor die Besonnenheit der größeren Distanz, verglichen mit der leidenschaftlichen Befangenheit der in den Gang des Geschehens unlösbar verflochtenen Gestalten der Tragödie. In Goethes „Egmont" haben die Volksszenen die Aufgabe des antikischen Chors übernommen. Schopenhauer hält von der Datengeschichte ebenso wenig wie Hegel. Aber er lehnt es ab, aus Geschichte eine Art Philosophie zu machen. Zunächst stößt ihn der Historismus ab, der zur Zeit der „Parerga . . . " schon grassierte. Die Beschäftigung mit der Historie verführe zum Nichtdenken vor lauter Datensammeln, das notwendig ins Bodenlose führe. Zudem sei die „Geschichtsmuse Klio" eine ausgemachte Lügnerin. Die kritische Geschichtsschreibung könne immer nur halbe Arbeit leisten. Das Positive bleibe immerhin, daß die Geschichte wenigstens einiges Große festhält und „aus dem allge-

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meinen Schiffbruch der Welt" rettet. Bei dem Seitenblick auf die Presse fällt die Bemerkung: „Die Zeitungen sind die Sekundenzeiger der Geschichte". Aber das war nicht so wohlwollend gemeint wie die Wendung H. Laubes über die Bühne als den „Telegraphen unserer Zeit" (das war damals das Modernste). Schopenhauer nennt die Journalisten „Allarmisten", weil sie alles unendlich aufbauschen. Für die T h e o r i e der G a t t u n g e n ergibt sich etwa folgendes Bild. Wie eine kritische Bemerkung gegen Byron und eine anerkennende gegenüber Homer und Goethe ablesen läßt, fordert Schopenhauer vom Epos und Drama vorzüglich Objektivität. Das D r a m a gilt als die „vollkommenste Abspiegelung des menschlichen Daseins". Der Wirkung nach sind drei Grundtypen zu unterscheiden, die Erregung des Interesses, die Erregung des Mitleids, die Erregung der Erschütterung und Verstärkung des tragischen Lebensgefühls. Dabei erinnert das „Interessante" etwas an die Konzeption Chr. Garves („das Interessierende"), aber auch der geniezeitgemäßen Dramaturgie (Lenz), das „Sentimentale" der Mitleidserregung (also nicht abfällig gemeint) an Lessing, während die Betonung des „Tragischen" Schopenhauer Gelegenheit gibt, seinen „Pessimismus" zu entfalten unter Hinweis auf die „Not des Daseins" und die „Nichtigkeit alles menschlichen Strebens" (vgl. Grillparzer). Im Rahmen des Systems vertritt die Tragödie zugleich die Überwindung des „Willens zum Leben" durch eine unmittelbare oder mittelbare Ermutigung und Ermächtigung zu einer „Abwendung des Willens vom Leben". Deutlich klingt das Hauptwerk an, wie es denn von hier ab überhaupt gegeben erscheint, die Erträge aus der „Welt als Wille und Vorstellung" (1819) und den „Parerga und Paralipomena" (1850/511) zu verbinden. Das Hauptwerk kommt besonders mit dem Dritten Buch des Ersten Teils in Betracht, und zwar mit jenen Partien, die das Kennwort tragen „Die platonische Idee: das Objekt der Kunst" und gleichsam eine Ä s t h e t i k i n n e r h a l b des H a u p t w e r k e s darstellen. Insofern hätte also doch auch Schopenhauer eine Ästhetik geschrieben, nur daß sie in das Hauptwerk einbezogen worden ist. Danach entfaltet sich das Ästhetische dort, wo — im Ausnahmefall —· kraft eines Überschusses an Erkenntnis im genialen schöpferischen Menschen im Reiche der Ideen, die als Stufen der Objektivation des Willens aufzufassen sind, ein vom Eingriff des Willens freier Spielraum für die Entfaltung

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der Kunst geschaffen wird. Und zwar geschieht das dadurch, daß „die Erkenntnis sich vom Dienste des Willens losreißt". Das Objekt-Subjekt-Verhältnis hat sich in diesem hohen Stufenraum dank jener spontanen Anstrengung des überschüssigen Erkennens und Anschauens auf die Weise verschoben, daß die Idee das Objekt geworden ist und es sich um ein „reines", vom Druck des übermächtigen Willens befreites Subjekt handelt. Dieses „reine, willenlose Subjekt der Erkenntnis", das von den Relationen und dem Satz vom zureichenden Grunde befreit ist, kann sich ganz der Kontemplation hingeben und in ihr seine Erfüllung finden (Einbau des Autonomiegedankens in das System). Nicht die Dingwelt, sondern die „ewige Form" der (platonischen) Idee ist das diesem weil willenlos auch leidlos und schmerzfrei erscheinenden Subjekt allein würdig zugewiesene und zugeordnete Objekt, eben das „Objekt der Kunst". Demgemäß kann Schopenhauer fragen, welche Erkenntnisart es denn nun sei, die jenes wirkliche „Wesentliche" der Welt jenseits aller Willensbindungen und Erscheinungstrübungen und damit das zeitlos Bleibende, Dauernde, Ideenhaltige und dergestalt die „adäquate Objektivität des Dinges an sich" (also des „Willens") zu erfassen vermöge, und antworten: „Es ist die Kunst, das Werk des Genius". Goethes Gewahrwerden der wesentlichen Form findet hier gewissermaßen seine philosophische Paraphrase und systematische Paraphierung. Und wenn der Expressionismus — wie vorher etwa der Charon-Kreis — soviel Wesens vom angeblich neu entdeckten „Wesentlichen" und „Wesenhaften" gemacht hat, so hätte er sich ruhig ein wenig an Arthur Schopenhauer erinnern können. Ja, die ganze „Wesensschau" hat hierin eine ihrer tiefsten Wurzeln anzuerkennen. Denn Schopenhauer wird nicht müde, immer wieder zu betonen und herauszustellen, daß es sich um das Wesenhafte und das Ergreifen dieses Wesenhaften durch die intuitive Anschauung handelt. Er spricht von der Kunst und dem Kunstwerk als von einem „hellen Spiegel des Wesens der Welt" (Einbau des Spiegelsymbols). Eben darin liegt das kontemplative ästhetische Verhalten und die Vorbedingung für ein künstlerisches Gestalten. Die durch reine Kontemplation aufgefaßten Ideen entscheiden das Schicksal der Kunst (auch bei der Musik, wo jedoch an die Stelle der Idee der Wille selber tritt). Aber dieses Auffassen ist immer zugleich ein Anschauen. Es handelt sich im doppelten Sinne des Wortes um

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eine Kunst-Anschauung als eine Schau der Ideen durch das Medium der Kunst. Und es handelt sich zugleich — und auch das stellt Schopenhauer schon mit Rücksicht auf sein System klar — bei der Kunst immer nur um eine Ausnahmesituation, gemessen am ehernen Gesetz des Willens zum Leben. Deshalb wurde oben vom „toten" und doch so unendlich lebenspendenden Winkel der Kunst gesprochen, wohin das vernichtende Geschoß des Willens nicht reicht. Und dennoch — und darin sieht der Philosoph einen Triumph seines Systembaus — schwingt die wohltuende Ferne vom Zwang des Willens andererseits doch wieder in eine Nähe der Willens-Welt ein, weil die „Ideen" ja doch Objektivierungsstufen des Willens bleiben, wie der Wille das so viel gesuchte ,,Ding an sich" bleibt. Dieser Triumph wird demnach im geweihten Raum der Musik besonders festlich gefeiert. Kehrt man von diesem gewiß nur flüchtigen Seitenblick auf die allgemeine Ästhetik zur Poetik zurück, so ist äußerlich hervorzuheben, daß für die Poetik in jenem Zusammenhange etwa nur ein gutes Dutzend Seiten abfallen. Von ihnen beansprucht einen verhältnismäßig oder unverhältnismäßig großen Anteil die kritische Klärung des V e r h ä l t n i s s e s von Poesie u n d H i s t o rie, die — zeitbedingt — Schopenhauers Interesse merklich bindet. Im ganzen gilt dabei der Dichter dem Historiker überlegen auf Grund seiner spontanen Wesensschau, während der Historiker leicht an die Fülle des Stoffes gebunden bleibt: „Der Dichter aber faßt die Idee auf (Berührung mit Hegel), das Wesen der Menschheit außer aller Relation, außer aller Zeit (Abstufung gegenüber Kant), die adäquate Objektität des Dinges an sich auf ihrer höchsten Stufe" (Einbau in das eigene System Schopenhauers). Und, so paradox es zunächst klingen mag, insofern steckt in der Poesie mehr wesenhafte Wahrheit als in den Wirklichkeitsbelegen der Historie. Im Spiegel des poetischen Geistes tritt die Idee (als das eigentliche Objekt der Kunst) reiner, ungetrübter und daher auch deutlicher ins kontemplativ angeschaute Bild. In der Rumpelkammer der Haupt- und Staatsaktionen dagegen geht der frei überschauende Blick verloren. Der Dichter vermag außerdem im Einzelnen das Ganze widerzuspiegeln. Er sieht dieses Einzelne sehr genau, während dem Historiker, der gleichsam auf einem Bergesgipfel steht, wohl die weite, aber eben doch nur ungenau bleibende Vielheit der Erscheinungen ins Blickfeld tritt.

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Nun endlich kann an das oben ü b e r d a s D r a m a Gesagte angeknüpft und damit die Skizze der G a t t u n g s t h e o r i e wieder ins Auge gefaßt werden. Die dort erwähnte Dreistufung der dramatischen Wirkung war schon vorgebildet. Das Drama, das die höchste Rangstufe einnimmt, wird dabei weniger nach der Wirkung als nach dem Motiv wiederum dreifach gegliedert. Das Tragische nämlich kann einmal begründet sein in einem extrem boshaften Charakter (Kreon in der „Antigone" des Sophokles, Richard III. bei Shakespeare, Franz Moor bei Schiller usw.), zum anderen in dem extrem zufälligen „Schicksal" (ödipus, Braut von Messina, Voltaires „Tankred" usw.), drittens in einer nicht extremen Schicksalslage bei nicht extremen Gestalten durch den Zwang der persönlichen und situationsgemäßen Konflikte, wobei Recht und Unrecht gleichmäßig verteilt bleiben. Diesen dritten Typus, den er durch Goethes „Clavigo" (Marie-Tragödie) und „Faust" (Gretchentragödie), durch Shakespeares „Hamlet" (Ophelia-Tragödie) und in gewissem Grade auch in Corneilles „Cid" vertreten sieht, stellt Schopenhauer am höchsten. Das geschieht nicht nur und nicht einmal in erster Linie wegen der größeren kunsttechnischen Schwierigkeiten, die Schopenhauer an sich überall wachsam im Auge behält (Schwierigkeiten im 4. Akt; vgl. Grillparzers „Hero und Leander"), sondern wegen der Nähe zum möglichen Geschick des Zuschauers (vgl. Lessing). Denn eben jenes Nicht-Extreme erinnert diesen daran, daß ihm selber ohne großes Verschulden durch die Macht der Verhältnisse und die Verworrenheit der menschlichen Bezogenheiten ein Ähnliches jederzeit widerfahren könnte. Wie angedeutet, hat hier merklich der Dramaturg Lessing das Wort. Das eigene Wort aber ergreift Schopenhauer unverwechselbar mit der bekannten Definition der Tragödie: „Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier auf der höchsten Stufe seiner Objektität (eigener Terminus) am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt". Von dieser denkwürdigen Prägung aus liegt die Perspektive zu Grillparzer, Grabbe, Büchner, Hebbel offen überschaubar im Blickfeld des dramatischen Entwicklungsraums, ohne daß für jeden Einzelfall eine unmittelbare Beeinflussung angenommen werden soll und kann. Dagegen könnte die Tendenzprogrammatik des Jungen Deutschland sich nicht auf Schopenhauer berufen (sie kam nicht einmal mit Hegel klar). Denn Schopenhauer hat das Tendenzstück ausdrücklich verworfen („Parerga . . ."), und 3

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zwar mit sehr unzweideutigen Worten als das „Drama von politischer, mit den momentanen Grillen des süßen Pöbels liebäugelnder Tendenz", das mit Recht dem baldigen Überholtsein anheimgegeben und damit seiner schnellen wohlverdienten Vergessenheit verfallen sei. „Pöbel" ist dabei im Sinne Lessings gebraucht, wonach es Pöbel in allen Ständen gibt. Aber Schopenhauer will merklich auch das Konjunkturmäßige treffen, indem er sarkastisch hinzufügt: jenes schnelle Überholtwerden pflege die Betroffenen kaum anzufechten, weil sie vor allem für den Erwerb „fechten" und für die Erfüllung der Bitte: „Unser t ä g l i c h Brot gib uns heute". Während Schopenhauer bei der Abhebung von Historie und Poesie geltend macht, daß es für die Poesie nicht darauf ankomme, ob es um „Kleinigkeiten oder Wichtigkeiten, Bauernhöfe oder Königreiche" gehe, scheint er — denn ganz widerspruchslos verfährt er dabei nicht — für die Tragödie den Maßstab des Bedeutenden und Hervorragenden beizubehalten. Denn während es dort als ein Nachteil der Historie angesehen wird, daß der Mensch im steifen „Staatskleid" oder im „schweren, unbiegsamen Harnisch" verloren geht, stellt er andererseits die Forderung für den historischen Dramatiker auf: „Der Dichter stellt mit Wahl und Absicht bedeutende Charaktere in bedeutenden Situationen dar". Von hier aus wird sein Bedenken gegen das bürgerliche Trauerspiel verständlich. Dem Bürger als Helden einer Tragödie „fehlt es an Fallhöhe", d. h. er steht nicht hoch genug, er reißt nicht hinreichend andere Schicksale bei seinem Sturz mit sich herab, um zum Träger des Tragischen geeignet zu sein. So radikal wie das Tendenzstück wird aber das bürgerliche Trauerspiel nicht abgelehnt. Auch ist zu berücksichtigen, daß Schopenhauer in der Tragödie den höchsten Ausdruck des sich selber widerstreitenden Willens in seiner grandiosen Wucht verwirklicht sieht. Selbst in religiöse Vorstellungen reicht ihr Wesen hinüber; denn „der wahre Sinn des Trauerspiels ist die tiefere Einsicht", daß der tragische Held nicht nur und nicht im ersten Betracht seine persönlichen Sünden („Partikularsünden") abbüßt, sondern die Erbsünde als „Schuld des Daseins selbst". Es will trotzdem neuerem Empfinden nicht recht einleuchten, warum dazu „Fallhöhe" erforderlich sein soll. In diesem Zusammenhange spricht Schopenhauer denn auch nicht von Fallhöhe, sondern dort, wo ihm mehr das Motiv, nicht der „Sinn"

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vorschwebt. Dieses Schopenhauersche Gegenargument gegen das bürgerliche Trauerspiel hat aber lange nachgewirkt, und noch Hebbel als Dichter der „Maria Magdalene" hat damit zu kämpfen, ohne es ganz lahmlegen zu können. In weiterer Perspektive taucht hier schon die Frage auf, warum es später trotz sehr fortschrittlicher Theorie dennoch in der Praxis merklich gescheut wird, den ungelernten Arbeiter als Helden oder auch nur als Zentralgestalt in der Tragödie durchzusetzen (Naturalismus). Bewußt bemühte sich nicht zufällig die Neuklassik, für die erforderliche Fallhöhe Sorge zu tragen, allerdings ohne künstlerischen Erfolg. Bei Schopenhauer spielte das Bedürfnis mit, die Größe des Erdenjammers gerade an den Großen der Erde möglichst lapidar demonstriert zu sehen. Und Grillparzer hat derartige Demonstrationen an dem Helden Jason oder König Ottokar, Grabbe an Hannibal oder Napoleon, Büchner an Danton eindrucksvoll im Kunstwerk vollzogen. Büchners Woyzeck jedoch würde es im Sinne Schopenhauers an Fallhöhe fehlen. Wohl mehr eine der Extravaganzen Schopenhauers dürfte vorliegen, wenn er gelegentlich Iffland, Kotzebue und Ernst Raupach verteidigt. Der Einwand des Musikfreundes gegen das Opernlibretto richtet sich gegen die „poetischen Wassersuppen", die sie zu servieren pflegen. Außerdem erlahme das Interesse beim „Schneckengang einer meistens sehr faden Handlung". Selbst der Ausweg, den Gluck gesucht habe, erweise sich als Irrweg und führe zur Dienstbarkeit der Musik gegenüber einer zudem durchweg „schlechten Poesie". Damit erweitert sich der Angriff auf die Oper selbst. Fast mit der Schärfe A. W. Schlegels verurteilt Schopenhauer an der Oper die Anhäufung der Darstellungsmittel verschiedener Künste. Er bevorzugt Instrumentalmusik und „Messe". Und fast schon mit den Begründungen Fr. Hebbels und späterhin Ernst Wachlers (Heimatkunst, Freilichttheater, vgl. Bd. V) sieht er in dem Zusammenspiel von Musik und Poesie einen Nachteil für beide Sonderkünste. Die Musik verliert an Freiheit durch die Kuppelung mit Wort und Handlung, und auf der anderen Seite verliert die Dichtkunst; „denn eine gedrängte, geist- und gedankenvolle Poesie verträgt der Operntext gar nicht, weil einem solchen die Komposition nicht nachkommen kann". Entscheidend beteiligt an dieser Polemik war indessen die Rücksicht auf sein System. In ihm hatte er der Musik eine Sonderstellung gegenüber den anderen Künsten eingeräumt, die nicht 3*

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nur graduell, sondern essentiell begründet war. Während nämlich die anderen Künste den Willen immer nur „mittelbar" objektivieren, ist die Musik als einzige Kunst nicht auf den Umweg über die „Ideen" angewiesen. Vielmehr ist ihr der gerade Weg offen; denn sie allein ist „Abbild des Willens selbst". Sie ist den Ideen ebenbürtig und findet daher kein Genüge in der bloßen Erfassung, Vermittlung und Darstellung der „Ideen", da sie sich fühlen darf als „unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens". Man ist zunächst einigermaßen überrascht, warum der „Wille", der bislang als so unangenehm, ja bösartig galt, nun plötzlich zum Ehrenzeichen der ranghöchsten Kunst avanciert. Aber das System mußte sich „irgendwie" auf Biegen oder Brechen schließen. Der verlorengegangene Kontakt mit dem Willen mußte repräsentativ wieder hergestellt werden. Und dazu erkor sich Schopenhauer seine Lieblingskunst: die Musik. Man kann aber an dem langen Anlauf, den er dabei nimmt, deutlich ablesen, daß ihm selber dieser Sprung reichlich gewagt vorgekommen sein muß. AnalogieBegriffe müssen aushelfen, und trotzdem wird es schwer fallen, die „Dunkelheit des Gegenstandes" als erhellt anzuerkennen. Das sind Einzelfragen der Musiktheorie, die hier zu weit führen würden. Man spürt an solchen Stellen, daß Schopenhauer die Kunst zu weit in die Philosophie hinüberbildet, wie Nietzsche die Philosophie zu weit in die Kunst hinüberbildet. Nur, wenn die Sonderforschung meint, Schopenhauer habe zu einseitig Gehalt-Ästhetik und zu wenig Gestalt-Ästhetik getrieben, so hat sie offenbar ihre Aufmerksamkeit zu starr auf das Hauptwerk und nicht umsichtig (und „einsichtig") genug auf die Begleitwerke gerichtet. Dort hätte sie Sätze gefunden wie etwa den gegen ein „Unternehmen, durch den S t o f f zu wirken", das „absolut verwerflich" sei „in Fächern, wo das Verdienst ausdrücklich in der F o r m liegen soll — also in den poetischen". Überhaupt würde sich ein reiner Gehalt-Ästhetiker schwerlich so liebevoll eingehend „Über Schriftstellerei und Stil" geäußert haben. Schopenhauer macht sich auch in dem Hauptwerk Gedanken über das sprachliche Darstellungsmittel, dessen Begrifflichkeit nicht ganz ungefährlich sei. Er fragt nach den darstellerischen Funktionen von Attribut, Reim und Rhythmus. Reim und Rhythmus scheinen ihm in ihrer geheimnisvoll starken Wirkung schwer ergründlich als „Bindemittel" für die Aufmerksamkeit, als Zaubermittel, unsere unbewußte Zustimmung und ein „Einstimmen" in das Kunstwerk zu erzwingen,

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bevor noch das Urteil gesprochen ist. Die Lyrik, in der die Romanze vom Lied des rein Subjektiven schon um einen Schritt ins episch Objektive führt, ist kunsttechnisch relativ „leicht", daher konnten auch Volkslieder entstehen, ohne daß eine schöpferische Genialität in Bewegung gesetzt zu werden brauchte. Gerade ganz schlichte Gedichte mit allgemeinmenschlichen Motiven haben einen hohen Dauerwert. Das „Subjekt des Willens" sei für die Lyrik kennzeichnend. Die „poetische Wirkung" des Liedes beruhe auf einer Art von Identität „des Subjekts des Erkennens mit dem des Wollens". Sogar die Ehre widerfährt dem lyrischen Zustande, mit dem Satz vom zureichenden Grunde in würdige Beziehung zu treten. Ob Wilhelm Raabe immer Schopenhauer treulich gefolgt ist, der vom wertvollen Roman ein Überwiegen des inneren Lebens über das äußere Leben (Fabel, Geschehen) forderte, bleibe dahingestellt. Ein Zug zur Verinnerlichung aber ist Raabe nicht abzusprechen, der im übrigen mehr nach Lebensgefühl als nach Ästhetik Schopenhauer verbunden gewesen sein dürfte. Ähnliches scheint auf den ersten Blick auch für F r a n z G r i l l p a r z e r (1791—1872) zu gelten. Es wird aber noch erkennbar werden, inwieweit der Frankfurter Philosoph auf den Wiener Dichter mehr dem Lebensgefühl oder mehr der Kunstphilosophie nach eingewirkt hat. Kunsttheoretisch und für die eigene Ästhetik Grillparzers wird zunächst der Einfluß Bouterweks viel eher greifbar. Innerhalb des Wegsuchens zwischen Nachklassik und Nachromantik läßt Grillparzers Kunsttheorie, die auch von der klassischen und Kantischen Ästhetik beeinflußt erscheint, durchweg den nachklassischen Charakter überwiegen. Die Lektüre der Bouterwekschen Ästhetik ist — wie die erste Beschäftigung mit Schopenhauer — bereits für 1819 belegt. Grillparzer scheint Bouterwek recht hochgestellt zu haben, denn nach — allerdings nur mündlicher und mittelbarer — Überlieferung soll er noch 1859 Bouterwek als „den besten Ästhetiker und einzig verläßlichen Führer im Reiche der Theorie" bezeichnet haben. Daneben ist der zum mindesten durch Schillerlektüre vermittelte Einfluß Kants frühzeitig anzusetzen. Was den Gegner der absoluten, deduktiven Ästhetik an Bouterwek anziehen mußte, war nicht zum wenigsten dessen vorherrschend induktives Verfahren. In vieler Hinsicht grundlegend für Grillparzers kunsttheoretische Gesamteinstellung, die im einzelnen naturgemäß gewisse Modifikationen aufweist,

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bleiben doch die frühen Aufzeichnungen ,,Zur Kunstlehre" (1819); denn in ihren Hauptzügen trägt seine Kunstauffassung einen unverkennbar konservativen Charakter, der den reinen Schönheitsdienst der Kunst auch in späterer Abwehr der Tendenz aufrechterhält. An jene Bemerkungen „Zur Kunstlehre" schließen sich dann im Laufe der Jahre und Jahrzehnte eine ganze Reihe von kunsttheoretischen Äußerungen, die sich keineswegs in der Zusammenstellung der Ästhetischen Studien (Sauers Ausgabe Bd. XV) erschöpfen, sondern weiterhin verstreut auftreten in den Studien zur Literatur, zum spanischen Theater, in den Tagebüchern und der Selbstbiographie. Gegenüber der Ästhetik, im Besonderen der spekulativen Ästhetik der Schlegel und Hegel, wahrt Grillparzer eine vielfach betonte Skepsis. Er fragt sich, wozu denn überhaupt die Ästhetik nütze sei, wenn sie doch nicht die Fähigkeit besäße, Lehren für die künstlerische Produktion oder Anregungen für den rechten Kunstgenuß in die Hand zu geben. In ganz ähnlicher Weise hatte einst Schiller in einem Briefe an Wilhelm von Humboldt die kunsttechnischen Einzelhinweise höher bewertet als die leicht allzu allgemeinen kunstphilosophischen Begriffe und Ideen. Eine relative Rechtfertigung glaubt Grillparzer immerhin darin zu finden, daß die Ästhetik kunstverstandesmäßige Aufklärung und Rechenschaft zu bieten vermag; denn, ,,wenn die Ästhetik auch keine Rechenkunst des Schönen ist, so ist sie doch die Probe der Rechnung", d. h. sie bietet das nachträgliche Bestätigen und Rechtfertigen eines künstlerisch-schöpferischen Verhaltens oder eines ästhetischen Urteils. Außerdem kann ihr der Wert einer Vorbeugung, eines Abwehrmittels gegen das schlechtweg Verfehlte, gegen das ausgesprochene Abirren und Fehlgehen des Schaffenden immerhin zugestanden werden; denn „auch die richtige Ästhetik würde zwar die spezifische Begabung oder das Talent nicht entbehrlich machen, uns aber doch vor dem ganz Verkehrten und Absurden bewahren". Dazu kam, daß Grillparzers gebrochenes Selbstgefühl trotz teilweiser verzweifelter Gegenwehr des Künstlers dennoch stärker zur reflektierenden Haltung neigte, als einem naiven Kunstschaffen gut sein konnte. So empfand er die Theorie einerseits als Feindin schöpferischer Versunkenheit, andererseits aber doch als eine, wenn auch unzulängliche Helferin. Neben dem Drang nach kunstverstandesmäßiger Erkenntnis stand stets der wache und wehe Zweifel am

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Wert solcher Erkenntnis. Aber diese Skepsis gegenüber dem Geltungsrecht und der Zweckhaftigkeit aller Theorie, wie sie ζ. B. noch in einer Äußerung von 1857 sich Luft macht, hindert doch nicht erneutes theoretisches Grübeln, läßt jedenfalls noch den halben Trost, daß zwar Regeln das Genie hemmen mögen, aber als Vorbeugungsmaßnahmen gegen unzulängliche Talente kaum entbehrlich sind, also wenigstens relativ nutzbar und regulativ brauchbar sein können. Im Sinne der Klassik hat für ihn die Kunst das Schöne darzustellen; und zwar ist schön „dasjenige, das, indem es das Sinnliche vollkommen befriedigt, zugleich die Seele erhebt". Es handelt sich dabei um nur eine sinnliche Illusion, um ein „sinnliches Ebenbild des Geistes", das in der Anschauung vor unseren „leiblichen Augen" durch die formfindende Kunst des Gestaltenden gleichsam herauf,,gezaubert" wird. Zum Teil greift Grillparzer — was für die Entwicklung in Österreich nahelag — über die Klassik auf die aufklärerische Frühklassik zurück; denn das Sinnlich-Vollkommene Baumgartens taucht mehrfach in der Ferne, gelegentlich auch in stärkerer Beziehungsnähe auf. Es bedeutet keineswegs eine Verwandtschaft mit dem ideellen Realismus, sondern will als nachklassische Tradition aufgefaßt sein, wenn Grillparzer formuliert: „Schönheit ist die vollkommene Übereinstimmung des Sinnlichen mit dem Geistigen". Rationalistischen Teileinschlag weist ζ. B. der vielerörterte Begriff des „Symbolischen" bei Grillparzer auf. Jodl zwar meint, dieses Symbolische in Grillparzers Sinne habe mit dem Allegorischen nichts gemein. Aber Strich kann doch eine ganze Reihe von merklich allegorienhaften äußerlichen Symbolen in Grillparzers eigener Produktion nachweisen, die dem symbolhaltigen Requisit z.T. bedenklich naherücken. Grillparzers Leitformel: „So Wort und Bild zu gleicher Zeit" gleitet in der Praxis doch häufig zum allegorisierenden Symbolismus oder, wie Lessing sagen würde, zur „Allegoristerey" ab. Auch das „Goldene Vlies" ist nicht so ganz frei davon. Die sinnliche Geltungsschicht bleibt recht dünn und wird überall von der geistigen Sinngeltungslinie, vom geistig Bedeutsamen durchstoßen. Das „Symbolische" Grillparzers soll nicht die Wahrheit selbst, sondern ein Bild der Wahrheit geben, soll zeigen, „wie sich das Licht des Geistes in dem halbdunklen Medium des Gemüts färbt und bricht"; es soll nicht unserem Verstände Rätsel aufgeben, sondern nur unsere Phantasie in anregender Weise beschäftigen.

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Aber die zahlreichen „Symbole" in Grillparzers Kunstschaffen — Strich gibt eine Zusammenstellung — ähneln verdächtig weitgehend der Allegorie, z . T . umgefärbt durch die Nachwirkung der Schicksalsdramatik. A m ehesten könnte man innerhalb der Theorie Grillparzers das Symbolische als eine Kreuzung des Allegorischen mit dem Typischen (Klassik) auffassen. Daß im Vereinzelten, Besonderen zugleich ein allgemeiner Geltungswert vom Künstler im Sinne der Konzentration zu verdichten sei, betont Grillparzer auch sonst. In scharfer Unterscheidung von der romantischen Kunstauffassung der progressiven Universalpoesie fordert Grillparzer im Gegensatz zur Vielseitigkeit der Bildung für die Kunst eine gewisse Einseitigkeit, die zu ballen hat: „ I n ihr muß nämlich ein Stoff und ein Gedanke im Augenblick des Schaffens und Genießens an die Stelle der ganzen übrigen Welt treten" ( X V S. 37). Diese Konzentration hebt sich klar ab von der Zersplitterung der Romantik. Die Studie über den „Zweck des Schönen" (1819) kommt zu dem Ergebnis, daß das Schöne selbst der Zweck des Schönen sein müsse, also Selbstzweck. Kants Satz vom interesselosen Wohlgefallen, der zudem 1836 von Grillparzer ausdrücklich angenommen und festgehalten wird, verbindet sich mit der klassischen Lehre K . Ph. Moritz' von der Verwerfung des „Vergnügens" (Mendelssohns), wenn Grillparzer folgert: „ D e r Z w e c k d e s S c h ö n e n i s t d a s S c h ö n e " . Grundlage des Schönen ist die Harmonie in der Persönlichkeit des Schaffenden. Die betreffende Studie ,,Unendlichkeit des Schönheitsgefühls" (1819) ist nicht nur in der Titelgebung abhängig von Bouterweks Abschnitt,, Vom Unendlichen im Schönen''. Schließlich sucht Grillparzer noch die Vollkommenheitsvorstellung in den Schönheitsbegriff einzubeziehen; aber auch darin hatte ihm Bouterwek vorgearbeitet. Überhaupt erweckt Grillparzers Kunsttheorie durchgehend den Eindruck des Eklektizismus; so etwa geht seine Auffassung vom Komischen merklich auf Jean Paul, seine Katharsisdeutung teilweise auf Spinozas Ethik zurück (Beschäftigung mit Spinoza ist ζ. B. für 1822 nachweisbar); danach bringt die nur kontemplative Haltung den überlegenen Abstand von den Leidenschaften. Hinsichtlich der Dramaturgie wird eine vielfach brüchige Verschmelzung der klassischen mit den romantischen Idealen versucht. Vereinzelt reichen die Wurzeln bis auf den französischen Klassizismus zurück. Andererseits möchte Grillparzer nicht mit

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Goethe die Winckelmannsche Antike der „toten Statuen" auf die lebendigen Dramengestalten übertragen und also keineswegs nur „den Winckelmann in Handlung gesetzt" sehen. Offenbar wehrte sich dabei sein gesunder dramatischer Instinkt gegen die ruhende Statik, so daß das bindende Muster der Alten von dieser Seite her eine Einschränkung erfährt. Und gegenüber den sonst anerkannten Vorbildern der französischen und deutschen Klassik ruft hier Grillparzer immerhin romantische Ideale wie Lope de Vega und Shakespeare zur Hilfe. Wiederum versuchte er deren Umdeutung ins Klassische, so daß im Ganzen der Einstellung dennoch der nachklassische Faktor jene nachromantische Einsprengungen und Teilzugeständnisse bei weitem überwog als entscheidender Bildungsfaktor der Grillparzerschen Kunsttheorie. Die Beiträge zur Gattungstheorie lassen bei dem Dramatiker Grillparzer eindeutig die T h e o r i e des D r a m a s u n d des T h e a t e r s quantitativ und qualitativ überwiegen. Es liegt nahe, daß es sich dabei ζ. T. um Selbstrechtfertigungspoetik handelt. So etwa wird in der Frühzeit der umstrittene Schicksalsbegriff der „Ahnfrau" verteidigt, indem er betont: „Die Poesie kann des Hereinspielens eines Übersinnlichen in das Menschliche nie entbehren". Zudem sei auch der Schicksalsbegriff im Drama der Antike Schwankungen unterworfen gewesen (bald mit den Göttern, bald gegen die Götter). Man blickt von hier unwillkürlich voraus auf die AtridenTetralogie Gerhart Hauptmanns, besonders auf dessen „Iphigenie in Delphi". Jedenfalls ist Grillparzer überzeugt, daß die Schicksalsidee „für die Poesie von höchster Wirkung" bleibe, und zwar auch für das moderne Drama. Für das moderne Epos dagegen würde sie „zum Unding" werden. Das Gedicht „Die tragische Muse" (1819) rechtfertigt die blutige Entscheidung der „Medea"-Tragödie. Gegen den Vorwurf der Allegoristerei in dem dramatischen Märchenspiel „Der Traum ein Leben" setzt er sich zur Wehr, indem er das Symbolische zu retten versucht und verallgemeinernd ausweicht: „Nicht allegorisch, aber gewissermaßen symbolisch ist alle echte Poesie" (1834). Selbst Einzelheiten erweisen sich im Rahmen der Rechtfertigung als recht aufschlußreich, so etwa die Verteidigung des kritisch beanstandeten Zusatztitels zum Hero- und Leander-Drama „Des Meeres und der Liebe Wellen". Er habe, so motiviert Grillparzer diese etwas preziöse Titelwahl, von vornherein andeuten wollen, daß die „antike Färbung" nicht über den bewußt „romanti-

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sehen" Grundzug hinwegtäuschen dürfe. Greifbar tritt sein Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik auch im Werkschaffen zutage in der bündigen Erklärung: „ E s w a r ü b e r h a u p t e i n V e r s u c h , b e i d e R i c h t u n g e n z u v e r e i n i g e n " (1837). Gelegentlich einer Verteidigung des „König Ottokar"-Dramas, das er ideelich und motivlich auf die schlichte Formel bringt „Übermut und sein Fall", stellt er die Relativität des Kausalnexus im historischen und im Drama mit erfundenem Phantasiestoff mit einem Nachdruck heraus, der noch ein kurzes Eingehen bei der Würdigung des Verhältnisses von Drama und Historie erfordert. Kurz, es liegen reichlich Bekundungen der Selbstrechtfertigung vor, die sich zudem erheblich vermehren ließen. Aber daneben ist bei Grillparzer nicht nur die Selbstkritik fast überstark ausgebildet, die von jeder Selbstzufriedenheit oder gar Selbstgefälligkeit weit entfernt ist. Vielmehr beschäftigen ihn trotz aller Skepsis gegenüber der reinen „spekulierenden" Kunsttheorie immer wieder Grundprobleme, aber auch Einzelforderungen der Dramaturgie. Als entscheidender Wesenszug des Dramas und als Kriterium seines Kunstwertes gilt vor allem die straffe Kausalität in Geschehen und Komposition. Schon 1819 formuliert er die These: „Das Wesen des Dramas ist, da es etwas Erdichtetes als wirklich geschehend anschaulich machen soll, strenge Kausalität". Und in ständig neuen Variationen wird dieser Leitsatz im wesentlichen auch später festgehalten. Eigentlich erst angesichts seines „Ottokar"-Dramas glaubt er eine große Ausnahme machen zu sollen — zugunsten des h i s t o r i s c h e n T r a u e r s p i e l s . Doch war das schwerlich nur eine Verlegenheitslösung und Ausflucht in eigener Sache. Denn längst vorher war ihm der Gedanke geläufig, daß gerade die Poesie als Phantasiekunst und vorzüglich das Drama als Objektivierung einer Wirklichkeit als Gegenwart auf Kausalität angewiesen sei, weil das System der Philosophie und der Vorsehungsglaube der Religion ihr nicht unmittelbar, sondern höchstens mittelbar zu Gebote ständen. Das Drama mit mehr oder minder frei erfundenem Geschehen und Motiv, das Drama der Stofferfindung fordert strenge, geschlossene, logische und psychologische Stetigkeit und Lückenlosigkeit in der Verknüpfung und Motivierung. Denn da sein Inhalt ersonnen sei, also ein Produkt des menschlichen Verstandes, müsse es auch auf den Verstand paßgerecht zugeschnitten sein. Oder wie Grillparzer formuliert: „nur, was sich völlig erklären läßt,

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wird ihr zugegeben; denn ihre Aufgabe ist Menschenwerk". Demgegenüber hat im historischen Drama die Wirklichkeit, die dort erst zu konstruieren war, ihr gewichtiges Wort bereits gesprochen. Diese Wirklichkeit zeigt oft Widersprüche, bringt häufig Überraschungen, Sprunghaftes, Inkonsequentes und nur halbwegs Abwägbares. So auch in der Wirklichkeit der Historie. Hier hat der Dramatiker das Machtwort des geschichtlichen Geschehens, der bezeugten und belegten Tatsächlichkeit hinter sich. Er bedarf daher nicht oder doch nicht in erster Linie einer ängstlichen Motivierung und restlosen Erläuterung: „Das Letzte der historischen Tragödie aber ist Gottes Werk, ein Wirkliches: eine Existenz". Das besagt nun nicht, daß dem historischen Dramatiker jede Motivierung und kausale Verknüpfung erlassen sei. Er braucht darin indessen nicht den höchsten Wert zu sehen. Vielmehr liegt seine beste Leistung vielleicht gerade darin, auch das Inkonsequente und „eine gewisse Inkongruenz" durch seine Gestaltung ahnungsvoll-andeutend hindurchschimmern zu lassen (1825). Übrigens hat Grillparzer auch jenseits des Geschehens im historischen Drama darauf aufmerksam gemacht, daß ζ. B. in der Charakterisierung nicht in den starren Konsequenzen eines Charakters, sondern im Erfassen der Inkonsequenzen das Schwierige und künstlerisch Anspruchsvolle liege. Früher hatte er Geschichte und Poesie so voneinander abgehoben, daß jenes Sinnvoll-Planvolle, was in der Historie nur in weiten Entwicklungsräumen greifbar und begreifbar werde, im Kunstwerk auch auf engem Raum sich durchsetzen müsse als sinnvolle Leitidee. Damit wird schon die Frage des V e r h ä l t n i s s e s v o n I d e e und D r a m a berührt. Sie beschäftigt ihn fast ebenso lebhaft wie die der Kausalität. Zunächst steht er dem ausgesprochenen IdeenDrama reellt kritisch gegenüber. Denn ihm will fast scheinen, als ob unter dem Einfluß der Philosophie der vielbespöttelte alte „moralische Lehrsatz" (Gottsched) neuerlich durch einen philosophischen Lehrsatz ersetzt worden sei, wobei fraglich bleibe, ob man dabei nicht vom Regen in die Traufe gekommen sei. Der Primat der schöpferischen Phantasie und der Primat der gestaltenden Veranschaulichung, beides oft beschworeneGrundkräfte, jaZauberformoln in Grillparzers Kunsttheorie, duldet nur ungern ein SichVordrängen abstrakter und konstruktiver Ideen. Jedenfalls müsse man sich klar darüber sein, daß die „poetische Idee" etwas wesentlich Anderes darstelle als die philosophische Idee. Für die Poesie

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ist entscheidend, daß die Idee eine anschauliche, gefühlsmäßig überzeugende Kraft besitzt, wie es denn Aufgabe der Poesie sei, aus den Natur- und Geschichtsgegebenheiten „eine Einheit für das Gemüt herzustellen", nicht für den konstruktiven Geist. Die Frage, ob der Dramatiker von einer Idee ausgehen solle, beantwortet Grillparzer äußerst behutsam. Wenn man sich einer so grandiosen Belebungskraft sicher sei, wie sie z.B. Calderon besessen und bewährt habe: „warum nicht?" Aber im allgemeinen hätten sich selbst große Dramatiker damit begnügt, vom lebensvollen Faktum auszugehen, um von dieser Basis der greifbaren Veranschaulichung aus zu Ideen „anzuregen". Dieser Begriff des Anregens bedarf überhaupt der Beachtung in der Terminologie Grillparzers. Daneben sind Gefühl und Gemüt die gern herbeigerufenen Gegenmächte gegen eine philosophische Auszehrung der dramatischen Substanz, ja der dichterischen Substanz schlechtweg. Und diese Merk- und Kennwörter erinnern daran, daß Grillparzer auf der Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik keineswegs ausschließlich dem Zug zum Klassischen gefolgt ist. Er brauchte die Hilfstruppen der Romantik, um die starre Front der Formklassik aufzulockern. Aber er weiß auch die unverlierbaren Vorzüge der klassisch formstrengen Dramatik zu schätzen bis hin zu kunsttechnischen Vorteilen wie etwa der Handlungseinheit und der Einheit der Zeit (die des Ortes wird geringer bewertet). Wenn Grillparzer gerade die Zeiteinheit als „höchst wichtig" bezeichnet, so hängt das innig zusammen mit seiner Bestimmung des Dramas als einer „Form", als einer p o e t i s c h e n S o n d e r f o r m der G e g e n w a r t . Mit „Gegenwart" meint er nicht die historisch-politische Gegenwart. Gemäß seiner Abwehr der Gegenwartstendenz des Jungen Deutschland erklärt er in der Maske des Euripides den forschen Berlinern {,,Euripides an die Berliner", 1843): „Was heut geschehen, preis' ich dem Lied nicht an / Und Gegenwärt'ges hab' ich nie besungen / Was ist, ist dem Bedürfnis Untertan / Vergangnes, weil verklärt, ziemt Dichterzungen". Das bedeutet jedoch nicht, daß nun die frühere Opposition zum Historischen mit einer historischen Position vertauscht worden wäre. Was Walter Scott, was Friedr. von Raumer mit seiner Hohenstaufen-Geschichte usw. angerichtet hatten in der ersten großen Welle des Historismus im 19. Jahrhundert, konnte einem Grillparzer nicht zusagen. Sein kritischer Sinn erkennt sehr bald, daß viele der Kleinen hoffen, von dem großen Motiv auch zu einer moti-

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vierten Größe erhoben zu werden. Und so setzt er dieser Inflation des historischen Dramas den Dämpfer auf: „Das Stück ist Geschichte ganz und gar / Nur etwas ennuyanter". Andererseits sieht er nicht im Zeitstück, im Gegenwartsdrama der Weisheit letzten Schluß, vielmehr betont er den Wert des Überzeitlichen; denn nicht umsonst „erschüttert Oedip auch noch heute" (Epigramm „Das Schicksal"). Im Verhältnis Freiheit und Gesetz, Selbstbestimmung und Vorbestimmung, Selbsteinsicht und Vorsehung bekennt er sich als Dramatiker zu dem Gesetzmäßigen des Schicksals als zu jenem ewigen Gesetz, das über alle zeitlichen Satzungen hinwegreicht. Und so meint die Manifestierung der „Gegenwart" als Charaktermerkmal des Dramas in Wirklichkeit Gegenwärtigkeit, nämlich das vollgültige Gegenwärtigmachen einer poetischen Wirklichkeit mit Hilfe der dramatischen Wirkungsform. Neuere Gattungstheorie pflegt diese Gegenwärtigkeit vorzüglich der Lyrik zuzusprechen. Grillparzer beansprucht sie für das Drama, wobei zu berücksichtigen wäre, daß sein Drama starke lyrische Wirkungswerte in sich einschließt. Er denkt dabei an das aufgeführte Drama, an das Bühnenwerk, das zu vergegenwärtigen das Bühnenkunstwerk der Schauspielkunst hilfreiche Hand leisten muß. Der Zuschauer, der vom Dramatiker vor allem überzeugendes „Leben" erwartet, erlebt dieses „Leben" als ein unmittelbar Gegenwärtiges. Dieses Gegenwärtige des Dramas bleibt angewiesen auf die S o n d e r f o r m der A n s c h a u u n g . Schon für die dichterische Bewältigung der poetischen Idee war es entscheidend, ob es dem Dramatiker gelingt, die Begrifflichkeit in eine greifbare Anschauung umzusetzen. Hier liegen nicht zuletzt die inneren Anlässe der Vorliebe Grillparzers für das Symbol. Und keineswegs ist es Zufall oder bloße Rechtfertigung des Titels, wenn Grillparzer ζ. B. angesichts seines „Goldenen Vlieses" die Frage als Wertfrage aufwirft, ob es ihm gelungen sei, dem „sinnlichen Zeichen" die überzeugende Kraft eines poetisch Anschaulichen zu verleihen. Denn Welt-Anschauung kann der Dichter immer nur als Lebens-Anschauung, als A n s c h a u l i c h m a c h u n g des L e b e n s s i n n s oder der L e b e n s p r o b l e m a t i k vergegenständlichen und vergegenwärtigen (Übergreifen des Gegenwartsbegriffs auf den Anschauungsbegriff). Dieses sinnliche Zeichen ist das goldene Widderfell, das zum Symbol maßlosen und doch richtungslosen Geltungsstrebens (Jason) wird: „Erkennst das Zeichen du, um das du

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rangst / Das dir ein Ruhm war und ein Glück dir schien. / Was ist der Erde Glück ? — ein Schatten! / Was ist der Erde Ruhm ? — ein Traum! / Du Armer, der von Schatten du geträumt". Aber das „sinnliche Zeichen" braucht der Dramatiker, damit die Idee eine „poetische Idee" bleibt. Mag hinter der philosophischen Idee Arthur Schopenhauer stehen, hinter der poetischen Idee steht Franz Grillparzer, und zwar nicht nur der Dramatiker, sondern auch der — in dieser Situation elegische — Lyriker. Und mögen hinter „Der Traum ein Leben" faustische oder nichtfaustische Ideen stehen, mag hinter der „Sappho" die wienerische „Fiakeridee" (so Grillparzer selber) stehen, daß gleich und gleich sich gern geselle, immer ist Grillparzer bemüht und befähigt, die Einsicht in der poetischen Ansicht zu veranschaulichen. Er wußte durchaus, wie schwer es damals war, durch „bloße Existenz Glauben" und künstlerische Glaubwürdigkeit zu erreichen, ja zu erzwingen. Denn „sich immer auf dem Standpunkte der Anschauung zu erhalten, wird schwer in unserer, auf Untersuchung gestellten Zeit" (1834). Und es erinnert wieder daran, daß man Grillparzer nicht einfach auf eine verspätete österreichische Klassik einengen darf, wenn in diesem Zusammenhange ausdrücklich auf Shakespeare, Calderon und Lope de Vega, also auf Traditionsträger der Romantik, Bezug genommen wird im Sinne der Vorbild-Poetik. Diese Forderung der Veranschaulichung bedeutet indessen nicht eine vorbehaltlose Bejahung der Illusion. Vielmehr bevorzugt Grillparzer eine Zwischenform, die er „Supposition" nennt. Die Gegenwärtigkeit wie die Anschaubarkeit ist eine gleichsam im stillen Einvernehmen nur vorausgesetzte, nur supponierte, aber keine vorgetäuschte Wirklichkeit. Das Bewußtsein dieser Voraussetzung stört als Begleitgefühl den Kunstgenuß nicht, sondern erhöht ihn. Schon frühzeitig (1817) vergleicht der junge Grillparzer die Situation und Funktion des Kunstwertaufnehmenden mit dem Zustand des Schlafenden im Morgentraum an der Schwelle des Erwachens, wo Eingriffe des Bewußtseins, nur zu träumen, dennoch die Anschauungsschicht des Traumgeschehens nicht ernstlich zu trüben vermögen, im Gegenteil den Reiz der Überschneidung von Bewußtem und Unbewußtem steigern (Annäherung an die Romantik und deren Vorstellung des „Schwebens", aber auch allgemein des Traumhaften). Jedenfalls darf die Illusion nie lästig, nie quälend werden. Das zu vermeiden, ist jene latente

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Übereinkunft der Supposition geeignet, die indessen die Gegenwärtigkeit und Anschaulichkeit nicht gefährden darf. Insofern soll die Supposition nicht in Opposition ausarten. Sie ist kein Gericht über, sondern nur ein Regulativ für die Illusion. Was das Verhältnis von D r a m a u n d B ü h n e , D r a m a t i k u n d S c h a u s p i e l k u n s t betrifft, so vermag Grillparzer die Unterscheidung des Dramatischen und Theatralischen nicht gutzuheißen, weil sie leicht zu einer Trennung von Drama und Bühne verführe. Doch bleibt bemerkenswert, daß er bereits ein Theatralisches im positiven Sinne kennt und anerkennt, obwohl er im Theatralischen noch nicht das Dramatische verbürgt sieht: „Das echt Dramatische ist immer theatralisch, wenn auch nicht umgekehrt". Diesen Mangel an Theatralischem im Dramatischen kritisiert er ζ. B. am Drama Goethes, das im Grundzug „episch" sei. Er denkt dabei besonders an die „Iphigenie" und den „Tasso", die ζ. B. in ihrem Dialog wohl von großer poetischer Schönheit, aber ohne gebotene dramatische Konzentration seien. Das Theater als moralische Anstalt lehnt Grillparzer eindeutig ab. Man dürfe Funktionen der Religion und Philosophie (Ethik) nicht einfach auf das Theater übertragen. Grillparzer läßt es an Schärfen — wie auch sonst häufig in seiner Kunsttheorie — nicht fehlen, um das Theater von moralischen Verpflichtungen freizusetzen: „Das Theater ist kein Korrektionshaus für Spitzbuben und keine Travialschule für Unmündige". Es hat nicht nur das moralisch Geforderte, sondern auch das ästhetisch „Gefällige" (Nachwirkung des Rokoko im Wiener Bezirk) darzubieten, wie es auch nicht nur dramatische Dichtungen zu vermitteln hat, sondern ein Eigenrecht auf anregende Unterhaltung seiner Zuschauer besitzt. Da es in diesem Sinne selbst das „Leichtfertige" nicht einfach verschmähen kann, käme es in eine sehr schiefe Situation, wenn man es als Moralschule einschätzen wollte. Es liegt gleichsam in einer neutralen Zone, deren Integrität gewahrt sein will, wenn anders kein Unheil am Theater einerseits und der Sittenlehre andererseits angerichtet werden soll: „Das Theater muß als sittlich gleichgültig behandelt werden, oder es wird sittenverderbend". Man erinnert sich in diesem Zusammenhange unwillkürlich an den privaten Stoßseufzer G. E. Lessings über diejenigen, die das Theater durchaus zur „Tugendschule" machen wollten und ihm mehr schaden als „zehn Goeze" (Hauptpastor Goeze, orthodoxer Gegner des Theaters; vgl. die Polemik

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Fr. Nicolais). Aber man erinnert sich auch an das, was Grillparzer über die Verwertbarkeit von „Ideen" im Drama geäußert hat. Führt man jene impulsiven Proteste auf das gebotene Maß zurück — und Grillparzers eigene Dramatik berechtigt dazu wie auch manche kritisch-theoretische Stellungnahme —, so würde es auf die Möglichkeit einer freiwilligen Anregung hinauslaufen. Nicht der moralische Satz, aber der ethische Sinn bleibt dem Theater anvertraut. Nimmt man das nicht an, so würde zwischen Theoretisieren und Produzieren ein schier unversöhnlicher Zwiespalt unüberbrückbar klaffen. Denn wohl alle Dramen Grillparzers tragen in sich eine ethische Warnung oder eine sittliche Forderung. Die „Ahnfrau" fordert die Sühnung begangener Schuld und warnt vor der hemmungslosen Hingabe an die Leidenschaft. Die „Sappho" warnt vor der Preisgabe künstlerischer Berufung an den weiblichen Ruf und Beruf und fordert Verständnis der Wesensvielfalt vor der Lebens- und Liebeseinfalt. Das „Goldene Vlies" warnt vor dem rücksichtslosen Macht- und Geltungsstreben im sagenhaft-mythischen Bereich ähnlich wie „König Ottokars Glück und Ende" im historischen Bereich, ähnlich wie „Der Traum ein Leben" im Bereich der märchenhaften Möglichkeiten und menschlichen Notwendigkeiten. „Des Meeres und der Liebe Wellen" (Hero und Leander) warnt vor dem Ausgeliefertsein an die erotische Leidenschaft ebenso wie die „Jüdin von Toledo", die zugleich den Anspruch der herrscherlichen Pflicht aufrechterhält, wie dort der Anspruch der priesterlichen Verpflichtung nicht aus den Augen gelassen wurde. „Ein treuer Diener seines Herrn" warnt vor der pedantischen Überspitzung des formalen Treuebegriffs und fordert ausgleichende Gerechtigkeit jenseits der individuellen Rechtlichkeit. Denn dieser Bankbanus ist eben doch kein Papinianus (Andreas Gryphius). Die „Libussa" warnt vor der Übersteigerung kämpferischen Frauentums gegenüber dem männlichen Führungsanrecht und dem männlichen Prinzip überhaupt. Beim „Bruderzwist in Habsburg" wie auch im Lustspiel „Weh dem, der lügt" liegt die moralische Tendenz und die sittliche Forderung schon im Titel eingeschlossen. Kurz, die Dramen Grillparzers als überzeugender Ausweis seines Kunstschaffens beweisen hinlänglich, daß er das Theater trot/, allen Protestes um der Freiheit der Kunst willen dennoch in der Praxis als eine „moralische Anstalt" (Schiller), als ein „moralisches

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Institut" (Wieland) betrachtet und bewertet hat. Nur eben, daß er den moralischen Drang nicht zum moralischen Zwang veräußerlicht sehen möchte. Nur, daß er als freiwillige Gabe betrachtete, was er nicht als erzwungene Aufgabe befürworten konnte. Nur, daß er vom Didaktischen nicht ausgehen, wohl aber darauf zugehen wollte. Nur, daß die S c h a u s p i e l k u n s t und die K u n s t der S c h a u s p i e l e r ein Spiel bleiben sollte, das der ernsten Absicht dienen, aber nicht sich vor ihr demütigen sollte. Auch der Schauspieler ist dem dramatischen Gesetz der Gegenwärtigkeit und der Veranschaulichung unterworfen. Er ist für Grillparzer kein schaffender, sondern ein nachschaffender Künstler. Das schließt nicht aus, daß er gelegentlich gleichsam über den Dichter hinausdichtet. Denn nicht nur der Schauspieler ist auf den Dramatiker angewiesen, gelegentlich auch der Dramatiker auf den Schauspieler. So kommt es z.B. für den Rollen träger des Galomir in dem Lustspiel „Weh dem, der lügt" darauf an, daß er nicht alles auf den Idioten und Kretin hin spielt und hinausspielt, sondern die Konzeption des Dichters dahin ausbaut, daß Galomir wohl „tierisch" reagiert, aber nicht „blödsinnig". Oder es kommt für die Emilia Galotti Lessings darauf an, daß sie das an sich „widerliche" Zugeständnis: „meine Sinne sind auch Sinne" glaubhaft zu machen versteht, wobei ihr freilich Lessings Trost: „Die Rolle der Emilia erfordert gar keine Kunst. Naiv und natürlich spielen kann ein junges Mädchen ohne alle Anweisung" wenig helfen könne. Der Schauspieler müsse dort gelegentlich ausdeuten, wo der Dramatiker nur angedeutet habe. Selbst bei Sophokles beobachtet Grillparzer im „Philoktet" einen Fall, wo „die Situation erst durch das Spiel der Schauspieler erklärt wird", weil die Worte des Dichters zur Verdeutlichung nicht ausreichen (Reue des Neoptolemos, Notiz 184o). Das wären also Grenzfälle, wo das Nachschaffen des Schauspielers ins Schöpferische des Dichtertums hineinragt. Im Allgemeinen aber hat der Schauspieler selbstlos zu dienen und nicht selbstschöpferisch zu deuten. Kräftiger als in der literarischen Dramaturgie scheint in der theatralischen Dramaturgie der Illusionsbegriff zu dominieren. Selbst die Uber-Illusion im Pariser Theater rechtfertigt sich dadurch, daß zwar alles wie durch eine bunte, etwa rote Glasscheibe erscheint (dieses Vergleichsbild kehrt mehrfach wieder), aber eben doch in einheitlicher Tönung. Grillparzer bemerkt, daß er — zum mindesten in Wien — kein eifriger Theaterbesucher gewesen sei, 4

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bekennt auch, daß er manche Aufführung nicht bis zum Schluß „ausgehalten" habe. An einer französischen Aufführung (der „ J u i v e " vonHalevy) erkennt er an: „Hier kann ein Mann vonPhantasie und Geschmack einer Vorstellung beiwohnen". Prüft man den betreffenden Bericht, so gewinnt man den Eindruck, daß dort schon etwas vorweggenommen war von Max Reinhardts Inszenierungskunst. Besonders das Bildhafte der Gruppenregie hat Grillparzer zugesagt. Obwohl er bei dieser Gelegenheit ausbricht (und Franz Grillparzer bricht gern aus!), daß, damit verglichen, die deutschen Bühnen wie „elende Marktbuden" wirkten, kann man doch nicht sagen, daß er grundsätzlich die Bühnenkunst des Auslandes bevorzugt hätte. Zwar schon die Art der Komik im Spiel französischer Schauspieler scheint ihm wohltuend diskret im Vergleich mit dem Hang der Wiener zu einer billigen „Possenreißerei", und vollends den englischen Schauspielern spricht er eine gleichsam im Nationalcharakter wurzelnde Überlegenheit in der Interpretation des Humors zu. Aber auf der anderen Seite fühlt er sich vom Effekt der Affekte in der italienischen Schauspielkunst abgestoßen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Grillparzer in Frankreich keine überragende Einzelleistung antraf, weil Talma verstorben und die Rachel damals noch nicht zur Geltung gekommen war. Auch bei der Opernaufführung von Meyerbeers „Hugenotten" gewinnt er von den französischen Schauspielern den Eindruck: „Sie übertreiben, aber sie reißen hin". Dabei ist nicht zu vergessen, daß schon der junge Grillparzer gelegentlich einer „Tasso"-Aufführung bei der aus Leipzig kommenden Rollenträgerin der Prinzessin manches als allzu „deklamatorisch" empfindet und sehr wohl die verhaltene Schwierigkeit jener „Dinge" kennt, „die leicht gesagt sein wollen". Auch seine kritischen Bemerkungen über „Hamlet", die besonders im Vorausblicken auf Gerhart Hauptmann („Hamlet"-Bearbeitung und Aufsatz „Einige Worte zu meinem Ergänzungsversuch", ferner „Hamlet in Wittenberg"-Drama und HamletRoman „ I m Wirbel der Berufung") interessieren, stimmen überein mit seiner Überzeugung, daß man in Shakespeare den Anteil des Schauspielers nicht übersehen dürfe, daß die „empfangende oder reproduktive Seite seiner Natur" vielleicht stärker ausgeprägt gewesen sei als die rein produktive: „er war ebensosehr der Gesamtschauspieler seiner Stücke als ihr Dichter" (vgl. später R. Wagner).

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Im Wesentlichen betrachtet und bewertet Grillparzer — wie angedeutet — die Kunst des Schauspielers als eine reproduktive, rezeptive Kunst der Vermittlung von produktiven Kunstwerken. „Der Hauptwert der Schauspielkunst nämlich wie der aller übrigen nicht schaffenden, sondern bloß ausführenden Künste besteht für den gesund organisierten Menschen darin, daß sie Mittel wird, zum Genüsse eines anderen, selbständigen Kunstwerkes (Drama) zu gelangen". Denn jene genialen Schauspieler seien selten, die durch die Art, wie sie spielen, das vergessen machen, was sie spielen. Das erwähnte Deuten über den Dichter hinaus bleibt also immer nur eine Ausnahme. Nach alledem wird deutlich, daß Grillparzer zu jenen Dramatikern gehört, die ein sehr lebhaftes Interesse für die Schauspielkunst bewiesen haben. Die Bekanntschaft mit dem Spielleiter J. Schreyvogel schon zur Zeit der „Ahnfrau", die Freundschaft mit dem Schauspieler Heurteur sind nur Wegzeichen auf diesem Wege zur Bühne hin. Von der Kostümierung, etwa der Abwehr der Einkleidung der Griechen mit „knappen Jacken" wie „Bäckerjungen", über die Plastik des Bühnenbildes und die Raumregie bis hin zu letzten Feinheiten der Charakterdeutung wie die der Prinzessin im „Tasso" oder der Emilia in „Emilia Galotti" oder die des Hamlet : überall behält der neben Hebbel wohl bedeutendste Dramatiker des 19. Jahrhunderts in Beziehung mit dem Bühnenwerk (Drama) stets das Bühnenkunstwerk (Aufführung) im schaufreudigen und schauspielfreudigen Auge. Auch das Wertungskriterium des Theaterpublikums wird dabei keineswegs vernachlässigt, wobei das gesunde Empfinden und der gesunde Menschenverstand eine gelegentlich etwas übertriebene Geltung eingeräumt erhalten. So sehr aber der Gesamteindruck des Gesamtspiels, des harmonischen und organischen „Ganzen" hervorgehoben wird: es hieße dennoch die Grundkonzeption Grillparzers verkennen, wenn man ihn bereits auf das „Gesamtkunstwerk" Richard Wagners ausrichten wollte. Denn im völligen Gegensatz zu R. Wagner betont Grillparzer die saubere Trennung von Poesie und Musik. Und was einst schon der junge Herder geplant hatte, das schwebt auch ihm vor: eine Grenzziehung zwischen der Dichtkunst und der Tonkunst. Lange nach Martin Wieland und längst vor Hugo von Hofmannsthal hat er sich Gedanken gemacht über das V e r h ä l t n i s v o n O p e r n t e x t und O p e r n m u s i k , von Wort und Ton. Er hat 4*

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zeitweise geplant, ein schon von dem jungen Herder als spruchreif empfundenes und kunsttheoretisch erforderliches „Gegenstück" zu verfassen zu Lessings „Laokoon". Und für ein derartiges längst fälliges Gegenstück schwebt ihm vor der Titel „Rossini oder über die G r e n z e n der Musik u n d Poesie", analog zu Lessings Grenzziehung zwischen Poesie und Malerei. Die Grundgedanken hat er immerhin angedeutet, ohne das Ganze auszuführen. Diese Grundgedanken gehen davon aus, daß die Musik zunächst als ein „Sinn- und Nervenreiz" unmittelbar auf das Gemüt wirke, während die Poesie erst den Umweg über den Verstand einschlagen müsse, um unmittelbar auf das Gemüt einwirken zu können. Bei alledem wird deutlich, daß er den „Laokoon" Lessings eingehend studiert hat; denn er kennt durchaus die Künste, die durch „willkürliche Zeichen" (vgl. Bd. II) wirken. Deshalb hält er in vollem Gegensatz zu R. Wagner jede bewußt dramatischmusikalische Komposition für „Unsinn". Nur das mechanisch Kombinierende der Musik könne dem Text der Wortkunst gerecht werden. Aber ein derartiger Kombinator sei kein echter und rechter Komponist. Denn der echte Komponist beginne erst dort, wo der Wortkünstler notgedrungen aufhört: „Wo die Poesie aufhört, fängt die Musik an. Wo der Dichter keine Worte mehr findet, da soll der Musiker mit seinen Tönen eintreten". Unmittelbar — und zwar unmittelbarer als die Poesie — wirke die Tonkunst auf das Gemüt, vom Sinnenreiz ausgehend und auf die Seelenreaktion zugehend. Auch die Lehre vom Intervall bleibt letztlich auf ein „reines Sinnenurteil" eingestellt und angewiesen. Die Musik ruft die „dunklen Gefühle" hervor und bleibt insofern der Poesie überlegen, die sich zuletzt doch umsonst um reine Klangwerte bemüht. Diesen Vorteil, den die Musik nicht nur gegenüber der Poesie, sondern gegenüber allen anderen Künsten besitzt, muß sie erkaufen durch den Verzicht auf eine präzise und prägnante Bezeichnungsmöglichkeit. Denn das Vitale an ihr ist immer mit einem Vagen verbunden. Sie reicht tiefer, als Worte reichen können. Sie bleibt jedoch gleichsam in der Kindheit des Vorbewußten stehen, ohne das Mannesalter des Vollbewußten (Poesie) zu erreichen. „Wo Worte nicht mehr hinreichen, sprechen Töne". Aber sie sprechen niemals so einleuchtend und eindeutig überzeugend wie Worte. Es wäre jedoch verfehlt, die Musik (der Oper) deshalb in den Sklavendienst des wortkünstlerischen Textes zu stellen, immer vorausgesetzt, daß nicht ein „Kind" den Text

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verfasse (Anspielung auf den Textdichter von Webers „Freischütz", Friedrich Kind). Die Musik ist auf eine nur ungefähre, eine „ziemlich vage Bezeichnungsfähigkeit" angewiesen und ausdrucksmäßig eingeschränkt. Wo also die Musik nur dem Text dienstbar wird und sich unterordnet — wie etwa bei Gluck —, wo der Komponist spezifisch dramatische Ambitionen hat (Gegensatz zu R. Wagner), da wird die Musik allzu leicht und allzu sehr eine bloße „Nachtreterin der Poesie". In der wertvollen Oper soll kein Untergebenen-Verhältnis herrschen (Musik als Untertanin der Poesie), sondern ein Geschwister-Verhältnis (Andersartigkeit, aber Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit von Poesie und Musik). Mögen auch die Schwesterkünste viel Gemeinsames aufweisen in ihrer Wurzel, so sind doch ihre Gipfel „streng geteilt". Kurz, Richard Wagners Gesamtkunstwerk wäre keineswegs für Franz Grillparzer ein zu Erstrebendes. In diesem Sinne bejaht Grillparzer die Oper Mozarts, während er diejenige Glucks als Kompromißlösung einschätzt und diejenige Carl M. v. Webers („Freischütz") als peinliche Parallele zu Adolf Müllners Schicksals- und Schauerdrama „Die Schuld" mißachtet (die „Euryanthe" treibt ihn sogar aus dem Theater!). Die Bewertung A. Müllners hat sich also seit der Rechtfertigung der „Ahnfrau" beträchtlich ins Negative verschoben. Denn die verstandesmäßige Berechnung stört ihn in beiden Fällen. Musik soll betören, aber nicht berechnen. Ebenso wie Grillparzer zu denjenigen Dichtern gehört, die ständig ihre Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zu den anderen Künsten, besonders auch auf die Schauspielkunst richten, ist er verantwortungsbewußt bemüht, sich über den d i c h t e r i s c h e n S c h a f f e n s v o r g a n g Rechenschaft abzulegen. Zunächst einmal trennt er das Schaffen von der Kritik. Es scheint ihm, der auf die Kritiker (wie so mancher Künstler) recht schlecht zu sprechen ist, als ob nur das Erlebnis und die Erfahrung eigenen Kunstschaffens die Fähigkeit und das Recht zu geben vermöge, über fremde Kunstleistungen gültig und verbindlich zu urteilen. Er bezweifelt daher das Vorhandensein des „kritischen Talents" als einer Sonderbegabung, da es nur eine Spielform und ein „Ausfluß des hervorbringenden" Talents sei. Ja, er stellt mit aller Zuversicht und aller kritisch-unkritischen Unbefangenheit die These auf: „Wer selbst etwas machen kann, kann auch das beurteilen, was andere gemacht haben", während schon Lessing die Mahnung ausgesprochen

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h a t t e : „ E i n Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er t a d e l t " (Nachlaß). Die zum Teil recht scharfen Urteile Grillparzers über Shakespeare, Goethe und selbst Schiller als Dramatiker erinnern indessen daran, daß ein schaffender Künstler durchweg ein recht befangener Kritiker anderen und anders gearteten Künstlern gegenüber zu sein pflegt, ganz einfach deshalb, weil er völlig von sich selber überzeugt sein m u ß , u m Neues schaffen zu können. Nicht von ungefähr hält denn auch Grillparzer die Lektüre anderer Dichter für eine gefährliche A b l e n k u n g von der eigenen Originalität. Und gerade seine, oft ein wenig launenhaften oder doch stimmungsgebundenen Urteile bestätigen in einem gleichsam indirekten Beweis, d a ß ein Kritiker dem Künstler immer noch gerechter z u werden vermag als ein Künstler dem anderen Künstler, daß es also doch so etwas geben muß wie ein angeborenes, durch Sachkenntnis bereichertes „kritisches T a l e n t " . U n d damit, d a ß der Kritiker vorerst und vor allem „ E h r f u r c h t " vor dem hervorbringenden Künstler haben müsse, ist diesem selber am wenigsten gedient. D a s ist aber ein immer wiederkehrender Wunschtraum des Dichters. Grillparzer selber scheut sich keineswegs, etwa über das antike D r a m a bei aller vorausgeschickten „ E h r f u r c h t " doch mancherlei Kritisches z u äußern. Bei näherem Zusehen nämlich ergibt sich, daß Grillparzer einer der schärfsten und schonungslosesten Kritiker ist. A b e r diese Kritik nimmt ihr Anrecht aus einer ebenso scharfen Selbstkritik und aus einer ständigen Überwachung der eigenen Kunstleistung. K a u m jemals ist Grillparzer mit einem geschaffenen Werk wirklich und restlos zufrieden. Natürlich steckt in dieser Unzufriedenheit der Ansporn zu immer erneutem Werkschaffen. Gerade Grillparzer beweist, daß der Dichter eigentlich immer von einer Kritik ausgeht, von einer oft unbewußten Kritik an fremden Werken, aber auch an schon vorliegenden eigenen Werken. Denn woher sollte er den Mut zum Neuen gewinnen, wenn nicht aus dem „ M i ß m u t " am Alten, schon Vorhandenen? Nur muß dabei nicht — wie es Grillparzer an vielen zeitgemäßen Schauspielern tadelt — der „ K ü n s t l e r s t o l z " in einem umgekehrten Verhältnis stehen zur „Künstlerbefähigung". Nur wer selber etwas Wertvolles zu bieten hat, darf Überkommenes überbieten wollen. A u g u s t G r a f v o n P l a t e n - H a l l e r m ü n d e (1796—1835) war nicht entfernt in gleichem Grade der Gefahr zermürbender Selbst-

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kritik ausgesetzt wie Grillparzer. Seine ,,Tagebücher" kamen erst 1896 und 1900 heraus. Sie begleiteten indessen das Erleben und auch die kunsttheoretische Besinnung über weite Strecken seiner Entwicklung hin, wie sie auch die nach Vornehmheit ringende Gesinnung des menschlich unglücklich Veranlagten in tapferer Wahrhaftigkeit widerspiegeln. Heines Angriffe auf Platen dürften doch weniger robust ausgefallen sein, wenn er dessen ,,Memorandum meines Lebens" (hrsg. Stuttgart, 1900) gekannt hätte. — Kritische und theoretische Gedankengänge setzen dabei recht frühzeitig ein. Aus dem Jahre 1818, also zur Zeit der Hinwendung des Offiziers zum Studium, stammt ζ. B. schon eine im Wesentlichen bejahende Stellungnahme zu Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik", wenn auch Lob und Tadel ihm zu extrem ausgeprägt erscheinen. Zwingende Vorschriften stoßen ihn merklich ab: „Eine Pein würde die Poesie werden, wenn man die ästhetischen Lehrbücher (beim Dichten) vor sich wollte aufschlagen". Nicht zu verkennen sind indessen bereits in dieser Frühzeit starke Betonung und ein lebhaft interessiertes Überwachen der schönen Form, die innerhalb kritischer Urteile ohne weiteres auffallen. Daß die „Diktion vorzüglich schön" ist, wird ebenso hervorgehoben, wie an anderer Stelle „große Kraft und Bündigkeit in der Sprache" gerühmt wird. An Montesquieu empfindet er nicht zum wenigsten die „geniale Klarheit und Bündigkeit" als besonders ansprechend. Mit der Prägung „geniale Klarheit" hat er ein gut Teil des eigenen künstlerischen Strebens vorweggenommen. Die Herbheit dieses Strebens und die Problematik seines Talents läßt schon damals seine Selbstbeobachtung ablesen, wie er unermüdlich feilt und bessert und doch dabei fühlt, daß er mehr „ein Litterator als Poet" sei. Die formüberprüfende Kontrolle wird über die individuelle Veranlagung hinaus wohl schon verstärkt durch theoretische Erwägungen. Denn trotz jenes Seufzers angesichts poetischer Lehrbücher kennt er neben Jean Pauls „Vorschule . . . " doch auch die einflußreiche Ästhetik B o u t e r w e k s , der er — wie etwa auch Grillparzer — „mancherlei Belehrung" zu verdanken eingesteht. Diese Mittellinie zwischen Romantik und Klassik, die beiden in ihren Einseitigkeiten ausweicht, sagt Platen als Wegrichtung merklich zu. So etwa kennzeichnet sich die kunsttheoretische Einstellung in der ersten jugendlichen Schaffensepoche Platens. Greift man im zeitlichen Fortlauf der Tagebuchnotizen auf die mittlere und entscheidende Produktionsepoche der „Gaselen"und,,Neuen Gaselen",

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bzw. der satirischen Lustspiele zurück, so ergibt sich, beispielsweise für 1823/4 etwa folgender Eindruck: das Hineinarbeiten in die persische Poesie und die wachsende Formgewandtheit; aber — kritisch und kunsttheoretisch — die wachsende Formbewertung. Für den 26. Mai 1823 ζ. B. kann nicht nur die Entstehung von „acht Gaselen" gebucht, sondern auch mit Genugtuung festgestellt werden: ,,in der Form vollendeter". Eine gewisse Konzentrationsstelle für kunsttheoretische, und zwar nicht nur für dramaturgische, sondern auch für prinzipielle Erörterungen und Überlegungen bieten die in die Tagebücher eingeflochtenen „Aphorismen, besonders über dramatische Kunst". Dort wird zu derselben Zeit etwa, in der Grabbe wild-genialische Dramen hinwarf, vom Vertreter klassizistischer Formstrenge der Primat der poetischen Gestalt auch gegenüber dem Genie aufrechterhalten: „Die poetische Form müßte (für das Drama) als wesentlich festgesetzt, ein ganz in Prosa (das „ g a n z " mit Rücksicht auf die romantische Mischform) oder in stümperhaften Versen und Reimen geschriebenes Drama müßte zurückgewiesen werden, auch wenn es Genie verriete". Die Entwicklungslinien überschneiden sich gerade in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mehrfach in mannigfaltigen Brechungen. So leistet Platen merkliche V o r a r b e i t e n f ü r d i e L e h r e n d e s M ü n c h e n e r D i c h t e r k r e i s e s , wie denn auch das Dichtschaffen der Münchener (etwa bei Schack und Geibel) diesen formschulenden Einfluß nicht verleugnet, wenngleich aus eigenem Geltungsstreben natürlich in Theorie und Praxis ein Hinausgelangen über Platen in Anspruch genommen wurde. Selbst bei der verhältnismäßig eindeutigen und einheitlichen Kunstauffassung Platens bleiben romantische Nachwirkungen zum mindesten als leichte Einsprengungen spürbar, wenn sie auch charakteristischerweise zum Teil in Abwehrhaltung umgebogen erscheinen. Platen weiß und betont, daß in den letzten Gründen und Untergründen Religion, Kunst und Wissenschaft ineinander übergehen; aber er bevorzugt eine reinliche Scheidung oder doch ein klares Nebeneinander. Das formvollendete Gebilde der Kunst hat frei für sich dazustehen; „denn jedes wahre Kunstwerk hebt die religiöse und philosophische Welt auf; versteht sich, nicht an sich selbst, sondern bloß im Augenblicke des Kunstgenusses". So hat etwa auch das Theater „heilig und allein der Kunst geweiht" zu sein. Für die Kunst als Eigenwert ist Freiheit allein das rechte Element zur Entfaltung, eine Freiheit, die nicht durch politische

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Rücksichten oder, wie Platen schreibt, „Hofrücksichten" (bei Hoftheatern) eingeengt werden darf. Das Individuelle gefährdet die reine Kunstform. Es ist vielmehr im Sinne einer Annäherung an das klassische Formideal des Typischen Aufgabe des Dichters und Künstlers schlechtweg, auch das „Allergenialste" und Individuellste dennoch in der Eindruckswirkung als das „Allgemeinste", also als Typisches in Erscheinung treten zu lassen. Darin erkennt Platen vor allem die Größe der Griechen, denen es gelang, das schaffende Genie unter der Vollendung der Form zu „verbergen". Fast auf rationalistische Vorstellungen geht die klassizistische Deutung dabei zurück: ein Verbergen wurde auch dort gefordert. Indessen dort hatte sich hinter dem Schein des Improvisiert-Genialen die Kunst, die Kunstfertigkeit zu verbergen, während hier das Geniale sich als formgefährdend zurückhalten soll gegenüber dem Hervortreten der Kunst als Formkönnen. Folgerichtig entspricht der Formbetontheit eine gewisse Betontheit der technischen Übung: „ D a s Genie ist angeboren und geht dem Leben voraus; die Kunst (Kunstfertigkeit, Technik) muß gelernt werden und ist die höchste Aufgabe des Lebens für den, der Genie besitzt". Selbst ein „Sonett an Goethe" stellt die virtuose Fähigkeit im Formfinden besonders hoch und unverhältnismäßig stark in den Vordergrund der Goethewürdigung: „ W e m K r a f t und Fülle tief im Busen keimen / Das Wort beherrscht er mit gerechtem Stolze / Bewegt sich leicht, wenn auch in schweren Reimen". Ganz entsprechend ist es nicht zum wenigsten die holprige Metrik (bes. Immermanns), die „ D e r r o m a n t i s c h e O e d i p u s " (1828/9) z u m Ziel seines Spottes wählt, während ebenso folgerichtig die schwere Aufgabe, von der Sphinx zur Lösung gestellt und als Wegzoll gefordert, darin besteht, „ein fehlerloses Distichon" zu formen, was den satirisch belichteten Zeitdichtern wie „ K i n d (Dresdener Kreis) und Kindeskind" so gar nicht gelingen will. Theoretisch wenden einige kurze Aufsätze über ,,Dichtkunst und Sprache" (1829) ihr Interesse vorwiegend metrischen Fragen und Forderungen zu, wobei Platen vom „ R h y t h m u s der Nibelungen", d.h. von der Nibelungenstrophe her den ihm vertrauten Trimeter verteidigen zu können glaubt gegen den fünffüßigen Jambus, der als „barbarischer und armseliger Vers" verworfen wird. Ein kleiner Stichwortartikel, der dem „Reim" gewidmet ist, •will zwar „mäßig gebrauchte" Freiheiten gestatten, beleuchtet

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aber sogleich wieder voller Genugtuung die „strengste Reinheit des Reims", die Platen selbst in seinen Dichtungen bewährt habe. Für das Aufkommen des lässigen Reimgebrauchs scheinen ihm die Meistersinger und Opitz, „der sich wahrscheinlich einer korrupten schlesischen Aussprache befliß", verantwortlich zu sein. Rückerts Schaffen habe noch kürzlich die „bekannte Ausrede von der Reimarmut der deutschen Sprache" widerlegt. Leitmotiv bleibt bei alledem die Wertung des Formtechnischen und die beherrschende Überzeugung, „daß ein falscher Vers seiner (des wahren Dichters) Natur so widrig sein wird als ein falscher Gedanke". Zwangsläufig stellt sich bei diesen Betrachtungen, die der Gestaltgebung dienen wollen, die Wendung gegen die „genialen Geister" ein, die einen Triumph in die Lässigkeit legen, „sich Alles zu erlauben". Die Abhandlung „Das Theater als ein Nationalinstitut" (1825) ist in einer etwas paradoxen Situation entstanden, da der Offizier Platen sie während seiner Arrestzeit in Nürnberg verfaßt hat. Denn diesen Arrest hatte ihm seine Liebe zu Italien eingetragen, die ihn beim Venetianischen Ausflug den Urlaubstermin hatte überschreiten lassen. Und es überrascht unter jener Themastellung notwendig, wenn für das „Nationalinstitut" eine Abhilfe der Kotzebue-Epidemie gegenüber in Übersetzungen aus dem Englischen, Spanischen, Französischen und Dänischen gesucht wird. Indessen bewährt der Aufsatz als Ganzes dennoch eine stark kulturpatriotische Haltung, so z.B. in der hohen Wertschätzung des Nibelungenliedes, im Stolz, daß die deutsche Literatur in allen Gattungen Höhenleistungen aufzuweisen habe, und in manchem anderen Einzelzuge. Der Anlage nach hält sich Platens Aufsatz überwiegend an die empirisch-historische Entwicklung, wobei die Alten und die Spanier besonders gut abschneiden, und Schiller als Dramatiker über Goethe gestellt wird. Charakteristisch für Platens Einstellung ist unter anderem, daß ihm Goethes „Natürliche Tochter" und „Pandora" als besonders „wegen ihrer Kunstvollendung bewundernswert", wenn auch nicht gerade als nachahmenswerte Muster gelten. Für die Kunsttheorie fällt einiges ab hinsichtlich der D i c h t g a t t u n g e n . Das Epos ist danach die ursprüngliche Gattung, während die Lyrik das Durchgangstor zur Dramatik bildet. Der „dramatische Dichter, durch das lyrische Element hindurchgegangen, konzentriert in sich als Individuum die Poesie, deren

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Stoff er durch Epos und Historie vom Volk empfangen hat und die er nun vom Theater herab dem Volke wieder zurück gibt". Im gewissen Grade also sieht Platen — unter Vermischung von wesenhafter und genetischer Gattungsbestimmung — im Drama die höhere Synthese aus Epik und Lyrik. Gegenwärtig ist die Lyrik bestimmt, sich dem Epos anzuschließen und andererseits dem Drama voranzugehen. Bereits taucht das später — z.B. von Jordan — wieder aufgegriffene Kriterium auf, daß Lyrik der Vermittlung durch das Lied bedarf, Epik für „Deklamation" zu empfehlen wäre (dabei macht der Arrestant einen kleinen Abschwenker ins Pädagogische), während die Dramatik unmittelbar an das Volk sich wendet; denn „nur der dramatische Dichter redet noch öffentlich zur Nation". Wenn jedoch die Wendung aufhorchen läßt, daß das Drama berufen sei, „die Poesie mit dem Leben zu versöhnen", so bedeutet das in Wirklichkeit kein Vorspiel zur Forderung einer aktivistischen, lebensnahen und gegenwartdienenden Kunst im Sinne der Jungdeutschen. Diese engere Lebensverbundenheit wird von Platen nur so verstanden, daß einmal die lebendige Bühnendarstellung von sich aus größere Lebensnähe aufweist, vor allem aber das Leben selbst „nicht Erzählung (Epik), nicht Gesang" (Lyrik) ist, sondern: „es ist Rede, Handlung, Drama", d.h. auch hier erfolgt die Schwenkung ins Formtechnische, die Anlage Betreffende. Immerhin würde Heine wohl nicht so einseitig den Aristokraten in dem Manne gesehen haben, der wenig Wert auf seinen Grafentitel legte, wenn er Platens Abwehr der Demagogenriecherei einem Schiller gegenüber nachgelesen hätte. Für Platen ist nämlich der Kritiker abzulehnen, der Schiller tadeln zu müssen glaubt, weil er in Schillerschen Dramen ein „revolutionäres Prinzip" wittert. Es klingt nichts weniger als rückständig, wenn Platen entrüstet ausruft: „Wehe der kleinen, nüchternen Seele, die in den großen Epochen der Geschichte nichts als ein Auflehnen gegen das Bestehende zu erblicken weiß, und wehe alle denen, die, der neuen Zeit uneingedenk, auf den Trümmern der alten faulen!" Ein Hieb vielleicht nur im Sinne und in der Richtung der Immermannschen Kritik am Epigonentum; aber man sollte auch derartige Ansätze beim Oden-, Sonett- und Gaselendichter Platen nicht so ganz übersehen. Dennoch hält er an dem rein ästhetischen Prinzip weit konsequenter fest als Heine, und es kann als Kernposition seiner kunsttheoretischen Stellung angesehen werden —•

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eine Position, in die er sich immer wieder zurückzieht, — wenn gegen Schluß der Abhandlung der Ertrag eingebracht wird: „Die Kunst bedarf einer gewissen Beschränkung, wenn sie sich wahrhaft konzentrieren soll, worauf zuletzt Alles ankommt. Auch im Drama müßte poetische Form als wesentlich festgesetzt werden. Es kann dem Genie kein größerer Dienst erzeigt werden, als es zur höchsten Vollendung anzureizen. Die höchste Vollendung der Form ist Schönheit selbst und fällt mit der Seele der Kunst in Eins zusammen". Dieser Schönheitskultus adelt die subtile Formpflege und schafft ein gesundes Gegengewicht gegen nachromantische und späterhin auch zum Teil jungdeutsche Formlässigkeit. Und wenn Platen auch das Theater als Nationalinstitut am besten bei den Griechen verwirklicht sieht, so ist doch sein Schönheitsideal nicht einseitig am Griechentum orientiert. Mehrfach wehrt zum mindesten der Theoretiker eine sklavische Nachahmung der Alten ab, dem die „Nachahmung der Griechen weder in poetischer noch anderweitiger Hinsicht besonders ratsam" erscheint und der einen Vorteil des spanischen Dramas darin sieht, daß es sich entwicklungsmäßig relativ freimachen konnte von einer engeren Bindung an die Griechen. Zum Teil weist der Schönheitskultus eine ethische Färbung auf. In den Parabasen z.B., die jedem Aktschlüsse in der Literaturkomödie „Die verhängnisvolle Gabel" (1826) angefügt werden (durch die Doppelgestalt Schmuhl-Chorus) und mehr positive theoretische Zielsetzungen und Ideale ablesen lassen als sonstige Literatursatiren Platens, wiederholt sich mit Nachdruck die ethisch-ästhetische Voraussetzung: nur ein „reingestimmter Busen" vermag harmonische Kunstwerke zu schaffen (Aktschluß I); — „Wer hier zum Volke spricht in stolzen Tönen / Der sei auch würdig, vor dem Volk zu sprechen / Entnervendes zu bieten statt des Schönen / Ist an der Zeit ein Majestätsverbrechen" (Aktschluß III); — „Wer Haß im Gemüt, wer Bosheit trägt und wer unlautere Regung / Dem weigert die Kunst jedweden Gehalt und die Grazie jede Bewegung" (Aktschluß V). Polemisch-ironisch wendet Aktschluß II denselben Gedanken gegen die menschliche Minderwertigkeit der Müllner und Genossen: „Der Advokat in Weißenfels und ähnliche Gesichter / Die klein wie er als Menschen sind und groß wie er als Dichter!" — Bewußt wurden diese Stellen gehäuft, weil das ethische Postulat der persönlichen Würdigkeit

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des Dichters späterhin im Münchener Dichterkreise hervorragende Geltung gewann, der damit bewußt oder unbewußt auch in dieser Beziehung Platen als seinem Lehrer folgte. Zwar betont Platen theoretisch mehrfach die „ K r a f t " , das Kraftvolle, das indessen einfach vorausgesetzt wird, ein wenig wohl auch deshalb, weil der Dichter Platen damit dem kritischen Hinweis auf eigene Schwächen vorbeugend begegnen wollte: „Wen die Natur zum Dichter schuf, den lehrt sie auch zu paaren / Das Schöne mit dem Kräftigen, das Neue mit dem Wahren". Was immer wieder versöhnt mit seiner Einseitigkeit, ist der warme Gesinnungsklang, mit dem er sich — ein wenig allzu selbstbewußt zwar, aber doch ehrlich — „als der Dichtkunst Winkelried!" bezeichnet (Aktschluß IV), ist die Trunkenheit und Treue seiner Schönheitsbegeisterung: „Weltgeheimnis ist die Schönheit, das uns lockt in Bild und Wort / Wollt ihr sie dem Leben rauben, zieht mit ihr die Liebe fort: / Was noch atmet, zuckt und schaudert, Alles sinkt in Nacht und Graus / Und des Himmels Lampen löschen mit dem letzten Dichter aus!" Indessen, in derselben Parabase (dieses ersten Aktes) fehlt nicht jene Forderung des technischen Lernens, die das absolute Geltungsrecht der Genialität immer wieder einschränkt: „Zwar Geburt verleiht Talente, rühmt ihr euch, so sei es —• ja —/ Doch der Kunst gehört das Leben, sie zu lernen seid ihr da!" Und natürlich darf auch der Einzelzug des metrischen Kriteriums nicht fehlen: „Doch ihre Verse sind zu schlecht; sie passen nicht zu diesen": zu diesen eigenen Versen Platens in der Literaturkomödie nämlich. So ist es verständlich, wenn die Überschätzung der Versgewandtheit bevorzugtes Stichblatt und Angriffsziel wurde für gegnerische Hiebe, wenn Heine im dritten Bande der „Reisebilder" (im letzten Kapitel der „Bäder von Lucca") seinen Hyazinth berichten läßt: „Der Markese liest mir die Gedichte vor und expliziert mir, aus wieviel Füßen sie bestehen; und ich muß sie notieren und dann nachrechnen, ob sie richtig sind", und wenn K a r l L e b e r e c h t I m m e r m a n n (1796—1840) einen polemischen Sonderbeitrag zu diesem Literaturkrieg lieferte: ,,Der im Irrgarten der Metrik umhertaumelnde Kavalier, eine literarische Tragödie" (1829). Doch will es kaum noch recht einleuchten, warum, abgesehen von der Versunzulänglichkeit oder Verssicherheit, die beiden Generationsgenossen Platen und Immermann gar so hart aneinander geraten mußten.

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Denn zum mindesten ihre kunsttheoretischen Vorstellungen berühren sich nicht allein hinsichtlich der Schönheitsbewertung, sondern auch in Sondergebieten wie dem dramaturgischen. Und nicht nur zeitlich parallel mit Platens „Theater als Nationalinstitut" stemmt sich die Tendenz in Immermanns noch zu wenig beachteter — zu wenig allerdings auch vom Dramatiker Immermann selbst befolgter —• Abhandlung „Über den rasenden Ajax des Sophokles" (1825) gegen den „Einfluß der falschen, aus den Werken der alten Kunst abgezogenen Theorie" und verficht die Forderung eines auf deutschem Boden gewachsenen Nationaldramas, nur weit energischer noch als Platen, überzeugter auch und kunsttheoretisch eingehender begründend. Die schärfer zugespitzte Titelgebung Platens darf darüber nicht hinwegtäuschen. Denn an sich könnte Immermanns Titelwahl fast auf eine Anpreisung des antiken Musterdramas hinzudeuten scheinen. Und in der Tat gehört der Anlage nach quantitativ der Hauptteil einer Analyse des Sophokleischen Dramas. Aber in diese Analyse hinein stößt, kompositionell bewußt, bereits mehrfach die erwähnte Tendenz. Und die Rahmenteile, die Flügelpartien des Aufsatzes, die „Prolegomena" und die verneinende Beantwortung der dem prinzipiell wichtigen Schlußabschnitte als Überschrift vorangestellten Frage „ I s t eine Nachahmung der alten Tragödie möglich ?" lassen vollends keinen Zweifel an jener Abwehrtendenz. Wenn es Platen fraglich erschien, ob eine Nacheiferung der Alten im Drama „ r a t s a m " wäre, so verschärft Immermann, gestützt auf seine Analyse, die Problemstellung dahin, ob denn überhaupt eine derartige Nachbildung der antiken Tragödie „ m ö g l i c h " sei. Gerade „ein unleugbar treffliches Musterstück des Altertums" wie der „Rasende A j a x " scheint ihm am besten jene „Verneinung . . . begründen zu können". Viel zielstrebiger und straffer arbeitet er als Leitgedanken heraus, was Platen mehr am Wege lässig mitnahm. Werke Müllners, die — wenigstens nach Müllnerschen Kommentaren — antik sein wollen, aber auch Grillparzers ernsthafter antikisierende Trilogie vom „Goldenen Vlies" bilden den Gegenwartsanstoß zu jener Fragestellung. Und Immermann erweist sich in der dramaturgischen Kritik —· anders als im dramatischen Schaffen —• konsequent genug, auch Schillers „Braut von Messina" und Goethes „Iphigenie" nicht als echte Abbilder anzuerkennen, sondern nur als Tragödien „nach scheinbar antikem Maße" gelten zu lassen. Moderne Gesinnung, moderne Mittel seien

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leicht unter der „antiken Verkappung" aufzudecken und kritisch freizulegen, wovon einige Stichproben geboten werden. Einzig von wahrhaft „altertümlicher Gestalt" könnte nur Gerstenbergs „Ugolino" für die technische Möglichkeit einer Nachbildung zeugen: „Nie indessen hat es eine Wirkung hervorgebracht; und es erhellt schon daraus, daß es uns fremd ist". Immermanns These von der Unnachahmbarkeit der Alten, nicht im Sinne des Wertgrades, sondern im Sinne der zeitlichen und nationalen Wesenstypen führt immer wieder zur Antithese a n t i k und modern. Das antike Drama ist aus dem Lyrischen erwachsen; das moderne nährt sich aus epischen Wurzeln; schon das frühe christliche Drama geht auf die heiligen Geschichtserzählungen zurück. Das antike Drama ist handlungsarm; das moderne fordert (schon vom Epischen her) stärker bewegtes äußeres Geschehen. Das antike Drama ist strukturmäßig analytisch angelegt, das moderne synthetisch. Tragische Ironie tritt bei den Alten zurück, „bei den Neuern ist sie herrschend". Das antike Drama sucht das Sinnlich-Naive, das moderne das Geistig-Bedeutsame. Die antike Dramatik ist plastisch: „um den Helden hat uns der Dichter herumgeführt, damit uns seine Statue von allen Seiten erscheine". Die moderne Dramatik ist malerisch, bezieht beseelte Landschaft, beseelten Stimmungs- und Lebenskreis ein (erläutert an der Ophelia-Szene): „Der Moderne will überall die Seele selbst malen und das Allgemeine, welches der einzelnen Erscheinung zum Grunde liegt. Deshalb wird die umgebende Natur als mitfühlend und mitleidend in die Handlung gezogen". Bei alledem liegt jedoch auf der Bedeutung das wesentliche Gewicht. „Reflexe und Effekte wiegen vor. Der alte Dichter ist deutlicher und reicher; der neue tiefer und inniger". Jeder der Typen hat seinen Geltungswert, der nicht wechselseitig ausgetauscht werden sollte und recht eigentlich auch gar nicht ausgetauscht werden kann. Den „würdigen Nachlaß verschwundener Zeiten" gilt es dankbar zu genießen, ohne die „Anmaßung, ihn vermehren zu wollen". Die genießende Betrachtung mag die Lebenden erfrischen und kräftigen, auf neuen Wegen die ewig alte Schönheit in neuem Lichte zu entdecken. Dieser Weg darf indessen nicht darin gesehen werden, daß nun der bequeme, von anderer Seite bereits empfohlene Ausweg gesucht wird, in der Gegenwartsdramatik sowohl den antiken, wie auch den modernen Dramentypus je nach Belieben des einzelnen

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Dichters zu dulden im friedlichen Nebeneinander. Der rechte Weg kann allein dorthin führen, wohin der Volkscharakter weist, zur „National-Tragödie", zum gegenwart-verständlichen und volksnah-nationalen Drama. Einige Schritte ist der Dramatiker Karl Immermann mit seinem Hofer-Drama (1828) in diese Richtung gegangen; aber den Weg selbständig zu Ende zu gehen, fehlte es ihm an Originalität, Genialität und Gestaltungskraft. Das praktische, schaffende Können vermochte nicht Schritt zu halten mit dem theoretisch-kritischen Erkennen. Anläufe sind indessen sowohl im Hofer-Drama („Das Trauerspiel in Tirol") wie im „Alexis" (1832) nicht ohne Teilerfolge gewagt worden, versucht auch im Staufer-Drama „Kaiser Friedrich I I " (1827/28) mit stärkerem Rückfall allerdings in nachromantisch-epigonenhafte Schaffensart, am weitesten vorgetragen zudem — was oft mißbräuchlich in Anspruch genommen wird, — zur deutschen Tiefe wohl doch in dem Mythos, der rein stofflich nicht deutsch war, im „Merlin" (1832). Heine jedoch, der damalige Heine, hat vielleicht ein wenig auch an Immermanns theoretische Forderung des national verwurzelten Dramas, an die theoretische Zielsetzung jenes reichen Aufsatzes, den er kannte und anerkannte, gedacht, als er im dritten Bande seiner „Reisebilder" (1829) im Rückblick auf das Hofer-Drama des (damaligen) Freundes ausruft: „Es gibt einen Adler im deutschen Vaterlande, dessen Sonnenlied so gewaltig erklingt, daß es auch hier unten gehört wird . . . Das bist du, Karl Immermann, und deiner dacht' ich gar oft in dem Lande, wovon du so schön gesungen". Das Hinarbeiten auf einen deutschen Dramentypus ließ Immermanns Eifer über einen Widerspruch hinweggleiten, der die Gattungsvorstellung betrifft. Während er eine Hauptursache der Verschiedenheit und Unvereinbarkeit des antiken und modernen Dramas darin aufgesucht hatte, daß jenes von der Lyrik, dieses von der Epik her gewachsen und also auch wesenhaft bestimmt sei, vertritt er doch andererseits die grundlegende Anschauung, daß die Dramatik überhaupt nur „eine Mischung aus jenen beiden Urformen (Epik und Lyrik) und ein Produkt ihrer Verschmelzung" darstelle. Damit ordnet sich Immermann als recht frühzeitiger Vertreter der noch mehrfach begegnenden VerschmelzungsTheorie ein. Den Einwand, daß bei solchen Voraussetzungen schließlich auch eine „Verschmelzung" oder „Mischung" der antik-lyrischen und der modern-epischen Dramentypen möglich

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sein könnte, sucht er dadurch zu umgehen, daß im „harmonischen" Kunstwerke stets ein Element „vorherrschen" müsse. Recht überzeugend ist dieses Umgehungsmanöver nicht. Der Geltungswert des Dramas leidet etwas unter der bloßen „quantitativen" Unterscheidung des Dramas, das eine Summierung vornimmt und mittelbar erscheint; denn „Epos und lyrische Poesie sind die einzigen reinen Formen der Dichtkunst". Innerhalb des Dramas bildet sich das Epische „zu dem aus, was man Handlung nennt" ; das Lyrische erscheint als Charakter-Darstellung. Die Kantischen Begriffe von Raum und Zeit spielen unklar hinein. Für das Epos, das ein „Werdendes" aus der Erinnerung rekonstruiert, soll die Zeit die beherrschende Vorstellung in der „Seele" des Dichters sein. Tritt das menschliche Selbstbewußtsein auf höherer Stufe der Gegenstandswelt als Ich-Gefühl gegenüber, ist die Voraussetzung für die Lyrik gegeben. Sie bietet das „Gewordene", betrachtend unter Vorherrschen der Raumvorstellung. Denn „auch für die Phantasie selbst als endliches Wesen sind Raum und Zeit die einzigen höchsten bestimmenden Kategorien". Das Drama bringt insofern eine Steigerung, als man nun „die Sache durch die Sache" selbst darzustellen sich erkühnt. Doch kommt es in Wirklichkeit nur zu der erwähnten Verschmelzung: „Nur zeitlich und räumlich bildet auch in ihr die Phantasie". Es ist doch wieder nur der Dichter, der „durch seine Personen" zu uns spricht. Während man bei Platens Gattungserläuterung sich an Schelling, dem er menschlich nahestand, erinnert fühlt, erscheint bei Immermann dieser Zusammenhang nicht recht wahrscheinlich, da er dem Drama als Gattung nicht den hohen Wert (Schelling: „Diese höhere Identität ist das Drama") als „höchste Erscheinung des An-Sich und des Wesens aller Kunst" (Schelling) beimißt. Von einer Hinwendung zum Realismus kann in diesem Aufsatze Immermanns von 1825, dem eine zentrale Stellung innerhalb seiner kunsttheoretischen und spezifisch dramaturgischen Äußerungen zukommt, noch kaum die Rede sein. Ästhetisch herrscht durchaus nachklassischer und nachromantischer Schönheitskultus. Der Sonderabschnitt, der „Betrachtungen über den Stoff" anstellt und eingangs eine flüchtige Skizze der Künste und ihrer Mittel bringt, betont nicht zufällig, daß es Aufgabe aller Künste sei, „die S c h ö n h e i t des Wirklichen durch das verwandteste und kräftigste Mittel darzustellen", also nur die eine S e i t e 5

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der Wirklichkeit. Zweifel darüber werden vollends behoben durch zugespitzte Formulierungen, wie etwa: „Und so verwerfen wir den Dichter, welcher . . . das Häßliche zum Gegenstande seiner Poesie macht". Die Begründung bleibt unklar-verschwommen. Weil „mit zartem Glänze die Einheit des Bewußtseins" den geistigen Lebenskreis „durchstrahlt", rufe das Häßliche nur Abscheu hervor, sei es nur negativ gegeben, während die Schönheit „positiver Natur" ist. Und „die Schönheit jener höheren Einheit energisch zu zeigen, ist nun eben der erhabene Beruf des wahren Dichters". Zugleich aber ist es sein heiligstes Recht, die „ästhetische Freiheit" vor moralischen und religiösen Übergriffen zu schützen. In den ,,Memorabilien" (1840), wo teilweise die Einzelkritik und die Einstellung auf die „moderne" Bühne gegenüber der theoretisch-prinzipiellen Erwägung überwiegen, wird die Abwehr fremdländischer Muster nicht mit starrer Konsequenz aufrechterhalten. In leicht abwandelnder Ergänzung des Goetheschen Vergleichsbildes von der vollen Traube (Shakespeares Schaffenstypus) und dem raffinierten Getränk (Calderons Schaffenstypus) neigt Immermann zu der Auffassung: „Für die Form unserer modernen Bühne paßt das abgezogene Getränk besser als die ungekelterte Traube". Bei aller Abwehr Raupachs wird ihm doch das Verdienst zuerteilt, „zuerst die reale Bühne auf das Gedicht Calderons aufmerksam gemacht zu haben". Die Einwirkung der Grabbeschen Abhandlung über die „Shakespearo-Manie" wird aus der kritisch zustimmenden Stellungnahme des Bühnenleiters wiederum im Blick auf die „reale deutsche Bühne" spürbar. Eine merkliche Wendung erfährt Immermanns Anschauung vom historischen Drama, wie sie sich besonders deutlich vollzieht angesichts der Hohenstaufendramen Grabbes; unverkennbar liegt zugleich eine Schwenkung der Theorie von der eigenen Praxis („Kaiser Friedrich II") vor. Wenngleich Immermann auch früher nicht in der einseitigen Weise wie etwa Uhland, der stolz auf die Geschichtstreue seiner Dramen hinwies, das historische Datenwerk im Abwägen des Verhältnisses von Dichtung und Datentreue überschätzt hatte, so bedeutet es doch eine merkliche Revision eigener Absichten, wenn er nun energisch von der historisierenden Wissenschaftlichkeit abrückt. Sie erscheint ihm als Notausgang oder Nebenweg einer an sich unpoetischen Epigonenzeit, die an der Wissenschaftlichkeit Ersatz zu finden sucht für mangelnde Phantasiespannkraft.

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Nicht aber „irgendein Kapitel der Geschichte" darf dialogisiert werden, wenn neben dem „bürgerlichen" und „mythischen" („Merlin"!) Trauerspiel das historische seine Berechtigung wahren will. Der frei behandelte Geschichtsstoff muß Erlebnismöglichkeiten und Interessenansätze für die Gegenwart bieten, wenn im Schaffenden und Aufnehmenden warme Erlebnisteilnahme gesichert bleiben soll. Und wenn Immermann hinsichtlich der rückwärtigen Zeitbegrenzung auch nicht so eng die Grenze zieht wie späterhin Fontane für den historischen Roman, so hält er es doch für empfehlenswert, daß der Dramatiker „erst mit der Reformation und den ihr unmittelbar vorangegangenen Zeiten beginnen möchte". Es muß, künstlerisch gesehen, Versager geben, sobald „die Gelehrten poetisieren" und die „Poesie gelehrt tut". Ein Neuerwerb lag indessen nicht in dieser altvertrauten theoretischen Erkenntnis, die nur in jener historisierenden Epoche teilweise verloren zu gehen drohte, so etwa bei Uhland, der nicht nur im Hinblick auf das Münchener Preisausschreiben die Quellentreue als positiven Wert in Anspruch nehmen zu dürfen glaubte, während doch Grabbe selbst keineswegs in dem Maße, wie Immermanns kritische Bedenken vermuten lassen, dem Historismus verfallen konnte, weil ihm der „Geist der Geschichte" höher stand als ihre Einzeldaten. Nicht die runde, saubere Sonderanalyse eines Einzelwerkes und nicht die verantwortungsbewußte Begründung, mit deren Hilfe Immermann von einer an sich anerkennenden Würdigung des „Rasenden A j a x " zur Abwehr einer Nachahmung und Nacheiferung der Alten vorgedrungen war, eignet C h r i s t i a n D i e t r i c h G r a b b e (1801—1836). Viel mehr neigt er, seinem impulsiven Temperament gemäß, zu einer von vornherein tendenziösen Beweisführung. Seine mit unverkennbarem Sensationshunger und persönlichem Geltungsstreben hingeworfene Abhandlung „ Über die Shakespearo-Manie" (1827) war der ruckhafte und deshalb notwendig etwas krampfhafte Selbstbefreiungsversuch eines Dramatikers, der in seinem bisdamaligen Schaffen Shakespeare nacheifernd und teils übereifernd gefolgt war und den Heine —• nicht ohne Teilanerkennung — knapp und drastisch als einen „betrunkenen Shakespeare" charakterisierte. Wie der Briefwechsel mit dem Grabbe befreundeten Verleger Kettembeil klarstellt, wie auch z.B. in einer Anmerkung der Schrift selbst spürbar wird, wurde die Linie der sachlichen Darlegung weiterhin 5*

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im gradlinigen Verlauf gestört durch halb verdeckte Angriffspläne, halb unterdrückte polemische Gelüste gegen Tiecks Shakespearekultus, so daß nicht gerade eine leidenschaftbefreite und zweckfreie theoretische Erkenntnis erstrebt wurde und werden konnte. Aber man darf bei allen Mißklängen und parteilichen Überspitzungen der Problemstellung dennoch nicht das tragende Grundmotiv warmer Überzeugung und ehrlichen kritischen Besserungswillens verloren gehen lassen, das bereits im Vorwort angeschlagen wird: „ D i e H a u p t s a c h e i s t , d a s V o l k w i l l d e u t s c h e O r i g i n a l i t ä t " . Wenn man etwa den Blick vorausrichtet auf Otto Ludwigs Zerriebenwerden an den Shakespearestudien trotz verheißungsvoller Ansätze im „Erbförster" und den „Makkabäern", so wirkt Grabbes Schreckbild der Shakespeareversklavung nicht mehr so grell karikiert, sondern zeigt hinter der Maske der schriftstellerischen Sensation ein recht ernsthaftes Gesicht. Das Tendenziöse des Aufsatzes entspringt doch eben einer unleugbar echten Gesinnung — mag sie Grabbe selbst auch, wie er es gern tat, verleugnen — ; und das ehrliche Ringen um eine bodenständige, eigen-artige und vollwertige deutsche Dramatik versöhnt mit mancher Ungerechtigkeit im Einzelnen. Und insofern liegt bei aller Verschiedenheit im Individuellen dennoch eine Verwandtschaft im Gesinnungsmäßigen und Grundsätzlichen vor mit Immermanns Abhandlung von 1825. Ja selbst mit Platens dramaturgischem Aufsatz berührt sich Grabbes Forderung mehrfach, nicht nur in der Anerkennung, daß man wenigstens das Nibelungenlied als wesenseigenes Kunstwerk schätzen gelernt habe. Das Gemeinsame bei allem individuellen und künstlerischen Kontrast bleibt das sehnende Ausschauhalten nach einer Möglichkeit deutscher Dramatik. Aber während Immermann den starr rückwärtsschauenden Blick auf das Muster der Alten als notwendig ablenkend vom Zukunftsweg vermieden sehen wollte, wird Grabbes Angriffseifer gegen Shakespeare gelegentlich selbst zurückgeworfen auf die Empfehlung einer stärkeren Beachtung der Alten, aber auch der klassizistischen französischen Vorbilder, wenn auch mit der — das Paradoxe der Situation herausfühlenden — Einschränkung: „womit ich keine Nachahmung anrate". Grabbes Streitschrift verfolgt ihr Ziel, die Befreiung vom lastenden Druck der Shakespeare-Autorität, in dreifachem Vorstoß. Einmal im kritisch-historischen Aufdecken der Ursachen deutscher Shakespeare-„fashion", sodann in kritisch-ästhetischer Ab-

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bröckelungstaktik der vermeintlich so unerschütterlichen Höhenstellung Shakespearescher Kunstleistung an sich, schließlich im Freilegen der Nachahmungsgefahr für den Eigenwuchs einer spezifisch im Deutschtum verwurzelten Dramatik. Doch vereinigen sich die drei Vorstoßlinien, in der Disposition getrennt, in der Ausführung in mannigfacher Verflochtenheit miteinander und verbinden ihre gesammelte Kraft zum Freimachen der Bahn für deutsche Originale. Denn kunsttheoretisch gesehen, geht es in dieser Kampfschrift gegen den romantischen und nachromantischen Shakespearekultus vorwiegend um die Forderung der Originalität. Die Zuversicht und der Mut zum originalen Kunstschaffen sollen gekräftigt werden, selbst wenn ein Dramatiker wie Adolph Müllner als vermeintlich ermutigend für die Möglichkeit einer Loslösung von Shakespeare aushelfen muß. Dementsprechend ist bereits der erste Abschnitt auf die Note gestimmt: „Der Deutsche glaubt sich so wenig originell, daß Originalität bei ihm einen gesuchten Einfuhrartikel bildet". Konsequent wird die Übersetzung Shakespearescher Originalität abgewehrt, indem wesentliche Anteile seiner „Eigenarten" nur als Attribute einer „altenglischen" Tradition hingestellt werden. Die „einzige wahre Originalität" wird insoweit zugestanden, als Shakespeare „das größte Mitglied dieser Schule" gewesen sei (2. Abschnitt). Zusammendrängend kann dann der bündig und schlagkräftig gehaltene Schlußabschnitt die Unerträglichkeit jener „Despotie" im Bereiche der dramatischen Kunst vollends zu stürzen versuchen im Überrennen des künstlich aufgetürmten Götzenbildes, das gerade die „besseren Köpfe vor jedem selbständigen Schritte einschüchtern" und so wertvollste Kräfte zurückschrecken muß. Innig mit der Erörterung des Originalitätsproblems verbunden, setzt sich überall der Sinn und das Eintreten für national bedingte Möglichkeiten und Notwendigkeiten energisch durch. Die Umbiegung ins Deutschtümliche, bereits beim historisch nachprüfbaren Überpflanzungsvorgang des großen Engländers erweisbar, spricht für die dumpfe Sehnsucht des Deutschen nach einem Durchdringen des Fremden mit eigener Wesensart und beweist, daß Shakespeare in der englisch gebundenen Art gar nicht dem deutschen dramatischen Ausdruckswollen entspricht. Die besten Kräfte in Goethes „Götz" sind eigenwüchsig. Das hätte Grabbe übrigens schon bei Justus Moser (vgl. Band II) nachlesen können.

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Schiller vor allem mit seiner echten und starken Begeisterungsfähigkeit bewährt weit überlegene Bühnenwirkung. Das deutsche Volk hat Shakespeare wohl bewundert, allzu sehr ihn bewundert ; „aber nie hat es ihn geliebt". Im Eifer des Nachweises Shakespearescher Schwächen geht Grabbe gewiß zu weit, greift auch verschiedentlich fehl, schwellt Unwesentliches auf. Aber der Zweck muß hier die Mittel heiligen. Und das Endergebnis führt vom Verneinen zum Bejahen einer positiven Forderung: ,,Wir wollen kein englisches Theater . . . wir wollen ein deutsches Schauspiel". Dieses Wollen geht nicht etwa von kunsttheoretischen Erwägungen aus, sondern wird getragen vom nationalen Bewußtsein und beflügelt von der Sehnsucht des Volkes nach eigener Wesenhaftigkeit: „Gerade Shakespeare wimmelt von englischen Eigenheiten und Nationalvorurteilen, gerade das, was bei ihm fast überall fehlt, ist das, wonach das deutsche Volk sich am meisten sehnt. Das deutsche Volk will möglichste E i n f a c h h e i t u n d K l a r h e i t in Wort, Form und Handlung; es will in der Tragödie eine ungestörte Begeisterung fühlen, es will treue und tiefe Empfindung finden, es will ein nationelles und zugleich echt dramatisches historisches Schauspiel, es will auf der Bühne das Ideal erblicken, welches im Leben sich überall nur ahnen läßt, es will keine englische, es will deutsche Charaktere, es will eine kräftige Sprache und einen guten Versbau, und in der Komik verlangt es nicht sonderbare Wendungen oder Witze, welche außer der Form des Ausdruckes nichts Witziges an sich haben, sondern es verlangt gesunden Menschenverstand, jedesmal blitzartig einschlagenden Witz, poetische und moralische K r a f t " . Gelegentlich der Kritik an Shakespeares historischen Dramen, die „als poetisch verzierte Chroniken" hingestellt werden, gelangt Grabbe zu der grundsätzlichen Zielprägung: „Aber vom Poeten verlange ich, sobald er Historie dramatisch darstellt, auch eine dramatische, konzentrische und dabei die Idee der Geschichte wiedergebende Behandlung. Hiernach strebte Schiller, und der gesunde deutsche Sinn leitete ihn". Im Wesentlichen stimmt es mit dieser Erläuterung aus der „Shakespearo-Manie" überein, wenn Grabbe der zweiten Fassung seines „Marius Und Sulla" Fragments die bekannte, das V e r h ä l t n i s v o n D i c h t u n g u n d D a t e n t r e u e besonders bündig fassende Schlußanmerkung hinzufügt: „Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht ver-

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letzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an". Wohl nicht nur für den vorliegenden Einzelfall betont indessen Grabbe, daß es letztlich entscheidend sein müsse, welche Eindruckswirkung das dichterische Sich-Freimachen stimmungsmäßig hervorrufe: „Wenn das (im Einzelfall: die chronologische Abweichung) der Leser als einen Mißklang bemerkt, so ist es ein Fehler". Im ganzen hält sich Grabbes historisches Interesse enger an die Quellen, als seine Eigenwilligkeit vermuten lassen könnte. Ebenso aber hält er grundsätzlich das Anrecht einer künstlerischen Auslese und Umformung aufrecht. In seiner Abhandlung über ,,Das Theater zu Düsseldorf .. ." (1835) mahnt er — gelegentlich einer Rezension von Calderons „Leben ein Traum" — nachdrücklich: „ I h r Historico-Tragico-Kenner bedenkt: wozu Dichtkunst, lehrt sie nur auf Umwegen Geschichte? Dann geht zum Born und schöpft die Geschichte selbst". Auch der Naturwissenschaftler Linn6 hat die Pflanzen nach seinem System, nicht aber so geordnet, wie er sie vorfand. „ A b e r der Dichter wie jeder Künstler ist noch weniger gebunden. Er nimmt aus der Welt, die ihm nur Material zu seiner Produktion ist, das, was ihm zur Vollendung seines Werkes nötig scheint, setzt aus seinem Geist hinzu, was ihm geziemend dünkt, blickt dann nicht weiter um sich". Diese Propagandaschrift für Immermanns Düsseldorfer „Musterbühne", deren Musterhaftigkeit Grabbe, nachdem er sich seit Herbst 1835 von Immermanns bis dahin geduldeter Vorzensur losgerungen hatte, freilich schon von der Spielplangestaltung her ernstlich in Frage stellen mußte, geht vorerst konform mit den liebedienerischen, weil dankverpflichteten Theaterkritiken, wie sie Grabbe in der von Martin Runkel herausgegebenen Zeitschrift ,,Hermann" bis dahin publiziert hatte. Grabbe war zunächst dem Leiter der Düsseldorfer Musterbühne für die Auffangsstellung, die dieser dem schon Absinkenden bot, ehrlich dankbar und deshalb auch ernstlich für dessen theaterreformatorische Bestrebungen begeistert. Diese dankbare und denkwürdige Begeisterung brachte es mit sich, daß er zunächst einmal darüber hinwegzusehen geneigt und genötigt war, wenn K . L. Immermann einen Dilettanten des historischen Dramas wie Ernst Raupach ganz groß herausbrachte, während er Grabbes eigene Leistung im historischen Drama völlig ignorierte, wohl nicht ohne Besorgnis um eine bedrohliche Überbietung seiner eigenen historischen Dramen (das Andreas Hofer-Drama und das Hohenstaufendrama

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„Friedrich II") durch diejenigen Grabbes. Im Grunde fühlte Grabbe sehr bald heraus, daß ihm hier ein wirtschaftliches Weiterleben nur ermöglicht wurde um den Preis und die Preisgabe seines künstlerischen Weiterwirkens. Immermann sorgte für den Menschen, um der Besorgnis um die Macht und Übermacht des historisch-dramatischen Dichters enthoben zu sein. Kein einziges Drama Grabbes kam auf der Düsseldorfer Musterbühne Immermanns zur Aufführung. Letzten Endes erreichte Grabbe in Düsseldorf weit weniger als in Detmold, wo wenigstens sein „Don Juan und Faust" mit der Musik von Albert Lortzing von der Schauspielertruppe August Pichlers herausgebracht worden war. Gerade im Vergleich mit Ernst Raupach, der von Friedr. von Raumer mehr zur Imitation als zur historischen Inspiration angeregt worden war, hätte Grabbe eine gültige Geltung als Vertreter der dramatischen Historie beanspruchen können. Denn ihm war das Historische nicht nur ein motivlich Gegebenes, sondern auch ein geistig Aufgegebenes, das man nicht dichten durfte, ohne es zu deuten. Bevor ein Heinrich Heine im historischen Verstehen, im Geist der Geschichtlichkeit einem Ludwig Börne weit überlegen war, durfte sich Grabbe einem Raupach weit überlegen fühlen im selbstdenkerischen und selber deutenden Auslegen und dramatisch-konstruktiven Auslegen des geschichtlichen Seins und des geschichtlichen Sinns. Das Kunstwollen Raupachs fand sein Genüge am Gegebenen der Geschichte, Grabbes Kunstwollen forderte seine Gültigkeit vor dem Geist der Geschichte. Die Dämonie des Deutens stand ihm weit höher als die „poetisierte" Dürftigkeit der Daten. Und so gelangte er zu einer Verwirklichung Hegels, so dringlich und drastisch auch immer seine Verwahrung gegen den absoluten Geist und gegen den Geist des Absoluten sein mochte. Kein Wunder, wenn er vor Friedrich Hebbel das epochemachende Drama der großen Weltwende zu verwirklichen und zu verwesentlichen trachtet. Aber er vermag das Epochale nicht zu bestätigen, ohne sich im Nationalen zu betätigen. Und sein großer Mann bleibt immer bezogen auf die Großheit oder Kleinheit der Nation. Der Große der Einsamkeit, ob er nun Hermann oder Hannibal oder Napoleon oder Barbarossa oder Friedrich II. von Hohenstaufen heißen mag, bleibt immer abhängig von der relativen Großheit der Gemeinsamkeit, an der er wächst oder scheitert, vor der er sich besinnt oder versagt. Das künstlerische Verwirklichen bleibt dergestalt

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immer angewiesen auf ein historisches Verstehen, die „Künstlichkeit" immer bezogen auf eine Geschichtlichkeit. Und dieser historische Sinn weist im Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik ebenso sehr zur Nachromantik, wie der ästhetische Sinn sich der Nachklassik anvertraut und streckenweise erstaunlich weitgehend anpaßt. Denn nur von einer Nachklassik her konnte letztlich der Vorstoß gegen Shakespeare in der „ShakespearoManie" damals erfolgen, wie andererseits Grabbes Polemik gegen Goethe die Romantik benutzte, um sie gegen Goethe auszuspielen. Zur Polemik gegen Goethe gehören die Kritik an dem von Goethe herausgegebenen Goethe-Schiller-Briefwechsel und die wahrhaft rüde Polemik gegen Bettina von Arnims „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" (1835). Fraglos ist Grabbe dabei im Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik auf einen Irrweg geraten, indem er das schon realistisch zu verstehen suchte, was nur idealistisch und romantisch zu verstehen und also zu verzeihen war. Denn nicht nur bei Georg Büchner, auch bei ihm zeichnet sich als der dritte Weg schon unverkennbar ein F r ü h r e a l i s m u s als v e r h e i ß u n g s v o l l e R i c h t u n g ab, während er noch im Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik — mehr brutal als biedermeierlich — sich Bahn zu brechen versucht. Und dieser dritte Weg verbürgt ihm die wahre Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Wahren, während ihn der Ausweg des Jungen Deutschland aus jener Qual der Wahl im ganzen mehr abstößt als anzieht. Die nationale Tendenz in ihm überwältigte die soziale Tendenz außer ihm. Die Heimat der „Hermannsschlacht" war ihm als Zuflucht vertrauter als die Ausflucht in eine allgemeinmenschliche Humanität. Mochte Gutzkow ihn als Mitarbeiter verzeichnen, mochte Gubitz ihn als Mitarbeiter veranschlagen, mitgefühlt hat er immer mehr mit dem Nationalen als mit dem Sozialen. Sein Kunstwollen richtete sich auf die nationale Gemeinschaft weit mehr als auf die soziale Gesellschaft. Und sein Kunstschaffen folgte diesem Kunstwollen mit einer dunklen, aber starken Konsequenz, die seiner wirren Wüstheit sonst weniger eigen war. Möglich — und auch wahrscheinlich — daß dieser nationale Anspruch nur eine Spielform war seiner ganz persönlichen Geltungssucht und seiner künstlerischen Wirkungssucht. Aber vorhanden war sie und blieb zuletzt auch vorherrschend. Mag Grabbe der „religiöse Halt" gefehlt haben, der nationale Halt hat ihm

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jedenfalls nicht gefehlt. Mochten die persönlichen Stützen versagen, ob sie nun personifiziert waren in Clostermeier, Tieck, Georg Ferdinand Kettembeil, Immermann oder ganz zuletzt in dem jungen Komponisten Norbert Burgmüller: die überpersönliche Neigung zu Heimat und Nation ist Grabbe bis an sein trostlos trübes Ende treu geblieben, und zwar in einer Zeit, wo das keineswegs selbstverständlich war. Rein künstlerisch aber hat er sich gründlich verirrt auf seiner Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik, zwischen altem Biedermeier, der ζ. B. in „Don Juan und Faust" anklingt und neuem „Jungen Deutschland", zwischen Spätromantik und Frührealismus, so daß für den Künstler ebenso wenig ein Ausweg sich anbot wie für den Menschen. Er wurde zerrieben von Kräften, die größer waren als seine Großmannssucht. Aber irgendwie und irgendwo flackert über diesem Sumpf das Irrlicht des Genies. Eben deshalb eignet ihm jener „Zug ins Monumentale und Überdimensionale", den man auch dort noch herausspürt, wo man ihn als einen der „Zerrissenen" zwischen „Biedermeier und Bourgeoisie" anzusiedeln versucht hat und in Zusammenschau mit Georg Büchner manche Unmöglichkeiten aus der „Lebensmisere" der genialischen „Langenweile" interpretiert (Grabbe konnte sehr kurzweilig sein, wenn es ihm seine menschliche Laune und sein künstlerisches Wollen eingaben, kurzen Prozeß zu machen), hinter der die „Lebensangst" der Zeit ständig auf der Lauer liegt. Aus dieser Lebensangst gelang Grabbe nicht die Flucht in jene Idylle, wie er sie durch den Chor der Gnomen im „Don Juan und Faust" (4. Akt) als erstrebenswertes und befreiendes Lebensziel preisen ließ: „O selig, wer im engen Kreis, / Umringt von seines Feldraums Hecken, / Zu leben, zu genießen weiß, / Er spielt mit aller Welt Verstecken. / Er blickt nicht sehnend nach den Fernen, / Der ganze Himmel engt sich für ihn ein, / Der Horizont mit seinen Sternen / Ist im Bezirke seiner Äcker sein". Diese Verse würde man eher Mörike zuweisen mögen, scheint es doch so, als habe er die in ihnen verborgene und zugleich Geborgenheit verheißende Lehre nicht nur in seinem Leben geradezu wörtlich verwirklicht. Mörikes Verwirklichung einer biedermeierlichen Lebenslehre darf jedoch nicht gleichgesetzt werden mit der Wirklichkeit seiner Kunstlehre. Sie nämlich muß als besonders charakteristisch für das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik gelten. Dem ersten allgemeinen Eindruck nach

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scheint allerdings der in Ludwigsburg geborene Schwabe E d u a r d M ö r i k e (1804—1875) ganz mühelos dem Schwäbischen Dichterkreis und damit der „Schwäbischen Romantik" zuzuordnen zu sein. Aber eine Formulierung wie diese (aus seiner formulierten Poetik): „Denn gute Gedanken, reizende Bilder, Geist usw. können auch andere haben: aber dies alles in harmonischer, unverrückbar geschlossener Form einschmeichelnd wiederzugeben, das ist der Vorzug des Poeten, das bestimmt wesentlich seinen Charakter, seinen Wert für alle Zeiten" — ein derartiges Bekenntnis, das zugleich wie eine programmatische Forderung klingt, warnt ebenso auch davor, die klassische Komponente verantwortungsbewußter Formpflege in Mörikes Kunstwollen zu unterschätzen. Und dem so prägnant geäußerten Kunstwollen entspricht, um es vorwegzunehmen, weithin auch sein sicher prägendes und dennoch fein wägendes Gestalten. Als Heinrich Heine auf mittelbare Nachrichten hin und ohne Mörikes Gedichte selber schon zu kennen, im „Schwabenspiegel" (1838) gleichsam auf Vorschuß und auf bloßes Hörensagen hin Mörike kurzerhand mit den wackeren Schwaben und ihrer Maikäferpoesie gleichstellen zu dürfen meinte, wohl weil Mörike kurz vorher (1835) ein „Jahrbuch Schwäbischer Dichter und Novellisten" (auf das Jahr 1836) herausgegeben hatte, da schoß er nicht nur über das Ziel hinaus, sondern auch beträchtlich daran vorbei. Da wußte er nicht und konnte es nicht wissen, daß sich Mörike selber im Briefwechsel mit Fr. Th. Vischer deutlich von den Schwaben distanziert hatte, indem er ζ. B. von Karl Mayer meint, „er habe mit seinen kleinen gedüftelten (so!) Frühlings-Überschwänglichkeiten ganz allernächstens ausgezirpt" (Nov. 1833). Befragt man diesen Briefwechsel Mörike-Vischer (aus den Jahren 1830—75, dem Todesjahr Mörikes) nach kunsttheoretischen Aussagen und Andeutungen, so wirkt die Lebenslage und Lebensstimmung Mörikes zwar sehr oft, ja durchweg biedermeierlichidyllisch, häuslich-behaglich und gelegentlich wohl auch hausbacken. Und es gibt auch einzelne Wesensbestimmungen der Poesie, die für das Biedermeier-Gemäße in Anspruch genommen werden können, so etwa die Umschreibung gelegentlich der Kritik an G. Pfizer: „Das innige Erquicken, das Behagen, welches der echte Dichter, auch wo er Ernst und Schmerzen wirken will, auf uns verbreitet, geht hier a b " (Mai 1832). Wenn Mörike den Satz hinzufügt: „ V o m Mangel an ruhig sinnlicher Darstellung gar

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nicht zu reden", so weist das schon wieder mit Vorstellungen wie Ruhe, Sinnenhaftigkeit oder dem Darstellungsbegriff zurück auf Ideale der Klassik. Aber nicht von k l a s s i s c h e m B i e d e r m e i e r , höchstens von b i e d e r m e i e r l i c h e r K l a s s i k möchte man angesichts solcher Wendungen sprechen. Ungefähr zeitparallel verwirft er die „interessante" Gebärde der zeitmodisch „Zerrissenen", die mit ihrer „Schmerzensprahlerei", ihrem Krankheitskultus hausieren gehen (Byronkult der Friih-Dekadenz), um ihrem Überkomplizierten die edle Einfalt des gesund Echten und echt Gesunden, daher auch in der Wirkung Gesundenden gegenüberzustellen als das erstrebenswerte Ziel eines von der Tradition der Klassik gestützten und gestärkten Kunstwollens. Die letztlich „kranke Desperationskoketterie" Heinescher Art (er denkt damals wohl an Heines „Junge Leiden") will ihm gar nicht gefallen oder, im biedermeierlichen Sinne, „behagen". Er gesteht in der Vertraulichkeit des Privatbriefes, daß er sich „herzlich nach einem gesunden idealen Stoffe sehne, der sich eine antike Form assimilierte. Nur diese bewahrt entschieden vor jenem modernen Unwesen, von dem man doch wider Willen mehr oder weniger auch mit sich schleppt". Und von dieser unverkennbaren O r i e n t i e r u n g an der K l a s s i k — auch der Begriff des „Gesunden" gehört dazu (vgl. Band III, Begriffsregister) — läßt sich letztlich ein großer Bogen schlagen bis hin zum klassizistischen Formkultus im Münchener Dichterkreise, wenn Mörike noch 1866 Fr. Th. Vischer empfehlend auf Paul Heyse hinweist. Bereits 1831 aber trifft man bei Mörike auf das Wertkriterium des „edelsten Gleichgewichts", also auf ein klassisches Kriterium. Daß neben dieser Nachklassik allenthalben die Nachromantik hineinspielt, bedarf kaum der einzelnen Belege. Eduard Mörike steht oft der e c h t e n R o m a n t i k näher als der Schwäbischen Romantik. Ist sich doch selbst sein Briefpartner Fr. Th. Vischer bewußt, für seine Traum-Symbolik von Schuberts „Symbolik des Traums" (vgl. Band III) mehr gelernt zu haben als von dem an sich wegen seines Humors von ihm verehrten Aufklärer Lichtenberg. Mörike findet es ganz in der Ordnung und künstlerisch vertretbar, wenn der Freund in einem dichterischen 'Versuch eine Erörterung über den Somnambulismus und Magnetismus eingeflochten hat. Und nur weil das Kunstwollen und die Literaturphilosophie der Romantik recht unzulänglich erschlossen waren, konnte so vieles an Mörikes geistiger und poetischer Gesamt-

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erscheinung dem Biedermeier zugeschrieben werden, was eigentlich der Romantik und Nachromantik angehört. Das gilt für das Kunstwollen ebenso wie für das Kunstschaffen. Sein Freund Vischer verrät, daß er ihn und sein Kunstwollen recht gut kannte, als er in der Vorrede zu den ,,Kritischen Gängen" (1844) bemerkt, wie Mörikes Zaudern vor einer Weiterentwicklung mit seinem Gebundensein an die Romantik zusammenhängt. Er erkennt aber auch die „klassische Verzweigung" in der Annäherang an das „griechisch schöne Gefühl Hölderlins" und an die „plastisch edle Seelenmalerei" Goethes. Kurz, schon er beobachtet Mörike auf einem Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik. Aber da er selber der Poesie neue Wege weisen möchte, so erfährt Mörikes Vorliebe für Traum, Märchen und „Schrulle" eine etwas unsanfte Kritik, die den sehr empfindlichen Mörike für fast ein Jahrzehnt den Briefwechsel einstellen ließ. Der anlagemäßig gegebene Zug zur Romantik hindert Mörike nicht, von seinen klassischen Positionen des bewußten Willens zum ausgleichenden Gegengewicht gegen die Romantik aus gelegentlich auch auf die Vorklassik der Aufklärung zurückzugreifen, die ihm überdies durch einen gewissen didaktischen Zug zum mindesten entfernt verwandt erscheinen mußte. Und wie mehr als ein Jahrhundert später ζ. B. der Neusymbolist Robert Musil in seinem Tagebuch auf Breitingers „Critische Dichtkunst" zurückgreift, so sucht sich der frühe Mörike kunsttheoretischen Rat zu holen bei Georg Sulzer und dessen ,,Allgemeiner Theorie" (vgl. Band II). Die Situation dieser Sulzer-Lektüre ist durchaus biedermeierlich : so eifrig hat Mörike seinen Sulzer gelesen, daß er ganz die zu Boden gefallene Schachtel mit den Oblaten vergessen hat. Kein Wunder, daß sein geliebter Spitz-Hund, feucht vom Felde heimgekehrt und auf dem Fußboden sich wühlend, höchst unschuldig mit den an seinem nassen Fell klebenden Oblaten sich seinem Herrn nicht gerade kirchlich präsentiert. Den Artikel „Ausdruck" hat Mörike gerade gelesen, der wegen der Ausdruckslehre auch unser Interesse wachrufen mußte. Gewiß, was er daran anknüpft, ist mehr ein Scherz. Aber dahinter steht doch die Ernsthaftigkeit der theoretischen Bemühung. Und sie regt denn auch Fr. Th. Vischer, der später in seiner Züricher Zeit (1857) selber mit einer Ästhetik hervortreten sollte, zu dem Wunsch an: „Sobald ich Zeit habe, muß ich auch eine Ästhetik lesen". Vorerst macht er, der sich merklich eifrig mit Hegel beschäftigt, eine

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Gegenrechnung auf mit Hilfe des Hegelianers Karl Rosenkranz und dessen Definition der Komödie. Danach „spiele" gleichsam die Vernunft mit zurückgelegten Entwicklungsstufen des Geistes, wodurch die Überlegenheit des Lächelns sich ableitet. Vischer ist überzeugt und möchte davon überzeugen, ,,daß Hegel und Phantasie einander nicht verdrängen" müssen. Überhaupt trägt Fr. Th. Vischer Sorge dafür, daß die T h e o r i e d e s H u m o r s in diesem Briefwechsel zu ihrem Recht kommt. Ausgehend von der „Neugierde" Lichtenbergs, gelangt der junge Fr. Th. Vischer zu dem Ertrag, daß die „grübelnde Dialektik" Hegelscher Art ihre ernsthaften Fragen ausschickt zum Erreichen eines ernsten Zieles der Erkenntnis, Fragen, die indessen „unterwegs von der Phantasie mit einer klingenden Narrenkappe versehen worden". Und so glaubt Vischer, der schon damals immer wieder dem „Verhältnis von Philosophie und Poesie" nachspürt, daß die Philosophie, weit entfernt, die Poesie zu stören oder gar zu zerstören, vielmehr „eine außerordentliche Nährerin der Phantasie und des Humors" darstelle. Er zwingt dadurch Mörike, den Humor nicht nur poetisch, sondern auch philosophisch zu sehen. Aber wieder will Mörike seinerseits aus dem Gereizten und Überreizten des ironischen Spiels das Gesunde und Gesundende des von allem Kranken und Krampfigen befreiten Lachens herausretten als „das wahrste Kriterium für den echten aristophanischen Kontur" (April 1831). Hier trennt sich sein ästhetischer Takt und seine poetische Zartheit vom Kompakten und Massiven der Komik Vischers, der robust beharrt; denn „ohne Gemeinheit, ohne gründliche Auffassung des Pudelgemeinen gibt es keinen Humor" (Hinweis auf Shakespeares Falstaff-Gestalt). Und man erinnert sich angesichts dieser Humordiskussion unwillkürlich an das Wort der Annette von Droste über die Problematik eines Humors in moralisch zu „engen Schuhen". Denn wo Mörikes Humor nicht recht befreit auftritt, da drückt ihn immer irgendwie (und oft merklich) der biedermeierlich enge Schuh bürgerlicher Moral. Der Briefwechsel enthüllt gerade für die Frühzeit der beiden Theologen mannigfache Konflikte mit dem notgedrungen feierlichen Ernst des Pastörlichen. Und fast an des jungen Herder Wort vom drückenden Mantel und Kragen erinnert der frühe Seufzer des jungen Mörike: „Der Kirchenrock und seine Atmosphäre verhängt mir manchen heitern Horizont, sowohl am poetischen als überhaupt humanen Himmel".

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Aber aus dem Briefwechsel Mörike-Storm (1850—65), der für Mörike kunsttheoretisch weit weniger fruchtbar bleibt, ist eindeutig erkennbar, daß er sich so eingewöhnt hat ins Theologische, daß Storms Religionsfremdheit die tiefere Ursache sein dürfte für den Umstand, daß Mörike bei aller poetischen und menschlichen Sympathie sich auffallend und weit über den Grad seiner Briefscheu hinaus passiv verhält, so daß Th. Storm etwa drei Viertel dieses Briefwechsels zu stellen hat. Die Erklärung für eine derartige betonte Zurückhaltung ist leichter zu finden, als es sich der Herausgeber dieses stark einseitigen Briefwechsels mit gleichsam passivem Gesprächspartner macht, wenn man ζ. B. in einem Brief Storms an Margarete Mörike nach dem Tode des Dichters die Wendung antrifft: „Sie haben den schönen Glauben eines Weiterlebens und eines Irrtum und Wirrnis dieses Lebens ausgleichenden Wiedersehens. Möchte es Ihnen und auch uns anderen (!) werden, die wir nur goldenen Traum darin erblicken können" (April 1878). In seinem letzten Brief an Th. Storm, der als persönlicher Trostbrief gedacht ist, knüpft Mörike an die Novelle ,,Auf der Universität" als an das (damals) „letzte Büchlein" Storms an, aus dem er die „süßesten Reize Storm'scher Malerei" abzuleiten vermag. Was beide bei allem weltanschaulich Trennenden verband, war vor allem der stark ausgeprägte Heimatsinn, der ζ. B. den Schwaben Mörike am Schleswig-Holsteiner Storm das ihm an sich sprachlich schwer zugängliche plattdeutsche Gedicht „Gode Nacht" besonders schätzen ließ. Jene im Briefwechsel MörikeVischer so häufig erörterte Planung einer „Maler Nolten"-Rezension durch Vischer findet nun im Mörike-Storm-Briefwechsel einen Reflex. Storm hat in den „Kritischen Gängen" Vischers 1844 die fast zur Abhandlung ausgewachsene „Nolten"-Kritik (zuerst erschienen in den „Hallischen Jahrbüchern" 1839) gelesen, glaubt aber, ermutigt durch eigene selbstkritische Andeutungen Mörikes, die „Constanze-Partie" nicht so großzügig beurteilen zu können, wie Vischer es getan hatte. Bemerkenswert ist u. a., daß ihm ebenso wie Vischer (schon frühzeitig im Briefwechsel mit Mörike) die Gestalt Larkens eigentlich fesselnder und geglückter erscheint als die des Titelhelden Nolten. Die „reine, echt dichterische Luft" und die „feine, edle Zeichnung" der ,,Sommergeschickten und Lieder", mit deren Zusendung Storm den Briefwechsel angeknüpft hatte, wird anerkennend hervorgehoben. Und Mörike beantwortet

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jene Gabe mit einer Übersendung des ,,Stuttgarter Hutzelmännleins" (1853). Er fühlt das Stimmungsverwandte im Sinn für das „Stilleben" im Gegensatz zum „überwürzten Wesen der Modeliteratur". Man darf indessen nicht die Genauigkeit unterschätzen, mit der Mörike auf Einzelheiten kritisch einging, etwa auf eine gewisse Verschwommenheit in Storms ,,Immensee"-Erzählung und selbst auf einzelne schwache Verse in den Gedichten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Mörike bereits auf der Höhe der dichterischen Geltung stand, während sich der wesentlich jüngere Storm bescheiden als „ein Dilettant" an ihn um Rat und Urteil gewendet hatte. So auch erklärt es sich, wenn der nicht endgültig haltbare Brückenschlag vorwiegend mit Hilfe des Biedermeierlich-Heimeligen und Bodenständig-Heimatlichen erfolgt. Storm erwähnt sogleich die „Idylle vom Bodensee" (1846) und berichtet von einer Vorlesung des „Alten Turmhahns" in einem Literaturzirkel. Dergestalt überwiegt das ins Biedermeier umgebogene Romantische ganz unverkennbar. Storms Charakter- und Schicksalsnovellen waren zur Zeit des Briefwechsels Mörike noch nicht zugänglich. Mit dem A n t e i l des M a l e r i s c h e n im Kunstwollen Mörikes mag es zusammenhängen, wenn es wiederum der Impressionist Detlev von Liliencron war (wie bei Annette von Droste-Hülshoff), der die damals von widrigen Zeitströmungen überdeckte Bedeutung Mörikes erkannte und sich tapfer zu ihr bekannte. Das ist doppelt bemerkenswert, weil Liliencron die naturalistische Richtung des Impressionismus verkörperte. Und so liegt es nahe, wenn er zunächst in jedem echten Dichter einen geborenen Naturalisten sieht. Aber er setzt die Bedingung hinzu, die nun auf Mörike deutet, daß zugleich „Humor und die feinste Künstlerhand" erforderlich seien, um vollwertige Dichtung zu verbürgen. Diese feine Künstlerhand glaubte der frühe Mörike für die Malerei bestimmt. Das gesteht er im Briefwechsel Mörike-Schwind (i863ff.), besonders aber in dem ursprünglich diesen Briefen beigefügten Widmungsgedicht „Moriz Schwind" (Februar 1868), wo er halb ernsthaft, halb scherzhaft „jene alte Grille" eingesteht, „daß ich nicht Maler werden durfte". Um dieselbe Zeit etwa, als er schon am Katharinenstift zu Stuttgart einige Wochenstunden Literaturgeschichte für höhere Töchter erteilte (genauer: bald nachher), befreundet er sich in Lorch mit einem Töpfermeister und beginnt Ornamente in

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die noch feuchten Tongebilde zu ritzen. Schon dem Briefwechsel mit Fr. Th. Vischer legte er gern durchweg humorige oder karikaturistische Skizzen bei. Kurz, das „lebenslang" aus dem Passus von der alten Maler-,,Grille" ist durchaus zutreffend. Zum mindesten verraten die sehr einfühlsamen Interpretationen, die er brieflich den Illustrationen Moritz von Schwinds widmet (besonders März 1867), ein tiefes Eindringen in das Kunstwollen der Nachbarkunst. Das wurde allerdings wesentlich erleichtert durch den Charakter poetisierender Illustrationskunst, mit der Moritz von Schwind ihm seinerseits auf halbem Wege entgegenkam. Jene für Mörikes notorische Briefscheu erstaunlich umfangreiche Briefbeilage dürfte zudem einen stillen Wettbewerb antreten mit jener wohlwollenden Würdigung der Bilder Schwinds zu „Tausend und einer Nacht", die aus der Feder des späten Goethe stammt und auf die Moritz von Schwind mit berechtigtem Stolz kurz vorher hingewiesen hatte. Es ist keine bloße freundschaftliche Schmeichelei und bezieht sich nicht nur auf jenes Widmungsgedicht, wenn Moritz von Schwind hervorhebt „Bis in's kleinste Winkel hinein ist alles warmes, feines Leben". Moritz von Schwind, der sich in seinen Briefen gern bajuwarisch derb, drastisch und burschikos gibt und so vom Persönlichen her mit Liliencron verwandt wirkt, hebt also ebenso wie später Liliencron das „Feine", behutsam Formende bei Mörike hervor. Hübsche kleine Züge spiegeln sich allenthalben, so etwa wenn Moritz von Schwind trotz gelinder Vermahnung konsequent Fischer statt Vischer schreibt, oder wenn Mörike in eigener Sache den zarten Wink erteilt — der über Schwind hinaus Berechtigung behalten hat und deshalb wörtlich wiedergegeben sein mag — : „Nebenbei gesagt: mein Name wird mit einem einfachen k geschrieben". Und wenn von der Poetik auf die Metrik übergegriffen werden darf, so muß verzeichnet werden, daß Mörike auf Schwinds Anfrage hin Bescheid gegeben hat über das, was ein „Creticus" ist. Was aber die Problematik der Namen betrifft, so hat Mörike auch die anregende Suggestivkraft eines Namens erfahren. Dieses Mal ist es keine Metrik, die er nachschlägt, sondern ein Wörterbuch. Was ihm dort zufällig in die Augen fällt, ist der Name Rohtraut. Und Mörike schildert seinem Malerfreund, wie es dieser Name war, der die Reizzelle für die Romanze „Schön Rohtraut" als fruchtbaren Keim hergab, ein kleiner Einblick zugleich in den dichterischen Schaffensvorgang. Wenngleich nicht in der Art, wie für den Neuromantiker R. M. β

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Rilke und dessen sprachliches „Handwerkszeug", erweist sich dergestalt doch auch schon für den Dichter Mörike ein Wörterbuch als höchst fruchtbringend. Und noch klingt der Eingang der Romanze deutlich an diese Konzeption vom Namen her an. Man wird von Eduard Mörike keine systematische Ästhetik, nicht einmal eine ausgesprochene Kunsttheorie erwarten. Aber da es hier auch um das dichterische Kunstwollen und nicht nur um die Poetik geht, so kann der vorerst größte Lyriker nach Goethe und neben Heine nicht ohne Verlust an Einsichten in die Dichtungsdeutung entbehrt werden in der Reihe derjenigen, die nicht nur durch ihr Kunstkönnen, sondern auch durch ihr Kunstwollen der Nachwelt etwas zu sagen haben. Es geht auch nicht an, Mörike einfach mit dem Begriff des „literarischen Biedermeier" abzutun, ebenso wenig wie Franz Grillparzer oder Annette von Droste-Hülshoff und selbst Adalbert Stifter. Der literarische Biedermeier könnte bei den Genannten immer nur eine Seite ihres Wirkens und Wollens und diese zudem recht notdürftig umgreifen und sozusagen mit Notbeleuchtung erhellen. Kunsttheoretisch jedenfalls begegnet E. Mörike eindeutig auf der Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik als einer derjenigen, die nicht an das Ende der Kunstperiode glaubten, wohl aber an ihren Gott und ihre Kunst (Mörike, Droste, Stifter). Unverkennbar steckt im Biedermeierlichen eine Vorspielform der Heimatkunst. Das Haus, das Heim ist die Burg (vgl. auch Annette von Droste), aber erst die Heimat sichert den Burgfrieden. Das Biedermeierliehe baut überall Sicherungen ein. Und es läuft nicht selten Gefahr, auch seinen Gott zu mißbrauchen oder doch zu mißdeuten als eine freilich höchste und heiligste Sicherung gegen das Gefährliche und Gefährdende. Die Wollust der Enge mußte immer von der Weite des Wunders umhegt sein. Denn man wollte nicht nur selber „hegen", sondern vor allem selber gehegt sein. Und die äußere Freude am Sammeln wollte immer ermutigt sein durch das Gefühl der eigenen inneren Sammlung. Wie Jean Paul, der bereits manches „Biedermeierliche" in sich barg, stand man zwischen Klassik und Romantik. Immerhin wußte aber Mörike (woraus die Fragwürdigkeit jener Zuordnung zu einem „literarischen Biedermeier" erhellt), daß der „stille Herd" keine Sicherung bietet vor der Gewalt des Göttlichen („Besuch in Urach") und daß selbst das Gotteshaus keine Sicherung gewährt gegen die Macht des Eros („Josefine").

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Mörikes „Alter Turmhahn" mag vorab biedermeierlich wirken, sicherlich wirkt er idyllisch, und zwar auch im vertieften Sinne und der Kunsttechnik nach. Und wenn in einem kurzen „Gebet" Mörikes die Schlußverse den Ertrag ziehen: „Doch in der Mitten / Liegt holdes Bescheiden", so ist das zweifellos biedermeierlich empfunden. Aber kann man dasselbe von seinen weit bedeutenderen Gedichten wie etwa „Um Mitternacht" oder „Im Frühling" ebenfalls behaupten? „Um Mitternacht" nimmt sogar — wie angedeutet — in dasselbe Gedicht als Einzelgebilde das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik hinein. Selbst in dem wertvollen Gedicht „Verborgenheit", das an sich sogleich eine biedermeierliche Stimmung aufklingen läßt mit dem „Laß, ο Welt, ο laß mich sein", ist das Erbe der Romantik unverloren. Und die „Göttliche Reminiszenz" augesichts eines alten ehrwürdigen Bildes in einem Kloster rührt sowohl an das Wunder des Werks und den Willen zum Werk (Klassik) als auch an die Weite des Wunders und das Wunder der Weite (Romantik). Neben der Süße der Sehnsucht und neben dem Entzücken über den Zauber des Musikalischen (Romantik) meldet die Sicherheit der Architektonik und die köstliche Klarheit des gleichsam gewachsenen Kristalls — „An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang" — immer wieder seine von der Klassik her überkommenen Rechte als unverlierbar an. Nicht nur in der Vorspielform des Dinggedichts „Auf eine Lampe", in jedem wertvollen Gedicht Mörikes handelt es sich um „ein Kunstgebild der echten Art". Und die Schönheitsidee ruht auf dem In-sich-selbst-Vollendeten der Klassik (K. Ph. Moritz, Goethe), wenn sich die Prägung anschließt: „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst". Hier liegt eindeutig ein wesentliches und wertvolles Stück der im Kunstwerk ausdrücklich formulierten Poetik vor. Und es weist ebenso eindeutig auf die Kunstanschauung der Klassik wie der motivliche Gegenstand auf die schöne Gegenständlichkeit der Klassik. Es ist schon so, wie es frühzeitig einmal Fr. Th. Vischer erkannt und in einem Brief an Mörike (September 1838) unter dem Eindruck der angekündigten „Klassischen Anthologie" ausgesprochen hat. Er sieht dort in dem Freund einen „Genius, der mit der Innigkeit und der phantastischen Schönheit der Romantik ein so tiefes Eingehen in den Geist des klassischen Altertums wunderbar vereinigt". Wenn allerdings Vischer dabei das „Phantastische" der Romantik heraufbeschwört, so trägt das β·

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einen latent kritischen Nebenton. Denn immer wieder sucht er den Freund aus dem Traum- und Märchenreich der Romantik herauszulocken durch den Ansporn, mit einem großen Werk sich die große Öffentlichkeit zu erobern. Sogar einen Dramatiker möchte er durchaus aus Mörike machen, der es aber kennzeichnenderweise mit einem Opern-Libretto bewenden ließ („Die Regenbrüder", Musik von Ignaz Lachner), nachdem er sich schon in jungen Jahren in einem Singspiel versucht hatte. Es handelt sich bei diesem Singspiel „Das blinde Mädchen" um ein unvollendetes Libretto romantischer Art, zu dem Ludwig Hetsch die Musik schreiben sollte. Diese auch kunsttechnische Berührung mit der Welt der Oper bedarf einer kurzen Erwähnung schon im Hinblicken auf das Kunstgespräch oder die Opern-Interpretation in der Künstlernovelle ,,Mozart auf der Reise nach Prag". Die Beziehung Mörikes zur Musik verdiente die Aufmerksamkeit der Sonderforschung in einem vertiefteren Sinne, als das bisher der Fall ist, ebenso sein Verhältnis zur Wirklichkeit, zur äußeren Wirklichkeit und zur inneren Wirklichkeit. Nicht nur im frühen „Besuch in Urach" wird das Wunder der Wirklichkeit erlebt: „Die Wahrheit selber wird hier zum Gedichte". Das Kunstwollen war dem Irdischen immer wieder willig zugewandt, wie es auf der anderen Seite die Wirklichkeit des Wunders mit umspannte trotz mancherlei Gewissensnöte des Theologen, der D. Fr. Strauß keineswegs so ohne weiteres verdammt. Die Macht der „halbvergessenen Dinge" wird im Rückblicken auf Urach schon beschworen, längst bevor Hofmannsthal und Rilke aus dem „ D i n g " geradezu einen Terminus machten. Auch das Dinggedicht wurde im Kunstschaffen Mörikes bereits ausgebildet, wie es seinem dingnahen Denken und gegenstandsfrohen Dichten entsprach. Zugleich zeichnet sich darin die Kontinuierlichkeit der lyrischen Tradition ab. Vereinfachend kann zusammengefaßt werden: Mörike ist seinem Kunstwollen und Kunstschaffen nach einerseits ein romantischer Klassiker und andererseits ein klassischer Romantiker. E r bleibt hingewiesen auf die Tradition, ohne auf sie angewiesen zu sein. Man darf den Anteil Erfindungskraft in seinem Dichten nicht vergessen über dem Anteil Gestaltungskraft. Im zwanglosen Ton des Freundschaftsbriefes verrät er einmal seinen stillen Stolz auf diesen Phantasiereichtum: „ich hätte einen ganzen Rummel von selbsterfundenen Stoffen" (Dezember 1837). Man ist deshalb

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bei Mörike nie sicher vor überraschenden Phantasieeinbrüchen. Er scheint jedenfalls nicht selten alle Sicherungen aufzugeben, um sich unbefangen hinzugeben. Aber die Art dieser Hingabe bleibt klassisch besonnen in der Form, wo sie romantisch besinnungslos in der Haltung zu sein scheint. Und so gewinnt er aus der Stille heraus das Wagnis, ein romantischer Klassiker zu werden, während er zunächst ein klassischer Romantiker zu sein scheint. Der Drehpunkt liegt zweifellos im Idyllischen. Aber dieser Drehpunkt ermöglichte sowohl eine Wendung zum Klassischen wie zum Romantischen. Die idyllische Romantik und die romantisierende Idyllik, die den Pfarrer von Cleversulzbach umspielt und die etwa in der Idylle „Der alte Turmhahn" (1852) im Schalkhaft-Besinnlichen der erlebten Meditation eingefangen wird, wenn der schadhafte Kirchturmhahn sein „Gnadenbrot" im Pfarrhaus erhält, wie schon vorher das idyllische Hexameterepos „Meister Martin und die Glockendiebe", das nicht zufällig den Haupttitel trägt „Idylle vom Bodensee" (1846), diese ins Epische liebenswürdig ausgesponnene und verträumt-versonnene Idyllik repräsentiert eben doch nicht den ganzen Mörike. Gewiß nicht von ungefähr hat Ludwig Richter den „Alten Turmhahn" mit Bildern ausgeschmückt und so von der Nachbarkunst stilentsprechend interpretiert. Und ebensowenig zufällig ist die langjährige und echte Dichter-Maler-Freundschaft Eduard Mörike-Moritz von Schwind. Auch die Romanze „Schön Rohtraut" und mancher volksliedhafte Zustrom der Lyrik verweist auf die Romantik, ganz abgesehen vom romantischen Grundzug in dem frühen Künstlerroman mit märchenhaft-mythischem Einschlag „Maler Nolten" (1824—32, Umformung 1853—75) und der reizend romantisierenden Künstlernovelle „Mozart auf der Reise nach Prag" (1856, Arbeitstitel „Die Landstraße"). Man kann schon verstehen, daß dieser gläubige Idylliker von dem großen Lyriker neben ihm, Heinrich Heine, sagen konnte und geradezu sagen mußte, daß Heine „wohl ein Dichter ganz und gar" sei, daß aber Mörike nicht recht heimisch bei ihm werden und „nicht eine Stunde mit ihm leben" möchte. Das hat gewiß nichts von Antisemitismus, aber es ist ein SichBewahrenwollen und ein Selbstschutz des Mannes der vertieften Stille gegen den Mann der Öffentlichkeit und der publizistischen Bewegung und Erregung. Es ist verwandt mit dem schalkhaftselbstkritisch und zugleich selbstbekennerischen Eingeständnis aus

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Anlaß der Übersendung von Hebbels Nibelungen-Drama, daß Mörike den grandios grauslichen Eindruck gehabt habe, als wenn ein reichlich massiver Felsblock durch sein friedsames Pfarrdach geschmettert worden sei. Er erkennt und anerkennt also in beiden Fällen eine gewiß andersartige Größe, aber er bekennt auch das ihm und seiner Art Wesensfremde. Auf der anderen Seite: hätte er nicht mit Hölderlin mehr als eine Stunde und unter einem ungefährdeten Dache leben können ? Hölderlin nämlich stand ähnlich zwischen Klassik und Romantik wie Mörike zwischen Nachklassik und Nachromantik. Derselbe Mörike, der „Schön Rohtraut" dichtete, hat auch eine Übersetzung antiker Lyrik als „Klassische Blumenlese" (1840) herausgegeben, ähnlich wie der PastorenDichter Gottfried Herder einst im unmittelbaren Vorfeld der Klassik und unter wegweisender oder doch wegerleichternder Anregung für Goethes Wegfinden zur Klassik eine „Griechische Anthologie" herausgegeben hatte. Und derselbe Herder hatte wenige Jahre vorher die „Volkslieder" herausgebracht. Mörike soll damit nicht auf Hölderlin-Herder festgelegt werden, auch nicht im Sinne einer „ewigen Wiederkehr" (Nietzsche). Aber ein Zug seines Kunstwesens und Kunstwollens tendierte unverkennbar nach dieser Seite. Seine Naivität, die nicht nur dem Idylliker zugutekam, sondern auch dem Lyriker und lyrischen Stimmungsnovellisten —• und was war sein vermeintlicher Jugendroman „Maler Nolten" denn anders als eine romanhaft-märchenhaft ausgedehnte lyrische Stimmungsnovelle mit Neigung zur psychologischen Problemnovelle — , diese klassische Naivität berechtigt nicht dazu, ihn ausschließlich dem naiven Dichtertypus im Sinne Schillers zuzuweisen. In dem Maße vielmehr, wie er zugleich Romantiker war, gehört er zugleich und gewiß nicht zuletzt dem sentimentalischen, gelegentlich sogar einem sentimentalen Typus an. Vergleicht man etwa die motivlich verwandten Gedichte „Um Mitternacht" und „Nachts", so wird neben dem ApollinischKontemplativen zugleich das Dämonisch-Dionysische sichtbar und wirksam, neben dem Gärend-Drängenden einer fast geniezeitgemäßen, zum mindesten aber romantischen Fassung und Erfassung des fast feindlich Naturhaften, ja einem ergreifenden Ergriffensein von den Urkräften des zeugend-triebhaften Mythos („Nachts") zugleich die beruhigte, nur noch leise und lieblich beunruhigte Fassung und klassische Gehaltenheit einer zuchtvoll in das kühle Erz des Statuarischen getriebenen Standsicherheit

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der klassischen Stille („Um Mitternacht"). Romantische Unausgeglichenheit und klassische Ausgeglichenheit stehen sich in beiden Gedichten fast fremd gegenüber. Aber beide „umfremdet unnennbarer Reiz". Denn auch das Gedicht „Nachts" birgt zugleich Klassisches (die „goldenen Pfeile" usw.) und das Gedicht „Um Mitternacht" zugleich Romantisches (die ewig erregten murmelnd märchenerzählenden Quellen). Und vereinigt nicht auch das freirhythmisch ausschwingende und doch reimklanglich gebundene „Auf einem Frühlingshügel", in dem sich gleichsam der griechische Parnaß und der deutsche Hain-Hügel untrennbarer verschmelzen als weiland bei Klopstock, schier untrennbar und schön unvergleichbar wie unvergleichbar schön das Klassische mit dem Romantischen? Im Epischen der erzählenden Prosa hat vielleicht nur Adalbert Stifter dieses Neben- und Ineinander, diese Synthese von Nachklassik und Nachromantik so reizend zugleich und rein, so liebenswert und lebenswert durchzubilden verstanden wie Eduard Mörike vor allem in der Lyrik. Hier treffen sich tröstlich die Konfessionen der Religion und das Konfessionelle der Kunst. Weder Mörike noch Stifter konnten sich zu sich selber bekennen (und das mußten sie, weil sie echt waren als Dichter und Menschen), ohne sich zugleich zur Klassik und Romantik zu bekennen. Sie haben auf der Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik sich selber gefunden und das innere wie das äußere Gesetz ihrer Kunst — und das war bei aller biedermeierlichen Freude am Kleinen und Geringen gewiß ein wesenhaft und werthaft Großes. Das war aber eben auch mehr als ein billiger „Biedermeier". Die erstaunliche Spannweite des lyrischen Gestaltungswillens und die ebenbürtige und gleichwertige Reichweite des Gestaltungsvermögens Mörikes, die im nur Biedermeierlichen (ebenso wie bei A. Stifter) verkümmert wäre, so sehr und sichernd ihn immer das Biedermeierliche umhegen mochte, bewegt sich in einer wohlig und weit geschwungenen Wölbung zwischen Stützpfeilern und Widerlagern klassischer und romantischer, genauer: nachklassischer und nachromantischer Darstellungsweisen und Ausdruckswerte, Stilwelten und Stimmungswelten. Er vereinigt das Bildungsbewußte mit dem Volksnahen, das Großartige mit dem Schlichten, das Mythische mit dem romantisch Mythologischen. Und vielleicht hat er nachträglich einen Teil jener Mythologie zu verwirklichen gewußt, von der Fr. Schlegel und andere

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Romantiker Heil und Zukunft der Poesie abhängig machten (vgl. Band III), nicht nur im dramatisch-phantastischen Schattenspiel „Der letzte König von Orplid" innerhalb des „Maler Nolten"Romans, sondern auch im klassisch-romantischen Gedicht „Um Mittemacht". Daß Mörike neben der Behaglichkeit der in sich geborgenen Idylle und neben der klaren Gehaltenheit und Haltung des Mythos auch das leidenschaftlich Sinnliche nicht verleugnet, ist von E. Ermatinger vielleicht doch ein wenig überbetont worden, wenn er das Gedicht Mörikes „Nimmersatte Liebe" gegen Th. Storms motivlich verwandtes Gedicht „Weiße Rosen" ausspielen zu können meint. Mörike und Storm haben nicht zufällig in einem sehr verständnisvollen Briefwechsel miteinander gestanden, verständnisvoll freilich nur, soweit es um das Poetische ging. Und nicht nur Albert Köster, auch Thomas Mann in seinem StormEssay sollten eigentlich Storm vor dem Vorwurf des bloßen Weihekusses moralischer Herbheit hinreichend bewahren. Zuletzt (und nicht zuletzt) war die leidenschaftliche Verhaltenheit Mörikes mit der Storms bei allem landschaftlich-„stämmischem" Abstand doch näher verwandt, als es zunächst scheinen mag. Neben Th. Storm und C. F. Meyer hat —• gattungstypologisch betrachtet und bewertet — E. Mörike die Verbindung von Lyrik und Novelle wohl am reinsten, wenngleich nicht am reichsten ausgebildet. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die romanhaft ausgeweitete Novelle seiner Frühzeit „Maler Nolten" weiterhin wesentliche Bestände seiner Lyrik als Liedeinlagen (Peregrina-Lieder) in sich barg. Daß „Mozart auf der Reise nach Prag" als lyrisch getönte Stimmungsnovelle gelten kann, leuchtet ohne weiteres ein, besonders nachdem der Name Storm gefallen ist. Ein Künstlerroman ist „Maler Nolten" nur dem romanhaft ausgeweiteten Motiv, nicht der Struktur nach. Denn die Struktur, und zwar sowohl die äußere wie die innere deutet auf eine Novelle, und zwar auf eine lyrisch getönte Stimmungsnovelle mit psychologischer Problemstellung und tragischem Ausgang. Als Lyriker ist Mörike auf der Suche nach Möglichkeiten, sich der Übermacht der Lyrik Goethes würdig zu entwinden, indem er den Weg zwischen „Würde und Anmut" einschlägt, dem Naiven zugetan und dem Sentimentalischen doch nicht abgetan. Mörike gehört zu den Lyrikern, die bei scheinbar leicht überblickbarer Gesamtproduktion dennoch schwer ohne Zwang in ihren vielfältigen Stufungsformen und Stimmungswerten zu erfassen und

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einzugliedern sind. Schon die Sonderart seiner Ansätze zu einer freirhythmischen Lyrik („Nachts", „Frühlingshügel") ist weder einfach auf Goethe oder Hölderlin zurückzuführen und steht auch von H. Heines etwa zeitparalleler Freirhythmik (Nordsee-Zyklus) weit ab. Ihm sind wirklich in der „Klein"-Kunst einige große Würfe gelungen, die viel weiter reichen als die lyrischen Bekundungen und Bekenntnisse im Schwäbischen Dichterkreise. Für die Ballade ist er letztlich zu zart und holdselig behutsam in der Feinfühligkeit und Feingliedrigkeit seiner Übergänge und im Rein-Lyrischen seiner Überschwänge. Aber mit „Schön Rohtraut" vermochte er doch einen besonders überzeugenden Beweis dafür zu führen, daß es so etwas wie eine Abhebung von Romanze und Ballade nicht nur kunsttheoretisch gibt, nachdem freilich schon Goethe diese Unterscheidung durch seine werkimmanente Poetik gerechtfertigt hatte (Goethe macht vielfach Romanzen, wo er „Balladen" meint und sagt). Einmal stand Mörike unmittelbar vor einer theoretischen Umschreibung des Unterschieds von Ballade und Romanze. Fr. Th. Vischer hatte angefragt „Wie unterscheidest Du Romanze und Ballade? Novelle und Roman?" (Juni 1832). Aber Mörike antwortet erst im August; und da sind diese Fragen und ihre Beantwortung wohl vergessen worden, ganz abgesehen davon, daß Mörike 1832 kaum schon Klarheit aus eigener Erfahrung hätte bieten können. Eduard Mörike ist den meisten Romantikem an Stimmungskunst, in der er gleichsam wie Annette von Droste ein sehr früher Vorfahre des neuromantischen Impressionismus war, weit überlegen, zum mindesten was die Lyrik angeht. Mörike holte gleichsam das nach, was sie vorgegeben, hob das in die Kunstwirklichkeit empor, was sie in der Kunsttheorie hervorgehoben hatten. Und womit sie anfingen und eigentlich nie recht fertig wurden, wertbewahrend die Klassik zu bewahren und wertmehrend die Romantik zu bewähren: das hat er auf seinem nicht kompromißlosen, aber in der Leistung dennoch goldenen Mittelweg zu verwirklichen getrachtet und zu verwesentlichen vermocht. Insofern war er einer der Erfolgreichen auf der Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik. Anmut und Würde, Bildungserleben und Heimaterleben sind in seinem Werden und Werk einen organischen und harmonischen Verband eingegangen, der in der Wirkung wie im Wollen seiner Kunst das Zarte und das Starke, das Märchenhaft-Verträumte und sanft Hingebreitete ebenso um-

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schließt wie das Mythisch-Aufgereckte und das Dämonisch-Verdämmernde. In weiser Selbstbeschränkung hat er den Kraftpol der Antike mit dem Kraftpol des Volksliedhaften zu verbinden verstanden in einem gewiß begrenzten Kraftfeld, das zu beherrschen seine Kunst und Kraft ausreichte. Rein stilgeschichtlich scheint A n n a E l i s a b e t h v o n D r o s t e H ü l s h o f f (1797—1848), genannt A n n e t t e , am Übergang vom Biedermeier und Frührealismus, ja Frühimpressionismus zu stehen. Da ist viel spezifisch Biedermeierliches, besonders in ihrem Leben. Schon die alte westfälische Wasserburg „auf dem Hülshove" und das „Schneckenhaus" im mütterlichen Witwensitz Rüschhaus (seit 1826), „wo man den Flug der Zeit am wenigsten gewahr wird" und endlich die altersgraue Meersburg auf steilem Felsen über dem Ort Meersburg am Bodensee, trotzig und doch halb verwittert, das Besitztum ihres Schwagers, des Frhrn. v. Laßberg, das sie für entscheidende Jahre ihres Menschentums und Künstlertums aufnimmt: alles das, der ganze äußere Lebensraum, wirkt biedermeierlich. Freilich wird schon hier eine Abstufung erforderlich, indem der Biedermeier weit überwiegend bürgerlich eingestellt war, während das Freifräulein aus Adelssitzen kaum je herausgekommen ist. Und es melden sich zunächst aus dem scheinbar so wurzelecht und stilgerecht biographischen Bereich weitere Bedenken und Vorbehalte an gegen ein vorschnelles Abdrängen der Gesamterscheinung Annette von Droste-Hülshoffs auf einen bloßen Biedermeiertypus, zum mindesten im engeren Sinne der für die Literatur noch nicht allzulange erprobten „Epochenbezeichnung". Ihre Freude am Sammeln und Hegen, in der Frühzeit mineralogischen und geologischen Beobachtungen zugewandt, tendiert schon ein wenig ins Naturwissenschaftliche und hat hinter sich die weite, ahnungsvolle Sicht auf Urzeiten des Menschlichen und Vormenschlichen, des Prähistorischen. Dort aber, wo sie wie bei ihrem Schwager Laßberg auf eine nun wirklich mehr biedermeierliche als romantisch-historische Sammlerfreude stößt, meldet sich sogleich kritischer Einwand. Annettes großes Herz und ihr strebender Geist können kein Genüge finden an der Kleinlcrämerei, die zum Selbstzweck geworden ist. Gewiß fehlt ihr als Frau zeitgemäßer Bindung der Sinn für die Entwicklungsweite der Technik. Das Dampfschiff, dessen Einweihung sie bei ihrem Ausflug nach Köln miterlebt und in einem Brief halb humorvoll schildert (es war nicht der erste, aber bis-

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lang größte Flußdampfer; noch mit Schaufelradantrieb), erscheint dem jungen, auch in Köln von Verwandten wohlbehüteten Edelfräulein noch als eine Art von „Höllenmaschine" (an die Mutter, September 1825). Das war zehn Jahre vor der Erbauung der ersten deutschen Eisenbahn. Aber auch als die reifere Frau dann — etwa zwei Jahrzehnte später —· ihre Eisenbahnfahrt schildert, ist es ihr berichtenswerter, daß sie einen eigenen Waggon für sich zugeteilt bekommen habe und von den „Kondukteuren" in wahrhaft rührender Weise bevorzugt betreut worden sei, als daß sie sich etwa Gedanken über den Fortschritt der Technik und des Verkehrswesens gemacht hätte (an Elise Rüdiger, Februar 1847). Und als sie ihrem Freund Levin Schücking davon Bericht erstattet, wie einige Gewerbetreibende „bankrott" gemacht hätten, da liegt es der gewiß herzensguten Frau ganz fern, nun etwa gar wirtschaftsgeschichtliche Reflexionen daran zu knüpfen. Kurz, der konservative Grundzug ihres Weltbildes ist ganz unverkennbar und fühlte sich dann auch bald zurückgestoßen von Levin Schückings liberalistischen Ambitionen. Und so hätte Annettes denkwürdige Begegnung mit dem „Dampfboot" und dem „Dampfroß" (Lokomotive), die mehr biedermeierlich betrachtend als gefährlich revolutionierend ausfiel, übergangen werden können, wenn nicht die Verantwortung für die größeren Entwicklungszusammenhänge dazu mahnen würde, das Verhältnis von Poesie und Technik auch in relativ frühen Stadien nicht aus den Augen zu verlieren. Es bleibt bemerkenswert, daß sich die Frühimpressionistin Annette von Droste lebhafter beeindruckt zeigt von den Anfängen der Photographie. Sie selber vergleicht in dem Gedicht „Doppelgänger" ihre Eindrucksbilder oder Phantasiebilder mit „Bildern von Daguerre". Mit wenigen Worten: das idyllisch-biedermeierliche Dasein der Droste verbürgt noch kein inneres idyllisches Sein, noch keine biedermeierliche Veranlagung und Gesinnung der Dichterin, ähnlich wie ihre Heimatliebe nicht bei einer „Heimatkunst" haltmacht. Zwischen dem Bewahren des Scheins, zu dem schon die respektierte Tradition zwang (frühe Doppelneigung zu August von Arnswald und HeinrichStraube), und dem Bewahren des inneren Seins klaffen schmerzliche Widersprüche, die oft genug nur die religiöse Heilsbotschaft auszugleichen vermochte. Die Freiin aus altem westfälischen Adel hat sich als Dichterin durch einen ähnlich spröden Boden hindurcharbeiten müssen wie fast

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ein Menschenalter vorher Heinrich von Kleist, der aus altem pommerschem Adel kam (die Mark kann nur als zufällige Geburtsheimat gelten). Verwandtes wird weiterhin spürbar in den unverkennbar erotischen Verdrängungen und Verkrampfungen, in der Unsicherheit der Wahl des Liebespartners, in der hohen Spannung von Dämonie und Idyllik, in den Ansätzen zu einem noch romantisch getönten Frührealismus, um hier nur einiges anzudeuten. Und eine Meisternovelle wie die „Judenbuche" verleugnet nicht die Wegbahnung der Novellistik Kleists. Auch darf ein gewisser pathologischer Einschlag in der Genialität der Droste nicht unterschätzt werden. Er äußert sich besonders in vertrauten Briefen als Angst vor einer Überwältigung der besonnenen Vernunft durch die Ubermacht einer besinnungraubenden Phantasie. Was hier der Mensch fürchtete, war zuletzt die Macht des Künstlers. Verstärkend trat hinzu, daß sich die Droste eigentlich immer vor dem Übermaß ihrer Sehnsucht gefürchtet hat, ihrer fraulichen Sehnsucht sowohl wie ihrer künstlerischen Sehnsucht, ihres Lebenswillens ebenso wie ihres Kunstwollens. Anfangs erschien ihr schon dieses Kunstwollen an sich als eine Art von „Sünde". Denn sie maß die Gedichte ihres „Geistlichen Jahrs" zunächst noch durchaus am christlich-religiösen Wertmaßstab, und nur zaghaft meldet sie das Teilrecht auf gewisse künstlerische Freiheiten an (Brief — noch aus Hülshoff — an die Mutter, Oktober 1820). Dabei beunruhigt sie die Fülle der inneren Gesichte und das Übermaß ihrer Sensibilität. Was die kaum mehr als Zwanzigjährige ihrem damaligen künstlerischen Mentor, dem noch im „Göttinger Hain" wurzelnden Regierungsrat zu Münster (dann Breslau u. wieder Münster) Anton Matthias Sprickmann an beklommenen Klagen anvertraute, war in einer schönen Einfalt weit entfernt von einem eitlen Spiel mit genialen Künstlerallüren. Es zeigte vielmehr einen echten Konflikt an, den Konflikt nämlich der biedermeierlichen Neigung wie zur äußeren so auch zur inneren Behaglichkeit und idyllischen Rast mit der noch in ihrem Wert mißkannten und in ihrem Wesen mißverstandenen schöpferisch-visionären Unrast: „wenn das nicht Tollheit ist, so gibt's doch keine", so beseufzt die junge Annette jenes Gebanntsein von Bild und Stimmung, jenes Bedrängtsein von Erscheinungen, die ungerufen und unablässig „vor mir vorüberziehen und oft mit so lebhaften an Wirklichkeit grenzenden Farben und Gestalten".

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Zugleich ist es eine Sehnsucht, die vom Romantischen ausgeht und auf das Realistische zugeht. Das „wunderliche Zauberbild" will zum bezaubernden Bild der Wirklichkeit werden. Aber es ist weit mehr echte Romantik, also zeitlich gesehen, echte Nachromantik, als etwa bloßer „literarischer Biedermeier", wenn gerade bei Annette von Droste-Hülshoff die Wirklichkeit des Wunders so mannigfach verschmilzt mit dem Wunder der Wirklichkeit. Selbst rein motivlich spiegelt sich das ständige Wechselspiel, ob nun in der „Judenbuche" oder im „Hospiz auf dem Großen St. Bernhard". Bis in Einzelheiten hinein läßt sich der Primat romantischer Sehnsucht verfolgen. Gelegentlich ihrer berühmten dichterischen Konzentrationsepoche Winter 1841/42 bemerkt sie halb schalkhaft angesichts des Einsatzes dieser „Winterpoesie", es sei doch „sonderbar, daß zum Dichten eigentlich schlechtes Wetter gehört". Und sie erklärt diese Selbstbeobachtung für einen „neuen Beweis, daß nur die Sehnsucht poetisch ist und nicht der Besitz" (An L. Schücking, Rüschhaus, Oktober 1842). Biedermeierlich gedeutet, würde der „Besitz", das Behagen am idyllischen Besitzen durchaus als der romantischen Sehnsucht ebenbürtig gelten hinsichtlich der „poetischen" Bestände und Zustände. Nun steht freilich das Verlangen der Frau dahinter, in ihren künstlerischen Leistungen vom geliebten Manne (Levin Schücking) anerkannt zu werden. Dieser Wille zum Werk aber entspricht dem Kunstwollen der Klassik. Und er erweist sich auch späterhin stark genug, etwaige Korrekturen ihrer Gedichte durch den einst so geliebten Mann ganz energisch abzulehnen. Dieser Wille zum Werk und die Wirklichkeit des Wunders in Wechselwirkung mit dem Wunder der Wirklichkeit verstärkt die Momente, die es rechtfertigen mögen, wenn die Droste ihrem Kunstwollen nach nicht auf „Biedermeierliches" beschränkt, sondern auf dem Wege zwischen Nachklassik und Nachromantik aufgesucht wird, wobei die Wegschwenkung zum Frührealismus (bzw. Frühimpressionismus) der zeitlichen Sondersituation und der künstlerischen Sonderbegabung nach zu berücksichtigen bleibt. Hinter diesem Willen zum Werk steht aber zugleich die Frau, die das Mißtrauen und Vorurteil und Überlegenheitsgefühl des Mannes mit aller Macht überwinden will. Die Droste mußte sich vor sich selber wie vor der Welt die Geltung der Gültigkeit weiblicher Kunstleistung erst mühevoll erkämpfen. Es war dies umso schwieriger, als sie sich dessen bewußt war, daß Levin Schücking,

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der um fast zwanzig Jahre Jüngere, mit dem Mut zum Lieben auch die Macht zum Schaffen in ihr erst voll erweckt hatte. Im berühmten Meersburger Maibrief von 1842, der für ihr Kunstwollen ähnlich aufschlußreich ist wie einst der berühmte Bauerbacher Aprilbrief von 1783 für das Kunst wollen des jungen Schiller, beschwört sie in Sätzen, die an den Rhythmus der Briefprosa Kleists anklingen, den entfernten Geliebten: „Schreib' mir nur oft, mein T a l e n t s t e i g t u n d s t i r b t m i t D e i n e r L i e b e ; was ich werde, werde ich durch Dich und um Deinetwillen . . . Sobald ich diesen Brief geschlossen, geht's con furore ans Werk; ich bin wieder in der fruchtbaren Stimmung, wo die Gedanken und Bilder mir ordentlich gegen den Hirnschädel pochen und mit Gewalt ans Licht wollen" (5. Mai 1842). Es ist der Wille zum Werk, zum öffentlich herausgestellten Kunstwerk, der hier vernehmlich wird. Denn das reine Phantasiespiel romantischer Art, das nur dem geistigen Spieltrieb dient: „sonst wäre es mir viel lieber und bequemer" (biedermeierliche Versuchung), „mir innerlich allein etwas vorzudichten", dieser an sich unabhängig von ihrer Liebe vorhandene Hang tut ihr nun kein Genüge mehr. Man hat wohl gelegentlich, zum Teil äußerlich gestützt auf den männlich spröden, scharfgeschnittenen Gesichtstypus mit der breiten hohen Stirn, das Maskuline an der Dichterin Annette von Droste beobachten zu können geglaubt. Sie war in Wirklichkeit nicht nur weit mehr Frau, als andere es wahrhaben wollen, sondern auch weit mehr Frau, als sie es selber oft wahrhaben wollte. Als es um das Schöpferische geht, reagiert sie durchaus weiblich. Es steckt in ihr weit mehr schöpferische Gestaltungskraft als in ihrem letztlich unzulänglichen Liebespartner Levin Schücking. Aber um als Frau das Schöpferische zu wagen, bedarf sie der Anregung einer Befruchtung, die ihr naturhaft im Mann symbolisiert bleibt. Das betrifft ein zentrales Problem ihres Kunstwollens und ihres Kunstschaffens. Aber auch dort, wo Grenzprobleme berührt, wo Sonderfragen erörtert werden, verfügt Annette über einen ausgeprägt weiblichen Instinkt. So z.B. in der Frage des Humors. Schon einige Jahre vorher diskutiert ein Brief an den ihr befreundeten W. Junkmann (Münster) die Frage, ob etwa ihr Talent von Natur mehr zum Humor tendiere. Man habe wieder einmal versucht, sie „zum Humoristischen zu ziehen, spricht von Verkennen des eigentlichen Talents" usw. Die Droste gesteht, dieser Anregung „halb verdrießlich, halb unschlüssig" gegenüber-

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zustehen, um dann zu entscheiden: „Ich meine, der Humor steht nur wenigen und am seltensten einer weiblichen Feder, der fast zu engen Beschränkung durch die (gesellschaftliche) Sitte wegen, — und nichts kläglicher als Humor in engen Schuhen" (August 1839). Obwohl in ihren Briefen manches humoristische Glanzlicht aufgesetzt wird, so daß man fast meinen möchte, bei Erreichung eines höheren Alters, als ihr vergönnt war, würde sie vielleicht doch wertvolle Werke des Humors hervorgebracht haben, reagiert die Droste mit jenem weiblichen Taktgefühl, das — wie schon Jean Paul (vgl. Band III) — um die Freiheit als Lebenselement echten Humors weiß, dennoch selbstkritisch sich bescheidend. Nicht von ungefähr ist es der Impressionist (und Kavalier) Detlev von Liliencron gewesen, der für Annette von Droste verehrende Worte gefunden hat; ein „mächtiges, lebensstarkes Frauenzimmer" ist sie ihm, der ihr dankt für ihr „großes, gütiges, liebesschweres, edles, geheimnisvolles Herz". Liliencron denkt dabei mehr an ihr Werk als an ihr Wesen, das nicht ohne stolze Scheu vor dem Leben war und gelitten hat unter der Verständnislosigkeit ihres jugendlichen Freundes Levin Schücking (1814—83). Was Liliencron aber in diesem Werk nicht zuletzt anziehen und als verwandt erscheinen mußte, war die impressionistische Gestaltungsweise, mit der Annette von Droste zum mindesten dem Grade und Wert nach in ihrer Zeit recht vereinzelt dasteht. Und vielleicht stößt man schon damit auf das beherrschende Gesetz ihrer Kunst. Von einem bewußten Kunstwollen konnte zunächst kaum die Rede sein bei einer stark glaubensverbundenen, heimatverbundenen und familiengebundenen Freiin, die anfangs in mehreren Künsten (Malerei, Musik) dilettierte, also vorerst wie eine der zahlreichen adligen Kunstliebhaberinnen auf einsamen Gütern wirkt. Der innerlich lange vorbereitete, dann aber doch überraschend jähe und überzeugend weitreichende Entwicklungssprung von einer scheinbaren Dilettantin zu einer hochvermögenden Künstlerin, die ähnlich überraschende Entwicklung einer Heimatdichterin zur hohen Kunst: alles das begegnet in solchen großen Wertspannen selten in der Literatur. Noch die „Heimatkunst" um 1900 erstrebt, was die Droste längst vorher erreicht hatte. Als ihr Kunstwollen zu voller Bewußtheit der in ihm schlummernden schöpferischen Kräfte geweckt worden war, wandte es sich im lyrischen Bereich vorwiegend dem lyrischen

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Typus der erlebten Meditation zu, der auch im sehr früh begonnenen und spät vollendeten Gedichtzyklus „Das geistliche Jahr" (erschienen postum 1851) vorherrscht. Und insofern könnte man diese Beiträge zu einer vollkünstlerischen Erbauungsliteratur, die den Verlauf christlicher Fest- und Weihetage durch ein Jahr hindurch verfolgen, nicht nur mit den Sonn- und FeiertagsSonetten A. Gryphius' oder mit dem „Stundenbuch" R. M.Rilkes, sondern irgendwie mit der typisch betrachtenden Stimmungswelt von Β. H. Brockes' „Irdischem Vergnügen in Gott" in eine, wenngleich entfernte Beziehung setzen. Denn es überwiegt nicht der Typus des Seelisch-Intuitiven, wie es sonst bei künstlerisch ernst zu nehmenden religiösen Gedichten häufig der Fall ist, sondern der Charakter einer stimmungsgesättigten Betrachtung. Damit aber hat nur jener Grundtypus auf den geistlichen Motivbereich übergegriffen, der ihre weltliche Lyrik bestimmt. Die reine Liedlyrik der unmittelbaren Gefühlsaussage ist ihr weniger gemäß. Sie braucht die impressionistische Beobachtung und die stimmungsvolle Betrachtung. Aus der Ineinsbildung beider Elemente lebt das Wesen und die Wirkung zunächst einmal ihrer außerballadesken Lyrik, zum Teil aber auch ihrer Balladen. Wenn sie die Heide und das Moor als Motivbereich für die Dichtung „entdeckt" hat, so berief sie nicht nur ihre Heimatliebe oder Naturliebe dazu, sondern auch jene Mischung von äußerer Beobachtung und innerer Betrachtung. Man hat — rein physiologisch, dann aber auch psychologisch — ihre Kurzsichtigkeit dafür verantwortlich gemacht, daß ihr das ganz nahe Sehen und die Ergänzungsfunktionen des Gehörs und selbst des Geruchssinns und Tastsinns so gut zustatten gekommen seien, um jene d e t a i l l i e r t e h o c h s e n s i b l e E i n d r u c k s e m p f ä n g l i c h k e i t auszubilden und im Dichtwerk produktiv zu machen. Das mag und wird besonders hinsichtlich der Feinstufigkeit und Vielstufigkeit der Eindrücke und ihrer Wiedergabe nicht unwesentlich mitgewirkt haben. Der Primat des Religiösen und Ethischen prägt, ähnlich wie bei der Droste, bei A d a l b e r t S t i f t e r (1805—1868), dem engeren Generationsgenossen E. Mörikes, so etwas wie einen betont r e l i g i ö s - e t h i s c h e n R e a l i s m u s aus, der indessen sehr bald engeren Anschluß sucht bei der Seitenströmung einer idealisierenden N a c h k l a s s i k , deren Einfluß sich Stifter wohl mehr noch im theoretischen Fordern als im schaffenden Vollenden willig öffnet. Die Schwenkung von Jean Paul zu Goethe weist in dieselbe Linie.

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Zugleich aber nähern sich manche Zielprägungen der Stifterschen Dichtungsdeutung weitgehend den Idealen des Münchener Dichterkreises. Die kunsttheoretische Position Stifters entspricht so im Wesentlichen ihres Wollens der Ästhetik Fr. Th. V i s c h e r s , deren Teil,.Dichtkunst" im Jahre des „Nachsommers" (1857) herauskam. Nicht auf irgendwelche „Einflüsse" will dieses nur der entwicklungsgeschichtlichen Orientierung dienende Vermerken jener Gleichzeitigkeit abzielen. Gab doch Stifter in den eingesprengten kunsttheoretischen Erörterungen seines „Nachsommers", zu deren hervorragendstem Träger er Risach gemacht hat, bereits die Erträgnisse aus stetig gereifter eigener Kunstbesinnung. Daß diese Besinnung immer und überall eine Gesinnung in sich Schloß, darüber lassen schon die Vorstufen keinen Zweifel, die teilweise Jean Pauls „Vorschule", dann aber vor allem Schillers Ästhetik Stifter aufschichten helfen. Man kann nicht sagen oder doch schwerlich beweisen, daß Stifter sich seinen — nicht systematisch-konstruktiv gedachten — Bau etwas allzuleicht gemacht habe. Es war vielmehr so, daß ihm ehrlich zusagte, was er beim Wegsuchen zwischen Nachromantik und Nachklassik vorfand und daß er in seiner schlichten Art nicht künstlich aufbauschte und „modernisierte", was seiner geistigen und sittlichen Haltung so gut anzustehen schien. Viel Gutwilligkeit gehörte gewiß dazu, das weitwallende Gewand Schillers auf die schmalere eigene Geistigkeit zuzuschneiden, und manches schleppt denn auch epigonenhaft nach, was der menschlich und künstlerisch würdige Träger energisch zu raffen nicht die ideelich-theoriebildende Kraft besaß. Aber Stifter verfügte über ein beträchtliches Maß dieser Gutwilligkeit, die ihn z.B. auch einen A u s g l e i c h z w i s c h e n dem n a c h k l a s s i s c h e n I d e a l der A n t i k e und d e m n a c h r o m a n t i s c h e n I d e a l des d e u t s c h e n M i t t e l a l t e r s finden ließ. Einen recht bescheidenen Ausgleich zwar, der im Grunde basierte auf dem vermeintlichen Wesensattribut der Einfalt und Einfachheit sowohl im problemarm gesehenen deutschen Mittelalter wie auch im einseitig winckelmannisch gesehenen Altertum. Das was ihm zu eigen war: ein bloßer geschwächter Abglanz vom Schillerschen Willensidealismus, der einst das Schöne und Gute zur Strebenseinheit zwingen wollte im zähen Ringen mit schwerster Problematik (Kant), läßt Stifter die dunklen und ungelösten Fragen allzu licht sehen und allzu leicht nehmen. Teilweise auch ganz übersehen; denn anders als Hebbel, Ludwig und 7

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selbst Keller war Stifter in seiner klaren Grundanlage eine unproblematische Natur. Neuere Sonderforschung sucht allerdings im Ergänzungs- und Vertiefungsdrang auch das „andere Wesen" an Stifter zu enträtseln. Man wird sogleich fühlen, daß bei seiner menschlichen Vornehmheit und seinem fraglos edlen Wollen das Schillersche Erbe (kunsttheoretischer Werte) besser und würdiger aufgehoben war als etwa bei dem Schicksalsdramatiker Müllner, der doch ein Teilerbe Schillerscher Ästhetik (das Pathetische) an sich zu reißen und für sich auszuschlachten getrachtet hatte. Aber man wird ebenso erkennen, daß Stifter mit jenem stolzen Erbe nicht gerade fruchtbar gewuchert hat. E r wahrt bestenfalls den überkommenen Besitz, ohne ihn von sich aus zu mehren. Von sich aus: denn allerdings trägt er auffrischend einige Anregungen von dritter Seite (z.B. Jean Paul) hinzu, ohne den Ehrgeiz einer wirklich organischen Verschmelzung wirksam werden zu lassen. Das enge Anklingen mancher Äußerung an Jean Paul, so etwa der Forderung Stifters, daß „Besonnenheit" selbst in „höchster kunstliebender Begeisterung nie fehlen" dürfe und die schaffende Abstandsüberlegenheit, das „ordnende Überschauen" des Kunstwerks verbürgen und vor dem trübenden Leidenschaftseinbruch sicherstellen müsse (so Risach im „Nachsommer"): das Anklingen dieses Leitmotivs an das, was Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik" unter dem Kennwort „Besonnenheit" klargestellt hatte, ist bereits von der Sonderforschung herausgehört worden. Und wenn Stifter i n d e m Artikel „Über Stand und Würde des Schriftstellers" (1848) das charaktermäßige Würdigsein des Dichters und die Selbsterziehung „ z u der größtmöglichsten Reinheit und Vollkommenheit" als allein tragfähiges Fundament für die künstlerische Gesamtleistung voraussetzt, so drängt sich notwendig das Schillersche Vorbild in der — bereits von Auerbach herangezogenen — Bürger-Kritik auf. Und es ist keine bloße Einflußjagd, wenn die Sonderforschung in diesem Zusammenhange die straffere Prägung aus Schillers Dichtung „Die Künstler" heranzieht: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben / Bewahret sie!". Varianten zu diesem Leitprinzip, das auf der Zwischenstufe bei Platen begegnete, sind mehrfach bei Stifter anzutreffen. Doch sei einmal nachdrücklich darauf verwiesen, daß diese hohe Persönlichkeitsbewertung des Schaffenden, diese mehr axiologische als biologische oder metaphysische Deutung des würdigen Schöpfertums ganz ähnlich von Carriere und der Münchener Dichtergruppe

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(besonders von Geibel) in die Zentralstellung der idealen Forderungen gerückt wird, wie denn das charakteristische Bild vom Priestertum des Schönen auch Stifter recht vertraut ist. Stifters anspruchslose und eben deshalb so ansprechende Bescheidenheit hat über seine Gewährsmänner keinen Zweifel offengelassen. Vorerst beim Erteilen von Privatstunden bringt das ,,Programm über meine Schülerinnen" (1837) bereits die Erwähnung: „Diese (Geschichte) und Physik und Ästhetik (nach J. Pauls Vorschule, die sie entzückt) wechseln ab" (8. Februar 1837, an Siegmund v. Handel). Aber daß er auch selbst gelernt hat von Jean Paul, gestehen mehrfache Wendungen freimütig ein, so etwa dort, wo er sich mit dem Problem der Wirklichkeitstreue unter Anlehnung an Jean Paul („. . . wie wieder Jean Paul sagt . . . " ) auseinandersetzt und eine sklavische Wirklichkeitstreue ablehnt, wie alle poetischen Realisten und Nachklassizisten. Ebenso wird Schiller nicht nur ausgewertet, sondern auch häufiger zitiert. Im eigenen Schaffen dagegen wurde mehr und mehr Goethe zum erstrebten Vorbild. Gelegentlich einer Ordensverleihung hat Stifter in gehobenem Selbstgefühl dem ihm freundschaftlich verbundenen Verleger Heckenast gegenüber sein Ziel so abgesteckt: „Ich bin kein Goethe, aber einer aus seiner Verwandtschaft; und der Same des Reinen, Hochgesinnten, Einfachen geht aus meinen Schriften in die Herzen" (Brief vom 13. Mai 1854). Und es liegt darin doch auch für das Kunstwollen einbeschlossen das unermüdlich in Stifters theoretischer Programmatik wiederholte Verlangen nach Sittlichkeit im Schaffenden und Geschaffenen, nach Gesinnungsadel, Einfalt und Klarheit, nach verinnerlichter und verinnerlichender Schlichtheit nachklassischer Art und gebändigter Kraft: „Innige Hingabe an stille, reine Schönheit" (an Heckenast, χι. Februar 1858) sollte nicht nur für ihn selbst, sondern auch für andere vornehmste Künstlerpflicht sein. K u n s t f r ö m m i g k e i t v e r s c h m i l z t sich m i t r e l i g i ö s e r F r ö m m i g k e i t , ja geht recht eigentlich aus ihr hervor, wie sich denn Stifter auch späterhin gern erinnerte an den Leit-und Lehrsatz, den man ihm schon als Knaben in der Benediktiner-Abtei Kremsmünster mitgegeben hatte: „Das Schöne sei nichts anderes als das G ö t t l i c h e i m G e w ä n d e des R e i z e s " . Dieses Göttliche glaubt Stifter nicht sowohl im Leidenschaftssturm, sondern vor allem im linden Säuseln abgeklärter Beruhigung zu vernehmen. Man horcht unwillkürlich zu dem sonst weltanschaulich in wesentlich anderem Raum stehenden Fontane 7»

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hinüber, der auch mehr für das war, was klein und still und als letztlich impressionistisches Idyll sich ihm darbot. Und auch das intime Mitfühlen mit den Gestalten der Dichtung läßt verwandte Wesenszüge erkennen, wenn es Stifter mit naiver Unmittelbarkeit so umschreibt: ,,Ich kann da die Leute machen, wie ich will, und kann sie sich zu Tode lieben, opfern, freuen, unschuldig und lustig und herrlich über die Maßen sein lassen; und dann leb' und web' ich mit ihnen und vergesse, daß Andere um mich herum sind". Allerdings hat hier noch mehr der Subjektivismus der Frühzeit das Wort (so an Brenner, 4. Februar 1836). Indessen hat auch der ältere Stifter nie den Rigorismus starrer Objektivität, etwa Spielhagenscher Art (in dessen Theorie), vertreten, so sehr er sich auch eine vertiefte Einsicht in den selbstlosen Dienst an der Gegenständlichkeit gewinnen mochte. Ein subjektiver Faktor bleibt schon dadurch erhalten, daß nur die ethisch würdige Persönlichkeit künstlerische Dauerwerte zu schenken vermag. Das aber wird zäh festgehalten als Kernstück alles Künstlerischen und Dichterischen schlechtweg: „Das Sittengesetz, durch den Reiz der Kunst zur Anschauung gebracht, ist der Kern der Kunst". Selbst das K o m i s c h e muß sich unter Teilanlehnung an Jean Pauls Deutung diesem Grund- und Zielsatz fügen. Die wertende Haltung in der Komik und der entsprechende Wertmaßstab kann nur vom menschlich-immanenten Sittengesetz bestimmt werden: „Darum lacht nur der Mensch, weil er ein Sittengesetz hat; das Tier lacht nicht". Der ethische Aspekt beherrscht denn auch offensichtlich den Entwurf zu einem „Gesuch um Bewilligung öffentlicher Vorträge über Ästhetik", wobei als Wirkungsziel und Wesensart der geplanten Vortragsreihe „das schlichte Sittliche" im Sinne nachklassischer Einfalt programmatisch herausgestellt wurde. Dieser ethische Primat bestimmt weiterhin die Grundrichtung in dem Aufsatz über ,,Die Poesie und ihre Wirkungen", der eine forcierte Scheinkunst bekämpft und nachzuweisen trachtet, daß die objektiv-allgemeingültige Anziehungskraft des Schönen allein im rein Menschlichen (Nachklassik) begründet sein könne und damit im ethischen Bewußtsein ruhen müsse. Da dieses Sondergut der Menschheit ihr anlagegemäß zugeeignet erscheint als göttliches Geschenk (Nachromantik), so umschreibt sich das Schöne geradezu als „das Sittengesetz in seiner Entfaltung". Die Vorrede zur ersten Auflage der „Studien" (1843) wendet diesen stets auf

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sittliche Wertsetzung und Werterfüllung gerichteten Blick in die anspruchslos geschilderte Stätte des eigenen Schaffens, wie denn überhaupt diese Vorrede mehr Bedeutung hat für ein Einblicknehmen in Stiftersche Schaffensart und Schaffensstimmung als für die Würdigung seiner Kunsttheorie im strengeren Sinne. Danach wuchsen ihm seine „Studien" zwanglos zu, ohne Pressung durch schriftstellerisches Geltungsstreben, anfangs gleichsam in Nebenstunden abgestoßen, bis die heimliche „Liebhaberei" (Biedermeier) zur offen und öffentlich bekannten Liebe erstarkt war. Die einheitschaffende Ausdrucksabsicht der aus jeweilig sich wandelnden „Gemütslagen" heraus geschaffenen „Studien" wird jedoch auch im linden Sprachklang dieser wortkünstlerisch durchgeformten Vorrede vernehmbar in dem Wunsche, „einzelnen Menschen, die ungefähr so denken und fühlen wie ich, eine heitere Stunde zu machen, die dann vielleicht weiterwirkt und irgendein s i t t l i c h Schönes f ö r d e r n hilft". Der Begriff des „Heiteren" ist nachklassisch gemeint und nur biedermeierlich getönt. Und dieser Wunsch greift über den Einzelanlaß hinaus mit der Blickweitung auf das mehrfach vor Stifters innerem Gesicht auftauchende „Baugerüst der Zukunft", das die sittliche Aufrichtung bringen soll aus einer gerade auch auf literarischem Gebiet als durchaus unzulänglich, ja teilweise als unwürdig empfundenen Gegenwart. So fern sonst Stifter, der immerhin das Transitorische des „Laokoon" aufgenommen hat, einem Lessing stehen mag und aus idyllischem Friedenswillen stehen mußte: etwas von der feierlichen Zuversicht — selbst in der Sprachgestaltung —, etwas aus Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts" wird wirksam in Stifters Glauben, es gehe „auch nicht das kleinste Körnchen" vom Sittlichschönen „verloren, das in der Gegenwart ein wahrhaft Gutes setzt; denn der ganze Bau der Ewigkeit ruht mit auf diesem Körnchen". Nur daß dieser Glaube an die Erzieh barkeit, der sich jenseits der Kunsttheorie in einer ganzen Reihe populärer Aufsätze widerspiegelt, bei Stifter kirchlich-religiöser geartet war, wie der Dank des Dichters für „die Gefühle, womit ihn Gott während der Arbeit belohnt hat", feierlich bekundet. Es spricht aus diesen Worten dieselbe Frömmigkeit, die ζ. B. kritisch von Hebbel abrückt, weil dort nicht das Wesentliche gefunden werden kann, nämlich die „Darstellung der objektiven Menschheit als Wiederschein des göttlichen Waltens". Es ging Adalbert Stifter, so verstanden, nicht um ein Gewahrwerden der

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wesenhaften Form, sondern um ein Gewahrwerden der gotthaften Form. Selbst von der Gegenständlichkeitsforderung aus erschließt sich Stifters gläubige Willigkeit (so im „Witiko") einen Zugang zum Gottgewollten in der Weise, daß die immanenten Gesetzlichkeiten des Dinglichen zugleich den „Willen Gottes" als ein von Gott Gesetztes in sich bergen müssen. Auch in Mörikes Dinggedichten lag und lebte ein Stück dieser im Dasein befriedeten Frömmigkeit. Biedermann und Gottesmann rücken einander näher. So wird auch von hier aus die Position eines gleichermaßen gottfrommen und naturfrommen, g o t t n a h e n u n d n a t u r n a h e n R e a l i s m u s bzw. Idealrealismus deutlich erkennbar. Es hatte sich diese Haltung schon recht frühzeitig ausgeprägt in der kunsttheoretisch aufschlußreichen Rezension der „Mohnkörner" Ernst Ritters (in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung, 24. Juli 1846), die das göttliche Naturwunder auch im Kleinsten einem Jagen nach dem Bizarren weit übergeordnet und das Heldische im Schlichten aufgesucht hatte. Und die vielberufene Vorrede (gez. Herbst 1852) zu den ,.Bunten Steinen" (1853) führt jene längst konzipierten Grundgedanken nur breiter aus, wenn sie in eigener Sache eine Lanze bricht für die latente, oft mißkannte und mißachtete „Größe", die im scheinbar Kleinen und Alltäglichen reicher oft verborgen ruht als im repräsentativ und demonstrativ herausgestellten Kultus des Großartigen und Außergewöhnlichen. Die Gesamttendenz der Vorrede variiert das in einem Briefe an Heckenast (Juli 1847) in die knappere Prägung gefaßte Grundthema: „Jede Größe ist einfach und sanft, wie es ja auch das Weltgebäude ist". Das hätte auch Mörike sagen können, weil es im Geist des Idyllischen ausruhen möchte. Die ältere Zielsetzung biedermeierlicher Richtung wurde indessen jetzt schärfer ins Auge gefaßt unter dem Eindruck Hebbelscher Polemik gegen das Kleinkrämerische bei den „Neuen Naturdichtern", und nicht zum wenigsten bei Stifter: ,,. . . Aber das mußte so sein; damit ihr das Kleine vortrefflich / Liefertet, hat die Natur klug euch das Große entrückt", einer Polemik, die gewiß nicht so ganz fehlgriff, aber doch an Stifters innerer Bezogenheit zwar nicht auf das göttlich Große, aber auf die ihm stets gegenwärtige Größe Gottes vorbeisehen mußte. Sogleich der Eingangssatz der Stifterschen Vorrede kennzeichnet die ursprünglich dergestalt kämpferische Ausgangsstellung: „ E s

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ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien". Demgegenüber sucht er in einem popularphilosophischen Exkurs von reichlich einseitiger Richtung das Verhältnis von Großheit und Kleinheit so umzulagern, daß echte Größe gerade im Anspruchslosen, dem oberflächlichen Betrachter als unbedeutend und unbeträchtlich Erscheinenden zu suchen sei. Zudem gehen, so meint jedenfalls Stifter, auch die auffälligen Sensationen sowohl im Natur- wie im Kulturerleben letztlich zurück auf dieselben immanenten Gesetze, die im Kleinen sich so wundersam manifestieren und im Alltäglichen der Sitte, des Familienlebens usw. ewigen Dauerwert beweisen, während die lärmenden Eruptionen äußerer Größe wechselnder Geltung und oft schneller Wandlung unterworfen bleiben. Derartige Sensationen und Eruptionen drängen sich selbst auf. Aber „wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird". Das Attribut „sanft" taucht also auch hier wieder auf. Und es ist für Stifter selbstverständlich, daß jenes übergreifende und durch alle Sondererscheinungen auch der Kleinwelt hindurchwirkende Gesetz das „Gesetz der Gerechtigkeit und Sitte" sein muß, das sich als „menschenerhaltendes" Kulturgesetz entsprechend dem „welterhaltenden" Naturgesetz bewährt. Von Schillers prachtvollem Aufschwung zum Erhabenen des Pathetischen sticht Stifters gemütvoll-behaglicher Kleinkultus spezifisch idyllischen Gepräges unversöhnlich ab. Stifter fehlte zweifellos das Organ für Wucht und Großartigkeit, außer auf religiösem Gebiet. Aber selbst dort hält er es kennzeichnend genug mit dem linden Hauch. Nur darf nie vergessen werden, daß ihm, an der Größe Gottes gemessen, auch das menschlich Große noch klein erscheinen mußte. Während ungleich größere Strecken der Vorrede zu den „Bunten Steinen" sich dergestalt auf etwas flächigem Weltanschauungsboden bewegen, erfolgt vorübergehend eine Schwenkung in das kunsttheoretische Gebiet der Gattungstypologie. Stifter erkennt trotz seines geringen Sinnes für das Erhabene dennoch das Pathetische im Tragischen durchaus an. Schiller allerdings erleichtert ihm die Eingliederung der tragischen Wirkungsform in seinen moralpädagogischen Optimismus und hochgespannten Idealismus. Ungewollt und ahnungslos berührt sich doch auch Stifter mit seinem Gegner Hebbel dort, wo er erläutert:

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„Ja, wenn sogar der einzelne oder ganze Geschlechter für Recht und Sitte untergegangen sind, so fühlen wir sie nicht als besiegt: wir fühlen sie als triumphierend; in unser Mitleid mischt sich ein Jauchzen und Entzücken, weil das Ganze höher steht als ein Teil, weil das Gute größer ist als der Tod; wir sagen da, wir empfinden das Tragische und werden mit Schauern in den reineren Äther des Sittengesetzes emporgehoben".

Für das Epos nimmt Stifter mehr das Erhabenheitsgefühl angesichts des „ruhigen Silberstroms" des weiten Menschheitsweges und Entwicklungsstromes zum „großen, ewigen Ziele" in Anspruch. Trotzdem hält er zäh seine Stellung fest: „Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind: so sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen, alltäglichen, in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens".

Was Grabbe mehrfach (Marius-Fragment; Napoleon; Hannibal), was Hebbel etwa in der „Judith" als niederdrückende Tragik gestaltet hatte: das Zerbrechen des Übermäßigen am Mittelmäßigen, das Scheitern des Ungemeinen am Gemeinen würde Stifters konservative Einstellung als letztlich gesund begrüßen. Eine leicht philiströse Färbung biedermännischer Art allerdings haftet dieser gesunden Mittelmäßigkeit an, weil sie gar nicht ehrlich gerungen zu haben scheint mit dem sehnsüchtigen Auftrieb zum Ideal der großen Persönlichkeit, sondern sich beim Gruppenmenschen recht wohlfühlt (trotz des „Witiko"). Er war eben nicht den kampfreichen Weg Schillers gegangen, sondern hatte sich sogleich behaglich in jener „unerschütterlichen Burg" unserer ethischen Unverletzlichkeit und Unbezwingbarkeit häuslichfriedlich-geborgen niedergelassen, geschützt durch die Bürgschaften seines Glaubens, in jener Burg, die Schiller unter Opfern erobert hatte. An solchen Stellen gerät die Erhebung der Nachklassik in Konflikt mit dem Behagen des Biedermeier. Und man kann sich nicht ganz dem Eindruck verschließen, daß Stifters an sich gewiß tapfere Verteidigung des Kleinen, Schlichten und Einfältigen aus einem uneingestandenen Mangel — an Großgeistigkeit — eine Tugend zu machen bemüht ist. Eigenartig berührt er sich mit aufklärerischen Anschauungen —· abgesehen von Brockes' „Irdischem Vergnügen in Gott" — in der Leidenschaftsfeindschaft. Dem Sittengesetz widerspricht ein haltloses Aufbranden der

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Leidenschaften. Die gesammelte, überlegene Kraft beweist und bewährt sich nicht im leidenschaftlichen Gehaben, sondern gerade im zügelnden Griff einer bewußten Leidenschaftsbändigimg. Allerdings erscheint auch nach dieser Seite hin Stifters Männlichkeitsbegriff vom „sanften" Tatmenschen recht einseitig vom Persönlichen her mitbestimmt worden zu sein. So sucht die bekannte Vorrede zu den „Bunten Steinen" im wesentlichen mehr die Seins- und Sittengesetze aufzuspüren als die Kunstgesetze. Von der weniger beachteten, knapperen, aber relativ gehaltreicheren Vorrede zu den „Studien" übernimmt sie in wörtlicher Wendung die Eindrucksabsicht, „ein Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen". Die erwähnte Berührung mit Moriz Carriöre und dem Münchener Dichterkreise wird wiederum fühlbar, wenn die echten Dichter als die „Hohenpriester" bezeichnet werden. Dagegen wird die politische Mission im Sinne Jungdeutscher Tendenz schroff zurückgewiesen. Darüber lassen mehrfache kritische Äußerungen Stifters keinen Zweifel aufkommen, auch wenn eine Sonderabhandlung über ,, Politik und Poesie", die Stifter erwähnt, uns — soviel ich sehe — nicht erhalten geblieben ist. Insofern nähert sich Stifter der Ausgangsstellung Fr. Th. Vischers, während zugleich die Ablehnung des realistischen oder auch idealistischen Rigorismus sich begegnet mit der Vermittlungs- und Ausgleichsstellung des poetischen Realismus nachklassischer Spielform. Auch Keller hätte Stifters — allerdings im Einzelanlaß auf die bildende Kunst bezogene — These verteidigt: „Der Realist und der Idealist ist verfehlt, wenn er nicht etwas Höheres ist, nämlich ein Künstler; dann ist er beides zugleich" (an Heckenast, 12. Mai 1858). Dieser innigen Verehrung der Kunst dankt Stifter letztlich doch eine gewisse Großartigkeit, die selbst die Tapferkeit aufbringt, konfessionelle Schranken zu durchbrechen: „Ich mag Unrecht haben, aber in der Kunst erscheint mir der katholische Standpunkt doch nur e i n e r ; ich glaube, die Kunst soll das Leben der gesamten Menschheit fassen; vielleicht heißt er (Eichendorff) das katholisch; dann habe ich von katholisch nicht den rechten Begriff", wobei die behutsame Einschränkung im Privatbrief Rücksicht nimmt auf die Briefempfängerin (an Louise v. Eichendorff, 2. Juni 1857). Auch insofern vertritt Stifter keine kämpferische Anspannung des Künstlerischen. Die „innige Hingebung an stille, reine Schönheit" bleibt seine beste Erfüllung. Auf den Stifter des „Nachsommer",

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des „Witiko", bedingt auch der Spätformen der „Mappe meines Urgroßvaters" beschränkt, könnte man fast sagen, daß dergestalt die Klassik in einem klassischen Biedermeier, die Romantik in einem romantisierten Biedermeier gipfelt. Wenn gesagt werden durfte, daß A. Stifters kunsttheoretische Position im Entscheidenden ihres Kunstwollens etwa den Richtlinien und Leitideen der Ästhetik von F r i e d r i c h T h e o d o r V i s c h e r (1807—1887) entspräche, die für das Jahr von A. Stifters „Nachsommer" (1857) anzusetzen ist, also etwa ein Jahrhundert nach G. A. Baumgartens „Aesthetica", bestätigt das nur den Eindruck, den man aus Vischers Briefwechsel mit Mörike gewinnt. Mehrfach schon konnte auf den Anteil Vischers an diesem Briefwechsel —• so etwa hinsichtlich der Bestimmung des Humors — in kunsttheoretischem Betracht kurz eingegangen werden. Und man erinnert sich, wie Eduard Mörike im Februar 1832 einigermaßen idyllisch seinen Georg Sulzer („Allgemeine Theorie") studierte und dadurch im März desselben Jahres in dem noch recht jungen Vischer den Wunsch weckte, sich doch auch einmal in einer Ästhetik näher zu informieren. Vorerst fühlte sich Vischer noch ganz als ein in die Theologie verschlagener Poet. Und fraglos steckte in dem Verfasser des Romans „Auch Einer" mit der berühmten Tücke des Objekts und dem geistvollen und witzreichen Improvisator von „Faust, dritter Teil" ein gut Stück dichterischer Phantasie. Noch den respektvoll bewunderten Privatdozenten Vischer betreute Mörike mit dem wohlmeinend irdischen Rat, sich durch eine reiche Heirat von dem wirtschaftlichen Unterbau des Katheders unabhängig zu machen. Wußte Mörike doch, wie herzensinnig Vischer an den zwei Novellen jahrelang hing, die bei Mörike lagerten, der sie auf den Markt zu bringen sich ebenso redlich wie vergeblich bemühte, bis Vischer endlich einsah, daß diese Gemächte wirklich nicht allzuviel taugten. Außerdem trug sich Vischer jahrelang mit dem Plan eines „Agnes Bernauer"-Dramas, womit er zum mindesten motivgeschichtlich in die Reihe Thörring-Hebbel-Ludwig eingeschwenkt wäre. Aber Fr. Th. Vischer verfügte über eine Gabe, die Mörike im strengen Sinne nicht besaß: das war das Verständnis für Philosophie. Und da gab es noch ein Trennendes: das war Vischers Interesse für Politik. Eben durch dieses politische Interesse, das ihm in seiner akademischen Laufbahn mancherlei Schwierigkeiten

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machte, tendierte Vischer zeitweise beträchtlich zum liberalen Fortschritt. Und weil ihm Tübingen (a. o. Prof. für Ästhetik seit 1837) keine rechte Bewegungsfreiheit bot, suchte er für etwa ein Jahrzehnt (1854!) Zuflucht in der freien Schweiz als Professor in Zürich, wo auch seine „Ästhetik" entstanden ist. Längst vorher alarmierte er Mörike mit der Philosophie Hegels, im Ertrag natürlich erfolglos. Denn Mörikes feinnerviger Poeteninstinkt ließ sich nicht verwirren durch Beteuerungen, daß das Denkertum in Hegel dem Dichtertum durchaus nicht abträglich zu sein brauche, ja ihm dank Hegels hoher Bewertung der Phantasie sogar sehr zuträglich werden könne. Noch versucht Vischer, Poesie und Philosophie zu versöhnen, indem er ein besonderes „Genre" vorschlägt, das dem Dichter-Denker gerecht wird, so etwas wie ein durch romantische Ironie und z.T. schon realistische Ironie aufgelockertes Lehrgedicht in Prosaform. Schon aber meldet sich der Verdacht, ein fast aufklärerischer Verdacht (Mendelssohn, auch Lichtenberg wird nicht zufällig mehrfach erwähnt, vgl. Bd. II), daß die Poesie nur eine „niedrigere Erscheinungsform des (Hegeischen) Geistes" sei. Andererseits aber entfährt ihm als einem ins Philosophisch-Ästhetische abgedrängten Dichter gelegentlich der Stoßseufzer: „nichts verhindert mehr, Schönes zu schaffen, als philosophisches Nachdenken über das Schöne" (Juni 1837, also zwei Jahrzehnte vor seiner „Ästhetik"). Der vorübergehende Trost, daß sein philosophischer Ansatz beim Zweifel, einem Zweifel, der sich „nur durch Philosophie kurieren" lasse, sein „universelles Ich" betreffe, während sein „individuelles Ich" romantisch „phantastisch und poetisch" bleibe (Okt. 1833), hat sich also auf die Dauer nicht bewährt. Er ging aus vom Biedermeier, der ihm indessen philosophisch und bald auch kunstphilosophisch kein Genüge tat. Er beobachtet seinen Freund Mörike auf dessen Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik. Und er bestätigt, daß Mörike dabei die richtige Spur verfolge. Nur will ihm scheinen — und dabei regt sich der politisch-publizistische Sinn — , als ob Mörike allen Neuerungen zu behaglich-behutsam widerstrebe. Nicht nur das „Verhältnis zwischen Philosophie und Poesie", auch das zwischen Politik und Poesie läßt ihn nicht zu jener produktiven Ruhe kommen, die Mörike wohlweislich verteidigt, ohne viel Wesens davon zu machen. Aber während ihn die Anlage zur geistvollen Komik auf die Ironie der Romantik verweist, strebt sein Kunst-

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verstand zur Klarheit der Klassik. Es will ihm nicht recht zusagen, daß Mörike wieder „ n u r " ein romantisches Märchen unter der Feder hat, also bloßes ,,Arabesken"-Werk, statt großen „idealen Stoffen" sich zuzuwenden. Jenes Ideal der Welt, das die Romantiker wie Tieck, Novalis u. a. so gern „ins Licht des Wunderbaren und Mystischen" rücken, so daß sie das „Schöne phantastisch" auffassen und ausformen, gilt ihm nicht mehr als das höchste Ideal. Das „Possenspiel" der Urbanen „poetischen Phantasie" kann dienlich sein, um den „platten Verstand" zu irritieren und gleichsam durch Karikieren zugleich zu korrigieren, jedenfalls dazu, seinen Dünkel zu dämpfen. Aber die „höchste Leistung" wird erst vollbracht, wenn die „feste Ordnung" anerkannt wird in ihrem „klaren, gesetzmäßigen Verlaufe", wenn es gelingt, in „plastischen Umrissen zu schildern" und so die produktive Phantasie „ z u m Träger höherer Ideen" emporzuläutern. Das Kunstwollen der Klassik setzt sich in diesem Brief (April 1838) so unverkennbar durch, daß es kaum noch des ausdrücklichen Appells an Mörikes „schönen Genius zur Klassizität" bedurft hätte. Letzten Endes ist es die Weltanschauung, die schon damals in die Kunstanschauung übergreift. Eine Annäherung an die Weltanschauungsästhetik des Jungen Deutschland ist in jenen Jahren ganz unverkennbar, wie Vischer denn auch — sehr diplomatisch und gleichsam homöopathisch — Mörike an den Umgang wenigstens mit dem Terminus „Junges Deutschland" zu gewöhnen versucht (natürlich vergeblich). Es wird evident, daß er im Klassischen eine künstlerische Steigerungsform der Aufklärung (Freundschaft mit D. Fr. Strauß) begrüßt und auch „im ästhetischen Ideal keine Wunder mehr" dulden möchte, während Mörike in der D. Fr. Strauß-Diskussion wenigstens dem Volke, dem gemeinen Mann die Religion erhalten will. Von einer mehr dichterischen Seite aber verstärkt Mörike durch seine Arbeit an der Griechischen Anthologie, für die ihm der Professor in tätiger Freundschaft einschlägige Literatur beschaffen hilft, jenen Zug zur Klassik. Und vor allem tritt nun zur Erkenntnis das Erlebnis, das eindrucksstarke und nachhaltige Erlebnis nämlich der Italien- und Griechenlandreise Fr. Th. Vischers (1839). Nach Tübingen zurückgekehrt, ruft er aus: „ I c h weiß eigentlich erst jetzt, was klassisch ist, Kunstform, hoher Stil" (Nov. 1840). Jetzt liegt seine einst von Mörike gebührend gerühmte Habilitationsschrift „Über das Erhabene und Komische" (1837) schon merklich hinter ihm, und die Konturen

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seiner „Ästhetik" beginnen sich bereits deutlicher abzuheben. Die Vorrede zu den ,,Kritischen Gängen" (1844) bestätigt den Primat des klassischen Maßstabes auch in der Bewertung der künstlerischen Entwicklung des Freundes. Zugleich aber deutet sie schon jene Richtungen an, die von der Gegenständlichkeit der Klassik Ausschau hält nach Möglichkeiten eines poetischen oder richtiger vielleicht noch eines ideellen, eines vergeistigten Realismus. Es darf deshalb einmal daran erinnert werden, was z.B. für Gottfried Keller die Ästhetik Vischers bedeutet hat. Wie stark für Keller die Vorstellung „Ästhetik" mit dem Namen Vischer verbunden war, beweist z.B. in dem Bericht „Am Mythenstein" (i860) die an sich einschränkende Wendung: „In diesem Sinne brauche ich das Wort Nationalästhetik, und nicht etwa in der lächerlichen Meinung, daß jedes Ländchen seinen eigenen Vischer haben müsse". Abgelehnt wird dort ein übertriebener ästhetischer Partikularismus, keineswegs aber Vischer, zu dessen „Achtzigstem Geburtstage" Keller noch am 30. Juni 1887 in einem Artikel der „Allgemeinen Zeitung" dem verehrten Jubilar Glück wünschen kann. Daß er Vischers nicht bedingungslose und endgültige Abkehr vom Tendenziösen vorübergehend bedauerte, wird noch Erwähnung finden. Jene Haltung Fr. Th. Vischers, dessen „Ästhetik" mit ihrem Teil „Dichtkunst" (1857) hier besonders heranzuziehen ist, macht es verständlich, wenn etwa Riemanns selbst nicht ganz tendenzfreie Literaturgeschichte Vischers „Dichtkunst" kurzerhand als „reaktionäre Poetik" hinstellen zu können glaubt. Das ist zum mindesten einseitig gesehen. Vischer sucht in Wirklichkeit doch mehr ein ergänzendes Zusammenwirken, eine Addition und darüber hinaus eine Synthese von alten und neuen theoretischen Wertsetzungen durchzuführen. Gewiß betont Vischer im Gegenstoß gegen das Junge Deutschland, den wir indessen von allen Seiten her, auch vom poetischen Realismus, sich verstärken sehen werden, „daß wir die Absichtlichkeit der eigentlichen Tendenz . . . aus der wahren Poesie wegweisen". Das bedeutet für ihn andererseits doch nur eine Befreiung der Kunst aus erneut drohender Zweckbindung. Die vermittelnde Aufgabe aber wird unverkennbar, wenn — wie einst schon von Wieland — eine Synthese aus antiker und shakespearescher, also letztlich barock-romantischer Dichtform gefordert wird, wobei als Ziel herüberleuchtet: „Shakespeares Stil, geläutert durch wahre, freie Aneignung der Antiken", wenn der Künstler „in

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naturvollem Kontakte . . . mit einem gegebenen, vorgefundenen Objekt" (Realismus) stehen, aber eben „durch die empirisch getrübte Gestalt der Dinge hindurch in die reinen Urtypen" (Idealismus, das„Idealische" der Klassik, zum mindesten eine Seite des „Idealischen") schauen und dringen soll. Möglich wird diese Verbindung, weil — bzw. wenn — „vermöge einer besonderen Gunst des Zufalls"(!) der Dichter im empirisch Naturschönen bereits das Idealschöne latent vorgebildet findet und es dank seines Genies zu erlösen versteht. Wiederum ein Ausgleich wird angestrebt, wenn dem Häßlichen wenigstens neben dem beherrschenden Schönen ein gewisses Geltungsrecht eingeräumt wird. Auch hier nämlich wird aus dem real Häßlichen eine Beziehung zum ideal Schönen befreibar: „ E s erhält einen eigentümlichen, dämonischen Reiz", der im Grunde einen Reflex, einen Abglanz, „einen verführerischen Erinnerungsschimmer des Schönen auf der Stirn trägt", weil es mit dem „Großen und Edlen" eine reizvolle Mischung einzugehen vermag. Bei dieser Gelegenheit sei angedeutet, daß auch die theoretische Stellungnahme zum Häßlichen als Teilfaktor der Poetik sich über größere Zusammenhänge hinweg im Wandel der Zeiten und Richtungen verfolgen ließe. Hier sei — in notwendiger Beschränkung — rückgreifend nur daran erinnert, daß bereits der junge Herder dem Häßlichen eine untergeordnete Teilwirkung (als Ingredienz des Gesamtschönen) eingeräumt hatte, darin in gewissem Grade Vischer vorwegnehmend. Es hängt dies wiederum folgerichtig zusammen mit der stärkeren Hinwendung zum CharakteristischRealistischen in der Geniezeit; aber selbst K. Ph. Moritz hatte doch zum mindesten eine dämonische, zerstörende, dunkle Modifikation des Schönen eingeräumt. Jetzt konnte K a r l R o s e n k r a n z (1805—1879) schon darangehen, eine eigene ,,Ästhetik des Häßlichen" (1853) zu schreiben, wobei er auf Vischers Ästhetik (deren erste Teile bereits vorlagen) zurückgriff. Auch Rosenkranz bewegt sich in der Hegeischen Strömung wie Vischer. Nach Rosenkranz kann die Kunst die Bildung des Häßlichen „nicht umgehen", weil sie die „Erscheinung der Idee nach ihrer Totalität zu schildern" habe. Und die Berührung wird noch deutlicher, wenn die Formel geboten wird:, ,Das Häßliche kann also neben dem Schönen, gleichsam unter seinem Patronat accidentell erscheinen". Indessen geht Rosenkranz vielfach über Vischer hinaus. Für ihn hält das Häßliche die Mitte zwischen dem Schönen

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und Komischen und erreicht seine höchste Vollendung im Satirischen. Dabei wird das „Komische" definiert als „die Aufheiterung des Häßlichen ins Schöne". Zwar gegen die Tendenz-Poetik des Jungen Deutschland macht Rosenkranz Front. Aber er zieht weit mehr Beispiele der damaligen Gegenwart (z.B. Hebbel; auch Kleists Novellen) heran und ist stofflich überhaupt reicher als Vischer. Demgegenüber tritt der nachklassisch-idealistische Charakter der V i s c h e r s c h e n Poetik in der auffälligen Vernachlässigung zeitgenössischer Literatur und im steten Zurückführen seiner Begriffe auf die Klassiker deutlich zutage. Nicht zufällig wird als theoretische Autorität W . v. Humboldt gern zitiert. Als theoretische und praktische Autoritäten Schiller, Goethe, (Wilhelm Meister) und daneben als eine Art Anhängsel der Klassik (irrig) Jean Paul. Für die antithetische Stilrichtung des Charakteristischen werden nicht etwa die Jungdeutschen oder zeitgenössische poetische Realisten, sondern durchweg nur Shakespeare herangezogen. I d e a l i s m u s und R e a l i s m u s : Trotz der Einstellung auf Weimar mit leichter Schwenkung auf Jean Paul kann doch Vischer die realistische Linie, die sich immer markanter abzeichnet, nicht auslöschen, „Realismus im letzteren Sinne ist die gründliche Versetzung künstlerischen Bildes in die volleren, härteren Bedingungen der Existenz, der ausführlichere Schein des Lebens". Für den poetischen Realismus — der poetische ist gemeint, wie das Wort „Schein" verrät — ist „das Verfolgen des Objektes in die engere Naturwahrheit wesentlich". Auf diesen Unterschied der Stile, diese Grundgegensätze des Schönen ist nun Vischers gesamte Poetik aufgebaut, und zwar auf dem idealklassischen einerseits und dem poetisch-realistischen andererseits. Dabei wird gegenüber dem Idealismus der Realismus näher erläutert und umschrieben als „naturalistisch und individualisierend", was vielfach zusammengezogen wird in „charakteristisch". Die Sympathie Vischers gehört unverkennbar dem Idealismus und der Klassik. Er sucht objektiv zu bleiben; aber wenn es etwa heißt: „der naturalistische und individualisierende Stil zeichnet durchaus enger ins Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte", so spürt man doch sein Bedauern über die „trotzige Nachlässigkeit gegen die klassische Korrektheit". Besonders fühlbar wird diese latente Abwehr in der Stellungnahme zum neuzeitlichen Romantypus. Dort sucht Vischer we-

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nigstens das Poetische des Realismus zu retten: „Diese Form beruht auf dem Geiste der Erfahrung und ihr Schauplatz ist die prosaische Weltordnung, in welcher sie aber (!) die Stellen aufsucht, die der idealen Bewegung noch freieren Spielraum geben". Und diesen Rettungsversuch aufgebend, unverhüllt abrückend: „er (der Roman) ist aber ein mangelhaftes Gefäß für den Geist der modernen Dichtung"; denn er steht, wie schon seine prosaische Sprachform zu erkennen gibt (die doch Wienbarg so warm propagandiert hatte), bedenklich an der Grenze des „sinnlich oder geistig Stofflichen". Es ist nach allem ganz unverkennbar, daß die „Prosa der harten Naturwahrheit" Vischer nicht liegt. Die G a t t u n g e n behandelt Vischer ausführlich, wobei hinsichtlich der epischen nicht viel Eigenes, über Goethe-Schiller und vor allem Humboldt und Jean Paul Hinausgehendes herausspringt (Objektivität, Erzählung einer vergangenen Begebenheit, Außenwelt in der Breite, Sittenbild, Weltbild, Totalität, Ruhe der Gegenständlichkeit, gediegene Gestaltungen des Seins, Kontrastdämpfung usw.), abgesehen von der Sonderstellung zum Roman, wobei Goethes „Wilhelm Meister" autoritative Geltung hat („Humanitäts-Roman"). Dagegen wird über die Lyrik mancher fruchtbare Gesichtspunkt aufgestellt. Grundlegende Bildungskraft ist die „dichtend-empfindende Phantasie". Sie führt unter Ausprägung der Attribute: Gegenwartsform, Vereinzelung, Andeutung statt Ausmalung, Kürze, Betonung des Rhythmischen zu folgenden Haupt-Typen und Modifikationen: Aufschwung zum Gegenstande (Hymne, Dithyrambe, Ode), Aufgehen des Gegenstandes in das Subjekt (liedartige Lyrik), Ablösung vom Gegenstand, Betrachtung (resümierende, reflektierende, meditierende Lyrik) schließlich hin zur Prosagrenze (Epigramm). Ausdrücklich die Zentralstellung erhält die „liedartige" Lyrik zuerteilt: „Alle Grundzüge des Lyrischen gelten vorzüglich von dieser Form". Im Einzelnen stuft Vischer wiederum ab nach den Kategorien Volkspoesie und Kunstpoesie. Diese Typenbildung verdient noch heute Beachtung, obgleich sie etwas eng an das verschiedenartige Verhalten zum Stoff (Inhalt) gebunden bleibt. In der Theorie des Dramas hat Vischer bereits der Technik des Dramas F. G. Freytags vielfach richtunggebend vorgearbeitet. Auch G. Freytag haftet einseitig an der klassischen Autoritätsdramatik. Wie Vischer mit der Hegeischen Folge von These,

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Antithese und Synthese arbeitet, wird hier besonders klar. Die Dramatik hat die Objektivität des Epischen und die Subjektivität des Lyrischen, „diese Gegensätze in einer dritten Form (Synthese) zusammenzufassen". Das Wort Synthese fällt denn auch a u s d r ü c k l i c h : „Die reine Einheit des Subjektiven und Objektiven in dem Akte der dramatischen Phantasie ist unzweifelhaft höher als die naive Synthese in der epischen Dichtung". Das Drama stellt also die höhere Synthese dar. Damit schwenkt Vischer ein in jene bereits mehrfach angedeutete Linie, die im Dramatischen eine Verschmelzung des Epischen mit dem Lyrischen sieht. Allerdings ist diese Vereinigung nur möglich, indem die Komponenten „sich zugleich wesentlich" verändern. Das Wesen wird dagegen treffender erfaßt als Kampf der Wirkungen und Gegenwirkungen, wobei Hemmungen der Spannung dienen: „Das Drama ist eigentlich eine Kette von Retardationen, denn seine Handlung ist wesentlich Kampf, und dieser setzt Hindernisse voraus". Die Idealforderung gipfelt in jener erwähnten Verschmelzung von Shakespeare und Antike. Die „Laokoon"-Autorität bleibt im Kern unangetastet, und ihre Strenge wird nicht stärker gelockert, als dies schon vom jungen Herder geschehen war (I. Krit. Wäldchen, vgl. Bd. II). Der Schicksalsbegriff der Schicksalsdramatiker wird verworfen. Das Komische findet ausgiebig Berücksichtigung; ebenso das Metrische und Rhythmische wie überhaupt das Sprachmaterial. Klassizistische Sonderbestrebung: Der Münchener Dichterkreis Vischers Ästhetik bot manche Anschauung, die sich mit den Bestrebungen des Münchener Dichterkreises in Einklang bringen läßt, obgleich Vischer ursprünglich mehr dem Schwäbischen als dem Münchener Kreise nahegestanden, sich dann aber selbst seinen Weg gesucht hatte. Enger berührt sich mit den Münchenern M o r i z Carri^re (1817—1895), der seinen „Beitrag zur Philosophie des Schönen mit literarhistorischen Erläuterungen" als Abhandlungsreihe über „Das Wesen und die Formen der Poesie" (1854) i n demselben Jahre herausbrachte, in dem Heyse und Schack von König Maximilian II. nach München berufen wurden. Wenn auch Carri^re, der selbst dem Münchener Dichterkreise angehörte, als ausübender Künstler wenig Ansehen genoß und 8

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von den „Krokodilen" im Münchener Teich scharf angefaßt wurde, als es „Das Münchener Dichterbuch" (1862) zusammenzustellen galt, so fußen doch die Kunstanschauungen Heyses, Geibels oder Schacks in mehr als einem Punkte auf den grundlegenden Vorarbeiten Carriferes, falls man nicht eine zufällige Übereinstimmung annehmen will. Gewiß bedeutet Carri£res empirisch-induktiv angelegte Poetik, deren Erstausgabe für das A b lesen der Entwicklung allein in Betracht kommt, nicht entfernt in dem Sinne und Grade eine Programmschrift für die Münchener wie etwa Wienbargs „Ästhetische Feldzüge" für die Jungdeutschen. Aber die überwiegend nachklassische, teilweise epigonenhafte Einstellung verweist doch deutlich genug in dieselbe Hauptrichtung, die bei aller individuellen Abweichung dennoch von den Münchenern innegehalten oder jedenfalls doch im immer erneuten Einschwenken bevorzugt wurde. Nur mag in der Gesamtpoetik des Münchener Kreises das Zugeständnis an den poetischen Realismus etwas weitgehender sein als bei Carri£re. ,,Im Anschluß an die Blüte der Poesie, die wir in Goethe und Schiller gehabt", will Carriere seine systematische Zusammenfassung geben, b e w u ß t n a c h k l a s s i s c h also und zugleich mit starkem Zurückgreifen auf das M u s t e r d e r A l t e n . Und wer etwa den Abschnitt über „Die epische Darstellungsweise" liest, wird ohne weiteres die Nachwirkung der Forderungen, ja der Formulierungen W . v. Humboldts herausspüren. Uberhaupt bezieht Carriere seine Meinungen vielfach aus zweiter Hand. Für den kompilatorischen Charakter kennzeichnend sind häufige Wendungen dieser A r t : „Hören wir auch hierüber den Meister (W. v . Humboldt) . . . nennt Vischer sehr bezeichnend . . . wie Vischer treffend s a g t . . . sagt es uns Goethe . . . Hier gedenken wir noch eines tiefsinnigen Ausspruches von Solger . . ." u. a. m. Neben der Dichtungsdeutung und Ästhetik Goethes und Schillers, W . v . Humboldts, Solgers, Vischers werden Forderungen Lessings, Hamanns und Herders, Kants, Fichtes und Hegels, Jean Pauls, Hardenberg-Novalis' und anderer in bunter Folge und mit merklichem Anlehnungsbedürfnis eifrig aufgegriffen. Auch dort, wo die Gewährsmänner nicht genannt werden, bleiben Anleihen fühlbar, so etwa die erwähnte, an sich nicht angemerkte bei W . v . Humboldt (Epik). Danach trifft zwar zu, was Carriere ankündigt an negativer Leitidee, daß er nämlich „nicht willkürliche Theorien aufstellen" wolle, weniger indessen die positive Zielsetzung, die

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verspricht, „Kunstlehren der Poesie durch Betrachtung der größten Meisterwerke zu gewinnen". Die Kunsttheorie war bereits zu weit durchgebildet und sie war Carri^re zu weitgehend bekannt, als daß ein unbefangenes Ableiten der Gesetze von den empirischen Mustern noch möglich gewesen wäre. So wirken denn die herangezogenen Beispiele doch mehr als nachträgliche Belege einer feststehenden Anschauung oder Forderung. Carrieres Poetik stellt kein geschlossenes System dar. Ohne weiteres als Anhang heben sich auch äußerlich die „Literarhistorischen Erläuterungen", darunter eine Gedenkrede auf Goethe und eine Würdigung Schillers, von der eigentlichen Kunsttheorie ab. Diese Kunsttheorie selbst analysiert in ihrer zweiten Hälfte vor allem Wesens- und Wirkungsformen der Dichtungsgattungen, während die erste Hälfte allgemeine ästhetische Erwägungen über das Wesen des Schönen, das Verhältnis von Sprache und Dichter, über das poetische Kunstwerk als solches und speziellere Erwägungen über bildliche und klanglich-metrische Faktoren sowie die Unterscheidung von Volks- und Kunstpoesie vorangestellt hat. Dabei wird das Schöne gesehen als „Ineinsbildung des Idealen und Realen", ohne daß damit eine energische Wendung zum poetischen Realismus gegeben wäre. Kantische und Schillersche Ideengänge mischen sich ein. Carrifere gelangt zu dem Ergebnis: „Dies Gefühl des Friedens und der Erhöhung unserer ganzen sinnlich geistigen Natur im Zusammenklang mit einer ideenerfüllten Erscheinung ist das Schöne". Es bedarf der umgrenzten Form, um schön zu erscheinen; es muß in Raum und Zeit eingelagert sein als Erscheinungsform „des sinnenfälligen Daseins". Doch ist hiermit keineswegs das Realistische im strengeren Sinne gemeint. Vielmehr rettet sich Carriere letzten Endes nur zurück zu der alten Baumgartenschen Formel, wenn er erläutert: „Das Schöne entsteht in der Idealisierung des Individuellen, in der Individualisierung des Idealen; es ist das sinnlich Vollkommene". Indessen überwiegt merklich die Forderung des Idealisierens, teilweise auch unter dem starken religiösen Impuls, der sich überall in der Darlegung Carrieres kräftig durchzusetzen versteht. Die ästhetische Erziehung des Menschen, im Schillerschen Sinne festgehalten, erfährt zugleich eine entsprechende Umbiegung ins Religiöse. Die Kunst bildet nicht nur den Geist, veredelt nicht nur durch das Medium des Schönen das Herz, sondern stimmt religiös; denn „in dieser erlösenden Kraft, in dieser friedeverleihenden 8·

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Seelenreinigung ist die Kunst religiös". Eine realistische Naturnachahmung wird verworfen; denn der „Begriff der Kunst erschöpft sich nicht in der Nachahmung der Natur" (vgl. Heine). Der Dichter hat zu idealisieren, hat uns aus dem Bereiche der „gewöhnlichen Erfahrung" und der „vielfach störenden Realität der Außenwelt in die ideale Freiheit seines eigenen Gemüts" zu versetzen (vgl. Schillers G. A. Bürger-Kritik, Fr. Th. Vischer u. a. m.). Auch Schleiermacher wird bemüht, um die erhebende Phantasiefreiheit zu erhärten. Das Abrücken vom Realismus vollzieht sich besonders energisch durch das Eingreifen der religiösen Triebkräfte: „Die Kunst bedarf der göttlichen Begeisterung, weil sie nicht Nachahmung der Natur, sondern Neuschöpfung, Ideengestaltung ist und den Erscheinungen der Welt weniger ihr Nachbild als ihr Urbild zur Seite stellt". Damit wird bereits ein Element erkennbar, das Carri£re mit Vischer teilt, das aber zugleich eine Grundrichtung des Münchener Dichterkreises vorzeichnet: die Gegenwehr gegen den Realismus und das entsprechende Vorherrschen des Idealen und Ideellen. Voraussetzung für die „Offenbarung der Idee" in der Erscheinung, Voraussetzung für die unerläßliche „Läuterung der erfahrungsmäßigen (empirischen) Formen" ist die Reinheit persönlicher Gesinnung; denn „nur im reinen Herzen kann sie geboren werden". In dieser Forderung der sittlich hochstehenden Persönlichkeit, die allein würdiger Träger echten Dichtertums sein kann, begegnet sich Carri£res Poetik wiederum mit der Kunsttheorie des Münchener Kreises. Und zwar hat er bereits „die priesterliche Würde" als spezifische Färbung dieser Persönlichkeitswertung vorweggenommen, wenn hier auch z.B. Platen vorausschritt. Nur wer seiner selbst Meister ist, vermag auch in der Kunst Meisterhaftes bildend zu gestalten und ein „ m a ß v o l l h a r m o n i s c h e s W e r k " zu schaffen. Der Blick richtet sich kennzeichnenderweise auch von hier aus zurück auf die Klassik. Denn Goethe und Schiller sollen den „künstlerischen Aufschwung" ihrer klassischen Schaffensperiode vor allem einer „sittlichen Wiedergeburt" zu danken haben. Folgerichtig entspringt aus dieser priesterlich überlegenen Haltung des Künstlers die Ablehnung der aktivistischen Tendenzpoesie. Denn „der Künstler ist nicht berufen, handelnd in das Leben einzugreifen, sondern auf dasselbe bildend einzuwirken. . . Das ist sein priesterliches Amt, daß er Schönes bilde um der

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Schönheit willen". Der Gegendruck gegen die politische Dienstbarmachung der Dichtung verbindet sich mit dem Zustrom aus der Kunsttheorie der Klassik und nimmt Widerstandskraft aus der Erkenntnis, daß der künstlerische Organismus seinen Zweck in sich selbst trage im Gegensatz zum zweckgebundenen Mechanismus. Und wenn einst Gerhart Hauptmann den brausenden Dampfzug besingen sollte, so fühlt Carriere noch in der „Dampfmaschine" eine Symbolisierung dieses Mechanismus, dieser Zweckdienstbarkeit, um unmittelbar anzuschließen: „Das künstlerisch Ungenügende der Tendenzpoesie tritt hier zutage; ihr Werk hat keinen eigenen Daseinsgrund, keine freie Seele, ist nicht um sein selbst und um des Schönen willen da, sondern dient äußern Rücksichten und hat im vorübergehenden Lobe der Partei seinen Lohn dahin, während ein unverwelklicher Kranz des Künstlers Stirn schmückt, welcher nur nach dem Schönen trachtet und das Werk zu seiner und zu der Mitmenschen Freude wie zur Ehre Gottes ins Leben ruft". Aber zugleich wird die etwas billig „romantische" Art der Münchener Begeisterung für „erhabenes" Dichtertum fühlbar, der ein wenig süßliche Beigeschmack, die imposante Aufmachung des Künstlerporträts mit dem betonten Heiligenschein des Virtuosentums. Die forcierte Pathetik entfernt diese Nachklassik beträchtlich von ihrem großen Vorbild. Und auch Carrieres ganze Darstellungsart ist von dieser schönfärbenden, fast mehr pastoralen als wahrhaft priesterlichen Pathetik oder doch Rhetorik getragen. Bei alledem bleibt festzuhalten und —• betonter als bislang geschehen —· herauszustellen, daß eine ganze R e i h e w e s e n t licher E l e m e n t e der M ü n c h e n e r T h e o r i e n schon bei Moriz C a r r i e r e f r ü h z e i t i g a u s g e b i l d e t oder v o r g e b i l d e t erscheint: die Abwehr eines resoluten Realismus (mit einigen Zugeständnissen), die Persönlichkeitswertung, die Forderung der Würdigkeit, ja Priesterlichkeit, die Pflege der Kunst als Selbstzweck, die Vorherrschaft des Idealisierten, die Ablehnung der Tendenz. Dazu käme etwa noch die lebhafte Betonung einer „Untrennbarkeit von Form und Inhalt" im Sinne der organischen Einheit und des „organischen Ausdrucks", die Carriere geradezu als „Kennzeichen des Genies" bewertet. Denn auch die kunsttheoretischen Äußerungen der Münchener — so etwa besonders Paul Heyses — bemühen sich merklich um ein dem Inhaltlichen Gerechtwerden, um einen gelegentlich ein wenig krampfhaften Verschmelzungsversuch von Gehalt- und Gestalt-Bewertung trotz

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unverkennbarem Überwiegen der reinen Formpflege innerhalb des eigenen Kunstschaffens. Das Anrecht des „organischen Ausdrucks" erkennt Carriere z.B. auch Platens Gaselenform zu, die kennzeichnenderweise gegen einen Angriff Julian Schmidts verteidigt wird. Völlig zwar vermag er das Virtuosentum im Versbau Platens nicht als reines, geniales Künstlertum zu retten. Die Verteidigung hält indessen mit zäher Treue am Formkünstler Platen fest: „Platen hat viele Gaselen verfertigt, aber viele auch gedichtet". Mehrfach kommt Platen mit Beispielen zu Worte. Die Schulung an Platen jedoch haben die Münchener immerhin eingestanden. Weiterhin teilt Carriöres Abhandlungsreihe mit der Münchener Kunsttheorie das Ausgleichsstreben von Genialität und Formschulung. Die merklich als Glanzlicht aufgesetzte Genieverehrung, bei Carriere vom Religiösen her etwas vertieft, schließt doch nicht aus, daß der Künstler technische Schulung zu durchlaufen hat: „Darum bedarf er bei aller Originalität doch der Schule". Dichter, die „sogleich glatt, geleckt, in zierlichem Goldschnitt zur Welt kommen", müssen notwendig Bedenken erregen. Aber ebenso bedenklich steht es mit den „sogenannten Kraftgenies", mit jenen „ungebundenen, kometenhaften Talenten", die nicht fähig sind, im Sinne der Nachklassik ein „klar harmonisches, ewiges Werk" mit beherrschter und deshalb beherrschender Gestaltungskraft zu vollenden. Weniger charakteristisch für das Hinüberspielen in den Münchener Dichterkreis erscheint die auch sonst beobachtbare Opposition gegen die Schicksalsdramatik: „Auf eine solche Schicksalsidee die Tragödie gründen, hieße sie auf die Lüge gründen". Die schicksalshafte Notwendigkeit darf keine „hohnlachende Furie", kein „blindes Verhängnis" sein. Ebenso begegnet man nicht nur im Münchener Kreise, aber doch auch dort, der Deutung der D r a m a t i k als einer V e r s c h m e l z u n g s f o r m von E p i k u n d L y r i k , einer offenbar einseitigen Mißdeutung, die nicht zum wenigsten eine Stützung im Hegelschen System gefunden zu haben scheint (aber eigentlich schon seit Herders Shakespeare-Aufsatz verfolgbar ist). Daß Hegel, und zwar auch seine Ästhetik, Carriere bekannt war, beweisen mehrfache Rückbeziehungen. Die Aufgipfelung der Dramatik über Epik und Lyrik wird sowohl genetisch wie wesenhaft angenommen. Der Dramatiker vermag erst wirksam in Erscheinung zu treten, wenn innerhalb der Literaturentwicklung eine „Ausbildung des Epos und der Lyrik" bereits erfolgt ist, „weil seine Kunst auf der

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Durchdringung ihrer Elemente beruht". Besonders die griechische Kunstgeschichte soll es bestätigen, daß die dramatische Wirkungsform entwicklungsgeschichtlich erst nach der Entfaltung von Epik und Lyrik ihr Daseinsrecht und ihren Dauerwert zur Geltung zu bringen vermag. Das Schauspiel bildet den „Schlußstein" der historischen Pyramide, „indem es auf einer Durchdringung der epischen und lyrischen Elemente beruht", so wird noch einmal ausdrücklich formuliert. Und zwar ist das Drama insofern episch, als es objektiv Begebenheiten darstellt, lyrisch aber insofern, als es „uns die Tiefe des Gemüts" enthüllt. Episch ist weiterhin die Haltung des Dramatikers selbst, der hinter sein Werk zurücktritt; lyrisch ist (angeblich) die Haltung der einzelnen Dramengestalten, die sich subjektiv auszusprechen haben. Doch erhalten die Elemente bei der Übernahme durch den Dramatiker bereits eine Umformung; denn die Begebenheiten haben aus den Charakteren hervorzugehen, und der Gemütsausdruck hat sich in Taten umzusetzen. Die G a t t u n g s g l i e d e r u n g weicht kaum vom hergebrachten Schema ab. Die epische Gattung gilt als die Frühform; Ruhe der Betrachtung, Objektivität und „Stetigkeit", rückschauende Blickrichtung und behagliche Breite der Durchgestaltung sind ihre hauptsächlichen Wesensattribute. Neben dem Aufsatz von Goethe und Schiller hat offenbar W. v. Humboldt stark eingewirkt, auch bei der Deutung: „Die epische Kunst ist die W i e d e r g e b u r t der P l a s t i k innerhalb der Poesie". Doch wird die Grenzziehung des „Laokoon" aufrechterhalten mit der unklaren Einschränkung, daß das Material des Dichters „eigentlich doch die Phantasie des Hörers oder Lesers" darstelle. Ob dabei M. Carriere an die Funktion der nachschaffenden Phantasie gedacht hat wie einst schon Chr. Garve in seiner wenig bekannten „Laokoon"-Rezension (vgl. Bd. II), bleibe dahingestellt. Gefordert wird bei Naturschilderungen ein Beleben der Landschaft durch Individualitäten. Das fehlt etwa bei Matthisson, E. v. Kleist u. a., während Adalbert Stifter als Muster gilt für die Widerspiegelung der Naturausschnitte durch eine sie „durchlebende" Gestalt der Dichtung, die jene Einzeleindrücke „successiv" an sich erfährt und sie so dem Leser vermittelt. Der epische Organismus gleicht mit seiner Dezentralisation mehr dem pflanzlichen, der dramatische mit seiner Zentralisation mehr dem tierischen Organismus. Das Epos stellt seine Gestalten in ein klares Nebeneinander (Nachwirkung Karl Gutzkows wäre

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zeitlich möglich). Das Drama zeigt „alles ineinander verschränkt". Während die Epik Vergangenes betrachtet, richtet die Dramatik den Blick aus dem Vergangenen ins Zukünftige hinüber und ermöglicht so die Spannung. Bei der Lyrik, die ein Gegenwärtiges als Selbstbefreiung, Selbstdarstellung und „Selbstgenuß" erfassen soll in „individueller Unmittelbarkeit", fällt der V e r s u c h e i n e r w e s e n h a f t e n T y p e n b i l d u n g auf. Denn neben der rein subjektiven, liedhaften Form erhält die „objektive Lyrik der Anschauung", die eine mehr passiv empfangende Subjektivität aufweisen soll, und die Gedankenlyrik, die in die Gemütsstimmung eingetaucht bleiben soll, ihr Eigenrecht eingeräumt. Hinsichtlich des Verhältnisses von Dichtung und Datentreue hält Carriere an den üblichen Anschauungen dichterischer Freiheit fest. Der historische Roman darf nicht mit bloßem historischem Arabeskenbeiwerk arbeiten, sondern muß die „Sittenverhältnisse", die kulturellen Zustände hineinzuformen verstehen. Welthistorische Persönlichkeiten will Carriere nicht recht als Hauptpersonen eines Romans dulden, da sie historische Treue auch in Einzelzügen in Anspruch nehmen würden. Nur mittelbar dürfen sie eingreifen. Die dichterische Freiheit gegenüber der Geschichte muß sich also insofern eine empfindliche Einschränkung gefallen lassen (S. 182/3). Im Allgemeinen soll der Dichter mehr den inneren Zusammenhang herausarbeiten, abweichend von der bloßen historischen Datenreihung. Und immer wieder wird dabei die menschliche Qualität des Dichters als entscheidende Voraussetzung angenommen: „Endlich verlangt die künstlerische Größe zu ihrer Basis stets die reinmenschliche". Wie erwähnt, galt diese Vorbedingung über Carriere hinaus als entscheidend gerade auch im M ü n c h e n e r D i c h t e r k r e i s e . Die Ablehnung der Tendenz hebt das Kunstwollen der Münchener Dichtergruppe verhältnismäßig klar ab vom Jungen Deutschland. Der priesterliche Kultus des Idealen führt zur Abstufung gegenüber dem poetischen Realismus, wenn auch diese Abstufung gewisse Übergänge gestattet. Trotz verwandter Freude am „Poesievollen", trotz dem spürbaren Sich-Flüchten vor aktivistischer Aktualität in das umhegte Reich der Dichtung gibt sich doch der Münchener Kreis wesentlich anspruchsvoller im geistigen Niveau als etwa der Schwäbische Dichterkreis mit seinem teils spätromantischen, teils frühbiedermeierlichen Gepräge. Als bloßes nachklassisches Epigonentum will sich die Dichtungsdeutung der

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Münchener nicht abtun lassen; denn bei aller Verehrung der deutschen Klassik und der Antike glaubte man doch weiterführende Wege — so etwa in der Theorie der Novelle — aufgefunden und beschritten zu haben. Immerhin dürfte die Umschreibung: leicht romantisch aufgelockerte Nachklassik mit Zugeständnissen an den poetischen Realismus noch am ehesten den teils kompilatorischen, teils konventionellen, teils individuell und stämmisch gebrochenen und abgewandelten Einzelforderungen der Münchener Gruppe gerecht werden. Die Annäherung an den poetischen Realismus gerade auch in der Theorie wirkt nicht überall echt, sondern ein wenig wie vorbeugende Abwehr gegen den Vorwurf künstlerischer Reaktion. Ähnlich steht es mit der nur bedingt zugestandenen Abhängigkeit von Platen. Man widerstrebt dem Verdacht, nur wiederaufzunehmen und fortzusetzen, was andere bereits geschaffen oder doch weitgehend vorbereitet hatten. Aber die Stoßstärke der erstrebten Eigengeltung leidet nicht zum wenigsten auch unter dem relativ künstlichen Zustandekommen dieser Dichtergemeinschaft. Denn nicht gemeinsamer künstlerischer Ausdruckswille oder gemeinsamer Generationswille führte die Männer des Münchener Kreises zusammen, die doch z.T. der Berufung durch den König, also einem letztlich äußeren Anstoß Folge leisteten. Es handelt sich nicht um eine organisch entwickelte Strebensgemeinschaft, wie sie noch eher im Jungen Deutschland oder Frühnaturalismus vorlag trotz geringerer äußerer Bindungen. Ein verdünnter romantischer Zustrom, kräftiger vordrängend in einer romantischen Künstlerverehrung, bringt einige Färbung in die nachklassische Klarheit der reinen Formpflege. Durchaus unromantisch aber ist wiederum die verhältnismäßig weite Beziehungsferne zur Musik. Auch wird mehr in der Malerei die Schwesterkunst gesehen, während die Klassik den Primat der Plastik verkündet hatte: Hierin folgt man nicht so ganz Carriere, der noch mehr an diesem Ideal der Plastik festgehalten hatte. Teilweise erklärt sich indessen diese Einstellung wohl daraus, daß die zeittypische Malerei ihrerseits bereits erzählenden Charakter aufwies und daß ein lebhaftes persönliches Interesse für die Malerei u. a. bei Grosse und Schack vorlag. Das auch im Dichtschaffen unverkennbar vorherrschende Feilen und Formen, die fast kunsthandwerkliche Arbeitsleistung der Durchgestaltung hält die priesterliche Künstlerverehrung dennoch von iedem hohen Schwung oder gar geniehaften Überschwang

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behutsam und gelegentlich nicht ohne Pedanterie fern. Und wenn etwa Geibel als Herausgeber des „Münchener Dichterbuches" (1862) die Beiträge glättend und bessernd umformt und „reinigt", so möchte man manchmal fast an Ramlers Lessing-Korrekturen sich erinnert fühlen. An die Einstellung der Frühklassik würde nicht zum wenigsten auch die ethische Forderung erinnern, die mehrfach im Münchener Kreise sich Geltung zu verschaffen weiß. Die menschliche Würde und persönliche Hochwertigkeit des Dichters gelten nicht zufällig als Voraussetzung für ein gesundes Kunstschaffen. Bürgerliche Ideale überkreuzen sich, trotz des höfischen Hintergrundes, mit der romantisch-nachromantischen Vorstellung vom göttlich begnadeten Dichtertum. Die wache Bewußtheit, mit der Gestaltungsbedingungen und künstlerische Technik erörtert werden, will sich nicht recht versöhnen mit der geflissentlichen Hochachtung, die man dem „Intuitiven" entgegenbringt. Die breiten Beratungen und Erörterungen zeigen literarisch Gebildete, denen es merklich schwer fällt, die schöpferische Kraftquelle erlebnisfrischer Naivität rein zu erhalten, weil der Bildner immer zugleich der Gebildete bleibt. Man hat z . B . den hohen Wert des Dramas kunstverstandesmäßig erkannt, und Paul Heyse vor allem drängt auf Grund dieser Erkenntnis mehr als aus spontanem Müssen heraus ganz bewußt und absichtsvoll immer wieder zum Drama hin. Resolute Einseitigkeit wird mit kluger Kennerschaft gescheut, aber damit zugleich die Stoßkraft einer einhelligen und überzeugungsfesten Gesinnung empfindlich geschwächt. Die Fülle der Einzelforderungen, wie sie ein wählerischer Geschmack aufstellt, belastet allzu stark die tragende Einheit eines in sich geschlossenen Kunstwollens und verdeckt streckenweise die Grundschicht, die sich mit breiten Partien auf Platens Vorarbeiten stützt, aber doch über das nachklassische Fundament hinausragt. Versucht man trotz der vielfach und an vielerlei Orten verstreuten Einzelbemerkungen dennoch wenigstens einige Fundstellen für kunsttheoretische Erörterungen, Erwägungen und Forderungen der Münchener Gruppe nachzuweisen, so wären etwa aus der Wirkungszeit des Kreises selbst hervorzuheben die Beiträge in dem von Heyse redigierten ,,Literaturblatt zum deutschen Kunstblatt" (1858), wie sie kennzeichnenderweise z . T . wiederaufgenommen wurden im Anhang zu Heyses , Jugenderinnerungen und Bekenntnissen" (1914), weiterhin der Briefwechsel von E. Geibel und

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P. Heyse, besonders mit den Briefen aus dem August 1861, aber auch aus früherem Vorspiel (z.B. 7. Dez. 1848) und späterer Zeit (z.B. 8. Aug. 1869), um nur ein paar Stichproben herauszugreifen. Überhaupt ist der gesamte Briefwechsel Geibel-Heyse durchsetzt mit theoretisch-kritischen Äußerungen. Selbst der KatharsisBegriff wird einmal (Okt. 1857) in einem derben Scherzgedicht Geibels an Heyse, wenig geschmackvoll allerdings, brieflich berührt. Nicht voll so reichhaltig sind die Briefwechsel Heyses mit Gottfried Keller, Theodor Storm, Jakob Burckhardt und Theodor Fontane. Während für den Briefwechsel der Zeitausschnitt der 50er bis 80er Jahre besonders in Betracht kommt, greifen die zahlreichen „Erinnerungen" und biographischen oder zeitgeschichtlichen Rückblicke naturgemäß nachträglich zurück. Sie wahren indessen bei der konservativen Grundhaltung durchgehend offenbar den früher eingenommenen Standpunkt, wenngleich die Abwehr des inzwischen auch in Deutschland sich verwirklichenden Naturalismus eine etwas grellere Einfärbung und eine entsprechende Verschärfung der Opposition mit sich bringt. Neben Heyses Jugenderinnerungen und Bekenntnissen (erweiterte 5. Aufl. 1914 mit dem Abschnitt ,,Aus der Werkstatt") darf A. v. Schacks Rückschau „Ein halbes Jahrhundert" (1889) besondere Beachtung in Anspruch nehmen. Innerhalb des Kunstschaffens bringen Geibels und Heyses Dichtungen manche charakteristische Formulierung, und zwar teils in zeitlicher Parallellagerung mit der Hauptwirkungsperiode des Kreises, teils im weiteren Verfolgen der alten, wenig nur modifizierten Ideale, so besonders in Heyses Romanen „Kinder der Welt" (1873) und „Merlin" (1892). Auch hier — besonders im „Merlin" — will wie bei den „Jugenderinnerungen . . . " die Versteifung der oppositionellen Haltung durch die Angriffe des Naturalismus mit in Rechnung gestellt sein, stießen doch auch die realistische Kritik und Programmatik mit Vorliebe gegen Heyse vor, so etwa Bleibtreus ,,Revolution der Literatur" (1886). Andererseits nötigt der Naturalismus zum Einschränken gewisser mundartlicher Freiheiten, wie sie z.B. Heyse vorher (so im Aufsatz über Mörike, 1854) immerhin nicht ohne Einsicht in den Blutauffrischungsvorgang der Sprache zugestanden hatte. Wenn Carriere mehrfach auf Platen zurückgriff und ihn verteidigend deckte, so erkennt Geibel noch weit nachdrücklicher an: „Das wollen wir Platen nicht vergessen / daß wir in seiner Schule gesessen", wenngleich natürlich der eigene Geltungsanspruch die

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bloße Schülerbedeutung abzuwehren strebt und dem Vorwurfe des Platenidentums vorzubeugen sucht durch den Hinweis auf eigene Weiterentwicklung: „ A b e r wir möchten dabei nicht bleiben / Das Dichten wieder deutsch betreiben". Von hier aus, von der Verteidigung der Eigenart deutscher Form, die man nicht von der teilweise orientalisierenden Metrik Platens beeinträchtigt sehen möchte, ergeben sich vor allem gewisse Widerstände, die sogar bei dem Grafen Schack sich durchsetzen, den Heyse im übrigen selbst als Plateniden kennzeichnete. Er nahm damit innerhalb des Münchener Kreises ein Schlagwort vorweg, daß dann vom Naturalismus her als Schlagtotwort gegen die ganze formschöne Lyrik eingesetzt werden sollte. Die Einschränkungen Schacks hinsichtlich der Vorbildlichkeit Platens lassen doch die Abhängigkeit nicht verkennen, die gewiß nicht nur „der edle und hohe Geist" Platens bedingte, sondern auch seine Formpflege. Schack fühlt sich merklich in Verteidigungsstellung gedrängt, wenn er das metrische Muster nicht gelten lassen will. Dabei wird die Bevorzugung der gebundenen Rede allgemein spürbar in den theoretischen Äußerungen, besonders bei Geibel und Schack, der Prosaformen nicht als volldichterisch anerkennen wollte. Schack stellt auch im Drama die Bedeutung der metrischen Form besonders hoch. Bei Heyse, der anfangs zwar Versnovellen schreibt, dann aber doch die Novellenprosa zu schützen hat, wird zwar auch das Prosadrama geduldet, indessen gleichfalls Recht und Vorrecht metrischer Prägung im Bereiche des Dramas verteidigt, da diese festere Prägung eine vorausgehende „Glühhitze" des Metalls keineswegs ausschließe. Die „eherne Melodie des Jambus" gilt ihm letztlich doch als Leitmotiv, obgleich er selbst die Prosa nicht verschmäht. Das dichterische Anrecht auf den Vers wird voll aufrechterhalten als ein spezifisch poetisches Recht, gerade auch für das historische Drama. Immerhin zeigt sich Heyse noch am ehesten um eine Abkehr vom hohlen Pathos rein rednerischer Art zum mindesten theoretisch bemüht. Geibel ist weit einseitiger auf den Vers eingestellt. Selbst am Sondergänger Leuthold wird die Versschönheit bewundert; wenn er auch in den Sonetten aus Genua die „starken Reminiszenzen an Platens venetianische Gedichte" erkennt. Geibel hat in formtechnischer Beziehung viel zu redigieren und zu modeln beim Zurechtstutzen der Beiträge für das ,,Münchener Dichterbuch". Er kann am 5. August 1861 Heyse melden, daß er

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„seit zehn Tagen kein anderes Geschäft betrieben habe, als Verse einrenken und Lesarten aussinnen", wobei die rationalistische Haltung trotz aller Betonung irrationaler Werte schon hinlänglich in diesem „aussinnen" sich spiegelt. Nicht sowohl im unbedeutenden Gehalt der Beiträge sieht er die Schwächen als vielmehr im formmäßig „Unfertigen, Halbgeborenen, nicht rein Herausgekommenen". Uberall sind es „Dunkelheiten, Inkorrektheiten, Seltsamkeiten" der Durchgestaltung, die seiner gestrengen und emsigen Formüberprüfung peinlich aufstoßen. Das etwa gilt von den Beiträgen Linggs. An Hopfens Dichtungen scheint ihm „in Form, Vers und Ausdruck noch viel zu bessern und zu feilen". Entsprechend spürt er bei Scheffel „Formloses" auf. Immer wieder begegnet im Briefwechsel mit Heyse das „überarbeitet und umgeformt". Nicht ohne eine gewisse Naivität betont der Richter im Teiche der „Krokodile" auch bei dieser Gelegenheit, wie er sich „redlich bemüht" habe, „auf meine eigne Faust, so gut es eben gehen wollte, zu ändern und nachzuhelfen, wovon die Manuskripte Zeugnis ablegen mögen". Gelegentlich hat Heyse schon die erste Regie vorgenommen. An einem „sehr schönen" Gedichte Grosses sähe Heyse „gern noch Deine (Geibels) letzte Hand tätig, nachdem meine vorletzte erlahmt ist" (18. Juni 1861). Dieser fast kunstgewerbliche Betrieb greift auf eigene Dichtungen über. Das Feilen wird zeitweise fast zum Selbstzweck. Noch anläßlich einer Gesamtausgabe seiner Werke erwägt die Selbstkritik Heyses am 10. Mai 1871: „Die Terzinen von 71 sind noch am rohesten und bedürfen der Feile gar sehr". So stark drängt die abstandskühle Bewußtheit der Formfeilung sich auf, daß es notwendig schwer fallen muß, an die Echtheit des Genialitätskultus zu glauben. An sich nämlich sind aus dem Münchener Kreise zahlreiche Äußerungen einer überraschend betonten Geniebewertung nachweisbar. Stellt man sie gesondert zusammen, müßte man sich geradezu in eine neue Geniezeit versetzt fühlen. Das Traumhaft-Unbewußte der Konzeptionsstimmung und die „göttliche, hohe Gnade" des Schöpfertums werden feierlich gepriesen. Bei Geibel mischen sich stark religiöse Züge in die Vorstellung vom gottbegnadeten Dichtertum ähnlich wie bei Cairäre. Eine charakteristische Konzentrationsstelle bieten besonders seine „Den Dichtern" gewidmeten Verse. Heyse sucht etwas von der Unmittelbarkeit rein künstlerischer Genialität zu retten. Leuthold glaubt man williger derartige Ausbrüche. Vielfach aber kann man

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sich nicht ganz dem Eindruck verschließen, als ob dabei von denjenigen Tugenden besonders nachdrücklich geredet wird, in deren Besitz man sich nicht so recht sicher fühlte. Die vorbeugende Abwehr und der Ärger über eine Anzweifelung des echten dichterischen Feuers wird greifbar etwa in Heyses Verteidigung Fanny Lewald gegenüber (1871): „Und dabei muß ich immer hören, daß man mir nur etwas Episches zutraut, und ferner, daß man mich für einen behaglichen, akademischen Destillateur verschreit, der Liqueur auf kaltem Wege fabriziert. Wenn geschmolzenes Metall in festen Formen sich ausprägt, muß es darum weniger in Glühhitze gewesen sein?". Es begegnet denn auch eine ganze Reihe von Bemerkungen, die an Carrieres geschmeidige Schwenkung in die Richtung erinnern, daß bei aller Genialität dennoch —• wie es auch Platen gefordert hatte —• tüchtige Schulung nottue. Schon der jüngere Heyse verschmäht es nicht, „einen Band Hegelscher Ästhetik" zu studieren mit der Rechtfertigung: „muß sich doch der Maler und Bildhauer jahrelang Tag für Tag in seiner Kunst üben; wie soll's dem Poeten verdacht werden? Aber das ist eben der Jammer; sie meinen, die Poeterei wäre eitel Manna, das so vom Himmel fiele, und die Dichter brauchten nur das Maul aufzusperren. Wenn ich meinen Bekannten, auch denen, die wissen, wie ernst mirs mit der Poesie ist, vom Dichten wie vom Arbeiten rede, wollen sie mich auslachen. Ob die Lumpen von Dilettanten daran schuld sind?" (an Geibel, 7. Dez. 1848). Dieser Gedanke, daß es „Dilettanten" sein müssen, die aus einem Guß arbeiten, begegnet sich mit Carrieres Meinung von den sogleich glatt und vollendet herausspringenden Gedichten und wird von Heyse auch späterhin für den Einzelfall wiederaufgegriffen, wenn er (28. Juli 1861) zugesteht: „Bei Dilettanten wie unser (sie!) Freund hat der erste Wurf immer den Vorzug einiger Frische". Später noch, in den „Jugenderinnerungen", trifft man auf die unzweideutige Feststellung: „Dichtung ist keine Gabe Gottes, die in Weihestunden durch Inspiration zuteil wird". Andererseits legt Paul Heyse viel Gewicht auf den oft in seinen theoretischen Äußerungen angeschlagenen „Naturton", der in der Volldichtung anklingen soll, meldet nicht ohne Genugtuung, wenn ihm eine Novelle nur so „aus dem Blauen" eingefallen und zugefallen ist, erkennt, daß das „Modeln und Flicken" zum mindesten an „verwickelten Erfindungen" selten glückt und legt Wert darauf, daß seine Volldichtung „im Raptus zustande kommt". Aber

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allein sein zähes, bewußtes Arbeiten auf dem Gebiet des Dramas, sein überwiegend absichtvolles Erobernwollen der dramatischen Wirkungsform verrät, daß er doch mehr dem kunstverstandesmäßig überwachten und angespornten Können als dem spontan dranghaften Müssen vertraut. Geibels Begeisterungsfähigkeit für alles Ideale und sein religiöser Erlebniszustrom ließen ihn eifriger, aber auch unkritischer vom gottbegnadeten Schöpferimpuls und der Weihestunde der Empfängnis sprechen, was nicht hinderte, daß er die schöpferische Eigenkraft der Beiträge zum „Münchener Dichterbuch" herzlich wenig respektierte. Es waren doch letzten Endes kunsttheoretische und kritische Erwägungen und Erwartungen, die von der hohen theoretischen Bewertung der Dramenform zur.bewußt zielstrebigen Dramenproduktion hinüberleiteten, was der Formpflege eine praktische Bedeutung verlieh, die im Dichtschaffen noch weit über das hinausging, was die Dichtungsdeutung zugestand. Denn die Dichtungsdeutung und Programmatik ist emsig bemüht, eine Überschätzung der Form — wie sie im künstlerischen Schaffen der Münchener unzweifelhaft sich verwirklichte — , eine Einseitigkeit des formfordernden Prinzips aufzuheben durch das geflissentlich betonte Gegengewicht der Inhaltsbewertung. N a c h klassisches Ausgleichsstreben von Form und Inhalt, v o n G e s t a l t u n d G e h a l t , v o n H a l t u n g und G e s t a l t u n g kennzeichnet die theoretisch-kritische Leitlinie mannigfacher Einzelforderungen. Diese Leitlinie markiert vielleicht am knappsten Geibels Vers: „Die schöne Form macht kein Gedicht / Der schöne Gedanke tuts auch noch nicht / Es kommt drauf an, daß Leib und Seele / Zur guten Stunde sich vermähle". Ähnlich vertritt Heyse die Anschauung, daß weder Inhaltsprimat noch Formprimat vereinzelt zum vollendeten Kunstwerk führen kann, daß der Adel der Form für Mängel des Inhalts nicht zu entschädigen vermag. So erlebt er ζ. B. einmal selbst, daß der stimmungsmäßige Gehalt sich nicht in die ursprünglich vorgesehene Form pressen lassen will:, ,Mein eigenes Gedicht liegt leider noch in den ersten Zügen. Ich sah bald die Unmöglichkeit, es mit Terzinen zu zwingen und entschloß mich zu den Versen der Margherita Spoletina" (Heyse an Geibel, 18. Juni 1861). Ebenso kennt und bekennt er aus eigenem Schaffen heraus die Rückwirkung der Formgebung auf den Inhalt. Denn noch in demselben Jahre weiß er Geibel zu melden, wie er sich bemüht habe, das „Mißliche des Hauptthemas" mit Hilfe

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einer „indirekten, daher gleitenderen und behutsam andeutenden Darstellung . . . zu mildem". Für das wechselseitige Modifizieren, für das Zusammenwirken von Form und Inhalt sprechen beide Erfahrungen. Aber die teilweise uneingestandene Übermacht der Formzucht und Formpflege fand dennoch starken Rückhalt an der Grundstellung der Schönheitsforderung. Der Selbstzweck der Kunst wird mit Carridre im Befreien des Schönen in der Erscheinung gesehen. Geibel bietet auch hier die schnell greifbare Formel: „Zweck? Das Kunstwerk hat nur einen / Still im eignen Glanz zu ruhn / Aber durch ihr bloß Erscheinen / Mag die Schönheit Wunder tun". Folgerichtig ergibt sich daraus die Ablehnung der Tendenz, wie sich aus der Vorstellung eines zeitbefreiten Idealismus die Abwehr bloßer Aktualität herleiten läßt. Die soziale Tendenz in Fanny Lewaids „Geld und Leute" erfährt wegen ihrer „bis zur Peinlichkeit" gehenden Aufdringlichkeit Heyses scharfe kritische Zurückweisung. Man empfand das als störend; man fühlte die pathetische Umhüllung alles Poetischen hart und rücksichtslos durchstoßen und das Erhaben-Schöne gefährdet. Träger eines dergestalt erhöhten Dichtertums vermochte nur der auch ethisch wertvolle Mensch zu sein. Heyses „Merlin" spricht es offen aus, daß nicht aktueller Zeitdienst, sondern Herzenserziehung und ethischer Aufschwung den Anteil der Dichtung ausmachen, mit dem sie in die zeitlich bedingten Kämpfe eingreift und so dem Vorwurfe, bloßer Luxus zu sein, entzogen ist. Geibel schwärmt von der „Weihe des Gesangs". Und was bereits bei Carriere abgelesen werden konnte, das Priesterlich-Weihevolle, von Platen herübergrüßend, gilt nicht nur als Wesensattribut: „Gesegnet bist Du, Priesterstand des Schönen" (Leuthold), sondern schließt in sich die — wiederum von Platen her vertraute — Forderung persönlicher Würdigkeit: „Rein sollt ihr sein an Herz und Händen / Ihr seid ein priesterlich Geschlecht" (Geibel). Damit wird eine Grundschicht der Münchener Dichterverehrung, aber auch ihrer kunsttheoretischen Sonderforderungen bloßgelegt. Und es ist klar, daß diese Haltung des priesterlichen Abstandes nicht unbekümmert die Dinge angreifen konnte im Sinne realistischer Erdgebundenheit. Trotzdem legt man im Münchener Dichterkreise Wert darauf, die Realität als wesentliche Voraussetzung zum mindesten theoretisch einzubeziehen. Man möchte ein ähnliches Ausgleichsstreben zwischen Idealem und Realem vertreten wie

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zwischen Gehalt- und Gestaltwertung. Und in der Tat warnt schon das „Literaturblatt" von 1858 gelegentlich vor einer einseitigen Vorherrschaft des Idealen vor dem Realen. Auch ist nicht zu übersehen, daß etwa Heyse anläßlich der Vorarbeiten zum Drama „Hans Lange" 1864 Kultur- und Lokalstudien unternimmt und die Kraftzufuhr aus mundartlicher Sprechsprache auch für die Dichtersprache zu schätzen weiß. Die Entwicklungsmöglichkeiten eines damals bereits gegebenen Realismus wollte man nicht schlechtweg verneinen, hielt sie indessen für recht begrenzt und im weiteren Verlaufe der Entwicklung für gefährlich. Eine gewisse Annäherung an den poetischen oder ideellen Realismus findet doch ihre Grenze am zentralen Machtbereich des Schönen, Edlen und Hohen. Das Wirkliche hat sich dem Gesetz des Schönen unterzuordnen. Wirklichkeitsillusion, Wahrscheinlichkeit und innere künstlerische Wahrhaftigkeit genügen. Im Wesentlichen läßt sich das Zugeständnis an die Wirklichkeit auf die Goethelinie zurückführen und damit in die nachklassische Richtung durchaus einbeziehen. Ja, teilweise —• und besonders in der erwähnten späteren Versteifung —• wird es als eine Erniedrigung der Kunst aufgefaßt, wenn die erhabene Muse in die Prosa des Alltags hinabsteigt. Nicht nur „Körperschmerz und Sinnenbrunst liegen außerm Reich der Kunst" (Geibel), sondern überhaupt jede Verflachung der Illusion zur „gemeinen Wirklichkeit" (Heyse). Diese Versteifung macht Heyses „Merlin" zum zähen Verteidiger des Idealen gegen die „Irrlehren" des Realismus. Seine zeitlich noch später liegenden „Jugenderinnerungen", die er selbst sein ästhetisches Credo nennt, finden und suchen oft genug Gelegenheit, erbittert gegen den inzwischen entfalteten Naturalismus Front zu machen, und zwar in recht drastischen Wendungen, die selbst schon ein wenig „naturalistisch" angesteckt zu sein scheinen. Doch bedurfte es kaum dieses späteren Überblicks über die seither erfolgte — und eben nicht in der Wunschrichtung des Münchener Kreises erfolgte — Entwicklung, um eine Opposition noch zu kräftigen, die bereits in Kunstanschauung und Lebensstimmung der Münchener Blütezeit weitreichend gegeben war. Nun läßt auch Geibel die deutsche Muse weinend klagen und anklagen: „Einst war ich die Tochter des Himmels eueren Dichtern; ein Fest bracht' ich, sobald ich erschien. Jetzt im Gewände der Magd, auf der Stirn unwürdige Tropfen, muß ich um schnöden Gewinn fröhnen im Qualm der Fabrik". 9

M a r k w a r d t , Poetik IV

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Aber das sind spätere Seufzer, die also nicht vorab die im Münchener Dichterkreis um i860 herrschende Atmosphäre kennzeichnen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Polemik der naturalistischen Programmatiker gegen Geibel und Heyse bei den Betroffenen entsprechende Gegenangriffe herausfordern mußte. Alle derartigen oft recht spät, zwei bis drei Jahrzehnte nach dem Hochstand des Münchener Dichterkreises erfolgten Bekundungen besagen nichts Überzeugendes über die ursprünglichen Tendenzen, die entwicklungsgeschichtlich allein entscheidend sein können. Man tut daher besser (als die Sonderforschung), wenn man den Hauptakzent auf die frühen kunsttheoretischen Äußerungen legt. Unter diesen frühen Diskussionen speziell kunsttheoretischer Art sei die ü b e r den K a t h a r s i s b e g r i f f herausgegriffen, weil sie die Tendenz zur Verklärung und Veredelung besonders instruktiv demonstriert, zugleich aber in ihrem ersten Ansatz auch rein sachlich und begriffsterminologisch innerhalb der Sondergeschichte der Katharsisdeutung Beachtung verdient. Paul Heyse war noch von Bonn her mit Jakob Bernays befreundet. Nun hatte dieser J. Bernays in der Schriftenreihe einer wissenschaftlichen Gesellschaft zu Breslau im Jahre 1857 eine längere Abhandlung erscheinen lassen, die den Titel trug ,,Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie". Was lag näher, als daß Heyse für eine wohlwollende Rezension dieser zudem auch sachlich bemerkenswerten Abhandlung des Freundes schon im ersten Heft des ,,Literaturblattes" (1858) Sorge trug unter dem Kennwort „Zur Poetik des Aristoteles", wobei in einem Zusatztitel auf jene Abhandlung ausdrücklich Bezug genommen wurde. Das war nun etwa kein Vorspiel zu dem „nicht-aristotelischen Theater" Bertolt Brechts, sondern eine möglichst getreue Interpretation des Kunst-Wortes und der Idee des Aristoteles. Aber sie wich völlig ab von Goethes Übertragung der Katharsis als „Ausgleichung" oder „versöhnende Abrundung" (vgl. Band III). Und deshalb hätte man mit ihr rein programmatisch im Münchener Dichterkreise herzlich wenig anfangen können. Denn Jakob Bernays faßte noch strenger als Lessing die Katharsis als „Reinigung" auf, nämlich zunächst einmal als medizinischen Fachausdruck, als körperliche Reinigung und als „Entladung" und befreiende Entlastung des Leibes von beschwerlichen Krankheitsstoffen (gleichsam als Purgation).

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Ähnlich wie etwa der Geschmacksbegriff vom Physiologischen auf das Psychologische und Ästhetische übertragen worden war (vgl. Band II), so darf man verständniserleichternd und vereinfachend sagen, ist nun das ursprünglich medizinische Fachwort zu einem ethisch-ästhetischen Terminus umgebildet worden. Für Aristoteles habe es sich also um ein anschauliches Vergleichsbild aus der medizinisch naturwissenschaftlichen Sphäre gehandelt. Dieser Ansatz bot von sich aus die besten Anknüpfungsmöglichkeiten für eine realistische Auswertung. Geibel spürte das immerhin, wollte aber seinen Freund Heyse nicht wegen dessen Freund Bernays in Verlegenheit bringen, und so flüchtete er in ein Scherzgedicht. Freund Heyse aber geht nun allen Ernstes daran, die realistische Konzeption Bernays' — wie er meint — weiterzubilden, in Wirklichkeit aber auf Goethes Auffassung zurückzubilden und zurückzubiegen. Aus dem körperlichen Erleichtertwerden unter Lustgefühl (Bernays: „erleichternde Entladung") wird unter Heyses Händen eine höchst idealistische Angelegenheit. Das also kommt bei Dichterfreundschaften in Dichterkreisen heraus. Aber vor allem: es erweist sich, daß Paul Heyse bei bestem Willen, auf die beachtenswerte Konzeption des Freundes einzugehen, gar nicht fähig ist, von seinen idealistischen Vorstellungen loszukommen. Dieses Beispiel sollte davor warnen, den oft nur formalen Zugeständnissen Heyses an das „Realistische" zuviel Gewicht beizumessen; Geibel kommt die ganze Sache von vornherein einigermaßen kurios vor. Er hilft sich mit einem Scherz über die Verlegenheit hinweg (Brief an Heyse, Okt. 1857). Auf anderer Ebene und in anderer Umwelt wiederholt sich im Verhältnis BernaysHeyse manches von dem, was vom Verhältnis Vischer-Mörike angedeutet werden konnte, nur daß Heyse weit weltnäher sich gab als Mörike, über den er einen recht beachtlichen Essay schon einige Jahre vor dieser Katharsis-Katastrophe geschrieben hatte (1854). Seine etwas weichlich-ästhetische Theorie von dem MitGenuß am Schmerz (anstelle des Mit-Leidens) transponiert Hebbels herbes „Dem Schmerz sein Recht!" ebenfalls ins Schöngeistig-Genießerische, das auch seinen Dichtungen anhaftet. Davon zeugt z.B. sein Essay über „Friedrich Hebbel als Lyriker" (1858), den man ebenfalls im ersten Heft des „Literaturblattes" vorfindet. Sein Wertvollstes hat er in der Theorie der Novelle geboten, gemäß der Erfahrung und Begabung, über die er als No9·

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vellist verfügte. Aber über Paul Heyses vielerörterte Novellentheorie wird noch späterhin dort etwas zu sagen sein, wo es gilt, die Novellentheorie Th. Storms von der G. Reinbecks und Paul Heyses abzuheben. Auch im Abschnitt über Paul Ernst wird darauf zurückzugreifen sein, denn die Falkentheorie Heyses darf nicht vergessen machen, daß auch Paul Ernst an eine italienische FalkenNovelle anknüpft, jedoch nicht an dieselbe wie Paul Heyse. Und schon hier sei verraten, daß Robert Musil offensichtlich eine ungeklärte Vorstellung hat von der berühmten Falkentheorie und ebenso von der Falkennovelle. Um noch einmal auf Hebbel zurückzugreifen: Während Hebbel (zum mindesten innerhalb seiner werkimmanenten Poetik) in der Schönheit eine Gefahr sah, symbolisiert durch die Schönheit des Weibes, sieht und sucht Heyse in der Schönheit (zum mindesten in seiner formulierten Poetik) so etwas wie ein erlösendes Allheilmittel, das freilich nur wirkt, wenn man sich dem Häßlichen und „Gemeinen" möglichst entfernt hält. Vom Schönheitskultus aus seiner Münchener Zeit ist Heyse niemals freigekommen trotz mancherlei Zugeständnissen an einen im wesentlichen doch auch wieder nur „poetischen" Realismus, die ihm sein Briefwechsel mit poetischen Realisten wie Keller oder Storm oder Fontane nahelegte. Und so entschlossen, wie er es in seinen ,,.Erinnerungen" darstellt, dürfte er in seiner Münchener Zeit dem Primat Emanuel Geibels und dessen billig-blumiger Schönheitsschwärmerei und pathetischer Verbürgerlichung klassischer Ideale nicht widerstanden haben. Er setzte sich in der organisatorischen Praxis gegenüber Geibels höfischer Gebundenheit durch, als es galt, jenseits der höfisch „zwanglosen" Zusammenkünfte und „Symposien" bei König Maximilian II. von Bayern den eigentlichen Münchener Dichterkreis, die „Gesellschaft der Krokodile" zu schaffen als eine vermeintlich veredelte Sproßform vom Berliner „Tunnel über der Spree", aus dem er — noch sehr jung — gekommen war. Aber der von der Königsgunst gehobene Dichterglanz Geibels stach dem nicht uneitlen, schönen und immer noch recht jungen Heyse viel zu blendend in die Augen, als daß er damals wirklich kritisch klar hätte sehen können. Und das vom Vorgänger Maximilians „antikisch"-architektonisch überholte München dürfte ein gut Teil dazu beigetragen haben, die Bannkraft der Nachklassik auch rein lokal zu verstärken, so wie etwa ein halbes Jahrhundert später der Weimarer Lokalgeist gewiß nicht unbeteiligt war am

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Zustandekommen der Neuklassik um Paul Ernst und Wilhelm von Scholz, einschließlich der nachromantischen mehr als nachklassischen „Wege nach Weimar" Fr. Lienhards. Fragt man nun aber, ob neben nachklassischen Faktoren auch n a c h r o m a n t i s c h e V o r s t e l l u n g e n am Zustandekommen der Münchener Kunsttheorie beteiligt gewesen seien, so ist zunächst einmal festzuhalten, daß die klassizistischen Tendenzen überwogen. Trotzdem aber sind Ideen der romantischen Literaturphilosophie nachweisbar einbezogen worden, wenngleich in entsprechend modifizierter Form. Da wäre ζ. B. die romantische Vorstellung eines „Poetischen" schlechtweg, das nicht nur der „Poesie" im engeren Sinne, sondern auch den Nachbarkünsten übergeordnet ist (vgl. Band III). Denn Poesie ist nicht allein die „Mutter aller Künste", das „Poetische" wird auch zum Wertmesser für alle Künste. Als „echte Künstler" nämlich können auch Maler und Musiker nur dann gelten, „wenn sie ebenso wie der Dichter vom poetischen Geist erfüllt sind". Dabei wird das „Ideengefühl" vom „Poetischen" allerdings merklich abgeflacht oder doch vulgärer transponiert. Weiter wäre da der Primat des Malerischen (Romantik) gegenüber dem Plastischen (Klassik). Diese Schwenkung wurde erleichtert dadurch, daß z.B. Julius Grosse Maler gewesen war und daß Paul Heyse es zu sein geglaubt hatte (ähnlich wie Mörike). Hinzu kam der Umstand, daß die Münchener Malerschule stark poetisch-romantisch erzählend eingestellt war. Endlich wäre da der ganze romantisierende Künstlerkultus im Münchener Dichterkreise. Dieser romantisierende Künstlerkultus ging eine nicht immer bruchlose Verschmelzung ein mit dem klassischen Persönlichkeitskultus. Die hier nur stellvertretend herausgegriffenen Beispiele, die sich vermehren ließen etwa durch den Hinweis auf das Musikinteresse Linggs usw., mögen ausreichen, um an den romantischen Einschlag in der Kunstauffassung der Münchener Dichtergruppe zu erinnern. Damit soll der Münchener Kreis um Heyse-Geibel nicht gewaltsam auf das Leitwort vom Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik gepreßt werden. Aber auch bei den anderen Dichtern und Theoretikern, die auf diesem Wege begegneten, überwog bald die nachklassische, bald die nachromantische Komponente. Immerhin hat die Sonderforschung bereits ihr Augenmerk auf die Beziehungen der Münchener zur Romantik und auf ihre Bemühungen um ..eine Synthese von klassischem und romantischem

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Geiste" gerichtet und sogar in einem zusammenfassenden Kapitel die „Versuche zur Überwindung des romantisch-klassischen Gegensatzes" im Münchener Dichterkreise herausgearbeitet. Wieder bestätigt sich jedoch — wie etwa beim Verhältnis Aufklärung-Geniezeit usw. — , daß kein sauberes Nacheinander sich verläßlich ablösen läßt vom Weiterwirken der tragenden und treibenden Grundideen. Rein zeitlich erwartet man eine spätere Einordnung des Münchener Dichterkreises, obwohl man sich klar darüber sein wird, daß auch rein zeitlich mannigfache Überschneidungen und Verflechtungen vorliegen, über die nur das tröstliche Nacheinander der Literaturgeschichte wohlwollend hinwegtäuscht. Ideen- und stilgeschichtlich müßte man sonst für den Münchener Kreis gleichsam eine „ Z w i s c h e n k l a s s i k " ansetzen, die zwischen Nachklassik einerseits und Neuklassik (P. Ernst usw.) andererseits anzusiedeln wäre. Und so mag es gewagt werden, zwar nicht die allzu entfernte Neuklassik des neuen Jahrhunderts, wohl aber die Würdigung C. F. Meyers hier anzuschließen, der sich zudem nur sehr bedingt dem „poetischen Realismus" zuordnen ließe, und zwar sowohl seinem Kunstwollen wie seinem Kunstschaffen nach. Was an höheren Werten in der Kunstforderung M. Carrieres und des Münchener Dichterkreises enthalten war, was insbesondere Paul Heyse als Idealnovelle vorschwebte, kurz alles das, was fruchtbar und weiterweisend wirkte aus dem formungsfreudigen und verantwortungsbewußten Bemühen der „Münchener", hat recht eigentlich erst der Schweizer C o n r a d F e r d i n a n d M e y e r (1825—-98) verwirklicht. In ihm war nicht nur jener sittlich-religiös gestimmte, dem Großartigen wahlverwandte, dem Vornehmen zugewandte Persönlichkeitswert Gestalt geworden, sondern ihm war auch wirklich eigen, was die Münchener teils etwas krampfhaft herbeizwingen wollten, jene quellende und überquellende Kraft eines leidenschaftlichen Schönheitsempfindens und gestauter Lebensfülle, kurz jener Anteil Renaissancemenschentum, den er in seinen Dichtungen aus so unmittelbarer Einfühlung heraus zu fassen und mit so beherrschter und eben deshalb beherrschender Formzucht zu formen verstand. So vieles er immer Jakob Burckhardt zu danken haben mochte, was die große Sicht großangelegter Motive betraf, es war doch zunächst der treue Mentor in der Epoche eines noch ungeklärten Reifens Louis Vuillemin, der Schweizer Geschichtsschreiber und elegante französische Plaude-

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rer, der mit dem historischen Sinn zugleich den Formsinn ermutigte, der sich vorerst noch am romanischen Formgefühl schulte. Wie das menschliche, durch jahrzehntelange Berufslosigkeit stark beeinträchtigte Selbstgefühl C. F. Meyers, so erfuhr vor allem auch sein künstlerisches Selbstvertrauen eine entscheidende Stärkung durch L. Vuillemins wohlwollende Rezension seines ersten Versuchs, den noch ohne Namensnennung erschienenen „Zwanzig Balladen von einem Schweizer" (1864), in der „Bibliotheque Universelle", wo Vuillemin gar den Geist Hallers heraufbeschwor, um seinen Schützling würdig in die große Tradition Schweizer Lyrik einzufügen. Es ist keineswegs belanglos für die Entfaltung eines dichterischen Kunstwollens, ob es durch freundschaftliche Betreuung ermutigt worden ist. Und wenn auch C. F. Meyer damals bereits im vierzigsten Lebensjahr stand: er bedurfte seiner ganzen Anlage nach einer solchen Ermutigung vielleicht noch in höherem Grade als mancher junge Dichter. So hat L. Vuillemin, der ihn einst zur Übersetzung von Augustin Thierrys ,,R£cits des temps M6rovingiens" (1840, übers. 1855) angeregt hatte, sehr wohl das Denkmal verdient, das ihm der Dichter des ,,Jürg Jenatsch" (1874 bzw. 76) in der Gestalt des Herzogs Rohan gesetzt hat. Ob und in welchem Grade jene Stauung der Produktionskraft in zwei verhältnismäßig späten Lebensjahrzehnten (etwa 1870 bis 90) das Ergebnis endlich überwundener psychischer und physischer Hemmungen und Beklemmungen darstellt (und klarstellt), mag der Seelenkundler (wie etwa E. Kretschmer) mit seinen Mitteln und Methoden zu deuten versuchen: für das Kunstwollen und Kunst vermögen wesentlich bleibt, daß diese Kräfteballung — aus welchen Ursachen immer —• wirklich vorhanden war und schöpferisch formend wurde und daß sie zusammentraf mit einer mühevoll genug erworbenen menschlichen Reife, die sie formsetzend und grenzensichernd zu bändigen wußte. Dabei bewährt sich das feingestimmte Organ für ästhetische Grenzsicherungen nicht allein im ständigen Eindämmen eines schrankenlosen künstlerischen Sichauslebens und Sichausgebens, sondern etwa auch in der selbstkritisch richtigen Einschätzung der ihm gemäßen und seinem Kunstvermögen zugänglichen Dichtungsgattungen. Balladeske Lyrik und Novellistik gelten nicht mit Unrecht als Grenzformen zum Drama hin. Mit Balladen hatte C. F. Meyer begonnen, die „Romanzen und Bilder" (1869) waren ge-

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folgt, Novellen von teils unverkennbarem dramatischem Impuls wie „Jürg Jenatsch", „Der Heilige" (1880), das Thomas-BecketMotiv aus Aug. Thierrys Geschichte der Eroberung Englands aufgreifend, „Die Richterin" (1885) und die „Versuchung des Pescara" (1887) hatten sein künstlerisches Ansehen gesichert. Aber während Greif Schack im Münchener Kreise ein historisches Drama dem anderen folgen ließ und schließlich zu vorbeugenden Verteidigungen seiner Dramen in Vorreden sich gedrungen sah und berechtigt fühlte, ist C. F. Meyer, der gerade auch als Künstler die Gefahr der „Versuchung" kannte und mehrfach gestaltet hat, der für ihn weit näherliegenden Versuchung, nun auch noch den Kranz des großen Dramatikers auf sich herabzuringen, nicht ernstlich verfallen. Wohl hatte er ursprünglich daran gedacht, den Thomas-Becket-Stoff in einem Drama Leben gewinnen zu lassen, wohl besitzen wir von der „Angela Borgia"-Novelle (1890) das kurze Fragment einer Parallelgestaltung in Dramenform; aber in jenem Falle reichte die Selbstkritik, in diesem der kritische Hinweis Julius Rodenbergs aus, um sich mit der Novellenform zu bescheiden. Auch die geplante Umgestaltung der „Versuchung des Pescara" in ein Drama ist fallen gelassen worden; ähnlich ist der Vorgang bei der „Richterin". Und es ist schwerlich zu bedauern, daß C. F. Meyer nur mit einem Fragment einer „Petrus Vinea"-Tragödie (Konflikt Friedrichs II. mit seinem Kanzler) unter die Hohenstaufen-Dramatiker zu geraten drohte. Die Gefahr einer gewissen pathetischen Theatralik, die sich gelegentlich in seinen Novellen und Balladen anmeldet, dürfte ihn nicht zuletzt vor dem Versuch haben zurückschrecken lassen. Die Versuchung war da, wurde aber nicht zur Verführung, weil C. F. Meyers künstlerisches Gewissen und sein hoher und strenger Formungsanspruch zu wach blieben, um sich berauschen zu lassen von der Großartigkeit eines Erhabenheitsgefühls, das doch noch keine erhebende und erschütternde Tragik verbürgte. Nicht von ungefähr drängt sich C. F. Meyer in der persönlichen Aussprache mit Freunden über ein im Werden begriffenes Kunstwerk wiederholt das Vergleichsbild des Webens und der Webearbeit auf. So berichtet er etwa L. Vuillemin mit Bezug auf die Novelle „Das Amulett" (1873), seinen ersten Anlauf zur Novellenform, er habe jetzt eine Novelle „auf dem Webstuhle"; sie sei wohl durchdacht und dennoch „einfach und objektiv" nach der Art des Cervantes angelegt. Übrigens würde diese Erstlingsnovelle,

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da sich alles Wesentliche um eine silberne Marienmedaille dreht (Duell, Hugenottenverfolgung in der Bartholomäusnacht, Hineinragen der Gestalt Colignys usw.), rein äußerlich weitgehend der Falkentheorie P. Heyses entsprechen, obwohl sie künstlerisch kaum als besonders starke Leistung gelten kann. Die Wendung „auf dem Webstuhl" kehrt wörtlich wieder, als die reifere Novelle „Der Heilige" das Ringen zwischen König und KanzlerBischof mit schon weit höheren psychologischen Ansprüchen überzeugend zu bewältigen sucht. In diesem Falle vermögen wir die Kunstleistung am Kunst wollen zu messen, da der Dichter sich brieflich in rechtfertigender Absicht gegenüber Hermann Lingg (auch Betty Paoli hatte Einwände erhoben) ausführlich über seine Darstellungsabsicht geäußert hat. Allerdings geht es dabei vorwiegend um die Charakteristik der sich widerstreitenden Wesenszüge in Thomas Becket. Doch berührt C. F. Meyer aus diesem Anlaß mehrfach das V e r h ä l t n i s von D i c h t u n g u n d D a t e n t r e u e sowie das auf wuchtige Größe gerichtete Darstellungswollen. Dabei wirkt die erwähnte ursprüngliche Konzeption des Motivs in Dramenform merklich nach in Merkwörtern und Wertungen wie „Große Scenen! Dramatischer Gang. Großer Stil." Daß zum Idealbilde auch jenseits dramatischer Teilwirkungen der große Stil gehörte, bezeugt eine briefliche Äußerung Luise von Frangois gegenüber, wobei er zwar von Ernest Renan trotz eines merklichen Beeindrucktseins von dessen „exquisitem, ja raffiniertem" Stil wegen einer an Marivaux erinnernden Geziertheit abrückt, aber die Vertreter von Port Royal als „heiße, reine Herzen" lebhaft anerkennt, um mit persönlicher Wendung und Zielsetzung hinzuzufügen „Ich habe zeither eine ganze junge Sehnsucht nach dem Großen, Heilsamen, Menschlich-Wahren — das metaphysisch Wahre halte ich für absolut unzugänglich! —, auch nach einem großen Stil". Nachklassische Ideale der Humanität, der Stilgröße und dessen, was Goethe das Fruchtbare, C. F. Meyer das „Heilsame" nennt, setzten sich nicht nur an dieser Stelle durch; sogar mit einem „l'art pour l'art" weiß sich C. F. Meyer gelegentlich der Verteidigung seiner keck-schalkhaften Novelle „Der Schuß von der Kanzel" von drohender Mißdeutung freizuhalten. C. F. Meyers Metapher vom Weben und Webstuhl hat und beansprucht nicht die Bedeutungstiefe des entsprechenden Symbols Goethes. Sie verbildlicht jedoch recht treffend die ideale Arbeitsweise und das Darstellungsverfahren „Ich arbeite eigentlich ohne

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Unterbruch, aber ungeheuer langsam und kultiviere dieses Phlegma recht eigentlich, weil ich in dieser kostbaren Naturanlage meine Sicherheit sehe". Die Fäden des Gewebes sind dabei nicht selten schon Jahre vorher gesponnen und auf ihre Haltbarkeit und Farbreinheit geprüft, bevor sie dem subtilen Webevorgang anvertraut werden. Aber was dann hervorgeht aus der gediegenen, fast ein wenig kunsthandwerklichen Mühewaltung, wird trotz aller Feinund Kleinarbeit ein großer historischer Gobelin, der einen gewissen Abstand des Beschauenden nicht nur gestattet, sondern fordert. Den Glauben an die Möglichkeit, durch Verbesserungen und Verfeinerungen und Vertiefungen eine ständig erhöhte Vervollkommnung auch der lyrischen Gebilde erreichen zu können, darf man nur bedingt mit Geibels unermüdlichem Feilen gleichsetzen. C. F. Meyer teilt ihn vielmehr, selbst als gelegentlich übersteigerten Irrglauben, mit der romanischen Poesie, die ihm frühzeitig und weitgehend vertraut war. Ob die kunsttheoretische Forderung Alexandre Vinets, das Kunstwerk müsse einer Alabasterlampe gleichen, die durch eine von allen Unebenheiten und Dunkelheiten befreiten, reinen, edlen und durchscheinenden Form den Schein des Schönen transparent werden lasse, unmittelbar auf C. F. Meyers dichterische Kunstanschauung hinübergewirkt hat, mag dahingestellt bleiben. Der Waadtlander Literaturhistoriker und Theologe, der in Basel und Lausanne lehrte, war ihm jedenfalls durchaus vertraut, hatte er doch vor seinem späten Durchbruch zum Dichtertum eine Darstellung „L'esprit d'Alexandre Vinet" zu übersetzen geplant. Vielleicht würde Meyer von sich aus das rein Ideeliche des schönen Scheins weniger stark betont haben. Formung und Motiv sind ihm wesentlicher als irgendwelche Leitideen; er gesteht, daß er „singulare Motive" geradezu „liebkosen" könne. Dessen, daß einst der Schweizer Breitinger neben der „malenden" die „herzrührende Schreibart" als besonderen Dichtungstypus hingestellt und gefordert hatte, wird sich dagegen der Schweizer C. F. Meyer schwerlich bewußt gewesen sein, als er beim Tilgen mancher als sentimental empfundenen Einschläge gelegentlich der Umarbeitung seines frühen Versepos „Huttens letzte Tage" (1871, bzw. 1881) dennoch den „herzrührenden Eindruck" bewahren zu können hofft. Ursprünglich hatte auch unter dem erlebten Eindruck von Huttens letzter Raststätte (auf der Ufenau) der stimmungsmäßige Akzent noch stärker als selbst in der ersten Endfassung auf dem Titelteil

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„letzte Tage" gelegen. Bekanntlich war schon damals eine tatkräftige Auffrischung des früheren Hutten erfolgt unter dem Zeiteindruck des deutsch-französischen Krieges, ein Beispiel zugleich für die Werkwandlung im Werkwerden, nicht unter dem Einflüsse einer gewandelten Kunstanschauung als vielmehr unter dem Zustrom eines großen, bewegenden, die politische Einstellung klärenden Zeitgeschehens und insofern aufschlußreich für die latente Poetik im Kunstwerk; anders im Wesen und Wollen, aber ähnlich in der kunsttechnischen Wirkung wie der Einfluß der Julirevolution auf Werkwerden und Werkwandlung von Chr. Dietr. Grabbes ,,Napoleon"-Drama. Bewies doch das idyllische Versepos legendärer Stilstimmung „Engelberg" (1872), dessen Motiv er „schon ein Jahrzehnt" mit sich herumgetragen hatte, das noch tastende Suchen nach einer wesensgemäßen Wirkungsform, aber auch das Festhalten einer reinen Kunstgesinnung trotz der übermächtigen zeitpolitischen Eindrücke. Kurz, C. F. Meyer, bislang lebhaft der französischen Kulturströmung in der Schweiz zugewandt, wurde durch 1870/71 wohl ein deutscher Dichter, aber kein politischer Dichter. Seine bewußte Kunstgesinnung und Kunstbesinnung lehnte das persönliche Eintreten für unmittelbare Gegenwartsbestrebungen ab, entsprechend dem Vermeiden und Verschmähen eines persönlichen Hervortretens in seiner epischen und weitgehend selbst in seiner lyrischen Darstellungsweise. Die Eigenform, die er nun sich erobert, die,,historische Novelle", bevorzugt er, wie er selbst betont, gegenüber dem „Zeitroman" nicht zum wenigsten auch deshalb, weil sie ihn „besser maskiert und dem Leser gegenüber mehr zurücktreten läßt". Erst diese objektive Bindung an einen, wenn auch nicht im strengeren Sinne historischen Stoff verleiht, so scheint es ihm, das gestaltungsmäßige Anrecht auf eine gewisse subjektive Entbindung im Sinne einer mittelbaren individuellen Freiheit des Erzählers. C. F. Meyer rührt an Grundfragen der dichterischen Kunstauffassung, wenn er scheinbar nur beiläufig und den eigenen kühlen Erlebnisabstand entschuldigend, meint „So kann ich unter einer ganz objektiven und eminent künstlerischen Form (auf die er vor allem hinstrebte) im Innersten ganz individuell und subjektiv sein". Allerdings, wenn er hinzufügt „in allen Personen des Pescara, sogar in dem abscheulichen Morone (Kanzler von Mailand) lebt C. F. Meyer", so nähern wir uns damit schon jenem Zwielicht, in dem sich Selbstzeugnisse

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von Künstlern leicht bewegen, wenn sie besonders auf ein Einzelwerk (oder einen wirklichen oder befürchteten kritischen Angriff) eingehen, ganz abgesehen von dem Anteil Schalkhaftigkeit, der in jene Demaskierung hineinspielt. Trotz gewisser polemischer Wendungen gegen Übersteigerungen konfessioneller Machtentfaltungen („Die Leiden eines Knaben" 1883, die balladesken Gedichte: „Spanische Brüder", „Die Füße im Feuer" u. a.) wäre es verfehlt, jenes „Maskieren" als ein Verbergen von weltanschaulichen Gegenwartstendenzen unter dem bloßen Deckmantel des Historischen aufzufassen. Daß dabei nicht etwa die Methode der Zensurumgehung durch die Jungdeutschen eben nur auf den zeitgemäßen Kulturkampf übertragen wurde, daß vielmehr jener vornehm zurückhaltende Zug darin wirksam war, der für den Menschen und Künstler C. F. Meyer ein Lebens- und Schaffensbedürfnis darstellte, dafür spricht ganz eindeutig eine andere prinzipielle Bekundung, die doch zugleich ganz persönlich gehalten und aus Selbstbeobachtung gewonnen worden ist. Luise von Francois gegenüber spricht er es einmal wohl am bündigsten so aus „Es ist seltsam; mit meinem (ohne Selbstlob) geübten Auge komme ich oft in Versuchung, Gegenwart zu schildern; aber dann trete ich plötzlich davor zurück. Es ist mir zu roh und zu nah". Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, daß er vor dem Gegenwartsnahen nicht nur zurücktritt, sondern geradezu zurückschreckt. Auch dies empfindet er — und bezeichnet er ja auch ausdrücklich — als „Versuchimg". Er fühlte (ähnlich wie der Versuchung zum Drama gegenüber) wiederum erstaunlich sicher die Grenze, die ihm in diesem Falle ein gewisser Mangel an tatfroher Frische im unmittelbaren Zugreifen neben jener Verhaltenheit und Gehaltenheit notwendig ziehen mußte. Nicht allein sein Dante, dem er als Rahmenfigur die Vermittlung seiner Novelle ,,Die Hochzeit des Mönchs" (1883) übertrug und den er bei dieser Gelegenheit merklich zum Vermittler eines Teiles seiner eigenen dichterischen Kunstanschauung machte, empfindet es angesichts der gewählten Gesellschaft seines Zuhörerkreises als geboten, „daß er nicht die Wirklichkeit der Dinge sagen dürfe, energisch und mitunter häßlich, wie sie ist, sondern ihr eine gemilderte und gefällige Gestalt geben müsse. So hielt er sich unwillkürlich in der Mitte zwischen Wahrheit und schönem Schein und redete untadelig". Die Möglichkeit nun, diese Mittellinie zu treffen und sie

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innezuhalten, ergibt sich nicht zuletzt aus einer bewußt wählenden Auslese. Denn auch der schöne Schein darf nicht das künstlerische Grundgesetz der Vereinfachung überblenden und romantisch überwuchern, gerade dann nicht, wenn das Motiv — wie häufig die eigenen und gern ein wenig eigenartigen Motive C. F. Meyers — an sich die Versuchung, dem Geschehensreichtum nachzugeben und den verschlungenen Pfaden der Motivverzweigung nachzugehen, in sich birgt. Von einem bewußten Formungswillen beherrscht, läßt er denn auch seine Dante-Gestalt in der erwähnten —• von Paul Heyse und L. v. Franfois übrigens kritisch beanstandeten — Rolle des Rahmenerzählers verfahren: „Seine Fabel lag in ausgeschütteter Fülle vor ihm; aber sein strenger Geist wählte und vereinfachte". Die konstruktive Wahlfunktion des ordnenden und anordnenden Kunstverstandes entspricht also durchaus dem Kunstwollen C. F. Meyers. Es fragt sich nur, ob sie nicht die vom Dichter zwar mehrfach behauptete und in Abwehrstellung teils betont hervorgehobene Spontaneität des Schöpfungsvorganges beeinträchtigt hat, indem sie gleichsam zum Selbstzweck sich verdichtet und verhärtet. C. F. Meyer hofft zwar, daß diese Eigentümlichkeit lebendiger organischer Stil bleibe und nicht zur Manier erstarre. Und er legt Wert darauf, daß diese Eigenschaft nicht als erworbene Kunsttechnik, sondern als angeborene Gabe gelte „Mein starkes Stilisieren — wie es Gottfried Keller zwischen Tadel und Lob nannte — und meine besonders künstlich zubereiteten Wirkungen müssen mir im Blute stecken". Auch verkennt er keineswegs den Wert des Unbewußten und Unabwägbaren. Nicht zuletzt war es seine Liebe zur Heimat und das fraglos echte und starke Erleben der großen und schönen Schweizer (und auch der italienischen) Landschaft, was derartige instinktive, von der Neigimg zur Reflexion nicht gebrochene Kräfte wachruft und wacherhält. Als er in der Umgebung von Davos das Wachsen und Werden der „Jürg Jenatsch"-Novelle in sich arbeiten fühlt, spricht er sich einem Freunde so aus „Ich wollte es nicht sagen, daß mich der Jenatsch hergeführt hat. Das Gelingen einer Dichtung hängt von so viel unberechenbaren Dingen ab! Ich meine: einer wahren Dichtung, die nur durch den Aufwand aller Geistes- und Herzenskräfte gelingen kann". Zwar hat vielleicht gerade dieses Bekenntnis aus der Zeit seines Produktionsbeginns (1871), das als Gegenstück zu jener Selbstverteidigung gegen Keller (1891) und als

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Eingangsrahmen zu den zwei produktiven Jahrzehnten gelten kann wie jenes als Schlußrahmen, vielleicht hat gerade dieses Bekenntnis durch die Betonung des „Aufwandes" mit dazu beigetragen, wenn C. F. Meyers Begabungsart und Schaffensweise mit Lessings schlichter und doch stolzer Selbstbescheidung („Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir. . .") in Beziehung gesetzt wird. Aber wesentlicher noch hat sicherlich der Lesartenreichtum und die Variantenfülle des Formen- und Fassungwandels seiner Balladen und Gedichte die Unmittelbarkeit des schöpferischen Erlebnisses in Frage stellen helfen. Wären es Dramen gewesen, die sich rein konstruktionsmäßig weniger leicht überformen lassen, vielleicht hätte er sich daran aufgerieben wie Otto Ludwig. Jedoch trotz seiner in halb komischer Verzweiflung ausgesprochenen (Herbst 1887) Befürchtung, doch noch auf die Klippe des Historienund Kaiserdramas hingetrieben zu werden, entging er diesem „Schicksal". Stärker als die meisten der Dichter des Münchener Kreises und ihrer Nachfolger, stärker als Paul Heyse, dem er zuerst 1878 persönlich in St. Moritz begegnet war und den er damals als den „ohne Widerstreit ersten deutschen Novellisten" anerkannte, stärker als Hermann Lingg, den er in München getroffen und sich bald zum Freunde gewonnen, ja als sich selber geistesverwandt empfunden und bezeichnet hatte, ist ihm, C. F. Meyer, das Dranghaft-Spontane des Gestaltungserlebens zugänglich gewesen, besonders dort, wo das gewählte Motiv ihn mitreißt und bereits der „Stoff seine eigene Tiefe" in sich birgt. Es dürfte jedoch schwerlich das Wesentliche und Charakteristische in Kunstwollen und Kunstanschauung dieser zuchtvollen Künstlerpersönlichkeit mit ihrer Neigung zum Erlebnisabstand und ihrer inneren Nötigung zur grenzensichernden Beschränkung treffen, wenn mit Vorliebe das Gedicht „Fülle" herangezogen wird: „Genug ist nicht genug. Mit vollen Zügen / Schlürft Dichtergeist am Borne des Genusses / Das Herz, auch es bedarf des Überflusses / Genug kann nie und nimmermehr genügen!" Es entspricht — mit naheliegender Abstufung — im Preisen der Fruchtfülle des Herbstes etwa dem Oktoberlied Th. Storms; zieht man den etwas theatralisch dekorativen Faltenwurf fort, berührt es sich im Motiv nahe mit G. Kellers innig-edlerem „Trinkt, ο Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt!" Nur ist es für die Spätreife C. F. Meyers gewiß weit bedeutsamer im persönlichen Bezug als Storms Oktoberlied. Freu-

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diger Trotz schwingt wohl verhalten mit, der bei Storm die Klangfarbe bestimmt; indessen mehr noch das etwas krampfige Steigerungsgefühl jener Stauung und Ballung des zeugenden, schöpferischen und genießenden Vermögens, zu dem erst der Lebensherbst den Spätreifen ermächtigt und ermutigt hat. Und so wird man gut tun, neben jene viel zitierten und leicht zu mißbrauchenden Verse dieses Herbstliedes die anderen erklärenden aus einem Frühlingsliede („Tag, schein herein... !") zu setzen: „Ich war von einem schweren Bann gebunden / Ich lebte nicht. Ich lag im Traum erstarrt / Von vielen tausend unverbrauchten Stunden / Schwillt ungestüm mir nun die Gegenwart". Was dort recht eigentlich enthüllt wird, was gültig bleibt von der „Fülle" und als relativer, nicht absoluter Wert in Rechnung gestellt sein will, das Hegt in der Kraftreserve, die C. F. Meyer sonst gern in die Deckung und Sicherung der abklärenden Bändigung zurücknimmt. Es ist jene Kraftreserve, die etwa ein Heinrich Leuthold nicht besaß, weil er sie in flackernder Genialität aufzehrte. Man läuft Gefahr, C. F. Meyers Art zu nah an die seines unglücklichen Landsmannes Leuthold heranzurücken, wenn man derartige lyrische Bekenntnisse wie die in den Gedichten „Fülle", „Veltlinertraube" zu wörtlich nimmt und sie zu schwer wiegen läßt als Bekenntnisse der Kunstgesinnung. Es bedarf in diesem Zusammenhang auch der Beachtung, daß erst die Endfassung des Gedichts „Veltlinertraube" über zwei Schlußstrophen (und damit angesichts der verkürzten Form über die Hälfte des Gesamtumfangs) hin den persönlichen Bezug der „glutdurchwogten" Wachstumsüppigkeit und der trotzenden Kraftfülle ausführlich und nachdrücklich zur Geltung bringt, während die erste Fassung (1880 in der „Deutschen Dichterhalle") diese symbolische Geltung noch nicht freigegeben, sondern sich mit der Andeutung („volle Beere") begnügt hatte und noch nichts von einem „unbändigen Geblüte" auszusagen wußte. Die nachträgliche Verstärkung kann wohl ein ursprünglich Vorhandenes und eben nur Unterdrücktes befreit haben; sie kann jedoch auch auf Grund einer Hilfskonzeption die üppige Farbgebung bewußt stark auftragen. Wesensbild und Wunschbild gehen in Selbstzeugnissen dichterischer Form noch leichter ineinander über als in außerdichterischen Bekundungen der Schaffenden. Und nicht selten wird die Erwartung, die der Kunstwertschaffende in sich selbst setzt, von jener Erwartung, die er durch andere in sich gesetzt fühlt (und oft auch nur vermutet), überspielt und wohl auch

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ZWISCHEN NACHKLASSIK UND NACHROMANTIK

willensmäßig überwältigt. Für die Entfaltung oder Wandlung des Kunstwollens sind derartige Überschneidungen nicht zu unterschätzen. Auch C. F. Meyer kennt und gesteht die Macht und Übermacht solcher „Erwartungen". Zeitweise fühlt er sich bedrängt und in der freien Zügigkeit seines Schaffens bedroht von der Erwartung des Großartigen, Wuchtigen, der al fresco-Manier. Durchbruchsversuche zur Freizügigkeit und Auflockerungsversuche solcher Bindungen wären etwa zu beobachten, wenn er die Gestalt des Facetiendichters Poggio zur Hilfe ruft als Träger der Rahmenerzählung „Plautus im Nonnenkloster", wenn ihn das Leichtbeschwingt-Gefühlswarme der Klärchen-Egmont-Bindung aus Goethes „Egmont" ermutigt zur Umgestaltung des LeubelfingMotivs (das als Page verkleidete liebende Mädchen) zur psychologischen Studie „Gustav Adolfs Page", aber auch wenn er im Nachschwingen eigener Jugendbeklemmungen und Hemmungen die psychologische Problemnovelle mit anklägerischer Teiltendenz „Die Leiden eines Knaben" schuf oder schalkhafte Drastik („Der Schuß von der Kanzel") ein etwas gewaltsames Gegengewicht suchte. Trotzdem meint er selbst: „Wahr kann ich nur unter der dramatischen Maske al fresco sein", während ihm seine Lyrik nicht „wahr genug erscheint". Jene Selbsterwartung, verbunden mit der Erwartung von dritter Seite, drückt nun also auf das Wertbewußtsein des Lyrikers und führt zu einer offenbar einseitigen Überbewertung der großen Novellen „Jürg Jenatsch" und „Der Heilige" und einer entsprechenden Unterbewertung der Lyrik, „die kaum mehr als Spiel oder höchstens die Äußerung einer untergeordneten Seite meines Wesens ist". Die Nachwelt wird auch für die Kunstgesinnung, wie sie C. F. Meyers Lyrik bewährt, weit eher jenes verpflichtende Wort aus der Ballade „Das Münster" als berechtigt gelten lassen. „Das Amt, das dir zu Lehen fiel / Das ist ein Werk und ist kein Spiel!". Und wenngleich jenes zarte Motiv in den „Liederseelen", das die Wahl unter feinsten Gefühlsschwingungen symbolisiert mit dem Ertrag „Und die du wählst, und der's beschied / Die Gunst der Stunde, die wird ein Lied" mehr dem (Storm gemäßeren) Wunschbild als dem Wirklichkeitsbild entsprechen mag, wenn auch wie Milton in der Ballade „Miltons Rache" die „lichten Gebilde und dämonischen Gesichte" sich gern gemäß der starken Kontrastspannung in C. F. Meyers Gesamtkunstleistung wirkungssteigernd verbinden und in glücklichen Fällen zur Wirkungseinheit verbünden, so kommt der Grund-

DER MÜNCHENER DICHTERKREIS

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färbung seiner dichterischen Kunstauffassung zuletzt doch weit näher (als jene übergrellen Glanzlichter des Rauschhaften) das Selbstporträt, das er im „Firnelicht" malt „In meinem Wesen und Gedicht / Allüberall ist Firnelicht / Das große stille Leuchten" oder das verantwortungsstarke Hüten der reinen Flamme („Heiliges Feuer"): Jene Aufsteilungs- und Übersteigerungstriebe jedoch finden ihre Erklärung nicht allein in jener spätreifen Kräftestauung und überwältigenden Kräfteentladung, sondern in dem Schönheitserlebnis jener machtvollen Art, das sein „Michelangelo" mit edler Größe so umschreibt „Die Macht der Schönheit übermannte mich".

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Markwardt, Poetik IV

II. Die politische Tendenz-Programmatik und Weltanschauungs-Ästhetik Junges Deutschland und Vormärz Wenn die Kunsttheorie und Dichtungsdeutung des bisher gewürdigten Entwicklungsausschnittes sich vor allem an der Klassik einerseits und der Romantik andererseits orientiert, so liegt es nahe und ist es üblich, das Junge Deutschland auf den Sturm und Drang zurückzubeziehen. Schon die Geniezeit war von starken politischen Impulsen durchregt und bewegt, und die „Bewegungsliteratur" (Terminus bei Theodor Mündt) des Jungen Deutschland zeigt offensichtlich verwandte Züge mit dem geniezeitgemäßen Kunst wollen. Hinzu kommt das jugendliche Gepräge beider Richtungen, die revolutionäre Gebärde des Protestierens und Reformierens, die Grundhaltung der Anklage, das stürmische und dranghafte Fordern eines unbedingt Neuen usw. Aber auch das kehrt, zeit- und situationsgemäß abgewandelt, wieder, daß ein im Grunde ausgeprägt politisches Streben mehr und mehr ins Ästhetische und allgemein Ethische abgebogen und so entschärft wird. Das alles ist bekannt und vertraut. Auch das Vorausblicken auf die Weltanschauungs-Ästhetik und Tendenz-Programmatik der „Jüngstdeutschen" im Naturalismus drängt sich notwendig auf und is+ entsprechend beliebt. Es erscheint nun jedoch berechtigt und ratsam, ja geradezu geboten, nachdrücklich auf P a r a l l e l e r s c h e i n u n g e n mit der A u f k l ä r u n g hinzuweisen. Um nur einiges stich worthaft herauszugreifen: da ist die Hinwendung zum Publizistischen, zum Zeitschriftenwesen, eine starke Verlagerung des Dichterischen in den Bereich des Literarischen, das Erheben der Prosa, besonders der kritischen Prosa, auf eine höhere Rangstufe, überhaupt der Primat der Kritik als Waffe menschlicher Vernunft. Selbst bis hinein in die Beliebtheit von literarischen Sonderformen belebender Auflockerung wie vor allem der „Brief-Form lassen sich Parallelerscheinungen beobachten. Und nicht zuletzt ist da ein Vorstoßen weltanschaulicher Art gegen die Machtposition der Kirche; denn gerade die ersten Rebellionen der Jungdeutschen erfolgten aus

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dieser Angriffsposition und führten zu den ersten heftigen Zusammenstößen mit der Zensur. Im Sturm und Drang war ein derartiges Einbeziehen der Kirche in die Angriffsziele nur insoweit zu beobachten, als aufklärerische Elemente einwirkten. Im Gesamt aber waren wertvolle religiöse Antriebe (Hamann, Herder, Lavater) durchaus geniezeitgemäß auswertbar. Von der Poetik her gesehen — und darauf muß es hier vorzüglich ankommen — leuchtet es ein, daß die Tendenz-Programmatik vor allem auf das Wirkenwollen und Bewirkenwollen eingestellt sein muß. Dadurch ergibt sich sowohl für das Junge Deutschland als auch für den „Vormärz" ohne weiteres ein V o r h e r r s c h e n des a u f k l ä r e r i s c h e n T y p u s der W i r k u n g s p o e t i k . Man soll und will „die Zeit erfassen" (Hoffmann von Fallersleben), um sie zu verändern. Alles zielt auf die Wirkung. Die Schöpfungsästhetik vom Typus geniezeitgemäßer Art war für die Jungdeutschen gar nicht so recht zeitgemäß. Sie stand ihnen auch persönlich gar nicht so recht zu Gesicht; denn Genies waren unter ihnen mehr als dünn gesät. Sie verkörperten weit überwiegend die Sonderbegabung des Dichter-Publizisten, dem es um Entdeckung schöpferischer Geheimnisse nicht gar so ernst war. Oder sie waren DichterRhetoriker wie besonders die sogenannten „politischen Lyriker" (Herwegh, Freiligrath). Beide Sondertalente aber waren ganz auf die öffentliche Wirkung eingestellt, die einen durch das gedruckte Wort in Zeitung und Zeitschrift, die anderen durch das gesprochene, besser: „geredete" Wort (auch wenn sie schrieben). Diese allgemeinen Andeutungen mögen genügen. Ein Umblick auf politische Ansätze und ein Rückblick auf gewisse Traditionsträger (Seume) sind als Ergänzungen gedacht. Das nationale und historische Interesse, das aus der Wärme inneren Beteiligtseins heraus auf dramaturgischem Gebiete Platen, Immermann und Grabbe zu neuen programmatischen Zielprägungen ermutigt und letztlich seinen ersten, starken Antrieb erfahren hatte durch die jüngere Romantik, bricht in aktivistische Gegenwartspolitik um im Jungen Deutschland. Hegel ist sich durchaus darüber klar: „Gegenwärtig hat das ungeheure politische Interesse alle anderen verschlungen — eine Krise, in der alles, was sonst gegolten, problematisch gemacht zu werden scheint" (Dez. 1830). Heine verkündet: „Die Revolution tritt in die Literatur". Und das, was auf dichterischem Gebiete „sonst gegolten", die Kunstperiode der Goethezeit soll unter dem Impuls der Juli10*

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revolution endgültig einem fördernden Volks- und Lebensdienst der Kunst weichen. Denn, wie Wienbarg in Abwandlung der Schillerschen ästhetischen Erziehung lehrt und fordert: „Nationalgefühl muß dem Gefühl fürs Schöne, politische Bildung der ästhetischen vorausgehen". Seume hatte bereits 1805 etwaige Vorwürfe gegen die Tendenz abgewehrt mit dem Hinweis darauf, daß jedes gute Buch mehr oder weniger „politisch" sein müsse. Selbst A. W. Schlegel kann sich 1806 nicht der Erkenntnis verschließen: „Wir bedürfen also einer durchaus nicht träumerischen, sondern wachen, energischen und besonders einer patriotischen Poesie". Sein Bruder Friedrich Schlegel verschmäht es nicht, fern vom ästhetisch genießerischen Faulbett der „Lucinde", als Sekretär der Staatskanzlei den Österreichern ihren Freiheitsaufruf zu schenken. Adam Müller erhob im „Phöbus" Kleists 1808 für die Dichtkunst den stolzen Anspruch: „Die Poesie ist eine kriegführende Macht, bei allen großen Welthändeln zugegen". Kleist selbst wollte unter dem übermächtigen Eindruck eines ersehnten Freiheitsfrühlings Werke schaffen, die in die „Mitte der Zeit hineinfallen" (1809) und sich auch als schöpferische Kraft mit der ganzen Gewichtigkeit seines genialen Könnens in die schicksalsschwere „Waage der Zeit" werfen. Sie unterscheiden sich gewiß beide in der Tendenz grundlegend vom späteren Jungdeutschen Programm. Aber das Grundprinzip einer p o l i t i s c h e n I n d i e n s t s t e l l u n g der P o e s i e war weitgehend dasselbe: P r i m a t der Z e i t - und S t r e i t d i c h t u n g . Und darin lag für die zur Weltanschauungsästhetik gewandelten Kunstauffassung das Entscheidende. Streit ist hier nicht gemeint im abfälligen Sinne der Streitsucht, sondern im Sinne eines tapferen Streitertums. Und so verstanden, wurde auch die Zeitschrift eine Streitschrift, sie war Zeit- und Streitschrift als Kampforgan und wollte und sollte es sein. Doch dürfte es ratsam sein, vorerst zurückzugreifen auf die vorbereitende Auflockerung des Bodens, wie sie durch Seume erfolgt ist, der in gewisser Weise als V o r l ä u f e r des J u n g e n D e u t s c h l a n d gelten kann. Es gibt eine Prägung von J o h a n n G o t t f r i e d S e u m e (1763 bis 1810), die recht nahe an jenes bekannte Wort L. Wienbargs von 1833/34 grenzt, wenigstens ideelich: „Die Zeit der Dichtung ist vorbei / Die Wirklichkeit ist angekommen". Ideelich, denn zeitlich liegen diese Verse etwa um drei Jahrzehnte früher, und zwar

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sind es die Eingangsverse zu einem Gedicht, das der Reiseschriftsteller Seume ausnahmsweise in die Reisebeschreibung ,,Mein Sommer" (1806) eingeflochten hat (Äbo, den 5. August 1805). Allerdings ist das vorerst in eigener Sache gesprochen, nicht ohne den Zusatz ,,. . . Und hat des Lebens schönen Mai / Unwiederbringlich weggenommen". Trotzdem ist die Wendung zum R e a l i s m u s symptomatisch und auch die Wendung zur K r i t i k gegenüber der überwundenen romantischen Schwärmerei. Er trauert dem Verlorenen nicht nach, ob man es nun Idealismus oder Romantik nennen will, wie er denn schlicht prosaisch bekennt: „Nur das Wirkliche fing an, mich zu interessieren". Und dieser Blick für die Gegebenheiten der Wirklichkeit und —• deren Schwächen und Unzulänglichkeiten, besonders auch die Mängel und Schäden in der sozialen Struktur zeichnet auch seine beiden Reisebeschreibungen aus, den ,,Spaziergang nach Syrakus", mit dem er begann, und die Beschreibung ,,Mein Leben" (1813), die dem ,,Sommer 1805" folgt. Empfindsame Reisen im Sinne des Reiseromans von L. Sterne sind das keineswegs. Aber empfindliche Reisen könnte man sie in dem Sinne nennen, daß Seume auf jede beobachtete Ungerechtigkeit, Privilegienwirtschaft und Unfreiheit außerordentlich empfindlich reagiert, fast in dem Maße, daß man die Reisen, vielfach Fußwanderungen, bloße Gelegenheitsmacher für politische Reflexionen nennen möchte, obgleich die Briefform der Reisebeschreibungen (in Wahrheit mehr Reisetagebuch-ähnlich) eine gewisse persönliche Erwärmung mit sich bringt. Zwar nicht voll so radikal wie die seines Zeitverwandten, des Geographen, Politikers und bemerkenswerten Stilisten Georg F o r st er (1754—1794) erscheint Seumes politische Einstellung. Und auch sein Wirklichkeitsblick ist nicht der des Naturforschers und Naturbeschreibers mehr wissenschaftlicher Art, wie er G. Forster eigen ist, der dagegen als Stilist dem Dichter Seume nicht nachstehen dürfte, so etwa in seinen ,,Ansichten vom Niederrhein" (1790). Seume in diesem Zusammenhange an G. Forster heranzurücken, ist auch berechtigt, um daran zu erinnern, daß revolutionärdemokratische Anschauungen schon Jahrzehnte vor dem Jungen Deutschland sich in einzelnen Persönlichkeiten, deren Schicksal eng mit der Politik verflochten war, eindrucksvoll kundgegeben haben. Als Antriebskraft stand dahinter die große Französische Revolution, wie hinter dem Jungen Deutschland die Julirevo-

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lution von 1830. Zugleich mag diese Annäherung an G. Forster daran erinnern, daß Seume schon rein generationsmäßig nicht den Jungdeutschen zugeordnet werden kann. E r starb bereits ein Vierteljährhundert vor dem Durchbruchsjahr des Jimgen Deutschland. Als er in Leipzig studierte, schrieb Schiller seine „ R ä u b e r " ; und das Schicksal der hessischen Landeskinder, das die Kammerdienerszene in „ K a b a l e und Liebe" anprangerte, erlitt er am eigenen Leibe. G. Forster hat wenige Jahre später einen Aufsatz über Schillers Ideendichtung „Die Götter Griechenlands" veröffentlicht. So ist es nicht weiter verwunderlich, wenn sich Seume als Leipziger Student mit Shaftesbury vertraut machte oder wenn Rousseau und sein Kulturskeptizismus in der bekannten Verdichtungsstelle des „ W i r Wilden sind doch bessere Menschen" und der benachbarten Formulierung „Europens übertünchte Höflichkeit" unmittelbar nachwirkt. Alles das war für den jungen Seume noch echtes Zeiterleben. Aber eben deshalb ist seine Einbeziehung als Vorläufer des Jungen Deutschland geeignet, dessen rückwärtige geistig-weltanschauliche Bindungen mit der Aufklärung und dem Sturm und Drang (vgl. Georg Büchners „ L e n z " Novelle) am Einzelfalle besonders leicht zu veranschaulichen. Politisch steht er dem Jungen Deutschland wesentlich näher als etwa Wilhelm Heinse, dessen ästhetischer Immoralismus eher jene Sonderrichtung vorbereiten half, die für die Jungdeutschen über Prosper Enfantin und Saint-Simon wesentlich leichter zugänglich wurde. Von einem ästhetischen Immoralismus ist jedenfalls Seumes sozialrevolutionäres Eifern so weit entfernt wie möglich, da ihm Menschenwürde, Menschenwert und „Menschenmajestät" viel zu innig mit der Humanitätsidee verknüpft sind, als daß er sie einem individualistischen Schönheitsgenuß aufopfern könnte, wenn er auch gern einmal von der „jungen schönen Sünderin" und von Frauenschönheit spricht. Er schlägt sogar gelegentlich moralisierende Töne an, die jedem Aufklärer in der Nähe Gellerts Ehre gemacht haben würden, so etwa in dem kurzen Aufsatz ,,Von der Klugheit und Bedachisamkeit im Reden", wo gegenüber der „übertünchten Höflichkeit" doch auch das Recht des „äußeren Scheins" zur Geltung kommt, da nicht jeder Mensch wie Gott unmittelbar das Menschenherz erforschen könne, und der Satz sich findet: „ E i n Zotenreißer ist ein verächtlicher Mensch, der jeder gesitteten Gesellschaft Schande macht". Die Jungdeutschen waren in diesem Punkt zum mindesten teilweise recht labil,

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während Seume den sittlichen Ernst der Gesinnung bei aller Kampfeslust und Spottlust unbeirrt festhielt. Wie gegen alle Privilegien war er gleichfalls gegen dieses vermeintliche Privileg des Geistreichtums eingestellt. Auch jenseits des Moralischen stellt Seume den „Witz" nicht hoch, wie sein Aufsatz „Die Impertinenzen" klarstellt, in dem neben der „Impertinenz des Geldes" auch die „Impertinenz des Witzes" angegriffen wird; denn: „Nichts ist schneidender als der Witz aus dem Kopfe eines lieblosen Spötters". Allerdings macht hierbei Seume eine Einräumung zugunsten des „scharfsinnigen Kopfes", der sich „mit sarkastischen Lakonismen für feinere boshafte Mißhandlungen rächt, gegen welche das geschriebene Gesetz keine Züchtigung hat bestimmen können", also im wesentlichen zugunsten einer verfeinerten Form des politischen „Witzes". Dabei wird „Witz" schon im modernen, engeren Verstände (nicht im weiteren der Aufklärung) gebraucht; aber dahinter steht, vom Kunsttheoretischen her gesehen, die Auffassung des Komischen als einer Fähigkeit bzw. einem Verknüpfen „entfernter und auffallender Ähnlichkeiten", wie sie bereits den Aufklärern besonders seit Chr. Wolff vertraut war. Der kritisch abwehrenden Haltung gegenüber einer Überschätzung des Witzes entspricht es, wenn Seume an anderer Stelle, doch auch in den „Apokryphen" vom Witz als der „Krätze des Geistes" spricht, die zwar (nach Anschauung der Zeit) bei gewissen Krankheiten heilsam sein könne für einen widerstandsfähigen Körper und bei richtiger Behandlung, aber einen empfindlichen Körper auch „zerstören" kann: „So kann es der Seele mit dem Witze gehen". Wenn man Seume gerecht werden will, darf man diese Einsteilung nicht übergehen, nur um möglichst viel „Jungdeutsches" aus ihm herauszuholen. Was ihn aber wiederum als Vorläufer der Jungdeutschen erkennen läßt, ist sein Darstellungswille in der Ausbildung der subjektiv belebten, mit politischen Reflexionen durchflochtenen Reisebeschreibung. Die Sonderforschung hat mit Recht geltend gemacht, daß die freiheitlich gestimmte Reisebeschreibung an sich nicht ausreichen würde, um Seume von anderen Aufklärern (man könnte etwa an Hermes denken) abzuheben und als Vorläufer gerade der Jungdeutschen empfinden zu lassen. Wesentlich sei das Hinzutreten der politischen und Gegenwartskritik einerseits und die realistische Sehweise und Darstellungsart andererseits. In der Tat zeigt Seumes Reiseschilderung auf weite Strecken hin die Merkmale der Zeit- und Streitschrift. Und wenn

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sein politisches Eifern und sein Freiheitssinn den Anblick zerstörter Schlösser und Residenzen nicht romantisch verklärt, sondern mit Genugtuung begrüßt, dann ist er gar nicht einmal so weit entfernt von dem Losungswort „Krieg den Palästen" in Georg Büchners „Hessischem Landboten". In den 1806 und 1807 niedergeschriebenen „Apokryphen", die erst aus dem Nachlasse herauskamen, finden sich neben der Fülle der politischen Aphorismen auch einige — wenige — über die Kunst, die kaum etwas Seume Eigentümliches enthalten. Immerhin beachtet er trotz allen politischen Eiferns, daß die Kunst nicht einfach dem Vernünftigen dienstbar gemacht werden kann, auch nicht einfach der politischen Aufklärung, sondern auf jenes „Zwielicht" (der Ausdruck wiederholt sich) angewiesen bleibt, „wo die Vernunft an die Sinnlichkeit und die Sinnlichkeit an die Vernunft gränzt" (das könnte bis auf G. A. Baumgarten zurückgeführt werden); denn dort „ist der Mensch in seinem schönsten Spiele" (das könnte auf Schillers Spielbegriff zurückgehen). Dieses ästhetische „Spiel" bleibt jedoch im verpflichtenden Verbände mit der Humanitätsidee. Die reine Vernunft ist nicht mehr rein menschlich: „Stimmung für die Kunst und Genuß in derselben ist also der Stempel der Humanität". Selbst wenn in diesem Gebiet des Schönen das Sinnliche vorzuherrschen scheine, so darf sie doch nie vergessen, daß ihr die Vernunft diese Herrschaft nur vertrauensvoll „übertragen" habe: „und sie herrsche so, daß ihre Kommittentin die Vollmacht nicht zurücknimmt". Es ist nicht erforderlich, die Literaturphilosophie der Romantik zu Hilfe zu rufen, um diese Deutung zu erhellen. Der Keim liegt in den unklaren, aber deutlichen und lebhaften Empfindungen der sinnlichen, vollkommenen Rede Baumgartens (oratio sensitiva perfecta), also in Baumgartens Grunddefinition der Poesie. Es bedeutet keinen romantischen Mystizismus, wenn Seume sagt: „Das Zwielicht ist der Raum des Dichters und der Kunst überhaupt". Ob er noch Fr. Bouterwek zu Rate gezogen hat, läßt sich schwer feststellen; zeitlich wäre es immerhin möglich. Zu dem Jungen Deutschland, wie es etwa Wienbargs jugendlich begeisterter Schwung vertritt, fügt sich recht gut der Aphorismus: „Die Kunst lebt im Zwielicht der Vernunft und ist immer Jugendtochter des Geistes. So lange der Geist in der Kunst lebt, ist er jung". Der Gedanke an sich kann bis zum jungen Herder zurückverfolgt werden, und es mag sehr wohl ein Anteil Mahnung darin liegen.

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Wenn auch gewisse Versuche, Seume für die Romantik in Anspruch zu nehmen, als zum mindesten einseitig abzuwehren sind (wie es bereits von der Sonderforschung geschehen ist) und wenn auch manche kunsttheoretischen Wendungen eher auf Aufklärung und Klassik zurückverweisen, so wäre es doch eigenartig, wenn die machtvolle Bewegung der Romantik ganz ohne Einfluß auf Seume geblieben sein sollte. Die Weltanschauung und Lebensauffassung Seumes dagegen wirkt unromantisch und hat ihre Wurzeln in den hier andeutungsweise freigelegten früheren Schichten. Die teils aphoristisch-gedrängte Art der Jungdeutschen wird vorausgenommen in der Bewertung des Skizzenhaften durch Seume. Wenn er jedoch formuliert „mit einigen Worten ein seelenleitendes Gedicht zu geben, das macht den großen Künstler", wobei im Sinne einer wechselseitigen Erhellung der Künste auch ein Blick auf bildende Kunst und Musik fällt, wäre man vielleicht ebenso berechtigt, an die Wurzeln solcher Auffassung („seelenleitend" — „Lenkung des Gemüts" bei Sulzer u. a.) innerhalb der Kunsttheorie der Aufklärer, besonders der Auflockerer (Zwischenstufe zur Geniezeit) zu denken. Der Natur steht Seume bejahend, der Geschichte im ganzen sehr skeptisch gegenüber. Es überzeugt ihn nicht, wenn Grotius seine Beispiele aus der Geschichte als Beweise hinstellt, jeder „Schurke" sei geneigt, sich auf große und glänzende Vorbilder in der Geschichte zu berufen. Die Geschichte wirkt im Gesamt nicht vernünftig, und über viel „Licht und Kraft" in sich selber muß derjenige verfügen, der beim Studium der Geschichte nicht dem „Unsinn" verfallen will. Seume meint, die „Erziehung des Menschengeschlechts" liege noch sehr im Argen; die Franzosen hätten zwar einen verheißungsvollen Anlauf dazu unternommen (Revolution), „hörten aber bald auf". Er sieht die Erziehung des Menschengeschlechts, an deren Möglichkeit er trotz aller Skepsis gern glauben möchte, im wesentlichen unter politischem, nicht mehr unter aufklärerischpädagogischem Gesichtswinkel, darin wiederum den Jungdeutschen angenähert. Es bleibt im Grunde doch eben dieser politische Grundzug seiner Kunst- und Weltanschauung, der Seume als Vorläufer des „Jungen Deutschland" erscheinen läßt; denn wohl alle anderen Ähnlichkeiten lassen sich letzten Endes auf diese eine tragende Schicht, die sich auch als allein tragfähige Vergleichsbasis erweist, zurückführen. Während man für G. Forster die Wortschöpfung „Gemeingut" zu rühmen pflegt, bringt Seume

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den uns geläufiger gebliebenen,, Gemeinsinn'', beides Übertragungen aus dem Englischen. Der politischen Blickeinstellung folgt die Wertstufung der literarischen Leistung. Rousseaus „Contrat social", an dem er als fanatischer Privilegienhasser nur das Vorkommen des Wortes Privilegium bedauert, und Voltaires kleines Gedicht „La loi naturelle" sind für Seume „vielleicht das Größte, was die französische oder irgendeine andere Literatur hervorgebracht hat". Auch die Antike sieht er in Verbindung mit politischem Geschehen. Und aus der Überlieferung, daß Aischylos bei Marathon mitgekämpft habe, Euripides in Salamis am Tage der Schlacht geboren sein soll, folgert er die Größe jener Zeit, um den im Hinblick auf das Junge Deutschland bemerkenswerten Gedanken daran zu knüpfen: „Die Dichter machten nicht die Zeit, sondern die Zeit machte die Dichter". Ob zwar die Jungdeutschen sehr erfreut darüber gewesen wären, wenn man sie in diesem Betracht jener großen Epoche gleichsetzen würde, ist recht fraglich; denn sie wollten als Dichter und Schriftsteller die Zeit machen und nicht nur von ihr „gemacht" werden. Am ehesten ist wohl Heinrich Laube das selbstkritische Gefühl dafür aufgegangen, daß manches doch recht zeitbedingt blieb, was sie als zeitformend ansahen. Im übrigen scheint Seumo das Wieland-Bild der Antike gemäßer zu sein als das WinckelmannBild. Die Sonderforschung konnte mit Recht die Art, wie Seume Italien sah und erlebte, von dem Italienerlebnis Goethes scharf abheben und sie mehr an die Art heranrücken, wie etwa Ernst Moritz Arndt oder Elisabeth von der Recke Italien schilderten, wobei E. v. d. Recke stärkere religiöse Bindungen beweist. Seume führt ein laufendes Gefecht gegen alles Orthodoxe und alles, was ihm so vorkam. Und er scheute vollends die Vertiefung der Mystik. Novalis sei dem Mystizismus verfallen, Schiller habe in seiner „Braut von Messina" gleichsam „im Vorhofe" gestanden, jedoch mehr innere Widerstandskraft besessen als Novalis. Wenn ihn die Philosophie, so bekennt er einmal gegen Ende seines Lebens, „wie es den Anschein bekommt", zu Jakob Böhme führen sollte, so werde er „auf ihre Leitung Verzicht" leisten müssen. Aber daß es überhaupt zu diesem „Anschein" und dem damit verbundenen Eingeständnis, wenn auch nicht Einverständnis, kommen konnte, bestätigt wie mannigfache andere persönliche Bekundungen, daß Seume sich den religiösen Grundzug bewahrte und ihm mehr und mehr nachgab, ähnlich wie der nationale Grundzug bei aller re-

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volutionären Einstellung unverkennbar bis zuletzt sich durchsetzt, während G. Forsters labile Art darin wesentlich charakterschwächer reagierte beim Überschneiden von Parteigefühl und Nationalgefühl. Für Seume hat die Geschichte schon deshalb keinen großen Wert, weil sie bis dahin „noch keine Republik im bessern Sinne" hervorgebracht habe; und wir dürfen folgern, daß er der historischen Dichtung keine besondere Wertschätzung entgegengebracht hätte. „Die Geschichte kann nichts geben als die Tatsache"; die Zeitgeschichte jedoch fordere nur zum Satirenschreiben heraus: „Alles, was man sieht und hört, ist ja Satire. Wenn man Satire fühlt, muß man Satire schreien (sie: „schreien"!) . . . Es ist freilich traurig, Satiren zu schreiben". Was der Zeit fehlt, sei ein „politischer Luther". Wenn Seume von der großen Französischen Revolution meint: „Der Ertrag ist wenig mehr als origineller Stoff zu dem großen zyklischen Gedicht unserer Geschichte", so meinte er Geschichte, nicht historische Dichtung; vor ihm standen noch nicht Grabbes Revolutionsszenen aus dem „Napoleon"-Drama und Georg Büchners „Dantons Tod". Besonders seit den Befreiungskriegen, die Seume nicht mehr erlebte, war man an Tendenz, an Willensspornung durch das mitreißende Dichterwort gewöhnt. Nur daß sich dann unter dem Eindruck der Enttäuschung angesichts der erbitternden Fernhaltung von der erhofften Mitarbeit am Gemeinwohl die anschwellende Bewegung mehr und mehr nach der liberalen (Ludwig Börne), teils aber auch nach der Sozialrevolutionären Seite hin (Georg Büchner) verschärfte. Die Karlsbader Beschlüsse (1819) vermochten die von idealem Wollen getragene Strömung nicht abzudämmen, sondern gaben der Opposition nur neuen Antrieb. Daß fast auf das Jahr genau gleichzeitig die Schnelldruckpresse in Österreich erfunden wurde, wirkte wie eine bittere Ironie. Geistiger Rückschritt und technischer Fortschritt standen sich so, grell und aufreizend beleuchtet, grotesk gegenüber. Unter der Last der Reaktion und Restauration flüchtete man an sich wertbewußtes patriotisch-politisches Ersehnen und Erstreben hinüber in die vermeintlich unangreifbare Burg der Dichtkunst und hoffte, sie zur wirksamen Ausfallstellung mit weitreichendem geistigpolitischem Aktionsradius umbauen und ausbauen zu können. Das war keine Flucht in die Idylle wie bei E. Mörike oder der Droste, sondern durchweg ein Schachzug der politischen Taktik.

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Vorerst erschien die l i t e r a r i s c h e K r i t i k mit ihrer wertenden Aufgabe besonders geeignet und berufen zu sein, eine derartig gedeckte Ausfallstellung zu bieten, sowohl für Börne wie für den jüngeren Heine. L u d w i g B ö r n e (1786—1837) v o r allem wies den Weg und Umweg, wie man die rücksichtslos zupackende Zensur umgehen und die politische Tendenz in die Tagesschriftstellerei hineinschmuggeln und so mittelbar wirksam machen könnte. Bereits 1821 erläutert und empfiehlt er in einem Privatbriefe an Cotta diese zeitbedingte und zeiterzwungene Kampftaktik als journalistische Methode: „Erschiene z . B . eine neue Übersetzung des Calderon, so würde man auf die politischen Verhältnisse Spaniens auf dem Wege übergehen, indem man bespräche, wie die romantische Poesie mit absoluter Monarchie in Verbindung steht (Gegenstoß gegen die Romantik) und wie heutzutage kein Calderon in Spanien entstehen könnte". Und bereits damals nimmt er in der wesentlichen Stoßrichtung den programmatisch dann von L. Wienbarg ausgebildeten Grundsatz als Leitidee vorweg; „die Literatur mit dem Leben, d. h. die Ideen mit der wirklichen Welt zu verbinden" (an Cotta, 10. März 1821). Gleichzeitig wird das Abrücken von der Haltung der Romantik deutlich. Ihre vermeintliche — z . T . ja auch wirklich vorhandene — Lebensfremdheit mußte bedenklich stimmen. Denn Börne sah eine entscheidende und dringliche Aufgabe darin, die „Literatur mit dem Leben zu vermitteln", d. h. lebensnah zu machen. Aber darüber hinaus sollte die Dichtkunst und vorerst einmal die „ K u n s t k r i t i k z u m O r g a n d e r Z e i t k r i t i k " a k t i v i e r t werden, indem man sie mit inneren politischen Spannungen auflud. Für den engeren Bezirk der Theater- und Schauspielkritik spricht die Vorrede (entstd. 1829) zu Börnes „Dramaturgischen Blättern" diese Einstellung und dieses zielstrebige Abstellen des kritischen Urteils und Wollens unumwunden aus: „ I c h sah im Schauspiele das Spiegelbild des Lebens, und wenn mir das Bild nicht gefiel, schlug ich, und wenn es mich anwiderte, zerschlug ich den Spiegel". Aber natürlich sollte im Spiegelbild das Abgespiegelte selber getroffen werden. Die literarische Kritik sollte nicht kunstanschaulich vernichten, sondern weltanschaulich im Sinne einer bewußten Weltanschauungsästhetik. Es war denn auch nicht die dichterische, sondern die politischweltanschauliche Berufung, auf die Börne anspielte, wenn er mit dem propagandistischen Pathos des „Demagogen", aber nicht ohne

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patriotische Betonung ausrief: „Meine Nation hat mir ein heiliges Amt aufgetragen, das ich verrichte, so gut ich kann". Und in diesem tendenziösen Sinne der Tendenzprogrammatik ist es auch aufzufassen, wenn er bekennen zu dürfen glaubte: „Was ich geschrieben, wurde mir von meinem Herzen vorgesagt. Ich mußte". Doch bezog sich dieses für den Journalisten und Publizisten so anspruchsvoll klingende „Ich mußte" nicht auf das spontane Müssen einer schöpferischen Natur, sondern auf den durch persönliches Interesse verstärkten Drang politischer Gesinnungsäußerung. Einem ernsthaften Konflikt zwischen künstlerischem Müssen und politischem Wollen war der Zeitschriftsteller Börne schwerlich ausgesetzt. Diesen Konflikt hatte dagegen Heine durchzukämpfen, dessen künstlerischer Impuls sich nicht so ohne weiteres vom politischen Impuls überwältigen ließ, dessen ein wenig modische „Zerrissenheit" aber auch hier zur Unausgeglichenheit der beiden ihn vorwiegend beherrschenden und hin- und herzerrenden Gegenkräfte führen mußte, ganz anders als etwa bei Kleists prachtvoller Einheit von Dichter und Patrioten. Trotzdem bleibt erstaunlich, wie weitgehend Heinrich Heine in seinem Dichtertum einerseits und Schriftstellertum andererseits die Personalunion von Dichter und Publizisten zu verwirklichen wußte. Strenger, aber auch enger als Heine vertritt vor ihm Ludwig Börne den Primat der Prosa, schon dadurch ständig an die Aufklärung erinnernd. Aber dieser Primat der Prosa steht bei ihm einer Prävalenz des Prosaischen sehr nahe. Denn im Rahmen und Raum (oder Vorraum) des Jungen Deutschland war Börne im Grunde eine ebenso prosaische und amusische Natur, wie es Friedrich Nicolai im Raum der Aufklärung gewesen war. Er kennt auch in Kunstsachen nur e i n e n Maßstab, den des resoluten und radikalen Liberalismus, der nur in seiner Pariser Zeit sich ausweitet zu einer Art von Vor-Sozialismus. Börnes gesamtes Verständnis für die Poesie war bestimmt und begrenzt von seiner Auffassung der Politik. Eben deshalb konnte sein Liebeshaß gegen Goethe nur dessen „Götz von Berlichingen", „Werther" und „Egmont" gelten lassen, wie Jeanette Wohl bestätigt hat. Ebenso steht es mit seinem Schillerbilde. Wo Schiller fortschrittlich war oder Börne so vorkommt, etwa im „Don Carlos", da findet er Gnade vor seinen Augen, die indessen am , .Wilhelm Teil" schon wieder das Philiströse rügen. Denn im ideelichen Kern bleibt Teil für Börne eben doch ein „großer Philister". Börne verfällt nicht

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dem vernichtenden Maßstab W . Menzels, aber er verharrt bei dem Kriterium einer liberalen Kritik. Nicht die Kunst, sondern deren Kritik unter z . T . amusischen Kriterien bleibt ihm das Wesentliche und Wichtige. E r scheut sich nicht, immer wieder den Charakter des Menschlichen, auch Allzumenschlichen gegen die K r a f t des Künstlerischen auszuspielen. Er meint die Kultur (fast schon im Sinne heutiger Gleichsetzung mit Zivilisation), wo er von der Kunst spricht. Und das Gesetz der Poesie endet bei ihm in der Geltung der Gesinnung. Während er der Form gerecht zu werden meint, deutet er doch immer nur — oder vorzugsweise — den Inhalt. Die Kunst bleibt ihm nur Gelegenheitsmacherin für die Kultur, sie ist letztlich nur Material und Gegenstand unserer Pflichterfüllung, nicht Macht und Eigenmacht mit Eigenrecht. Das letztlich a u f k l ä r e r i s c h e I d e a l d e r K r i t i k erweist sich als stärker gegenüber dem letztlich romantischen Ideal der Kunst. Börne urteilt über Poesie und meint Politik. E r urteilt mit Hilfe der Politik nur deshalb so überlegen, weil seinem Urteil die Poesie so weitgehend entzogen ist. Er urteilt über Goethe und Schiller so unbefangen, weil er so ganz im Vorurteil politischer Bewertung gefangen ist. Börne glaubt Aufklärer zu sein. Aber ihm fehlt der Sinn dafür, daß die Bekämpfung des Vorurteils den besten der möglichen Wege in die beste der möglichen Welten nur dann wirksam öffnet, wenn sie sich auch und vor allem auf die eigenen Vorurteile erstreckt. Liest man die ,.Briefe aus Paris" (1831), in denen die Freiheitsidee, die Beobachtung der gesellschaftlichen Zustände, das betonte Nationalgefühl und der Kampf gegen die Zensur vorherrschen, so stößt man ζ. B. im 24. Brief auf Reflexe der Lektüre von Diderots Briefen. Menzel hätte sicherlich schon aus moralischen Gründen die Briefe Diderots verurteilt. Börne dagegen hält die Schilderung des Unsittlichen dort für berechtigt, wo sie dazu dient, die Schäden der Zeit bloßzulegen und kritisch bloßzustellen. Überhaupt gilt ihm die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als Vorkämpferin für die Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Das Anknüpfen des Jungen Deutschland und seines geistigen Vorkämpfers Börne an die Aufklärung wird in solchen Fällen eindeutig sichtbar. Zugleich erinnert diese Beschäftigung Börnes mit den Briefen Diderots daran, daß auch die Vorliebe für die aufgelockert belebte Briefform beiden Epochen gemeinsam ist. Rein persönlich gesehen, handelte es sich bei den „Briefen aus Paris"

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ja ursprünglich um Privatbriefe an Jeanette Wohl, die etwas umgeformt wurden und rasch die Lücke im achten Bande der damals herauskommenden Werke Börnes auszufüllen bestimmt waren. Aber Jeanette Wohl war gut beraten, als sie selber dieses Verfahren vorschlug. Und es zeugt von ihrem klugen Urteil, wenn sie die Brief-Gattung als Literaturspezialität empfiehlt. Sie weist auf eben jene „Briefe eines Verstorbenen" des Fürsten PücklerMuskau hin, an denen dann Herwegh ein Jahrzehnt später seinen Gegentitel „Gedichte eines Lebendigen" entzündet. Und sie meint, die Briefform sei die „beliebteste und passendste für die rasche Zeit". Damit berührt sie eine Abstufung gegenüber den Ursachen der „Brief-Bevorzugung innerhalb der Aufklärung. Das „Rasche" spielte in der Aufklärung noch nicht die Rolle wie in der Zeit ein Jahrzehnt nach Erfindung der Schnelldruckpresse. Aber die Zensur drohte zu drosseln, was die Technik entwickelt hatte. Börne hat ständig ein wachsames Auge auf diese Probleme gerichtet. Er knüpft an das Verbot einer Zeitung den Trost, daß die Zensur auch etwas Gutes wirke. Sie beseitige nämlich die Ventile oder, wie Börne sagt, die „Blitzableiter", so daß sich die Spannung der Meinungen um so mehr staut. Er registriert den Rücktritt des bekannten Hohenstaufen-Historikers Friedrich von Raumer von seinem Amt in der Zensurbehörde, kann als Motiv aber nur verletzte Eitelkeit, nicht Freiheitssinn erkennen. Börnes Nationalgefühl äußert sich bei dem Bericht über das Auftreten der deutschen Schauspielerin Schröder-Devrient in einer sonst mit der gefeierten französischen Schauspielerin Malibran besetzten Rolle (Desdemona in „Othello") oder dem Bericht über die Aufführung der Oper Aubers „Der Gott und die Bajadere". Börne ärgert sich dermaßen über das oberflächliche Libretto von Scribe, daß er ganz seine hier eigentlich wieder fällige Polemik gegen Goethe vergißt oder doch — wohl aus nationalen Gründen — zurückstellt: die Veroberflächlichung durch den Franzosen wird angeprangert. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß in Goethes Ballade vom Humanen her ein Stück Soziales im Keim bereitlag, das Börne sich liberalistisch umdeuten konnte (vgl. das schon erwähnte Ausnehmen von „Götz", „Werther" und z.T. auch „Egmont" von seiner Goethe-Polemik). Als aufheiterndes Kuriosum aus dem damaligen Pariser Theaterbetrieb sei mitgeteilt, daß Börne mit Entrüstung verzeichnet, wie die Franzosen es fertiggebracht hätten, mit recht flauer Motivierung aus der Bajadere

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eine stumme (nicht singende) Rolle zu machen — in Wirklichkeit nur deshalb, damit die damals berühmte Tänzerin (und NichtSängerin) Taglioni die Rolle verkörpern könne. Ohne die Parallele mit der Aufklärung zu pressen: das erinnert lebhaft an das Vorgehen Gottscheds, der in Racines „Iphigenie" aus einer königlichen Kammerfrau stracks einen „Hauptmann der Wache" machte, weil Frauenrollen damals noch schwer zu besetzen waren! Gottsched hatte also —• theatergeschichtlich gesehen — immerhin das bessere Motiv auf seiner Seite. Aber irgendwie erging es dort dem französischen Dichter in deutscher „Bearbeitung" Gottscheds ähnlich wie hier dem deutschen Dichter in französischer „Bearbeitung" Scribes. Uberhaupt bevorzugt der Kritiker Börne merklich die Oper und im übrigen künstlerisch teilweise minderwertige Theaterprodukte, wie sie oft das Ablesen kultureller und stilgeschichtlicher Verhältnisse und das Anknüpfen der politischen oder doch kulturpolitischen Tendenz erleichtern. Paganinis Konzerte geben ihm Gelegenheit zu wirtschaftlich-kritischen Betrachtungen. Die Lektüre der Memoiren Byrons veranlaßt ihn zu Bemerkungen über die Relativität der Ehe. Kurz: Börne will von der Kunst immer nur das Kulturelle oder Politische sehen. Aber: er kann es auch nur. Eben deshalb war er als Paradigma für die politisch gefärbte Kunstkritik besonders geeignet. Heine sah gleichsam schon viel zu künstlerisch. (Übrigens ist Börne eine Ähnlichkeit zwischen Heinrich Heine und Alfred de Musset aufgefallen.) Manche Briefe nehmen Abhandlungscharakter an. Der 65. Brief beginnt sogleich mit dem Themawort „Saint-Simonisten" und hält es bis zum Schluß fest. Dieser berühmte Brief ist aber weltanschaulich weit erheblicher als kunstanschaulich, und gar für die Poetik fällt nichts (oder doch kaum etwas) ab. Vorerst verteidigt Börne noch das Moment individueller Begabung, auch wo es noch nicht an der Leistung abzuschätzen ist, ebenso die Institution der Ehe, während er gegen das Prinzip der Gütergemeinschaft Einwände geltend macht. Der Aufhebung des Geburtsvorrechts stimmt er natürlich zu — der Frauenemanzipation dagegen ist er abhold. Aber damit schwenkt Börne bereits in rein politisches Gebiet ab, das hier nur randweise berührt werden kann. H e i n r i c h H e i n e (1797—1856) gerät, seitdem er der Einflußsphäre A. W. Schlegels entwachsen ist, in jenen Zwiespalt von schön und gut, von ästhetischem Ideal und politischem Ideal, in

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jene Zweischichtigkeit von künstlerischer Aristokratie und weltanschaulichem Liberalismus, die zu fortgesetzten Verwerfungen und Brüchen auch in seiner Kunstanschauung zwangsläufig führen mußte. Das Urteilskriterium seiner kritischen Äußerungen wird bald vom ästhetischen, bald vom politisch-liberalen, zuletzt teilweise schon vom sozialistischen Wertungsniveau bezogen. Zeitweise schien sich der weltanschauliche Aktivismus unter Abdrängung der ästhetischen Strömung energisch durchsetzen zu wollen. Aber dann erhielt die nie ganz versiegte Unterströmung wieder richtunggebende Kraft. Anfang der zwanziger Jahre stößt der aktivistische Wille zum Reformieren gelegentlich vor zu einem jugendlich überschwänglichen, im Ziel ungeklärten, aber impulsiv kräftigen Willensidealismus des Gut-Handeln-Wollens, zum Gefühle, wieviel schwerer, aber auch verdienstvoller und wesentlicher gut Handeln sei als poetisch Träumen. Das erscheint als würdige Hauptaufgabe, angesichts derer er sich selbst bekehren und belehren möchte: „Die Poesie ist am Ende doch nur eine schöne Nebensache" (Briefe). Die Verehrung für den Künstler Goethe nimmt doch unverhohlen ethischen Anstoß an Goethes vermeintlichem Persönlichkeitsegoismus. Begeisterungs- und Opferwille für eine Idee drängt willig und sehnsüchtig auf. Ernüchternd greift Skeptizismus hindurch. Aber der lebensnahe Willensidealismus der Frühzeit findet Nahrung an revolutionärer oder doch liberal-reformistischer Gesinnung, findet Stützung auch in der Zeitstimmung. Dem Kämpferischen genügt nicht mehr das ästhetisch Kontemplative: „eine neue Zeit mit einem neuen Prinzip steigt auf", der die beherrschende, jedoch einseitige „Kunstidee" der Goethezeit weichen muß. Hemmende Elemente gegenüber dem an sich gefühlten und zum Teil geforderten Neuen greifen jedoch gleichzeitig ein. Im Gang mit Platen wiederum verstärkt sich das Bewußtsein, daß der „Xenienkampf" Goethes und Schillers nur aus einer ausgesprochenen „Kunstperiode" erwuchs, also auch bestenfalls die Lebensillusion betreffen und treffen konnte; indessen „jetzt gilt es die Höchstinteressen des Lebens selbst; die Revolution tritt in die Literatur, und der Krieg wird ernster". Einzelkritiken ordnen den weltanschaulich-politischen Standpunkt dem zweckbefreit ästhetischen über. Aber die Enttäuschung nicht nur des Politikers, sondern auch des Künstlers, das Sich-Abgestoßen-fühlen durch die kunstwerk11

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gefährdende Vordringlichkeit der Tendenz, das Kokettieren mit aristokratischer Geistigkeit, das tiefere Ringen um souveränes Künstlertum, das Abgeschrecktwerden durch demokratische Gleichmacherei im Bereiche außerordentlicher Individualleistungen: alle diese Kräfte scheinen dennoch den Rückzug in die ästhetische Welt zu erzwingen als eine erschreckte Flucht vor dem Absinken in Mittelwertigkeit und Minderwertigkeit. Derselbe Heine und doch ein anderer, der im vereinzelten Vorstoß bereits 1820 am Schlüsse des Aufsatzes „Die Romantik" (im RheinischWestfälischen Anzeiger) etwas forciert die Befreiung Deutschlands von „Pfaffe" und „adligem Herrscherling" gefeiert, der gefordert hatte: „und deshalb soll auch die deutsche Muse wieder ein freies, blühendes, unaffektiertes, ehrlich-deutsches Mädchen sein und kein schmachtendes Nönnchen und kein ahnenstolzes Ritterfräulein", der noch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre eine Verschmelzung von politischen und ästhetischen Kriterien durchzusetzen sucht, kommt dennoch zu der Erkenntnis, daß in „einer vorwiegend politischen Zeit . . . selten ein reines Kunstwerk entstehen" werde, ja, zu der schärferen Prägung: „So wie die Demokratie zur Herrschaft gelangt, hat alle Poesie ein Ende. Der Übergang zu diesem ist die Tendenzpoesie". Heine, der Dichter, wehrt sich dagegen, daß der „Parnaß . . . nivelliert" werde, Heine, der Stilist, wehrt sich dagegen, eine „Freiheit und Gleichheit des Stils" auf geistig demokratischer Grundlage herbeigeführt zu sehen, wobei schließlich niemand den anderen „stilistisch überragen" dürfte (a. a. 0.). An Hegel könnte die hohe Bedeutung erinnern, die Heine der Phantasie beim Schaffensvorgang zuerkennt. Dem ordnenden und die künstlerische Produktion überwachenden Verstände fällt die Funktion der Auslese und der Stutzung allzu üppiger Phantasieranken zu: „Die Idee des Kunstwerkes steigt aus dem Gemüte (vgl. den Begriff ,Gemüt' in der Romantik), und dieses verlangt bei der Phantasie die verwirklichende Hilfe. — Der Verstand übt nur Ordnung, sozusagen die Polizei im Reiche der Kunst". Heines ausgeprägte Genieverehrung fordert induktiv-empirisches Vorgehen bei der Würdigung genialer Schöpfungen. Erstaunlich klar wird der Faktor des künstlerischen Ausdruckswillens einbezogen. Heine läßt gegenüber dem Genie keine sogenannte Soll-Ästhetik bestehen. Die Kunstleistung ist nur am Kunstwollen zu messen und nur von da aus in ihrer Reichweite zu ermessen. Bis hin zu

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Otto zur Linde im ,,Charon"-Kreis und darüber hinaus läßt sich diese Forderung der Werteinstufung aus der jeweiligen Darstellungsabsicht verfolgen. Genie und Talent unterscheiden sich durch die Art ihrer Schaffensweise und ihr Verhalten zur Natur bzw. Naturnachahmung. Das Talent nämlich „bildet die Natur nach und schafft analytisch, was das Genie synthetisch schafft". Im Verhältnis zur Natur ist das Genie nicht auf ein nur talentiertes Nachbilden der Natur angewiesen. Vielmehr trägt es von vornherein „im Geiste ein Abbild der Natur" in sich als Bereitschaft, um dann, angeregt und „erinnert" durch die Naturwirklichkeit, jenes „Abbild" aus immanenter Gesetzlichkeit heraus zu gebären. Damit wird bereits das P r o b l e m der N a t u r n a c h a h m u n g berührt. Heines sinnenfreudige, „plastische" Anlage läßt ihn nicht verschlossen bleiben gegenüber gewissen Vorzügen realistischer Lebensnähe. Die klassizistische Ängstlichkeit und romantische „Lebensferne" werden keineswegs starr aufrechterhalten. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß z.B. auch Hegel die Wirklichkeitsanschauung empfiehlt, also vorbereitend den Boden gelockert hatte. Überdies erklären Heines hohes Gestaltungsvermögen gerade auch in der Prosa und sein waches Beobachten entsprechender Zeitstrebungen sein Verständnis für das Anrecht und den dichterischen Wert auch der ungebundenen Rede. Sein Wahrheitsbemühen, ζ. T. eng verbunden mit seinem Ringen um Schönheitswerte, hilft diese Faktoren verstärken: „Seit einiger Zeit sträubt sich etwas in mir gegen alle gebundene Rede, und, wie ich höre, regt sich bei manchen Zeitgenossen eine ähnliche Abneigung. Es will mich bedünken, als sei in schönen Versen allzuviel gelogen worden, und die Wahrheit scheue sich, in metrischen Gewanden zu erscheinen". Dennoch war das Erbe der Klassik und vor allem der Romantik zu lebendig wirksam in Heine, sein eigenes Empfinden für das spezifisch Dichterische, Formschöne und Durchschnittsüberlegene zu kraftvoll ausgebildet, als daß er vorerst rückhaltlos dem Realismus oder gar einem Naturalismus hätte zustimmen können. Die Kunst als eine „Nachahmung der Natur" zu betrachten, erklärt er als „irrige Ansicht" und bekennt sich mit persönlichem Hervortreten zum ästhetischen und idealen Prinzip: „In der Kunst bin ich Supernaturalist. Ich glaube, daß der Künstler nicht alle seine Typen in der Natur auffinden kann, sondern daß ihm die bedeutendsten Typen als eingeborene Sym11·

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bolik eingeborener Ideen gleichsam in der Seele geoffenbart werden" (Annäherung an Schiller, vgl. Band II). Mit Recht indessen stellt schon die Sonderforschung klar, daß man Heines Stellungnahme als Ganzes nicht auf diese bekannte Formulierung festlegen dürfe. Daß —· in der oben angedeuteten Richtung — Modifikationen nachweisbar sind, die Beachtung verdienen gerade auf dem Wege, den die Gesamtentwicklung zum Realismus einschlagen sollte. Einige kühne Schritte hat schon Heine getan; aber eine wirklich vorwärtstreibende Stoßkraft stand nicht hinter ihnen. Heine bleibt auch innerhalb seiner Kunsttheorie und Dichtungsdeutung stark der Klassik und Romantik verpflichtet. Die an sich resoluten Einbrüche politischen Interesses vermochten wohl vorübergehend, nicht aber endgültig die stabile Schicht ästhetischer Formfreude, romantischen Aufschwungs über den Alltag und idealer Sehnsucht bei aller Verbitterung über das Unzulängliche der Wirklichkeit und bei allem Instinkt für die Möglichkeit sich ankündigender Veränderungen zu durchstoßen. Im Reiche des Kunstschaffens und der Kunstdeutung klammert sich Heine an den Idealismus, wenn es auch schließlich ein mehr und mehr enttäuschter Idealismus sein mochte. Seine Sicherheit hinsichtlich der Wesensbestimmung und Aufgabenbezirkung der Kunst ist bei alledem Schwankungen ausgesetzt, wie die veränderten Fassungen einer Stelle aus der ,.Romantischen Schule" (1836) hinlänglich beweisen. Denn einmal (1. Fassung) stimmt Heine „ganz überein" mit der Wertung der Kunst als erhöhter Eigenwelt im Goetheschen Sinne, um dann einlenkend und einschränkend zu erklären, daß er dieser idealisierenden Vorstellung ,,nicht unbedingt" folgen könne. Man gewinnt den Eindruck, daß Heine neue (realistische) Möglichkeiten kunstverstandesmäßig erkennt, ohne sie gefühlsmäßig warm anerkennen zu mögen. Gerade auch seine theoretischen Äußerungen über die Lyrik, an sich weniger zahlreich, als man bei Heine annehmen möchte, verraten ein zwiespältiges, unentschiedenes Verhältnis zum Realismus. Er fühlt sich nicht ohne leise Wehmut und nicht ohne heimlichen Stolz zugleich als ein „Kind der Vergangenheit". Und selbst noch in die Bitterkeit, daß jede Kunst schließlich doch nichts weiter sei als „blauer Dunst", rettet sich ein Stück Phantasiefreiheitsgefühl hinüber. Teilweise auch sucht der scharfe Intellekt eine Entspannung der Enttäuschung in Satire und Witz. Längst nicht überall, ja höchst ver-

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einzelt nur glückt seinem eigenen Kunstschaffen jener Typus des „Witzes", der seiner kunsttheoretischen Deutung und Zielprägung als die wertvollste und erstrebenswerte Form erscheint. Das „Ewig-Lächerliche", das „Lächerliche" in seiner Urform, das überindividuell und überzeitlich „Lächerliche" reiner Menschlichkeit (Humor) gilt ihm als die Höhenleistung der genialen Komik, hinter der stets tiefergreifender Ernst zu stehen habe. Witz muß mehr sein als ein bloßes „Niesen des Verstandes". Hier freilich geraten Heines Kunsttheorie und seine Kunstpraxis beträchtlich auseinander und gegeneinander. Während manche der Jungdeutschen im engeren Sinne, so etwa Gutzkow, die F o r m p f l e g e hinter die Inhaltswertung zurücktreten ließen, während Laube erst allmählich Einsicht in die Formgeltung gewann, mahnt schon der jüngere Heine zum gewissenhaften und selbstkritischen Überwachen der Gestaltgebung: „Sei streng gegen Dich selbst; das ist des Künstlers erstes Gebot". Gewiß ist seine gelegentliche Prägung: „In der Kunst ist die Form alles, der Stoff gilt nichts" einseitig überspitzt aus der Abwehrstellung gegen übertriebene Inhaltsbewertung heraus, wie sie im zeitgenössischen tendenziösen Schaffen hervortrat. Doch hält er in seinem Kunstwollen wie in seinem Kunstschaffen die Anschauung durchweg fest, daß das Stoffliche bloße Voraussetzung sei und seine Aufwertung erst „durch künstlerische Gestaltung" erhalte. Die konstruktive Funktion des ordnenden, disponierenden Verstandes bürgt erst für volle Auswirkung künstlerischer Fähigkeiten. Interessant erscheint im Bereiche der Formpflege sein Bemühen um eine Verinnerlichung der metrischen Formen. Der Gegner Platenschen Versvirtuosentums warnt vor einer Uberschätzung der metrischen Maße als bloßer äußerer Formmittel (erneutes Vorausweisen auf Otto zur Linde). Obgleich er selbst in seinen kritischen Äußerungen — so etwa Immermann gegenüber — empfindliches Feingefühl für guten bzw. schlechten Versbau zeigt. Aber Beherrschung der metrischen Formen sollte kunsthandwerkliche Voraussetzung sein, nicht aber Ziel. Heine ringt darüber hinaus um eine Erlösung des Musikalischen und Rhythmischen, ohne zwar schon den Weg zum freien Rhythmus als gangbaren Ausweg zu empfehlen. Er selbst ist zu versgewandt und reimfreudig, um das drängende Bedürfnis nach metrischer Fesselsprengung zu empfinden und theoretisch zu vertreten. Aber die schöpferische Pause der Cäsur, dieses „geheime Atemholen der Muse" und ihre

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künstlerischen Wirkungsmöglichkeiten, die musikalische Instrumentation durch den Reimklang, auch durch den freieren, gewagteren Reimklang deuten bereits leicht auf Rhythmik hin. Vor allem aber doch die Einsicht oder das Nachfühlen, daß hochwertige Metrik vom Herzschlag bestimmt und eingestimmt sein, daß sie auf seelische Schwingungen zurückgehen müsse. Heines vielfach von der jeweiligen kritischen Urteilshaltung abhängige und überdies durch seine individuelle Entwicklung gewandelte Einstellung zu den D i c h t g a t t u n g e n bietet nur wenig neue Gesichtspunkte. Zeitweise und überwiegend orientiert er seine Gattungsvorstellungen an hervorragenden Mustern des Kunstschaffens. So etwa wird von Cervantes die vorbildliche Romanform abgeleitet, während Walter von der Vogelweide und Goethe Urbilder der Lyrik darstellen. Die Lyrik, die gelegentlich einer früheren genetisch-historischen Erläuterung der Gattungen als Urform der Dichtung schlechtweg in Anspruch genommen worden war, verewigt formfindend die „Sehnsucht des isolierten Geistes nach Verschmelzung mit der Erscheinungswelt". Verworfen wird die „sentimentale" Lyrik, während die Schätzung der volksnahen Lyrik entwicklungsmäßigen Abwandlungen unterworfen bleibt, und zwar in der Weise, daß Heine bald stärker, bald weniger entschieden für das Volkslied eintritt. Ein sklavisches Kopieren älterer Volksliedformen lehnt er ab; empfiehlt aber eine erneuernde Umwertung der naiven Kräfte einer frischen Ursprünglichkeit. Die Lyrik erscheint ihm —• abgesehen von zeitbedingter und weltanschaulich bestimmter Annäherung an revolutionäre Einbrüche — im ganzen doch als besonders wenig tragfähig für eine Belastung durch die Tendenz, so daß auch von dieser Seite her der Weg zur Prosa als zeitgegeben ins Auge gefaßt wird. Diese Blickrichtung entspricht durchaus der Zielsetzung der Jungdeutschen. Aber es ist verständlich, daß der berühmte Dichter des „Buches der Lieder" in der dritten Auflage (1839) wohl doch kaum begeistert zugesteht, daß jetzt die Lyrik eine „weit ernstere" Aufgabe erfüllen müsse. Sein Instinkt als Lyriker mißtraute der einseitig politischen Verwendbarkeit der Lyrik. Übergangsformen zur Epik hin sieht er in der Romanze und Elegie, teilweise auch im Roman. Das Drama deutet er nicht wie Hegel u. a. als Synthese, sondern als eigenlebige Sonderform. Das Kräftespiel zwischen politisch-weltanschaulicher und ästhetisch-künstlerischer Komponente führte bei Heine zu keinem

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klaren Endsieg. Er sah zu deutlich den Eingriff der Zeitbestrebungen auch in die Kunst, so etwa den Einfluß der französischen Revolutionsbewegung auf die Malerei (Nachtrag zu den „ F r a n z ö s i s c h e n M a l e r n " , 1833). Aber wenn er es einst im „Morgenblatt" (April 1828) begrüßt hatte in seiner Rezension über Michael Beers „Struensee"-Drama, daß für Beer der Gott der Freiheit mit Recht höher stehe als der ,,große Apollo", so sieht er doch schon in derselben Rezension die Würde des Dichters durch die tendenziöse Haltung gefährdet, die eine überlegene und erlösende Weihe ausschließen muß. Und wenn er einst bei der Besprechung von Menzels „Deutscher Literatur" noch mit Menzel den „Triumph des Liberalismus" in der Dichtkunst gefeiert hatte, so konnte sich schließlich doch der Künstler in ihm nicht der Beeinträchtigung ästhetischer Geistesaristokratie durch politische Demokratie verschließen. Ja, Heine greift Gutzkow gegenüber (Brief vom 23. August 1838) auf K. Ph. Moritz' Lehre vom Selbstzweck der Kunst zurück, was H. Kleinmayr nicht zufällig betont, wenn auch merklich von dieser Seite her der Hegeische Einfluß als angeblich positiv im Jungen Deutschland sich auswirkende Kraft überschätzt worden sein dürfte. Die hier vertretene Auffassung, die das K u n s t w o l l e n mit Absicht stark herausarbeitet, um die Poetik nicht in Regelschematismus, ästhetischem Dogma, Kanon, Kunstgriff, kunsttheoretischen Begriffen, Definitionen usw. erstarren zu lassen, kann schlechterdings nicht übersehen und also auch in der Darstellung nicht übergehen, daß H. Heine im „Salon" unter den allgemeinen Betrachtungen auch eine zudem nachdrücklich betonte über den Wert und die B e w e r t u n g des K u n s t w o l l e n s gegenüber dem Kunstsollen eingeflochten hat. Er geht dabei von der Situation und Funktion des Kunstkritikers aus: „Der große Irrtum besteht immer darin, daß der Kritiker die Frage aufwirft: was soll der Künstler? V i e l r i c h t i g e r w ä r e die F r a g e : w a s w i l l der K ü n s t l e r oder gar: was muß der Künstler?" Das „muß" betont das Spontane, nicht verstandesmäßig oder kunstverstandesmäßig gelenkte Triebhafte des Kunstwollens etwa im Sinne von Schopenhauers Urwillen. Ebendort, in der Mitte etwa zwischen bewußter Darstellungsabsicht und unbewußtem, dranghaft spontanem Urwillen ist der in dieser Darstellung oft verwendete Terminus: Kunstwollen angesiedelt. Heine wird noch deutlicher, indem er im Kunstwollen den allein angemessenen und gerechten

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Maßstab für die Bewertung der Kunstleistung erkennt und anerkennt: „ J e d e r G e n i u s m u ß s t u d i e r t u n d n u r (!) n a c h d e m b e u r t e i l t w e r d e n , w a s er s e l b s t w i l l " . Selten ist bündiger und präziser der kritische Grundsatz ausgesprochen worden, der auch diese Darstellung der Poetik weitgehend beherrscht. Für Nachahmer, so meint Heine, können jene normativen Gesetze und Regeln notfalls gelten. Dagegen muß „jeder Originalkünstler und gar jedes neue Kunstgenie nach s e i n e r e i g e n e n m i t g e b r a c h t e n Ä s t h e t i k beurteilt werden". Zugleich berührt Heine mit dieser Ermahnung, die für den Kunstkritiker Heine gewiß eine verantwortungsbewußte Selbstermahnung bedeutet und bekundet, das Verhältnis von Kritik und Poetik. Schon um 1742 begegnete die Meinung, daß jede verläßliche Kritik der sichernden Grundlage der Poetik bedürfe (Ansatz etwa ein Jahrhundert vorher bei C. F. Brämer, vgl. Band II), wenn sie nicht einer letzten Endes subjektiven Geschmackswillkür ausgesetzt bleiben will. Aber wiederum — und das wurde damals noch nicht voll erfaßt — darf diese Poetik keine Dogmen setzende Vorschriftspoetik in der Nähe zur Anweisungspoetik (vgl. Band I) bleiben, sondern muß sich der Einfühlungskritik nach Maßgabe des jeweils vorherrschenden Kunstwollens anpassen und anverwandeln. Der Blick auf den ,,Salon" legt es nahe, einmal kurz das V e r h ä l t n i s v o n D i c h t k u n s t u n d M a l e r e i zu streifen, wie es sich in Heines Kunstkritik spiegelt. Heines Interpretationen von Bildkunstwerken liegen auf der Entwicklungslinie zwischen Maler Müllers Düsseldorfer Kunstberichten und Eduard Mörikes zeitnäheren brieflichen Deutungen der Illustrationskunst eines Moritz von Schwind. Der Stürmer und Dränger Joh. Fr. Müller rangiert als Maler-Dichter nicht zufällig unter dem Namen Maler Müller. Und selbst Eduard Mörike hatte gewisse malerische Ambitionen. Das fällt bei Heine fort. E r behilft sich merklich mit Transponierungen in das Poetische. Er wagt seine Streifzüge in das letztlich fremde Gebiet mit Vorliebe von dem Bezirk aus, in dem er sich zu Hause fühlte. Da fesselt ihn z . B . das Motiv Faust-Gretchen bei A r y Scheffer oder das Motiv Judith-Holofernes bei Horace Vernet, der noch Fr. Hebbel beeindruckte, oder desselben Künstlers Camille Desmoulins, der etwa zeitparallel in Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons T o d " eine Rolle spielt. Und auch in den Einzelheiten verleugnet er nicht den Poesieverständigen,

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der dem Kunstverständigen aushelfen muß. Vom Gretchen A. Scheffers z.B. heißt es echt heinesch: „Sie ist zwar Wolfgang Goethes Gretchen, aber sie hat den ganzen Fr. Schiller gelesen, und sie ist viel mehr sentimental (sentimentalisch ?) als naiv". Und ob er nun die Theorie der Grazie aus der Rokoko-Poetik gekannt hat oder selber darauf gekommen ist, jedenfalls weiß er: „die Grazie besteht in der Bewegung" (vgl. Band II). Und zwangsläufig berührt er sich bei allem Wesensabstand mit dem Dichterkollegen Eduard Mörike, wenn er feststellt: „man findet die Behandlung des Ganzen sehr poetisch". Selbst die Unterscheidung von Historienmalerei, deren kirchlichen Ursprung in den biblischen Geschichten Heine nicht übergeht, und Genre-Malerei, die angesichts der Niederländer den Realisten in ihm anspricht, verweist doch wieder auf eine ähnliche Problematik der Grenzbestimmung in der Poesie. Doch mögen diese Stichproben genügen. Sogar die Frage der Bekleidung ist längst vor Albrecht Schaeffer, der sich ebenfalls mit der Schneiderkunst herumschlägt, Heine nicht entgangen. In der Briefreihe „Über die französische Bühne" (1837) in der von August Lewald herausgegebenen „Allgemeinen TheaterRevue" (gekürzt übernommen vom „Salon" 1840) ist weniger von Schauspielkunst die Rede, als man annehmen möchte. Zwar wird einiges über das temperamentvolle Spiel der Franzosen gesagt, was Vergleichsblicke auf R. Wagners Pariser Theatereindrücke nahelegt, es wird — indessen kritisch — an das „brüler les planches", also das in Flammensetzen der Bühnenbretter aus der Theaterfachsprache erinnert, es wird der Komiker Etienne Arnal erwähnt und rückgreifend der große Talma. Ein Drama, in dem Alexander Dumas nach Art des Künstlerdramas Edmund Kean zur Zentralgestalt gewählt hatte, verweist auf den gerade verstorbenen großen englischen Schauspieler, der von dem damals gefeierten französischen Schauspieler Frederic Lemaitre verkörpert wurde. Der Stil der Darstellung sei von jenem „Ifflandianismus" verdorben, der in Deutschland einst von Weimar aus überwunden worden war. Teilweise mache sich ein platter „Naturalismus" in der Spielweise (über die dann der siebente Brief Ergänzungen bringt) breit, teils übersteigere sich ein hohles Epigonentum zu vermeintlicher Klassik. Heine fühlt sich zwar abgestoßen vom pathetischen „Zittergegröle der älteren Periode", aber er verlangt eine erhöhte Redeweise, einen erhobenen Sprechrhythmus

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und selbst eine von der Alltagssprache klar abgehobene „Deklamation". Bei alledem wird das P r i n z i p des Messens am K u n s t wollen aufrechterhalten. Die Frage nach dem individuellen Kunstwollen wird dabei ergänzt durch die Frage nach dem nationalen Kunstwollen. Dem leicht erregbaren Franzosen erscheine ganz natürlich, was etwa dem schwer beweglichen Deutschen ebenso unnatürlich vorkomme. Und wie einst Joh. Elias Schlegel im Ausland der Blick für das Verhältnis von Nationalcharakter und Kunstcharakter geschärft wurde, so nun H. Heine in Paris. Deshalb gelangt er zu dem fast an Herder anklingenden Satz: „Die Literatur und die Kunst jedes Landes sind bedingt von lokalen Bedürfnissen, die man bei ihrer Würdigung nicht unberücksichtigt lassen darf" (Einfühlungskritik im nationalen Bereich). Überhaupt sind breite Partien dieser zehn Theater-Briefe dem Vergleich Frankreich—Deutschland gewidmet, wobei Heine seine Kunst der Antithese voll zur Wirkung bringt. Eingangsteile dienen zudem der „Causerie" über persönliche Eindrücke in Form von Stimmungsrahmen. Die eigentlichen Theaterberichte treten als Theaterkritiken — abgesehen vom sechsten und siebenten Brief —• zurück, und das Ganze verrät wohl echt Heineschen Geist und Witz, aber auch das merkliche Bemühen, ins Politische, zum mindesten Kulturpolitische auszuschweifen und abzulenken, wodurch eine gewisse Annäherung an Börnes „Briefe aus Paris" erfolgt. Heine fühlt sich nicht als geborener Dramatiker und also auch dem Drama gegenüber weniger sicher. Doch dürfte nicht nur die leidige persönliche Situation (Staatsstipendium) beteiligt gewesen sein am Freisetzen der Kunst von allem Zweckdienst und allem Gesinnungszwang. Denn es entspricht nur folgerichtig der schon eben erwähnten Bevorzugung der Form gegenüber dem Inhalt, wenn H. Heine das ganz persönliche Bekenntnis ablegt und beim Briefempfänger als schon bekannt voraussetzt: „. . . denn, wie Sie wissen, ich bin für die Autonomie der Kunst; weder der Religion noch der Politik soll sie als Magd dienen; sie ist sich selber letzter Zweck wie die Welt selbst" (6. Brief). Damit zieht sich Heine zum mindesten in der Theorie — denn das Theaterreferat als solches bleibt durchaus der Kulturpolitik dienstbar —• aus der jungdeutschen Kampflinie auf den sichernden Halt der klassischen Kunsttheorie zurück. Schon im fünften Brief hatte er sowohl den religiösen wie den „politischen Fanatismus" grundsätzlich verworfen.

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Der damalige Heine rückt betont ab vom St.-Simonismus, der das propagandistische „Priestertum" der Kunst herausarbeitete, demzufolge das Kunstwerk eine „Beglückung und Verschönerung des Menschengeschlechts bezwecke". Allerdings ist dabei in Rechnung zu stellen, daß er in jenen Jahren eine Art von Neutralität für angebracht hält. Er ironisiert seine Stellung zum Jungen Deutschland, man habe ihn laut Bundestagsbeschluß (1835) beim Jungen Deutschland, „ohne daß ich darum nachgesucht hätte, angestellt", und er bäte jetzt um seine, notfalls pensionslose Entlassung. Durch diesen Heineschen Spott schimmert doch ein gut Teil Ernst. Aber auch wenn man diese Taktik einkalkuliert, fällt doch eine gewisse Kontinuität in der ästhetischen Grundhaltung auf. Die Politik mochte und mußte seinem Hirn oft als das Wesentliche erscheinen, seinem Herzen blieb immer die Kunst die Hauptsache. Und dieselbe Freiheitssehnsucht, von der der Publizist besessen war, nahm auch der Dichter für die Kunst in Anspruch. Es scheint, als ob der Publizist die Kunst oft nur als Mittel verwendet, um die Herbeiführung der politischen Freiheit voranzutreiben. Aber zuletzt sollte ihm doch die politische Freiheit eine Bürgschaft dafür sein, daß die Kunst sich einer echten Autonomie erfreuen dürfte. Hinsichtlich der Spielformen des Dramas fällt einiges ab für die Tragödie und einiges für die Komödie, wie denn die ersten Briefe unter Polemik gegen den Theaterdichter Ernst Raupach vom Lustspiel ausgehen. Es muß indessen Sonderuntersuchungen überlassen bleiben, im einzelnen klarzustellen, wieweit dabei politische Tendenzen bzw. Kompromisse und künstlerische Überzeugungen ineinander verflochten sind. Nur so viel sei hier angedeutet, daß die damaligen Franzosen als humorlos gelten, weil sie der Errungenschaften der Französischen Revolution nicht froh geworden sind und nun gleichsam auf Trümmern Grimassen schneiden. Gerade aber für das Lustspiel sind soziale Zustände ausschlaggebend. Freilich will es Heine damals scheinen, als ob politische Freiheit „für das Gedeihen des Lustspiels durchaus nicht nötig" sei, wie Carlo Goldoni (1707—93) und Carlo Gozzi (1720 bis 1806) hinlänglich beweisen, aber auch die Chinesen, die „vortreffliche Lustspiele" besäßen (Vorahnung der Erkenntnisse B. Brechts?). Er denkt also anders über die Lebensbedingungen des Humors als Jean Paul (vgl. Band III). Vielleicht ist er auch nur besonders bitter gestimmt; denn mit Stimmungen muß man bei

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Heine — auch bei Heine als Kunsttheoretiker und Kunstkritiker — jederzeit rechnen. Das französische Ehebruchs-Lustspiel kann ihm jedenfalls kein Genüge tun. Die hohe Tragödie fordert wie die Kunst überhaupt und besonders auch die Bühnenkunst nicht „eine banale Wiederholung des Lebens", sondern in Haltung und Gestaltung „eine gewisse vornehme Veredelung". Zugleich mischen sich romantische Vorstellungen von „Zauberklang und Zauberglanz" ein (Vorahnung Max Reinhardts?), so daß die kurz vorher im Einzelfall gerügte „Mischung des Klassischen und Romantischen" dennoch prinzipiell wiederhergestellt und als Ideal aufgestellt wird. Nicht auf die „gewöhnliche Natur" zielt die Kunst ab. Worauf es ankommt und alles künstlerische Können, Bemühen und Bewirken hinausläuft, ist eine „durch die Kunst erhöhte (Klassik), bis zur blühendsten Göttlichkeit (Romantik) gesteigerte Natur" (Klassik und Romantik). Trifft man immer wieder auf derartige Bekundungen, so möchte man fast versucht sein, den „ganzen Heine" in das Kapitel: Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik einzuordnen. Aber der Publizist im Dichter oder neben dem Dichter Heine zwingt zum Nachgeben gegenüber der bislang üblichen Zuordnung, die freilich nur als behelfsmäßig anerkannt werden kann. Außerdem warnt die werkimmanente Poetik davor, den klassischen Anteil zu überschätzen und den realistischen zu unterschätzen. Der romantische Anteil dagegen ist unbestreitbar und auch wohl unumstritten. Die These, daß schon der junge Heine vor der Romantik versagte und in den „Eros" abgedrängt wurde, ist fraglos interessant, aber auch in dieser Zuspitzung auf eine Formel schwerlich haltbar. Obwohl die Suche nach einem inneren Gesetz an sich von der Poetik aus durchaus begrüßt werden muß. In diesem Betracht hofft der Exkurs über die werkimmanente Poetik einiges ergänzen zu können. Doch wird nie ganz übersehen werden dürfen, daß Heinrich Heine der Kunsttheorie und vollends der Kunstphilosophie mit einer erheblichen Skepsis gegenüberstand und daß er der Kunstkritik näher blieb als der Kunsttheorie. Mit jener Skepsis aber verbindet sich nach Art der vielfach ironisch gebrochenen Widersprüchlichkeit Heines ein nicht zu unterschätzender Anteil von echter Scheu vor den Eleusischen Geheimnissen und einer Enthüllung des Bildnisses zu Sais. Sein Symbol war in solcher Situation die Sphinx. Von allen seinen Kunstgesprächen, und Heine kam gern ins Gespräch, war das

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tiefsinnigste vielleicht dasjenige, das — nicht gehalten wurde. Dem zehnten und letzten Theater-Brief nämlich waren in der „Allgemeinen Theater-Revue" noch zwei improvisierte Traum-Visionen hinzugefügt, von denen die zweite gleichsam Skizze blieb. Und daß sie im Keim stecken bleibt, hängt nun mit jener romantisch gefärbten Scheu vor einem Enthüllen der Kunstgeheimnisse zusammen. Der Träumende — Heine ist, auch wenn er „träumt", meistens sehr wach —· trifft in der Wüste auf das marmorne Standbild einer schönen Frau. Ihr fehlen die Axme „wie bei der Venus von Milo", und der Marmor ist teilweise „kummervoll verwittert". Als der Wanderer noch in ihre „wehmütige Betrachtung" versunken ist, eilt eine groteske Traumgestalt herbei, ein auf einem Kamel reitender Strauß (doch wohl nicht D. Fr. Strauß!): „Und wir unterhielten uns lange über die Kunst. Was ist Kunst ? fragte ich ihn. Und er antwortete: Fragen Sie das der (so!) großen steinernen Sphinx, welche im Vorhof des Museums zu Paris kauert". Natürlich mischt sich bei Heine in jene romantische Scheu bereits romantische Ironie ein, wie denn jener Wüstenreiter ä la „Wüstenkönig" Freiligraths „drollig anzusehen" ist. Und diese romantische Ironie springt nun unverhohlen in realistische Ironie um, wenn nach einigen Bemerkungen schalkhafter Färbung an den Empfänger der Briefe (Aug. Lewald) die Schlußpointe nachstößt: „Morgen reise ich nach Paris. Leben Sie wohl". So eilig aber hatte es Heine in Wirklichkeit nicht, um hinter das Geheimnis der Sphinx zu kommen, bei der er vielleicht auch ein wenig an die metrisch so streng urteilende Sphinx aus der Kontroverse Immermann-Platen gedacht hat („Der romantische ödipus"). Was aber das Wachsein im Traum betrifft, so hat Heine auch einmal ausdrücklich den gleichsam umgekehrten Zustand des Traumwachens neben dem Wachtraum für sich in Anspruch genommen, und zwar im vorletzten (9.) Theaterbrief. Er rechtfertigt dort seine Einmischung in das kämpferische Parteigetriebe und schildert die eigenartige, schwer mit Worten zu umschreibende Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit seines Bewußtseins. Denn trotz äußerem Eifer habe er doch inneren Abstand bewahrt. Mitten im hitzigen Gewühl der Gemeinsamkeit habe ihn niemals gänzlich das Gefühl der Einsamkeit verlassen, auch nicht „im dichtesten Gedränge des Parteikrieges". Er habe bald gefühlt, daß seine „Gedanken anderörtig verweilten", daß er also wohl ganz bei der Sache, aber nicht ganz beim Sinn der Sache war. Und so vergleicht

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er sich dem Dänen Ogier, „welcher traumwandelnd gegen die Sarazenen focht". Heine berührt mit diesem Gleichnis und dieser Psycho-Analyse selber sehr deutlich jene Kernfrage nach dem Rangverhältnis des Poetischen und Politischen, nach dem R a n g v e r h ä l t n i s d e s D i c h t e r s u n d P u b l i z i s t e n . Und wenn er m Sonderfalle seiner damaligen Situation (entlastende Rechtfertigung) auch der träumenden Poesie und damit dem Dichter den Vorrang einräumt, so scheint er ganz zuletzt die Frage nach dem Geheimnis des Politischen doch ganz ähnlich zu beantworten wie jene Frage nach dem Geheimnis des Poetischen und Künstlerischen. Auch der späte Heine sieht verstandesmäßig als „Politiker" ein, daß dem Fortschritt bis hin zum Sozialismus die Zukunft winkt, aber als Künstler will ihm nicht recht wohl dabei werden, und zwar nicht nur deshalb, weil er befürchten zu müssen meint, daß man dann aus den poetischen Blättern seines „Buches der Lieder" höchst praktische „Tüten drehen" werde. Es ist letztlich die Liebe zum Individuellen, die ihn dem Gefühl nach jener Einsicht und Aussicht widerstreben läßt, die alte Anhänglichkeit auch des Künstlers an eine wenngleich realistisch modernisierte Romantik. Und der Kernbestand der klassischen Lehre von der Autonomie der Kunst, den er im Grunde seines Dichterherzens ebensowenig ganz aufzugeben vermochte wie die romantische Sehnsucht. Nur die Autonomie der Kunstkritik wird keineswegs so eifrig vertreten und jedenfalls ganz und gar nicht in der Praxis bewährt. In diesem Betracht behält er die Kampftaktik Börnes bei. Die „ E n d s c h a f t d e r K u n s t p e r i o d e " oder genauer: die „ E n d schaft der Goetheschen Kunstperiode", die Heine bereits 1828 in einer Rezension der Literaturgeschichte von Wolfgang Menzel vorausgesagt hatte und die er dann sogleich im ersten Buch seiner „Romantischen Schule" (1833, Buchform 1836) als eingetreten bestätigt, wird dergestalt eine bannende Vorstellung auch für weit und utopisch in die Zukunft getragene Perspektiven. Diese sich bald einbürgernde Idee vom „Ende der Kunstperiode" entspricht in historischer Sicht etwa jener prinzipiellen Einsicht, daß auch die Kunstphilosophie sehr bald „ a m E n d e " ist, so daß ihr nur noch Kunstgespräche mit der Sphinx übrigblieben. Eine gewisse Parallele zog für die Philosophie, in deren Geschichte Hegels Tod (1831) —• zudem in unmittelbarer Zeitnähe von Goethes Tod (1832) — einen markanten Einschnitt darzustellen schien, Friedrich Engels mit seiner Schrift über „Ludwig Feuerbach und der

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Ausgang der klassischen Philosophie" (letzte Fassung mit Anhang: Karl Marx über Feuerbach 1888). L u d o l f W i e n b a r g (1802—1872) benutzte seine „.Ästhetischen Feldzüge" (1834) im Grunde weit mehr für oppositionelle Vorstöße in reformpädagogischer und politisch-gesellschaftskritischer Hinsicht als zur Eroberung einer neuen Ästhetik. Es ging ihm eindeutig um Weltanschauungsästhetik. Ursprünglich als Kieler Vorlesungen (1833) gehalten, sind seine recht allgemein eingestellten Ausführungen wohl von bilderfreudigem rhetorischem Schwung getragen, gebrauchen aber sehr langen Anlauf, bis — erst gegen Schluß—das eigentliche Thema erreicht wird. Ihr Gesamtcharakter gleicht also mehr einem anfeuernden Kampfaufruf an die Jugend als einer kunsttheoretischen Abhandlungsreihe. „Dem jungen Deutschland gewidmet" lautet der Titelzusatz, der vor allem den Namen der jungdeutschen Richtung einbürgern half. Den Weg „des Protestierens", auf dem einst Luther dem Fortschritt Bahn gebrochen habe, will Wienbarg die Jugend führen, fort von der „feudalhistorischen Schule" aus „Schlamm und Schlick der abgestandenen Zeit". Sachlich werden Einflüsse von vielen Seiten erkennbar: von Herders und Schillers Theorien, von Jean Paul, Schelling, Schleiermacher, Solger, Herbart, Hegel. Nicht alles war eigenes Produkt in den Vorlesungen. So muß Schelling („Rede über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur") über mehrere Vorlesungsstunden hinweghelfen. Dennoch bleiben die „Feldzüge" das k u n s t t h e o r e t i s c h e H a u p t w e r k des Jungen Deutschland, und eine ordnende Sichtung und Zusammenziehung oft beiläufig eingeflochtener Bemerkungen läßt denn auch das spezifisch jungdeutsche Programm in den Hauptpunkten sichtbar werden. P o l i t i k u n d Ä s t h e t i k : Es scheint, als habe W i e n b a r g bereits erkannt, was oben angedeutet wurde, daß es im Deutschland des 18. Jahrhunderts nur zu ästhetischer Auswirkung jener Ideen kommen konnte, die in Frankreich weitgreifendere politische Folgen hatten: „Die Ästhetik ist als Wissenschaft für Deutschland viel zu früh gekommen". In welchem Sinne, wird sogleich klar herausgestellt: „Nationalgefühl muß dem Gefühl fürs Schöne, p o l i t i s c h e B i l d u n g der ä s t h e t i s c h e n v o r a u s g e h e n " . Das ist zunächst einmal rein zeitlich gemeint, dann aber auch graduell, der Wertstufe nach. Die Zwischenlösung in der Bezeichnung Weltanschauungsästhetik, die gewiß auch nur ein Notbehelf bleibt, wird noch nicht gefunden und steht auch von dritter Seite her

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noch nicht zur Verfügung. Es ist daher nicht Zufall, daß der Politiker, der den „Organismus des Staates" untersucht und ausdeutet, dem Ästhetiker, der den „Organismus der K u n s t " erforscht, vorangestellt wird; denn jener hat es nach Wienbarg mit dem „vollkommensten aller Organismen, dem Staat zu tun". Das Staatstheoretische gilt als zeitgemäßer, dringlicher und wertvoller als das Kunsttheoretische. A k t i v i t ä t , L e b e n u n d K u n s t ; L e b e n s k u n s t : Dementsprechend drängt Wienbarg immer wieder vom Phantasiegebilde zur Tatschöpfung. Lebenstüchtigkeit ist dabei Voraussetzung, lebendiges Wollen und Wirken das Ziel: „eine poetische Umgestaltung des Lebens". Ins Leben hineingreifen soll die Dichtung als „Poesie des Lebens, die aller Kunstpoesie Mutter ist". Der „Bildner seiner eignen Persönlichkeit" interessiert ihn im Grunde mehr als der nur künstlerische Bildner und das „ B u c h des Lebens" mehr als das Wortkunstwerk. Unermüdlich sucht er den Anschluß an die Tat, und wie der Dichter „Stoff und Begeisterung aus der T a t " schöpft, so hat sein Werk wiederum Tatbegeisterung auszustrahlen. Das Ästhetische und Ethische verbinden sich im Begriff der „schönen T a t " . Gerade, was die Romantik gepflegt hatte: Kultus des Mittelalters und Indiens, wird unter diesem Gesichtspunkt aktiver Gegenwartswirkung verworfen. Es ist die Passivität, die den Jungdeutschen abstößt von der „mönchischen Verdumpfung", und es ist entwicklungsgeschichtlich beachtenswert, daß Wienbarg in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der romantischen Verherrlichung des Mittelalters ausdrücklich zurückgreift auf die Abwehr durch Herder, mit dem er auch vor allem den Organismusgedanken teilt und die genetische Kulturauffassung. Ähnlich dem mittelalterlichen muß auch das indische Weltgefühl jener „träumerischen Menschen" als wesensfremd und unzeitgemäß zurückgewiesen werden; denn „die Negation der T a t " wirkt fortschritthemmend. In den Ausführungen ,,Zur neuesten Literatur" (1835, 2. Auflage 1838) verweist Wienbarg erneut und nachdrücklich auf die Untrennbarkeit von Poesie und Leben, von Dichtkunst und „Lebenskunst". Gestützt auf Goethes Theorie des „Lebendigen", dekretiert er: „Poesie und Leben sind Inseparabeln. . . Wer die Poesie vom Leben trennt, trennt das Leben von der Poesie". W e s e n u n d S i n n d e r D i c h t u n g : Die Dichtung steht denn auch im Dienst des Handelns als Anregerin des Tatwillens. Sie

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fängt die seelischen Weilen, die von großen Taten ausströmen, ein und gibt sie mit verstärkter Kraft weiter: „der Dichter nimmt Stoff und Begeisterung aus der Tat, und die höchste Palme hat er errungen, wenn die Schönheit der Tat aus dem Leben in eine andere Welt, in die Kunstwelt, von ihm verpflanzt, sein Gedicht durchstrahlt und wieder vom Gedicht wie ein Juwel in der Einfassung neuen Glanz annimmt." Es läßt sich mittelbar aus Wienbargs verstreuten Andeutungen erschließen, daß für ihn dichten etwa bedeutet: Tateindrücke verstärken, intensivieren, verklären und dadurch ein Wirken-Wollen wecken und beleben. Er ist in seiner Art bereits auf dem Wege zur „Tathaften Form". Vielleicht am prägnantesten faßt die Forderung einer tatbereiten, tatwilligen Lebensnähe und eines bewußten Wirkenwollens jene zielprägende Stelle zusammen: „Wir verlangen für Poesie und Kunst vor allen Dingen Charaktere mit scharfbegrenzter Individualität; sie sollen ihren Geist auf bestimmte Zwecke richten, deren Verwirklichung fordern und anstreben (Reform-Tendenz) und nur in dieser Eintracht des Willens (Absichtsdichtung) mit der Tat (aktivistische Dichtung) sehen wir poetische Lebendigkeit und poetische Wirkung". Etwas mehr nach der gefühlsmäßigen Richtung allerdings weist eine spätere panegyrische Umschreibung vom Wesen der Dichtung, die rein menschlich, überzeitlich, „unmittelbar aus dem Herzen dringt". Aber dort hat merklich mehr der rhetorische Schwung Wienbargs das Wort als seine eigentliche Ästhetik, und selbst dort werden die „Bestrebungen" als Attribut wahrer Dichtkunst nicht vergessen. P o e s i e u n d E t h i k : Es ist nur ganz folgerichtig, wenn sich mit der Zweckbestimmtheit und dem Absichtsvollen der Poesie und ihrer charakterbildenden, also erzieherischen Mission wieder ein gewisses moralisches Element verbindet — ähnlich und doch anders wie in der Aufklärung. Anders, denn Wienbarg bemüht sich krampfhaft, seinen Moralbegriff abzulösen vom Rationalistischen. Moral meint „Lebenskunst"; aber er geht doch über die Romantik zum mindesten auf Schillers ästhetische Erziehung zurück: für „Wesen, die schön denken und schön handeln, ist das Gute mit dem Schönen völlig identisch". Auch die Identitätsphilosophie wirkt nach. Beim Schönen darf man nicht stehen bleiben: „auch das Gute, auch das Wahre gehört in dieses Gebiet". Der gute Geschmack soll zugleich Geschmack am Guten herbeiführen. Der Eigenwert der Dichtkunst bleibe ungefährdet. Diese Repräsentation des Sittengefühls durch 12

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das Schönheitsgefühl könne zum mindesten „keinen positiven Schaden" anrichten. Daher auch die Verteidigung Schillers gegen Kant hinsichtlich des kategorischen Imperativs. Und daher auch das Parallelgehen mit des späten Herders „Kalligone" in Stoßrichtung auf Kant. Der Bildungsfaktor des Sittlichen (W. meint offenbar Ethos, wo er Moral sagt) gilt ihm als die Kraft, auf der „unsere Wiedergebärung" beruhe. Daß dem „Bedeutenden" eine besondere Geltung eingeräumt wird, hängt innig zusammen mit der Tatanregung einerseits und diesem ethischen Prinzip andererseits; es könnte sonst an Goethe (das Bildende und Bedeutende) anklingen. N a t u r n a c h a h m u n g : Hier ist die Stellung, von A. W. Schlegel gut ausgebaut, schon gesichert. Die Naturschöpfung wird nach Herderscher Art als analog der Kultur- und Kunstschöpfung angesehen; aber sie soll und darf nicht einfach nachgeahmt werden. Bereits die Natur an sich wird unter Schellings Einfluß anders gesehen. Hinsichtlich der Naturnachahmung stellt Wienbarg, nachdem er schon vorher Batteuxs Irrtum betont hat, einige straffe und klare Formulierungen auf: „naturwahr" und „kunstwahr" sei danach zu trennen: „Lebendig und wahr soll also die Kunst sein wie (nicht „gleich der") die Natur; aber die Kunst (so), wie es ihr selbst, nicht wie es der Natur zukommt". Und wie es eine eigene K u n s t w a h r h e i t gibt, so besteht auch eine eigene Kunstw i r k l i c h k e i t : „Nicht das Wirkliche als wirklich will der Künstler nachahmen, sondern dem Wirklichen eine künstlerische Bedeutung geben." G e f ü h l u n d W i l l e ; B e g e i s t e r u n g : Schon diese Stellung zur Naturnachahmung verrät, daß Wienbarg trotz Zweck und Moral nicht in aufklärerische Irrtümer zurückfällt. Es spiegelt sich auch in seiner gefühlswarmen, mitreißenden Darstellungsart selbst. Dichtung wird durchaus als Gefühlsträgerin angesehen, die man deshalb nicht verstandesmäßig definieren kann. „Herz und immer wieder Herz muß dringen und klingen aus deutscher Rede". Auch gilt ihm die Poesie nicht als etwas Bewußtes und Erlernbares, das man „im Schweiße seines Angesichts sich an (er) schaffen kann, wenn das Organ dafür nicht angeboren ist", sondern wie die Liebe als eine göttliche Gabe, die „als freies Geschenk vom Himmel fällt". Aber eben dieses Spontan-Gefühlsmäßige sucht nun Wienbarg zu verschmelzen mit dem Willen zur Aktivität: „Jeder ausübende Künstler, j e d e r h a n d e l n d e u n d f ü h l e n d e M e n s c h t r ä g t s e i n e Ä s t h e t i k in s i c h " und mit spezifischer Geltung für

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die Dichtkunst — an jener Stelle, wo er auf eine Wesensbestimmung abzielt: „Die Poesie ist. . . die Dolmetscherin aller G e f ü h l e und B e s t r e b u n g e n . . .". Das Binde- und Schmelzmittel, das diese an sich heterogenen Elemente (zweckbefreites Gefühl und zweckstrebiger Tatwille) liefern soll, ist im Grunde die Begeisterung. Der Tendenzbegriff verliert seine nüchterne Kälte, das Unpoetische, wenn die Bestrebungen von Begeisterung getragen und damit von Gefühlskräften durchdrungen sind. Poesie und P r o s a ; S c h r i f t s t e l l e r : Doch zeigt sich auch in den Einzelheiten, was bei der allgemeinen Auffassung der Dichtung schon spürbar wurde: der Schriftsteller drängt den Dichter beiseite. Die Prosa wird sehr hoch bewertet, und zwar ausdrücklich wegen ihrer Eignung zum Kampf: „ D i e P r o s a ist eine W a f f e j e t z t , und man muß sie schärfen". Schon hier wird angekündigt, daß die Prosa „vor allen Dingen unser Augenmerk sein" soll. In dem Schlußteil, den Wienbarg als Poetik angesehen haben will, wird dann eingehender dargelegt, daß die Prosa des Romans mit Recht das Epos abgelöst habe, so daß der Romanschriftsteller den „in moderne Prosa, moderne Gesinnung überpflanzten Epiker darstellt". Wiederum aber hat diese moderne Prosa gegenüber Goethe und Jean Paul eine grundlegende Abstufung erfahren, eine Wandlung und Entwicklung durchgemacht, deren bestes Beispiel Heine bietet. Ausgeschaltet worden ist nämlich das Moment epischer Ruhe und Beschaulichkeit, die „Behaglichkeit . . . einer von der Welt abgeschiedenen Sphäre". Demgegenüber soll der jungdeutsche Prosaist „mitten im Strom der Welt schwimmen". Es ist sehr bezeichnend, daß Wienbarg — aus richtigem Sprachgefühl heraus — bei der folgenden programmatischen Zielprägung und Aufgabenumgrenzung nicht Dichtung, sondern Schriftstellerei wählt: „Die Schriftstellerei ist kein Spiel schöner Geister, . . . keine leichte Beschäftigung der Phantasie mehr; sondern Geist der Zeit, der unsichtbar über allen Köpfen waltet, ergreift des Schriftstellers Hand . . . Die Dichter und ästhetischen Prosaisten (Versuch einer neuen Bezeichnung für den Kunst-Schriftsteller, um ihn vom Tages-Schriftsteller doch irgendwie abzuheben) stehen nicht mehr wie vormals allein im Dienst der Musen, sondern auch im Dienst des Vaterlandes, und allen mächtigen Zeitbestrebungen sind sie Verbündete". D i c h t u n g und Z e i t g e i s t : Wie bereits an dieser Stelle hervortritt, beweist Wienbarg in Verbindung mit stark ausgeprägtem 12·

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historischem Interesse zugleich eine — in neuerem Sinne geistesgeschichtliche — Einfühlungsfähigkeit in den Kulturstil und fordert dessen Berücksichtigung bei Abstraktionsversuchen seitens der Theorie und für die Theorie aus dem jeweils zeitlich Gegebenen. Eine Überschätzung der Geschichtswahrheit lehnt er indessen ab. Er kennt nicht nur die „Evolutionen im Staatsleben", sondern auch in der Poesie und weiß, daß die jeweiligen zeitbedingten Idealforderungen abhängig sind ,,νοη einem bestimmten Grundgefühl des Lebens", das sich in den einzelnen Epochen wandelt. Der Herdersche Begriff des Zeitgeistes ist ihm durchaus vertraut, ja darüber hinaus nähert er sich überraschend modernen Anschauungen. Allgemein und angeblich überzeitlich geltende Geschmacksurteile sind unmöglich und unberechtigt. Vielmehr werden sie je „nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanschauung ausgeprägt". Dieser geistesgeschichtliche Sinn oder richtiger dieses Anerkennen und Verstehenwollen eines alles beherrschenden Zeitgeistes entspringt und entspricht dem damaligen Gegenwartserleben des Jungen Deutschland, das auf die inneren Regungen der Zeit horchte und sie in Bestrebungen umsetzte. Es ist der Glaube an die Zeit, „die Rosen und Ketten bricht"; es ist die Grundstimmung aller dieser Vorlesungen, daß ein neues Wollen — auch für die Poesie — gleichsam in der Luft liege und von der Jugend freudig ergriffen werden soll als „das prophetische Gefühl einer neu beginnenden Weltanschauung". V e r h ä l t n i s von P r a x i s u n d T h e o r i e ; K u n s t ü b u n g u n d K u n s t t h e o r i e : Nach alledem überrascht es nicht, wenn Wienbarg der Theorie eine nur untergeordnete, nachträglich registrierende Rolle einräumt, nicht aber Zielsetzung und Wegbahnung in ihr sieht. Die Theorie folgt der Praxis. Der Ästhetiker geht „. . . der Poesie nicht gesetzgeberisch vorauf, sondern gesetzempfangend hintennach". Es wird betont, daß er „nicht eigentlich Gesetze gibt, sondern nur zurückgibt, sie nur entdeckt und nicht erfindet". Damit liegt auch ein mittelbarer Beitrag zur Genieauffassung vor, die sonst wenig Berücksichtigung findet: das Vorbild des Schaffenden entscheidet (Herder!). In der T r e n n u n g von W o r t k u n s t u n d B i l d k u n s t fußt Wienbarg auf Lessing, dessen „Laokoon"-Gesetz als gültig übernommen und zitiert wird. Als älteste Ausprägung des Dichterischen gilt die epische Gattung. Der Idealtypus moderner Lyrik ist „das poetische Ausströmen des Revolutionären". Und bei

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dieser Gelegenheit wird nicht nur auf Grund der Empirie festgestellt, sondern auch theoretisch gefordert: „jeder große Dichter, der in unserer Zeit auftritt, wird und muß den Kampf und die Zerrüttung aussprechen, worin die Zeit, worin seine eigene Brust sich findet". Damit läßt Wienbarg seine Theorie wieder aufgehen in das Grundthema der Zeittendenz. Nach alledem handelt es sich bei Ludolf Wienbarg um eine ausgesprochene W e l t a n s c h a u u n g s ä s t h e t i k . Das Revolutionäre darin bleibt eine literarisch-ästhetische Scheinrevolution. Immerhin zeichnet Wienbarg, obwohl in der angedeuteten Abhängigkeit von seinen zahlreichen Gewährsmännern ein Stück Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik spürbar bleibt, verhältnismäßig resolut die neue Wegrichtung vor. Und diese Wegrichtung hätte die Jungdeutschen bei größerem Verständnis für Wienbargs Konzeptionen und Intentionen beträchtlich in ihrer Literaturprogrammatik und Kunsttheorie voranbringen können. Das ist von der Sonderforschung richtig erkannt worden. Ebenso der Umstand, daß Wienbargs schroffe Abwehr der Geschichtswahrheit in ζ. T. übertriebenem Zusammenhang stehen dürfte mit Schellings ,,Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums". Dagegen dürfte die Ansicht, daß Wienbarg in manchem Betracht (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben; Führungsanspruch der „Auserwählten") bereits Nietzsche antizipiert habe, denn doch etwas über das Ziel hinausschießen. Gewiß sollen keimhafte Ansätze nicht verkannt werden. Aber es ist richtiger, wenn man jene Zukunftsperspektive zurückgebogen hat durch die selbstkritische Einschränkung, daß schon Schleiermacher (im gewissen Grade auch Schiller) eine Sondermoral für Ausnahmemenschen postuliert hat. Wenn Wienbarg den Primat des Politischen als zeitgemäß und situationsgemäß gegeben aufstellt, so bedeutet das noch nicht ohne weiteres, daß auch in ihm das Gefühl vom „Ende der Kunstperiode" vorgeherrscht habe. Dieses Bewußtsein wirkte wohl regulierend, aber nicht prinzipiell orientierend auf seinen Entwurf einer Weltanschauungsästhetik ein. Es darf nicht übersehen werden, daß Wienbarg wohl die Reihenfolge (Ästhetik—Politik) unter Kritik stellt, nicht aber eine absolute Rangverschiebung (Politik—Ästhetik) befürwortet. Vielmehr läßt er offen, ob nicht nach hinreichender politischer Vorbildung anschließend und aufhöhend eine ästhetische Bildung erfolgen könne und solle. Er hofft zum mindesten, daß in dem

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Gefühl einer „beginnenden Weltanschauung" zugleich die Gewähr liegt für die „Einleitung zur künftigen Ästhetik". Kurz, er möchte die zünftige Ästhetik mehr und mehr durch eine künftige Ästhetik verdrängt sehen. Es sind Feldzüge, aber doch „Ästhetische Feldzüge" und nicht einfach Feldzüge gegen die Ästhetik schlechtweg, höchstens gegen eine als überholt empfundene Ästhetik. Aber wie schon deutlich wurde, längst nicht alle zurückliegende Ästhetik war für Wienbarg eine überholte Ästhetik. Das nicht zuletzt sicherte ihm eine merkliche Überlegenheit in kunsttheoretischen Angelegenheiten. Nur sollte man trotz kühner Rückgriffe bis auf den Begründer der Ästhetik G. A. Baumgarten die Gediegenheit seines Wissens nicht überschätzen. Der junge Privatdozent in Kiel hatte seine Vorlesungen noch nicht wissenschaftlich überholen können. Die Geschichte mit der weitgehend wörtlichen Übernahme längerer Partien aus Schellings Vortrag „ Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur" war offenbar die Selbsthilfe eines um Vorlesungsstoff verlegenen jungen Dozenten gewesen. Und in der Hast der Drucklegung hatte Wienbarg offenbar diese notgedrungene Zwangsanleihe aus den Augen (und dem Gedächtnis) verloren. Das kann auch dem Besten passieren, besonders wenn er jung und etwas hastig ist. Und Ludolf Wienbarg war fraglos einer der Besten unter den Jungdeutschen, nicht zuletzt seinem Charakter nach. Schade nur, daß der HamburgAltonaer Handwerkersohn so gar nicht für das Niederdeutsche zu haben war. Aber das hing nun wieder mit seiner politischen Konsequenz zusammen, die eine Schwächung der einigenden deutschen Hoch- und „Hauptsprache" befürchtete. Dieser ausgeprägte politische Sinn, den er temperamentvoll sogleich in eine Kunstpolitik und Kulturpolitik umsetzen möchte, befähigt ihn auch, in weit höherem Grade als die anderen Jungdeutschen (jenseits Heines) das Gehemmtsein Goethes durch widrige und unwürdige Zeitverhältnisse gebührend (historisch gerecht) in Rechnung zu stellen und so ein wesentlich wohlwollender und klarer gesehenes Goethebild zu entwerfen, als es die anderen Jungdeutschen vermochten. Und zwar erfolgt diese Einsicht relativ frühzeitig. Dieser politische Sinn und jene Einfühlungsfähigkeit in die jeweiligen Zeitverhältnisse, die er selber besaß und nicht nur theoretisch forderte, ließ ihn z.B. auch die Freiheitskriege und damit Goethes Verhalten mit anderen Augen sehen, als es sonst üblich war. Er erkennt außerdem die Widersprüchlichkeit in Goethe selber, indem er das

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überzeitliche Genie von dem zeitgebundenen Menschen trennt. Dieser schon erwähnte Geniekultus Ludolf Wienbargs, der sich letztlich stärker erweist als seine Goethekritik, läßt irgendwie vorausblicken auf die Position, zum mindesten die kunsttheoretische Position, die Karl Bleibtreu zu Beginn der Jüngstdeutschen Bewegung (Naturalismus) innehatte. Dieser Glaube an die Dauerkraft des Genies ist es auch, die ihn mehrfach die Überzeugung aussprechen läßt, daß Goethe erst in der weiteren Entwicklung der Zukunft voll zur Geltung kommen und noch den „Urenkeln" zu schaffen machen, sie aber auch reich beschenken wird. Und in gewissem Grade verbindet sich sein Vorausblick auf diese ferne Zukunftsgeltung Goethes mit seiner Vorstellung einer „künftigen Ästhetik". Mit diesem Hinweis dürfte sich auch weitgehend, wenngleich nicht restlos, das Hin und Her, das Für und Wider in der Sonderforschung auflösen, das bald die eigene Ästhetik Wienbarg mehr an Schiller, bald mehr an Goethe heranrückt. Für seine Gegenwart schien ihm Schillers Ästhetik — schon durch ihren starken ethischen Einschlag — mehr zu bieten als die Goethes, in der er zwar manches Verwandte antraf (Primat des „Lebendigen", auf das „ L e b e n " Bezogenen), auch für seine Zeit Brauchbare, die ihm aber doch im Gesamt ihrer Werte und Wirkungen weiter in die Zukunft zu weisen schien. Die Abwehr Kants trübt wesentlich das Schillerbild ein, die Abwehr des späten Goethe als des Dichters der „Wahlverwandtschaften" und des „Wilhelm Meister" trübt entsprechend das Goethebild ein. Auf weitere literaturprogrammatische Bekundungen Wienbargs, wie sie innerhalb der Ausführungen „Zur neuesten Literatur" oder der Polemik gegen Wolf gang Menzel oder dem sogenannten ,,Programm zur Deutschen Revue" (sämtlich 1835) verstreut sind und z . T . schon in diese Wienbarg-Skizze eingebaut wurden, kann im einzelnen nicht eingegangen werden. Es muß genügen, seine Hauptgedanken zu entwickeln, soweit sie für die Grundhaltung des Jungen Deutschland oder auch in Abhebung davon in Betracht kommen. Das gilt um so mehr, als ganz allgemein über die Kunsttheorie des Jungen Deutschland verhältnismäßig viel von der Sonderforschung zu erfahren ist. Das gilt ebenso von den Abschnitten über Börne, Heine, Gutzkow, Mündt und Laube. Das Moment des Propagandistischen im Rahmen der TendenzProgrammatik kommt bei K a r l G u t z k o w (1811—1878) recht frühzeitig zur Geltung in seinem „Forum der Journalliteratur"

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(1831), wo das von Wienbarg gepflegte und gefeierte „prophetische Gefühl einer neu beginnenden Weltanschauung" teilweise vorweggenommen erscheint im Erkennen der „Aufgabe unserer Zeit, d a ß w i r ü b e r a l l p r e d i g e n sollen". Bereits wird über die Brücke der Volkstümlichkeit die engere Brücke mit dem Leben gesucht, fast ein wenig an G. A. Bürgers Popularitätsforderung erinnernd. Wie die Wissenschaft soll auch die Literatur der Nation nähergebracht werden. Aus der matten Enge der Restaurationszeit soll das Wachrufen hochstrebender Allgemeininteressen erlösen helfen. Das verstandesmäßige Element tritt zutage in dem Wunsche einer innigen Verschmelzung des „Weisen" mit dem „Dichter". Obgleich selbst zu einer reflektierenden und theoretisierenden Haltung geneigt, verwirft doch die durch Jugendlichkeit verschärfte Sehnsucht nach praktischer Ausübung und Aktivität nicht nur die Schöngeistigkeit, sondern auch die Ästhetik: „Die Zeit der Kunsttheorien liegt hinter uns". Der Überdruß an grauer Theorie (der „Forum"-Herausgeber selbst spielt auf das Faust-Zitat an) wendet den Blick auf das freiwogende großartige Leben in Abwehr bloßer „Fiktionen der Phantasie". Auch Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik" erhält ihren Seitenhieb neben polemischen Anspielungen auf das umstrittene Eindrucksziel der Tragödie (Dramaturgie) und den „Laokoon". Ungeklärt sind noch die Vorstellungen des kaum Zwanzigjährigen über Wesensform und Wunschziel der Poesie. Zwar die Vorbedingung des Verses wird schon abgeschüttelt und das „metrische Hackbrett" ärgerlich und verächtlich beiseite geschoben. Vers und Rhythmus gelten als entbehrlich für eine Dichtung, die höchste Klarheit als „Abbild der Natur" bieten soll. Aber noch wird pathetisch von einer „Wunderblume" der Poesie gesprochen; denn das Dichterische vermag Schmerz und Lust versöhnend aufzulösen. Geist und Natur in wechselseitiger Durchdringung bilden die ideale Verschmelzung. Die wenn auch teils nur vorübergehende Stützung auf geistige Anreger ist unverkennbar. Den Hegeischen Einfluß aus dessen „Vorlesungen über die Ästhetik" spürt man ebenso nachwirken wie Einwirkungen Menzels und Börnes. Und wenn der anfangs bewunderte Wolfgang Menzel bald zum Gegner wurde, so lag das an Menzels eigener Schwenkung vom Fortschritt zur Reaktion. Was ihn an Menzel angezogen hatte, war dessen Gegenwartssinn, wie er in seiner Börne-Biographie rückblickend an der Einwirkung Börnes eben

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dies hervorhebt als unvergeßlichen Eindruck, daß hier eine starke Persönlichkeit „nicht aus dem Hörsaal, sondern aus dem g r ü n e n W a l d e d e r E r f a h r u n g und der Geschichte heraustrat", geeignet, die „ästhetische Verflachung" vor der Julirevolution überwinden zu helfen. Zur Zeit der „Ästhetischen Feldzüge" Wienbargs hatte sich Gutzkow zur klaren Bewußtheit der Zeitverbundenheit der Literatur durchgekämpft. Die vorbereitenden Stadien aber sind, wie angedeutet, durchaus für seine erste Entwicklungsepoche nachweisbar. Als programmatisches Manifest enthält das Literaturblatt zum Frankfurter ,,Phönix" unter dem Kennwort ,,Μώη Glaubensbekenntnis" (1835) die Thesen: „ I c h glaube an die Zeit, die allmächtige Schöpferin Himmels und der Erden und ihren eingeborenen Sohn, die Kunst, welche viel gelitten hat . . . und doch die Welt erlösen helfen wird . . .". Indessen nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Mission der Weltverbesserung wird der zeitgeborenen Kunst zugewiesen. Diese jungdeutsche Grundeinstellung bestimmt die kritisch ablehnende Haltung gegen flache Phantasterei der Schicksalsdramatik bei A . Müllner oder E . von Houwald. Denn aus Anbetung des Alten sei Nachbetung, Mittelmäßigkeit und schließlich der ganze „Plunder" der Publikumsdichtung entstanden. Sie beeinflußt aber auch seine Bewertung der einzelnen D i c h t u n g s g a t t u n g e n . Mit der Lyrik weiß der aktivistische Wirkungswille nur recht wenig anzufangen, ähnlich wie Wienbarg in seinem „Tagebuch von Helgoland". Gefühlsmäßige Schwärmerei oder kontemplative Simiigkeit und Innigkeit müßte in „unserer sturmbewegten Zeit" als Luxus empfunden werden ebenso wie die romantische Flucht ins Mittelalter oder die Idylle des Schwäbischen Kreises „hinter Holunderhecken". Ursprünglich —· zur Zeit des ,,Forums" — erscheint im ersten jugendlichen Gegenstoß die Entwertung und Unterschätzung der lyrischen Gattung sogar schroffer ausgeprägt als späterhin in reiferen Jahren. Es wird erkennbar, wie der Kritiker Gutzkow in seiner Bindung an das Zeitgegebene nicht recht freikommt zur kunsttheoretischen Besinnung. Wenn auch gelegentlich der Würdigung Uhlands, den etwas später Hebbel ebenfalls befreiend heraushebt aus dem vielgeschmähten Schwäbischen Kreise und rettet vor der Goetheschen Aburteilung, wenn auch gelegentlich der Würdigung Eichendorffs eine duldsamere und wärmere Stimmung für die Lyrik fühlbar

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wird, so bleibt doch die grundsätzliche Abkehr bestehen. Die Lyrik kann nach Gutzkows Ansicht eben nicht „durch Verse ausdrücken . . w a s der Zeit nottut". Sie ist kein rechtes Gefäß für die Zeitatmosphäre und Zeittendenz. Gerade der Umstand, daß die Lyrik damals Gnade findet vor dem „Richterstuhl der Ästhetik", weil sie den „Firnis der Klassizität" besitzt, macht sie ihm als Ganzes, als Typus, als Gattung verdächtig, wenngleich Einzelleistungen Anerkennung finden, selbst aus dem geruhsamen Schwabenreiche der „poetischen Sommerfäden". Die Lyrik in ihrer Wesens- und Wirkungsform gilt als „interimistisch, unfruchtbar, zukunftslos". Und obgleich es nicht ganz der Uhlandverehrung entspricht, deckt sich seine Meinung doch im wesentlichen mit der seiner Wally, die jene Waldsänger als langweilig ablehnt und Heines Prosa weit über den „ganzen Bardenhain" stellt. Die knappe Prägung aus „ W a l l y " (1835), die unmittelbar an Wienbargs Forderung anklingt, der nüchtern-kühle Satz: „ I c h z i e h e P r o s a v o r " wird über Gutzkow und Wienbarg hinaus für das Junge Deutschland, und zwar besonders bei Laube und Mündt in den Vordergrund gerückt. Mit der Zweckeinstellung tendenzfreudiger Absichtsdichtung verbindet sich der rationalistische Zug, der ideeliche und verstandesmäßige Werte auch innerhalb der Lyrik fordert und dem didaktische Einsprengungen daher nicht unerwünscht erscheinen. Dementsprechend umschreibt er das Wesen eines Gedichts als „Gedanken, der sich klar werden will", wie der jüngere Hebbel im Drama den Gedanken sieht, der „ T a t werden" will. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Hegels Auffassung, die der Dichtung nicht eine Gestaltung sinnlicher Vorstellungen, sondern „geistiger Interessen" zuerteilt, bei derartigen Äußerungen Gutzkows unbewußt nachwirkt wie etwa auch hinsichtlich der durchgängigen Forderung eines ideelichen Gehalts. Der Verstand hat überdies die konstruktive Aufgabe, dem Stimmungsmäßig-Schweifenden eine fest umgrenzende Form zu geben. Aber die dichterische Gestalt an sich kommt bei Gutzkow keineswegs zu ihrem vollen Rechte. Er unterschätzt sie gegenüber dem Gehaltlichen und wird sich dieser Minderbewertung gelegentlich — ζ. B. in der allerdings weit später liegenden Vorrede zu den „ Rittern vom Geist" — auch durchaus bewußt. Die dem aktiven Leben abgewandte Lyrik, besonders die der Schwäbischen Lyrikergruppe, erfährt vor allem Kritik in dem Aufsatz ,.Goethe, Uhland und Prometheus" (im „Literaturblatt",

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1835). Als Einzelzug sei angemerkt, daß bei Gutzkow mehrfach die Forderung auftritt, daß ein gutes Gedicht über den unmittelbaren Eindruck hinaus noch eine nachklingende Wirkung hervorrufen sollte, eine Anregung für den Leser, selbst weiterzudichten oder umzudichten, eine Forderung, die nicht recht in Einklang zu bringen ist mit dem Gesetze der „Einfachheit", das grundlegend aufgestellt wird als verbindlich für jedes wahre Gedicht. Möglich, daß es die eigene, durch kritische Betätigung sich unterbunden fühlende Produktivität in Gutzkow war, die dieser anregenden Eindruckswirkung eine so weitgreifende Bedeutung beimaß, daß er sie geradezu zum Wertkriterium erhob. Möglich auch, daß dabei das Anregen zum eigenen Tun im Sinne der Jungdeutschen Aktivitätsförderung mitspielt. Gutzkows Äußerungen über die dramatische Gattung wirken in ihrem Gesamtergebnis kompilatorisch und erweisen sich abhängig u. a. von Börne, teilweise auch von Hegel. Das Drama und das Theater werden höher bewertet als die Lyrik, weil sie stärkere propagandistische Möglichkeiten bieten. Denn Gutzkows teils aus seiner Kritik, teils aus allgemeinen Darlegungen und Aphorismen ableitbaren theoretischen Forderungen zielen auf Wirkungsgesetze, nicht recht eigentlich auf Schöpfungsgesetze. Politische Freiheit gilt als Voraussetzung gerade für die stark in die Öffentlichkeit hinüberwirkende Bühnenkunst, eine Voraussetzung, die der formfremde Jungdeutsche mit dem formfreudigen Platen teilt. Nicht voll in dem Maße, wie es jenes Wort seiner Wally erwarten ließe, beschäftigt sich Gutzkow mit der Prosa. Vor allem wohl deshalb nicht, weil ihm die Wirkungsfaktoren des Gehalts höher stehen als die der Formgebung. In der programmatisch bedeutsamen Abhandlung „Über Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte" (1836) wird nicht zufällig Talent von Genie in diesem Sinne abgestuft in der recht kühnen Prägung: „Talent ist Form, Genie Stoff". Als sekundärer Faktor greift wohl auch ein wenig das Bemühen seines Geltungsstrebens ein, sich von anderen Jungdeutschen, besonders Mündt, G. Kühne und Laube, abzuheben. Alte Kampfrichtungen werden aufgenommen, wenn Gutzkow gerade für die schlagkräftige Prosa die Periodenwucherungen als „gothische Verschlingungen" bekämpft. Wieder taucht unwillkürlich die Situation des Frühklassizismus auf, und zwar auch insofern, als der Gedanke als Wegbereiter des Wortes gilt. Unklar bleibt indessen, was mit der „poetischen Intuition" ge-

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meint ist, aus der die neue Prosa hervorgehen soll, da doch zugleich die verstandesmäßige Absichtlichkeit festgehalten wird. Ähnlich schwankend und widerspruchsvoll wirken grundsätzliche Erwägungen über Roman und Novelle, bevor sich die bemerkenswerte Gutzkowsche Theorie eines Romans des „Nebeneinander" relativ klarer herausbildet. Mehrfach sind in kritische Artikel des Literaturblattes zum „Phönix" (1835) allgemeine Forderungen eingeflochten worden. Eine gewisse Konstanz zeigt die Anschauung, daß der vollkommene neue Roman die drei Faktoren „Idee, Leidenschaft und Kunst" in sich vereinigen müsse. Ob unter „ K u n s t " dabei Kunstfertigkeit, Komposition und Technik verstanden werden soll, wird nicht restlos deutlich, ist aber anzunehmen. Bald wird dramatische Spannung gefordert, bald vor einem Überschreiten der Grenze des Dramatischen gewarnt, bald wird Dynamik, bald „Plastik" verlangt. Die Bindung des Kritikers an den jeweiligen Sonderfall erklärt neben der persönlichen Unausgeglichenheit die labile, teilweise auch mit erzieherischen Gegengewichten arbeitende Stellungnahme. Innerhalb der Geschichte der Einzelgattungen gewinnt Gutzkows F o r d e r u n g e i n e r n e u a r t i g e n R o m a n f o r m besonders auch im Hinblick auf den im Naturalismus angestrebten Milieuroman an entwicklungsgeschichtlicher Bedeutung. Dieser als Neuerung verteidigte Romantypus, wie ihn Gutzkow vor allem in der Vorrede zu den ,.Rittern vom Geist" (1850!) und in den „Unterhaltungen am häuslichen Herd" (1852!) erläutert hat, lehnt es ab, als bloßer Sprößling französischer Feuilletonromane abgestempelt zu werden. Er will den Roman des „Nacheinander" ersetzen durch den „ R o m a n des N e b e n e i n a n d e r " . Die Reform betrifft also überwiegend die Kompositionsart. Am früheren Roman des Nacheinander rügt Gutzkow die „willkürliche Voraussetzung" einer gesucht vereinfachten und daher vergröbernden Konzentration, die „klassische Unglaubwürdigkeit" jener Auswahl im Längsschnitt, die keinen ehrlichen Querschnitt durch die wirklichen Lebensschichtungen kennt. Er sieht in diesem künstlich geballten Auswahlprinzip ein Hinübergleiten von der epischen zur dramatischen Wirkungsform: „Die seltenen Fälle eines drastischen (prägnant-konzentrierten) Nacheinanders greift im Grunde nur das Drama auf. Sonst aber —· lebenslange Strecken liegen ja zwischen einer Tat und ihren Folgen! Wieviel drängt sich nicht zwischen einem Schicksal hier und einem Schicksal dort!"

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Eben dieses, was „dazwischenliegt", die t r a g e n d e L e b e n s s c h i c h t in i h r e r g a n z e n B r e i t e , all das bislang säuberlich und ein wenig bequem Ausgesonderte, all das, was zwischen jenen Auswahlmotiven mitten inne liegt, hat der neue Roman des Nebeneinander mutig einzubeziehen in seinen Gestaltungskreis. Denn es „liegt das ganze Leben dazwischen, die Zeit, die Wahrheit, die Wirklichkeit, die Widerspiegelung, die Reflexion aller Lichtstrahlen des Lebens . . .". Nicht nur die Gestalten sind einzubeziehen in den Roman des Nebeneinander, die in das erzählte Geschehen eingefügt erscheinen, sondern auch die Gestalten, die diesem Geschehen „eine widerstrahlte Beleuchtung geben". In diesem Sinne hat dort auch der Stumme zu reden und der Abwesende gleichsam mitzuspielen, d. h. die mittelbare Resonanz und stille Wechselwirkung ist mit in Rechnung zu stellen, und zwar auch das, was bislang in den Romanen immer nur zwischen den Zeilen stand. Die einseitige Auswahl und Auslese der älteren Romanform vermochte —· bei aller Meisterschaft in der Ausführung —· doch immer nur einen Teilausschnitt des Lebens zu bieten und endete so notwendig bei einer „unwahren, erträumten Romanwelt". Indem der Dichter des neuen Romans sich über die Welt stellt, um sie voll überschauen zu können, gelangt er in spezifisch dichterischem Sinne zu einer „Welt-Anschauung", zu einer Schau des ganzen „runden" Lebenskreises. Er hat auch jenes „Dritte, nur dem Hörer Fühlbare, in Gott Ruhende" einzuformen in das Gesamtbild. Im ganzen erscheint die negative Bestimmung der neuen Romanform im Abheben von der alten deutlicher als die positive Zielprägung, die z.T. gefühlsmäßig verschwommen und unscharf wirkt. Immerhin wird erkennbar, daß das kompositionelle Interesse überwiegt; in der Art „der Verknüpfung" sieht Gutzkow selbst das Neue. In den „ Unterhaltungen am häuslichen Herd" wird der Querschnitt-Charakter der geforderten Kompositionsart erläutert am Vergleich mit Querschnittzeichnungen eines Bergwerks oder eines Kriegsschiffes, „wo das nebeneinander existierende Leben von hundert Kammern und Kämmerchen, wo die eine von der anderen keine Einsicht hat, doch zu einer überschauten Einsicht sichtbar wird . . .". Was Gutzkow vorschwebt, ist eine Betrachtungsweise nicht nur des Nebeneinander (Richtung: Zeitmilieuroman in weiterem Sinne), sondern auch des I n e i n a n d e r s p i e l s , „wo ein Dasein unbewußt immer wieder

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Schale oder Kern eines andern i s t . . .". Zeitweise schlägt Gutzkow als treffendere Bezeichnung auch „Korrelation" statt „Nebeneinander" vor. Die „Allseitigkeit" ist weitgehend anzustreben, und eine große Personenzahl darf nicht gescheut werden, wo „Millionen zu schildern" sind im dichterischen Reflexbild der Zeit. Die Welt der „Ausschließlichkeit", der geballten Auslese gehört dem Dramatiker, während der Romandichter aus harmlosem und teilweise zufällig bedingtem Lebensausschnitt Wesentliches herauszuformen hat. Die Absichtsdichtung kann insoweit gelockert werden, als die Gestalten zeitweise ihr eigenes Privatleben individuell fortführen dürfen „nach freier eigner Regung, bis sie da wieder ankommen, wo sie sich wieder in den roten Faden der Absicht des Dichters mitverwickelt sehen" (Vorwort zur 3. Auflage der „Ritter vom Geist"). Diese „Absicht", die also bei alledem festgehalten wird, zielt in die Richtung der freiheitlichen Tendenz. Im Kunstwerk sollen die Zeitgenossen ermutigt und ermuntert werden, die freiheitlichen Hoffnungen nicht verzagt aufzugeben, sondern die innere Überzeugung wachzuerhalten trotz der „tagesüblichen Bedrängnisse". Man liest zwischen den Zeilen, wie angedeutet wird, daß trotz der Zensur „der neue Luftzug der Idee", der neue „Pfingstgeist" in den Roman hinübergerettet werden soll, wenn schon die etwas bittere Einsicht sich bescheiden muß, daß die „äußere Welt . . . durch Künstlerhand allein (!) nicht zu ändern" ist. Aber vorbereitend kann und darf das Kunstwerk den inneren Erlebnisbereich aufnahmefreudig lockern für die neuen Ideen. An ihnen hält Gutzkow in fast rührender Weise auch dann noch fest, als diese fortschrittlichen Ideen durch radikalere überholt worden waren. Man denkt unwillkürlich an Sudermanns „Sturmgeselle Sokrates", wenn im Vorwort zur 6. Auflage (1878) mit dennoch liebevoller Anhänglichkeit und Treue zugestanden werden muß, daß er sich — gemessen am neuen Zeitgeist — vergriffen haben mochte, als er zu unbestimmte und unbestimmbare Ideale aufstellte. Daneben steht das für Jungdeutsche Tendenzdichtung klare Bekenntnis: „Ich wollte die 1850 verbotene freisinnige Debatte in höhere Sphären versetzen". Letzten Endes überwog auch im Sonderfalle der „Ritter vom Geist" das ideelichinhaltliche Interesse das formale, trotz jener theoretischen Beschäftigung mit Kompositionsproblemen. Die theoretischen Gedankengänge waren nicht Voraussetzung des Schaffens; ergaben

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sich vielmehr als nachträgliche Abstraktion im Sinne der Rechtfertigung: „ D a s Gesetz, nach dem ein Schaffender arbeitet, erkennt er meistens erst nach dem Geschaffenen". Die Form im engeren Sinne (Stilgebung usw.) fesselte ihn weniger, wie das Vorwort zur dritten Auflage bewußt betont. Nur um der „darin entwickelten Idee willen" schrieb er seinen Roman, und „erst der Gedanke gab die Form". Während z . B . Laube bald einlenkte zur Höherbewertung der Form, will Gutzkow „kein Dichter der ausschließlichen Form" sein. „Die Form ist ihm (dem Dichter) etwas Zufälliges, und wesentlich ist ihm nur der Gedanke". In der Vorrede zu den „ Wullenwebern" (1848) rückt er entschieden von der rein politischen Tendenz ab, indem er das Nationale betont und das Formale zur Geltung bringt. Während Gutzkow kein rechtes Verhältnis zur Form finden konnte und am Vorrecht des Ideelichen zäh festhielt, gewann H e i n r i c h L a u b e (1806—1884) trotz politischer Interessenbindung verhältnismäßig bald (etwa 1836) tieferes Verständnis für die Notwendigkeit einer dichterischen Formpflege, teils unter Einwirkung Varnhagens v. Ense, teils doch auch wohl aus eigener S e l b s t b e s i n n u n g auf das künstlerisch Erforderliche n e b e n d e m p o l i t i s c h G e f o r d e r t e n . Dagegen bleiben seine theoretischen Erwägungen über die Romanform, besonders über den historischen Roman, wie sie aus einigen Rezensionen des ,,Literaturblattes zur Zeitung für die elegante Welt" (1833/34) z u er ~ schließen sind, als frühe Ansätze nicht nur zeitlich beträchtlich hinter Gutzkows originalerer und vorwärtsweisender Forderung eines „Romans des Nebeneinanders" zurück. Altes kunsttheoretisches Erbe ist dabei die Erkenntnis, daß der historische Roman keinen geschichtswissenschaftlichen Ehrgeiz zu entfalten habe, etwas jüngeres die andere, an sich verwandte, daß sein Sinn nicht in zweckmäßiger historischer oder sonstiger Belehrung zu suchen sei, die als lästiger „ B a l l a s t " abgeworfen werden sollte. Und es bricht sich in diesem Zusammenhange bereits die Einsicht Bahn durch die zeitgebundene Tendenzstellung: „Die Poesie ist sich Selbstzweck, sie will erfreuen und erheben. . .", eine Einsicht, die zwar vorerst nur abrückt vom historisch-belehrenden und teilweise geschichtsgetreuen Treiben im unzulänglichen Gefolge Walter Scotts, aber doch den Blick hinlenkt auf jene erwähnte Wendung zu bewußterer Bewertung der Formgebung. Auch spielt in die Gestaltungs-Forderungen bereits das

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Vorbild Goethescher „Plastik" mit hinein; denn nicht zum wenigsten diese „plastische" Schöpfungsweise soll im Individuellen feste, greifbare Zentren finden, soll die Personen lebenswahr sichtbar machen und sie befähigen, Träger der geschichtlichen Stoffe und Ideen zu werden. Der Dichter nämlich kann und wird das rechte Leben — und wahrhaft poetische Geltung — nur dann sich erobern, wenn es ihm gelingt, das Historische in ein Individuelles umzusetzen, da „die Menschen" sein eigentliches Wirkungsbereich darstellen. Dabei kommt es nicht auf die an sich achtbare, aber nicht entscheidende Kunstfertigkeit „des historischen Porträtierens" an. Auch die andere Technik, die Geschichte als bloßen Hintergrund oder vereinheitlichenden Rahmen zu verwerten, bindet nicht besonders sein Interesse. Die weiterhin erwogene Möglichkeit, etwa die Geschichtsbegebenheiten gleichsam zu personifizieren als überindividuelle Faktoren von Eigenlebigkeit, findet ihre Schranke an der Grundforderung vollplastischer Personengestaltung, die dann nur zu leicht vermißt würde. Laube scheint vielmehr einer F o r m des h i s t o r i s c h e n Rom a n s zuzustreben, in der die bedeutsamen Geschichtsepochen als konzentrierte „Idee" oder als „Grundsatz der Epoche" (Einfluß Hegels?) sich organisch verschmelzen mit der PersonenGestaltung etwa in der Weise, daß sich das Individuelle hinreichend ausweitet, um das Epochale bruchlos —· und ohne gesprengt zu werden — in sich aufnehmen zu können. Die Epochen sollen wirken wie die vorbereitenden Prämissen „eines großen Beweises", eines einzigen Erweises. Das Ganze soll als Pyramide sich aufbauen (Einfluß Hegel), deren Basis die Breite der historischen Einzelheiten, deren Mittelschicht der Epochen-Typus, deren Gipfel jener „Beweis" selbst ausmacht. Dieser „Beweis" nun scheint nicht so ganz frei zu sein von der Jungdeutschen Tendenz im Sinne der Tendenzprogrammatik und Weltanschauungsästhetik und hinüberzudeuten auf Gutzkows nachträgliche Erklärung, im Roman mehr oder weniger verhüllt p o l i t i s c h e B e s t r e b u n g e n zur Auswirkung gebracht und die Debatte auf ein höheres Niveau gehoben zu haben. Diese „höhere Sphäre" Gutzkows ähnelt offenbar dem Pyramidengipfel-,,Beweis" Laubes. Und wenn auch von der spezifischen Welt des Romans als einer „Romantik der Seele" gesprochen, wenn auch erst die „fessellose Poesie", die doch zugleich eine „spekulierende" ist, jenen Gipfel erreichen soll, so

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bleibt doch die Wärme kennzeichnend, mit der der Kritiker Laube den politisch-historischen Gegenwartsroman bzw. neuzeitlichen historischen Stoff (ζ. Β. H. Königs Roman „Die hohe Braut" aus der franz. Revolutionszeit) rückhaltlos als Muster anpreist. Mit H e i n r i c h K ö n i g (1790—1869), ursprünglich zum Mönch bestimmt, später wegen seiner kirchenfeindlichen Einstellung exkommuniziert und bildungsmäßig Autodidakt, hatte Laube in der Tat denjenigen Verfasser historischer Romane herausgestellt, der vor allem mit seinen „Klubbisten von Mainz" (1831) und deren Beziehung zu G. Forster einerseits und wiederum der Französischen Revolution dem T y p u s des h i s t o r i s c h g e f ä r b t e n T e n d e n z r o m a n s in jenen Jahren noch am meisten entgegenkam. Denn W. Alexis mit seinem gleichzeitigen „Cabanis-" Roman (1832) konnte den Jungdeutschen schon rein stofflich wenig zusagen, während Levin Schückings liberale Romane, etwa „Die Ritterbürtigen", die Annette von Droste verstimmten, zeitlich etwa ein bis zwei Jahrzehnte später folgen. An sich lag Anfang der dreißiger Jahre eine gewisse Verdichtungsstelle für den historischen Roman, so etwa der im 16. Jahrhundert spielende „Scipio Cicala" (1832) des schwäbischen Romanschriftstellers Phil. Jos. von Rehfues, der indessen für den jungdeutschen Geschmack zu zahm gehalten war. Der junge Zeitgeist, der „eines neuen Jahrhunderts", von Börne, dem noch fortschrittlichen Menzel, Wienbarg und Gutzkow uns vertraut, ist es, der auch Laube begeistert. Aber er will keine bloßen historischen Schlüssel- und Verkleidungsromane, wo in den „Jakobinermützen" der alte „deutsche Philister" einherspringt, künstlich ausstaffiert. Er will ein Herauswachsen der fortschrittlichen Ideen aus dem gewählten Zeitmilieu, eine Durchdringung von „Geschichte, Terrain, Charakter, Begebenheit", und man darf hinzufügen: Gegenwartstendenz. Nur eben soll dieses Räsonnieren nicht mehr in primitiver Schroffheit abstechen vom historischen Stoff. Oder, wie Otto Ludwig es an gewissen Sentenzen rügte, die Reflexionen dürfen nicht unorganisch wie künstlicher Tannenbaumschmuck aufgesetzt und angehängt sein. Im einzelnen erweisen sich diese in Kritiken eingestreuten Ausführungen als teils unausgeglichen-unscharf in den begrifflichen Umrissen, teils auch als widersprechend in der bewertenden Haltung. Während ζ. B. einerseits die Dichtung nur Selbstzweck und kein Teilglied wissenschaftlicher „Encyklopädie" und Geis

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schichtswissenschaft darstellen soll, versteigt sich doch Laubes Vorliebe für den historischen Roman gerade bei geschlosseneren theoretischen Darlegungen über jene Pyramidenform zu dem pathetischen Ausruf, daß so der Schlußstein „der historischen, wissenschaftlichen (!) Kunst" allein erreicht werden könne, ohne daß er dabei die letzten Konsequenzen im sogenannten Professorenroman vorausgesehen haben dürfte. Im übrigen bleibt zu berücksichtigen, daß die Forderung bestimmter Tendenzen ζ. T. bewußt gedämpft und verschleiert erscheint (Einfluß der Zensur). Unverkennbar jedoch ringen das künstlerische Formbewußtsein und die Formsehnsucht schon in diesen Kritiken von 1833/34 mit der Vordringlichkeit historisch-politischer Absichten. Selbst der Einzelzug, daß die knappe und bündige Stilgebung begrüßt und auf die einfache Gedrungenheit schlichter Kurzsätze der sonst bekämpften Ritterromane zurückgeführt wird, weist voraus auf die E n t w i c k l u n g v o n der F o r m - B e o b a c h t u n g z u r F o r m - A c h t u n g . Ähnlich wie die Forderung künstlerischer Menschengestaltung und das gelegentliche Aufgreifen der einst von Geniezeit und Klassik (K. Ph. Moritz) errungenen Auffassung der Kunst als Selbstzweck ein Freikommenwollen von einseitiger Bindung und Fesselung an die Tendenz spürbar werden läßt. Demnach dürfte es doch nicht nur ein Stützungsuchen des jungen Schriftstellers an Varnhagen von Ense oder gar ein bloßes ZumMunde-Reden gewesen sein, wenn Laubes Widmungs-Vorrede zu seiner Novelle „Die Schauspielerin" (1836, entstanden 1835) s o energisch auf die Gefahren absichtsgebundener Dichtung hinweist. Gewiß wirbt Laube um das Wohlwollen Varnhagens, dem die Novelle „ergebenst gewidmet" worden ist; und der Jungdeutsche berührt sich fast ebenso mit dem Erbwalter Goethes wie Grabbe mit Tieck. Indessen wurde ihm dieses Entgegenkommen anschauungsmäßiger Art nicht durch die ausgesprochen persönliche Dankbarkeit erleichtert. Er brauchte nur jene Keime weiter zu entfalten, um die vorbereiteten eigenen Ansichten als „aus Ihrer Anschauungsweise, wenigstens harmonierend mit derselben gesagt", erscheinen zu lassen. Laube dankt Varnhagen die Lockerung der Gegenwartsenge und das Bewußtsein, daß wahres Künstlertum in seinen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden und nicht erschöpft werden kann durch verpflichtendes Eingehen auf die „vielen zufälligen

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Richtungen unserer Tage", daß ihm ein „Wesentliches Goethescher Anschauungsweise" vermittelt wurde. Der beratende Faktor für den Künstler ist ihm in Vamhagen von Ense gleichsam personifiziert aufgegangen: „ E s ist der Geschmack", ein Satz, dem Laube nicht zufällig eine Sonderzeile abhebend einräumt. Und sogleich wird einer der H a u p t s c h ä d e n d e r G e g e n w a r t s l i t e r a t u r in der „ V e r n a c h l ä s s i g u n g d e s G e s c h m a c k s " aufgedeckt. Die Ideen seien vorschnell auf den Markt des Tages geworfen, „ohne ihre Abklärung abzuwarten". Es sei in diesem Zusammenhange vorausgewiesen auf Timm Krögers Abwehr eines „noch unausgegorenen Parteiverlangens" als Gegenstand für die echte Heimatkunst oder auch auf die mehr die naturwissenschaftliche Tendenz einschränkende Warnung Wilhelm Bölsches (etwa ein Jahrzehnt vor Kröger), nicht verfrüht ungesicherte Lehren wie die Vererbungslehre übereifrig als dichterisches Motiv zu verwenden. Entschiedener noch vollzieht sich die Ablösung von jenen überreichen Gedanken und Anregungen der Zeitschriftstellerei, denen „die Form, das Maß, die innerste Bedingung der Harmonie" mangelt. Als Erfordernisse ergeben sich „richtiges Gefühl und guter Geschmack", die das hastig Erraffte nicht als vollwertig durchgebildete Kunst zulassen können, sondern nur das in ruhigem Reifungsvorgang „Gewonnene". Neben dem Formmangel verwirft Laube als zweite Zeitschwäche die Formvergewaltigung, jene zeittypische „Gewaltsamkeit, mit welcher eine wirkliche Form behandelt wird: diese oder jene polemische Richtung, diese oder jene Spekulation muß in ihrer rohesten, ersten Erscheinung Novelle werden, ein philosophisches System muß sich wohl oder übel in eine Erzählung dehnen. . .". Die Geschmacklosigkeit äußert sich kompositioneil und in der Gesamthaltung vor allem in einer Entartung des Ideelichen zu „grober Absichtlichkeit". Daß Laubes Einsicht in das Erfordernis erhöhter Formbereitschaft keine bloße Rücksicht auf Varnhagens Einstellung bedeutete, bestätigt die etwa ein Jahrzehnt später liegende ,,Einleitung des Verfassers" zum „S^«e«see"-Drama (1847), in der er nicht nur die Einheit im Drama als etwas „für uns Deutsche sehr Ersprießliches" verteidigt, um den Hang zur ausschweifenden Darstellung zu zügeln, sondern ganz allgemein „unsere Schlottrigkeit in der F o r m " verurteilt. Forcierte Genialität glaubt sich durch Formlässigkeit ausweisen zu sollen, während wahrhafte Genialität 13·

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doch auch in der Maßhaltung der Form nicht verkümmern könne. Für das Talent zum mindesten sind „ F o r m und Regel" unentbehrlich. Das Genie mag formweitend sich auswirken; aber eben „das Sprengen der Form ist etwas ganz anderes als das Vernachlässigen derselben". Selbst der sonst den Jungdeutschen durchweg wenig genehme, wenngleich von einigen eifrig „studierte" und diskutierte Hegel, dessen Nachwirkung sie sich dennoch nicht gänzlich entziehen konnten, wird mit seiner Ästhetik herangezogen, um mit breiten Zitaten die relative Berechtigung der dramatischen Einheiten zu stützen. Zwar dem Verdachte, „eine fremde Klassik" wieder einbürgern zu wollen, möchte sich Laube von vornherein entziehen durch den Hinweis darauf, daß es eigene dramaturgische Erfahrung sei, was ihn leitete, und daß dergestalt das Stück „kernhafter" wirken müsse. Und ein wenig überängstlich fast wehrt er ab: „ D a ß in meinem Struensee alle drei Einheiten beobachtet sind, ist für mich selbst etwas beinahe Zufälliges. Ich bin weit entfernt, einen Wert darauf zu legen, daß die Einheit äußerlich in allen Punkten durchgesetzt sei. Die Einheiten sind mir nur ein Symptom, ein Symptom, daß innerlich alles zusammengedrängt ist". Aber es ist unverkennbar, daß Laube den Blick lernend über den Rhein schweifen ließ zu den Franzosen, die selbst in ihrer Romantik — wie Laube beobachten zu können glaubte —• noch das klassizistische Formerbe sich gewahrt hatten und nicht „aus Rand und B a n d " geraten konnten auf Grund ihrer älteren Formtradition. Es darf daran erinnert werden, daß bereits die Einleitung zum „Monaldeschi" (1845) die jugendliche Feindschaft gegen den französischen Klassizismus der Corneille und Racine einer Revision unterzogen hatte, indem trotz aller Herbe und „Magerkeit" dennoch „mehr richtige Grundsätze" in der Tragödie hohen Stils entdeckt wurden; auch Heines positives Urteil wirkt ein. Eine gewisse Abkehr von der Formlockerung durch Shakespeare bietet die folgerichtige Begleiterscheinung. Das in der „Monaldeschi"-Einleitung gegebene Versprechen einer Erörterung über das historische Drama und seine Schwierigkeiten (offenbar nicht zum wenigsten Zensurschwierigkeiten) gesteht die ,,Struensee"-Vorrede nicht einlösen zu können, streift indessen die Hemmungen und Bindungen der einzelnen Theater, besonders der Hoftheater und das Mißtrauen der Zensur als produktionslähmende Kräfte. Laube gibt mit seinem „Struensee"

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selbst einige Beispiele für die formmodifizierende Einwirkung der Zensur auf das entstehende Kunstwerk. Schon die Klage um ein fehlendes, wirklich u n a b h ä n g i g e s N a t i o n a l t h e a t e r weist in die Richtung einer erstrebenswerten spezifisch nationalen Dramatik. Weiterhin berührt er in der Verteidigung bzw. Entschuldigung des im „Struensee" stark vorherrschenden Intrigenspiels das Problem einer nationalen Dramenform, die „aus dem Kern deutscher Eigenschaften entspringen" müsse. E r bekennt, oft erwogen zu haben, wie eine „unserem eigentümlichsten Wesen angemessenere und entsprechendere Form des Dramas" zu erobern wäre. Und es ist wohl nicht bloße Ironie, wenn er in Iffland eine wenn auch noch unzulängliche Grundlage sieht, eine noch primitive, aber in der Zielrichtung wegweisende Vorarbeit, die immerhin weiteren Ausbau ermöglicht für ein deutsch-bürgerliches Charakterstück: „Auf diesem Wege liegen gewiß ergiebige Entdekkungen für das deutsche Theater". Außer diesem kleinen Beitrag zum oft angeschnittenen Problem der Nationaldramatik, das u. a. Immermann, Platen und Grabbe aufgegriffen hatten, erwächst aus der vorbeugenden Rechtfertigung des Einzelfalles (Struensee) die Gelegenheit zu einigen allgemeiner gehaltenen, mehr grundsätzlichen Bemerkungen über das Verhältnis von Dichtkunst und Geschichte, von Dichtung und Datentreue. Danach ist die Geschehenswirklichkeit der Kunstwahrheit unterzuordnen, die allein das Kunstwerk beherrschen soll. Denn „das Nichtgeschehene kann wahr sein durch die Kunst des Poeten, welcher eine Welt im Ganzen erschafft; und das Geschehene kann unwahr werden, wenn es unpassend dem Organismus einer Poesie angehängt wird". Offenbar streift Laube hier die wesentliche Erkenntnis von der immanenten Eigengesetzlichkeit des organischen Kunstwerkes, das oft strengere Motivierung fordert als das wirkliche Geschehen, das urkundlich gesichert den Einwurf „unwahrscheinlich" von vornherein durch das Machtwort der verbürgten Tatsächlichkeit erstickt, eine Erkenntnis, die übrigens — wie erwähnt — bereits Grillparzer gelegentlich seines „Ottokar"-Dramas verfochten hatte. Unter den Jungdeutschen beschäftigte T h e o d o r M ü n d t (1808—1861) besonders stark und nachhaltig das V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e u n d P h i l o s o p h i e , ob es sich nun um Rezensionen im Berliner Konversationsblatt (1828), in den ,,Blättern für literarische Unterhaltung" (1830), um Einzelaufsätze in seinen ,,.Kritischen

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Wäldern" (1833) oder auch um Sonderabschnitte in seinem ,,Freihafen" (1841) und seiner zusammenfassenden ,,Ästhetik" (1845) handeln mochte. Im wesentlichen läuft die Klärung dieses Verhältnisses darauf hinaus, der Kunst ihre Eigenart und ihr Geltungsrecht gegenüber der sie bedrängenden „Begriffsphilosophie" Hegelscher Art zurückzuerobern. Und zwar geht Mündt in seiner ,,Ästhetik" schließlich von der Abwehr zum Angriff gegen die spekulative Philosophie so weit vor, daß er die Kunst, besonders die Dichtkunst, für geeigneter und fähiger erklärt, in die Geschichtsentwicklung einzugehen und einzugreifen als die Philosophie. Nur eine Teilkampfhandlung aus diesem freundnachbarlichen Gefecht am Grenzrain von Dichtung und Philosophie, wenn auch eine besonders einprägsame und bekannte, hebt die Abhandlung vom „Kampfe eines Hegelianers mit den Grazien" heraus. Die Waffen zu diesem Kampfe hatte Mündt durchweg nicht selbst geschmiedet, sondern vielfach von Schiller, Schelling, Solger, aber auch vom damaligen Ästhetiker Chr. Hermann Weisse {„Ästhetik" 1830) und — Hegel selbst entliehen. Dennoch war es nicht ohne entwicklungsgeschichtliches Verdienst, die Standfestigkeit und das Ansehen der Kunst zu stützen gegen die kraftvoll andrängende Strömung der Hegeischen Philosophie. Und wenn auch scharfe Befreiungsvorstöße von anderen Jungdeutschen, nicht nur von Heine gegen das Hegeische Bollwerk vorgetragen wurden, so erweist sich gerade Mündt als besonders beharrlich in der Gegenwehr. Bedeutete doch diese Gegenwehr zugleich eine Selbstbefreiung Mündts von Hegels Einfluß, die ihm indessen nicht so restlos gelang, wie er glauben machen möchte. Hinsichtlich der Stellung zur Tendenzpoesie und Tendenzprogrammatik tritt bald eine Dämpfung und schließlich, z . B . auch in der späten „Ästhetik", ein Uberdruß im Sinne der Abwehr und Abkehr innerhalb der Sonderentwicklung Mündts in Erscheinung. Die ,,Kritischen Wälder, Blätter zur Beurteilung der Literatur, Kunst und Wissenschaft unserer Zeit" (1833), Charlotte Stieglitz gewidmet, nehmen in der Titelgebung Bezug auf Jacob Baldes „ S y l v a e lyricae" und auf Herders im Typus verwandteren „ K r i tischen Wälder" und bieten eine lockere Folge von kritischen Aufsätzen mit der gemeinsamen Leitidee, „nur die B e s t r e b u n g e n u n s e r e r Z e i t " zu beurteilen. Es handelt sich um Aufsätze, die seit 1826 bereits in Zeitschriften erschienen waren, darunter an zweiter Stelle der „Kampf eines Hegelianers mit den Grazien, eine

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philosophische Humoreske", der ein Gespräch mit Dr. Weißdaßernichtsweiß improvisiert und zu den Grenzen vorstoßen möchte, „ w o Hegels Dialektik selbst zu einer mit dem Begriff spielenden trügerischen Sophistik wird". Spezifisch Jungdeutsches und spezifisch Kunsttheoretisches findet sich kaum in den „Kritischen Wäldern", abgesehen von dem Aufsatz „Über Novellenpoesie". Was dieser siebente Aufsatz nach einem historischen Eingangsteil an kunsttheoretischer Klärung des Verhältnisses von Roman und Novelle ausführt: die gedehnte Gradlinigkeit der „nach vielen Seiten hin ausgebreiteten Gesamtrichtung des Lebens" im Roman, die enger um einen festen Mittelpunkt geschwungene Kreislinie der Novelle mit ihrer „gedrungenen" Struktur, die Definition: „Die Novelle aber ist gleichsam nur eine Episode aus dem Roman des Lebens, ein in sich abgeschlossener Mikrokosmos": alles das wird späterhin, leicht variiert, wieder aufgenommen in der ,,Kunst der deutschen Prosa" und schließlich auch in der „Ästhetik". Dort mag darauf zurückgegriffen werden. Hier interessiert vielleicht noch die Erläuterung von Roman und Novelle als „zweier verschiedenartiger Konstruktionen des modernen Epos". Einiges Grundsätzliche über den Roman wird eingeflochten gelegentlich der kritischen Würdigung von Goethes „Wilhelm Meisters Wanderjahre" (10. Aufsatz). Die teilweise ironisch gefärbte Ablehnung könnte zwar als Jungdeutsche Haltung empfunden werden, aber die Begründung dieser Ablehnung weist nicht gerade in Jungdeutsche Richtung. Empfindet doch Mündt damals noch die realistischen, lebensnahen Einzelzüge, ζ. B. die „in's Detail gehenden Mitteilungen über das WeDergeschäft . . ., die in aller Empirie hingestellt werden", als unpoetisch; scheinen ihm doch die „ökonomischen, technischen und landwirtschaftlichen, haushälterischen und handwerkszünftigen Darstellungen . . . " den „Roman zu tief und rettungslos in die Prosa (das Prosaische) hineingestürzt" zu haben (Einfluß von Novalis, vgl. Band III). Nachdrücklich hebt Mündt hervor, daß der Roman „doch auch eine poetische Kunstform" sei und deshalb in seiner an sich zugestandenen „Biegsamkeit, die empirische Wirklichkeit des Lebens aufzunehmen, seine Grenzen haben muß". Immerhin ist es ja auch sonst mehr ein poetischer, ein vergeistigter Realismus, dem die Jungdeutschen sich zuneigen. Und in diesem Sinne würde sich allerdings die Abwehr der als „realistisch" aufgefaßten Elemente in die Gesamtrichtung der Bewegung einbeziehen lassen.

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Sie zeichnet sich bereits etwas deutlicher ab, wenn beanstandet wird, daß die „Wanderjähre" nicht hinreichend mit einer bestimmten Zeit und mit bestimmten Verhältnissen zu rechnen wissen. Und es erwächst aus diesem Kriterium die positive, zielsetzende Forderung: „Der R o m a n soll ein Spiegel seiner Zeit oder überhaupt einer bestimmt gezeichneten Wirklichkeit sein; er mag es nun mit geistigen Interessen oder mit historischen Begebenheiten als seinem Thema zu tun haben", eine Wesensbestimmung, die letzten Endes noch Fr. Spielhagen in seine Romantheorie hätte aufnehmen können. Aus Berliner Universitätsvorträgen hervorgegangen, will die „Ästhetik, die Idee der Schönheit und des Kunstwerks im Lichte unserer Zeit" der Kunstanschauung und Kunstausübung eine „Stelle mitten in den innersten Bewegungselementen unserer Zeit" einräumen unter ausdrücklicher Rückbeziehung auf Schillers Auffassung der Ästhetik als „Vorschule der p o l i t i s c h e n F r e i h e i t " . Selbst Hegel, dessen Gedankengänge und Terminologie mehrfach aufgegriffen, aber auch angegriffen werden, hat mit seiner logisierend dialektischen Systematik nicht die Erfüllung der Schillerschen Ansätze bringen können. Wie eine knappe Skizze zur Geschichte der Ästhetik innerhalb der Einleitung ablesen läßt, sagt Mündt die Schellingsche Anerkennung der Kunst als Höhenwert mehr zu als Hegels wertsenkendes Abstufen der Kunst gegenüber der Philosophie. Diese Einleitung läßt noch merklich jungdeutsche Ideale mit anklingen: in der Forderung, die Ästhetik in den „wahren pulsierenden Lebenspunkt unserer Zeit" zu rücken, wie es einer „Epoche der Mündigkeit" (Anklang an Kants Definition der Aufklärung) zukomme, in der politisch freiheitlichen Tendenz (Abschnitt: die Lebensidee unserer Zeit und die Kunst), in der — Hegel gegenüber — betonten Zuversicht, daß die Kunst besser als die Philosophie geeignet sei, mit ihrem Organismus den Zwiespalt von Idee und Wirklichkeit aufzuheben und mit ihrer organisch immanenten Gesetzlichkeit aus „wahrhaft menschlichem Schaffenstrieb" die Transzendenz zu überwinden. Jungdeutsch wirkt der Gedanke, daß „das erste geistige Bild der Organisation" im Kunstwerk wegweisend sein könnte für eine staatliche Organisation, für eine „wahre, f r e i e G e s t a l t u n g aller m e n s c h l i c h e n Z u s t ä n d e " . Jungdeutsch erscheint vor allem auch die Wendung, die der ästhetischen Menschheitserziehung gegeben wird vom

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bloßen Vemunftgemäßsein zum Tatbereitsein, die aktivistische Forderung in der Variation des Schillerschen Satzes, daß der vernünftige Mensch nur frei werden könne durch Tatsetzung (Anlehnung an Hegel). Aber das erwünschte „politische Schöpfungswerk" hat vom „Kunstwerk die Idee der freien Organisation zu entlehnen". Denn die künstlerische Bildung lenkt zielstrebig auf die rechte Bahn „zur Bildung des freien Staatslebens", und das bloße Denken vermag niemals in der Menschheitsentwicklung die wegbereitende, vorbereitende Mission des Künstlerischen zu ersetzen (Abwehr Hegels). Das Selbstbewußtsein muß ein künstlerisch schaffendes und so zur Tat hinüberweisendes Selbstbewußtsein werden. Die Kunst ist unentbehrlich auch als Verjüngungsquelle für unser „politisches Leben" und — wie bei Mündt nicht nur hier hervorgehoben wird — für unser „religiöses Bewußtsein". Im ganzen sucht Mündt über Hegels Ästhetik hinauszugelangen unter Teilverwertung Hegelscher (bes. auch geschiehtsphilosophischer) Gedanken mit der fördernden Auftriebskraft der Schellingschen Kunstbejahung als „Offenbarung des Absoluten" und durch tastenden Ausbau Schillerscher Ideen von der ästhetischen Erziehung des Menschen. Der erste Teil der „Ästhetik" sucht die „Idee der Schönheit" zu bestimmen. Das Schöne wird genetisch erläutert als die „ideale Form der jedesmaligen Lebensunmittelbarkeit" innerhalb der gestuften Geschichte des Völkerlebens. In der Schönheit tritt zugleich die „ganze herrschende Weltansicht auf ihrem Höhepunkt" zutage. Das G e n i e o d e r d e r G e n i u s , wie Mündt formuliert, ist nicht der „große Kopf", wie Sulzer (dessen Bedeutung Mündt hier nicht gerecht wird) einst „ganz treuherzig" gemeint hätte; aber auch nicht „das große Maul", wie manche Moderne anzunehmen scheinen, sondern der „machtbegabte Zauberer", der die Einheit von Idee und Form, von Bild und Gedanke zu zwingen vermag und so aus Durchdringung „der Idee mit der Wirklichkeit" die Gestaltung schafft. A n s ä t z e z u m i d e e l l e n R e a l i s m u s w e r d e n n i c h t n u r h i e r in d e r K u n s t t h e o r i e d e r J u n g d e u t s c h e n f ü h l b a r . Leicht klingt Wienbarg an, wenn die Auswirkung des Genius sich auf das sittlich schöne, praktische Leben erstreckt. Das Wesen des Genius liegt im menschlichen Selbstbewußtsein insofern eingeschlossen, als sich mit der Sehnsucht nach Bewußtwerdung auch der „echte menschliche Schöpfertrieb" regt. Aber

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das Genie wird dergestalt zur „höchsten Potenz der menschlichen Persönlichkeit" und verschmilzt in sich Offenbarung und Begeisterung, das Prophetische und das Gut-Sein. Diese Genieauffassung wird bewußt abgehoben vom damals allzu zeitgemäßen „sogenannten unglücklichen oder liederlichen Genie" (der „Zerrissene"). Eine scharfe Trennung von künstlerischem und philosophischem Genius wird im wesentlichen mit Jean Paul abgelehnt und gerade für deutsche Art die Mischform anerkannt. Das Talent hat als untergeordnete, aber unentbehrliche Teilkraft des Genies innere Berechtigung (technische Kunstfertigkeit, Meisterung der Darstellungsmittel); aber isoliert bleibt es durchaus minderwertig. Die „Talentsucht" der damaligen Gegenwart ist abzuwehren als forciertes Sich-Hinwegtäuschen über individuelle und national-politische Unzulänglichkeiten und Brüchigkeiten. Der speziellere zweite Teil der Gesamtästhetik „Die verwirklichte Idee der Schönheit oder das Kunstwerk" räumt eingangs breite Strecken der Einzelverwirklichung der Schönheit ein, der geschlechtbedingten und volkbedingten Körperschönheit, wobei die bildende Kunst mehrfach gestreift werden kann. Für die Dichtungsdeutung im engeren Sinne kommen vorwiegend in Betracht die Abschnitte 8—15 dieses zweiten Teils. Und hier wird nun klar, daß auf dichterischem Gebiet keineswegs mehr die nach der Gesamteinleitung fast noch zu erwartende Verteidigung der Tendenzdichtung beabsichtigt ist. Vielmehr wird ausdrücklich beklagt, daß in der neuesten Dichtung das „rein künstlerische Element verwischt und von der schwankenden Reflexion der Zeit durchzogen und ungestaltig gemacht" worden ist. Der Widerspruch mit gewissen Thesen der Einleitung scheint sich insofern aufzulösen, als Mündt nach wie vor der Kunst schlechtweg und auch spezifisch der Dichtkunst das Recht und das Vermögen zugesteht und beläßt, l e b e n d i g e M i t a r b e i t an der E n t w i c k l u n g s w a n d l u n g der „Völkerzustände" zu leisten. Dieses „politische Moment" im höheren Sinne bleibt Voraussetzung für eine „wahrhaft nationale" Dichtkunst, die den „Bewegungen des Volksgeistes" sich innig anschmiegt, ja diesen Volksgeist in sich aufnimmt. Indessen setzt der Überdruß an einer parteipolitisch enger gebundenen Tendenz sich durch in der V e r w e r f u n g jener b e s c h r ä n k t e n A k t u a l i t ä t s d i c h t u n g , „die bloß durch momentane Anregung dem Tage dienen will". Diese Tagespoesie er-

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scheint nur noch minderwertiger, wenn sie „ o f t sehr gefallsüchtig zierliche Visitenkarten bei der Freiheit abgibt", also mit an sich großen Ideen nur kokettiert. Die Dichtkunst kann und soll nicht „Geschichte machen"; vielmehr ist ihr aufgegeben, das dem Geschichtsstrom entquellende Leben „in Schönheit" auszugestalten. Eine Lösung scheint angedeutet bei der C h a r a k t e r i s t i k d e r S a t i r e , deren Untergründe in volkstümlicher Polemik (Trieb zum Spotten und Necken) aufgedeckt werden. Denn dort meint Mündt, daß jene Volkspoesie leicht zu einer Art von „Oppositionspoesie" werde und daß es also auf umgekehrtem Wege vielleicht sich werde ermöglichen lassen, die „Oppositionspoesie" wieder zur Volkspoesie zurückzuführen. Eine verallgemeinerte und „höhere" politische Gesinnung vermag der Jungdeutsche, der wohl teils auch unter dem Druck drohender Zensur seine Meinung dämpft, nicht zugleich mit dem Lösungsbestreben von der Tendenz aufzugeben. Das organische Eingebettetsein der antiken Kunst in das „öffentliche Leben" wird an der modernen schmerzlich vermißt. Und bei der W e s e n s b e s t i m m u n g d e r N o v e l l e greift selbst noch die Tendenz als Artattribut deutlich ein. Denn „die Novelle fängt ihre Verhältnisse in dem Brennspiegel einer charakteristischen Absicht, einer Zeittendenz, einer auf die Tagesbewegung berechneten Reflexion a u f . . .". Jedoch berührt das nicht die grundsätzliche Einstellung, da dieses zeitliche „ R e flexionselement" (Tendenz) die Novellengattung in der Rangstellung herabdrückt. Im Empirischen gilt die Novellenfülle der „Restaurationsepoche" als Kennzeichen dieser nicht vollwertigen Gattungsausprägung. Gerade dieses völlige Übergehen der Jungdeutschen Novelle bestätigt den Gesamteindruck eines merklichen Abrückens von der ausgesprochenen Tendenzliteratur. In der „Kunst der deutschen Prosa" klingt das allerdings wesentlich anders. Gemessen an Mündts schriftstellerischer Betätigung fällt überhaupt der Abschnitt über die Poesie recht mager aus. Die epische Poesie gilt als „Urform alles Dichtens". E s wird aber nur möglich sein, ein modernes Epos zu schaffen, wenn man wirklich den „zeitgemäßen Inhalt und Geist des Lebens aufnimmt und zur Erscheinung bringt". Bei der B e s t i m m u n g d e r L y r i k gerät Mündt in poetisches Schwärmen hinein, wobei man ζ. B. erfährt, daß das Volkslied „ a m liebsten in den grünen Wald hinaus" schallt, immerhin aber auch einiges Greifbare: „ D a s aus sich selbst her-

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vorjauchzende Selbst-Bewußtsein" ist das Wesen der Lyrik, eine „Läuterung und Befreiung des menschlichen Herzensinhaltes" ihre Wirkung, die „substanzielle Wesenheit des Gefühls" ihr Gehalt. Der Gefühlsraub, dessen sich die „Hegeische Begriffsphilosophie" schuldig gemacht hat, wird ausgeglichen und gleichsam beschämt durch die Gefühlsfülle der Lyrik. Mit dem Duft der Lyrik hofft man also selbst Hegel betören oder doch betäuben zu können. Das D r a m a ist die Dichtung der „freien Persönlichkeit", zugleich aber das „in Handlung getretene Gewissen der Nation" (vgl. noch Paul Emst). Es umspannt das „Wesen des menschlichen Lebens in seiner Universalität" und gestaltet den Dualismus von zeitbedingter Existenz und idealer Ewigkeitsgeltung. Es hebt in der Wirkung auf den Zuschauer das Gefühl der „Vereinzelung und Bedürftigkeit" auf. Rangmäßig ist es die höchste Kunstform. Hervorhebung verdient, daß Mündt das Drama n i c h t als Addition von Epik und Lyrik auffaßt. Dagegen glaubt er im R o m a n eine M i s c h g a t t u n g zu erkennen, in der sich lyrische und dramatische Elemente „verschmelzen". Durch umfassende Reichweite stellt das „Totalbild" des Romans einen gewissen Ausgleichswert her gegenüber etwaiger Mängel an „strenger Kunstvollendung". Der Roman bietet die Gesamtstrecke eines Lebenslaufes in zeitlicher Abfolge dar mit sich „aneinander reihenden Begebenheiten", etwa nach Art einer geraden Linie, deren Endpunkt nicht struktur mäßig entscheidend sein kann. Der Schluß ist hier nicht von immanenter Notwendigkeit und hat vor allem keine rückwirkende Kraft auf die Gesamtanlage und deren linearen Typus; er ist eben nur eine letzte von vielen anderen Begebenheiten, wenn auch eine besonders sinnvoll abrundende. Die Novelle dagegen erfaßt einen Lebensausschnitt, ein „einzeln für sich bestehendes Lebensverhältnis", das sie wie ein in sich geschlossener Kreis umspannt (vgl. noch Paul Heyse). Ihre Struktur ist dementsprechend um ein Zentrum gelagert, das den Verlauf der „Cirkellinie" bestimmt. Der Novellenschluß — hier versagt recht eigentlich der Mundtsche Vergleich mit der Kreislinie, obgleich er überall wiederkehrt — ist kompositionell entscheidend, da ihm alles zustreben muß. Er ist in seiner notwendigen Festlegung vom Zentralpunkt aus bedingt. Die Novelle sieht die Welt „mikroskopisch" und bringt eine „prismatische Zusammendrängung der Wirklichkeit". Sie ist absichtsbetonter, ziel-

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strebiger, pointierter als der Roman. Hinsichtlich der Gestaltungsart wird der Novelle eine etwas unbestimmte Vielseitigkeit je nach Motivwahl und Mischungsberechtigung „des entgegengesetzten Stils" zugestanden. Im übrigen kann auf die oben bereits mitgeteilte Novellen-Definition verwiesen und daran erinnert werden, daß sowohl diese Wesensbestimmung des Romans als auch die der Novelle, darunter auch die Annahme, daß im Roman mehr die Charaktere, in der Novelle dagegen mehr die „Verhältnisse" entscheiden, bereits durchweg wörtlich in der ,,Kunst der Deutschen Prosa" vorgebildet bereitlagen. Überhaupt kommt die auch stilkritisch und stilgeschichtlich bedeutsame ,,Kunst der Deutschen Prosa" (1837), die zugleich mit ihrer „Emanzipation der Prosa" und ihrer Verteidigung der modernen kritischen, kämpferischen „Prosa des darstellenden Gedankens" in das zeitgeschichtliche Vordringen der Prosageltung mehrfach energisch eingreift, auch für die Dichtungsdeutung in Betracht, und zwar besonders mit ihrem dritten Teile: „Die literarischen Gattungen der Prosa". Damals noch der Jungdeutschen Zentralstellung merklich näher stehend als in der „Ästhetik", nimmt Mündt kennzeichnenderweise gegenüber der Novelle eine stärker bejahende Stellung ein. Denn dort findet sich noch der positive Zusatz: „Diese Gattung kann alle Töne von Poesie und Prosa mit genialer Willkür vereinigen und ist deshalb in neuester Zeit der eigentliche Mittelpunkt für die produktive Literatur der Prosa oder für die Poesie überhaupt, welche sich mit der Prosa identisch gemacht hat, geworden". Der Stil der „bürgerlichen Lebensprosa", von Jean Paul vorbereitet, hat sich seitdem straffer und „materieller" herausgebildet und hebt sich nicht zum wenigsten von jenem Vorbereitungsstadium ab „durch eine piquantere Auslautung wirklicher L e b e n s - u n d Z e i t t ö n e " . Auch für das moderne Drama wird Prosa empfohlen, nicht nur zur Überwindung von „Raupachs Deklamationshelden". Und schließlich fällt auf die „politische Prosa" ein anerkennender Blick, anerkennend vor allem für Heine, Börne, Kühne und Wienbarg. Die vordringlich politische Haltung der Jungdeutschen, ihrer Tendenz-Programmatik und Weltanschauungsästhetik sollte nicht vergessen lassen, daß ihre schriftstellerische und teilweise dichterische Gestaltung sich nicht restlos erschöpft in bloßen Zeitbestrebungen, daß sie in ihrem eigenen Dichtschaffen und stellenweise selbst in ihrer theoretischen Programmatik bereits d e m p o e t i -

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s e h e n R e a l i s m u s w e i t g e h e n d v o r a r b e i t e t e n . Wie der Frührealismus bei Heine oder Büchner Berührungen mit der Tendenz nicht scheute, so schloß für die Jungdeutschen die Forderung der Lebensnähe vielfach die andere einer verstärkten Wirklichkeitsverbundenheit in sich. G. Büchner weist selbst noch über den Frührealismus hinaus. Aber wiederum war aus der Wirklichkeit das geistig Bedeutsame zu erlösen oder doch zum mindesten eine geistig-weltanschauliche Zielsetzung am Wirklichen oder als wirklich Erwünschtem zu orientieren, so daß man fast zwangsläufig einem ideellen Realismus zugedrängt wurde. Das Abrücken von der Romantik mußte diese gestaltbildende Tendenz, die neben der den politischen Gehalt tragenden Tendenz nicht übersehen werden darf, fördern helfen. Man wurde sich jener Annäherung an realistische bzw. ideell-realistische Gestaltungsströmungen gelegentlich durchaus bewußt, wie die Prägung von A r n o l d R ü g e (1803—1880) in dem Aufsatz „Heine und seine Zeit" zu verdeutlichen vermag: „Diesem Realismus hängen wir an, und wenn man ihn Idealismus nennt, so ist es nicht falsch; denn die z w e i t e N a t u r in der gemeinen Natur, die der Mensch im Verein mit Menschen schafft, ist ein G e i s t e s p r o d u k t " . Es wird an solchen Prägungen erkennbar, wie die Versuche einer Überbrückung von Idealität und Realität durch den philosophischen ,,Realitäts"-Begriff und durch nachwirkende Identitätsvorstellungen (Schelling) erleichtert wurden. Es sei daran erinnert, daß das Wurzelgeflecht der Programmatik des i d e e l l e n R e a l i s m u s tief sich zurücksenkt, ohne hier in seinen Einzelverzweigungen verfolgt werden zu können. Erwähnt mag nur werden, daß Hegels System weiterhin an das Aufgehobensein des Gegensatzes im höheren Dritten (Synthesis) gewöhnt hatte. Und zweifellos gehen etwa Hebbel oder auch Vischer mehrfach auf die dialektische Methode zurück. Da so innerhalb des Systemstils der Philosophie und Ästhetik Voraussetzungen längst bereitlagen und innerhalb des Gestaltungsstils des Kunstschaffens das idealisierende Erbe der Klassik mit dem realistischen Neuerwerb (Einschläge innerhalb der jüngeren Romantik und Frührealismus) in Einklang zu bringen war, ist es nicht verwunderlich, daß bei solchem geistesgeschichtlichen Gegebensein auch das richtungweisende Aufgegebensein eines poetischen oder ideellen Realismus eigentlich durch das gesamte 19. Jahrhundert bis hin zu Bleibtreu empfunden und verschie-

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dentlich auch ausgesprochen wurde. Und zwar teilweise auch in literarischen Richtungen, die man nicht zum spezifisch literarischen Epochentypus des „poetischen Realismus" zu rechnen pflegt, so etwa im Jungen Deutschland und selbst im Münchener Dichterkreise. Entwicklungsgeschichtlich gesehen, ergibt sich die in der historischen Wandlung der dichterischen Kunstauffassung mehrfach wiederkehrende Erscheinung, daß ein an sich bekanntes Randproblem der Literaturphilosophie vorübergehend zum Zentralproblem erhoben wird, an Geltung verstärkt durch die zeitlich parallele Bewährung im Kunstschaffen. Hebbels Zielprägung für den Dramatiker, „alles Geistige verleiblichen" zu sollen, Otto Ludwigs Forderung eines „künstlerischen" und „poetischen Realismus" erwachsen so organisch aus größerem Entwicklungszusammenhange. Das „Geistesprodukt", von dem Arnold Rüge sprach, der gemeinsam mit Echtermeyer die, .Hallischen Jahrbücher" herausgab, und ebenso die „Bewegungsliteratur", von der Theodor Mündt mit Vorliebe sprach, sind letztlich nur Formeln für das überwiegende Verharren der Jungdeutschen in der literarischen, ästhetischen Revolution kleinbürgerlicher Prägung. Gewiß, Gutzkow hatte Gefängnishaft erlitten, aber weniger wegen der Politik als vielmehr wegen der Religion. Börne und Heine hatten das Exil wählen müssen oder doch gewählt, bevor es zu spät war. Aber erst der späte Heine gelangt zu so gewagten Ansichten und geweiteten Aussichten, wie sie ein anderer in viel jüngeren Jahren gleichsam ruckhaft gewonnen hatte. Und dieser andere war kein bloßer Publizist mit dichterischem Einschlag wie Karl Gutzkow und kein Dichter mit publizistischem Einschlag wie Heinrich Heine, sondern er war im Kern nur ein Dichter, aber auch ein ganzer, frühvollendeter Dichter, und zwar kein politischer Lyriker wie Herwegh oder Freiligrath, Hoffmann von Fallersleben oder Anastasius Grün (Alexander von Auersperg), sondern ein geborener Dramatiker: G e o r g B ü c h n e r (1813—1837). Und wo er Publizist, radikaler Publizist wird, da hält er es nicht mit den literarischen Zeitund Streitschriften, wie sie in großstädtischen Redaktionsbüros von Jungdeutschen mit Vorliebe auf die Bahn gebracht wurden, sondern mit der Form des zündenden und zugleich fast nüchtern datenreichen und zahlenreichen (Steuerzahlen usw.) Flugblattes, des „Hessischen Landboten". Der wurde — übrigens recht begrenzt — verbreitet 1834, i m Jahre von Wienbargs „Ästhetischen Feldzügen" und ein Jahr vor dem Verbot des Jungen Deutsch-

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land. Dort wurde kein ästhetischer Feldzug liberaler Art geführt, sondern ein wirtschaftspolitischer Feldzug ausgesprochen revolutionärer Art. Es handelte sich auch nicht um einen verlorenen Einzelvorstoß, wie Karl Vietor überzeugend nachweisen konnte. Wenn etwa siebzig Jahre später S. Lublinski in der „Bilanz der Moderne" dem Jüngsten Deutschland der Naturalisten vorwerfen konnte, daß sie an der Kernfrage der wirtschaftlichen Verhältnisse in kleinbürgerlicher Befangenheit vorbeimanövriert und vorbeiargumentiert hätten, so würde ein derartiger Vorwurf für das Junge Deutschland um 1830/35 erst recht am Platze gewesen sein. Denn man sprach zwar mit Vorliebe schon damals von „Verhältnissen", aber ohne ihnen resolut auf den Grund zu gehen. In gewissem Grade, zum mindesten unmißverständlich hat denn auch Georg Büchner, der an sich Beziehungen zu Gutzkow, Eduard Duller u. a. unterhielt, diesen Vorwurf erhoben oder doch Bedenken in dieser Richtung angemeldet. Seine Beobachtungen in Straßburg an der sozialen oder unsozialen Kehrseite der Textilindustrie und die ganze Atmosphäre französischer Revolutionsstimmungen lassen ihn als Studenten das Schiefe und Halbe, das nur Reformistische der Jungdeutschen und ihrer ausgeprägt journalistischen „Bewegungsliteratur" schlagartig erkennen. Und trotz der Freundschaft mit Gutzkow zieht er diesem und dem Jungen Deutschland gegenüber den klaren Trennungsstrich. Von seinem zweiten Aufenthalt in Straßburg aus, wo er in Minna Jaegle eine würdige und warmherzige Verlobte gefunden hatte, stellt er (Anfang 1836) eindeutig klar, daß er „keineswegs" zum Jungen Deutschland und zur Gruppe um Gutzkow und Heine (er sagt nicht Börne und Heine) gehöre. Und zwar deshalb nicht, weil er überzeugt ist, daß es eine Utopie darstellt, wenn man in diesen Kreisen glauben machen möchte, daß rein literarisch, „durch die Tagesliteratur", eine wirksame Wandlung und wünschenswerte Besserung der Lebensbedingungen zu bewirken sei ohne Rücksicht auf „unsere gesellschaftlichen Verhältnisse". Von den Gebildeten kann, meint Büchner, eine wirkliche Umbildung nicht ausgehen, weil all ihr Bemühen die einst schon von dem Schiller der G. A. BürgerRezension erkannte Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten nur noch schmerzlicher und klaffender aufreißt. Diesen kühnen Erkenntnissen politisch-gesellschaftlicher Natur entsprechen aber nicht die vorliegenden rein kunsttheoretischen Bekundungen Georg Büchners. Das muß klar ausgesprochen wer-

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den. Im Raum nämlich der formulierten Poetik kommt Georg Büchner nicht die revolutionierende Bedeutung und Funktion zu, die man ihm vereinzelt hat zusprechen wollen und die er im Raum der werkimmanenten Poetik fraglos beanspruchen darf. Das liegt schon ganz einfach daran, daß G. Büchner in seinem sehr arbeitsreichen, sehr kurzen Leben sich nicht die Zeit nahm, sich eingehender über seine Kunstauffassung und Literaturprogrammatik zu äußern, ganz abgesehen davon, daß die Zensur damals derartige öffentliche Bekundungen von sich aus im wörtlichen und übertragenen Sinne verbot. Es liegt aber auch daran, daß die beiden Hauptstellen einer kunsttheoretischen Orientierung zu sehr an persönliche Zwecke gebunden und zudem der Öffentlichkeit zunächst völlig unbekannt blieben. Sie finden sich nämlich in einem Privatbrief und als Kunstgespräch bzw. Kunstmonolog in einem damals nicht veröffentlichten Novellenfragment, und zwar in Büchners Brief an seine Eltern vom 28. Juli 1835 und der „Lenz"-Novelle, die eine wahrhaft kongeniale Demonstration, Vision und Suggestion darstellte, aber eben doch und vielleicht eben deshalb im Nachlaß liegenblieb. Der Zweifel daran, ob sie in Büchners Sinne ein bloßes Fragment oder nicht vielmehr eine grandiose Novellenskizze bedeutete, sei schon hier angemeldet. Fast ist es so mit dieser Demonstration und diesem in der Stille ausgesprochenen und dennoch dem kundig Hinhorchenden vernehmbaren Bekenntnis wie mit dem vierten ,,Kritischen Wäldchen" bei Joh. Gottfried Herder. Es liegt darin und lebt darin ein Über-Sich-Hinausweisendes, das doch vorerst auf sich selber angewiesen bleibt. Beides war Sturm und Drang, dem Zeitalter wie dem Lebensalter nach. Beides war irgendwie Zukünftiges, das sich vor der Gegenwart zurückhielt und von der Gegenwart zurückgestaut wurde. Was jene Briefstelle betrifft, so gehört sie ganz unverkennbar der Selbstrechtfertigungspoetik Büchners vor sich selber und vor allem vor den Eltern an, fast so wie einst Lessings Brief an den Vater gelegentlich des „Freigeistes". Denn Freigeisterei der Leidenschaft, und zwar der historischen und dennoch einer seiner Gegenwart und deren Zukunft dienenden Leidenschaft bedeutet jenes briefliche Bekenntnis, das um Verständnis wirbt, wo es selber zu verstehen sich bemüht. G. Büchner nämlich sucht den moralischen Wertmaßstab seiner Eltern zu schonen, um seine verfrühte Umwertung aller Werte vor der Vergangenheit und Gegenwart zu rechtfertigen. Denn es handelt sich ganz unzweideutig, 14

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also eindeutig vorerst noch um Selbstrechtfertigungspoetik. Der im Grunde schon ungetreue Sohn des akademischen, des geistigen Großbürgertums rechtfertigt seine realistischen (bis naturalistischen) Kühnheiten notgedrungen und notdürftig vor dem Richterstuhl einer bewußt bürgerlichen und bürgerlich selbstbewußten Moral. Es geht noch um „Dantons Tod", noch nicht um das „Woyzeck"-Fragment. Insofern braucht der junge Büchner — und alt ist er ja nicht geworden — gleichsam nur den Naturalismus mit seinen drastischen Demonstrationen vor den Eltern zu entschuldigen und noch nicht den vorgeahnten Expressionismus oder Neurealismus bzw. Neusymbolismus des „Woyzeck" mit seinen Visionen. Jenen Brief hätte im Grunde auch ein Stürmer und Dränger wie Schiller oder Klinger oder und nicht zuletzt — Lenz an „zuhause" schreiben können in einer Mischung von Selbstrechtfertigung und Beruhigung der „Anderen". Das war höchstens revolutionär in dem Grade, wie es jung war. Das genialische Aufschrecken und bewußte Erschrecken des Bürgertums, dem man innerlich nicht mehr zugehörte, führte ein Beruhigen der Bürger mit sich, denen man familienmäßig angehörte, weil es nun einmal die „Angehörigen" waren. Und man wollte doch gar zu gern, daß diese, die einem angehörten, geduldig verstehend einem auch zuhörten, selbst dann noch, wenn man bürgerlich „Ungehöriges" herausgesprudelt hatte, weil es angeblich der Geist der Geschichte oder die Wirklichkeit der Geschichte oder die Geschichte als das unbestochene Zeugnis und der unbestechliche Bericht dessen, was und „wie es wirklich gewesen ist", darbot in seiner historisch sanktionierten Blöße, die man gern in ein Merkmal der Größe umdeutete und aufwertete. Was war das im Grunde viel mehr und viel weiter als jugendlich-genialer Ubermut, der sich als männlicher Bekennermut vorkam und vor sich selber so ausnahm? Und wer wollte ohne wissenschaftliche Leicht-„Fertigkeit" selbst noch unausgereifter Art daraus sogleich und sogar ein in der Geschichte der Ästhetik und Poetik revolutionäres Manifest ersten Grades und größten Ausmaßes machen? Nicht ganz unähnlich steht es mit dem E x k u r s in d e r ,,Lenz"Novelle. Denn auch dabei handelt es sich nicht um ein unbefangenes und ungehemmtes Sich-Aussprechen, sondern ganz unverkennbar um eine durchaus bewußte Anpassung. Dort hatte sich G. Büchner der Lebensansicht der Eltern angepaßt. Hier paßte

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er sich der Lebenssicht und dem Lebensgefühl des Stürmers und Drängers Jakob Michael Reinhold Lenz an, wie es in einer„Lenz"Novelle sein Recht und seine Pflicht war. Wirklich ganz Eigenes kann er weder hier noch dort aussprechen. Dort rechtfertigt er sich vor seinen vermutlich zu erwartenden Kritikern, hier rechtfertigt er Lenz vor dessen Kritikern und in Lenz gewiß auch sich selber. Dort ist die Rechtfertigung mehr vorbeugend, hier mehr nachträglich nachtragend, damit man seinem lieben Lenz nichts nachtragen kann, wie dort die Eltern ihm nichts nachtragen sollen. Was ist es denn, was Lenz als Novellengestalt zu seinen Gunsten geltend macht? Es ist der P r o t e s t gegen eine u n w i r k l i c h e W i r k l i c h k e i t , gegen ein unerlebtes Leben. Es ist der Anspruch, daß eine schonungslose Wirklichkeit immer noch weit lebensechter und daher kunstgerechter sei als eine „verklärte" Wirklichkeit, daß sie immer noch der Kunst zuträglicher sei als die schlechthin „unerträgliche", weil vor dem Leben untragbare Unwirklichkeit und vermeintliche Überwirklichkeit des Idealismus aller Tönungen, auch der einst lernend und liebend angenommenen Tönung des reiferen Schiller. Freilich und endlich: „Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch erträglicher als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten". Das, wozu sich Lenz dort bekennt, weicht wenig ab von dem, wozu sich auch der junge Sturm- und DrangGoethe im „Werther" bekannt hatte, nämlich zum Primat des Natürlichen und der Naturnacheiferung. Denn Lenz—Büchner bekennt: „Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht (wohlgemacht ?), wie sie sein soll, und wir können wohl nichts Besseres klecksen (auch bei Werther- Goethe ging es um den Maler); unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen". Lenz und sein zeitweiser Gewährsmann in Theorie und Praxis L. S. Mercier waren da eigentlich schon weiter gegangen (vgl. Bd. II). Und erinnert man sich an die Prävalenz des Lebens und Lebendigen in der Kunstauffassung des jungen Goethe, so kann auch die relativ am weitesten vorgeschobene Position G. Büchners innerhalb der formulierten Poetik nicht mehr als gar so revolutionär anmuten. Sie wird dort erreicht, wo G. Büchner gewiß weitweisend und allgemeinverbindlich erklärt, das „einzige K r i t e rium in K u n s t s a c h e n " bestehe darin, „ d a ß , was g e s c h a f f e n sei, Leben h a b e " . Aber wo liegt das Kriterium für das allein 14·

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Lebenshaltige ? Die Antwort auf diese Frage ist zum mindesten der noch jugendliche Kunsttheoretiker Georg Büchner innerhalb seiner formulierten Poetik schuldig geblieben. Anders steht es auch hierin mit seiner werkimmanenten Poetik, auf die hin man indessen nicht so ohne weiteres seine formulierte Poetik umstilisieren und notdürftig zurechtkonstruieren darf. Vielmehr folgt der Theoretiker Büchner darin und damit noch weitgehend seinerVorbild-Poetik: Shakespeare, Goethe, Lenz, Volkslied und Volksromanze (für den Lyriker). Das Aufgeben Schillers war zudem nur vermeintlich erforderlich, wenigstens was den jungen Schiller angeht. Bei alledem war der „liebe Gott" auch in jenem Rechtfertigungsbrief an die Eltern bemüht worden, dessen Verhältnis zur Geschichte im übrigen nicht viel anders sich darbietet als das Verhältnis zur Natur in dem Exkurs der ,,Lenz"-Novelle. Denn worin besteht nach jenem Brief von 1835 die Sicht und Sendung des historischen Dramatikers? „Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben" (an die Möglichkeit der Feststellung, „wie es wirklich gewesen ist", glaubt also Büchner damals noch), so nahe als möglich zu kommen (ganz vermag er schon nicht mehr daran zu glauben). Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher sein als die Geschichte selbst; aber die Geschichte ist „vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden". Die letzte kecke Wendung klingt vollends ganz geniezeitgemäß. Und fast möchte man mit Nietzsche an die ewige Wiederkehr glauben, wenn auch an eine Wiederkehr auf höherer Wende der Entwicklungsspirale. Wesentlich anders erscheinen die Dinge und ihre Deutung, wenn man nun von der formulierten Poetik — auch der im Kunstwerk (,,Lenz"-Novelle) formulierten Poetik — auf die w e r k i m m a n e n t e P o e t i k hinüberblickt, also auf die immanente Schaffensgesetzlichkeit und das Kunstwollen als Wirkungswollen, wie es das Kunstschaffen widerspiegelt. Hier ist G. Büchner wesentlich über einen geniezeitgemäßen Naturalismus oder einen jungdeutschen Realismus hinausgelangt, vor allem im „Woyzeck"Fragment. Aber irgendwie berühren sich doch wieder das „Lenz"Novellenfragment und das „Woyzeck"-Fragment. Und irgendwie und irgendwo grenzt seine formulierte Poetik auch wieder an seine werkimmanente Poetik. Vor allem darin, daß man weder an die Natur noch an die Geschichte moralische Maßstäbe herantragen darf, daß Kunst, Natur und Geschichte das Gemein-

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same einer Entwicklungs-Wiedergabe besitzen, daß man kühne Kunst so wenig verachten darf wie die Natur einerseits und die Geschichte andererseits und endlich und vor allem darin, daß die echte und rechte Kunst „Leben haben" müsse oder — wie Büchner mehrfach verstärkt hervorhebt — „ L e b e n , M ö g l i c h k e i t d e s D a s e i n s " . Figuren mit „himmelblauen Nasen" (Privatbrief) oder bloße „Holzpuppen" (Polemik im „Lenz"-Novellenfragment) sind wie dort theoretisch verfemt, hier praktisch unbrauchbar. Trotzdem bietet Büchner im Kunstschaffen mehr als eine bloße Demonstration jener programmatischen Manifeste. Daß man „Marionetten" auch wesentlich anders sehen und symbolischer deuten konnte, hatte er von Kleists Abhandlung „Über das Marionettentheater" (vgl. Band III) in der Kunsttheorie noch nicht gelernt. In seiner Kunstpraxis wußte er schon um das Geheimnis des Unwillkürlichen und Unbegriffenen, des Unbewußten und Unüberlegten. Im übrigen begegnet das Vergleichsbild vom „Puppenspiel" bereits in jenem Brief Büchners an seine Braut, der etwa für das Frühjahr 1834 anzusetzen und für das Verständnis der Rückschlagsstimmung von „Dantons T o d " , gemessen am aktivistischen Optimismus der politisch-revolutionären Flugschrift „Der Hessische Landbote" (1834), gewiß wesentlich ist. Gegenüber der Braut hat er sich freier ausgesprochen als dann gegenüber den Eltern. Das V e r h ä l t n i s z u r G e s c h i c h t e enthüllt sich darin mehr als ein Leiden an der Geschichte, nicht als ein Glaube an die Geschichte oder gar als ein dienendes Beherrschen. „ I c h fühle mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle (vgl. Grabbes Napoleon-Drama), die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein e h e r n e s G e s e t z ; es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich". Bringt man selbst die Depressionsstimmung gebührend in A b z u g : wenn das Genie nicht der Geschichte Gesetze zu geben und sie damit zu beherrschen vermag, wieviel weniger vermag dann das dichterische Genie seiner Kunst Gesetze zu geben und sie damit zu beherrschen! Und vielleicht auch deshalb und nicht zuletzt deshalb hat sich Büchner mit einigen wenigen Winken begnügt. Jenes „unmöglich" wirkt fast wie eine

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Paraphrase des ironisch überlegenen Sphinx-Symbols bei H. Heine in das verzweifelt Ernsthafte. Diese Stimmung der „Dekadenz" ist im Grunde auch die vorherrschende Stimmung der dichterischen Werke G. Büchners, wenngleich man hinsichtlich des Revolutionsdramas „Dantons Tod" (1835) nicht nur geltend machen könnte, daß der Titel nicht wie später bei Romain Rolland „Danton" lautet, sondern eben „Dantons Tod". Und wenn man vor allem bei einer genaueren Werkanalyse nachweisen kann, daß G. Büchner gewiß nicht von ungefähr die Aktschlüsse mit ihren latenten oder offen hervortretenden Akzenten unmittelbar oder mittelbar Robespierre zugewiesen, sich also doch nicht so einfach mit Dantons müder Untergangs- und Verzichtsstimmung weltanschaulich identifiziert hat. Insofern — allerdings auch nur insofern —• könnte schon sein Dantondrama jenen Titel tragen, den ein künstlerisch unzulängliches Dantondrama von Robert Hamerling dann wirklich trug: „Danton und Robespierre" (1871), in das übrigens (für die systematische Poetik beachtenswert) ein unmittelbares Zeitgeschehen (deutsch-französischer Krieg) ähnlich, obwohl weit schwächer auf das Werkwerden und die Werkwandlung einwirkte, wie es bei Grabbes „Napoleon"-Drama verzeichnet werden konnte. Die vorherrschende Stimmung bei „Leonce und Lena" oder beim „Woyzeck"-Fragment oder beim „Lenz"-Fragment war ebenfalls Dekadenz, Müdigkeit, Uberdruß aus Übersensibilität. Und bei dem verloren gegangenen Künstlerdrama „Pietro Arretino" wird es nicht viel anders gewesen sein (identifiziert mit Lenz!). Ob nun diese Dekadenz mehr romantisch sich einkleidete wie im traurig-müden Lustspiel „Leonce und Lena" oder mehr realistisch oder expressiv wie im „Woyzeck"-Fragment oder endlich als Mischform mit Maskenwechsel wie in „Dantons Tod": das ist formungstechnisch gewiß nicht ohne Belang, bleibt aber weltanschaulich und letztlich auch kunstanschaulich unerheblich. Georg Büchner steht und schafft zwischen Nachromantik und Frührealismus. Und es ist wenig sinnvoll und für seine Deutung wenig ersprießlich, ihn und seine Kunst bald auf die eine, bald auf die andere Seite „ganz" hinüberzerren zu wollen. Der Zwiespalt zwischen beiden gehört zu ihm, wie er und weil er zu seiner Zeit gehörte, obwohl er zugleich ahnend über sie hinauswuchs. Und gerade dieser vielbedauerte Zwiespalt verleiht seinem nicht umfangreichen Werke die zu bewundernde Lebensvielfalt

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der Bezüge und Gestalten. Ebenso sinnarm wie das Erzwingenwollen der Entscheidung eines Unentschiedenen zwischen Romantik hier und Realismus dort ist seine Inanspruchnahme als Traditionsträger durch den Naturalismus einerseits und den E x pressionismus andererseits und am Ende noch für den Surrealismus. Vielleicht hätte nach dem Angedeuteten die Dekadenz um 1900 herum noch mehr Recht, ihn als Traditionsträger für sich mit Beschlag zu belegen. E s ist die Rede vom Typus seines Künstlertums, nicht vom Typus und ethischen Wert seines Menschentums. Denn das ist von einer zähen, tätig-tüchtigen Arbeitsamkeit erfüllt, wobei der werdende Wissenschaftler neben dem einsatzbereiten und kühnen Politiker nicht unterschätzt sein will. Aber auch hier hat die Lebenskraft doch offenbar nicht ausgereicht für die Arbeitskraft, die ihrerseits schon gewisse Züge einer nervösen Unrast und einer immer wieder schonungslos zum Arbeitsmut, ja zur Arbeitswut aufgepeitschten Ermüdung trägt. Etwas bitter und vielleicht ungerecht gesagt: Büchner war nicht wie Grabbe auf ein Herunterkommen angewiesen, das Herkommen von hochkultivierten Eltern scheint ausgereicht zu haben, um ihn frühzeitig auszulöschen wie Grabbe. Nur daß der eine an seiner Derbheit zugrunde ging, der andere an seiner Feinheit, nur daß der eine, der aus niedrigen Volksschichten kam, sich hinüberzuretten versuchte auf die Seite der National-Konservativen, während der andere, der aus höheren Kreisen stammte, seine Rettung suchte im Revolutionären. Beide suchten den Ausgleich, fanden aber nur den Zwiespalt von in sich selber und durch sich selber (freilich auch durch die Zeit) Gebrochenen, der —· wie man nicht gerade schön sagt —· „Zerrissenen". Gattungstypologisch gesehen ist Büchner ausschließlich Dramatiker. Auch Lyriker ist er nur in seinen Dramen, ob es sich nun ζ. T. um volksliednahe lyrische Einlagen handelt wie in „Leonce und Lena" oder im „Woyzeck" oder um lyrische Stimmungseinschläge, die auch im Dantondrama nicht fehlen. Wie Grillparzer und Kleist braucht er den Anlauf des Dramatikers, um lyrische Werte zu befreien. Zugleich bevorzugt er die Frauengestalten als Trägerinnen lyrischer Stimmungswerte (Lucile Desmoulin, Lena), und zwar noch im mittelbaren Abglanz (Reflex im Erleben des Mannes). Überhaupt wird man nicht die Fähigkeit Büchners verkennen, mitten aus einer dumpfen Bedrücktheit einen lyrischen

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Glanz jäh aufleuchten zu lassen, der für Augenblicke alle Not und Niedrigkeit überstrahlt (das innere Bild Luciles in der Sicht des liebenden Camille, Gefängnisszene). Auch jenseits des LyrischElegischen ist dieses Herausholen der farbigen Leuchtkraft aus düsterem Hintergrunde offenbar besonders reizvoll für sein Darstellungsvermögen gewesen. Den „positiven" Helden verschmäht er durchweg, obwohl er mit Robespierre vernunftmäßig sympathisiert, so sehr er stimmungsmäßig mit der dahinsinkenden, innerlich bereits gebrochenen Größe Dantons sympathisieren mag. Aber ein „Held" etwa im Sinne Schillers oder auch nur Grabbes ist auch dieser Robespierre nicht. Was dagegen G. Büchner erstaunlich griffsicher erfaßt, das ist der k o n z e n t r i e r e n d e T y p u s d e s R e a l i s m u s . Wie seine theoretischen Äußerungen die verklärte Gestalt, den idealisierenden Typus des Klassischen verworfen, so strebt sein Kunstwollen konsequent dem konzentrierenden Typus eines durchgeistigten, stimmungsgesättigten Realismus zu. Danton repräsentiert in seinem Wesen und Verhalten ein moralisch morsch gewordenes Revolutionsmännertum, und zwar in bewußt konzentrierter Form. Und Woyzeck im grandios-grausigen Fragment repräsentiert nicht nur die gequälte Kreatur aus dem vierten Stande in ihrer hoffnungslosen Hilflosigkeit, sondern in ihm konzentriert, in ihm sammelt und ballt G. Büchner alle K r ä f t e der l a t e n t e n A n k l a g e . In diesem Herausarbeiten des konzentrierenden Typus (auch die Marie im „Woyzeck" ist so konzipiert) liegt ein wesentlicher der oben angedeuteten Fortschritte im Kunstwollen und Kunstschaffen Büchners. Im Hindurchscheinenlassen eines Gegenwartsnahen durch ein historisches Motiv („Danton") oder ein märchenhaftes Motiv („Leonce und Lena", besonders Akt III) liegt dagegen wohl ein deutliches M e r k m a l s e i n e r p o l i t i s c h e n I n t e r e s s i e r t h e i t , nicht aber etwas künstlerisch Neuartiges. Und erst recht nicht in der Vorliebe für Wortspiele, die sich im Einzelfalle sogar als romantischer Einfluß nachweisen ließ (Brentanos „Ponce de Leon"). Auch darf man die pathetischen politischen Reden nicht auf Büchners Rechnung setzen; sie wurden weitgehend wörtlich aus den historischen Quellen zu „Dantons Tod" übernommen (Thiers, Mignet), ähnlich wie die Personengruppierung in „Leonce und Lena" von Alfred de Mussets „Fantasio" (1834) herübergenommen worden ist. Büchner selber liebt nicht das hochanschwel-

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lende Rednerpathos und die Gebärde des Theatralischen. Er liebt auch nicht die scharf herausgestellten Kontrastfiguren. Sie wurden ihm durchweg nahegebracht von seinen historischen oder literarischen Quellen oder von Zeitberichten und Fachberichten („Woyzeck"). Sein Kunstwollen ist weit mehr auf die fließenden Ubergänge im Charakterisieren gerichtet, auf die „gemischten" Charaktere und die „vermischten" Empfindungen (vgl. Band II und III). Im Stimmungsbereich ist er ein Meister des Verschwebenden sowohl als des jähen Stimmungsumbruchs. Und als Gegenstück des konzentrierenden Typus weiß er die skizzierende Karikatur (König Peter und der Zeremonienmeister in „Leonce und Lena"; der Hauptmann und der Arzt im „Woyzeck") sehr wirksam herauszubilden, meistens im D i e n s t der s a t i r i s c h e n Z e i t - u n d G e s e l l s c h a f t s k r i t i k (Kleinstaaterei, Schein-Altruismus, ScheinPhilosophie, Untertanengesinnung; herzloses Spezialistentum usw.). Das Konzentrieren und Karikieren sind Grunderscheinungen des künstlerischen Verfahrens Büchners. Die romantische Ironie wechselt zur realistischen Ironie hinüber, untersteht aber zuletzt doch wieder der tragischen Ironie, aber auch der tragikomischen Ironie. Selbst die an sich vom Naturwissenschaftler Büchner merklich beachtete und geachtete Philosophie Spinozas (Reflex im Dantondrama, Gefängnisszene) wird andererseits ironisiert („Leonce und Lena"). Die Ironie wird eine Waffe des Überfeinerten und Ubersensiblen, sich gegen die Verzweiflung über die Wirklichkeit zur Wehr zu setzen aus einer Art von Notwehr und Selbstbewahrung heraus. Sie ist also nicht nur eine Waffe des Weltanschauungskampfes, sondern auch des Weltschmerzes, des Leidens aus einem Mitleiden heraus, das nicht an sich selber und in sich selber verbluten möchte. „Büchner und Börne!" stellt G e o r g H e r w e g h (1817—1875) als die beiden kurz nacheinander verstorbenen V o r k ä m p f e r p o l i t i s c h e r F r e i h e i t eng zueinander in seinem Gedicht „Zum Andenken an Georg Büchner", das er bei seinem ersten Züricher Aufenthalt gelegentlich einer Gedenkfeier auf den Tod des dort wenige Jahre vorher dahingerafften Danton-Dichters vortrug und — als das umfangreichste Einzelgedicht — in seine berühmten „Lieder eines Lebendigen" (1841) aufnahm. Als Bannerträger, „Leitstern" und früh weggebrochene „Freiheitsstütze", als einer der beiden „Pfeiler" der Freiheitskirche (Herwegh war Theologe

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im Tübinger Stift gewesen) wird dort Georg Büchner gefeiert. Die Braut des Lebens (Minna Jaegle), die Büchner an seinem Sterbelager besucht hatte, läßt Herwegh durch die Braut der Idee, die ewige Braut, die Freiheit ablösen; denn „die Freiheit trug den Jünger in das Grab". Reminiszenzen an Hölderlin, den Herwegh neben Platen besonders hochschätzte, führen zu der Bitte: „Noch eine Stunde gönn' ihm, ο Geschick!". Büchner ist ihm die Glocke, die so rein im Sturm geklungen, ist ihm der Prophet, der sein letztes Geheimnis nicht mehr auszusprechen vermochte: „Noch ein Geheimnis möcht er uns entdecken / Den letzten größten Traum ins Dasein wecken". Herwegh legt und lebt dabei in den reiner wissenschaftlicher Arbeit zugewandten Privatdozenten der Medizin Büchner, der seit seiner Flucht nach Straßburg (zweiter Aufenthalt) der Politik vorerst einmal den Rücken gekehrt hatte, ein Weiterwirken des politischen Betätigungsdranges hinein. Aber zutreffender und eigene Vorstellungen des dichterischen Gestaltungsdranges in feingestufter Weise enthüllend, fühlt er zugleich lebhaft jenen schwersten Abschiedsschmerz des schaffenden Künstlers mit, den die noch „ungeborne Welt" zum Leben drängender Gesichte und Gestalten nicht freigeben will. Es ist nicht Zufall, daß hier das „uns" das „ d u " ersetzt: „Die Geister, die am Sterbebette stehn / Und uns um Leben und Gestaltung flehn". An sich hatte die tätig-tüchtige wissenschaftliche Bemühung in Büchner auch den Dichter zurückgedrängt, man müßte denn an das in Verlust geratene „Pietro Aretino"-Künstlerdrama denken. Dieses für die dichterische Kunstauffassung Herweghs aufschlußreiche Nachrufgedicht auf Georg Büchner ist auch deshalb erwähnenswert, weil es in der stimmungsvollen Landschaftsschilderung ein Motiv anklingen läßt, das dann C. F. Meyer aus eigenem Erleben heraus neu und gültig formte („Eingelegte Ruder"). Unter dem Eindruck der postum herausgekommenen „Neuen Gedichte" (1877) Herweghs hat sich später C. F. Meyer wohlwollend geäußert mit der Einschränkung, die zugleich ein persönliches Bekenntnis in sich birgt: „Doch vielleicht bin ich für ihn voreingenommen, er war mein Jugendpoet". Eine gewisse Neigung zum Pathos mag dabei mitgespielt haben, wie denn C. F. Meyer auch Kinkel in einem Essay gerade in Betracht des Pathetischen zu rechtfertigen suchte in der vornehmen Art, die ihm eigen und lieb war.

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Dem Dichter Büchner schuldete Herwegh wohl noch mehr als dem Politiker Büchner diesen Nachruf; denn schwerlich wäre sein wohl wertvollstes Gedicht, rein künstlerischer Artung, die zweite der „Strophen aus der Fremde", das dann von Franz Liszt in die musikalische Ausdrucksform übertragene „ I c h möchte hingehn wie das Abendrot" geschaffen worden ohne die Anregung, die offenbar von dem Todeswunsch Dantons in „Dantons T o d " stimmungsmäßig und auch bildmäßig ausgegangen war, ein Beispiel zugleich dafür, daß Herwegh ohne Vorbildung schlecht zum Bilden zu gelangen vermochte. Die Zusammenstellung Büchners mit Börne, der als politischer Schriftsteller Herweghs Vorbild wurde, wie es B&anger als politischer Dichter war (Vorbild-Poetik), wird der Fortschrittlichkeit Büchners als Politiker eigentlich nicht voll gerecht. Aber Herwegh, dessen mehr gefühlsmäßiges Urteilsverfahren späterhin Ludwig Feuerbach einmal treffend gekennzeichnet hat, nahm es mit derartigen Zusammenstellungen nicht so genau. Muß es sich Büchner doch gefallen lassen, in einem der kritischen Aufsätze Herweghs mit einem heute fast völlig vergessenen Byron-Übersetzer Joseph Emanuel Hilscher, den Herwegh hoch über Böttger und natürlich auch den „Baron von Zedl i t z " stellt, letztlich nur deshalb zusammengestellt zu werden, weil auch Hilscher, der österreichische „Korporal" (daher: „ K o r poral und Dichter") zufällig 1837 starb. Aber es ist doch kennzeichnend für die hohe Bewertung des Elegischen und Weltschmerzlerischen in Herweghs eigener Kunstauffassung (wie in seiner Kunstleistung), wenn ihm „Genien wie Hilscher, wie Büchner" nicht nur als Frühverstorbene verwandt erscheinen konnten. Es ist aber auch kennzeichnend für die Z e n t r a l s t e l l u n g d e s L y r i s c h e n im Kunstwollen und Kunstwerten Herweghs, wenn er Hilscher dessen „Emanzipation der Lyrik von der Reflexion" so hoch anrechnet. Als Zentral- und Kernstück des Lyrischen wiederum gilt ihm das Lied. Er wiederholt dabei Bekanntes, aber doch merklich mit persönlicher Überzeugung, in dem Leitsatz: „ D a s L i e d i s t d e r P r ü f s t e i n f ü r e i n e n L y r i k e r ! Das Lied, das Lied, nicht diese kühlen, reflektierenden Gedichte, mit denen man uns seit Jahren überschüttet und die es nur mit dem Kopfe, nicht mit dem Herzen zu tun haben!" (Aufsatz: ,,Die Poesie in Österreich"). Auch aus dem Drama „Dantons T o d " wird ihm die lyrische Grundschicht triebkräftig für ein eigenes liedhaftes Stimmungsgedicht.

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Daß der echte Dichter a u s dem H e r z e n und z u m H e r z e n sprechen soll, erweist sich auch jenseits der lyrischen Sonderform als ein wesentlicher Bestand und Gewinn seiner Einsicht und Einfühlung in das Wollen und Wirken des Dichterischen schlechtweg. Das gilt nicht zum wenigsten von der G e s i n n u n g s d i c h t u n g d e r p o l i t i s c h e n K a m p f l y r i k . Das Motiv ist die Freiheit, der Motor das Herz. Das freie Spiel der schöpferischen Kräfte, das sich jedoch der Bindung an die ästhetischen Formungsgesetze nicht entziehen darf (Hölderlin—Platen), sucht und findet den rechten Entladungs- und Entfaltungsraum im Gemüt. Diese Grundeinstellung verkannte Fr. Th. Vischer in seiner Rezension der „Gedichte eines Lebendigen". Das M o t i v der F r e i h e i t war das Leitmotiv der ,.Gedichte eines Lebendigen", die sich in der Titelgebung bewußt abhoben von den „Briefen eines Verstorbenen" des Weltreisenden und Lebenskünstlers Fürst Pückler-Muskau. Das satirische Eingangsgedicht „An den Verstorbenen" ist denn auch an die Adresse des kultiviertgenießerischen Fürsten eines überfeinerten Geschmacks und einer bestechenden Grazie gerichtet. Das kleine Schlußepigramm des ersten Teiles der Sammlung jedoch nimmt eine etwaige Kritik der Philister und zartnervigen Geschmäckler vorweg mit dem stolzen Eingeständnis „Freiheit steht auf jeder Seite". Und so ist es in der Tat, zum mindesten, wenn man die durchschnittliche Verteilung errechnen würde. Das künstlerische Wirkungswollen wird ganz bewußt in den Dienst des politischen Wirkungswollens gestellt. Insofern bleibt wie bei den Jungdeutschen die Sonderform der Wirkungspoetik bestehen. Dabei möchte Herwegh das Verhältnis von P o e s i e und P o l i t i k als ein f r e i w i l l i g e s D i e n s t v e r h ä l t n i s aufgefaßt sehen. Programmatisch setzt er dem lässigleichten Geschmäcklertum der „Dichter" vom Schlage eines Pückler-Muskau das geballt-drängende Anspornen eines „freiheitheischenden Liedes" entgegen, das „ein zündend Feuer sein" soll. Die politische Lyrik-Theorie des Vormärz nimmt überhaupt manche These der Lyrik der Freiheitskriege wieder auf. Selbst dort, wo Herwegh in dem gleichnamigen Gedichte nur mit „leicht Gepäck" marschiert, wird der innere Reichtum dem äußeren entgegengehalten in dem Kehrreim „Mein ganzer Reichtum ist mein Lied". Nur ein Lied will er in immer neuen Variationen singen, ein forderndes Lied, das kostbarer ihm scheint als der Nibelungen Hort: „Das freie Wort!" (zugleich Refrain), das Hoffmann von

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Fallersleben ebenfalls von seinem Könige fordert. Es ist jedoch bemerkenswert (im Gegensatz zu G. Büchner), daß der junge Herwegh damals noch hofft, es könnten sich fortschrittliche Landesherren finden, die großzügig genug dächten, dieses freie Wort mit ihren Machtmitteln freikämpfen zu helfen, so vor allem Friedrich Wilhelm IV. (vgl. die spätere Audienz). Bis hin zum nicht überall geschmackvollen Wortspiel (Anklang von „Frau" und „frei"; das „Blei" der Buchdruckerkunst „reime" nicht zufällig auf „frei" —• Reminiszenz an das Gedenkjahr der Erfindung des Buchdrucks 1840 — , Lieder auf Gutenberg) verfolgt ihn jene alles Gestaltungswollen vorerst bestimmende Antriebskraft. Daneben werden Symbole wie der „Freiheitsbrautring" als letzter und endlich würdiger Schlußring in der „Kette", die das Weltall umklammert hält, oder „Frühlingsfreiheit" usw. reichlich ausgemünzt. Der Lenz soll nicht mehr den Genießenden dienen, für den Tyrannen soll er Richter und Rächer werden „Ja, ο Lenz, sei für den Dichter / Für die Völker Lenz allein!". Das Motiv des Völkerfrühlings klingt häufiger an. Die Poesie hat indessen nicht allein von Freiheit zu singen; sie hat nicht allein über den Verlust der Freiheit manches müde Herz hinwegzutrösten: sie hat darüber hinaus eine die Freiheit stellvertretende Sendung. Dort wo Herwegh am Eingange des Aufsatzes ,,Literatur und Volk" eine lyrisch elegische Symbolszenerie aufbaut, läßt er, da die von Gott zuerst geschaffenen Gestalten der Freiheit und des Frühlings unverstanden auf Erden geblieben seien, den Sänger und Dichter erschaffen werden: „Bis die Freiheit wieder in die Welt käme, sollte die Poesie ihre Stelle vertreten". Und von hier aus kann durch die poetische Eingangspforte wieder der Zugang gewonnen werden zur „Hütte", deren Bewohner, vom Salz der Tränen satt, die der verlorenen Freiheit gelten, sich nun wenigstens am „Honig" der Poesie laben dürfe und solle. Selbst Homer reicht jedoch dafür nicht aus — B6ranger muß zur Hilfe gerufen werden. Das alles steht in größter Beziehungsfeme zu G. Büchners unerbittlicher Skepsis gegenüber einer vermeintlichen Möglichkeit, etwa vom gebildeten Bürgertum her die Kluft zwischen Hütte und Palast überbrücken zu können. Immerhin wird nun Herwegh auch ein wenig deutlicher; denn „nicht für jene Klasse" der „bevorzugten Geister", für a l l e seien die Gaben da, die der Dichtergeist und das Dichterherz biete, die gegenüber dem Philosophen den Vor-

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teil der u n m i t t e l b a r e n E i n w i r k u n g s m ö g l i c h k e i t a u f d a s V o l k besitzen. So kann Herwegh vorübergehend anknüpfen an die Idee Lessings von einer Erziehung des Menschengeschlechts, richtiger vielleicht noch an Herder, wenn er verkündet: „Dichter waren die frühesten Erzieher des Menschengeschlechts". Gewiß auch steht jene Eingangspforte Herweghs nicht weit ab von jenem Morgentor des Schönen, das Schillers Idealismus errichtet hatte. Auch die spezifische Ausprägung einer ästhetischen Erziehung des Menschen nach Schillers Art ist Herwegh gemäßer als man angesichts seines vermeintlichen Primats des Politischen vermuten möchte. Denn, wie noch zu erweisen sein wird, e i n a u s g e s p r o c h e n e r P r i m a t des P o l i t i s c h e n b e s t e h t für Herw e g h n i c h t oder doch nicht entfernt in dem Grade wie für Georg Büchner. Büchner trennt letzten Endes in reinlicher Scheidung das Politische und das Künstlerische, weil er an keine Erziehungsmöglichkeit durch das Ästhetische glaubt — wie man es seit Gottsched gewöhnt war — , zum mindesten an keine politisch auswertbare Erziehungsmöglichkeit. Herwegh, zum mindesten der Herwegh der ,.Gedichte eines Lebendigen" und der ,,Kritischen Aufsätze", hofft das Politische und Ästhetische zur Wirkungseintracht bringen zu können, wobei beide Kräfte einander nicht Abbruch tun, sondern im Wirkungswert steigern. Und eine derartige Steigerung ist erforderlich, und zwar gerade auch vom Schönheitswert her, weil das Volk eines Tages auch im ästhetischen Sinne anspruchsvoller sein wird, als es die ästhetisch Gebildeten jemals waren (vgl. auch H. Heine). Diese Gedankengänge werden deutlicher ablesbar von der Sammlung, die ohne Wissen und Zutun Herweghs unter dem Titel „Gedichte und kritische Aufsätze aus den Jahren 1839 und 1840" sehr bald (1845) den „Gedichten eines Lebendigen" folgten. Wesentlich sind dabei die Aufsätze, die vielfach über den Typus der bloßen Buchbesprechung hinausstreben, auch gelegentlich über das Wesen und Wollen der literarischen Kritik sich äußern, vor allem jedoch immer wieder g r u n d s ä t z l i c h e n F r a g e n d e r K u n s t t h e o r i e zustreben. Teilweise mag das wohl aus der Verlegenheit der Situation geschehen sein, denn nur zu oft waren recht minderwertige Produkte zu besprechen. Aber auch in solchen Fällen nimmt sich der junge Rezensent keinen Geringeren als Lessing zum Vorbild, der ja auch aus dem Minderwertigen das

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Dauerwertige und Allgemeingültige zu gewinnen verstanden habe. Der Ehrgeiz, Lessing als Kritiker zu gleichen, stellt ein weiteres Symptom für die Neubelebung der Aufklärung. Neben Lessing sind Rahel Lewin (Varnhagen v. Ense), Heine, Börne seine ausdrücklich aufgestellten Muster der Kritik. Entsprechend ihrem Erscheinungsort, der liberal eingestellten „Deutschen Volkshalle", zielen sie vorwiegend auf eine politische Erziehung ab, jedoch unter ständiger Berücksichtigung der ästhetischen Erziehung. Sogleich die „Eröffnung", denn es handelte sich um die Neueinrichtung eines bisher unausgebauten Raumes der „Volkshalle", stellt klar, daß die literarische Kritik „der Politik unter die Arme greifen" müsse. Das ist das alte Prinzip der Jungdeutschen und das noch ältere der Aufklärer. Ein wenig in Anklang an Klopstocks „Deutsche Gelehrtenrepublik" wird zuversichtlich erklärt, daß die Literatur bereits die „schönste, wahrhaftigste Republik" darstelle, ein ungewolltes Zugeständnis zugleich an den „literarischen" Charakter der geistigpathetischen Revolution. „Wir dürfen über dem Bürger nicht den Menschen vergessen, über die Politik nicht die Poesie", heißt es kennzeichnenderweise unter bewußter Korrektur an der Prävalenz des Politischen. Das entspräche etwa Schillers Mahnung, die Poesie wende sich nicht zunächst an den Staatsbürger im Menschen, sondern an den Menschen im Staatsbürger. Der weite Abstand von G. Büchner ist wiederum deutlich. Es komme darauf an, den „inneren Menschen" zu gewinnen. Und „in der Poesie", so führt der Artikel ,,Die neue Literatur" näher aus, gäbe es „nichts als Menschen; die Poesie ist die größte Gleichmacherin auf Erden, und darum eben nicht salonfähig". Natürlich spricht das nicht gegen die Poesie, sondern gegen den Salon und natürlich anders gegen den Salon, wie Geibels pathetischer Protest gegen das SichBücken der Muse im Salon. Daß die salonfähige Poesie, etwa nach Art Pückler-Muskaus, eines Tages nicht einmal mehr volkswürdig sein wird, ja daß sie auch im ästhetischen Sinne überholt werden wird, führt der Sonderartikel „Salon und Hütte" näher aus. Der Salon besitze nicht „mehr Poesie als die Hütte", auch motivlich nicht, sondern „viel weniger"; jedenfalls werde das die zukünftige Literatur beweisen. Georg Büchners Motto „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!" zum ,,Hessischen Landboten" ist also ganz in das Literarische übertragen und entsprechend entschärft worden.

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Dem Titel dieses Aufsatzes setzt Herwegh hinzu, „ein Thema, das unter andern Titeln schon öfters von uns besprochen wurde". Derartige Aufsätze sind etwa: „Dichter und Staat"; „Literatur und Volk"; ,,Literatur und Aristokratie"; „Eine demokratische Verirrung" ; „Der Mangel an politischer Bildung bei den deutschen Literaten"; „Die neue Literatur". Politisch-poetische Programmatik setzt sich weiterhin durch in den Essays „Die Poesie in Ostreich"; „Robert Bums"; „George Sand"; „Dichtergruppen"; „Lyrik" (über Karl Beck); „Faust bei drei Nationen" (Goethe, Byron: „Manfred", Adam Mickiewicz: ,,Konrad"-Fragment); „Die Literatur im Jahre 1840" u. a. Ästhetische Würdigung und formästhetische Programmatik überwiegen dagegen in den drei Platen-Essays, darunter eine „Rettung Platens", in dem Hölderlin gewidmeten Artikel mit dem für die damalige Stellung zu Hölderlin kennzeichnenden Titel „Ein Verschollener", in den „Studien über Achim von Arnim", dem Jean Paul-Aufsatz u. a. Die Verehrung Hölderlins bekundet weiterhin eines der edelsten Gedichte Herweghs, wie er in dem bekannten Epigramm Platen gegen den landläufigen Vorwurf der Formkühle verteidigt hat. So könnte man über das Gesamt der kritischen und programmatischen Aufsätze und Rezensionen recht gut die Prägung setzen, mit der Herwegh einmal in einem Sonett die beiden Spannungspole des Dichterischen ein wenig pathetisch so umschreibt: „ D e r F r e i h e i t P r i e s t e r , der V a s a l l des S c h ö n e n / So wird der Dichter in die Welt gesandt". Aber nicht nur in dem Sinne, daß die erste Gruppe ausschließlich dem Programmziel: Freiheit, und die zweite Gruppe nur dem Programmziel: Schönheit zuzuordnen wäre. Beide Zielsetzungen üben vielmehr auf Herwegh eine so starke Anziehungskraft aus, daß er nirgends ganz aus dem alles bestimmenden Kraftfeld dieser beiden Pole entlassen erscheint. So wird etwa in den Platen-Rezensionen trotz der bekannten und peinlichen Polemik Heine näher an Platen herangerückt, die Polenlieder werden hervorgehoben, die gegenwartsnahen „verwandten Töne" herausgehört (das übersieht ein wenig der freilich nur kurze Herwegh-Abschnitt Martin Greiners), und bei aller Würdigung der Formpflege doch die Gewißheit gewonnen, „daß Platen die Freiheit geliebt, geliebt wie die Wackersten unsers Volkes". Ebenso wird bei Hölderlin, der vor allem als ein Dichter der Jugend gilt, unterstrichen, daß er uns „das Schönste" der klassischen Zeiten zurückerobern wollte, den „freien, großen Sinn".

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Oder der große Humorist Jean Paul, zugleich ein Träger der von Herwegh geforderten P o e s i e d e s „ H e r z e n s " , muß Anlaß bieten zu der Bemerkung: „Der Humor ist Demokrat; daher denn auch der komische Roman (mehrfach betont herausgestellt) für unsere Zeit von so hoher Bedeutung ist". Selbst Achim von Arnim habe zwar den „sinkenden Geschlechtern" noch einige blasse Rosen in die Gruft nachgeworfen, sich dann jedoch „mit raschen Schritten der neuen Zeit" zugewandt. Auf der anderen Seite erfährt in der überwiegend politischen Aufsatzgruppe die P f l e g e d e s S c h ö n h e i t s s i n n e s u n d d e r F o r m k u l t u r eine ständige Beachtung und zum Teil sogar eine höhere Wertschätzung als in den überwiegend rein literarischen Artikeln. Dem Mißbrauch und dem Mißverständnis einer wertvollen politischen Gesinnungsdichtung ist vor allem der Aufsatz über „Eine demokratische Verirrung" gewidmet. Herwegh hat bereits erlebt, welchen Schaden eine nur s t o f f l i c h - p o l i t i s c h e i n g e s t e l l t e P o e s i e o h n e e c h t e n S c h ö n h e i t s w e r t anrichten kann. Er würde —• mit modernen Schlagworten ausgedrückt — Inhaltismus ohne Formalismus nicht gutheißen. Ihm begegnen als jungem Rezensenten völlig unzulängliche Machwerke, in denen ein guter Wille für ein schlechtes Können entschädigen möchte. Den „Tendenzsüchtigen" hält er nicht allein Shakespeare entgegen, sondern auch die grundsätzliche Warnung: „ E s ist gefährlich, unsern jungen Dichtern zuzurufen, sie sollen Fragen der Zeit, Probleme des Jahrhunderts zu ihrem Vorwurfe machen, sie sollen Gegenstände in den Bereich der Poesie ziehen, welche im Augenblicke das Interesse der Menschheit am meisten in Anspruch nehmen und am meisten in Anspruch zu nehmen auch verdienen". Nur berufene Könner sind vor dieser Gefahrenzone sicher. Einige Schritte weiter, und er nähert sich dem enttäuschten G. Büchner, der von der Poesie keinen wirksamen Beitrag zur Volksbefreiung erwartete (Brief an Gutzkow und an seinen Bruder, etwa 1835). So meldet sich auch bei Herwegh gelegentlich der Überdruß, etwa in dem bekannten , , A u f r u f " , der ungebärdig beginnt „Reißt die Kreuze aus der Erden!", jedoch nicht ohne Gottes Verzeihung zu erbitten, wie denn der frühere Theologe immer seine Vorbehalte macht gegenüber dem scheinbar vorurteilslosen „ A u f klärer". An manchen anderen Stellen und in manchen Abwandlungen kehrt das „ L a ß t , ο laßt das Verseschweißen!" wieder. Aber 15

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als er diesen Schritt auch in der Tat vollziehen wollte, erlebte er den großen Rückschlag seines Lebens und seiner Geltung als Freiheitsdichter. Und dieser nie ganz verwundene Rückschlag wirkte nun auch lähmend auf den dichterischen Impuls. Georg Herwegh möchte sich und den anderen vortäuschen, daß die Poesie — wie Heine es einmal Immermann gegenüber ausdrückte — doch zuletzt nur eine „schöne Nebensache" sei. Aber sie bleibt ihm — genau wie Heine — zuletzt doch die Hauptsache. Weit später hat Herwegh an einer wenig beachteten Stelle, in einer Anmerkung zu einer ,,Heinrich Heine" gewidmeten Gedichtgruppe, die dann nach seinem Tode in die Sammlung „Neue Gedichte" (Zürich 1877) aufgenommen wurde, gelegentlich eines Abdrucks dieser ,,Heine"-Gruppe im ,,Zürcher Intelligenzblatt", die u. a. einen Hinweis auf Aristophanes enthält, noch einmal das V e r h ä l t n i s v o n F r e i h e i t und S c h ö n h e i t — und es war für ihn letzten Endes das V e r h ä l t n i s v o n P o l i t i k und P o e s i e überhaupt — in das erhellende Blickfeld kritischer Betrachtung gerückt. Und dort gelangt er zu der Verschmelzung „ A l l e s S c h ö n e w i r k t a u c h b e f r e i e n d " . Die Gegenfrage aber, ob alles Befreiende auch schön wirkt, hat er freilich offen gelassen. Vielleicht war dies die Formel, nach der er vergeblich gesucht hatte, als er unter dem Eindruck jenes Rückschlages seiner ihn zu neuer dichterischer Betätigung anspornenden Frau (sie war übrigens recht wohlhabend) einmal das Bedauern aussprach darüber, „daß dieses Zeitalter fast nur eine (die politische) Art der Lebensäußerung erlaubt". Damals war ihm klar geworden, wie schwer es gelingen könnte, „ a u c h in der F o r m aus dem Kreis der bisherigen Anschauung herauszutreten". In Wirklichkeit hatte er diese Form wohl schon in seiner Frühzeit gefunden, in den „Strophen aus der Fremde" etwa oder im Gedicht „Heimweh" und den mittleren Partien der Gedenkstrophen auf G. Büchner. Es war der lyrische Typus erlebter Meditation, stimmungsgesättigter Betrachtung, dem sein Kunstwollen unbewußt zustrebt, wenn nicht die geballte rhetorische Stoßkraft des politischen Kampfliedes, das gewiß einen anderen Kernbezirk seines dichterischen Vermögens darstellte, ihn mitreißt. Er war sich schwerlich bewußt, daß der eifernde Ton des Predigers, des Volkspredigers dabei vom Volkstribunen übernommen wurde. Diesen kämpferischen Typus hat er vor allem noch einmal ausgeprägt in dem bekannten ,,.Bundeslied" von 1864. Aber er bedurfte damals schon

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einer stofflichen Stützung durch das Vorbild Shelleys und mehrfacher Anspornungen durch F. Lassalle, um die erforderliche Konzentration zu finden. Denn der geschwätzigen Vielschreiberei der Jungdeutschen ist er nicht verfallen. Für diese Seite seines Wollens und Wesens ist stets unerläßliche Voraussetzung jene Wirk u n g s e i n h e i t von P r o t e s t i e r e n und P r o d u z i e r e n , von der seine frühen Aufsätze schon manches bekundet hatten. D a s P r o d u k t , das aus dem P r o t e s t e r w ä c h s t , galt ihm schon damals als besonders lebendig und fortschrittlich. Aber während er in jener Zeit noch das Überparteiliche des Schönheitswertes anerkannte, hatte er doch sehr bald schon dem Wort Freiligraths von der „höheren Warte" des Dichters sein entschlossenes Bekenntnis zum Parteiergreifen entgegengestellt „Die Partei, an Ferdinand Freiligrath" im zweiten Teile der „Gedichte eines Lebendigen" (1843). Vorbereitet worden war diese Forderung des Parteiergreifens aber bereits in dem Aufsatz über „Die Literatur im Jahre 1840", wo den Lessing, Klopstock, Goethe, Schiller die Frage entgegengehalten wird, wer denn „von ihnen ausschließlich einer Partei mit Begeisterung sich angenommen" habe. Das sei der j u n g e n Literatur vorbehalten und „aufbehalten. Hier erst findet sich ein politischer Glaube neben dem poetischen". An sich hatte der junge Herwegh bei der Besprechung des „Rheinischen Odeons", dessen Mitherausgeber Ferdinand Freiligrath war, zwar angesichts des neuen Musenalmanachs die Frage gestellt, was so ein „Schmetterling" denn „im Sturme" der Zeit wolle. Auch die Mitarbeit von Männern wie Grün, Lenau, Mosen und Karl Beck hatte er vermißt, das Erscheinen jedoch warm begrüßt. Aber trotz einer Teilanerkennung im Aufsatz „Dichtergruppen" schien ihm Freiligrath, wie auch ein Gedicht andeutet, etwas zwiespältig belichtet. Fragt man nun, ob nicht doch eine klarere Antwort Herweghs vorliegt auf die Kernfrage, wie eine wertvolle Zeitdichtung möglich sei und wie sie beschaffen sein müßte? Einige Andeutungen liegen in der Tat vor, besonders in dem Artikel „Eine demokratische Verirrung". Die Zeitdichtung mit dem Anspruch der Wertbeständigkeit erfordert danach genaue Überlegung schon bei der Stoffwahl. Sie muß fragen, „was im Laufe der Zeit an und für sich Wert hat". Sie darf sich nicht dem „Ringen der Zeit entziehen", muß aber das Dauerwertige im Auge behalten. Vielleicht darf man die Kon15·

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zeption Herweghs so ergänzen: wertvolle Zeitdichtung liegt am Schnittpunkt der Gegenwart mit der Ewigkeit. Dahin scheint jedenfalls auch die an sich etwas rätselreiche Entscheidung auszuschlagen, die Herwegh am Schlüsse des Aufsatzes ,, Wappenvögel" fällt: „Ich will keine Tendenzpoesie; das Ewige ist immer Tendenz . . . Seid echte Dichter und ihr seid immer auf der Seite der Opposition", ein Gedanke, den der Artikel,.Dichter und Staat" wenn möglich noch schärfer faßt. Wieder würde die zeitbedingte Opposition der Zeitdichtung einer gleichsam „ewigen" Opposition des Dichtertums schlechtweg entsprechen, doch wohl aus keinem anderen Grunde, als weil der „Seher" im Dichter ewig vollkommenere Möglichkeiten sieht oder doch erträumt und weil er das Gemüt, das Herz vertritt, das für das Ewig-Menschliche Raum braucht und fordert. Das wäre dann „die friedliche Opposition des Herzens dem ehernen Geist der Gesetze und Staatsformen gegenüber". Zwar Herwegh vollzieht an jener Stelle ein diplomatisches Rückzugsgefecht nach dem durch Plato gedeckten Vorstoß: „Jeder Dichter steht in Opposition mit dem Staate, auch mit dem besten" (vgl. noch Heinrich Mann), wollte womöglich auch nur die Schweizer beruhigen. Aber der Geist, der stets verneint, verdient gleichsam vor dem Antlitz des Ewigen die Duldung dessen, was stets antreibt zu neuem Fortschritt der Menschheit. Ob das nicht am Ende doch wieder auf Schillers gewichtigen Einwand gegenüber Kants kategorischem Imperativ hinausläuft, mag hier unentschieden bleiben. Doch Wendungen wie die über die „junge" (hauptsächlich jungdeutsche) Literatur, die nicht staatsrechtlich abgeurteilt werden dürfe, weil der Staat mit seinen starren Gesetzen „in Sachen des Herzens, des Gemüts der unzugänglichste Richter" sei, deuten in eben diese Richtung („Die neue Literatur"). Und wie einst Schiller das Richteramt der (dramatischen) Poesie zuerkannt wissen wollte in Bezirken, wohin die staatliche Gerichtsbarkeit nicht reiche, so auch, nur weit umfassender noch, lautet bei Herwegh der Satz: „Der Dichter ist Richter im höchsten, umfassendsten Sinne des Wortes" (Aufsatz: „Oer Mangel politischer Bildung. . ."), und zwar auch Richter über Gesellschaft, Staat und Staatsform. Jene überspitzte Wesensbestimmung des Dichtertums und der dichterischen Aufgabe als einer, wenn auch mehr gefühlsmäßig gefärbten Opposition um jeden Preis, auch um den Preis, den

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vermeintlich besten Staat einer Kritik des reinen Gefühls, nicht aber der reinen Vernunft unterziehen zu müssen, richtet nun jedoch ihre überschärfte Spitze, die über das „Demokratsein" des echten Dichters hinausweist, nicht zum wenigsten gegen einen Mißbrauch der Staatsphilosophie Hegels durch die Hegelianer. Nicht nur der „Protestant" in Herwegh rebelliert gegen die Unfehlbarkeit des Schiedsspruchs Hegels („weil Hegel es gesagt hat"), sondern er glaubt auch jugendlich keck Hegel vor dessen eigenen Freunden schützen zu müssen. Denn jenes Uberwuchern und Überwältigen aller Freiheit durch den Staatsgedanken „ist gewiß nicht einmal in Hegels eigenem Sinne gedacht" (Aufsatz: ,,Dichter und Staat"). Aber man darf wohl hinzusetzen, daß ein starkes Geltungsbedürfnis des Dichtertums in Herwegh zu jenem Protest wesentlich beiträgt. Und wenn er die Zentralstellung des Staates nicht gelten lassen will, so vor allem deshalb, weil er diese Zentralstellung der Poesie vorbehalten sehen möchte, darin mehr Romantiker, als er sich selber zugesteht. Es lag für ihn, der den würdigen Staat erst durch die Waffe der politischen Gesinnungspoesie mit erkämpfen zu können meinte, die Verführung nahe, den Wert des Mittels über den Wert des Zweckes zu stellen. Der Zweck „heiligte" für ihn das Mittel, eben die Poesie, und die romantisierende Vorstellung vom Dichter als Seher, Propheten, Priester, die ihm nur allzu geläufig war, verstärkte noch diese Übersteigerung. Ebenso ein gewisser Geniekultus, der zunächst einmal geniezeitgemäß wirken mag, der jedoch möglicherweise schon von Schopenhauer her eine neuzeitliche Verbindung mit dem Weltschmerz eingeht. Es darf nicht übersehen werden, daß Herwegh es war, der Richard Wagner, mit dem er in der Schweizer Flüchtlingskolonie über Jahre hinweg in vertrautem Verkehr stand (besonders während der fünfziger Jahre), zuerst auf Schopenhauers Philosophie hingewiesen hat (1851). Und die Künstlerpersönlichkeit Wagners selbst, wenn auch Herwegh sich mit dem „Stabreimgestammel" bei den noch nicht von der Gewalt der Musik verklärten, ersten Textvorlesungen (zum „Rheingold") gar nicht recht abfinden konnte, die ganze Atmosphäre, mit der sich Wagner zu umgeben pflegte, hat ihrerseits fraglos zur Verehrung des Geniehaften beigetragen, wie denn Herwegh auch späterhin den „ungestümen Wegebahner" und „deutscher Tonkunst Pionier" — im Gegensatz etwa zu der Wagnerfeindschaft im Münchener Dichterkreise — gern gelten ließ, selbst dann noch, als Wagner politisch andere

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Wege ging. Ähnlich bekundet sich in den Strophen auf Franz Liszt die Willigkeit und Fähigkeit, einem verklärenden Künstlerkult sich mit herzlicher Aufgeschlossenheit zuzuneigen. Übrigens ganz anders als Mörikes Freund Moritz von Schwind, der weder Wagner noch Liszt ausstehen konnte. Das Verhältnis zu Hölderlin und Platen trägt ähnliche Züge. Im historischen Rückgriff wird weiterhin die verehrte Gestalt Ulrich von Huttens (Gegenüberstellung mit Napoleon in dem Gedicht: „Ufnau [sic!] u. St. Helena"), den späterhin C. F. Meyer zum Helden seines großen Erstlingsepos erhoben hat — , ebenfalls unter dem landschaftlichen Eindruck (Huttens letzte Tage auf der Insel Ufenau), aber vielleicht nicht ohne Anregung durch seinen „Jugendpoeten" Herwegh —·, in die Vorbildtradition feierlich eingesetzt. Der junge Herwegh war gewiß leichter entflammbar als der reifere und vollends als der enttäuschte des Alters, der drastisch genug die Abkühlung durch das Leben in den Strophen seines zeitlich weit vorweggenommenen Grabliedes zur Geltung gebracht hat. Aber den Größenkultus hat er sich bewahrt, ohne ihn recht in Einklang bringen zu können mit seiner Verehrung für die breiten Volksschichten. Und dieser Zwiespalt bringt auch in seine Kunstanschauung einen gewissen Bruch oder doch eine ungelöste Spannung, ähnlich wie der Zwiespalt zwischen dem Heroischen und Elegischen, dem Rhetorisch-Pathetischen und dem Musikalisch-Meditativen, dem Weltverbesserertum und dem Weltschmerzlertum, das auch kritisch und kunsttheoretisch mehrfach als berechtigte Ausdrucksform politischer und menschlicher Enttäuschungsstimmungen verteidigt wird. Man wird sich bei alledem gegenwärtig halten müssen, daß sich Herwegh, als er diese kritischen und programmatischen Aufsätze und Rezensionen schrieb (1839/40), bereits als der kommende Autor der ,,Gedichte eines Lebendigen" (1841) fühlte und fühlen durfte. Oft genug klingt dieses Bewußtsein als kaum noch verhaltenes Selbstbewußtsein heraus: die Poesie wird sich beeilen müssen, wenn sie mit der Politik und Geschichte Schritt halten will. Sie wird sich aber auch in ästhetischer Hinsicht bemühen müssen, wenn sie den Ansprüchen des Volkes der Zukunft genügen will. Denn das Volk wird dank des „sozialen Fortschritts", der zu erwarten steht, nicht mehr müde und abgearbeitet, mit halber Auffassungskraft an die Dichtung herangeführt, es wird aufnahmefrischer und anspruchsvoller werden. „Die Gesetze der Schönheit

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sind ewige, und das formelle Element der Poesie wird vielleicht unter den sozialen Stürmen am wenigsten zu leiden haben. Im Gegenteil, je freier die Welt wird, desto strenger wird vielleicht die Ästhetik". Aber es wird nicht an Dichtern fehlen „Ich kenne Geister . . ." und an anderer Stelle „Es werden Geister kommen, es sind schon Geister da", die ein würdiges Echo der Klänge in der „Brust des Volkes" zu sein vermögen und „imstande sind, ihren Dichtungen die glühende Färbung des Moments zu geben, ohne darum der Schönheit irgend Eintrag zu tun. Aber über letzterer müssen wir wachen, eifersüchtig wachen!". Kurz, die erlebte Gewißheit des eigenen Formungsvermögens steht verstärkend hinter der allgemeinen Forderung schönheitswertiger Poesie. Freiheit und Schönheit, Politik und Poesie bleiben so im untrennbaren Verbände, sowohl für den Kunstwertschenkenden als auch für den Kunst wer taufnehmenden. Lenau und Anastasius Grün sind ihm als „freiwillig Verbannte" Bürgen dafür, daß „Freiheit und Poesie einen und denselben Boden zum Gedeihen verlangen". Es war der Boden, den die „Gedichte eines Lebendigen" mit erkämpfen helfen sollten; denn der junge Herwegh war überzeugt, daß die Poesie nicht allein Prophetin, sondern auch die „Vorläuferin der Tat" werden könne, wie er in einem Sonett die Dichtung dem Kriegertum nicht dienend unterstellt, sondern führend und als „Feuerzeichen" vorangestellt sehen will. Denn zuletzt ist der Schlag des lebenden und belebenden Herzens stärker als der Schlag des vernichtenden Schwertes. Immer wieder spielt Herwegh das Herz und das Gemüt gegen das Hirn und den Geist aus. Begeisterung gilt mehr als Geist. Das Gemüt als Gewissen gilt mehr gegenüber dem Geist als Wissen. Das hat Gültigkeit selbst für den großen Maßstab der Geschichte und Weltgeschichte: „Das Herz ist auch ein Faktor der Weltgeschichte", und nicht nur die Vernunft. Vor allem das unverbildete Herz der „Hütte", also das gefühlsmäßige Reagieren des einfachen, ungebildeten und deshalb unverbildeten Menschen. Beachtet man mehr als bislang üblich diese Seite von Herweghs Kunstauffassung, so reicht seine Programmatik näher heran an Ludolf Wienbargs Tenor in dessen „Ästhetischen Feldzügen", die immer wieder das Herz singen und klingen lassen wollten „aus deutscher Rede". Auch die Freude am schwungvollen Pathos, am Rhetorischen der lebendigen Rede teilt Herwegh mit Wienbarg, den er zwar nicht ausdrücklich als Gewährsmann heran-

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zieht, der aber zum mindesten mittelbar auf ihn und sein Kunstwollen eingewirkt hat. Die „Ästhetischen Feldzüge" waren gerade (1834) erschienen, als Herwegh (1835) a l s junger Theologiestudent in das Tübinger Stift eintrat. Es ist bekannt, daß er sehr bald mit dem Programm der Jungdeutschen vertraut wurde. Er fand Anregung und Ermutigung durch August Lewald in Stuttgart, für den Heinrich Heine die Theater-Briefe aus Paris verfaßte. K u r z : die Fühlung zwischen der „politischen L y r i k " und dem Jungen Deutschland, das die Lyrik — von Heine abgesehen —· weitgehend ausgespart hatte, ist auch über Herwegh nachweisbar gegeben. Die Katheder-Rhetorik Wienbargs transponierte Herwegh auf die Kanzel-Rhetorik des untreu gewordenen Theologen. Aber der Gemütswert dominiert bei beiden. Intakt bleibt bei Herwegh also vor allem die „Herz"-Kammer, die für ihn nicht so unmittelbar wie für Jean Paul immer auch an eine Hirnkammer grenzt. Das „ H e r z " war es auch, das jene Opposition gegen den Staat zu rechtfertigen, aber auch voranzutragen hatte. Der Opposition Schillers gegen Kant würde dergestalt eine Opposition Herweghs gegen Hegel entsprechen. Mochte dabei ein gewisser Grad von Kampftaktik mitspielen, wie er sie ja auch bei Voltaire vermutet: immerhin ist die uneinnehmbare Festung des „Herzens" (Gefühlskriterium) nicht nur in diesem Falle die Zufluchtsstätte der Freiheit. Die Poesie muß diese Burg als ihren besten und letzten Rückhalt verteidigen, nicht jedoch nach dem Thronsitze der Philosophen trachten. Selbst R o b e r t P r u t z , sein „geliebter Prutz", für den das Einleitungsgedicht auf den „Verbannten" (Zweiter Teil der „ G e dichte eines Lebendigen") so teilnehmend den Schutz der Jugend zur Hilfe rief, erfährt an anderer Stelle eine kritische Zurechtweisung, weil er die „Poesie auf das Postament der Philosophie hinaufschrauben" wolle. Damit jedoch fordere er „Dinge von den Dichtern, wodurch die Dichter eben aufhören würden, Dichter zu sein" (Aufsatz: „Platens Lieder und Romanzen"). Dieser Auffassung, die eine reinliche Scheidung von P o e s i e u n d P h i l o s o p h i e gutheißt, entspricht eine durchgängige Ablehnung der Reflexionspoesie, besonders im Bereiche der Lyrik. Gegenüber der Philosophie besitzt die Poesie den Vorzug, dem Volke leichter verständlich zu sein und gemütsmäßig und willensmäßig tiefer in dessen Wallungen und Wollungen einzugreifen, daher erweist sie sich geeigneter, zur Erziehung des Menschengeschlechts bei-

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zutragen. Offenbar scheint sie ihm auch als berufener und wirksamer zu jener „Opposition mit dem Staate", auf die er ausdrücklich zurückverweist im Aufsatz „Die Übervölkerung" (literarische „Übervölkerung" ist gemeint). Die Flucht vor dem — offenbar doch nicht „besten" — Staate in die Massenschriftstellerei gilt dabei als Beweis der Unzulänglichkeit des Staates, und diese gleichsam latente Opposition und ihr Reflex in der Staatsflucht habe nicht nur die besten Geister, sondern bereits die mittelwertigen und minderwertigen ergriffen. Die Kontroverse K a n t — Schiller, ihm nahegebracht durch einen Artikel über „Schiller und K a n t " aus der Feder des „Hegelianers" Karl Rosenkranz, ermutigt ihn zu der Verallgemeinerung: „ A u c h ein Dichter ist oft berufen, eine Philosophie über sich hinauszuführen". K . Rosenkranz sagt ihm unter den Hegelschülern neben Strauß, Vischer, Hotho, Rüge am ehesten zu; er sei jedoch ebenso sehr und mehr ein Schüler Herders als Hegels. Die von H. G. Hotho wenige Jahre vor dem Erscheinen der „kritischen Aufsätze" postum herausgegebenen Ästhetik-Vorlesungen Hegels (1835/37) berücksichtigt Herwegh bei seinen Rezensionen nicht. Doch könnte die kritische Stellung zur romantischen Ironie (z.B. im Jean PaulAufsatz) und deren Zurückführung auf Fichtes „subjektivsten Idealismus" immerhin auf Hegels Ästhetik mittelbar oder unmittelbar zurückgehen. Die Gefahr der Einengung der Philosophie auf eine bloße „Kastenweisheit" gilt nicht zuletzt auch für „die Arbeiter am Weinberg der Hegeischen Philosophie". Jedenfalls macht Herwegh überall die überlegene Breitenstreuung der Poesie nachdrücklich geltend, soweit es sich nicht um exklusive Scheinpoesie aristokratischer Kreise handelt. (Aufsatz: ,,Literatur und Aristokratie"). Während in Hegels Philosophie bei alledem „ein großes Resultat tausendjährigen Denkens", wenngleich nicht dessen „Abschluß" erkannt und anerkannt wird, also innerhalb des philosophischen Fortschritts der Wert der historischen Voraussetzungen hervorgehoben oder doch bestätigt erscheint, erfährt das geschichtliche Denken, das Herwegh kaum besonders gemäß war, merklich eine Rückbildung zugunsten einer Kräftesammlung auf Gegenwart und Zukunft. Zwar gibt Herwegh einmal zu bedenken, man könne nur deshalb, „weil man ein erhabenes Ziel vor Augen hat, . . . den Weg, der dahin führt, nicht in die Tasche stecken, wenn man ihn zurücklegt". Und es ergibt sich daraus die Folgerung „Gegen die

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Zukunft gerecht, aber gegen die Vergangenheit nicht ungerecht!" Das bezieht sich jedoch mehr auf die Literaturgeschichte als auf die Geschichte. Und an anderer Stelle wird eine Nachfolge Walter Scotts, mit dem die „aristokratische" Literatur auf eine an sich „großartige Weise" abgeschlossen habe, geradezu etwas pathetisch als ein Verbrechen an der Gegenwart bezeichnet. Ebenso wendet er sich ab von den Bestrebungen der historischen Malerschule der Münchener um Peter Cornelius, der ebenso wie etwaPeter Heß bestenfalls im Technischen dem Fortschritt gedient habe. An und für sich jedoch sei die „Münchener Kunst . . . eine schöne Lüge". Als weit wahrhaftiger gilt die Düsseldorfer Schule, so etwa die Malerei Hildebrandts oder Karl Friedrich Lessings (Hussitenpredigt; dagegen lagen „Huß vor dem Konzil, Huß vor dem Scheiterhaufen" damals noch nicht vor). Herwegh meint nämlich: die Düsseldorfer schmiegten sich inniger den „Zeittendenzen" an, ständen auch dem „Volksgemüte" nahe, eine Wendung, die er von Uechtritz' Darstellung über die Düsseldorfer herübernimmt. Die Münchener gelten dagegen auch deshalb als unzeitgemäß, weil man sie kennzeichnenderweise die „epische" Schule genannt habe, da doch das Epos (vorwiegend ja auch geschichtlich) eine durchaus unzeitgemäße Gattung darstelle. Der große, zum mindesten erfolgsmäßige Aufschwung des Epos war allerdings noch nicht zu überblicken. Man berührt damit das V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e und b i l d e n d e r K u n s t , zum mindesten der historisch eingestellten Malerei, der zwei Jahrzehnte später Karl Frenzel einen eigenen Essay widmete. Herwegh hat knapper als in dem betreffenden Aufsatz (Periodische Literatur) in den Peter Cornelius gewidmeten Strophen seiner „Gedichte eines Lebendigen" (2. Teil) die Fragestellung umrissen, die jene Fragwürdigkeit des Wertes historischer Bemühungen in sich birgt: „Warum die Augen ewig rückwärts kehren? / Im eigenen Jahrhundert dich verspäten?". Die Grundeinstellung bestimmt auch seine skeptische Haltung gegenüber der Wiedereinsetzung Ernst Moritz Arndts (1841); denn „erleuchten kann er die junge Welt nicht mehr". An Achim von Arnim zwar wird plötzlich wieder der „historische Sinn" gerühmt; aber nur um ihn gegen Tieck ausspielen zu können. Und schon angesichts des „Aufruhrs in den Cevennen" erheben sich wieder abwertende Bedenken, so daß schließlich doch nur Arnims neuzeitliche Wendung gutgeheißen wird. Am bündigsten läßt sich Herweghs Meinung zusammen-

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fassen in die schlagwortartige Formulierung: „Alles Reden von Gestern ist nur ein Kommentar zum Heute". Die Poesie ist um so weniger darauf angewiesen, bloße Mittlerin der äußeren Historie zu sein, als sie selbst „die innere Geschichte der Menschheit" repräsentiert. Sie ist, so verstanden, kein bloßer Spiegel der Geschichte, sondern, soweit es um die „äußere" Historie geht, „als Supplement der Weltgeschichte" zu begreifen. Auf manche Widersprüche, die auch sonst beim Programmatiker Herwegh bestehen und — nicht zuletzt —• aus journalistischer Gelegenheitsarbeit zu erklären sind, kann hier nicht eingegangen werden. Eindeutig ist jedenfalls: Herwegh steht nicht auf der Seite des Historismus. Aber er steht auch nicht auf der Seite des Realismus. Beide Großmächte des dichterischen Kunstwollens im 19. Jahrhundert standen zwar damals erst im Vorraum ihrer späteren Machtentfaltung. Aber man kann auch nicht gut behaupten, daß Herwegh die Möglichkeiten des realistischen Wirkungswertes im Dienste des Politischen oder auch nur des allgemein Künstlerischen bereits klar erkannt oder vollends zielklar erfaßt habe. Sein Dichterideal: der Freiheit Priester und Vasall des Schönen, seine Dichterideale: Hölderlin, Platen, seine eigene dichterische Neigung: rhetorisch-pathetischer Typus einerseits, elegisch-meditativer Typus andererseits — alles das waren Hemmkräfte gegenüber einer entschiedenen Wendung zum Realistischen hin. Gewiß gibt ihm die Gegenüberstellung von Salon bzw. Palast und Hütte mehrfach Gelegenheit zu dem Hinweis, daß die Bewohner der Hütte mit ihren „geheimen Schmerzen und Freuden" ein ebenso würdiger Vorwurf für die Poesie seien als die Erlebnisse der Reichen. Gewiß verzeichnet er für das Drama bereits die Scheu des moderneren Dramatikers, etwa nur Fürstenschicksale als Motive zu wählen. Aber was als programmatische Forderung dabei herausspringt, ist doch nur ein bescheidener Hinweis auf das „Volkslied" und das „nationale Drama", wie denn an anderer Stelle G. A. Bürger als „unser letzter eigentlicher Volksdichter" und Leisewitz mit seinem in realistischer Hinsicht relativ gemäßigten „Julius von Tarent" wegen gewisser revolutionärer Einschläge (Vergänglichkeit der Fürsten) aushelfen müssen. Es ist bereits aufschlußreich in der idealisierend-poetisierenden Formulierung, wenn in ähnlichem Zusammenhange sein politischer Vorbild-Poet B6ranger als „Apoll der Hütte" —• und zwar keineswegs etwa in

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einem Widmungsgedicht —· bezeichnet wird. Auf der anderen Seite ist es nicht weniger bezeichnend, wenn er gelegentlich den abfälligen Ausdruck Levin Schückings vom „Fuselhumor" aufgreift, um Jean Paul vorteilhaft von — Ch. Dickens (!) abzuheben. Die realistischen Teileinschläge bei A. v. Chamisso und Biranger werden für ausreichend gehalten; Balzac dagegen wird in seiner Bedeutung nicht erkannt. Die Möglichkeiten etwa der Oberhofgeschichte in Immermanns ,,Münchhausen"-Roman für eine Hinüberbildung des Realistischen ins Politische entgehen ihm, obgleich er an sich Immermann mehrfach unter die Mißvergnügten und daher irgendwie den Fortschritt Fördernden erwähnt und obwohl er vom „komischen Roman" einen tiefen Eingriff „in unser Leben" erwartet. Aber wenn er erwägt, daß der zeitkritische Roman der „eigentlichste Hebel der Zeit werden" könnte, so ist es eben das Satirische, nicht das Realistische, das er für gegenwartsdienlich und vorwärtsweisend hält. Kurz, es war doch nicht nur eine Beruhigung des Publikums, wenn er nachdrücklich beteuert hatte: „Den Gott der Häßlichkeit werden wir also niemals auf den Thron erheben" (Aufsatz: „Salon und Hütte"). Ob Herwegh das auch so bündig hingesetzt hätte, wie es nun dasteht, wenn er hätte voraussehen können, daß gerade sein bevorzugter Hegelianer K. Rosenkranz, für den sich auch der jüngere Fr. Th. Vischer lebhaft interessiert zeigt, ein gutes Jahrzehnt später eine eigene ,.Ästhetik des Häßlichen" (1853) herausbringen sollte? Aber auch Rosenkranz wollte dort nicht die Häßlichkeit auf den Thron erheben, er wollte ihr nur eine Teilgeltung im Gesamtgebiet des Ästhetischen eingeräumt wissen. Den Gott der Häßlichkeit wollte Herwegh nicht anerkennen, wohl aber die Göttin der Freiheit. Ihr muß selbst die R e l i g i o n weichen: „Mag alles zuletzt auf die Religion bezogen werden müssen, nehmt wenigstens die Freiheit aus. Diese ist nur von sich selbst abhängig". Freiheit sei älter als das Christentum und sei als Begriff und Erlebnis an kein Glaubensbekenntnis gebunden: „Die Freiheit hat nur einen Glauben, den Glauben an sich selbst". Herwegh steht dem Christentum näher als etwa der frühe Gutzkow. Das schließt gelegentliche Vorstöße nicht aus, wie etwa den etwas unklaren im „Ludwig Feuerbach"-Gedicht (i. d. „Xenien") der Frühzeit und den klareren im Nachruf-Epigramm auf „Seinen Ludwig Feuerbach" (etwa 1872) aus der Spätzeit, wobei er Feuerbach die „göttliche" Komödie Dantes „als menschliche" erkennen

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läßt. Über das Verhältnis von Poesie und Religion weiß er kaum etwas Wesentliches auszusagen. Die Taktik der Religionskritiker, Glaube und Kirche, das Christentum und die „Anmaßung der Priester" zu trennen, begrüßt er gelegentlich der Besprechung von K. Gutzkows Trauerspiel ,,Saul" unter Rückbezug auf Gutzkows „Maha Guruh". So würde zuletzt doch seinem Eintreten für eine staatskritische Dichtung eine Befürwortung einer zum mindesten kirchenkritischen — wenn nicht bibelkritischen — Poesie entsprechen. Doch ist dieser Zug nicht vorherrschend, und gewisse innere Hemmungen werden spürbar. Er bejaht zwar die Art, wie etwa bei der George Sand Ideen der „Paroles d'un croyant" Lamennais' dichterisch umgestaltet werden, meldet jedoch Bedenken an gegen Lamennais' Methode, die demokratischen Prinzipien aus dem Evangelium abzuleiten, weil er befürchtet, die Aristokratie könne womöglich auch eines Tages eine Ableitung ihrer Berechtigung aus dem Evangelium versuchen. Das laufende Gefecht gegen die Aristokratie schließt übrigens nicht aus, daß auch Herwegh wie so mancher der anderen liberalen Dichter mit dem Gedanken einer Aristokratie des Geistes und der Kunst liebäugelt. In dem kurzen Essay „Literatur und Aristokratie" stellt er ein Drittel des geringen Raumes für den Abdruck eines längeren Gedichtauszuges zur Verfügung, um aus einem obskuren, ungedruckten Moliere-Lustspiel Daniel Uffo Horns (1817—60), der in Hamburg dem Kreise der Jungdeutschen um Wienbarg und Gutzkow nahestand, später jedoch eine nicht unbeträchtliche politische Schwenkung vollzog, um aus diesem wahrlich nicht von künstlerischer Aristokratie zeugenden Opus Stellen anführen zu können wie diese: ,,. . . meint ihr Herrn / Der Dichtkunst Söhne bringen keine Ahnen / Und keine Schätze in dies Leben mit? / Ist denn die Reihe herrlicher Poeten / Nicht eine stolze edle Ahnenzahl . . .". Immerhin war D. U. Horn vorsichtig genug gewesen, diese Worte seinem Moliere in den Mund zu legen. Im Ertrag für die Auffassung vom Dichtertum liegen derartige Ansprüche in einer Linie mit gewissen Ambitionen des späten Heine. Wenn Herwegh darauf hinwies, daß George Sand den „evangelischen Radikalismus ihres Freundes Lamennais" gegen einen Angriff von dritter Seite verteidigt hätte, so wußte er noch nichts davon, daß Felicite de la Mennais, der nach strenggläubiger Frühzeit unter dem Eindrucke der Julirevolution eine Zeitschrift

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(„Avenir") herausgab und sehr bald darauf seine „Paroles d'un croyant" (1834) veröffentlichte, nicht nur in Frankreich in Maurice de Gu6rin einen Anhänger unter den jung verstorbenen Dichtern fand, sondern auch in dem ebenfalls recht früh verstorbenen, aus einer französischen Hugenottenfamilie stammenden deutschen Dichter von recht eigener und eigenartiger Prägung F r i e d r i c h v o n S a l l e t (1812—43). Denn Sallets dichterisches Hauptwerk, das ,,Laienevangelium" (1842), das also nur ein Jahr nach Herweghs „Gedichten eines Lebendigen" erschien, kann die geistige Nähe L a Mennais' ebenso wenig verleugnen wie die Teileinwirkungen von D. Fr. Strauß und Hegel. Friedrich von Sallet, aus einer Offiziersfamilie kommend und selber in der Offizierslaufbahn stehend, war zwar wegen einer jugendlich kecken kritischen Veröffentlichung über militärische Dinge anfangs von einem Jahrzehnt Festungshaft, die dann jedoch auf wenige Monate ermäßigt wurde, in seiner Art auch von der Demagogenverfolgung betroffen oder doch gestreift worden, die er in seinem politischen Gedicht „Die Demagogen vor anno olim" ebenso satirisch belichtet wie die oberflächliche Seite der demagogischen Burschenschaftsbewegung selbst. Aber seine politisch freiheitliche Gesinnung, offenbar gestärkt durch die freundschaftliche Berührung mit Eduard Duller in einem an sich unbedeutenden Dichterkreise während seiner Trierer Zeit, bedurfte nicht der Anspornung durch jene persönliche Erfahrung, der er selbst nur geringe Bedeutung beimaß. Was er im „Frühlingsalmanach" (1836/37) jenes Dichterkreises (der ,,Poetischen Menagerie"), was er in seiner eigenen ersten Gedichtsammlung von 1835, was in den letzten Jahrgängen des von Chamisso herausgegebenen Musenalmanachs aus seiner Feder enthalten ist, und selbst die Sammlung von 1843 muß zurückstehen gegenüber dem „Laienevangelium", soweit es sich um die Kunstleistung als Ganzes handelt. Das teils erlebnismäßig, teils erkenntnismäßig gestimmte und bestimmte Kunstwollen, das einen stark ehrgeizigen Zug in sich birgt, spiegelt sich eher in dem allerdings noch recht unreifen Tagebuch von 1831/32, in den Beiträgen zu E. Dullers „Phönix", die über Lyrik bzw. die Objektivität im Dichterischen handeln, und nicht zuletzt in Privatbriefen an seine Freunde. Was in Einzelgedichten über Wesen und Wollen des Dichtertums ausgesagt wird, wirkt bald romantisch verschwommen wie in dem recht

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langatmigen über „Des Dichters Seele", wo die „Zauberwelt" als Wuchsheimat der Dichterseele herhalten muß und höchstens die Verse: „ E s ruhet wie ein klares, stillsehnendes Gemüt / Das in die eignen Tiefen den ganzen Himmel zieht" in Hinblick auf das „Laienevangelium" bemerkenswert erscheinen, oder es bewegt sich um den Ewigkeitsgedanken des echt erlebten („was du Echtes hegtest") Kunstwertes und Kunstwerkes wie in der Camoens gewidmeten Romanze mit ihren kunsttheoretisch beachtenswerten Zusatzstrophen. Oder auch das Schmerzgeborene des Dichtertums und sein Tiefendrang wird hervorgehoben wie in den kurzen Strophen „An den Dichter". A m ehesten wohl trifft in diesem Bereiche dichterischer Äußerungen über eine dichterische Kunstauffassung die Prägung „ V o n Nektar trunken sein und doch besonnen" (Epigramm: „Dichterberuf") jenes Idealbild, das Fr. v. Sallet selber vorschwebte. Während das politische Gesinnungsgedicht am nachdrücklichsten in den wuchtigen Strophen „Der gefangene Sänger" stimmungsmäßig umschrieben und mit seiner Wirkungsgewalt zur Geltung gebracht wird: „Nicht peitschen können sie den Strom mit Ruten / Wenn er das Land mit Freiheitsbrausen weckt". Dabei ist — etwa gegenüber Herwegh — kennzeichnend für die Sonderausprägung des dichterischen Kunstwollens bei Sallet, daß hier nicht die „Kreuze aus der Erden" gerissen werden, sondern daß die „Liedergeister", die man umsonst zu fesseln trachtet, „bewehrt mit Himmelswaffen" das Diesseits freizukämpfen haben. Auf der anderen Seite wird der „Weltgeschichte" das rächende Gericht übertragen: „Appelier an kein Gerichte, / Wenn ich meinen Spruch erlitt / Als an eins: die Weltgeschichte / Die euch morgen schon zertritt". Der männlichen Haltung und dem charakterlichen Halt nach hätte Friedrich von Sallet weit eher der Theodor Körner der politischen Revolutionslyrik werden können als Herwegh. Und es ist kein Zufall und keine bloße Jugendschwärmerei, wenn er in einem frühen Gedicht, selbst noch ein Jüngling, unter den Dichtergestalten, die der Gott Apollo mustert, den Jüngling „mit Schwert und Laute" Theodor Körner besonders liebevoll beleuchtet zeigt. („Ein Spaziergang des Gottes Apollo", 1831.) Aber das Grunderlebnis des Religiösen einerseits und des Philosophischen andererseits lassen jene vom „Dichterberuf" geforderte Zweieinigkeit des „Trunkenseins" und „Besonnenseins" in anderer Richtung sich entfalten. Ja, zeitweise fühlte Sallet selbst die Gefahr eines Ge-

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lähmtwerdens seines dichterischen Antriebes durch die kritische Besonnenheit: „Hast am Gefühl so lang herumgedacht / Bis du zuletzt dich ums Gefühl gebracht", zugleich ein Beitrag zur Reflexionsbrechung schöpferischer Unmittelbarkeit im Verhältnis von Kunstwollen und Kunstschaffen. „Erfinden nur heißt dichten" steht hier (Gedicht: „Prosa in Versen") als Selbstermahnung. Aber wenn sich Sallet in dieser Periode der „Zerrissenheit" und Ungewißheit mit dem Beruf des literarischen Kritikers zu bescheiden gedachte, so darf trotz der Rückwendung zum Schöpferischen nicht übersehen werden, daß auch für sein Hauptwerk, das „Laienevangelium", ein starker Zustrom des Dichterischen vom Kritischen her (eine Art von Bibelkritik ohne die Schärfe D. Fr. Strauß') tatsächlich erfolgt ist. Zwischen Musik, Malerei und Dichtung anfangs schwankend, bald tastend zur Literatursatire (so auf die Schicksalsdramatik oder Klingemanns „Faust"), zum Märchen und satirischen Märchenspiel greifend, glaubt Sallet zu erkennen, daß die Dauerwertigkeit des Dichtertums, ja auch nur das Ausdauern des Dichtungsvermögens über den Schwung der Jugendzeit hinweg, allein verbürgt werden kann durch die Gewinnung einer tiefen und breiten Bildungsgrundlage. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Forderung: „Der Dichter muß vor allem etwas lernen, damit sich in ihm eine wahrhaft objektive Weltanschauung aufbaue; denn der schöne Jugendrausch verfliegt, und der gereifte Mann kann nur dadurch Poet bleiben, daß er die Welt geistig überwunden hat". Sein Zugangsuchen und Zugangfinden zur Philosophie Hegels durchläuft gleichsam noch einmal diesen Umweg über die Satire zum Ernstnehmen. Durch seinen Freund Julius Möcke auf Hegel hingewiesen, setzt er sich, anfangs noch abgestoßen von der Hegeischen Terminologie, in einer launigen satirischen Gaunernovelle, die Hegels philosophische Kunstsprache gar als Gaunerjargon mißbraucht zeigt, kritisch mit der ihm noch nicht voll zugänglichen philosophischen Welt auseinander. Und nicht sowohl über des Hegelianers Hotho Ästhetik-Vorlesungen, die er in Berlin hörte, als vielmehr über die Rechtsphilosophie Hegels dürfte er sich dann das System aufgeschlossen haben. Daß er auch mit Hegels Geschichtsphilosophie sich vertraut gemacht hat, scheint ablesbar zu werden aus den Gedanken über das „welthistorische" Zukunftsdrama, die fast ein wenig auf Fr. Hebbels Konzeption des epochalen, des epochemachenden, die

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neue Weltepoche heraufführenden historischen Dramas hinüberdeuten. Nicht der Historismus des 19. Jahrhunderts leitet ihn dabei; denn „welthistorische Dramen empfehle ich nicht, damit man Geschichte daraus lerne". Jedoch auch und gerade wenn man von der inneren Menschheitsgeschichte, von der ja auch Herwegh in seiner Art gesprochen hatte, ausgehe, sei der Ertrag der welthistorischen Persönlichkeit gegenüber dem Familienmäßigen, in dem unsere Zeitdramatik scheinhistorischer Einfärbung viel zu starr beharre, weit überlegen. Ebenso erweisen sich die „welthistorischen Begebenheiten" nicht nur als Antriebe eines äußeren geschichtlichen Geschehens, sondern als „innere Triebfedern in der Menschenbrust", wie sie denn auf „unsere Denkungsart, unsere Bildung, unsere Staatsform den mächtigsten Einfluß üben". Die Wissenschaft habe diese Gebiete bereits in Angriff genommen, „aber die Kunst ist dahin noch nicht gefolgt". Wenngleich es sich dabei mehr um eine, von eigenem Dichterehrgeiz nicht ganz freie Zukunftsvision handelt, vor der selbst Shakespeare wegen zeitlicher Unzulänglichkeiten nicht voll besteht, so bleibt doch diese Abhebung der welthistorischen von der historischen Dramatik auch im Vorausblicken auf W. H. Riehls entfernt verwandte Äußerungen mit Bezug auf die Novelle und den „welthistorischen" Roman immerhin kunsttheoretisch als Beitrag zur Gattungstheorie und deren Verbesonderungen bemerkenswert. Gattungstypologisch stand die Lyrik Fr. v. Sallet am nächsten, besonders in ihrem Typus der erlebten Meditation, der stimmungsgesättigten Betrachtung, doch so, daß teilweise reflexive Elemente übergreifen. Und so gibt er sich zufrieden mit der Ansicht und Wertung „Ein tüchtiger Lyriker zu sein (deren wir in unserer Literatur nicht übermäßig viele haben) ist doch auch schon etwas". Nur müsse man nicht jeden „flüchtigen Einfall" sogleich als eine lyrische Offenbarung ansehen, wie denn das Dichtungsverfahren Ernst des Strebens und Gediegenheit der sittlichen Gesinnung voraussetze. Es ist in der Nähe der politischen und philosophischen „Gesinnungsdichtung" nur folgerichtig, wenn Sallet der „festen Gesinnung" eine so hohe Wertgeltung einräumt. Die damit zugleich gegebene Gefahrenzone für die reine Gefühls- und Erlebnislyrik hat er wohl kunsterkenntnismäßig ins Auge gefaßt (Gedicht: „Prosa in Versen" usw.), aber kunstwirkungsmäßig nicht überall beachtet in der eigenen Kunstleistung, deren Wert begrenzt bleibt. Würde Rudolf v. Gottschalls pathetisches Nachrufgedicht auf 16

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„Friedrich von Sallet" zutreffen, so würde nicht allein „der Gesinnung eisenstarre Wehre" sich in dessen Kunstleistung bestätigen, nicht nur „sein stilles Denken aus sinnendem Gemüte" sich bewährt haben, sondern auch „der neue Geist, der freie Geist der Zeit". Aber Gottschall rückt hier unversehens Sallet um ein Beträchtliches zu nahe an Herwegh heran. Träfe der „Epilog: Sallet" des Freundes E. Duller das Wesentliche, dann überwöge die weich gefühlsmäßige, etwas romantisierende Seite. Aber sein Wort vom „freien ein'gen Vaterland" dürfte das politische Streben Sallets immerhin klarer umschreiben, so sehr im übrigen persönliche Erinnerungen sich einmischen mögen. H o f f m a n n v o n F a l l e r s l e b e n (August Heinrich Hoffmann, 1798—1874) verfügt nicht über die treffsichere Scharfgeistigkeit Heines, nicht über die flackernde Glut Herweghs, nicht über die üppige Phantasie Freiligraths. Aber ihm eignet eine frische Herzhaftigkeit, eine männliche Freimütigkeit, die sich bis zur Unverblümtheit steigern und so in ihrer Art von ihren Voraussetzungen aus durchaus angriffslustig werden und wirken kann und auch wirken will. Mit den beiden bekanntesten Liedern H. v. Fallerslebens, soweit sie immer auseinander zu liegen scheinen, der deutschen Nationalhymne („Deutschland . . . über alles") und dem schlicht-herzlichen Kinder-Frühlingslied „Alle Vöglein sind schon da . . ." ist in den Grundzügen sein lyrisches Ausdrucks- und Darstellungsvermögen bereits umrissen. Die schlagkräftige und vor allem haftkräftige Formulierung und in glücklichen Fällen auch die gültige Prägung einer schwungvoll vermittelten treuherzigen Gesinnung im patriotisch-politischen Lied und die frische Schlichtheit einer Herzenseinfalt, die deshalb so gut zum Kinderherzen zu sprechen vermag im Kinderlied. Die Brücke zwischen den beiden Welten schlägt das Volkstümliche, das jedoch bei dem Germanisten H. v. Fallersleben Bildungserlebnis blieb. Manches mag an Friedrich Rückert erinnern, dessen Form vir tuosentum H. v. Fallersleben jedoch unerreichbar geblieben ist. Irgendwo und irgendwie schaut immer der poetisierende Germanistik-Professor durch seine Gedichte hindurch. Aber dieser Professor war nicht ganz echt gewachsen, und das mildert den Fall entsprechend. Auch das fügt sich gut zu diesem Bild, daß es eine persönliche Begegnung mit Jakob Grimm in Kassel gewesen war, die ihn zur Germanistik ermutigte. Aber man darf bei alledem nicht vergessen, daß er in Berlin nicht nur Hegel, Savigny,

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Eichendorff, Chamisso, Achim von Arnim und Bettina, sondern auch Theodor Mündt kennenlernte, in Wien Lenau, am Bodensee (Meersburg) Annette von Droste-Hülshoff, in Soden Freiligrath; mit Liberalen wie Welcker, von Itzstein, Rüge, Gutzkow, Fritz Reuter hat ihn sein rastloses Wanderleben zusammengeführt. Der Dichter der höchst politischen „UnpolitischenLieder" (1840), denen schon im nächsten Jahre ein zweiter Teil folgen konnte, war von den Behörden ungern gesehen in deutschen Landen. Mecklenburg gewährte ihm vorübergehend Unterschlupf. Hoffmann hatte mit den beiden Teilen seiner „Unpolitischen Lieder" (1840/41) zeitlich einen kleinen Vorsprung vor Georg Herweghs „Gedichte eines Lebendigen" (1841/43). Sie waren auch ein ausgesprochener Verlagserfolg gewesen; aber der Campe-Verlag erhielt im Dezember 1841 Veröffentlichungsverbot. Nun läßt Hoffmann „Deutsche Lieder aus der Schweiz" (1843), „Deutsche Gassenlieder" (1843), „Hoffmannsche Tropfen" (1844) u. a. erscheinen. Alle diese Sammlungen sind ausgesprochen politisch und auf politische Wirkung eingestellt. Dieses p o l i t i s c h e W i r k u n g s r e c h t der P o e s i e wird nun auch grundsätzlich beansprucht, schon im Gedicht ,,Dichtertrost" (Nov. 1836) klingt unmittelbar nach dem Verbot der Jungdeutschen Gruppe dieser Anspruch deutlich in der Klage mit, daß die edle Dichtung in die Dichtkunst im engeren Sinne „verbannt und heimgewiesen" sei; jedenfalls darf man diese Wendung wohl auch auf die Zeitverhältnisse bezogen auffassen. Dem entspricht es, daß — bald nach der mit mancherlei Hoffnung verbundenen Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. (1840) — in dem Gedicht ,,Αη meinen König" (1842) ein einziges Wort nur vom König gefordert wird: „ O sprich ein Wort in diesen trüben Tagen, / Wo Trug und Knechtsinn, Lug' und Schmeichelei / Die Wahrheit gern in Fesseln möchte schlagen / mein König, sprich das Wort: Das Wort sei frei!" Das Gedicht liegt im Entstehen unmittelbar zeitparallel mit der p r o g r a m m a t i s c h e n B e k u n d u n g zugunsten einer politischen Dichtung schlechtweg, die Hoffmanns Fordern am bündigsten zusammenfaßt unter dem Kennwort „Ein Lied aus meiner Zeit" (Juni 1842). Anknüpfend an das Wort des jungen Goethe aus der „Faust"Szene in Auerbachs Keller „Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied, / Ein leidig L i e d . . . ! " (Brander); in der Prosa des „Urfaust": „Pfuy, ein garstig Lied! Ein politisch Lied, ein leidig Lied", das ic·

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leicht abgewandelt zu „ E i n politisch Lied, ein garstig L i e d ! " die ersten beiden Strophen des Hoffmannschen Programmgedichts einleitet, polemisiert H. v. Fallersleben gegen eine romantisierende Weltfluchtdichtung lebensferner Verträumtheit und idyllischer Versponnenheit. Und aus dieser Opposition gegen jene Dichter, die — vermeintlich „mit Goethen" —• vom Politischen abrückten und den „Leiertand" einer Trivialromantik nach wie vor dem deutschen Volk auch dann noch anboten, als es ganz andere Sorgen und Sehnsüchte hatte als nur ästhetische, aus dieser auch von Wienbarg her vertrauten Opposition gegen eine nur ästhetische Bildung erwächst nun als Position die Forderung einer politischen Bildung, an der der Dichter zu seinem Teil mitwirken muß: „ D a rief mir zu das Vaterland: / Du sollst das Alte lassen, / Den alten verbrauchten Leiertand, / D u s o l l s t d i e Z e i t e r f a s s e n ! " Die Forderung gibt sich ganz unverhüllt als Programmatik, nicht als zweckfreie Theorie. Die K u n s t a u f f a s s u n g h a t a u s z u g e h e n v o n d e r Z e i t e r f a s s u n g und wieder zuzugehen auf ein Erfassen der Zeitverhältnisse. Natürlich nicht in dem Sinne einer betrachtenden Darstellung, sondern im Sinne einer kämpferischen Auseinandersetzung. Der politische Dichter muß sich der Zeit zuwenden, um sie zu wenden: „Und wer nicht die Kunst i n unserer Zeit / Weiß g e g e n die Zeit zu richten, / Der werde nun endlich beizeiten gescheit / Und lasse lieber das Dichten!" Es ist also nicht so, daß die politische Dichtung neben der unpolitischen ihr Geltungsrecht anmeldet, ein Geltungsrecht, das etwa auch Theodor Storm ihr späterhin willig einräumte, weil auch sie es mit gefühlsmäßigen Erlebnissen zu tun habe wie jede andere Lyrik. Sondern in jener von politischen Energien geladenen Zeit fordert sie den Primat. Jedenfalls vertritt Hoffmann von Fallersleben diese Meinung in dem „Lied aus meiner Zeit", das ein knappes Jahr nach dem Deutschlandlied von ihm verfaßt wurde und das er schreiben mußte ebenso wie das Lied an seinen König, weil es um die Forderung „Einigkeit und Recht und Freiheit" ging. Das „Lied aus meiner Zeit" war gleichsam das positive Gegenstück zu dem einige Monate vorher entstandenen satirischen Gedicht mit der ironisch gemeinten Überschrift „Die wahren Dichter" (März 1842), dem er ein Motto aus Friedrich Rückert („Erbauliches") vorangestellt hatte. ,,0 singet nicht so kleine Lieder / V o n eines Volkes Weh und A c h ! " , so beginnt es, und mit einem

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„Klaps aufs Maul" für das „Gelichter" der politischen Schriftsteller endet es derb und drastisch. Spöttisch wird hier den Odendichtern zum Preis der Fürsten und der schönen, glücklichen Zeit die Rolle der echten Dichtung zuerkannt; „denn was ihr sagt, ist Poesie". Etwa zwei Jahre später erhebt in der Sammlung „Maitrank" (die nicht wie angegeben in Paris, sondern wahrscheinlich in Mecklenburg durch einen Freund in Druck gegeben wurde, aber nicht im öffentlichen Buchhandel erschien) das „Lied eines pensionierten Poeten" (Mai 1844) nun unverhüllter seine bittere Anklage gegen pensionslüsterne Fürstendichter, zu denen nebst Geibel auch „Bruder" Freiligrath und „Bruder" Kopisch gerechnet werden. Zum mindesten Freiligrath wäre wohl von diesem Vorwurf auszunehmen, und Hoffmann von Fallersleben hat denn auch ein gutes Jahrzehnt später „An Freiligrath in London" (Jan. 1858) einen warmherzigen Gruß gerichtet, in dem ihr gemeinsames Hoffen und Lieben („Ja, es ist auch dir geblieben") gefeiert wird. Die Bezugnahme auf F r i e d r i c h R ü c k e r t (1788—1866) mag Veranlassung geben, darauf hinzuweisen, daß, wie die Sonderforschung eingehend besonders für die Rückertsche Zeit-Lyrik 1848—66 nachweisen konnte, Rückerts politisches Anteilnehmen sich keineswegs mit den bekannten Beiträgen zur Lyrik der Freiheitskriege erschöpft, wie vor allem der handschriftliche Nachlaß eindringlich verdeutlicht. Der einstige Dichter der „Geharnischten Sonette" ist auch im Raum der politischen Lyrik nicht untätig geblieben. Bereits ein „Politisches Notizbuch" (1911 herausgegeben von R. Hirschberg) bringt fast hundert politische Gedichte allein aus dem Jahre 1848; und weiterhin konnten aus dem Nachlaß mehr als zwanzig „Märzgedichte" von 1848 veröffentlicht werden (1922 herausgegeben von R. Hirschberg), deren Drucklegung Rückert selbst (Mai 1848) geplant hatte, ein weiteres Dutzend bringt die Rückertausgabe von 1926 (L. Magon). Kurz, Friedrich Rückert war auch als Dichter damals erneut politischer ZeitDichter, wenngleich diese Dichtungen zu ihrer Zeit nicht unmittelbar in das Geschehen eingriffen, sondern unveröffentlicht liegenblieben. Rückert saß 1848 und später auf seinem Landsitz Neuseß (bzw. Neuses) weit weniger beweglich als der um zehn Jahre jüngere Hoffmann von Fallersleben. Und wenn er einst erkannt und bekannt hatte „Lyrik ist die Poesie der Einsamkeit" (Brief an de la Motte-Fouque, Febr. 1815), so scheint die äußere Situation des stark reflexiv gerichteten Meditationslyrikers dem zu ent-

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sprechen. Aber die innere Situation drängte doch in jenen bewegten Jahren zu einer Lyrik als Poesie der Gemeinsamkeit politischen Anteilnehmens, wie der politische Nachlaß dartut. Und es wird ihn wohl wie einst in der Jugendzeit zeitweise der Trieb erfaßt haben, „durch irdischeren Gesang in das irdische Getriebe" auch jetzt einzugreifen. Indessen, er war von Friedrich Wilhelm IV. als Geheimrat und Professor von Erlangen 1841 nach Berlin gerufen worden, das er unmittelbar vor der Märzrevolution 1848 verließ. Es war dies kein bloßes Ausweichen: Mißerfolge als Dozent und Dramatiker u. a. hatten ihm Berlin längst verleidet, ganz abgesehen davon, daß er sich das Sommersemester vorlesungsfrei gehalten hatte und diese Zeit in Neuseß zu verbringen pflegte. E r löste sich dann endgültig von Berlin, in das er auch im Wintersemester 1848/49 nicht zurückgekehrt war. D a Rückert zwei Tage nach Ausbruch der Märzrevolution Berlin verlassen, da er andererseits, wie erwähnt, Märzgedichte verfaßt hatte und zu veröffentlichen dachte, so wären allerlei Kombinationen hinsichtlich seiner Loslösung aus dem Dienst des Königs möglich. Aber wahrscheinlich benutzte Rückert nur die günstige, nachweisbar lange schon vorher ersehnte Gelegenheit, von Berlin freizukommen. Was seine dichterische Auffassung anbelangt, so dürfte sie sich kaum wesentlich gewandelt haben gegenüber der Einstellung seiner Jugendzeit zum politischen Gedicht. Daß der Mann, auch als Dichter „sein Pfund benutzend", wirkend seinem Lande dienen müsse, war dem Verfasser der „Deutschen Gedichte" (1814) längst geläufig. Aber ein starkes Ruhebedürfnis, das zum Teil gesundheitlich begründet war, überwog offenbar den an sich nachweisbaren neuen Impuls, zum mindesten, was das äußere Hervortreten betraf. Daß jedoch das dichterische Kunstwollen in inniger Wechselwirkung mit dem politischen Wollen und Wünschen und Fordern gestanden haben muß, beweist schon ein Blick auf die von der Sonderforschung aufgestellte Produktionsstatistik, derzufolge ζ. B. in den Jahren 1848 und 1849 nicht weniger als 175 bzw. 215 politische Gedichte entstanden sind, während die beiden folgenden Jahre (1850/51) noch eine Nachwelle von je 60 Gedichten bringen. Dann jedoch bei entsprechendem Abklingen der politischen Gespanntheit und Angespanntheit sinkt in den Jahren 1852—59 der Jahresdurchschnitt auf etwa 10 Zeitgedichte. Der neue Impuls — übrigens auch im historischen Vorspiel schon lange von Rückert verfolgt —

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geht aus von der Schleswig-Holsteinischen Frage, die ja keineswegs nur in dem „Dutzend Kampflieder für Schleswig-Holstein" zum Antrieb dichterischer Bewältigung wurde. Eine Vorwelle für die Jahre i860—62 trägt Rückert im Jahresdurchschnitt je 60 Gedichte zu, während die Hauptwelle 1863/64 mit 110 bzw. 165 Gedichten deutlich sich heraushebt, um 1865 mit 45 Beiträgen abzuklingen. Hierbei ist zu berücksichtigen, daß Rückert kurz vor seinem Tode stand. Man hat das Koblenzer Gespräch zwischen Hoffmann von Fallersleben und Freiligrath (Aug. 1843) und damit die politische Einwirkung Hoffmann von Fallerslebens als Erklärung für jene selbst seine Freunde überraschende politische Wendung herangezogen, wie sie in Freiligraths „Glaubensbekenntnis" allen greifbar zutage trat. Und in einem gewissen Grade wohl doch mit Recht, trotz der Einschränkungen, durch die Freiligrath diesen Einfluß abzuschwächen versuchte. Als F e r d i n a n d F r e i l i g r a t h (1810 bis 1876) das Gedicht „Aus Spanien" schrieb (1841) im Rahmen der „Zeitgedichte", die er zusammenfaßte unter dem Kennwort „Ein Glaubensbekenntnis" (1844), ein Gedicht, das den Kehrreim „Exoriare aliquis" durchsetzte, da hatte er nicht einmal besonders betont die Verse eingestreut: „Der Dichter steht auf einer hohem Warte / Als auf den Zinnen der Partei", und zwar in der neunten, der vorletzten Strophe. Aber diese Wendung genügte, um Georg Herweghs wachen Parteieifer auf den Plan zu rufen, der mit dem Gedicht „Die Partei" unmißverständlich antwortete, in dem er selbst die Götter vom Olymp herniedersteigen ließ, um zu kämpfen „auf der Zinne der Partei". Der Dichter Freiligrath, der mit seiner Gedichtsammlung von 1838 schlagartig berühmt geworden war, stand dabei dem Dichter Herwegh gegenüber, der wenige Jahre später mit den „Liedern eines Lebendigen" (1841/42) keinen geringeren Ruhm erworben hatte. Aber vorerst erwies sich Herwegh stärker und zeitgemäßer als Freiligrath, der noch vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. eine Pension annahm, um sie ihm dann doch 1844, also im Jahre des „Glaubensbekenntnisses", nicht ohne Civilcourage vor die Füße zu werfen. Aber nicht erst Herweghs Gegenstoß brachte Freiligrath zur Besinnung und zum Austauschen der Gesinnung. Schon 1838 hatte sich ihm angesichts der Landesverweisung von sieben Göttinger Professoren, unter denen sich Jakob Grimm befand, die Frage aufgedrängt, ob ζ. B. Hölty so rein lyrisch in Elegien gedichtet

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hätte (Freiligrath spielt dabei auf die Tradition der Göttinger an), wenn er einen ähnlichen Gewaltstreich des Landesherrn miterlebt hätte. Und schon damals erhebt sich für ihn die mehr als rhetorische Frage, ob denn der „Poet" gar so „vereinsamt" in seiner Zeit stehen sollte und ob er nichts darstelle als „ein überflüssiges Gerät". Und bereits damals bekennt er sich zur politischen Lyrik des Vormärz, indem er dem Zeitdichter das zukunftswillige Zugeständnis macht: „Wohl ihm, wenn er die Interessen der Zeit so zu erfassen versteht (fast wörtlich mit der These Hoffmanns von Fallersleben), wie in neuester Zeit Grün und Beck". Denn es erwies sich, daß Freiligraths zeitweises Bemühen, von der fremdländischen Poesie der Amsterdamer Zeit mit ihrem exotischen Reiz der Weltweite zurückzukehren in eine Art von westfälischer oder Lippe-Detmolder Heimatkunst, seinem dichterischen Temperament und seiner leicht auf Hochglut gesteigerten poetischen Temperatur kein Genüge zu tun vermochte. Das Heimatliche überließ er vielmehr bald neidlos seinem Freunde Levin Schücking, bei dem er das „malerische" Westfalen besser aufgehoben wußte als bei sich selber. Er liebte seine Heimat, aber er lechzte nach der Fremde. Er sah nach der Heimkehr (Amsterdam—Barmen) wohl das Nahe, aber er sehnte sich nach dem Fernen. Und dieses Sehnen nach der Ferne und diese Sicht in die Ferne war es auch, was ihn der politischen Fernsicht willig aufgeschlossen sein ließ. Das Fremde des Landes wurde ersetzt durch das Fremde eines zukünftigen Erstrebens im eigenen Lande. Freiligrath brauchte immer das fremde und noch ferne Brauchtum, ob es sich nun in der örtlichen oder in der zeitlichen Ferne manifestierte. Der Wille zum Wagnis bestimmte auch sein Kunstwollen. Es war ja nicht nur die Atmosphäre der weltweiten Hafenstadt Amsterdam, was ihn auf das weite Meer und die weite Wüste ausschauen ließ. Da waren auch literarische Einflüsse wie etwa Victor Hugos „Odes et po6sies diverses" und vor allem die „Orientales". Selbst wenn man annimmt, daß der „Löwenritt" stofflich nicht beeinflußt ist von „The Lion and the Giraffe" von Thomas Pringles, bleibt zum mindesten formungstechnisch die Beeinflussung durch Victor Hugo bestehen, die Freiligrath zudem eingestanden hat. Kurz, lokale Eindrücke verbanden sich fraglos mit literarischen Einflüssen, wie denn Freiligrath Victor Hugo zu übersetzen begann, bevor er mit seiner erfolgreichen Gedichtsammlung von 1838 herauskam.

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Aber auf der anderen Seite wußte Freiligrath schon sehr frühzeitig um die Not der schlesischen Weber, denn das spätere „Im schlesischen Gebirge" geht auf noch jugendlich-romantisch konzipierte Vorformen zurück und steht doch in einer Linie mit Heines sozialer Ballade und Hauptmanns Drama. Zwar zunächst hatte Freiligrath über Gustav Schwab und Chamisso noch Anschluß gesucht an den Schwäbischen Dichterkreis nachromantischer Art. Aber schon bei Chamisso begegnet die soziale Ballade („Der Bettler und sein Hund", „Die alte Waschfrau", „Der Invalid im Irrenhaus" u. a.). Kurz, die Keime liegen wesentlich tiefer als der Zusammenstoß mit Georg Herwegh vermuten läßt, waren ihm doch auch die sozialen Ungerechtigkeiten gegenüber den Kolonialvölkern längst vorher begegnet, so daß hier Seume näher wirkt als Grabbe, der zwar auch den Berdoa in seinem „Theodor von Gothland" gesteigert und „veredelt" hatte im Sinne einer grausamen Größe um jeden Preis. Dem Detmolder Grabbe aber fühlte sich der Detmolder Freiligrath wenigstens zeitweise nahe. Und sein Gedicht „Bei Grabbes Tod" ist mehr lokal als persönlich bezogen, wie denn auch der Seufzer „Der Dichtung Flamm' ist allezeit ein Fluch" oder „Das Mal der Dichtung ist ein Kainstempel" mehr auf Grabbe verweist als auf ihn selber. Ebenso wie mit Grabbe befaßt sich der frühe Freiligrath mit Grabbes (und Heines) Freund Immermann. Kurz, er sucht in der Tradition der Poesie Halt, bevor er in der Vision der Politik „Haltung" annimmt. Denn allerdings bleibt für ihn das Politische immer nur ein Utopisches. Er teilt mit Herwegh das Rhetorische an sich, trennt sich aber vom einstigen Theologen Herwegh im Typus der Rhetorik. Denn selbst noch in seiner politischen Predigt bleibt stärker als bei Herwegh ein Stück Protest wirksam. Kunsttheoretisch gesehen, bleibt Freiligrath eigentlich immer befangen im G l a u b e n an den I n h a l t u n d den S t o f f . Er will immer den vermeintlich neuen Stoff, bald die Exotik, bald die Politik. Das Zwischenspiel der Heimatkunst kam kennzeichnenderweise gar nicht erst zum Tragen. Es wurde zwar projektiert, aber nie wirklich produziert. Und Annette von Droste tat gut, den vorübergehend erwogenen Plan nicht zu verwirklichen, mit Freiligrath und Schücking so etwas wie eine Dichtergemeinschaft am Rhein aufzumachen. Freiligrath war gar nicht fähig, aus der Ruhe heraus zu schaffen. Er brauchte immer die Unruhe und die Unrast, um sein Temperament fruchtbar werden zu lassen. Er

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brauchte immer die weiten Perspektiven, sowohl welterobernd als weltanschauend. Seine besten Gedichte wuchsen ihm zu aus dem, was nicht da war, was weder örtlich da war noch zeitlich da war und da sein konnte. Er malte sich immer — mit „Purpurfarben" —• aus, was eigentlich da sein müßte. Schon als ihn G. Schwab ermähnt, will er wohl die Form, etwa den exquisiten Reim und die Zäsurlosigkeit des Alexandriners aufgeben, aber nicht gern den Stoff und nicht die Stofferoberung. Er versteift sich auf die Möglichkeiten der Stoffweiten, ,,die noch kein Menschenmund gesungen hat": die fremden Erdteile, das Meer (aber vgl. Leopold v. Stolberg und H. Heine) und späterhin die Politik (aber vgl. zahlreiche Vorgänger und Traditionsträger). Freiligraths Kunstwollen ist dergestalt immer auf ein Neuwollen gerichtet oder auf das, was er dafür hält. Als die „Neuen" meinen, daß seine Pension vom preußischen König unwürdig ist, wirft er sie demonstrativ und unwirsch von sich. Indem er sich unabhängig machen will vom Vorteil des Einen, bleibt er doch abhängig vom Urteil der Vielen. Der Wille zum Wechsel beherrscht auch sein Kunstwollen. Dieser Wille zum Wechsel gehört zu ihm. Und insofern bleibt er sich selber treu selbst dort noch, wo er früheren Überzeugungen untreu zu werden scheint. Hinzu kommt, daß die Keime zur Wandlung — wie kurz angedeutet — längst in ihm bereitlagen. Als er vorübergehend die fremdländische WüstenPoesie für die heimatländische Westfalen-Poesie eintauschen zu können glaubt, gesteht er unumwunden: „Den Boden wechselnd, die Gesinnung nicht / Wählt er die rote Erde (Westfalen) für die gelbe" (Afrika). Ganz ähnlich aber hat er den konservativ-romantischen Boden mit dem liberal-revolutionären Boden gewechselt. Und nur dieser Stellungswechsel machte ihn zum politischen Lyriker des Vormärz. Bei alledem stand ständig hinter dem scheinbar Kritiklosen gegenüber der jeweils vorherrschenden Begeisterung eine wache, strenge Selbstkritik des Künstlers. Und das nun berührt sehr sympathisch gerade angesichts der Pathetik. Er weiß und bekennt, daß er allzu leicht „aus einem Extrem ins andere zu geraten" pflegt, nicht zuletzt deshalb, weil er das Hergebrachte, das „Alltägliche" vermeiden möchte, nicht nur in der Form (Extravaganz des Reims), sondern auch im Inhalt (Extravaganz des Motivs). Er weiß auch und darüber hinaus, daß seine Stärken zugleich seine Schwächen sind: „Bombast, Rhetorik — das ist meine Force". Aber er fühlt

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auch, daß er das Malerische beherrscht und damit vieles ausgleicht, was Herwegh an Rhetorik (letztlich an verhinderter oder verdrängter Kanzelrhetorik) voraus hat. Er weiß, daß er an „Kunst und Wissenschaft" manches versäumt hat (unabgeschlossene Gymnasialbildung, Zeitraub durch kaufmännische Betätigung: Soest, Antwerpen, Barmen). Aber er fühlt auch, daß aus dem Mangel an Wissen die Macht an Phantasie einen gerade für den Dichter nicht unerheblichen Gewinn ziehen kann. Und er fühlt vor allem, daß ein gegenwärtiges Gewissen nötiger und nützlicher ist als ein historisches Wissen des Vergangenen und Vergänglichen. Da will man in seiner näheren Heimat z.B. ein Hermannsdenkmal (Teutoburger Wald, vgl. Grabbe) errichten. Freiligrath als Heimatfreund begrüßt das. Aber er weiß die Geltung dieses Vorhabens auch zu begrenzen angesichts des Anspruchs seiner eigenen Zeit; denn „Wer das Zeug dazu hat, sie (die Gegenwart) recht zu packen, der macht wohl noch anderes als Denkmäler". Besonders das Jahr 1844, in dem er auf den Dichtersold verzichtete, um kein geistiger Söldner zu werden, verschafft ihm Klarheit darüber, daß er durch Beobachtung und Erfahrung „immer weiter links gedrängt worden" ist (an Levin Schücking, Februar 1844). Und in demselben Jahre erscheint denn auch „ E i n Glaubensbekenntnis". Freiligrath bekennt sich schon im „Vorwort" ganz „entschieden zur Opposition" und rückt von seinem „Liede gegen Herwegh" jetzt betont und freimütig-selbstkritisch ab. Wieder also trifft man auf diese tapfere und ehrliche Selbstkritik, die Freiligrath vor vielen anderen Dichtern als beträchtliches Positivum voraus hat. Und so schenkt man seiner Beteuerung gern Glauben, daß es sich dabei nicht um einen bloßen „buhlerischen Fahnentausch" handle, sondern um ein organisches Fortschreiten in der eigenen Entwicklung (vgl. die angedeuteten Ansätze). Er gibt zu bedenken, daß er letztlich im „Ringen nach politischem Bewußtsein und nach politischer Durchbildung" nur dieselbe Entwicklung als einzelner durchlaufen habe wie die Nation in ihrer Gesamtheit. Er will nun entschlossen „der Reaktion sich entgegenstemmen unter der Devise: Kein Leben mehr für mich ohne Freiheit!" Es geht ihm darum, nicht in die Vergangenheit zurückzuleiten, sondern sein Gesicht der Zukunft zuzuwenden und das „Vertrauen meines Volkes" zu gewinnen. Und so ist es nur folgerichtig, wenn sich in einem der Gedichte dieser Sammlung von 1844 die Forderung findet: „Mit dem Volke soll

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der Dichter gehen". Der Zopf der Konvention muß fallen („Und noch einmal der Zopf"). Allerdings unterläuft ihm im Eifer des Gefechts für das Volkstümliche in dem Gedicht „Dorfgeschichten" eine peinliche Überschätzung der Schwarzwälder Dorfgeschichten B. Auerbachs, die er unkritisch in eine Reihe stellt mit Heinrich Stillings Jugendgeschichte, Pestalozzis „Lienhard und Gertrud", Brentanos Märchen vom „Kasperl und Annerl" und Immermanns Oberhofgeschichte aus dem „Münchhausen"Roman. Weit klarer sieht in dieser Hinsicht Georg Weerth, der etwa gleichzeitig (Dez. 1843) brieflich auf das ländliche Elend der „Senne" im „Lippischen Land" hinweist und bitter den Rat anschließt: „Den Leuten, welche jetzt Dorfgeschichten schreiben, möchte ich raten, einmal die Senne zu besuchen; da gibt es viel herrlichen Stoff, leider Gottes!" Uberhaupt enthält das „Glaubensbekenntnis" noch mancherlei Restbestände an sich schon überholter Anschauungen. Bewußt will Freiligrath „Älteres und Neuestes" mischen, um so den „Umweg" nicht zu verwischen, den er gegangen sei. Aber daneben stehen schon Gedichte wie das Kampfgericht gegen die Zensur („Wann ?"), das die Zensoren den Henkern und damit den unehrlichen Leuten gleichstellt: „ . . . U n d für ehrlos gelte / Der deutsche Mann hinfort / Der stümmelnd niederhaut mit Kälte / Das unbeschirmte Wort!" Wie nach der Uberlieferung das Weib Andreas Hofers Holzspäne als Nachrichten-Zeichen für die Verschworenen in den Fluß gestreut habe, „So meine Lieder möcht ich säen!" vom Ufer „am bewegten Strom der Zeit", damit sie „in der Tageswogen Streit" kündend und zündend fortgetragen werden. Denn nur so wirds gehen und vorantreiben. Das entsprechende Merkwort gibt er einer kleineren, aber kompakten Gedichtgruppe mit auf den Weg politischen Wirkens und Bewirkens. ,,ζα ira\" (1846, „So wirds gehen!"). Da nimmt „Vor der Fahrt" nicht von ungefähr den Rhythmus der Marseillaise auf, da wird eine politische Fabel von Thomas Moore wirksam in Verse gesetzt, da taucht schon das Wort „Proletariat" auf in einem Gedicht, das die Rheinfahrt des Preußenkönigs zum Anlaß nimmt, um die Aufmerksamkeit auf den Heizer (anders gesehen als bei Frz. Kafka), den „Proletariermaschinisten' : zu konzentrieren („Von unten auf"), motivlich ein Vorklang zu der bekannten Strophe in Georg Herweghs weit später liegendem Arbeitergedicht („Mann der Arbeit, aufgewacht . . ."). Das Metall der Setzereien und die Lettern sollen in Kugeln umgeschmolzen

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werden („Freie Presse"). Und in der Sammlung ,,Neuere -politische und soziale Gedichte" (1849—5 1 ) wird angesichts von „Leipzigs Toten!" die Vision der Bartholomäusnacht als anklagende Mahnung für die verfrüht triumphierenden Fürsten heraufbeschworen. Mehrfach muß Thomas Hood die Motive hergeben. Aber nun kann schon der Ausbruch der Revolution von 1848 in den Motivkreis einbezogen werden. Denn aus dem Vormärz ist nun der März geworden. Es ist unmöglich, alle Spuren des neuen Kunstwollens zu verfolgen. Es ist auch nicht nötig. Denn das Kunstwollen ist nun eindeutig in den Dienst des politischen und sozialen Wollens gestellt. Soweit es K u n s t w o l l e n bleibt, bleibt es auf r a u s c h h a f t e S t e i g e r u n g a n g e w i e s e n , auf den Rausch des Rhetorischen und Pathetischen. Eintrübend in das reine Wollen aber mischt sich auch jetzt — wie in den exotischen Gedichten — ein gewisser Blutrausch, den einst schon der wackere Gustav Schwab dem jungen Freunde Freiligrath vergeblich hatte austreiben wollen. Und es bleibt bei aller subjektiven Ehrlichkeit auch eine gewisse rein persönliche und stoffliche Freude, eine irgendwie naive Freude an der Maskierung an sich, abgesehen von ihren Requisiten. Insofern hat man mit relativer Berechtigung sagen dürfen, daß Freiligrath den exotischen Turban eben nur mit der politischen Jakobinermütze vertauscht habe. Eben dieses Bedürfnis nach rauschhafter Steigerung zu Rhetorik und Pathetik war es sehr viel später auch, was ihn nun —• weltanschaulich einigermaßen überraschend —• zum neuen vaterländischen Requisit, zur „Trompete von Gravelotte" greifen und gar gewaltig ins patriotische Horn stoßen ließ. Die frühe Selbsterkenntnis „Bombast, Rhetorik — das ist meine Force" hat also keine wirklichen Früchte getragen. Sie konnte es nicht, weil sein individuelles Kunstwollen stärker blieb als der Einspruch seines Kunstverstandes. Aber man kann — um ein bekanntes Witzwort Heines auf Herwegh zu variieren —• diesem „großen Kind aus Detmold" nicht recht böse sein wegen solcher Widersprüche zwischen KunstErkenntnis und Kunst-Schaffen, weil er dabei echt und sich selber treu blieb, nicht als Politiker, wohl aber als Dichter. Die politische Indienststellung der Poesie hatte er jedenfalls beibehalten. In Detmold geboren wie Freiligrath (und Grabbe), lag für G e o r g W e e r t h (1822—1856) das Hinüberblicken auf den um mehr als ein Jahrzehnt älteren Dichter des „Glaubensbekennt-

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nisses" nahe. Und man begegnet dem Namen Freiligrath denn auch häufig in Weerths Briefen (1836—56). Aber man kann nicht sagen, daß Weerth vom Typus der Zeitgedichte Freiligraths abhängig gewesen sei. Sein stark humoristisch-satirisches Temperament entsprach durchaus nicht der rhetorischen Haltung Freiligraths. Sein prosaepisches Hauptwerk ist denn auch ein kurzer satirischer Schlüsselroman „Leben und Taten des berühmten Ritters Schnapphahnski" (1848/49), der auf Cervantes' ,,Don Quichote" und Rabelais' „Pantagruel" und Louvets „Faublas" Bezug nimmt, aber vielleicht richtiger auf Chr. Reuters „Schelmuffsky" hätte Bezug nehmen sollen. Jedenfalls war die Polemik gegen den Fürsten Felix Lichnowski so eindeutig, daß sie Weerth drei Monate freilich leichte Untersuchungshaft eintrug. Neben dem Zug zur Satire wirkte ein ebenso starker Zug zur Erotik. Im Gesamt erscheint er daher mehr wie ein Nachfahr Heines, mit dem er ebenso wie mit Karl Marx und Friedrich Engels im Briefwechsel stand. Mit Marx und Engels verband ihn zudem die aktive politische Tätigkeit. Als Sohn eines früh verstorbenen Generalsuperintendenten (ein Onkel Bischof, Bruder Pastor, Schwester mit einem Pastor verheiratet) galt Georg als schwarzes oder gleichsam rotes Schaf in der Sippe. Doch ist der Kontakt mit den Brüdern erstaunlich freimütig eng. Selbst die liebevoll behutsame Mutter, die an sich schon lebhaft beunruhigt war, daß er überhaupt Gedichte zu machen begann, gewöhnt er allmählich an Namen wie Weitling u. a. An Freiligrath erinnert die kaufmännische Tätigkeit, auch der Aufenthalt in England. Aber Weerth, der in Havanna auf Kuba starb, hat jene exotischen Welten (auch Westindien) wirklich gesehen, die sich der frühe Freiligrath nur erträumte. An die Jungdeutschen erinnert die journalistische Tätigkeit, deren radikal politischer Charakter durch die Mitarbeit an der „Neuen Rheinischen Zeitung" gekennzeichnet und nur durch die vorherrschende Tätigkeit im Feuilleton etwas „lyrisch" gedämpft ist. Die politische Indienststellung der Poesie war also etwas Selbstverständliches für den munteren, etwas lockeren, begabten Mitstreiter von Marx und Engels. Es ist aber anzumerken, daß unter seinen Gedichten aus den Jahren 1843—48, also auch wenn man von den Gedichten der Jugendzeit (1841—43) absieht, nicht in dem Maße, wie man erwarten möchte, die reinen Kampflieder absolut überwiegen. Freilich hängt dies auch zum Teil damit zusammen, daß G. Weerth mit Hilfe seiner satirisch-

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humoristischen Begabung den Typus des Zeit- und Streitgedichts nicht so offen hervortreten läßt wie etwa Freiligrath, sondern gern nach dem Vorbild Heines verfährt, das er freilich künstlerisch nicht zu erreichen vermag. Andererseits wird er gelegentlich so massiv wie ein gutes Jahrzehnt vorher Georg Büchner im „Hessischen Landboten", so z.B. in dem knappen drastischen „Hungerlied". Weltanschaulich nämlich sympathisiert, er mehr mit Büchner als mit Grabbe. Aber landsmannschaftlich vergißt er nicht Grabbes ehrend zu gedenken, dessen Grab er (Dez. 1843) besucht. Für Heines Pariser Matratzengruft findet er warme Worte des mitfühlenden Verstehens, das letztlich auch die Grundlage seiner politischen Einstellung gewesen sein dürfte, ähnlich wie einst bei J . R. M. Lenz das Soziale aus dem Theologischen erwachsen war. Aber bei Weerth löste es sich stärker von diesem Ursprung gemäß den stärkeren Zeitimpulsen. Und es war nicht so wie bei Freiligrath, der ζ. B. in seiner Schweizer Zeit mit Folien und Heinzen wegen der Religion aneinander geraten war.

III. Die Zielprägung des ideellen und „poetischen" Realismus Der Weg zum R e a l i s m u s beginnt nicht erst mit dem ideellen und poetischen Realismus, wie er auch nicht mit ihm endet. Ganz abgesehen davon, daß Goethe selber von seiner „ins Reale verliebten Beschränktheit" gesprochen hat und daß man Realismus nicht nur beim frühen geniezeitgemäßen Schiller, sondern gerade auch wieder beim ganz späten Schiller nachzuweisen versucht hat, daß in der jüngeren Romantik und Spätromantik das Suggestivmachen des Wunderbaren oder Wunderlichen eine realistische Kunsttechnik herausbilden half: überall wo man im Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik den dritten Weg suchte oder wo man im Jungen Deutschland und der politischen Lyrik des Vormärz die Tendenz möglichst nahe an die Wirklichkeit des Tages heranzuführen trachtete, bot sich geradezu zwangsläufig der Realismus als eine Lösungsmöglichkeit, oft auch schon — wie bei Georg Büchner — als eine erlösende Notwendigkeit an. Auf derartige Ansätze und Vorstadien, die wie etwa bei G. Büchner Überholungen nicht ausschließen, ist an Ort und Stelle hingewiesen worden (auch in den Begriffsregistern). Das kann hier nicht zusammenfassend wiederholt, sondern muß vorausgesetzt werden. Worauf es hier ankommt, das ist die Deutung der hauptsächlichen Spielformen des Realismus, wie sie sich etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts ausprägten, zugleich aber die Herausarbeitung der Bedeutung, die diesen Erscheinungen und Bestrebungen entwicklungsgeschichtlich zukommt. Der i d e e l l e und poetische R e a l i s m u s hat keine Dichtergruppe zum Träger wie etwa der Münchener Dichterkreis oder — in gewissem Grade —• das Junge Deutschland. Er hat auch kein Literaturprogramm als Manifestation seiner Meinungen herausgearbeitet und propagandistisch herausgestellt. Er hat mehr zäh und zielstrebig aus der Stille heraus gewirkt und sich zunächst einmal innerlich gesammelt, bevor er sich auch äußerlich mehr oder weniger zusammenfand (etwa durch Briefwechsel). Aber er hatte eines für sich, das jene relativ geschlossenen Gruppen nicht aufzuweisen hatten oder doch nur in recht geringer Zahl aufzu-

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weisen vermochten: überdurchschnittlich begabte Dichter. Aus dem Münchener Dichterkreis ragt Paul Heyse hervor, aus der Jungdeutschen Gruppe Heinrich Heine, denn Georg Büchner blieb der große Einzelgänger, und selbst Heine ist nur vorübergehend „Jungdeutscher" gewesen. Den ideellen und poetischen Realismus aber vertreten Namen wie Friedrich Hebbel, Otto Ludwig, Gottfried Keller, Theodor Storm, Wilhelm Raabe, Theodor Fontane. Denn C. F. Meyer geht Wege, die zwischen Nachklassik und Neuklassik enden. Unter ihnen wurde Fr. Hebbel für die Ausprägung und theoretische Formulierung des ideellen Realismus, Otto Ludwig für die auch theoretische Begründung des „poetischen Realismus" bzw. des „künstlerischen Realismus" besonders bedeutungsvoll. Der Terminus ideeller R e a l i s m u s ist keine zeitgenössische Prägung, wie es der „poetische Realismus" war. Aber er wurde gewählt und als Abstufungsform erforderlich, weil die Stellung zur Philosophie im ideellen Realismus weit positiver erscheint als im „poetischen Realismus". Zudem bekundet der ideelle Realismus einen gewissen Hang, bei der Nachklassik ergänzenden Halt zu suchen, den der „poetische Realismus" weit eher bei der Nachromantik zu finden hofft. Eine Zwischenform stellt etwa Gottfried Keller dar, der einerseits oft unterschätzte Bezüge zur Philosophie aufweist (Ludwig Feuerbach) ähnlich wie Wilhelm Raabe (Arthur Schopenhauer). Es sei aber von vornherein betont und klargestellt, daß auch Otto Ludwig als Theoretiker Bezeichnungen wie Idealrealismus oder „idealistischer Realismus" in Erwägung gezogen hat, bevor er den Terminus „poetischer Realismus" oder „künstlerischer Realismus" herausbildet. Außerdem sei darauf aufmerksam gemacht, daß Otto Ludwig selber den Terminus „ k ü n s t l e r i s c h e r R e a l i s m u s " merklich bevorzugt. So mag es annähernd gerechtfertigt sein, daß im Folgenden auch Otto Ludwigs Prägung vom „poetischen Realismus" mehr als sonst üblich in den Terminus ideeller Realismus hinübergelenkt wird. Die Bezeichnung „poetischer Realismus" nämlich entspricht weniger genau dem kunstphilosophischen Meinen und wirkt letzten Endes wie eine Verlegenheitslösung, um aus der Spannung Geist=Natur, Form = Inhalt, Idee = Gestalt herauszukommen. Von der Kunstübung her gesehen, setzt das Attribut „poetisch" etwas voraus, das sie erst beweisen und das zudem jeder Poesie eigen sein müßte. Der umspannendere Begriff ist 17

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daher ideeller Realismus, der zum „künstlerischen Realismus" notwendig dann wird, wenn ihn ein echter Dichter in seinem Kunstschaffen Gestalt gewinnen läßt. Es ist nun nicht so, daß der ideelle und „künstlerische Realismus" von der Möglichkeit eines konsequenten Realismus (Naturalismus) noch nichts gewußt oder geahnt hätte. Es ist vielmehr so, daß diese Möglichkeit bewußt als im Endertrag unkünstlerisch abgelehnt wird (besonders bei Otto Ludwig). Man hat den Münchener Dichterkreis als die zeitlich am weitesten vorgeschobene Position einer nachwirkenden Klassik unter Teilanlehnung an die Romantik bezeichnet. Ist das der Fall, und zieht man gleichzeitig vom Jungen Deutschland her das dort noch weiter zurückdatierte „Ende der Goetheschen Kunstperiode" —• ja, der führenden Geltung der Kunst überhaupt — heran, so wird evident, wie hoch das theoretische und praktische Bemühen um einen ideellen und „poetischen" bzw. einen „künstlerischen Realismus" gerade auch entwicklungsgeschichtlich einzuschätzen ist. Denn es wurde hier eine Konzeption gefunden, die den Fluch oder doch die Last des Epigonentums zu lösen versprach. Es wurde hier eine Evolution versucht, die nicht mit der Tradition brach, aber auch nicht mehr an der Tradition zerbrach. Man wollte nicht eine Revolution, weder eine Revolution der Politik (Junges Deutschland, Vormärz), noch eine Revolution der Poesie (Naturalismus, Expressionismus). Man begnügte sich, behutsam Schritt fassend auf dem dritten Wege, mit einer organischen Evolution. Dieser dritte Weg erwies sich als ein verhältnismäßig neuer Weg. Er bot neue Aspekte und neue Perspektiven. Und er bot auch allen drei Dichtungsgattungen eine volle Entwicklungsmöglichkeit. Es war nicht so, daß etwa die dichterische oder gar die kritische Prosa die Spitze halten sollte wie im Jungen Deutschland oder die Lyrik wie in der politischen Lyrik des Vormärz (und Vollmärz). Da war der bedeutende Dramatiker Hebbel, der bedeutende Epiker Keller (und später Fontane), der bedeutende Lyriker Storm. Der ideelle und poetische bzw. künstlerische Realismus ließ ihnen allen Raum, sich auf eigenem Wuchsgrund anzusiedeln und zu entwickeln. Und zwar deshalb, weil er darum wußte, daß man gerade für die Kunst die Grenzen elastisch halten, den Boden aber intensiv verwalten und verwerten mußte. Zu dieser gleichsam bescheidenen Kunst Weisheit, die aber nicht in die idyllische Bescheidung des Biedermeiertums zurückfiel, ge-

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hörte nicht zuletzt das wohlbedachte Abwägen des Wert- und Wirkungsverhältnisses von Stoff und Form, von Inhalt und Prägung, von Haltung und Gestaltung. Endlich erwies sich der ideelle bzw. poetische bzw. künstlerische Realismus geeignet, weitgehend die Kluft zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten wenigstens annähernd und nach und nach auszufüllen. Allerdings verband sich damit die Gefahr, daß im Willen zum Entgegenkommen auch hier die Grenzen allzu elastisch beweglich blieben, so daß sich oft ungewollt und unversehens Übergänge von der künstlerisch vollwertigen Literatur zur gehobenen Unterhaltungsliteratur beobachten lassen, so etwa bei Wilhelm Raabe, Gustav Freytag, Friedrich Spielhagen und selbst bei Theodor Fontane, von Viktor von Scheffel u. a. einmal ganz abgesehen. Auch der späte Gottfried Keller des „Martin Salander" ist nicht ganz frei von solchen Zugeständnissen. Weil die Konsequenz vermieden werden sollte, war der Kompromiß unvermeidlich. Bald überwog das Poetische, bald das Realistische. Bald rettete man sich in das „Poetische" der Realität, bald in das Realistische der Poesie. Und der konsequente Realismus (Naturalismus) hätte niemals so lohnende Angriffsflächen vorgefunden, wenn nicht fast zwangsläufig eine Abflachung des „poetischen Realismus" in einen nur „poetisierenden", zum Teil auch noch unverhohlen „romantisierenden" Scheinrealismus erfolgt wäre. Denn die freilich etwas titanenhaft ertrotzte Höhe Hebbels konnte auf die Dauer nicht gehalten werden. Bevor jedoch auf Hebbels Kunstanschauung näher eingegangen wird, scheint es geboten, Hegels Ä s t h e t i k kurz einzubeziehen, soweit sie zugleich die Historie im Verhältnis zur Poesie berührt. Seine Geschichtsphilosophie dagegen, die zudem von der Sonderforschung zu Hebbels Geschichtsidee und seiner These vom epochemachenden Drama hinreichend in Beziehung gebracht worden ist, muß hier vorausgesetzt werden. Schon bei der Würdigung des Jungen Deutschland konnten mehrfach die Einwirkungen der Philosophie Hegels berücksichtigt werden. Aber sie etwa einleitend der Würdigung der Tendenz-Programmatik voranzustellen, schien weder erforderlich noch ratsam, weil insgesamt die Hegelkenntnis der Jungdeutschen überschätzt worden sein dürfte und weil im Endertrag mehr Abweichung und auch deutliche Abwehr als Auswertung sich kundgibt. Zudem ist auf diese Seite schon mehrfach in Einzeluntersuchungen die Aufmerksam17*

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keit gelenkt worden. Daher ist es vielleicht berechtigt, diese Skizze zwischen die Darstellung der Jungdeutschen und Hebbels einzufügen. Ursprünglich war sie der Würdigung Solgers (vgl. Band III) angeschlossen. Darauf mag zurückgegriffen werden. Nicht nur mit pietätvoller Rücksicht auf den frühen Tod Solgers, den er beklagt, auch aus dem Bewußtsein, dem um ein Jahrzehnt jüngeren Verfasser des ,,Erwin" manche Anregung zu danken, hat G e o r g W i l h e l m F r i e d r i c h H e g e l (1770—1831) bei seiner scharfen Polemik gegen die romantische Ironie mit merklichem Vorbedacht Solger von diesem Angriff freigestellt, zum mindesten aber die Schärfe der Polemik zu einer achtungsvollen Kritik gemildert. Im Gegensatz zu Friedrich Schlegel habe ein ,,echt spekulatives innerstes Bedürfnis" Solger geleitet und ihn wiederum im vorteilhaften Unterschied zu den Romantikern wie Fr. Schlegel und L. Tieck und deren unphilosophischer Oberflächlichkeit in die „Tiefe der philosophischen Idee" hinabsteigen lassen. Solger sei dabei auf den Punkt geraten, auf jenes „dialektische Moment der Idee" —· wie es Hegel nennt — und damit zu dem vorgedrungen, was nach Hegel am treffendsten als „unendliche absolute Negativität" zu umschreiben wäre. Indessen das sei eben nur ein Moment unter anderen und wesentlicheren, während Solger in ihm die „ganze Idee" und damit den Kernbegriff gefunden zu haben glaube. Hegels Absicht, bei alledem Solger von den bekämpften Romantikern abzuheben, tritt noch einmal im Schlußertrag unzweideutig zutage: „Soviel zur Rechtfertigimg Solgers, der es in Rücksicht auf Leben, Philosophie und Kunst verdient, von den bisher bezeichneten Aposteln der Ironie unterschieden zu werden". Diese Stellungnahme zu Solger findet sich am Schluß der Einleitung zu den ,,Vorlesungen der Ästhetik", die einige Jahre nach Hegels Tode, und zwar gerade im Schicksals] ahr des Jungen Deutschland, 1835, mit dem ersten Bande erschienen, während der zweite Band 1837 folgte. Der Wirkungseinsatz der Hegeischen Ästhetik ist indessen ein gutes Jahrzehnt früher anzunehmen, da jene postume Ausgabe vor allem auf Vorlesungsnachschriften aus den Jahren 1823—26 (z.T. auch 1828/29) zurückging. Diese Vorlesungen fußen ihrerseits auf einer Grundfassung, die schon seit 1820 bestanden haben dürfte. Ja, man nimmt an, daß das älteste Heidelberger Heft (1818) schon in der Nürnberger Gymnasiallehrerzeit den damaligen Unterrichtszwecken gedient haben könnte.

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Damit würden die ersten Anfänge auch zeitlich dem „Erwin" Solgers recht nahe kommen. Das V e r h ä l t n i s von Poesie u n d H i s t o r i e , von Dichtung und Datentreue umschreibt im Rahmen seiner „Ästhetik" Hegel dort, wo er den scheinbaren „Schein" der Kunst zu deuten versucht. Dieser „Schein" der Kunst ist zunächst einmal in Wahrheit einer „höheren Realität" und einem „wahrhaftigen Dasein" zuzuweisen. Daher konnte von einem nur scheinbaren Schein gesprochen werden. Auch im Verhältnis zu den Wirklichkeiten der Geschichte ist die Poesie nicht auf eine Welt des bloßen Scheinens angewiesen und also auch nicht dahin abzudrängen. Zum mindesten gilt dies von dem Verhältnis der Dichtkunst zur Geschichtsschreibung, da auch die wertvolle Geschichtsschreibung nicht bloße Daten und Dokumente aneinanderreihe, sondern neben den Daten vor allem auch Deutungen vermittle. Oder wie Hegel es wörtlich — soweit der Text seiner Ästhetik-Vorlesungen überhaupt wörtlich rekonstruiert werden konnte —· ausdrückt: „Ebenso wenig sind die Darstellungen der Kunst ein täuschender Schein gegen die wahrhaftigeren Darstellungen der Geschichtsschreibung zu nennen. Denn die Geschichtsschreibung hat auch nicht das unmittelbare Dasein, sondern den geistigen Schein desselben zum Elemente ihrer Schilderungen; und ihr Inhalt bleibt mit der ganzen Zufälligkeit der g e w ö h n l i c h e n W i r k l i c h k e i t und deren Begebenheiten, Verwickelungen und Individualitäten behaftet, während d a s K u n s t w e r k uns die in der G e s c h i c h t e w a l t e n den ewigen Mächte o h n e dies Beiwesen der unmittelbaren sinnlichen Gegenwart und ihres haltlosen Scheins entgegenbringt". Eine Täuschung liege im Kunstwerk nur vor im Verhältnis zum „Denken der Philosophie" und zu den „religiösen und sittlichen Grundsätzen", die also der Kunst übergeordnet bleiben. Übrigens spricht Hegel hier von Kunst schlechthin, nicht speziell von Dichtkunst. Aber da an anderen Stellen die Poesie als geistig umspannende Phantasiekunst in Anspruch genommen wird, die alle übrigen Künste durchdringt (Herder und trotz allem: Romantik; „das Poetische"), so darf diese Abhebung von Kunst und Geschichte vorzüglich auch auf die Poesie bezogen werden. Bei alledem bleibt zu berücksichtigen, daß für Hegel „wahrhaft wirklich" immer nur das „An- und Fürsichseiende, das Substantielle der Natur und des Geistes" ist und sein kann, also in diesem philosophisch strengen Sinne weder die Geschichtsschreibung noch die Kunst.

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Zwar auch das An- und Fürsichseiende bedarf der Gegenwärtigkeit und des Daseins, das es sich selber gibt. Es bleibt aber auch in dieser Daseinsform „wahrhaft wirklich" nur, weil und soweit es zugleich das An- und Fürsichseiende bleibt, so wie etwa erkenntnistheoretisch das Dinghafte nur ein Sein ableitet aus der ihm innewohnenden Begrifflichkeit. Immerhin hat die Kunst gegenüber der Realität niedrigerer Stufe den Vorzug, daß ihr Schein gleichsam durch sie selber hindurchdeutet und auf ein Geistiges hindeutet. Oder wie es Hegel bildlich faßt — denn er duldet Vergleichsbilder im Gegensatz zu Joh. Rehmkes Grundwissenschaft —: „Die harte Rinde der Natur und gewöhnlichen Welt machen es dem Geiste saurer zur Idee durchzudringen als die Werke der Kunst". Was nun den Vorzug historischer Motive für das Kunstwerk betrifft, so kommt Hegel dort auf diese Vorteile zu sprechen, wo er von der Idee des Kunstschönen handelt, und zwar im besonderen von der Bestimmtheit und Bestimmbarkeit des Kunstideals als einer konkreten Geistigkeit. Das Zusammenstimmen nämlich des konkreten Ideals mit seiner äußeren Realität wird im Bezirk der Ineinswirkung von Gestalt und Umwelt — etwa im Epos — wesentlich erleichtert durch eine historisch bestimmte Umwelt. Und so zieht Hegel, gestützt auf einige (nicht immer sehr glücklich gewählte) Beispiele, so etwa das Verhältnis von Naturstimmung und Gestalten (Helden) bei Ossian, mit merklicher Genugtuung, auch im ästhetischen Bereich so etwas gefunden (oder konstruiert) zu haben wie einen Objekt-Subjekt-Bezug, den vorläufigen Ertrag: „Von dieser Seite her können wir jetzt zum erstenmal die Bemerkung machen, daß die historischen Stoffe den großen Vorteil gewähren, ein solches Zusammenstimmen der subjektiven und objektiven Seite, wie wir an den obigen Beispielen soeben sahen, unmittelbar, und zwar bis ins Detail hin ausgeführt in sich enthalten". Der Eposdichter, der sich dieses Vorzugs teilhaftig zu machen weiß, ist rangmäßig höher einzustufen als derjenige, der sich die Gelegenheit entgehen läßt. Daher ist Goethes „Hermann und Dorothea", an das einst schon Wilhelm von Humboldt seine ,,Ästhetischen Versuche" angeknüpft hatte, höher zu stellen als Vossens „Luise" und vollends als die „idyllische Geistesarmut", wie sie bei Salomon Geßner zutage tritt. Das Kunstwollen wird natürlich bei einer solchen Argumentation deduktiver Art, die

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nur streckenweise Schein-Induktionen zur Hilfe ruft, nicht berücksichtigt. Die Frage kommt Hegel nicht, ob womöglich Geßner etwas ganz anderes gewollt hat als Goethe. Auch das Bedenken steigt ihm nicht auf, ob es dem Dichter immer erwünscht ist, die eigene Phantasie mit historischen Stützen zu unterbauen, da die vermeintliche Erleichterung leicht in Belastung umschlagen kann. Es ließe sich eben auch vom „Nutzen und Nachteil der Historie für die Dichtung" (vgl. Nietzsche) sprechen. Dagegen ist er sich im Klaren über das verschiedene Reagieren der einzelnen Dichtungsgattungen, gemäß dem verschiedenartigen Verhältnis, das sie zum Historischen einnehmen und —• nach Hegel — einnehmen müssen. Die Lyrik, die vorwiegend eine „Bewegung des Gemüts" zu bewirken habe, sei am wenigsten für historische Stoffe geeignet und auch nicht daran gebunden. So etwa sei der historische und lokalhistorische Einschlag in den Laura-Sonetten Petrarcas sehr gering (Hegel sagt richtig Sonette, nicht Oden). In diesem Zusammenhang mag daran erinnert werden, daß Hegel dort, wo er die niederen Formen der Subjektivität und Objektivität in der Kunst demonstriert, z.B. die von Herder ausgehende Volksliederbewegung der Romantik und Nachromantik, ablehnt mit der Begründung, daß sie in der Nachbildung historischer Volkslieder beim „ganz Formellen der historischen Richtigkeit und Treue" (ohne Bezug auf die Idee der Geschichte) stehen bleibe. Demgegenüber ist die Epik am ehesten für das Historische aufnahmefähig, ja in gewissem Grade darauf angewiesen oder doch hingewiesen. Das Drama hält also gleichsam die Mitte. Aber Hegel macht kritisch geltend, daß die Historie im Drama häufig eine Gefahrenzone darstelle. Er meint das noch nicht im Sinne W. H. Riehls, der übrigens fast umgekehrt entschied (Geschichte für das Drama zuträglicher als für den Roman und die Novelle). Er fürchtet nicht (wie Riehl, der schon den Historismus miterlitt), daß dem Kunstwertaufnehmenden die Historie zu bekannt ist, um noch dichterische Freiheiten willig zu dulden, sondern im Gegenteil, daß ihm manches Geschichtliche zu fremd bleibt. Denn selbst in den Historien-Dramen Shakespeares liegt dem Nichtengländer manches bereits zu fern. Es komme darauf an, zum mindesten für die eigene Nation leicht zugängliche und geläufige historische Bezüge einzuflechten. Derartige noch allgemein lebendige historische Ereignisse und Erlebnisse habe z.B. mustergebend für Italien Tasso („La Gerusalemme liberata" und

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„ L a Gerusalemme conquestata") geboten, für Portugal Camoes („Os Lusiadas": Entdeckung des Seeweges nach Ostindien). Bei diesen Hinweisen wirkt nun merklich das Bemühen mit, den Zugang zur Kunst relativ größeren Kreisen zu ermöglichen. Jedenfalls hätte sich der George-Kreis nicht auf Hegel berufen können. Mehrfach betont seine Ästhetik, daß das Kunstwerk nicht nur für auserwählte Kenner bestimmt sei: „Denn die Kunst ist nicht für einen kleinen abgeschlossenen Kreis weniger vorzugsweise Gebildeter, sondern für die Nation im Großen und Ganzen da" (eine der Anknüpfungsstellen für die Jungdeutschen und „Junghegelianer"). Darauf hat sich also die historische Motivwahl entsprechend einzustellen. Damit dürfte es zusammenhängen, wenn Hegel zum mindesten einen gewissen Gegenwartsbezug mittelbarer Art und sozusagen das geschichtliche Verstehen erleichternder Art duldet. Der moderne Leser findet leichter einen Zugang zum Vergangenen mit Hilfe des Umwegs über das Gegenwärtige. Oder anders gesehen und gesagt, er vermag vom Historischen nur dann wirklich und wirksam angesprochen zu werden, wenn das Zurückliegende in das ihm noch Vorliegende und daher Näherliegende irgendwie nachwirkend hineinragt, und wenn der Künstler etwas „vom Gehalt seiner eigenen Zeit hineingelegt" hat. Wieder hat Goethe ein Muster zu stellen. Diesmal mit seiner „Iphigenie", in die Ideen der Gegenwart Goethes, die zum Teil ja auch noch Hegels Gegenwart war, zurückverlagert worden seien. Ähnliches gelte selbst noch von seinem „West-östlichen Diwan", der zugleich ein Beispiel für das Anverwandeln einer fremden Nationaldenkart darbiete, indem es gelungen sei, den „Orient" der „heutigen Anschauung anzueignen". Das Junge Deutschland mochte in derartigen Wendungen und Zugeständnissen Hegels eine Art von Legitimation für seine Taktik sehen, in vergangenen Zuständen gegenwärtige Verhältnisse widerzuspiegeln. An sich hatte es hinsichtlich seiner Tendenz-Programmatik wenig Anlaß,sich auf HegelsÄsthetik zu berufen. Denn dort gab es mindestens ebenso viele, ja weit mehr Gedanken, Deutungen und Bewertungen, die ihm und dem jungdeutschen Kunstwollen widersprachen als solche, die ihm entsprachen. Da sind u. a. die kritischen Einwände gegen eine reine Gegenwartsdichtung. Aber auch der Historismus des 19. Jahrhunderts hatte keine Ursache, sich allzu betont auf Hegel zu berufen, besonders dort

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nicht, wo er datenhaft äußerlich blieb. Der Blick auf den Realismus endlich wird von Hegel schon deshalb nicht freigegeben, weil er stets auf den geistigen Gehalt (Kunst als „gestaltete Geistigkeit") hindrängt und weil ihm unter dem vorherrschenden Eindruck der Klassik zu wenig Ideenhaft-Erhebendes, dagegen zuviel „Prosaisches" und „Plattes" in der bloßen Wirklichkeitswiedergabe ersten Grades und also vulgärer Art (nicht „wahrhaft wirklich") zu liegen scheint. Hegel kennt eine sogenannte „objektive" Dichtung, insbesondere historischer Prägung, die eine bloße „Treue" im Sinne von Datentreue höher stellt oder doch mehr hervorkehrt und herausarbeitet als den wahren Geist der Geschichte. Das ist eine minderwertige Spielform. Und er kennt und nennt eine betont „subjektive" Dichtung, die nur ihre eigene Gegenwart, „ihre eigenen Zeitansichten, Sitten" und „geselligen Konventionen" darstellt und würdigt. Das ist ebenfalls eine minderwertige Spielform. Sie kann aus einer gewissen bildungsarmen Naivität entspringen wie etwa bei Hans Sachs oder auf der anderen Seite aus Bildungsstolz und Gegenwartsdünkel wie etwa im französischen Klassizismus, den also Hegel noch fast ganz mit Lessings Augen betrachtet. Alle diese Ausprägungen gelten als unzulänglich. Als werthöher beurteilt Hegel jedenfalls den Typus, der weder in jenem beschränkten Sinne und im Sinne der Beschränkten „objektiv" oder „subjektiv" sich einengt, sondern in freier geistiger Überlegenheit auch fremde Stoffe aus entlegenen Zeiten und Nationen sich mit „wahrhafter Objektivität" anzueignen versteht. Dagegen vertritt eine dritte minderwertige Spielform des „Subjektiven" die nur realistische Erfassung des Stofflichen, die Hegel besonders bei Kotzebue beobachten zu können glaubt, den übrigens Schopenhauer eigenartigerweise (aus Opposition gegen Hegel ?) verteidigt. Schon aus diesen skizzenhaften Umrissen dürfte deutlich werden, daß Hegel selber weder eine Historisierung noch eine Politisierung seiner Lehren gutgeheißen haben würde. Auch die Geschichte beschäftigte ihn nicht um ihrer selbst willen, sondern nur oder doch überwiegend um ihrer Widerspiegelung der Geschichtsidee und des Geistes ihres Ablaufs willen. Sie war für ihn letzten Endes nur eine — zudem nicht restlos überzeugende —• Manifestation und Demonstration der Sichtbarwerdung des Absoluten in den Bindungen seiner Relationen, auch der Subjekt=Objekt = Relation. Und es wurde bereits angedeutet, wie er die Eintrübun-

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gen vermeintlich „subjektiver" und vermeintlich „objektiver" Art ständig und kritisch unter die Wertkontrolle der absoluten Gültigkeit und der Gültigkeit des Absoluten stellte. Er merkte sehr wohl, daß die Geschichte ihm nur sehr bedingt weiterhalf und daß er es war, der nachhelfen mußte, damit sie sich seinem Denksystem und seiner konstruktiven Weltdeutung wenigstens einigermaßen fügte. Wahrscheinlich ist er sich auch klar darüber gewesen, daß der Anteil Politisierung ihn zwang, die Progression der dialektischen Entwicklung reichlich gewaltsam dort abzudrosseln, wo es ratsam schien, den herrschenden staatlichen Zustand als eine Art von abschließender Vollendung zu betrachten und zu bewerten. Und was die Ästhetik betrifft, so konnte es ihm kaum entgehen, daß er die absolute Form der Klassik Goethes schon deshalb zum Maßstab wählen mußte, weil in ihr eine Form des Absoluten Gestalt gewonnen zu haben schien. Absolute Form und Form des Absoluten bedingen sich dergestalt wechselseitig. Die geistige Gestalt verbürgte und verbarg in sich zugleich den „gestaltenden Geist". Insofern brauchte er bei der Kunst und besonders bei der geistigen Kunst der Poesie weniger nachzuhelfen als bei der Geschichte. In dem Grade, wie er das Geistige vergegenständlichen mußte, um es greifbar und begreifbar zu machen, ohne das „Anderssein" der Natur über Gebühr zu beanspruchen, in dem Grade war auch das Stoffliche der Geschichte dem Geistigen der Poesie zuträglich im Sinne einer konkreten Geistigkeit. In dem Augenblick jedoch, wo der geschichtliche Stoff den dichterischen Geist zu unterjochen drohte, wurde die Historie zu einem Widersacher des Geistes. Der Vorteil der Gegenständlichkeit durfte nicht erkauft werden mit dem Verlust an Geistigkeit. Die Anschaulichkeit der Daten durfte nicht siegen über die innere geistige Anschauung der Deutung und Bedeutung. Das Substantielle mußte, so verstanden, immer Fühlung behalten mit den „substances spirituelles", von denen einst Leibniz gesprochen hatte, bevor er den Begriff der Monade von Giordano Bruno übernahm. Wie Kant Vollender und Überwinder der Aufklärung war, so war Hegel Vollender und Überwinder der Romantik. Seine scharfe Polemik gegen die Romantik läßt zunächst einmal nur an deren Überwinder denken, und zwar auch im spezifisch literaturphilosophischen Bereich, ja bereits im literaturkritischen Raum. Freilich, mit der Schärfe, wie sie die „Einleitung" im merklich forcier-

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ten Ablösungsvorgang von der Romantik ganz unverkennbar ausgeprägt zeigt —• besonders in harten Einzelvorstößen — , läßt sich nicht so ohne weiteres die merklich milder getönte Kritik auf einen Nenner bringen, die in den Ästhetik-Vorlesungen selber begegnet. Sie ist zunächst auf eine gemäßigte Tonart gestimmt. Schon die sogenannte „Einteilung", die Hegel an jene umfassende „Einleitung" (für verwirrende Wortklänge besitzt er wenig Sinn) unmittelbar anschließt und die er ihr in der Gesamtkomposition noch eng zugeordnet wissen will, bezeichnet die romantische Kunst als höhere Aufgipfelung (Synthese) nach der Vorstufe der symbolischen (allegorischen ?) und der mittleren Stufe der an sich von ihm praktisch so hoch geschätzten klassischen Kunst. Aber was tut ein Dialektiker nicht alles, um sichtbar sein System triumphieren zu lassen! Denn sieht man näher zu, so kündigt sich schon hier neben der Anerkennung „absoluter Innerlichkeit" (vgl. noch W. Kohlschmidt) das grundsätzliche Bedenken an, das zugleich Hegels Gesamteinstellung zur Romantik kennzeichnet, jenes Bedenken nämlich: die Romantik manifestiere und demonstriere „das Hinausgehen der Kunst über sich selbst". Es sei bei dieser Gelegenheit aber in Erwägung gestellt, ob nicht Hegels dialektische Reihe Anregungen vom Progressionsbegriff der Romantik erfahren haben kann. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Verfasserfrage des sog. „Ältesten Systemprogramms des Idealismus" (Hegel—Hölderlin—Schelling; vgl. Band III). Aber das Wechselspiel von Philosophie und Literaturphilosophie war in der Romantik schier unentwirrbar. So könnte sich durchaus ergeben, daß Hegel der Romantik weit tiefer verpflichtet ist als es seine ständige Polemik gegen sie vermuten läßt. In den Ästhetik-Vorlesungen selber z.B. ist ein besonderer Abschnitt der „Auflösung der romantischen Kunstform" gewidmet (II. Teil). Ansätze und Anlässe zu einer solchen Auflösung sind von Hegel schon vorher beigebracht worden, so etwa im Abenteuerlichen oder Romanhaften (fast noch im Sinne des „Romanhaften" bei Georg Sulzer gebraucht) und in anderem Zusammenhange das Gespenstersehen, das Hellsehen, kurz die Nachtseite der Naturwissenschaft (Gotth. Heinr. v. Schubert: „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft", 1808) im romantischen Aspekt. Bereits im ersten Teil der Vorlesungen war gelegentlich der Erörterung über die Bestimmtheit und Bestimmbarkeit der Charaktere in der Kunst und im Kunstwerk jenes ro-

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mantische Hinüberspielen der „Poesie in das Nebulose, Eitle und Leere" schroff abgelehnt, ja als eine förmliche und künstlerisch deformierende, wenn nicht gar degenerierende und also dekadente „Krankheit des Geistes" bezeichnet und entwertend abgestempelt worden. Heinrich von Kleist und Ε. T. A. Hoffmann gelten ihm insofern als warnende Beispiele. Bei alledem bleibt in Rechnung zu stellen, daß Hegel nicht nur die vermeintlichen Auflösungstendenzen der Romantik bekämpft, weil er darin Verfallserscheinungen erblickt. Vielmehr scheint ihm, der mit dem Maßstab der Klassik nach Maßgabe seines Systemwillens mißt, das Romantische „an sich schon das Prinzip der Auflösung des klassischen Ideals" darzustellen. Jene verzeichneten und beanstandeten Sondererscheinungen (Aberglaube, Wunderglaube usw.) lassen eben nur die von vornherein im Romantischen bereitliegende, aber vorerst noch latent bleibende Auflösungstendenz voll sichtbar werden und damit „in der Tat als Auflösung klar heraustreten". Kurz, der klassischen Aufhöhung entspricht die romantische Auflösung. Diese Kampfansage an die Romantik hörten die Jungdeutschen aus Hegels Ästhetik heraus und hielten sie ohne weiteres und ohne tiefes Verständnis kurzerhand für eine Kampfansage gegen die „Reaktion" und Restauration. Manche von ihnen hatten Hegel gehört. Wenige hatten ihn verstanden. Diese Opposition gegen die Romantik und diese Obstruktion gegen den Glauben an eine Wirklichkeit, die nicht nur „vernünftig" war, verwechselten sie vielfach mit einer Revolte gegen die Tradition und Konvention. Von der Widersprüchlichkeit der Dialektik glaubten sie ohne weiteres einen Widerspruchsgeist um jeden Preis ableiten zu können, ohne inne zu werden, daß hinter dem Widerspruch Hegels ein hoher geistiger Anspruch und also auch eine hohe Beanspruchung des Geistigen stand. Ihnen schien dieses „Absolute" vor allem geeignet, es gegen den Absolutismus auszuspielen. Und als das nicht recht gelingen wollte, rächte man die Enttäuschung darüber an Hegel selbst, nicht aber an sich selber. Mit anderen Worten: man wurde ihm untreu, bevor man noch mit ihm wirklich und „wahrhaft wirklich" vertraut geworden war. Weder die Ästhetik· Vorlesungen noch die geschichtsphilosophischen Vorlesungen lagen damals einigermaßen verläßlich gedruckt vor. Und in die fragmentarischen Kollegnachschriften ließ sich vieles hineindeuten. Die dialektische Methode paßte einem noch einigermaßen, zum

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Teil sogar recht gut in den Kram. Der absolute Geist und der Geist des Absoluten schon weit weniger. Was ging einen letztlich das Ansich- und das Fürsichseiende an, da man doch so gut und gern für die Anderen sein und wirken wollte. Gewiß: Gutzkow, Mündt und Kühne hatten Hegel noch gehört, aber hatten sie nicht auch Wesentliches überhört ? Wurde bei ihnen die Macht seines Geistes nicht zu einer bloßen Mode des Geistreichen ? Ungleich tiefer griff Hegels Geschichtsphilosophie. Denn sie versprach nicht allein die Überlegenheit der Deutung über die Daten. Sie half auch dort noch das Wirkliche als vernünftig zu betrachten, wo es zunächst einmal recht unvernünftig und willkürlich erscheinen mußte. Das aber begriffen sie alle oder doch die Wertvollen, daß Geschichte nicht nur ein Gegebenes, sondern auch ein Aufgegebenes war, daß die Idee der Geschichte höher stand als ihre Daten. Selbst W. H. Riehl duldet trotz Abwehr des Historismus historische Persönlichkeiten auch in der Prosa-Epik, soweit sie Träger von Ideen sind. Grabbe spürt das, und Hebbel spürt das. Der Verstoß gegen Daten kann hingenommen werden, wo der „wahre Geist" der Geschichte nicht beeinträchtigt erscheint. Und man kann auch in der Fremde heimisch werden. Die bloße Berichtshaltung ist noch keine Geschichtswaltung und Geschichtsverwaltung oder Geschichtsverwertung. Und wer zuviel Stoff aufliest und aufhebt, betrügt sich allzuleicht um das im Hegeischen Sinne „aufgehobene" Dritte. Über allem Entwicklungswert des Widerspruchs blieb immer der Anspruch bestehen, daß alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche auch vernünftig sein (und nicht nur scheinen) müsse. Wobei der Begriff des Wirklichen allerdings in Hegels Sinne aufgefaßt werden will. Die D i a l e k t i k war der Weg, n i c h t d a s Ziel. Aber es leuchtet ein, daß ein Dramatiker wie Friedrich Hebbel auch und gerade diesem treibend und empordrängend Widersprüchlichen seine Anteilnahme zuwenden mußte. Zugleich mußte er lebhaft angesprochen werden von der hohen geistigen Bedeutung, die Hegel gerade dem h i s t o r i s c h e n D r a m a zuschrieb. Hegel forderte vom Dichter des historischen Dramas die „umfassendste Weite des Geistes" und eine tiefer dringende Einsicht in die „waltenden Mächte". Diese bewegenden Kräfte sind nicht aufzusuchen und nicht aufzufinden in einer oberflächlich gesehenen Wirklichkeit, auch nicht einfach in der datenhaften GeschiehtsWirklichkeit. Vielmehr gilt es, hinter die vordergrün-

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digen Erscheinungen der Zweckkämpfe zu dringen, die leicht eine verwirrende Eintrübung der Idee mit sich bringen, jenes „Innere und Allgemeine" aufzuspüren und durch die künstlerische Form leichter einleuchtend zu machen. Denn das Drama darf nicht stehen bleiben bei der Einseitigkeit oder auch der Vielseitigkeit der Individualisierung und Verselbständigung jener beherrschenden Mächte und weltbewegenden Kräfte. Es muß sie sichtbar machen, darf aber daran kein endgültiges Genügen finden. Denn — und hier greift merklich das dialektische Verfahren auf die Deutung über — es kommt für den Dramatiker auf die „Auflösung der Einseitigkeit" an. Im Drama oder „Dramatischen" gelangen die geistig waltenden Mächte ihrem „einfachen substantiellen Inhalte nach als Pathos, als Individuen gegeneinander" zur Geltung und Erscheinung. Sie sind hier nicht so mittelbar modifiziert und variiert in der „realen Individualisierung" und daher bedeutungsmäßig nicht so unbestimmt wie etwa im mythologischen Epos. Die Konzentration liegt zudem nicht „in den Tiefen des Gemüts" wie bei der Lyrik, aber auch nicht in „irgendeiner ausschließlichen Stimmung und beschränkten Parteilichkeit in Sinnesweise und Weltanschauung". Unverkennbar sucht Hegel den Dramatiker allzu weit zum Denker abzudrängen. Gerade für Hebbel lag darin eine Gefahr. Ebenso unverkennbar ist die Neigung und systemtreue Nötigung Hegels, das Drama insofern als höhere Entwicklungsstufe gelten zu lassen und einzuordnen, als es eine Synthese aus Epik und Lyrik darstellt. In einer für die Entwicklung der Dramentheorie nicht gerade erfreulichen Weise mußte Hegels Gewöhnung an den dialektischen Dreischritt jene Auffassung wesentlich verstärken, nach der das Drama letzten Endes als eine Addition von Epik und Lyrik angesehen wurde. Auf der anderen Seite mußte die Lehre vom dialektischen Vorgang der Deutung des Dramas als widerspruchsvoller Spannung zugutekommen. Das Übergewicht, das der Dramatik in seinem Dichtschaffen zukommt, fordert bei F r i e d r i c h H e b b e l (1813—1863) eine stärkere Berücksichtigung seiner dramaturgisch-kunsttheoretischen Ideen innerhalb seiner Kunsttheorie und Dichtungsdeutung, um so mehr, als von hier aus das weitere Sichtfeld einer Weltanschauung sich öffnet, die man — allerdings nur unzulänglich — als Pantragismus zu kennzeichnen versucht hat. Nach früheren Vorstufen bringen die vierziger Jahre eine Verdichtung Hebbelscher Ge-

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danken über Wesens-und Wirkungsform des Dramas, entsprechend dem Einsetzen der dramatischen Produktion. Der Aufsatz im „Morgenblatt" von 1843 „Ein Wort über das Drama!" wird nach dem Angriff des Kopenhagener Professors und Theaterdirektors H e i b e r g persönlich zugespitzter ergänzt zu der Abhandlung „Mein Wort über das Drama!" (Juni 1843). Bald darauf gibt das „Vorwort zur Maria Magdalene, b e t r e f f e n d d a s V e r h ä l t n i s der dramatischen K u n s t z u r Z e i t und v e r w a n d t e P u n k t e " (1844) Gelegenheit, die Ideengänge der früheren Aufsätze aufzunehmen und teils ergänzend den Typus des bürgerlichen Trauerspiels kritisch wertend zu belichten unter Zurückgreifen auf das Vorwort der „Genoveva". Hebbel selbst mißt dem Aufsatze „Ein Wort über das Drama", in dem er Ergebnisse „Jahre langen Nachdenkens" niederlegte, höhere Bedeutung bei als der an sich umfangreicheren Abwehr Heibergs, obgleich er späterhin betont, daß er keine erschöpfende Darstellung und vollends keine eigentliche „Dramaturgie" habe geben wollen. In der Tat überwiegt in der ersten Abhandlung durchaus das polemikfreie Meditieren über die Wesens- und Wirkungsform des Dramas, während „Mein Wort über das D r a m a " zwar fast Lessingsche Kampfprosa scharf aufklingen läßt, aber durch die polemische Bindung merklich gehemmt erscheint im Entfalten eigener Ideen und zweckerlöster Kunstbesinnung. Der knappe erste Aufsatz gliedert sich deutlich in einen abstrakttheoretisch gehaltenen ersten Teil und eine Erläuterung kritischwertender Art an empirischen Beispielen in der zweiten Hälfte. Die Kunst, die sowohl das innere wie das äußere Leben zum Gegenstande ihrer Gestaltung wählt, kann dieses Leben als Sein und Werden am besten dadurch erfassen, daß sie sich zwischen Sein und Werden „in der Schwebe erhält". Denn so beengt sie weder den schöpferisch-dynamischen Impuls durch Verharren im Zuständlich-Fertigen, noch unterbindet sie das Form-Finden durch die formsprengende K r a f t eines einseitigen Werdens, einer übermächtigen Dynamik. Es zielt diese Forderung in bedeutsamer Weise ab auf das Ausgleichsstreben des ideellen Realismus innerhalb größerer Entwicklungsspannen, die bald die schöpferisch-dynamische Konzeption (z.B. Geniezeit), bald die formsetzende Gestaltung (z.B. Klassizismus u. Klassik) vorherrschen ließen. Vorerst aber wird dem Ideellen besonderes Interesse zugewandt, und zwar der ide-

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eilen, der ideelichen Grundlage der Dramatik. Denn wenn Hebbel sogleich eingangs hervorhebt, daß das Drama als die „höchste Kunstform" nichts Geringeres als den „Lebensprozeß an sich" darstelle, so meint er nicht die Realität in ihrer vollen epischen Breite, sondern vielmehr jene gleichsam als dramatisch-tragisch empfundene Grundvoraussetzung aller Lebensvorgänge und des Lebens schlechtweg, die das Individuum in seiner Vereinzelung in Konflikt bringt mit dem Ganzen der Gattung, dem es trotz seiner Freiheit doch wiederum als zugehörig eingegliedert ist. Diese Vereinzelung drängt notwendig über sich hinaus, nicht nur getrieben vom persönlichen Willen, sondern vom Willen an sich (mittelbarer oder unmittelbarer Einfluß Schopenhauers?), so daß aus der „eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs" ein Verschulden entsteht, wobei es im dramatischen Sinne unwesentlich bleibt, „ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung scheitert". Der metaphysische und spekulative Einschlag dieser pantragischen Vorstellung tritt noch greifbarer zutage in „Mein Wort über das Drama", weil hier das Mißverstandenwordensein (seitens seines Gegners Heiberg) zur weiteren Präzisierung und Klärung zwingt. Die der Vereinzelung von vornherein „eingepflanzte Maßlosigkeit" führt zur Schuld, aber auch in gewissem Grade zu einer Versöhnung, da die Unvollkommenheit, wie sie mit jener Vereinzelung gegeben ist, aufgehoben wird. Doch hält Hebbel daran fest, daß diese Versöhnung für den Bereich der Kunst nicht das Entscheidende darstellt. Jenes im Lebensprozeß „uranfänglich" ruhende Verschulden, das dem Einzelmenschen kaum noch zum Bewußtsein kommt, entspricht etwa der christlichen Erbsünde, die nur eine Sonderausprägung zutage treten läßt. Das „höchste Drama" hat es nur mit diesem vertieften Schuldbegriff zu tun und erreicht gerade dann die Eindruckswirkung der Erschütterung, wenn Maßlosigkeit im vortrefflichen Streben den Träger dieses Strebens vernichtet und aufreibt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Abwehr der nur wenig zurückliegenden, oberflächlichen Schicksalsdramatik der Müllner, Z. Werner, Houwald zu einer metaphysischen Überhöhung des schicksalhaften Schuldbegriffes beitrug. Es liegt ein Gattungsbegriff vor, der nicht den Einzelfall bewertend beurteilt. Man könnte in Abwandlung des bekannten Begriffs Leibniz' fast von einer prästabilierten Disharmonie sprechen.

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Allerdings möchte Hebbel dem Vorwurfe vorbeugen (den Heiberg erhoben hatte), als ob nun sein Idealdrama notwendig mit einer Dissonanz abschließen müsse, wobei indessen der Ton mehr auf dem „schließen" ruht; denn die Dissonanz kann er — entsprechend der pantragischen Grundidee — nicht gänzlich hinwegargumentieren. Er will es auch recht eigentlich gar nicht, wie denn bereits der erste der beiden Aufsätze der „Versöhnung" keine besondere Bedeutung beigemessen hatte. Vielmehr: als tröstlich ausgleichend muß schon empfunden werden, daß das Drama die „dualistische Form des Seins" insofern auflöst, als es eine besonders schneidend und kraß hervortretende Gegensätzlichkeit in sich selbst aufhebt. Hegels Nähe bleibt überall fühlbar wirksam. Hebbel zieht zur Erläuterung das Gleichnis von den beiden Kreisen auf dem Wasserspiegel heran, die einander entgegenschwellen, sich zerstören, aber eben dadurch zugleich in einen einzigen größeren Kreis eingehen und in ihm aufgehen. Eine Genugtuung wird auch darin erkannt, daß die Idee die Oberhand behält gegenüber dem Individuum, das dieser Idee (oder dem Ganzen) durch sein Handeln oder bereits durch sein bloßes Dasein und Anderssein widerstrebt. Unvollständig bleibt diese Genugtuung, wenn das Individuum verbittert untergeht (Tragik niederdrückender Art), relativ vollständig wird sie, wenn das scheiternde Individuum von sich aus im Untergange doch „eine geläutertere Anschauung seines Verhältnisses zum Ganzen gewinnt und im Frieden abtritt" (Tragik erhebend-versöhnender Art), relativ indessen nur, weil immer die Frage offen bleiben muß nach der Ursache jener uranfänglichen Entzweiung und Vereinzelung. Diese Frage läßt Hebbel bewußt offen. So bleibt auch jenes Verschulden nicht „unaufgehoben", wohl aber die innere Ursächlichkeit „unenthüllt". Hier liegt für Hebbel die Stelle, „wo das Drama sich mit dem Weltmysterium in eine und dieselbe Nacht verliert". Die hohe Rangstufe, die der dramatischen Gattung zugewiesen wird, hält das Vorwort zu Maria Magdalene durchaus fest. Das Drama behauptet sich im gattungsmäßigen Wertgrade als die „Spitze aller Kunst". Der Wesensform nach hat es den jeweiligen „Welt- und Menschen-Zustand in seinem Verhältnis zur Idee" gestaltend zu erfassen. Der Begriff „Idee" hat dabei gegenüber den früheren Aufsätzen eine leichte Abwandlung insofern erfahren, als unter Idee das Postulat einer sittlichen Zentralkraft innerhalb des „Welt-Organismus" verstanden werden soll. Doch 18

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scheint die Geltung des Idee-Begriffes auch innerhalb der Vorrede selbst weiteren Schwankungen unterworfen zu sein. So etwa spricht Hebbel beim Erläutern an empirisch gegebenen Kunstwerken von der Bloßlegung des durch die olympischen Göttergestalten „sich hindurchziehenden Nervs der Idee", oder es heißt von Goethe, daß er „die Dialektik unmittelbar in die Idee selbst hinein geworfen" habe. Für den Begriff „Welt- und MenschenZustand" sucht Hebbel das dramatisch-dynamische Element zu retten, indem er den Zustand nicht als ruhende Statik faßt, sondern das Moment der Veränderung mit einbezieht. Die Haltung des ideellen R e a l i s m u s wird nicht nur nach der ideellen Seite hin an der teils über Solger auf Schelling zurückgehenden irrationalen Unterbauung der Hebbelschen kunsttheoretischen Forderungen ablesbar (das Ideelle), sondern auch an der Doppelseitigkeit, mit der neben dem künstlerisch Greifbaren und lebensnah Realistischen zugleich das Ideeliche in Anspruch genommen wird. „Ein Wort über das Drama" ζ. B. setzt das Ideeliche voraus, da von ihm Würde und Wert des Dramas abhängen. Die Ausführung wendet indessen ihr Interesse stärker den Charakteren zu und verweist nachdrücklich auf volle „Vergegenwärtigung der Totalität des Lebens" im Sinne eines vollkommenen Lebensbildes. „Mein Wort über das Drama" wehrt sich gegen den Vorwurf angeblicher Vernachlässigung des Ideelichen, spricht von den im Drama veranschaulichten Ideen und dem Ideenhintergrunde wie von der Erlösung der Idee von ihrer unzulänglichen Form oder dem Triumph der Idee über das Individualwollen. Gleichzeitig lehnt Hebbel das rein abstrakt-deduktive Verfahren ab und darf gerade Heiberg gegenüber hervorheben, daß er seinen Begriff der dramatischen Kunst von der Empirie der gegebenen Kunstwerke abstrahiert habe. Ergänzend wird überdies klargestellt, daß für die dramatische Kunst nicht die „eigentlich spekulative Seite der Idee" in Betracht kommen kann (Loslösungsversuch von Hegel), wenn kein bloßes kaltes „allegorisches Puppenspiel" Zustandekommen soll. Vielmehr hat die Dramatik Menschennatur und Menschengeschick zu erfassen durch ein Erschaffen „warmblütiger, lebendiger Gestalten". Das V o r w o r t zur Maria Magdalene begrüßt es in eigener Angelegenheit, daß die Kritik bislang überwiegend die plastischrealistischen Gestalten ins Auge gefaßt, erkannt und anerkannt hat unter Vernachlässigung der „Ideen, die sie repräsentieren",

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weil damit eine berechtigte Bewertung der bodenständigen Lebensnähe dieser Gestalten gegeben erscheint, hält es indessen nachgerade für erwünscht, daß „man dem zweiten Faktor meiner Dichtungen (eben dem Ideelichen) einige Würdigung widerfahren lassen möge". Ganz klar tritt hier mit voller Bewußtheit der „zweite Faktor", näher erläutert als der durch die dramatische Gestaltung „bewältigte Ideen-Kern", neben dem Bejahen des Realistischen in Erscheinung. Doch wird aufrechterhalten, daß kein künstliches „Herausputzen der Idee" im Sinne des Allegorischen gefordert wird, überhaupt keine abstrakt-philosophische Idee, sondern ein dem Realen innig Verschmolzenes, Ideelles im Sinne einer „unmittelbar ins Leben selbst verlegten Dialektik". Die Grundrichtung des ideellen oder poetischen Realismus setzt sich im „Vorwort. . ." weiterhin dort durch, wo die polemische Auseinandersetzung mit unzulänglichen Forderungen seitens Schauspielern und Publikum zu dem Ergebnis führt, daß der rechte und echte dramatische Darstellungsvorgang von sich aus ohne Bühnenrücksichten bereits das Streben in sich trage und in der Schöpfung austrage, „ a l l e s G e i s t i g e v e r l e i b l i c h e n " zu wollen, die dualistischen Ideenkräfte zu Charakteren zu „verdichten" und das innere Erleben in ein äußeres Geschehen umzusetzen. Kein einseitig-realistisches „Fortspinnen der Erscheinungswelt" ist erwünscht. Dennoch dürfen selbst gewisse Kraßheiten gewagt werden; ja, sie müssen gewagt werden, da der vorteilhafteste Einsatzpunkt und der historisch fruchtbarste Augenblick im „Brechen der Weltzustände" liegt, das nur an der Gebrochenheit der individuellen Haltung gespiegelt werden kann. Von dieser Seite her ergibt sich ein Zuwachs an Realistik, die auch „Bedenkliches und Bedenklichstes" nicht zu scheuen hat, weil in der Krankheit jener Krisen nicht das Gesunde aufgezeigt werden kann, sondern bestenfalls der Übergang zur Gesundung. Das Wert- und Wirkungsverhältnis vom Ideellen und Realen erfährt weitere Klärung in dem Aufsatze „Über den Stil des Dramas" (1847), der das Verhältnis von Denken und Dichten in der Sprache zu erläutern sucht. Danach strebt das Denkvermögen zur reinen Begriffsbildung mit dem Ziel einer philosophischen Systembildung, während das Dichtungsvermögen die unmittelbare Aufnahme und Wiedergabe symbolischer Anschauungen zur Aufgabe sich setzt mit der Zielform des geschlossenen Kunstwerkes. Die „dichterische Anschauung" berührt sich mit der be18*

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griffliehen durch ihre symbolhaltige Beschaffenheit; trennt sich jedoch von der begrifflichen Denkart, indem sie das Allgemeine im Besonderen aufdeckt, während die begriffliche das Besondere im Allgemeinen aufzulösen pflegt. Es gibt mannigfaltige Berührungen und Überschneidungen, die der reinen Ausprägung sowohl des Dichterischen als auch des Philosophischen gefährlich werden können. Da „Anschauungen" auf Übermittlungen der Sinne beruhen, so muß „der poetische Stil. . . dem Grundelement nach ein sinnlicher" Stil sein. Er gewinnt seinen Sprachschatz auf dem Wege über „Ohr und Auge". Das Drama, das auch in diesem Aufsatze als „die höchste Form" der Poesie und Kunst bezeichnet wird, hat die Aufgabe, „das Leben in seiner Unmittelbarkeit zur Anschauung zu bringen". Das geschieht im Aufdecken und Darstellen der sich gegenseitig bedingenden Charaktere und Situationen in ihrem Wechselgeflecht und im Erfassen des Verhältnisses, in dem „sie zum Ideen-Zentrum stehen". Die vollkommene und vollständige „Realisierung" findet diese Aufgabe erst im Medium der Sprache. Die Brücke vom Realen zum Ideellen scheint Hebbel — denn klar ist das keineswegs herausgebildet — im Symbolischen aufzusuchen, so etwa dort, wo er daran erinnert, daß selbst das „Konkreteste" dank seiner „symbolischen Natur" noch auf das Ideeliche und Abstrakte zurückführt. Letzten Endes fügt sich in diese Synthese von Vergeistigung und Symbolisierung bzw. Wirklichkeit und Realisierung organisch die Hebbelsche Ausdeutung und geschiehtsphilosophische Zielsetzung des historischen Dramas ein. Das für seine eigene Produktion bedeutsame V e r h ä l t n i s von D r a m a t i k u n d G e s c h i c h t e , im weiteren Sinne von D i c h t u n g und D a t e n t r e u e wird grundlegend bereits erörtert in „Ein Wort über das Drama", auf das nicht zufällig das „Vorwort zur Maria Magdalene" ausdrücklich zurückverweist. Danach gilt die Kunst als die höchste Form der Geschichtsschreibung. Das Drama m u ß von vornherein historisch sein, weil es den Lebensprozeß an sich darzustellen hat und „die großartigsten und bedeutendsten Lebensprozesse gar nicht darstellen kann, ohne die entscheidenden historischen Krisen" anzupacken und „die A t m o s p h ä r e der Z e i t e n zugleich mit zur Anschauung zu bringen". Nicht die Datengeschichte als bloßer buntscheckiger, wenn auch ungeheurer „Wust von zweifelhaften Tatsachen" kann für den Dichter und Dramatiker wesentlich und wertvoll sein, der nicht das Porträt

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zu geben hat, sondern — wie Hebbel etwa erläutert werden könnte — das auf weiten Blickpunkt eingestellte Freskogemälde: „Die Geschichte ist für den Dichter ein Vehikel zur Verkörperung seiner Anschauungen und Ideen, nicht aber ist umgekehrt der Dichter der Auferstehungsengel der Geschichte". Besonders ausgeprägt zeigt sich bei Hebbel das Gefühl, daß die erdrückende Stoffmasse der sich häufenden Daten zu einer stetig sich verschärfenden Auslese und erlösenden Befreiung des wahrhaft Wesentlichen zwingt, ein Gedanke, der dann — unter Zurückgreifen auf Lessing — im „Vorwort zu Maria Magdalene" breitere Ausführung erfährt. Während die Freiheit des Dichters gegenüber der Geschichte ein bis auf Aristoteles zurückverfolgbares traditionelles Erbgut der Poetik darstellt (vgl. Bandl), führt die Art dieses Auslesevorganges und die Blickrichtung auf den sich „schon jetzt verstrengernden historischen Ausscheidungsprozeß" bereits zu eigenen Perspektiven mit weitsichtiger Zielsetzung. Der Zeitgeist, die Zeitatmosphäre ist im historischen Drama einzufangen und einzuformen als „ G e h a l t der G e s c h i c h t e in der Schale der speziellen Perioden". Das verbindende Mittelglied in der Ablösung der Jahrhunderte, die politisch-philosophisch-religiös entscheidenden Entwicklungswenden, die Brechung der Weltzustände geben dem im höheren Sinne historischen Drama allein den würdigen Einsatz und machtvollen Auftrieb. So klingt neben dem charakterisierenden ein wertender Faktor mit, wenn Hebbel diesen vornehmsten Dramentypus „das E p o c h e m a c h e n d e " D r a m a nennt im Unterschied vom „partiell-nationalen" und „subjektivindividuellen"; denn der übergeordnete Typus umgreift jene beiden engeren Sonderformen. Schon „Ein Wort über das Drama" hatte nach der Aufstellung eines sozialen, historischen und philosophischen zu einem synthetischen Zukunftsdrama die Aussicht eröffnet, eine theoretische Erörterung jedoch vermieden, da sich Hebbel selbst als Repräsentant dieses aufgegipfelten Typus fühlte. Man darf annehmen, daß jetzt im „Vorwort . . ." eben jenes „Epoche machende" Drama identisch ist mit dem, was dort nur angedeutet wurde. Die dem Geschichtsverlaufe zugrunde liegende höchste Idee (Hegel) hat der Dramatiker befreiend emporzuheben im epochemachenden Drama, das wohl auch als „symbolisches Drama" (in „Mein Wort über das Drama!") gekennzeichnet wird. Es hat „den Geschichtsstrom bis in seine innersten Quellen, die religiösen"

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aufzuspüren und in der poetischen Anschauung freizulegen. Es hat die wenigen „organischen Ubergangspunkte" aufzuzeigen, an denen die Träger des neuen Wollens —• wie etwa Luther — nicht nur mit dem beharrenden alten Zustand und dem Weltwillen ringen, sondern teils selbst in Konflikte hineingetrieben werden mit den Ideen, die sie vertreten und vor deren ungeahnter, aber eiserner Konsequenz sie zu „schaudern" beginnen. Hier schließt sich der Kreis, wenn man Hebbels Theorie einer ursprünglichen Maßlosigkeit in der Vereinzelung berücksichtigt, jenes Streben des einzelnen, das am Gesetze der Gattung und des Ganzen zerbricht, aber noch im Untergange der Emporentwicklung dient. Das Drama vermag den d i a l e k t i s c h e n W e l t p r o z e ß mit seinen Mitteln widerzuspiegeln. Das Moment der Tragik, das sich offenbart oder unaufgehoben bestehen bleibt, wenn der maßlos Strebende scheitert, obgleich ihn der Haushalt des Weltorganismus im Sinne der Evolution einsetzt, geht im letzten Grunde zurück auf die Selbstentzweiung, auf Gottes „Sündenfall", wie es Hebbel nennt. Die „Schwere des Stoffes", die Gewichtigkeit des Motivs, die doch immerhin einen gewissen Ausgleichswert gegenüber etwaigen Mängeln im historischen Drama mit seiner schon „in sich bedeutenden, d. h. symbolischen Handlung" zu bieten vermag, fällt für das b ü r g e r l i c h e T r a u e r s p i e l fort. So ergeben sich schon von dieser Seite her für diesen Typus — auf den erst der knappe Schlußteil des „Vorwortes. . ." kurz eingeht — gewisse Gefahrenzonen. Was A. Schopenhauer prägnant in die Formel kleidete, daß es dem bürgerlichen Helden an „Fallhöhe" „fehle", erläutert Hebbel mit dem Hinweise darauf, daß vielfach Äußerlichkeiten wie Geldmangel oder Liebeshindernisse durch Standesschranken die unzulänglichen und leicht trivial wirkenden Motive einer Tragik abgeben müßten, die bestenfalls zu gerührter Sentimentalität, nicht aber zur Erschütterung zu führen vermöchten. Es darf erwähnt werden, daß im äußeren Geschehen der „Maria Magdalene" das Geldverhältnis (Abschwenken Leonhards angesichts der in Verlust geratenen iooo Taler Antons) eine immerhin größere Bedeutung zugewiesen erhält, als nach der kritischen Einstellung des Vorwortes erwartet werden könnte. Ähnlich steht es — für die entscheidende Vorfabel — mit der Liebe zum ständisch relativ Höhergestellten (Klara hat den Spott der Öffentlichkeit über ein Festhalten an dem „studierten" Sekretär gescheut). Doch muß andererseits anerkannt werden, daß das Zentralmotiv und

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die tragende Grundidee dieses bürgerlichen Trauerspiels der theoretischen Hauptforderung Hebbels durchaus entspricht. Nach ihr sollte die bürgerliche Tragödie aus ihrer immanenten Gesetzlichkeit sich aufbauen, „aus der schroffen Geschlossenheit, womit die aller Dialektik unfähigen Individuen sich in dem beschränktesten Kreis gegenüber stehen und aus der hieraus entspringenden schrecklichen G e b u n d e n h e i t des L e b e n s in der Einseitigkeit". Darüber hinaus darf der Zuschauer nicht nur auf die „kümmerliche Teilnahme an dem Einzel-Geschick" festgelegt werden, sondern muß einen allgemein menschlichen Wert aus dem, wenn auch extremen, so doch symptomatischen Fall herauslösen können. Insofern scheint Hebbel von dieser Seite des symbolischen Geltungswertes eine gewisse Erhöhung des bürgerlichen Trauerspiels und eine gewisse Annäherung an die „epochemachende" Tragödie zu erstreben. Wie diese das Verhältnis der Charaktere zum Ideenzentrum, so hat die bürgerliche Tragödie das Verhältnis des Sujets zum Untergrunde der sittlichen Mächte der Familie, der Ehre und der Moral gestaltend zu bewältigen. Daß auch der einfache Mensch ein Schicksal „und unter Umständen ein ungeheures Schicksal" haben kann, wird von Hebbel klargestellt, wie es von G. Büchner im „Woyzeck" dargestellt worden war als Ausdruck seines Kunstwollens im Kunstwerk, das jedoch Fragment blieb. Verworfen wird der verfehlte Versuch, diese einfachen Menschen entweder — teils durch blähende Redeweise —• künstlich zu adeln und forciert emporzuschrauben oder sie zu bornierten Typen abzustempeln. Bei der Redeweise, besonders der Gleichniswahl ist der berufliche Lebenskreis zu berücksichtigen. Als Wertkriterium des Dramas wird die bühnenmäßige Darstellbarkeit anerkannt. Etwaige Hemmungen beim nachschaffenden oder neubelebenden Künstler (Schauspieler) werden als Kennzeichen aufgefaßt für eine poetisch unausgereifte Gestaltung. Im dramatischen Handlungsbegriff nähert sich Hebbel gelegentlich jener vertieften Handlungsdefinition Lessings in der Fabelabhandlung. Gedanken und Empfindungen müssen zwar in Handlungen vorbereitet und wieder von Empfindungen begleitet sein. Der veräußerlichte Handlungsbegriff einer „nackten" Aktivität ist unzureichend: „sonst wäre ein stillschweigend gezogener Degen der Höhepunkt aller Aktion" (Anlehnung an Lessing). Der Abstand zwischen Handeln und Leiden darf nicht überschätzt werden; denn das Erleiden wird im Bereiche des Individuellen „ein

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nach innen gekehrtes Handeln". Wieder erweist näheres Eingehen, wie die teils durch wirren Gefügeverlauf erschwerten und nur keimhaft eingestreuten Gedanken dennoch zurückführbar sind auf Hebbels Grundkonzeption einer irrational begründeten Welttragik. Denn auch hier erfährt die leidende Haltung so hohe Bewertung, weil das strebende Handeln des Individuums sich dem schicksalhaften Weltwillen gegenüber in ein Erleiden umsetzt und auflöst, und weil die geläuterte Ergebung und Besinnung des Individuums vielleicht höher steht als das trotzig aktive Verharren in individueller Gebundenheit. Jenseits der Dramaturgie begegnet im Bereiche der allgemeinen Wesensbestimmung des Dichterischen verhältnismäßig frühzeitig jene an die romantische Kunsttheorie erinnernde „Erfassung des ersten und einzigen Kunstgesetzes, daß sie (die Dichtkunst) nämlich an der singularen Erscheinung das Unendliche veranschaulichen sollte" (Tagebuch, Jan. 1836), weiterhin die Abwehr des nur Allegorischen in der kritischen Erkenntnis: „Eine poetische Idee läßt sich gar nicht allegorisch ausdrücken: Allegorie ist die Ebbe des Verstandes und der Produktionskraft zugleich" (Tagebuch, Juli 1836). Eine kurze Notiz „Über Gleichnisse" (1847) w ü l nur eine Seite des an sich vielseitigen G l e i c h n i s p r o b l e m s beleuchten, und zwar die Frage einer sinnvollen und wirkungsvollen Einlagerung der Gleichnisse in das Stellenmilieu. Sie wird in dem Sinne beantwortet, daß Gleichnisgebrauch dort angebracht erscheint, wo die Darstellung von sich aus ein betrachtendes Stillstehen ermöglicht, während eine Gleichnisverwendung bei stark beschleunigtem Darstellungstempo und hoher Dynamik als Hemmschuh verworfen wird. Wesenhaft dürfen die Bilder nicht bloße Vergleichsbilder sein, die nur „das einmal Gesagte noch in der Bildersprache wiederholen", also auf Sinnkongruenz sich beschränken, sondern müssen darüber hinaus „einen Reichtum von Nebenbeziehungen" in sich bergen. Schon hieraus folgt die Forderung einer Einbettung in die Ruhelage der Darstellung, da sonst der „rasch vorüber eilende Gedanke" sich nicht in diesen Reichtum zu vertiefen vermöchte. Wesentlicher in die unermüdlich von Hebbel aufgegriffene und immer neu gewendete Grundposition der Unbewußtheit und Bewußtheit greift die Fragestellung des seinerzeit angefeindeten Aufsatzes „Wie verhalten sich im Dichter Kraft und Erkenntnis zueinander?" (1847). Die mit scharfen polemischen Spitzen gegen unzu-

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längliche und vielschreibende Dichter reichlich bewehrte Kampfschrift bringt vor allem eine kriegerische Absage an die selbstgefälligen Vertreter einer falschen „Naivität". Ihre Kritiklosigkeit gegen sich selbst, die sie mit Reflexionslosigkeit nur allzugern verwechseln, macht die „Grundbedingung alles künstlerischen Wirkens", eben die echte künstlerische Naivität zu einer bloßen Geistlosigkeit, zu einem „beharrlichen Zustand dumpfer Unbewußtheit". Man verzerrt so den Urbegriff des Naiven zu dem „Unbegriff" des Geistlosen. Man verwechselt und verwirrt Geistlosigkeit mit Reflexionsfreiheit. Auch vollkünstlerische Gestaltung schließt ideelle Bewußtheit keineswegs aus, wie der Briefwechsel Goethe-Schiller allein hinlänglich beweisen sollte. Nur eine „bestimmte Form des Geistes", eine auf Reflexion verengte geistige Haltung ist zu verwerfen. Für echte Naivität besteht Gefahr, durch jene unechte Naivität in Mißkredit zu geraten und mit ihr verwechselt zu werden, weil auch bei ihr die Reflexion fortfällt, aber nicht aus Mangel, sondern aus Überkraft. Während die „ t r i v i a l e N a i v i t ä t " , auf bloße Selbsttäuschung und billigen „Selbstgenuß" eingestellt, ahnungslos dem Gesetz des Künstlerischen gegenübersteht, ist die g e n i a l e N a i v i t ä t bereits von sich aus „so gesetzmäßig organisiert", daß sie ohne Erkenntniszwang dennoch spontan ihre immanente Gesetzlichkeit zur Erfüllung bringt. Der Erkenntnisvorgang vollzieht sich unter dem Drängen der gestaltenden Kraft derartig schnell, daß sie gar nicht spürbar wird. Gerade dadurch kann jene Mißdeutung und Verkennung Zustandekommen, die Hebbels Bloßlegen der „trivialen" Naivität bekämpfen will. Denn diese triviale, falsche Naivität zehrt nur vom Negieren, indem sie ζ. B. aus dem Mangel an „allem idealen Gehalt" den Scheinwert einer angeblichen „Fülle konkreten Lebens" herauszieht. In der Betonung des „Selbstgenusses" beim Schein-Schöpfertum berührt sich Hebbel mit Gedankengängen Karl Phil. Moritz', der auch das falsche Genie dadurch bestimmen und erkennen wollte, daß es ohne Aussicht auf das Lustgefühl auch den Anreiz zur Produktion zu verlieren pflege. Zugleich wird bei aller Anpreisung echter Naivität durch Hebbel dennoch eine verhüllte Verteidigung des Ideelichen, des Erkenntnismäßigen fühlbar, die eine Übersteigerung der Naivitäts-Vorstellung zur „Karikatur" abwehrt. Während die Kampfschrift von 1847 doch weit überwiegend prinzipielle Erörterungen ins Feld führt, die kunsttheoretisch auf-

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schlußreich bleiben trotz der polemischen Einfärbung, verengt die „Abfertigung eines ästhetischen Kannegießers" (1851) als bloße Streit- und Zeitschrift trotz ihres beträchtlichen Umfanges den Standort völlig zur persönlich zugespitzten Antikritik gegen den „Grenzboten"-Rezensenten Julian Schmidt. Auf weite Strecken hin bewegt sich hier Hebbel auf dem Kriegspfad des gereizten und mißdeuteten Künstlers, der entrüstet und materialbeladen seinem Kritiker auf den Leib rückt. Zwar wird sogleich eingangs geklagt, daß J. Schmidt nicht nur das Hebbelsche Kunstschaffen „karikiert,*' sondern auch „meiner Theorie Gewalt" angetan habe. Doch bleibt für den Entlastungsangriff zugunsten der Theorie nur ein episodischer Gefechtsausschnitt übrig, und zwar recht eigentlich nur die Verteidigung des Vorwortes zur „Maria Magdalene". Es handelt sich um jene oben zitierte Kernprägung vom „jedesmaligen Welt- und Menschenzustand im Verhältnis zur Idee", den der Dramatiker zu veranschaulichen habe. Hebbel legt Verwahrung ein gegen die Mißdeutung, als ob er, der nur ein Attribut der Schaffensart ableiten wollte, einen verbindlichen „Imperativ" im Sinne sollästhetischer Vorschrift aufgestellt habe. Er bekämpft weiterhin die (von ihm jedenfalls als solche empfundene) Entstellung, als ob er vom Dichter eine künstlich und absichtsvoll erklügelte „Welt-Anschauung" verlangt hätte: „Ich reiche dem Schiffer einen Kompaß für die Reise, und Herr Schmidt sagt, ich hätte ihm aufgegeben, des Kompasses wegen zu reisen". Im Gegenteil beansprucht Hebbel gerade das Verdienst für sich, dem Dichter jenen Irrweg einer „albernen Jagd" auf eine Welt-Anschauung verlegt zu haben, indem jener Hinweis auf den jedesmaligen Welt- und Menschenzustand „den Dichter entschieden aufs Endliche und Begrenzte" verweist und bloße Abstraktionen ausschaltet. Im Wesentlichen behauptet diese Streitschrift nur die alte dramaturgische Ausgangsstellung, überprüft wohl noch einmal ihre Haltbarkeit, baut sie aber nicht eigentlich weiter aus. Hebbels Beiträge zur T h e o r i e der L y r i k stehen an Bedeutung hinter seiner Dramaturgie in ähnlichem Grade zurück wie sein lyrisches Schaffen hinter seiner Dramatik, so daß knappere Hinweise genügen mögen. Verhältnismäßig frühzeitig gewinnt der Aufsatz „Über Theodor Körner und Heinrich von Kleist" (1835), an sich für die Dramaturgie der Frühzeit besonders aufschlußreich, doch auch für die Wesensform der Lyrik die runde Prägung: „Das Gefühl ist das Element der lyrischen Poesie; die Kunst, es

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zu begrenzen und darzustellen, macht den lyrischen Dichter". Und zwar hat der Lyriker gegenüber oberflächlichen Gefühlseindrücken die „in geweihten Augenblicken aus der Tiefe der Seele aufsteigenden Gefühle" zu bevorzugen, weil nur sie die volle Individualität und ganze Persönlichkeit umspannen. Eine gewisse Konstanz der Stimmungslage, nicht nur ein aus der Gefühlstiefe Geborensein, sondern auch das stileinheitliche Bewahren des Gefühlsernstes wird als ideale Forderung ablesbar von einer gegen Heine gerichteten Bemerkung des Tagebuches (Mai 1838), die bedauert, daß Heines „verworrene Gemütszustände sich nicht in die Klarheit eines entschiedenen Gefühls auflösen lassen" und der Einbruch geistreich spielenden Intellekts den „Fackelbrand des Witzes" in das nicht organisch ausgereifte und daher auch nicht eine echte lyrische Frucht zeitigende Gefühl schleudert. Die Rezension über das „Buch der Lieder" im „Telegraphen", die Heines Lyrik gerechter zu werden versucht, berührt mehrfach programmatische Forderungen der damaligen Entwicklungsstufe, auf der übrigens auch in einer Tagebuchnotiz das Trugideal der „Rückertschen Lehrdichterei" und die Veräußerlichung einer einseitigen Formpflege abgewehrt werden. Ein bloßer Formvirtuose wie Platen erscheint ihm wie ein Reiter, dem zwar der Zügel, nicht aber das Pferd zur Verfügung stände. Die spätere Entwicklung vollzieht sich vorerst zugunsten einer höheren Bewertung der Formpflege, wobei der leicht klassizistisch gefärbte Schönheitskultus der Italienreise als verstärkender Impuls mit in Rechnung zu stellen ist. Politische Tendenzlyrik wird abgelehnt, nicht zum wenigsten wegen schwerer Überlastung der lyrischen Form; denn „Lilienduft ist kein Schießpulver", und die leicht gelockerten, zarten und empfindlichen Gebilde dürfen nicht durch den Eingriff der Tendenz wie „ein Klavier mit der A x t " zerstört werden. Die forcierte Sprengung der lyrischen Kleinform durch den veräußerlichten Schwellstoff aufgeblähter Motive zeugt von mangelndem künstlerischem Instinkt und von verdeckter Schwäche im Fehlgreifen nach dem großen Stoff. Denn „die Poesie hat Formen, in denen der Geist seine Schlachten schlägt, die epischen und dramatischen; sie hat Formen, worin das Herz seine Schätze niederlegt, die lyrischen; und das Genie zeigt sich eben dadurch, daß es jede auf die rechte Weise ausfüllt, indes das Halbtalent, das für die größeren nicht Gehalt genug hat, die engeren gern zu zersprengen sucht, um trotz seiner Armut reich zu er-

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scheinen". Bereits damit ist die Form bestimmende Eigengesetzlichkeit des Gehalts, wie sie späterhin auch gegenüber der nivellierenden Tendenz metrischer Glätte verfochten wird, nachdrücklich gewürdigt worden. Überhaupt haben Gehalt und Gestalt organisch zusammenzuwirken, eine Forderung, die durchaus jener anderen einer einseitigen Formpflege übergeordnet bleibt. Denn besonders angesichts der „jetzigen nachplatenschen Dichter" weist Hebbel in dem Aufsatze „Schöne Verse" (1859) das metrische Virtuosentum der axifkommenden Platenrichtung (verstärkt im Münchener Kreis) energisch zurück: „Der Götze, den die heutigen Dichter der schönen Verse anbeten, ist Platen", der seinerzeit eine gesunde Reaktion zu vertreten hatte, dessen „Pathos für den F o r m a l i s m u s " indessen nicht neuerlich kultiviert werden sollte. Sowohl die Vernachlässigung des Verses als auch der Verskultus sind zu verwerfen ;denn, .kommt das innersteWesen der künstlerischen Form bei den Libertinern des Verses übel weg, so geschieht dasselbe bei den Haarkräuslern des Verses. Jene leisten einen aktiven, diese einen passiven Widerstand gegen die Kunst". Ebensowenig wie durch die „schöne" Versform bloße Abstraktionen künstlich aufzufrischen und zu „kolorieren" sind, dürfen die „vielgepriesenen und gehätschelten schönen Verse" wahllos auch über spröden, herben oder wuchtigen Inhalt als stets empfehlendes Etikett gekleistert werden. Die dadurch herbeigeführte Brechung der Ausdruckskraft und Vernachlässigung der Inhaltsgemäßheit der Form durch gleichmachenden Formalismus ist zu bekämpfen als Zeichen einer Geschmacksentartung. Wenn der Hebbel der Spätzeit dergestalt seine frühere Abwehr einseitiger Formüberbewertung wieder aufzugreifen scheint, so bleibt doch zu berücksichtigen, daß es historisch-empirische Erscheinungen (Lyrik der Platenschule) waren, die ihn erneut in diese scharfe Oppositionsstellung hineintrieben, während seine polemikbefreite Einstellung im wesentlichen die organische Ausgleichung und Angleichung von Gehalt und Gestalt nach wie vor aufrechterhält. Eine gewisse Ausgleichung und Gleichberechtigung wird grundsätzlich auch den Faktoren Gefühl und Verstand, Ideelichkeit und Erlebnismäßigkeit zuerkannt, wie es der Gesamtrichtung eines ideellen Realismus entspricht. Zwar wird Hebbel in selbsterzieherischer und selbstkritischer Gegenwehr gegen seinen eigenen, stark ausgeprägten Hang zum Grüblerischen und Denkerischen

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gerade in der Theorie nie müde, die Verwerflichkeit bloßer Reflexion, Abstraktion und der zugeordneten Ausdrucksformel des „Allegorischen" zu betonen und gelegentlich wohl selbst zu übertreiben. Aber dieses an sich gesunde Gegengewichtschaffen war individuell bedingt. Und der knappe Aufsatz über „Moderne Lyrik" (1853), kunsttheoretisch besonders ergiebig, stellt zweifelsfrei klar, daß für Hebbel die Lyrik in zweifachen gleichberechtigten Richtungen sich entfalten darf, nämlich als „geistige" oder „reflektive", die auf Schiller zurückgeht, und die „gemütliche", gefühlsbetonte, lebensnähere, die von Goethe ausgeht. „Es muß aber ein schöpferischer Akt der Phantasie hinzukommen, der den allgemeinen Gedanken individualisiert (Schiller) und umgekehrt das subjektive Gefühl generalisiert (Goethe) . . .". Der Hinweis darauf, daß der eine Typus Gefahr laufe, ins Abstrakte, der andere, ins Nüchtern-Prosaische abzugleiten, erinnert vollends daran, daß hier Schillers Abhandlung über die „Naive und sentimentalische Dichtung" merklich nachwirkt. Ein gewisses Stützungsuchen bei Schiller lag nahe, um so mehr, als Hebbels Aufsatz die Schwierigkeit, über die lyrische Wirkungsform sinnreich zu theoretisieren, selbst hervorhebt: „Es ist kaum schwerer über Musik zu schreiben wie über lyrische Poesie . . . Der Grund ist einfach: man hat in der Lyrik das reine Element vor sich, um das alle (gattungsmäßigen) Formen sich streiten". Von diesem Blickpunkt aus betrachtet, scheint für Hebbel in der „singbaren Ballade" (Sonderform des Volksliedes) die höchste Ausprägung des Lyrischen sichtbar zu werden, weil diese vielseitige Sonderform „zugleich episch, dramatisch und musikalisch" sich auswirkt, zugleich ein Beispiel dafür, daß gelegentlich auch im Lyrischen (Balladesken) eine Schmelzform gesehen worden ist. Ein Jahr später erwägt ein mit theoretischen Überlegungen durchflochtenes Sammelreferat „Zur Anthologien-Literatur" (1854) wiederum das bevorzugte Problem des werthaften Verhältnisses von Reflexion und reinem Schöpfertum, von „Besonderheit und Allgemeinheit". Neben der „absolut schöpferischen" Hervorbringung, für die Hebbel hier — aber nicht nur hier — die Schillersche Umschreibung heranzieht, daß diese Produktionsart gleichsam ,,in der Natur die Natur vermehrt", bzw. werthaft ihr untergeordnet, steht die „auf Reflexion angewiesene Hervorbringung". Die rein schöpferische (naive) Produktion gleicht dem in sich geschlossenen „Kristall" in seiner Eigenwüchsigkeit und Einmaligkeit; die

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geistig-reflektierende erklettert gleichsam nur eine „ReflexionsSpitze", fordert also aufstufende Voraussetzungen und läßt jene spontane Unmittelbarkeit vermissen. Sie bietet eben doch nur eine, wenn auch „höhere Potenz" einer schrittweise aufwärtssteigenden Gedankenreihe, gipfelt also von unten her auf, während die rein schöpferische einen derartigen Unterbau entbehren kann, da sie von oben her (intuitiv) einfällt. Wenn auch Hebbel sich dagegen verwahrt, etwa die „Reflexionspoesie der neueren Periode . . . zurücksetzen" zu wollen, so fällt in diesem Artikel das Urteil doch wesentlich einseitiger aus als in dem späteren Aufsatz über „Lyrische Poesie" (1858), der eine Rezension Dingelstedtscher Gedichte kunsttheoretisch unterbaut und etwa die Linie, wie sie in der Skizze über „Moderne Lyrik" vorgezeichnet worden war, wieder aufnimmt und fortführt, nicht ohne zugleich auf die Gegenüberstellung jener beiden Grundtypen (Goethe u. Schiller) zurückzugreifen. Wieder wird der Typus einer „naiven Hingebung an die Dinge" abgehoben von dem andern einer „nüchternen Reflexion über sie". Aber Schillers Typus gewinnt doch, wie Hebbel anerkennt, den ideelichen Auftrieb nicht durch bloße Weltentrücktheit, sondern mit willensidealistischem Aufschwung „durch die Verklärung" eines an sich durchaus lebensnahen „natürlichen Zustandes", wie andererseits Goethe in die „süßeste Unmittelbarkeit" doch auch oft Bewußtheit neben den „härtesten realistischen Zügen" mit hinein verarbeitet. Damit ist die schon früher angedeutete Möglichkeit einer Annäherung, ja einer teilweisen Verschmelzung der beiden lyrischen Wirkungsformen und Schaffensarten auch weiterhin gegeben. Der Aufsatz, der sich kritisch mit Wert und Unwert der neueren Weltschmerzdichtung Byronscher Prägung auseinandersetzt, erkennt die Bindung der Lyrik an einen national eingestimmten „ursprünglichen Ton", der teils von der Nationalsprache her —• die deutsche Sprache gilt ihm als besonders „tiefsinnig" — entscheidend bestimmt wird. Die Zeit greift nur formmodifizierend ein: „Jedes Volk hat sein Lied und hält den ursprünglichen Ton fest; allein jede Zeit variiert ihn auf eine eigenthümliche, ihren Bedürfnissen entsprechende Weise". Spezifisch für die deutsche Wesensart erscheinen jene beiden Möglichkeiten gleichermaßen geeignet: „Hier haben wir denn auch gleich die beiden Grundelemente der deutschen Lyrik beisammen: das naive Aufjubeln in einer trunkenen Stunde und die gewissenhaft-gründliche Re-

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flexion über das Woher und Wohin". Da Hebbel in diesem Zusammenhange vom Hamlet-Typus spricht, so darf man sagen, daß ihm hinsichtlich der Reflexionslyrik etwa der Typus einer Lyrik „erlebter Meditation" neben dem Typus des „GeistigVisionären" vorschwebt, ohne daß er sich von der wertbelastenden Bezeichnung „Reflexionspoesie" hat befreien können. Uber den lyrischen Typus erlebter Meditation stimmungsgesättigter Betrachtung konnte schon an anderer Stelle einiges angedeutet werden. Gegenüber Hebbel, der seine dramaturgischen und literaturphilosophischen Abhandlungen trotz der Abwehr des durch Julian Schmidt erhobenen Vorwurfes einer sollästhetischen Schulmeisterei dennoch stark lehrhaft einzustellen pflegte, hat O t t o L u d w i g (1813—1865) recht eigentlich nur für sich selbst seine kunsttheoretischen und kunsttechnischen Erwägungen angestellt, wie sie ihm aus stiller Besinnung und verinnerlichender Vereinsamung zuwuchsen. Nicht sowohl der Kunstphilosoph als vielmehr der schaffende Künstler hat hier das Wort. Die weltanschauliche Einbettung der Ästhetik und vollends die ins Metaphysische vorstoßende Kunstphilosophie, wie sie Hebbel auszuprägen trachtet, weicht bei Otto Ludwig einer den empirischen Gegebenheiten zugewandten, im Blickfeld engeren, aber in ihrer Sehart gleichsam intimeren Betrachtungsweise. Hebbel hatte zwar auch für die Kunst, für den Schaffensvorgang die verderbliche oder doch bedrohliche Einmischung abstrakter Philosophie abgewehrt, dem Dichter als persönlichem Träger indessen das Recht zum Philosophieren zugestanden, ja nahegelegt. Otto Ludwigs Abwehr verwirft darüber hinaus auch für die Persönlichkeit des Künstlers die produktionsgefährdende Bemühung um eine Weltanschauung oder die Beschäftigung mit abstrakt-philosophischer Problematik. Während Hebbel bei aller Warnung vor dem nur Begrifflichen doch mit Bezug auf seinen Pantragismus sagen konnte: „Die Kunst ist die realisierte Philosophie, wie die Welt die realisierte Idee" (Schelling-Hegel), zieht Ludwig den scharf markierten Trennungsstrich: „Was in der Philosophie eine höhere Stufe, das ist in der Poesie eine niedere, weil das sinnliche Moment, das ihr (der Poesie) eigen ist, in jeder höheren Stufe der philosophischen Scala schwächer wird; die Anschauung, das Dramatische, das Psychologische darin ist immer mehr in Reflexion, Rhetorik und Dialektik zerbröckelt". Das Gegengewicht einer stärkeren Bin-

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dung durch geschichtsphilosophische Zusammenschau war Otto Ludwig nicht recht gegeben, während Hebbel über ausgeprägten historischen Sinn verfügte. So lebhaft Hebbels geschichtliches Interesse, so weitgreifend sein kunstphilosophisches Bestreben, so mannigfach seine Einzelbeiträge zur Deutung und Kritik der künstlerischen Produktion immer sein mögen: einen so unmittelbaren und vollbewußten Einblick in die Wuchsart des Kunstwerks und den Ablauf des Schaffensvorganges hat er nirgends geboten, wie Otto Ludwig es dort unternimmt, wo er — mit vereinzelt dastehender Ausführlichkeit — sein eigenes V e r f a h r e n b e i m p o e t i s c h e n S c h a f f e n so erläutert: „Es geht eine Stimmung voraus, eine musikalische, die wird mir zur Farbe, dann seh ich Gestalten, eine oder mehrere in irgend einer Stellung und Gebärdung für sich oder gegeneinander, und dies wie einen Kupferstich auf Papier von jener Farbe oder genauer ausgedrückt, wie eine Marmorstatue oder plastische Gruppe, auf welche die Sonne durch einen Vorhang fällt, der jene Farbe hat. Diese Farbenerscheinung hab ich auch, wenn ich ein Dichtungswerk gelesen, das mich ergriffen hat. . . . Wunderlicherweise ist jenes Bild oder jene Gruppe gewöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charakteristische Figur in irgend einer pathetischen Stellung; an diese schließt sich aber sogleich eine ganze Reihe, und vom Stücke erfahr ich nicht die Fabel, den novellistischen Inhalt zuerst, sondern bald nach vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation aus, schießen immer neue plastisch-mimische Gestalten und Gruppen an, bis ich das ganze Stück in allen seinen Scenen habe; dies alles in großer Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich verhält und eine Art körperlicher Beängstigung mich in Händen hat. Den Inhalt aller einzelnen Scenen kann ich mir dann auch in der Reihenfolge willkürlich reproduzieren, aber den novellistischen Inhalt in eine kurze Erzählung zu bringen, ist mir unmöglich. Nun findet sich zu den Gebärden auch die Sprache. Ich schreibe auf, was ich aufschreiben kann, aber wenn mich die Stimmung verläßt, ist mir das Aufgeschriebene nur ein toter Buchstabe. Nun geb ich mich daran, die Lücken des Dialogs auszufüllen. Dazu muß ich das Vorhandne mit kritischem Auge ansehen. Ich suche die Idee, die der Generalnenner aller dieser Einzelheiten ist, oder wenn ich so sagen soll, ich suche die Idee, die mir unbewußt die schaffende

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Kraft und der Zusammenhang der Erscheinungen war; dann such ich ebenso die Gelenke der Handlung, um den Kausalnexus mir zu verdeutlichen, ebenso die psychologischen Gesetze der einzelnen Züge, den vollständigen Inhalt der Situationen, ich ordne das Verwirrte und mache nun meinen Plan, in dem nichts mehr dem bloßen Instinkt angehört, alles Absicht und Berechnung ist, im ganzen und bis in das einzelne Wort hinein. Da sieht es denn ohngefähr aus wie ein Hebbelisches Stück.... (Es folgt die polemische Abwehr des Abstrakten und Reflektierenden im Hebbelschen Schaffen, das nach Ludwigs Meinung auf einer Vor- bzw. Mittelstufe stehen bleibt.) . . . Nun mach ich mich an die Ausführung. D E L S Stück muß aussehen, als wäre es bloß aus dem Instinkt hervorgegangen. Die psychologischen Züge, alles Abstrakte wird in Konkretes verwandelt". Im Bemühen, sich von Hebbels absichtsbetonter Gestaltungsart unzweideutig abzuheben, polemisiert Otto Ludwig auch weiterhin gegen Hebbels bewußt formulierende Charakterisierung: ,,bei Hebbel erzählen die Personen ihre Charakterzüge in kleinen Anekdoten". Demgegenüber wird gefordert, daß sich der „Charakter einer Person ohne ihr Wissen, ja wider ihren Willen zeigen" müsse. Otto Ludwig übersieht nicht das vereinzelte Vorkommen von Charakteren, bei denen jenes „Sichselbstbeobachten eben ein individueller Zug ist"; wehrt indessen die Verallgemeinerung ab. Bei dieser Gelegenheit stößt er zu der prinzipiellen These vor: „Des Philosophen, des Mannes der Wissenschaft ist es, das Gesetz aus der Fülle seiner Erscheinungen herauszuschälen; des Dichters, das Gesetz wieder hinter der Erscheinung zu verbergen". Das nähert sich ungewollt rationalistisch-aufklärerischen Anschauungen. Die konstruktive Hilfskonzeption des „Plans" darf also im vollendeten Kunstwerk nicht erkennbar bleiben. Vielmehr muß eine zweite Rückübertragung in die ursprüngliche Reflexionsbefreitheit erfolgen, etwa in der Weise, wie Heinrich von Kleist in seiner Abhandlung „Über das Marionettentheater" den Weg über die Erkenntnis wieder hatte einmünden lassen in die Ausgangsstellung des Primitiven und Naiven. Akustische und visuelle Sensationen sichern diese Unmittelbarkeit; Otto Ludwig spricht geradezu von einem „Farben- und Formenspektrum". Das übermächtige Hineinschwellen von ,,Detail"-Zügen „in üppigster Anarchie" hat es seiner überprüfenden Kontrolle als ratsam erscheinen lassen, später den Strukturplan möglichst vorweg zu sichern, 19

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so daß jetzt, „wo ich von . . . den Gesetzen der Gattung (ausgehe), wie sie mir ein sorgfältiges Studium gelehrt", jene akustischvisuelle Sensation dem Entwerfen des Strukturplanes folgt. Das sorgfältige Studium aber stellt in seiner Methode nicht im strengen Sinne ein reines zweckbefreites Theoretisieren dar. Es richtet seine Zwecke in erster Linie nach innen auf Selbstprüfung, Selbsterziehung, Selbstvollendung. Eine tiefere Kunstdeutung (bes. Shakespeares) zielt ab auf erhöhte eigene Kunstübung. Kunsterkennen, Kunstverstehen sollen ihn zu einem gesteigerten Kunstkönnen führen. Seine theoretischen Forderungen waren vor allem gedacht als Anforderungen an sich selbst, an das eigene Schaffen. In der Theorie suchte er sich mühevoll die Stufen aufzuschichten, auf denen er als Künstler den sicheren Aufstieg erzwingen wollte, ähnlich wie später Arno Holz. Und zwar will er vom bewunderten und kanonisierten Vorbilde (Shakespeare) gewinnen: einmal das Handwerkliche, das untergeordnet, aber unentbehrlich als Voraussetzung in jeder Leistung steckt, zum andern Klärung und Befreiung von quälenden Zweifeln; weiterhin von bereits vermeintlich oder wirklich eingeschlagenen Irrwegen, aber schließlich auch das Wesenhafte, die immanenten Gesetzlichkeiten. Dieses vielseitige Wollen hat Ludwig selbst wiederholt zum Ausdruck gebracht, besonders in dem programmatischen „Mein Wille und Weg". Aus den angedeuteten Absichten ergab sich ohne weiteres die induktive Methode, die aus empirischen Kunstgegebenheiten Folgerungen zieht. Dadurch ist die Theorie vielfach untermischt mit gefühlsmäßigen oder kritisch betrachtenden Eindruckswiedergaben. Neben den positiven Instanzen als Wegweiser werden negative Kriterien gleichsam als Wegwarner (Schiller, z.T. auch Goethe als Dramatiker, Lessing, Hebbel) aufgestellt, um die rechte Richtung nicht zu verfehlen. Dementsprechend erscheint das Theoretisieren oft mit werturteilender Kritik durchsetzt. Die Theorie war an das jeweilige ästhetische Erleben gebunden, also durch den Rezeptionsvorgang bedingt, blieb daher in weitgehendem Maße fragmentarisch, episodisch und „zufällig", wenn auch nicht eigentlich aphoristisch im romantischen Sinne. Das Episodische wiederum verursacht die Wiederholung ähnlicher Erwägungen an verschiedenen, oft unvermuteten Stellen, zu verschiedenen Zeiten. Es darf eben nicht vergessen werden, daß die Poetik Ludwigs im Nachlaß ruhen blieb, also die letzte klärende Durchformung und Anordnung entbehrt. Trotz allem bleibt sie beson-

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ders wertvoll, weil ein ausübender Künstler in ihr seine Kunst ausdeutete und weil er gelegentlich einen Blick in den selbsterlebten Schöpfungsvorgang tun läßt. I d e a l i s m u s u n d R e a l i s m u s : Das Ringen um eine geschlossene Stilform kennzeichnet sein theoretisches Wollen ebenso wie sein Schaffen; aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit im Gestillten, aus dem Entbehren-Müssen eines festen Stil-Haltes erwuchs erst recht eigentlich die Theorie. Abgelehnt werden die isolierten Richtungen, die Ludwig als Extreme sieht: der „subjektive, falsche Idealismus" mit seinem jünglingshaften Pathos der Weltfremdheit einerseits und der „Naturalistische Realismus" mit seinem nüchtern-flachen Kleben am Wirklichkeitsstoff andererseits. Die Hauptabgrenzungsstellen: „ D e r B e g r i f f d e s p o e t i s c h e n R e a l i s m u s f ä l l t k e i n e s w e g s m i t dem N a t u r a l i s m u s z u s a m m e n ; o d e r m i t dem d e s n a t u r a l i s t i s c h e n R e a l i s m u s d e r k ü n s t l e r i s c h e " (Realismus) und andererseits: „Der Hauptunterschied des künstlerischen Realismus vom künstlerischen Idealismus ist, daß der Realist seiner wiedergeschaffenen Welt soviel von ihrer Breite und Mannigfaltigkeit läßt, als sich mit der geistigen Einheit vertragen will . . .". Idealismus ist nicht zu verwechseln mit Otto Ludwigs Sonderbegriff der „Idealität". Ebenso verwahrt sich Ludwig ausdrücklich gegen die verwirrende Parallelsetzung von realistisch und idealistisch mit naiv und sentimental(-isch). Wenn rein zahlenmäßig die Abwehrstellen gegen den naturalistischen Realismus zu überwiegen scheinen, so erklärt sich dies aus dem erwähnten selbstkritischen Erziehungsstreben, das hier besonders kräftige Selbstkorrektur für nötig hielt; denn „Ich hatte mich im Naturalismus verfahren . . ." (An Auerbach, n . 4. 1856). In spekulativen und subjektiven Idealismus zu verfallen, hatte er weniger zu befürchten; auch war nach dieser Gefahrenzone hin sein überall fühlbares Widerstreben gegen jede Art hohlen Pathos' und „leerer Phrasen" von vornherein stark genug entwickelt. Der überwiegende Teil seiner Schiller-Polemik deckt sich zudem mit dieser Bekämpfung verfälschender Idealisierung. Für die Gegenüberstellung von Idealismus und Realismus ist weiterhin besonders aufschlußreich der Abschnitt Hauftunterschiede zwischen Shakespeare und Schiller. Prüft man im Klärungsversuch der zwiespältigen Haltung schärfer diese Opposition nach, so ergibt sich —• wie schon die Attribute „subjektiv" und „naturalistisch" andeuten —, daß Ludwig weder 19*

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den Idealismus noch den Realismus wirklich schlechtweg verwarf, sondern eben nur ihre spezifischen Modifikationen, ihre Übersteigerungen. Hinsichtlich des Idealismus geht man kaum fehl in der Annahme, daß der abstoßende Eindruck des SchillerEpigonentums rückwirkend wertsenkenden Einfluß gewann auf sein herbes Urteil über Schiller selbst. Hinsichtlich des naturalistischen Realismus lag immerhin manches von Hebbel vor, was Ludwig so sah; aber man kann z.B. auch denken an das Kapitel „Brandgasse Nr. 9" in Gutzkows .Ritter vom Geist' (1850) u.a.m. I d e e l l e r (poetischer) R e a l i s m u s : Aus der Ausschaltung der Extreme läßt sich rein logisch folgernd die Bevorzugung einer mittleren Linie erschließen, die sich zwischen beiden Flügelbegriffen bewegen muß. Ihr tatsächliches Vorhandensein wird von Otto Ludwigs Theorie überall bestätigt, auch grundsätzlich: „Diese beiden Richtungen sind einseitig, der künstlerische Realismus vereinigt sie in einer künstlerischen Mitte". So bedeutete diese Mittellinie zugleich eine Vermittlungslinie und Austauschstraße im Sinne einer Synthese aus den beiden Antithesen, wobei diese ihre brauchbaren Elemente für das erstrebte Schmelzprodukt hergeben sollten, und zwar der Realismus den Wirklichkeitsstoff als Träger, der Idealismus den geistigen Gehalt als Getragenes. K. Adams ist durchaus auf der richtigen Fährte, wenn er diese theoretische Forderung des künstlerischen Realismus präzisiert in der nur scheinbar paradoxen Form als „idealistischen Realismus". Da wir aber in „idealistisch" —· ähnlich wie Ludwig — zugleich das schönfärbende, pathosfreudige Ingredienz einzubeziehen pflegen, Ludwig aber diesen Bestandteil gerade ausgemerzt sehen wollte, so trifft das, was Ludwig meinte, vielleicht noch unmittelbarer die Formulierung i d e e l l e r R e a l i s m u s . Scheinbar subtile Abstufungen dürfen hier nicht abschrecken, wenn dadurch bessere Deckung und Deutung möglich wird, und im Grunde ist diese Nuance sogar recht wesentlich. Denn sie sagt: nicht das Ideale wollte Ludwig retten für seinen Realismus, sondern das Ideelle. Schon der erwähnte Begriff der „Idealität" weist in diese Richtung. Idealität nämlich findet Ludwig bei Shakespeare als positiven Wert und grenzt sie gegen Schillers Idealismus ab. Nicht Muster (Ideal) soll der Charakter sein, sondern er soll ein festes (ideelles) Zentrum haben: „Dieser Kern ist die Idee (nicht das Ideal!) des Charakters". Ja, Ludwig s u c h t geradezu nach einer möglichst treffenden Abstufung und Abgrenzung von „ideal":

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„Schillers Charaktere sind selten ideal, d . h . künstlerisch (!) ideal". Daß man statt dieser Umschreibung „künstlerisch ideal" durchaus ideell setzen darf, beweist neben dieser auch die gleich darauf folgende Stelle über die Idealität von Ort und Zeit. Ein Satz wie: „Seine (Shakespeares) Behandlung der Zeit ist eine ganz ideale" schaltet bei „ideal" alle Nebenwerte aus und meint ganz deutlich „ideell", rein geistig. In „ideal" steckt ein Stimmungselement und Wertteil (Muster), die Ludwig als störend empfindet. Besonders klar läßt sich das ablesen an jener Polemik gegen die Gleichsetzung der Begriffspaare naiv und sentimentalisch (Ludwig sagt sentimental und deutet so Schiller fälschlich um) mit realistisch und idealistisch. Ideal sei nicht gleich naiv; denn Schiller sei sentimental; es sei aber nicht „Idee und Sentiment einerlei". Er meint also auch hier mit ideal das Ideeliche, Ideelle und sagt grundsätzlich: „Der w a h r e ideale Dichter stellt in seinem Stoffe die Idee (nicht das Ideal) dar, d. h. er entwickelt die Idee, die im Stoffe (bereits) liegt"; er hat also zu sein: ideeller Realist, und da dies zugleich das Wesen des Poetischen überhaupt ausmacht: poetischer Realist. Ludwig würde demnach in jener ersten Debatte Schiller-Goethe, die zugleich die Annäherung brachte, Goethes Meinung vertreten haben, die das Geistige, die Idee aus dem Stofflichen ableiten wollte; er scheint das selbst zu spüren. Da er aber —• wie nachzuweisen sein wird — trotz aller Abwehr der Schönfärberei dennoch vom poetischen Realismus eine leicht verklärende Milderung des Realen forderte, so nähert er sich doch unbewußt und ungewollt andererseits Schiller, wie denn auch in der Theorie unerkannte, mittelbare Zusammenhänge (etwa über Schelling vgl. Cassirer) mit Schiller trotz aller Gegenwehr bestehen. Sein Ringen reiht sich damit in die große Linie jenes Kampfes ein, der über Goethe-Schiller hinaus eine Verschmelzung ihres Kunstwollens erstrebte (vgl. Kleist, Hebbel, in gewissem Grade selbst Grabbe). Es ist auch der alte Verschmelzungsversuch der „Alten" mit den „Neuen" auf der Linie Shakespeare, der „die Geistigkeit der neuen mit der Naivität der alten Welt" verbinde. Nur die überragende Gestalt des Genies vermag Ideenhimmel und Erdstoff zusammenzuzwingen, und so scheint bisher nur in Shakespeare eine Verwirklichung des poetischen Realismus gegeben, weil er, „wenn auch den Scheitel am Himmel, doch immer den Fuß stramm auf der Erde" hat.

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N a t u r n a c h a h m u n g : Jene leicht verklärende Milderung des Wirklichen, die im dichterischen Schöpfungsprozeß statthaben soll, tritt in der S t e l l u n g n a h m e z u r N a t u r n a c h a h m u n g besonders deutlich zutage: „Alle Faktoren der gemeinen Wirklichkeit müssen in Faktoren poetischer, künstlerischer Wirklichkeit umgesetzt werden". Der Dichter hat „ohne von der Nachahmung der Wirklichkeit in der Tat abzugehen . . . schöne, geistgeschwängerte (!) Wirklichkeit zu bieten", kein kopiertes Abbild der Natur, sondern „ein künstlerisches Spiegelbild derselben". Diese Milderung müsse etwa der psychologischen Funktion der Erinnerung entsprechen und keine naturalistischen Momentaufnahmen, sondern leicht gedämpfte und verschleierte Erinnerungsbilder hervorbringen und bevorzugen; denn die „poetische Wahrheit" sei „analog dem Bilde der Erinnerung". Indessen: — und hier sucht Ludwig die an sich gar nicht allzu scharfe Grenze gegen unwahre Idealisierung zu sichern und zu verstärken — diese Abdämpfung oder Erhöhung des Naturbildes hat sich von schönfärbenden, musterfordernden Ideal-Phantasien streng fernzuhalten. Denn der Idealist liebt nur seine „idealisierte Vorstellung" vom Gegenstand; der Realist aber liebt den Gegenstand mit allen „seinen Mängeln und Schwächen". So hat denn auch die Poesie „ohne . . . zu verfälschen" der Wirklichkeit gegenüberzustehen, aber doch auch nicht naturalistisch wiederholend, sondern etwa — das ist eine andere Erläuterung neben der Erinnerungsparallele — „wie die Metapher dem eigentlichen Ausdrucke". Der ideelle Realist bleibt der zu fordernde Dichtertypus: „Er macht den seelischen Naturlaut geistig durch Gehalt". Wie der verlogene Einschlag idealisierender Art, so ist auch alles Nebensächliche untergeordneter Art bei dieser geistigen Nachbildung auszuschalten: „Die Poesie gründet sich auf Nachahmung, (dieser alte Satz hält sich also mit großer Zähigkeit) ; aber sie ahmt nur das Wesentliche nach, sie wirft das Zufällige weg". Neben der Milderung steht so zugleich die Konzentration, wenigstens im Wesen der Nachahmung; wenn auch die Technik, besonders im Drama, nach Ludwig oft eine Erweiterung der Stoffquantität erfordere. Uns kommt hier vieles vertraut vor. Manches wiederholt sich eben notwendig im langwierigen Loslösungsprozeß vom starren Naturnachahmungs-Axiom. Vieles mußte immer wieder neu erobert werden, weil man die Vorläufer nicht kannte oder auswertete.

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So erinnert es etwa an Joh. E. Schlegels Ähnlichkeitsbegriff, bei dem das Unterbewußtsein einer Täuschung aufrechterhalten blieb, wenn Ludwig, der die „vollständigste Illusion" als utopisch, als unmöglich und auch unerwünscht hinstellt, fordert: „Die Natürlichkeit und Wirklichkeit darf nie so weit getrieben werden, daß wir sie nicht mehr mit dem klaren Bewußtsein anschauten, sie sei nur Nachahmung". Aus Joh. E. Schlegels vorsichtigem Unterbewußtsein ist also immerhin verschärft das klare Bewußtsein geworden. Mehr noch erinnert an Schelling und Solger, die Ludwig selbst als Gewährsmänner heranzieht, oder an den Romantiker A. W. Schlegel (ζ. B. betr. der Naturnachahmung). Daß der Natur, nicht die Natur nachgeahmt werden soll, eines der vielumkämpften und doch so unscheinbaren Ergebnisse, steht bei Ludwig als Kerngedanke fest in besonders deutlicher Prägung: „Dem Dichter liegt es ob, nicht was die Natur, sondern wie die Natur schafft, ihr nachzuschaffen". Dieser allgemeine Oberbegriff gibt nach den angedeuteten Modifikationen zugleich die grundlegende Zusammenfassung. Das Besondere und T y p i s c h e : Der Wert des Besonderen, Gesonderten, Individualisierten steht für den poetischen Realismus fest. Aber er erleidet eine Einschränkung. Individualistisch erscheint ja auch gerade der verwerfliche subjektive Idealismus (Ludwig trennt nicht klar Individualismus und Subjektivismus). Es ist dies ein falscher Idealismus, weil er die eigene Individualität als Idealsetzende Macht vordrängt und aufdringt. Daher ist Erfassung des im Individuellen Gesonderten nicht das Wertvollste, Zielgebende, sondern nur eine Vorstufe. Im Individuellen und überhaupt im Besonderen steckt nämlich ein Wesenskern (Idee des Charakters): das ist das Typische, das über die Vereinzelung (Hebbel) hinweggreift., ,Das Typische aber ist die Zusammenfassung vieler (Einzel-)Züge". Für Winckelmannwardas eineForm des „Idealischen", die andere etwa das Urbild Piatos. Damit mündet dieser Begriff 0 . Ludwigs ein in das Moment der Konzentration. Ludwig spricht denn auch geradezu von einem „geistig konzentrierten Phantasiebilde". Zugleich fügt sich hier die anscheinend ein wenig abseitige Konzeption vom Typischen ein in die Linie des Ideellen. Der geistige Gehalt im Einzelnen, der in ihm latent ruhende Teilfaktor des Allgemeinen ist das Typische. Wie kann nun der Dichter dieses Typische gestalten und zur sinnlichen Vorstellbarkeit bringen? Er darf nicht vom spekulativ-deduktiv ge-

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wonnenen Typischen ausgehen (ein abstraktes Ideal führt zur Unwahrheit) und es dem an sich nicht adäquaten Real-Besonderen nur als nachträgliches Glanzlicht aufsetzen. Das Einzelne und Allgemeine, das Individuell-Gesonderte und TypischGesammelte darf nicht auseinandergerissen werden; denn beide stehen in organischem Zusammenhang. Ludwig vergleicht in diesem Sinne Shakespeare einer Eiche: organische Einheit des Wuchses; Schiller einem geschmückten Tannenbaum: unorganisch aufgesetzter Schmuck; Sentenzen. Des Idealisten Fehler liegt darin, daß er nicht organisch entwickelt, sondern willkürlich zusammenträgt; sein Weg führt also von „außen nach innen". Der rechte Weg hat aber von außen nach innen zu verlaufen in der Weise, daß der Schaffende auch hier von der unmittelbaren Anschauung der Wirklichkeit ausgeht, dann erst das Einzelne erfaßt, daraus das Typische gewinnt, dieses Typische sinnlich erkennbar wiederum zurückversetzt in seine Einzelmodifikationen (,,Verbesonderung des Allgemeinen" nennt es Ludwig). Er darf den Umweg nicht scheuen, der eine Art von Kreislauf bzw. Spirale darstellt, vom Empirischen ausgehend, ins Typische vorstoßend, zum Empirischen wieder einschwenkend, aber mit dem Neuerwerb des Typischen, es auf dieser Stufe verschmelzend. Diese letzte Stufe nennt Ludwig deshalb auch den wieder „individualisierten Typus". Den für die Dichtung entscheidenden abschließenden Teilvorgang: die Rückübertragung des aus dem empirisch Realen gewonnenen Typischen in das ideell Reale hat er selbst scharf umrissen: „Wie es (d. Typische) aus vielen einzelnen, besonderen Erfahrungsfällen genommen ist, so muß (wiederum) das Mannigfaltige vieler einzelner Fälle (vom Dichter) zusammengestellt werden, um diesen Typus in eine Anschauung zu pressen". Deutlich wird hier das Grundproblem berührt: wie ist ein SeelischGeistiges für die sinnliche Vorstellung greifbar zu machen, ein Problem, dessen Möglichkeit Ludwig zeitweise als fraglich erschien, dessen Lösung aber im Begriff des Typischen gefunden wird. Zugleich wird erkennbar, wie dieses Typische in das Ideelle einmündet; denn schon an zitiertem Orte wird es als das Wertvolle konfrontiert mit dem wertlosen „abstrakten Ideal", das nur zur „leeren Phrase" verleite. Noch überzeugender dort, wo er das ganze „Verfahren" Shakespeares aus dem Streben nach dem Typischen ableiten zu können glaubt und dementsprechend zu-

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sammenfaßt: „Das ist die einzig statthafte Idealität des Dramas wie aller Poesie. Mit der reintypischen Behandlung ist die Geschlossenheit, Ganzheit, Einheit... und Notwendigkeit, d. i. die poetische W a h r h e i t gesetzt". Die Dichtung drängt zum Typus in analoger Weise wie die Philosophie zur Idee. DerTypusbegriff soll die Brücke schlagen helfen über die Kluft zwischen Stofflichem und Geistigem, Ideellem und Realem. So erst wird poetischer Realismus möglich: „ D a d u r c h h a u p t sächlich e n t s t e h t Poesie, daß im T y p u s s t e t s der einzelne F a l l und im einzelnen F a l l e der T y p u s zugleich erscheint, zu dem er gehört". Es handelt sich um wechselseitige Durchdringung und Stärkung durch „dies stete Verbesondern des Allgemeinen und Verallgemeinern des Besonderen!" Es handelt sich durchaus um ein organisches Glied im ideellen Realismus. Das Typische ist im Grunde die sich im Besonderen manifestierende Idee: das Ideelle im Besonderen, das Wesenhafte, Allgemeine, die im sinnlich Realen sich manifestierende und modifizierende Idee. Es ist ein I d e e l l - T y p i s c h e s , kein abstrakter Ideal-Typus. Was Ludwig verwirft, ist — weiter gefaßt — letzten Endes die Musternorm, die vom idealistischen Wollen bestimmte Sollform (Ideal-Typus). Was er fordert, ist die Wesensnorm, die vom realen Erfahren und vom geistigen Erhöhen gewonnene und erlöste ideelle und reale Seinsform (Real-Typus). R e f l e x i o n : Die Theorie verrät, daß Otto Ludwig stark denkerisch eingestellt war, zugleich aber, daß er seine künstlerische Gefährdung durch Reflexion durchaus erkannte. Schiller oder Lessing und Hebbel sind ihm warnende Beispiele. Ja, er sah im Hang nach zersetzender Verstandeserörterung eine Gefahr seiner Zeit überhaupt. „In der Schwäche des intuitiven und in der Uberstärke des analytischen Verstandes liegt das poetische Übel unsrer Zeit". Vor allem aber wendet er sich gegen die künstlich und unorganisch, nachträglich erst aufgesetzten Reflexionslichter, gegen jede Form des Spekulativen und Abstrakten. Es gibt Stellen bei Ludwig, die an Kleists „Marionettentheater" und dessen „Sündenfall der Erkenntnis" erinnern: „Einmal in den Apfel der Erkenntnis gebissen, muß man weiter und weiter", oder „ K ö n n e n ist wiederum in I n s t i n k t verwandeltes Wissen". Aber wie schon durch die Hintertür der „Idealität" das reflexive Element in Ludwigs Veranlagung Einlaß sucht und findet in seine Kunstanschauung, so vermag er es auch sonst nicht mit

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der rigorosen Konsequenz Kleists auszuschalten. Vielmehr: „Reflexion hilft zur Idealität. . . indem wir über die Sache reflektieren, stellen wir sie aus uns heraus". Reflexion gibt Abstand, Überlegenheit. Nur das wird an Abwehr beibehalten, daß solche Reflexion nicht subjektiv vom Dichter ausgeheckt und dann der Dichtung aufgeflickt werden darf als wesensfremder Zusatz; vielmehr objektiv am Stoff muß das Denkerische organisch in Erscheinung treten als „dargestelltes (nicht angestelltes) Reflektieren". Der Zusammenhang mit dem ideellen Realismus, etwa mit dem Typusbegriff, ist ohne weiteres klar: nichts darf in den Stoff hineingedeutet werden, wohl aber darf er geistig ausgedeutet werden (Annäherung des Realismus an den Symbolismus). Doch erkennt man die Gefahr für den Dichter, wenn Ludwig allzu zuversichtlich meint: „Dieses Denken wird das Gefühlsvermögen nicht verdunkeln, vielmehr die Gefühle länger und stärker wirksam erhalten". Jedenfalls wird es vielfach als die Tragik Otto Ludwigs angesehen, daß sein kunsttheoretisches Denken, wenn nicht sein Gefühlsvermögen, so doch sein (an sich schon nicht übermäßig sicheres) Schaffensvermögen verdunkelt und gehemmt habe. Darüber Näheres an anderer Stelle. Es mag immerhin etwas wie tragische Ironie darin liegen, daß er im Bemühen, im Dichterischen schützende Grenzen gegen die Reflexion zu finden und aufzurichten, schließlich kaum noch den Weg zurückfand vom Erkennen zum Können, von der Kunstdeutung zur Kunstübung. Die Ahnung hat er selbst ausgesprochen: „Das Schlimmste ist, daß wir Jetzigen unsre beste Kraft im Wegsuchen verlieren müssen. . .". Die eigentliche Ursache aber der unsicheren Gebrochenheit seines Schaffensimpulses oder seiner werkvollendenden Kraft ist schwerlich im bloßen Hang zum Theoretisieren zu suchen, wenn anders man nicht Ursache und Wirkung verwechseln will. G e n i e b e g i f f : Der seit der Geniezeit im Grundsätzlichen festliegende und nur noch in der Anpassung an die Zeitrichtungen sich leicht abwandelnde Geniebegriff hat Ludwig nicht besonders stark beschäftigt. Er erlebte sein Urbild der Genialität gleichsam gesichert in Shakespeare. Das Genie war für ihn auf dichterischem Gebiete der Verwirklicher des poetischen Realismus, der souveräne Beherrscher und Verschmelzer von Geist und Stoff (Annäherung an Jean Paul). Immerhin sei auf eine Stelle aus „Mein Wille u n d Weg" kurz hingewiesen, wo das Handwerkliche mit seinen

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technischen Mitteln gewürdigt, dann aber mit dem Hinweis, daß das wahrhaft Künstlerische erst über diesem Handwerklichen beginne, festgestellt wird: „Das Genie bedarf ihrer (der technischen Mittel) nicht, auch nicht der Rückführung des Wertes der einzelnen Kunstmittel auf ihr jedesmaliges Verhältnis zum Kunstzwecke (absichtsbefreit); es bedarf keiner besonderen Vorschrift; denn das ist eben sein Wesen, daß es in einer und derselben Anschauung (Intuition?) alle Bedingungen der Gattung und alle nach ihrem relativen Werte umfaßt". K ü n s t e und Gattungen. In Gegenwehr gegen die Grenzaufhebung oder doch Verwischung durch die Romantik, in polemischer Abwehr auch der Bemühungen Richard Wagners um das,, Gesamtkunstwerk der Zukunft", fordert er (obwohl in jungen Jahren der Musiknähe ihm selber so etwas wie ein Musikdrama vorschwebte) klare Scheidung der Künste, da das Vermischen jede einzelne in ihrem Sonder- und Kernwesen notwendig beeinträchtigen muß. Dabei teilt er sein Gebiet der Dichtung gleichsam wiederum in Sonderkünste auf, so wichtig ist ihm die Wahrung der Gattungseigenheit. Er gelangt absichtsvoll zu der Reihe: Baukunst, Skulptur, Malerei, Drama, Epik, Lyrik, Musik, wobei im Anklang an (Lessing-) Harris-Herder „Zeitkünste", die die „Seele geben", von bildenden Künsten, die den Leib geben, abgehoben werden. Das Drama nun in seiner bevorzugten Mittelstellung gebe den „beseelten Leib". Hier interessieren jedoch besonders die Dichtgattungen an sich. Und da ergibt sich als das wesentliche Neue und relativ Originale in Ludwigs Stellung, was ihn zugleich von dem breiten Strom vieler Theoretiker vor ihm und nach ihm abweichen läßt, daß er nicht wie diese in der Dramatik ein bloßes Mischprodukt aus Epik und Lyrik sieht, sondern das Drama gerade reinhalten will von diesen schwächenden und gattungsentartenden Einflüssen: „. . . es würde dies (fälschlich) nur eine andre Art epischer und lyrischer Dichtung werden, aus diesen beiden zusammengesetzt.. .". Allerdings wird dabei die Gattungsvorstellung eigentlich nur nach der negativen Seite der Reinhaltung von epischen und besonders lyrischen Einschlägen in der G e s t a l t u n g s a r t strenger herausgearbeitet, während hinsichtlich der Veranlagung (Talent) in gewissem Grade ein Zusammentreffen beider Talentrichtungen vorausgesetzt wird, wobei aber doch wieder eine wechselseitige Modifikation, nicht eine einfache Addition ge-

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fordert wird: „Die extensive Seite repräsentiert der Epiker, die intensive der Lyriker; der Dramatiker beide, (aber!) die eine durch die andre modifiziert". Im übrigen will diese Stelle überhaupt mehr nach dem subjektiven Erleben 0 . Ludwigs bei seinem Schöpfungsvorgang (also als subjektiv geltend) bewertet werden, nicht als Erkenntnis von objektiver Geltung, wie er denn gleich darauf von seinen persönlichen Konzeptionserlebnissen (beim „Erbförster") berichtet. Festzuhalten ist weiterhin, daß hier ausdrücklich nur die Konzeptionsart des Dichters je nach seiner Hinneigung zu einer der Gattungen, nicht aber die Kompositionsund Wesensart der Gattungen an sich charakterisiert werden soll. So erhält die Unterscheidung ihren relativen Sinn: „Der Lyriker schaut Zustände, der Epiker Gestalten, der Dramatiker die Zustände von Gestalten" (ebenda). Das gilt aber nur für die ersten Stadien der Konzeption; und diese sind natürlich individuell bedingt. Im ganzen kann kein Zweifel darüber sein, daß Ludwig auf Reinhaltung der Gattungen dringt. Allgemein gehört, wie auch die Hauptteile seiner Theorie (Shakespearestudien, Romanstudien) verraten, seine überwiegende Teilnahme der Dramatik und Epik, während die Lyrik trotz Würdigung ihrer berechtigten Eigenart merklich abfällt. Er mußte notwendig in der Lyrik, besonders weil er vor allem die subjektive Stimmungslyrik im Auge hat, das gattungsgesetzlich erkennen und anerkennen, was ihm die Gesamtpoesie in Form des poetischen Realismus zu gefährden schien, eben die gefühlsmäßige, unsachliche Subjektivität, den „individualistischen Idealismus". Es kam entwicklungsgeschichtlich hinzu, daßdie Lyrik (in der Form, nicht im Inhalt) amspätesten den Weg zum Realismus fand und eben aus ihren gattungsmäßigen Voraussetzungen finden konnte. Noch der spätere Naturalismus der achtziger Jahre hatte hier seine stärksten Hemmungen (die Form der „Modernen Dichtercharaktere" ist ebensowenig realistisch wie das „Buch der Zeit"). Das Sentimentale, wie es Ludwig im Lyrischen ausgeprägt sah, störte seine Programmlinie. F ü r L e b e n s - u n d G e g e n w a r t s n ä h e , gegen T e n d e n z : Angesichts der Opposition gegen das Junge Deutschland mag anfangs die etwas zweckhaft anmutende Deutung der Kunst als Vermittlerin von Lebenserfahrung und Menschenkenntnis überraschen. Eine Bemerkung wie: „Überhaupt der Zweck der dem Leben zugewandten Kunst — Lebenskunst zu lehren". Selbst-

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erkenntnis durch Menschenkenntnis finden zu helfen: das könnte fast bei Wienbarg stehen. Ähnlich die andere, womöglich noch bündigere Bemerkung: „Diese (Shakespearesche) Welt ist uns eine Schule für die wirkliche" Welt. Aber derartige Wendungen erfolgen ganz offenbar im Gegenstoß gegen den lebensfremden Idealismus. Und wenn auch diese Linie im Grunde gar nicht so sehr von der jungdeutschen abweicht, so sucht doch Ludwig eine eigene Modifikation der Lebensnähe, indem sie sich auf das Allgemeine beschränken und keinerlei Einzeltendenzen politischer Art poetisieren soll, was abgelehnt wird wie alle Schein-Poesie, die zur Publizistik entartet. Immerhin gelten als „realistische Ideale . . . die Ideale unserer Zeit". Damit ergibt sich ein Standpunkt tendenzfreier Lebens- und Gegenwartsnähe. Das W u n d e r b a r e und P h a n t a s t i s c h e . Seitdem das Anrecht der freischöpferischen Phantasie gesichert worden war, trat das Problem des Wunderbaren im Interessenbereich der Poetik naturgemäß zurück, wenn sich auch bis in die neueste Zeit hinein dem Entwicklungswandel des Wahrscheinlichkeitsbegriffs nachspüren ließe. Das Attribut poetisch sichert auch im ideellen Realismus dem Wunderbaren eine verhältnismäßig starke Geltung. Die Art, wie diese Geltung eingeschränkt wird, erinnert bis in Einzelheiten hinein an Tieck. Das Wunderbare muß hinreichend vorbereitet werden, die Phantasie des Aufnehmenden für die anspruchsvolle Illusion hinreichend aufnahmefreudig gestimmt werden; die Wahrheit der Charaktere, der Gestalten, die das Wunderbare erleben, muß uns günstig, gläubig für das Wunderbare machen, das zugleich als das in eine Alltagswelt hineinragende, schimmernde Außerordentliche der kompositionellen Kontrastwirkung dient. „Wie ein Rätsel" soll es in eine an sich ganz natürliche Welt hineinragen; der nüchterne Verstand ist einerseits „zweckmäßig zu verdunkeln", das Wunderbare andererseits abzudämpfen durch ratsame Rückverlegung in die Vorgeschichte, so daß es nur in seinen Nachwirkungen spürbar wird. Eine andere Möglichkeit liegt in der Steigerung wirklicher Wesen zu Mittelwesen zwischen einer wirklichen und einer phantastischen Welt, wobei überdies das Phantastische „fortwährend durch ein wirkliches Element balanciert werden" muß; eine gewiß wertvolle Beobachtung, die man vielfach in der Gestaltungsart phantastischer Dichtung bestätigt findet (Ε. T. A. Hoffmann, den Ludwig selbst nennt; aber etwa auch Dostojewski, Ε. A. Poe

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u. a.). Um das Phantastische glaubhaft zu machen oder doch eindrucksvoll, wird gleichsam eine vertrauenerweckende Bürgschaft geboten in der peinlichen Exaktheit der Schilderung (Inhaltsphantastik verschmolzen mit real. Formgebung). Andere Möglichkeiten für die künstlerische Auswertung des Wunderbaren bieten der Traum oder das Überwirkliche des Humors. Überhaupt scheint Ludwig im Zusammenhange mit der Vermittlungsstellung des poetischen Realismus derartige Mischformen von Natürlichem und Übernatürlichem zu bevorzugen, auf welchem Wege dann auch „das Wunderbarste völlig wahrscheinlich" wirken könne. Das Wunder der Wirklichkeit steht dem „poetischen" Realisten jedenfalls weit näher als die romantische Wirklichkeit des Wunders. Mit Hilfe des Wunders der Wirklichkeit suchte vollends L u d w i g F e u e r b a c h (1804—72) die Wirklichkeit des Wunders zu entthronen, indem er die Religionsphilosophie in Anthropologie, „Naturalismus" und Neumaterialismus hinüberbildete. Zugleich wahrte er Fühlung mit der Welt des Herzens vor allem durch Einbau einer Art von Emotionstheorie. Sein a n t h r o p o l o g i s c h e r R e a l i s m u s korrespondiert in vieler Hinsicht mit dem poetischen und ideellen Realismus. Die Fragen des Verhältnisses von Natürlichem und Übernatürlichem beschäftigten ihn nicht wie Otto Ludwig vom Kunsttheoretischen, sondern vom Religionsphilosophischen aus. Angesichts der bekannten Einwirkung Feuerbachs auf Gottfried Keller dürfte es angebracht sein, an dieser Stelle und also noch vor der Würdigung der Kunstanschauung Kellers einige Bemerkungen über Feuerbach vorauszuschicken. Es darf aber von vornherein betont werden, daß derartige Einflüsse — wie etwa auch auf Herwegh — nicht im kunstanschaulichen, sondern im weltanschaulichen Bereich liegen, hier also nur skizzenhaft berührt werden können. Denn weit weniger als etwa Hegel oder Schopenhauer oder später Nietzsche hat sich Ludwig Feuerbach über Probleme der Kunst geäußert. Nicht sowohl an Hegels Ästhetik knüpfte er an als vielmehr an Hegels Naturphilosophie, indem er erkannte, daß Hegels „Anderssein" (der Natur) letztlich eine Verlegenheitslösung geblieben war. Vom einstigen Schüler und Anhänger Hegels hatte sich der frühere Theologe (Theologe aus eigenem Antrieb) Feuerbach immer weiter fortentwickelt, bis er sich voll bewußt von ihm kritisch distanzierte in der Schrift „Zur Kritik der Hegeischen Philosophie" (1839). Er ersetzte dabei im Gesamt seiner Entwick-

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lung den Hegeischen Pan-Logismus durch einen Feuerbachschen Pan-Anthropo-Logismus. Kennzeichnend dafür ist (ζ. B.) der Umstand, daß er seinen frühen anonym erscheinenden „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" (1830), die seine Dozentenlaufbahn endgültig zum Scheitern brachten und alle späteren Versuche, neu Fuß zu fassen, lahmlegten, etwa eineinhalb Jahrzehnte später eine Schrift nachsandte, die das Anthropologische ganz bewußt in den Titel hineinnahm „Die Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie aus" (1846). Die Hegelkritik lag also etwa in der Mitte zwischen beiden Publikationen. Gegenüber den religionskritischen Schriften, besonders auch den Hauptschriften über „Das Wesen des Christentums" (1841) und über „Das Wesen der Religion" (1845) hielt sich die „Kritik der Hegeischen Philosophie" überwiegend und strenger auf rein philosophischem Gebiet. Feuerbach kritisiert u. a. die Art der Ableitung der Objektivität im Rahmen der ,,Phänomenologie des Geistes" (1807) und die Verschiebung des Subjekt-Prädikat-Verhältnisses (vgl. Feuerbachs „Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie", 1842). Hier aber interessieren die Partien, wo er wenigstens allgemein gelegentlich auch die Kunst berührt. Feuerbach bekämpft die Verabsolutierung, die für Hegel nahelag, und gibt zu bedenken: „Aber die Kunst und Religion kann man nicht von der menschlichen Empfindung, Phantasie und Anschauung . . ., kurz, den absoluten Geist nicht vom subjektiven Geiste oder Wesen des Menschen absondern". Die anthropologische Schwenkung („Wesen des Menschen") ist sogleich sichtbar. Der „absolute" Geist Hegels sei, genau besehen, nichts weiter als der abstrakte Geist (Evolution der Begriffe bei Hegel unter dialektischem Antrieb). Die Kunst vor allem erweise, sozusagen im indirekten Beweis, daß sich der absolute Geist nicht ungestraft vom Menschengeist ablösen und trennen läßt. Mit dem Ausspielen des „sinnlichen Bewußtseins" gegen das abstrakte, „absolute Bewußtsein" und der Ausprägung eines a n t h r o p o l o g i s c h e n R e a l i s m u s a l s p h i l o s o p h i s c h e r S p i e l f o r m des p o e t i s c h - i d e e l l e n R e a l i s m u s hängt es innig zusammen, wenn Feuerbach die Natur ganz in den Vordergrund rückt und in ihr wiederum dem Menschen als sinnlich-naturhaftem Wesen die Zentralstellung einräumt. Dem entspricht in der Kunst die Prävalenz der menschlichen Gestalt. Was für die Philosophie das Wesen des Menschen, das bedeutet für die Kunst die Gestalt des Menschen: „Das Höchste der Kunst

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ist die menschliche Gestalt —• Gestalt nicht nur im engsten Sinne, sondern a u c h im Sinne der Poesie". Zugleich mündet in diese Gestalt-Idee Feuerbachs etwas ein vom Typusbegriff der Klassik: „Die menschliche Gestalt ist nicht mehr eine beschränkte, endliche Gestalt — sonst könnte mit leichter Mühe der dichtende Geist diese Schranken beseitigen und eine höhere Gestalt aus ihr hervorzaubern —, sie ist die Gattung der mannigfaltigen Tierarten, die aber im Menschen eben nicht mehr als Art, sondern als G a t t u n g existiert". Die Abwehr einer phantastischen Romantik von der Position des anthropologischen Realismus aus wird erkennbar an der Warnung vor einer „eitlen", einer überheblichen ScheinKunst, „die uns etwas Höheres geben will als die menschliche Gestalt", in Wirklichkeit aber „nur Fratzen" als schlechten Ersatz anbietet. Die Philosophen des spekulativen Idealismus hätten wohl etwas Poetisches in die Philosophie hineingebracht, aber die Kunst verführt, ihren realen Boden zu verlassen und Gespenster für Gestalten auszugeben. Auch der absolute Geist ist für Feuerbach letztlich ein solches „Gespenst" (vgl. die „Vorläufigen Thesen . . ."). Für die Kunst und ihr sicheres Gefühl ist das irdische Leben das wirkliche Leben, umschließt das „Endliche" auch das „Unendliche" (Abwehr der progressiven Universalpoesie und Universum-Poesie der Romantik, vgl. Band III). Es besteht für sie eine Identität des Endlichen und Unendlichen, aber nicht im Sinne der Romantik, sondern des Realismus. Der künstlerische Enthusiasmus ist nämlich eine „Begeisterung für ein bestimmtes, wirkliches Wesen", das sich für die Kunst deckt mit dem „höchsten, göttlichen Wesen". Im laufenden Gefecht mit der Religion behauptet Feuerbach, der Monotheismus berge kein Prinzip der ästhetischen „Bildung" in sich. Die Griechen gelangten zur Vollendung durch das Bejahen der menschlichen Gestalt, die ihnen (z.B. in der Plastik) zugleich als die göttliche Gestalt, ja als die „Gestalt der Gottheit" erschien und für würdig galt. Die christliche Kunst —• sie bringt Feuerbach in eine uneingestandene, aber spürbare Verlegenheit — sei erst da künstlerisch triebkräftig geworden, wo die Marien-Gestalt vermenschlicht wurde (vgl. Kellers „Sieben Legenden"), während die ChristusGestalt als Mensch-Gott etwas Zwiespältiges darstelle, das der Kunst widerstrebt: „Die Kunst kann aber nur das Wahre, Unzweideutige darstellen". Sobald Christen zugleich „Künstler und Poeten" waren, konnten sie es nur sein „im Widerspruch mit dem

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Wesen ihrer Religion" (vgl. auch H. Heine: Hellenismus und Nazarenertum). So erkläre sich z.B. die christliche Reue Petrarcas über seine schönen Laura-Lieder. Christliches und künstlerisches Gewissen lagen im Widerstreit miteinander. Daher gab es im Christentum keine dem religiösen Bewußtsein „adäquaten Kunstwerke". Es ist unschwer zu erkennen, daß Ludwig Feuerbach, der Oheim des Malers Anselm Feuerbach (1829—80), hier wohl den anthropologischen Realismus gegen den transzendentalen Idealismus, aber rein kunsttheoretisch die Klassik (nicht den Realismus) gegen die Romantik ausspielt. Es ist indessen zu berücksichtigen, daß der poetische und ideelle Realismus auch sonst Werte der Klassik in sich aufnahm. Vor allem war es die Aufgeschlossenheit für die unverfälschte zu ihrer Würde und ihrem echten Wahrheitswert erhobene Natur und Menschennatur in Feuerbachs Lehre, was sie dem poetischen Realismus ähnlich machte und daher G. Kellers warme Zustimmung fand. Und eben deshalb mag diese FeuerbachSkizze hier ihren Platz finden, obwohl schon die Jungdeutschen mannigfach durch ihn angeregt worden waren (vgl. z.B. die Anspielung Heines im „Atta Troll"-Epos). Besonders wäre da an Georg Herwegh zu erinnern. Seit seiner von der Schweiz aus angetretenen Deutschlandreise, auf der er für seinen geplanten „Deutschen Boten in der Schweiz" warb (und zwar bei Feuerbach erfolgreich), stand Herwegh mit Feuerbach im Briefwechsel (seit September 1842). Herweghs ,.Lieder eines Lebendigen" (1841/43) liegen zeitparallel mit Feuerbachs „Wesen des Christentums" (1841). Aber schon vorher dürfte Feuerbach auf Herwegh eingewirkt haben. Beide waren abtrünnig gewordene Theologen, beide waren politisch fortschrittlich, Feuerbach besonders in den vierziger Jahren (aber noch gegen Lebensende stößt er zur Sozialdemokratie). So erklärt sich, wenn die Sonderforschung, streckenweise allerdings etwas übereifrig, Spuren der Lehre Feuerbachs in den Dichtungen Herweghs nachweisen kann. H. Heine kommt sowohl mit seiner „Religion und Philosophie in Deutschland" wie mit den „Geständnissen" in Betracht. Auch bei Friedrich von Sallet zeugt dessen ,,Laienevangelium" von solchen Spuren. Viel tiefer waren die Eindrücke, die Feuerbachs Heidelberger Vorlesungen in der Dichtung Gottfried Kellers hinterließen, und zwar in der zweiten Fassung des „Grünen Heinrich" noch vertiefter als in der Frühfassung. Bekanntlich handelt es sich vor 20

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allem um die Lehren des Grafen (Graf—Dorothea—Gilgus). Aber auch die Erzählung „Das verlorene Lachen" (in den „Leuten von Seldwyla"), der Anlauf zum Drama „Therese" (1849/50) und die größtenteils schon in der (an den Heidelberger Aufenthalt anschließenden) Berliner Zeit entstandenen „Sieben Legenden" zeugen von der Nachhaltigkeit der Einwirkung Feuerbachs. Bis kurz vor dem Heidelberg-Erlebnis hatte Keller noch im internen Religionsstreit der Liberalen und Revolutionäre in der Schweiz: A. Folien, A. Rüge, Karl Heinzen, Karl Grün, Ferdinand Freiligrath, Wilhelm Marr die Gegenpartei gehalten, also mit Folien gegen Rüge und Marr. Aber Feuerbach überwand den Zaudernden, der dann, einmal mit Herz und Hirn gewonnen, zäh an ihm festhielt, obwohl er sich ein stilles Reservat für den von Feuerbach ebenfalls verworfenen Pantheismus zu bewahren bemühte. Feuerbachs kritische Formel für den Pantheismus lautete so: „Der Pantheismus ist die Negation der Theologie (aber) auf dem Standpunkt der Theologie", also für Feuerbach ein Widerspruch in sich selber. Ganz so weit folgte ihm Keller nicht. Aber das Verdrängen der Theologie durch die Anthropologie, das Verdrängen der Jenseitshoffnung durch die Diesseitsfreude, das Aufschließen der Natur vor allem, aber auch die Tapferkeit vor dem Angesicht des Todes: das war eine weltanschauliche Wendung, die ihm zum Wahren und Wirklichen zu führen schien: „Er (Feuerbach, Heine übersetzte „fleuve de flamme") hat nichts als die Natur und wieder die Natur; er ergreift sie mit allen seinen Fibern in ihrer ganzen Tiefe und läßt sich weder von Gott noch Teufel aus ihr herausreißen". Auch das leuchtete ihm ein, daß dieser „verruchte" Atheist lehrte: „Gott ist nichts anderes als der mystische Gattungsbegriff der Menschheit". In seiner Monographie über „Pierre Bayle", die neben einer Leibniz-Monographie stand, hatte Feuerbach, der — selber Verfasser einer Geschichte der Philosophie —• den Quellenwert der Geschichte betonte, aber den „ H i s t o r i s m u s " (frühe Prägung dieses Terminus) verwarf, darauf hingewiesen, daß sich religiöse Mysterien sehr wohl mit unmoralischen Handlungen verquicken könnten und Heiligkeit mit Moralität nicht überall konform gehe. Das konnte Keller für die „Sieben Legenden" recht gut auswerten im humoristischen, leicht satirisch getönten Reflex. Und in seinem Aufsatz „Über den Marienkultus" (1846, entstanden 1841) hatte Feuerbach, der dort gegen die Legendensammlung seines ungetreuen Freundes, Georg Fr. Daumers

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„Die Glorie der heiligen Jungfrau Maria" (1841) polemisierte, bereits die Beatrix-Legende erwähnt. Ursprünglich hatte Keller mit seinen Legenden „Auf Goldgrund" (geplanter Titel) bekanntlich schärfer satirisch verfahren wollen unter dem frischen Einfluß Feuerbachs. Aber genug der Einzelheiten! Es leuchtet ein, daß es den Schweizer Demokraten nicht befremden konnte, wenn Feuerbach die Natur so erklärte: „Alles in ihr ist allseitig und gegenseitig, sie läuft in keine monarchische Spitze aus, sie ist eine Republik". Das Wirkliche als „vernünftig" erschien Feuerbach nicht so begrifflich wie Hegel, sondern mit Hilfe des „sinnlichen Bewußtseins" im organischen Zusammenhang der Natur. Denn „Vernunft hat Zusammenhang", also hat die Natur Vernunft. Sie allein ist das Vernünftige. Trotzdem möchte Feuerbach sowohl einer Vergottung der Natur wie einer Einengung der Sinnlichkeit vorbeugen. Deshalb formuliert er: „Sinnlichkeit ist bei mir . . . die existierende Einheit des Materiellen und Geistigen, (sie) ist daher bei mir ebenso viel als wie Wirklichkeit". Das fügt sich recht gut ein in die in dieser Darstellung vertretene Konzeption vom ideellen Realismus als Spielform des poetischen Realismus. Ebenso der Umstand, daß Feuerbach seinen Materialismus sensualistischer Prägung am liebsten „ O r g a n i s m u s " g e n a n n t hätte, wie er selber gelegentlich bekundet. Der popularisierende Satz: „Der Mensch ist, was er ißt", bietet eben doch nur ein Schlagwort, das am Wesentlichen und Wertvollen Feuerbachs vorbeitrifft. Die Offenbarung, die auch Feuerbach beansprucht, bescheidet und beschränkt sich auf eine „Offenbarung der menschlichen Natur". Man wird auch nicht gut Feuerbach auf den französischen Materialismus zurückdrängen können. Er selber möchte seinen deutschen Neumaterialismus oder „Organismus" nicht gern vom französischen „Syst£me de la nature oder gar von der Trüffelpastete la Mettries" abgeleitet sehen, sondern weit lieber vom „religiösen Ursprung" in der Reformation. Ebenso wenig ist es besonders fruchtbar, seine Philosophie einseitig an Kant zu messen, obwohl sich manche geistreiche Aussicht dabei ergeben mag. Freilich hat Feuerbach, der die Religion auf dem Wahren und Guten und „nicht auf der Sünde Morast" gründen wollte, auch in seiner Naturreligion keinen restlosen Schutz gegen menschliche Schwächen gefunden, wie sein Liebesverhältnis zu Johanna Kapp, der kapriziösen Tochter seines Freundes Christian Kapp, an20·

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deuten mag. In einem Brief an Gottfried Keller, der ahnungslos dieselbe Johanna umwarb, lüftet sie zum Teil dieses Geheimnis, damit Gottfried Keller der erteilte Korb etwas leichter tragbar werde. Etwas pathetisch bittet sie: „Erstarren Sie nicht ob den Untiefen, die das Leben hinter anscheinend glücklichen Verhältnissen birgt, verkennen Sie weder mich noch ihn!". Übrigens ist auch Hoffmann von Fallersleben von Johanna Kapp betört worden, so daß mildernde Umstände für Feuerbach anzumelden wären. Die nervös Reizsame ist schließlich in Wahnsinn verfallen. Keller aber hatte sich in den Humor gerettet, denn ihm kam es so vor, als ob er sich verhalten habe „wie ein Kind, dem man ein Stück Zuckerbrot genommen hat". Das wäre ein auflockerndes Stück Natur-Wirklichkeit, gesehen durch ein Temperament; aber zurück zur grauen Kunsttheorie, gesehen durch die Brille des Neumaterialismus. Etwa ein Vierteljahr lang (i. Dez. 1848—21. März 1849) hielt Feuerbach jene Vorträge zu Heidelberg, die nun auch Keller an die Sehweise des anthropologischen Realismus und Neumaterialismus gewöhnten. Sie wurden bald darauf als „Vorlesungen über das Wesen der Religion nebst Zusätzen und Anmerkungen" (1851) veröffentlicht und popularisieren nicht nur das Hauptwerk, sondern ergänzen und berichtigen es auch. Sie stellen nicht nur eine Abbreviatur dar; sie schließen gewisse Lücken, wie etwa das von Spalding, J. C. Lavater u . a . bereits auf ihre Art vorbereitend berücksichtigte „Abhängigkeitsgefühl" des Menschen (von Gott) der negativen, aber auch der positiven Instanz nach. Die Sonderforschung hat u. a. eine gewisse, wenngleich bedingte und begrenzte Annäherung an Schleiermacher beobachten zu können geglaubt. Als Student hatte er noch Schleiermacher in Berlin selber gehört. Ranke dagegen hat er nicht oder nur selten gehört, nähert sich aber dessen Geschichtsauffassung. Situationsgemäß trug Feuerbach in diese freien und doch vor einer akademischen Hörerschaft gehaltenen Vorlesungen manches Politische hinein, das nicht immer der philosophischen Grundhaltung zuträglich war. Sogleich eingangs hatte er betont oder doch eingeräumt: „Die Religion, der Gegenstand dieser Vorlesungen, hängt nun allerdings mit der Politik aufs Innigste zusammen". Es sei daran erinnert, daß A r n o l d R ü g e , gemeinsam mit Th. Echtermeyer Herausgeber der kühn-radikalen „Hallischen Jahrbücher", an denen auch Feuerbach zeitweise mitarbeitete.

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ebenso wie Karl Marx und weiterhin Friedrich Engels es mehrfach versuchten, Feuerbach ganz in das politische Lager hinüberzuziehen. Sie druckten denn auch einen Brief Feuerbachs neben anderen (von Rüge, Marx, Bakunin) im einleitenden Vorspann zu ihren „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" ab, mit denen sie auf französischem Boden die inzwischen verbotenen ,,Hallischen Jahrbücher" ersetzen und politisch überbieten wollten. Aber ständiger Mitarbeiter ist Feuerbach nicht geworden, obwohl er zeitweise mit dem Gedanken spielte: „die Politik muß unsere Religion werden". Dazu aber fordert er sehr hohe Voraussetzungen. So hohe, daß wieder seine Tendenz spürbar wird, doch möglichst das Positive der alten in die „neue" Religion hinüberzuretten. Das war zu Beginn der vierziger Jahre gewesen. Diese politische Note sozialer Art ist daher bereits in den ,,Ergänzungen und Erläuterungen zum Wesen der Religion" (1845) besonders greifbar ausgeprägt. Die Vortragsreihe begann noch im letzten Monat des Revolutionsjahres 1848. Die Studenten Heidelbergs hatten spontan Feuerbach für den Lehrstuhl der Philosophie in Vorschlag gebracht, ohne freilich damit durchzudringen. Er durfte nun diese jungen Menschen nicht enttäuschen, die erwartungsvoll zu ihm in den Rathaussaal kamen. Daher setzt er mehr politische Glanzlichter auf, als es seiner sonstigen politischen Zurückhaltung entsprach. Etwa gleichzeitig (Spätsommer 1848) mit den Heidelberger Studenten hatte die Studentenschaft in Breslau parallel gerichtete Vorstöße unternommen, um Feuerbach wieder in die akademische Lehrtätigkeit zurückzuführen, und zwar gleichsam im Triumph zurückzuführen. Feuerbach wußte davon und hatte schon im August jenes bewegten Jahres an seine Frau darüber berichtet. Feuerbach wußte auch, daß ihm die Breslauer gleichsam aus der Ferne zuhörten und innerlich nah waren. Alles das verstärkte den politischen Tenor oder doch Einschlag dieser denkwürdigen Vorlesungen. Feuerbach bekennt sich offen als Atheist („ob ich gleich Atheist bin") und nur zu einer Form des Religiösen, die er „Naturreligion" nennt, wie er denn auch merklicher als bisher die Ergebnisse seiner naturwissenschaftlichen Studien in diese Vorlesungen einbaut. Es darf daran erinnert werden, daß er schon früher daran gedacht hatte, von der Philosophie in die Naturwissenschaft hinüberzuwechseln. Manches ist also hier zugespitzt, was späterhin abgemildert wurde. Denn später will er die Religion doch irgendwie in die neue Ersatzform mit hineinnehmen. Und

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im Nachlaß fanden sich grundsätzliche Klarstellungen wie diese: „Meine Religionserklärung ist Reproduktion des religiösen Prinzips in und aus der Quelle des modernen Natur- und Selbstbewußtseins, Reinigung der Religion von ihren uns absolut widersprechenden Vorstellungen, aber keine totale Negation". Das wäre dann also Kritik der Religion, aber nicht Verneinung der Religion. Und in der Tat stand Feuerbach, der vom einstigen Theologen nie ganz freikommen konnte, nicht im nackten Haß gegen die Religion, sondern in einer Art von Liebeshaß-Verhältnis zu ihr. Unter den Hörern im Rathaussaal zu Heidelberg saß zu Feuerbachs Füßen nicht nur der werdende große Dichter Gottfried Keller, sondern auch als Heidelberger Privatdozent (und das war mutig) der werdende bedeutende Literaturhistoriker H e r m a n n H e t t n e r (1821—1882). Ihn brauchte Feuerbach sich nicht erst neu zu erobern, wie das bei Keller der Fall war, ihn hatte er schon vorher gewonnen, wie Hettners Verteidigungs-Aufsatz „Zur Beurteilung L. Feuerbachs" (1844) klarstellt. Und damals war H. Hettner drauf und dran, eine eigene Ästhetik auf Feuerbach gründen zu lassen, indem er mit ihm gegen Hegel Front bezog in dem Aufsatz „Gegen die spekulative Ästhetik" (1845). Offenbar hatte er Anregungen aus Feuerbachs „Zur Kritik der Hegeischen Philosophie" und wohl auch dessen „Vorläufigen Thesen . . ." erfahren, wenn er ebenfalls die Ästhetik dem anthropologischen Realismus annähert. An Einzelkünsten bevorzugte er in Einzelessays dabei die bildende Kunst. Es handelte sich immerhin um seine erste grundlegende Abhandlung. Hettners starkes philosophisches Interesse bewährte sich dann später in seiner mit Recht berühmten „Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts" (6 Bände, 1856—1870). Gottfried Keller aber war von nun an entschlossen, seine künstlerische Unsterblichkeit jener menschlichen Sterblichkeit anzuvertrauen, von der Feuerbach gelehrt hatte. „Ich bin fest überzeugt", so schreibt er in einem Brief vom März 1851, „daß kein Künstler mehr eine Zukunft hat, der nicht ganz und ausschließlich sterblicher Mensch sein will". Diesem Dank des Dichters gegenüber müssen Anregungen zurücktreten wie etwa die auf Anton Gubitz oder Ludwig Pfau ausgeübten. A. Gubitz fühlte sich immerhin angeregt zu einer „Neuen Grundlegung der Wissenschaft vom Schönen", die er gewiß nicht von ungefähr anthropologisch ausrichtete unter dem Zeitthema „Der Mensch und die Schönheit" (1848). Ihm kam es darauf an,

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die bloße Spekulation zu ersetzen durch die Realisierung einer Kunst, die dem Konkreten nicht auswich. Und den Bemühungen Ludwig Pfaus, der sich in ,,Freien Studien" (1866) versuchte, längst bevor Wilhelm Heinrich Riehl seine „Freien Vorträge" hielt, gestand L. Feuerbach den Wert des Ergänzenden durchaus zu. Aber eben dadurch gestand er ein, daß er sich im Bereich der Kunst nicht recht zuständig fühlte. In dem Jahre, in dem Gubitz von der anthropologischen Schönheit gehandelt hatte, war Ludwig Pfau, obwohl einst vermeintlicher Lyriker, so aktiv als Revolutionskämpfer hervorgetreten, daß ihm nur das Ausweichen in das Ausland als Notausgang Übriggeblieben war. Immerhin wurde ihm Feuerbachs Anerkennung zuteil, „daß Sie auf dem Gebiete der Kunst sind und leisten, was ich auf dem Gebiete der Religion und Philosophie im engeren Sinn" (geleistet habe). Besonders dürfte Feuerbach dabei gedacht haben an L. Pfaus Einzelstudie über „Die Kunst im Staat", die gegen die Verquickung von Kunst und Religion in ähnlicher Weise Front machte wie Feuerbach selber gegen die Verquickung von Historie und Theologie. Ludwig Pfau macht geltend, daß die Kunst im Dienst der Religion ebenso mißbraucht worden sei, wie etwa Ludwig Feuerbach selber geltend macht, daß die Historie im Dienst der Theologie mißbraucht und mißbildet worden sei („Historismus", bereits 1839). Aber so viel mehr Feuerbach diese benachbarten Theorien auf dem Gebiet der allgemeinen Ästhetik auch besagen und behagen mochten, ob sie nun im Einzelnen von Gubitz oder Pfau stammten: das eindrucksvollste Weiterwirken seiner Ideen wurde dennoch nicht durch sie, sondern durch den Dichter Gottfried Keller verbürgt. Denn hier wurde zur Produktion, was dort nur Projektion und Konzeption geblieben war. In der Zentralforderung einer „poetischen Wahrheit" im Sinne einer veredelnden, aber nicht entstellenden Naturgestaltung und in manchem anderen Punkte stimmt Keller mit Otto Ludwig überein. Jedoch sind durch eine weltanschaulich wesentlich abweichende Einstellung ohne weiteres gewisse Abstufungen gegeben, die nicht zum wenigsten auch das Verhältnis von Dichtkunst und Politik betreffen. Für die weltanschauliche und auch kunsttheoretische Einstellung, wie sie G o t t f r i e d K e l l e r (1819 bis 1890) verhältnismäßig einheitlich innehält, ging das entscheidende Erleben aus von Ludwig Feuerbachs Neumaterialismus und seinem in gewissem Grade idealisch gesteigerten Sensualismus. Freudige

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Weltoffenheit und Naturnähe konnten von dieser weltanschaulichen Basis aus besonders für eine künstlerisch-malerisch gestimmte Natur zum begeisterten und doch schlicht verinnerlichten Kultus erhoben werden. Unter dem unmittelbaren Eindruck der geistigen und persönlichen Berührung mit Feuerbach zieht Keller, noch bevor rein weltanschaulich die restlose Klärung gefunden worden war, doch für das dichterische Sehen und Gestalten sogleich ahnungsvolle Folgerungen: „Für die poetische Tätigkeit aber glaube ich, neue Aussichten und Grundlagen gewonnen zu haben; denn erst jetzt fange ich an, Natur und Mensch so recht zu packen und zu fühlen; und wenn Feuerbach weiter nichts getan hätte, als daß er uns von der Unpoesie der spekulativen Theologie und Philosophie erlöste, so wäre das schon ungeheuer viel" (an E. Dößekel, 8. Febr. 1849). In demselben Briefe aus Heidelberg erwähnt Keller das Schaffen an seinem „unglückseligen Romane" und das jetzt als notwendig erkannte Umschaffenmüssen und Umschmelzenmüssen unter dem neuen weltanschaulichen Erlebnisimpuls. Und es fällt nicht schwer, in diesem Roman, dem „Grünen Heinrich", die entsprechende Ausprägung bzw. Umprägung der Kellerschen Vorstellungen gerade des Dichterischen aufzuzeigen. Zurückgedrängt wird das spezifisch Nachromantische und Modern-Forcierte. Keller selbst spricht aus dem Bewußtwerden einer gewandelten Kunstanschauung, wenn er sagt: „In Bezug auf manches, was ich bisher poetisch nannte, lernte ich nun, daß das Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und Überschwängliche nicht poetisch ist und. . . Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen" (III, Kap. I). Die Gegenständlichkeit und der wundervolle und doch wiederum wunderfreie Zauber greifbarer Dinglichkeit, weiterhin das Stofflich-Inhaltliche schlechtweg erhalten erhöhte Geltung neben der Form und finden Wertschätzung durch die „hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt. . ." (a. a. O.). Keller hat neben Otto Ludwig, dessen Entgegenkommen gegenüber dem Wunderbaren er nicht recht teilt, vielleicht am eindeutigsten die Gestaltungsart und Erlebnisweise verwirklicht, die man mit Otto Ludwig den „poetischen Realismus" zu nennen pflegt. Und so wäre hier manches zu wiederholen, was bei Otto

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Ludwig bereits eingehender gewürdigt werden mußte. Denn auch in seinen theoretischen Äußerungen bringt Keller recht klare Formulierungen, die durchaus jene Leitlinie innehalten. In seine aus einzelnen Kritiken hervorgegangene Abhandlung über „Jeremias Gotthelf" (1849—55), die in ihrem Ringen zwischen künstlerischem Anerkennen und weltanschaulich-religiösem Befremdetsein dem Kritiker Keller alle Ehre macht, greift das Messen an L. Feuerbach, so gewagt es bei Jeremias Gotthelfs Kirchenfrömmigkeit erscheinen mag, kräftig ein, wenn etwa festgestellt wird, daß ungewollt „jedes Buch Jeremias Gotthelfs eine treffliche Studie zu Feuerbachs „Wesen der Religion" darstelle. Und dort, wo die Kritik B. Auerbachs „Dorfgeschichten" streift, die als gesundes „festtägliches Weißbrot für das V o l k " empfohlen werden, steht denn auch die knappe Kernprägung: „Sie sind schön gerundet und gearbeitet; der Stoff wird darin veredelt, ohne unwahr zu werden, wie in einem guten Genrebilde". Das deutet fast vollständig die Zentralstellung der Kellerschen Forderungen an, wenngleich ein bloßes Genrebild allein ihm noch keine letzte Erfüllung dichterischen Wollens und Könnens bedeutete. Denn die mehrfach kunsttheoretisch sich besinnende und auch kulturpatriotische Ausblicke ermutigend öffnende, streckenweise dichterisch durchgeformte Schilderung der Gedenkfeier für den Teil-Dichter Schiller „Am Mythenstein" (1860/1) kann kein Genüge darin sehen, daß „ein abgetriebenes Touristenleben", wie es neuere Reisedichter bevorzugen und überschätzen, schließlich doch nur als kärglichen Ertrag „hier ein Reisebildchen, dort ein Reisebildchen" heimbringen. Keller ist ausgegangen von dem bekannten Umstand, daß Schiller „mit einer so sicheren Ahnung" und gleichsam mit einem dichterischen „Hellsehen" das Schweizer Land erfaßte, ohne es jemals selbst angeschaut zu haben. Und hier trennt sich der poetische Realist deutlich und entschieden vom Naturalisten, wenn sich auch Kellers Polemik vorerst nur gegen die reiselustigen Studienmacher richtet. Die innere Anschauung darf keineswegs unterschätzt werden gegenüber dem äußeren Anschauen. Die Vielheit äußerer Eindrücke verbürgt noch nicht die Einheit der inneren Sicht, sondern führt leicht zu einem „verzettelten Anschauungsvermögen", bzw. einem Unvermögen hinsichtlich einer gesammelten Verdichtung. Der Wettbewerb mit der Natur wird abgewehrt mit der Begründung: „Die unmittelbare Beschreibung, sobald sie sich für Dichtung geben

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will, bleibt immer hinter der Wirklichkeit zurück; aber die dichterische Anschauung, die sich gläubig und sehnsuchtsvoll auf das Hörensagen beruft, wird sie gewissermaßen überbieten und zum Ideal erheben, ohne gegen die Natur zu verstoßen". Ohne weiteres wird fühlbar, wie eng sich diese letzte, unerläßliche Einschränkung aus dem Bericht vom Schillerfeste berührt mit jenem „ohne unwahr zu werden" der Jeremias Gotthelf-Abhandlung. In dem letzten der Aufsätze über „Jeremias Gotthelf" (1855), der „ein großes episches Genie" in Gotthelf anerkennt und nur dessen mangelhafte Formpflege bedauert, macht Keller einen kurzen Anlauf zur Wesensbestimmung der epischen Wirkungsform. Aber wenn er auch von vornherein vorbeugend ankündigt, „statt einer theoretischen Abhandlung nur ein paar empirische Aphorismen" bieten zu wollen, so kommt es doch kaum zu mehreren „Aphorismen", und das Eingehen auf Beispiele lenkt ihn sogleich wieder in die kritische Einzelanalyse ab. Hervorzuheben bleibt so nur die Zielprägung: „Zu den ersten äußeren Kennzeichen des wahren Epos gehört, daß wir alles Sinnliche, Sicht- und Greifbare in vollkommen gesättigter Empfindung mitgenießen, ohne zwischen der registrierten Schilderung und der Geschichte hin- und hergeschoben zu werden, d. h. daß die Erscheinung und das Geschehende ineinander aufgehen". Keineswegs aber verharrt Keller auf der Linie einseitig ausgeprägter Schilderungssucht. Die dichterischen Gestaltungen sind mit realistischer Färbung zu „durchtränken, ohne in das einseitige Schildern zu verfallen". Er warnt in diesem Zusammenhange vor einem virtuosen Ausschlachten der „Adalbert Stifterschen Malermittel (welche uns andern allen mehr oder weniger ankleben und welche wir über kurz oder lang wieder werden ablegen müssen). . . " Die Kritik an einem „verzettelten Anschauungsvermögen" weist in dieselbe Richtung. Die starke Bewertung sauberer technischer Arbeitsleistung und die Hochschätzung einer pflegsam betreuten Gestaltungsform setzt sich in Kellers kritischen Forderungen immer wieder durch und darf neben der Bejahung des sinnlich „Sicht- und Greifbaren" nicht übersehen werden. Nicht nur, daß er Jeremias Gotthelfs „äußere Formlosigkeit" kritisiert: er fordert allen Ernstes Beachtung dessen, „was man Technik, Kritik, . . . Ästhetik, kurz, Rechenschaft von seinem Tun und Lassen nennt in künstlerischer Beziehung". Selbst vom Religiösen her darf man nicht herabsehen

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auf vermeintlich weltlich-eitle „äußere Kunstmäßigkeit". Denn „der gleiche Gott, der den Menschen die Poesie gab, gab ihnen ohne Zweifel auch den künstlerischen Trieb und das Bedürfnis der Vollendung; und wenn er schon in der Blume, die er zunächst selbst machte, Symmetrie und Wohlgeruch liebt, warum sollte er sie nicht auch im Menschenwerke lieben?", eine Wendung, die auch stimmungsmäßig in die Welt der „Sieben Legenden" hinüberweisen könnte trotz deren ζ. T. ironischer Brechung. Und so liegt es nur in der auch sonst verfolgten Richtung der Formpflege und bedeutet also mehr als ein bloßes freundschaftliches Sichverbundenfühlen, wenn Keller in seiner Würdigung der „Neuen kritischen Gänge" von Fr. Th. Vischer (1861) Gelegenheit nimmt, Paul Heyses vielfach als „akademische Manier" bespöttelte Formglätte als erfreuliches Zeichen verantwortungsbewußter Künstlerschaft zu verteidigen. Ihm sagt diese einem Gutzkow so „fremde Mundart des Schönen" und der „Wohlklang der wirklichen Poesie" durchaus zu. Ausdrücklich als Einschaltung bringt Keller in diesem Zusammenhange die „Beobachtung", daß der Schutzstempel des „Idealisten" (im künstlerischen Sinne) in den meisten Fällen die Träger dieses anspruchsvollen Prädikats nicht daran hindere, „so realistisch als möglich zu sein, sobald sie nur der Sache so weit Meister sind". Man erkennt, daß Keller auf Grund seiner Bewertung der Formpflege nicht mißverstanden und etwa ohne weiteres mit den Münchenern gleichgestellt werden möchte, weil er die „einfache Korrektheit des Stils" zu fordern wagt. Eine Abstempelung als „Idealist" oder „Realist" lehnt er mit der starren Typenformel zugleich überhaupt ab. Als poetischem Realisten bzw. Idealrealisten widerstreben ihm beide Extreme als modisch verdächtig. Ähnlich wie Otto Ludwig wahrt er die kritische Reserve gegenüber programmatischer Verranntheit: „Uns scheint manchmal, es sei an beiden Orten nicht auszuhalten". Diese Abwehr jeglicher Verranntheit, im Besonderen das Abrücken vom bloßen Kultus des „Idealisierten" hindert ihn indessen nicht, auch weiterhin — eigener Einsicht gemäß — die Fürsorge für die vielfach verwahrloste Gestaltungsreinheit aufrechtzuerhalten, so etwa in der wohlwollenden Kritik über Heinrich Leutholds Gedichte (1878), deren „durchgehende Schönheit und Vollendung", deren „Schönheit und Harmonie von Inhalt und Form" mit Wärme gerühmt werden. Und es bedeutet in diesem Sinne nicht von vornherein einen Tadel, sondern

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will nur eine an sich berechtigte Sonderform ohne betont wertsenkendes Attribut charakterisieren, wenn Keller gegenüberstellt und zugleich klarstellt: „Gegenüber dem Suchen unserer Zeit nach Stoff und mannigfachem Effekt hat die Sammlung demnach einen etwas akademischen Charakter". Immerhin soll nicht verkannt werden, wie behutsam Keller auch in diesem Falle die Grenzlinie festhält, die den poetischen Realismus bei mancher Berührung dennoch vom letztlich nachklassizistischen Streben der Münchener Gruppe oder der Platenschule trennt. Abgesehen von persönlicher Fühlung mit Heyse, spürt er aber vielleicht doch den Anteil eines ideellen Realismus zum mindesten bei dem Novellisten P. Heyse. In ähnlicher Weise bejaht Kellers heimatlich-stämmisch und weltanschaulich bedingtes Interesse für Politik eine politische Tendenzdichtung in gewissem Grade und läßt dennoch den Trennungsstrich gegen das Junge Deutschland — etwa gegenüber Gutzkows Formvernachlässigung —• nicht verwischen. Er, der einst in seiner Frühlyrik von parteipolitisch eingefärbter Tendenzdichtung angeregt und ausgegangen war, um dann, gereifter, in vaterländisch-landsmännische Dichtung einzumünden, gesteht noch in einer der Rezensionen über „Jeremias Gotthelf" (1852) freimütig zu: „Darin hat er als Bürger wie als Schriftsteller usw. durchaus Recht; denn heute ist alles Politik und hängt mit ihr zusammen von dem Leder an unserer Schuhsohle bis zum obersten Ziegel am Dache. . .". Aber er ist sich jetzt klar darüber geworden, daß eine „über der Befangenheit der Partei schwebende unbefangene Seele" (vgl. Freiligraths einschlägiges Gedicht) Voraussetzung sei, um auch nur ein „plastisch-poetisches" Parteimanifest zu schaffen, das doch mehr zu sein beansprucht, das nämlich „zugleich ein reines und gediegenes Kunstwerk sein soll". Die Möglichkeit eines künstlerisch hochwertigen Parteimanifestes hält er jedoch aufrecht. Es hat Keller nicht recht in den Sinn wollen und ist ihm als übereilter „Abstrakticismus" erschienen, daß Vischer einst eine „politisch tendenziöse Poesie" für schlechthin paradox erklärt hatte. Und so begrüßt es die erwähnte Würdigung von Fr. Th. Vischers „Neuen kritischen Gängen" lebhaft, daß Vischer jetzt sogleich in der Vorrede gleichsam grundsätzlich bekenne, ,,. . . daß er (Vischer) selbst eine politische Lyrik der Gegenwart, welche nicht nur das Erreichte, Gelungene, sondern das Künftige, zu Sollende (!) singt, zugeben müsse, insofern sie nur

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ganz in ihrer Leidenschaft aufgehe". Diese revidierte Endeinstellung Vischers entspricht etwa Kellers eigenem Standpunkte. Wesentlich aber ist — wie für Kellers Dichtschaffen so auch für sein theoretisches Fordern — die Vertiefung des Politischen und Parteipolitischen zum Vaterländisch-Volksmäßigen unter organisch wuchsfähiger Ausweitung des Landsmännisch-Heimatlichen, das die gesunde Keimzelle bildet. Die Teilnahme am großangelegten Schillerfeste ermutigt ihn, in dem dichterisch ausgeformten Erlebnisbericht „Am Mythenstein" weite Ausblicke zu öffnen auf eine ,,neue Nationalbühne", ja darüber hinaus auf eine neue und würdige „Nationalästhetik". Denn vor den Tausenden der großen Volksfestspiele würde man mit der „alten Dramaturgie" sehr bald „zu Ende sein und von vorn anfangen müssen!" Und zwar in dem Sinne von vorne anfangen müssen, daß man aus dem lyrischen Grundzug der eidgenössischen Gesangsfeste aufs neue das epische und weiterhin das dramatische Element sich entfalten lassen sollte. Dann erst würde sich wirklich Neuartiges organisch entwickeln als machtvolle Kollektivleistung. Denn: „Das Neue wird überhaupt nicht von Einzelnen auszuhecken und willkürlich von außen in die Welt hinein zu bringen sein ; vielmehr wird es darauf hinaus laufen, daß es der gelungene Ausdruck des Innerlichen, Zuständlichen und Notwendigen ist, das jeweilig in e i n e r Zeit u n d einem Volke s t e c k t , etwas sehr Nahes, Bekanntes und Verwandtes, etwas sehr Einfaches, fast wie das Ei des Columbus". Keller steht unter dem nachhaltigen Eindruck des Gesehenen, wenn er nun bewußt als kühne „Luftschlösser" jene Ansätze ausbaut und aus dem „grauen Strichregen allseitig gleichmäßig geschickter Versemacherei" etwas auftauchen sieht wie eine gewaltige „nationale Zykluskomposition in Kantatenform oder das weltliche Oratorium", wobei das Lyrische vor dem Epischen und — so darf man bereits hier aus den weiteren Ausführungen mit heranziehen — dem Dramatischen zurückzuweichen habe. Teilweise nimmt Keller die Verwirklichung durch moderne Sprechchöre vorweg insofern, als er aus machtvollen Halbchören und einer „Musik gewordenen Ethik" (vgl. R. Wagner) einen grandiosen Dialog herausgebildet sehen möchte, „der seinen Maßstab in nichts Vorhandenem hätte und die Frage des Dramas in ein neues Stadium" treten lassen müßte. In weitgehendem Maße

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nimmt Kellers Konzeption —• ohne sich darüber klar zu werden —• das historische Werden des Dramas wieder auf, verlegt jedoch die Ausgangsbasis von der kirchlich-religiösen auf die volksmäßignationale Tragschicht, die sich indessen auch in die Genesis des Dramas früh einschob. Selbst der letzte Schritt, der für den Sohn des 19. Jahrhunderts doch wieder zum Individualistischen hinführt, läuft auf eine Wiederholung des historischen Werdevorganges hinaus: „Aus diesem Stadium der Feste, der Blüte der Volksherrlichkeit, würde sich endlich die persönliche Meisterschaft der Einzelnen, so zu sagen aristokratisch ausscheiden" und eine Verdichtung zum strenger Handlungsmäßigen bringen und zum künstlerisch Geschlossenen gegenüber der auflockernden Gruppenleistung. Richard Wagners Versuch wird nicht übergangen, aber (doch wohl mit Recht) als unzulänglich im wortkünstlerischen Teil der Lösung kritisch betrachtet, da die „Schrulle der zerhackten Versehen" mit ihrem „archaistischen Getändel" nicht berufen und geeignet erscheinen kann, das „Bewußtsein der Gegenwart oder gar der Zukunft zu umkleiden". Als poetisch fruchtbar und „großartig" wird der kühne Griff „in die deutsche Vorwelt" anerkannt. Aber eben deshalb bleibt Wagners ganze Haltung nach Kellers Meinung rückgewandt und nicht eigentlich wegweisend vorausschauend. Selbst in jene großzügige Anregung Kellers mischen sich volkserzieherische und überhaupt pädagogische Elemente ein, wie sie gerade Dichtern der Schweiz, aber auch Kunsttheoretikern wie im 18. Jh. Bodmer-Breitinger und vor allem Sulzer eigen zu sein pflegen. Auf die kunstpädagogische Linie einschwenkend, erhofft er —• fast ein wenig meistersingerlich —• wertvolle Fortschritte innerhalb der Sonderform der Lyrik vom organisierten Preisdichten, wobei der öffentlich fungierende Preisrichter (dort der,,Merker") über den literarisch verbildeten Kunstrichter gestellt wird. Die Relativität der literarischen Kritik und des Geschmacks schlechtweg belichtet mit schalkhafter Ironie eine Rezension (1851) über das Volksdrama Bachmayrs „Der Trank der Vergessenheit". Die Relativität bzw. Problematik der damaligen Volksdichtung streifen mehrfach die Gotthelf-Kritiken. Anknüpfend an eine Stelle aus Berthold Auerbachs „Frau Professorin" stellt Keller skeptische Betrachtungen darüber an, ob denn die sogenannten Volksschriftsteller —• von Η. P. Hebels nachweisbarem Erfolge abgesehen — wirklich „in den Hütten des Landvolkes" gelesen würden.

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Er stützt sich teilweise auf Erwägungen von B e r t h o l d A u e r b a c h (1812—1882) in dessen prinzipieller Abhandlung Schrift und Volk, Grundzüge der volkstümlichen Literatur (1846). Dort hatte Auerbach, der von einer Würdigung J. P. Hebels ausgegangen war, treffend darauf hinweisen, bzw. daran erinnern können, daß das Volk im engeren Sinne es erst einmal abzulehnen pflege, „sich seine eigenen Zustände wieder vorgeführt zu sehen". Vielmehr strebt es als Leserschaft ebensowohl nach dem Außergewöhnlichen, Fernen und Fremdartigen wie jeder andere Leserkreis. Und erst auf dem Umwege über dieses anreizende „Ferne" und „Fremde" und aus der Bewußtwerdung heraus, „daß nicht alles gar so weit her" zu sein braucht, daß man vielmehr „in sich selbst neue Bekanntschaften genug machen kann", erst dann auch, wenn durch Vertiefung der Sehart „höhere Beziehungen in dem alltäglich Gewohnten aufgeschlossen werden" (Ansatz zur „Verfremdung"), also erst nach derartigen, nur zu leicht übersehenen Zwischenstadien „lernt man das Alte und Heimische neu lieben". Auf diese Stelle nimmt Keller unmittelbar Bezug. Aber da auch sonst Kellers Ansichten über volkstümliche Literatur verschiedentlich an A u e r b a c h s ,.Schrift und Volk" anklingen und da Auerbachs Abhandlung zugleich theoretisch orientiert über die starke Strömung der v o l k s t ü m l i c h e n D i c h t u n g , so fordert sie ein gesondertes Eingehen. Eine erschöpfende Würdigung der umfassenden Darlegungen ist nicht beabsichtigt. Sie wäre auch entbehrlich, da sich Auerbach ähnlich wie Stifter in redseliger Breite ohne Scheu vor Wiederholungen gefällt und zudem eine leicht poetisierende Aufmachung und eine populärphilosophische Zerdehnung ihrerseits weiterhin aufschwellend wirken. Das spätere ,,Nachwort" (1858) erkennt überdies selbst an, daß die Entstehungsart und Anlageform, „allgemeine Regeln und Grundsätze an eine bestimmte literarische Persönlichkeit anzuschließen", doch letztlich mißlich und unzulänglich bleiben müsse und den geplanten Ausbau der Abhandlung verhindert habe. Und in der Tat gehen die „allgemeinen Erörterungen und Bestimmungen" nicht nur von einer Charakteristik des alemannischen Volksdichters J. P. Hebel aus, sondern kehren — allzu gebunden —• immer wieder zu Hebel zurück, wie an sich der U n t e r t i t e l der Schrift „angeschlossen an eine Charakteristik J. P. Hebels" von vornherein unzweideutig klarstellt. Die Methode ist demgemäß überwiegend die der empirischen Induktion.

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Zu den Wiederholungen, die zugleich der Verstärkung der Hauptthemalinie dienen und also Kerngedanken ablesen lassen, gehört nun nicht zum wenigsten jene bereits von Keller aufgegriffene Ansicht, daß das Volk nicht sogleich interessiert bei sich selbst haltzumachen pflege, sondern auf Umwegen über das Gegensätzliche und Ergänzende zu sich „heimfinde". So formuliert Auerbach bereits am Eingang der Schrift: „Bei aller Schriftfähigkeit wird daher ein Mann, der ganz und unmittelbar im Volke steht, sich selten gedrungen noch geeignet finden, die eigenen Zustände anschaulich zu schildern oder frei zu gestalten". Er sucht diese Erscheinung popularphilosophisch zu begründen, u. a. mit dem Streben nach Abwechslung. Aber es ist unschwer zu erkennen, daß auch dieses Ideal an den Einzelfall Hebel sich anschließt, wenngleich späterhin die historisch-genetische Stützung unterbaut wird, daß auch die Volksbücher ihren Helden vorzugsweise zunächst einmal in die Fremde zu schicken liebten. Am vorteilhaftesten erwächst demnach für Auerbach die volkstümliche Dichtung nicht aus unmittelbar zuschauendem und teilnehmendem Miterleben, sondern aus dem durch das Erleben des Fremden bereicherten und vertieften Abstand einer leicht verklärten „Erinnerung". Damit indessen die Erinnerung sich nicht in „vagen Idealismus" verliert, vielmehr auf einem „realen Boden" fußen kann, muß der Volksschriftsteller zum mindesten seine stark nachwirkenden Kindheitseindrücke in ländlichem, volksnahem Lebenskreise erfahren haben. Einfühlung vermag solche Erlebnishaltigkeit der eigenen Erinnerung nicht zu ersetzen, und für volksfremd aufgewachsene Schriftsteller gilt der Satz: „Dies Leben wird nicht ihnen eigen, weil sie nicht sein eigen waren". Im übrigen kommt Auerbach, darin von Keller gefolgt, zu dem vor Spezialistentum warnenden Schluß: „Es gibt keine besondere Ästhetik des Volkstümlichen; die Zustände und Motive sind hier nur noch einfacher, ursprünglicher". Trotzdem versucht er einige Grund- und Richtsätze für die volkstümliche Dichtung aufzustellen. Danach genügt nicht eine bloße Stoffwahl aus den „Kreisen des Volkslebens" und ebensowenig die sogar schädliche subjektivistische, ironische und ästhetisierende Spielerei und entsprechend herablassende Haltung der Romantiker, deren Verdienste um die Erweckung des Interesses für Volksdichtung nur recht bedingt anerkannt werden. Die Bedeutung des Idyllischen, des Genrehaften, des „eigentlichen

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Stillebens" für die Ausprägung einer volksnahen Dichtung darf nicht überschätzt werden. Als recht billiges Mittel wird auch eine nur äußerliche Übertragung in das Mundartliche kritisch gewertet und nicht als irgendwie entscheidendes Kriterium für die echte Volkstümlichkeit angenommen. Auerbachs aufklärerisch-fortschrittliche Einstellung befürwortet zwar die allgemeine „humanitäre Richtung", wehrt indessen einseitige „Armenhauspoesie" ebenso ab wie das einseitige Ausschlachten der „pathologischen Zustände". Persönliche Vordringlichkeit hat der Volksschriftsteller zu vermeiden; denn „das Volkstümliche verlangt ein völliges Zurücktreten des Autors". Alles ästhetisierende Genießertum, alles „Geistreichisieren" stört als Fremdkörper die organische Wuchseinheit, die wohl derbe Frische, nicht aber den „Unrat" des schlechthin „Niedrigen" duldet. Das Hineinzerren des Sensationellen, des „Ungeheuerlichen, Bizarren und sich Überstürzenden" wird beklagt als „Versündigung" am Volke, das Abergläubische als Erblaster bekämpft. Bei der Aufstellung positiver Ziele schafft das stolze Bewußtsein vom nationalen Wert den imposanten Unterbau: „Die unerschöpflichen Gründe des Volkstums sind das Palladium einer Nation, die die Besonderheit ihres Daseins bedingen". Auerbachs kritische Haltung gegenüber der Romantik, die angeblich nur aus ästhetisierender Liebhaberei und Gegenwartsflucht der Volksdichtung sich zugewandt haben soll, führt zu folgender, an sich auf entsprechender Linie liegenden Abhebung: „Im Gegensatz (!) zur Romantik und Weltliteratur steht die volkstümliche Poesie nach außen auf dem rein nationalen Standpunkte". Allerdings benutzt Auerbachs Liberalismus diese Position zum Teil, um gegen die Willküreingriffe des „mechanischen Polizeistaates" der vierziger Jahre in Volkssitte und Volksdichtung (ζ. B. Fastnachtsaufzüge) günstige Angriffsmöglichkeiten zu gewinnen. Immerhin bleibt es bemerkenswert, wie weit Auerbach, der sich zum Judentum bekannte, die anpassende Einfühlung in deutsche Wesensart gelingt. So erhofft er mit hoher Bewertung der stämmisch-heimatlichen Keimzellen, daß aus dieser „provinzialen Poesie" weiterhin eine volkstümliche und endlich die wahrhaft „nationale" Dichtung heranwachsen möchte. Hinsichtlich der Einzelgestaltung fordert er gerade für die volksnahe Dichtung eine „geübte und sichere Hand", die fähig sein muß, die Gestalten und Ereignisse mit „hellen frischen Lebensfarben" auszustatten. In die Richtung des 21

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Ideals einer „ t ä t i g e n Humanität" scheint der Begriff des „Tuns" zu verweisen, den die Wirkungsbestimmung nachdrücklich hervorhebt: „Die Volksschrift muß mehr lehren wollen als anregen und reizen; ihre Aufnahme muß ein Tun sein und zum Tun hinführen". Doch darf die Lehrhaftigkeit nicht künstlich aufgesetzt sein als abstrakte Tendenz, sondern muß immanent dem Kunstwerk innewohnen. Wie bei Hebel hat gute Volksdichtung „bei aller Naturwahrheit doch ideale Erhebungen" zu verbürgen. Damit wird bereits die richtungsmäßige Zuordnung Auerbachs berührt. Sein entwicklungsgeschichtlicher Standort als Theoretiker liegt im Bereiche des poetischen Realismus, und zwar etwas mehr nach der Grenze zu einer — theoretisch von Schiller bestimmten — Nachklassik hin. Wenn in der Kunst mehr entstehen soll als „nur flüchtige Abbilder, die vom Ewigen im Wandel der Dinge kein Zeugnis geben", so muß „eine höhere Auffassung der Wirklichkeit bis zur Schönheit und Heiligkeit vordringen". Allerdings verwirft Auerbach wie jeden „vagen Idealismus", so auch die oberflächliche Schönfärberei und die vergötzende Anbetung des „idealistischen goldenen Kalbes". Aber er folgt in der Auffassung vom Volksdichtertum doch weitgehend Schillers Bürger-Kritik von 1791, die er im entscheidenden Abschnitt: „Schillers Ideal eines Volksdichters —• Idealistische und realistische Dichtungsart" in breitem Auszug zitiert. Er glaubt sich auf Schiller berufen zu dürfen, wenn er „die Versöhnung von Idealismus und Realismus zur Bedingung der lebendigen Poesie" erhebt. Neben der Forderung der „Naturwahrheit" steht in der üblichen Weise das bekannte Dennoch der „idealen Erhebung". Ohne Vernachlässigung der lebensnahen Wahrhaftigkeit darf dennoch die „lichte" Seite des Volkslebens vor allem dem betrachtenden Dichterauge zugekehrt erscheinen, wie es der Ausklang der Abhandlung noch einmal als Leitmotiv aufnimmt: „Vorerst ist es unsere Pflicht, dem Volke durch die Schrift, durch Poesie und Lehre Erhebung und Freude zukommen zu lassen". Und daß gerade den Arbeitsbelasteten, teils auch wirtschaftlich Bedrängten das Lichte, Frohe, Aufrichtende und seelisch Kräftigende nottue, möchte offenbar der biblische Spruch fassen: „Gebt Wein den betrübten Seelen". In diesem Sinne begrüßt es Auerbach, daß man den „krassen Realismus aus dem Heiligtum der Poesie" ferngehalten habe. Doch nimmt Auerbach in seiner Gesamthaltung eine ver-

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mittelnde Stellung ein; denn er erkennt andererseits den „realistischen Charakter der Volksgeschichten" durchaus an. Der idealistische Auftrieb ist auch nicht tragfähig genug, um etwa das Wunderbare und Märchenhafte mit emporzuheben in die irrationale Schicht. Vielmehr läßt Auerbachs aufgeklärte Kritik das Wunderbare als bloßen Aberglauben, und somit als Rückbildungsform fallen. Und seine betonte Fortschrittlichkeit sieht im Zurückgreifen auf „Dämonisches" und „Zauberisches" nur ein künstliches und entwicklungswidriges Zurückschrauben „auf den überwundenen Standpunkt". Das erinnert bedenklich an Gottsched. Auerbach wird sich bei dieser Gelegenheit durchaus bewußt, daß er sich dem naheliegenden Vorwurfe einer „prosaischen Aufklärung" — dort fällt also einmal das Wort, das überall im Hintergrunde steht — ernstlich aussetzt, scheut indessen diesen Vorwurf nicht angesichts der übergeordneten Werthaftigkeit gesinnungsmäßiger Überzeugung. Von der Romantik und ihrer Deutung des Volkstümlichen rückt er nicht zum wenigsten aus diesem Grunde entschieden ab. Selbst abgesehen von derartigen romantischen Verirrungen früheren Datums, „ist und bleibt auch all der moderne ausgeheckte Feen- und Geisterkram erlogen". Der politisch so hochgespannte Freiheitsbegriff wird also in seiner Ausweitung — nicht recht entsprechend —• keineswegs auf die poetische Freiheit übertragen. Die starke politische Interessiertheit gerät ein wenig ins Gedränge bei dem Abwehrkampf gegen die rein politische Tendenzdichtung. Schon wegen ihrer notwendigen Unabgeschlossenheit eignen sich Gegenwartsbestrebungen politischer Natur nicht zur dichterischen Gestaltung, die in sich Abgeschlossenheit fordert. Das Bemühen der Jungdeutschen, die „Dichtung feuilletonisieren" zu wollen, ist zum Scheitern verurteilt und trägt nur zu leicht „Barbarei" in das Kunstwerk hinein. Es gilt, unbeschadet der Dringlichkeit aller brennenden Tagesfragen, unerschütterlich den Ewigkeitswert der Dichtung festzuhalten und der „durch bloße Tendenzdichtung" verursachten Geschmacksentartung entgegenzuwirken. Ein späterer Abschnitt beantwortet noch eingehender die „neuerdings vielfach erörterte Frage über politische Poesie". Und zwar in der Weise, daß trotz der zu respektierenden „humanitären" Grundwerte doch eine Dichtung weder zum „Bettelbrief, gerichtet an die mit Macht und Besitz Begabten" umgestempelt werden darf, noch zu einem aktivistischen „Brandbrief, gelegt, um 21·

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zu schrecken oder vorsorgend zu warnen". Auch der an sich verführerisch klingende Weckruf von anderer Seite: „heraus aus dem Poetenwinkel!" darf kein Gehör finden bei den künstlerisch Verantwortungsbewußten. Über die Sonderform der Volksdichtung hinausblickend, gelangt Auerbach zu der Gesamtanschauung: „Die Poesie widerspiegelt die Welt, zunächst ohne andere Tendenz als die, der Wahrheit, das heißt der ewigen, wie sie in den mannigfachen Gestaltungen sich kundgibt, die Ehre zu geben. Die Poesie als solche ist deshalb nicht tendenziös im gewöhnlichen Sinn; die Poesie ist kein Vorspannpfern für allerlei Tendenzen, um den steckengebliebenen Staats- und Gesellschaftswagen über Berge und durch unwegsame Gründe zu führen; der alte Pegasus hat nebst seinen gesunden vier Beinen, mit denen er auf dem Lebensboden steht, auch noch sein Flügelpaar, mit dem er sich nach Herzenslust frei aufschwingt". Diese resolute Absage an die Tendenzdichtung vermag Keller nicht aufzunehmen, wie denn etwa andererseits sich eine Abstufung der Auerbachschen Einstellung gegenüber A. Stifters ethischem und volkserzieherischem Programm im Sinne unmittelbarer Nützlichkeit klar genug absetzt. Doch versteht sich Auerbachs vermittelnde Haltung auch hier zu gewissen Zugeständnissen insofern, als er politische Stoffe nicht von vornherein und grundsätzlich verwirft. Es soll sich nur überall in derartigen Fällen die Gestaltungsart und Äußerungsform über das nur Rhetorische und Deklamatorische frei „erheben". Denn die Dichtung muß „die R e g u n g e n des Z e i t a l t e r s m i t dem ewig Menschlichen v e r b i n d e n und zum Kunstwerk gestalten, das mehr ist als ein bloß vorübergehendes Kulturmoment". An diese Wendung kann sich eine betonte Stelle in Kellers Gotthelf-Kritik verhältnismäßig eng anschließen. Und es darf bei dieser Gelegenheit einmal zur Erwägung gestellt werden, ob nicht auch der bekannte —• unten zitierte — Brief Kellers an Auerbach seinerseits auf eine Äußerung Auerbachs in dessen „Schrift und Volk" in seiner Grundeinstellung zurückgeführt werden könnte, und zwar auf die Beobachtung über jene „Momente, in denen man durch glückliche Anregung und Befreiung wirklich d a s b e s t e i s t , was m a n sein k a n n " . Wie dem im Einzelfall immer sein mag, jedenfalls hat Keller Auerbachs Abhandlung nicht nur gekannt, sondern auch auszuwerten verstanden. Und so wird man denn bei der folgenden Fortführung der Würdigung Kellerscher Anschauungen manches Verwandte an-

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treffen, nicht zum wenigsten die Herausarbeitung der Verantwortlichkeit des Volksschriftstellers. G o t t f r i e d K e l l e r ist das Beste für das Volk gerade gut genug. Die Formpflege darf nicht vernachlässigt werden, wenn man auf das Volk einwirken will: „Ich halte es aber von der größten Wichtigkeit, daß gerade ein Volksbuch durch und durch wahr und klar, in allem Detail ohne Verwirrung und Sophistik gehalten sei". Daher sind keineswegs unzulängliche Talente berufen, Dichtung ins Volk zu tragen. Keller lehnt die Auffassung ab, als ob der Volksschriftsteller vorteilhafter sich als Sondertypus mit ganz bestimmten Qualitäten auspräge. Vielmehr muß das letzte Geheimnis der Wirkungskraft auch des Volksschriftstellers ganz einfach im Geheimnis der allgemeinen Künstlerschaft ruhen. Mit Bezug auf Jeremias Gotthelf hat Keller diese auch sonst betont herausgestellte Erkenntnis abschließend so geformt: „Aber er war nur darum ein guter Volksschriftsteller, weil er ein guter, von innen heraus produktiver Dichter war". Einer solchen wahrhaft künstlerisch schöpferischen Natur schreibt Keller zuversichtlich auch jenseits der Volksschriftstellerei die Befähigung zur Beförderung ethischer Aufbauarbeit zu. In dieser Schicht des Erziehungsoptimismus begegnet er sich mit A d a l b e r t S t i f t e r , der in diesem Zusammenhange nicht nur mit seinem Aufsatz „Über Beziehung des Theaters zum Volke" in Betracht kommt. Zwar ganz so optimistisch und pathetisch äußert sich Kellers Bedachtsamkeit nicht wie Stifter, dem der religiöse Impuls zweifellos stärkere Auftriebskräfte moralischer Art verleiht und der etwas kühn als Gegebenes annimmt, was Keller nur als Erstrebenswertes für möglich hält. Stifter schwärmt von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts: „Ein einziger Künstler und Dichter, der mit göttlicher Kraft und Weihe auf seine Zeit zu wirken verstand, hob die Menschheit durch seine Gebilde oft plötzlich um mehrere Stufen höher, wie es Unterricht, Ermahnung und Gesetze (nicht) gekonnt hätten". Man hört hier Schiller, fast den jüngeren Schiller, der die „Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet" und ihr eine Ergänzung ζ. B. auch der Gesetze zuschrieb. Keller ist behutsamer im Schritt und mahnt, gerade die Fehlerquelle des Pathetischen zu umgehen, die das an sich zu williger Gefolgschaft schon bereite Volk leicht wieder stutzig machen könnte. Die bekannte Stelle aus Kellers Brief an B. Auerbach (25. Juni i860) kann auch hier nicht entbehrt werden.

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Keller geht aus von Auerbachs Anerkennung: „Das (—• nämlich Kellers Dichtung) —• ist gesunde frohe Strömung", eine Anerkennung, die ihn auch im Hinblick auf sein Schweizer Volk erfreut, erwägt ein wenig schalkhaft-ernst, daß indessen bislang im Schweizer Volke noch nicht alles Gold sei, was glänze, und fährt fort: „Dagegen halte ich es für Pflicht eines Poeten, nicht nur das Vergangene zu verklären, sondern das Gegenwärtige, die Keime der Zukunft so weit zu verstärken und zu verschönern, daß die Leute noch glauben können, ja, so seien sie, und so gehe es zu! Tut man dies mit einiger wohlwollenden Ironie, die dem Zeuge d a s f a l s c h e P a t h o s n i m m t , so glaube ich, daß das Volk das, was es sich gutmütig einbildet zu sein und der innerlichen Anlage nach auch schon ist, zuletzt in der Tat und auch äußerlich wird." Schon dieser, wenngleich vernünftig gemäßigte Erziehungsoptimismus Kellers und seiner Kunstanschauung wehrt naturalistische Elendsmalerei ab, fordert ermunternde Auflichtung und Aufrichtung. Sowohl Hebbel wie Otto Ludwig wie Keller oder selbst Auerbach rücken deutlich ab von einem starren Naturnachahmungsprinzip, besonders von einem Abgleiten in das kleinliche Alltagselend. Hebbel prägt die knappe Formel: „Gemeine Misere ist aus der Kunst ausgeschlossen". Otto Ludwig glaubt zugestehen zu müssen in seinem Hang nach Selbstkritik: „Mein Hauptfehler war, daß ich Stoffe zur T r a g ö d i e aus dem K l e i n l e b e n n a h m " und findet letztlich doch „alles Kleinliche unpoetisch, daher alle Darstellungen aus dem gewöhnlichen Familienleben; die Darstellung mag nun idealistisch oder realistisch sein." Auerbach begrüßt als Teilverdienst der an sich abgewehrten Romantik doch den „von ihr ausgehenden poetischen Hauch, der uns vor dem schmutzigen Realismus der Nachbarvölker bewahrt". Und der alte Keller urteilt in einem B r i e f e an Heyse (7. S e p t . 1884) m i t d r a s t i s c h e r E n t r ü s t u n g ü b e r E r s c h e i n u n g e n des f r a n z ö s i s c h e n N a t u r a l i s m u s : , . D a u d e t . . . ist m i t v e r h ä n g t e m Z ü g e l der , N a n a ' s ' (Zolas) n a c h g e r i t t e n u n d dort angekommen, wo es unaufhörlich stinkt. Was liegt denn der Welt an den ewigen Lebensläufen dieser Pariser Huren und an ihrem täglichen, ja, stündlichen Lakenreißen? Nichts!" Keller bedauert, daß dergestalt das „edle, wohlgeborene Töchterchen Phantasie in den Sumpf gestoßen" werde. Ein Verstehen oder gar Billigen Zolas und seines Weges war dem poetischen Realisten

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schlechterdings unmöglich: „Was Zola betrifft, so ist derselbe von Haus aus ein gemeiner Kerl". Hier spielt allerdings — wie auch beim älteren Heyse selbst — bereits die unmittelbare Kampfstellung der älteren Generation gegen die vermeintlich „Moderne" mit hinein und verschärft entsprechend die Tongebung. Denn an sich hatte Keller in der Gotthelf-Kritik von 1855 nicht ohne Genugtuung und jedenfalls ohne übertriebene Ängstlichkeit es gutgeheißen, daß Gotthelf in seiner Vorliebe für die drastische Sprache des Volkes „keinen einzigen derben oder unästhetischen Ausdruck strich, um sich für den Salon der hochmögenden Residenzdame möglicher zu machen". Wahrscheinlich, daß die Härte jenes späteren Urteils ein wenig auch aus der Anpassung an den Heyseschen Standpunkt erklärt werden könnte; wahrscheinlicher, daß Keller selbst die einseitige Ausschlachtung des Derbrealistischen zum Selbstzweck verwarf, während er bei Gotthelf mehr das Mittel zum höheren erzieherischen Zweck billigen durfte. Im Wesentlichen der Gesamthaltung kann der poetische Realismus als die tragende Grundüberzeugung auch für Rudolf v o n G o t t s c h a l l s (1823—1910) Poetik; die Dichtkunst und

ihreFormen

(1858) angenommen werden. Von der politischen Tendenzdichtung ausgehend, massenhaft produzierend, landet doch Gottschall in der sicheren Position des angesehenen Kritikers in Leipzig, so daß seine Gegner mit lokalen Anspielungen wohl so etwas wie einen Gottsched des 19. Jahrhunderts in ihm zu sehen sich gewöhnten. Gegenüber Carriöres Poetik, die zeitlich früher liegt und an die Gottschalls Titelgebung anklingt, rückt doch Gottschalls Poetik merklicher von der ausgesprochen nachklassizistischen Richtung ab und nähert sich stärker der Position der Ästhetik Vischers. Vielleicht aber umreißt man seine Einstellung am knappsten, wenn man eine Popularisierung bzw. eine etwas bequeme Verwässerung der Programmatik Otto Ludwigs als kennzeichnend für Gottschall annimmt, ohne daß damit irgendwie ein „Einfluß" konstruiert werden sollte. Denn diese Dinge lagen damals in der Luft. Gottschalls „Poetik", die zahlreiche Auflagen erlebte (z.B. 6. Auflage 1893), lehnt noch in ihrer vierten Auflage (1877), nach der weiterhin zitiert wird, den krassen Realismus schroff ab mit der bekannten Begründung: „Der einseitige Realismus schafft ein Kunstwerk, in welchem die geistlose Natur herrscht." Die reine kopierende Naturnachahmung wird als unzulänglich zurückgewiesen: „Die Nachahmung des Wirklichen als eine bloße Wieder-

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holung desselben kann das Kunstschöne nicht erzeugen" (S. 118/9). Selbst die dann als positive Zielprägung des konsequenten Naturalismus ausgebildete Formel vom Kopieren, vom „Abschreiben" der Natur taucht — natürlich polemisch verneint — bereits bei Gottschall auf, der das Trugziel des Realismus so festlegt: „Der Realismus will. . ., daß die Poesie die Wirklichkeit a b s c h r e i b e . " Derartige Kernsätze deuten Gottschalls Marschrichtung hinreichend an, so daß die zusammenfassende Ablehnung jener Fehlrichtung nicht mehr überraschen kann: „Der Realismus als durchgreifendes Stilprinzip kann in der Dichtkunst nur zu Verirrungen führen." Die dergestalt im Hinblicken auf eine Verstraffung des Realismus beigebrachten Gegenargumente ähneln also weitgehend —• wie auch sonst bei dieser vorbeugenden Abwehr vor dem Volleinsatz der Bewegung — den später im Rückblicken auf die verwirklichte naturalistische Bewegung üblichen Einwänden. Auf der anderen Seite — und das erinnert an Ludwigs oder Kellers Haltung — verwirft Gottschall unzweideutig und nicht ohne Nachdruck einen geblähten, verstiegenen oder — wie er sagt — „windigen" Idealismus. Dabei scheidet eine zweifellos nüchterne Verständnisverengung mit spürbarer Vorliebe alle stark gefühlsmäßigen Wirkungskräfte, daxunter Klopstock, Novalis und Hölderlin, recht pedantisch als minderwertige Abirrungen (!) vom rechten Wege aus. Dieser rechte Weg aber wird bestimmt durch die zielsetzende Wegweisung eines Ausgleichsstrebens von Idealität und Realität, das zugleich den gesicherten Fortschritt verbürgen sollte: „Nur die echte Durchdringung von Natur und Geist, I d e a l i s m u s u n d R e a l i s m u s im B u n d e schaffen das wahrhaft schöne Dichtwerk." Die beliebte Handlichkeit mancher Gottschallscher Formulierung vermag doch über eine gewisse billige Oberflächlichkeit nicht hinwegzutäuschen. Ein Jahr vor R. Gottschalls Poetik war Wilhelm Raabes Erstlingsroman „Die Chronik der Sperlingsgasse" (1857) erschienen, der in seiner Art —• und zwar ebenfalls nicht ohne eine gewisse Oberflächlichkeit —· Idealismus und Realismus zu vereinen versuchte. Eben deshalb hatte er einen erstaunlichen Publikumserfolg. W i l h e l m R a a b e (1831—1910), am vermeintlichen Ende der „Kunstperiode" geboren, genauer in Hegels Todesjahr, hat nicht Hegel, sondern dessen Gegner Schopenhauer zu seinem Leibphilosophen erhoben. Man darf ruhig so sagen, weil es sich dabei für Raabe weit mehr um ein leibliches Lebensgefühl als um

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eine geistige Weltanschauung handelte. Denn er hat den Autodidakten in sich niemals so weitgehend überwunden wie etwa Friedrich Hebbel oder Gottfried Keller. Von Gottfried Kellers goldenem Humor, dem zwar auch der Bitterreiz der menschenkennerischen Skepsis nicht fehlte, trennt ihn von vornherein der Hang zur schwerblütigen und schwermütigen, aber auch geistig schwerer beweglichen Grübelei. Und wenn in G. Keller ein gut Stück vom besinnlichen, aber zugleich kampflustigen,.Protestierer" lebendig war, steckte und wirkte in W. Raabe ein beträchtlicher Anteil vom sinnierenden und spintisierenden „Sektierer". So konnte es nicht fehlen, daß er in der Raabe-Gesellschaft gleichsam eine eigene Sekte von treuen Anhängern um sich versammelte. Aber war es nicht doch etwas hochgegriffen, einer ShakespeareGesellschaft und einer Goethe-Gesellschaft nun auch eine leibhaftige Raabe-Gesellschaft zur Seite zu stellen ? Die Frage nämlich, wohin denn nun das Kunstwollen Raabes tendiert, gelangt bei allem liebevollen Verständnis zu der etwas herben Antwort, daß Raabe dem Zug zum gehobenen Unterhaltungsroman immer wieder nachzugeben geneigt war. Und die Gegenfrage, inwiefern dann der Schopenhauereinfluß so deutlich wirksam werden konnte, gelangt zu dem Schlußentscheid, daß Raabe gleichsam eine einigermaßen gewagte Transponierung von Schopenhauer in Spitzweg vorgenommen hat, freilich in einen (trotz Regenschirms) merklich eingeregneten und eingetrübten Spitzweg. Der weiland Buchhändlerlehrling Wilhelm Raabe liebte auch sehr die Bücher wie Spitzwegs lesehungriger Poet in der Dachkammer. Aber noch mehr als bei seinem Vorbild Jean Paul geriet bei ihm das Zettelkastenwissen ins Didaktische der allenthalben sich vordrängenden, ja aufdrängenden Lebensweisheit. Späterhin wurde in der Reifezeit Raabes jene Abhängigkeit kunsttechnischer Art von Jean Paul und weltanschaulicher Art von Arthur Schopenhauer gelöst oder doch weitgehend gelockert. Raabe selber setzt sich nun kräftiger durch. Aber das geschieht in einem Grade, daß nun — wie ein einsichtiger Kritiker leise humorig bemerkt hat — alle Gestalten sich gleichsam in „kleine Raabes" verwandeln. Ein Ähnliches allerdings behauptet derselbe Kritiker (R. M. Meyer) auch vom späten Theodor Fontane, zum mindesten hinsichtlich der Redeweise. Dahinter wird eine Gefahrenzone des poetischen Realismus überhaupt sichtbar. Denn als „künstlerischer Realismus" (Otto

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Ludwig) konnte er seiner selbst nur sicher bleiben, wenn er den Dichter fortgesetzt als Bürgen für das „Künstlerische" oder „Poetische", eben des „poetischen Realismus", zur Hilfe rief. Emile Zolas Bedingung: „gesehen durch ein Temperament" wäre entsprechend zu variieren in „gesehen durch ein Talent", nämlich durch ein Erzählertalent, das jederzeit für seine Erzählungskunst persönlich eintreten mußte, um den Leser daran glauben zu machen und in diesem Glauben und Vertrauen zu festigen. Zuzugestehen ist jedenfalls, daß zum mindesten der späte Raabe allzu reichlich Gebrauch macht von der poetischen Lizenz und kunsttechnischen Empfehlung Friedrich Spielhagens („Über Objektivität im Roman"), lieber einen Autor-Stellvertreter in den Roman hineinzuschmuggeln, als daß der Autor sich überall durch Rahmenbemerkungen — bei Raabe oft humorig aufgelichtete und entschärfte Schopenhauersche „Aphorismen zur Lebensweisheit" — in das objektive Romangeschehen einmische. Aber das Geschehen und die Gestalten werden bei Raabe oft nur, und zwar in zunehmendem Grade, zu Gelegenheitsmachern für das Ausbreiten von Lebenslehren und Lebensweisheiten. Und streckenweise besteht ernstlich die Gefahr, daß der ständige Einbruch, Druck und Eindruck des Didaktischen die epische Substanz als solche angreift und zerstört, wie bei der oft forcierten Namengebung die Unbefangenheit des Humorig-Launigen gefährdet wird von einem Eigenbrötlerisch-Launenhaften. Vorerst aber hielt sich der frühere Raabe eindeutig und gelegentlich recht eng an die Vorbild-Poetik fremder Muster. Dabei beschränkt er sich nicht auf deutsche Vorbilder wie Jean Paul, Ε. T. A. Hoffmann, Willibald Alexis, sondern zieht auch Ausländer mit heran, wie etwa den dänischen Märchendichter H. Chr. Andersen („Sperlingsgasse") oder den Engländer William Makepeace Thackeray („Sperlingsgasse"; „Hungerpastor") oder den damals vielgelesenen Amerikaner Washington Irving („Der Student von Wittenberg", vgl. „The student of Salamanca"). Aber Thackeray z.B. wirkt weit satirischer, wo der Deutsche humoristischgemütvoller wirkt. Kurz, die Aneignung wird zur Anverwandlung. Und so war Raabe letzten Endes doch wieder berechtigt, in seinen ,,Gedanken und Einfallen" (etwa i860—80) den Anspruch zu erheben, ein ausgeprägt deutscher Dichter zu sein, und den entsprechenden Vorwurf zu erheben, daß der Deutsche allzu willig und allzu wenig würdig dem Weithergeholten nachlaufe. Er da-

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gegen ist überzeugt „Nur diejenigen Kunstwerke haben Anspruch auf Dauer, in denen die Nation sich wiederfindet. Dieses kann auf die mannigfaltigste Weise geschehen. Auch teilweise. Idyllisch — im großen Epos — im Drama. Aber ein Werk kann technisch noch so vollendet sein und doch tot bleiben". „Nationales Leben" entscheidet, ob nun in 0 . Goldsmiths „Landprediger von Wakefield" oder in Goethes „Hermann und Dorothea"-Epos, im Werther, im Faust, indessen — wie Raabe einschränkt — „doch nicht im Wilhelm Meister". Diese Einschränkung dürfte erfolgt sein unter dem Eindruck der „Meister"-Kritik seitens der Romantik (bes. Novalis'). Und in eigener Sache macht Raabe nicht ohne spürbare Bitterkeit geltend: „Wenn ein Franzose so das innerste französische, ein Engländer das innerste englische Wesen gekannt und beschrieben hätte, wie ich das deutsche, wie würden denen ihre Völker mit Jauchzen zugefallen sein!" Überhaupt versteift sich bei Raabe nicht nur die allgemein kulturpatriotische, sondern auch die speziell nationale Tendenz, wie es z.B. besonders deutlich wird an seinen Bekundungen über „Kleist von Nollendorf". In ihnen nämlich klingt etwas an von dem Gedanken, das Historische in den Dienst der Gegenwart zu stellen. Zum mindesten erhofft er sich aus dem Vergangenen eine innere Stärkung des Gegenwärtigen, so daß die Rückbesinnung einen Rückhalt bietet für die Gegenwarts-Gesinnung: „Die Gegenwart liebt es, die Schatten großer Männer und großer Ereignisse heraufzubeschwören; es sind leuchtende Schatten: der Glanz und das Licht, welches sie in die Gegenwart werfen, trösten, kräftigen, beleben; und die Gegenwart bedarf des Trostes, der Kräftigung, der Belebung". Weit überwiegend sind die Aphorismen der „Gedanken und Einfülle" auf Lebenslehre, nicht auf Kunstlehre eingestellt. Auch Politisches wird hineingenommen, wobei die konservative Grundhaltung überwiegt. Immerhin fällt einiges für die Kunsttheorie ab. So etwa wird die Einsamkeit der künstlerischen Konzentration hervorgehoben: „Im Augenblick, wo der rechte Künstler schafft, hat er weder Weib noch Kind und am allerwenigsten Freunde". Und eigenartig aus ganz anderer Zeitatmosphäre doch an — G. Benn erinnernd, die Eigenständigkeit des Kunstwerks ohne Berücksichtigung des Kunstwertaufnehmenden: „Das wahre Kunstwerk ist seiner selbst wegen da, nicht dessen (wegen), der vor ihm steht". Das Verhängnis liege im wirkungswilligen Schielen nach

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der Wirkung. Die Großwerke der Dichtkunst (Paradigma ist Shakespeare) fragen nicht danach, was irgend jemand über sie denkt, schreibt oder gar drucken läßt. Eine Schwäche der jüngeren Kunstübung sieht Raabe im ständigen Ausschauhalten nach der Kunstwirkung und deren Reflex in gedruckten Würdigungen: „Jetzt zeigt mir das neue Werk, dem das letztere (Besprochen- u. Gewürdigt werden in Schrift und Druck) einerlei ist!" Symbol für den Grad der Wirkung ist die Situation der Aufnahme. Was aus dem Herzen gewachsen ist wie Goethes „Dichtung und Wahrheit" vermag wieder ans Herz zu wachsen, während man anderes mehr Gemachte und nur Gekonnte wie G. Freytags „Soll und Haben" nur auf dem Sofa liegend „nach Tisch" liest. Das eine fördert die Bildung des Herzens; das andere die Verdauung des Magens. Allerdings erinnert der Aphorismus über das Mittelding zwischen dem „Besten" und „Schlechtesten", das in der „Unterhaltungslektüre" gesehen wird, ungewollt aber zwangsläufig daran, daß auch in der vielgerühmten Dichtkunst W. Raabes manches in Wirklichkeit zur „gehobenen Unterhaltungslektüre" tendiert. Und es muß klar ausgesprochen werden, daß Wilh. Raabe in seinen „Gedanken und Einfüllen" über das — von ihm theoretisch so verachtete — Mittelmaß nur selten hinausgelangt. Denn nicht immer verbürgt der Mangel an Scharfgeistigkeit, der bei W. Raabe zweifellos vorliegt, auch schon Tiefgeistigkeit. Und gerade bei seinen vermeintlichen Tiefen stößt man sehr bald auf Untiefen, um nicht zu sagen auf geistige Sandbänke. Einiges greift immerhin etwas tiefer. So etwa die Forderung der unbedingten Wahrhaftigkeit für die echte Dichtkunst. Ungestraft „lügen" darf man „in politischen Abhandlungen . . . und dergleichen". Niemals aber in der Dichtkunst: „lügst du aber in der Dichtkunst, so lacht die Natur, die Sterne schütteln sich vor Lachen und — Mitleid". Ebenso ist sich W. Raabe klar darüber, daß alle echte Poesie stets „symbolisch" bleiben muß: „Alle Poesie ist symbolisch". Niemals kann die Tiefe in der „tagtäglichen Realität" liegen. Künstlerische Gültigkeit geht vielmehr immer „über den Tag hinaus". Aber dem „über den Tag" Hinausgehen muß beim rechten und echten Dichter das über sich selber Hinausgehen entsprechen. Und nur die Raabe eigene Bitterkeit, die oft an Schopenhauer erinnert, sieht ein „Hemmnis" auf dem Wege in der Neigung und Nötigung, „mich in die Seele und die Zustände dieser anderen zu versetzen". Dem pädagogischen Zug Raabes entspricht es, daß er nicht vorab

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fragt, was ästhetisch wirkt, sondern was ethisch fördert. Die „Fingerzeige" der Lebenskunde übertreffen die Fingerabdrücke des formenden Genius. Teilweise ist es das Pädagogische, teils das Theologische, das mit solchen Fingerzeigen bald das Irdische erklärt, bald das Überirdische verklärt. Und der Ausweis für dieses Leben verbindet sich nicht selten mit dem Hinweis auf jenes Leben einer oft hindurchschimmernden Transzendenz. Diese Grundeinstellung aus einem ausgeprägten Lebensgefühl spiegelt sich nicht zuletzt in einer Goethedeutung, die merklich Eigendeutung bleibt: „Es kommt für den wirklichen Menschen die Zeit, wo er in den Werken der Autoren nicht mehr die Kunst, das Ästhetische sucht, um sich selber Ruhe zu schaffen im Sturm des Lebens, sondern die Fingerzeige, wie jene sich in dem großen Kampfe zurechtgefunden haben". Zunächst einmal scheint im K u n s t w o l l e n Raabes das zeitgemäße Interesse an dem rechten Verhältnis von Historie und Poesie zu überwiegen. Zum mindesten folgt er der Anregung W. H. Riehls, angesichts der historischen Bildung der Leser die abseitiger gelegene Lokalgeschichte, wie sie in Chroniken vermittelt ist, also die kulturhistorische Novelle und den kulturhistorischen Roman, besonders aber die von Riehl auch nebenbei angeratene Chroniknovelle zu verwirklichen. „Der heilige Born" (1861), „Unseres Herrgotts Kanzlei" (1862) weisen in diese Richtung trotz des Einmündens der großen Geschichte in den Magdeburg-Roman. Die Titelgebung des erfolgreichen Erstlingsromans „Die Chronik der Sperlingsgasse" (1857) betont von vornherein das Chronikhafte. Noch hinter „Des Reiches Krone" (1870) steht eine Nürnberger Chronik. Aber was dabei herauskam und auch der Darstellungsabsicht nach offenbar herauskommen sollte, war das, was der Gruppentitel einer relativ frühen Erzählungssammlung treffend umschreibt als „Halb Mär, halb mehr" (1859). Der „Marsch nach Hause" folgt dem Bericht eines Vorarlberger Volkskalenders; kurz, der Ehrgeiz nach verläßlicher Datentreue ist nichts weniger als ausgeprägt beteiligt. Auch in die „Chronik der Sperlingsgasse" ragt die große Geschichte nur mit dem Rückbezug auf die Freiheitskriege hinein. Und es wird deutlich: Wilhelm Raabe interessiert im Grunde das Wesen des Menschen weit mehr als seine politische Geschichte. Die Geschichte ist ihm niemals Selbstzweck, sondern immer nur ein Mittel zum Zweck menschlicher Entwicklung und menschlicher Bewußtwerdung. Zusammenfassend darf

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man etwa sagen: wie in den historischen Prosadichtungen Raabe bei aller Berücksichtigung der Zeitverhältnisse letzten Endes doch der Mensch im Vordergrund steht, so gibt es auf der anderen Seite kaum einen Roman oder eine Novelle, in die nicht zugleich Geschichtliches hineinragt. Kurz, das Historische oder Kulturhistorische ist bald Leitmotiv, bald Begleitmotiv. Es kommt ihm nicht vor allem darauf an; aber er kommt schwer ohne diese historische Patina aus und noch schwerer ganz davon los. Die prinzipielle Lebensweisheit wirkt legitimer, wenn die historische Lebenserfahrung hinter ihr steht. Und indem man aus den erzählten Geschichten lernt, lernt man zugleich ein Stück Geschichtserzählung. Was für Walter Scott noch Hauptsache gewesen war, wird nun eine „schöne Nebensache", die man nicht gerade verehrt, aber doch ungern entbehrt. Der Akzent in Heines bekannter Prägung hat sich also weitgehend verschoben, ganz abgesehen davon, daß dort Poesie und Politik (nicht Historie) gemeint waren. Die werkimmanente Poetik muß bei Raabe aushelfen, weil die formulierte Poetik weitgehend versagt. Das abstrakt begriffliche Denken brauchte Raabe als Dichter gar nicht erst fürsorglich von sich abzuwehren und fernzuhalten. Es lag ihm ganz offensichtlich von vornherein völlig fern. Man braucht nur einmal seinen Briefwechsel mit dem inzwischen längst vergessenen Dichter Wilhelm Jensen zu lesen, um eindeutig bestätigt zu finden, daß er allenthalben und allerorts zwar „In Alls gedultig" (so nennt sich der Briefwechsel), aber auch überall auf das Konkrete angewiesen bleibt. Er hielt sich mehr und mit Vorliebe an die knappe Veranschaulichung. Und sein bekanntes Mahn wort „Gib ächt auf die Gassen, aber blick auf zu den Sternen!" ist nicht geringer an Lebens- und Kunstweisheit als Otto Ludwigs Vergleichsbild, daß der Dichter vom Format Shakespeares wohl immer das Haupt in den Wolken, aber den Fuß fest auf der Erde haben sollte. Die „Gasse" des poetischen Realismus — denn von einem ideellen Realismus kann bei Raabe schwerlich die Rede sein — ist keineswegs die vielverspottete „Gosse" des konsequenten Realismus (Naturalismus). Aber der Blick in die Sterne bedeutet auch nicht das Verklären des konsequenten Idealismus oder etwa gar des Kantischen Idealismus. Vielmehr: fest gehen und feierlich sehen, das Nahe nicht verachten und das Ferne dennoch beachten und achten, das vertrug sich recht gut mit einem poetischen Realismus. Und selbst noch ein gewisser Symbolismus vertrug sich mit ihm,

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ohne daß man deshalb in Analogie zum Frührealismus sogleich einen Frühsymbolismus deklarieren und etablieren müßte. Aber deutliche Ansätze zu einem Frühsymbolismus waren im Raum und Rahmen des poetischen Realismus ganz unverkennbar gegeben. Um bei Raabe zu bleiben: da ist z.B. das Symbol der Schusterkugel im „Hungerpastor", der ja nicht vorab nach materiellen Werten „hungert", da ist der Pestkarren im „Schüdderump", auf den schon der Titel anspielt, da ist die Mühle im romantischphantastischen mehr als spezifisch realistischen Roman „Abu Telfan" oder das Horn in der Erzählung „Das Horn von Wanza", die Reichskrone in der Erzählung „Des Reiches Krone", um hier nur einiges in Erinnerung zu bringen. Der Realismus nämlich, vollends aber ein poetischer und wahrhaft „künstlerischer Realismus", um auch hier den Terminus Otto Ludwigs aufzugreifen, ist immer geneigt und genötigt, das ideelle S i n n b i l d in den r e a l e n B i l d s i n n h i n e i n z u n e h m e n . Nur daß der ideelle und poetische bzw. künstlerische Realismus dasjenige noch im Nebeneinander zu bewältigen sich zutraute, was später erst die Abfolge von Naturalismus und Symbolismus sich im relativen Nacheinander zu bilden sich getraute. Mit anderen Worten und vielleicht gerechter: der ideelle und poetische bzw. künstlerische Realismus hatte sich ein wenig viel auf einmal zugemutet, ohne es deshalb vollwertig verwirklichen zu können. Und nicht zuletzt Wilhelm Raabe markiert die Grenze, an der das übersteigerte Kunstwollen umbrechen mußte in ein nicht ganz ausreichendes Kunstkönnen. Man kann die überspitzte Spitzenleistung nicht mehr durchhalten und erholt sich in der Unterhaltung. Wilhelm Raabe blieb, so betrachtet, ein Opfer auf diesem Wege, der eine Synthese wollte, bevor die Antithese hinreichend geklärt war. Er fand noch nicht den Ausweg des späten Fontane.

IV. Gattungstheoretische Sonderbeiträge Bevor aber der Blick unmittelbar auf den Umbruch vom poetischen Realismus zum konsequenten Realismus (Naturalismus) gelenkt werden kann, wird es erforderlich, jene gattungstheoretischen Sonderbeiträge und Sonderbestrebungen zu würdigen, die in ihrem Wesen und Werden und Wollen — auch in ihrem Kunstwollen — wesentlich im Raum des poetischen, künstlerischen und ideellen Realismus liegen. Der Grad dieser Entfaltung von Gattungstheorien ist zunächst erstaunlich. Aber er folgt nur dem zunehmenden Zug zur Spezialisierung auf allen Gebieten des Geistes und des Lebens, der Theorie und der Praxis. Die Technik war vorangegangen. Die Kunsttechnik folgte. Der Zugang zum Gesamtgebiet versprach sich am ehesten noch dann zu erschließen, wenn man von einem Sondergebiet ausging. Im bewußten oder unbewußten Wettbewerb mit den Naturwissenschaften konnte man nur bestehen und sich als Dichter oder Dichtungsdeuter durchsetzen, wenn man zum mindesten in einer Sparte Fachmann und „Spezialist" war und sich mit gleichsam tapferer Befangenheit zu einer derartigen weisen und vor allem wirksamen Beschränkung bekannte. Daß sich dieses systematische Verfahren in der Praxis bewährte, konnte schon angedeutet werden. Wie es sich in der Theorie entfaltete, bedarf noch der Darstellung. Diese Darstellung kann schlechterdings nicht erschöpfend sein, möchte aber doch wenigstens einige repräsentative Vertreter der einzelnen Kunst- und Dichtungsgattungen zu Worte kommen lassen. Dabei steht Richard Wagner, noch streckenweise in die Tendenz-Programmatik und Weltanschauungs-Ästhetik zurückreichend, für das Musikdrama und weiterhin für das „Gesamtkunstwerk", Gustav Freytag für das Wortdrama und den Roman, dessen Theorie auch durch Friedrich Spielhagen und Theodor Fontane vertreten sein wird, Wilhelm Jordan für das Epos, das späterhin einen fanatischen Fürsprecher in Carl Spitteier finden sollte, Theodor Storm für die Lyrik und die Novelle, die längst vor Paul Ernst in Georg Reinbeck und Paul Heyse ihre Verfechter aufzu weisen hat.

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R i c h a r d W a g n e r (1813—1883), dessen Persönlichkeit, Programm und „Programmusik" zu den umstrittensten Erscheinungen gehört, einzubeziehen und voranzustellen empfahl sich nicht nur, um eine Verengung des Blickfeldes zu vermeiden, sondern schien auch deshalb unentbehrlich, weil in seinem Bereich wieder einmal die Extreme sich berühren, indem aus dem Widerspruch der hoffentlich höhere Anspruch erwächst. Denn der Aufgliederung der Einzelkunst in Sondergattungen steht hier die kühne Zusammenfassung der Sonderkünste zu einer Gesamtkunst gegenüber, gleichsam als Ermahnung, über dem Mannigfaltigen nicht das Ganzheitliche aus den Augen zu verlieren. Richtet man den Blick, was themagemäß naheliegt, zunächst auf den umfangreichen zweiten Teil des Werkes über „Oper und Drama" (3 Bände, 1852), der den Sondertitel ,,Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst" trägt, so möchte man wohl geneigt sein, von Richard Wagner über die Theorie vom Musikdrama hinaus so etwas zu erwarten wie eine eigene T h e o r i e d e s D r a m a s im engeren Sinne. Und in der T a t bemüht er sich darin um die Gesetzlichkeiten des Dramas mit einer Intensität, wie man sie bei einem Komponisten kaum vermutet. Der Bezug auf die Musik ist fast ganz ausgeschaltet, so scheint es wenigstens auf den ersten (und auch noch auf den zweiten) Blick. Die Aufmerksamkeit ist vielmehr auf spezifisch dramatische Notwendigkeiten gerichtet wie Konzentration nach Gehalt und Gestalt, Motivierung, Steigerung, motivische Auslese u. a. m. Bei näherem Zusehen aber ergibt sich, daß auch dieses Kapitel letztlich doch nur der großen L e i t i d e e d e s m u s i k a l i s c h e n D r a m a s zu dienen hat. E s ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Wagner nämlich führt darin gleichsam den indirekten Beweis, daß das damals moderne Drama nur deshalb die Musik entbehren kann, weil es recht eigentlich gar kein „echtes" Drama mehr ist und zu sein vermag. Es kann vor allem deshalb kein echtes Drama mehr sein, weil es auf den „Verstand" eingeschränkt bleibt und die Gemütswerte der Gefühlserregung weitgehend entbehren, ja aus seiner Entwicklungssituation heraus geradezu verschmähen muß. Um dies zu beweisen, macht Wagner einen — etwas umständlichen und strekkenweise ermüdenden —· Umweg über das Historische und Politische, über das Geschichtsphilosophische, Kulturkritische und nicht zuletzt Gesellschaftskritische. Dabei deutet manches schon auf die spätere Verbindung mit Friedrich Nietzsche. 22

M a r k w a r d t , Poetik IV

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Wagner holt, wie er es liebt, sehr weit aus. Denn es handelt sich vor allem um eine g e n e t i s c h e W e s e n s b e s t i m m u n g des D r a m a s . Er geht induktiv, nicht deduktiv vor. In Wirklichkeit aber handelt es sich überwiegend nur um eine Scheininduktion, weil die beherrschenden Oberbegriffe und Leitideen merklich von vornherein feststehen. Und auch das Ziel dieses dramengeschichtlichen und allgemein kunstgeschichtlichen, ja kulturgeschichtlichen Umweges über eine angebliche Dramentheorie steht von vornherein fest. Es geht nicht darum, das „Wesen der dramatischen Dichtkunst" darzulegen und bloßzulegen, sondern darum, das Unwesen des modernen Dramas darzutun und bloßzustellen, um dann in diese Blöße mit der Waffe des Musikdramas hineinstoßen zu können. Schlicht gesagt, weil das dramatische Kunstwerk der Gegenwart nichts taugt und nichts taugen kann, ist das Kunstwerk der Zukunft berechtigt, ja notwendig. Warum kann das Drama nichts taugen ? Weil das Herkommen des modernen Dramas aus dem — Roman bereits nichts Gutes verheißt, weil die bürgerliche Gesellschaft alle „Unwillkür", alle triebhafte Spontaneität des freien Individuums verbietet und verhindert, weil das freie Individuum nicht isoliert und rein besteht, sondern von vornherein verbildet und eingetrübt ist von der staatlich-politischen Umwelt, kurz weil ein Echtmenschliches und eine „Reinmenschlichkeit" keine Entfaltungsmöglichkeit mehr vorfindet, jedenfalls nicht im „rezitierenden" Drama, im Drama als Wortkunstwerk. Die einzige Rettung liege in einer Rückkehr zum Mythos. Und insofern nähert sich R. Wagner dem Glauben der Romantik (bes. der Frühromantik), die bereits in der Mythologie eine Bürgschaft zu finden hoffte für echte Dichtung. Dieses theoretische Ausschauhalten nach der künstlerischen Erlösung durch den Mythos entspricht aber zugleich dem Wertakzent des Mythischen im Kunstschaffen Wagners. Die Endlösung für das Drama als Wortkunstwerk darf aber auch wiederum nicht vom Mythologischen ausgehen. Denn diese erlösende Funktion soll natürlich der Musik vorbehalten bleiben. Kein Wunder, wenn nach über einhundert Seiten teils betont logisierender, teils aber auch impulsiv verworrener Darlegungen die pathetisch-theatralische Schlußapotheose doch wieder der Musik zufällt; denn der „zeugende Samen ist die dichterische Absicht, die dem herrlich liebenden Weibe Musik den Stoff zur Gebärung (!) zugeführt" hat oder genauer: in Zukunft, im „Drama der Zukunft"

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zuzuführen ist. So löst sich nach mancherlei Versteckspiel die alte Frage: oil est la femme? Bei der Wagnerschen Oper ist sie zu finden, die Frau Musika, die allein noch fruchtbar ist nach allen rührenden (bis erschütternden) Bemühungen des Literatur-Dramas. Die damit angedeutete Befangenheit Wagners soll nun aber nicht dazu verleiten, die Funde, die er auf diesem Umwege für die Theorie des Dramas oder die Poesie überhaupt macht, zu mißachten. Die Erträge für die Poesie schlechtweg oder die Kunst schlechtweg (und selbst über die Lyrik) sind bei alledem vielleicht größer und bemerkenswerter als die für das „Wesen der dramatischen Dichtkunst". Daß dies so ist, bestätigt aber eben nur erneut, daß Wagner vor einem gründlichen Eingehen auf das Drama als Drama immer wieder unbewußt ausweicht, so breit und ausführlich er darüber zu handeln scheint. Vollends vom „Schauspiel" als Sonderform darf man trotz der Voranstellung im Titel nichts Eigenes erwarten. Es wird z.B. nicht von Tragödie, Komödie usw. abgehoben, sondern besagt etwa: Bühnenstück als Produkt der „dramatischen Dichtkunst". Bei der Ableitung des modernen Dramas aus dem Roman, die zunächst einmal befremdet, mußte R. Wagner auf Lessings Grenzsetzung im „Laokoon" stoßen, von dem er denn auch ausgeht. Aber natürlich mußte ihm, der auf ein „Gesamtkunstwerk" hinarbeitete, die saubere Trennung der Einzelkünste als problematische Unterstützung des leidigen „Egoismus" der Einzelkünste vorkommen. Lessing habe an sich insoweit recht, als er den „Todesschatten" der Kunst, die nur „erzählend-schildernde Kunst" (die der Komponist nicht recht gebrauchen konnte), abwehrte. Aber er unterschätzte die Macht der (nachschaffenden) Phantasie. Das hätte Wagner schon bei Lessings Zeitgenossen Chr. Garve nachlesen können; aber Künstler pflegen umständlicher zu verfahren, um zum mindesten vor sich selber originell zu wirken. Sie behaupten freilich, daß die Wissenschaftler in jedem Fall oder doch auf jeden Fall umständlicher seien. Es fällt indessen schwer, dies bei aller Einfühlungswilligkeit angesichts der Dramentheorie politisch dekorierter Art Wagners selbstkritisch aufrecht zu erhalten. Denn es fällt wirklich schwer, jeweils zu entscheiden, wo man gerade sich befinde, ob bei einem literarischen Programmatiker oder einem politischen Propagandisten, einem Kunstverehrer und Menschenfreund oder einem Kunstverächter und Menschenfeind, bei einem Kulturreformator oder Kulturrevolutionär, bei einem 22 *

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Freund der Antike, der Moderne oder der Zukunft, bei einem Fanatiker des Individuellen oder einem Phantasten des Universellen, bei einem Verfechter des Naturidealismus oder Kulturidealismus, bei einem Apostel der bewußten „Willkür" oder der unbewußten „Unwillkür". Richard Wagner sucht „Unwillkür" einzubürgern, um dem Zwiespalt der Wortbedeutung der „Willkür" zu entgehen. Und er meint damit etwa den ewigen und ewig überhörten Protest der „freien Selbstbestimmung der Individualität", die allein die tragfähige Grundlage darstellen und herstellen könnte für eine „gesellschaftliche Religion der Zukunft" gegen den übermächtigen und übermütigen Druck der lastenden Staatsmacht. Denn der damalige „Staat als Abstraktum ist die fixe Idee wohlmeinender aber irrender Denker", die vermeinen, die Unzulänglichkeiten und „Unvollkommenheiten der wirklichen Gesellschaft nach einer gedachten Norm ebnen und ausgleichen" zu können. Eben deshalb aber blieb auch dem modernen Dramatiker nur die Zuflucht zum Gedanklichen, zum Ideellen, zum „Vernünftigen", indem sich ein kläglicher Rest jener urtümlichen Individualfreiheit nur in den Gedanken, nur in ein Gedachtes retten konnte, wobei es selbst noch in diesem Reservat vom staatlich sanktionierten Religions-„Glauben" bedrängt und bedroht wird. Die Urkraft des Naturhaften bricht sich an der Macht der Gewohnheit. Nicht zufällig ist im Vor-Spielfeld der Denkformen Nietzsches die bürgerliche „Gewohnheit" eine Urfeindin alles Ungewöhnlichen, wie die „Willkür" eine Urfeindin ist der „Unwillkür" und das bürgerlich „Gemeine" eine Todfeindin ist des genial Ungemeinen. In diesem scheinbar ausweglosen Dilemma führte der Entwicklungsweg des neueren Dramas notwendig von der Historie zur Politik, um sich in ihr vollends festzurennen. Denn nicht nur Napoleon habe behauptet, daß die Politik das moderne „Fatum" sei. In einer „rein politischen Welt" bedeutet unpolitisch bleiben soviel wie „gar nicht existieren". Aber andererseits kann der Politiker nur zum Dichter werden, wenn und wo er aufhört, Politiker zu sein. Von diesem Ansatz gelangt Wagner zu der radikalen Notlösung: „Der Dichter kann nicht eher wieder vorhanden sein, als bis wir keine Politik mehr haben." Aus dieser merklich konstruierten Ausweglosigkeit bleibt —• um es vorwegzunehmen — nur ein Ausweg: die Musik, das musikalische Drama, das den Künstler von dem Zwang der Vernunft freisetzt, indem es den Drang des

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Gefühls freimacht. Es wird dabei wirklich etwas (und zwar das Wesentliche) vorweggenommen. Denn an sich heben Wagners hier gemeinte Darlegungen ganz geruhsam, aber für den Literaturhistoriker doch einigermaßen beunruhigend damit an, daß zunächst einmal der Roman sein mußte, bevor das neuere Drama werden konnte. Ja, es wird kurzerhand die alarmierende Behauptung aufgestellt: „Der eigentliche Kern unsrer Poesie (also nicht nur des Dramas) liegt im Roman." Als Beleg muß Shakespeare herhalten, vielleicht weil er Novellenstoffe dramatisch umgewertet hat. Sein Drama „strotzte" wie der Roman von Geschehensfülle; nur eben daß er die „zerstreute Vielstoffigkeit" des Romanhaften entsprechend vereinfachend zu „verdichten" verstand. In den romanischen Literaturen habe die schrankenlose Handlungsfülle und Geschehensvielfalt „am tollsten gewütet". So sei es den germanischen Nationen vorbehalten gewesen, die Transformation und Transfiguration des Romanhaften zum Dramatischen relativ wirksamer zu demonstrieren, während sich die Romanen, vorzüglich die Dramatiker der französischen Klassik wie Racine, am Vorbild der griechischen Tragödie eine — freilich starre und letztlich rhetorische — Stütze suchten. Die Handlung werde dabei hinter die Szene abgedrängt, um die Bühne ganz der „Äußerlichkeit der Rede" vorzubehalten. Es leuchtet ein, daß R. Wagner mit diesem Verfahren, obwohl Gluck daran anknüpfte, nichts weniger als zufrieden sein kann; denn die Überwertigkeit der Rede tut dem Wert der Musik Abbruch. Und er will ja nicht die Oper, sondern das „musikalische Drama". Was die großen deutschen Dramatiker betrifft, so wird von Goethe und Schiller behauptet, daß auch sie schon in ihren Frühwerken an den Roman angeknüpft hätten. Dabei wird wohl die Lebensbeschreibung Gottfrieds von Berlichingen als „Roman" aufgefaßt. Und vielleicht dachte Wagner bei Schillers „Räubern", die in diesem Zusammenhange ebenfalls als Beleg bemüht werden, an Schubarts bekannte Kurzerzählung. Trotzdem bliebe jener eigenartige und eigenwillige Ansatz kaum mehr als ein Kuriosum, wenn man nicht bald beobachtete, wie eng R. Wagner „Historie und Roman" aneinanderrückt. Und diese Beobachtung wird ergänzt oder bestätigt durch die andere, daß im Verlaufe dieser Beweisführung etwa schon von der Erwähnung des „Egmont" mit seinen „weitverzweigten historischen Momenten" an mehr

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und mehr vom Sondertypus des „historischen Romans" gesprochen wird oder auch von der „historischen Chronik". Und man erinnert sich, daß Wagner im Raum des „Historismus" des neunzehnten Jahrhunderts stand und von da aus seinen Blickwinkel auch an die zurückliegenden Bestände des Dramas legte. Diese zeitgebundene Sehart wird nun auch für Shakespeares „Historien"-Dramen verbindlich, während Schillers historisches Drama dieser Sicht von sich aus weitgehend entgegenkam. Was aber den „praktischen Roman unsrer Zeit" und die Umbildung des Historischen zum Politischen betrifft, so ist es ganz unverkennbar, daß mit der Wandlung des bloßen historischen „Kostümzeichners" zum Erfassenwollen der politischen Wirklichkeit das Junge Deutschland und die ihm benachbarten Dramatiker gemeint sind, unter denen immerhin Grabbe mehrfach der Oper sehr nahe gerückt war oder Heine mit dem Tanzpoem „Dr. Faust" der Tanzpantomime sich zugewendet hatte. Aber bei diesem rauhen Kampf mit der Wirklichkeit und bei diesem an sich achtbaren Unterfangen, „für das erkannte wirkliche Bedürfnis der menschlichen Gesellschaft zu streiten", mußte zunächst die Romandichtung und in Anpassung an sie auch die dramatische Dichtkunst ihr bislang notdürftig (bis dürftig) bewahrtes „künstlerisches Gewand" abstreifen. Wieder bot sich dergestalt die Rhetorik als Notlösung an. Aber nicht die Rhetorik des klassischen, französischen Dramas, sondern die „Rhetorik der Tribüne". Der künstlerische Anspruch und Anruf entartete zu einem bewußt politischen „Aufruf an das Volk", und die „Romandichtung ward Journalismus". Der politische Dramatiker hat sich an die Vernunft zu halten, weil Freiheit nur im Gedanken geduldet wird und sich also auch nur gedanklich-vernunftgemäß fortpflanzen kann. Seine Sprache ist daher die „ungefühlvolle moderne Sprache". Kein Wunder, wenn es dein „heutigen Schauspieldichter" als abwegig, „ungeeignet, verwirrend und störend" erscheint und erscheinen muß, „wenn er die Musik für einen Zweck mit verwenden sollte, der irgend verständlich nur als Gedanke an den Verstand, nicht aber an das Gefühl als Affekt auszusprechen ist". Kein Wunder aber auch, wenn R. Wagner trotz weltanschaulicher Teilsympathie diese damals neueste Notlösung ablehnt, weil sie von der Musik fortführt. Dieses ganze Literaturdrama kommt ihm vor wie das von ihm bestgehaßte der Musikinstrumente : das Klavier, das etwas vortäuscht, was es nie verwirklichen

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kann, weil es sich vom Ursprünglichen und Reinmenschlichen (gesungener Ton) so weit wie möglich entfernt hat. Der gesprochene Ton (Vokal) öffnet den Zugang zur Musik. Denn der „Wortsprache" als „Organ" der Poesie ist angeblich nur das Verstandesmäßige zugänglich (logisierender Teil der Sprache), so daß alles unmittelbar Gefühlsmäßige der „Tonsprache" vorbehalten bleibt. Nur der Urform der Sprache wird die tönende Ausdnicksfähigkeit zuerkannt. Die Frage nach dem Ursprung der Sprache wird berührt, wie schon vorher die Natursprachenlehre (das Verstehen der Aussagen der Natur) gestreift worden ist. Sogar die Vogelstimmentheorie wird (wohl ohne Rückgriff auf Rousseau) zur Verstärkung der Tendenz herangezogen. Als Kernprägung mag herausgestellt werden: „Die T o n s p r a c h e ist Anfang und Ende der Wortsprache, wie das G e f ü h l Anfang und Ende des Verstandes, der M y t h o s Anfang und Ende der Geschichte, die L y r i k Anfang und Ende der Dichtkunst ist. Die Vermittlerin zwischen Anfang und Mittelpunkt, wie zwischen diesem und dem Ausgangspunkte, ist die P h a n t a s i e " . Die Gegenüberstellung von „Wortsprache" und „Tonsprache" bleibt, kritisch gesehen, im Wortspielerischen stecken, da Sprache als Sprache auf das Wort angewiesen bleibt, während der bloße „Ton" niemals Sprache bilden kann. Ebensowenig stichhaltig wie diese Unterscheidung wirkt eine Entwicklung des Verstandes aus dem Gefühl, wie sie durchgängig von R. Wagner behauptet wird, oder die Entwicklung des Dramas aus dem Roman, um hier nur einiges anzumerken. Der Umstand, daß Wagner zwangsläufig auf die Lyrik zu sprechen kommt, wo er die Notwendigkeit der Musik für das „vollendete Drama" nachweisen will, verrät das Verkrampfte und Vorurteilsvolle seiner Folgerungen. Wenn er die Dinge auf die Tonsprache hinausspielen wollte — und das will er ganz unverkennbar —, hätte es nahegelegen, von der Lyrik auszugehen, nicht aber vom „Schauspiel und dem Wesen der dramatischen Dichtkunst". Aber weil er die Ausbildung des musikalischen Dramas für sein Kunstschaffen beansprucht, muß das Drama herhalten, darf aber natürlich die Belastungsprobe nicht aushalten, damit es ersatzbedürftig erscheint. Es kann auch von der Poetik her nicht widerspruchslos der Eindruck hingenommen werden, den R. Wagner hervorzurufen

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versucht, als ob die Wortsprache als Darstellungsmittel und Ausdrucksmittel des künstlerischen Sprach-WortkunstWerkes von sich aus keinerlei Möglichkeiten habe, aus dem Gefühl heraus zu sprechen und wiederum das Gefühl anzusprechen. Nicht von ungefähr spricht R. Wagner immer wieder von der „höchsten Steigerungsfähigkeit" und der „höchsten Erregtheit", ob es sich nun um das Verhältnis zur Natur oder Kultur handeln mag. Er arbeitet mit diesem Superlativ des letztlich Rauschhaft-Dionysischen, weil er hofft, daß in solchen extremen Fällen die immer zugleich besonnene Geistigkeit der Sprache versagt, so daß nur noch Melodie und Rhythmus ausreichen. Aber wer sagt denn, daß es Aufgabe des Kunstwerkes, und zwar auch des Kunstwerkes der Zukunft ist, letzte rauschhafte Steigerungszustände zu vergegenständlichen und suggestiv zu machen ? Und wagt sich gerade die ProgrammMusik nicht ihrerseits auch in Bezirke, wohin das Darstellungsmittel der Musik nicht restlos reicht ? Man kann noch einen Schritt weitergehen und fragen: hätte aus den beschriebenen Ansätzen nicht eigentlich die Folgerung für R. Wagner darin liegen müssen, einen „Laokoon" mit Grenzziehung: Musik-Dichtkunst zu schreiben, nicht aber eine Synthese, die doch in der Summierung stecken bleibt. Denn wenn die Poesie alles das (Angedeutete) schlechthin nicht kann, während die Musik es glänzend „kann", so sieht man nicht ihre Schranken vernichtet, sondern schroffer als jemals errichtet. Den Grenzübergang soll nun die Lyrik erleichtern, weil sie dem Gefühl näher steht, weil sie mehr mit dem Vers als einer vermeintlichen Entsprechung zur Rhythmik und mit dem Reim als einer vermeintlichen Entsprechung zur Melodie zu tun hat. Wäre nun nicht die Konsequenz das „lyrische Drama", das die Kunsttheorie des achtzehnten Jahrhunderts als Terminus für das ernste Singspiel anzuwenden gewöhnt war? Aber damit würde R. Wagner wieder in das italienische „dramma lyrica" einmünden und damit in die „alte" Oper, die er ja gerade durch das Musikdrama ersetzen möchte. Grob und geradeweg gesagt: R. Wagner vertritt keine zweckentbundene Theorie, sondern eine zielgebundene Tendenz. Immerhin fühlt er, daß er dabei in das Privat-Persönliche gerät, nämlich in den Verdacht, das Musikdrama nur deshalb zu fordern, weil er es selber gefördert hat, also sein Kunstwollen nachträglich nach seiner eigenen Kunstleistung zu stilisieren, also nach der Art der Selbstrechtfertigungspoetik. Denn er hält es für erforderlich, in

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einer Anmerkung gegen Schluß des Kapitels „Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft", das er in seinem mehrfach zitierten Buch von 1851 (Oper und Drama) dem hier vor allem gewürdigten Kapitel über „Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst" zugleich abschließend folgen läßt, mit jener in solchen Fällen notgedrungenen (ihm sonst wenig eigenen) Bescheidenheit klarzustellen, daß er keineswegs den Anspruch erhebe, in seiner eigenen Kunstleistung jenes Kunstwollen „der Zukunft" schon vollwertig und kunstwürdig verwirklicht und verwesentlicht zu haben. Mag diese „Bescheidenheit" ein wenig (und auch etwas mehr) Pose sein, so ist echte Position offenbar die Begründung der eigenen Unzulänglichkeit aus der Unzulänglichkeit seiner Zeitverhältnisse heraus. Denn hier steht R. Wagner in Opposition gegen seine Zeit. Und eben dann und dort pflegt er am echtesten und ehrlichsten zu sein. Er zieht sich in diesem prekären Falle darauf zurück, daß er nicht auf seine Kunstleistung „stolz" sei, wohl aber auf die kunsttheoretische Einsicht und Ansicht, der ihn diese Kunstleistung als künstlerisches „Bewußtsein" zugeführt habe. Sympathisch berührt dabei, daß R. Wagner sein Kunstwollen nicht nur demonstriert, daß er es nicht nur instruktiv, sondern auch produktiv werden und wirken läßt. Sympathisch berührt weiterhin, daß er sich nur soweit der „Zukunft" anvertraut, als er seiner Gegenwart mißtraut, als er der Zukunft zuspricht, was er seiner Gegenwart abspricht, daß er eher noch das Zurückliegende um des Zukünftigen willen bejaht als das gegenwärtig Vorliegende. Die Wirklichkeit des Wunders verneint Wagner vorerst noch. Aber das Wunder der Wirklichkeit, besonders der künstlerischen Wirklichkeit, wagt er zu bejahen. Das geschieht noch innerhalb des hier vorerst und vor allem berücksichtigten Kapitels über das Drama. In diesem zum Teil denkwürdigen, teils merkwürdigen Kapitel (II) will das künstlerisch köstliche Kind des wirklichen Wunders nicht mehr voll bestehen vor dem Wunder der Wirklichkeit. Denn die Weite des Wunders und die Wirklichkeit des Wunders der Romantik hat hier die Überprüfung seitens des Wunders der Wirklichkeit zu ertragen nach Maßgabe des aufkommenden Realismus. R. Wagner unterscheidet nicht von ungefähr das „Wunder im religiösen Dogma" vom Wunderbaren und Wundervollen im ästhetischen Gestalten. Was im ästhetischen Sinne „wundervoll" ist, braucht im religiösen Sinne längst noch nicht

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„wunderbar" zu sein. Das Vermächtnis des „Glaubens" entspricht nicht ohne weiteres dem Vermögen des (ästhetischen) Verstehens. Hier entscheidet nicht das Glaubensbekenntnis, sondern das „Gefühlsverständnis' '. Das klingt romantisch wie manches bei Richard Wagner. Aber es führt kaum beträchtlich über die Aufklärung (neuerer Prägung) hinaus, wenn nun das „Wunderbare" weitgehend eingeschränkt wird (und wirkt) auf das Wundervolle der künstlerischen Verwirklichung. Denn als „wunderbar" gilt es bereits, wenn es gelingt, die mannigfache Verflochtenheit der Wirklichkeit und des „gemeinen Lebens" zurückzuführen auf die Konzentration des „echten" Kunstwerks. Es ist keineswegs eine simple Wirklichkeit, sondern ein kompliziertes „Wunder", wenn die Fülle der Motive (der Wirklichkeit) dem einen markanten „Fall" der Kunst und Kunstform untergeordnet wird, dergestalt, daß aus dem Verzicht aus der Mannigfaltigkeit des Geschehens dennoch die Einheit der „Motive" gerettet wird. Etwas, und zwar etwas Wesentliches vom Leitmotiv im Verhältnis zum Begleitmotiv des Komponisten R. Wagner klingt dabei vernehmlich an. Überraschend, aber überzeugend berühren sich an solchen triebkräftigen und formträchtigen Stellen Kunstwollen und Kunstschaffen. Denn das Verhältnis von Leitmotiv und Begleitmotiv wird für den Komponisten Wagner ebenso relevant wie für den Musikdramatiker. R. Wagner ist überzeugt, daß wohl das handlungsmäßige Geschehen zusammengezogen werden darf, daß aber bei diesem Konzentrationsvorgang die inneren Motivierungen nicht verloren gehen dürfen. Mit anderen Worten: die Motivierung aus der Gesinnung ist überall wichtiger als die Demonstrierung aus dem Geschehen. Das Geschehen darf gekürzt werden und muß dramatisch verkürzt werden, nicht aber die Motive. Es kommt nicht darauf an, das Geschehen zu „beschneiden", sondern darauf, den Inhalt zu „verdichten". Denn die Dichtung bleibt für R.Wagner allenthalben „Verdichtung". Und nicht in der Verwandlung, sondern in der Verdichtung liegt die eigentliche Leistimg der Dichtung. Die höchste Verdichtung und Vergegenständlichung des Wunderbaren und Wirklichen zugleich aber liegt und lebt im „Mythos", der die Wirklichkeit des Wunders und das Wunder der Wirklichkeit in sich vereint und versöhnt. Das Kunstwerk, und gerade auch das Kunstwerk der Zukunft, war für R. Wagner eine Steigerung

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und Verstärkung in dem Maße, wie seine Gegenwart diese Forderung nicht zu erfüllen vermochte. Kritisch gesehen und gesagt, zieht sich auch R. Wagner auf jenes „Wunderbare" zurück, das schon im Schweizer Kreise einer religiös gefärbten „Aufklärung" das künstlerisch Wundervolle, Neuartige und Außergewöhnliche abhob vom Normativen und Konventionellen. Hier nun ist der Ort, auf die Frühentwicklung Wagners zurückzugreifen. Denn manches von dem, was zunächst einmal befremden kann und muß, erfährt von dort her eine weitgehende Erhellung und Erklärung. So etwa wird die Zurückführung der neueren Oper auf den Roman sogleich verständlicher, wenn man sich daran erinnert, daß die „Rienzi"-Oper motivlich angeregt war von Edward Bulwers Roman „Rienzi, the last of the tribunes" (1835) oder daß die „Meistersinger"-Oper in der Zeichnung des Zeitkolorits manches gewonnen hat von Ε. T. A. Hoffmanns Erzählung „Meister Martin der Küfner und seine Gesellen", die bekanntlich ihrerseits auf einen von einem Bildkunstwerk empfangenen Eindruck zurückging (vgl. Band III), so daß in diesem Falle eine wechselseitige Anregung von Bildkunst, Wortkunst und Tonkunst zu beobachten ist. Aber ganz abgesehen davon, daß die Opern „Parsifal", „Tristan" und die ,,Nibelungen"-Trilogie („Der Ring") auf Epen fußen, daß die „Tannhäuser"-Oper u. a. wiederum Anregungen von Ε. T. A. Hoffmann für den Sängerstreit erfahren hat, und zwar aus dem Novellenzyklus „Die Serapionsbrüder" (Novelle: „Der Kampf der Sänger"): auch wenn man die Frage eingrenzt auf den Entwicklungsraum vor jener großen programmatischen Schrift von 1851 über „Oper und Drama", so sind außer für den „Rienzi" gerade für die frühen Versuche epische Stoffvorlagen eindeutig nachweisbar, wie die Sonderforschung über die „Jugendschriften" mit Bezug auf die Versuche „Die Hochzeit", „Die Feen" u. a. teils unter Hinweis auf Gozzis „dramatische Märchen", teils auf Ε. T. A. Hoffmanns Novellen klarstellen konnte. Die „Hochzeit" ist sogar zunächst einmal als Novelle entworfen worden. Erinnert sei an Wagners eigene Bemühungen um novellenartige Darstellungen in der Notzeit zu Paris, etwa an die „Pilgerfahrt zu Beethoven". Wagner selber spricht in diesem Falle von einer „Novelle". Kurz (denn Andeutungen müssen hier genügen), der damalige Wagner dürfte nicht zuletzt an sein eigenes Vorgehen gedacht haben, wenn er die neuere Oper so betont an romanhafte epische Formen und Vorformen heranrückt.

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Gleichzeitig aber bekunden schon die frühen kritisch-theoretischen Beiträge das Ausschauhalten nach einem musikalischen Drama. Ε. Τ. A. Hoffmann, der Lieblingsdichter des jüngeren Wagner, hatte schon in seinen „Serapionsbrüdern" das „musikalische Drama" erwähnt. Wagner verwendet den Terminus — wohl zum ersten Male — in der erwähnten Beethoven-Novelle (1840), also etwa ein volles Jahrzehnt vor der Schrift über „Oper und Drama", während der kurze Beitrag „Der dramatische Gesang" (1837) noch nicht das Musikdrama meint (und nennt), sondern im wesentlichen nur den „dramatischen Sänger" und dessen Technik vom „Konzertsänger" abhebt. Der frühe Aufsatz „Über Meyerbeers Hugenotten", der Händel, Gluck, Mozart und Beethoven als Träger deutschen Musikertums und Musikerruhms hervorhebt und den Zwiespalt von Nationalität und Universalität bei den deutschen Komponisten herausarbeitet, spricht zwar mehrfach von „dramatischer Musik" (stereotyp verwendet), nicht aber von einem musikalischen Drama. In Frankreich gilt vor allem Auber mit der „Stummen von Portici" als Schöpfer einer „dramatischen Musik" im Sinne eines ausgeprägten „Nationalwerks". Gelegentlich der Abhebung Beethovens wird deutlich, daß dabei eben nur die Bühnenmusik als Oper von der Instrumentalmusik unterschieden werden soll. Die Bezeichnung „musikalisches Drama" aber scheint schon eine eigene Bedeutungsfarbe gewinnen zu wollen. Der MeyerbeerAufsatz transponiert gleichsam die aus der Kunsttheorie der Romantik vertraute Kräftegruppe: Nationalliteratur-Universalliteratur auf das Sondergebiet der Musiktheorie, wobei die deutschen Komponisten trotz Wahrung mancher nationalen Eigenart dank ihrer Anpassungsfähigkeit als besonders berufen und geneigt gelten zur Ausbildung und Ausweitung der „Universalität", obwohl ein gewisser ζ. T. „wunderlicher Kunstpatriotismus" den Deutschen anhafte. Jedenfalls richtet Wagner schon damals sein Augenmerk auf das Verhältnis von Kunstcharakter und Nationalcharakter. Noch nicht das „Gesamtkunstwerk" im präzisen Sinne schwebt ihm vor, aber doch so etwas wie eine „dramatische Musik" von übernationalem Gepräge, die der gesamten Menschheit zugänglich ist und recht eigentlich nicht der Einzelnation zugehört. Gewiß trug — wie einst für Joh. El. Schlegel — die fremde Umwelt (Paris) dazu bei, den Blick für das nationale Bezogensein und universale Entzogensein zu schärfen. Aber ganz allgemein bc-

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gegnet R. Wagner bereits frühzeitig im Kraftfeld starker Spannungen zwischen Nähe der Nation und Weite der Welt. Schon in dem Aufsatz über „Die deutsche Oper" (1834), der Gluck als ersten Vertreter einer „dramatischen Musik" anerkennt (der Terminus musikalisches Drama fällt auch dort noch nicht), während die auf Grabbes „Don Juan und Faust" hinüberwirkende Oper Spohrs nur eine bedingte, die Oper C. M. v. Webers eine mehr lyrische Wirkung zugewiesen erhält, fällt der Terminus „Nationaldrama". Natürlich hat die damalige deutsche Kunst (trotz Schiller) angeblich kein Nationaldrama aufzuweisen. Auf der anderen Seite sieht der Meyerbeer-Aufsatz in der angedeuteten Dichtung einen Vorzug der deutschen Komponisten in ihrer anlagemäßigen Eignung zur „Universalität", die übrigens auch Mozart nachgerühmt wird. Vollends in der bitter anklagenden Abhandlung stark gesellschaftskritischen Gepräges über „Die Kunst und die Revolution" (1849) wird das „Kunstwerk der Zukunft" ganz in den Dienst der „freien Menschheit" gestellt, weil es das „Gewissen der absoluten Menschenliebe" würdig zu verkörpern haben wird, während selbst das „große griechische Gesamtkunstwerk" immer nur aus der Nationalität entbunden und also an sie gebunden werden konnte. Das „nationale Wesen" darf in diesem Kunstwerk der Zukunft nur einen zusätzlichen Schmuckwert darstellen, nicht aber hemmende Schranken aufrichten. Die modernen Nationen nämlich haben zunächst unter dem Einfluß des Christentums und dann unter dem Einfluß des „Industrie"Kapitals sich als unfähig erwiesen, eine menschenwürdige Kunst hervorzubringen. Offensichtlich steht R. Wagner nicht nur unter dem Eindruck der Revolution von 1848, sondern auch unter dem Einfluß Ludwig Feuerbachs. Nachdem einstimmend der stagnierende Zustand der Kunst unmittelbar nach 1848 in düsteren Farben ausgemalt worden ist, wird ein Idealbild Griechenlands entworfen, das selbst Winckelmanns Griechenkultus noch überbieten zu wollen scheint. Dabei wird einseitig das Apollinische hervorgekehrt. Das Dionysische (Fr. Nietzsche) ist vorerst noch merklich der Sicht entzogen. Ja man darf zuspitzen: Winckelmann wußte schon mehr von diesem Dionysischen als Wagner, jedenfalls der Wagner dieser halb kulturhistorischen, halb gesellschaftsgeschichtlichen, massiv revolutionär getönten Abhandlung. Kaum daß Dionysos einmal im

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Nebenbei Erwähnung findet, da es doch vorab um das kultische Theater geht und er schlechterdings nicht ganz unerwähnt bleiben konnte. Apollo eröffnet denn auch den göttlichen Reigen, und er beschließt auch den höllischen Hexentanz des chaotischen Kreislaufs der nachgriechischen Gesamtentwicklung, die in Wirklichkeit eine wüste Verwicklung war, aus der sich selbst die Renaissance nicht freizukämpfen vermochte. Aber nun steht nach den schweren und schwersten Angriffen auf das Christentum etwas unvermittelt und unvermutet Christus neben ihm. Denn die merkwürdige und denkwürdige Abhandlung schließt mit der feierlichen Wendung: „Jesus, der für die Menschheit litt, und Apollon, der sie zu ihrer freudenvollen Würde erhob". Das erklärt sich notfalls (bis notdürftig) aus der leise spürbaren Tendenz, Christus und Christentum voneinander zu trennen. Jene Schlußapotheose überrumpelt den Leser um so mehr, als kurz vorher noch reichlich nüchtern von den Theaterverhältnissen die Rede war. An sich nämlich interessiert R. Wagner das Theater weit mehr als das Drama. Und wo er vom Drama spricht, das in mehreren kunstprogrammatischen Beiträgen als die höchste Kunstgattung gefeiert wird, da meint er immer oder weit überwiegend ein Bühnenkunstwerk als Kollektivleistung aller Sonderkünste. Das kann nicht nachdrücklich und oft genug klargestellt werden. Es ist in diesem Falle z.B. von Äschylos und Sophokles die Rede; Aristophanes, der doch eigentlich den Politiker und Kulturpolitiker besonders interessieren müßte, erscheint nur als Nutznießer auf den Trümmern der griechischen Tragödie. Jedenfalls schwebt notwendig dem Leser die Tragödie als Dichtungsgattung vor, wenngleich bei der Deutung des antiken Chors schon der Absprung in Tanz und Musik leise vorbereitet worden ist. Plötzlich aber liest man: „das Drama löste sich in seine Bestandteile auf: Rhetorik, Bildhauerei, Malerei, Musik usw. verließen den Reigen, in dem sie vereint sich bewegt hatten, um nun jede ihren Weg für sich zu gehen, sich selbständig, aber einsam, egoistisch fortzubilden". Und der nächste Satz bringt denn auch das Schlüssel- und Zauberwort „Gesamtkunstwerk", mit dem R.Wagner den Zugang zum Kunstwerk der Zukunft aufzuschließen gedenkt. Aber wo er gegen Schluß der Abhandlung vom Künstler fordert, daß er „alle Künste zum höchsten Kunstwerk, zum Drama vereinigen" solle, ist die kaum begonnene Sprachregelung also schon wieder vergessen, indem nur kurzweg vom „Drama" die Rede ist.

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Die Sprach- und Begriffsverwirrung wird noch dadurch gesteigert, daß er jenen Gesamtkunstwerk-Schaffenden ausdrücklich als „Dichter" bezeichnet. Das geschieht in den umfänglichen Darlegungen über ,,Das Kunstwerk der Zukunft" (1850) und zwar derart mißverständlich, daß R. Wagner immerhin die Anmerkung für erforderlich hält: „Den Tondichter sei es uns gestattet als im Sprachdichter mit Inbegriffen anzusehen — ob persönlich (in Personalunion) oder genossenschaftlich (im Künstlerkollektiv: Musiker-Dichter), das gilt hier gleich". Eine benachbarte längere Anmerkung sucht den „Schauspieldichter" zu beruhigen über den Kummer, „daß auch seiner Kunstart, der Dichtkunst, das Drama nicht allein angehören" solle, wobei „Dichtkunst" plötzlich wieder im prägnanten Sinne gemeint ist. Er möge sich trösten, weil im Gesamtkunstwerk die Musik (als Gesang) nicht restlos den Dialog verdrängen werde, sondern nur dort vorherrschen solle, wo sie die stärkere Ausdruckskraft und tiefere Eindruckswirkung verbürge, während sie sich dem gesprochenen Wort willig unterzuordnen habe, wo diesem die Überlegenheit der Leistung zufalle. Ganz freilich hat die Musik auch in solchen Partien nicht zu verstummen, und sie braucht es auch nicht dank ihrer feingestuften dezenten Anpassungsfähigkeit. Derjenige freilich, der nun selbst diese Begleitmusik noch als lästig oder störend empfindet, verkennt den Charakter des Kunstwerkes der Zukunft, das mit dem „prosaisch intriganten, staatsmodegesetzlichen Wirrwarr" gründlich aufräumen wird. Die Musikfähigkeit gilt also zuletzt doch wieder geradezu als Wertmaßstab für die Kunstgerechtigkeit schlechthin. Was sich nicht irgendwie vertonen läßt, taugt auch als „Literaturdrama" nichts. Das mag etwas zugespitzt sein, trifft aber den Kern. Und es bedurfte erst einer so genialen Schauspielerin und Sängerin, wie es die Schröder-Devrient war, um Wagner erleben und erkennen zu lassen, daß ein tonlos gesprochenes Wort (selbst dort, wo „Ton" in der Partitur vorgeschrieben ist) oft genug weit dramatischer wirken kann als der herrlichste Gesang („Über die Bestimmung der Oper" mit Bezug auf die Rolle des Romeo in der Oper Bellinis). In der an sich berechtigten Abwehr der veräußerlichten, ganz auf den Effekt eingestellten „Arien"-Oper, die im übrigen schon von Wagners frühem Gewährsmann Ε. T. A. Hoffmann mehrfach nachdrücklich (bes. in Kunstgesprächen) verworfen worden war, begnügt sich der Theoretiker Wagner nicht damit, die Oper dra-

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matischer zu machen, sondern er will durchaus auch das Drama musikalischer machen. Und in dieser Überforderung liegt letztlich die Grundschwäche seiner ganzen Konzeption des ,,Gesamtkunstwerkes". Seine Oper duldet keine anderen Götter neben sich, die deshalb als „Götzen" enthüllt und entthront werden müssen. Und der breite Anteil Literatur- und Kunstkritik innerhalb seiner Programmatik dient weit überwiegend diesem Zweck. Dramatische Musik, musikalisches Drama, Musikdrama, Gesamtkunstwerk: sie alle sind nur Beschwörungsformeln, um den fraglos genialen Musiker, der mit seinen Versuchen im reinen Wort-Drama („Jesus von Nazareth", Staufendrama „Friedrich I.") gescheitert war, Geltung als Musik-Dramatiker zu verschaffen. Der MusikerDichter blieb zäher in seinem Anspruch auf beide Künste, als es Maler-Dichter zu sein pflegen. Vielleicht (und wahrscheinlich) war sogar die Poesie das Kind seiner ersten Liebe, das zum Schmerzenskind (zum mindesten für den Leser seiner Operntexte), aber eben deshalb besonders abgöttisch geliebt wurde. Die Musik beherrschte er; die „Poesie" beherrschte ihn. Er glaubte zu dichten, wo er in Wirklichkeit „poetisierte" und „romantisierte". Er spricht sehr oft von „Natur", die er immer wieder als Retterin aus dem echten oder vermeintlichen Kunst-Dilemma anruft und ausruft. Aber er hat als Dichter sehr selten „Natur" gestaltet oder doch nur seine eigene pathetisch-rhetorische Natur. Er verwechselt das Pathoshafte mit dem „Pathetischen" im Sinne Schillers, wie er das Theatralische verwechselt mit dem Dramatischen. Auch seine Musik dürfte im eigentlichen Typus und im Wirkungsertrag mehr „theatralische Musik" als „dramatische Musik" sein. Dabei sei gern eingeräumt, daß er das „Theatralische" vielfach in der vertieften Form versteht und gestaltend verwirklicht. So verstanden wäre das Theatralische die bewußt der Bühne zugekehrte Seite des Dramatischen; in ihm besinnt sich das Drama auf seinen Ursprung vom Mimus und bekennt sich zu ihm. Nicht von ungefähr hat R. Wagner auch den wertvollen Dramatiker (etwa Shakespeare) immer wieder auf den „Mimen" bezogen, und zwar in einem Grade, der anfangs befremden könnte. Ganz abgesehen davon, daß er Schauspieler und Sänger ähnlich zu „Mimen" schlechtweg zusammenfaßt, wie er „Sprachdichter" und „Tondichter" zum „Dichter" schlechtweg als GesamtkunstwerkSchöpfer zusammenfaßte. Wie das „Theatralische", das ihm merklich auch dort vorschwebt, wo er zur Reform des Theaters

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das Wort ergreift (Rezension der Schauspielkunst-Geschichte Ed. Devrients, Miszellen zur „Theaterreform": der Mime als Theaterleiter usw.), auf den Mimus zurückweist, so sucht das „Poetische" tiefere Wurzeln im Mythos. Mimus und Mythos werden dergestalt zu Grundwerten und ursprünglichen Erlebnisweisen seines Theoretisierens und Produzierens. Und er besaß ein weitgehendes Recht, in diesem Lieben und Verlieben etwas Echteres und zum mindesten subjektiv Ehrlicheres zu sehen und zu suchen als eine bloße Veräußerlichung des Effektstrebens, dem er freilich in der Kunstpraxis und im Kunstschaffen zugeneigter gewesen sein dürfte, als er es in der Kunsttheorie und im formulierten Kunstwollen zugestehen möchte. In der Theorie sprach er mehr von den Untugenden, die die anderen hatten, und damit mittelbar doch wieder von den Tugenden, die er nicht hatte. In der Praxis aber versteht er es, aus mancher dichterischen Not wirklich und wirksam eine Tugend zu machen. Das Pathetische verwandelt er in das Rauschhafte und steht insofern näher bei — Klopstock als bei Schiller. Das Rauschhafte, die Steigerung ins Mythische erinnert trotz weltanschaulicher Gegensätze mehr an Klopstock, ebenso die Unsicherheit im Naturhaft-Gegenständlichen. Oder genauer: wie Klopstock springt Wagner oft unvermittelt von der irgendwie etwas verlorenen Einzelsicht ruckhaft in die großartig-erhabene Aussicht hinüber, die mehr einen Glauben sieht, setzt und voraussetzt als eine Idee oder eine Erkenntnis. Und wenn Klopstock der sündigen Menschheit Erlösung gesungen hatte in seinem religiösen Epos „Messias", so sang Wagner zuletzt nichts anderes in seinem religiösen Opus „Parsifal"; denn die Einschläge an Buddhismus im Entwurf von 1865 wurden in der Endfassung merklich gedämpft. Und die philosophische Lehre des Entwurfs: „Stark ist der Zauber des Begehrenden, doch stärker der des Entsagenden" wurde christlich umgebogen zu einem „Höchsten Heiles Wunder! / Erlösung dem Erlöser". Kurz, wenn man gern den Einfluß L. Feuerbachs etwa seit der Mitte der fünfziger Jahre abgelöst werden läßt von dem Einfluß A. Schopenhauers, so folgt dieser philosophischen Ablösung im „Parsifal" eindeutig die christliche Erlösung. Man könnte rein stofflich zurückgreifen wollen auf den „Jesus von Nazareth", dessen Hauptkonzeption etwa 1848/49 anzusetzen ist. Aber jener Entwurf tendiert mehr zu einem revolutionären Urchristentum als zu einem konventionellen Christentum. Kurz, das Kunstwollen 23

M a r k w a r d t , Poetik IV

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folgt einer radikalen weltanschaulichen Wendung, die noch radikaler erscheint als die Fr. Hebbels. Damit aber ist der Dichter genannt, der jene andere Seite in Wagner, die nicht auf Klopstock weist, erhellen könnte: den Zug zur weltanschaulichen Grübelei; zur psychologischen Problemdichtung, zur meditativen Ideendichtung, aber auch zur leidenschaftlichen Sinnenhaftigkeit, ganz abgesehen vom persönlichen Zug eines übersteigerten Geltungstriebes. Die engere Generationsgenossenschaft, die beide das Jahr 1848 doch ganz verschieden erleben ließ, bleibe dabei unerörtert, steht doch R. Wagner zeitweise seinem engeren Generationsgenossen G. Büchner weltanschaulich weit näher. Aber Büchners Realismus vermochte er niemals zu erreichen, auch nicht (entfernt) in den „Meistersingern". Seine „Leitmotive" gleichen auch nicht den Leitideen Fr. Hebbels; sie sind oft nur Begleitmotive für das Auftreten hervorgehobener Gestalten seiner Musikdramen. Und seine „Programm"-Musik zwingt der Musik eine gedankliche Funktion auf, die zwar irgendwie mit dem Grübler tum des „Gestaltdenkers" Hebbel verwandt ist, aber doch die Befolgung seiner eigenen kunsttheoretischen These vermissen läßt, der zufolge jeder Sonderkunst im „Gesamtkunstwerk" diejenige Funktion vorbehalten bleiben sollte, die sie kraft ihres Darstellungs- und Ausdrucksmittels am wirksamsten auszuüben vermag. Zum mindesten durfte er nicht die Gabe, die seiner Genialität als Komponist verliehen war, zu einer allgemeingültigen Aufgabe machen, die von jedem Musikdramatiker erfüllt werden soll. Auf der anderen Seite überanstrengt er als Textdichter seiner Opern die Ausdrucksfähigkeit des Dichterwortes, indem er einen höchst „gewählten" Stil für den Stil eines Auserwählten hält. Man braucht nur einmal — wie es hinsichtlich des „Parsifal" von der Sonderforschung freilich mit anderer Tendenz geschehen ist — die wörtlichen Anklänge etwa an Wolfram von Eschenbachs „Parzival", dessen „Jüngeren Titurel" oder Rudolf von Ems' „Barlaam" zu vergleichen, um zu erkennen, daß die bereits „gehobene" Übertragung K. Simrocks dem überhöhten Ausdruckswillen R. Wagners noch keineswegs genügt. Und man kann noch dankbar sein, daß er die gekünstelte Namensymbolik „Schmerzeleide" des Entwurfs wenigstens in „Herzeleide" vereinfacht hat. Daß der junge Parzival naiv wahllos „vil vogele die er vant" (Simrock: „Vögel, die er fand"), zur Strecke brachte, genügt ihm nicht, obwohl das Erlegen des Schwans zu Beginn der Handlung

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sich recht gut in diese unbewußt grausame und mitleidslose Unart fügen würde: es müssen vielmehr „die rauhen Adler" sein, womit Parzival unversehens ins Siegfriedhafte transponiert erscheint usw. Kurz, die grandiose theatralische Gebärde gebiert allenthalben die pompöse Wortgebärde, um ihrerseits berauschend in die Musik auszuschwingen. Und mit dem Stabreim steht es nach Wollen und Wirken nicht viel anders. Das Wort wird nicht nur weihevoll und würdig erhöht — das kannte und konnte auch Schiller —, sondern es wird — und das erinnert wieder an Klopstock —• mit aller Gewalt emporgepreßt. Und wenn eine gutwillige Sonderforschung mehrfach von „hochpoetischen" Worten und Wendungen spricht, so ist es eben dieses „Hochpoetische", was den kritischen Sinn stutzig macht, und zwar auch dann, wenn man nicht einen verfehlten realistischen oder gar naturalistischen Maßstab anlegt. R. Wagner kann sich nicht genugtun in der Wahl „gewählter" und „erlesener" Wendungen ohne kritischen Sinn für die Gefahr der Überladenheit und der wirkungschwächenden Konkurrenz der Ausdrucksmittel. Er ist sich nicht klar darüber, daß man auch (und sehr leicht) des Guten zuviel tun kann. Kurz, er bewegt sich im Schwung der Schwärmerei oft hart an den Grenzen des guten Geschmacks, ohne daß das Genievolle überall das Geschmackvolle entbehrlich macht. Und selbst wenn man sein pathetisch-rhetorisches Kunstwollen gebührend in Rechnung stellt, will das ästhetische Kalkül im Kunstschaffen der Dichtung dennoch nicht recht aufgehen, wenn es auch in die rauschhaftberauschende Musik oft wunderbar und wundervoll übergeht, wo es seine überzeugende Auflösung und seine grandiose Erlösung findet. Das aber besagt: die „Gewalt der Musik", von der schon H. v. Kleist ergriffen war und die Ε. T. A. Hoffmann tiefer zu deuten versuchte, zwingt den „Dichter" R. Wagner, dem Wort Gewalt anzutun, ohne daß er sich dessen bewußt geworden wäre. Denn die Selbstbescheidung eines wahrlich genialen Dichters wie H. v. Kleist oder Hölderlin, sich mit dem Rhythmischen zufriedenzugeben, war der Maßlosigkeit der „Urmelodie" nicht gemäß, deren Bannkraft den Musiker Wagner niemals soweit losließ, daß sich der Dichter ungestört und gleichsam „ungehört" hätte entfalten können. Wenn überhaupt Wagners Kunstwollen echtes Dichtertum in sich barg, hat er es teils bewußt, teils unbewußt dem Musiker zum Opfer gebracht und wohl auch bringen müssen. Selbst die ideale Personalunion Musiker-Dichter vermochte, so 23*

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gesehen, das Gesamtkunstwerk nicht zu „realisieren". Auch diese gewiß großgedachte Konzeption Wagners mußte letzten Endes im Kunstwollen stecken bleiben, obwohl der Annäherungswert an das ihm vorschwebende überhöhte Ideal im Kunstschaffen immer noch und immer wieder Bewunderung hervorruft. Man tut also gut, von vornherein seinem Kunstwollen eine ganz bewußte Überhöhung zuzuweisen, damit man seiner Kunstleistung Gerechtigkeit widerfahren lassen kann. Unter den Sonderschriften zur Theorie einzelner Gattungen hat G u s t a v F r e y t a g (1816—1895) mit seiner ausführlichen Technik des Dramas (1863) besonders nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Trotz der „Valentine", dem „Grafen Waldemar", den „Journalisten" und der Tragödie „Die Fabier", die bereits vor dem Erscheinen der „Technik des Dramas" lagen, mochte Gustav Freytag doch eher berufen sein, über die Technik des historischen Romans zu schreiben, um so mehr, als die verhältnismäßig wertvollste dramatische Leistung „Die Journalisten" (1852) nicht zu grundsätzlichen Wesensbestimmungen des Lustspiels ausgewertet werden konnte, da Freytag „die Technik unseres Lustspiels" bewußt ausschaltet. Die Widmung „An Wolf Grafen von Baudissin" hebt vielmehr hervor, daß „nur von dem Drama hohen Stils" gehandelt, das Schauspiel beiläufig erwähnt, das Lustspiel aber wegen mangelnder Muster an vollwertigen Komödien ausgeschlossen werden sollte. Die in abhandelnd darlegender Erörterungsprosa gehaltene Aufsatzreihe, die in sechs ungleich starke Kapitel aufgegliedert wird, läßt als Kernstück das zweite Kapitel über den „Bau des Dramas" ohne weiteres hervortreten, auf das sich bereits das breit unterbauende erste Kapitel über die „dramatische Handlung" zielstrebig einstellt, während ihm als entsprechender Zusatz das dritte Kapitel vom „Bau der Szenen" nachgesandt wird. Die Auseinandersetzung im vierten Kapitel über die „Charaktere" interessiert durch den historischen Einschlag, die kurze Abhandlung über „Vers und Farbe" (V. Kapitel) im Hinblick auf Freytags eigene Vers-Tragödie „Die Fabier". Das Schlußkapitel über den „Dichter und sein Werk" bringt nur in wenigen Eingangsabsätzen einige Bemerkungen zum Dichtertypus an sich und zu seiner angeblich labilen und dem Zufall („fast zufällig") unterworfenen Wahl bestimmter Gattungen, um dann sogleich wieder auf den Dramatiker, die Notwendigkeit von Bühnenbearbeitungen und sonstige technische Fragen abzu-

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schwenken, damit aber doch nur einzumünden in das beherrschende Leitthema von der dramatischen Technik. Ähnlich widmet sich der metrische Abschnitt nach kurzen allgemeinen Erwägungen über Nachteile und Vorteile des Versgebrauches und über nationalsprachliche Bevorzugung bzw. Bedingtheit und Abwandlung (Verhältnis vom nationalen Sprachakzent an sich und Versakzent) sehr bald dem „dramatischen Vers", wobei hervorgehoben wird, daß für die dramatische Metrik eine Auflockerung und Belebung im Sinne der Sprechsprache aus „rhythmischer Empfindung" heraus erforderlich bleibt, die auch eine „scheinbare Unregelmäßigkeit" nicht scheuen darf. Für die allgemeine Dichtungsdeutung bringt Freytag einige Beiträge zur G a t t u n g s b e s t i m m u n g , und zwar teils aus dem geschichtlichen Werden heraus, teils als Wesensbestimmung. Der Unterschied zwischen antikem und neuerem Drama soll erklärbar sein daraus, daß das antike Drama „aus lyrischem Chorgesang hervorwuchs, während das moderne auf der epischen Freude von Vorführung imponierender Begebenheiten beruht". Das Entstehen der neueren Dramenform aus der — doch auch lyrisch eingestellten — Lithurgie findet noch keine Berücksichtigung; vielmehr führt Freytag Mängel der modernen Dramatik auf die epische Wurzel zurück. Daraus ergibt sich das Bemühen, scharf abzugrenzen. Nicht Leidenschaftsdarstellung an sich ist Aufgabe des Dramas, sondern Darstellung derjenigen willensmäßig umgesetzten Leidenschaft, „welche zu einem Tun leitet". In diesem Zusammenhange, also zur abhebenden Herausstellung des Dramatischen, gelangt die Gegenüberstellung zu einer beiläufig mitgenommenen Wesensbestimmung von Lyrik und Epik: „Ausführung leidenschaftlicher Seelenbewegungen als solcher ist Sache der Lyrik, Schilderung fesselnder Begebenheiten ist Aufgabe des Epos". Die epischen Formen sollen Begebenheiten und Helden darstellen, „wie sie n e b e n einander stehen", während in der Dramatik Handlungen und Charaktere gestaltend zu erfassen sind, „wie sie d u r c h einander werden". Gegenüber Lyrik und Epik gilt die Dramatik als spätere und reifere Wirkungsform, die eine gewisse Entwicklungshöhe des Volkes voraussetzt. Die Art der Gestaltung wird durchgängig als ein wirklichkeitüberhöhendes Idealisieren gedeutet und gefordert. Wenn auch der Dramatiker Freytag anfangs von den Jungdeutschen Strebungen beeinflußt erscheint, so hält doch seine theoretische Ziel-

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setzung wie die Julian Schmidt's eine idealisierende Linie inne, die im eigenen Kunstschaffen durch die Schwenkung zum Versdrama („Die Fabier") vorgezeichnet war. Der Satz zwar, „Einen Stoff nach einheitlicher Idee künstlerisch umbilden, heißt ihn idealisieren" würde einen ideellen Realismus nicht ausschließen. Aber nicht nur die Bevorzugung der klassischen Muster als Erläuterungsbeispiele, sondern auch wiederholte und wiederholt ähnliche Äußerungen berechtigen zu einer Einordnung in das E p i g o n e n t u m der Klassik. Die Einstellung zum Naturnachahmungsbegriff weist in dieselbe Richtung. Wie die historische Dichtung erst da recht eigentlich anfängt, wo „Die Geschichte aufhört", so fängt für Freytag die Poesie offenbar erst dort an, wo das harte Eigenrecht des Realen gebrochen wird von der verklärenden Kraft des idealen Auftriebes. Die Stärke des Verses ζ. B. sieht Freytag nicht zum wenigsten darin begründet, daß durch ihn eine „edlere Stimmung" hervorgerufen wird. Demgegenüber wird es als Gefahr der Prosa angesehen, „Die Bilder der Kunst zu Abbildern gewöhnlicher Wirklichkeit herabzuziehen". Wie die vom Jungen Deutschland geforderte Vorherrschaft der Prosa als bedenklich empfunden wird, obgleich inzwischen „der Roman die herrschende Gattung der Poesie geworden" war, so werden auch soziale Tendenzen oder gar naturalistische Elendsbilder vom nachklassischen Standpunkte aus energisch zurückgewiesen. Überaus charakteristisch erscheint etwa zwanzig Jahre vor dem Einsatz des Naturalismus die Abwehr: „Die Schilderung der Gemütsprozesse eines gemeinen Verbrechers gehört in den Saal des Schwurgerichts, die Sorge um Besserung der armen und gedrückten Klassen soll ein wichtiger Teil unserer praktischen Interessen im Leben sein; die Muse der Kunst ist keine barmherzige Schwester". Unverkennbar eine klare Absage an die Adresse des Jungen Deutschland und ein Sich-Stemmen des klassischen Epigonentums gegen den machtvollen Entwicklungsstrom des Realismus. Symptomatisch wie die Abwehr gegen realistische Teilelemente der Geniezeit (der Inhalt von „Kabale und Liebe" wird ausdrücklich als „peinlich" empfunden) ist die fast den Goetheschen Ausgleichungsbegriff der Klassik aufnehmende Forderung einer „wirklichen Ausgleichung der kämpfenden Gegensätze", die zu einem „versöhnend und erhebend" gestimmten und stimmenden Ausklang führt. Obgleich die Sonderabhandlung dergestalt prinzipielle Fragen der Dichtungsdeutung gelegentlich aufgreift, ist sie doch von vorn-

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herein nicht auf zweckbefreite Theorie eingestellt, sondern bewußt auf zweckmäßige Förderung der Technik des Kunstschaffenden, besonders des jüngeren Dramatikers. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, daß die „Lehrbücher der Ästhetik" recht eigentlich da „aufhören, wo die Unsicherheit des Schaffenden anfängt". Vermißt wird zugleich innerhalb der Tagesproduktion selbst formsichere Gestaltungsdisziplin, oder wie Freytag es klar ausspricht, „jede Sicherheit der Handgriffe". Nicht zum wenigsten dieser Mangel führt zu „übergroßer Zuchtlosigkeit und Formlosigkeit", die durch Klärung und Straffung der Struktur und anregende Einzelhinweise überwunden werden sollen. Die starke Betonung der Kunstfertigkeit nähert Freytags Dramaturgie der Anweisungspoetik. Die hohe Bewertung der Formpflege rückt scharf ab von der Gehaltsbewertung der Jungdeutschen und läßt Freytag dem Münchener Kreise und seinen Forderungen verwandt erscheinen. Es entspricht durchaus diesem Hinwirken auf gesetzesgerechte und formsichere Technik, wenn die konstruktiven Faktoren des dramatischen Aufbaus das Hauptinteresse auf sich lenken. Das Freytagsche Aufbauschema nimmt zwei Hauptteile des Dramas ein, eine steigende Handlung und eine fallende Handlung. Im zentralen „Höhepunkt" berühren sich beide, so daß sich eine Pyramidenform ergibt. In die Fünfteiligkeit: Einleitung, Steigerung, Höhepunkt, Fall oder Umkehr, Katastrophe greifen als konstruktiv bedeutsam drei Faktoren ein: das erregende Moment, von Freytag teils noch „aufregendes Moment" genannt, das tragische Moment, das Moment der letzten Spannung. Das erregende Moment bezeichnet den Übergang von der Einleitung zur dramatischen Bewegung der Steigerung. Das tragische Moment soll den Übergang zur „fallenden" Handlungslinie vermitteln und bezeichnet den „Punkt, von welchem ab die Tat des Helden auf denselben zurückwirkt", also den „Beginn der Reaktion". Teils wird es in Konstruktionsverbindung mit dem sogenannten Höhepunkte zu verarbeiten sein. In derartigen Fällen wäre also mit Gustav Freytag eine „Doppelspitze" anzusetzen. Das Moment der letzten Spannung belebt das Interesse im Verlaufe der fallenden Handlung durch vorübergehende Ausblick-Eröffnung auf eine „entfernte Möglichkeit glücklicher Lösung" trotz bereits drohender Katastrophe. Die Einleitung kann der eigentlichen Exposition einen „charakterisierenden Accord" (auch „erster anspannender Accord" genannt) voranstellen, während das abgetrennte „Vor-

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spiel" als Notlösung dem kunstgerechten Bau des Dramas nicht entspricht. In der steigenden Handlung kann sowohl das Spiel wie auch das Gegenspiel die Führung haben. „Beides ist erlaubt". Doch bevorzugt Freytag den Typus, der dem „Helden" im steigenden Teil die Führung zuerkennt und die fallende Handlung vom Gegenspiel beherrscht sein läßt. Aus späterem Abstand gesteht G. Freytag in seinen „ E r i n n e r u n g e n " , wie ihn neben eigenen Erfahrungen mit seinem „Fabier"Drama damals auch der Wunsch geleitet habe, die Zuschriften, Anfragen usw. junger Dramatiker durch sein Buch über die Dramentechnik von vornherein überflüssig zu machen. Und er schildert nicht ohne Humor, wie er fast das Gegenteil erreicht habe; denn nun wären die noch reichlicher einlaufenden Angebote von vornherein von der zuversichtlichen Meinung begleitet gewesen, daß die hoffnungsvollen „jungen Genossen" die Freytagsche „Technik" gründlich durchgearbeitet hätten, „und daß alles, was ich gefordert, in ihrer Arbeit zu finden sei. Ich aber vermochte nur selten dieselbe Meinung zu gewinnen". Die scherzhafte Wendung läßt erkennen, daß G. Freytag nicht ernsthaft noch im 19. Jahrhundert eine reine Anweisungspoetik schreiben wollte, sondern im Sinne der angewandten Poetik kunsttechnische Fragen zu klären trachtete und „die Lebensbedingungen des dramatischen Schaffens an Stücken hohen Stils wieder einmal genau ins Auge zu fassen" sich bemühte. Wieder einmal, so betont seine selbstkritische Art; denn an sich hatte er schon nach der „Valentine" (1848) gemeint, endgültig im vollen Besitze des dramatischen Könnens zu sein: „Fünf Jahre von der ,Brautfahrt' bis zur .Valentine' war ich nach den Geheimnissen des dramatischen Stils auf der Fahrt gewesen, . . . endlich hatte ich sie gefunden, die Seele schuf sicher und behaglich in der Weise, welche die Bühne für sich fordert". Und so häufig das Attribut der Wertung „bühnengerecht" begegnet, so hoch er die theaternahe Fühlung mit Eduard Devrient u. a. zu schätzen weiß, so deutlich ist ihm auch die Kehrseite des nur Theatertechnischen, des nur Theatralischen bewußt, das er an Richard Wagner schon bei einer flüchtigen Begegnung (1848) herausgespürt haben will. Wagner habe sich damals an der Vorstellung eines Walkürenrittes durch die Lüfte (mit Hilfe der Opemmaschinen) begeistert, das sei offenbar die Reizszene für eine Opernkonzeption gewesen. Und Freytag fügt hinzu — und des-

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halb schien diese Anekdote erwähnenswert — : „Nun ist für einen Schaffenden nichts so charakteristisch als das Ei, aus welchem sein Vogel herausfliegt. Die Freude an unerhörten Dekorationswirkungen ist mir immer als der Grundzug und das stille Leitmotiv seines Schaffens erschienen". Von der relativen Berechtigung dieser kritischen Meinung über einen Grundzug Wagners ganz abgesehen: wesentlich bleibt, daß Freytag die Bedeutung der Reizszene vertraut ist; ebenso verwendet er Begriffe und Bezeichnungen wie „Gestaltungsvermögen" und „Gestaltungskraft" durchaus im modernen Sinne. Allerdings geschieht das in den „Erinnerungen aus meinem Leben" (1887, 1886 als Einleitung), die nun auch vor allem die mehr beiläufigen Bemerkungen G. Freytags zur R o m a n t h e o r i e enthalten und manches —• bereits Erwähnte — zur Dramentheorie nachtragen. Vor allem kommt das letzte Drittel der „Erinnerungen" in Betracht, und daraus wiederum das Kapitel über „Arbeiten der Mannesjahre", aber auch das Schlußkapitel über „Die Ahnen". Die Vorrede verheißt zwar nur das, was zur „Erklärung und Entschuldigung" dienen könne. Die Darstellung selbst bringt denn auch manches über Entstehung, Leitidee usw. von „Soll und Haben" (1855), etwa das Herrbleiben über die Wünsche der Menschen oder, halb plaudernd, das Motiv der „Verlorenen Handschrift" (1864), das humoristische Erlebnis mit Moritz Haupt und der vermeintlich aufzustöbernden Luxushandschrift. Mehrfach jedoch stößt Freytag über das Erlebnismäßig-Persönliche und Selbstkritische weiter vor und zum Grundsätzlichen hindurch. Und da ist es zunächst einmal bemerkenswert für den Verfasser der „ Technik des Dramas", daß er den vollwertigen Roman nach Handlungsaufbau und Handlungsgliederung (er sagt Handlung, nicht etwa Geschehen) dem Drama angenähert wissen will; denn „der Aufbau der Handlung wird in jedem Roman, in welchem der Stoff künstlerisch durchgearbeitet ist, mit dem Bau des Dramas große Ähnlichkeit haben . . . Auch die Teile der Handlung sind in der Hauptsache dieselben wie im Drama: Einleitung, Aufsteigen, Höhepunkt, Umkehr und Katastrophe". An sich erinnert diese Übertragungsmethode ein wenig an das zeitgegebene Verfahren in Blankenburgs Romantheorie (vgl. Band II). Nicht ohne Genugtuung weist Freytag, dessen Selbstkritik sonst sympathisch berührt, hinsichtlich seines Romans „Soll und Haben" darauf hin, daß dessen Teile recht genau mit den fünf

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Akten des Hochstildramas korrespondieren. Nur dadurch, daß er für die „Umkehr" zwei Bücher gebraucht habe, wären sechs Teile herausgekommen, „notwendig wäre nur die Fünfzahl". Ein gewisser klassizistischer Kompositionseifer wird also auch innerhalb der Romantheorie spürbar. Erst eine langwierige historische Entwicklung hat den Roman zu der Höhe der Gegenwart geführt, besonders auch, was die „künstlerische Durchbildung" der „Handlung" betrifft, auf die also die kritisch beobachtende und bewertende Aufmerksamkeit besonders gerichtet bleibt. Freytags kulturhistorisches Anteilnehmen, wie es gerade in der Zeitspanne zwischen den erwähnten Romanen sich verdichtete zu der Arbeit an den „Bildern aus der deutschen Vergangenheit" (1859) und den „Neuen Bildern aus der deutschen Vergangenheit" (1862), sein historischer Sinn und sein fast frühklassizistisch-aufklärerisch anmutender Entwicklungsoptimismus können es sich gar nicht anders vorstellen, als daß der Roman immer mehr vervollkommnet worden sei. Nicht in dem Sinne, daß nun für seine eigenen Romane das wirksame historische Postament errichtet werden sollte — dazu ist er zu vornehm bescheiden — , sondern in dem Sinne, daß eigentlich erst mit Walter Scott ein vollwertig kulturhistorischer Roman in Erscheinung getreten sei. Alles vorher Liegende, selbst Goethes Roman, gilt als Entwicklungsvorform. V o r a u s s e t z u n g für die Entfaltung eines wortkünstlerisch vollwertigen Romans ist für Freytag der h o h e E n t w i c k l u n g s s t a n d der P r o s a . Erst bei sehr fortgeschrittenem Entwicklungsstande der Prosa kann der Roman als Kunstwerk sich ausbilden. Dann jedoch erweist er sich als moderner Prosaroman dem alten Epos, selbst Dante und Ariost nicht ausgenommen, nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen. Es bestätigt sich also auch noch nach Th. Mündts „Kunst der deutschen Prosa", was die Sonderforschung in der Entwicklung von Gottsched zu Mündt eingehend und lehrreich verfolgt hat, daß nämlich die Herausbildung des Prosabegriffes und der Romanbewertung innig zusammenhängen. Ein halbes Jahrzehnt etwa nach diesen „Erinnerungen", aber drei Jahrzehnte nach der ersten Ausgabe der „Technik des Dramas" verfaßte der Berliner Theaterkritiker A l f r e d K e r r in merklich bewußter Anlehnung an G. Freytags Titelgebung einen kurzen Aufsatz für die Vossische Zeitung, den er die „Technik des realistischen Dramas" (1891) nannte. Aber darauf wird an entsprechender Stelle noch kurz einzugehen sein. Dasselbe gilt von der schon im

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Vorwort zum ersten Bande (1904) seiner gesammelten Theaterkritiken „Die Welt im Drama" verfochtenen und dann in der „Einleitung zu den gesammelten Schriften" (1917) verstärkten Forderung, die künstlerisch konzipierte und geformte K r i t i k a l s n e u e , als v i e r t e G a t t u n g neben den überkommenen drei Dichtungsgattungen anzuerkennen. Das Betonen des Attributs „realistisch" dort, die erst durch die Entwicklung der künstlerischen Kritik (vgl. auch Th. Fontane) entstehende Forderung hier lassen es, ganz abgesehen von dem späteren Entwicklungsausschnitt, geboten erscheinen, erst bei der Darstellung des konsequenten Realismus (Naturalismus) darauf zurückzukommen (BandV). Im ehernen Gesetz der Objektivität findet die Roman-Theorie F r i e d r i c h S p i e l h a g e n s (1829—1911) frühzeitig den zentralen Pol, um den sie dann unermüdlich kreist. Und so stark ist die Anziehungskraft dieses Pols, daß auch in späteren Abhandlungen unter den verschiedenartigsten Titeln das Interesse sich immer wieder gleichsam magnetisch einrichtet und einstellt auf die alles beherrschende Zentralkraft und manche Wegschwenkung vom jeweiligen Thema mit in Kauf genommen wird, um dieses unverrückbare Ziel der epischen Kunst von den mannigfaltigsten Ausgangspunkten her zu erreichen. Insofern wirken jene späteren Aufsätze der siebziger und achtziger Jahre wie Variationen zu demselben Grundmotiv, das eine frühere Abhandlung auch in der Titelgebung klar herausstellt als Erörterung Ü b e r O b j e k t i v i t ä t im R o m a n (1863). Bestrebungen des poetischen Realismus verbinden sich mit starken Nachwirkungen der klassischen Kunsttheorie, besonders Humboldts, um die Objektivität epischen Gestaltens durchzusetzen, das jedes „Sich-Vordrängen des dichtenden Subjekts" zu vermeiden hat. Spielhagens Angriff richtet sich vor allem gegen unorganisch die Gestaltung durchbrechende abstrakte Reflexion oder vom Dichter her gegebene Erläuterungen und meditierende Exkurse, weiterhin überhaupt gegen jede „direkte Kommunikation", gegen jeden „direkten Rapport" zwischen Dichter und Leser. Er lehnt es ab, darin etwa mit Laube sich berührend, in der Romanform ein bloßes „Vehikel für alles mögliche Wissenswürdige" zu sehen. Vorwiegend gilt das vom historischen Roman. Das subjektive Verfahren wird als „prosaisch", weil bewußt, verworfen, während der Begriff „objektiv" geradezu mit „poetisch" gleichgesetzt wird. Die abstrakte Reflexion darf geduldet werden in der Biographie

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bzw. Autobiographie, nicht aber im Roman. Gerade weil der Roman eine Grenzform des Dichterischen darstellt, gerade weil er den Gefahren verstandesmäßiger Einmischung seitens des Dichters leichter ausgesetzt erscheint als das lyrische Gedicht oder das Drama, hat der Romanschriftsteller auf seinem zur Prosa des Lebens hin vorgeschobenen Posten ein besonders wachsamer ,,Grenzhüter des Parnassus" zu sein. Damit erfolgt zugleich eine klare Grenzziehung gegenüber naturalistischer Gestaltungsart. Wenn auch in der modernen Epik der Gehalt „innerlicher, geistiger" geworden ist als etwa bei Homer, so hat doch der moderne Epiker immer noch genug von Homer zu lernen. Der — für Spielhagen erbrachte — Beweis Fr. Aug. Wolfs, daß die homerischen Gedichte nicht von einem Einzeldichter herrühren, gilt als Beleg für ihre Objektivität. Diese klassische Objektivität ist als das „oberste Gesetz aller Kunst" von einer Zuverlässigkeit, die der mathematischen Gesetzlichkeit annähernd gleichkommt. Selbst die Verstöße Goethescher Romane gegen dieses Grundgesetz, wie sie Spielhagen nachzuweisen sucht, beeinträchtigen ihren künstlerischen Wert. Fast wie Lessing stellt also Spielhagen das kunsttheoretische Gesetz als Wertkriterium über das empirische Muster als Leistungskriterium. Es wird denn auch nicht nur auf Lessings „Hamburgische Dramaturgie" ausdrücklich zurückgegriffen, sondern auch dort, wo Lessing nicht genannt wird, im allgemein gehaltenen Eingangsteil, steht Lessing, und zwar der Lessing des „Laokoon", unverkennbar im Hintergrunde. Wenn hervorgehoben wird, daß der Künstler seine Darstellungsmittel zu berücksichtigen habe, daß dies in der bildenden Kunst von vornherein naheliege, tauchen die „natürlichen Zeichen" der Aufklärungsästhetik auf, ja, es gibt wörtliche Anklänge an den „Laokoon". So wird ζ. B. als Mangel des Malers gewertet, wenn er das Wort zur Hilfe rufen muß und dabei auf die mittelalterlichen Maler verwiesen, „die ihren Figuren Zettel aus dem Munde gehen lassen" zur Erläuterung des mit den eigenen Mitteln unzulänglich Dargestellten. Während indessen Lessingsche Ergebnisse nur als Stützungsund Ausbauglieder eklektisch einbezogen werden, ohne eigentliche Hineinverarbeitung in Spielhagens Roman- und Kunsttheorie zu erfahren, ruht diese Theorie durchaus —· und eingestandenermaßen — auf Wilhelm v. Humboldts Abhandlung „Über Hermann und Dorothea". Spielhagen war sich dessen sehr wohl bewußt, als

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er den Humboldtschen Satz einleitend voranstellte: „Kein Begriff ist in der Theorie der Kunst so wichtig als der der Objektivität. . ." Auch der Totalitätsbegriff Humboldts spielt verschiedentlich hinein, so wenn ein vollkommenes Ganze, ein Mikrokosmus vom Dichter gefordert wird; aber auch wenn in späteren Abhandlungen die Totalität der Menschheit als das eigentliche „Gebiet des Romans" hingestellt wird. Und selbst der letzte unlösbare Zwiespalt, wie denn nun einerseits ein in sich Vollendetes und andererseits neben der Totalität eine Ausweitung ins Unendliche im Erfassen der „ganzen Menschheit" bestehen, und zwar miteinander vereinbar bestehen könnten, erinnert an Humboldt. Es scheint bei produktiven Naturen häufiger der Mut zu begegnen, ein Letztes, Ungelöstes einzugestehen als offenbleibendes Problem. Und wie etwa Hebbel in anderem Zusammenhange die letzte Frage als unbeantwortbar empfindet, so zwingt auch der anders gelagerte Widerspruch Spielhagen zu dem Geständnis, daß er „eine vollständige Lösung desselben nicht habe finden können". Immerhin handelt es sich bei Spielhagen um eine engere Frage gattungsmäßiger Technik oder doch axiomatischer Kunsttheorie, nicht um ein Problem des Metaphysischen wie bei Hebbel. Und im allgemeinen lüftet er — besonders auch in dem späteren Aufsatz „Finder oder Erfinder ?" — recht zuversichtlich den Schleier des künstlerischen Geheimnisses, das er in starker und energischer Konzentration, in jenem scheinbaren ,,Außer-Sich-Sein" (dichterische Begeisterung), das doch eben Sammlung und Hingabe bedeutet, erkennen möchte: „Die Welt vergessend, um in seinem Werke zu leben, schafft der Künstler in seinem Werke eine Welt". Voraussetzung ist neben der Konzentration die Objektivität, die hier vorerst als Fähigkeit definiert wird, das Werk zum „Ausdruck der Idee, welche er eben darstellen will", zu erheben. Die „Idee" will Spielhagen im Platonschen Sinne „eines Urbildes" verstanden wissen, ohne indessen diese Bedeutung streng innezuhalten. Denn wenn er weiterhin von einer „Hauptidee" spricht, „um deren Darstellung es dem Dichter zu tun" sein soll, so erinnert diese Erweichung des Idee-Begriffes fast ein wenig an Gutzkow. Und es taucht die Vermutung auf, daß hier ein Zugang sich öffnet, durch den die weltanschauliche, fortschrittliche „Idee" Einlaß finden kann in die Festung klassischer, bzw. nachklassischer Objektivität. In ähnlicher Weise und deutlicher noch erfährt die Reflexionsfeindschaft, so rücksichtslos sie sich durchzusetzen scheint, eine

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beachtenswerte Abschwächimg —• jedenfalls auf dieser Frühstufe — dadurch, daß nur die vom Dichter selbst eingestreute Reflexion verworfen wird. Dagegen ist es dem Dichter, der gewisse ihn besonders beschäftigende Ideen aussprechen will, gestattet, ,,zu diesem Behuf einen besonderen Charakter" zu „erfinden" und in das Geschehen zu verflechten. Will man nicht annehmen, daß Spielhagen hierbei eine allegorische Personifikation der Idee zuläßt, so betrachtet er doch — nach französischem Muster —• offenbar einen Raisonneur (als episches Gegenstück zum Raisonneur im Drama) auch im Roman als statthaft. Zum mindesten gilt dieser Ausweg als das kleinere von zwei Übeln. Das größere nämlich bleibt stets das „subjektive" Hervortreten und Dazwischenreden des Autors. Ebenso hält Spielhagen — und gewiß berechtigter — die im neueren Roman stark ausgebildete Gesprächstechnik an sich nicht für unbedingt nachteilig als Gelegenheitsmacherin der Reflexion. Schädlich erscheint nur ihr Mißbrauch zum „Einschmuggeln" subjektiver Reflexionen in die objektive Darstellung. Und weil der Dichter seinen Gestalten nicht Gedanken und Äußerungen aufzwingen darf, die ihrem Charakter unangemessen sind, soll ihm eher noch jener Ausweg der Erfindung eines Raisonneurs zugestanden werden. Jedoch nicht allein dieser Meinungsträger und Reflexionsvermittler, sondern alle Gestalten des Romans und all ihr Tun und Lassen, kurz, das „Ganze der dargestellten Begebenheiten" hat die zugrundeliegende Idee einheitlich zum Ausdruck zu bringen. Der Höchstwert, den hervorzuheben Spielhagen nicht müde wird, liegt in der restlosen Deckung von Gehalt und Gestalt, in der , . a b s o l u t e n K o n g r u e n z zwischen I d e e u n d F o r m " . Daher hat der Romanschriftsteller bei der Motivauslese einen Stoff zu bevorzugen, an dem die Idee völlig „zur Erscheinung" gelangen kann. Das wird erschwert durch den Umstand, daß der Roman mit weitem Horizont in umfassender Breite das ganze Leben und den Kulturzustand umgreifen soll. Ja, es wird vielleicht unmöglich gemacht, während der begrenzte Ausschnitt der Novelle, die eine Anmerkung in dem Aufsatz „Das Gebiet des Romans" als „die Grundform aller epischen Poesie" kurz kennzeichnet, diese Auswahl erleichtert. Für den Roman hält Spielhagen dennoch an seiner Forderung fest, ohne für die Lösung der Aufgabe Rat zu wissen. Hier setzt er jenes letzte Fragezeichen, das auch der Romangattung eine gleichsam „problematische Natur" zu-

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schreibt. Diese Problematik scheint für Spielhagen noch dadurch erhöht zu werden, daß der Roman sich keiner „eigentlich dichterischen Form" bedienen kann, wobei er recht äußerlich offenbar an das fehlende „Versgewand" denkt. Doch glaubt er daraus nicht nur für den humoristischen (Typus: Jean Paul, Sterne), sondern selbst für den ihm vorschwebenden „idealisierenden" Roman den Nachweis erbracht zu haben, daß von vornherein „unauflösliche prosaische (=nicht dichterische) Elemente" in der Romanform vorliegen müssen. So begnügt er sich mit einigen praktischen Winken, die indessen über jenen Bruch nicht hinwegtäuschen können und wollen. In der schon gelegentlich berührten späteren Aufsatzreihe, den Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans (1883) hält die vom Vorwort Spielhagens selbst als Kernstück bezeichnete längere Abhandlung Der Ich-Roman (1882) die Grundposition strenger Objektivität als der „einzig legitimen Darstellungsweise" durchaus fest und sucht sie noch weiter auszubauen. Es geht um den Beweis, daß, gemessen an der objektiven Epik Homers, letztlich jeder moderne Roman subjektiv und so in gewissem Grade ein Ich-Roman bleiben muß, auch wenn er mit der Berichtsform in dritter Person arbeitet. Als Fundamentalsätze der Theorie vom Roman gelten: das immanent gesetzliche Streben der Ausweitung zum „Weltbild", der unlösbare Konflikt dieses spontan gegebenen und auch theoretisch berechtigten Strebens zur Ausweitung einerseits mit der Notwendigkeit der künstlerischen Begrenzung andererseits, die daraus folgende Wertbeschränkung der epischen Dichtkunst überhaupt gegenüber dem Vorrang der lyrischen und dramatischen Gattung, die „möglichst vollkommene Anwendung der objektiven Darstellungsweise" als das einzige Mittel zu einer wenigstens annähernden Aufhebung jenes wertsenkenden und wirkungbeeinträchtigenden Widerspruchs zwischen Gehaltsweite (Weltbild) und Gestaltbegrenzung (künstlerischer Formzwang). Ausdrücklich wird von diesen Grundthesen aus die Objektivität als kritischer Wertmaßstab aufgestellt. Sie ist also sowohl Richtmaß für den Schaffenden wie auch Urteilsmaß für den Kritiker. Die näher erörterten Ursachen des Verlustes Homerischer Objektivität werden in den grundverschiedenen Verhältnissen des alten und modernen Epikers zur Volksgemeinschaft gesehen. Der kollektiven Einbeziehung in die Gemeinschaft dort steht hier die

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individualistische Absonderung gegenüber. Auch die „Ich-Partien" in den Homerischen Gesängen wahren objektiven Abstand. Der alte Epiker ist nur „der Mund seines dichterischen Volkes", eine Vorstellung, die Jordan auch für das moderne Epos zu retten versuchte, die für Spielhagen jedoch als Gegensatzbegriff gilt, da die Sympathie-Befreitheit der Alten in Kontrast gestellt wird mit der subjektiven Sympathie-Belastung der Modernen. Spielhagen hätte hier für die Epik an sich einen ähnlichen Ansatzpunkt wie einst Immermann für die Dramatik. Aber die Konsequenz Immermanns, daß wir eben nicht fremden Idealen nachtrauern und nacheifern sollen, Idealen, die schlechthin nicht zu verwirklichen sind und sein können von der ganz andersartigen Einstellung des modernen Dichters, diese oft genug am Wege sich geradezu aufdrängende Konsequenz sieht Spielhagen nicht. Er hält zäh verbissen an der vom Altertum, also induktiv bezogenen, teils in fast Lessingscher Scheindeduktion abgeleiteten Objektivität als dem künstlerisch allein fruchtbaren Mittel und dem kritisch allein entscheidenden Kriterium fest. Und nimmt lieber —• selbst Romandichter und gern von der „edlen Kunst" des Romandichtens sprechend — die relative Minderwertigkeit der epischen Gattung mit in Kauf, als daß er eine neue, neuen Verhältnissen angepaßte Idealforderung aufstellte. Unter dieser starren Blickrichtung verfällt etwa auch Goethes „Werther" der Kritik. Der „Werther" Goethes gilt nur als „besonders ausgeprägter" Schulfall für die zu verwerfende subjektive Art, die auch im „verkappten Ich-Roman" vorherrscht. Er wird nicht müde, immer wieder zu betonen, daß es kein anderes Mittel gibt, um die an sich „edle Kunst des Romandichtens von dem Fluche zu erlösen, eine Halbkunst zu sein". Nur dem Grade nach abgestuft ist die an sich zwangsläufig aus dem Wesen des modernen Romans resultierende „Subjektivität und Tendenzmäßigkeit". Schon die Art der epischen Phantasietätigkeit zwingt zur individuellen Beobachtung. Das Streben muß dahin gehen, das Weltbild und Zeitbild einzufangen in eine Fabel, die den Mangel einer überlieferten Sage (nach Art der Alten) möglichst weitgehend ersetzt. Es muß hinsichtlich der Zentralgestalt des „Helden" dahin gehen, diese Gestalt zu befreien aus der individuellen Einzelgeltung und sie auszuweiten zu einem zeittypischen, „für die aktuelle Welt repräsentativen Menschen". Im Grunde bewegt sich Spielhagen, der nicht zufällig auch hier häufig

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W. v. Humboldt heranzieht, ganz unverkennbar auf nachklassischen Bahnen, und wenn von diesem im Wesentlichen längst vorgezeichneten Wege sein Blick williger zur realistischen Einzelbeobachtung abschweift, so bleibt es doch die Sehart des poetischen Realisten, der ein Abdämpfen „realistischer Schärfe" begrüßt und der betont, daß „jenes Beobachten von vornherein ein anderes" sein müsse als das des Naturmenschen, des „praktischen" Menschen oder auch als das des Wissenschaftlers. Spielhagen wahrt also noch in der Zeit des bereits einsetzenden Naturalismus merklichen und voll bewußten Abstand von dessen Forderungen. Was den „Ich-Roman" im engeren Sinne anbelangt, so ist in ihm naturgemäß die Gefahr eines künstlerischen Mißbrauchs der „dem Dichter-Subjekt durch den Ich-Roman gewährten Freiheit" besonders bedrohlich. Eine zweite Hauptschwäche liegt in der Unnatur, daß der Erzählende auch betreffs der anderen Personen eine an sich unmögliche „Allgegenwart und Allwissenheit" besitzen muß, um ihr Fühlen, Denken oder Wollen zu kennen und dem Leser zu vermitteln. Dieses unwahrscheinlich weitreichende, Situationen und Personen umspannende Orientiertsein eines selbst am Romangeschehen Beteiligten muß irgendwie und oft recht krampfhaft motiviert und legitimiert werden. Spielhagen mißt dieser Hemmung geradezu eine entscheidende, die Gesamtform bestimmende Bedeutung bei: „Der Ich-Roman ist von Anfang bis zu Ende ein Kampf um diese Legitimation". Einst hatte schon B l a n k e n b u r g in seinem (anonym erschienenen) Versuch über den Roman (1774) diese Frage lebhaft bewegt. Technische Vorteile des Ich-Romans werden immerhin darin gesehen und eingeräumt, daß die persönliche Anteilnahme nicht unbedingt die Objektivität zu zerstören braucht, weil das „Ich" vielleicht als solches erkennbar bleibt, und vor allem darin, daß der Ich-Erzähler das Tempo der Erzählung jederzeit von sich aus beherrscht und je nach Bedarf drosseln oder beschleunigen kann. Denn die Konstanz der Persönlichkeit, die erzählt, verbürgt die unentbehrliche „Kontinuität" des Geschehens bereits durch das bloße bleibende „Dasein" im Sinne des Dabeiseins. Das freiere Umspringen mit Zeit und Raum muß aber gerade für das Streben des modernen Romandichters nach einer Ausweitung zum Weltbilde wesentlich fördernd sich auswirken; denn so findet er 1 eilweisen Ersatz für ein Eingreifen der Muse oder des Wunders, Hilfsfaktoren, die technisch nicht mehr verantwortbar sind. 24

M a r k w a r d t , Poetik IV

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Spielhagen dehnt die kunsttheoretische Erörterung vielfach beträchtlich durch die teils dichterisch bildreiche, feuilletonistisch geistreiche, teils doch aber auch etwas rhetorisch geblähte und verdünnend weitschweifige Darstellungsart mit französierenden Einschlägen, nicht nur im Einstreuen französischer Brocken. Die Anschauungen selbst, wie sie ihm in mancher Unterredung mit Berthold Auerbach geklärt oder bestätigt wurden, stützen sich im rein Theoretischen vielfach —· und teils durch Anmerkungen erkennbar — auf frühere Vorgänger in der epischen Theorie (neben Humboldt bes. auf Fr. Schlegel), während in allerlei technischen, den virtuosen „Kunstgriff" betreffenden Winken und Beispielen eigene künstlerische Erfahrung und kritisch beobachtender Sinn mehrfach auch Eigenes, Ergänzendes, Anregendes und auch heute noch nicht Uninteressantes zu bieten vermag. Um diese zentrale Abhandlung gruppieren sich eine Reihe von weiteren Aufsätzen, die teils von der Kritik eines Einzelfalles ausgehen und in der Titelgebung gerne mit antithetischen Problemgruppierungen arbeiten, so etwa die Fragestellung: Finder oder Erfinder? (1871); Novelle oder Roman? (1876) und in halb spielerischer Umkehrung Roman oder Novelle? weiterhin Drama oder Roman? (1881, gelegentlich Ibsens „Nora"). Es sind eben auch einfach Rezensionen, etwas prinzipiell zugespitzt, etwas allgemein ausdeutend, in diese Sammlung der „ B e i t r ä g e . . . " aufgenommen worden. Denn jener knappe Artikel über Ibsens „ N o r a " ζ. B. sucht schließlich doch nur nachzuweisen, daß Ibsens „ N o r a " kein echtes Drama, sondern ein dialogisierter Roman-Ausschnitt sei. Und der Aufsatz „Novelle oder R o m a n ? " , der gleichfalls von der Einzelkritik ausgeht (Novellen der Marie v . Olfers), weist letzten Endes nur nach, daß diese Novellen recht eigentlich keine Novellen, sondern „Romanskizzen" darstellen, relativ ermöglicht durch technische Kunstgriffe: Beschränkung auf kleinen Personenkreis, Charaktereinfachheit dieser Personen usw. Während hier mit einem gewissen Wohlwollen die so entstandene Zwischenform betrachtet, wenn auch nicht ohne ernste kritische Bedenken bewertet wird, urteilt der Aufsatz „Roman oder Novelle?" strenger über die Gattungsgesetzverletzung und Stoffversetzung von einer Dichtgattung (Roman) in die andere (Drama) und bildet so ein Gegenstück zu jener Ibsen-Kritik. Die Analyse eines Sonderfalles (G. Ohnet „Serge Panine") arbeitet die durchgängigen Grundanschauungen Spielhagens mit

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hinein in die Beanstandung einer unzulässigen Umgehungstechnik. Denn Umgehungstechnik kann man wohl am bündigsten die „Methode" nennen, die Spielhagen nicht nur an diesem Franzosen rügt, und die darin besteht, daß der Romanschriftsteller ζ. B. in einer „Einleitung" eine „farblose pragmatische Relation", einen trockenen Stoffbericht gibt und so die Schwierigkeit der Gesamtdurchgestaltung eines Weltbildes umgeht. Ein derartiger, an sich tempobeschleunigender Kunstgriff bedeutet aber im Bereich dichterischer Formgebung einen Mißgriff. Spielhagen, sonst recht tolerant gegen Kunstgriffe und zur Überschätzung der technischen Mittel und des Handwerklichen — so etwa auch in der Kritik „Ein humoristischer Roman" (1879), — nur allzusehr geneigt, muß solche billigen Praktiken denn doch als eines Dichters unwürdig verwerfen oder zum mindesten eine einschränkende Kontrolle für die Anwendungshäufigkeit (ζ. B. auch bei A. Daudet) fordern. Das gilt umso mehr, als sich diese bequeme Technik, mit zusammenfassenden referierenden Berichtseinlagen zu arbeiten, keineswegs auf die Einleitung beschränkt, sondern auch in den weiteren Verlauf der Darstellung störend immer wieder eingreift. Neben der „ästhetischen Erbärmlichkeit" dieser Kompositionsart, die einen „Mangel an Formgefühl und technischer Routine" — hier entschlüpft Spielhagen das Wort Routine als positive Wertbezeichnung — verrät, beanstandet der Kritiker das Hinübergleiten in Novellentechnik und weiterhin in dramatische Technik. Man bietet dabei in Wirklichkeit nur einen Romanausschnitt, und zwar „nur die letzten Kapitel von Romanen". Festzuhalten wären am ehesten noch die allgemeinen Thesen: „ K e i n Romanstoff ist auch zugleich ein Dramenstoff; folglich kann kein Roman in ein Drama umgedichtet werden. Ein Novellenstoff ist fast immer zugleich dramatisch; folglich kann beinahe jede Novelle in ein Drama umgedichtet werden". Schon hier wird auf Ibsens „ N o r a " Bezug genommen und damit auf den bereits kurz gewürdigten folgenden Aufsatz. Diese Aufsatzgruppe verteidigt, als Ganzes gesehen, das Eigenrecht und die Eigengesetzlichkeit der Gattungen und Gattungsarten und bekämpft eine Mißachtung jener Grenzen, „die nicht Willkür, sondern die Natur der Kunst selbst zwischen ihren Gattungen gezogen hat". Aus der Gruppe der stärker kunsttheoretisch eingestellten Abhandlungen darf der Aufsatz Finder oder Erfinder (1871) insofern besonderes Interesse beanspruchen, als in ihm Spielhagen 24»

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eigene Schaffenserfahrungen zugrundelegt. Denn das Thema vom Finder oder Erfinder gibt in Wirklichkeit nur den Rahmen für die Skizze des eigenen S c h a f f e n s v o r g a n g e s . Und wenn auch Spielhagen nicht vordringt und vordringen will in das Geheimnis der eigentlichen Produktionsstimmung, in den schöpferischen Urgrund, wie es einst Otto Ludwigs berühmtes Selbstzeugnis gewagt hatte, sondern mehr bei der Technik und den einzelnen Anlagestufen während der Entstehung verweilt, so bietet der Romanschriftsteller damit am Ende doch mehr Eigenes als mit seinen immer wieder auf W. v. Humboldt u. a. zurückgehenden Grundthesen (Objektivität, Totalität usw.). Zwar fehlt auch in dieser Bloßlegung des Produktionsvorganges nicht der Hinweis: „Da ist mir denn wieder und wieder ein gewichtiges Wort W. v. Humboldts in Erinnerung gekommen". Aber dieses Mal besteht eben jenes „gewichtige Wort" in Humboldts Anregung, die Erfahrungen schaffender Künstler selbst zu sammeln als wertvolle Winke für Komposition und Technik. Spielhagen, der Edgar Allan Poes Werdebericht über das Gedicht „The Raven" am Wege mitnimmt, möchte allerdings wiederum von jenen „Kunst- und Handwerksgriffen" aus vordringen zu „theoretischen Einblicken", ohne daß dies überall gelungen wäre. Sein Schaffensprozeß durchläuft, so meint er ablesen zu können, drei bis vier Stadien. Die erste Stufe bringt die Konzeption des Gesamtplanes in allgemeinen Umrissen und der Zentralgestalt, bringt den Entwurf in großen Linien zugleich „mit dem Helden (das passende Modell einbegriffen)". Spielhagen nämlich ist der Überzeugung, daß der Romandichter stets für die seinem Ausdruckswillen vorschwebende Zentralgestalt eines Modells der Wirklichkeit bedürfe. Nur dadurch entgeht er der Gefahr der Schemenhaftigkeit, die an sich auch, aber mit anderen künstlerischen Mitteln von Th. Fontane bekämpft wird. Natürlich sind Modifikationen der ausbauenden Phantasie gegenüber dem „Modell" auch für Spielhagen möglich und durchweg notwendig. Dieses Modellwesen wird offenbar ein wenig überschätzt. Auf der zweiten Stufe drängen sich die Nebengestalten hinzu, die zwar im Dienste der Zentralgestalt des „Helden" stehen, aber wiederum keineswegs völlig darin aufgehen. Denn ebenso wie der Held (und das Modell) sich nicht einfach deckt mit der Leitidee der Darstellungsabsicht, sondern diese Idee zwingt, an seiner individuellen „Endlichkeit und Beschränktheit zu partizipieren", so bewahren auch jene

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Nebenpersonen eine teilweise recht „spröde Selbständigkeit". Darin liegen technische Schwierigkeiten, aber auch künstlerische Vorteile. Spielhagen will offenbar auch in eigener Angelegenheit als Dichter betonen, daß seine Gestalten keine bloßen Begriffsträger und Zweckmittel, sondern von eigenlebiger und selbst eigenwilliger Wuchsart seien. Auf dieser Stufe legt er sich seine Personenliste in „dem biedern Stil der Pässe und Steckbriefe" an, um jede Gestalt jederzeit voll gegenwärtig sichtbar vor sich zu haben in ihren kennzeichnenden Attributen. Diese Maßnahme gilt nicht als Zwangsvorschrift, sondern nur als Stützungsfaktor, der elastische Bewegung beim Ausführen durchaus freiläßt. Wieder erfolgt Blutauffrischung der inneren Vorstellungsbilder des Dichters durch Umschauhalten nach Modellen der Wirklichkeit. Es ist für Spielhagen zweifelsfrei erwiesen, „daß der wahre Künstler nun und nimmer ohne Modell arbeiten wird", wenn ihm nur ein annähernd brauchbares zur Verfügung steht, was durchweg der Fall ist. Bei untergeordneten Personen und Episodengestalten muß gelegentlich eine andeutende Teilansicht genügen. Diese Gestalten nehmen teils mit Flachreliefstil vorlieb und brauchen keine rundplastischen Freistatuen zu sein. Gewisse stereotype Züge, an sich oberflächlich skizziert, pflegen gerade dem unbefangenen Leser eine besondere Lebendigkeit vorzutäuschen und erhalten oft unverdientes Lob. Diesen beiden Stufen gilt Spielhagens Hauptinteresse. Denn das dritte Stadium, die bis ins Einzelne gehende Planaufstellung, wird nur flüchtig berührt. Auch bekennt Spielhagen, daß für ihn als Schaffenden dieses dritte Stadium ohne weiteres in das vierte und letzte der wirklichen Ausgestaltung und dichterischen Durchführung übergeht. Und zwar deshalb, weil bei einem Großkunstwerk wie dem Roman wohl das Endziel als strukturbedingend und richtunggebend sichtbar sein muß; im übrigen aber der jeweilige Überblick über eine, wenn auch größere Teilstrecke hinreiche, „weil ich weiß, daß, bevor ich noch dieses Stück des Weges zurückgelegt habe, ich bereits eben so deutlich das nächste Stück sehe, u. s. w. bis ans Ende". Hinsichtlich des Rangstreites zwischen Finder und Erfinder betont Spielhagen, daß man in „Glanzepochen" der Kunst auf Erfindung nur wenig Wert gelegt habe, daß man an der Sucht, „neuartig" zu sein, notwendig eher kranken als gesunden müsse. Der

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Vorteil des „historischen Dichters", einen Helden überliefert zu erhalten, wird aufgehoben durch den Nachteil, an ihn zu eng gebunden zu sein. Finden und erfinden spielen untrennbar beim künstlerischen Schaffen ineinander über. Im allgemeinen wird „der große Erfinder allemal zuvor ein glücklicher Finder gewesen sein". Und wiederum bleibt doch auch der Finder auf das umgestaltende und ergänzende Erfinden angewiesen. Denn darin liegt die Mission des Künstlers, die hier —· auch nach dem Funde — recht eigentlich erst beginnt: „die Wahrheit ist, daß er nichts verwenden kann, wie es gegeben, jedes Atom des Erfahrungsstoffes erst durch die Phantasie befruchtet werden muß". Die Fragestellung des Titels scheint sich also mehr auf das Vorfinden in der Naturwirklichkeit oder der Geschichtswirklichkeit zu beziehen, da das Finden von fremdem, künstlerisch bereits vorgeformtem Stoff nicht ernstlich zur Erörterung gestellt wird. Beachtlich in dieser Richtung ist immerhin der Gedanke, daß eine literarische „Anregung" doch nicht auf alle Dichter wirkt, und daß also in dem, für den sie fruchtbar wird, eine ähnliche Welt bereits innerlich vorhanden gewesen sein muß. Das Wesentliche liegt bei alledem im Freilegen und Erläutern des selbsterfahrenen Schaffensprozesses bei Spielhagen. Nicht im strengen Sinne „Das Gebiet des Romans" (1873) umgrenzt der zweite grundsätzlich eingestellte Aufsatz der Sammlung. Denn hinsichtlich des Stoffbereiches wird nur festgestellt und dann in mehreren Variationen die These aufgenommen, daß der Roman den Menschen stets „auf dem Hintergründe der Natur" und in „Abhängigkeit von den Bedingungen der K u l t u r " darzustellen habe. Dadurch umspannt der Roman sowohl das Gebiet der realen wie historischen Wissenschaften, wie er denn auch als Träger und „Vehikel" geistiger „Interessen und Bedürfnisse" in hervorragender Weise geeignet ist (Abweichung vom früheren Aufsatz „Über Objektivität im Roman") und als Vermittler kultureller Strömungen und Strebungen die Nachbargattungen übertrifft. Mit dem tiefdringenden Einblick in die „menschliche Natur" hat er den weit umspannenden Überblick zu verbinden und den Menschen „in stetigem Bezug auf die sozialen und natürlichen Bedingungen seiner Existenz" im Humboldtschen Sinne zu „betrachten". Im Bemühen, eine Humboldtsche Definition zu verbessern, die mehr Wirkungs- als Wesensbestimmung bietet („. . unser Gemüt in den Zustand der lebendigsten und allgemeinsten

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Betrachtung versetzt") und daher für Spielhagens theoretischen Objektivitäts-Fanatismus zu subjektiv eingestellt erscheint, gelangt er zu der Wesensbestimmung: „Das epische Gedicht in seiner höchsten Vollendung ist die durch Erzählung vermittelte dichterische Darstellung der Menschheit, soweit sich dieselbe innerhalb eines Volkes in einer gegebenen Epoche manifestiert". Im allgemeinen Bezug gilt der Roman als Ablösungsform des alten Epos — wie etwa schon bei Mündt —, und zwar sowohl der „historische" wie auch der „moderne" Roman. Die von der epischen Theorie des neunzehnten Jahrhunderts bevorzugte Fragestellung nach der Zeitbegrenzung des historischen Romans in Unterscheidung vom Gegenwartsroman wird bei dieser Gelegenheit von Spielhagen in der Weise aufgenommen, daß der „moderne" Roman eine Geschehenszeit wählt, „welche noch in dem vollen Licht der Erinnerung der jetzigen Generation liegt". Selbst für den historischen Roman, dessen rückwärtige Zeitgrenze nicht näher bestimmt wird, gilt es als Vorteil, wenn die mündliche Überlieferung und Erinnerungsvermittlung das Geschehen noch relativ wach erhalten haben, so etwa bei Fritz Reuters „Ut de Franzosentied". Allerdings tauchen vor dem „obersten Gesetze" der Objektivität gewisse Gefahrenzonen der subjektiven Erlebnisnähe auf. Der historische Roman findet in der Darstellungsweise leichter den erforderlichen objektiven Abstand, während der moderne Roman leichter dem Umschlagen der miterlebenden Teilnahme in „Tendenz" ausgesetzt ist. Das jederzeit und leibhaftgreifbare Gestalten auf der einen Seite, das dem historischen Dichter die Bevorzugung mündlicher Tradition oder doch besonders reich und lebendig fließender Quellen nahelegen sollte, ist abzugleichen durch den „schönen Vorteil der ruhig klaren Objektivität" auf der anderen Seite. Es wird hier ein gewisser Zwiespalt in der Stellung des Romantheoretikers, aber auch des Romandichters Spielhagen fühlbar. Ein Kompromiß wird darin gesucht, daß der „historische Dichter" seinem Stoff nicht zu weit „entfernt", der „moderne" seinem Motiv nicht zu „nahe" stehen dürfe. Dem einen ist Abstand gegeben: er hat also Annäherung zu suchen; dem anderen ist Nähe gegeben: er hat also Abstand zu wahren. Der eine hat historische Abhandlungen oder „archäologische Vademekums" ebenso zu vermeiden wie der andere die garstigen „Tendenzzettel", die den Personen gleichsam aus dem Munde hängen.

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In einem Romane George Eliots („Middlemarch") sieht Spielhagen diese Methode tendenziöser Erläuterungen und Reflexionen besonders kraß ausgeprägt und zugleich das Gesetz der Konstanz der Zentralgestalt durch verwerfliche Heldenablösung aufs schwerste verletzt. So erwächst aus dieser Sonderkritik die teils theoretische Erörterung Der Held im Roman (1874). Bereits durch sein Erstgeburtsrecht wird die Bedeutung des „Helden" im Roman gewährleistet; denn seine Gestalt pflegt sich im Konzeptionsvorgange als erste aus noch zerfließenden Umrissen anderer Gestaltengruppen klarer herauszulösen. Gedankengänge der Abhandlung „Finder oder Erfinder?" werden aufgenommen, so etwa in der Beobachtung — wohl mehr persönlicher Art, daß der erste Romankeim und das erste Aufdämmern der Zentralgestalt untrennbar miteinander verbunden, ja „absolut identisch" sind. Im Verhältnis zum Dichter ist der Held „gewissermaßen das Auge, durch welches der Autor die Welt sieht, in diesem (jeweilig geschaffenen) Roman wenigstens, in diesem Stadium seiner Entwicklung wenigstens". Als Maß-gebendes Strukturglied des Gesamtromans bietet die Zentralgestalt zugleich den „Maßstab", der alle übrigen Proportionsglieder von sich aus beherrschend bestimmt. Geht die in der Konstanz des Zentralcharakters verbürgte Einheitlichkeit des Maßstabes verloren, so" muß auch der Gesamtbau des Romans notwendig seine organische Harmonie verlieren und schließlich dem Dichter unter den Händen zerbröckeln. Ablösung der führenden Gestalten und Auswechselung des Maßstabes führen zur Zersplitterung im Werk und zum Unrastgefühl, ja Unlustgefühl beim Leser: „Es ist im einzelnen alles vollkommen richtig und wirkt doch falsch, weil wir fortwährend einen Maßstab mit dem andern vertauschen müssen". Derartige billige Mittel, zu einer bequemen Vielseitigkeit und Scheintotalität zu gelangen, sind vom verantwortungsbewußten Künstler zu verschmähen. Breiten Raum nimmt neben dem Eingehen auf den Sonderfall und auf das eigentliche Thema (vom Helden) die zähe Polemik gegen technische Verstöße, gegen das „prosaische Mittel" der persönlichen Einmischung und vordringlichen Vermittlung durch den Dichter selbst ein. Wir sind wieder einmal beim Lieblingsthema Spielhagens vom ehernen Geltungsgesetz der Objektivität angelangt. Selbst den ihm von verschiedenen Seiten gemachten Einwand der „Grundverschiedenheit der Bedingungen antiker und moderner Poesie" und damit der Unübertragbarkeit des Gesetzes

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von einem Kultur- und Zeitkreis auf den andern, weit entfernten, will Spielhagen nicht gelten lassen. Sein Eifer findet dabei recht haftkräftige Prägungen zur Unterscheidung der allein künstlerisch berechtigten gestaltenden Charakteristik von der wertlosen, dilettantisch bevorzugten, formulierenden Charakteristik, die mit bloßen Notizen arbeitet, wo sie gestalten sollte. Derartiges subjektives Beiwerk, besonders auch in angehängten oder aufgezwungenen Reflexionen anzutreffen, muß um so energischer bekämpft werden, als die Denklässigkeit des Durchschnittslesers, die das Nachschaffen scheut, ein solches Entgegenkommen zu begrüßen pflegt, der Dichter also auch von dieser Seite her der Verführung zur subjektivistischen Einmischung stark ausgesetzt ist. Gerade dieses Verführerische, dieses süß einfließende Gift erfordert ein ständiges Wachhalten des künstlerischen Gewissens und epischen Pflichtgefühls, „damit man sich mit dem ganzen tiefen, ästhetischen Widerwillen" gegen solchen Mißbrauch anstemme. Der „Zorn des beleidigten Ästhetikers" darf sich nicht entwaffnen lassen durch sonstige Schönheiten des Romans oder die isolierte Brauchbarkeit und Originalität der Reflexion; jene eingestreuten Geistesblüten bleiben Unkraut im Weizen satter Sachlichkeit. Uber mehrere Generationen und mehrfachen Richtungswandel im generationsmäßigen Ablauf hinwegreichend, interessiert T h e o dor F o n t a n e (1819—1898) doch innerhalb der Kunstanschauung und spezifisch der Romantheorie vor allem im Zeiträume der siebenziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Damals entstanden die kritischen und theoretischen Literarischen Studien und Eindrücke, die jetzt der Nachlaß bringt, die aber teilweise wenigstens in der Vossischen Zeitung erschienen waren, darunter der kunsttheoretisch reichste über Gustav Freytag. Eine Gruppe dieser mit grundsätzlichen Betrachtungen über Theorie und Technik des Romans durchflochtenen Kritiken sind unter dem Kennwort „Roman-Reflexe" vereinigt worden. Der Gesamteindruck kann in Bewertung und Forderung kaum noch Unklarheit darüber bestehen lassen, daß der ältere Fontane, so begeistert die „Jüngstdeutschen" des Naturalismus ihn als einen der Ihren in Anspruch nehmen mochten, dennoch im Wesentlichen auf der Linie des ideellen und poetischen Realismus innehält, und zwar mit künstlerischer Besonnenheit bewußt innehält. Allerdings setzt seine entscheidende Schwenkung zum modernen Roman erst voll ein etwa gleichzeitig mit jenen theoretischen Erwägungen.

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Indessen, mochte Ernst von Wolzogen den Dank der Jüngsten dem Siebenzigjährigen mit aller Wärme darbringen, mochte Fontanes frei beweglicher und lebensnaher Sinn selbst der wohlwollend beobachteten Jugend stützend und stärkend zurufen: „Sie haben den Tag, sie haben die Stunde"; seine künstlerische Einsicht hieß bestenfalls noch den „besonnenen Realismus", wie ihn etwa Wilhelm Bölsche vertrat, gut, nicht aber den „krassen"oder gar den „konsequenten" Realismus. Mit Recht weist etwa J . Petersen darauf hin, daß hinsichtlich der Zugehörigkeit zu einer Generation zwischen den Mitteln der Kunst und den Problemen unterschieden werden müsse, gerade auch bei Fontane. Und wenn Fontane in seiner Besprechung von Otto Brahms Aufsatz über Gottfried Keller recht bündig, aber überscharf fast formuliert: „Erbarmungslos überliefert er die ganze Gotteswelt seinem Keller-Tone", so darf mit Petersen darauf hingewiesen werden, daß auch Fontane selbst — darin Keller ähnlich — seine Gestalten einem einheitlichen Fontane-Tone ausliefert. Damit ist bereits von dem Dichtung-Schaffen (Dichtungsübung) her ein wesentliches Element gegeben, das einer Hauptforderung der Naturalisten (individuell natürlich abgestufte Redeweise) widerspricht. Fontanes Kunstauffassung läßt sich ebenfalls nicht ohne Gewaltsamkeit zum reinen Realismus oder gar Naturalismus hin abdrängen. Ohne Zwang aber läßt sie sich dem poetischen Realismus eingliedern als fortschrittsfreudige Spielart mit gelegentlichem Zurückgreifen auf Vorstufen wie Gutzkow oder auch Geibel und mit hoher Stilbewertung, sowohl hinsichtlich kompositioneller Stileinheit als auch hinsichtlich der sprachlich-stilistischen Formpflege. Die Abgrenzung gegenüber dem Naturalismus hat in gewissem Grade Fontane selbst vorgenommen in seiner Besprechung von A. Kiellands „Arbeiter" (Roman), wo Zolas Stellung erläutert wird als eine Erhebung des Reportertums zum Dichtertum. Fontane meint ergänzend: „Und eine gute Strecke Weges gehe ich dabei mit ihm. Ich erkenne in dem Heranziehen des exakten Berichtes einen ungeheuren Literaturfortschritt, der uns auf einen Schlag aus dem öden Geschwätz zurückliegender Jahrzehnte befreit h a t . . .". Aber dieser erste Schritt „zum Besseren" darf nicht das Ziel werden; denn sonst „hört alle Kunst auf, und der Polizeibericht wird der Weisheit letzter Schluß". Auch eine an sich geschickte Kombination von bloßen Meisterstücken der Berichterstattung schafft noch kein Kunstwerk. Das

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Seelische muß das Materialistische durchdringen. Allein dann vermag ein Kunstwerk zu entstehen, „wenn eine schöne Seele das Ganze belebt. Fehlt diese, so fehlt das Beste". Der vergeistigte Realismus wird also nur leicht umgedeutet in einen beseelten Realismus und — das ist mehr eine Herzens- und Stimmungssache Fontanes — in einen hellen frischen Realismus, der keine düsteren „Trostlosigkeitsapostel" im „sonnigen Reiche der Kunst" dulden will. Eigene Freude am Detail hindert ihn nicht, auf das Erfassen der Totalität hinzuweisen. Seine Vorliebe für Schilderungstalente schließt nicht aus, daß er allein dem Genie letzte Wirkungen und Rechte vorbehält. Eine gewisse Unsicherheit wird jedoch dort erkennbar, wo die Darstellungsberechtigung der menschlichen „Kleinheit" und „Ruppigkeit", wo das Einbeziehendürfen des Unschönen, Unbedeutenden, Häßlichen in Frage steht. Das Trostlos-Niederdrükkende stößt Fontane merklich ab, während andererseits seine Neigung zum Verhaltenen, seine Liebe zum Detail („ick bin mihr for aliens, wat lütt und still") für den künstlerischen Geltungswert der Kleinwelt eintreten möchte. Und so kommt es zu der etwas gewundenen Erklärung: „Die Kunst hat die Aufgabe, über diese Dinge hinzusehen, oder — wenn sie dargestellt werden sollen, was durchaus meinen eigenen Neigungen entspricht — sie humoristisch zu verklären oder sie wenigstens grotesk-interessant zu gestalten". Als Muster wird Dickens genannt. Entwicklungsgeschichtlich aufschlußreich — im rückschauenden Vergleichsblick — bleibt es zu beobachten, wie hier ohne historisch belastete Befangenheit, einfach aus einer Gegenwartskritik heraus doch letzten Endes wieder der Komik das „Niedere" zufallen soll. Die Naturalisten unterschätzten jene Hemmungen, die Fontane ihrem Kunstwollen entgegenbrachte und seiner ganzen Wesensart, nicht nur seinen älteren Entwicklungsstufen nach, entgegenbringen mußte. Sie übersahen derartige Abweichungen und grundsätzliche Unterschiede wohl teils auch bewußt, weil es ihnen darauf ankam, unter den älteren bewährten Vertretern der Dichtung Muster und Vorbilder zu entdecken, weil sie für ihre Programme Bewährungen aufsuchten, die sie selbst noch nicht zu bieten vermochten, eine Erscheinung, die bei Schwenkungen des Kunstwollens vielfach ablesbar wird. Jene erwähnten Äußerungen Fontanes bilden schon einige der verhältnismäßig am weitesten vorgeschobenen Fühler, die tastend

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und prüfend zum Naturalismus hin ausgestreckt wurden. Die Geschlossenheit der Illusion, das Gefangennehmen des Lesers durch bruchlose Wirklichkeitsillusion ist es, was Fontane nächst jener individuellen „Vorliebe für das Genrehafte und Stiftersche Kleinmalerei" und für Echtheit, Schlichtheit und Wahrhaftigkeit dem Realismus näherbringt. Angesichts der Romane Kretzerscher Art fragt Fontanes Nachlaßkritik (über Paul Lindaus „Der Zug nach dem Westen") im Bemühen um Klärung: „Was ? Was fehlt diesem Realismus?", um zu der grundlegenden Ausgangsfrage vorzudringen, wie denn ein moderner Roman beschaffen sein soll. Er antwortet: „Aufgabe des modernen Romans scheint mir die zu sein, ein Leben, eine Gesellschaft, einen Kreis von Menschen zu schildern, der ein unverzerrtes Wiederspiel des Lebens ist, das wir führen. Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren, ähnlich wie manche Träume sich unserer mit gleicher Gewalt bemächtigen wie die Wirklichkeit. Also noch einmal: darauf kommt es an, daß wir in den Stunden, die wir einem Buche widmen, das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und daß zwischen dem Erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist als der jener Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung und infolge davon jener Gefühlsintensität, die die verklärende (!) Aufgabe der Kunst ist". Der Unterschied aber besteht, jener Unterschied der Abrundung und Gefühlsintensität. Ebenso bleibt diese verklärende Aufgabe der Kunst erhalten. Überhaupt läßt sich verfolgen, wie Fontane das gefühlsmäßige Mitgehen, das stimmungsmäßige Beeindrucktsein des Lesers — ohne es in seine gesetzmäßig zugespitzten Forderungen einzugliedern — doch überall als hohes, wenn nicht höchstes Wirkungsziel und Bewertungskriterium vorschwebt: „gerührt, erhoben, erfreut" soll der Leser werden (KiellandKritik); „unter Weinen und Lachen" soll der teilnehmende Leser die Gestalten der Dichtung begleiten (Keller-Kritik); „zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen" ist Wirkungsziel der Dichtung (Freytag-Kritik); „herzgewinnend" ist in diesem Sinne symptomatisch als positives Wertattribut der Kritik (GoetheKritik). Es ist ein menschlich sehr nahes und intimes Verhältnis zwischen Leser und Dichtungsgestalten, das Fontane wünscht.

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Fast scheint es ein wenig seinem Sinne für Geselligkeit zu entspringen, wenn er die volle Illusion, die unmittelbare Erlebniseinheit und Gefühlsverbundenheit von Romangestalten und Leser fordert und anerkennt: „Wir gewinnen sie lieb, wir sorgen uns, wenn sie fehlen, wir freuen uns, wenn sie wieder da sind . . .Solche Gestalten . . . flößen uns ein H e r z e n s i n t e r e s s e ein" (AlexisKritik). Etwas Naives, von Kunsttheorie Unbeschwertes liegt gerade in diesem Kriterium des Kritikers Fontane. Die Haltung des geselligen Plauderers ist ganz offenbar Voraussetzung für ein derartiges Befördern und Begrüßen engsten Miterlebens, das selbst —• wie im Wirklichkeitserlebnis — ein warmes Rückerinnern einschließen kann: ,,wir lachen und weinen, wir hoffen und fürchten und scheiden endlich aus diesem reichen Gestaltenkreise, nicht ohne vielen eine dankbare, einzelnen eine ungetrübte, durch nichts beeinträchtigte, herzliche Erinnerung zu bewahren" (FreytagKritik). Gelegentlich wird an solchen Stellen der sonst Feierlichkeits-Feindliche selbst ein wenig pathetisch. Es ist ihm Herzenssache, wie er denn ausdrücklich in der Freytag-Kritik, den kunsttheoretischen Exkurs einleitend, betont: „alles, was im nachstehenden als Forderung formuliert wird", soll „kein äußerlich angenommenes Gesetz, sondern aus der unmittelbaren Empfindung heraus geboren und recht eigentlich ein Kind des Herzens" sein. Die Verbindung von Stimmungs- bzw. Geschmacksforderung und Gesetzeskriterium begegnet auch späterhin in derselben Rezension, so bei der kritischen Abwehr: „Das Herz und das ästhetische Gesetz lehnen sich gleichzeitig dagegen auf". Erst die Verbindung beider bestimmt die Zuverlässigkeit der kritischen Bewertung. Dem entspricht es, wenn Verstöße gegen die Illusions- und Stileinheit scharf überwacht werden. Innerhalb der F r e y t a g - K r i t i k (in der Vossischen Zeitung) erscheint der Standpunkt des poetischen Realismus besonders klar ausgeprägt. Jede Dichtung gilt als „eine Welt des schönen Scheins", aus der der Leser nicht herausgerissen werden darf. Und nicht zufällig schließt Fontane hier mit einem Geibel-Zitat, nach dem der Dichter wie ein Liebender von seinem Stoff gebannt, beunruhigt, gefangen sein muß und keine „Vernunftehe mit der Muse" (Geibel) eingehen darf. Gegenüber der Lindau-Kritik etwa fühlt man sich in ältere Zeiten zurückversetzt; und man hat wohl in der Besprechung des Lindauschen „Zuges nach dem Westen" eine Fortführung jener grundsätzlichen Erwägungen zu sehen, die in-

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dessen in dieser Freytag-Kritik breiter angelegt und vorbereitet worden sind. Es sind Erwägungen über die Romanform. Fontane, noch nicht beängstigt durch die moderne Verfemung strenger Gattungsbestimmung und die in Mißkredit geratene „Soll"Ästhetik fragt gerade heraus: „ W a s soll ein R o m a n ? " und antwortet : „ E r soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluß aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte. — Das etwa soll ein R o m a n " (S. 238/39). Im Weiterverfolgen dieses Gedankenganges gelangt Fontane zu der zweiten und wie er selbst fühlt, „weitergehenden Frage: Was soll der moderne R o m a n ? " Nachdem enger einkreisende Fragen im Besonderen die Stoffwahl berücksichtigt haben (begrenzter oder unbegrenzter Stoffbereich?), bringt Fontane, für den diese Fragenreihe und ihre Beantwortung bereits „persönlich entschieden ist", die „soll"-ästhetische Zielsetzung: „Der Roman soll ein Bild der Zeit sein, der wir selber angehören, mindestens die Widerspiegelung eines Lebens, an dessen Grenze wir selbst noch standen oder von dem uns unsere Eltern noch erzählten". Und zwar setzt Fontane als empfehlenswerte Grenze für das Rückgreifen der Geschehenszeit etwa „zwei Menschenalter". Es wird versucht, dies an der Empirie zu erhärten, wobei u. a. auf den Untertitel „ V o r sechzig Jahren" von W a l t e r S c o t t s Erstling „Waverley" als Stützung der Zwei-Generations-Theorie hingewiesen wird. Unzweideutiger Nachdruck liegt auf dieser Forderung relativer Gegenwartsnähe: „Noch einmal also: der moderne Roman soll ein Zeitbild sein, ein Bild s e i n e r Z e i t " ; aber eben „seine" Zeit soll doch „unserer" Zeit erlebnismäßig greifbar nahegerückt bleiben. Ausnahmen bilden der „dramatische Roman", der große Leidenschaften gestaltend auswertet, und der „romantische R o m a n " ; denn beide dürfen in allen Jahrhunderten Einkehr halten. Doch

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werden diese Roman-Typen ausdrücklich als Ausnahmen aufgefaßt. Das überzeitliche Element ist im dramatischen Roman „das Ewige der Leidenschaftswelt", im romantischen Roman dagegen „das Ewige der Phantasiewelt". Beide Formen sind in diesem Sinne an keine bestimmte Geschehenszeit gebunden. Einen weiteren Ausnahmetypus stellt in gewissen, aber doch nur in „scharf innezuhaltenden Grenzen" die stark gepflegte Sonderform des „historischen Romans" dar. Er ist echt bei in gutem Sinne „rückwärts gewandten Naturen", die ihrem ganzen Erleben nach sich wesensverwandt fühlen mit Zeitgeist und Lebensstimmung einer versunkenen Epoche und die, indem sie liebevoll jene Zeit ergreifen und sich von ihr ergreifen lassen, doch letzten Endes wiederum „ihre" Zeit — nämlich die ihnen gemäße Epoche der Vergangenheit — gestalten. Solch ein Romanschriftsteller ist gleichsam der verschlagene Sohn eines „voraufgegangenen Jahrhunderts", und seine Ausnahmestellung gegenüber dem Zeitraum der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit wird weitgehend dadurch aufgehoben, daß für ihn seine historisch einfühlende Erlebnisintensität wie sein wesensverwandtes Sich-Angezogenfühlen in der Tat die Vergangenheit zu seiner geistigen Heimat machen, und zwar in dem Grade, daß für ihn jene vergangenen Zeiten „recht eigentlich die G e g e n w a r t seines Geistes sind". Daß keine „historische Korrektheit" verlangt wird, sei nur beiläufig erwähnt als überliefertes Element der Kunsttheorie. Die Vormachtstellung des Zeitromans und Gegenwartsromans ist uns bereits von Gutzkow und den Jungdeutschen her vertraut. Sie erfährt weiteren Ausbau nach der modernen Richtung hin in der Lindau-Kritik, die hier vorweggenommen wurde, um vorerst einmal Fontanes allzu enge Einbeziehung in die naturalistische Tendenz zu lösen und sein Abstandsverhältnis klarzustellen. Es ist nicht ohne Reiz zu beobachten, wie sich das Interesse für den historischen Roman, das in den vorhergehenden Jahrzehnten stark in den Vordergrund getreten war, merklich auflockert und teils beträchtlich abschwächt, unter gleichzeitiger Wertminderung trotz der Anerkennung für Scott. Auf Scott einzugehen, bot sich verschiedentlich Gelegenheit in der längeren Würdigung ,,Willibald Alexis" (1873 in J. Rodenbergs „Salon"), wobei Gutzkows Urteil streckenweise aufgenommen wird. Ihrer Anlageart nach ist diese kleine Abhandlung überwiegend referierend gehalten. Und selbst hier, wo die historischen

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Romane Härings eine, wenn auch nicht kritiklose Anerkennung finden, setzen sich deutlich prinzipielle Bedenken gegen den zeitlich weit zurückgreifenden historischen Roman durch. Diese Hemmungen gehen aus von der Grundforderung einer „tieferen menschlichen Teilnahme", eines rein persönlichen „Romaninteresses", das notwendig geschwächt oder gar aufgehoben wird, wenn die Zeitferne des Geschehens die Gestalten bestenfalls noch als blasse Typen erkennen läßt. Derartige Schemen wären personifizierte „Begriffe, nicht Menschen. Aber nur Menschen wecken unser Interesse". Der Realist und Individualist aber erkennt: „alles Interesse steckt im Detail; erst das Individuelle bedingt unsere Teilnahme, das Typische ist langweilig". So stimmt die AlexisWürdigung mit der Freytag-Kritik darin durchaus überein, daß außerordentliche und seltene Voraussetzungen erst ein vereinzeltes Gelingen des historischen Romantypus gewährleisten, daß jene „rückwärts gewandte Begeisterung" recht intensiv und daß der Dichter mehr in der Zeitheimat seiner Gestalten zu Hause sein muß als in der Gegenwart. Das „Zeit- und Sittenbild" gewinnt überwiegende Bedeutung vor dem rein historischen Roman. Das realistische Element kommt gemeinsam mit der engen Erlebnisbeziehung zwischen Romangestalten und Leser zur Geltung in der überall wiederkehrenden Abwehr blutloser oder „schemenhafter" Gestalten und der entsprechenden Forderung „selbständiger, lebenswahrer Figuren". Daß nicht nur die allgemeine Vorstellung der Lebendigkeit von Romangestalten aufgegriffen wird, sondern eine Wendung zum Realismus erfolgt, mag das persönliche Bekenntnis in der Goethe-Kritik erläutern helfen: „Ich bekenne aber doch, daß mir Gestalten, von denen ich glaube, die Knöpfe des Rockes und die Venen der Hand zählen zu können, lieber sind, als diese Richtungen und Prinzipien vertretenden Schatten". Wiederum wahrt dieser Realismus jedoch die Grenzlinie des spezifisch lustbetonten, ästhetisch gedämpften, „poetischen" Realismus. Der p o e t i s c h e Realist hat das Wort, wenn von einem Überschreiten der „Schönheitslinie" zum „moralisch Häßlichen" hin gewarnt, wenn von dem „ästhetisch Erlaubten" gesprochen, wenn in die Wesensbestimmung des Romans die Einschränkung „unter Vermeidung alles Übertriebenen und Häßlichen" fürsorglich aufgenommen wird. Einzelhinweise betreffen die Gestaltungsart und die Romantechnik.

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Tolerant wird im Gespräch mit Rudolf (nicht Paul) Lindau, dem Romandichter — wenn auch nur im Ausnahmefall — die technische Nothilfe gestattet, für einen Augenblick „aus seiner rein schöpferischen Rolle herauszutreten", um mit wenigen Worten erläuternd einzugreifen, besonders dort, wo die Wegrichtung sonst ungeklärt bleiben würde. Fontane hofft, daß der Leser sich trotz des prosaischen Wegweisers doch recht bald wieder „in die poetische Stimmung hineinmarschieren" werde. Daß nicht willkürlicher Einmischung das Wort geredet wird, deutet ζ. B. die Stellungnahme zu Spielhagen an, dem als theoretischem Vertreter strenger Objektivität Fontane vorwirft, daß er „seine Personen alles sagen läßt, was er gerade auf der Seele hat". Beachtenswert erscheint im Bereich der Romantechnik die Auffassung, daß Naturschilderung nicht als Selbstzweck, sondern nur noch als ein Mittel zum Zweck der Stimmungsuntermalung zugelassen wird. Für Fontane, der die Forderung, daß handlungsmäßiges und seelisches Geschehen „von verwandten Erscheinungen in der Natur begleitet" werden solle, auf Shakespeare stützte, lag darin eine Beseelung der Naturschilderung im Sinne des poetischen Realismus. Indessen machte nicht erst der Symbolismus, sondern bereits der Naturalismus (bes. im Drama) von einem derartigen Naturparallelismus bis zum Uberdrusse Gebrauch, obgleich die rein realistische Beschränkung damit bereits durchbrochen wurde. Neben diesen technischen Hinweisen, die etwa auch in der gattungsmäßigen Abstufung berücksichtigen, daß die Charaktergestaltung im Roman mit feineren Abtönungen arbeiten soll und kann als im Drama (Goethe-Kritik), verrät tiefere Einsicht in intuitiven Gestaltungsdrang die Abwehr, die zugleich die entsprechende Forderung einschließt: „Nirgends ein Gemußtes, überall ein Gewolltes" (Freytag-Kritik). Von hier aus wird gleichfalls der Abstand von der naturalistischen Auffassung der Dichtung als einer willensmäßigen Arbeitsleistung spürbar, wie denn etwa auch Fontanes warme Geniebewertung absticht von einer merklichen Ratlosigkeit der naturalistischen Theoretiker gegenüber dem Genieproblem. Als Einzelheit mag schließlich verzeichnet werden, was Fontane in seiner Besprechung von Herman Grimms Goethe-Buch (Voss. Ztg., 1876) zur Definition des E s s a y s , der sonst durchweg geringe Berücksichtigung zu finden pflegt, beiträgt: „Das Wesen des Essais besteht darin, in knappster Form, zugleich unter Geltendmachung allgemeiner Gesichtspunkte, 25

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eine Gestalt oder eine Frage nicht losgelöst von , ihrer Umgebung, sondern im Zusammenhange mit dieser zu betrachten, mit anderen Worten: bei Behandlung des Teiles zugleich einen Blick auf das Ganze zu werfen. . . Der Essai, wie er die Gabe erheischt, die Einzelheiten im Zusammenhange mit dem Ganzen zu erblicken, erheischt vor allem auch Esprit und Stil". Als hervorragende Essayisten gelten in England ζ. B. Macaulay, in Deutschland neben dem ausgezeichneten Feuilletonisten Herman Grimm auch Schopenhauer. Der Sonderform des Epos widmete W i l h e l m J o r d a n (1819 bis 1904) Epische Briefe (1876), nachdem er bereits in früher liegenden Schriften Teilausschnitte geboten hatte in Der epische Vers der Germanen und sein Stabreim (1868) und Das Kunstgesetz Homers und die Rhapsodik (1869). Die Epischen Briefe, eigentlich Briefe über W e s e n s - und W e r d e f o r m e n des E p o s , sind als Vortragsreihe angelegt worden, wobei der weitaus größte Teil berichtend und erläuternd die geschichtlichen Werde- und Wuchsformen des indischen, persischen bzw. iranischen, griechischen und germanischen Epos historisch würdigt. Dagegen bieten die ersten Briefe einen nicht unbedeutenden Beitrag zur Theorie des Epos. Des Epos, nicht der epischen Gattung schlechtweg, wie denn der dritte Brief ausdrücklich dem Mißverständnisse vorbeugt, das der Titel nahelegte, und das „Wesen des Epos" als allein zu behandelndes Thema abtrennt von einer möglicherweise erwarteten Erörterung über die epische Dichtung, die von vornherein nicht beabsichtigt worden war. Jordan, der, getragen von der historischen und nationalen Interessenrichtung, selbst mit seinem ,,Nibelungen"-Epos in Stabreimen (zweiteilig, 1868 u. 1874) auf internationalen Vortragsreisen Erfolg zu finden verstand, beansprucht in bewußtem Gegensatz zu den meisten neueren Wortkunsttheoretikern für das Epos die höchste Rangstufe und greift so — der nachklassischen Stellung entsprechend, aber kaum bewußt —• auf W. von Humboldt („Aesthetische Versuche", I), letzten Endes jedoch — und offenbar ungewollt — auf die ältere Humanisten- und Barockpoetik zurück. Gewiß hat eigenes Geltungsstreben des Dichters nicht wenig zu dieser Auffassung beigetragen, die ohne falsche Bescheidenheit betont und überbetont, daß die Irrlehre vom Uberlebtsein des Epos „durch meine Nibelungen und ihren Erfolg bei den Deutschen zweier Hemisphären" (darin sind die Deutsch-

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amerikaner einbezogen) endgültig und schlagend widerlegt worden sei. Doch versucht er auch grundsätzlich und in sachlich theoretischer Besinnung die Rangstellung des Epos zu sichern. Jordan geht aus von der durch sein metrisches Interesse mitbestimmten Dichtungsdeutung: „Diese Sprachkunst wird zur Poesie, wenn die Laute, welche Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen und Anschauungen mitteilen, zugleich Musik machen, und diese Musik eine ähnliche Stimmung weckt wie der mitgeteilte Inhalt". Indessen, trotz der knapperen Zusammenziehung „Poesie ist also darstellende S p r a c h m u s i k " nimmt er natürlich noch nicht etwa Arno Holz* Lehre vom Rhythmus vorbereitend vorweg, sondern denkt mehr an die Metrik, überhaupt aber an „das gehörte Wort" als den eigentlichen Träger dichterischer Wirkungsform und mittelbar auch an seine Vortragsabende; denn „nur durch lauten Vortrag kommt sein Werk zur vollen Existenz". Immerhin erscheint die Deutung des Dichters als eines „Künstlers in darstellender Sprachmusik" entwicklungsgeschichtlich hervorhebenswert. Jordan gelangt aus seinem Erlebnis als „Rezitator", als Sprecher seiner eigenen Dichtungen hierin zu relativ vorwärtsweisenden Ergebnissen, die jedoch keinen weiteren Ausbau erfahren, weil das Sonderinteresse sehr bald von der Dichtkunst schlechtweg zum Epos hinüberlenkt. Nur allgemein wird betont und an einer Erlebnisskizze erläutert, wie neben der schöpferischen Genialität die technische Beherrschung des Darstellungsmaterials nicht unterschätzt werden dürfe. Umfassende Allgemeinbildung wird vom Dichter gefordert. In diesem Sinne ist eine „Poesie der wissenschaftlichen Erkenntnis" erwünscht als Zeitforderung. Aus seinem philosophischen Lehrgedicht Demiurgos zitiert Jordan: „Vor meinem Blick erhob sich stets vom Dichter / Ein anderes Bild als fernes Ideal / Des Weltbewußtseins weit zerstreute Lichter / Versammelt er in einen Geistesstrahl. . .". Ob von dieser Auffassung Fäden zu Hegel oder gar zum Jungen Deutschland hinüberspielen, sei dahingestellt. Jedenfalls wird Jordans, auch im Dichtschaffen bewährte, philosophische Anlage spürbar, die ihm, verbunden mit seinen naturwissenschaftlichen Interessen, eine Sonderstellung oder doch merkliche Abstufung innerhalb der national-historischen Richtung sichert. Es überschneidet sich, wie auch die Schlußpartie der Epischen Briefe erkennen läßt, bereits die heraufkommende naturwissen25»

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schaftlich eingestellte Epoche mit dem schwärmerischen Idealismus und poetischen Realismus, wenn der Dichter der Nibelungen eine Wesensverwandtschaft zwischen „dem Zeitalter der Naturmythe und dem Zeitalter der Naturwissenschaft" ableiten zu können glaubt (12. Brief, S. 268f). Auch die neue Zeit suche, so meint er, in gleicher Hingabe an die Natur das Göttliche. Aber noch wird keine konsequente Naturnachahmung gefordert. Vielmehr gibt sich Jordan in diesem knappen Ausblick auf die Zukunft als „poetischer Realist", wobei der Ton auf „poetisch" ruht. Denn die Schönheit der Natur „zu verehren, mit unserer Kunst zu verklären, draußen und in uns selbst, ist unser Gottesdienst". Die Poesie setzt „Beseelung" der Naturerscheinungen voraus, wenngleich in der Neuzeit nicht mehr eine bloße dumpfe „Ahnung", sondern geklärtere „Erkenntnis" dahintersteht. Von dieser Seite erhält vielleicht die etwas unvermittelt auftretende Definition „Poesie der wissenschaftlichen Erkenntnis" eine spezifische Belichtung. Doch sind dies bereits die am weitesten und erst tastend ausgestreckten Fühler der Jordanschen Dichtungsdeutung. Im Ganzen wird Dichtung als eine hohe Kunstfertigkeit aufgefaßt, die durch die Gesamtheit der ihr eigentümlichen Darstellungsmittel „Bilder und Gestalten zu wirken" hat, und zwar im Lessingschen Sinne „nur bewegte Bilder und Gestalten". Etwas ins Gedränge gerät Jordan durch die wechselseitige Erhellung der Künste, indem er gleichzeitig zur Musik oder Sprachkunst und Bildkunst hinüberschaut und so zu der Zwitterstellung gelangt, die die Dichtung als eine „bildende Kunst für die Einbildungskraft des Hörers" einordnet. Andererseits nimmt er als zentralen Wesenskern das Gebiet in Anspruch, wo die Dichtung als „Sprachkunst" (Vorform zu Holz' „Wortkunst") nicht mehr auf die Mitarbeit anderer Künste angewiesen ist. Und damit mündet der Versuch, Jordans allgemeine Dichtungsdeutung zu skizzieren, ein in die Sonderwürdigung des Epos. Nur daß er dabei nicht ganz konsequent Epos mit epischer Gattung gleichsetzt oder doch allein dem Epos den Vorrang einräumt, der jedoch nach seiner Begründung ebensowohl der Novelle oder dem Roman zuzuschreiben wäre. Diese Begründung stützt sich darauf, daß der Höhen wert der Lyrik im Lied gesehen wird; das Lied aber Musik fordert, also nicht voller Eigenwert der „Sprachkunst" bleibt. Entsprechend verlangt das Drama die bühnenmäßigen Wirkungsmittel, da es erst durch die Aufführung

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sein eigentliches Wirkungsziel erreichen kann. „Die dritte und allein s e l b s t ä n d i g e Gattung . . . ist die epische". Und während man sonst damals gerne im Drama eine Verschmelzung von Lyrik und Epik sah, und zwar im Sinne der höheren Synthese, schreibt Jordan der epischen Gattung die überlegene Fähigkeit zu, „sowohl Empfindungen und Stimmungen mitzuteilen, als auch Handlungen darzustellen" und dergestalt Lyrik und Dramatik in sich einzuschließen. Das Epos wiederum als Gipfelleistung der epischen Gattung zeigt darin seinen Vorrang, daß für das echte Epos jeweils „durchaus nur ein einziger" Stoff für die Gestaltung in Betracht kommt, während etwa für das Drama „unzählige Stoffe" geeignet erscheinen. Voraussetzung für das Zustandekommen des wahren und wertvollen Epos ist vor allem der Typus des „epischen Volkes", d.h. eines Volkes, das sich im „erblichen Besitze uralter Sagen" befindet und diese Sagen in mündlicher Überlieferung fortgebildet hat, das sich darüber hinaus gewöhnt hat, „Haupterlebnisse seiner weiteren Geschichte und nationale Hoffnungen" mit jenen überkommenen Sagenmotiven zu verbinden. Weiterhin (Voraussetzung II) soll die geschichtliche Situation der Entstehungszeit eines Epos diese Nation „in einem Hauptknotenpunkte ihrer Entfaltung zur führenden Weltmacht" zeigen. Endlich (Voraussetzung III) muß ein religiöser Aufschwung und Umschwung gegeben sein, wobei jedoch nicht strenge „Dogmen von zünftigen Priestern" gemeint sind. Erst unter solchen Bedingungen kann der Einzeldichter die ursprüngliche Kernsage zum echten „Nationalepos" umgestalten. Die individuelle künstlerische Leistung des Dichters gilt an Bedeutung für das Zustandekommen relativ als untergeordnet gegenüber jener „zeugenden Kraft eines solchen Volkes". Jordan nimmt an, daß der berufene Epos-Dichter zwangsläufig in Erscheinung treten muß, wenn die Weltlage für seine Aufgabe reif ist. So hätte etwa die Nibelungensage „auch ohne mich" in jenem Jahrzehnt von irgendeinem Dichter aufgegriffen werden müssen aus entwicklungsmäßiger Zwangsläufigkeit heraus. Darin liegt eine weitere Abstufung gegenüber sonstigen Gebilden der epischen Gattung, und zwar nach Jordans Ansicht eine werthöhere Aufstufung: „Eine epische Dichtung kann jedem Dichter von Talent gelingen; ein wahres Epos niemals einem Individuum als solchem". Unter den Völkergruppen verfügt nur eine, die indogermanische

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„Völkerfamilie" über echte epische Zeugungskraft; jedoch nicht in allen ihren Gliedern gleichmäßig (die Romanen sind keine „epischen Völker"); vielmehr sind weitaus bevorzugt die Inder, Perser, Griechen und Germanen. Unverkennbar ist die Wesensbestimmung des Epos und besonders die Festsetzung jener Vorbedingung seines Entstehens stark persönlich eingefärbt. Jordans „Nibelunge" nämlich erfüllen — wenn man das zweite Lied (Hildebrants Heimkehr, 1874) einbezieht — nahezu alle drei Voraussetzungen: episches Volk, altüberlieferter Stoff; große Entstehungszeit (Deutschland wird Großmacht, „glorreiche Gegenwart"); teilweiser Umschwung zu einer Art von Naturreligion: Naturverehrung „ist unser Gottesdienst". Das persönliche Geltungsstreben drängt sich vielfach merklich ein und trübt die Reinheit kunsttheoretischen Erkenntnisstrebens. Für ein wohltuendes Gegengewicht trägt der patriotische Faktor Sorge. Doch ist der Begriff „ V o l k " noch recht verschwommen. Die tragenden niederen Volksschichten können nicht gemeint sein; ebensowenig hält Jordan die romantische (Herdersche) Vorstellung eines „dichtenden Volkes" aufrecht. „Ein Volk als solches hat niemals gedichtet, immer nur der Einzelne. . . Alles was man sonst Volkspoesie zu nennen pflegt", ist entweder „unvollkommener Anlauf zur Kunstpoesie" gewesen oder „heruntergekommene. . . verhunzte Kunstpoesie". Jordan versteigt sich zu dem Vergleich der Ähren eines Erntekranzes (Kunstpoesie) mit dem „Stroh eines Misthaufens" (Volkspoesie, besonders des Mittelalters) . T h e o d o r S t o r m (1817—1888) hat sich vorwiegend mit den Schöpfungs- und W i r k u n g s - G e s e t z e n d e r L y r i k und N o v e l l i s t ik befaßt. Hinsichtlich der Lyrik kommt nicht zuletzt das Vorwort zum „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius" (1870) in Betracht. Allgemein wird von der Dichtkunst gefordert, daß sie gleichsam zusammenfaßt, was die anderen Künste (Musik, bildende Kunst) trennen: „hören, schauen und empfinden" (vgl. den jungen Herder der „Kritischen Wälder"). Die Bedeutung des Inhalts darf nicht überschätzt werden, da es für das Dichterische auf die Umsetzung durch „ G e m ü t " und „Phantasie" ankommt. Ist das von der Schöpfung her gesehen, so definiert Storm doch zugleich von der Wirkung her: „in seiner Wirkung soll das lyrische Gedicht dem Leser . . . zugleich eine Offenbarung und Erlösung oder mindestens eine Genugtuung gewähren, die er sich selbst

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nicht hätte geben können; sei es nun, daß es unsre Anschauung und Empfindung in ungeahnter Weise erweitert und in die Tiefe führt, oder, was halb bewußt in Duft und Dämmer in uns lag, in überraschender Klarheit erscheinen läßt". Von hier aus verliert die „politische Lyrik" wesentlich an poetischer Vertrauenswürdigkeit, obwohl Th. Storm den politisch-vaterländischen und heimatlichen Motiven grundsätzlich denselben Empfindungswert zubilligt wie den Motiven aus dem „Einzel- und Familienleben". Aber selbst L. Uhlands „Wenn jetzt ein Geist herniederstiege" will Storm, abgesehen vom „selten schönen Anfang und Ende", doch bedenklich als eine „poetisch gefärbte Kammerrede" erscheinen. Später sprach man vom poetisierten Leitartikel. Im Gesamt hält er es mit H. Heines Leitsatz: „Ein Lied ist das Kriterium der Ursprünglichkeit", ein Leitsatz, der wiederum von der Wirkungspoetik auf die Schöpfungspoetik zurückführt. Neben dem Verhältnis: Kunstwert-Schaffender bzw. Kunstwert-Schenkender einerseits und Kunstwert-Aufnehmender andererseits hat ihn, eng damit verbunden, das Verhältnis: G e h a l t — G e s t a l t , Stoff u n d F o r m u n g , Gedanke bzw. Gefühl und Wort (Ausdruck) durchgängig besonders stark beschäftigt. Isoliert entscheidet für Th. Storm weder der ideeliche oder gefühlsmäßige Gehalt noch die bildhafte oder klangliche Gestalt. Ganz abgesehen davon, daß alles brauchmäßig Erstarrte („allerlei konventioneller Aufputz"), Phrasenhafte (Storm führt ein laufendes Gefecht gegen die Phrase) nicht als dichterische Form gelten kann, scheint ihm auch die sog. „schöne Form" mit Recht „im Preise zu sinken". Ihr Hauptvertreter Geibel gestaltet oft nicht aus ideellem oder gefühlsmäßigem Antrieb, sondern „aus der anmutigen Gewohnheit musikalischer Rhythmenbildung". Und seine Nacheiferer wiederum übernehmen „den rhythmischen Tonfall" nur zu leicht, wie denn überhaupt die Weise, eben der gefällige Tonfall, den Storm gern vom s p o n t a n e n „ N a t u r l a u t " abhebt, ganz allgemein stärker der Nachahmung ausgesetzt zu sein scheint als z.B. ideeller Gehalt oder tragende Stimmung, die sich nicht so leicht übernehmen lassen. Und wenn noch jüngst ein (uns femer gerückter) Dichter wie G. E. Kolbenheyer die Lyriker ermahnte, nicht etwa „um einer schönen Wendung willen" ein Gedicht zu formen, so hatte schon Th. Storm davor gewarnt, „nur um des hübschen Refrains willen" ein längeres Gedicht zu verfertigen (Niendorf-Rez.). Wie die klanglich-rhythmische Spielerei wird

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„wenigstens in der Lyrik" ein „Hereinziehen ausführlicher Bilder und Gleichnisse" als störend und eindruckgefährdend abgelehnt. Kurz, Storm wehrt die betont musikalische Lyrik ebenso ab wie die betont malende Lyrik; aber nur dann, wenn jene Ausdruckswerte und Darstellungsmittel in keinem innigen und echten Verhältnis zum unmittelbaren Formerlebnis des Lyrikers stehen. Was ihm als Ideal vorschwebt, ist die Fähigkeit, den „ N a t u r l a u t in künstlerischer Form zum Ausdruck zu bringen", und zwar als einen „ u n m i t t e l b a r e n Ausdruck der Empfindung". In einem kleinen Spruchgedicht, das zwei verschiedene Dichtertypen gegensätzlicher Kunstauffassung zu Worte kommen läßt und die Überschrift „Lyrische Form" trägt, wird das prunkende poetische Gewand von der organischen Linie des Leibes abgehoben. Es wird dabei die Auffassung bekämpft, als ob Form ein Gefäß sei, wenn auch ein goldenes, in das man nur einen „Inhalt" zu gießen brauche, wenn auch einen goldenen: „Es sei die Form ein Goldgefäß / In das man goldenen Inhalt gießt! — Die Form ist nichts als der Kontur / Der den lebend'gen Leib beschließt". Geibel und Storm stehen sich hier mit ihren Auffassungen deutlich erkennbar gegenüber. Dort, wo Storm in der Rodenberg-Rezension die „schöne Form" Geibelscher Art bekämpft, umschreibt er mit ganz ähnlichen Wendungen denselben Unterschied, nur daß dort das goldene Gefäß bereit ist, „den mannigfachsten beliebigen Inhalt zu empfangen" und daß die persönliche Entscheidung für den zweiten Lyrikertypus unzweideutig als klare Parteinahme zur Geltung kommt: „Die poetischen Formen in unserem Sinne sind nur die Konturen, welche den Körper vom leeren Räume scheiden". Das Vergleichsbild des jungen Herder, der das Dichterwort im Verhältnis zum Inhalt ebenfalls nicht als Gefäß gelten lassen will, war einst ähnlich auf das Organische zugegangen: wie bei Plato Leib und Seele innig zusammenhängen, so auch Wort und Gedanke. Es ist in der Tat eigenartig, wie Herders Einfühlung starker Erlebnisse und Erkenntnisse hinsichtlich der lyrischen Wesens- und Wirkensform bei Th. Storm wieder aufzuleben scheinen. Zum mindesten mit Beziehung auf Storms Umschreibung der Musikalität und Rhythmik des Lyrischen stellt sich auch für O. Walzel ein Rückgriff auf Herder zwangsläufig ein. Gemeint ist die Prägimg Storms über das lyrisch lebendige Wort: „diese Worte müssen auch durch die rhythmische Bewegung und die Klangfarbe

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des Verses gleichsam in Musik gesetzt und solcherweise wieder in die Empfindung aufgelöst sein, aus der sie entsprungen sind". Aber es ist nicht nur das, was an Herder erinnert in jener Kernstelle der „Hausbuch"-Vorrede, es ist auch der Ansatz zu einer Aufgipfelung der Poesie über die Schwesterkünste und das Hingelenktwerden zum spezifisch g e i s t i g e n C h a r a k t e r der Poesie trotz aller Gegenstandsfreude. Storm schwenkt damit in den vergeistigten, ideellen Realismus ein, indem auch für ihn ein Geistiges durch das Sinnenhafte hindurchgreift, doch so, daß es eine erwärmende Belebung durch das Dichtergemüt und eine plastische Verbesonderung durch die dichterische Formung erfährt. In diesem Sinne sagt Storm, daß der „bedeutendste Gedankengehalt in den wohlgebautesten Versen" künstlerisch unfruchtbar bleiben müsse, „wenn er nicht zuvor durch das Gemüt und die Phantasie des Dichters seinen Weg genommen und dort Wärme und Farbe und womöglich körperliche Gestalt gewonnen h a t " . So fällt auch jenseits der Wesensbestimmung der Lyrik der Blick Storms mehrfach auf das Gesamtgebiet der Poesie schlechtweg. Storm ist dabei vorzüglich auf eine möglichst klare A b h e b u n g v o n D i c h t e r t u m u n d D e n k e r t u m bedacht: „ W a s wesentlich den Dichter von dem Denker unterscheidet", ist demnach „die Fähigkeit der Formgebung" (Vorrede zu ,,Deutsche Liebeslieder", 1859). Doch muß diese Formgebung, die niemals zum Selbstzweck werden darf, lebensunmittelbar bleiben, wenn anders sie das stimmungbrechende Mittlertum des Gedanklichen möglichst weitgehend entbehren will. Storm spricht sich darüber an der bekannten Stelle der „Hausbuch"-Vorrede so aus: „ V o n einem Kunstwerk will ich wie vom Leben unmittelbar und nicht erst durch die Vermittlung des Denkens berührt werden". Obwohl die Erlebnisunmittelbarkeit stark herausgearbeitet erscheint, geht Storm doch nicht so weit wie H. v . Kleist, der auch in der „gefühltesten Form" immer noch etwas Unwahres zu spüren meinte und die Idealforderung der Unmittelbarkeit so weit emportrieb, daß er am liebsten der Form ganz entraten hätte, um das vom Schaffenden Gefühlte „ohne jede weitere Z u t a t " sogleich in die Brust des Kunstwert-Aufnehmenden zu legen. Th. Storm beschränkt sich vielmehr darauf, die Eigengeltung der Form soweit zurückzudrängen, daß die Gefühlsübertragung durch sie keine Ablenkung oder gar Störung erleidet. A n sich jedoch fordert gerade die Kurzform der Lyrik eine strenge Betreuung jedes einzelnen Wortes,

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„da bei dem geringen Umfange schon ein falscher oder pulsloser Ausdruck die Wirkung des Ganzen zerstören kann". Die p o l i t i s c h e und p a t r i o t i s c h e L y r i k ist derartigen Fehlgriffen nicht weniger ausgesetzt als die reine Gefühlslyrik. Sie darf vor allem nicht der oft zu beobachtenden Neigung nachgeben, einer bloßen „rhetorischen Phrase und Bildermacherei" zu verfallen. An und für sich bejaht Storm die künstlerische Berechtigung der politischen Lyrik, und zwar besonders deshalb, weil „das Leben in Staat und Gemeinde" durchaus als ein „berechtigter Gegenstand für die menschliche Empfindung und daher für die Lyrik" gelten könne. Politische Lyrik wäre, so verstanden, nur eine Sonderform gefühlsmäßiger Erlebnislyrik. Während dergestalt die Wesensumschreibung der Lyrik unter merklicher Beteiligung des eigenen lyrischen Kunstwollens und dank der Erfahrung des eigenen lyrischen Kunstvermögens recht eindrucksvoll und zum mindesten subjektiv überzeugend wirkt, hat sich Storm ü b e r die N o v e l l e n f o r m nur beiläufig, besonders auch in Briefen, geäußert. Zwar einmal scheint er sich in aller Form anzuschicken, „zur Novellistik als Dichtungsart, welche die spätere Hälfte meines Lebens begleitet hat, auch meinerseits ein Wort zu sagen". Es geschah dies in dem E n t w ü r f e einer dann doch wieder z u r ü c k g e z o g e n e n V o r r e d e aus dem Jahre 1881 (bestimmt für Bd. X I der gesammelten Werke). Aus Briefen an E. Schmidt, P. Heyse und G. Keller wissen wir, warum Storm diese Stellungnahme geplant, sie dann jedoch unterdrückt hat. Es blieb offenbar bei bloßen Ansätzen, weil, wie schon das „auch meinerseits" andeutet, der Wille zur Polemik hinter dieser geplanten Ehrenrettung der Novelle stand. Zudem beruhte der äußere Anlaß auf einem Irrtum; denn Storm war einem bloßen Hörensagen etwas hastig gefolgt, als er den angeblich durch Georg Ebers (gelegentlich dessen Novelle „Eine Frage") erfolgten Angriff auf den Eigenwert der Novelle im Verhältnis zum Roman energisch zurückweisen zu müssen glaubte. Jedenfalls verwahrt sich die (aus E. Schmidts Nachlaß erhaltene) Vorrede gegen die Minderbewertung der Novelle, etwa als eines bloßen Nebenproduktes aus Abfällen beim Romanschaffen. Im Gegenteil sei die Novelle eine anspruchsvolle Gattung, die nicht nur die höchsten Forderungen an die Kunst dulde, sondern sie stelle, also nicht allein diese Forderungen ermögliche, sondern sie geradezu verlange. Sie „eignet sich zur Aufnahme auch des bedeutendsten Inhalts", so daß es nur von dem

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Darstellungsvermögen des Dichters abhänge, „auch in dieser Form das Höchste der Poesie zu leisten". Ja, sie kann darüber hinaus als die „strengste Form" der Prosadichtung in Anspruch genommen werden. Storm zitiert dann jene Begriffsdefinition der „Wendepunkt"Novelle, also L. Tieck, was die Stormbiographen Schütze und Lange zu übersehen scheinen, da sie in einer Klammerparenthese den Hinweis auf die bekannte Äußerung Goethes, nicht jedoch den zunächst einmal gebotenen Hinweis auf Tieck bringen. Anderes, wie etwa die Bedingung eines „im Mittelpunkte stehenden Konflikts, von welchem aus das Ganze sich organisiert", die Ausscheidung alles Unwesentlichen u. a. dürfte an Paul Heyses Novellentheorie angelehnt worden sein. Dafür spricht nicht nur die enge persönliche Fühlung mit Heyse, sondern auch der Umstand, daß die Wendepunkt-Theorie durch diese neuere Wesensdeutung als abgelöst gilt (Tieck ersetzt durch Heyse). Bemerkenswert ist vielmehr, daß Storm in diesem Zusammenhange die „ h e u t i g e N o v e l l e " als eine „ S c h w e s t e r des D r a m a s " bezeichnet. Erbittert über die Unzulänglichkeit der Entwicklung des erfolgreichen Dramas der damaligen Zeit, das nicht einmal „den besten der Iffland-Kotzebue-Periode" an Wert gleichkomme, ein wenig vielleicht auch beeindruckt vom eigenen Mißerfolge auf dramatischem Gebiete, möchte Storm in der Novelle so etwas sehen, wie einen notgedrungen sich anbietenden Dramenersatz für die künstlerisch Anspruchsvollen. Kennzeichnend hierfür ist die Wendung: „daß die epische Prosadichtung sich in dieser Weise gegipfelt und gleichsam die Aufgabe des Dramas übernommen hat, ist nicht eben schwer erklärlich". Im Übrigen wird als Kriterium die Seltenheit des Gelingens einer vollendeten Novelle („nur in glücklicher Stunde") und als letztlich „einziger Probierstein" wie bei jeder dichterischen Werkleistung die Dauerwertigkeit hervorgehoben. Die Ausführungen über das Wesen der Novelle in dieser zurückgezogenen Vorrede von 1881 stimmen wörtlich überein mit dem eben deshalb besonders hervorzuhebenden Briefe Storms an Gottfried Keller vom 20. Sept. 1879. Bemerkenswert ist immerhin,daß dort die „heutige Novelle" nicht als „Schwester des Dramas" schlechthin, sondern abgestufter und eingeschränkter als „ d i e e p i s c h e S c h w e s t e r des D r a m a s " bezeichnet worden war. Jene unterdrückte Vorrede, die an sich schon im Druck vorlag, ist indessen mehr als dieser Privatbrief geeignet, die Geltung zu er-

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härten, die Storm selbst diesen knappen Darlegungen beigemessen hat. Denn Storm bezieht sich in ihr ausdrücklich auf das, was seine Vorrede zum „Hausbuch . . . " als persönlicher Beitrag zur Theorie der Lyrik geboten hatte, dem nun also als Gegenstück eine Theorie der Novelle in dieser Vorrede von 1881 folgen sollte. Daß er die Novelle, die man besonders seit Blankenburgs entsprechender Bemerkung in dessen ,, Versuch über den Roman" (1774) als kurzen Roman zu bezeichnen pflegte, möglichst weit vom Roman abrückte, wurde von der polemischen Absicht nahegelegt, die sich dagegen zur Wehr setzt, in der Novelle ein bloßes Roman-Abfallprodukt zu sehen. Daß er sie jedoch so dicht neben das Drama stellte (und nicht neben die Lyrik), könnte wohl anfangs überraschen. Hat er doch selber hervorgehoben: „Meine Novellistik hat sich aus der Lyrik entwickelt und lieferte zuerst nur einzelne Stimmungsbilder . . .", sind wir doch zunächst einmal geneigt, die Stormsche Sonderform als lyrische Stimmungsnovelle etwa von der dramatischen Charakternovelle H. v. Kleists oder Fr. Hebbels abzuheben. „Immensee", „ E i n grünes Blatt", „Auf dem Staatshof", „ V o n jenseits des Meeres", kurz die Stormsche Novellistik vorherrschend elegischlyrischer Stimmung romantisierender Art, wobei die „ R o m a n t i k " erlebtes Eigentum, erlebte Wirklichkeit und nicht bloßes Bildungserlebnis war, weist in der Tat die größte Beziehungsnähe zur Lyrik auf. Und es darf in diesem Zusammenhange einmal auf eine kaum beachtete kunsttheoretisch-kritische Bekundung Storms aus früheren Jahren, nämlich aus der Niendorf-Rezension von 1854 die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Dort hatte der jüngere Storm zu einer Zeit, in der erst Novellen wie „Marthe und ihre U h r " oder „ I m Saal", „Immensee", „Posthuma", „ E i n grünes B l a t t " , „ I m Sonnenschein" vorlagen, über Lyrik zu referieren. Aber er unterzieht sich dieser Aufgabe nicht, ohne auf die — Novelle zu sprechen zu kommen, genauer: auf die Gedichteinlagen in der Novelle, wobei er E. Mörikes „Maler Nolten" als Novelle nimmt. Es ist dort von der „Seelenstimmung" die Rede und vom „Erlebnis" als Grundlage des Lyrischen. Dieses Stimmungserlebnis kann nun auch — außer vom Leben — von der Intensität eines Nacherlebens innerhalb der Novelle ausgehen: „ D a ß übrigens dem Dichter, n a m e n t l i c h d e m N o v e l l i s t e n , auch eine selbsterfundene Situation mit solcher Lebendigkeit aufgehen könne, daß er dadurch zu einer v o l l k o m m e n

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l y r i s c h e n P r o d u k t i o n im Charakter und der Stimmung seiner eigenen Gestalten veranlaßt wird, ist durch das hier Gesagte (Unmittelbarkeit des Erlebens) selbstverständlich nicht ausgeschlossen und von Mörike in seinem .Maler Nolten' . . . aufs vollkommenste dargetan, während die Eichendorffschen Lieder, so tief sie immer sein mögen, doch nur aus einer und derselben Grundstimmung mit den Novellen, in denen sie vorkommen, nicht aber aus diesen selbst entsprungen sind". Trotz des kritischen Bemühens um Unterscheidung wird doch deutlich, wie innig damals Lyrik und Novellistik für Storm miteinander verschwistert waren. Die N o v e l l e w a r die „ e p i s c h e S c h w e s t e r " des l y r i s c h e n G e d i c h t s , n i c h t a b e r des D r a m a s . Mehr: Lyrik und Novellistik waren für Storm zur Zeit der „Angelika" geradezu Zwillingsgeschwister, zu derselben Zeit geboren aus einer innigen, herb-süßen Verschmelzung von Wehmut und Sehnen, von Versonnenheit und Versponnenheit, von heimatlicher Idyllik noch halb biedermeierlicher Art und gedämpfter Romantik. Aber etwa ein gutes Jahrzehnt später schon ist eine erste merkliche Wandlung vollzogen. Und Storm ist sich dieser Wendung durchaus bewußt geworden. Sein Formungswille, sein mehr und mehr erstarkendes Kunstwollen findet kein restloses Genügen an der Sonderform, die von Paul Heyse und Hermann Kurz als lyrische Novelle bezeichnet worden ist. Und mit Bezug auf seine Novelle „Draußen im Heidedorf" (1871) meint er Κ. E. Franzos gegenüber erklären zu dürfen: „Ich glaube, darin bewiesen zu haben, daß ich auch eine Novelle ohne den Dunstkreis einer bestimmten .Stimmung' . . . schreiben kann". Der Formwille war aufs Dramatische gerichtet, wie denn Storm, dem der Stoff als Untersuchungsrichter begegnete, in einem Brief an Doris Jensen (Mai 1866) zusammenfaßte: „ D a hast Du das Drama einer Leidenschaft auf dem Lande". Vom Lyrischen scheint in der Tat über die Kräftigung des spezifisch Epischen der Weg hinzuführen zum Dramatischen, wenn man von engeren Unterscheidungen wie: lyrische Stimmungsnovelle, psychologische Problemnovelle (Charakternovelle), Chroniknovelle, Schicksalsnovelle usw. absieht. Wieder ein Jahrzehnt später, nachdem Constanze ihr würdiges Denkmal gesetzt erhalten hatte in „Viola tricolor", nachdem Leidenschaft befreiend gebannt war („Waldwinkel", 1874), nachdem die erste der Chroniknovellen („Aquis submersus", 1875/76) vorlag, nachdem „Psyche" (1875) bewiesen hatte, daß auch eine

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kraftvolle Frische seinem Darstellungsvermögen sich nicht entzog, nachdem straffere Konflikte mannigfach ein strafferes Gefüge geformt, ein dramatisches Element etwa auch in „Renate" (1877/78) schon sich durchgesetzt hatte, in dem Jahre des „Eekenhof" (1879) mit dem dramatisch gespannten Vater-Sohn-Motiv: kurz, eben zur Zeit jener grundsätzlichen Äußerungen über die Novelle als „epische Schwester" des Dramas, ja als Ersatzform für eine vermeintlich unzulängliche Dramatik hatte auch der Novellist Storm eine Entwicklungsstufe erreicht, die es nicht mehr als so überraschend erscheinen läßt, wenn der geborene Lyriker die dramatische Novelle als Idealform ins Auge faßte. Vollends in unmittelbarer Zeitnähe der Schicksalsnovelle „Carsten Curator" (1877) mit ihrer wuchtigen Tragik des vorklingenden Vererbungsproblems, das auch in der Novelle, die mit jener Vorrede zeitparallel liegt, „Der Herr Etatsrat" (1880/81), in tragische Sicht gerückt wird, mochte Storm sich wohl berechtigt fühlen, jenen Anspruch, das moderne Novellen-Drama zu schaffen, für sich selbst zu erheben. Und dennoch wirkt jene These von dem dramatischen Typus der Novelle mehr wie ein Aufruf als wie ein theoretischer Abschluß, der aus eigener Kunstleistung die erkennenden Erträge zöge. Es steckt ein Ansporn darin, ein gutes Stück Programmatik auch, das sich selbst erstrebenswerte Ziele setzt. Storms Selbstkritik war nämlich z.B. mit der Gestaltungsweise des Tragischen, des „unabwendbaren Fatums", des an sich vom Kunstwollen erstrebten Eindrucks einer „Naturnotwendigkeit" in seinem „Carsten Curator" keineswegs zufrieden, und eine Umarbeitung war vorgesehen. K u n s t w o l l e n u n d K u n s t l e i s t u n g w a r e n n i c h t z u r v o l l e n D e c k u n g g e l a n g t , vielleicht deshalb nicht, weil Persönliches zu quälend hindurchgriff. Etwa erst ein weiteres Jahrzehnt später hat Storm im „Schimmelreiter" (1888) die Vollendungsform dessen erreicht, was ihm damals, zur Zeit des Briefes an Keller (1879) vorgeschwebt hatte. Zugleich aber scheint jene Entwicklung im Gesamtverlauf von der Romantik mit biedermeierlichem Einschlag hinzuleiten zum poetischen und ideellen Realismus, zum Teil selbst zu einem sozial gefärbten „besonnenen Realismus" ein wenig schon im Sinne Bleibtreus, so etwa durch die Erfassung eines Arbeiterschicksals in „Ein Doppelgänger" (1886). Das mag zugleich andeuten, wie geboten es oft erscheint, die Datierung einer kunsttheoretischen Äußerung, soweit es sich um

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Kunstschaffende handelt, zu der zeitlichen Abfolge der Kunstleistung in Beziehung zu setzen (Einlagerung in die Werkfolge). Dagegen sei nur beiläufig zur Erwägung gestellt, ob Storm bei der ursprünglichen Titelgebung der teilweise in Ε. Τ. A. Hoffmannsche Stimmungswelt zurückweisenden Novelle „ I m Brauerhause" (1878/79) etwa ein wenig an die Falkentheorie P. Heyses gedacht haben mag. Sowohl der Entwurf als auch die ersten Einzeldrucke trugen den Titel „Der Finger". Entsprechend dem Falken (bei Boccaccio) wäre damit eine markante Einzelheit, die den Spezialfall eben durch das „Spezifische" (Heyse) von anderen abhebt, auch im Titel angedeutet worden. Dahin scheint Storms Bemerkung zu zielen: „Den Titel,Finger', der etwas unästhetisch e i n e n P u n k t d e r N o v e l l e zu sehr h e r v o r h e b t , habe ich verändert". An sich ist eine Unsicherheit in der Titelwahl bei Storm nichts Außergewöhnliches: so bei „ V o n der Universität" = „Lenore"; „ E i n Doppelgänger" = „ D e r Brunnen"; „Waldwinkel" = „ I m Narrenkasten"; besonders greifbar bei der Novelle „ R e n a t e " ( = Eine Hexe, U m Anno Siebenzehnhundert, Schwarze Kunst, Aus vergilbten Blättern, A m Moore u. a.). Doch wäre es auch nichts Außerordentliches, wenn Storm für den Anteil Kunsttechnik im Ausformen seiner Novellen Anregungen der Kunsttheorie, zum mindesten gewisse Winke der angewandten Poetik, genutzt hätte. So vermerkt er, auf frühere Stadien seiner Entwicklung zurückblickend: „ Z u m ersten Mal, bewußt, half mir Lessings ,Laokoori bei ,Auf der Universität' (Lenore). Ich hatte eine Schilderung der Lokalität im Walde geschrieben (locus facti); d a s , a l s i c h es l a s , s c h i e n m i r l a n g w e i l i g . Da fiel mir ein: Laokoon! Also, geh dahin spazieren! Und ich tat es; und nun war es g u t " . Wenn auch diese Bekundung in einem Briefe an Erich Schmidt (Dez. 1884) sich findet, so ist sie doch offenbar mehr als nur ein liebenswürdiges Zugeständnis gegenüber dem Lessingforscher, denn Storm erinnert sich eben doch an den konkreten Einzelfall. Und es war nicht der schlechteste Ratgeber, zu dem der junge Storm Vertrauen faßte. Denn es galt für ihn, seinem anspruchsvoller werdenden Kunstwollen gemäß, von jenen „einzelnen Stimmungsbildern" lyrisch-malender Art und damit vom zuständlichen Nebeneinander loszukommen, wenn episches Geschehen sich auch episch entfalten sollte. Der junge Storm besaß bereits hinreichend Selbstkritik, um nicht bei den lyrischen „Sommergeschichten" stehen zu bleiben

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und sich nicht etwa selbstgefällig einem Kunsttheoretiker der Romantik zu verschreiben, der ihn in seinem damaligen Darstellungsideal bestätigt, aber nicht weitergebracht hätte. Er empfand richtig, daß er ein Gegengewicht brauchte und keine bloße Zustimmung. Und so griff der Nachromantiker, der er damals noch überwiegend war, unbedenklich zum „Rationalisten". Er bedurfte einer solchen Gegenkraft aber nicht allein entwicklungsmäßig, um immer wieder das Andrängen der lyrischen Übermacht a b z u gleichen. Es war ja nicht so, daß der junge Storm in der Novelle „ A u f der Universität" noch so ganz unsicher sich gefühlt hätte. Kurz vorher hatte sein Selbstbewußtsein und seine Selbstsicherheit mit der Novelle „ I m Schloß" (1861) einen starken Auftrieb erfahren. Das hinderte ihn jedoch nicht, weiterhin im Kunsttechnischen zu lernen. Weniger belangreich ist es, wenn der frühe Storm gelegentlich des märchenhaften „Hinzelmeier" (1850) Paul Heyse gegenüber (Okt. 1854) die Absicht äußert, „noch die Perspektive auf einen konkreten Punkt hinzurichten", um so mehr als er diese Absicht nicht ausgeführt hat. An sich hatte in neuerer Zeit, und zwar kurz vorher Fr. Th. Vischers Ästhetik v o m P e r s p e k t i v i s c h e n d e r N o v e l l e mit Vorliebe gesprochen — und zum mindesten Paul Heyse könnte das angeflogen sein — ; aber hier handelt es sich gar nicht um eine Novelle. Es mag bei dieser Gelegenheit erwähnt werden, daß der junge Storm schon damals auf die kunsttheoretische Forderung einer dramatischen Novelle hätte stoßen können. Denn in demselben Jahre, in dem Storm gemeinsam mit Tycho und Theodor Mommsen das „Liederbuch dreier Freunde" (1843) herausbrachte, hatte der wackere Schulmann G e o r g R e i n b e c k (1766—1849) in dem Vorwort zu den ,,Situationen" (1841) in diesem Sinne von der Novelle gehandelt. Georg Reinbeck, der noch gemeinsam mit dem einstigen Stürmer und Dränger Fr. M. Klinger am Petersburger Pageninstitut wirkte (1804) und seine Reisen durch Rußland selber geschildert hat, der später mit Haug in Stuttgart zeitweise das „Morgenblatt" herausgab, war als Verfasser einer Literaturgeschichte, einer Sprachlehre und ähnlicher Arbeiten hervorgetreten. G u s t a v S c h w a b hat jene knappe Skizze unter dem Titel „Die Novelle" in seiner Sammlung von Probestücken vermeintlich guter Prosa ,,Die deutsche Prosa von Mosheim bis auf unsere Tage" (1843) breiteren Kreisen zugänglich gemacht. G. R e i n b e c k , der sich selbst in Novellen und auch Dramen versuchte (als Gegner

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Kotzebues), zielt im Endertrag bereits vor W. H. Riehl auf die sogenannte Kulturnovelle und die Situationsnovelle. Vom Roman hebt Reinbeck die Novelle so ab: gegenüber dem Roman hat die Novelle immer nur „eine ungewöhnliche Situation zum Gegenstande (daher der Titel „Situationen") und muß sich ganz auf diese eine Situation konzentrieren. Gerade aber durch eine derartige Konzentration des Interesses auf eine einzelne Tatsache, in welcher ein menschliches Schicksal entschieden wird, n ä h e r t sich die Novelle dem D r a m a , bei welchejn dies ebenfalls eintritt". Aus diesem Grunde lasse sich denn auch aus einer Novelle leichter ein Drama formen (als Beispiel gilt Shakespeare) als aus einem Roman. Dagegen ist nach Reinbeck das Drama stärker auf einen kämpferischen Zweck (der erreicht oder verfehlt wird) eingestellt, während es in der Novelle „auf einen bestimmten Zweck und einen Kampf dafür nicht ankommt". Das Gemeinsame von Novelle und Drama ist nach der negativen Seite hin gegeben durch das Ausschalten von Episoden, das Vermeiden des „epischen Ausmalens und Verweilens", das Fortfallen von „Reflexionen und Raisonnements" usw. Im Übrigen betont Reinbeck, wie auch sonst üblich, den Charaktertypus der mündlichen Erzählweise für die Novelle, woraus sich das rein objektive Anteilnehmen am Geschehen ergibt. Anregend und interessierend soll die Erzählweise sein, aber ohne subjektive Einmischung des Erzählenden. Und als Enkel des bekannten Theologen Joh. Gustav Reinbeck verfehlt Georg Reinbeck nicht, die „frivolen" Einschläge der (ursprünglichen) Novellistik abzuwehren. Zwar besitze die „feinere Sinnlichkeit einen Schein von Geist", aber dahinter stehe dennoch, wie Reinbeck schaudernd erkennt, „das Tierische in der Menschennatur", das sich — wenn schon leider das Moralische in Kunstdingen kein entscheidender Maßstab sei — dennoch mit der „Menschenwürde" schlechterdings nicht vereinbaren lasse. Wesentlich bleibt, daß etwa in dem Jahre, in dem Fr. Hebbel seine letzte Novelle schrieb, um vollends zum Drama überzugehen, das Vorwort Reinbecks eine Annäherung der Novelle an das Drama eindeutig zum Ausgangspunkt ihrer Wesensbestimmung macht, wobei zu berücksichtigen bleibt, daß diese heute geläufige Annäherung an das Drama in der Geschichte der Novellentheorie m. W. kaum irgendwo vorher eine so klare Ausprägung gefunden hat, wie man an sich wohl annehmen möchte. Deshalb sollte G. Reinbeck etwas mehr Beachtung zuteil werden, als er durchweg 26

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findet. Daß man Ballade und Romanze in Vorbereitung moderner Neigungen der Epik zuweist, ist in der Poetik des neunzehnten Jahrhunderts nichts Außergewöhnliches mehr. Aber daß man die Novelle dem Drama naherückt und gattungstypologisch angleicht, dürfte vorerst recht selten sein. Dieser nur beiläufig gedachte Hinweis auf G. Reinbeck rechtfertigt sich also schon insofern, ohne daß irgendein näherer Zusammenhang mit Theodor Storms Novellentheorie erzwungen werden soll. Schließlich darf nie vergessen werden, daß die verhältnismäßig eingehende Novellentheorie der Romantik den späteren Theoretikern manches erleichterte und sie zu Kühnheiten ermutigte, die sonst ihrem Wesen schwerlich entsprächen. Zum mindesten gilt dies von G. Reinbeck. Während sein „Handbuch der Sprachwissenschaft" (1813—24), besonders in seinem ersten Bande auf A. F. Bemhardis „Sprachlehre" (1801—03) fußte und in s e i n e m z w e i t e n B a n d e a u c h e i n e P o e t i k b r a c h t e , versäumte der dritte Band, der zu einer Literaturgeschichte eine der damals beliebten Beispielsammlungen beifügte, nicht, unter den Beispielen auch eine eigene (vermeintliche) Musternovelle („Das heimliche Sittengericht") dem Leser bekannt zu machen. Möglich, daß G. Reinbeck inzwischen die fünfte, durch M. Pinder bearbeitete Auflage von Eschenburgs , .Entwurf einer Theorie . . ." (1836) in die Hände gelangt war, denn dort war die E i n z e l s i t u a t i o n der Novelle zugewiesen in Abhebung von der G e s a m t e n t f a l t u n g des Mannigfaltigen im Roman. Ähnlich wie Storm gelegentlich der Herausgabe des „Hausbuches" der Lyrik über das Wesen der Lyrik äußerte sich P a u l H e y s e , der mit Storm in enger brieflicher Aussprache stand, besonders gelegentlich des gemeinsam mit H e r m a n n K u r z herausgegebenen „Deutschen Novellenschatzes" (1870!) über die Wesens- und Wirkungsform der Novelle. Indem er nicht nur der Gesamtausgabe, sondern jedem einzelnen Probestück grundsätzliche Bemerkungen mit auf den Weg gab, prägte sich dem Leser diese bündige Kurzform der kunsttheoretischen Umschreibung besonders gut ein — fast so gut, wie nach Heyse sich dem Leser jener Falke einprägt, den Boccaccio in der neunten Novelle des fünften Tages (Decamerone V, 9) im Kennwort (Überschrift) nicht zufällig hervorhebt. Vom Äußerlichen auf Inneres übergreifend, schließt Heyse von der Anlage auf die Wirkung: „Der Leser wird sich überall fragen, wo der Falke sei, also d a s S p e z i -

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f i s c h e , d a s diese G e s c h i c h t e v o n t a u s e n d a n d e r e n u n t e r s c h e i d e t " . Nicht nur die Konzentration, das sich bewußt beschränkende Umkreisen nur eines „einzigen Konfliktes" sei charakteristisch für die Novelle, nicht nur das überraschende Umschlagen (L. Tiecks „Wendepunkt"), sondern gerade dieses „Spezifische", das Einmalige scheint für Paul Heyse kennzeichnend zu sein. So findet sich in einem Briefe an Geibel (1869) der ganz entsprechende Hinweis, offenbar vom technischen Bedürfnis des Kunstschaffenden her gegeben: „Gerade für den Novellisten ist es entscheidend, Probleme, oder um jeden Mißverstand auszuschließen, F a b e l n z u f i n d e n , die in ihren gröbsten Grundlinien e t w a s S p e z i f i s c h e s h a b e n , das sich der Erinnerung mit Macht einprägt, nach der heiteren oder ernsten Seite." Dieses Wirkungsziel, die Eindruckskraft und Haftkraft, dieses merklich vom persönlichen Kunstwollen angestrebte Sich-Einprägen hatte L u d w i g T i e c k s N o v e l l e n t h e o r i e in ganz ähnlicher Weise herausgestellt, nur daß er das Spezifische mehr im „Wendepunkt" sieht, in jener „völlig unerwartet" und doch motiviert eintretenden „Wendung der Geschichte", die an sich vielleicht „alltäglich" ist und doch in dem jeweiligen Zusammenhange „wunderbar" anmutet, dergestalt daß sie „sich der Phantasie des Lesers um so fester einprägen" werde. Wenn Tieck von der gattungsgerechten Novelle behauptet und fordert, daß „sie immer jenen auffallenden Wendepunkt haben" müsse, so leitete ihn die sogenannte Ferdinand-Novelle in Goethes , .Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" zu dieser Beobachtung, die er jedoch überall in den Novellen Cervantes' bestätigt gefunden zu haben meint. Tieck geht also mehr von Cervantes aus, Heyse mehr von Boccaccio, zum mindesten im Anknüpfen ihrer Gattungstheorie. T i e c k g e h t mehr v o n der K o m p o s i t i o n a u s , H e y s e mehr v o n der N o v e l l e n f a b e l , wie die oben beigebrachte Stelle aus dem Briefwechsel Geibel—Heyse eindeutig bekundet. So vermißt er etwa auch in einer Novelle Hesekiels („Zwischen Hof und Garten"), die als Kulturbild Storm gegenüber anerkannt wird, dennoch „die novellistisch geschürzte Fabel", die erst ein „kleines Kunstwerk" daraus gemacht haben würde (Briefw. Heyse—Storm, 1875). Für ihn ist nicht wie für Tieck der „auffallende Wendepunkt" das Gestaltorganisierende, sondern eben jenes vom gewählten Stoff her gegebene Kristallisationszentrum, jenes letztlich in der Fabel bereitliegende und vom Novellisten eben nur 26*

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wirksam herauszuarbeitende „Spezifische", das der Novelle ihr Eigengepräge verbürgt. Die Klage Bernatzkis, des Herausgebers jenes „Volksbuches", in welchem frühe Gedichte T h e o d o r S t o r m s erschienen waren, daß es an dichterisch wertvollen Prosabeiträgen fehle, hat gewiß nicht sogleich den Novellisten in Storm entfaltet. Aber diese Anregung, die eine latente Kritik in sich barg, hat zum mindesten den Übergang des Lyrikers zur Prosaerzählung beschleunigen helfen. Und es war ein Stück demonstrativer Bekundung seines erzählerischen Vermögens beteiligt, wenn nun sogleich in drei Jahrgängen des „Volksbuches" Bernatzkis der Schritt von dem noch skizzenhaften „Marthe und ihre Uhr" (1848) und „Im Saal" (1849) zu „Immensee" (1850) vollzogen wurde. Gewiß hat „Immensee" dann sogleich wesentliche Umformungen erfahren, bevor die erste und für längere Zeit beliebteste Novelle Storms unmittelbar darauf in der eigenen lyrisch-epischen Sammlung „Sommergeschichten und Lieder" (1851) und auch als Einzeldruck herauskam. Doch sind auch bei dieser Umformung neben dem selbstkritischen Vervollkommnungsantrieb von innen kritische Anregungen von außen (durch Tycho Mommsen) nachweisbar wirksam gewesen. Der Doppelantrieb Lyrik-Epik führt weiterhin zu Wandlungen des theoretisch bewußten und auch werkimmanenten Kunstwollens, wobei wiederum eine produktive Kritik nicht verschmäht, sondern, soweit sie die eigene formungstechnische Einsicht als berechtigt bestätigt, lernend angenommen wird. So ist z.B. gelegentlich der Novelle „Aquis submersus" Storm von dritter Seite (Wilh. Petersen) auf allzu rhythmisch-metrisch gebundene Einschläge in seiner Novellenprosa hingewiesen worden. Storm verwertet diesen als berechtigt erkannten Wink bei seinen Änderungen und bezieht sich in einem Briefe an E. Schmidt (Sept. 1874) nicht nur ausdrücklich auf den Einzelfall, sondern folgert aus jener Anregung und einem Aufsatz E. Schmidts das allgemeine Formungsprinzip hinsichtlich des Verhältnisses von lyrischem und epischem Stil: „Die Prosa soll (oder darf) wohl einen Rhythmus haben, sie soll aber nicht metrisch sein". Er berührt damit das, was die ältere Stilistik etwa unter Prosa-„Numerus" zu begreifen pflegte. Th. Storm ist zwar kein C. F. Meyer, aber er ist auch kein P. Rosegger, der zum Teil recht unbekümmert um Formungsfragen von der Leber weg erzählte, der aber auch kritische Hinweise von dritter Seite (etwa von seinem Dichterfreund Robert Hamerling) erhalten

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und an sich durchaus im Gedächtnis bewahrt hat, mag er sie auch gelegentlich und allzu leicht ins Scherzhafte wenden. Storms Novelle „Aquis submersus" bietet außerdem noch ein Beispiel für das Angeregtwerden des dichterischen Kunstwollens durch eine bildkünstlerische Kunstleistung. Denn jenes vierteilige Porträtgemälde (Pastorenehepaar und die beiden Kinder) in der Kirche zu Dreisdorf (Schleswig), das motivlich eingewirkt hat, kann als eine wesentliche Keimzelle für die Konzeption gelten. Bekanntlich wurde auch der Titel durch die Inschrift jenes Kirchenbildnisses nahegelegt. Diese Hinweise mögen genügen, um anzudeuten, daß sich Storms Künstlertum sowohl gegenüber äußeren Anregungen als auch gegenüber kritischen Einwendungen nicht hochmütig verschlossen, sondern sich ihnen vielmehr willig geöffnet hat. Auch der Meister lernte weiter, nicht nur vom Leben, auch von der Kunst und der Kunstkritik. Unter gleichzeitigem Rückverweis auf Ε. T. A. Hoffmann mag bei dieser Gelegenheit die Reihe der Beispiele für bildkünstlerische Anregungen ergänzt werden durch den Hinweis auf den erfolgreichen dramatischen Erstling F r i e d r i c h H a l m s , das „Griseldis"-Drama. Es ist wesentlich unter dem Einflüsse seines früheren Lehrers und künstlerischen Beraters Michael Enk entstanden. Es ist Halms größter Publikumserfolg geblieben. Und auch, wenn man das Zeitstück „König und Bauer" und das Problemdrama „Sohn der Wildnis" einbezieht, also jene frühe Dramengruppe Halms, die sich überhaupt als erfolgreicher erwies als spätere Dramen, so bleibt für sie die anregende Einflußnahme M. Enks bestehen, der sowohl auf die Nachbildung Lope de Vegas hingewiesen und selber „Studien über Lope de Vega Carpio" (1839) veröffentlicht hatte („König und Bauer") als auch das Werden des Natur-Kultur-Problemdramas („Sohn der Wildnis") noch beratend betreuen konnte, bevor er freiwillig aus dem Leben schied. Ausgehend von der „kulturgeschichtlichen Genremalerei", wie sie etwa das dritte Kapitel von Macaulays „Geschichte Englands" auszeichne und auch sonst als Schilderung der „Gesittungszustände" wesentlich zu Macaulays Ruhm als dem „populärsten Historiker unserer Zeit" beigetragen habe, gelangt W i l h e l m H e i n r i c h R i e h l (1823—97) in dem programmatischen Vorwort seiner ,,Kulturgeschichtlichen Novellen", das 1856 geschrieben wurde, zunächst zu der Abwehr der älteren Form des historischen Romans. Denn diese überholte Spielart bringe wohl „Genre-

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maierei", jedoch an verfehlter Stelle z.B. bei der Ausmalung bekannter „Staats- und Kriegsaktionen". Das aber sei für „unser historisches Gefühl" schlechthin unerträglich geworden. Ebenso untragbar müsse dem modernen historischen Bewußtsein die dichterische Umformung bedeutender Persönlichkeiten sein, ein Gedanke, der in etwas anderer Fassung schon Lessing vertraut war. Abweichend von Lessing jedoch, der gerade die historischen Charaktere (als Gestalten) relativ unter Schutz stellte, räumt Riehl dem Dramatiker das Recht ein, vom Geschichtsvorbild abzuweichen, wie etwa in Schillers „Wallenstein" oder Goethes „Egmont". Nach Riehl ist für das Drama die „Wahrheit der historischen Idee" ausreichend. Roman und Novelle dagegen, die in der „realistischen Prosa" abgefaßt werden, verlangen darüber hinaus auch die äußere Echtheit des „geschichtlichen Kostüms". Riehl vertritt die Anschauung, daß sich die großen weltgeschichtlichen Ereignisse bestenfalls dramatisieren, nicht aber „episch in Prosa erzählen" lassen. Er sieht nun die Aufgabe der „kulturgeschichtlichen Novellistik" in dem Ausmalen der „Gesittungszustände einer gegebenen Zeit", in der historischen Szenerie, im Erfassen und Vermitteln der geistigen Atmosphäre einer Epoche. Hierin bleibt der Novellist gebunden, während er mit frei erfundenen Gestalten in einer frei geformten Handlung ungehindert schalten und walten darf. Zum mindesten „weltgeschichtliche", möglichst aber auch „historische Handlung" (gemeint ist Geschehen) schlechtweg soll die kulturhistorische Meister- und Musternovelle vermeiden. Höchstens aus den verborgenen Winkeln der lokal begrenzten Spezialgeschichte (Annäherung an den Typus der Chroniknovelle) möchte sich noch dieser und jener abseitige Stoff als novellistisch bildsam erweisen, „ohne daß wir die poetische Freiheit, das historische Bewußtsein der Nation beleidigen". Auch wird die Lizenz zugestanden, weltgeschichtliche Gestalten oder Geschehnisse im Hintergrunde anzudeuten. Dagegen dürfen die Ideen, die jene frei erfundenen Vordergrundsgestalten der Novelle bewegen und erregen, unbedenklich „weltgeschichtliche Ideen" sein. Als Vorzug der kulturgeschichtlichen Novellistik stellt Riehl in Abhebung vom Drama, das auf das kulturhistorische Detail Verzicht leisten muß, betont heraus: „Hier läßt sich die innere Wahrheit der historischen Idee (Hegel?) und die genrehafte Treue des historischen Kostüms vereinigen; aber auch nur hier". Zudem klingt ein religiöser Grundton vernehmlich an. Denn neben den „geschichtlichen Zuständen"

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hat die kulturgeschichtliche Novelle den höchsten sittlichen Inhalt zu bergen, „der uns in jeglichem Menschengeschick die Hand des gerechten Gottes erkennen läßt". Es fällt auf, daß W . H. Riehl schon dort, wo er die eigentliche W e s e n s b e s t i m m u n g d e r k u l t u r h i s t o r i s c h e n N o v e l l e versucht, plötzlich wieder vom h i s t o r i s c h e n R o m a n spricht, wo es sich darum handelt, dem Epiker freizustellen, die weltgeschichtliche, große Gestalt „im Hintergründe über die Bühne des historischen Romans schreiten" zu lassen. Und was dort schon spürbar wird, bestätigt sich späterhin, daß nämlich Riehl neben der kulturhistorischen Novelle auch den „echten k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e n R o m a n " fordert und durchaus bejaht. In dem so gedachten Roman „ h a t die Geschichte keine wächserne Nase, und die Poesie behält doch Hand und F u ß " , d. h. die Freiheit der Poesie wird im Verhältnis von Dichtung und Datentreue nicht zur Willkür, aber sie wird auch nicht unterdrückt. Unter den z . T . weit später liegenden Essays, die der Münchener Kulturhistoriker mit populärwissenschaftlichen Neigungen und Fähigkeiten vor allem als „Freie Vortrage" (1873, neue Folge 1885) gesammelt hat, sei der Vortrag über ,,Sonate und Novelle" aus dem Grenzgebiet von Musik und Poesie (Berührungsstelle: Kompositionsfragen; architektonisch-musikalischer Bau, das Tonsatzartige, die sonatenhafte Knappheit der Novelle) gebührend hervorgehoben. Ein Vergleichen der Künste liegt Riehl überhaupt, und innerhalb der Dichtkunst ein Vergleichen der Gattungen. In der zweiten Sammlung seiner „Freien Vorträge" (der Titel meint die außerhalb der Universität gehaltenen) zeugt davon der Essay „Das Gesetz der Ergänzung in den Künsten" (1885). Der Leitgedanke tritt zutage in dem Satz: „ W a s die eine Kunst bietet, versagt die andere". Zugleich will ihm scheinen, daß sich eine gewisse Ablösung der bevorzugten Dichtungsgattungen beobachten läßt. Es gab z . B . ein „lyrisches Produktionsfieber", das zur Zeit Unlands, Lonaus, Herweghs „alle Weit ergriffen" hatte. Jetzt beobachtet Riehl, daß sich Lustspiele und „geistreiche Situationsstücke" in den Vordergrund des Interesses geschoben haben. Und 0.-; ist ihm — im Ansatzjahr zur Programmatik des Naturalismus (1885), aber wohl mehr aus einer Verstimmung gegenüber dem Naturalismus — aufgefallen, daß diese Bühnenwerke, soweit sie erfolgreich sind, „ihren Stoff ohne Ausnahme aus dem Leben unserer Zeit" wählen, also Zeitstücke, Gegenwartsstücke dar-

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stellen. Auch die Novellen-Herrschaft hat dieser Lustspiel-Herrschaft weichen müssen. Damit aber scheint ihm das Kulturgeschichtliche zurückzutreten. Denn das „Theaterpublikum will keine kulturgeschichtlichen Rätsel lösen". Auch daher scheinen ihm die Lustspieldichter das Historische und Kulturhistorische zu vermeiden. An sich nämlich sei das Lustspiel oft reicher an engen Zeitbezügen kultur- und sittengeschichtlicher Art als die Tragödie: „Aristophanes bedarf weit mehr des Kommentars als Sophokles". Aber höchstens noch die „Wagnerianer" wären bereit, sich mit einem Kommentar in der Hand ins Theater zu setzen. Der Musikfreund Riehl vermißt von Seiten jener Lustspielproduktion seiner Zeit, in der er Paul Lindau und Adolf Wilbrandt hervorhebt (und überschätzt), auch eine Anregung für die komische Oper. Aber eben: die einzelnen Künste ergänzen einander nur, sie decken sich nicht. Allzu tief greifen die gewandten Plaudereien Riehls in diesen „Freien Vorträgen" nicht. Das wollen sie auch gar nicht. Aber manche geistreiche Anregung wird seine Hörerschaft doch mitgenommen haben, so z . B . jene vergleichende Skizze über Sonate und Novelle. In den Bezirken geschichtlich-kulturgeschichtlicher und (motivlich) kunstgeschichtlicher Interessiertheit bewegt sich das Hexameter-Epos in vier Gesängen ,,Eufihorion" (1858, 3. Aufl. 1876) von F e r d i n a n d G r e g o r o v i u s (1821—91), dem bekannten Verfasser der „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter" (1859—73). Das dichterische Kunstwollen ist auf eine Nachahmung von Goethes „Hermann und Dorothea" gerichtet, wenn nicht gar auf ein Wetteifern mit Homer. Aber dieses Kunstwollen wird mannigfach durchbrochen vom Mitteilungs- und Belehrungsdrang des Historikers und Kulturhistorikers, wie denn auch einige Anmerkungen vorsorglich von Gregorovius beigefügt worden sind. Die Ausgrabungen von Pompeji haben neben den Schilderungen des Vesuv-Ausbruchs, wie sie sich bei Plinius (bzw. Dio Cassius) finden, und der modernen künstlerischen Darstellung durch Bulwers „Die letzten Tage von Pompeji" die hauptsächliche Anregung gegeben. Die Ausgrabungen liefen noch weiter, nachdem die erste Auflage des ,,Euphorion"-Epos erschienen war. Ferd. Gregorovius war gründlich genug, um in einer Anmerkung zur dritten Auflage davon zu berichten: ein typischer Fall von H i s t o r i s m u s , fachlich verständlich, aber künstlerisch bedenklich.

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Der Sklave Euphorion, der im Hause des reichen Arrius Diomedes an einem kunstvoll verzierten Kandelaber arbeitet und von der aus Rom heimkehrenden Tochter des Hauses zum Freien erhoben wird, ist bildender Künstler. Und so hat Gregorovius, der nicht verfehlt, über die Tragik hinweg (Ausbruch des Vesuvs u. Vernichtung Pompejis) sein Liebespaar zu retten, und zwar recht fürsorglich nach Capri, immerhin Gelegenheit, etwas vom Ideal des Künstlertums mit hineinzuverarbeiten und seine einschlägigen Auffassungen auch programmatisch aussprechen zu lassen. Das priesterlich gefärbte Ideal des Künstlers, etwa nach Art der Einstellung im Münchener Dichterkreise, hinter dem ja auch die Historienmalerei stand, setzt sich dabei unverkennbar durch: „Aber die Bildkraft bleibt, und es bleibt die erlösende Arbeit / Himmlische Priester des Lichts und der Freiheit wandernde Boten . . . Still an der Blume der Welt fortbildend in heiliger Demut . . . und des Schaffens unendliche Sehnsucht". Ebenso kommt das Ahnungsvolle des Künstlertums zur Geltung „und was du ahnend gebildet, erfüllte der Gott dir" (4. Gesang). Übrigens fehlt auch ein gemütvoller bis sentimentaler Zug nicht; denn Ione, die Geliebte Euphorions und Tochter des Arrius, vermag nicht von Pompeji zu scheiden, ohne eine Urne mit Asche zum Gedächtnis der verlorenen Heimat mit sich zu nehmen. Gregorovius' Gestaltungsfähigkeit will nicht recht ausreichen bei der Schilderung des Vesuvausbruchs; etwas besser gelingt der nachträgliche, mittelbare Bericht eines überlebenden Alten. Die Hexameter sind nicht schlechter als manche andere auch; besonders am Hexameter-Ausgang stellt sich leicht der unnatürlich kunsttechnisch erzwungene Wortakzent ein, der wie ein Hinken, wenn nicht gar wie ein Stolpern wirkt. Etwas glücklicher ist er in den Landschaftsschilderungen, wie denn auch der Geschichtsforscher Gregorovius eine hohe Fähigkeit besessen haben soll, in den landschaftlichen Bedingungen und Bedingtheiten gleichsam ein Stück geschichtlichen Schicksals zu sehen. Freilich enthüllt schärfere Kritik, wie schon R. M. Meyer betont, den dilettantischen Dichter als rückwärts gerichteten Propheten, indem einigermaßen bequem manches aus dem inzwischen übersehbar gewordenen Geschichtsablauf heraus- und also einfach in die Dichtung hineingedeutet worden ist. Der Dichter des Nibelungen-Epos und des „Demiurgos"Ideendramas im Gefolge des „Faust", Wilhelm Jordan, der sich auch in freieren Übertragungen der Epen Homers versuchte und

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persönlich mit Gregorovius bekannt war, widmete ihm ein Nachrufgedicht, das allerdings nur den Historiker Roms, nicht den Liebhaberdichter in Gregorovius feierte. Bemerkenswert für die in ihrem Grundbestand g e l e h r t e „ K u n s t a u f f a s s u n g " ist es, daß sich Gregorovius in den Anmerkungen entschuldigt, weil er dem Prunkleuchter, dessen Schilderung offensichtlich mit Homers, besonders seit Lessings „Laokoon" berühmten Schilderungen (Gegenstandsschilderungen, in Werden und Sukzession aufgelockert) ein wenig wetteifern möchte, in bildkünstlerischem Sinne noch Elemente anderer Lampenformen zuerteilt und gleichsam angehängt hat, als diejenigen waren, die der wirklich aufgefundene Vorbild-Leuchter aufwies. Er entschuldigt oder rechtfertigt sich nicht etwa mit dichterischer Freiheit, sondern mit dem Hinweis darauf, daß die Lampen-Anhänger „dem Candelaber nicht ursprünglich angehörten, sondern willkürlich ihm angehängt worden sind. Die ursprünglichen Lampen fand man nicht auf". Er kommt gar nicht auf den Gedanken, die poetische Formungsfreiheit in Anspruch zu nehmen. Vielmehr unterstellt er die Poesie merklich auch in solchen Einzelheiten dem P r i m a t d e r H i s t o r i e b z w . K u l t u r h i s t o r i e , wie denn auch die Rechtfertigung vom Historiker herrührt, daß er das Meer bis an die Stadt habe heranführen dürfen, ja historisch so verfahren mußte, weil die Situation eben damals so gewesen sei. Der Historismus des neunzehnten Jahrhunderts wirkt freilich beim Historiker Gregorovius noch erträglicher und motivierter als bei manchen Dichter-Historikern, die sowohl als Poecen wie auch als Historiker schlechthin Dilettanten waren. Dem Mitkämpfer der revolutionären Bewegung in Baden G o t t f r i e d K i n k e l (18x5—82), der in den pfälzisch-badiscnen Aufstand von 1849 verwickelt war, dessen „Begnadigung" (zu Zuchthaus) ihm als Bonner Professor manche mitfühlende Teilnahme sicherte und dessen im Grunde mehr biedermeierliches Bild vollends mit der Befreiung aus der Gefangenschaft durch Carl Schurz oinc sta rk romantisierende Übermalung erfuhr, hat noch C. F. Meyer einen wohlwollenden Essay gewidmet „Gottfried Kinkel in der Schweiz" (1883). Kinkel, ursprünglich Theologe, war in späteren Jahren Professor der Kunstgeschichte am Polytechnikum in Zürich. Wenn dort C. F. Meyer unter dem Eindruck eines in der „Deutschen Rundschau" erscheinenden und etwas kritisch gestimmten Berichtes über das Verhalten des verwundeten Revo-

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lutionärs Kinkel bei der Gefangennahme verständnisvoll berichtigen zu können glaubt, daß der pathetisch-theatralische Zug nicht Schauspielerei, sondern Kinkels ganzer Art eigen und also echt gewesen sei, so mag Meyer, dem selbst das Pathetisch-Theatralische nicht so ganz fremd war, wohl ein berufener Verteidiger sein. Wenn er jedoch in dem weicheren Dichter des damals viel bewunderten lyrischen Epos „Otto der Schütz" (1846) einen „Geist aus der Familie des Ariost" erkennen zu können meint, so dürfte das selbst für einen Erinnerungsartikel reichlich hoch gegriffen sein, auch wenn man berücksichtigt, daß C. F. Meyer jene Anerkennung durch eine Parenthese wesentlich einschränkt. Richtig gesehen allerdings ist ein gewisser Zug zum bildenden Künstler hin. In dem lyrischen Epos des späteren Kinkel ,,Tanagra", das in zweiter Auflage in demselben Jahre herauskam wie C. F. Meyers Kinkel-Essay, steht denn auch weit mehr noch als in Ferdinand Gregorovius' Epos „Euphorion" ein bildender Künstler (Praxias), ja eine ganze Gruppe von bildenden Künstlern (der greise Agathon, die junge Helena) im Mittelpunkt des anspruchslosen Geschehens und vor allem auch des kunstgeschichtlichen (Praxiteles, Phidias, Apelles werden erwähnt) und des kunsttheoretischen Interesses. Dieses kunsttheoretische Interesse des Züricher Kunstgeschichtsprofessors richtet sich themagemäß vor allem auf die bildende Kunst. Und man mag ein kulturpolitisches Nachklingen demokratischer Gesinnung darin sehen, daß der aus dem Kriege heimgekehrte junge Bildhauer Praxias in seinen Arbeiten zu billigen Kleinfiguren aus gebranntem Ton und Gips, teils auch realistischhumoristischer Art bewußt übergeht, um die Kunst dem Volke als „Hauszier" erschwinglich und zugänglich zu machen: „ d a ß auch ins ärmste Haus wir Freude bringen" und „auch der arme Mann . . . beim eignen Herde nicht der Anmut darbe". Denn es ist dies kein Nebenzug, sondern das Hauptmotiv des kleinen, zwar in Griechenland spielenden, aber mehr deutsch-biedermeierlich v/irkenden lyrischen Epos „Tanagra", das offenbar ganz bewußt der „Erfindung" der Kleinkunst ein liebenswürdiges, volkstümliches Denkmal setzt. (Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Roman E. v. Wildenbruchs „ D e r Meister von Tanagra", der etwa zeitparallel liegt, ohne daß eine Abhängigkeit des einen vom anderen vorliegen dürfte). Ist doch die Tochter Agathons, der an sich das Großbildnis vertritt, aber den Versuch Praxias* gutheißt.

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bei der Erfindung beteiligt, indem sie den Nippesfiguren die Farben hinzufügt. Man könnte angesichts der Tendenz, die Praxias gegenüber Agathon vertritt, nämlich im wirklichen Leben das Vorbild zu suchen und nicht in Göttergestalten (so Praxias), auch von einer gewissen Wendung zum Realistischen (mit Einschluß des Humoristischen) sprechen; aber es handelt sich eben doch nur um einen poetischen, leicht romantisierenden Realismus. Und letzten Endes strebt alles wieder auf das Genrebild zu, wie denn die Dichtung „Tanagra" selber ein biedermeierlich-idyllisches Genrebild darstellt, nur daß ein k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e s Motiv gewählt worden ist, das ein wenig Antikisierendes rein stofflich angenommen hat. „Idyll aus Griechenland" nennt sich denn auch die in einzelnen Naturschilderungen nicht unglückliche, zum mindesten F. Gregorovius' „Euphorion" überlegene Dichtung, die stärker als ,,Otto der Schütz" die allgemeinen Reflexionen zurückzudrängen weiß. Das Darstellungsziel bekunden die Schlußverse, daß es darauf angekommen sei, zu schildern „Wie spät in Hellas dort durch Eros' Gunst (Liebe des Praxias zu Helena, der Tochter Agathons) / Ein frisches Reis (Kleinkunst) aufschoß am Stamm der Kunst". Bei dieser Gelegenheit entwirft G. Kinkel denn auch in einigen skizzenhaften Zügen das I d e a l b i l d des D i c h t e r i s c h e n , wie es ihm vorschwebt. Es ist ein romantisiertes Vorstellungsbild mit biedermeierlicher Grundtönung. Wir hören von den „blauen Falterflügeln" der emporschwebenden dichterischen Phantasie, die alles „Werden" ahnungsvoll voraussieht („Eh's noch ins Leben springt") und zugleich verklärt; denn sie „schaut der Menschen Tun in farbigem Traum". Und was hinsichtlich der Wendung zum Realismus schon betreffs der bildenden Kunst gesagt werden mußte, bestätigt sich in noch höherem Grade für die dichterische Kunstauffassung. Denn ausdrücklich heißt es vom Poeten: „Die Welt rollt unter ihm mit Wechselbildern / Ihm fiel die Kraft zum Los, sie treu zu schildern / Nicht wirklich, aber wahr". Der innere Wahrheitswert wird also auch programmatisch über den — immerhin liebevoll umworbenen — äußeren Wirklichkeitswert gestellt. Daß die Argumente Wilhelm Heinrich Riehls gegen rein historische Stoffe keine Dauergeltung besaßen, beweist ein Vorausblick auf Ernst von Wildenbruch, und zwar ebenfalls auf dessen T h e o rie des h i s t o r i s c h e n D r a m a s . Freilich hatte schon Riehl bei

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seinen Erörterungen das historische D r a m a in gewissem Betracht ausgenommen. Mitten in der Epoche des Naturalismus —· oder eigentlich schon des ihn ablösenden neuromantischen Symbolismus — verteidigt nun E r n s t v o n W i l d e n b r u c h (1845—1909) im Rahmen seiner Darstellung „Das deutsche Drama, seine Entwicklung\und sein gegenwärtiger Stand" (1898) das Recht und die Pflicht, die historische Poesie, vor allem das historische Drama, in eine verantwortungsbewußte Pflege zu nehmen. Als Dichter der „Quitzows" — wenn überhaupt — bekannter geblieben denn als Dichter der „Haubenlerche" oder des „Meister Balzer", die beide bei stofflicher Annäherung an den Naturalismus eine weltanschaulich konservative Gegen-Tendenz vertraten, hatte Wildenbruch mit seinen „Karolingern" nach zähem jahrelangem Warten den großen Durchbruchserfolg in Berlin erreicht (1882). Georg von Meiningen und seine historisierenden Meininger hatten diesen überraschenden Erfolg vorbereitet. Und während Gerhart Hauptmann 1896 mit seinem wirklichen Geschichtssinn verratenden „Florian Geyer" einen Rückschlag erlitt, erlebte Wildenbruch sehr bald darauf einen neuen glänzenden Erfolg mit seinem „König Heinrich", einem Glied aus der Trilogie „Heinrich und Heinrichs Geschlecht" (ebenfalls 1896). Wildenbruch mochte bei dieser Titelwahl — wie bei der Stoffwahl seiner „Quitzows" — ein wenig an den regierenden Hohenzollern und sein Geschlecht gedacht haben, dem er selber als Enkel des Prinzen Louis Ferdinand angehörte. Dieser Umstand und sein Herkommen aus dem Hause eines Diplomaten verwiesen ihn von vornherein zur nationalkonservativen Richtung. Das patriotische Gefühl war durch den Sieg von 1871, den er in pathosreichen Epen feierte, noch verstärkt worden. Pathos und Rhetorik führen so zu einem verspäteten SchillerEpigonentum, wobei das griffsichere Anpacken bewegter und erregter Szenen die dramatische Wirkung unterstützt. Von dem Recht des Dramatikers, nur eine psychologische Abbreviatur zu geben, macht Wildenbruch freilich reichlich Gebrauch. Er sieht Hugenberg ähnlich und empfindet auch ähnlich. Aber an der Echtheit seiner Gesinnung kann kein Zweifel sein. In der genannten Schrift über das Drama geht Ernst von Wildenbruch auf jene zermürbenden Kämpfe um den Neuerwerb eines würdigen Historiendramas ein. Völlig vereinsamt und von den Theatern immer wieder zurückgewiesen, obwohl er sich mit vollem Recht als geborenen Theatraliker fühlte, habe er unent-

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wegt an seiner Richtung festgehalten: „Diese Richtung war die historische, die bewußte Vereinigung menschlich-dramatischer Schicksale mit großen geschichtlichen, insbesonders nationalgeschichtlichen Vorgängen". Also nicht Kulturgeschichte und chronikartige Lokalgeschichte, wie W. H. Riehl vorgeschlagen hatte, sondern die große Nationalgeschichte. Und man hat Wildenbruch denn auch einen dramatischen (nicht nur dramatisierenden) Treitschke genannt. Er hat immerhin den Beweis erfolgreich geführt, daß aus der Historie mehr zu machen war, als die sogenannten historischen Romane von Dahn und Ebers daraus machten. Seine Polemik richtet sich auf dem Gebiet des Dramas gegen die Übernahme der französischen Ehekonflikte, da es weit „wichtigere Konflikte für die Menschheit gibt". Und eine Wiedererweckung „großen dramatischen Empfindens" im deutschen Volk scheint ihm am ehesten Erfolg zu versprechen mit Hilfe des Historiendramas, für das die Zeit nun reif sei. Richard Wagner habe in gewisser Weise vorgearbeitet, sich jedoch für das Musikdrama klug auf sagenhafte und mythische Stoffe beschränkt und die eigentliche Historie ausgeschaltet. Aber „hier lag das Aufgabenfeld für den rezitierenden Dramatiker". Wildenbruch nimmt dabei merklich Rücksicht auf die Terminologie Wagners (musikalisches Drama, rezitierendes Drama). Wildenbruch fordert aber nicht nur groß angelegte nationalhistorische Dramen. Er befürwortet ausdrücklich „historischpolitische Dramen", also historische Dramen, die mittelbar einen politischen Zweck verfolgen. Das historische Drama gehörte für ihn ebenso zur Gegen-Tendenz wie das Zeitstück „Die Haubenlerche". Diese Antithese, die für ihn freilich der Synthese des Nationalbewußtseins dienen sollte, wird weiterhin erkennbar, wenn er die Frage aufwirft, wie ein Abgleiten in „Mystizismus" und bloße „Stimmungs"-Dramatik zu verhüten sei (Abwehr des neuromantischen Symbolismus). Das Heilmittel hat natürlich wieder das historische und historisch-politische Drama zu stellen. Durch „Vorführung großer Menschenschicksale" gilt es, die geplagten Menschen der Gegenwart „über Not und Last des Alltags hin wegzuheben", also —• in Wildenbruchs Sinne — nicht nur hinwegzutäuschen. Die Quellen der Volkskraft sind stets wieder neu zu erschließen. Immerhin ist die Lehre des Naturalismus nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Aber gegenüber der Szenenreihung verlangt er straffere Strukturen von den berufenen

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Dramatikern: „Ihre Aufgabe wird sein, vom Boden der Wirklichkeit die Tatsachen aufzulesen, sie zu ordnen mit dichterischem Blick, mit dichterischer Hand zum weisheitsvollen Zusammenhange, dessen Anblick die Seelen erlöst, den man dramatische Dichtung nennt". Hier scheint Wildenbruch nicht nur das Historiendrama, sondern auch das Gegenwartsdrama — die „Haubenlerche" und „Meister Balzer" lagen schon vor — im Auge zu haben. Der Naturalismus war ihm immer noch lieber als der Symbolismus. Man darf sich Wildenbruch nun nicht zu flachgeistig und urteilslos vorstellen. Was er ζ. B. über das Verhältnis von Poesie und Mythologie bzw. von Mythologie und Philosophie äußert, geht zwar nicht in romantische Tiefen, verrät aber eigenes Nachdenken und eine gewisse Fähigkeit, sich vom einseitig nationalen Wertungskriterium wenigstens vorübergehend zu lösen. Für die Kunst jedenfalls scheint ihm die griechische Mythologie wegen ihrer überlegenen Sinnenhaftigkeit geeigneter zu sein als die nordischgermanische Götterlehre mit ihrer Abstraktheit, die indessen der Entwicklung der Philosophie förderlich gewesen sei. In einer späteren Bekundung „Von Meinigen nach Weimar" (1908) stellt Wildenbruch gattungsmäßige Vergleiche an über die Möglichkeiten von Roman und Novelle einerseits und Drama andererseits, wobei dem Drama wegen seiner stärkeren Wirkungskraft der Vorrang zuerkannt wird. Mit seinem Frühroman, dem „Meister von Tanagra" (1880), hatte Wildenbruch freilich keine großen Wirkungen erzielt. Sein dramatisches Temperament verfügte nicht über die epische Temperiertheit. Wieder gilt als allgemeines Wirkungsziel — und Wildenbruch ist weitgehend auf Wirkungspoetik eingestellt — die Aufgabe, durch illusionshafte Steigerung den „erdrückenden Alltag vergessen" zu machen. Zwei Vorteile habe die Dramatik an Wirkungskraft aufzuweisen: einmal die volle Gegenwärtigkeit des Geschehens, denn „das Drama ist immer unmittelbare Gegenwärtigkeit", zum anderen die Entlastung des Kunstwertaufnehmenden von der Funktion der nachschaffenden Phantasie, die bei Roman und Novelle erforderlich ist. In beiden Fällen denkt Wildenbruch an das aufgeführte Drama. Und er definiert: „Dieses Zusammenwirken von dramatischem Gedicht und Bühne nennt man Theater". Es schwebt ihm dabei das vor, was man wohl auch B ü h n e n k u n s t - W e r k nennen könnte in Abhebung vom Bühnen werk ( = Drama), denn erst die Bühne

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erhebt das Drama zur vollen Kunstwirkung. Bei alledem spricht Wildenbruch merklich pro domo, und er kommt ζ. B. gar nicht auf den Gedanken, daß in der Leistung der nachschaffenden Phantasie (Epik) auch ein hoher ästhetischer Reiz liegen kann. Vom epischen Theater war er natürlich so weit wie möglich entfernt.

Exkurse und Anmerkungen I. Exkurse zur werkimmanenten Poetik Grülparzer — Grabbe — Stifter — Heine — Hebbel — Ludwig — Keller — Fontane — Storm Franz Grillparzer (S. 37—54). — Befragt man das im Werk eingekörperte und Gestalt gewordene Kunstwollen, also die werkimmanente Poetik Grillparzers, so gewinnt man etwa folgende Eindrücke. Zunächst fällt auf das mehrfach und lebhaft geäußerte Mißfallen am und die Enttäuschung vom abgeschlossenen Werk, wenn er es nachträglich und selbstkritisch mit dem ursprünglich Gewollten und Erstrebten verglich — und dazu neigte er. Demnach vermißte er selber eine befriedigende und entbehrte er vollends eine beglückende Deckung von Kunstwollen und Kunstschaffen, von formuliertem oder auch nicht-formuliertem, latent gebliebenem Theoretisieren und ausgeführtem und ausgeformtem Produzieren. Die ideelichen Vorstellungen, die geistigseelischen Konzeptionen, die Erweckungen seiner erlebten Welt zum gestalteten Werk vermögen ihn voll zu beschäftigen, auszufüllen und auch zu begeistern. Indessen: „Sobald ich etwas davon nach außen hinstelle, wird es mir beinahe verhaßt; und ich mag nicht mehr daran denken, so widerlich ist mir die Unähnlichkeit des Ausgeführten mit dem Gedachten". Und nach Vollendung des „Goldenen Vlieses" meint er skeptisch, er wisse zwar, daß seine Gemütsstimmung „ j e t z t geteilt ist; aber ich glaube doch, das Werk ist mißlungen". Das lag nun weniger an einem nicht ausreichenden Kunstvermögen als vielmehr an einem überhöhten Kunstfordern und letztlich an der Diskrepanz von Ideal und Leben, von Wunsch und Erfüllung, die Weltanschauung und Lebensgefühl Grillparzers auch jenseits der reinen Kunstwelt bestimmen. Es erging ihm mit der Muse seiner Kunst ähnlich wie mit der Geliebten seines Lebens: sobald das Idealbild den Rahmen seiner weitgespannten Phantasievorstellung schlechterdings nicht mehr auszufüllen vermochte, sobald das Werkbild oder Wirklichkeitsbild auch nur in einem Zuge abwich vom überhöhten Urbild, trieb ihn ein fast magischer Drang zu einem herben Verwerfen, das ihn selber quälte, das er aber nicht zu vermeiden und zu überwinden vermochte. 27

M a r k w a r d t , Poetik I V

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EXKURSE

UND

ANMERKUNGEN

Man kann von diesem persönlichen, überempfindlichen Reagieren ohne Zwang Zugang finden zum Gesetz der Maßlosigkeit, das seine Dramen weitgehend beherrscht. Tragik entsteht für Grillparzer nicht dort, wo die Vernunft versagt (Lessing) oder wo der Wille versagt (Schüler) oder wo das Gefühl versagt (Kleist), sondern vor allem dort, wo die dem Menschen gebotene Maßhaltung versagt. Insofern nähert er sich Goethe. Und man hat ihn selber als Tasso-Gestalt zu deuten versucht. Gewiß nur mit bedingtem Recht; denn für einen Tasso-Typus war sein politisches Anteilnehmen zu stark ausgeprägt und der Leidenschaftsimpuls zu stark unter die Kontrolle der Reflexion gestellt. Mit relativ größerer Berechtigung hat man angesichts der zermürbten, erbmäßig belasteten Familie, der Grillparzer angehörte, das Kennwort: Buddenbrook-Schicksal ausgegeben. Aber Franz Grillparzer als Mensch und Dichter ist doch eben nicht diesem BuddenbrookSchicksal verfallen, wenn es ihn auch mehrfach bedrohlich streifte und er es in Depressionsstimmungen innerlich zu erleben und zu erleiden meinte. Tasso oder Buddenbrook sind Gefahrenzonen in den Grenzbereichen seines Wesens, symbolisieren aber nicht den Kernbezirk und umreißen nicht den seelischen oder künstlerischen Heimatbereich. Seine eigene Wesensheimat hofft er sich als Dichter zu erschließen durch ein Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik, während das von der Sonderforschung unternommene Einbeziehen in den literarischen Biedermeier als reichlich erzwungen abgewehrt werden muß, und zwar sowohl aus weltanschaulichen wie aus kunstanschaulichen Gründen. Vollends angesichts des Kunstschaffens versagt dieser Versuch, dem Biedermeier neben Annette von Droste als großer lyrischer Potenz und Adalbert Stifter als großer epischer Begabung in Grillparzer nun auch den großen Dramatiker zu gewinnen. Vielmehr geht Grillparzer in seinem vorerst noch ungeklärten Kunstwollen aus von einer veredelten Spielart des nachromantischen und teilweise trivialromantischen Schicksalsdramas („Die Ahnfrau" 1817), wenn man von dem noch jugendlichen Frühansatz der „Blanka von Kastilien" absieht, für den Schiller unverkennbar die Vorbildpoetik gestellt hatte. Selbst wenn für die erste Fassung die lokal bedingten Vorformen der Wiener Gespensterstücke überwogen haben mögen, weist doch die zweite Fassung der „Ahnfrau" eindeutig in jene schicksalsdramatische Richtung. Und wenn der spätere Grillparzer diese Wendung zum Schicksalsdramatischen dem Einfluß Joseph Schreyvogels auf das Schuldkonto setzen wollte, so vergaß er dabei, daß er von sich aus jene Merkmale freiwillig über Schreyvogels Anregung hinaus verstärkt hatte.

I. E X K U R S E ZUR W E R K I M M A N E N T E N

POETIK

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Mit der „ S a p p h o " (1818) und dem „ G o l d e n e n V l i e s " (1818—20) wandte sich Grillparzer bereits der Nachklassik zu, die für Österreich indessen erst die Klassik bedeutete. Mit Recht ist (von Julius Petersen) darauf aufmerksam gemacht worden, daß für die Literatur Österreichs die Klassik mit Grillparzer unter Umgehung des Sturmes und Dranges unmittelbar auf die Aufklärung stieß, was sich in der frühen Kunsttheorie Grillparzers zugleich in der oben angedeuteten Weise widerspiegelt. Spätaufklärung und Romantik seien dergestalt unmittelbar aufeinandergestoßen. In dieses mit Spannungen geladene Kraftfeld geriet Grillparzer mitten hinein, und zwar zeitlich in einer „nachromantischen Generation". Bei derSynthese, die auch Grillparzers österreichische Klassik anstrebte, ging es also nicht wie in Deutschland um eine höhere Verschmelzung von Aufklärung und Sturm und Drang, sondern um ein höchst kompliziertes Zusammenbringen und Zusammenzwingen von Aufklärung und Romantik, indem die Romantik gleichsam den Sturm und Drang vertreten mußte. Doch ist nicht zu vergessen (was bei Petersen ein wenig geschieht), daß bereits der jüngere Grillparzer die Kunstleistung der deutschen Klassik vor Augen hatte, so daß ihm seine gewiß schwierige Aufgabe von dieser starken Stütze her wesentlich erleichtert wurde. Gelegentlich der „Sappho", die als Motiv ursprünglich für ein Opern-Libretto, also als eine Art von Musikdrama Grillparzer von Felix Joel nahegebracht worden war in Zusammenhang mit Weigls Absicht einer Opernkomposition, könnte man sich zunächst erinnert fühlen an Grillparzers eigenes, besonders von der Mutter (geb. Sonnleithner) ererbtes Musikinteresse. Etwas übertreibend, aber doch im wesentlichen zutreffend hat bereits Eduard Hanslick (1880) hervorgehoben: „Es gibt keinen großen Dichter, der sich so Hebevoll und ernstlich mit der Musik befaßt, der so tiefe Bücke in ihr Wesen getan hätte wie Grillparzer". Richard Wagner als Musikdramatiker wird dabei mit Recht nicht als „großer Dichter" einbezogen. Aber zu Unrecht übergeht die Ausschließlichkeit des pathetisch gefärbten Werturteils H. v. Kleist, für dessen formulierte und werkimmanente Poetik die Musik wohl noch bedeutsamer war als für Grillparzer. Jedenfalls fühlte sich Grillparzer so sehr als Dichter, daß er bewußt die Tragfähigkeit des Motivs für ein reines Wortdrama erprobte und erhärtete. Und das Anteilnehmen an der Musik muß nicht notwendig auf die Romantik bezogen werden, da der Blick auf die Familientradition näherliegt. Eher schon könnte man geltend machen, daß es sich ähnlich wie bei späteren Wiener Neuromantikern um ein stark lyrisch getöntes Drama handle. Aber auch diese Eigenschaft dürfte eher auf Kleist hindeuten, wie die Melitta-Phaon-Szene an 27*

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EXKURSE

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die Holunderstrauchszene („Käthchen") erinnert, ohne daß irgendwelche Einflüsse konstruiert werden sollen. Vielmehr befreit sich das Lyrische bei Grillparzer ähnlich wie bei Kleist (und späterhin bei Hebbel und Hauptmann) am wirksamsten im Drama, gleichsam ermutigt durch die längere Anlaufzeit und die Geborgenheit im größeren Kunstgebilde, wo die lyrische Nacktheit der Gefühlsaussage immer noch irgendwie verschleiert bleibt. An sich aber ist der lyrische Einschlag ebenso bemerkenswert für das Kunstschaffen wie das in ihm wirksame Kunstwollen. Hätte Grillparzer Balladen geschrieben, wären es sicherlich Romanzen geworden. Seine Novellen tendieren denn auch zur Stimmungsnovelle (das erkannte schon A. Stifter) trotz der Dramatisierung des „Klosters bei Sendomir" in G. Hauptmanns „Elga". Zugleich sind romantische Teilfaktoren auch in der klassischen Dramengruppe nachweisbar. Selbst ein kleiner Zug wie der Zusatztitel von „Hero und Leander", den Grillparzer selber als „etwas pretiös" empfindet, „Des Meeres und der Liebe Wellen" romantisiert ein wenig (und symbolisiert noch mehr). Nicht nur in der Titelgebung, auch im Gehalt dominiert das Symbolische (bis Allegorische) in der Trilogie vom „Goldenen Vlies". Gewiß liegt hierbei gegenüber dem Dolch als Schicksalsrequisit in der „Ahnfrau" eine wesentliche und wertvolle Vertiefung vor. Aber die Freude an der logisierenden Proportion in der sinngebenden Vergleichsbildschicht bestätigt dennoch von der werkimmanenten Poetik her das erwähnte Schwanken der formulierten Poetik zwischen mythologisierendem Symbol und logisierender und psychologisierender Allegorie. Der Symbolbegriff wurde vor allem von der Klassik ausgebildet (Bd. III), und insofern fügt sich dieser Zug organisch in die Nachklassik, die — das sei wiederholt — für Österreich erst die Klassik darstellte. Ebenso verweist das ganze Motiv auf die Klassik. Aber in dem Maße, wie sich Grillparzers Medea von der Iphigenie Goethes entfernt und der Penthesilea Kleists nähert, nähert sich die ganze Stimmung der Romantik. Oder (im Sinne der Konzeption J. Petersens) es bestätigt sich, daß für die österreichische Klassik schon die Romantik (nicht die Geniezeit) den anderen Kraftpol stellte. Das Dämonische ist weniger nach Art der Frühklassik („Egmont") als nach Art der Romantik gesehen, in der „Medea" sowohl wie in der späteren „Libussa" und natürlich auch nach der romantischen Art Kleists, dessen Realistik jedoch, zum mindesten jenseits des Lustspiels, von Grillparzers Zartheit in der Übermalung gescheut wird. Irgendwie sind rokokohafte Pastellfarben der klassischen Grundfarbe beigemischt, besonders in der „Sappho" und in „Hero und Leander", das im Motiv nicht von

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ungefähr als komische, halb tragische Romanze von der Graziendichtung erfaßt worden war, freilich dann auch veredelt von der Ballade Schillers. Der Restbestand an Aufklärung (der andere Pol) wird im Belehrenden spürbar, das gern Erkenntniserträge einheimst und selbst noch mitschwingt im tiefen weltschmerzlichen Klang der Mahnung Medeas an Jason: „Erkennst das Zeichen du, um das du rangst / Das dir ein Ruhm war und ein Glück dir schien ? / Was ist der Erde Glück ? — ein Schatten! / Was ist der Erde Ruhm ? — ein Traum! / Du Armer, der von Schatten du geträumt". An solchen Stellen wird evident, daß im Musikalischen Grillparzer mehr zur Melodie neigt, während Kleist den Rhythmus bevorzugt. Weltanschaulich wird gewiß schon Schopenhauer darin vernehmbar. Aber die erzieherische Haltung ist der Aufklärung zugewandt, während Grillparzer Medeas letzten an Jason gerichteten Worten: „Trage! Dulde! Büße!" schon einen christlichen Beiton mitgegeben hat, was indessen besonders seit Kleists „Amphitryon" nicht neu war, aber wiederum romantische Begleitmotive zum klassischen Leitmotiv bestätigt und damit das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik. Aufklärerische Elemente waren schon rein quellenmäßig bei der „Sappho" weit stärker vertreten, so etwa Wieland mit dem „Agathon" und „Aristipp". Denn die Personengruppierung und ideeliche Konstellation Sappho-Melitta (Künstlertum-Weltnähe) ist weniger orientiert an der Konstellation Tasso-Antonio (Goethe) als an der Gruppierung: ältere Priesterin Pythia — jüngere Psyche (Wieland), und zwar einschließlich des Handlungsansatzes (Entführung der jüngeren Nebenbuhlerin durch die verschmähte, nicht mehr jugendliche Liebhaberin). Kennzeichnend für die Neigung des Kunstwollens zur Dämpfung zunächst schroff angesetzter Konflikte, selbst noch verglichen mit Goethe, ist der Umstand, daß in Goethes „Tasso" ein schärferer Konflikt durchgehalten wird; denn Liebe (Melitta) steht dem Künstlertum (Sappho) näher als das Künstlertum (Tasso) dem Tatmenschentum (Antonio). Und die Künstlerin Sappho leidet zuletzt nur insoweit wie sie Weib ist, was sie wiederum Melitta näherbringt. Der Stolz, das Selbstbewußtsein des Künstlertums steigert wohl, verursacht aber nicht die Tragik. Diese Tragik liegt wieder in der Maßlosigkeit des Begehrens, das neben dem Ruhm auch die Liebe erzwingen möchte und kein Genüge findet an der Weihe und Würde der von den Göttern Berufenen und von den Menschen Gefeierten. Das Kunstwollen ist ganz auf die Herausarbeitung dieser Maßlosigkeit im Glücksstreben gerichtet, und das Kunstschaffen folgt dieser vorherrschenden Darstellungstendenz bis in die Einzelzüge hinein. Aber dieses Kunstwollen wird nicht nur

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idealisiert und romantisiert, es wird trotz aller lyrischen Erwärmung auch im erziehlichen Endertrag rationalisiert (aufklärerische Restbestände). Und andererseits: nicht der Erziehungsoptimismus der Aufklärung triumphiert, sondern — nach Stilrichtungen gesehen — der Erziehungsskeptizismus der Geniezeit, der nicht dulden konnte, daß auch noch das Genie der Erziehung unterworfen wurde. Nach weltanschaulichen Bezügen gesehen, steht natürlich der Pessimismus in der Ausprägung Schopenhauers näher, wobei freilich die Kunst als „Quietiv" in diesem Falle versagt (wie sie bei der Mutter Grillparzers und deren Musikliebe versagte). Die Maßlosigkeit als Erregerin und Trägerin des Tragischen wird nun vollends in die Zentralstellung gerückt und schon in der Titelgebung ausgedrückt beim „Goldenen Vlies". Denn das goldene Widderfell ist von vornherein gedacht als ein Sinnbild des maßlosen Macht- und Glücksstrebens. Grillparzer selber hat in diesem Zusammenhange rückschauend an den Nibelungenhort erinnert, „obgleich an einen Nibelungenhort damals niemand dachte". R. Wagner (mehr als Fr. Hebbel) hat ein ähnliches Symbol zum Träger des Leitmotivs gemacht im Zyklus des „Ringes". Auch Wagner stand damals schon nach dem Abebben des Einflusses Feuerbachs längst unter der Einwirkung Schopenhauers. Aber wie Grillparzer hat er zuletzt erfolgreich gerungen um eine Befreiung von dieser lähmenden Last, von diesem Liebeshaß des Lebens, der wohl kunstfähig, aber nicht lebensfähig war und deshalb nicht kunstwürdig sein konnte, wenn man hinter seinem Glanz des Geistes (und Stils) die Leere des Lebens entdeckt hatte. Innerhalb der nationalhistorischen Dramengruppe demonstriert die Maßlosigkeit des Geltungsstrebens unter dem nachwirkenden Eindruck des Schicksals Napoleons vor allem „ K ö n i g O t t o k a r s G l ü c k u n d E n d e " (1823, aufg. 1857), wie die „ J ü d i n v o n T o l e d o " (1850 aufg. 1873) die Maßlosigkeit des Genußstrebens in grelle und wiederum betont belehrende und „aufklärende" Belichtung rückt. Die Entspannung des Tragischen ist im symbolistischen Weltanschauungsdrama „Der Traum, ein Leben" (1831 aufg. 1834) aufgefangen durch die Traumsituation. Aber an sich treibt in der Traumhandlung als solche die Maßlosigkeit des Wünschens und Begehrens wiederum auf das Tragische hin. Kurz, dort, wo nicht der Endertrag tragisch erscheint, ist doch die Tendenz zum Tragischen allenthalben gegeben. Aber selbst die Komik bemächtigt sich der Leitidee der Maßlosigkeit. Ganz abgesehen davon, daß der moderne Zuschauer vielleicht schon in der maßlosen (bis ehrlosen) Treue in „Ein treuer Diener seines Herrn" (1828) mehr ein Tragikomisches als tragisch Erhebendes

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empfindet: sogar die „Maßlosigkeit" der Wahrheit kann dem schalkhaften Mißbrauch lebenskluger List ausgesetzt sein wie in „ W e h dem, der l ü g t " (1838), während in der jugendlich unreifen Vorstudie „ D i e Schreibfeder" noch die Wahrheit für Lüge gehalten wurde. Man sollte hierin noch nicht eine Vorform der Lebenslüge bei Henrik Ibsen wittern. A b e r vor Hebbel begegnet schon Grillparzer mehrfach auf den Spuren des psychologischen Problemdramas, so im „Treuen Diener", im „ B r u d e r z w i s t " , so ant eilweise selbst in der „ L i b u s s a " , die sich freilich mit ihrer langen E n t stehung schon mit Hebbels D r a m a zeitlich überschneidet. Die Begegnung von A u f k l ä r u n g und Romantik, die bei dem lebensphilosophischen Traumspiel quellenmäßig zutagetritt in bezug auf Voltaire einerseits und Calderon andererseits, bleibt noch bis zum Nachlaßwerk „ L i b u s s a " hin spürbar. Andererseits bestätigt sich darin ein gewisser H a n g z u m Opernhaften, der bei Grillparzer überhaupt berücksichtigt sein will. D a in der formulierten Poetik das ungeklärte Wegsuchen zwischen S y m b o l und Allegorie vermerkt werden konnte, sei für das „ L i b u s s a " - D r a m a verwiesen auf den Bildschmuck am Gürtel Libussas, dessen Funktion wieder unvorteilhaft zwischen Symboltiefe und Allegorieflachheit schwankt. In diesem P u n k t also deckt sich die werkimmanente mit der formulierten Poetik, ζ. T . wohl auch deshalb, weil die formulierte Poetik oft über die Selbstrechtfertigungspoetik nicht wesentlich hinausgelangt, soweit ihr nicht Hilfen von außen (Bouterwek u. a.) sich anbieten. Obwohl „ L i b u s s a " , die zugleich politisch recht interessant und problemhaltig erscheint, keine näheren Beziehungen zu Cl. Brentanos „ G r ü n d u n g P r a g s " (1815) aufzuweisen hat, bleibt formal doch ein merklicher R ü c k b e z u g auf die Romantik bestehen (Anteile einer nachromantischen Märchenoper), während inhaltlich eine gewisse Annäherung an Ideen des Jungen Deutschlands immerhin in E r w ä g u n g gezogen werden sollte. W a s das Verhältnis Klassik-Romantik betrifft, so dürfte in der formulierten Poetik der Anteil Nachklassik überwiegen, während sich in der werkimmanenten Poetik beide K r ä f t e etwa die W a a g e halten. Christian Dietrich Grabbe (S. 67 —74). — Grabbes Kunstwollen ist nur eine produktive Spielform seines übersteigerten Geltungsstrebens, hinter dem die überkompensierten Minderwertigkeitskomplexe des „Niedrig"-Geborenen wirksam sind. D e m g e m ä ß ist dieses Kunstwollen vorab auf Größe ausgerichtet, wobei die dichterische Größe nicht z u m wenigsten verbürgt erscheint durch die Darbietung und Darstellung irgendwie übermenschlicher Gestalten wie Scipio, Faust, Napoleon, Barbarossa, Heinrich V I . , Hannibal,

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Hermann der Cherusker. Im Geltungsstreben liegt das Motiv zu solcher Motivwahl, aber auch das Motiv zu einer überhöhten Darstellungsweise. Die Form soll den bedeutenden Inhalt ihrerseits noch bedeutender machen. Gleichzeitig aber meldet sich versöhnend mit dem krampfhaften Abstandsuchen des „Ungemeinen" vom volkstümlich „Gemeinen" ein oft rührend (bis erschütternd) ausgeprägtes Treuehaltenwollen gegenüber dem Volk und seinen breiten Schichten an. Daraus ergibt sich mehrfach die MotivKonstellation und ideeliche Folgerung einer Ebenbürtigkeit, ja einer Überlegenheit der zähen Dauerkraft des Volkes im Verhältnis zur kurzfristigen Kraftanstrengung selbst noch des an sich überragenden Einzelnen (Napoleon oder die Hundert Tage, Heinrich VI., vgl. auch die Fischerszene im umgearbeiteten „Marius und Sulla"Fragment). Im allgemeinen aber gilt das Gemeine als unwürdiger Gegenspieler des Ungemeinen (Hannibal, Hermannsschlacht). Wie einst schon die Gruppe der Stürmer geniezeitgemäß die Vorrechte der Geburt durch das Vorrecht der Genialität entmachten wollte, so unternimmt es hier ein Einzelner, die Gaben der Geburt durch die Gabe des Genies zu ersetzen und zu übertrumpfen. Voraussetzung für ein Gelingen dieses Vorhabens, das eine Befreiung vom Minderwertigkeitsgefühl versprach, war Originalität um jeden Preis. Daher stellt sich das Kunstwollen mit aller Gewalt ein auf eine Demonstration und Manifestation der Originalität. Und vom Künstler her greift die Originalität auch auf seine Gestalten über. Selbst auf die Gefahr hin, „Original" zu werden, will jede seiner Hauptgestalten irgendwie original sein, wie er selber es sein (oder scheinen) wollte. Das gilt nicht zuletzt von seinen grandiosen Bösewichten (Berdoaff.). Ein warmherziges Nationalgefühl, das freilich mit jenem grundlegenden Geltungsstreben zusammenhängen dürfte, indem die Eigengeltung durch die Volksgeltung gehoben wird, findet nun aber keine volle Befriedigung in der Originalität des Einzelnen. Das O r i g i n a l g e n i e muß also durch das N a t i o n a l genie ergänzt und gesteigert werden. Hier liegt eine der Wurzeln für die Abwehr der „Shakespearomanie" und für die SchillerBegeisterung. Denn das Kunstwollen als werkimmanente, implizite Poetik bleibt auf die Vorbild-Poetik: Shakespeare ausgerichtet, obwohl und lange nachdem die bewußt formulierte, explizite Poetik Shakespeare geradezu „hingerichtet" hatte. Und darin wirkt ein mit Grabbes Extravaganzen immer wieder Versöhnendes, daß in seinem Kunstschaffen ein Funke glimmt vom Geist Shakespeares, den er verleugnete, weil er ihn zu heben scheute und weil ein offenes Liebesgeständnis mit dem Eingeständnis der eigenen Unterlegenheit notwendig verbunden ge-

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wesen wäre. Bei Otto Ludwig gehen in diesem Punkte formulierte und werkimmanente Poetik konform. Mit Schiller hoffte es Grabbe kraft des inzwischen weiter entwickelten Realismus schon eher aufnehmen zu können. Und das Pathos sagte ihm zu. Es mußte sich nur eine kühne Mischung mit desillusionierender Ironie gefallen lassen, der Grabbe in der literatursatirischen Komödie „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" ein geistvolles Denkmal kritischer Wehrhaftigkeit setzte. Wie in der Nation sucht nun Grabbe die Größe und das Große vorzüglich in der Geschichte. Persönliche Anregung (Clostermeyer) und große Geschichtswerke (Friedrich von Raumer) verstärken das historische Interesse, das auch ein Studieren der Quellen nicht scheut, die Erträge jedoch mit einer zum Teil recht herrischen Willkür der aus- und umbauenden Phantasiefreiheit des Künstlers unterwirft. So werden ζ. B. im „Hannibal" die NumantiaEreignisse um etwa eineinhalb Jahrhunderte verlagert, in „Napoleon oder die hundert Tage" (1831) wird in die Volksbewegung um Napoleons Ankunft aus Elba (1815) die Revolution von 1789 mit hinein verarbeitet. Außerdem spielen aus unmittelbarem Zeitgeschehen die Reflexe der Julirevolution von 1830 mit hinein. Unter dem Eindruck der Julirevolution hat Grabbe seine ursprüngliche Konzeption eines neuen Übermenschen-Dramas (Napoleon als dominierende Zentralgestalt) fallen gelassen und bis in den dritten Akt hinein das Volk in den Vordergrund gerückt. Ein auch für die systematische Poetik bemerkenswertes Beispiel für das Eingreifen eines Gegenwartsereignisses in die Entstehungsgeschichte eines Dramas (bei A. Gryphius' „Carolus Stuardus" weniger prägnant, da zwei Fassungen). Das Kunstwollen Grabbes wird in den Dienst des historischen Kulturwillens, aber auch einer gewissen Kulturkritik gestellt. Das Mittel für diese Kritik bietet eine „tragische Ironie", die freilich nicht selten ins Groteske (der Darstellungsabsicht nach Grandios-Groteske) abirrt. Gelegentlich reizt es Grabbes Originalitätssucht unwiderstehlich, den BlutErnst der Geschichte gleichsam durch einen Bier-Ulk zu ironisieren (Hannibals drastische Demonstration beim Verlassen Italiens) und zu paralysieren. Überhaupt neigt er dazu, die Mißachtung des guten Geschmacks für ein untrügliches Merkmal des Genies zu halten und gerät bei der Suche nach der „tieferen Bedeutung" mit Vorliebe und Geschick in Untiefen. Abgesehen von derartigen echten grobianischen Grabbiaden und einer Überbeanspruchung der dichterischen Freiheit, unterwirft er weitgehend das Gesetz seiner Kunst dem Gesetz und „Geist der Geschichte", den er offenbar durch Einzelentgleisungen nicht emstlich zu verletzen meint, sondern den er in seiner Art

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ehrlich zu enträtseln versucht. Vor allem versucht er im Sinne des Wallenstein-Prologs das Bedeutende des geschichtlichen Geschehens in lapidaren Zügen und im Freskostil festzuhalten. Den Geist der Geschichte hat Grabbe nahe bei seiner Begeisterung für die Geschichte angesiedelt, weit näher jedenfalls als Hebbel, ganz abgesehen davon, daß der Motivbestand reiner Geschichtlichkeit bei Hebbel nur verhältnismäßig gering ist. Grabbe hatte bereits den großen Zug, das „epochemachende" Geschichtsdrama zu schaffen; aber er besaß nicht die diszipliniert ausführende Geduld dazu. Und der große Wurf blieb letzten Endes nicht nur beim „Marius und Sulla"-Fragment im genialischen Entwurf stecken. Im Bemühen, sich ganz hinzugeben, gab er sich auf und rieb er sich auf. Und er ließ sich gehen (auch in der Form), wo er ganz aufzugehen glaubte in einer Aufgabe, für die seine Gabe nicht voll ausreichte. Hebbel als Dramatiker besaß oder bewahrte zuviel Vernunft, Grabbe zu wenig. Aber in der Liebe zur Geschichte war er Hebbel zweifellos überlegen. Trotz (oder wegen) derber Sinnlichkeit absorbiert das MannWeib-Verhältnis weit weniger Kraft als bei Hebbel, wo es geradezu die Zentralstellung in der Motivwahl innehat. Eine scheinbare Ausnahme wie „Nanette und Maria" ist Nebenwerk und kein echter Grabbe. Selbst im „Don Juan und Faust" (1827) steht letztlich nur eine zudem etwas konventionell gezeichnete Frau (Donna Anna) zur Verfügung. Aus dem „Napoleon" haftet (trotz der Hortense) kaum eine Frauengestalt, ähnlich aus den Hohenstaufendramen („Barbarossa", „Heinrich VI".). Alles Wesentliche vollzieht sich unter Männern. Am ehesten noch setzt sich die Melitta in „Hannibal" durch. Im Allgemeinen aber bleiben die Frauengestalten Grabbes weit zurück hinter denen Grillparzers und Hebbels nicht nur, sondern auch hinter denen Georg Büchners. Er übertrifft dagegen G. Büchner in der szenisch bewegten Volksgruppe. Bereits die beiden Fassungen des „Marius und Sulla"-Fragments (1823 f.) bekunden ein starkes Interesse am wirksamen Aufbau und weiteren Ausbau der bewegten Volksszene (Ansatz Lessings „Das befreite Rom"), die dann in wohl allen Historiendramen Grabbes quantitativ und qualitativ hervortritt und aus ihnen wertmäßig hervorragt, von den turbulenten Volksgruppen des „Napoleon" bis zur Krämerszene des „Hannibal". Grabbe, der selber aus dem Volke kam, besaß einen klaren, oft unerbittlich scharfen, oft köstlichen Bück für die spezifischen Merkmale des „Mannes aus dem Volke". Er ist geradezu ein Spezialist für Gestaltung von Volksszenen und Gruppencharakteristik geworden und übertrifft auf diesem Sondergebiet manche an sich bedeutenderen Dramatiker vor ihm und nach ihm. Und

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man darf sagen, daß es ihm in diesem Bereich gelungen ist, die vor allem von Schiller bereitgestellten Erprobungen weiter zu entwickeln, nicht ohne Erfahrungen Shakespeares zu nutzen, aber doch mit unverkennbarem eigenem Können. Man kann noch einen Schritt weiter gehen und sagen: dort, wo eine Gruppenszene, besonders als ausgeprägte Volksszene ihm nicht recht geglückt ist, pflegt auch sonst etwas dramaturgisch nicht recht in Ordnung zu sein. So wird das Gelingen oder Mißlingen der Volksszene zu einem relativ verläßlichen Kriterium für die jeweils erreichte Zusammenarbeit von Kunstwollen und Kunstschaffen. Freilich überanstrengt er nicht selten seinen Sinn für die äußere Dynamik. Das gilt motivgemäß besonders für seine berühmtberüchtigten Schlachtszenen, die keineswegs in der „Hermannschlacht" kulminieren. In ihrer Ausmalung gerät Grabbe nicht selten in eine wahrhaft naive Epik hinein, die nichts weniger ist als „episches Theater" oder mit diesem doch nur insoweit entfernt verwandt erscheint, als sich der Dramatiker dabei in einen Regisseur verwandelt und vom Zuschauer verlangt, daß er dasselbe tue. Hinzu tritt gefährdend Grabbes Hang zur Renommisterei, die auch jenseits der Schlachtszenen sein Kunstwollen mannigfach durchkreuzt und vom Persönlichen her eintrübt. Damit steht in Zusammenhang die Neigung zur Doppelheldigkeit seiner Dramen. Die K o n k u r r e n z der Z e n t r a l g e s t a l t e n , in der er ebenfalls, aber in weniger gutem Sinne Spezialist ist, stellt dabei nur einen besonders instruktiven Spezialfall seiner allgemeinen Tendenz zur Überladung und Überhöhung dar. Das beginnt schon mit der jugendlichen Gewaltprobe im „Theodor von Gotland" (Berdoa-Theodor). Die Rechtfertigung, daß er auf diese Weise wenigstens über starke Gegenspieler verfüge, ist kaum haltbar. Man kennt die oft tödliche Schwäche eines Dramas, dessen Helden ein ebenbürtiger Gegenspieler fehlt, so etwa im nachgelassenen „Thomas Münzer"-Drama Friedrich Wolfs. Aber bei Grabbe verbindet sich die Ebenbürtigkeit der zwei Helden nun mit ihrer Ähnlichkeit untereinander, die den Kontrastwert notwendig abschwächt, zum Teil geradezu aufhebt. Besonders im Verlauf der Handlung pflegen sich die Gegen-Gestalten immer mehr anzugleichen, in dem Grade nämlich, in dem Grabbe die Geduld zur sauberen Sonder-Charakteristik verliert und sich selber mehr und mehr zum Modell seiner Helden macht. In „Don Juan und Faust", dessen Zusammenstellung rein motivlich zwar nicht einem eigenen Einfall Grabbes entsprang (theoretischer Hinweis: Franz Horn im Taschenbuch „Luna" 1805, praktischer Ansatz durch Rollentausch Faust-Juan bei Niklas Vogt 1809, das Libretto J. C. Bernards zur Oper Ludwig Spohrs), kommt es sogar

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zu Sproßformen, indem nicht nur Faust und D o n Juan sich allzu ähnlich werden, sondern weiterhin auch der „ R i t t e r " (Mephisto) dem Don Juan sich weitgehend anverwandelt (oder umgekehrt). A n gesichts solcher Erscheinungen möchte man fast einen — Lyriker in Grabbe vermuten, indem alles das Ich umkreist. Grabbe war durchaus Dramatiker; aber ein Dramatiker, der schwer von sich oder seinen Lieblingen loskommen konnte. E r war zugleich und vor allem Theatraliker und Pathetiker. A b e r seine echte Theatralik war schnell bereit, in vulgäres „ T h e a t e r " umzuspringen, wie sein Pathos jederzeit in Parodie, in Ironie und selbst in Zynismus umzuschlagen vermochte. Adalbert Stifter (S. 96—106). — Obwohl versucht worden ist, schon in die Darstellung der formulierten, expliziten Poetik einiges einzubeziehen an werkimmanenter, impliziter Poetik, bedarf das Gesamtbild einiger Ergänzungen. Zunächst: das Attribut biedermeierlich ist dort möglichst vermieden worden, obwohl gerade an A . Stifters Kunstschaffen mit Vorhebe und Übereifer das Biedermeierliehe demonstriert worden ist. Denn entweder engt man durch ein solches Verfahren Stifter zu sehr ein oder weitet das Biedermeierliche zu sehr aus. Man glaubt ihm dadurch vieles zu geben, nimmt ihm jedoch in Wirklichkeit weit mehr. Man nimmt ihm nämlich das entwicklungsgeschichtlich sehr bedeutsame und beachtenswerte Verdienst, eine E p i k geschaffen z u haben, die noch einmal ohne Pressung eine Synthese von Klassik und Romantik herstellt und darstellt, eine Epik, die an die Möglichkeit einer künstlerisch vollwertigen Erbauungsdichtung glauben lehrt. D a s ist mehr als Biedermeier, denn es ist weit seltener. E s ist aus kraftvollerem Temperament ebenfalls da bei Jeremias Gotthelf, aber es bleibt doch selten. Allerdings mußte schon einschränkend vermerkt werden, daß im Kunstschaffen das Stifter als ethisch-ästhetisches Ideal vorschwebende Kunstwollen nicht voll erreicht und verwirklicht werden konnte. A b e r es bleibt dennoch erstaunlich, in welch hohem Grade es gelingt, die Lauterkeit der Gesinnung mit der Reinheit der Gestaltung zu verbinden. Die Lauterkeit der Gesinnung, nicht die Festigkeit. Darüber jedoch wird noch zu reden sein. Oft ganz unversehens geht die deutsche Idylle als das gemütvoll Idyllische in die griechisch-klassische Idylle über. Freilich erfolgt die Rezeption der Antike mehr über Herder (vgl. Bd. III) als über Winckelmann-Goethe. U n d doch behält die christlichhimmlische Heiterkeit etwas v o m klaren Glanz oder doch A b glanz der heidnisch-holden Heiterkeit des griechischen Himmels, an den einst Winckelmann so gern geglaubt hatte. D a s bedeutet

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nicht, daß nun etwa Stifter sogleich an Hölderlin herangerückt werden soll. Dazu war zuviel Jean Paul in ihm wirksam. Aber es deutet an, daß sich in seiner Dichtung so etwas ereignete wie eine gute und schöne Begegnung der Weite des Wunders (Romantik) mit der Würde des Menschlichen (Klassik). Der ethische Ruf schließt den ästhetischen Reiz keineswegs aus. Eben deshalb kann und soll auch und gerade „das Göttliche im Gewände des Reizes" in Erscheinung treten und zur künstlerischen Anschauung werden, wie auf der Vorstufe und im Tempel-Vorraum das Sittliche durch den Reiz der Kunst, des Edlen der inneren Schau und des Schönen der äußeren Anschauung teilhaftig werden kann. Überall in Gottes Natur spiegelt sich für Stifter die Natur Gottes. Ja, er vermag gar nicht ein Stück Natur zu sehen, ohne das Walten des Göttlichen einzusehen. Mitten in einer fast schon impressionistisch geschilderten Natur leuchtet das linde Licht der Gottheit mit sanften Strahlen auf, nicht mit aufdringlichen Strahlen, aber mit tief eindringender Strahlung, gleichsam als das „sanfte Gesetz", das er so gern verkündet hat. Eine der entwicklungsgeschichtlich bedeutendsten Leistungen des Maler-Dichters Stifter liegt in einem erstaunlich weit reichenden V o r w e g n e h m e n des I m p r e s s i o n i s m u s . Mag er dabei gelegentlich ein wenig pädagogisch-pedantisch verfahren: man möchte das Lessingwort sinngemäß und situationsgemäß übertragen, daß diese naturschildernde Pedanterie „fast Empfehlung" sei. Und so verstanden bleibt der Stifter der „Studien" (1844!), der „Bunten Steine" (1853) und des „Nachsommer" (1857) künstlerisch bedeutender als der späte Stifter des ideelich gewiß reicheren „Witiko" (1864—67), der freilich eine neue Stilstufe anzukündigen scheint. Und es ist noch sehr die Frage, ob man die Gesamtbedeutung Stifters als Künstler dadurch wirklich überzeugend emporhebt, daß man den „Witiko" mit dem geheimnisvollen Schimmer eines schier mystischen oder gar faustischen Tiefsinns umgibt. Nicht nur blinder, auch sehender Eifer kann schaden. Und warum muß man durchaus das auseinandersetzen und damit auseinanderbrechen, was bei Adalbert Stifter eine ebenso bescheiden hingenommene wie beschenkend reiche Einheit darstellt ? Es liegt und lebt in Stifters Werk vieles von dem irdischen Vergnügen in Gott des „Aufklärers" Joh. Heinrich Brockes' und ebensoviel von dem Beschaulich-Besinnlichen Hermann Hesses. Er ist ganz und gar nicht so eng konfessionell, wie es manche meinen. Die „innige Hingebung" an seinen Gott verträgt sich recht gut mit seiner Hingabe an das Schlichte und in seinem Sinne eben deshalb Schöne. Genau so, wie ihm Realist und Idealist keine unversöhnlichen Gegensätze waren, sind ihm der natur-

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fromme und der gottesfromme Mensch und Künstler niemals streng getrennte Gegensätze. Etwa zur Zeit seines „Nachsommers" (1857) und kurz vor seinem „Witiko" (1864 f.) bemühte man sich im Münchener Dichterkreis um eine Synthese des klassischen und romantischen Kunstgeistes unter Bevorzugung des klassischen Kunstgebildes. Was dort nicht gelingen wollte trotz zum Teil recht forcierter Anstrengungen (und Überanstrengungen), hat Stifter gleichsam im Vorbeigehen mitgenommen, obwohl oder gerade weil er sich vor einer biedermeierlich getönten Nachromantik keineswegs so emsigängstlich verschlossen hat wie die Münchener um Geibel und Heyse. Man tut nicht gut, seiner schönen Bescheidenheit mit aller Gewalt eine großgeistige oder tiefsinnige Bedeutung abzupressen. Ein echter Dichter ist viel seltener und kostbarer als ein tiefsinniger Denker und Deuter. Das gilt von Mörike so gut wie von Stifter. Das Ansprechen des Gemüts, das dort Geibel trotz der klassischen Glätte sich zutraute, ist Stifter von vornherein gegeben und also ganz vertraut. Und es bedurfte bei ihm keiner Idugen Zugeständnisse an den Realismus, weil für ihn und sein Kunstwollen das Ideale und Reale, das Göttliche und Natürliche der Kreatur und das Kreatürliche zwanglos ineinanderflossen, ohne einer künstlichen Regulierung des Gefälles zu bedürfen. Jeder Natureindruck ist in seiner Gegenständlichkeit zugleich Ausdruck der Gegenwärtigkeit Gottes. Ihn stört nicht die Definition Ludwig Feuerbachs, derzufolge auch der Pantheismus nur eine schämig verhüllte Sproßform der Theologie sei. Das Autonome oder Theonome der Kunst sind für ihn keine feindlichen Kontraste. Sein Kunstwollen war immer auch ein Glaubenwollen, und sein Kunstschaffen immer auch ein Bezogensein auf die göttliche Schöpfung. Das trennt ihn von Hebbel so gut wie von Heyse. Nun erhebt sich indessen die Frage nach dem geistigen Raum, in dem sich Stifter angesiedelt hat und heimisch fühlt. Es ist in Wirklichkeit ein letzten Endes geistlicher Raum. Es handelt sich um künstlerisch sehr ernst zu nehmende Erbauungsliteratur. Und zwar allenthalben. Die Natur ist Gott unterstellt („Nachsommer" und „Studien"), aber ebenso ist die Historie Gott unterworfen und von Gott im Weltenplan entworfen („Witiko"). Die Begleitbriefe Stifters zum künstlerischen Schaffen an seinen Verleger sollten es dem sagen, der es an der Aussage der Kunstwerke allein nicht abzulesen vermag. Stifters Kunstwollen ist schlechthin unablösbar von seinem religiösen Wollen. Die Würde der Kunst bleibt immer und überall angewiesen auf die Weihe der Religion. Schon die Gabe des Dichtertums faßt (und definiert)

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Stifter im engeren Sinne als eine Gabe Gottes. Er fühlt sich in seinem Schaffen ausschließlich als ausführender Erfüller eines göttlichen Auftrags. Insofern fühlt und gibt sich seine Kunst durchweg und durchaus als religiöse Auftragskunst. Im Gegensatz aber zu Klopstock bedarf er nicht der rauschhaften Steigerung in eine Höhenlage des Erhabenen. Er versteht und verkörpert aber auch nicht das „umgekehrt Erhabene" im Sinne und in der Sicht des religiös untermalten Humors eines Jean Paul. Vielmehr reizt es sein letztlich impressionistisches Kunstvermögen, die Göttlichkeit selbst noch in jeder „Kleinigkeit" zu spiegeln. Dieses an sich zielstrebige Kunstwollen war in seiner Art dialektisch. Aber nicht im philosophischen oder gar politischen Betracht, sondern in Form einer besinnlichen religiösen Betrachtung, die aus der Spannung der Großartigkeit des durch Natur und Geschichte greifenden göttlichen Waltens mit der Eingeschränktheit des menschüchen Verhaltens eine der Idylle zugekehrte Entspannung zu gewinnen trachtet. Der Festvortrag (Münchener Univ.-Rede 1950) von H. Kunisch über „Mensch u. Wirklichkeit bei A. Stifter" hebt hervor, daß Stifter gerade an „Stellen äußerster Wichtigkeit" Wendungen bevorzuge von „fast theologischer Prägung." Sowohl die Kritik Friedrich Hebbels wie die Kritik Julian Schmidts („Grenzboten"Jg. 1858) am „Nachsommer" sahen an diesem Kunstgefühl und Lebensgefühl vorbei. Hebbel verkannte, daß für Stifter das Kleine wirklich das Große in sich Schloß. Und Julian Schmidt verkannte, daß der Impressionismus (etwa der Schilderung des Weges ins Theater) formungstechnisch nicht nach rückwärts, sondern nach vorwärts wies. Es handelte sich nicht um ein unzulängliches Kunstvermögen, sondern um ein andersartiges, dem Verstehen beider Kunstrichter unzugängliches Kunstwollen. Hebbel hatte, als er „Die alten Naturdichter und die neuen" (Brockes, Geßner, Stifter u. a.) so summarisch als Persönlichkeiten der Kleinlichkeiten in jenem Epigramm (1852) abfertigte, immerhin in die Peinlichkeiten auch den Nebenwert des Peinlichen im Sinne des Gediegenen (peinlich-genau) hineingenommen: „Aber das mußte so sein; damit ihr das Kleine vortrefflich / Liefertet, hat die Natur klug euch das Große entrückt". Eben das, was Hebbel, wenngleich mit bitterer Ironie, immerhin gelten ließ: die Meisterschaft im „Kleinen", machte J. Schmidt zum Ziel seines kritischen Angriffs. Beide Kritiker zielten also nicht nur an Stifter, sondern auch aneinander vorbei. Und nur scheinbar gingen sie in geschlossener Front gegen die vermeintlich schwachen Stellen des Gegners vor. Es ist aber eine Frage des Geschmacks (oder Ungeschmacks), ob man nun (wie J. Müller) ein leidiges Lamento erhebt, daß Hebbel und Stifter nicht wie die Weimarer „Dioskuren" Goethe-Schiller

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zueinander gefunden haben, obwohl sie zeitlich und örtlich in Wien und dann in bzw. bei Linz recht nahe beieinander lebten. Stifter unternahm einmal einen ernsthaften Anlauf, über das nur Schulmeisterliche des Privatlehrertums — er unterrichtete u. a. bekanntlich mehrere Jahre den Sprößling des Fürsten Metternich — hinauszugelangen und so etwas wie freie Hochschulvorträge über Fragen der Ästhetik in Wien zu halten, noch bevor er dann Schulrat (für Volksschulen) wurde. Dem „Gesuch um Bewilligung öffentlicher Vorträge über Ästhetik" (1847) legte er einen Plan bei, wie es damals (kurz vor 1848) in Österreich erforderlich war. Dieser Entwurf ist kunsttheoretisch aufschlußreich. Aber ideenreich, reich an Leitideen kann man ihn kaum nennen. Vielmehr ging es eindeutig und ein wenig einsträngig-anstrengend ausschließlich um eine Hauptthese, nämlich um das V e r h ä l t n i s v o n Ä s t h e t i k u n d E t h i k , wobei hinter der Ethik als letzte und höchste Sicherung die Religion stand, die Stifter allenthalben mittelbar oder unmittelbar gegenwärtig ist. Spezifisch als Stifterscher Zug kann es aber angesehen werden, wenn das Edle auf das Einfache, das Schöne auf das Schlichte zurückgeführt wurde. Ziel der geplanten (dann jedoch nicht zustandegekommenen) Vorträge sollte es sein, „das schlichte Sittliche als letzte Grundlage jedes Schönen festzustellen" und es an großen Beispielen aus der Kunst- und Literaturgeschichte nachzuweisen. Das wäre wahrscheinlich ein ethisch-religiöses Gegenstück und Gegensatz-Stück zu dem geworden, was genau ein Jahrhundert später (1947) der Dramatiker Friedrich Wolf unternahm, wenn er „Zeitprobleme des Theaters" verfolgte mit dem Ziel, in einem knappen dramengeschichtlichen Überblick nachzuweisen, daß alles Wertvolle politische Tendenz gehabt habe (von der Antike bis zu seiner Gegenwart). Stifter dagegen war der Überzeugung, daß es nach Biedermeierart tunlich sei, die Freiheit ganz nach innen zu verlegen, besonders in Form der Leidenschafts-Befreitheit, um kein äußeres Unheil anzurichten. Den Weg zur inneren Freiheit weist für den Pädagogen die „Bildung" (briefl., März 1849). Ein Jahr später wird er Volksschul-Inspektor, 1854 Schulrat. Damit dürfte jenes restaurationsgerechte „Bildungs"-Prinzip (kurz nach 1848 aufgestellt) eher und enger zusammenhängen als mit den Ideen des „Bildenden" und „Bedeutenden" im Kunstwollen des klassischen Goethe. Das wirklich Bedeutende war für Stifter gerade das scheinbar Unbedeutende. Das Gesetz, nach dem der Mensch angetreten (Goethes u. vollends das „eherne Gesetz" G.Büchners), war für ihn das „sanfte Gesetz", nach dem der Mensch gütig von Gott geleitet wurde. Nachklassik als (und i m ) „Nachsommer" ? — In gewissem Grade ist diese Frage zu bejahen, aber eben: nachsommerliche Nach-

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klassik. Wenn im Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik der späte Stifter zu dem Wunschbild eines zukünftigen Ideal-Dichters gelangte, der das Objektive Goethes mit dem „Idealflug" Schillers in sich vereinen würde und müßte, so meint er in stolzer Bescheidenheit: „Bin ich auch tief unter diesem Manne (der Zukunft), ein Vorläufer war ich doch". Was ihm dabei vorschwebte, war letztlich — rein kunsttheoretisch gesehen — ungefähr dasselbe wie jene höhere Synthese, die Schiller in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung" über beiden Grundtypen dichterischer Haltung und Gestaltung ebenfalls noch als Ideal aufleuchten Heß, ohne (leider!) diesem höheren Dritten eine besondere Benennung mit auf den Weg zu geben. (Sonst könnte man sich leichter verständlich machen.) Aber was nun Adalbert Stifter anlangt, so gerät bei ihm das Romantisch-Sentimentalische leicht ein wenig in das Religiös-Sentimentale und das Naive (Naivische) der Klassik etwas ins Naive eines Erziehungsoptimismus fast Gellertscher Prägung. Vor allem aber erweisen sich Herder (als Dichter) und Jean Paul mit ihrem nachwirkenden Einfluß viel zu stark, als daß A. Stifter im Kunstschaffen jenes Ideal des klassischen Kunstwollens voll erreichen könnte, ganz abgesehen von den Grenzen seiner Begabung. Den Vorschlag (Lamprecht-R. Hamann), Impressionismus mit „Reizsamkeit" zu übersetzen, wird der Kenner vorklingen hören in Stifters Leib- und Lieblingsformel vom „Göttlichen in dem Kleide des Reizes", die er von dritter Seite (Pater Placidus Hall in Kremsmünster) übernommen hatte. Es ging nämlich nicht nur um die Ineinsbildung des Guten, Wahren und Schönen, das den gläubigen Katholiken Adalbert Stifter oft bedenklich nahe heranrückt an die Ästhetik der Aufklärungszeit — die Extreme berühren sich auch hier, — sondern es ging zugleich und nicht zuletzt um jenen nervösen Reizzustand, der am Lebensende (ungeduldig mehr als unchristlich) zum erlösenden Rasiermesser griff und so — trotz aller klüglichen Kaschierungen — eben doch der Vorsehung um einige Stunden (36 Stunden hat man rechtfertigend errechnet) Vorgriff. Ob nun Stifter eine exogene Depression für eine endogene Depression gehalten hat, wie er denn schon vorher in einem zeitweise unterdrückten Brief-Geständnis den Zugriff des Wahnsinns gefürchtet hatte, dieser Freitod will so gar nicht übereinstimmen mit der Abwehr von Lessings „Philotas"-Einakter oder Goethes „Werther" wegen der Verklärung des Freitodes und dem Eifern gegen den Selbstmord in dem moralpädagogischen Aufsatz mit theologischem Tenor „Rechte über den Körper" (1850). Etwa ein Jahrzehnt später steht Stifter tröstlich deutend vor dem Selbstmord seiner achtzehnjährigen Pflegetochter Juliane (1859). Etwa ein weiteres 28

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Jahrzehnt später (1868) vollführt er an sich selber den Selbstmord oder bestenfalls die affektbetonte „Selbsttötung" (Lesart Julius Kuhns) bzw. den Versuch dazu. Er selber war in diesen Dingen streng; das lädt nicht dazu ein, allzu milde zu sein. Es äußert sich auch darin ein mehr labiler als stabiler Charakter ebenso wie in seinem nicht abgeschlossenen Studium oder der Arbeitsscheu, als historische Studien zum „Witiko" erforderlich werden, ebenso wie in seinen Liebeswirren. Was aber nun künstlerisch wesentlicher erscheint: es äußert sich darin eben dieselbe Reizsamkeit, die in der Dichtkunst aus der Schwäche eine Stärke zu machen verstand. Dieselbe Reizempfindlichkeit, die dem Menschen zum Fluch wurde (NichtMehr-Ertragenkönnen der Schmerzen des angeblichen Leberkrebses bzw. der offenbar echteren Wahnsinns-Angst), wurde dem Epiker zum Segen. Weil er auf den kleinsten Reiz reagierte, bedurfte er nicht des großen Rausches (Klopstock) und nicht der berauschenden Größe (Grabbe, Hebbel). Auch Witiko ist nicht heldische Zentralgestalt und soll es nach Stifters ausdrücklich geäußerter Darstellungsabsicht auch gar nicht sein. Der Stifter des „Witiko" will den breiten Lebensstrom entfalten, um den Widerschein des Göttlichen als der lenkenden Richtungskraft wiederum in die Breite auszufächern. Die poetische Heilsgeschichte braucht keine Geschichtshelden. Die könnten nur stören. Sie durften nicht zum Ausrufezeichen menschlicher Größe werden, sondern letztlich auch wieder nur „ D a s K o m m a im F r a c k " bleiben, als das Friedrich Hebbel (1858) die seiner Meinung nach feierlich aufgemachte Kleinigkeitskrämerei des „Nachsommers" karikierte. Um 1848 herum schien Stifter so etwas fällig (und beim Pubükum gefallend) zu sein wie ein historisch-politischer Roman. Das geht bis zur Berechnung der Wirkung recht nüchtern hervor aus seinen Verleger-Briefen (an Heckenast). Aber dann wird alles wieder vom historisch Aufbauenden ins religiös Erbauliche umgebogen, um den Anspruch menschlicher Größe zu vermeiden. Und es gehört mehr als Mut dazu, zum mindesten der berühmtberüchtigte Mut zum Irren, wenn man schulmeisterlich den Entscheid trifft, Stifters „Witiko" sei in „unserm Schrifttum (!)" der „erste literarisch bedeutende geschichtliche Roman" (J. Müller). Um den Stifter der Religion zu retten, überrennt man den religiösen Stifter, die einen, weil er Selbstmord begangen hat (was die anderen leugnen oder mildern), die anderen, weil er eine Art von religiösem Revisionismus getrieben hat, die dritten, weil auch seine Geschichte nur verhüllte biblische Geschichte war usw. Aber soviel wird in allem Wirrwarr der Deutung und Mißdeutung beklemmend sichtbar, daß man nicht ruhen und rasten wird,

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bis man den liebenswürdigen und liebenswerten Kleinmaler von erstaunlich hoher impressionistischer Begabung und Bewährung zu einem grandiosen Freskenmaler umgebogen hat im gewiß achtenswerten Glauben, damit dem wahren Glauben zu dienen. E s bleibt aber im Bereich der Poesie als der „geistigen K u n s t " (Herder) schwierig, eine kleine Geistigkeit durch eine große Gläubigkeit auszugleichen. Seiner Kunst hat das nicht geschadet, denn sie ruht sicher in der Mitte zwischen Gemüt und Glauben. Aber sie steht der Gestaltung nach auch in der Mitte zwischen Malerei und Poesie, wie sie der Haltung nach in der wohl ausgewogenen, gehegten und hegenden Mitte steht zwischen poetischer Klarheit und göttlicher Wahrheit. Sie ist also subjektiv durchaus ehrlich und daher auch objektiv durchaus echt, wenn auch bewußt verklärend und erbauend. Heinrich Heine (S. 160—175). — Zunächst erscheint das Kunstwollen H. Heines ganz vom lyrischen Ausdruckswillen bestimmt zu sein. Und fraglos überwiegt auch in der Kunstleistung, im Kunstschaffen die Lyrik. Das „ B u c h der Lieder" (1827), dessen Vorstufe die „Gedichte" (1822) darstellen, und der „Romanzero" (1851) haben Heines Geltung in der deutschen Literatur, ja der Weltliteratur gesichert. Auch in der Weltliteratur, in der Heine neben Goethe oder Ε. T. A . Hoffmann wirksamer wurde als etwa Kleist oder — um Lyriker gleichen Ranges zu nennen — Eduard Mörike und Theodor Storm. Die zudem nicht rein dichterische „Novellistik" der „Reisebilder", so erfolgreich sie waren, tritt demgegenüber unverkennbar zurück. In ihnen erkannte man bereits den Publizisten, den man auch schon in den „Zeitgedichten" innerhalb der Lyrik hätte erkennen können. Denn auch im Gesamt der Lyrik verleugnet sich nicht der Anteil des Publizisten. D a ß Heine als Dramatiker nicht ernstlich in Betracht kam, beweisen nicht nur „Almansor" und „William Ratcliff", sondern auch das Abschwenken in die Pantomime des Tanzpoems „Dr. Faust". Und selbst dort mischte sich Politisch-Propagandistisches ein, besonders im „Almansor". Das damit schon angedeutete B ü n d n i s v o n D i c h t e r t u m u n d P u b l i z i s t i k ist selten so fruchtbar gewesen wie bei H. Heine, und zwar nach der dichterischen Seite hin. Bei Chr. D . Schubart, um in die Geniezeit zurückzugreifen, möchte man sagen, daß der Dichter den Publizisten (der „Schwäbischen Chronik") bereichert hat. Bei Heine war das natürlich auch der Fall. Aber darüber hinaus hat bei ihm der Publizist dem Dichter wenn nicht sein Gepräge verliehen, so doch merklich das Gepräge verstärkt. Die Brücke schlägt jene geistige und geistreiche Bewußtheit, die zwar auch 28*

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ein Thomas Mann oder Gottfried Benn für den modernen Dichtertypus nicht missen möchten, die aber dem echten Dichtertum eher abträglich als zuträglich zu sein pflegt, wenn sie allzu herrschend und vorherrschend wird. Nicht nur der Einbruch des Assoziativen in das spontan Produktive etwa in Form der berühmt-berüchtigten kalten Duschen am Gedichtschluß zeugt davon. Auch das immer wieder und immer mehr Hingelenktwerden vom rein Dichterischen auf ein überwiegend Publizistisches weist in diese Richtung eines Dichtertums, das den Trieb zum Schriftstellertum auf die Dauer nicht zu überwinden vermochte. Und es ist, um nur einen Einschlag theoretischer Art herauszugreifen, gewiß kein Zufall, wenn Heinrich Heine in seinem publizistischen Groß-Essay über „Die romantische Schule" (1833—36) gegen Fr. Schlegels kritische Umschreibung des Historikers als eines „umgekehrten Propheten", dieses Witzwort auf Fr. Schlegel selber anwendend, ebenso polemisiert wie späterhin Arno Holz, dem Jüngsten Deutschland verbunden wie Heine zeitweise dem Jungen Deutschland, den Dichter davor warnt, ein „rückwärts schauender Prophet" zu bleiben. Heines Kunstschaffen vor allem als Lyriker hat sich durchgesetzt dank dem überzeitlich Allgemein-Menschlichen. Aber es hatte sich in seinem schriftstellerischen Wirkungswollen, das nicht immer und überall ein ungetrübtes Kunstwollen war, die Meinung recht zählebig festgesetzt, daß das betont „Moderne" und Gegenwartsnahe auch das Zukünftige sein und daß im Zukunftverheißenden auch das Zukunftträchtige liegen, leben und weiterleben müsse. Am geistigen Leben aber möchte Heine gern bleiben und auch am künstlerischen Leben. Ihn hemmt zugleich als Dichter und Politiker die skeptische Einsicht, daß „in der Literatur wie in den Wäldern der nordamerikanischen Wilden . . . die Väter von den Söhnen totgeschlagen" werden, „sobald sie alt und schwach geworden" (Romantische Schule). Und ebenso hemmt ihn als an sich sehr fortschrittsfreudigen Politiker die beklommen-beklemmende Vorstellung, daß in sehr zukünftigen politischen Verhältnissen womöglich und wahrscheinlich aus den Blättern seines „Buches der Lieder" wirtschaftlich höchst nutzbare Tüten gedreht werden könnten („Lutetia"). Mit kargen Worten: Heine hat selber das Gefühl, daß die Politik der Poesie schaden könne, nicht nur die Politik des Tages, sondern auch die Politik der Zukunft, einer vorausgesehenen und vorausgesagten Zukunft, jener zugleich erhofften und befürchteten Zukunft. Aber er befindet sich nicht im vollen Besitz des Gefühls, daß auf die Dauer sein künstlerisches Wollen und sein dichterisches Vermögen sich als stärker erweisen werden als sein politisches

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Wollen, daß sein künstlerisches Können stärker und lebenskräftiger sich beweisen und bewähren wird als seine politische Ansicht und Einsicht, die weder an dem zeitsatirischen Epos „Atta Troll" noch an dem anderen konsequenteren „Deutschland, ein Wintermärchen" sein Genüge finden konnte. Kurz, Heine ist aus dem Zwiespalt von Vergangenheit (Romantik) und Zukunft (Realismus) eigentlich niemals herausgekommen. Und seine Gegenwart und lyrische „Gegenwärtigkeit" war nichts als eine weltanschaulich wunde, wenn auch lyrisch wundervolle Schnittstelle, die er vergeblich zu heilen und zu heiligen versucht hat. Er selber erlebte voll bewußt das Leiden, das unvermeidlich sich einstellt, wenn ein begnadeter Lyriker zugleich ein genialer Essayist ist (G. Benn freilich hält dieses Nebeneinander für förderlich), wenn der Dichter den Publizisten weder verleugnen kann noch will. Für Heine war das poetische Wollen besonders eng, auch gefühlsmäßig innig und untrennbar mit dem politischen Wollen verbunden. Und insofern wird er geradewegs ein Paradigma, ein Muster- und Meisterstück der Synthese von Poesie und Politik, von Dichtertum und Schriftstellertum, von Poesie und Publizistik. Die zunächst (aber immer wieder) romantisierende Lyrik ζ. T. volksliedhaften Gepräges und doch zugleich kunstbewußten Gepränges und Prangens selbst noch mit dem Schlichten und Echten, Sanggerechten und Mundgerechten scheint diesem Befund zunächst einmal unüberhörbar zu widersprechen. Da ist das GrausigGroteske der frühen „Traumbilder", die zudem unter nachweisbarem biographischem Einfluß (Josepha) eine typisch jugendliche Vorform darbieten. Da sind die Fresko-Sonette, die als Formstudien unter A. W. Schlegels dankbar anerkannter Leitung wiederum biographisch bedingt und bezogen sind (Chr. Sethe). Da sind die „Jungen Leiden", nun schon im Rahmen des „Buches der Lieder", die vieles von jener Frühproduktion aufnehmen und hinter denen, wiederum biographisch begründet, die verschmähte Liebe zu Amalie Heine steht, bevor Therese Heine in ihre Stelle, ob nun mehr erlebnismäßig oder phantasiemäßig, nachrückt. Da ist — im einzelnen — schon eine Vorform zu dem berühmten Loreley-Lied (Gruppe: Heimkehr) in jenem Gedicht, das beginnt „Berg' und Burgen schaun herunter / In den spiegelhellen Rhein" (Gruppe: Junge Leiden). Da sind Vorformen balladesker Lyrik („Der arme Peter", „Der wunde Ritter" u. a.), da ist ζ. B. „Die Weihe", bevor die Balladen (ζ. B. mit der „Wallfahrt nach Kevlaar") voll einsetzen. Da wird Vorbildpoetik deutlich spürbar, ob es sich nun um A. W. Schlegel einerseits oder Lord Byron andererseits handeln mag, bis zugestandenermaßen Wilh. Müller mit seinen volksliedhaften Klängen die Leitmelodie übernimmt.

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Kurz, von vornherein siedelt sich die Kunstlyrik zwischen Volkslied und Volksballade einerseits an, während die Mischung des Grausigen und Grotesken andererseits von Byron mitbestimmt wird. Aber nicht umsonst meldet der Theoretiker und Kritiker in Heine das Bedenken an, das die „Romantische Schule" gegen die volksliedwilligen Romantiker geltend macht, ob denn ein künstlich, wenn auch kunstvoll gebrautes und zusammengesetztes Mineralwasser wirklich und wirksam die „unersetzbare sympathetische Naturkraft" aufwiegen könne. Er sieht diese Gefahr freilich mehr bei den anderen als bei sich selber; und der Erfolg hat ihm darin recht gegeben. Kunstlyrik und „Naturlyrik" wirken bei ihm wie aus einem Guß, und nicht als bloßer Aufguß mit entsprechender Verdünnung der ursprünglichen Substanz. Wie vieles dabei auch immer „gewollt" war; es war zugleich künstlerisch „gekonnt". Eigentlich hatte neben W. Müllers etwas billiger Methode vorher nur Eichendorff das vollbracht. Und mit der Ballade („Die Grenadiere, Belsazar, Die Wallfahrt nach Kevlaar, Die schlesischen Weber, Ritter Olaff, Schlachtfeld bei Hastings, Der Asra" u. a.) hat Heine ebenso überzeugend die Kunstballade aus der Volksballade zu entwickeln vermocht. Vor und neben Annette von Droste-Hülshoff bis hin zu Strachwitz, Fontane, Börnes von Münchhausen und Agnes Miegel hat kaum ein Dichter der Entwicklung der deutschen Ballade so gedient wie H. Heine. Wie für wohl alle Genannten war für ihn die Ballade die Form, der man jenes Dramatische anvertraute, das sich nicht an ein vollwertiges Drama herantraute. Uber die liedhafte Lyrik und die balladeske Lyrik hinaus hat Heine das freirhythmische Gedicht („Nordsee") nach Goethe und Stolberg vorangetrieben in einer Richtung, die über Scheffels Bergpsalmen zu W. Whitman und A. Mombert verläuft, während A. Holz mit dem „Phantasus" mehr im experimentierenden Demonstrieren einer bloßen und blassen Theorie steckenblieb, von Otto zur Lindes (CharonKreis) „phonetischem Rhythmus" vorerst ganz abgesehen. Nach alledem steht das lyrische Kunstwollen und Kunstkönnen Heines zweifellos fest. Es bleibt auch nicht an das jugendliche Lebensalter und seine affektiven Gefühlsimpulse gebunden. Noch in den „Neuen Gedichten" (1844) begegnet Gefühlsausdruckslyrik von reinstem Liedklang und kostbarer Einfalt wie etwa das Frühlingslied „Leise zieht durch mein Gemüt. . . " , das es an lyrischer Dauerkraft ohne weiteres aufnehmen kann mit dem früheren „Du bist wie eine Blume". Hebt man noch die Sonderform des lyrischen Epigramms (auch innerhalb der Gefühlslyrik, nicht nur der streitbaren Zeitlyrik) hervor, so ist der Gesamtbereich seines lyrischen Kunstwollens annähernd umschritten.

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Anders steht es schon mit der Frage nach einer rein dichterischen Prosaepik, ζ. B. mit der Frage, ob Heine die Novellenform vollwertig auszubilden verstanden habe. Der „Rabbi von Bacherach" war ein novellistischer Anlauf zum Roman, ist indessen Fragment geblieben. Die „Harzreise" aber, die „Nordsee", die „Bäder von Lucca", wie überhaupt die „Reisebilder" weisen wohl novellistische Teilbestände auf, bergen aber bereits ebenso starke Einschläge an dichterisch veredelter und stilkünstlerisch hochwertiger Publizistik in sich. Und vollends in Essaysammlungen wie dem „Salon", in den „Französischen Zuständen" oder in literarisch-kulturpolitischen Beiträgen wie den Darlegungen und Apergus „Über Deutschland", die Madame de Stael („De l'Allemagne") fortsetzten, indem sie sich ihrer Meinung vielfach entgegensetzten, den Abhandlungen „Lutetia" und den „Geständnissen" — um hier nur einiges Wesentliche in Erinnerung zu bringen — betätigt und bekennt sich Heine durchweg und durchaus als Publizist. Für das Kunstwollen kommen diese literaturkritisch und sozialkritisch wie weltanschaulich gewiß sehr erheblichen Publikationen nicht ernstlich in Betracht, wenigstens nicht für die werkimmanente Poetik, um die es hier vor allem geht. Ebensowenig war es für das Kunstwollen von entscheidender Bedeutung, daß Heine durch die Vermittlung Arnold Ruges 1843 mit Karl Marx bekannt wurde, um so weniger als der um zwei Jahrzehnte jüngere Wirtschaftstheoretiker, damals in der Mitte der Zwanziger stehend, seine Lehre des wissenschaftlich untergründeten Materialismus noch nicht voll ausgebildet hatte. Jedenfalls ist das für den Verfasser des „Wintermärchens" nur von mittelbarer Bedeutung; von unmittelbarer Nachwirkung für Publikationen wie „Lutetia" und die „Geständnisse", aber ohne nachhaltige Einwirkung auf die werkimmanente Poetik als solche. Ein Gleiches gilt auch von der an sich bemerkenswerten Berücksichtigung von Hegel, Lamennais, Pierre Leroux, Victor Cousin u. a. m. in den genannten Schriften. Für die formulierte Poetik beachtenswert wäre etwa noch die Einzelheit, daß Heine bei der Interpretation der Novellistik L. Tiecks innerhalb der „Romantischen Schule" unter Rückverweis auf Goethe, die Schlegel und Cervantes von einem „ironischen Humor" oder auch einer „humoristischen Ironie", noch nicht aber von einer romantischen Ironie spricht. Für die werkimmanente Poetik aber bleibt das irrelevant, weil der Heinesche „Witz" nicht so unbesehen mit der romantischen Ironie gleichzusetzen ist. Jedenfalls ergibt sich für das Problem Novellistik der Gesamteindruck, daß Heiries Kunstwollen wohl zum Novellistischen tendiert, sein Kunstkönnen aber nicht über die Konzentration ver-

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fügt, die für die Novelle unentbehrlich ist. Seine außerordentliche Assoziationsfähigkeit und rastlos bewegte geistige Sprunghaftigkeit wie auch seine sprachlich präzis pointierende Schlagfertigkeit schufen indessen eine künstlerisch wertvolle Zwischenform, die als Sproßform der Novelle zugleich eine Auffangsstellung für publizistische Anliegen darbot: eben das „Reisebild". Genauer betrachtet handelt es sich dabei freilich um keine absolute Neubildung, sondern um eine Weiterbildung von Anregungen, wie sie u. a. von den „Reiseschatten des Schattenspielers L u x " (Justinus Kerner) ausgingen. Wenn es eine der Aufgaben der Kunst ist, im gestalteten Werk eine erlebte Wirklichkeit zu einem wirklichen Erlebnis emporzuheben, so waren allerdings auch die „Reisebilder" vollwertige Kunstwerke. Aber als ausgesprochene Novellen wird man sie nicht gut gelten lassen wollen und auch, von der Poetik her gesehen, nicht gut gelten lassen können. Und es dürfte einleuchten, daß Heine nicht in dem Maße wie etwa Th. Storm zugleich Lyriker und Novellist war, sondern als Dichter weit überwiegend Lyriker geblieben ist. E r hat in seiner Frühzeit freimütig zugestanden, daß er gerade auch formungstechnisch und metrisch vieles dem Vorbild Wilhelm Müllers zu danken habe, „daß mein Intermezzo-Metrum (2. Gruppe des ,Buches der Lieder') nicht bloß zufällige Ähnlichkeit mit Ihrem gewöhnlichen Metrum hat, sondern daß es wahrscheinlich seinen geheimsten Tonfall Ihren Liedern verdankt". Aber die Wahl gerade dieser Vorbildpoetik zu jener Zeit birgt bereits ein Stück schöpferischen Vorziehens in sich, das den „reinen Klang und die wahre Einfachheit" zu schätzen weiß und von sich aus schon vor dem Bekanntwerden mit den MüllerLiedern erstrebt und ersehnt hatte („wonach ich immer strebte"). Sein latentes und noch ungeklärtes Kunstwollen findet nun eine klärende Hilfe. Aber es ist zwischen den Zeilen dieses Privatbriefes (7. Juni 1826), der doch W . Müller merklich schmeicheln möchte, mühelos abzulesen, daß er nicht alles einfach hinnimmt und gutheißt. Denn wo es um die Frage des künstlerischen Umbildens der Volksliedtradition geht, da will er nicht nur vom Volkslied, sondern auch (im Brief natürlich unterdrückt bzw. nur verhüllt ausgedrückt) von dem so gefeierten und bedankten Vorbild ganz bewußt und kunstbewußt abweichen. Sein Kunstwollen will sich angleichen, aber ohne „die alten Sprachholprigkeiten und Unbeholfenheiten nachzuahmen". Zum mindesten die Romantiker hatten nicht zuletzt diese Schönheitsfehler als betonte Merkmale des historisch Echten möglichst mit übernommen. Heine aber will Kunstlyrik schaffen, nicht nur Volkslyrik nachschaffen. Es handelt sich um ein künstlerisches

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Wollen und Verfahren, nicht vorab um ein historisches Wollen und Verstehen. Heine lebt viel zu bewußt in seiner Gegenwart, um nur ein Vergangenes wieder h o l e n und w i e d e r holen zu wollen. Und nicht nur die vermeintlich unentbehrlichen Attribute einer rührenden Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit des Volksliedes wurden über Bord geworfen, um den Ballast des Schemas loszuwerden. Die Angleichung an Byron, durch Übersetzungen des jüngeren Heine belegt, hinderte das eigene Kunstwollen nicht, sich schrittweise freizukämpfen. Und es war letztlich wiederum der Lyriker in Heine, ganz abgesehen von dem sich übersetzend erziehenden Wortkünstler, der u. a. eine Szene aus dem stark lyrisch getönten faustischen „Manfred"-Drama Byrons bevorzugte. Das war grundsätzlich etwas wesentlich Anderes, als wenn Georg Büchner etwa spätere Dramen Victor Hugos übertragen hat. Es ist nicht nur die Liebe zum Lied, sondern auch das Sichangewiesenfühlen auf die lyrische Kurzform, die das schöpferische (und motivliche) Vorziehen derartig dichter (und daher „dichterischer") Gebilde wie das Lied oder das lyrische Epigramm bewirkt. Heines Begabung und Ausdruckskraft ist vorzüglich auf die k u r z f r i s t i g e K o n z e n t r a t i o n angelegt und angewiesen. Zur langfristigen Konzentration eines Romans will es nicht recht ausreichen (Fragment: „Der Rabbi von Bacherach", 1840). Es ist in der Lyrik die Größen-Grenze von Ballade und freirhythmischer Hymne, an die Heine gebunden bleibt, solange er ohne politische Hilfskonzeptionen, die in den satirischen Versepen „Atta Troll" und „Deutschland, ein Wintermärchen" (das er übrigens selber als „versifizierte Reisebilder" bezeichnet hat) aushelfen müssen, ein reines, in sich geschlossenes Kunstgebilde gültig gestalten, durchgestalten und hochwertig durchhalten will. Zum Roman, zum „reinen" Epos, ja schon zur strengen Novelle fehlt diesem ewig bewegten Geist nicht allein die Geduld des pflegsamen Durchführens; es fehlt ihm ganz einfach die innere Konzentrationsfähigkeit, die langstreckige Konzentration. Zwar die Schwellenhemmung pflegt er leicht zu überwinden dank einer ominösen (bis grandiosen) Sprunghaftigkeit. Aber das stetige Wandern auf weiter Strecke ist nicht seine Sache und nicht sein Amt. Er braucht eben wegen seiner inneren Unrast erholsame Raststellen, Ablenkungen, Unterbrechungen, Abwege — auch und nicht zuletzt in den „Reisebildern". Denn der anstehende und naheliegende Einwand, daß er doch in den „Reisebildern" recht gut durchgehalten habe, hebt sich weitgehend auf durch den kompositioneilen Sondertypus und die darstellerische Eigenart, Eigenwilligkeit und Eigenwegigkeit dieser willkürreichen Wanderungen voller ständiger Seitenblicke und Seitensprünge.

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Und gattungstypologisch ist es auch diese kurzfristige — höchstens mittelstreckige — Konzentrationsfähigkeit, welche die dramatische Ballade stellvertretend einspringen läßt für die ausgebaute Groß-Gattung des Dramas. Man hat einmal — etwas despektierlich — gesagt, daß die dramatische Begabung der Frau nur bis zur Ballade und Romanze reiche und daß sie am besten ihre „Dramen" in Balladenform schreibe (Annette von DrosteHülshoff, Agnes Miegel, Lulu von Strauß und Torney). Und wenn man es nicht gesagt hat, so hat man es doch heimlich-unheimlich zu denken gewagt. Wenn das zuträfe, würde es einen gewissen femininen Zug in Heine anzeigen oder bestätigen. Zum Teil aber braucht Heine bereits für die Balladenlänge wiederum den Zuschußimpuls eines weltanschaulichen Interessiertseins, ob es sich nun um die historisch-politische Ballade („Die Grenadiere"), die religiös einfühlsame Ballade („Die Wallfahrt nach Kevlaar") oder die ausgeprägt soziale Ballade („Die schlesischen Weber") handelt. Das Gegenstück in der Publizistik bietet die Grundform der kurzfristigen Konzentration im Essay im Verhältnis zur weitausladenden Abhandlung. Denn der Einwand, daß Heine doch recht umfassende Darstellungen über „Die romantische Schule" oder „Über Deutschland", darunter auch den ernster gefaßten Beitrag „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" (1834/35) geboten habe, findet seine Widerlegung darin und dadurch, daß im kompositionellen Prinzip wie in den „Reisebildern", wenngleich entsprechend abgewandelt und dem Sachgruppen-Stil der Abhandlungs- und Erörterungsprosa anverwandelt, eine auflockernde Belebung vom Essayhaften aus erfolgt. Die Längen sind dann, näher besehen, addierte und almagamierte Kürzen. Wie die ganze Denk- und Fühlweise Heines ist seine Motivwahl auf Extreme eingestellt und auch stilistisch eingespielt. Die große öffentliche Welt mit ihren bewegenden, erregenden Kräften einerseits und der intime, private Kreis mit seinem geborgenen und verborgenen Lebensgefühl andererseits herrschen vor. Die Mitte wird ausgespart. Der Verlust der Mitte meldet sich schon bei Heine gegen Ende der Kunstperiode an, von dem er selber gesprochen hat. Und die Bekämpfung der satirisch gesehenen Mitte (Bürgertum = Philistertum) und der Mittelmäßigkeit — des mittleren Maßes — entspringt nicht zuletzt und auch aus dem eigenen Mangel an vermittelnder Maßhaltung versöhnend ausgleichender Art. Heine denkt in Antithesen, und er dichtet in Antithesen. Er macht die geistvolle oder gemütvolle Assoziation parnaßfähig und nicht nur salonfähig. Er hat weniger Freude am Ziel als am Sprung nach dem Ziel und am Sprung als solchem. Diese Sprunghaftigkeit

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oder Freizügigkeit erklärt sich nicht (nur) aus einer gewissen Verlegenheit, jeweils zu entscheiden, wo sich denn nun wirklich ein Verweilen lohne. Vielmehr gilt sie ihm geradezu als ein verläßliches und unerläßliches Merkmal des „Genialen" oder doch Genialischen, ganz abgesehen von der Frage des Temperaments. An sich ist das willkürliche Sich-Einstellen oder Sich-Einstimmen und Sich-Umstellen oder Sich-Umstimmen ein kunsttechnisches Ideal der Romantik (vgl. Bd. III). Und es steckt auch insofern in Heine ein gut Stück Romantiker. Aber das Unrastvolle aus tief innerlicher Einsamkeit und situationsgemäß gegebener und aufgezwungener Vereinsamung künstlerisch triebkräftig und lebensfähig, Hebenswürdig und lebenswürdig zu machen, dürfte kaum jemand so verstanden haben wie Heinrich Heine. Freilich kennt er auch den Sprung von der lyrischen Lieblichkeit und essayhaften Liebenswürdigkeit zur kleinen (und größeren) Boshaftigkeit oder doch Bosheit. Aber nicht zum wenigsten hält er es mit den liebenswürdigen Bosheiten, mit den reizenden Rippenstößen rokokohaften Gepräges. Und wenn schon nichts anderes mehr, so hilft wenigstens die hübsche Fassung über den Anstoß des Inhalts hinweg. Hier spielt nun wieder der Hang zu den Extremen wesentlich mit. Er entfernt die Spannungspole so weit voneinander, daß sie nur noch durch einen Weitsprung zu erreichen und zu verbinden sind. Er treibt die Belastungsprobe des Springenkönnens als Springkunst und Kunstsprung bis zur Grenze des Tragbaren und — gelegentlich auch — des Erträglichen. Und seine alles zusammenbringende (oder trennende) Ironie ist oft genug nicht mehr eine romantische Ironie, sondern schon recht „realistisch". Aber er versteht es ausgezeichnet, jenen Weitsprung, der bei jeder Komik und jedem Witz vorliegt, als knappsten Schlußsprung aus dem Stand erscheinen und auch künstlerisch wirken zu lassen. Sein Kunstwollen läuft wie sein Kunstschaffen häufig genug hinaus auf die „Kunst" und das Kunststück, äußerste Gegenpole um jeden Preis zur verbindenden Zündung zu bringen. Was die viel beanstandeten Schluß-Pointen in lyrischen Gedichten betrifft, so wirkt dabei nicht diese Unrast allein mit, wenn Heine so bewußt und wohl auch forciert das Gesetz der Stimmungseinheit, also der lyrischen Konstanz der tragenden Gefühlslage durchbricht. Es greift dabei zugleich jene nervöse Kurzfristigkeit einer nur bedingt durchhaltenden Konzentrationsfähigkeit ein und über, die schon erwähnt wurde. Und endlich sollte man auch das Stück echter Scham und Scheu nicht ganz verkennen, das gleichsam den Vorbehalt der erfolgten Hingabe nachsendet und das zuletzt aus derselben Vereinsamung kam, aus der die Unrast entsprungen war. Vereinzelt handelt es sich nachweisbar um spätere Zusätze, die

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also entstanden, als die ursprünglich echte und einheitliche Gefühlsschicht längst verlassen war und nur noch parodiert werden konnte, wenn anders man vor sich selber ehrlich und wahr bleiben wollte. So erhält ζ. B. das aus Bonner Burschenherrlichkeit erblühte Gedicht „Auf dem Drachenfels" eine verschnupfende Schlußstrophe im Sinne politischer Desillusionierung um Jahre später angehängt: statt Begeisterung hat sich der jugendliche Schwärmer nur noch einen Schnupfen geholt. Das Desillusionieren kannte Heine aber schon sehr frühzeitig, als er bereits irgendwie zwischen Romantik und Realismus umhertappte, so etwa in dem „Gespräch auf der Paderborner Heide", wo der Zwiespalt von romantischer Sicht und realistischer Ansicht und Einsicht zunächst zugunsten des Realisten auszuschlagen scheint, am Schluß aber der Romantiker die Unantastbarkeit seines Gefühlsbesitzes und also die andere „Wirklichkeit", die innere Wirklichkeit gegen die äußere Wirklichkeit auszuspielen vermag: „Nun mein Freund, so magst du lachen / Über des Phantasten Frage / Wirst du auch zur Täuschung machen / Was ich fest im Busen trage?" Das Wunder der Wirklichkeit wird zwar desillusioniert; aber die Wirklichkeit des Wunders in der Menschenbrust weiß sich vor aller Desillusionierung zu bewahren. Worauf es aber in diesem Zusammenhang zugleich und vor allem ankommt: das Umbrechen der Stimmungslage erfolgt ganz zuletzt nicht zugunsten der witzigen Wendung und in Form einer Wendung vom Ernst zum „Scherz", sondern u m g e k e h r t z u g u n s t e n des E r n s t h a f t e n , ja Gefühlstiefen und Gefühlsechten. Es überrascht gleichsam der Ernst am Schluß wie sonst in einschlägigen Fällen der Scherz. Es steht ganz ähnlich mit dem bekannteren Gedicht, das beginnt „Ein Jüngling liebt ein Mädchen. . ." und das endet „Dem bricht das Herz entzwei". Das ironisierend Tändelnde, das aus befreiendem ironischem Abstand und Vorbehalt Abgewehrte, ja fast schon Bagatellisierte gewinnt erneut Macht. Und vor allem, es gewinnt die Kraft des Überzeugenden aus der Echtheit des Schlichten und Alltäglichen heraus. Kurz, es geht nicht an, über den „gefühllosen" Gedicht-Schlüssen Heines den Gegenzug ins Gefühlvolle zu übersehen. Es zeigt sich nämlich, daß jenes vielgescholtene Verfahren nicht einfach ein Sich-Gehenlassen des um jeden Preis „Witzigen" darstellt, sondern einer D a r s t e l l u n g s a b s i c h t seines K u n s t w o l l e n s folgt, dem lyrischen Gedicht die Möglichkeit eines jähen Stimmungsumschwungs auch jenseits des Balladesken abzugewinnen. Freilich bleibt das irgendwie immer ein Wagnis und leicht auch ein virtuoses Experiment. Es läßt sich aber ζ. B. auch bei manchen Gedichten Richard Dehmels nachweisen, daß am Schluß ganz bewußt die Stimmung um-

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gebogen, ja umgebrochen wird, bald vom Hellen ins Dunkle, bald umgekehrt. Es lohnt dabei kurz zu verweilen, weil damit Fragen der systematischen Poetik und der „Soll''-Ästhetik berührt werden. Hat die Konstanz der Stimmungslage im wertvollen lyrischen Gedicht verbindlichen Charakter eines Kunstgesetzes oder sind Abweichungen möglich und in welchem Grade ? Außerdem ist bei der Bewertung der Unterschied zwischen konformer und transformer Gestaltung (ζ. B. Metapher, Ironie) zu berücksichtigen. Und daß Heine stark dem transformen Stil zuneigt, kann keine Frage sein. Immerhin, es bleibt ein Versuch, ein Experiment. Längst vor dem Naturalismus wird bei Heine das Experiment zu einem Ausweis für die Echtheit der Dichtung. Er experimentiert mit Gefühlen und Überzeugungen, mit der Sprache und auch mit der Dichtkunst, die für ihn vorzüglich Sprachkunst bedeutet. Und er experimentiert nicht (oder nicht nur) aus Leichtsinn. E r experimentiert aus Leidenschaft. Das Experiment ist ihm nicht eine bloße Sensation oder Demonstration, sondern eine ernsthafte Erprobung von künstlerischen Darstellungsmöglichkeiten. Es kam hinzu, daß die Zeit, in die er hineingestellt worden war, selber zum Experimentieren geneigt, ja genötigt war, da das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik kein festes Ziel vor sich sah. Friedrich Hebbel (S. 270 —287). — Gegenüber den femininen Einschlägen in Grillparzers Kunstschaffen wirkt Friedrich Hebbel von vornherein männlicher; aber er kokettiert auch mit dieser Männlichkeit. Und wenn die Sonderforschung das „zentrale Problem" seiner Dramatik in der Wertungsweise der Frau gesehen hat — und gewiß nicht so ohne weiteres schief gesehen hat — , so wirken doch seine Männer mehr echt gewachsen, seine Frauen mehr edel betreut, aber nicht selten etwas konstruiert. Vielleicht kannte Hebbel die Frau besser als Grillparzer, aber Grillparzer „machte" sie besser, weil er sie ehrlicher verehrte. Christine Enghaus kann doch eben Elise Lensing nicht einfach vergessen machen. Und so wirkt die strenge Vertreterin reiner Sitte Rhodope (Gyges und sein Ring) irgendwie und irgendwo konstruiert: und die Brunhild und die Mariamne und die Genoveva. Einige wirken sogar verkrampft, um ein psychologisches Problem an ihnen demonstrieren und vorexerzieren zu können wie etwa Judith in dem einen Extrem und Rhodope in dem anderen Extrem. Das ästhetisch-künstlerische Gutmachen geht dann nicht immer und ohne weiteres mit dem moralisch-menschlichen Wiedergutmachen konform. Und was in der Rechnung aufgeht, geht nicht überall in der Kunst auf und in die Kunst ein.

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Fraglos fällt auf, daß Hebbel schon rein motivlich unermüdlich und zäh die Frage nach der Bewertungsweise der Frau durch den Mann stellt. Und fraglos zielt die Tendenz dieser Fragestellung dahin, daß der Mann teils durch sein individuelles Wesen dazu neigt, teils durch die herrschenden Verhältnisse dazu geradezu genötigt ist, die Frau als bloßes Besitztum zu betrachten und sie als Genußwert zu begehren, ohne sie als ebenbürtigen, zwar andersartigen, aber gleichwertigen Menschen gelten zu lassen. Das scheinen zunächst einmal die Hauptthemen zu sein, die Hebbels Kunst gewiß kunstvoll variiert. Herodes betrachtet und behandelt, beurteilt und verurteilt Mariamne letztlich als zwar geliebten, aber auch willkürlich verfügbaren Besitzwert. Ebenso beurteilt und behandelt der alte Gregorio die Agiolina (Trauerspiel in Sizilien), Kandaules Rhodope, Siegfried Brunhild. Holofernes betrachtet Judith als sinnlichen Genußwert, Kandaules betrachtet Rhodope als ästhetischen Genußwert, Golo vertritt den Ubergang. Derb gesagt, das Weib ist oft nur ein Prunkstück für die Renommiersucht des Mannes (mit der Hebbel sehr gut Bescheid wußte). Es trifft zu, daß Hebbels Drama diesen männlichen „Geschlechtsegoismus" anklagt und für die Menschenwürde der Frau eintritt. Daß darin vom Biographischen her ein gutes Stück Selbstanklage enthalten gewesen sein mag, sei eingeräumt, ist aber in diesem Zusammenhange, bei dem es um mehr geht als Biographisches, unerheblich. Denn es kann nicht entscheidend sein, ob der Künstler eine äußere Wirklichkeit gestaltet oder eine innere Wirklichkeit, ob er gestehend beichtet oder gestaltend baut. Irgendwie muß immer die Bildungskraft die Einbildungskraft zur Hilfe rufen, und zwar nicht nur zur kunsttechnischen Nothilfe. Wenn die äußere Freiheit in Not ist, tut innere Freiheit doppelt not. Es ist dankenswert, wenn selbst das Deutliche (bis Überdeutliche) noch einmal verdeutlicht und hebevoll gedeutet wird, besonders wenn es in der Frauenfrage durch eine Frau (Elise Dosenheimer) geschieht. Aber abgesehen davon, daß die „Agnes Bernauer" und letztlich auch die Klara (Maria Magdalene) sich nicht recht jener Leitidee fügen wollen, wenn anders man die natürliche Gruppierung nicht künstlich umgruppieren will (etwa: Herzog Ernst—Agnes, Leonhard—Klara): es bleibt die Frage offen, ob denn das „zentrale Problem in der Tragödie Fr. Hebbels" auch das zentrale Gestaltungsgesetz im Sinne der werkimmanenten Poetik darstellt, ob das bevorzugte Motiv so ohne weiteres zusammenfällt mit der Modifikation des Kunstwollens. Dieses Kunstwollen betrifft niemals nur den Gehalt, sondern immer auch und immer zugleich die Gestalt, niemals nur die Haltung, sondern immer auch die Gestaltung, niemals nur die Fabel, immer auch die Form.

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Friedrich Hebbel hat ein Epos (sogar in Hexametern, ζ. T. beim Veilchenpflücken im Prater) geschaffen, in dem höchstens das Kind, nicht aber die Frau als austauschbares Besitztum betrachtet und bewertet wird oder doch bewertet zu werden scheint. Die Gruppe „Agnes Bernauer" und „Maria Magdalene" erhält also eine beachtliche Verstärkung. Das Muttertum im Weibtum erzwingt mühelos eine Würde, die dem bloßen Weibtum nur durch Kampf zufällt. Das Moment der Ehrfurcht vor dem Muttertum im Weibtum hat nicht erst Wedekind („Franziska") die Erotik überwinden helfen. Aber alles das trifft und betrifft Haltungen und nicht Gestaltungen und nicht die Einheit beider. Fr. Hebbel sieht das Drama der Geschlechter nur als einen besonders einprägsamen A u s s c h n i t t a u s dem großen L e b e n s p r o z e ß , und das Problem der Geschlechtlichkeit wird aufgehoben im Prozeß der Geschichtlichkeit. Der Wert und die Würde der Frau findet ihr Regulativ im Wert und in der Würde des Volkes. Und das Volk bleibt bezogen auf die Menschheit. Aber hier zögert das Kunstwollen Hebbels, dem es widerstrebt, die Weisheit der Klassik zu wiederholen. Voll mit den zwischenmenschlichen, ja zunächst einmal mit den zwischengeschlechtlichen Beziehungen und deren Menschenwürdigkeit befaßt, bedeutet es für Hebbel schon sehr viel, wenn er zum Volke vordringt („Agnes Bernauer"). Wo die Menschheit sich ankündigt, wird Hebbel stutzig, weil erst der Mensch gewonnen und gewürdigt werden muß (jenseits der Geschlechter), bevor die Menschheit sich ausweiten und die Menschlichkeit uns leiten kann. Fr. Hebbel glaubt sich nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, das nachzuholen, was die Klassik vorausgesetzt hatte: den Willen des Menschen zur Menschheit. Er zweifelte den Menschen (bes. als Mann) an, um an der Möglichkeit der Menschheit und Menschlichkeit nicht zu zweifeln und zu verzweifeln. Es ging eben nicht nur um einen Wertungswechsel der Geschlechter, sondern um eine E n t w i c k l u n g s w e n d e der Geschichte. Erst im Vollzug der Geschichtlichkeit konnte sich der Vorzug der Geschlechtlichkeit aufheben. Man darf nie vergessen, daß Hebbel mit seinen Dramen nicht oder doch zunächst nicht Sensation machen wollte, sondern „Epoche machen" wollte im Sinne des epochemachenden Dramas. In diesem Sinne vertraute er Hegels Ästhetik weniger als dessen Geschichtsphilosophie. Die Tragik wächst für ihn an der Entwicklungswende, von der später ζ. B. noch Friedrich Wolf mit Vorhebe spricht. Tragik wächst, wo Neues gewirkt wird, ohne gewollt zu sein. Jedenfalls weist die formulierte Poetik in diese Richtung. Die werkimmanente Poetik nämlich folgt nur merklich unentschlossen dieser theoretischen

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Wegerkundung. Gewiß, in „Herodes und Mariamne" oder in der Nibelungentrilogie kommt das heraufziehende Christentum zur Geltung, und in „Maria Magdalene" vermag der Vater die Welt nicht mehr zu „verstehen", während der Sohn (Karl) ihren Sinn irgendwo jenseits der Weiten des Meeres sucht. Aber das bleiben mehr Anklänge als Anfänge. Das bedeutet, daß die Praxis der kühneren Theorie nur recht zögernd folgt. Die theoretische Deutung als epochemachendes Drama bleibt in der bloßen Andeutung stecken, soweit und sobald es um die künstlerische Ausformung in der Praxis geht. Dabei ist allerdings folgendes zu berücksichtigen: Hebbel als Dichter war sich trotz oder eben wegen seiner Grüblernatur klar darüber, daß der Denker und Deuter zum mindesten im Kunstwerk nicht den Dichter und Gestalter überwältigen durfte, wenn anders seine Dichtung als Dichtung bestehen sollte. Er behielt in der Dichtung mehr Vertrauen zum Dichter als zum Denker und Deuter und baute deshalb praktisch nur improvisierend ein, was programmatisch schon deutlicher ausgeprägt erschien, begnügte sich mit Anbauten, wo in der Theorie schon Ausbauten vorlagen. — Hebbel will nicht nur den zwischen den beiden Geschlechtern anhängenden Prozeß erfassen, sondern wie seine Dramentheorie im einzelnen erkennen läßt, auch den großen kulturgeschichtlichen und geschichtlichen Prozeß, ja darüber hinaus und alles untergründend und begründend den „ L e b e n s p r o z e ß an s i c h " . Im Kunstschaffen jedoch ist er sich klar darüber, daß der gestaltende Dichter auf eine übersichtliche Vergegenständlichung dieses allgemeinen Lebensprozesses angewiesen bleibt. Es kann nicht geleugnet werden, daß ihm die symbolische Verbesonderung jenes Allgemeinen am einprägsamsten gelungen ist in der Darstellung des Ringens zwischen Mann und Weib um ihre menschliche Geltung und ihr menschliches Glück. Dieses rastlos sich erneuernde Ringen wird mit einer wahren Leidenschaft ergriffen als Motiv und erörtert als Idee, wenn auch noch nicht mit dem dämonischen Liebeshaß eines Strindberg. Und soweit es sich schon in diesem Liebeskampf und Geltungsstreit von Mann und Weib um eine Einbeziehung des großen kulturgeschichtlichen Prozesses handelt — und Hebbel bemüht sich mehrfach und merklich um eine solche Einbeziehung — scheint es fast so, als wolle Hebbel den kulturellen Fortschritt der Menschheit weitgehend abhängig machen von einer H e b u n g des W e r t e s u n d der W ü r d e der F r a u . Nicht nur, daß die „dualistische Form des Seins" sich an dieser Sonder-Konstellation am klarsten (und subjektiv wahrsten) spiegeln läßt: auch die Aussicht auf eine endliche Aufhebung und „Versöhnung" des uranfänglich widerstreitenden, auf ein Inein-

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ander-Aufgehen der vorerst gegeneinander laufenden „Kreise" (Kreissymbol der Ringe auf der Wasserfläche) ist dabei besonders hoffnungsvoll und zugleich künstlerisch anschaulich zu machen. Im Liebesprozeß ist für Hebbel eine in sich reiche Konzentrationsstelle gegeben für den Kulturprozeß, aber auch den „Lebensprozeß" schlechthin. In ihm findet das große Urbild des Lebensprozesses sein verkleinertes, aber keineswegs verkleinerndes Abbild, wie der Kulturprozeß in der jeweiligen Wertung und Würdigung der Frau sein verläßliches Kriterium antrifft (vgl. später H. Ibsen). Dieses Kriterium ist indessen bei Hebbel nicht ein reines Gefühlskriterium und nicht eine Kritik des reinen Gefühls wie bei H. v. Kleist, sondern ist in verhältnismäßig hohem Grade ein Vernunftkriterium. Das Denkerisch-Deutende durchragt (und durchkreuzt) auch insofern das Dichterisch-Gegenständliche gemäß dem Grundtypus eines „idealen" Realismus mit metaphysischen Konzessionen, die sich gern als weltanschauliche Konfessionen darbieten. Das, was oben versuchsweise als prädestinierte Disharmonie umschrieben wurde, und der gesamte „Pantragismus" weist auf derartige Zugeständnisse an das Metaphysische im Sinne einer Transponierung in das Transzendentale (Schelling), ζ. T. auch in das Transzendente („Sündenfall Gottes"). Der Sündenfall der Liebe hängt letztlich auch mit dem „Sündenfall" der Liebe Gottes uranfänglich zusammen. Dabei liegt freilich die „Sünde" vor allem beim Mann, und zwar in dessen Mißbrauch der Mannes-„Macht" durch Mißachtung des ebenbürtigen, wenngleich andersartigen Menschentums des Weibes und im Weibe. Denn gerade die leidenschaftliche Vergötterung (Herodes, Kandaules) führt in tragischer Auswirkung der „Maßlosigkeit" zur Entgötterung, ja Entmenschlichung. Und die Frau muß schon ein „Engel von Augsburg" sein wie Agnes Bernauer, damit die Schuldverlagerung vom Persönlichen ins Politische erfolgen kann, wo dann die (vorübergehende) Mißachtung des Menschentums durch den politischen Machtträger (Herzog Ernst) wenigstens nach dem bitteren Tode in eine Rehabilitierung umbiegt (Ehrung des Andenkens). Denn in diesem Falle erfolgt das Ringen zwischen Mann und Weib nicht zwischen Albrecht und Agnes, sondern zwischen Ernst und Agnes, wobei Agnes passiv bleibt, aber eben in dieser Passivität ihre stärkste innere Aktivkraft entfaltet (Rückgriff auf die Frühformel des Weibes: „Durch Dulden tun", Genoveva). Jedenfalls bietet „Agnes Bernauer" ein instruktives Paradigma für die Ausweitung des individuellen in den geschichtlichen „Lebensprozeß", der in „Herodes und Mariamne" in der Skizzierung der politisch bewegenden Gewalten gewiß auch angedeutet wurde, aber nicht die Prävalenz besaß, und der in „Gyges 29

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und sein Ring" mehr in den kulturgeschichtlichen Prozeß hinübergezeichnet wurde. Kurz, die werkimmanente Poetik sagt aus, daß Hebbel die „Totalität des Lebens" vorzugsweise an der Totalität der Liebe gestaltend demonstriert und auch deutend (gelegentlich allzu deutlich) formuliert. Trotz gewisser ideelicher Zuspitzungen und Überspitzungen gelingt dem Kunstschaffen durchweg, was das formulierte Kunstwollen gefordert hatte, die überzeugende Darstellung „warmblütiger lebendiger Gestalten". Was dagegen das „Brechen der Weltzustände" betrifft, das gerade für das „Epoche-machende" Drama der Zukunft (das aber Hebbel schon herbeizwingen möchte) kennzeichnend und für das Erfassen der großen Entwicklungswenden unentbehrlich sein soll, so gewinnt man selbst bei „Agnes Bernauer", also dem am ausgesprochensten historischen Drama eher den Eindruck, daß es eben doch nur jenen Typus des „partiell-nationalen" Dramas erreicht, den Hebbel dem „Epochemachenden" unterordnet. Und vielleicht war das gut so. Denn hätte Hebbel den „Ideen-Kern" und das „Ideen-Zentrum" allzu markant hervortreten lassen, so wäre das Symbolische leicht wie bei Grillparzer der Gefahr einer Rückbildung ins Allegorische und das Dichtertum einer entsprechenden Rückwendung ins Denkertum ausgesetzt gewesen. Und zwar dieses Letztere in stärkerem Maße, als es bei Grillparzer der Fall sein konnte, der nicht wie Hebbel vom Ehrgeiz des „Gestaltdenkertums" besessen war, sondern scherzend die Idee seiner „Sappho" eine Fiakeridee (gleich und gleich gesellt sich gern) genannt hat. Nebenbei: das Gestaltdenken war schon von der Philosophie längst für Situationen beansprucht worden, die von denen Hebbels weitabstehen. Mit Grillparzer berührt sich eng die „ I d e e der Maßlosigk e i t " . Und man könnte gegen die oben unternommene Darstellung der werkimmanenten Poetik Grillparzers einwenden, daß Hebbel dieses Problem des Tragischen viel intensiver und extensiver durchdiskutiert habe. Das ist in der Tat der Fall und ist wohl auch bei der Würdigung seiner formulierten Poetik hinreichend zur Geltung gekommen. Aber bei Grillparzer äußert sich dieses tragische Prinzip der Maßlosigkeit mehr in der werkimmanenten Poetik, bei Hebbel mehr in der formulierten Poetik. Hebbel braucht es in seiner Dramentheorie, um die Keimform und Urform des d i a l e k t i s c h e n D u a l i s m u s zu gewinnen, um im tragisch Unschuldigen einen Anteil an Verschulden durchscheinen zu lassen. Im Werkschaffen bleibt die Maßlosigkeit im wesentlichen Motiv- und Ideenbestand, vorzüglich eingeschränkt auf die schon erwähnte Maßlosigkeit der Liebe. Und auch insofern will der erstrebte D u r c h b r u c h vom p s y c h o l o g i s c h e n P r o b l e m d r a m a zum g e s c h i c h t s p h i l o -

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sophischen I d e e n d r a m a trotz Zuzugs Hegelscher Impulse nicht recht oder doch nicht restlos gelingen. Man wird nicht behaupten wollen, daß Herodes' politisches Macht- und Geltungsstreben ins Maßlose abgeirrt sei; er ist schon froh, wenn er im Spiel der Mächte nicht aufgerieben wird. Man wird nicht den Eindruck haben, als ob Herzog Ernst von maßlosem Machtstreben oder von politischer Geltungssucht besessen sei. Er überspannt den Machtanspruch des Staates nur soweit, als es ihm zum Wohl des Volkes erforderlich und unvermeidlich erscheinen muß (Abwehr eines Bürgerkrieges). Man kann nicht gut sagen und meinen, daß Kandaules von maßlosem Machthunger verzehrt und von hier aus gefährdet sei. Seine Maßlosigkeit läge höchstens, soweit er jenseits der Maßlosigkeit der Liebe zu suchen ist, in einem situationsgemäß überhöhten Kulturanspruch im Wettbewerb mit dem Griechentum seines Gastes Gyges. Bei Grillparzers Jason sieht das wesentlich anders aus und auch bei seinem König Ottokar oder selbst bei seinem Rustan (Der Traum ein Leben). Bei ihnen geht es auch und vorzugsweise um ganz andere Werte als die Liebe. Ihr Ehrgeiz erschöpft sich nicht in Liebesehrgeiz, wie das bei Hebbels männlichen Zentralgestalten häufig, ja durchweg der Fall ist. Selbst der Liebesehrgeiz Sapphos wird nur tragisch in Verbindung mit dem Künstlerehrgeiz. Dennoch sei eingeräumt, daß trotz aller Abhebung die Maßlosigkeit bei Grillparzer und Hebbel, die auch sonst manche Berührungsstellen aufweisen, relativ stärker hervortritt. Aber das Eigentümliche bei Grillparzer war die Verbindung mit dem Pädagogischen. Für Hebbel liegt esweit eher in der Verbindung mit dem Allgemein-Philosophischen und auch dem Allgemein-Religiösen. In Grillparzers „Libussa" tritt recht eigentlich die große Entwicklungswende und das „Brechen der Weltzustände" prägnanter, und zwar als Zentralmotiv in Erscheinung, während es bei Hebbel — auch in der Nibelungen-Trilogie — zuletzt doch immer nur ein, wenngleich bedeutendes Begleitmotiv bleibt. Kurz, Hebbel lebt in den Entwicklungswenden, Grillparzer leidet an den Entwicklungswenden. Das Konstituierende des Einen (Grillparzer) wird dergestalt zum Kontrastierenden des Anderen (Hebbel). Und wo der Eine restauriert (Grillparzer), da revoltiert der Andere (Hebbel). Der Anteil des Biedermännlichen und des Biedermeierlichen Grillparzers widersteht und widerstreitet dem Genial-Männlichen Hebbels. Grillparzer erweist das Menschliche an der Frau, Hebbel ersehnt es an ihr. Beide aber können das Menschliche nicht gestalten, ohne das Frauliche zu verwalten. Die Vergangenheit des Menschengeschlechts bestimmt der Mann, aber die Zukunft beeinflußt das Weib, und zwar in dem Grade wie das Weibtum das 29*

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Muttertum in sich schließt. Grillparzer erprobt den Wert des Mannestums an der Würde des Weibtums, Hebbel erprobt den Wert des Weibtums an der Gewalt des Mannestums. Gewalt und Würde müssen sich zusammenfinden, wo Mann und Weib sich miteinander verbinden. Der Nexus der Geschichte bleibt verbunden mit dem Nexus des „Geschlechts". Otto Ludwig (S. 287—302).—Im Gesamt seiner Leistung überwiegt vielleicht die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung seiner Kunsttheorie die seines Kunstschaffens. Das ist bei Dichtern selten; aber Otto Ludwig scheint ein derartiger Ausnahmefall zu sein. Und darin Hegt zugleich ein gewisser Trost für die schmerzlichen Opfer, die der Künstler dem Theoretiker gebracht hat. Von der PoetikGeschichte her gesehen, kann daher jenes Bedauern nicht geteilt werden, wie es in der Literatur-Geschichte üblich ist. Es erscheint aber auch von der werkimmanenten Poetik aus zweifelhaft, ob Otto Ludwig wirklich sehr viel mehr geschaffen haben würde, wenn er nicht soviel theoretisiert hätte. Und es dürfte unbillig sein, die Theorie gleichsam als Prügelknaben zu benutzen, wozu vielfach Neigung, weit seltener aber Berechtigung besteht. Schon der verhinderte Dramatiker G. Keller hat bekanntlich von Ludwigs „dramatischem Kochbuch" gesprochen (brieflich, Oktober 1873). Otto Ludwig begann mit der Unsicherheit der vorherrschenden Begabung. Er glaubte anfangs Musiker zu sein, er wurde ein Schüler Mendelssohn-Bartholdys, setzte zum Singspiel und selbst zur Oper an, bis er zu erkennen glaubte, daß das „Vage der Musik" ihm auf die Dauer kein Genüge werde tun können, daß er „Gestalten haben muß" und daß es in Wirklichkeit „das poetische Element in der Musik" gewesen sei, das ihn angezogen und so zu jener Fehldiagnose verleitet habe (Tagebuchvermerk, Spätsommer 1840). So wird Leipzig für den vermeintlichen Musiker Otto Ludwig etwa das, was München für den vermeintlichen Maler Gottfried Keller wurde. Aber die Unsicherheit hielt an, auch als er nun „seine" Kunst gefunden hatte. Sie äußert sich jetzt in der Wahl der Dichtgattung, Er hält sich vorwiegend für einen Dramatiker (wie zeitweise G. Keller), ist aber — um das vorwegzunehmen — wahrscheinlich im Hauptbegabungsanteil ein Epiker. Auch sein wohl stärkstes Drama, der „Erbförster", wirkt wie eine dramatisierte Novelle. Und das Hängen an den Details, das den Dramatiker behindert, hätte auch in diesem Fall den Epiker befördert. Das sich nicht Genugtunkönnen in den Feinheiten der Motivierung schadet dem Dramatiker, dem mit der dramatischen Konzentration zugleich das Gesetz der Vereinfachung auferlegt ist. Dagegen wirkt sich diese Subtilität und Feinstufigkeit etwa in den wertvollsten Erzählungen

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(„Heitheretei" und „Zwischen Himmel und Erde") unleugbar zum Vorteil der Gesamtwirkung aus. Aber nun hat er 1845 Eduard Devrient kennengelernt, der ebenfalls weniger Schauspieler als Theoretiker und Historiker der Schauspielkunst war. Und die beiden theoretisch tendierenden Naturen verstehen sich recht gut. Eduard Devrient verstand Otto Ludwig fraglos noch besser, als Joseph Schreyvogel Grillparzer verstanden hat. Und als ihm Otto Ludwig ein bürgerliches Intrigenstück, das die Polenbegeisterung aufgriff, aber als Drama noch schwach war („Die Rechte des Herzens"), vorlegte, da notierte E. Devrient: „ D a zeigt sich einmal ein Talent! Wenn man das emporbringen könnte". Und er hat es emporgebracht: der „Erbförster" wurde 1850 in Dresden aufgeführt, die „Makkabäer" 1853, beide von E. Devrient betreut. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß Devrient das Selbstbewußtsein des Dramatikers stark, ja entscheidend gestützt hat. Kennzeichnend ist folgendes: nachdem E. Devrient 1857 Dresden verlassen hat, um nach Karlsruhe zu gehen, hat Otto Ludwig kein bedeutendes Drama mehr vollendet, sich vielmehr ganz den „Shakespeare-Studien", also der Theorie in die Arme geworfen. E s ist fast so, als ob er instinktiv eine neue Stütze gesucht hätte. Das will nun nicht besagen, daß Otto Ludwig ohne E . Devrient überhaupt nicht als Dramatiker bekannt geworden wäre oder gar, daß er überhaupt kein Dramatiker geworden wäre. Wer den zweiten A k t der „Makkabäer" kennt, weiß, daß ein kräftiger dramatischer Begabungsanteil spontan in Otto Ludwig wirksam gewesen sein muß. Wohl aber kann man fragen, ob diese Begegnung und an sich gewiß verdienstvolle Förderung den geborenen Epiker nicht zu sehr auf das Drama abgelenkt habe. Mit anderen Worten: das Dramatikertum gewann; aber verlor nicht vielleicht das Dichtertum ? Manches spricht dafür; grobschlächtig entscheiden lassen sich derartige Probleme kaum. Das Kunstwollen jedenfalls griff nach beiden Gattungen, am verlangendsten sogar nach dem Drama, das auch theoretisch stärker umworben wurde. Aber pflegt es nicht häufig eine unglückliche Liebe zu sein, die am heftigsten umworben wird ? Bei der Erzählung hat O. Ludwig gar nicht so viel theoretisiert, kalkuliert und variiert ; da hat er teilweise recht resolut zugegriffen. Den Entwicklungsansätzen nach werden beide Gattungen ungefähr gleichzeitig in Pflege genommen, während bei Hebbel die Novellenproduktion vorausging. Ebenso Hegen die Leistungshöhen von Drama und Erzählung etwa zeitparallel: „Die Heitheretei", „ A u s dem Regen in die Traufe" (1854/55), „Zwischen Himmel und Erde" (1856). Die im Drama ζ. T. spürbare Gefahr einer Konkurrenz der Zentralgestalten besteht in der Epik nicht, so daß auch der Notbehelf einer

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Heldenablösung nicht erforderlich wird. Beim Versuch einer Dramatisierung der Novelle Ε. T. A. Hoffmanns in einem fünfaktigen Versdrama „Das Fräulein von Scuderi" (1848) wird der Goldschmied Cardillac so betont in die Zentralstellung gerückt, daß es, weil Cardillac mit dem dritten Akt ausscheidet, zu einer „Heldenablösung" kommen und in den letzten Akten die Titelheldin einspringen mußte. Karl Gutzkow, damals Dramaturg am Dresdener Hoftheater, wußte nichts Rechtes damit anzufangen, Bühnenbearbeitungen wurden später u. a. von Wildenbruch versucht. Und so ist es Chr. Otto nicht zu verdenken, wenn er das Stück kurz entschlossen mit dem dritten Akt enden ließ und es nach der am meisten durchgeformten Zentralgestalt „Cardillac" nannte. Aber auch das anerkannte Drama „Die Makkabäer" hat — aus den Entstehungsvorstufen erklärbar — mit einer Konkurrenz der Zentralgestalten (Freiheitsheld Juda und seine Mutter Lea) zu kämpfen. Gewiß lautet der Titel nun nicht mehr wie in früheren Fassungen „Die Makkabäerin" (1850) oder „Die Mutter der Makkabäer" (1851), und der Gruppentitel deutet auf das Geschlecht, auf die Sippe als stellvertretende Zentralgestalt. Aber dramatrrgisch-theatraÜsch heben sich eben doch wieder die beiden Hauptgestalten Juda und Lea so stark hervor, daß sie einander das Licht zu nehmen drohen. Immerhin haben die „Makkabäer" Otto Ludwig den Schillerpreis (1861) eingebracht. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, weil 0. Ludwig geneigt war, Shakespeare gegen Schiller auszuspielen, während Chr. Dietrich Grabbe Schiller gegen Shakespeare ins Feld geführt hatte. Im Grunde aber sah O. Ludwig in Shakespeare den e p i s c h e n Reichtum. Und mit diesem mißverstandenen Reichtum epischer Vielfalt und Vielgestalt suchte er nun auch in seiner Dramatik zu wuchern. Seine undisziplinierte Phantasie, die Fülle seiner Einfalle ließ sich durch kein noch so verbindliches dramatisches Gesetz bändigen. Zeitweise, besonders imMotivbereichder„AgnesBernauer", glaubte er im Schuldbegriff die bewegende Kraft des Dramatischen und Tragischen entdeckt zu haben. Und er verbiß sich in diesen Schuldbegriff, ähnlich wie sich späterhin Paul Ernst in den Notwendigkeitsbegriff verbissen hat. Unter solchen Umständen konnte sein Kunstwollen nicht unbefangen und ungefangen frei sich entfalten; es blieb gefangen im Netz dramaturgischer Prinzipien. Und um diesen Prinzipien gerecht zu werden, wechselte er dauernd die Position von Entwurf zu Entwurf, von Fassung zu Fassung, von Variante zu Variante, von Szene zu Parallelszene. Die Kunsttechnik erfocht dergestalt einen Pyrrhussieg über die spontane und souveräne Kunstmächtigkeit. Mit kunsttechnischen Mitteln glaubte er G. A. Bürgers Ballade „Des Pfarrers Tochter

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von Taubenhain" umsetzen zu können in eine Tragödie („Die Pfarrose", 1845—47), aber ebensowohl in ein Schauspiel („Die wilde Rose", 1850). Sein Erbförster liefert sich zuerst dem Gericht aus wie weiland Schillers Karl in den „Räubern", um in der Endfassung den Freitod vorzuziehen. 0. Ludwig erkennt nicht das Ausweichen vor der dramatischen Konsequenz ins Epische, wenn er zeitweise in das „Agnes Bernauer"-Motiv eine aufschwellende und ablenkende Intrigenhandlung um den Kammerherrn Weißenbeck einbaut oder wenn er selbst noch in den „Makkabäern" der Eleazar-Nebenhandlung eine vordringliche (bis aufdringliche) Eigengeltung einräumt. Und er hat keinen Instinkt dafür, daß die Lähmung der heldischen Aktivität durch die Sabbatruhe den modernen Zuschauer einem Rückschlag ins Tragikomische aussetzen muß (III. Akt). Heinrich Laube hatte das auszubaden, als er 1862 dem Werk im Wiener Burgtheater die große Chance bot. Unschwer läßt sich nachweisen, daß die kritischen Einwände auch gegen den „Erbförster", wie sie von Hermann Hettner, Rudolf von Gottschall und Paul Heyse erhoben wurden, weitgehend auf letztlich e p i s c h e Fremdkörper im dramatischen Organismus zurückzuführen sind. Dort wo der Dramatiker O. Ludwig unrecht hatte, hatte der Epiker O. Ludwig unbewußt, aber unüberhörbar seine Rechte angemeldet. Die Theorie kann es nicht oder doch nicht allein gewesen sein, die verschuldet hat, daß sich 0. Ludwig in Entwürfen und Skizzen verliert und schließlich erschöpft. Denn von vornherein, noch bevor die Theorie sich vordrängt und aufdringt, beginnt er ζ. B. mit einer ganzen Kollektion von „Agnes Bernauer"-Entwürfen, und zwar zu einer Zeit (1835—46), als Hebbels motivgleiches Drama noch nicht vorliegt. Dann freilich gibt Hebbels „Agnes Bernauer" einen erneuten Antrieb für neue Fassungen, die sich wiederum auf ein volles Jahrzehnt erstrecken (1854—64). Nun soll Shakespeare helfen, Hebbel zu überbieten. Damit wird das ständige Stützungsuchen bei Vorbildern berührt und eine ganz unverkennbare ÜberbietungsTendenz, die streckenweise zur Manie ausartet. Schiller soll überboten werden mit einem Wallensteindrama „Leben und Tod Albrechts von Waldstein" (1861-65), wobei schon der Titel d r a m a t i s i e r t e E p i k verrät; „Wallensteins Lager" schon vorher überboten werden mit dem Vorspiel „Die Torgauer Heide" (1844) zu einem groß angelegten Dramenentwurf „Friedrich II. von Preußen", Hebbel soll überboten werden mit einem Genoveva-Drama und einem Agnes Bernauer-Drama, Ε. T. A. Hoffmanns Cardillac-Scuderi-Konzeption soll überboten werden usw. Kurz, das Kunstwollen verengt sich zu einem Bessermachen-Wollen. Nicht sowohl die eigene formulierte Poetik gibt den Anreiz als vielmehr die fremde Vorbild-Poetik. Die formulierte Kunsttheorie

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ist letztlich nur eine Folge jenes Überbietungsstrebens. In ihr und mit ihr meinte sich Otto Ludwig die überlegene Waffe zu schmieden, die ihm den endlichen Sieg im Wettbewerb sicherte. Die größere Kunstkenntnis schien ihm schließlich auch das größere Kunstkönnen zu verbürgen. Und jede Veränderung galt ihm als Verbesserung und Vervollkommnung. Seine Theorie diente ihm nicht sowohl dazu, sein Kunstschaffen zu rechtfertigen, als dazu, es jederzeit kritisch zu regulieren. Die kunsttechnisch rechte, kunstgerechte Fertigung galt als die beste Rechtfertigung. Und sein Kunstwollen war auf das Erkunden und Erproben letzter Möglichkeiten einer kunstschaffenden Verwirklichung gerichtet. Die Ziselierkunst kennt keine Grenzen wie bei seinem Goldschmied Cardillac: „Das Schöne wird nie fertig, immer könnt' es noch schöner sein". Trotz alledem wäre es unbillig, Otto Ludwig hinsichtlich des Wertverhältnisses von Produzieren und Theoretisieren etwa mit einer an sich ähnlichen Erscheinung wie Paul Ernst gleichzusetzen, in dessen Gesamtleistung der Wert der Theorie weit eindeutiger den der Praxis übertrifft. Außerdem ist es Otto Ludwig durchweg gelungen, sein Kunstschaffen mit seinem Kunstfordern in Einklang zu bringen, besonders was den Epiker betrifft. Seine Erzählungen verwirklichen sehr eindrucksvoll einen „poetischen Realismus" und verfügen über jenen „beseelten Leib", wie er ihn fordert. Zugleich gelingt ihm oft bewundernswert die Rückübertragung des Geistigen in das Reale, des Typischen in das gegenständlich Verbesonderte, des Bewußten in das Instinktive („Erbförster"). Nur die theoretische Forderung, das Drama tunlichst frei zu erhalten vom Einbruch epischer Bestände, will dem stark episch Veranlagten nicht recht gelingen. Die Beobachtung dieser weitgehenden Deckung scheint zunächst der anderen Beobachtung zu widersprechen, daß Otto Ludwig ständig unbefriedigt war von seinen Entwürfen. Es ist indessen das zu unterscheiden, was er in seiner Kunsttheorie darlegte und klarlegte von dem, was er sich vielfach darüber hinausgehend vorsetzte und aufzwang unter dem Druck eines ständig weiter um sich greifenden latenten Kunstwollens, das es „immer noch schöner" und besser machen wollte. Das würde bedeuten: im Kunstwollen verfällt er in ähnlicher Weise einer fast romantisch wirkenden ewig unrastvollen Progression wie im Kunstschaffen. Enthüllt wird dies aber erst von der werkimmanenten Poetik, während die formulierte Poetik durchweg nur das forderte, was Otto Ludwig gestaltend zu erfüllen vermochte. Die Einleitung der sehr fruchtbaren Stilrichtung des „poetischen Realismus" (und nicht nur die Prägung des Richtungswortes) bleibt sein unverlierbares Verdienst. Und es darf hervorgehoben werden, daß die eigene dichterische Produktion immerhin ge-

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wichtig genug war, um die wegweisenden Gedanken anschaulich zu unterstützen und den Forderangen den gebotenen Nachdruck zu verleihen. Nicht von ungefähr aber war der wertvollste Ertrag des poetischen Realismus der imposante Zuwachs an epischen Großwerken (Keller, Storm, Raabe, Fontane u. a.). Und so bedeutet es keine Wertsenkung, wenn man auch den theoretischen Begründer Otto Ludwig mehr als Epiker gelten läßt und als Epiker mehr gelten läßt. Gottfried Keller (S. 3 1 1 - 3 2 7 ) . - Gottfried Keller fällt in der Prosaepik des poetischen Realismus (denn reiner „Realist" war er nicht und wollte er auch nicht sein) vor allem die Weiterentwicklung des humoristischen Romans, der humoristisch-satirischen Novelle und der humoristisch umgebogenen Legende zu. Nicht von ungefähr hat R. M. Meyer in seiner Deutschen Stilistik die Erzählung „ D e r Schmied seines Glücks" („Leute von Seldwyla" II) als Paradigma für eine mustersetzende „Humoreske" herangezogen. Ebenso nähern sich die meisten der „Sieben Legenden" dem Idealtypus einer künstlerisch sehr hochwertigen Humoreske, denn der reine Legendentypus ist vom Kunstwollen und weltanschaulichen Wollen bewußt aufgegeben und abgewandelt worden, ein bemerkenswertes Beispiel zugleich für das Eingreifen des Kunstwollens in die „Konstanz der Dichtungsart". Wenn freilich Th. Mann in der knappen Jubiläumsnotiz „ E i n Wort über Gottfried Keller" (1919) von den „goldenen Legenden" spricht, so dürfte er damit weniger den goldenen Humor gemeint als vielmehr den Bezug auf die „Legenda aurea" und den ursprünglich vorgesehenen Titel „Auf Goldgrund" (Heiligenbilder) hergestellt haben. Wohl aber weist auch er dem in sich eigenartig geschlossenen „poetischen Kosmos", den Kellers Gesamtkunst darstellt, neben den Bestimmungen „unbeschönigt, aber verklärt" (vgl. die formulierte Poetik) die Wesensmerkmale des zugleich Durchgeistigten und Durchheiterten zu und damit auch den Humor, der seiner eigenen Ironie zwar nicht gerade besonders nah verwandt war und daher in dieser Keller-Notiz keinen besonderen Akzent trägt. Jedenfalls ist das Kunstwollen Kellers bei allem erzieherischen Ernst immer wieder auf die humoristische Wirkungsform gerichtet, wie denn jener „poetische Kosmos" von einer göttlichen Komik durchwaltet bleibt. Nicht zwar so, als ob sich auch G. Keller wie Th. Fontane zum „mangelnden Sinn für Feierlichkeit" allzu selbstkritisch bekennen müßte, aber doch so, daß er im „Feierlichen" nicht den letzten Wert, auch nicht den letzten Formwert zu erkennen und anzuerkennen vermag. Nach Jean Paul, neben Wilhelm Raabe und — auf mundartlichem Gebiet

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— Fritz Reuter kann er als stärkste humoristische Begabung in der Prosaepik des poetischen Realismus gelten. Bei Theodor Fontane bleibt der Humor, obwohl deutlich ein Grundwert seines Wesens und Wirkens, überwiegend als Ingredienz dem Ernst beigemischt, als ein auflockernd belebendes, gemütvoll erwärmendes Element von gewiß oft „elementarer" Kraft, aber ohne volle Eigengeltung zu erreichen oder auch nur zu erstreben. Bei Keller dagegen stellt er geradezu die Zentralkraft dar, die heitere Sonne, üm die sich zuletzt doch wieder alles dreht, so sehr auch der Schatten der „zypressenhaften" Dunkelheit nicht nur seinem „Grünen Heinrich", sondern etwa auch seiner Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe" oder seiner eigenartig „modern" anmutenden „Regine"-Novelle aus dem „Sinngedicht" vertraut ist. Aber gerade der hohe Humor bedarf der tiefen Folie. Darüber war sich schon Jean Paul im klaren gewesen, als er den Humor als das „umgekehrt Erhabene" umschrieb. Die Skala vom Idyllischen über das Rührende bis hin zum Erschütternden ist Keller durchaus geläufig. Aber der Wertmesser selbst an dieser Skala bleibt ein latenter Humor und eine wohlwollend betrachtende und bewertende Ironie. Kellers Humor ist im Gesamt seiner künstlerischen Erscheinungsformen lichter getönt als der Wilh. Raabes, andererseits weniger unbändig-ausgelassen als der Fritz Reuters. Er ist und wirkt liebenswürdiger, schalkhafter und versöhnender, obwohl er vom Munteren bis zum Grotesken („Die drei gerechten Kammacher") ausschwingt. Und dieser in sich gesättigte Humor ist nicht von dem fast krankhaften Stoffhunger J. Pauls beunruhigt und braucht nicht die schwere Last gelehrter Zettelkästen mit sich zu schleppen. Er ist auch nicht so überladen mit Lebenslehren wie der Humor Raabes, obwohl er ein Anregungsmittel an Lebensweisheit nicht verschmäht. Und es stand nicht A. Schopenhauer im Hintergrunde wie bei Raabe, sondern L. Feuerbach, der zwar eine zähe Religionskritik betrieb, aber das Leben durchaus am Leben ließ. Ja, der vorgab, der neue Gott als „Vater des Materialismus" sorge nicht nur und im ersten Betracht für das Seelenheil, sondern ihm liege „auch unser leibliches Wohl und Leben am Herzen". Feuerbach, der nicht umsonst jene Lücke der Naturphilosophie, die er in Hegels System anzutreffen meinte (Natur als „Anderssein"), auszufüllen sich anschickte, sah in der Natur kein Ungeistiges, sondern im Gegenteil das große Paradigma, das Meister- und Musterstück der „Vernunft". Insofern verbinden sich Naturglaube und Vernunftglaube, um den Christenglauben, wenn nicht zu ersetzen, so doch ihn erneut reformierend zu ergänzen. Es wird so ein etwas waghalsiger Brückenschlag versucht

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von der vernünftigen Natur zur vernünftigen Menschennatur und zur natürlichen Menschenvemunft. Der Gattungsbegriff (vgl. Feuerbach-Abschnitt) wird seiner Mystik entkleidet, um seinen humanitären Bildungswert freizulegen und ihn so der praktischen Vernunft zuzuwenden. Hinsichtlich der Entwicklung des TypusBegriffs im ästhetischen Bereich sei beiläufig auf die Bedeutung des Gattungsbegriffs in Feuerbachs Lehre hingewiesen (ethischer Bereich). Für den poetischen Realismus oder genauer für die Spielform des ideellen Realismus ist die Definition Feuerbachs bemerkenswert, nach der „Sinnlichkeit" (mehr als Sinnenhaftigkeit) nicht eine nur gedachte und gemachte (Vorstoß gegen die Transzendentalphilosophieu. d. Idealismus), sondern eine „wahre", eine „existierende Einheit des Materiellen und Geistigen" sei. Ebendiese Einheit bedeutet für Feuerbach „Wirklichkeit". Vieles von diesen Lehren, die damals alarmierend wirkten, mußte G. Keller zusagen. So etwa die Mahnung, daß man den Rang der Vorsehung der Natur nicht geringer einschätzen solle als die göttliche Vorsehung, daß die Lebenslehre nicht geringer sei als die Heilslehre. Auch die erzieherischen Einschläge werden seiner pädagogischen Interessiertheit entgegengekommen sein. Soviel war klar, mit Feuerbach ließ sich das Leben besser einrichten als mit Schopenhauer. Denn die Natur war bei Feuerbach nicht bloße Vorstellung und keine bloße Setzung des Willens (Schopenhauer) oder eines Ichs (Fichte) oder des Absoluten (Hegel; Schelling dagegen bietet gewisse Ansatzstellen), sondern wurde mit allem Nachdruck und mit allen geistigen Würden in ihr Eigenrecht eingesetzt. Dieser naive Naturoptimismus, mit Erziehungsoptimismus verknüpft, mußte dem irgendwie ewig Knabenhaften in Kellers Wesen gefallen. Und schwerlich läßt sich ein bedeutender Epiker damaliger Prägung nachweisen, in dessen Werken Feuerbachs Philosophie so zahlreiche Spuren hinterlassen hätte, wie dies in Kellers Dichtung der Fall ist. Eigentlich erst im Alterswerk, dem Zeitund Gesellschaftsroman „Martin Salander", erfolgt eine Ablösung durch wirtschaftstheoretische Anschauungen, ohne daß man nun sogleich den „Martin Salander" mit Goethes „Wanderjahren" parallel setzen müßte, wie man mit mehr Berechtigung den „Grünen Heinrich" mit den „Lehrjahren" verglichen hat. Wesentlich bleibt an dieser Beobachtung die darin liegende Warnung, Kellers Künstlertum allzu vorschnell und einseitig auf einen letztlich etwas ungeistigen Biedersinn und das dazugehörige goldene, wenngleich rauh verschalte Herz einzuengen. Sein Kunstwollen war zugleich um ein weltanschauliches Verstehen, sein Dichten zugleich um ein Deuten bemüht.

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Vorerst aber war es für seine Entwicklung zum Dichter wesentlich, was er in dem bekannten (und in der Würdigung der formulierten Poetik eingehender ausgewerteten) Februarbrief von 1849 dankbar aussprach, daß ihm Feuerbach das Auge frei machte für eine unbefangene Erfassung von Natur und Menschen, daß er ermutigt wurde, vom „goldenen Überfluß der Welt" zu trinken, „was die Wimper hält". Er brauchte und erhielt damals vielleicht von Feuerbach weniger ein philosophisches System als einen energischen Ruck als Künstler. Das war es zunächst und vor allem, was ihm Feuerbach heb und unentbehrlich machte. Und das brachte gerade auch die Gestaltung des Bildungsromans voran. Dieser zündende Funke, dieser gefühlsmäßige Impuls fehlte, als er dann im hohen Alter mit seinem „Martin Salander" auf der Höhe der Zeit zu bleiben versuchte. Von einem Weltanschauungsroman kann dort kaum ernstlich die Rede sein, eher von einem „Wirtschaftsdrama" in Romanform. Der Erziehungsroman erfährt eine ironische Brechung, indem es dort mehr der Sohn (Arnold) ist, dem der Erziehungsversuch am Vater (Martin) zugewiesen wird, fast so wie einst — lustiger — in J. J. Engels „Herr Lorenz Stark" oder später — tragikomischer — in H. Sudermanns Komödie „Sturmgeselle Sokrates". Doch fehlen auch im „Salander"-Roman Kellers die tragikomischen Belichtungen nicht, die offenbar der Darstellungs- und Wirkungsabsicht des Dichters durchaus entsprechen. In der Umwelt des vom Lehrer zum Großkaufmann umgesattelten Roman-„Helden", der wieder so gar nicht Held ist und sein soll und der geschehensmäßig eben deshalb ein zweites Mal leichtgläubig Bürgschaft leistet und in einen brasilianischen Bankzusammenbruch verwickelt wird, fallen zwar damals sehr moderne Fachwörter wie Kabeltelegramm, Kaffee- und Zigarrenhandel. Aber der Zeitroman verfügt nicht über die volle Stoßkraft einer Zeitsatire gegen die Gründerjahre, deren typische Erscheinungen immerhin schon klar gesehen werden. Freilich erhebt sich hier die Frage, ob Kellers Darstellungsabsicht wirklich zielstrebig auf eine derartige stoßkräftige und rücksichtslose Zeitsatire gerichtet war oder ob nicht vorwiegend jenes Tragikomische in der Charakterzeichnung ein Kunstwollen verwirklichte, hinter dem auch jetzt noch der Humor über die Satire den Sieg davonträgt. Nur handelt es sich jetzt nicht mehr um konstruktiven Humor, sondern um kontrastierenden Humor, fast ein wenig wie sonst bei W. Raabe. Und es ist weniger eine realistische Ironie als eine romantische Ironie, die über dem Ganzen lagert und die auch dann wirksam bleibt, als Martin Salander angeraten wird, wenn nicht einfach wieder Lehrer, so doch Volkserzieher im politischen Bereich zu werden,

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um sich aus den Schwankungen und Krisen des kaufmännischen Berufs— eben doch nur notgedrungen und notdürftig — herauszuretten. Bei alledem ist unverkennbar, daß in der Lebenssicht das Problem und die Problematik des Religiösen verdrängt wird durch das Problem und die Problematik des Wirtschaftlichen. Der starke Eindruck und Einbruch weltanschaulicher Ideen oder doch Vorstellungen, der nicht so ohne weiteres zum landläufigen Keller-Bilde sich fügen will, aber bereits gegenüber der ersten Konzeptionsstufe des „Grünen Heinrich" entscheidend auf der zweiten Konzeptionsstufe sich auswirkt, darf nun nicht vergessen machen, daß Keller zunächst einmal Dichter war. Und er war in einem ganz prägnanten Sinne Erzähler, in gewissem Grade sogar immer ein wenig Märchenerzähler. Das gilt trotz der zunehmenden Wirklichkeitsfreude, die zunächst einen Auftrieb durch Feuerbach erfahren mußte und die ihn mit dem „Martin Salander" schließlich in Gebiete abdrängte, in denen er sich ebensowenig zu Hause fühlte wie sein Martin in der Kaufmanns weit. Insofern ist „Martin Salander" mit doppelter Ironie geschrieben worden, einmal mit einer eigenartigen Kreuzung von romantischer und realistischer Ironie (denn genauer gesehen, handelt es sich darum) und zum anderen mit Selbstironie. Aber indem Martin das höchst realistische Wirtschaftsleben irgendwie von sich aus und für sich zu romantisieren versucht, rettet er ein Stück Märchenwelt und Phantasiewelt in die Wirklichkeit hinüber, ein zeitungemäßes Unterfangen, daß er — wie alles in der Wirtschaftswelt — entsprechend „teuer" bezahlen muß. Keller war in diesem Betracht aufs beste unterrichtet. Aber — wie gesagt — er war vor allem Erzähler (sein Anlauf zum psychologischen Problemdrama „Therese" blieb stecken), ein wenig immer auch und immer noch Märchenerzähler, nicht nur romantischer Märchenerzähler, auch realistischer Märchenerzähler. Er spielt nicht nur in den „Sieben Legenden" das Wunder der Wirklichkeit gegen die Wirklichkeit des Wunders aus. Aber: es bleibt ein Wunder der Wirklichkeit, eine irgendwie märchenhafte Wirklichkeit. Selbst dort, wo er das Wunder der Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Wunders liebevoll nachsichtig miteinander versöhnt wie in den beiden letzten der Legenden („Dorotheas Blumenkörbchen; Maria, das Tanzlegendchen"), bleibt der Primat des Wunders der Wirklichkeit aufrechterhalten, doch so, daß die Wirklichkeit des Wunders darstellerisch (nicht weltanschaulich) zu ihrem Recht kommt. Das Himmlische auf Erden und im Irdischen der anderen Legenden erhält dabei sein Gegenstück durch das Irdische im Himmel (bes. Tanzlegendchen). Und künstlerisch ist es zugleich wie ein „Wunder", daß die gichtknotigen

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Finger Gottfried Kellers diese entzückende Filigranarbeit so zärtlich-zierlich und mit wahrhafter Grazie zu flechten verstanden haben. Mit erstaunlicher Präzision folgt die Darstellungsart der Darstellungsabsicht im feinsten Wechselspiel von Kunstwollen und Kunstleistung, so etwa, wenn in der Legende „Die Jungfrau und die Nonne" angesichts des schwerer wiegenden Motivs (Wert und Würde der irdischen Mutter im Verhältnis zur himmlischen Mutter) der Humor behutsam zurückgehalten wird. Dagegen darf etwa in der „Eugenie" oder dem „Schlimm-heiligen Vitalis", dessen Motiv später noch Anatole France im Roman „Thais" (1890) ausgebaut hat, der Humor vorwalten und selbst ironischsatirische Glanzlichter aufsetzen. Der Wechselbezug aber der Legende „Die Jungfrau als Ritter" und der Dortchen SchönfundEpisode aus dem „Grünen Heinrich" erinnert an den Hang zur märchenhaften Erzählweise wie etwa auch „Spiegel das Kätzchen" (Die Leute von Seldwyla I, 1856), das zudem ausdrücklich die Artbezeichnung „ein Märchen" trägt, ein phantastisches gewiß, aber zugleich kritisch wachsames und belehrendes. Denn nicht nur in den Erziehungsromanen, nicht nur in ausgeprägten Motiven wie „Frau Regula Amrain und ihr Jüngster" (Seldwyla I) setzt sich im realistischen Märchenerzähler mit romantischem Einschlag (also ein „poetisch-realistischer" im Sinne des poetischen Realismus) die pädagogische Tendenz durch, die im „Salander"Roman mit dem Didaktischen das Dichterische bedroht. Aber auf der anderen Seite, auf der Seite, die vielfach unterschätzt wird: da liest Keller an einer obskuren Stelle einen Bericht von einem „Schneidergesellen, welcher den Herrn spielt" oder auch das 14. Kapitel von „Peter Simpel", einem der seinerzeit vielgelesenen Seeromane des englischen „Kapitäns" Marryat (denn Mark Twains glänzende, ζ. T. sozialkritische Satire von der hochstelligen Pfundnote, die den Armen in jähen Reichtum versetzte, konnte er noch nicht gut kennen), da hört er von einem Talmigrafen Normann: und es entsteht die halb ins Märchenhafte hinüberwechselnde Erzählung „Kleider machen Leute" (Seldwyla II, 1873/74). Kurz, die Tendenz zum Märchen, zum Wunderbaren oder Wunderüchen der Wirklichkeit bleibt bestehen. Es bekundet sich aber zugleich die einst schon in der Aufklärung von Wilh. Rabener und seinen milden Satiren geübte Praktik, um ein Sprichwort oder eine volkstümliche Redewendung herum eine belehrende und doch unterhaltsame Satire zu schreiben (vgl. auch „Der Schmied seines Glücks": jeder ist seines Glückes Schmied). Aber diese Satiren waren immer mit Humor geschrieben, mit dem spezifisch Kellerschen Humor. Denn auch das humorige ungewollte und situationsgemäß erzwungene Hochstaplertum in

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„Kleider machen Leute" bleibt immer noch weit entfernt von Th: Manns Roman von dem Hochstapler Felix Krull und entscheidet sich wohlwollend dahin, daß Wenzel bei dem jähen Sturz aus dem ständischen Himmel doch wenigstens seinen Engel aus dem romantischen Himmel (das Nettchen) retten kann. Die erwähnten Einzelheiten belegen hinreichend das Allgemeine, daß volkstümliche und vorliterarische Formen wie Märchen und Sprichwort wesentlich dazu beitragen, das Volkstümliche mit dem Kunstwertigen wirksam zu verbinden. Die ausbauende Phantasie kommt dergestalt zu ihrem vollen Recht, ohne überanstrengt zu werden wie oft bei Ε. T. A. Hoffmann oder satirisch überspitzt zu werden wie oft bei Mark Twain. Mitten im Märchen setzt sich das Wirkliche durch, ohne in die selbstgefällige und selbstzufriedene Haltung des bloßen Berichts zu verfallen wie dann im Naturalismus. Der Realismus bleibt vielmehr stets ein poetischer Realismus. So ist nicht der Bericht, sondern die Erzählung die ihm eigentlich und eigentümlich zugeordnete Sonderform. Seine Romane sind, so verstanden, Erweiterungsformen, und seine Novellen sind Verdichtungsformen jener Grundform der Erzählung, wie denn selbst seine Legenden humoristische oder märchenhafte Kurz-Erzahlungen darstellen. Man könnte einwenden, daß Roman und Novelle, wie immer man ihr Herkommen historisch ableitet, doch wesenhaft stets von der Erzählung ausgehen, aber es kommt auf den Grad an, in dem dies geschieht und noch deutlich erkennbar bleibt. Als typischer Erzähler hat G. Keller manches Verwandte mit Th. Fontane. Aber er ist mehr der Fabulierer als der Plauderer, mehr der Erzähler als der„Causeur", mehr der phantasiemäßig Kombinierende als der geistvoll-gemütvoll Konversierende. Er sieht auch — vor und trotz dem „Martin Salander" — die sozialen Bedingungen und Bedingtheiten im ganzen doch weniger scharf und weniger unbestechlich als Th. Fontane, weil er gern ins Romantische und Unverbindliche ausweicht, wo die wirtschaftliche Wirklichkeit ihre herben Forderungen stellt. Gottfried Keller träumt das ewige Märchen der Romantik gleichsam in den Realismus hinüber, der eben deshalb ein „poetischer Realismus" blieb; aber er bildet es auch (darstellungsmäßig) in den Realismus hinüber, der deshalb schon gelegentlich recht greifbar und handfest wird. Die Brücke zwischen beiden Welten schlägt ein Humor, der die Ironie nicht scheut, aber die Güte des Reinmenschlichen schützt und bewahrt. Er vertraut dem Wunder der Wirklichkeit weit mehr als der — weltanschaulich angezweifelten — Wirklichkeit des Wunders, das nicht nur von den „Sieben Legenden" desillusioniert wird. Ludwig Feuerbach hat

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ihm den Mut dazu gegeben. Aber sein Erzählertalent, das mehrfach dem Genie nahekommt, hat ihm die künstlerische Macht und Vollmacht dazu gegeben. Indessen auch der Mut zum Märchen mitten in der Mutlosigkeit einer entgötterten Wirklichkeit hat ihn dazu ermutigt und ermächtigt — und der Trost des Humors, der selbst noch das Trostlose in gütiger Besinnung und warmer Besonnung liebevoll auflichtet und aufrichtet. Kellers Kunstwollen und Kunstkönnen ist stark genug, um auch das Durchschnittliche zum Überdurchschnittlichen zu erhöhen. Er kann schlechthin nicht „verdichten", ohne zugleich zu veredeln. Daher war er für einen konsequenten Realismus weder geeignet noch zu ihm gewillt, sondern blieb in einem poetischen Realismus mit romantischem Einschlag zu Hause, aber auch künstlerisch Herr in diesem begrenzten, aber beglückten Hause. Daß er das Gütige der Gesinnung zum Gültigen der Gestaltung emporzubilden vermag, ist gewiß nicht die geringste seiner Gaben und Aufgaben als Dichter und Deuter. Ob er nun im Historischen, Literaturhistorischen oder Kulturhistorischen Hilfe und Halt sucht, wie etwa in den „Züricher Novellen", im besonderen im „Hadlaub" und im „Narren auf Manegg" oder im zeitnäheren „Landvogt von Greifensee", aber auch im „Dietegen" (Seldwyla I), in dem die Zeitstimmung der Schlachten von Grandson und Murten heraufbeschworen wird: immer verschmilzt die Macht der Geschichte als des Notwendigen mit der Möglichkeit des Märchens, immer bleibt der Berichter dessen, wie es wirklich war, in Eintracht mit dem Erzähler dessen, tfae es wirklich hätte sein können und sollen. Anders gesehen und gesagt: der Geschichtserzähler bleibt doch vorab und vorzüglich ein begnadeter und beglückter und eben deshalb beglückender Geschichten-Erzähler. Die Geschichtserzählung wird dergestalt doch wieder zur GeschichtenErzählung. Sein Geschichte-Erzählen geht erstaunlich auf und über in einem und in ein Geschichten-Erzählen. Kurz, er bleibt der Erzähler selbst dort, wo er Historiker, Literaturhistoriker und Kulturhistoriker zu sein scheint. Aber dieser Erzähler braucht den Anlauf, bevor er den Ertrag einbringt. Er erobert nur, wo er sich vorher gerüstet hat. Sein Kunstwollen muß sich zunächst im Anlauf erproben, bevor die Kunstleistung vollgültig erfolgen kann. Nicht nur die zweite Fassung (Ich-Erzählung) des „Grünen Heinrich" braucht die Vorform der ersten Fassung (ζ. T. noch Er-Erzählung), auch die „Sieben Legenden" bedürfen der Vorstufe, um zur Vollendung zu reifen. Ebenso die „Galathea"-Novellen, bis sie zum „Sinngedicht" zusammengezogen werden können. Damit im Zusammenhang steht die Neigung und Nötigung, das Vereinzelte zusammen-

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zufassen im Zyklus. Das gilt nicht nur von den Seidwyler Erzählungen und den Züricher Novellen oder der Rahmenerzählung des „Sinngedichts", das letztlich auf ein Epigramm von Logau zurückgeht, um sich von dort aus zu exponieren, zu variieren und schließlich zu demonstrieren. Das gilt ebenso von dem großen Bildungsroman „Der grüne Heinrich". Denn auch dieser Bildungsroman, der bedeutendste vielleicht seit Wielands „Geschichte des Agathon" und Goethes „Wilhelm Meister", läßt einer Reihe von Sondererzählungen ihr Eigenrecht und ihren Eigenwert, so etwa der rückgreifenden, dann weitausladenden Jugendgeschichte Heinrich Lees (ursprünglich Heinrich Walthers), den Geschichten vom Meierlein, vom Meretlin, vom Herrn ölfinger, die starke Zuflüsse weltanschaulicher Art von L. Feuerbach aufnehmen, oder auch die Dortchen Schönfund-Episode. Mit anderen Worten: aus der Variante von Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts" und der Variation Jean Pauls, der auch auf die Novellen mannigfach hinüberwirkt, aus dem „Buch der ursprünglichen Intension" (4. Band), aus dem „traurigen kleinen Roman über den tragischen Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn, an welcher Mutter und Sohn zugrunde" gehen sollten, war ein ausgewachsener Bildungsroman von großer weltanschaulicher Reichweite und hohem künstlerischem Rang geworden, der dennoch seinen Ursprung aus einer naiven Erzählerfreude und Erzählerfähigkeit nicht verleugnete. So gesehen, war der „Grüne Heinrich" eine Bestätigung für die Theorie, daß der dichterisch bedeutende Roman letztlich auf die Ausweitung einer Novelle oder auf die Kombination von mehreren Novellen zurückgeht oder hinausläuft. Die Zwischenform ist die Rahmenerzählung, die G. Keller hinsichtlich der „Galathea"-Novellen im „Sinngedicht", aber in gewissem Grade auch bei den Seidwyler Geschichten und den Züricher Novellen ausgeprägt oder angedeutet hat. Der Lyriker Keller dagegen bleibt im Wesentlichen und Wertvollen beschränkt auf den lyrischen Typus der erlebten Meditation, der stimmungsgesättigten Betrachtung, die zwar eine bloße Reflexionslyrik siegreich überwindet, aber den lyrischen Typus der unmittelbaren Gefühlsausdruckslyrik und damit den Typus des Naiv-Herzlichen, des Ungebrochen-Gefühlsechten und Gefühlsreinen nicht voll erreicht. Er war überwiegend Prosa-Epiker, nicht Vers-Lyriker. Er wollte mit dem „Grünen Heinrich" zur lyrischen Stimmungsnovelle ansetzen wie E. Mörike oder J . v. Eichendorff und späterhin Th. Storm. Aber es ist kennzeichnend, daß ihm das kein Genüge tat oder auch, daß er das nicht vermochte. Daher gehört er nicht zu jener Gruppe, die gattungstypologisch Novelle und Lyrik gleichmäßig beherrschen. Soweit er Lyriker war, ge80

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hört er dem visuellen Typus an, nicht dem musikalisch-rhythmischen Typus. Auch die Anlehnung an die „Alten Weisen" konnte darüber nicht hinweghelfen. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß für Keller der lyrische Auftrieb eines glücklichen Liebeserlebens fast völlig ausscheidet. Vielfach mußte er sich mit dem halben Ersatz eines politisch-weltanschaulichen Impulses begnügen. Die „feurige Geisteshelle" (E. Ermatinger) vermag doch nicht zu entschädigen für die spontane Gefühlswärme sich bekennender Leidenschaft, die merklich ausfällt. Denn auch die politische Gesinnung bleibt immer auf eine Sinngebung des Lebens bezogen und also bestenfalls erlebte Meditation. Das durchweg Gedämpfte widerspricht überdies dem Attribut „feurig". Zudem drängt ihn die Ansicht immer wieder auf die Sicht zurück. Das „Trinkt, ο Augen, was die Wimper hält / Von dem goldnen Überfluß der W e l t " hat nicht nur symbolischen Geltungswert, sondern auch wirklichen Erlebniswert für seine Naturliebe und Naturfrömmigkeit. Auch die Gruppe „Erstes Lieben" zeitigt keine reine Gefühlslyrik. Er ist in der Lyrik überwiegend ein bloßer Dilettant und Autodidakt geblieben, nicht nur in den frühen „Leiden eines Autodidakten" (1845), auch weithin in den „Gedichten" (1846), den „Neueren Gedichten" (1851) und den „Gesammelten Gedichten" (1883). Die Verserzählung in nicht immer regelrechten Trochäen „Der Apotheker von Chamounix", dessen Nebentitel „Der kleine Romanzero" lautet, setzt sich nicht besonders erfolgreich mit Heinrich Heines „Romanzero" halb nacheifernd, halb kritisch eifernd auseinander und zugleich mit der sterbenden Romantik bzw. Nachromantik. Streckenweise wandelt hier der alte Kämpe auf dem Kriegspfade der Literatursatire gegen die Trivialromantik. Hübsch gesehen und gesagt ist immerhin, daß es Lessing ist, der die Hitzköpfe Heine und Börne auseinanderbringt. Was aber die Kellersche Lyrik betrifft, so waren vielleicht die Münchener Kneiplieder persönlich unmittelbarer als selbst die politischen Zeitgedichte, denen erst ein äußerer Anstoß von Georg Herwegh und Anastasius Grün zur Hilfe kommen mußte. In diesen Bezirken blieb das Kunstkönnen beträchtlich hinter dem Kunst wollen zurück, während es im Bereich der Erzählung vollendend das erfüllt, was Keller von der Kunst gefordert hatte, nicht zuletzt auch die kunsthandwerkliche Gediegenheit, die den technischen Kunstgriff dem Griff nach der großen Kunst dienstbar zu machen weiß. Theodor Fontane (S. 377 —386) — Wenn Martin Wieland einst im aufklärerischen Rokoko des 18. Jhs. den längere Zeit anstehenden Beweis erbracht hat, daß auch in Deutschland ein bei esprit, ein „Schöngeist" möglich sei (vgl. Bd. II), so hat im 19. Jh.

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Theodor Fontane den Beweis erbracht, daß in Deutschland auch ein genialer Plauderer möglich ist. Das war ebensowenig wie bei Wieland ein Einrennen offener Tore. Denn auch die Möglichkeit eines echten Plauderers hatte man trotz Jean Paul bezweifelt. Zudem hat Fontanes leichte und liebenswürdige Beschwingtheit nicht mit der gelehrten Last Jean Paulscher Zettelkästen sich herumzuschleppen. Und er behilft sich auch nicht nur mit dem auflockernden (bis aufreizenden) geistigen Sprengstoff des Heineschen Witzes. Denn allerdings steckt in Heine auch ein gut Stück Plauderertalent. Aber seine Plauderei war pointierter, Fontanes Plauderei blieb soignierter. Bemerkenswert ist immerhin, daß beide zugleich Balladendichter sind, was nun zum „Plauderer" vorerst so ganz und gar nicht zu passen scheint. Dieser Vergleichsblick ist nicht müßig. Denn er lehrt, daß es nicht gut angeht, Th. Fontane in seiner Gesamtheit auf das Virtuosentum des Plauderers einzuschränken. Wohl aber ist das, was den Romandichter Fontane mit dem Theaterkritiker Fontane verbindet, die Fähigkeit (und Neigung), auch noch das Schwere leicht zu bewegen, das Geistvolle mit dem Gemütvollen glücklich und gestaltungsmäßig gültig zu verbinden, ohne daß das Eine unter dem Anderen leiden müßte. Damit wird wiederum — wie bei Heine — das Wechselspiel und die W e c h s e l w i r k u n g von D i c h t u n g u n d P u b l i z i s t i k berührt. Mit anderen Worten: die Plaudererbegabung umfaßt nicht die Gesamtbegabung, bleibt aber ein nicht zu unterschätzendes Merkmal für das Fontane Eigentümliche. Das gilt besonders dann, wenn man versucht, seine Art zu „plaudern" von der Jean Pauls oder Heines oder des späteren Th. Mann abzuheben. Überhaupt bietet der liebenswürdige Plauderer Fontane mit seinem Kunstwollen mancherlei Überraschungen. Das gilt nicht nur dann, wenn man den frühen Fontane, besonders den Balladendichter mit ins Spiel bringt, also die ζ. T. schroff voneinander abgehobenen Entwicklungsstufen berücksichtigt, sondern auch dann, wenn man etwa die Frage aufwirft, ob und wieweit Fontane mehr zur Rührung oder Erschütterung, mehr zur Komik oder zur Tragik neigt, oder die andere, ob und wieweit er im poetischen Realismus (mit romantischen Zugeständnissen) verharrt oder schon schrittweise sich dem konsequenten Realismus nähert. Fraglos ist ein starker Anteil seines Wirkungswillens auf Rührung eingestellt. Das ist selbst in den Balladen spürbar, tritt aber vollends in der Prosaepik unverkennbar zutage. Auch, wo Fontane auf Erschütterung abzielt, wie etwa in „Stine" oder „Effi Briest" oder dem „Schach von Wuthenow", will er die Rührung nicht gern entbehren. „Irrungen, Wirrungen" ist von vornherein mehr 30·

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auf Rührung als Erschütterung eingestellt trotz der vorübergehend sehr schweren Erschütterung Lenes. Es würde nun die Dinge vergröbern und zu sehr vereinfachen, wenn man folgern wollte: der Plauderer in ihm bevorzugt die Rührung, während hinter der Erschütterung auch in der Prosaepik seiner Romane immer noch der Balladendichter wirksam ist. Vielmehr entspricht es seinem Kunstwollen, Rührung und Erschütterung zu verschmelzen und einander anzugleichen. Theodor Fontane hofft merklich, durch die Rührung im Leser dessen Aufnahmebereitschaft für die Erschütterung zu erhöhen. Weil Lene so rührend anspruchslos und so einfach lieb ist, macht man williger die Erschütterung mit, die sie bei der Begegnung ihres Liebhabers Botho und dessen junger Gattin erleidet („Irrungen, Wirrungen"). Und weil Effi Briest so rührend jung und lieb und im Kern gesund ist, glaubt man williger an ihr inneres Zerbrochensein nach dem verspäteten Duell ihres Gatten mit ihrem Liebhaber und vollends nach ihrer Scheidung („Effi Briest"). Und weilVictoire nach dem teilweisen Verlust ihrer Schönheit (durch Erkrankung) so rührend lebenshungrig wirkt, weil sie so rührend an der Mutter hängt (vgl. G. Kellers Dramenfragment „Therese"), wirkt das Mißbrauchtwerden ihrer spontanen Lebensfreude (durch von Wuthenow) und der latente Liebeswettbewerb mit der Mutter so erschütternd. Kurz, Fontane bereitet die Erschütterung gern durch die Rührung vor, wie er die Kraft der Erschütterung, die ihm an sich zur Verfügung steht, gem mildert durch das Moment einer herben Rührung (Balladen). Und wo die Haupthandlung von vornherein auf die Erschütterung zugeht, sucht er wenigstens noch für die Nebenhandlung das Moment der Rührung zu retten. Die angezogenen Beispiele erinnern zugleich daran, daß Fontane in der Epik das Mann-Weib-Verhältnis fast ebenso stark in den Mittelgrund des psychologischen Interesses rückt, wie es Fr. Hebbel, der ihm sonst wenig verwandt erscheint, im Drama getan hat. Th. Fontane weitet die psychologische Problemnovelle zum Roman aus. Der Ausweitungs- oder Konzentrationsversuch in G. Kellers „Therese"-Fragment war mißglückt. Der Ansatz dazu war bereits mit den „Wahlverwandtschaften" Goethes oder auch dem „Maler Nolten" E. Mörikes gegeben. Die Liebe bleibt durchweg das Zentralmotiv (vgl. auch „Unwiederbringlich"), wenn sich auch einmal in leicht historisierender Färbung und Motivkonstellation Vaterlandsliebe mit Geschlechtsliebe verbindet („Vor dem Sturm") oder wenn die Stimmung der Landschaftsgeschichte stärker die Spannung anzieht als die Liebesgeschichte („Der Stechlin"). Fontane bildet betonter und begrenzter als Keller und C. F. Meyer oder auch Wilh. Raabe den „Liebesroman" im

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engeren Sinne heraus. Am ehesten nähert sich ihm darin noch Th. Storm; aber er bleibt realistischer, Storm romantischer. Zum Romantisieren neigt Fontane am deutlichsten bei der Darstellung des Adels, während Storm darin kritisch-realistischer sieht und urteilt. Die Einstellung des Heimatlandes spielt dabei merklich mit. Dem märkischen Adel hatte Schleswig-Holstein nichts „Ebenbürtiges" zur Seite zu stellen, und der Schleswig-Holsteiner Storm wollte das auch gar nicht. Das lebhafte historische und lokalhistorische Anteilnehmen („Wanderangen durch die Mark Brandenburg") verbesondert sich, ohne in der Romandichtung in erweitertem Grade zur Geltung zu kommen. Überhaupt hält Fontane den Dichter und Publizisten weiter auseinander als etwa H. Heine. Darin ist er verwandt mit G. Freytag, so weit er sonst (u. bes. weltanschaulich) von ihm absteht, und zwar auch im Geistreichen seiner Lebenslehren, die er mit lässiger Eleganz auszustreuen weiß. In dieser liebenswürdig lässigen Eleganz ist er sowohl G. Freytag wie Th. Storm wie C. F. Meyer weit überlegen. An Welt- und Menschenkenntnis nehmen es am ehesten noch G. Keller und Wilh. Raabe mit ihm auf. Aber Fontanes Lebensweisheit wirkt weniger philosophisch unterbaut und eben deshalb weniger angestrengt und weniger aufdringlich wie die Kellers oder Raabes oder späterhin die Th. Manns. Die Mitte hält etwa Storm, der im Gesamt seiner Prosaepik indessen leicht etwas geistarm (wenn auch gemütvoll) wirkt. Mit Keller, Storm und vor allem Raabe teilt Fontane die Schwäche, den Kunstroman um wenige Striche zu weit in den freilich künstlerisch gehobenen Unterhaltungsroman hinübergleiten zu lassen. Weitgehend frei von dieser Schwäche erscheint eigentlich nur C. F. Meyer, wobei die Strenge der formenden Fassung sich vorteilhaft bewährt. In solchen Partien ist das Talent des Plauderers Fontane nicht so ganz .selten zur Gefahr geworden, die veredelte Zweckform der Plauderei in die bloße Unterhaltung, wenngleich in eine ebenso geistvolle wie gemütvolle Unterhaltung zurückzubilden. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob das Kunstwollen in derartigen Fällen nur dem Wirkungswillen zu weit nachgibt oder ob das spezifische Kunstwollen Fontanes sich nicht von vornherein die Kraft zumutet, auch dieses Grenzgebiet, das einst Schiller in der Bürgerrezension noch vermißt und in das Blickfeld künstlerisch wertvoller Aufgaben gerückt hatte, so zu betreuen, daß die große Kluft zwischen den Gebildeten und weniger Gebildeten, auf die Schiller warnend mehr als mahnend hingewiesen hatte, wirklich und wirksam überbrückt wurde. Das von gewisser Seite beanstandete Sympathisieren Fontanes mit dem Adel als dem vermeintlich „letzten Träger" des (romantisiert)

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„Poetischen" schließt ein ebenso warmes Sympathisieren mit dem schlichten Menschen aus dem Volke keineswegs aus. Niemand wird verkennen wollen, daß das Charaktervolle, human Gute im unverbildeten Menschen mit ganz besonderer Liebe von Fontane betreut worden ist (Roswitha in „Effi Briest" oder die Agnes im „Stechlin" usw.). Und auf der anderen Seite fehlt in der Darstellung des Adels neben den Verklärungen die unbestechliche Kritik keineswegs („Schach von Wuthenow", ζ. T. auch die „Poggenpuhls"). Die Spannung Kultur—Natur, hohe Kultur und echte Natur deutet eine der inhaltlichen Haupt-Antriebskräfte des Kunstwollens Fontanes an. Denn die besten Kräfte seines Könnens setzt Fontane gerade für die Erfassung und Profilierung der extremen Stände ein; der „Typen" aus dem Adel (ζ. B . Dubslav im „Stechlin") und der „Typen" aus dem Volke. Das Bürgertum als solches tendiert in seinen wertvollen Eigenschaften und Strebungen einerseits zum Adel oder andererseits zum Volk. Die bürgerliche Substanz als Eigenwert ist Fontane im Grunde weniger vertraut als G. Keller und bei aller Ironie noch Th. Mann. Fontane bevorzugt durchweg die Abhebung des Bürgertums, nicht die Hervorhebung des Bürgertums. Die Abhebung erfolgt in der angedeuteten Weise. Komplizierte Zentralgestalten reizen Fontane weniger als dies bei Keller oder Storm oder Raabe oder C. F. Meyer der Fall ist. Der Ubergang vom Komischen zum Kauzigen und vollends zum Grotesken ist ihm weniger lieb und auch gestaltungsmäßig weniger gangbar als Keller oder Raabe oder Th. Mann. Vielmehr bevorzugt er den Übergang vom Rührenden zum Erschütternden in der angedeuteten Weise (Sterbeszene im „Stechlin"). Der Humor trägt bei ihm seltener das Leitmotiv, setzt sich dagegen im Begleitmotiv durch, wobei der Übergang zur Satire nicht gescheut wird. Aber auch diese Satire gegen das Allzumenschliche bleibt durchweg aufgehoben vom Glauben an das Menschliche. Deshalb verweilt Fontane als kritischer, aber wohlwollender Beobachter lieber bei den Schwächen als bei den Lastern. Und noch hinter dem Verwerfen steht mildernd das Verstehen. Nur wo er auf brutalen Egoismus stößt, kann er robust werden. Und eben weil er selber zu verstehen sucht, prangert er nicht zuletzt diese Verständnislosigkeit an. Weil er das Unberechenbare gerade im Gefühlsleben kennt, stößt ihn jede Berechnung ab. Auch „Mathilde Möhring" stellt nur scheinbar einen schlüssigen Gegenbeweis; denn die Art und Richtung ihrer Berechnung bleibt vom menschlichen Verstehen und Wohlwollen bestimmt. Sie glaubt die Zauberformel gefunden zu haben, mit deren Hilfe das fremde Wohl und das eigene Beste in Einklang gebracht werden können.

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Überhaupt erweisen sich Fontanes Frauengestalten vielfach als lebensklüger im Vergleich mit dem männlichen Partner (vgl. Jenny Treibel). Nur die Liebesleidenschaft ist die große Klippe, an der die gütige Lebenslist und die unverbrauchte Lebenslust der Frau scheitert. Und von diesem Ansatzpunkt aus entwickelt er denn auch vorzugsweise seine Liebesromane. Das Anrechthaben auf Liebe und das Rechthaben im Leben und Richtungbehalten in der Lebensführung werden in Konflikt gebracht. Das Gesetz der Liebe muß sich dem Gesetz des Lebens beugen, und zwar auch des bürgerlichen Lebens und seiner Moralsetzungen und Moralsatzungen. Das Echte fühlen heißt nicht immer das Rechte tun. Hier greift zugleich die G e s e l l s c h a f t s k r i t i k Fontanes ein. Das geschieht nicht so leidenschaftlich wie einst im „Werther", aber doch mit einer lebhaften und zielstrebigen Energie. Fontane kümmert sich dabei weniger um die wirtschaftlichen Dinge als um die seelischen, letztlich rein menschlichen Dinge. Freilich ist er lebensnah genug, um die wirtschaftlichen Verflechtungen und „Verfremdungen" gebührend mit in Rechnung zu stellen. Erinnert sei nur an die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Willen der Verwandten Bothos („Irrungen, Wirrungen"). Und bei „Stine" ist das nicht viel anders. Die flauen und faulen Kompromisse zwischen Gefühl und Verstand, zwischen dem Unberechenbaren des Herzens und dem nur allzu Berechenbaren der ökonomischen Vernunft hat Th. Fontane oft genug und schonungslos genug enthüllt. Das konsequente Reagieren auf den Reiz gilt ihm als verläßlicher als das Reagieren auf den Realismus. Diese Reizempfindlichkeit deutet eigentlich schon über den Naturalismus als konsequenten Realismus hinaus auf den Impressionismus. Soweit damals die kunsttechnischen Voraussetzungen gegeben waren, war Th. Fontane Impressionist, von dem noch der frühe Thomas Mann lernen konnte. Es gibt bei ihm Partien, die wie ein in Prosaepik transponierter A. Schnitzler wirken. Anders gesehen und gesagt, und in die Zeitfolge eingeordnet. Schnitzlers „Liebelei" steht gar nicht so weit ab von „Stine". Die Nebenhandlung von „Stine" könnte irgendwie im „Anatol" Schnitzlers als eine der Situationen begegnen. Gewiß ist es ein Wagnis, Fontane und Schnitzler zu vergleichen. Bei Fontane bleibt alles gediegener, bürgerlicher, herzlicher. Mit einem guten Schuß Rührung arbeitet aber auch Schnitzler, und das Wechselspiel von Rührung und Erschütterung ist, ins Wienerische übertragen, ihm sehr wohl vertraut. Es kam darauf an, nicht Einflüsse anzudeuten (bei Th. Mann liegen sie vor), sondern die Vorleistung Fontanes für den Impressionismus sichtbar werden zu lassen. Hätte seine Lebenszeit und Werkfolge einige Jahrzehnte später eingesetzt, wäre er wahrscheinlich

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der wirksamste oder doch einer der wirksamsten norddeutschen Vertreter des Impressionismus geworden. Selbst der Theaterkritiker neigt (und bekennt sich) zur impressionistischen Methode, als ein Programm des literarischen Impressionismus noch nicht entwickelt worden war. Der gute Beobachter und der gute Menschenkenner in Fontane tragen dazu bei, den Details zugleich einen typischen Geltungswert zu verleihen. Fontane selber fühlt das, setzt es aber gern unter humoristische Belichtung, indem er bewußt forciert das Besondere verallgemeinert: „Alle Geheimräte haben. . .", „Immer haben Dienstboten . . . " usw. Fontane weiß natürlich, daß derartige verallgemeinernde Behauptungen nicht „stimmen"; aber er weiß auch, daß sie dennoch den wesentlichen Eindruck bestimmen helfen. Fontanes gesamtes Schriftstellertum setzt den eindruckswilligen Leser voraus; aber es erleichtert dem Kunstwertaufnehmenden auch allenthalben das Eingehen auf den gewonnenen Eindruck. Fontane mutet seinem Leser nur sehr selten mehr zu, als ein verständnisvoller und eindrucksempfänglicher Leser zu leisten vermag. Das Zwingende seiner gleichsam verfrühten Eindruckskunst liegt gerade in dem Zwanglosen, mit dem er den Dingen, den Menschen, ihren Gedanken, Gefühlen und Willensregungen nachgeht, um den Leser zum vertrauensvollen Nachfolgen zu ermutigen. Und die Reduktion auf den wesentlichen Eindruck, die man besonders für die impressionistische Malerei in Anspruch genommen hat, ist ihm als Sprachkünstler schon durchaus geläufig. Sein Detail dient „immer" dem Typus. Und sein Typus bleibt „immer" auf das Detail angewiesen. Auch dort, wo sein Blick ganz auf das Einzelne gerichtet ist, ist er doch immer hingerichtet auf das Allgemeine, das hinter dem Besonderen sichtbar bleibt. Kurz, Fontane führt den poetischen Realismus sehr nah an den psychologischen Impressionismus heran. Unter Umgehung des Naturalismus, den er theoretisch weitgehend bejaht, weil er in ihm eine Vorstufe des Impressionismus erkannte, führt und bildet er den poetischen Realismus erstaunlich weit in den psychologischen Impressionismus hinüber. Das Berliner Milieu und die märkische Umwelt, als deren meisterhafter Schilderer er mit Recht gilt, hat er weniger mit naturalistischer Beobachter-Mühe als mit impressionistischer Mühelosigkeit im Auswählen und spontanen Auffinden der wesentlichen und „typischen" Eindrücke erfaßt und künstlerisch ebenso gültig wie menschlich gütig gestaltet. Aber diese Impressionen sind noch nicht wie häufig im späteren Impressionismus angewiesen auf mehr oder minder ins Pathologische strebende Sensationen. Das kränkelnd Zarte etwa in Ernestine und Woldemar („Stine") oder das Dämonisch-Triebhafte in

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Hilde („Ellernklipp") sind romantisierend gedämpft, ganz abgesehen vom Kleist-Einfluß im letzten Falle. Der echte und beste Fontane verabscheut das Pathetische ebenso, wie er das Pathologische tunlichst vermeidet. Wohl kennt er die Suggestivkraft des schlechten Gewissens, und das Volkstümliche des Aberglaubens zieht ihn merklich an („Unterm Birnbaum", Gespensterfurcht in „Effi Briest"usw.). Aber den beherrschenden Wertmaßstab bezieht er vom Gesunden. Und auch die Einfühlsamkeit der Eindrucksempfindlichkeit stellt er lieber in den Dienst des Gesunden. Er ist offenbar als Mensch davon überzeugt, und er überzeugt als Dichter davon, daß es im Bereich des Gesunden noch hinreichend Feinheiten und Intimitäten zu entdecken und Verständnis dafür zu erwecken gibt, als daß man das Komplizierte nur oder vorwiegend im Krankhaften suchen müßte (Abhebung von Thomas Mann). Auch seine originellsten Originale (Dubslav im „Stechlin" usw.) brauchen weniger Narrenhaft-Pathologisches als die Käuze G. Kellers. Der „Narr" bei Fontane bleibt immer noch näher der Natur. Und sein Biedermeierliches bleibt immer noch näher dem gesunden Biedermann. Er duldet die Romantik, aber nur im Rahmen der Realistik. Und diese Realistik wahrt nur insofern Fühlung mit der Romantik, wie die Romantik in die Realistik aufgeht und eingeht. Die Romantik ist nicht das Maß, aber die Mitte, in der sich Romantisches und Realistisches zusammenfindet. Th. Fontane duldet die Romantik nur so weit, wie sie sich mit dem Realismus zusammenfindet. Und eben deshalb ist er der Romantiker des Realismus und der Realist der Romantik. Die Dialektik ist für ihn kein Eigenwert, sondern immer nur Beziehungswert, Beziehungswert nämlich auf jene Synthese, die über Romantizismus und Realismus sich aufgipfelt. Die Bedeutung der feinen Stufungswerte, der Nuancierungen der Eindrücke ist Fontane längst vor dem vollen Einsetzen des Impressionismus durchaus vertraut. Im leicht ironischen Reflex seiner Vorstadtschauspielerin Wanda Grützmacher („Stine"), die zwar mehr Grütze im Kopf als Kunst im Herzen hat, wird das so ausgedrückt: „Denn die Akzente machen's im Leben und in der Kunst". Th. Fontane verstand aber nicht nur neu zu akzentuieren, sondern auch zu komponieren. Er wußte ζ. B. trotz aller scheinbaren Planlosigkeit des Plauderers sehr genau, wo etwa ein geistig bedeutsames Gespräch am Platze oder wo es deplaziert war. Er hat sich selber darüber geäußert: „Ich bin — auch darin seine französische Abstammung verratend — im Sprechen wie im Schreiben ein Causeur; aber weil ich und vor allem ein Künstler bin, weiß ich genau, wo die geistreiche Causerie hingehört und wo nicht" (1882, also vor dem Einsatz des Impressionismus). Auf diese Stelle hat

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noch Th. Mann in seiner liebevollen „Anzeige eines Fontane-Buches" (1920), die Conrad Wandreys Fontane-Monographie sehr wohlwollend würdigt, mahnend den Finger gelegt, als ihm Wandreys Überbetonung der angeblichen „Verfalls- und Verarmungsmerkmale" im „Stechlin"-Roman so gar nicht zusagen will. Vollends die — übrigens häufig nachgesprochene — Pointe Wandreys in seiner Kritik an der Gesprächsverteilung im „Stechlin", die unbeschadet der Personencharakteristik einen Austausch der Gesprächsträger für mögüch hält, begegnet Th. Mann merklich schmunzelnd mit dem Seitenwink, was denn wohl bei einem Austausch Domina— Dubslav bei diesem kritischen Experiment herausspringen würde. Und was er dort warmherzig ausführt oder andeutet über die Sterbeszene Dubslavs (Dubslav—Agnes), bestätigt erfreulich das, was oben über das Verhältnis: Rührung—Erschütterung bei Fontane allgemeiner ausgeführt werden mußte. Gerade Th. Manns Sinn für das Feierüche konnte Fontanes Selbsterkenntnis und Selbstbekenntnis seines „mangelnden Sinns für Feierlichkeit" nicht entgehen. Entgangen aber ist ihm, wohl da er mehr auf eine Buchbesprechung als auf eine Fontane-Würdigung verpflichtet war, die eigenartige Überschneidung von körperlicher Krankheit und seelischer Gesundheit oder doch moralischer Gesundheit im „Stine"-Roman. Die körperlich Gesunden: Graf Haldern und die Pittelkow bemerken kaum das Ungesunde der Welt um sich, die körperlich Kranken oder gesundheitlich Anfälligen: Waldemar und Ernestine sind in Wirklichkeit die sittlich Gesunden. Das ist an sich eine Themenkonstellation, die Th. Mann als Theoretiker und in seinem Kunstschaffen immer erneut gefesselt und angelegentlich beschäftigt hat. Auch ist damit eine gewisse Ironie schicksalshaltiger Art verbunden. Th. Mann hätte auch von hier aus und nicht nur, wie es nun geschieht, vom weltanschaulich belangreicheren Gespräch: Instetten—Wüllersdorf („Effi Briest") mit seiner ironischen Brechung und damit eben gerade aus der spezifisch „dichterischen" Infragestellung der Aussage die für seine eigene Kunstauffassung sehr bemerkenswerte Folgerung ziehen können: „Auf eine dichterische (Art). Denn was wäre Dichtung, wenn nicht Ironie, Selbstzucht und Befreiung? — " Was nun den „mangelnden Sinn für Feierlichkeit" betrifft, den Fontane so freimütig zugestand, so entspricht dieser Sinn durchaus nicht nur seinem Kunstvermögen, sondern vor allem auch seinem Kunstwollen. Er will nicht „feierlich" werden; das Alltäglich-Echte scheint ihm auch künstlerisch als wertvoller; und er weiß, wie leicht das Feierliche zum Unechten verleiten kann. Das Schlichte, Kleine und Stille („wat lütt is un still") birgt für ihn (anders und dennoch verwandt mit A. Stifter) mehr Reichtümer des Gemüts („Men-

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schenhart") als die große Gebärde, die allzu leicht umschlägt in ein bloßes Sich-Großgebärden, also in eine Prätention der Größe. Und man sollte Fontanes Sprachstil nicht zu sehr festlegen auf sein merklich ein wenig auftrumpfendes Zugeständnis einer „Bummeloder Geistreichigkeitssprache der Berliner Salons". Es könnte einen ähnlichen Absturz geben wie bei dem leidigen Herumreiten auf Lessings bekannten Selbstbekenntnissen von den „Röhren" und „Pumpen", mit denen er als Dramatiker alles erst aus sich herauspressen müsse. Th. Fontane schreibt auch in den Berliner Romanen oft viel zu schlicht, zart und behutsam, als daß man jenes kecke Schlagwort zu einem Schlagtotwort machen dürfte. Er kennt sehr wohl die Kunst des sparsamen Reichtums, und kaum jemand sonst hat diese Kunst so zu pflegen und zu üben verstanden wie er. Das gilt nicht zuletzt von seiner Motivwahl. Von der Ballade herkommend, in der er noch weit lebendiger nachwirkt als vielfach zugestanden wird, wählt er anfangs in balladesk bewegten Novellen vom Typus der Chronik-Novelle („Ellernklipp" und „GreteMinde") Motive, deren Schroffheit seiner Verbindlichkeit nicht recht angemessen sind. Übrigens könnte „Ellernklipp" recht gut „Hilde" heißen, so daß die Erzählungen mit Titelträgerinnen (Grete Minde, L'Adultera, Cecile, Stine, Effi Briest bis hin zu Mathilde Möhring) noch um eine vermehrt würden. Genauer um zwei; denn „Irrungen, Wirrungen" müßte eigentlich „Lene" heißen. Der reifere Fontane, und er ist auch im Lebensalter schon sehr reif, als er die großen Romane beginnt, weiß, daß er bestimmte Motive und Gestalten bevorzugen muß, wenn er in beschränktem Kreis Meisterschaft gewinnen will. Darin ist er auch mit Th. Storm verwandt und letzten Endes auch mit Th. Mann. Aber bei Th. Mann spielt zugleich das Richtunggebende des großen Anfangserfolges („Buddenbrooks") mit hinein; dem — zum mindesten motivlich — Th. Mann bewußt oder unbewußt immer wieder nachstrebt in freien und doch irgendwie gebundenen Variationen. Th. Fontanes leicht historisierend gefärbter Großroman „Vor dem Sturm" war schon wegen der gelockerten Komposition kein großer Erfolg und konnte nicht gut zum Selbstmuster und Eigenmodell dienen. Immerhin ist bemerkenswert, daß der Großroman am Schluß der Reihe, der ,,Stechlin"-Roman, manches wiederaufgreift von der Problematik des großen Erstlings und auch von dessen ungefüger Aufschwellung. Es sei nur erinnert an die Frage nach der Berechtigung eines frondierenden Adels. Und trotz der von Th. Mann gegen C. Wandrey angemeldeten Bedenken, die zudem abgeschwächt werden durch Th. Manns Eingeständnis seiner persönlichen Vorliebe für „große Greisenwerke", bleibt im Gesamt doch der Eindruck bestehen, daß Fontane in „Vor dem Sturm" die öko-

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nomie der Stoffverteilung noch nicht beherrschte und sie im „Stechlin" nicht mehr beherrschte. Dazwischen hegt das Meisterwerk nach Form und Motiv „Effi Briest", ein mutiges Werk damals auch in der kaum noch verhüllten Tendenz. Hier fanden sich wirklich Ironie, Selbstzucht und Befreiung zum und im organisch gewachsenen Kunstwerk zusammen. Hier auch hatte das Kernmotiv der unglücklich verhinderten („Irrungen, Wirrungen", „Stine") oder zum Unglück geschlossenen Ehe („L'Adultera", „Cecile", „Effi Briest") seine gültigste Ausformung erfahren. Wesentlich für das Kunstwollen Fontanes bleibt die Treue zu der einmal gestellten und das Wiederaufgreifen der vorerst unzulänglich gelösten Aufgabe. Th. Fontane versucht sich zunächst einmal (oder auch mehrmals) an demselben oder einem ähnlichen Motiv und Problem, bis er es vollendet. Die Behutsamkeit und Gediegenheit seiner künstlerischen Arbeit tritt nicht zuletzt darin greifbar zutage. In diesem Sinne vollendet „Effi Briest", was „L'Adultera" mit der Melanie versucht hatte; vollendet der „Stechlin", was „Vor dem Sturm" versucht hatte, um nur die prägnantesten Fälle herauszugreifen. Ähnlich läßt sich beobachten, wie Fontane mit Vorliebe die eine Roman-Figur aus der früheren Roman-Figur merklich und bewundernswert zäh „entwickelt". Das ist nicht nur sparsamer Reichtum, sondern auch künstlerische Selbsterziehung. Was aber die Selbstbescheidung und Selbstbegrenzung betrifft, so harmoniert sie sehr gut mit der schönen Scheu vor dem Demonstrieren und Paradieren in gefühlsmäßigen Dingen und geistigen Deutungen. Die „Bummelsprache" muß nicht selten helfen, die Herzenssprache schonend zu verdecken. Und die „Geistreichigkeitssprache" muß nicht selten helfen, dem hindurchleuchtenden tieferen Sinn das Anspruchsvolle der Tiefgeistigkeit zu ersparen und abzunehmen. In einfachen Worten komplizierte Dinge zu erörtern, aus den einfältigen Worten die vielfältigen Bezüge zu entfalten: eben darin begegnen sich Kunstwollen und Kunstkönnen Fontanes in anspruchsloser und eben deshalb selbstsicherer Meisterschaft. Es ist fast wie mit der Lyrik Storms und der Lyrik R. M. Rilkes, wenn man die Epik Th. Fontanes mit der Th. Manns vergleichen wollte. Storm hat noch den Mut und die Macht des Schlichten in der Lyrik wie Fontane in der Prosaepik. Rilke und Thomas Mann brauchen hier wie dort schon das inhaltlich „Interessante" und in der Form „Raffinierte". Th. Fontane verfügt nicht über den Scharfsinn Th. Manns. Aber seine Lebensweisheit ist gesättigter von Wirklichkeitsbewußtsein und entlasteter von einer philosophischen „Bewußtwerdung". Seine Lebensweisheiten wirken nicht so „erlesen", aber erlebter als die Th. Manns, nicht zuletzt deshalb, weil er dem bloßen Bildungserlebnis

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weniger lebensformende und charakterfördernde Kraft einräumt und zutraut. Klüger — weil kühler — mag Th. Mann sein; aber weiser — weil verstehend-wärmer — dürfte Th. Fontane sein. Das bedeutet nicht, daß Fontane das Wissen um die Dinge unterschätzt hätte gegenüber einem Beleben und Beseelen der Dinge. Seine Briefe, die manchen intimen Einblick in die sogenannte Werkstatt des Künstlers gewähren, betonen selbst noch den Wert jenes Wesens, das der gestaltende Künstler zwar oft in den Hintergrund drängen, das er aber dennoch hindurch scheinen und mittelbar gegenwärtig machen muß, sie betonen die mühevolle Arbeit an Wort und Wortwahl gerade beim echten und ehrlichen Künstler, sie vertreten den starken Anteil der produktiven Kritik an der produktiven Kunst gegenüber dem Vorteil des kritiklos Spontanen, von dem soviel Wesens gemacht wird, weil es so selten wächst. Sie bekunden aber auch die aus schmerzlichem Lebensverzicht gewonnene Überzeugung, daß das ergriffene Beobachten beglückender sein kann als das ergreifende Besitzen. Seine Kritik am „KellerTone", dem Gottfried Keller „die ganze Gotteswelt" erbarmungslos ausgeliefert habe, könnte freilich das Echo herausfordern, daß auch die Fontane-Fontäne, selbst in besonnten Situationen, immer dieselben Regenbogenfarben auf die ganze Gotteswelt abfärben lasse. Nicht immer ist eben der „naturalistische"Stil (der Theorie) der natürliche, persönliche Stil (der Praxis). Aber das Achten auf diese Dinge zeugt dennoch von einem wachen Sinn nicht zuletzt auch für das Kunsttechnische. Ein verblasenes Schwärmen von der hohen Sendung der Kunst liegt Fontane von vornherein fern. Vielleicht neigt er sogar ein wenig dazu, das Kunsttechnische gegenüber dem intuitiv Kunstträchtigen und spontan Kunstmächtigen zu überschätzen, ebenso wie er das schöpferisch Fließende unterschätzt gegenüber dem schaffend Fleißigen. Talent ist ihm Voraussetzung, um den Wertakzent jenseits des spielerischen Talents auf die im Werkschaffen ernst machende Tüchtigkeit zu setzen, wobei indessen das Geniale unversehens ins Schriftstellerische hinüberwechselt. Kein Wunder, daß sich Thomas Mann vorerst noch achtungsvoll auf ihn beruft („Der alte Fontane", Essay 1910), der denn auch in dem gleichzeitigen Angezogen- und Abgestoßensein vom Kommunismus in diesem Zusammenhang nicht versäumt, auf den Plan des alten Fontane, einen großen Roman über die Gruppe um Störtebecker, über „Die Likedeeler" nachdrücklich hinzuweisen. Demgegenüber hat Fontane in der Gestalt des alten Dubslav im „Stechlin" hinreichend klargestellt, wieweit er der Tendenz nach dem „Fortschritt" notfalls nachzugehen bereit war. Es reicht allenfalls zu Teilzugeständnissen an die weiland Sozialdemokratie — und auch das nur unter ständigen Vorbehalten des

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Nationalliberalen. Th. Fontane duldet das Kühne immer nur als Ausnahme des Konservativen. In der Politik heißt die Formel: die Fronde, das Frondieren, des Adels gegen das Herrscherhaus (vgl. auch „Vor dem Sturm") „paßt nicht für uns. Bios mitunter, da paßt sie doch vielleicht'' (Gespräch Dubslav- Frommel im „Stechlin* Roman). Und in der Kunst lautet sie ganz entsprechend, alte Herren, die gleichsam unter Denkmalsschutz stehen, können sich allerlei erlauben, wenn sich auch die Literatur als Ganzes nicht nach dem Geschmack „ganz alter Herren" richten darf: „Aber so nebenher geht es". Mit anderen Worten: man sollte sie wohl anhören, aber ihnen nicht ohne Vorbehalt anhängen. Das gilt in der Politik sowohl wie in der Kunst. Denn, wie es später Thomas Mann bitterer ausdrückt, sie stellen zwar keine Macht dar, bieten aber doch einigen „Trost". In der Tat schwankt Fontanes Kunstwollen und Kunstschaffen ebenso unentwegt wie unentschlossen zwischen Trotz (latenter Anklage) und Trost (verheißender Aussage). Auch im ästhetischen Bereich bietet er der billigen Schönfärberei Trotz, um in der teuren Romantisierung Trost zu finden. Er begrüßt — auch programmatisch — die naturalistische Programmthese von der unbestechlichen Berichterstattung, ja er sieht darin etwas entscheidend Neues und entschieden Zukünftiges. Aber ein Berichten ohne gleichzeitiges Begütigen kann er sich schlechterdings nicht vorstellen und erst recht nicht dichterisch darstellen. Kurz, er ist zu gut, um ganz wahr zu sein. Und er antizipiert die bekannte Variation Bernard Shaws: das ist zu wahr, um schön zu sein. Deshalb ist er nicht bereit, das Wahre zu erkaufen unter restloser Preisgabe des Schönen. Er besitzt nicht die Konsequenz zum konsequenten Realismus. Eher schon besitzt er die Nervosität zur impressionistischen Nuance. Denn der wackere Vorkämpfer des Gesunden fühlt sich keineswegs kerngesund. „Nervös war ich immer" bekennt er im vertraulichen Bereich des Privatbriefes. Aber eben deshalb vermochte er von der „Nervenkunst" des Impressionismus manches vorwegzunehmen. Theoretisch tendiert er besonders in späteren Jahren zum Realismus, praktisch tendiert er zum Impressionismus. In diesem Sinne kamen seine spät genug entstandenen Zeitromane immer noch zu früh. Der poetische Realismus will schon zum psychologischen Impressionismus, bevor er den Filter des konsequenten Realismus (Naturalismus) durchlaufen hat. Fontane wittert schon das Werdende, bevor er dem Wirklichen verfällt. Er beruft sich auf den Beruf und die Berufung des Dichtenden, bevor er den Bereich des nur Berichtenden anerkennt. Das Berichtende imponiert ihm zwar, aber es bietet ihm kein künstlerisches Gewicht. Es ist ihm das Neue, aber nicht das Notwendige.

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Theodor Storm (S. 390—405). — Wenn Otto Ludwig die Naturnachahmung und Naturerfassung des poetischen Realismus unter anderem und besonders anschaulich so erläutert hatte, daß er den beim Kunstwertaufnehmenden entstehenden und vom Kunstwertschaffenden hervorgerufenen Eindruck verglich mit dem T y p u s e i n e s E r i n n e r u n g s b i l d e s , so war Theodor Storm gewiß ein poetischer Realist. Die Übereinstimmung von Kuns+theorie und Kunstpraxis bei demselben Dichter hat nichts Überraschendes. Selten aber entspricht das Kunstwerk des einen Dichters so frappant der kunsttheoretischen Forderung des anderen Dichters wie im Verhältnis 0 . Ludwig—Th. Storm. Das will nicht besagen, daß sich Storm nach dem Programm Otto Ludwigs, das ihm in den Einzelheiten schwerlich bekannt war, irgendwie bewußt „gerichtet" habe. Aber es bestätigt die künstlerische Verwirklichungsmöglichkeit der betreffenden zentralen Programmthese 0 . Ludwigs. Das Bedürfnis, einen leichten Schleier über die Dinge zu breiten, ist bei Th. Storm so lebhaft ausgebildet, daß er sogleich vom bevorzugten Motiv her die Situation der Erinnerung bevorzugt. E r folgt dabei nicht der fremden Satzung, sondern einem eigenen Gestaltungsgesetz. Jenes fast ein wenig stereotype Vorziehen des Erinnerungsmotivs erleichtert ihm wesentlich die kunsttechnische Lösung der bereits theoretisch von 0 . Ludwig gestellten Aufgabe, eine reizvolle Zwischenform zu finden zwischen der rein realistischen Auffassung und einer rein romantischen Sehweise, so daß sich sein persönliches Kunstwollen mit dem Stilwillen der Literaturrichtung recht glücklich begegnet. Denn fraglos wird das Wirklichkeitsbild durch das Medium der Erinnerung von vornherein nahe an das Phantasiebild herangerückt. Es besitzt oder behält indessen hinreichende Eigensubstanz, um nicht über Gebühr in das Phantasiebild überzugehen oder gar in ihm auf- oder verlorenzugehen. Je n a c h d e r D a r s t e l l u n g s a b s i c h t ist der Grad der Annäherung verschieden. Wo ζ. B. Spukhaftes und Gespenstisches hineinragt und hineinragen soll („Im Nachbarhause links; Renate; Schimmelreiter", ζ. T. auch „Viola tricolor" mit dem „Garten der Vergangenheit" im Reflex Ines'), kommt es darstellungstechnisch auf eine möglichst weitgehende Deckung von Wirklichkeitsschicht und Phantasieschicht, vom Wunder der Wirklichkeit und der Wirklichkeit des Wunders oder doch Wunderbaren an. Und bei der Einbeziehung des Wunderbaren stellt sich denn auch folgerichtig eine gewisse Rückbeziehung auf die Romantik ein, besonders auf die jüngere Romantik und Spätromantik, die bereits begonnen hatte, das Spukhafte des Volks-Glaubens und Aberglaubens realistisch suggestiv zu machen. Wo Eigenerlebtes, wo erlebte Wirklichkeit als äußere oder

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innere Wirklichkeit stärker hineinragt („Auf der Universität; Der Herr Etatsrat; Carsten Curator" u. Hauptmotiv von „Viola tricolor"), bleibt die Eigensubstanz des äußerlich oder innerlich Wirklichen stärker bestehen. In solchen Fällen sorgt der Anteil an Autobiographischem von sich aus für eine stärker hervortretende Plastik des „Erinnerungsbildes", das gleichsam Gegenwartsbild bleibt nach Maßgabe und in Auswirkung der inneren Gegenwärtigkeit. Die lyrische Stimmungsnovelle (reine Frühform „Immensee") reagiert dabei im einzelnen wiederum anders als die Charakternovelle und die Schicksalsnovelle oder die Verbesonderung der Chroniknovelle, die theoretisch und praktisch schon W. H. Riehl vorgeahnt und der er mit eigenem Schaffen vorgebahnt hatte. Die volle Entwicklungshöhe scheint mit der Ineinsbildung von Charakternovelle und Schicksalsnovelle erreicht worden zu sein (reinste Ausprägung „Carsten Curator"). Die Vorliebe für das Erinnerungsbild und den distanzierenden Rahmen bleibt bestehen, wie sie sich schon in den frühen Novellenskizzen (ζ. B. „Marthe und ihre Uhr" und „Im Saal", 1847/48) angekündigt hatte. Es ist beachtenswert und zunächst überraschend, daß der Lyriker Storm in der Epik die Distanz sucht. Aber es ist eine Distanz, die das Unmittelbare wohl dämpft, aber nicht bricht, die aus dem Abstand heraus die Sehnsucht steigert, also immer irgendwie doch wieder eine lyrische Distanz, die den äußeren Abstand zur Identität bringt und zwingt mit der inneren Nähe. In dieser r e i z v o l l e n Ü b e r s c h n e i d u n g liegt ein w e s e n t l i c h e s W i r k u n g s g e s e t z der gesamten Dichtung Theodor Storms. Auch dort, wo er im Rahmen und Raum der Chroniknovelle den Rahmen um ein altes Gemälde legt, wie in „Aquis submersus" (1875/76), wo er die „moderne Schwester des Dramas" dem sozialkritischen Anklagedrama angleicht in Auswertung des Motivs der Liebe über Standesunterschiede hinweg (der Maler Johannes hebt die adlige Katharina), schließt die große zeitliche Distanz (17. Jh. nach dem 3ojähr. Kriege) die überzeitliche Nähe einer letztlich lyrisch-elegischen Gefühlsbeteiligung nicht aus. Die Chroniknovelle (stofflich) ist dabei zugleich Schicksalsnovelle (ideelich), fast allzusehr nach Art der Schicksalsdramatik vergangener Tage. Und man kann sich angesichts dieser historischen Novelle, der heimatliche Lokalchroniken zugrunde gelegt worden waren, wohl vorstellen, daß hier Storm so etwas wie eine „Ablösungsform des Dramas" gegeben zu haben glaubte, wenn man etwa an die tragische Ironie denkt, mit der der Vater am Tod des eigenen Sohnes schuldig wird („Culpa patris aquis submersus"), während es im Vorstadium mehr wie eine tragikomische Ironie

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wirken könnte, wenn der Maler Johannes gerade durch den blinden und blutigen Verfolgungseifer des Junkers in die Arme der adligen Katharina getrieben wird. Modernem Empfinden nach dürfte „Carsten Curator" der Vorstellung eher Genüge tun, die Storm von der Novelle als „epischer Schwester des Dramas" sich gemacht hat. Eine Gestalt wie Carsten Curator nimmt es mit der Gestalt des Erbförsters Ulrich im Drama Otto Ludwigs ohne weiteres auf, und zwar auch hinsichtlich der schicksalhaften Verflechtung. Und die lyrischen Wirkungswerte sind hier wie andernorts in der Charakter- und Schicksalsnovelle behutsam zurückgenommen worden. J a , das Meisterwerk, das Storm wirklich dem Tode abringt, der „Schimmelreiter", scheint schon die Novelle zum Roman ausweiten zu wollen. Bei näherem Hinschauen aber gewinnt man den Eindruck, als ob diese Großnovelle (nach H. v. Kleists „Michael Kohlhaas") erneut den Beweis antritt, daß die ausgeweitete Novelle immer auch der strukturell und kompositioneil beste Roman bleibt, von der großen Vorform der „Wahlverwandtschaften" Goethes einmal ganz abgesehen. Gemeint ist dabei naturgemäß die künstlerische Wirkungsform, nicht der Inhalt und das Motiv. Uberspitzt ausgedrückt würde das besagen: der Roman bleibt vorzüglich dann Vollkunst, wenn er sich seines Herkommens von der Novelle bewußt bleibt. Oder er ist nur dann Vollkunst, wenn er auf das Epos, von dem er historisch ausging, wieder zugeht. Novelle und Epos würden, so gesehen, die verläßlichen Regulative für den rechten Roman als echte Dichtkunst darstellen. Was jenseits liegt, bleibe dem Romanschriftsteller vorbehalten. Aber dieser Gedanke sei nur am Rande vermerkt und zur Erwägung gestellt. Wo es indessen um Werte und Wandlungen des dichterischen Kunstwollens geht, dürfen derartige Probleme der systematischen Poetik wenigstens gestreift werden. Th. Storms eifriges Bestreben, zunächst einmal kunsttheoretisch die Novelle an das Drama heranzurücken und ihm ebenbürtig zu machen (denn der Roman interessiert ihn weniger, war auch weniger zu solcher Rangerhöhung geeignet) und die angedeuteten Teilerfolge dürfen nun nicht dazu verführen, die Novelle Storms hinüberzuspielen auf die spezifisch dramatische Novelle Kleists oder Hebbels. Auch die Charakternovelle Storms bleibt immer in gewissem Grade Stimmungsnovelle mit verdeckt lyrisch-elegischer Untermalung. Andererseits bergen die lyrischen Stimmungsnovellen von vornherein den Keim der psychologischen Analyse in sich. Und insofern wäre die p s y c h o l o g i s c h e P r o b l e m n o v e l l e der Traggrund, der die Verbesonderungen trägt und sie entwickelnd hervortreibt. In der Tat tendiert Storm ganz unverkennbar zum 31

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Sondertypus der psychologischen Problemnovelle („Viola tricolor", „Carsten Curator" u. a.) und knüpft insofern an das große Vorbild der „Wahlverwandtschaften" an und im psychologischen Motiv und dessen bevorzugter Herausarbeitung selbst an Novellen Kleists wie „Die Marquise von Ο . . Der Zweikampf, Der Findling, Die Verlobung von Sankt Domingo". Der Primat der Gefühlsverwirrung ruft bei Kleist ohne weiteres eine „problematische" Psychologie herbei, nicht zuletzt im fanatisierten Rechtsgefühl „MichaelKohlhaas". Aber auch Ines in„Viola tricolor"und Carsten Curator in der gleichnamigen Novelle sind in Gefühlsverwirrung und nicht nur in den Konflikt der Pflichten verstrickt. So gesehen, würde Storm auf dem Gebiet der Novelle etwa das herausbilden oder weiterbilden, was Hebbel auf dem Gebiet des Dramas mit einem merklichen Ruck vorantrieb: die psychologische Problemdichtung. Und man begegnet ihm insofern auf einem Wege, der keineswegs zu seiner engen „Husumerei" (herb-humoriges Stichwort und Stichblatt Fontanes) führt, sondern sehr weit in die Zukunft, nämlich über den Naturalismus hinaus in den Impressionismus hinüberweist. Das gilt ebenso von seiner Lyrik, was noch kurz darzutun ist. Das „Harfenmädchen" steht so gut in einer Verwirrung der Gefühle wie „Elisabeth", wie das Mädchen, das in der Hand den Sommerhut trägt („Die Nachtigall"). Und daneben die sehr sensiblen Natur-Eindrucksgedichte „Ein grünes Blatt", „Abseits", „Die Stadt", „Meeresstrand", „Im Walde", das lyrische Epigramm „Juli", wo sich überall die impressionistische Reduktion der Sinneseindrücke auf wenige, aber sehr griffsicher gewählte „eindrucksvoll" geltend macht, ob es sich nun im einzelnen um ein grünes Blatt, den Schrei einer Wandergans, das Aufblitzen einer blauen Fliege im Sonnenglast, die „am Dorn" schwellende rote Beere, den Duft des Thymians handeln mag. Das ist weithin vorweggenommener Impressionismus, freilich ein Impressionismus nicht sowohl des Pleinair als ein I m p r e s s i o n i s m u s n e u r o m a n t i s c h e r S t i m m u n g s t ö n u n g , wobei die Lasur abdämpft im Sinne jenes leicht Verschleierten eines Erinnerungsbildes. Darin besteht die Abstufung gegenüber Fontane, der wohl von Berlin her etwas abschätzig auf Husum hinüberblicken mochte (weil ihm noch kein Lienhard sein geliebtes Berlin verleiden konnte), aber an sich das V o r - I m p r e s s i o n i s t i s c h e mit Storm teilt, nur daß er mehr einem „neurealistischen" als einem „neuromantischen" Impressionismus vorarbeitet (trotz romantisierender Teileinschläge), wobei an den späten Prosaisten, nicht den frühen Balladendichter gedacht wird. Auf dieser unheimlichen Konzentration auf die suggestivkräftige, wenngleich (oder eben weil) zarte Im-

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pression beruht die lyrische „Gegenwärtigkeit", das Stimmungssatte im doch ewig Sehnsüchtigen. Denn dem inhaltlichen Erleben nach bevorzugt Storm das r ü c k g r e i f e n d e E r i n n e r u n g s e r l e b e n oder das in die Zukunft gerichtete v o r g r e i f e n d e W u n s c h e r l e b e n , b e s o n d e r s (abernicht nur) in den kämpferischen Zeitgedichten. Und nicht selten ist die äußere und innere Situation seiner besten lyrischen Gedichte, die lyrische Reizszene gleichsam, die Schnittstelle von rückgreifendem Erinnerungserleben und vorgreifendem Wunscherleben. Dieses vorgreifende Wunscherleben kann rein inhaltlich natürlich auch ein Unerwünschtes bedeuten und stimmungsmäßig ankündigen, so etwa im „Harfenmädchen", wo es kennzeichnenderweise nicht beim „Heute" bleibt oder — aus dem politischen Bereich der Zeitgedichte — in der „Antwort", die das Gedicht „1864" epigrammatisch erklären und rechtfertigen soll. Was sich hierbei auswirkt und anzeigt, ist der Umstand, daß auch der Politiker wie sonst der Poet die Schnittstelle innehält: er war weder dänisch noch preußisch gesonnen, sondern ganz einfach deutsch, vor allem im kultur-patriotischen und heimattreuen Sinne. Deshalb vermochte er nun nicht das triumphierend zu begrüßen, was eingetreten war. Sein vorgreifendes Wunscherleben, etwa in „Epilog" (der Titel täuscht), „Im Herbste 1850" hatte nicht diejenige Art der Lösung gewünscht und erhofft, die nun scheinbar erreicht worden war. Das enthüllt eine jener Enttäuschungen, die den Lyriker Storm das „Abseits", das Einsame, die gedämpften Halbtöne vorziehen lassen, auch auf rein gefühlsmäßigem Gebiet. Die Furcht vor der eigenen enttäuschten Hoffnung und vor dem Enttäuschen der Hoffnung anderer spielt wesentlich mit bei der V o r l i e b e f ü r l a b i l e oder e l e g i s c h e H a l t u n g e n . Die negative Möglichkeit wird vom grüblerischen Sinn sogleich mit erwogen, wo das Positive sich zuversichtlich durchsetzen möchte (vgl. das Hin und Her in Strophe 6 u. 7 des Gedichts „Gräber an der Küste"). Die Furcht vor dem Enttäuschtwerden der Hoffnung dürfte über den Bereich des Gefühlsmäßig-Persönüchen (Liebeslyrik) und den Bereich des Gesinnungsmäßig-Politischen (Zeitgedichte) auch übergegriffen haben auf den religiösen Bezirk, wo die ganz große Hoffnung mit einer ganz großen Enttäuschung drohte, die von Storm — wie er jedenfalls meinte — so tapfer-männlich unterdrückte Hoffnung auf eine mehr als irdische Unsterblichkeit, die zu unterdrücken beim Tode seiner ersten Frau Constanze trotz der Abschwächung der Liebe zur Gewöhnung ihm nicht ganz leicht geworden sein kann. Der Kampf mit dieser oder gegen diese letzte Hoffnung endete in einer Art von kämpferischem Humanismus, von dem in diesem Falle mit mehr Berechtigung 31*

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gesprochen werden kann als in vielen anderen Fällen. Ein „Zug. . . germanischen Heidentums" (Th. Manns Storm-Essay) aus landschaftlichem Herkommen erklärt diese Verbissenheit bis zur Selbstquälerei wohl doch kaum hinreichend. Gewiß spielte das Landsmännische mit wie auch beim Gespensterglauben oder doch einem stimmungsmäßigen Sympathisieren mit dem Spuk- und Gespensterwesen und Gespensterunwesen (i. d. Lyrik ζ. B. „In Bulemanns Haus" und ins Gruselige abgeschwächt im Gedicht „Sturmnacht"). Aber entscheidend war das schwerlich, wie ein Seitenblick auf den Schleswig-Holsteiner Hebbel bestätigt, der mit dem Christentum keineswegs so schnell und vorschnell „fertig" geworden ist wie Th. Storm. Dergestalt ist das Kunstwollen Storms mancherlei Vorbehalten und Hemmungen ausgesetzt und unterworfen gewesen. Aber daß er diesen Hemmungen dennoch ein Höchstes an lyrischem Kunstwert abzugewinnen wußte, fordert doppelte Bewunderung seines rein künstlerischen Vermögens, das gleichsam mit dem s p a r s a m e n R e i c h t u m des E i n f a c h e n u n d E c h t e n wirksam zu „wuchern" wußte, wo andere (ζ. B. Geibel) in Lyrismen schwelgten, ohne das Lyrische heimzubringen. Storm neigte zum mindesten theoretisch dazu, die göttliche Gabe des Lyrischen zu unterschätzen, gerade weil sie ihm geschenkt war und er sie kaum noch ernstlich zu erwerben brauchte. Er überschätzte das, was ihm weniger gegeben war: das Dramatische oder genauer und gerechter: das Drama. Denn das Dramatische verstand er sich in seinen reiferen Charakter- und Schicksalsnovellen erstaunlich gefügig zu machen. Aber im Anlauf zum Drama als Drama hat er versagt. Vielmehr gehört er gattungstypologisch zu den keineswegs allzu häufigen Begabungen des 19. Jahrhunderts, die lyrisches und novellistisches Kunstkönnen vereinigten. Zur Vorbild-Poetik Storms gehören im lyrischen Bereich Eichendorff, Heine und Mörike. Sie alle haben zugleich einen Hang zum Novellistischen. Aber niemand von ihnen hat die Novelle neben der Lyrik so weit im Wert emporzutreiben vermocht wie Th. Storm. Vor allem blieb ihnen die Charakter- und Schicksalsnovelle unzugänglicher. Denn der „Taugenichts" Eichendorffs bleibt der Stimmungsnovelle letztlich lyrischen Gepräges zugewandt und ebenso E. Mörikes Novelle „Mozarts auf der Reise nach Prag". Heines „Harzreise" aber und seine sonstigen „Reisebilder" sind zwar relative Novitäten (relative, weil die Reiseschatten des Schattenspielers Lux von Justinus Kerner vorausgingen), aber keine Novellen im engeren und strengeren Sinne; und sein „Rabbi von Bacherach"-Fragment wollte merklich auf den Roman zu, ganz abgesehen davon, daß es Fragment geblieben ist. Wenn man

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von Eduard Mörike und C. F . Meyer absieht, die teils quantitativ zurückstehen (Mörike), teils typushaft abweichen (C. F. Meyer), bleibt Th. Storm innerhalb des poetischen Realismus (in Vorbereitung des Impressionismus) das überzeugendste Paradigma für ein fast gleichwertiges Nebeneinander von Lyrik und Novellistik. Auch längst nach ihm ist diese Kombination selten, jedenfalls dann, wenn man für Lyrik und Novellistik so hohe Ansprüche stellt, wie sie Th. Storm in seiner Zeit und für seine Zeit, aber doch zugleich über seine Zeit hinaus erfüllt hat. Vielleicht muß man nahe der Küste geboren sein, um Th. Storm spontan und ohne umständliche Interpretation zu verstehen. Kein Wunder, daß ihn Th. Mann bei aller Strebensfremdheit immer noch besser versteht als etwa E . Ermatinger oder letztlich auch Gottfried Keller, der kunsttheoretisch und kunsttechnisch so aufschlußreiche Briefe mit Storm gewechselt hat. Th. Mann erkennt sogleich die kraftvolle (bis bedrohliche) Sinnlichkeit Storms, während Ermatinger ihn ζ. B. durch den Vergleich mit Mörikes Liebeslyrik (ζ. B . „Nimmersatte Liebe") nur dem ängstlichen Rückzug ins Familiär-Moralische zuweist. Und Kellers billige Feuerbach-Überzeugung konnte niemals die nordisch-naturnahe Dämonie des „Schimmelreiters" begreifen oder gar von ihr jenseits aller weltanschaulichen Programme ergriffen werden. Die Schwermütigkeit und Schwerblütigkeit Storms gibt sowohl seiner Lyrik wie seiner Novellistik ihr eigentümliches und unnachahmliches Gepräge. Reich ist er nicht an Motiven und Stimmungen, aber an Motivvariationen und Stimmungsabstufungen. Die Vertiefung durch das Philosophische fehlt ihm; aber über die Vertiefung und Verfeinerung des Psychologischen verfügt er durchaus. Insofern bleibt er im Kern naiv, obwohl er im Außenwerk sentimentalisch, j a gelegentlich selbst sentimental erscheint. Seine politische Haltung wirkt männlich, seine poetische Gestaltung vielfach weiblich. Aber daß er die hochgradige Rezeptivität aufzuwerten vermochte in hochwertige Produktivität, bestätigt die fruchtbare Ineinsbildung beider, an sich etwa gleich starker Faktoren. Daß im Herben zugleich das Süße verborgen und behutsambehütet geborgen ist oder doch sein könnte und sein sollte, hat kaum jemand sonst so eindrucksvoll demonstriert wie Theodor Storm. Daher will sein Lyrisches so gern zum Elegischen, das sowohl seine Lyrik wie seine Novellistik weitgehend bestimmt. Und daher versöhnt sich seine Reflexion so gern mit der Meditation, mit stimmungsgesättigter Betrachtung, Beschauung und Beschaulichkeit. Das Leichtbeschwingte, das er manchmal etwas forciert („Oktoberlied"), fordert immer wieder das Leidbeschwerte

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heraus. Der volle Sonnenschein ist nicht seine Sache, obwohl er stolz darauf gewesen ist, als vermeintlich Erster ein Hochsommergedicht geschaffen zu haben, das freilich lyrisches Epigramm blieb („Juli"). Er hält die Sonne gern hinter einem ebenso zarten wie zähen Wolkenschleier, der die Wärme zugleich dämpft und duldet. Und vielleicht ist überhaupt das Wechselspiel von Dämpfen und Dulden eines der vorzüglichsten Spiele seines Kunsttriebes (Kunstwollens) und eines der verbindlichsten Beispiele seines Kunsttreibens (Kunstschaffens).

II. Exkurse zur fachwissenschaftlichen Poetik Seit etwa der Mitte des 19. Jh.s greifen künstlerische und wissenschaftliche Poetik in ständig verstärktem Grade ineinander über. Dabei sei unvergessen, daß Wurzeln der Germanistik in die Romantik zurückreichen (was Η. A. Korff eingehend und eindrucksvoll dargestellt hat). Jacob Grimm war kein Künstler und mußte dennoch in die Literaturphilosophie der Romantik einbezogen werden. Ähnliches gilt von Solger, Bouterwek u. a. (vgl. Band III). Für den Berichtsraum des vorliegenden und des folgenden Bandes sei etwa verwiesen auf Kleinpaul—Langewiesche, Gregorovius u. a., aber auch auf Emil Utitz mit seiner Konzeption der „neuen Sachlichkeit" (ganz abgesehen von seinen Beiträgen zur philosophischen Ästhetik). Wilhelm Scherer hat Schüler in Otto Brahm und Paul Schlenther, Erich Schmidt steht in auch kunsttheoretisch förderndem Briefwechsel mit Theodor Storm. W. Dilthey wirkt auf Fr. Spielhagen, E. Elster auf G. Benn. Von der Kunstgeschichte her wirken Heinrich Wölfflin und Wilhelm Worringer oder Karl Scheffler unmittelbar auf die Kunstentwicklung auch im literarischen Bereich ein. Der Literaturhistoriker Friedrich Gundolf geht aus dem Kreis um Stefan George hervor. Conrad Wandreys Fontane-Deutung wird durchaus als künstlerische Dichtungsdeutung (selbst von Thomas Mann) empfunden. Thomas Mann bezieht sich auf den deutschen Romanisten Karl Voßler oder den französischen Germanisten Maurice Boucher. Es ist nicht mehr so, daß der Künstler um jeden Preis aus einer falsch verstandenen Selbstbewahrung heraus sich gegen die Meinung des Kunstdeuters und Kunstgeschichtlers verwahrt und grundsätzlich gegen Anregungen von dieser Seite verschließt. Er erkennt mehr und mehr, daß er mit seinem speziellen Kunstwollen oft genug besser aufgehoben ist bei der wissenschaftlichen Kritik als bei der künstlerischen (schämig getarnten) Konkurrenz, die sich — oft aus bestem Wissen und Gewissen heraus — für objektive

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Kritik ausgibt und letztlich doch am eigenen Kunstwollen und seiner vermeintlich zwingenden Verbindlichkeit orientiert bleibt. Man stößt immer wieder auf Tagebuchnotizen von Dichtern, aus denen sich der tiefe Eindruck von literaturwissenschaftlichen Urteilen und fachkritischen Forderungen ablesen läßt. Robert Musil ζ. B. lernt willig von einem kritischen Hinweis auf das rechte Verhältnis von Epik und Lyrik, der ihm von dem Kritiker Alfred Kerr zuteilgeworden ist. Man lernt die Fachwissenschaft und Fachkritik achten und hält es nicht mehr für ein untrügliches Merkmal des Genies, die Wissenschaft zu verachten. Gewiß schlägt die kokette Antipathie immer wieder einmal durch, aber sie ist nicht mehr ausschlaggebend. In beträchtlichem Grade wird der zeitgemäße Respekt vor der Naturwissenschaft auf die Literaturwissenschaft übertragen. Wo die Deutung als tief empfunden wird, setzt sich nur noch ein oberflächlicher Dichter-Dünkel über sie hinweg. Zwar gibt es noch behebte Prügelknaben. Aber die Metrik muß da mehr herhalten und aushalten als die Poetik (etwa im „Charon"-Kreis, wie schon vorher bei Arno Holz). Für die hier vertretene „Methode" spricht es, daß allenthalben dort, wo neben dem Kunstschaffen das Kunstwollen des Dichters verstanden wird, aus der alten Feindschaft eine neue Freundschaft zu werden pflegt oder doch mehr oder minder verschämt und schüchtern aufzukeimen den Mut hat. Man beginnt einzusehen, daß die Kenntnis der Vergangenheit nicht notwendig ein Verständnis der Gegenwart ausschließt. Der Kreis der in diesem Sonderabschnitt behandelten Poetiker wäre mühelos zu erweitem; R o b e r t P r u t z und J u l i a n S c h m i d t könnten zum mindesten als Vorläufer fachwissenschaftlicher Betrachtung auch hier eingelagert werden, P r u t z um so mehr, als er über ein Jahrzehnt lang ein literaturwissenschaftliches Extraordinariat an der Universität Halle bekleidet hat. Beide waren jedoch im Zusammenhang des Vormärz bzw. des ideellen und poetischen Realismus nicht gut zu entbehren. Wenn W i l h e l m D i l t h e y mit seiner Baumgarts und Scherers Poetiken an sich zeitparallelen Schrift „Die Einbildungskraft des Dichters, Bausteine für eine Poetik" (1887) hier fehlt, so deshalb, weil er wirkungsmäßig in einen späteren Zusammenhang gehört (vgl. Band V). Weniger die oben angedeuteten Wechselbeziehungen zwischen Poetik und Poesie können jedoch hier ausgebreitet und ausgedeutet werden; schon aus Raumgründen muß einer Würdigung der fachwissenschaftlichen Poetik als solcher der Vorzug zufallen. Um jedoch auch aus den zahlreichen populärwissenschaftlichen Darstellungen des 19. Jh.s wenigstens ein charakteristisches Beispiel herauszugreifen, sei einleitend noch auf die zu ihrer Zeit

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recht verbreitete „Poetik" von E r n s t K l e i n p a u l eingegangen. Nicht zuletzt war es wohl das Vorbild Fr. Th. Vischers, das den Bearbeiter W . L a n g e w i e s c h e veranlaßte, der vierten Auflage (i860) einen Sonderabschnitt „Von der poetischen Prosa" (also eine Stilistik) einzufügen. Denn den Jungdeutschen mit ihrem Primat der Prosa stand diese religiösen Teilimpulsen folgende Poetik durchaus fern. Dagegen betont das Vorwort der Ausgabe von i860 ausdrücklich, daß Umarbeitungen und Ergänzungen durch die inzwischen erschienenen einschlägigen Arbeiten von Vischer, Carriere, Gottschall und Viehoff erforderlich geworden wären. So bietet die umfangreiche zweiteilige Poetik (über 400 S. Umfang), die angesichts einer anderen (und doch wohl besseren) Stoffgliederung Rudolf v. Gottschalls mit ihrer Disposition in eine gewisse Verlegenheit gerät, zugleich ein Beispiel dafür, wie die „Poetiken" im engeren Sinne etwa nach der Art wissenschaftlicher Arbeiten erweitert wurden. Zugleich aber bietet sie einen Beleg dafür, daß auch im neunzehnten Jahrhundert gelegentlich noch das Unterbringen und Anpreisen eigener Dichtungen (vgl. Band I) beim Zustandekommen derartiger Lehrbücher nicht unbeträchtlich mit im Spiele war. Das gilt nicht sowohl von E. Kleinpaul, der als Schulmann ursprünglich vor allem an Schulzwecke gedacht hatte, als vielmehr von W . Langewiesche, dem Verleger dieser ζ. T. recht eigenartigen Poetik. Geheimnisvoll muß schon Kleinpaul andeuten, daß sein ungenannter Mitarbeiter, der „Verfasser der mit vielseitigem Beifall aufgenommenen .Vorhofklänge' " nun die weitere Herausgabe und Bearbeitung übernähme. Und von der vierten Auflage an —· eine siebente liegt von 1873/74 vor — erhebt dieses letztlich auf verlegerische Dichterhausmacht oder dichterische Verlegerhausmacht feierlich gegründete Unternehmen, genannt „Poetik, die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst" von Kleinpaul—Langewiesche, denn auch künstlerische Ansprüche, „in gewohnter Weise Eigenes und Fremdes zu mischen"; wobei freilich in diesem Falle nicht die Beispielgedichte, sondern die kunsttheoretischen Ansichten gemeint sind. Und zwar geht es um die Dramentheorie, die unter Heranziehung von Aristoteles, Lessing, A. W . Schlegel, Hegel, Vischer, Gottschall, G. Freytag (und weniger Bekannten wie Enk, Hoffmeister u. a.) und offenbar eines hier nicht berührten Gewährsmannes (Friedrich Schiller) entwickelt wird. Der religiöse Teileinschlag läßt Kleinpaul bzw. Langewiesche weniger hart als Fr. Th. Vischer über die „Schicksals- oder Prädestinationstragödie" urteilen, wenngleich Schillers „Braut von Messina" als „geniale Verirrung" erscheint und die Schicksalstragödien Z. Werners, A. Müllners und Grillparzers seine Erwartungen nicht recht erfüllt haben, „wiewohl wir

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auch von diesen die bessern keineswegs so weit verwerfen, wie es nach dem früheren übertriebenen Beifall jetzt in der Ästhetik Sitte ist" (Abwehr Vischers?). Das Schicksal darf nur nicht und nicht nur „ein gespenstisches Etwas" darstellen; vielmehr regt die Kleinpaulsche Poetik an, etwa von einem politischen oder religiösen Geheimbund (vgl. Goethes „Wilhelm Meister") jene Schicksalskräfte ausgehen zu lassen. Die Tragik überhaupt braucht umso weniger niederdrückender Art zu sein, als sich der Blick des religiös gestimmten Zuschauers auf den Gerechtigkeitsausgleich im Jenseits emporrichtet: „Das ist der Punkt, wo in Wahrheit (Abhebung von Schiller) die Bühne an die Kirche grenzen kann". Als Idealform des Dramas scheint etwa eine Verschmelzung von Shakespeare mit der Antike vorzuschweben (siehe Vischer u. a.; besonders seit Wieland). An Einzelheiten seien erwähnt: Ballade und Romanze rechnet Kleinpaul—Langewiesche wegen des erzählenden Inhalts zur epischen Gattung. Es wird versucht, Romanze und Ballade zu unterscheiden, ein immerhin bemerkenswertes, wenn auch nicht sehr tiefgreifendes Unternehmen. Bei dieser Gelegenheit wird berichtet, daß man eine kurze Romanze wohl auch „mitunter als R o m a n e s k e bezeichnet" (also etwa wie Humoreske gebildet). In der Reihe der aus Vorlesungen hervorgegangenen Poetiken hat sich die „Poetik, Rhetorik und Stilistik" (1873) von W i l h e l m W a c k e r n a g e l zeitweise ein gewisses Ansehen erworben, u. a. wohl wegen der klaren Gliederung und den praktischen Informationen über möglichst viele Arten, Unterarten und Sonderformen. Auch der vorherrschende religiöse Tenor dürfte vielfach Anklang gefunden haben. Wilhelm Scherer freilich hielt nicht allzu viel von dieser Poetik. Wackernagel hat sie im wesentlichen in den Jahren 1836/37 als Kolleg in Basel verfasst. Da er kaum irgendwelche Beispiel-Dichtungen bringt, die nach diesem Termin hegen (Platen und H. Heine scheinen das „Modernste" zu sein), so ist jedenfalls in dieser Richtung keine starke spätere Umarbeitung der Vorlesungen zu verzeichnen, die aus seinem Nachlaß herausgegeben worden sind. Zudem waren gewisse Partien wie die über die epische Poesie oder die über die dramatische Poesie bereits vorher (1838) als Abhandlungen publiziert worden. In diesen Fällen tritt jedoch der Umbau und Ausbau greifbarer zutage. Die vorangestellte „Poetik" umfaßt etwa zwei Drittel des umfangreichen Werkes. Aber auch größere Teile der „Rhetorik" gehören im neueren Sinne der Poetik an. Denn da Wackernagel Poesie und Prosa nach alter Methode unterscheidet (Poesie-gebundene, Prosa-ungebundene Rede) und die Poesie der Poetik, die Prosa jedoch der Rhetorik zuweist, so ist er gezwungen, das Kapitel „Die erzählende Prosa" in der „Rhetorik" unterzubringen (S. 24off.), wo denn ζ. B. auch

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über den Roman und die Novelle gehandelt wird (S. 250f.). Trotzdem bestand aber offenbar das Bedürfnis, auch in der „Poetik" wenigstens die Stichwörter Roman, Erzählung usw. zu bringen (S. 81 f.). Beim Roman behilft er sich dabei so, daß er die schon damals nicht ganz neue Erklärung abgibt: „Der Roman ist im Grunde nichts als ein prosaisches E p o s " (S. 81), handelt dann jedoch nur vom Versepos. In der „Rhetorik" lautet die entsprechende Definition für den Roman: „eine bloße Auflösung und Übersetzung epischer Poesie in Prosa" (S.250). Also auch derartige Ansätze zu prinzipiellen, begrifflichen Umschreibungen erweisen sich bei näherem Zusehen als durchweg historisch oder doch auf Historisches bezogen (Vorherrschen der genetischen Wesensbestimmung). Hinzu tritt die merkliche Einwirkung des Historismus im 19. Jh. Besonders das Epos (Versepos) wird ganz auf die Historie oder deren Vorform: Sage usw. verpflichtet. Etwas gelockerter ist—• damit verglichen — das Verhältnis Poesie-Historie im Roman. Aber auch er muß wenigstens den „Anschein von historischem Grund und Boden" aufweisen. Ein bloßes „historisches K o s t ü m " reiche nicht aus, der „historische Hintergrund" dürfe nicht vernachlässigt werden (Hinweis auf W . Scott). In gewisser Weise berührt sich W. in Äußerungen über den historischen Roman mit Bekundungen Grillparzers über das historische Drama (gelegentlich des „Ottokar"-Dramas, etwa zeitparallel mit Wackernagels erster Niederschrift seiner einschlägigen Vorlesung). Denn er vertritt die Ansicht, daß die Charakterisierung nicht-historischer Personen schwieriger und anspruchsvoller sei, während bei historischen Personen vieles schon festliege. Was also Grillparzer von der Motivierung der Handlung im historischen Drama ausführt, beschäftigt W . hinsichtlich der Charakterisierung von RomanGestalten. Eine Bezugnahme aber auf Grillparzers Theorie erfolgt nicht. Der Historismus brachte es mit sich, daß man über diese Dinge nachdachte. Gelockerter — gemessen an der Strenge des Epos — ist im Roman weiterhin das Verhältnis zum Komischen, das im Epos prinzipiell abgelehnt wird, und zwar auch in Mischformen mit dem Ernsten, wie sie ζ. B . in Wielands „Oberon"-Epos hervortreten, von Wackemagel jedoch (ohne Blick für den Übergang der rokokohaften in die romantische Ironie) schroff abgelehnt werden. Die Antipathie gegenüber Wieland ist zugleich moralischreligiös bedingt. Der Roman darf darin duldsamer verfahren. Verzeichnet sei in diesem Zusammenhang immerhin die Umschreibung des Humors („wehmütiges Lächeln des Gemüts") in Abhebung von der bloßen „ L a u n e " als eines früher ζ. T. noch vor dem Fachwort „ H u m o r " gebrauchten Terminus, den W . abstuft als das „Lachen der Sentimentalität" (S. 255). So untersteht ζ. B.

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der satirische Roman zwar weit überwiegend dem Verstand (mehr als andere epische Arten), sollte aber doch den Gefühlsanteil wenigstens als „Laune hineinspielen" lassen (Über Humor und Laune hat sich W. W. besonders im ersten Kapitel „Das Wesen der Poesie" ausgebreitet, s. u.). Der didaktische Roman dagegen gehört ganz und gar zur „Prosa" (d.h. zum Prosaischen) unter Ausklammerung aller eigentlichen „Poesie". An solchen Stellen hätte Wackernagel erkennen müssen, daß seine Haupt-Einteilungskriterien (Poesie— Prosa) nicht ganz stimmen können. Denn im Grunde hätte er nur diesen didaktischen Roman der „Rhetorik" zuordnen können, in der jetzt aber alle nicht in gebundener Sprache auftretenden epischen Arten in Prosa untergebracht werden. So etwa auch die Novelle und die Erzählung, die sich schon dadurch unterscheiden sollen, daß die Erzählung die Längserstreckung des Geschehensablaufs vom Anfang bis zum Ende verfolgt, während die Novelle eine Situation herausgreift, ohne ganz von vorne beginnen und ganz an den Schluß gelangen zu müssen. Hier scheint das, was Jean Paul in der „Vorschule der Ästhetik" dem Romanschriftsteller angeraten hatte (das in medias res), auf den Novellisten übertragen worden zu sein. Doch nimmt Wackemagel keinerlei Notiz von der epischen Theorie Jean Pauls. Ebensowenig hat er für die Novelle die bekannten Bemerkungen Goethes oder die Wendepunkt-Theorie L. Tiecks und vollends nicht die Falkentheorie Paul Heyses (die freilich ζ. Z. der Niederschrift noch nicht vorlag) einbezogen. Die Novelle erscheint so im ganzen mehr als Skizze, zu der sich der Leser das „Minderwesentliche" in Gedanken ergänzen soll (Berücksichtigung der nachschaffenden und ausbauenden Phantasie des Kunstwertaufnehmenden). Um die Gattungstheorie, die noch am reichsten vertreten ist, vollständig beieinander zu haben, muß man, wie angedeutet, die betreffenden Partien aus „Rhetorik" und „Poetik" zusammenziehen. Die „Poetik" erfaßt die Gattungen in Versen, und zwar in ihrem II. Kapitel: „Von der Poesie im Besonderen". Der weitaus größere Teil wird von der Gattungstheorie eingenommen. Da W. die ProsaArten der Epik seiner Gliederung zufolge für die „Rhetorik" aufsparen muß, ist er gezwungen und auch vom Klassifikationseifer her geneigt, nun die Vers-Epik wieder aufzuteilen in „epische Epik(!), lyrische Epik, didaktische Epik". Zur „lyrischen Epik" rechnet er z.B., übrigens nicht so ganz abseitig: Volkslieder, Balladen und Romanzen, aber auch Hymnen. Zur „didaktischen Epik" zählen Idylle, Satire, Fabel, Parabel und Sprichwort (wohl sämtlich in Versform, da sie sonst der „Rhetorik" zugeteilt wären). Die „lyrische Poesie" wird entsprechend gegliedert in „epische Lyrik", die allein von der Antike her (Elegie und chorische Lyrik)

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abgeleitet wird (bei der sich natürlich Ballade, Volkslied, Romanze ebensogut hätten unterbringen lassen), „didaktische Lyrik" und „lyrische Lyrik" (!). Die didaktische Lyrik nimmt dabei den breitesten Raum ein als Lyrik „des Verstandes", der W. offenbar am besten beikommen kann. Das bedeutet aber nicht eine Verkennung der reinen, der „lyrischen Lyrik", also der subjektiven Gefühls-Lyrik. Denn W. definiert: „Lyrische Subjektivität ist allein das Resultat der vollendeten Individualität" (S. 120) und bildet den polaren Gegensatz zur objektiven Epik. Die Lyrik des Gefühls ist der „Gipfel, die Blüte und Frucht dieser ganzen Dichtungsart" (S. 125). Nicht Begebenheiten (Epik), sondern innere „Zustände" sind Gegenstand der Lyrik. — Wenn nun W. hinsichtlich der Dramatik die im 19. Jh. so behebte These vertritt, daß im Dramatischen eine Verbindung des Epischen und Lyrischen hergestellt sei, so begründet er den Anteil des Lyrischen u. a. damit, daß auch der Dramatiker „innere Zustände" mit erfasse, nur eben nicht seine eigenen, sondern die seiner handelnden Personen. Diese Gefühls-„Zustände", die also an sich „außerhalb des Dichters" liegen, werden ihm durch Einfühlung zugänglich (S. 172). Die Hauptgesetze des Dramas werden weitgehend von Aristoteles abgeleitet. Für die Komposition sind entscheidend: Exposition, Verwicklung, Auflösung. Mehrfach beruft sich W. auf die AristotelesAutorität. Demgemäß sind Fünfakter und Dreiakter erwünscht. Neuere Tendenzen zu Vieraktem, Zweiaktern oder gar Einaktern werden bekämpft. Auch der Begriff der „Erkennung", die möglichst mit der Peripethie zusammenfallen soll, wird von Aristoteles übernommen. Wieder entfaltet W. den Ehrgeiz, möglichst viele dramatische Unterarten und Sonderformen aufmarschieren zu lassen bis hin zur Oper, Operette, Singspiel, Melodrama und Vaudeville. Wieder bietet er keine eigentliche Theorie und Wesensbestimmung, sondern durchweg eine bloße Merkmalsbeschreibung oft nur recht äußerlicher Art. Dagegen weicht er auch in diesen Bezirken gern ins Literatur-Geschichtliche aus, nicht etwa in eine Geschichte der Theorien. Uberhaupt wird bei Wackernagel die Tendenz spürbar, sich vor dem Prinzipiellen der Poetik zu flüchten in das Historische, auch in das Historische der Gattungen und Sonderformen. So kommt es, daß man an Stelle einer befriedigenden Definition oder kunstverstandesmäßigen Erfassung allzu häufig eine beruhigend ablenkende Exkursion in das Werden antrifft. Mit anderen Worten: die genetische Wesensbestimmung (Jagd nach den Ursprüngen, vgl. fast noch ausgeprägter bei W. Scherer) überwiegt bei weitem gegenüber einer (merklich vernachlässigten) grundsätzlichen Wesensbestimmung. Wo man das Ende verloren hat, rettet man sich gern in den Anfang. Es fehlt denn auch nicht

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ein Sonder-Kapitel über „Alter und Ursprung der Poesie". Wie weit dabei das Verfahren der früheren Sprachphilosophie (Hamann, Herder, W . v. Humboldt u. a.) für das Verfahren der Poetik unvorteilhaft eingewirkt haben könnte, bleibe hier dahingestellt. So wird ζ. B. die Lyrik gegenüber der Epik entwertet auf Grund ihres vermeintlich jüngeren Herkommens, ganz abgesehen von ihrer subjektiven Einengung und Befangenheit. Dagegen hebt es Wackernagel, allerlei praktische Winke, Warnungen und Belehrungen für die Kunstschaffenden einzuflechten, wobei er gelegentlich hart an die Grenze der alten Anweisungs-Poetik herangerät. Dabei wird nicht übersehen, daß Wackernagel in der Vorbemerkung zur „Poetik" sogleich im ersten Satz abrückt von der Anweisungspoetik: „ E s wäre töricht, Poetik zu lehren und zu lernen . . . " Aber die Lehre gilt bei näherem Zusehen nur dort als „töricht", wo keine begabungsmäßigen Voraussetzungen vorliegen: „ A l s Anleitung und Unterweisung kann die Poetik daher nur für solche tauglich sein (aber immerhin!), die schon besitzen, was ein Dichter braucht: da kann es mitunter gut sein . . ." Und auch, wenn W . mehr „Gesetze" als „Regeln" finden und deren Befolgung fordern will, hatte er darin schon ein Vorbild in Gottsched. So recht will es nicht überzeugen, wenn er von einer „Philosophie der Poesie" (Romantik, vgl. Bd. III) spricht, weil er gleichzeitig eine „Naturgeschichte der Poesie" fordert. E r wird sich gar nicht des Widerspruchs bewußt, wenn er betont, die historisch-philosophische mit der „naturgeschichtlichen" Methode verbinden zu wollen. Befragt man das Eingangskapitel vom „Wesen der Poesie", das nur recht schmächtig ausfällt, so setzt es als Kriterium fest: Einbildungskraft, Gefühl und Verstand. W o ein Ausgleich dieser K r ä f t e erreicht wird, entsteht allein klassische Poesie, so in der Antike, so bei Goethe. Überwiegt dagegen die Einbildungskraft, so entsteht phantastische und romantische Poesie. L . Tieck habe, so gesehen, nicht von ungefähr den Titel „Phantasus" gewählt. Überwiegt das Gefühl, so entsteht entweder „sentimentale" oder „gemütliche" Poesie. Beim Sentimentalen liegt nur eine vorübergehende Reizung des Gefühls vor, beim Gemütlichen ergibt sich ein beständiger Dauerwert. Dieser Unterscheidung von Gefühl und Gemüt entspricht etwa die Abstufung von Laune und Humor, der W . besonders seine Aufmerksamkeit zuwendet. Als Beispieldichter der empfindsamen Richtung gelten Hölty, Matthisson und Salis. Beim Überwiegen des Verstandes entsteht „Reflexionspoesie", die allein durch ein ausgeprägtes Form-„Talent" dem Prosaischen entrissen und dem Poetischen gewonnen werden kann. Ein Beispiel für die geniale Überwindung dieser Gefahrenzone bietet Schiller. Ein Beispiel für das Befangensein in dieser Gefahrenzone bietet J. H. Voß.

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Die Gefahr sieht W . besonders in der Neigung und Nötigung zur „Künstelei". E s kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß er ζ. B . Stefan George in dieses Fegefeuer verbannt haben würde, läßt er sich doch auch nicht von Platens klassischem Anspruch täuschen. Schwer verdächtig scheint ihm, daß Platen in seiner literarischsatirischen Komödie „ D e r romantische Oedipus" den Genius der klassischen Poesie als personifizierten Verstand habe auftreten lassen (S. 21). Wackemagel ist merklich nicht gewillt, sich von Platens Nachklassik echte Klassik vortäuschen zu lassen. Das ist anerkennenswert und zeugt von seinem unbefangenen Urteil. Aber dieses Haltmachen bei Platen bezeugt zugleich, daß seine „Poetik" keineswegs auf den Stand von 1873 gebracht worden ist. Denn sonst hätte er sich sicherlich nicht eine entsprechende Kritik an den Plateniden ζ. B . im Münchener Dichterkreis entgehen lassen. Aber weder I. Geibel noch P. Heyse werden — m. W. —• erwähnt. Als Produkt des Zwiespaltes zwischen Einbildungskraft und Verstand gilt das „Lächerliche und Komische". Hier wie überhaupt gerät W . in Gebiete des allgemein Ästhetischen, wo er vorgibt, vom „Wesen der Poesie" zu handeln. Das gilt auch von seiner Unterscheidung des Erhabenen und Anmutigen, wobei merklich Schillers Abhandlung über „Anmut und Würde" durchschlägt. Wo der Verstand versagt und nur noch die Einbildungskraft weiterhilft, entfaltet sich das Erhabene und die Würde, so etwa in den Oden und Hymnen Klopstocks. Eine Negation der Einbildungskraft durch den Verstand würde zum Häßlichen führen, das für W . indessen jenseits aller echten Poesie liegt. Denn das Schöne bleibt allein das zu erstrebende Ideal. Und das Ästhetische bleibt immer angewiesen auf das Ethische, ja auf das Religiöse. Weil das so ist, rangiert nicht nur Jean Paul, sondern auch J. P. Hebel sehr hoch im ästhetischen Kurs. Aus Hebels „Gespräch auf der Straße nach Basel" hofft W. „eine ganz erschöpfende und vollkommen umfassende Theorie des Humors entwickeln" zu können (S. 25). Das schon von der Romantik vielerörterte „ G e m ü t " steht merklich höher als das „Gefühl", nicht nur an Dauerwert, sondern auch wegen seiner außersinnlichen und übersinnlichen Bezüge. Denn das Gefühl tendiert zur irdischen Sinnlichkeit, das Gemüt aber transponiert in die Transzendenz. Mit anderen Worten: die religiöse Wertung setzt sich bei Wackernagel bis in die Einzelheiten deutlich durch. Das Elementare des Gefühls wird überboten von dem Edlen des Gemüts. Humor wird nicht nur vom Englischen abgeleitet, sondern auch vom mittelalterlichen Latein (humores) und dergestalt mit dem dunkel Biologischen (Feuchtigkeit und Wärme im menschlichen Organismus) und mit der Lehre von den „Temperamenten" in Fühlung gebracht. Gegen Schluß dieses Kapitels gerät

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W. Wackernagel mehr und mehr in die allgemeine Ästhetik. Und nur mit Hilfe Lessings vermag er die Sonderorientierung der Poesie anhand der Darstellungsmittel notdürftig aufrechtzuerhalten. Fortgesetzt drohen sich die anderen Künste von der bildenden Kunst bis zur Tanzkunst einzumischen. Und selbst die Autonomie der Kunst erscheint problematisch angesichts des religiösen Anspruchs. Zum mindesten aber wird die vielberufene Zwecklosigkeit, die W. merklich abwehrt, aufgehoben und in Frage gestellt durch „den Zweck der Mitteilung zum Behufe der Reproduktion" seitens des Kunstwertaufnehmenden. Denn das Nutzlose ist nicht gleichzusetzen mit dem Zwecklosen (S. 30). Hinzu treten die Zweckformen der menschlichen Rede, die zur „reproduzierenden Tätigkeit des Hörers" einladen. Als „bedeutendste" Dichter der „neuesten Zeit" gelten Uhland einerseits und Rückert andererseits. Rückert überschätzt die Ausführung des Gedanklichen gegenüber der Anschauung des Gemütlichen bei Uhland. Wenn nun jedoch Wackernagels Eingehen auf den Rhythmus innerhalb einer Berücksichtigung der Darstellungsmittel als erstaunlich „modern" anmuten könnte, so ist dabei in Abzug zu bringen das Bemühen, die unglückliche Einteilung in gebundene und ungebundene Rede zu rechtfertigen. Das wird bestätigt dadurch, daß W. sehr bald vom Rhythmischen in das Metrische abschwenkt (S. 34), womit er dann das Einteilungsprinzip (gebundene und nicht gebundene Rede) gerettet zu haben glaubt. Den Dreitakt: Einbildungskraft, Gefühl und Verstand jedoch läßt er nachwirken in der Gattungsgliederung und deren Unterteilung. So etwa wird die „epische Lyrik" zurückgeführt auf die Einbildungskraft, die „didaktische Lyrik" auf den Verstand, die „lyrische Lyrik" auf das Gefühl. Aber Andeutungen müssen hier genügen, um wenigstens einen ungefähren Eindruck von der Eigenart der Poetik Wackernagels zu vermitteln. Als Beispiel für die Behandlung der Poetik innerhalb der Ästhetik sei herausgegriffen R o b e r t P r ö l ß (1821—1906): „Ästhetik, Belehrungen über die Wissenschaft vom Schönen in der Kunst" (1878, zitiert nach dritter Aufl. 1904). Auch wenn man einsieht, daß die Poesie innerhalb der Ästhetik eben nur eine von vielen Künsten sein kann und die „Wissenschaft vom Schönen" überwiegt, ist man dennoch erschrocken (bis erschüttert) angesichts der geistigen und ästhetischen Armseligkeit des hier in vielversprechenden §§ an „Belehrungen" Dargelegten. Eben deshalb aber dürfte eine dritte Auflage erforderlich geworden sein. Dabei enthüllt R. Prölß nur besonders naiv, was berühmte Ästhetiker nur etwas schämiger zu verhüllen wissen hinter der imposanten Fassade eines philosophischen Systems. Denn fast überall fällt man aus dem hohen Himmel wolkig webender Konstruktionen auf eine mehr als platte

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Erde, sobald von den einzelnen Künsten etwas einigermaßen Konkretes ausgesagt werden soll, ganz abgesehen davon, daß die meisten Fach-Ästhetiker das vermeintlich Neue aus älteren Sondertheorien der einzelnen Künste zu entnehmen pflegen. Ein Kardinalbeispiel bietet Kants Kernbegriff vom interesselosen Wohlgefallen, das eindeutig abhängig, ja übernommen worden ist von Fr. J. Riedels „Theorie der schönen Künste". Aber diese Beispiele ließen sich häufen. Und es darf daran erinnert werden, daß der „Vater" der deutschen Ästhetik G. A. Baumgarten von der Poetik ausgegangen ist, um zur Ästhetik zu gelangen. Auch in Hegels „Ästhetik" stehen anspruchsvoll konstruktiv-spekulative Partien oft recht unvermittelt neben empirisch-deskriptiven Teilen. Robert Prölß jedenfalls hatte in seinem Abschnitt über die Poesie nichts „Belehrendes" mitzuteilen, was nicht längst bekannt gewesen wäre. Einigemal beruft er sich denn auch reumütig auf Fr. Th. Vischer (S. 288, 292), übrigens —soviel ich sehe — wenigstens im Poesie-Abschnitt der einzige Ästhetiker von Ruf, den er namentlich anführt. Aber inzwischen sind nun immerhin die Naturwissenschaften verstärkt ins Spiel gekommen. Und so geht denn auch die Ästhetik von Robert Prölß aus von den Sinneswahrnehmungen als Voraussetzungen jedes „Bewußtseins", und die Erfahrung wird groß geschrieben. Der erste Abschnitt der Ästhetik hebt demgemäß so an: „Ohne Sinneseindruck keine Vorstellung, ohne Vorstellung kein Bewußtsein". Es ist naturgemäß sehr bald (S. 8) von den „neueren Naturforschern" die Rede, die freilich Irrtümern unterworfen waren. Aber fest steht: „Es ist demnach nicht zu bezweifeln, daß die Sinnesvorstellungen die ersten Tatsachen, ja die Quelle des Bewußtseins sind . . . " Immerhin sind für die „geistige" Kunst der Poesie Abstraktionen erforderlich, die aber wiederum auf die Sinneswahrnehmung zurückzuführen sind; denn „schon die Sinnestätigkeit stellt sich (übrigens stilistisch nicht einwandfrei) als abstrahierende dar. . ." (S. 181). Vollends ist das zu berücksichtigen für die Poesie. Sie rechnet zu den „in zeitlichen Verhältnissen" sich „darstellenden" oder „tönenden Künsten". Es ist unschwer zu erkennen, daß hier Lessings „Laokoon" nachwirkt. Immerhin rückt dadurch die Poesie näher an die Musik heran. Aber R. Wagner findet nur kurze Erwähnung, wo vom Stabreim und dessen Neubelebung (S. 282) die Rede ist, wobei Fouque natürlich vergessen wird. Freilich ist zu bemerken, daß R. Prölß für die Poesie nur etwa 30 Seiten zur Verfügung hat. Er verweist aber (S. 302) hinsichtlich des Dramas auf seinen „Katechismus der Dramaturgie" (1878, 2. Aufl. 1899). In der Poesie, deren geistiger Charakter immerhin anerkannt und von den anderen Künsten abgehoben wird (vgl. schon Herder), manifestiert sich die „sinnliche

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Erscheinungsform" weniger als Ton (Musik) wie vielmehr als „Laut". Vorübergehend droht die Dichtungslehre in „Lautlehre" abzugleiten. Wenn trotzdem die Poesie an der „Spitze der tönenden Künste" erscheint, so nicht zuletzt deshalb, weil sie die Lautung mit der Deutung verbindet, weil der Wortakzent zugleich Sinnakzent und nicht nur Gefühlsakzent (Musik) zu sein pflegt, gemäß der „geistigen" Sphäre der Poesie. Die poetische Sprache nämlich hat es vor allem mit der Veranschaulichung „geistiger" Begriffe zu tun, die zu „Ideen" werden müssen in dem Grade, wie das abstrakt Begriffliche ins konkret Greifbare und Anschaubare übergeht. Die konkrete Erscheinung des Anschaubaren muß jedoch immer „auf das geistige Leben des Menschen bezogen" bleiben (S. 273). R. Prölß ist überzeugt, daß Bildung Voraussetzung bleibt für das künstlerisch Bildende. Aber er ist — offenbar angesichts der vielen Autodidakten — klug genug, Bildung von Gelehrtsein abzuheben (S. 274). Nicht die Breite des Wissens, sondern die (mehrfach betonte) „Tiefe" der Weisheit entscheidet. Eben deshalb gilt es als „Irrtum", wenn die „neueste naturalistische Schule" glaubt, „auf experimentalem Wege" voranzukommen (S. 275). Das dürfte ein Zusatz der 3. Aufl. sein; im einzelnen können diese Auflagen nicht verglichen werden. Aber die Vorrede betont, daß Änderungen auf „neue Richtungen und Grundsätze" hin erfolgt seien (S. VII). Robert Prölß liebt das Schaukelsystem. Sobald er etwas behauptet hat, fällt ihm sogleich beunruhigend der jeweils fällige Einwand ein. Kein Wunder, daß er fortgesetzt mit „Indes" oder „Freilich" oder „Obgleich" arbeitet. Da ist ζ. B. die Rede von der gebundenen Form, die vorab als „poetisch" gilt: „Indes kann in der Poesie die Prosa ebenfalls . . ." (S. 280). Da ist ζ. B. von der Bildung als unerläßlicher Voraussetzung für wertvolle Poesie die Rede: „Freilich darf dabei nicht an die Bildung des Gelehrten oder Fachmanns gedacht werden" (S. 275). Da ist vom Unterschied zwischen Ballade und Romanze die Rede: „obschon vielfach (die Romanze) mit der Ballade verwechselt" wird (S. 287). Hinzu treten die häufigen „Aber" und „Dagegen". Kurz, R. Prölß gibt einerseits zu, was er andererseits zu bedenken gibt. Und fast jeder Ausspruch ist von einem Widerspruch begleitet und durch ihn vermeintlich gesichert. In Wirklichkeit greift er begierig das Landläufige auf, so etwa die Auffassung des Dramas als Synthese von Epik und Lyrik (S. 296). „Aber" er wendet dennoch ein, daß „eigentlich" die „Willensäußerung" kennzeichnender für das Drama ist als jene Kombination von Epik und Lyrik (S. 297). Man hat sich nachgerade daran gewöhnt, daß im Drama die Charaktere entscheiden, um dann doch wieder zu erfahren, daß eigentlich die Willensbekundung 32

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entscheidet. Vorab und vor allem kommt es R. Prölß darauf an, möglichst viele Sonderformen recht oberflächlich einzufangen, sowohl in der Metrik wie in der Dramaturgie, wo ζ. B. auch das Konversationsstück, das Vaudeville oder Melodrama nicht fehlen (S. 303). Sogar für die „genialen Skurrilitäten Grabbes" wird auf diese Weise ein freilich kleiner Raum freigehalten (S. 302). Und vom Melodrama, der Oper, dem „Singballett", dem Singspiel und der „Gesangsposse" ist dann der brutal erzwungene Übergang von der Poesie zur Musik (S. 303) notdürftig (bis notgedrungen) gegeben. Merklich erleichtert atmet R. Prölß jedesmal auf, wo er etwas „schon bei den Griechen" (S. 292) nachweisen kann. Demgemäß schaukelt seine Meinung und Entscheidung auch überall zwischen Volkspoesie und antiker Bildungspoesie. E r hat etwas von Herder gehört, aber auch vieles von Homer. Denn wie heißt es beim Epos ? E s heißt: „Die feinste, mustergültige Form des Epos schufen die Griechen. Homer ist Meister darin" (S. 292). Immerhin sind auch die Erkenntnisse von Jakob Grimm nicht ganz verloren. Denn nur „auf dem Wege der Volkspoesie" konnte sich das echte Epos entwickeln. Sobald es Kunstepos wurde, hat es „mit der Naivität des Glaubens auch einen Teil seiner poetischen Kraft verloren". Bemerkenswert ist vielleicht noch der Einwand gegen die Allegorie (S. 284), wonach die Allegorie den Vergleich so lange durchhält, daß die immer nur relativen Ähnlichkeiten vom eigentlich Gemeinten und Bildlichen notwendig nachlassen und verblassen. Bemerkenswert ist weiterhin der Einwand gegen den Roman als vollwertige Kunstform: „Keine Form läuft so viel Gefahr als diese, ins Formlose zu geraten und unkünstlerische Tendenzen in sich aufzunehmen" (S. 295). Im Gesamt wirkt die Ästhetik und Poetik R. Prölß' reichlich eklektisch, aber eben deshalb zeittypisch. H e r m a n n B a u m g a r t , wie Wackernagel und Scherer ebenfalls Universitäts-Professor und also Fachwissenschaft!er, legt ein sehr umfangreiches „Handbuch der Poetik" vor, das seine Sonderart im Zusatztitel selber bereits andeutet: „Eine kritisch-historische Darstellung der Theorie der Dichtkunst" (1887). Baumgart bevorzugt das induktive Verfahren, bleibt also der Dichtkunst nah. Aber ein Handbuch der Poetik kann so kaum entstehen; B. fühlt das von vornherein (Vorwort), möchte jedoch eine „kompendiarische Anordnung von Formeln der Poetik" vermeiden. Vielmehr glaubt er aus den kritisch-historischen Interpretationen am ehesten noch zu Resultaten zu gelangen, die geeignet sind, zugleich eine Zusammenordnung zu einer Art von Poetik zu gestatten. Ein sehr detailliertes Inhaltsverzeichnis soll offenbar über die Schwierigkeit einigermaßen hinweghelfen. Was H. Baumgart zusammenfaßt, ist offensichtlich aus einigen größeren Abhandlungen hervorgegangen, in denen er

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sich vorzugsweise mit der Kunsttheorie Lessings und Schillers kritisch auseinandersetzt. Es geschieht das auf eine kluge, einsichtige Weise, die sich von Arroganz ebenso weit entfernt hält wie von Zaghaftigkeit. Daher spricht Baumgarts Darstellung von vornherein an. Man hat mit einem menschlich sympathischen, klar denkenden und dennoch liebevoll interpretierenden Gelehrten zu tun, der wirklich etwas zu sagen hat und der (wahrscheinlich deshalb) vom Dreigestirn Wackernagel-Baumgart-Scherer der am unbekanntesten gebliebene Stern ist. Allerdings würden sich seine Darlegungen eher eignen als ergänzender Stoff zu den Anm. von Bd. II (ζ. T. auch von Bd. III). Es fehlt das Überwinden der Sonderprobleme und deren Zusammenschau zu einem konstruktiven Ganzen. Die Sonderprobleme als solche, etwa die „Laokoon"-Frage, deren Erörterung weite Strecken fordert, oder die Problemstellung von Lessings und Schillers Dramaturgie, die sich ebenfalls gründlich, aber grenzenlos ausbreitet, kommen zu ihrem vollen Recht, erscheinen aber doch zu bevorrechtigt, als daß eine systematische Poetik auf historischer Grundlage Zustandekommen könnte. Immerhin bleibt erstaunlich, wie vieles H. Baumgart für die allgemeine Poetik und besonders für die Gattungstheorie und Bestimmung der Einzelarten aus diesen an sich beengten Ansätzen herauszuholen weiß. Aber deutlich bleibt das Aufschwellen und notdürftige Zusammenstellen von Einzel-Essays oder richtiger: von riesenhaften Einzelabhandlungen. Η. B. beruft sich denn auch ζ. B . auf seinen Aufsatz „Über den Begriff der tragischen Katharsis" (Fleckeisens Jbb. für klass. Philol., Jg. 1875) oder auf seine A b handlung „Über Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft" (1886), wobei damals das Attribut „ästhetisch" schon hinzugefügt werden muß, um sich verständlich zu machen. Außerdem wird mehrfach Bezug genommen auf die ein Jahrzehnt vorder „ P o e t i k " erschienene Schrift „Aristoteles, Lessing und Goethe" (1877). Das Zurückführen und Ableiten aller wesentlichen Gesetze von Lessings und Schillers Kunsttheorie bringt es mit sich, daß kaum irgendwo ein damals modernerer Dichtername begegnet (vgl. auch das Namensregister). Weder Grillparzer noch Hebbel noch Heine, weder Keller noch Storm noch Raabe noch Freytag werden erfaßt, von den kleineren Geistern ganz zu schweigen. Kurz, dieses „Handbuch der Poetik" aus dem Jahr von Wilh. Bölsches „Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie, Prolegomena einer realistischen Ästhetik" und der denkwürdigen Berliner Aufführung von Ibsens „Gespenstern" (etwa ein Jahrzehnt vorher lag die Berliner Aufführung von „Die Stützen der Gesellschaft") beschränkt sich mit seinen Beispielen bewußt auf das 18. Jh. und die Antike, wenn B . auch gelegentlich einmal 32·

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Gustav Schwab erwähnt (bei Erörterung der Legende) oder Byron. Dahinter steht seine einleitend ausgesprochene Überzeugung: „Soweit die heute geltende Poetik auf einigermaßen festem Boden steht, stützt sie sich in den Fundamentalsätzen überall auf die von L e s s i n g u n d S c h i l l e r gewonnenen Resultate". Philosophisch gehe Lessing auf Aristoteles, Schiller auf Kant zurück. Aristoteles wird ζ. T. sogar gegen Lessing ausgespielt, und Kant ist ein eigener Anhang gewidmet „Kants Kritik der ästhetischen (!) Urteilskraft in ihrem Verhältnis zur aristotelischen Philosophie" (S. 701 ff.). Diese Partien sind inzwischen von der Sonderforschung weitgehend überholt worden. Was das Aufbauen auf Lessing betrifft, so ist es mit einem beträchtlichen Umbauen verbunden, besonders in der „Laokoon"Interpretation, die an Herders Kritik anknüpft. Um nur das Wesentliche anzudeuten: Baumgart unterscheidet Gegenstand und Mittel der Poesie, eine Unterscheidung, die von Lessing vernachlässigt worden sei. Die Gegenstände an sich hätten Poesie und Malerei gemeinsam; aber die technischen Mittel seien verschieden. Sowohl die „Handlungen" einerseits wie die „Körper" andererseits sind nicht die „Gegenstände" der beiden verglichenen Künste, sondern nur „Mittel". Was nun die Abwehr der schildernden Lyrik betrifft, so gibt Baumgart zu bedenken, daß gerade die Lyrik in ihrem Wesen ein „Stationäres" an sich habe als Vermittlerin und Offenbarerin von „Seelenzuständen". Die Bewegung in ihr sei in hervorragenden Fällen wie Goethes „Wanderers Nachtlied, Ein anderes" kaum nachweisbar („Über allen Gipfeln / Ist Ruh . . .") oder nur sehr gering als Gefühlsschwankung spürbar wie in „An den Mond". Kurz, Baumgart stehen schon ganz andere und überzeugendere Beispiele zur Verfügung als dem jungen Herder der „Kritischen Wälder" (1769). Und das weiß er zu nutzen. Mit Herder ist er übrigens auch nicht recht einverstanden, besonders nicht mit dem allzu lehrhaften Legendendichter. Garves eingehende „Laokoon"-Rezension, auf die meine Dissertation aufmerksam machen konnte, ist ihm noch nicht bekannt, sonst würde er auf den Einwand Garves betreffs der Funktion der nachschaffenden Phantasie eingegangen sein. Dagegen arbeitet er die Aufgabe der Poesie, vor allem SeelenBewegungen zu bewirken (nicht nur Handlungs-Abläufe), nachdrücklich heraus. Das „Materielle" an den Naturobjekten ist an sich minderwertig (Abwehr des Realismus) und kann nur als „Mittel'' kunstwertig werden. Es geht in der Kunst um seelische Vorgänge: „Was das Leben erfüllt als sein wesentlichster Inhalt in allen seinen Vorgängen und Erscheinungen, das reproduziert die Kunst selbständig (!); sie stellt es dar, dem Leben folgend, diesen seinen

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wesentlichen (!) Inhalt nachahmend mit den Mitteln, die sie jedesmal aufzuwenden h a t " (S. 39). E s ist nicht uninteressant, daß diese Definition wenige Jahre vor dem bekannten Gesetz liegt, das Arno Holz formuliert (1891). Abweichung (verdeutlicht durch !) und teilweise wörtlicher Anklang sind leicht erkennbar. An sich steht Baumgart weit ab vom Naturalismus. Schon der Realismus in G. A. Bürgers Balladen fällt ihm auf die Nerven. Aber er bringt immerhin eine Definition der Ballade (was W . Kayser noch in seiner Geschichte der Ballade verschmähte) und vor allem: er bemüht sich um eine Unterscheidung von Ballade und Romanze. Die Ballade gehört zur Lyrik (ihrem Wesen nach), sie scheint nur episch zu sein (ihren Mitteln nach). Daher muß das Erzählende in ihr dem Lyrischen zugekehrt und untergeordnet bleiben, was erleichtert wird, wenn sich der Balladendichter mit bloßen „ A n deutungen" von handlungsmäßigen Vorgängen begnügt (S. 64). Daher möchte Baumgart die „Pseudo-Ballade" Schillers (weil zu geschehensreich) nicht recht gelten lassen, jedenfalls nicht im Sinne der Vorbildlichkeit, die eher von den älteren schottischen Balladen beansprucht werden könne. Die Romanze stellt B. rangmäßig unter die Ballade. Ihr haftet etwas Künstliches, Verfeinert-Überfeinertes an und mangelt daher die „großartige Einfachheit" der Ballade. Die Romanze wird so definiert: „Die in hedartiger Haltung vermittelst der Andeutung eines Vorganges, der Umrisse einer Handlung erfolgte Nachahmung jenes romantischen Ethos wäre also eine Romanze" (S. 73). Unter „ E t h o s " (ein bevorzugter Terminus, der durchgängig begegnet) versteht B. nicht einfach Sittlichkeit, sondern eine Spielform oder Zwischenspielform von Charakter, Gesinnung, Haltung (vgl. Hegels Terminus „Pathos"). Das kurz zu erläutern liegt Anlaß vor, weil dieser zentrale Terminus mehrfach gerade in Definitionen auftaucht. Seine Elastizität ermöglicht — kritisch gesehen — B . ein gewisses Ausweichen vor der letzten Begriffsklarheit, indem er ihm freien Spielraum durch Mehrdeutigkeit offenhält (ähnlich Hegels „Pathos"). Dieses „ E t h o s " ist ein Wertkriterium für alle Dichtgattungen (und Arten), ja für die Poesie (und Kunst) überhaupt. Der Terminus tritt ζ. B. auch bei der Definition der Satire in Funktion. Da Definitionen der Satire nicht gerade häufig sind, sei sie verzeichnet: „Die Satire ist die Nachahmung eines Ethos vermittelst der einander wechselweise klärenden Empfindungen des Lächerlichen und des Wohlgefälligen, welche durch die Vorführung des fehlerhaften Widerspieles der diesem Ethos zu Grunde liegenden Gesinnungen, Meinungen oder Überzeugungen erregt werden" (S. 108/09). B· möchte die Reichweite dieser Definition über die Sonderform der Satire hinaus auf die „humoristisch-satirische Dich-

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tung überhaupt" ausdehnen. Den Katharsisbegriff, dessen damals relativ moderne Fassung als „Entladung" (nicht „Reinigung") durch Jakob Bernays (vgl. Abschnitt: Münchener Dichterkreis) von Baumgart in einer längeren Argumentation (die er überhaupt liebt) abgelehnt wird, hat er kaum ernstlich gefördert. Er geht da — wie mehrfach — wieder auf die Aristoteles-Autorität zurück. Aber er möchte den Katharsisbegriff überhaupt nicht eingeschränkt sehen auf die Tragödie. Da er ihn im wesentlichen mit „Läuterang" umschreibt, so fällt es nicht schwer, ihn für die Poesie ganz allgemein, ja für die Kunst schlechtweg in Anspruch zu nehmen. Zu derartigen Ausweitungen neigt er aber auch sonst. Methodologisch betrachtet, dürfte dieses Verfahren mit der Notwendigkeit zusammenhängen, irgendwie aus den Spezialuntersuchungen (Lessing-Schiller bzw. Aristoteles-Kant) den Anschluß an die allgemeine Poetik zu gewinnen. Das wird ζ. B. ebenso spürbar beim „Ethos"-Begriff, beim Symbolbegriff usw. Obwohl er Goethes Unterscheidung von Allegorie und Symbol kennt, will er mit dem Symbolischen nicht recht klarkommen, wie hier denn auch die sonst angestrebte Definition fehlt. Man erfährt mehr negative Kriterien, so etwa, daß das Symbolische n i c h t angewiesen ist, wie das Allegorische Zug um Zug die logisch-begriffliche Proportion durchzuhalten. Es braucht nicht bei der Durchführung „den einzelnen Bestandteilen der vorschwebenden Begriffsverhältnisse (sich) genau anzuschließen", wie dies bei der ausgebauten Allegorie erforderlich erscheint. Das Symbolische hat jedenfalls mehr geistige Weite und größere Freiheit im Aufrechterhalten der Ähnlichkeiten zwischen Anschauungsschicht und Ideenschicht. Zur symbolischen Poesie rechnet B. u. a. Goethes „Gesang der Geister über den Wassern, An Schwager Kronos, Ganymed, Die Nektartropfen" oder Schillers „Das verschleierte Bild zu Sais, Das eleusische Fest, Der Pilgrim, Die Klage der Ceres". Nicht ganz überzeugend wirkt die Beispielgruppe für das Allegorische: Goethes „Mahomets Gesang, Seefahrt, Deutscher Parnass, Magisches Netz, Lilis Park" oder Schillers „Die Teilung der Erde, Das Mädchen aus der Fremde". Sollte nicht zum mindesten „Mahomet" (wohl die bekanntere Hymne ist gemeint) eher der symbolischen Poesie zuzuordnen sein ? Aber Baumgart deckt sich dadurch, daß er ausdrücklich von der Möglichkeit einer wirklich „künstlerischen Allegorie" spricht (Nachwirkung einer Überschätzung der Allegorie von Winckelmann usw.). Umgekehrt möchte man fragen, ob Thorwaldsens Relief „Alter der Liebe" denn wirklich als „Meisterwerk symbolisierender Kunst" gelten kann oder ob hier nicht das Allegorische bedenklich nahe steht. Anzuerkennen bleibt bei alledem, daß sich Baumgart an so

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schwierige Unterscheidungen wie Ballade und Romanze, Allegorie und Symbol wenigstens heranwagt. In gewissem Grade gehört dazu auch der Versuch einer abhebenden oder doch abstufenden Bestimmung von Parabel und Allegorie einerseits, Parabel und Tierfabel andererseits. Freilich gerät er dabei ζ. T. beträchtlich in Subtilitäten (und auch in Schwulitäten). Schon Jakob Grimm scheint der echte Charakter der Tiergeschichte in dem Augenblick gefährdet zu sein, wo sie als Tierfabel einer lehrhaften „Nutzanwendung" dienstbar gemacht wurde und bei dieser Gelegenheit die Annäherung an die Parabel zutage trat. H. Baumgart glaubt so unterscheiden zu können: die Tierfabel hat sich immer noch einen Rest der epischen Eigengeltung bewahrt, die Parabel als Gleichnisrede dagegen ist von vornherein aus dem Willen zum belehrenden Vergleichen entstanden. Die recht umständliche Definition der Parabel (S. 182) kann hier entbehrt werden. Wertvoller sind die Beispiele. B. warnt davor, alles das, was Goethe unter „Parabolisches" zusammenfaßte, nun kurzweg für Parabeln zu erklären. Geliert ist verläßlicher („Die beiden Wächter, Die Reise"), Fr. Rückert mit dem „Mann im Syrerland", ebenso Lessings Prosa-Parabel vom Bauplan des Palastes (eingelagert in die „Anti-Goeze"-Streitschriften) und seine Versparabel von den drei Ringen im „Nathan". Was das Verhältnis ParabelAllegorie (Allegorie galt damals noch als Gedicht-Art) betrifft, so rechnet B. die Allegorie als Gedichtart zur Lyrik, die Parabel dagegen zur Epik. Schillers „Pegasus im Joch" gilt demnach als künstlerisch wertvolle Parabel, Herders „Licht und Liebe" demgegenüber als „bloße Allegorie", also nicht einmal als „poetische, künstlerische" Allegorie. Sobald sich die Epik der Allegorie bemächtigt, indem das Geschehen als Exempel überwiegt, entsteht notwendig eine Parabel. Diese Dinge wurden am Wege mitgenommen, weil man über sie relativ selten etwas Verläßliches oder auch nur Eingehendes erfährt. Wollte man die Definition der Parabel hierhersetzen, so müßte man vorher (wie im Grunde schon bei der Satire) erklären, was denn nun eigentlich mit dem „Wohlgefälligen" einerseits und dem „Lächerlichen" andererseits gemeint sei. Das aber würde breitere Erörterungen erfordern, deren Resultat in keinem rechten Verhältnis zum Aufwand stände. Nur soviel sei angedeutet, daß die Parabel nicht selten mit dem didaktischen Erziehungsmittel des Lächerlichen arbeitet. Der Streit um den Bauplan des Palastes muß (und soll) lächerlich wirken in der Situation, wo der Palast brennt (Lessing). Eben deshalb aber wäre Baumgart, wenn er schon genau verfahren wollte, eigentlich zu einer Unterscheidung von Parabel und Satire verpflichtet gewesen. In Wirklichkeit spielen Parabel

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und Allegorie oder Fabel und Satire so mannigfach ineinander, daß viel Mut dazu gehört, eine reinliche Scheidung und einleuchtende Unterscheidung zu versuchen. Parabel zielt mehr auf den Zweck (aber auch die Tierfabel tut es), Allegorie mehr auf die Darstellungsmittel. Tierfabel und Parabel heben sich ganz primitiv ab durch die handelnden Gestalten. Die Tierfabel muß Tiere wählen, was die Parabel zum mindesten nicht nötig hat, meistens auch nicht bevorzugt. Aber das ist schon nicht mehr Baumgart. Man gewinnt den Gesamteindruck, daß hier jemand am Werke ist, der vor lauter Verpflichtung zu Definitionen seine Gabe zu Interpretationen (ζ. B. über den „Gefesselten Prometheus" des Sophokles) unterschätzt. Die ζ. T. recht vertüftelte Begriffs-Umschreibung will gar nicht so recht harmonieren mit der gelegentlich überraschenden und überzeugenden Feinheit der Einfühlung. Eine modernisierte Emotionstheorie möchte ihre späte Auferstehung feiern; aber nur Aristoteles ist wirklich unsterblich (nach Baumgarts Meinung). Obwohl er Definitionen durch Beispiele stützt, hat man das Gefühl (und Urteil), daß die Untersuchungsbasis zu schmal bleibt, um so kühne Konstruktionen (vom „ E t h o s " usw.) tragen zu können. Es war 1887 nicht mehr verant wort bar, letztlich alles Wesentliche der Poetik auf Lessing und Schiller bzw. auf Aristoteles und Kant zurückzuführen, so bewundernswert es auch immer sein mag, wenn ihnen H. Baumgart teilweise ungeahnte Perspektiven und Direktiven abzugewinnen versteht. Es bleibt immer etwas vom Beklommenen des zu Isolierten und zu Konstruierten und auch ein wenig von der Tragikomik des um jeden Preis rückwärtsschauenden Kunst-Propheten, den nur Gewährsmänner ermutigen, eine „eigene'' Meinung zu haben. So bleibt es bei manchem tapferen Anlauf im Einzelnen, doch im Gesamten bei dem berühmt-berüchtigten Mosaik fremder Meinungen. Die aus den Steinchen geschlagenen Funken leuchten wohl kurz auf, aber sie zünden nicht. Und so ganz ungestraft bleibt auch der nicht, der über die kühle Klugheit verfügt, sich seiner Gegenwart möglichst fernzuhalten. Hinter der „Poetik" von W i l h e l m S c h e r e r (postum 1888, erste Entwürfe 1875) steht der große Name, aber — wenn man der Überlieferung folgen will — auch eine ebenso große Enttäuschung. Diese Enttäuschung erklärt sich aus dem rein empirisch-deskriptiven Charakter, aus dem Glauben an die Vorzüge der Klassifikation nach naturwissenschaftlichem Vorbild, aus der wenig glücklichen Gliederung usw. Es scheint indessen ratsam, das herkömmliche Urteil und Vorurteil nicht einfach nachzusprechen: Zunächst einmal muß klargestellt werden, daß W. Scherers „ P o e t i k " ein Nachlaßwerk darstellt, das in der nun vorhegenden Fassung nicht von ihm selber zum Druck befördert, sondern von seinem Schüler R. M.

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Meyer aus eigenen Kolleg-Konzepten Scherers und Nachschriften einiger seiner Hörer rekonstruiert worden ist. Hinzu kommt, daß es sich dabei um eine zum erstenmal gehaltene, also noch nicht durchgearbeitete bzw. voll ausgereifte Vorlesung handelt. Die Merkmale dieser späten „Probefahrt" sind allenthalben mühelos zu erkennen (betonte Rechtfertigung des Verfahrens, Verweise auf später noch zu Erörterndes usw.). Aber auch bei voller Würdigung dieser unzulänglichen Situation kann kein Zweifel darüber bestehen, daß W . Scherer auch bei etwaigen Umarbeitungen die empirische Grandposition gewahrt haben würde. Mehrfach betont Scherer ganz bewußt, eine „empirische Poetik", eine „philologische Poetik" bieten zu wollen. Von der deduktiven Ästhetik hält er nicht viel, besonders nicht von einer nur „spekulativen Ästhetik" (S. 59), gegen die schon Hermann Hettner mit Recht Front gemacht habe (H. Hettner: Wider die spekulative Ästhetik 1845). Hegels Ästhetik bringt es zwar zu einem Achtungserfolg; aber so ganz wohl ist Scherer nicht dabei. Es scheint ihm nur, als ob Hermann Hettner etwas zu weit gegangen sei in seiner Polemik, indem er neben der mit Recht verworfenen deduktiv-spekulativen Ästhetik nicht die Möglichkeit einer „empirischen Ästhetik" hinreichend in Erwägung gezogen habe. Vor allem begrüßt er deshalb G. Th. F e c h n e r und dessen zweibändige „Vorschule der Ästhetik" (1876, Titelanklang an Jean Paul), weil Fechner überwiegend induktiv, „von unten" vorgegangen sei. Die Ästhetik „von oben", also von postulierten und konstruierten Oberbegriffen aus hatte einst schon der junge Herder verworfen (vgl. Bd. II). Kein Wunder, daß Scherer dort anknüpfen möchte, wo der junge Herder so verheißungsvoll angesetzt hatte, um das Wesen der Poesie zu erfassen. Kein schlechtes Zeichen aber auch, daß Scherer diesen würdigen Traditionsträger wählt, um selber auf noch recht ungebahntem Gebiet weiter zu finden. Und hier wäre schon eine der Stellen, wo man sich den klar abschätzenden Blick auf die Vorzüge der „Poetik" W. Scherers nicht durch die erwähnten Vorurteile verstellen und verschleiern lassen darf. Hat denn Scherer so ganz Unrecht, wenn er bedauert, daß die zünftige Ästhetik ganz außer Kontakt gekommen sei mit der wirklichen Poesie, daß ihre „Gesetze" in dem Augenbück eine peinliche „Unbrauchbarkeit" beweisen, wo sie sich in der Anwendung auf einen konkreten Sonderfall (Einzelanalyse, Sonderinterpretation) bewähren sollten, daß ihre Urteile V e r b l a s e n bleiben, wo s i e den Einzelfall beurteilen helfen müßten: „man braucht bloß einmal die Charakteristiken dort anzusehen: überall erscheint „schwungvoll" u. dgl." — er hätte auch „außerordentlich" oder „imposant" sagen können! Kurz, die begriffliche Ästhetik versagt dort, wo sie das Einzelne als poetisch

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Echtes ergreifen sollte. Eben deshalb darf Scherer zu bedenken geben, daß die Ästhetik kaum irgendwo die Poetik gefördert habe. Nur bei A. G. Baumgarten scheint er mit solcher Skepsis zu weit zu gehen, wohl deshalb, weil er in der Hast des ersten Entwurfs ganz vergißt, daß gerade der „Vater" der deutschen Ästhetik ursprünglich von der Poetik ausgegangen war („Meditationes", vgl. Bd. II). Hätte W. Scherer das gewußt, er hätte sich sicherlich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, die stolze Ästhetik daran zu erinnern, daß sie ja einmal selber aus der Poetik hervorgegangen ist. Während Herders Weg als derjenige gilt, der „vielleicht am meisten eine neue Poetik vorbereitet" habe (S. 58), habe es Baumgarten „nirgends zu fruchtbringenden Gedanken" gebracht (S. 56). Genauer betrachtet, geht indessen W. Scherer weniger auf Herder als auf Aristoteles zurück. Und man kann nicht gut behaupten, daß er — wie B. Brecht ein nicht-aristotelisches Drama und Theater — , nun etwa schon eine anti-aristotelische Poetik angestrebt habe. Im Gegenteil und in merklicher Abhebung ζ. B. von Wilh. Wackernagel, seinem an sich unmittelbaren Vorgänger im Entwerfen einer „Poetik", möchte er merklich Aristoteles' Poetik (und Rhetorik) modernisieren. Das schließt natürlich nicht aus, daß er in einigen Punkten von Aristoteles abweicht. Und diese Abweichungen, wie ζ. B. die höhere Bewertung des Lehrgedichts, werden entsprechend (und mehrfach) herausgestellt. Aber selbst in solchen Fällen bleibt die Aristoteles-Autorität im Grunde unangefochten. Denn er beanstandet zwar, daß Aristoteles „das Lehrgedicht von der Poesie ausschließt" (S. 17), hält sich aber doch an das Wertkriterium des Aristoteles, wonach die Poesie es vorab mit „Charakterdarstellung" (Primat der Theorie des Dramas und der Tragödie bei Aristoteles) zu tun habe, indem er nun seinerseits emsig bemüht ist, Fälle zu konstruieren (Beispiele weiß er merklich nicht beizubringen), in denen ein Lehrgedicht zum mindesten den Charakter seines Verfassers enthüllen könne (S. 17, 38 als „Monolog des Dichters"). Mit anderen Worten:auch dort, wo er von Aristoteles unabhängig scheinen möchte, macht er sich doch wieder von Aristoteles abhängig. Aus dem Glauben, daß Lessing Aristoteles fortgesetzt habe, verfolgt er das Ziel, nun seinerseits Lessing fortzusetzen („Nur Empiriker wie Lessing fördern"; S. 57). Das aber will mit seiner Anpreisung Herders gar nicht so recht übereinstimmen oder doch nur insoweit, als auch Herder empirisch zu verfahren pflegte, was bei Lessing in Wirklichkeit nur sehr bedingt der Fall war (der Entwurf zu „Laokoon" war deduktiv vorgegangen). Mit diesem Ehrgeiz hängt es zusammen, wenn er Wackernagel wohl erwähnt (S. 62), aber nicht recht gelten läßt, weil ihn der

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„gedankliche Teil" trotz guten Materials nicht befriedigt, so daß er den tröstlichen Schluß ziehen kann: „Die Sache ist wesentlich noch zu machen". Aber wie „ m a c h t " er sie nun ? Zunächst fällt auf, daß er sich ebenso wie Wackernagel gern mit den Ursprüngen und Entwicklungsvorgängen der Poesie und ihrer Arten befaßt. Und nicht von ungefähr begegnet bereits der Name Darwin (S. 79) im Kapitel „Dichter und Publikum", wie denn schon im Kapitel „ D a s Ziel" an Aristoteles ausgesetzt wird, er sei „nicht Naturforscher genug" (S. 43). An dieser schwachen Stelle möchte W . Scherer offenbar einsetzen. Aber seine Konsequenz geht nun nicht so weit, etwa gar die Mathematik zum Vorbild zu nehmen. Im Gegenteil bringt ihre selbst heraufbeschworene Nähe ihn beträchtlich zum Stutzen und zu dem Seufzer: „Die mathematische Formel ist der äußerste Gegensatz zur Poesie" (S. 6). Trotzdem wird er, der einmal als junger Wiener Dozent dem Triumphzug der Technik folgen wollte, sich nicht bewußt, daß er an solchen Stellen nur bestätigt, daß er sich hoffnungslos zwischen zwei Stühle (Kunstwissenschaft und Naturwissenschaft) gesetzt hat. Schon Wackernagel liebäugelt mehrfach mit einem letztlich naturwissenschaftlich bestimmten Entwicklungsgedanken. Und auch Scherer sieht darin seinen Vorzug gegenüber Aristoteles und Lessing. Schroff neben solcher Modernität steht nun aber eine unverkennbare Bindung an das Herkommen im philologischen Fachbereich. D a ist ζ. B. noch der alte Zopf einer Unterscheidung von gebundener und nicht-gebundener Rede, eine Unterscheidung, die grundlegend wird für die gesamte Gliederung seiner,, Poetik''. Das gilt zwar nicht in dem Grade wie bei W . Wackernagel, der ζ. B. noch sämtliche Prosa-Dichtung aus der „ P o e t i k " ausscheidet und sie der „Rhetorik" zuweist, aber doch insofern als das Kriterium als Regulativ bestehen bleibt. Indem er immerhin an das Märchen und andere frühe Prosa-Dichtung denkt, gelangt W . Scherer zu der Definition: „Die Poetik ist vorzugsweise die Lehre von der gebundenen Rede; außerdem (!) aber von einigen Anwendungen der ungebundenen, welche mit den Anwendungen der gebundenen (immerhin!) in naher Verwandtschaft stehen" (S. 32). Diese Definition wird später ergänzt unter Wahrung des deskriptiven Prinzips als „Hervorbringung . . . der gebundenen Rede usw. (s. o.); kurz die dichterische Hervorbringung, die wirkliche und die mögliche ist vollständig zu beschreiben (!) in ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen" (S. 65). Zuletzt liegt der Ausweg, nach „innerer" und „äußerer F o r m " zu unterscheiden, wobei die „innere F o r m " sehr kurz wegkommt (S. 226 ff.), gar nicht allzu weit ab von jener Unterscheidung nach gebundener und nicht-gebundener Sprachform. Immerhin ist bemerkenswert, daß sich Scherer bei der Interpretation der „inneren

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Form" streckenweise dem Begriff des Typischen nähert. Als Kuriosum aber wird es der heutige Leser der Schererschen „Poetik" empfinden, wenn unter dem Oberbegriff „Äußere Form" (S. 235ff.) auch „die Dichtungsarten" untergebracht werden (S. 245—53), und zwar recht kümmerlich. In Wirklichkeit werden sie zwar in den anderen Kapiteln auch herangezogen, aber dergestalt recht verteilt. Da hatte W. Wackernagel schon weit mehr (wenigstens quantitativ) von den Gattungen und Arten auszusagen gewußt, wenn freilich vielfach auch nur mit Hilfe von literarisch-historischen Exkursen, die über die Schwierigkeiten der eigentlichen Gattungspoetik hinweghelfen mußten. Jedenfalls darf gesagt werden, daß — auch wenn man die teilweise Berücksichtigung der Gattungen in anderen Kapiteln einbezieht — die Gattungstheorie und Artenbestimmung zu kurz kommt, was gerade in einer Poetik, die so viel Wert auf eine der Naturwissenschaft angeglichene „Klassifikation" legt, doppelt befremden muß. Die Erklärung dürfte jedoch im Konzept- und Entwurfcharakter einer erstmalig gehaltenen Spezialvorlesung zu suchen sein. In Lessings Terminologie übersetzt, ist das Ganze — auch von Scherer her gesehen — immer nur „Etwas Vorläufiges". Und sicherlich würde ein späterer Ausbau nicht zum wenigsten einer Erweiterung der Theorie der Gattungen und Arten zugutegekommen sein. Ebenso ist es unwahrscheinlich, daß ein Mann wie W. Scherer auf die Dauer einem „Dichter und Publikum" überschriebenen Kapitel (II) so heterogene Elemente wie Ursprung und Wert der Poesie, „Tauschwert" (!) und „idealer Wert der Poesie" subsumiert haben würde. Das waren offenbar Subsumtionen aus vorläufigen Improvisationen heraus. Merklich zeitbedingt wirkt der Umstand, daß im „Die Dichter" überschriebenen 3. Kapitel ein Sonderabschnitt dem Verhältnis von „Genie und Wahnsinn" (S. 170 ff.) eingeräumt wird, was noch nicht durch die sensationellen Enthüllungen von Lombroso nahegelegt wurde, sondern noch teils auf den Geniebegriff A. Schopenhauers, teils auf Moreau („La psychologie morbide", Paris 1859), Maudsley als Vorläufer Lombrosos zurückgeht. Jedenfalls greifen wieder einmal naturwissenschaftliche Vorstellungen auf den Geniebegriff über, wobei sogar „epileptische" Dispositionen eine peinliche Rolle spielen (S. 174/75). Zugleich sucht W. Scherer — seltsam genug — Rückendeckung für das kühn Moderne beim klassisch Antiken, so etwa bei Horaz und dessen „amabilis insania" als „holden Wahnsinn", den er etwa in Wielands „Oberon"-Epos antrifft, mit dem W. Wackernagel so ganz und gar nichts anzufangen wußte, dergestalt daß er es schlankweg für stillos und formlos erklärte. Denn Wackernagel hatte für komplizierte Mischformen im Herrschaftsraum romantischer Phantasie und vollends romantischer Ironie ganz und gar

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keinen Sinn gehabt. Insofern reicht W . Scherer wesentlich weiter als W . Wackernagel. Erst der Vergleich mit dem unmittelbaren Vorgänger läßt die Fortschritte W. Scherers klar erkennen und gerecht würdigen. Und dieser Vergleich fällt durchaus zugunsten von Scherer aus, was wiederum beweist, daß man W . Scherers „Poetik" nicht einfach mit mitleidigem Wohlwollen abtun kann, sondern mit allem Ernst würdigen muß. Scherer bot damals das Äußerste, was zu erreichen war. Er bot es in Improvisationen, denen jedoch die Intuitionen keineswegs fehlten. Ist es denn allzuweit von der Konzeption ζ. B. von Emil Staiger entfernt, wenn schon W. Scherer von der Lyrik meint, daß sie, „für die es nichts Einheitliches gibt", bei aller Unterschiedlichkeit dennoch häufig „näher an andere Dichtungsarten herangerückt wird" (S. 245), also sowohl epische wie dramatische Elemente enthält ? Und wenn E m i l S t a i g e r unter den „Grundbegriffen der Poetik" (1946 bzw. 1951) für den epischen Stil das Kennwort „Vorstellung" einsetzt (a. a. 0., S. 85 f.), ist das denn allzuweit entfernt von dem Kennwort „Vorträge", das W . Scherer bevorzugt (S. 246) ? Der „Vortrag" hier bleibt auf die „Vorstellung" dort immer wieder angewiesen. Denn nur das Vortragen von Vorstellungen wird dem Wesen des Epischen gerecht. W . Scherer glaubt nicht daran, daß der Epiker hinter der Erzählung „vollständig verschwinden" sollte, letztlich ebenso wie Fr. Spielhagen. Die „Objektivität" der Epik bleibt nämlich immer und allenthalben subjektiv bedingt bis hin zu den Beiwörtern Homers, die nur zu schmücken scheinen und doch zu charakterisieren oder zu typisieren vermögen. Der Schmuck wird dergestalt zum Ausdruck. Die subjektive Anteilnahme wird zur objektivierenden Anschauung. Die „Einmischung" des Dichters befördert die Vermischung der Gedicht-Arten. Denn für W . Scherer gibt es kein Kunstsollen, sondern immer nur ein Kunstwollen: „ E s gibt hier kein Soll" (S. 247); den sollästhetischen Forderungen werden das Kunst wollen und das Kunstkönnen entgegengestellt. Denn nicht das, was der Künstler gesollt hat, sondern das, was er gewollt hat, ist für W . Scherer entscheidend. W . Scherer weiß durchaus von Lessings Unterscheidung von natürlichen und willkürlichen „Zeichen" (S. 240 f.). Und er nimmt die These von den „willkürlichen Zeichen" als solche an. Aber im Drama wird das willkürliche „Zeichen" doch zu einem „natürlichen" Zeichen; denn „da wird die Poesie die direkteste, vollständigste nachahmende Darstellung, die es überhaupt gibt". Das Vorwärtsschreitende dient demgemäß dem Drama (S. 255), das Rückwärtsschreitende dem Epos und dem „epischen Gedicht", das Retardierende dem Epos und dem „epischen Gedicht"; das Retardierende (vgl. Goethe und Schiller „Über epische und dramatische Dichtung") ist nämlich

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beiden Gattungen gemeinsam. Immerhin gehört W. Scherer zu denjenigen, die die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung einer Unterscheidung von willkürlichen und natürlichen „Zeichen" erkannt haben, wie sein Abschnitt „ A u s der Lehre von den Zeichen" (S. 240 f.) erkennen läßt. Auch diese Kunsterkenntnis sollte davor warnen, seine „Poetik" vorschnell zum alten Eisen zu werfen. Denn noch O s k a r W a l z e l kommt in seiner Abstufung von Poesie und Unpoesie bzw. Poesie und Nichtyoesie (1937) ohne die Zeichenlehre nicht aus. Mit anderen Worten: W. Scherer unterbricht sein Beharren in alten Konzeptionen und Improvisationen oft genug durch gänzlich neuartige Intuitionen. Er kennt Lombroso noch nicht, nimmt ihn aber in gewisser Weise vorweg. Er kennt Lothar Schreyer (Expressionismus, Sturm-Lehre) noch nicht, nimmt ihn aber mit dem Hinweis auf den „Schrei" als Urform des emotionalen Ausdrucks hellsichtig vorweg. Er kennt nicht nur den „Laokoon" Lessings, sondern auch dessen geplante Fortsetzung (S. 240). Er kennt die Diskussion über das Typische noch nicht, heftet aber schon sein waches Auge auf das „typische Gepräge" (S. 231). Er kennt den zum Impressionismus verfeinerten „intimen" Naturalismus noch nicht, betont aber bereits: „Das Interesse für den poetischen Gegenstand muß erst über die ästhetische Schwelle kommen, vorbereitete Stimmung treffen" (S. 198). Kurz, so rückständig manche seiner Definitionen und Demonstrationen zunächst immer wirken mögen, es wird doch allenthalben eine Weite des Blicks erkennbar, die deutlich in die Zukunft weist, die nicht verharrt, sondern verheißt. Und eben deshalb geht es nicht an, seine postume „Poetik" als bloße Enttäuschung abzutun. Wilhelm Scherer braucht sich auch dieser improvisierten, noch nicht voll über die stofflichen Bestände orientierten „Poetik" von 1888 keineswegs zu schämen. Denn sie ist, näher betrachtet und gerecht gewertet, weit besser als ihr Ruf. Gerade weil Scherer vom Wetteifer mit der Naturwissenschaft besessen war, ist anzuerkennen, daß sein unverwüstlicher Idealismus nicht die Flagge vor dem Vorrecht des Materialismus gestrichen hat.

III. Anmerkungen Durch ihre Zeitnähe und ihren kritischen Wertungswinkel sind für das 19. Jh. f r ü h e Literaturgeschichten beachtenswert, so die von den Jungdeutschen, etwa T h e o d o r M ü n d t , bzw. von G e r v i n u s , J u l i a n S c h m i d t : Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert (2 Bde. 1853), R. v. G o t t s c h a l l : Die deutsche Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts (4 Bde., 7. Aufl.

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1901) u. a. — Da S. v. L e m p i c k i mit seiner kritischen Darstellung (Geschichte der deutschen Literaturwissenschaften, Bd. I, 1920) nicht so weit reicht, sei in diesem Zusammenhang verwiesen z.B. auf die kritische Stellungnahme bei I n g e b o r g B e i t h a n : Friedrich Nietzsche als Umwerter der deutschen Literatur, Heidelberg 1933 (Kapitel: „Umwertung der Werte in der Ästhetik" S. 34—76). Mit Bezug auf das Junge Deutschland bietet manchen Hinweis auch W . D i e t z e (vgl. S. 569f.). —· Aus der Fülle der den Gesamtberichtsraum dieses Bandes umspannenden Literatur seien hier folgende Werke genannt: R. H e r m a n n L o t z e : Geschichte der Ästhetik in Deutschland, München 1868. — G e o r g B r a n d e s : Die Literatur des 19. Jh.s in ihren Hauptströmungen 6 Bde. Berlin 1882/91, Neuausgabe 2 Bde. 1924. — A d o l f S t e r n : Die deutsche Nationalliteratur vom Tode Goethes bis zur Gegenwart 1884, 6. Aufl. 1909. — E . v . H a r t m a n n : Die deutsche Ästhetik seit K a n t , Berlin 1886. —• T h e o b a l d Z i e g l e r : Die geistigen und sozialen Strömungen des 19. Jh.s, Berlin 1899. —• S a m u e l L u b l i n s k i : Literatur und Gesellschaft im 19. Jh., Berlin 1900. —• R i c h a r d M. M e y e r : Die deutsche Literatur des 19. (und 20.) Jh.s, Berlin 1900, 7. Aufl. von H u g o B i e b e r Berlin 1923. — H u g o B i e b e r : Der Kampf um die Tradition. Die deutsche Dichtung im europäischen Geistesleben 1830—1880, Stuttgart 1928 . — H e r b e r t C y s a r z : Von Schiller zu Nietzsche. Hauptfragen der Dichtungs- und Bildungsgeschichte des jüngsten Jh.s, Halle 1928. — O s k a r W a l z e l : Die Geistesströmungen des 19. Jh.s, 2. Aufl. 1929. — Ders.: Deutsche Dichtung von Gottsched bis zur Gegenwart Band II, Potsdam 1930/32 = Handbuch der Literaturwissenschaft. — E m i l U t i t z : Geschichte der Ästhetik, Bln. 1932 (irreführender Titel, behandelt „einige wesentliche Probleme". Eine G e s c h i c h t e der Ä s t h e t i k auf m o d e r n e r G r u n d l a g e fehlt m. E., zum mindesten für Deutschland. L o t z e und die „Kritische Geschichte der Ästhetik" von M a x S c h a s l e r , 1872, sind überholt). — F e d e r i c o F e d e r i c i : Der deutsche Liberalismus. Die Entwicklung einer politischen Idee von Immanuel Kant bis Thomas Mann, Zürich 1946. — • F r i e d r i c h M e i n e c k e : Die Entstehung des Historismus, München 1946. — R u d o l f K a ß n e r : Das 19. Jahrhundert. Ausdruck und Größe 1947 (nicht fachmännisch, aber anregend). —· E r n s t A l k e r : Geschichte der deutschen Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart 2 Bde. Stuttgart 1949/50. — G e o r g L u k ä c s : Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin 1953 (Abschnitte „ D a s Ende der Kunstperiode" und „Die Grablegung des eilten Deutschlands", S. 58—89). — Ders.: Deutsche Realisten des 19. Jh.s (Kleist, Eichendorff, Büchner, Heine, Keller, Raabe, der alte Fontane), Berlin 1951. — Ders.: Beiträge zur Ge-

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schichte der Ästhetik, Berlin 1954. —Ders.: Der historische Roman, Berlin 1955. —• Ders.: Probleme des Realismus, Berlin 1955 (erweiterte Ausgabe von „Essays über Realismus", 1948). —· K a r l L ö w i t h : Von Hegel bis Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jh.s 1941. — D e r s . : Marx und Kierkegaard, Stuttgart 1953. —• R e n e W e l l e k : A History of Modern Criticism 1750 bis 1950, bisher Band I/II, Yale Univ. Press, New Haven 1955 (der Berichtsraum entspricht an sich dem in Band II und III dieser „Geschichte der deutschen Poetik", für deren Anmerkungen Welleks Werk den Verfasser zu spät erreichte; für diesen Band IV kommen in Betracht die Abschnitte über Schopenhauer und Hegel). Dt. Übersetzung u. d. T. „Geschichte der Literaturkritik" angekündigt. —· Textsammlung: „Meisterwerke deutscher Literaturkritik", hrsg. von H a n s M a y e r . 2 Bde. in 3, Berlin 1954/56 (Einleitungen und Kommentare, teilweise von Schülern Mayers, sind wiss. unzulänglich). Für den Forscher mehr und Brauchbareres verspricht (nach den vorliegenden Bdn. II und IV) zu geben O s c a r F a m b a c h in dem ζ. Z. (Frühjahr 1959) noch nicht erschienenen Band V I : „Die Zeit ohne Ausweg (1816—1850)" seines Sammelwerks: „Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik 1750—1850", 6 Bde. Bln. (Akademie-Verlag) 1957 ff. — Knappe, doch gute Zusammenfassungen bei F r i t z M a r t i n i : Deutsche Literaturgeschichte, 8. Aufl. Stuttgart (Kröner) 1957 (S. 332—419), und K a r l V i e t o r : Deutsches Dichten und Denken von der Aufklärung bis zum Realismus (1700—1890), 3. Aufl. mit Literaturverzeichnis von G u s t a v E r d m a n n , Berlin 1958 = Sammlung Göschen 1096 (S. 103—150). S. 20.

E r n s t e k r i t i s c h e B e d e n k e n g e g e n die E i n f ü h r u n g des B i e d e r m e i e r b e g r i f f s und v o r a l l e m einer B i e d e r m e i e r - E p o c h e , die nach P. Kluckhohn etwa von 1820—55 reichen soll, meldet an E r i k L u n d i n g : A. Stifter (1946), S. 118 f. Schon die Willkür der Einsetzung erscheint ihm problematisch: „das Kind wurde auf den Namen Biedermeiergetauft". Eskommt E. L u n d i n g reichlich forciert vor, was sich da um die Mitte der 30er Jahre an, .Biedermeierproblematik" entfaltet hat. Er setzt sich unbefangen mit dem „Stimmengewirr der Biedermeierforscher" auseinander, das zum mindesten streckenweise im „Zeichen der Chaotik" gestanden habe. Vor allem macht er mit Recht geltend, daß die eifrig herausgestellten Merkmale keineswegs auf die sogenannte Biedermeier-Epoche beschränkt und also auch nicht zu ihrer Charakteristik geeignet seien. Man kann diese Merkmale sowohl vorher wie nachher antreffen. Es

III. ANMERKUNGEN

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widerstrebt ihm — und nicht nur ihm — , wenn R u d o l f M a j u t : Das literar. Biedermeier, Aufriß und Probleme (GRM, Jg. 1932) so „unüberbrückbare Gegensätze" wie Mörike, Stifter usw. einerseits und Junges Deutschland, bzw. Grabbe und Büchner andererseits durchaus auf einen Generalnenner bringen will. An W i l h e l m B i e t a k s Beiträgen zur B.-Forschung: Das Lebensgefühl des „Biedermeier" in der österreichischen Dichtung (1931) und: Vom Wesen des österreichischen Biedermeier und seiner Dichtung (Dt. Vjschr. für Litwiss. und Geistesgeschichte, Jg. 1931) vermißt er die Klarheit der Begriffsbildung und bedauert er die enttäuschende Reduzierung auf die Formel: Spannung von Ideal und Leben. Die Beiträge G ü n t h e r W e y d t s : Literarisches Biedermeier (a. a. 0., 1931) und: Literarisches Biedermeier II (a. a. 0., Jg. 1935) engen die Merkmale zu sehr auf das „Sammeln und Hegen" ein (1931), um dann (1935) gar eine peinliche Schwenkung zugunsten der Zeitschlagwörter: Volkhaft, Mythos usw. zu vollziehen. Weit ernster zu nehmen ist fraglos P a u l K l u c k h o h n : Biedermeier als literarische Epochenbezeichnung (a. a. O., Jg. 1935), vgl. dazu E. L u n d i n g a. a. 0. (1946), S. 120/21 (Kritik an der Überzeugungskraft der Merkmale). Was H e r m a n n P o n g s : Zur Bürgerkultur des Biedermeier (Euphorion [Dichtung und Volkstum] Jg. 36, 1935) betrifft, so ist E. L u n d i n g durchaus berechtigt, in der Konstruktion eines „harten, gefühlskargen, preußischen Biedermeier" eintrübende Zeiteinflüsse zu vermuten. Jedenfalls scheint der gesamte Biedermeier-Vorstoß wenig geeignet zu sein, zu einer endgültigen Eroberung zu führen. Von der Poetik aus müssen jedenfalls ebenso schwerwiegende Bedenken erhoben werden. Einräumen könnte man nur ein weit bescheidener zu umgrenzendes Gebiet, wodurch aber die Fülle der Stilrichtungen im 19. Jh. nicht gerade glücklich vermehrt würde. Selbst die bekannte Bibüographie von J o s e f K ö r n e r setzt sich in einer Anm. dagegen zur Wehr (Bibliograph. Handbuch des dtsch. Schrifttums, 3. Aufl. Bern 1949, S. 4 1 3 ! , Anm. 2). Der Stilbegriff Biedermeier ist als Epochenbegriff nicht recht überzeugend. Und der Gewinn der stark weltanschaulich gefärbten Biedermeier-Diskussion (unglückliche Überschneidung von latent religiösen, säkularisierten Vorstellungen und lärmend nationalistischen Forderungen) wäre am ehesten noch in einer Anreicherung des Stilbegriffs zu suchen, die immerhin zugestanden und begrüßt werden 33

M a r k w a r d t , Poetik IV

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kann. Wohin die groß aufgezogene Biedermeierpropaganda schließlich führen kann, erhellt ζ. B . aus der Sonderuntersuchung (aus der Kluckhohn-Schule) von H e i n r i c h R e i n h a r d t : Die Dichtungstheorie der sogenannten (!) Poetischen Realisten, Diss. Tübingen 1939, die merklich das Gelände abtasten soll für ein noch weiteres Vorstoßen der Biedermeierwelle und „poet. Realismus" als Epochenbegriff kurzerhand für überflüssig erklärt. Während man froh sein sollte, mit dem Terminus „ p o e t . " Realismus (zu ergänzen durch ideeller Realismus) ein auf eigenem Boden gewachsenes, wenngleich von der Philosophie (Schelling) vorbereitetes Merk- und Kennwort zur Verfügung zu haben, möchte man es durch ein weiteres kunstgeschichtliches (Barock, Rokoko) Lehnwort (Biedermeier) verdrängen. Hinzu kommt, daß die Stufung poetischer und ideeller Realismus einerseits und konsequenter Realismus (Naturalismus) andererseits helfen können, beruhigend durch den Richtungswirrwarr im 19. Jh. hindurchzugreifen. —• Die Sonderarbeiten von J. H e r m a n d : Die literarische Formenwelt des Biedermeiers, Gießen 1958 ( = Beiträge zur deutschen Philologie 27) und W a l t e r Η o l l e r e r : Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der D i c h t u n g einer Übergangszeit, Stuttgart 1958, sowie der A u f s a t z von W i l l i F l e m m i n g : Zur Problematik der Epochenbezeichnung „Biedermeier", in: G R M 39 = N.F. 8 (1958), S. 379—388 können nur noch als Hinweise verzeichnet werden. — Hinsichtlich der E p o chenterminologie vgl. auch G ü n t h e r W e y d t : Biedermeier und Junges Deutschland. I n : D t . Vjschr. 29 (1951), und Α . P . B e r c k h o u t : Biedermeier und poetischer R e a lismus. Diss. Amsterdam 1942. S. 22.

Arthur Schopenhauer. — Schopenhauers sämtliche Werke 5 Bde. (Wilhelm-Ernst-Ausg., Insel), danach zitiert. — F r i t z S o m m e r l a d : Darstellung und K r i t i k der ästhetischen Grundanschauungen Schopenhauers, Diss. 1895. —• E d u a r d v. M a y e r : Schopenhauers Ästhetik und ihr Verhältnis zu den ästhetischen Lehren K a n t s und Schellings, Halle 1897. — A n d r e F a u c o n n e t : L'Esthetique de Schopenhauer, Bibl. der philos. contemporaine, Paris 1913. — H a n s H e r r i g : Gesammelte Aufsätze über Schopenhauer, Reel. — J o h . V o l k e l t : A . Schopenhauer, 1923. — T h e o d o r L e s s i n g : Schopenhauer, Wagner, Nietzsche, 1906. — G e o r g S i m m e l : Schopenhauer und

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Nietzsche, 1907. — H e l l m u t h T ö p f e r : Deutung und Wertung der Kunst bei Schopenhauer und Nietzsche, Diss. Lpz. 1933. —· H o r s t G e i ß l e r : Grillparzer und Schopenhauer, Diss. München 1915. — Wesentlich auch die Schopenhauer-Abschnitte bei O s k a r W a l z e l : Poesie und Nichtpoesie (Unpoesie), Frankf. a. M. 1937, und R e n e W e l l e k : A History of Modern Criticism 1750—1950, a. a. Ο., Bd. I I : The Romantic Age, Kap. 12: The German Philosophers. S. 22.

ss*

V e r f a s s u n g e i n e r „ Ä s t h e t i k " . — Im allgemeinen kann gesagt werden, daß die Ästhetik im philosophischen System reichlich hilflos (bis hoffnungslos) wirkt. Das gilt von Kant, der ζ. T. mit fremden Begriffen arbeitete (Fr. J. Riedel u. a.) bis hin zu Eduard von Hartmann, der Schopenhauer verwässerte, und darüber hinaus. Die Ästhetik bleibt das Stiefkind der Philosophie. Vielleicht ist sie aber auch der Probierstein. Und wer entzückt sein möchte über die Kühnheit der Konstruktion, ist es durchweg weit weniger über die Unzulänglichkeit der Interpretation. Wo im System die Dominanten glänzen, da herrscht Finsternis im Urteil der Dilettanten, als die sich durchweg die Philosophen beweisen, wo sie ü b e r e i n z e l n e K u n s t w e r k e urteilen sollen. Der Philosoph Kant wirkt da ebenso hilflos wie etwa der pathetische Historiker Treitschke. Sie spielen mit der Ästhetik, ohne zu ahnen, wie arg sie ihnen mitspielt. Sie fühlen sich erhaben über sie, ohne sich klar darüber zu sein, daß vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist. Es dürfte schwer fallen, unter den Philosophen Fälle nachzuweisen, die bei allem Nachdenken über Ästhetik wirklich ästhetischen Sinn bewiesen haben. Zu diesen Wenigen gehört Schopenhauer wie sein ungetreuer und dennoch abhängiger Schüler Fr. Nietzsche. Zu ihnen gehörte auch Wilh. Dilthey, Joh. Volkelt, Ludwig Klages, also alle diejenigen, die „rein philosophisch" tief im Kurs stehen. Umso anerkennenswerter bleibt es, daß ein Ontologe wie Günther Jacoby sich seinen Höhenweg des Erkennens über einem Verstehen des Ästhetischen gebahnt hat (Herders und Kants Ästhetik, Herder als Faust). Durchweg aber versagen die Philosophen, wo sie über Kunst mehr aussagen sollen als jeder Kunstkritiker täglich (tauglicher) aussagt. Bei aller ehrlichen Hochschätzung der Philosophie kann dieser Stoßseufzer von der Poetik her, die es vor allem mit der Ästhetik zu tun hat, nicht unterdrückt wer-

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den, gerade angesichts einer Ausnahme wie A. Schopenhauer. Das Systematische allein tuts freilich nicht. S. 22.

G e w a l t ü b e r d a s W o r t . — S o p h u s H o c h f e l d : Das Künstlerische in der Sprache Schopenhauers, Lpz. 1912.

S. 22.

K u n s t o p t i m i s t . — Diese Seite scheint zunächst zurückzustellen H e r b e r t C y s a r z : Schopenhauer und die Geisteswissenschaft, in German. Forschungen, Festschr. des Wiener Germanistenvereins, Wien 1925, S. I39ff. Denn dort betont H. Cysarz sogleich eingangs: „Es ist also nicht die Rede von Schopenhauers Ideen zur Poetik oder Ästhetik . . ." (S. 141). Aber er sieht doch klar den Einfluß Schopenhauers auf die Hebbel- und Wagner-Zeit und erkennt auch, daß Schopenhauers Angriffe auf den Historismus nicht so ohne weiteres das Anliegen der Geisteswissenschaft, die damals im Kommen war, zu treffen vermögen. Im Gesamt wird hier Schopenhauer etwas weitgehend nach Nietzsche umgedeutet, auch ist spürbar der Wille wirksam, möglichst bereits Henri Bergson mit ins Spiel zu bringen. In großen Linien, wie sie H. Cysarz liebt und beherrscht, wird Schopenhauer mit Kant, aber auch mit Plato („ästhetische Universal-Symbolik") und (über Erigena und G. Bruno) mit Goethes Naturwissenschaften in Beziehung gesetzt. Daß Schopenhauers Kontemplation nicht einfach mit der „intellektuellen Anschauung" (Fichte-Schelling) gleichgesetzt werden darf, stellt fürsorglich eine Anmerkung (S. 146) klar, ohne daß dabei die Berührung mit dem Irrationalismus Schellings übersehen wird. Goethe als Grundlage der gesamten Ästhetik Schopenhauers wird aufgedeckt, ebenso die Abwehr des Primats der Historie (etwas kunterbunt erscheinen Lachmann, Savigny, Ranke). Übrigens war Schopenhauer nicht der „einzige", der der „historischen Woge seiner Epoche" Trotz geboten hat (vgl. z. B. L. Feuerbach, der frühzeitig den kritisch gemeinten Terminus „Historismus" geprägt hat). H. Cysarz führt Schopenhauers Entwertung der Historie auf Aristoteles zurück (S. 149). Schopenhauer vertrete im übrigen einen „radikalen Individualismus" und ästhetisierenden Aristokratismus des Geistes. Schopenhauer stellt die Kunst höher als Plato (S. 169), wird aber Hegel nicht gerecht (S. 151).

S. 25.

Musik. —· D a v i d A s h e r : A. Schopenhauers Ansicht über Musik, Lpz. 1856. i860. — K u r t B r u c h m a n n : Schopenhauers Theorie von der Musik, in: Unsere Zeit, Jg. 1880. —

III. ANMERKUNGEN

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M a r t i n S e y d e l : A. Schopenhauers Metaphysik der Musik, Lpz. 1894. — A n d r e F a u c o n n e t : L'Esthetique de Schopenhauer, Paris 1913, S. 336—376. — W a l t r a u d R o t h : Neues zu Schopenhauers Musikästhetik. In: SchopenhauerJb. 35 (1953/54), S. 60 ff. — G u i d o B o n i : L'arte musicale nel pensiero di Schopenhauer. Rom 1954 u. a. m. S. 37.

Franz Grillparzer. — Zur Bibliographie: K. V a n s c a : Grillparzer-Bibliographie, Wien 1937. —Ders.: Frz. Grillparzer, Bild und Forschung, Wien 1941. — Forschungsbericht: E r i c h H o c k : Zur Grillparzerforschung. In: GRM 35 (1954), S. 27—46. — Hingewiesen sei im besonderen auf: F r i t z S t r i c h : Frz. Grillparzers Ästhetik, Bln. 1905. —• H o r s t G e i ß l e r : Grillparzer und Schopenhauer, Diss. München 1915. —• H. B r a u n : Grillparzers Verhältnis zu Shakespeare, Diss. München 1916. — M a x M e l i : Versuch über das Lebensgefühl in Grillparzers Dramen, Jb. der Grillparzer-Gesellschaft 18. — W. B l a s e : Kunstfragen bei Grillparzer und den Romantikern, Bibliothekar-Festschr. 1927, S. 65f. — Herrn. F e i l n e r : Grillparzers Auffassung des Schicksals, Diss. Würzburg 1928. — L e o n h a r d B e r i g e r : Grillparzers Persönlichkeit in seinem Werk, Lpz. 1928 (Wege zur Dichtung 3). — E r n a B r e y e r : Grillparzers Studien zu Shakespeare, Diss. Wien 1928. — J o a c h i m M ü l l e r : Grillparzers Menschenauffassung, Weimar 1934. — H o r s t R ü d i g e r : Geschichte der dt. SapphoÜbersetzungen, Germ. Studien 151, Bln. 1934. — Ders.: Sappho, ihr Ruf und Ruhm bei der Nachwelt, Lpz. 1933 (Das Erbe der Alten 21; fleißige Sammelarbeit, die aber Grillparzer etwas schief beurteilt). F. S t ö r i : Grillparzer und Kant, Wege zur Dichtung 20 (1935). — E. W e i ß : Grillparzer als Beurteiler dichterischer Werke, Diss. Zürich 1938. — H. F. H. L e n z : Grillparzers political ideas and „Die Jüdin von Toledo", N Y 1938. — J. N a d l e r : Franz Grillparzer, Vaduz 1948 (Wien 1952). — Grillparzer-Abschnitt in M a r t i n G r e i n e r : Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie, Lpz. 1954, S. 51—76. — F. K a i n z : Grillparzer als Sprachtheoretiker, GRM, Jg. 27. — W a l t e r N e u m a n n : Grillparzer. Das dichterische Werk. Stuttgart/ Köln 1956. — D e r s . : Grillparzer, der Dichter und die Sprache. In: Monatshefte für den dt. Unterricht 45 (1953), S. 337—54. — W e r n e r V o r d t r i e d e : Grillparzers Beitrag zum poetischen Nihilismus. In: Trivium 9 (1951), S. 103—20. — E r i c h H o c k : Grillparzers Besinnung auf Humanität.

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Hbg. 1949. — R o b e r t M ü h l h e r : Grillparzer und der deutsche Idealismus. Ein Beitrag zum Säkularisationsproblem. In: Wiss. und Weltbild 1 (1948), S. 62—75. — D e r s . : Göttin Kunst. In: Jb. der Grillparzer-Ges. 3. Folge Bd. 2 (1956), S. 15—49. — P a t r i c i a D r a k e : Grillparzer and Biedermeier. Waco (Texas): Baylor Univ. Studies 1953. — F r a n k D. H o r v a y : Grillparzer as a critic of German Literature. (Diss. Washington) St. Louis 1949. —• D e r s . : Goethe and Grillparzer. In: Germ. Review 25 (1950), S. 85—94. — K u r t K l i n g e r : Grillparzer als Dramaturg. In: Maske und Kothurn 2 (1956), S. 47—54. — G e r h a r t R i n d a u e r : Das Problem des Tragischen in Grillparzers Studien zur Dramaturgie. Diss. Wien 1956 (Masch.). —• S ä r ä B i l - A n d : Untersuchungen überden tragischen Vorgang im Drama Grillparzers. In: Studien zur dt. Sprache und Literatur (Istanbul) 1 (1954), S. 77—144 und 2 (1955), S. 69—103. — H a n s G m ü r : Dramat. und theatral. Stilelemente in Grillparzers Dramen. Diss. Zürich 1956. — A d o l f D. K l a r m a n n : Grillparzer und die Moderne. In: Neue Rundschau 67 (1956), S. 137—52. S. 37.

Erste B e s c h ä f t i g u n g Grillparzers mit Schopenh a u e r . — F r i t z S t r i c h : Frz. Grillparzers Ästhetik, Bln. 1905. — J o h . V o l k e l t : Grillparzer als Dichter des Willens zum Leben (Schopenhauer-Parallele), Jb. der Grillparzer-Gesellschaft X . —• J o h . V o l k e l t : Grillparzer als Dichter des Tragischen, Nördlingen 1888. — Der Leipziger Philosoph, den ich noch selber hören durfte, hebt den Bezug auf Schopenhauer stark hervor. Dagegen vernachläßigt F r . J o d l : Gr. und die Philosophie. Gr. Jb. VIII den Bezug auf Schopenhauer völlig. — H o r s t G e i ß l e r : Grillparzer und Schopenhauer, Diss. München 1915, unterscheidet „Stellen", die unverkennbar auf das Bekanntsein Grillparzers mit Schopenhauer verweisen, von solchen, deren Parallelität sich aus der allgemeinen Zeitstimmung erklärt. Rein zeitlich, ζ. B. für die „Parerga und Paralepomena" Schopenhauers könnte an sich ein RückEinfluß Grillparzers auf Schopenhauer in Erwägung gezogen werden. Aber nirgends erwähnt Schopenhauer in seinen späteren Schriften auch nur den Namen Gr. Dagegen erwähnt Gr. den Namen Sch.'s bereits 1819. Gr. und Sch. sind enge Generationsgenossen (Sch. 1788—1860; Gr. 1791—1872). Wie Goethe und Jean Paul dürfte auch Gr. auf Sch. aufmerksam geworden sein, aber nicht umgekehrt,

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obwohl der spätere Sch. manchen Beleg aus Gr.s Dramen hätte gewinnen können. Was den Einfluß Sch.s auf Gr. betrifft, so geht H. Geißler noch beträchtlich über Fr. Strich hinaus. Im Jahre 1819 lernt Gr. sowohl Fr. Bouterweks „Ästhetik" als auch Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung" (1819) kennen. Besonders dieses sehr frühe Erfassen Sch.s durch Gr. war keineswegs selbstverständlich und bildet eine bemerkenswerte Ausnahme, da der Verlag einen Teil der Erstausgabe als Makulatur einstampfen lassen mußte. Allgemein ist zu bemerken, daß Hegel gegenüber Sch. den großen Vorteil hatte, durch Univ.-Vorlesungen einwirken zu können, bevor noch die Vorlesungen Hegels über Ästhetik erschienen waren. Der nicht studierende Gr. aber ließ sich diesen Fund nicht entgehen. Er traf bei Sch. auf ein verwandtes Lebensgefühl. Wenn damals Gr.s Aufzeichnungen „Zur Kunstlehre" entstanden, so ist das nicht zuletzt der Einwirkung Fr. Bouterweks und A. Schopenhauers zu verdanken. Was Sch. betrifft, so kommt besonders das oben erwähnte dritte Buch von dessen Hauptwerk in Betracht. Bevor Gr. jenseits der „Ahnfrau" dichterisch produktiv wurde, hat er sich also mit wesentlichen Werken (Bouterwek—Schopenhauer) der Ästhetik und Kunsttheorie in echter deutscher Gründlichkeit bekannt gemacht. Die Erwähnung des Namens Schopenhauer erfolgt bei Gr. nicht im Rahmen der Wortkunsttheorie, sondern im Zusammenhange mit der Bildkunsttheorie und lautet: „Arthur Schopenhauer findet, und mit Recht, einen Grund des wahrhaft künstlerischen Reizes, den die genauen Naturnachahmungen der Niederländer in ihren Stilleben und Landschaften auf uns machen, in der Vorstellung der Ruhe . . . " Also ähnlich wie einst Goethe nicht von der Dichtkunst, sondern von der Malerei (Blumenmalerei) ausgegangen war, als er den Stilbegriff („Gewahrwerden der wesentlichen Form") ableitete, und wie der frühe G. Hauptmann von der bildenden Kunst ausgeht, um in einem Essay den Typusbegriff — wohl vorerst in Nachfolge Goethes — abzuleiten, begegnet Gr. sich mit Sch. auf ebendemselben Gebiet der bildenden Kunst. Bis in Einzelheiten hat die Sonderforschung die Abhängigkeit Grillparzers (als Theoretiker und nicht nur als Dramatiker) von Schopenhauer nachweisen können, so etwa, wo es um die Abhebung des Wesentlichen vom Zufälligen (Schopenhauer: „störende

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EXKURSE UND

ANMERKUNGEN

Zufälligkeiten", Grillparzer: „Gleichgültige oder Störende") geht (vgl. H. Geißler S. 14). Ebenso will Gr. mit Sch. die Darstellung der „Idee" als entscheidend gelten lassen für den Charakter des „ästhetisch Schönen''. Aber Andeutungen mögen hier genügen. Nur darauf sei noch hingewiesen, daß Fr. Bouterwek der Lehrer Schopenhauers in Göttingen gewesen ist. S. 41

T h e o r i e des D r a m a s . — Es darf daran erinnert werden, daß auch für Schopenhauer das Drama besonders in Form der Tragödie die höchste Rangstufe der Dichtungsgattungen einnimmt. In der Schicksalsidee aber weicht Gr. von Sch. nicht unbeträchtlich ab. Zu berücksichtigen bleibt dabei, daß die „Ahnfrau" vor dem Sch.-Einfluß liegt. Uber das Tragische vgl. E. B u s c h : Wesen und Ursprung von Grillparzers Idee des Tragischen, Euphorion Jg. 40 und Ilse M ü n c h : Die Tragik in Drama und Persönlichkeit Grillparzers (1931).

S. 42

„ S t r e n g e K a u s a l i t ä t . " — Von Kants Kategorien hatte Schopenhauer besonders die Kausalität gelten lassen. Der junge Gr. folgte ihm merklich darin, wenn er der Kausalität ein besonderes Gewicht zusprach, vgl. H. Geißler a. a. O., S. 19; vgl. auch F. S t ö r i : Grillparzer und Kant (1935).

S. 42

HistorischesTrauerspiel.—WennGerhardFricke: Wesen und Wandel des Tragischen bei Grillparzer (in Frickes Studien und Interpretationen, Frankfurt a. M. 1956, S. 264—^4) allerdings recht hat, so würde es sich bei Gr. mehr um Staatsdramen (Problem des Staates), überhaupt aber mehr um politische Dramen als um speziell historische Dramen handeln. Ebenso wie das Antike sei auch das Historische nur ein Gewand. Demgegenüber sei auf Grillparzers lebhaftes historisches Interesse hingewiesen, was natürlich eine Schopenhauersche Skepsis gegenüber der Sinnerfülltheit der Geschichte nicht ausschließt. Der Titel des Aufsatzes, der zuerst 1954 in „Der Deutschunterricht" erschien, also kaum von M. Greiners Gr.Abschnitt positiv oder negativ bestimmt sein dürfte, würde klarer lauten statt bei Gr. — in Grillparzers Dramen. Denn die Kunsttheorie, auch die Theorie des Dramas, wird offenbar absichtlich vollständig ausgeklammert und damit auch Grillparzers Bekundung über das historische Drama. Dankenswert ist der Hinweis auf das programmatische bzw. für die Tragik des Künstlers symptomatische Gedicht

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„Der Bann" (etwa zeitparallel mit der „Sappho"), das G. Fr. zur Stützung der „Sappho"-Interpretation heranzieht (S. 270, 272). Der gedankenreiche, außerordentlich konzentriert geschriebene Aufsatz Frickes, der eine erwünschte Ergänzung darstellt zu dem ζ. T. mehr biographisch interessierten Gr.-Abschnitt M. G r e i n e r s , verfährt im Grunde — mit meiner Terminologie zu reden — nach der Methode der werkimmanenten Poetik. Er wird deshalb dort noch zu würdigen sein, wo sich ein Bezug auf den entsprechenden Abschnitt der Exkurse ergibt. Für die formul. Poetik dagegen enthält er, gemäß seiner Stoffbegrenzung auf das Kunstschaffen, trotz des für den Poetiker verheißungsvollen Titels nichts besonders Bemerkenswertes. Dagegen kommt der Schopenhauer-Bezug, also das Weltanschauliche mehrfach zur Geltung (S. 269, 273: „ein Gesinnungsverwandter Schopenhauers"). Berührt wird das Verhältnis von Theoretisieren und Produzieren mit der Bemerkung, daß Grillparzers Drama „viel weniger als das Schillers oder Hebbels ein Werk des bewußt formenden und bauenden Kunstverstandes und -Willens" gewesen sei (S. 266). Wo das Wort „Kunstanschauung" fällt (S. 271), bezieht es sich mehr auf das „Sappho"-Problem, also die Problematik des Künstlertums als etwa auf Kunsttheorie. S. 43

E i n f l u ß der P h i l o s o p h i e . — Gr. versucht merklich, den selbsterfahrenen Einfluß der Philosophie (Schopenhauer) einzudämmen, und zwar mit Hilfe des Gemütswertes. Das intellektuelle Element in der Ästhetik Schopenhauers empfindet er als störend.

S. 45

S o n d e r f o r m der A n s c h a u u n g . — M a r t i n G r e i n e r : Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie (1954) sieht darin ein „realistisches Kunstprinzip", das sich bei dem typischen Traditionsverwalter Grillparzer mühevoll genug gegenüber seiner Tendenz zur „romantischen Tradition" durchzusetzen habe. Auch Greiner ist der Kernsatz von der Schwierigkeit, die poetische Anschauung vor der Übermacht der wissenschaftlichen Analyse zu retten, nicht entgangen (a. a. 0., S. 56). Und wenn Grillparzer „durch die bloße Macht der Poesie Wirkungen hervorzubringen" sich zutraut, so nicht zuletzt im Bewußtsein seiner Kraft der poetischen „Anschauung". Doch darf der „Suppositions"Begriff nicht unterschätzt werden. Greiners GrillparzerAbschnitt (a. a. O., S. 51—76) legt Grillparzer von vornherein fest auf eines der von Greiner so geliebten (und

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überschätzten) Vergleichsbilder. Grillparzer nämlich ist nicht mehr „Geistesfürst" (wie Goethe und Schiller), sondern „Geistesdiener" und der gewissenhafte und etwas pedantische „Verwalter" des überkommenen Erbes (S. 52), der „Euripides des deutschen Dramas". Aber er ist zugleich ein „Naiver" mit „Tarnkappe". Das ist immer noch besser, als wenn er ein „Schloßgärtner ohne Schloß" wäre (wie Platen), erinnert aber etwas an die „Cellophanhülle" der Lorelei Heines (S. 132). Zugleich ist Grillparzer „Grenzwächter", sozusagen also getarnter Grenzwächter-Verwalter mit naivem Teileinschlag. Aber von dieser grausamen Büderpracht abgesehen, irgendwie muß ein Übergang von Raimund zu Grillparzer erzwungen werden (vorher ist nämlich von Raimund und Nestroy die Rede gewesen). Martin Greiner ist fest überzeugt, daß der „hier eingeschlagene Zugangsweg zu Grillparzer, derjenige von unten her (!), der einzig richtige" sei. Ich bin es weniger. Aber fragt man nach dem Grenzwächter-Posten, so weiß Greiner klare Antwort zu geben: „Er (Grillparzer) ist wirklich der Grenzwächter der Humanität zwischen den Zeiten" (S. 73). Er ist aber ein getarnter, naiver verwaltender Grenzwächter oder grenzwachender Verwalter im poetischen Zustande des Sonnenunterganges: „Grillparzers Leben und Grillparzers Dramen haben beide etwas von dem wehmütigfeierlichen Gepränge eines Sonnenuntergangs an sich". (S. 69). Man ist gezwungen, auf diese grandios-groteske Bildergalerie einzugehen, weil Greiner offenbar in diesen Bildern das Wesentliche anschaulich einfangen möchte. Von den Grillparzer bei Greiner eingeräumten etwa zwei Dutzend Seiten gelangt man bis zur Hälfte nur z u Ä u ß e r u n g e n über die „Ahnfrau". Wohl aber wird etwas eingeflochten von der Forderang dessen, „was durch seine bloße Existenz Glauben erzwingt", um der Anpassung an den zeitgemäßen „Realismus" gerecht zu werden. Aber von dieser Position aus, die mehr Georg Büchner oder den frühen R. Wagner als Franz Grillparzer charakterisieren könnte, wird nun nicht etwa das dramatische Schaffen aufgerollt. Vielmehr mischt sich Biographisches ein, wie allenthalben bei Greiner. Und die breite Behandlung der „Ahnfrau" dient auch nur dem Anschluß-Erzwingen an Raimund bzw. Nestroy, das sich sogar noch ganz am Schluß des Grillparzer-Abschnitts durchsetzt: „Grillparzer wurzelt viel tiefer im Volke als etwa Raimund oder Nestroy und die ganze Wiener Volks-

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komödie" (S. 76). Das behauptet Greiner; aber wer glaubt es ihm ? Nachdem er sich so ausführlich mit der „Ahnfrau" eingelassen hat (unter Abhebung von Schillers „Räubern"), fällt ihm ein, daß da ja noch immerhin „Einiges" von Grillparzer vorliegt. Aber wenn schon! Er rollt die ganze leidige Fülle nun, kurz entschlossen, von hinten auf (S. 63), von der „Libussa", dem „Bruderzwist" und der „Jüdin von Toledo" aus. Nicht etwa, daß er diese Dramen interpretiert ; nichts liegt ihm ferner. Aber so wie er unbedeutende F r ü h w e r k e häuft, wenn auch nur aufzählend (S. 58), so stellt er noch einmal feierlich fest, daß es sich bei den genannten Werken um N a c h l a ß w e r k e handle (S.74, vgl. S.63), was kaum jemand bezweifeln wird. Aber die Erwähnung von weniger bekannten Friihwerken und Nachlaßwerken verspricht stets ein gewisses Ansehen. Im übrigen interessiert ihn viel mehr als die Dramen die „Schlagbaumsituation des Dichters", die symbolische „Zoll- und Grenzvisitation" auch bei einer „geistigen Grenzüberschreitung" und einem „poetischen Grenzübergang". Kurz, das Verglichene muß hinwegtrösten über das künstlerisch Gegebene, dergestalt, daß der „Schlagbaum" zum Schlagwort wird. Uns aber beginnt dieses Grenzwächter-Dasein selbst bei einem „Grenzwächter der Humanität zwischen den Zeiten" nachgerade zu langweilen. Noch auf S. 70 hat man sich mit der „Grenzsituation" herumzuschlagen, auf S. 73 mit dem „undankbaren Grenzwächteramt des Poeten" und ebenda mit der schon bemerkten humanen Funktion des „Grenzwächters", ohne den Dramatiker Grillparzer mit seinen Hauptwerken zu Gesicht bekommen zu haben. Dagegen erfährt man andeutungsweise etwas über Thomas Manns „Zauberberg" (S. 51) und über Hermann Hesses „Glasperlenspiel" (S. 64). Das ist ganz erfreulich; aber eigentlich wollte man ja etwas über die Dichtungen Franz Grillparzers hören, ohne mit bloßen Selbstzeugnissen ausgedehnter Art (S. 59, 60, 61, 68, 69, 72, 75) abgespeist zu werden. Man fühlt sich kaum hinreichend entschädigt, wenn man erfährt, daß die „Sappho" nichts als „ein Wiener Volksstück im antiken Gewände" (S. 65) gewesen sei, wobei immer noch die „Ahnfrau" umgeht (S. 64/65): „der innere Abstand der „Ahnfrau" zur „Sappho" ist weit geringer, als der äußere Kostüm Wechsel glauben machen will". Hoffnungslos sucht man einen Ausweg zwischen Grenzwächtern und Ahnfrauen. Immerhin läßt sich soviel ermitteln : Grillparzer fürchtet die Erfahrung, weil er soviel

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Phantasie hat (S. 55), er ist berufen, und zwar „in einem eminenten Sinne zum politischen Dichter" (S. 72), er verwaltet nicht nur das Erbe, vielmehr „er trägt es auf seinen Schultern als ein zweiter Atlas". Das aber führte zu „einem Absterben des Eros" (S. 76). Kurz, der Eros macht es: ob er nun demonstriert wird wie bei Heine oder destruiert wird (und wirkt) wie bei Grillparzer. Bei alledem kann dieser noch froh sein, daß er nicht als „Vorposten" in der (westfälischen) Erde mehr oder minder hilflos hockt wie Chr. D. Grabbe oder als „Aufklärer" über den Landen schwebt wie Georg Büchner, zu dessen Landen bei der Naturwissenschaft Greiner das Vergleichsbild mit dem mechanisierten Aufklärungsflugzeug besonders gut und gültig zu passen scheint. Ein Namensregister findet zwar Martin Greiner nach allen namenlosen Vergleichsbildern nicht für erforderlich; aber es kann dennoch verraten werden, daß sich der denkwürdige Vergleich Büchners mit dem Aufklärungsflugzeug wirklich und wahrhaftig auf S. 182 bei Greiner findet, wo es heißt: „Auch insofern ist der Vergleich angebracht und aufschlußreich", als er Büchner von Grabbe gebührend abhebt; „denn Georg Büchner ist (ganz wie das Aufklärerflugzeug) mit dem naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt der Zeit" weit vertrauter als Grabbe. Und wo bleibt da vollends Grillparzer ? Er ahnt etwas von der „Ahnfrau"! S. 418 E i n b e z i e h u n g in den l i t e r a r i s c h e n B i e d e r m e i e r . — (w.P.*)Die hier vertretene Kritik an einem derartigen Versuch scheint auch G. F r i c k e zu teilen, indem er zwar biedermeierliche Einzelzüge anerkennt, aber grundsätzlich doch hervorhebt: „Und es zeigt sich deutlicher als bisher: die Forderung des „stillen Selbstbesitzes" ist im Grunde von allem biedermeierlichen Quietismus, privaten Selbstgenuß und Glück im Winkel weit entfernt. Sie meint gerade das göttlich Ewige und Ganze . . ." a. a. O. (1956), S. 278. — Dagegen scheint eine solche Einbeziehung schon durch die Titelwahl „Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie" (1954) von M. G r e i n e r zum mindesten stilrichtungsmäßig vorgenommen worden zu sein. Er stellt Grillparzer an den Schluß des Kapitels „Das Erbe und der Verwalter" neben und nach F. Raimund, dessen „Rappelkopf" ζ. B. aber auch ihm von „einem für biedermeierliche Verhältnisse *) Stellenangaben mit eingeklammertem ,,(w. P.)" „Exkurse zur werkimmanenten Poetik".

beziehen

sich

auf

III. A N M E R K U N G E N

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erstaunlichen Realismus" (S. 27) zu zeugen scheint, so daß das Biedermeierliche nicht starr festgehalten wird. Der Grillparzer-Abschnitt (S. 51—76) selber arbeitet jedoch nicht mit dem Kriterium des Biedermeierlichen, was abgesehen vom rein Biographischen auch kaum fruchtbar wäre. Der Terminus Biedermeier fällt nirgends oder jedenfalls nicht an betonter Stelle. Dagegen arbeitet Greiner über Gebühr das Realistische heraus, wohl um Grillparzer Gegenwartsgeltung zu erkämpfen oder zu bewahren: „In ihm behauptet die Erfahrung die unbedingte Vorherrschaft (?) über die Phantasie" (S. 53). An sich wird der starke Anteil Phantasie nicht verkannt, Grillparzer habe sie aber mit hoher künstlerischer Selbstdisziplin gleichsam an die „Kette der Erfahrung" gelegt, um sie zu zähmen. Das würde aber eher auf Klassik als auf Realismus hindeuten. Der bekannte Ausspruch Grillparzers über die Aufgabe des Dramas, das zu gestalten, „was durch seine bloße Existenz Glauben erzwingt", veranlaßt Greiner zu der betonten Feststellung: „das ist ein durchaus realistisches Kunstprinzip aus Grillparzers Munde" (S. 56). Ist aber „Existenz" hier nur als äußere Realität gemeint? Grillparzer knüpft jene Bemerkung unmittelbar an die Erwähnung Calderons und Lope de Vegas an. S. 421 T a s s o / S a p p h o . — Eine prägnante Gegenüberstellung (w.P.) bietet G. F r i c k e a. a. 0. (1956), S. 270: „Tasso leidet am Leben, Sappho aberleidet an der Kunst. Tasso leidet daran, daß die Wirklichkeit ihn in seiner Existenz als Dichter aufhebt. Sappho leidet darunter, daß die Kunst sie hindert, Mensch zu sein". Ebenso ist der Hinweis auf das eigene, noch junge, aber starke und irgendwie beunruhigende Ruhmes-Erlebnis des Dichters (Grillparzer) fraglos treffend. Etwas unterschätzt dagegen wird m. E. das Weibtum, während M. G r e i n e r gerade diese Seite herausarbeitet, aber sein etwas gepreßter Anschluß an die RaimundTradition, die „Sappho" sei „ein Wiener Volksstück im antiken Gewände" (S. 65), kann in dieser sensationellen Fassung jedenfalls schwerlich überzeugen. Es ist nicht ganz einzusehen, warum Goethe in seine Iphigenie Gesinnungen des 18. Jh.s hineinlegen durfte, während es Grillparzer (von Greiner und Fricke) verargt wird, Gesinnungen des 19. Jh.s etwa in das „Goldene Vlies", ζ. T. auch in die „Sappho" hineinzuformen. Ganz abgesehen davon, daß neben Schopenhauer auch noch die Humanitätsidee der Klassik,

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j a noch Erziehliches der Aufklärung, also ebenfalls Gesinnungen des 18. Jh.s übergreifen. Fricke ist darin noch kritischer als Greiner. Beide hätten in diesem Punkt von J. Petersen lernen können. Eine Anverwandlung ist kein bloßes Gewand. Die Münchener kostümierten sich ζ. T. „klassisch", aber Franz Grillparzer? —• Man lasse den Österreichern ihren Klassiker; sie haben ihn verdient. Gottlob wird Fricke wenigstens angesichts der „Hero und Leander "-Tragödie warm. S. 54.

August v. Platen. — Werke, hrsg. von K o c h / P e t z e t . — Tagebücher, hrsg. von G. v . L a u b m a n n und L . v . S c h e f f l e r . —· Briefwechsel, hrsg. von L. v. S c h e f f l e r und P. B o r n s t e i n . — Monographie von R. S c h l ö s s e r (1913). —• Bibliographie von F . R e d e n b a c h e r (1936). — Sonderforschung von K . S t e i g e l m a n n : Platens Ästhetik, Diss. Münster 1925. — K u r t W ö l f e l : Platens „Poetische E x i stenz". Diss. Würzburg 1951 (Masch.). — M a r i a n g o l a P i l a t 0 : Lo spirito di Platen attraverso le sue liriche. Turin 1951. — H e i n r i c h M e r s m a n n : Platen und George. E i n Beitrag zum Problem ihrer Beziehungen. Diss. Kiel 1952 (Masch.). —• E m m y R o s e n f e l d : II sonetto nella lirica di A. v . Platen. In: Letterature moderne (Mailand) 3 (1952), S. 409—17. — Platen-Abschnitt in M. G r e i n e r : Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie (1954) S. 103—120. Dieser Platen-Abschnitt kann als einer der wertvollsten im ganzen Buch Greiners gelten. Zwar fehlt auch hier nicht das obligatorische Vergleichsbild, aber es ist glücklicher als bei Grillparzer gewählt. Platen ist nicht der schloßbesitzende Graf, sondern der „Kunstgärtner" in einem Park ohne Schloß (S.104, 105, 106,107), 108: „Kehren wir ruhig noch einmal zu unserer Vorstellung des Kunstgärtners zurück", 114, 1 1 5 : „ . . . der große Kunstpark" — Italien, 116: das Drama fehlt wie das Schloß im Kunstpark der Gattungen, ein pflegender und strenger Parkgärtner (S. 119), der allerdings weniger die Naturpflanzen im Sinn hat als die ihnen abgewonnenen oder aufgezwungenen „strengen, willkürhaftenFormen und Gestaltungen" (S. 108). Die Lückeinden Belegen erklärt sich aus der dort eingeschobenen Biographie. Die bekannten Bekundungen Goethes einerseits und Thomas Manns andererseits werden geschickt gegeneinander abgewogen und ζ. T. kritisch ausgespielt. Die Bedeutung der homoerotischen Komponente wird ohne schämiges Gehaben klar herausgestellt, die Vorherrschaft

III. ANMERKUNGEN

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von Gasel und Sonett kommt zur Geltung, das Tagebuch wird mehrfach befragt, ebenso die Briefe. Das Biographische sei ergänzt durch den Hinweis auf jene Verse, in denen sich Platen seinem Herkommen nach als Sohn oder doch als später Sproß der Insel Rügen bekennt (gelegentlich der Begegnung mit dem Sohn der Insel Ernst Moritz Arndt: „Meine Wiege stand an bayrischer Berge Zügen / Doch meine Wurzeln sproßten im allerletzten Rügen"). Erfreulicherweise wird die Poetik wenigstens berührt gelegentlich eines längeren Zitats aus „Das Theater als ein Nationalinstitut" (S. 115/16), ohne daß sich Greiner freilich damit „im einzelnen auseinandersetzen" will. S. 55.

E i n f l u ß : Ä s t h e t i k B o u t e r w e k s . — Ein näheres Eingehen auf diesen Einfluß wäre Aufgabe des Eingangskapitels der Sonderarbeit v o n K a r l S t e i g e l m a n n : Platens Ästhetik, Diss. München 1925 gewesen. Es hätte sich wahrscheinlich mehr gelohnt als das Eingehen auf die nur sehr vorübergehende Einwirkung des einigermaßen unzulänglichen Philosophen Joh. J a k o b Wagner (1775—1841), der mit dem Wagner im „Faust" eine bedenkliche Ähnlichkeit gehabt zu haben scheint. Platen hat diesen J. J. Wagner in Würzburg gehört (wie übrigens auch Fr. Rückert), wo Wagner im Rahmen weitschichtiger Vorlesungen auch über Ästhetik vortrug. Weit später ist, schon nach Platens Tode, seine Poetik mit dem kennzeichnenden, kaum noch zeitgemäßen Titel „Dichterschule" (1840) herausgekommen. E. v. H a r t m a n n stellt (S. 44) eine „ganz verfehlte Anwendung der Kategorientafel auf die Ästhetik" fest. J. J. Wagner entwickelte als unklarer und abtrünniger Schelling-Anhänger so etwas wie eine Lehre vom Gegensatz, so daß K. Steigelmann vielleicht einen Seitenblick auf Adam Müller hätte werfen können (vgl. Bd. III), eine eigenartige Verquickung von Mathematik und Zahlenmystik mit stark religiösem Einschlag. Die Vierzahl und ihr Symbol in der Kreuzform spielen eine wesentliche Rolle. Platen wurde durch Wagner vorübergehend von der Antike abgelenkt, löste sich aber, besonders seit er in Erlangen Schelling (ohne rechtes Verständnis übrigens) hörte, sehr bald von J. J. Wagner. Der konstruktionsfrohe Wagner hat längst vor H. Heine, so etwas wie die „Endschaft der Kunstperiode" (mit Goethe) vorausgesagt, was Platens Dichtersehnsucht auf die Dauer auch nicht gerade befriedigen

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konnte. An sich bleibt die Bemühung der Sonderforschung dankenswert ; nur hätte Bouterwek nicht so sehr zurücktreten dürfen. Dagegen werden etwaige Bezüge auf Schelling durchweg verfolgt, wohl sogar etwas überschätzt. Womöglich hat aber J. J. Wagner etwas von seiner Zahlenmystik auf die zählfreudigen Metriker Platen und Rückert dennoch übertragen. Aber im Ernst hat Platen die „Nüchternheit" sehr bald erkannt und abgewehrt. Immerhin hat J. J. Wagner schon (anders als noch GottfriedBenn) die stille Lektüre eines Gedichtes verworfen und ein Gesprochenwerden gefordert. — Dadurch, daß K. S t e i g e l manntrotz eigener Kritik an J. J. Wagner auch in späteren Teilen seiner Arbeit immer wieder auf den Wagner-Einfluß zurückgreift, drängt er Platen zu sehr auf dessen Frühzeit zurück (S. 48, 50, 72). S. 55.

K u n s t t h e o r e t i s c h e E i n s t e l l u n g in der F r ü h z e i t . — Ihre Bestände sind von K. S t e i g e l m a n n a. a. O. (1925) sorgsam überprüft worden (S. iof.). Sogar der Umstand, daß einer seiner Lehrer (Joh. G. Prändel) eine Metrik verfaßt hat „Vollständige Anleitung zur deutschen Versekunst" (1797), wird verzeichnet. Bemerkenswert ist m. E. besonders der Umstand, daß der frühe Platen ζ. Τ. auf die Kunsttheoretiker der französischen und deutschen Aufklärung zurückgegriffen hat. Das läßt sich nämlich im 19. und 20. Jh. häufiger beobachten, als man annimmt (E. Mörike, R. Musil). Sogar Chr. Garve gehörte zu seiner Lektüre. Was den Primat des Metrischen betrifft, so kommt Verf. bei Behandlung der Epik zu dem kennzeichnenden Satz: „Weitaus die Mehrheit der Bemerkungen Platens über epische Dichtung bezieht sich auf deren äußere Form, auf das Versmaß" (S. 55). Auch die einzelnen lyrischen Arten finden Berücksichtigung: das Gasel (einige bevorzugen die Schreibung „Ghasel"), Sonett, die Ode, Festgesang, Ekloge und Idylle (S. 68—81). Im allgemeinen behandelt Verf. nicht die „Ästhetik" allein, auch nicht nur die reine Kunsttheorie, sondern bereichert sein Material merklich mit Äußerungen, die eigentlich in die Literatur-Kritik gehören. Dadurch geht die Übersicht über die Kunsttheorie durch Überdeckung mit Kunstkritik streckenweise allzusehr verloren. Die an sich tüchtige Materialausbreitung, die freilich durch Platens Tagebuch wesentlich erleichtert wurde, läßt Verf. nicht recht zur gelegentlichen, beruhigenden Zusammenfassung kommen.

III. A N M E R K U N G E N

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S. 57.

F o r m i d e a l , K u n s t a l s F o r m k ö n n e n . — D i e Diktatur des Formkönnens provozierte mehrfach den Nachweis Platenscher Formschwächen. So etwa kritisierte Otto zur Linde, Führer des „Charon"-Kreises (vgl. Bd. V) und Vertreter eines „phonetischen Rhythmus", das „lispeln" in dem Vers Platens: „Nächtlich am Busento lispeln" (Ballade „Das Grab im Busento"); es rufe geradezu „phonetische Bauchschmerzen" hervor. Martin Greiner a. a. 0. (1954) S. 107 nimmt das fast ebenso bekannte „Tristan"-Gedicht, das er zitiert (S. 106), aufs Korn, und zwar den — zudem wiederholten — Vers: „Ach, er möchte wie ein Quell versiechen". Dieses „versiechen" (statt versiegen) sei nicht nur ein „bemerkenswerter Schönheitsfehler", sondern geradezu eine „charakteristische sprachliche Fehlleistung". Mit Recht macht er geltend, daß Platen das „Dahinsiechen" ausdrücken will (nicht etwa nur mundartlich entgleist). Aber ein Quell „versiegt". Dieses „Tristan"-Gedicht wirkte offenbar mit bei der etwas pretenziösen Titelwahl des Essays von Thomas Mann „Platen-Tristan-Don Quichotte", in dem es wieder einmal knistert von Ironie, obwohl es sich um eine Gedenkrede handelte.

S. 61.

H i n w e i s auf e i g e n e S c h w ä c h e n . — Platen war sich im Grunde klar darüber, daß ihm die eigentlich produktive Kraft fehlte. Das schmerzlich ringende „Gerne entsage ich dem Sinnlichen", im Tagebuch auf seine unglückliche Veranlagung bezogen, läßt sich durchaus auf die Kunstwelt übertragen. So blieb auch sein rührender (bis erschütternder) Schönheitskultus letztlich auf einen Formkultus angewiesen. Es ist, als ob die ewige Verdrängung einer von vornherein schief gelagerten Sinnlichkeit, die vielleicht durch den Aufenthalt in der Kadetten-Anstalt, durch Pagendienst und Leutnants-Milieu verstärkt wurde, im rettenden Reservat der Kunstwelt fortgesetzt worden wäre. Dieses „Entsagen" gegenüber einer kraftvollen Sinnlichkeit zwang ihn in der Kunstwelt zum Verzicht auf die Vollform des Dramas, die ihm an sich als lockendes Ziel vorschwebte und ließ ihn sich begnügen mit Annäherungsformen balladesker Art, ähnlich wie Frauen als Dichterinnen bei der Ballade Halt machen (A. v. Droste, Agnes Miegel). Ästhetischer Formkultus scheint überhaupt bei homoerotischer Veranlagung eine Art von unbewußter Wiedergutmachung (als Umsetzung eines Negativen ins Positive) gegenüber dem triebhaft weniger Ästhetischen herauszu-

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M a r k w a r d t , Poetik IV

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EXKURSE UND ANMERKUNGEN

fordern, gleichsam als rechtfertigendes Gegengewicht gegenüber dem männlichen Zu-Leicht-Befunden-Sein (Winckelmann, Platen, Oscar Wilde, Stefan George). Hier dürfte einer der Gründe liegen, die in solchen Fällen zu hohen Anstrengungen und hochwertigen Formleistungen in Kunst oder Kunstdeutung (Winckelmanns Beschreibung des Apollo von Belvedere u. a.) zu führen vermögen. Hinzu tritt meistens ein starkes Angezogenwerden von der Antike, die in jenen Dingen weniger streng urteilte und so gleichsam ein Reservat im Reservat (der Kunst schlechtweg) verhieß. Fast besser noch als unter dem „kühlen Schnee" ließ sich der „Kranz hochglühender Rosen" vor „frevelnder Hand" unter dem kühlen Marmor der winckelmannschen Antike verbergen; denn dieser Marmor verbürgte jene Würde, die man notgedrungen im eigenen Leben gelegentlich doch in gewissem Grade aufgegeben zu haben — meistens zu spät —• bedauerte. Letzten Endes bleibt die forcierte künstlerische Produktivität der an sich Unproduktiven ein Problem der Pathologie. Aber die Anstrengung der Unharmonischen, zur Harmonie zu gelangen, ihre betonte Strenge, auf jeden Fall die „Form zu wahren", ihr geradezu leidenschaftliches Verdrängen des Unschönen durch ein Vordrängen des Schönen: alles das bleibt nicht auf den Einzelfall beschränkt und scheint also eine Art von latenter „Form-Gesetzlichkeit" in sich zu bergen. Die gelähmte Produktionskraft der Epigonen mochte als Zeiteinfluß hinzukommen. Aber um dieselbe Zeit schuf ein Grabbe, ein Büchner allem Epigonendruck zum Trotz. Auch wenn man vom pathologischen Bezug absieht, bleibt das „Gerne entsage ich dem Sinnlichen" bestehen; das „gerne" wäre nur kritisch abzuwandeln zu einem „allzugeme". Am ehesten wagt sich in dem gebrochenen Zwielicht der Satire das Sinnenhafte auch sinnlich-sinnfällig hervor. Und nicht zuletzt deshalb verdienen Platens literarisch-satirische Komödien verstärkte Beachtung. S. 61.

K. L. Immermann. — H a r r y M a y n c : Immermann, der Mann und sein Werk, München 1921. — W. K ü p e r : Immermanns Verhältnis zur Frühromantik, besonders zu Tieck, Diss. Münster 1913. — R i c h a r d W i t t s a c k : Immermann als Dramaturg, Diss. Gießen 1914. — W. E. T h o r m a n n : Immermann und die Düsseldorfer Musterbühne, 1920. — E l i s a b e t h G u z i n s k i : Immermann als Zeitkritiker, 1937. — H e i n r i c h R e i n h a r d t : Die Dich-

III. ANMERKUNGEN

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tungstheorie der sog. Poetischen Realisten, Diss. Tübingen 1939, S. 79 f . — K a r l - H e i n z W o r p e n b e r g : Das Problem der Tragik bei Immermann. Diss. Münster 1951 (Masch.). — Martin G r e i n e r : a . a . O . (1954), S. 79—103. — Manfred W i n d f u h r : Immermanns erzählerisches Werk. Zur Situation des Romans in der Restaurationszeit. Gießen 1957 (Diss. Marburg 1955). S. 61.

„ I r r g a r t e n der M e t r i k " . — Immermann hatte im „Rasenden Ajax" definiert: „Die Poesie hat den Zweck, menschliche Vorstellungen, Gedanken und Empfindungen, sofern sie zur Sprache gekommen sind, künstlerisch nachzubilden" und überhaupt dem Darstellungsmittel der einzelnen Künste besondere Bedeutung beigemessen (vgl. Lessing). Hervorgehoben wurde dort zugleich, daß die Schönheit „positiver Natur" sei. Der „Irrgarten" kann daran anknüpfen: „Der wahre Dichter verfährt nie bloß zerstörend" (gegen Platens Uterarisch-satirische Komödie gerichtet). Besonders zwei Gedichte greifen Platen an: „Unterricht" sowie „Und noch eins", wobei dieser Titel Bezug nimmt auf das ihm voranstehende Gedicht „Gespräch". Der „Unterricht" kommt einem freilich so vor, als ob ein Blinder einen Lahmen führen wollte. Und „Noch eins" hat ganz vergessen, daß Immermann selber der Sprache als Darstellungsmittel besondere Geltung eingeräumt hatte. Jetzt heißt es im Disput Er/Ich, in dem Platen auf seine Vorzüge hinweist und Immermann sie Zug um Zug entwertet, von der Sprache, sie sei für den Dichter bloßes „Bauholz" und von den Versen, mit denen Immermann unleugbar auf Kriegsfuß stand, sie seien bloßer „Staub der Schulen". Persönlich peinlich ist die Anspielung darauf, daß Platens Sehnsucht nur ein „steriles Buhlen" sei (so massiv wie Heine griff Immermann nicht die wunde Stelle an, aber sie ist ihm bekannt). Dagegen trifft er die damit zusammenhängende Kraftlosigkeit Platens mit der Forderung: „Ein Lied nur — eins voll Herz, Gehalt". Außerdem wirft er Platen als Gaselen- und Parabasendichter Fremdländerei vor, „wo möglich den fremdesten" Boden aufsuchend, um mit „schöner Vielseitigkeit" prunken zu können.

S. 62.

„ U b e r den rasenden A j a x " . — H a r r y M a y n c : Immermann, der Mann und sein Werk (1921) S. 147—51 kann, zudem auf abseitiges Material gestützt, unschwer nachweisen, daß Immermann vielfach aus zweiter Hand

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schöpft, und zwar auch in dieser frühen Abhandlung. Der Briefwechsel belegt mehrfach derartige Abhängigkeiten, so etwa von W. v. Humboldt hinsichtlich der Bewertung des Plastischen, von K. Phil. Moritz, Schiller, Goethe hinsichtlich der Antithese antik/modern, u. a. Der Satz ζ. B. „Der Geist der gesamten antiken Kunst und Poesie ist plastisch" könnte bei W. v. Humboldt stehen. Hinzu kommen die Theoretiker der Romantik Fr. und A. W. Schlegel. Es ist im einzelnen schwer zu entscheiden (etwa angesichts des Kapitels von der „Skulptur in der Poesie"), ob die Antiken der Dresdener Sammlung, auf die er kurz vor dem Erscheinen der Schrift Elise v. Lützow (geb. v. Ahlefeldt) hinweist (1824), oder die Meinung W. v. Humboldts (vgl. Bd. III) stärker einwirkte. Wahrscheinlich gingen die Eindrücke von Winckelmann, K. Phil. Moritz und Humboldt voran, gemäß dem merklichen Überwiegen des angelesenen Bildungserlebnisses bei Immermann auch jenseits dieses Sonderfalls. Schon der gewiß sehr wohlwollende Immermann-Monograph H. Maync vermißt den korrekten Hinweis auf die reichlich genutzten Gewährsmänner (S. 149). Dagegen blieb die Analyse des „Rasenden A j a x " im wesentlichen Immermanns Eigentum, was denn auch von W. v. Humboldt brieflich anerkannt worden ist. Den „Irrgarten der Metrik" betrachtet H. Maync (S. 238—243) mehr vom Charakterlichen her, ohne es an Kritik fehlen zu lassen. M. Greiner a. a. O. (1954) geht nicht auf die Kunsttheorie Immermanns ein. S. 64.

SchaffendesKönnenundtheoretischesErkennen. — Selten brechen Kunstwollen und Kunstkönnen so augenfällig auseinander wie bei K. Immermann. Zugestanden, daß die Schrift „Über den rasenden A j a x . . . " eher zur Selbstkritik als zur Selbstrechtfertigung neigt; aber damit allein ist die Widersprüchlichkeit nicht erklärt. Letztlich bleibt sie eine Angelegenheit (und ewige Verlegenheit) der Begabung (bzw. Nicht-Begabung). Immermann gehört nicht nur zu den Epigonen am Rande der Kunstperiode, sondern auch und vor allem zu den forcierten Talenten am Rande poetischer Kunstpotenz. E r glaubt allen Ernstes, daß Kunst mehr von Kennen als von Können abhängt. Er merkt gar nicht, daß sich fast jeder Vorwurf in der Platen-Polemik gegen ihn selbst kehrt und also, oft erstaunlich genau, zurückschlägt. Er bemerkt gar nicht, daß sein vielzitierter Seufzer über den Fluch und die Last des

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Epigonentums, des „Nachgeborenseins", des ererbten „geistigen Überflusses", der verführerisch „zu leichtem Antritte" bereitliegt, daß diese Klage und Anklage des Geistes oder Ungeistes der Zeit ganz ähnlich auf ihn selber zurückschlägt. Und zwar nicht nur in dem Sinne, daß er eigentlich statt zu seufzen hätte jubeln sollen. Denn nur dieser lieben Last verdankt er überhaupt seine literarische Geltung. Nur diesem leidigen Nachgeborensein verdankt er überhaupt die „Geburt seiner Tragödie" und in einem beträchtlichen Grade selbst noch seiner wesentlich wertvolleren Prosaepik. Oder dämmert etwas von diesem schuldigen Dank auf in der Wendung vom „Segen und Unsegen des Nachgeborenseins" ? — Jedenfalls wäre ein Immermann ohne jene lieblästige Fülle an Bildungserlebnissen schwerlich selber zum künstlerischen „Bilden" gelangt. Anregungen und Einflüsse sind bei vielen Dichtern nachzuweisen; aber bei Immermann sind sie fast nur nachzuweisen. Das gilt nicht allein von der Frühstufe, etwa dem Briefroman mit Rahmenteil „Die Papierfenster des Eremiten" (der Einsiedler hat die schadhaften Fenster seiner Klause mit Manuskriptfetzen verstopft bzw. verklebt), der im Materialverwerten (Briefe, die er so ohne weiteres gar nicht besitzen kann) nicht einmal den Einwand des alten Blankenburg (von 1774) gegen die Sonderform des Briefromans beachtet (vgl. Bd. II), sonst jedoch um Vorbilder nicht verlegen ist. Das gilt nicht allein von der dramatischen Produktion (Massenproduktion) auf entsprechender Stufe, wie etwa vom „Cardenio"-Drama (A. Gryphius, A. v. Arnim). Das Bildungserlebnis auf Grund der literarischen Lektüre bleibt selbst noch stark beteiligt bei den Großwerken, dem „Epigonen"-Romanunddem „Münchhausen"Roman, der einen eigenen Kommentar erforderlich machen würde sowohl wegen der Zeitanspielungen als auch wegen der rein literarischen Bezüge. Und wiederum entsprechend, erstickt das mythische Ideen-Drama „Merlin", dem an sich ein weltanschaulicher Vertiefungsdrang nicht abgesprochen werden soll, in überlieferten Motiven und Geheimlehren. Selbst der entwicklungsgeschichtlich sehr beachtenswerte Einbau der Oberhof-Geschichte in den sonst rettungslos verworrenen „Münchhausen"-Roman war kein genialer Wurf Immermanns und kam ohne den Vorwurf und VorEntwurf in Cervantes' „Don Quichote" (Einlagerung der Dorfgeschichte von Camacho) nicht aus. Obgleich er gelegentlich der frühen Ubersetzung von Walter Scotts

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„Ivanhoe" (1826) sich an sich tapfer gegen die aufkommende Scott-Mode kritisch zur Wehr setzt und Shakespeare bevorzugt (Vorwort), kommt er doch in seinem eigenen „Epigonen"-Roman ohne eine allerdings ironisierte Annäherung an den „Ivanhoe"-Roman nicht aus. Sowohl in Position wie in Opposition ist er allenthalben auf die bildungsmäßige Rezeption und „bildende" Variation von Vor-Bildern angewiesen. Sie wird in der Tat sein „Segen und Unsegen" zugleich. Auch seine Düsseldorfer Musterbühne blieb ein ausgesprochenes Bildungstheater, wenngleich wohltuend beflügelt von der zählebigen NationalTheater-Idee. Aber selbst diese Idee und dieses zeitweise fast tragikomisch wirkende Ideal der Deutschen war für Immermann trotz des dramentheoretischen Vorspiels in der umfangreichen Abhandlung „Über den rasenden Ajax des Sophokles" zuletzt doch wieder ein Bildungserlebnis, das allerdings hinreichend spontane Liebhaberimpulse in sich barg und aus sich heraus mobilisierte, um das Talent zum Organisieren nahe an das Genie des Organischen heranzurücken. Daß dieses organisierend Überwachte und Gemachte doch kein organisch Gewachsenes war, bewies die Belastungsprobe durch Chr. D. Grabbe, die menschlich für, aber künstlerisch gegen Immermann zeugt. Selbst in diesem zunächst überzeugenden Falle geriet das Kunstwollen in Konflikt mit dem eigenen Kunstkönnen, indem der Primat des eigenen Paradigmas (Hoferdrama, Stauferdrama) die Prävalenz des fremden Beispiels (Napoleon-Drama, Hohenstaufendramen Grabbes) nicht erkennen konnte, letztlich weil er es nicht, selbstlos der Idee dienend, anerkennen wollte. Trotz alledem bleibt K. Immermann das Verdienst, auf der Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik, wobei die Nachromantik überwog, den dritten Weg des Realismus (Frührealismus) wenigstens vorübergehend erstaunlich klar ins Auge gefaßt zu haben. Ob nun künstlerische Nötigung oder nur juristische Nüchternheit dahinter gestanden haben mag: gesehen hat Immermann diesen dritten Weg immerhin. Er hat auch einige mutige Schritte darauf zurückgelegt, Schritte, die andere Völker, etwa die Franzosen oder die Russen, wenn sie in ihrer Literatur zu beobachten gewesen wären, als großen Fortschritt verbucht haben würden und als kühnen Durchbruch zum erlösenden Realismus der Zukunft. Ganz mißachten sollten auch wir trotz reichem literarischen Besitzstande diesen Fortschritt

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nicht. Wie denn auch nicht nur Grabbe und Büchner einerseits oder A. v. Droste-Hülshoff und A. Stifter andererseits dazu ermutigten (und hoffentlich berechtigten), dieser Kapitel-Überschrift das „einschließlich Biedermeier und Frührealismus" ergänzend hinzuzufügen. Auch der vielgescholtene Untersuchungsrichter K . Immermann hat Anteil am Wahrnehmen des dritten Weges. Und vielleicht deutet diese Wegschwenkung jene Stelle an, wo das Kunstkönnen das Kunst-Erkennen, wo das Produzieren das Theoretisieren wenigstens in gewissem Grade überbot. Denn an dieser Stelle wandelte sich das überwiegende Dilettieren in ein fast überwältigendes Neuorientieren, das man mit Schlagworten und Schlagtotworten wie „Dorfgeschichtenrummel" (M. Greiner, S. 103) allzu ästhetisierend abzutun sich hüten sollte. Wäre es denn wirklich ein so großer Schade, wenn das eine „spezifisch deutsche Erfindung" (a. a. 0.) wäre? Es gibt jedenfalls Erfindungen, deren wir uns mehr zu schämen hätten. Und ein „erstickendes Unkraut im Garten der deutschen Dichtung" können wir darin nicht sehen, eher ein berechtigtes Gegengewicht gegen die Asphaltliteratur der Großstadtzivilisation, die sich spreizend für „Kultur" ausgibt. Dagegen ist M. Greiners Hinweis auf die sog. Chiliastischen Sonette (S. 96/97) dankenswert. Aber Immermanns Zukunftsideal der Poesie bleibt auch in dieser Gedichtgruppe von 1832 recht unklar. Er wäre schwerlich berufen gewesen, einen „leichten Arabeskenkranz" zu flechten. Und gerade in der Lyrik hat er wenig Ursache, vom „Handwerksschmutz" der „Zünftigen" so überlegen abzurücken und sich den Künftigen so zuversichtlich zu verschreiben. M. Greiner verzeichnet den Aufsatz von H. Gadamer: Immermanns Chiliastische Sonette (Neue Rundschau 16, 1949). Wertvoller wirkt jedenfalls jene, wenngleich noch unklare, so doch wirksame Wegbahnung zum poetischen Realismus, um so mehr als sie sich in gewissem Grade auch von einigen theoretischen und programmatischen Bekundungen Immermanns mehr oder minder deutlich ablesen läßt. Die Romantik hätte, so meint Immermann, die Aufgabe gehabt, „Ausdruck eines objektiv Gültigen" zu werden, habe aber nicht das rechte Zeug dazu gehabt und auch durch ihre zeitfernen Motive und Themen den Weg verfehlt. Und er folgert: „Wir müssen durch das Romantische . . . hindurch in das realistisch-pragmatische Element. An diesem kann sich . . . eine Kunst der deutschen Poesie ent-

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wickeln". In der frühen Bekundung, die der Abwehr des Kunstbanausen und Goethe-, .Verbesserers" Pustkuchen dient, „Goethe und die falschen Wanderjahre" (1823), steckt zwar noch viel Romantisches und Klassisches; noch ist es die „bedeutende Seite des Lebens", die sich in der Dichterseele spiegelt. Aber nicht mit Unrecht hat schon die Sonderforschung (H. Reinhardt 1939) darauf aufmerksam gemacht, daß man immerhin Sätze antrifft wie diese: „Die zarte Pflanze der Poesie wächst nur auf dem dunkeln (so noch wie im 18. Jh.) Boden der Wirklichkeit" oder: „ A n ein Gegebenes, Vorhandenes muß man sich anschließen, sonst gerät man in die bodenlosesten Phantastereien". Im Gesamt seiner Anschauungen jedoch hält er an einer Identität von Wahrheit und Schönheit fest. Und in der Praxis ist er weder in seinen Romanen noch in seinen Dramen noch in seinem komischen Heldenepos jenen theoretisch abgewehrten „Phantastereien" entgangen. S. 65.

„ D u r c h s e i n e P e r s o n e n " . — Immermann betont, es handle sich bei eingelagerten Reflexionen und Meditationen bzw. Sentenzen im Drama um eine „ v o m Dichter nicht im eigenen Namen ausgesprochene Betrachtung". Und eine Anmerkung Immermanns will ausdrücklich „ v o r dem Mißverständnisse bewahren, daß hier die Sentenzen und unbestimmten Phantasien gemeint seien, womit schlechte Dichter ihre Stücke zu zieren meinen". Was denn nun mit „Betrachtung" gemeint ist, bleibt einigermaßen unklar.

S. 67.

Chr. D. Grabbe. — Werke, hrsg. v. Spiridion Wukadinowic (grundlegend). — Werke, hrsg. von Benno v. Wiese (1943). — Werke nebst Briefwechsel, hrsg. von A. Bergmann, Grabbe-Gesellschaft (1951,Denkschrift). — D e r s . : G r a b b e forschung und Grabbeprobleme, GRM., Jg. 22 (1934). Grundlegende Gesamtdarstellung von Ferd. Jos. S c h n e i d e r : Christian Dietr. Grabbe, Persönlichkeit und Werk, München 1934, besonders der Abschnitt „Grabbe als Kritiker" zur Ergänzung der obigen Darstellung. Bei Schneider auch eingehende Literatur-Angaben. —• H e i n r . L e i p p e : Das Problem der Wirklichkeit bei Chr. D. Grabbe, in: Vom Geist der Dichtung (Petsch-Gedächtnisschrift), Hbg. 1949, S. 270—85. — W e r n e r B r ü g g e m a n n : Chr. D. Grabbe. Wort und Werk. Diss. Freiburg 1951 (Masch.). — G ü n t h e r J a h n : Übermensch, Mensch und Zeit in den Dramen Chr. D. Grabbes. Diss. Göttingen 1951 (Masch.). —

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F r a n z K o c h : Grabbe und Büchner, in: Idee und Wirklichkeit II, 1956, S. 1—28. — Grabbe-Abschnitt bei M. G r e i n e r a. a. 0. (1954), S. 183—200. S. 67.

„ S h a k e s p e a r o m a n i e " . — Insofern gleicht sie der etwa zeitparallelen Publikation K. Immermanns „Über den rasenden A j a x des Sophokles", die auch von einer Selbstkritik ausging. Während Immermann seine antikisierenden Ansätze kritisierte, kritisierte Grabbe seine shakespearesierenden Bemühungen, ohne allerdings auch nach dieser Absage wirklich vom Shakespeare-Vorbild loszukommen. An nationalem Impuls liegt sie näher bei Platens Betrachtung des Theaters als Nationalinstitut; vgl. hierzu Wieland/Schiller und deren Bewertung des Theaters als Moral-Institut (vgl. Bd. II), wobei das Moralpädagogische streckenweise bereits ins Nationalpädagogische umsprang.

S. 69.

E i g e n w ü c h s i g k e i t v o n G o e t h e s „ G ö t z " . — Da es Grabbe immer vorab um das historische Drama geht, darf in diesem Zusammenhange vorausgewiesen werden auf das Eingeständnis Aug. Strindbergs, daß er von Goethes „Götz" für seine eigenen historischen Dramen immer noch weit mehr habe profitieren können als ζ. B. von G. Hauptmanns „Florian Geyer"; vgl. Aug. Strindbergs „Dramaturgie", Werke, dt. Gesamtausgabe VI, 4 (2. Aufl. 1911) S. 43. Die Einstellung Strindbergs zu Shakespeare ist wesentlich positiver, a. a. 0., S. 145 ff.

S. 70.

D i c h t u n g u n d D a t e n t r e u e . — R u d i B o c k : Das Verhältnis von Dichtung und Datentreue in den historischen Dramen Grabbes, Diss. Greifswald 1940 verweist (S. 14) auf eine ähnliche Äußerung Grabbes im Düsseldorfer Fremdenblatt (1836): „Daß ein Dichter die Geschichte frei behandelt, ist ihm erlaubt. Er muß nur keine Unkenntnis oder bloße Effektsucherei dabei verraten". Das Verhältnis zur Geschichtsphilosophie Hegels, das von der Grabbeforschung recht verschieden beurteilt wird, untersucht R. Bock erneut unter Heranziehung von K. Leese: Die Geschichtsphilosophie Hegels, Berlin 1922, A. de Soye: Historisches Drama und Umwelt, Grabbes Historiendramen im Lichte der Hegeischen Geschichtsphilosophie, Diss. (Masch.-Expl.) Wien 1933 u. a. mit dem Ergebnis, daß Grabbe zwar sicherlich mittelbar von Hegels Geschichtsphilosophie (Funktion der großen Persönlichkeit im Geschichtsverlauf usw.) angeregt und beeindruckt worden ist,

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daß er ihre Ideen aber nach eigenen Bedürfnissen abwandelt und ζ. T. umbiegt. Danach würde Grabbe in seinem Verhältnis zu Hegel in gewissem Grade näher an Hebbel und dessen Einstellung zu Hegel heranrücken. Im allgemeinen darf man etwa sagen, daß die Einwirkung vorzugsweise die große Linienführung und die Haupterträge betrifft, nicht jedoch die Feinheiten und Einzelheiten des denkerischen Verfahrens. Grabbes genialisches Wesen widerstrebt dem Vernunftvoll-Konstruktiven. Das übersieht R. Bock ein wenig. Er untersucht aber verläßlich das Verhältnis zu den historischen Quellen sowohl hinsichtlich des historischen Geschehens (dramatische Handlung) wie der historischen Persönlichkeiten (dramatische Zentralgestalten) und berücksichtigt schließlich auch die Ortsbindung und Zeitfärbung. Was die Ursachen für eine Lockerung der Datentreue betrifft, so lehnt R. Bock das Hineintragenwollen von Zeittendenzen als Ursache ab (S. 68). Vielmehr handelt es sich überwiegend um dramaturgische Rücksichten und kompositioneile Erwägungen (Einbeziehen der Vorfabel, straffere Motivierung usw.). Ein Sonder-Kapitel befaßt sich mit dem Urteil der Nachwelt (kritische Stimmen zu Grabbes Geschichtsdarstellung), ein Schlußabschnitt hebt Grabbes Verfahren ab von dem Ernst Raupachs, der sich eng an die Quellen anschließt, keinen Blick für das Wesentliche besitzt und mit bequemen Berichten arbeitet. S. 74.

„ Z u g ins M o n u m e n t a l e " . — Martin G r e i n e r : Zwischen Biedermeier und Bourgeoisie (1954), S. 189; bei verhältnismäßig eingehenden biographischen Daten und seherhaft eröffneten politischen Perspektiven bleibt im Grabbe-Abschnitt kein Raum für eine Erwähnung der „Shakespearomanie". Grabbe wird vorwiegend vom Politischen her eingestuft: „Grabbes sämtliche Dramen sind ein einziger Aufschrei vor diesem neuen, aus der Tiefe aufsteigenden Menschen". Er habe diesen Menschentypus ahnungsvoll gespürt, sei aber vor ihm ständig auf der Flucht gewesen, und zwar habe er sich in einen „individualistischen Heroenkult" geflüchtet (S. 197). Immerhin wird E. E r m a t i n g e r s vernichtende These vom „Satanismus" (S. 189) abgewehrt (S. 196).

S. 424. G r a b b e s E x t r a v a g a n z e n . — A l s tendenziös (vgl.S.67) (w.P.) kennzeichnet die „Shakespearomanie" auch F. J. S c h n e i d e r : Chr. D. Grabbe, Persönlichkeit und Werk, München 1934 im Abschnitt „Grabbe als Kritiker",

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der an sich vor allem den Detmolder und Düsseldorfer Theaterkritiker würdigt. Schneider erwägt mehrere Motive, die Grabbe zur Abfassung und Veröffentlichung dieses Aufsatzes veranlaßt haben könnten, darunter auch das der Ablenkung von der eigenen ShakespeareAbhängigkeit (Ablenkungsmanöver für die Kritiker seiner Dramen). Das Hauptmotiv wird im versteckten Angriff auf L. Tieck gesehen, von dem doch gleichzeitig Grabbe nachweisbar manches übernommen hat (Eingliederung Shakespeares als Mitglied einer Dichterschule usw.). Insofern nimmt Grabbes Vorstoß entsprechende Angriffe der Jungdeutschen vorweg. Demgegenüber unterschätzt Schneider m. E. das vorherrschende Bestreben, die nationale Originalität (Schiller) zur Geltung zu bringen. Gewiß steht die antik-klassische Maske, die Shakespeare bannen helfen muß, Grabbe schlecht zu Gesicht. Theorie und Praxis geraten da weit auseinander. Immerhin dürfte es etwas zu herbe geurteilt sein, wenn F. J. Schneider nach berechtigtem Hinweis auf die erstaunliche Anpassung an den Zeitgeschmack (vgl. auch „Don Juan und Faust") abschließend zusammenfaßt: „Man tut daher der Schrift kaum Unrecht, wenn man sie innerhalb des Grabbeschen Gesamtwerkes zu „Nannette und Maria" in eine nicht gerade schmeichelhafte, freundnachbarliche Beziehung bringt" (S. 347). S. 75.

Eduard Möfike. — Werke, 2 Bde., Insel-Ausg. — Werke und Briefe, hrsg. von H a n s - H e i n r . R e u t e r , 2 Bde. Leipzig 1957 = Slg. Dieterich 208/09. — ' B e n n o v. W i e s e : Mörike. Tübingen 1950. —· M a u r i c e C o l l e v i l l e : La conception de la poesie et du pofete chez Mörike, in: Langues modernes 43 (1949), S. 265—81. —• G e r d a N e u m a n n R u d o l p h i : Romantik und Realismus bei E. Mörike. Diss. Göttingen 1951 (Masch.). —• B r i g i t t e M ü l l e r : E. Mörike. Grundriß seines Dichtertums. Diss. Zürich 1955. — E m i l S t a i g e r : Ein Briefwechsel mit M. Heidegger, in: Die Kunst der Interpretation. Zürich 1955, S. 34—49.

S. 75f. B r i e f w e c h s e l M ö r i k e — V i s c h e r . —· Briefwechsel zwischen E. Mörike und Fr. Th. Vischer, hrsg. von Robert Vischer, München 1926. Die Sulzer-Lektüre erwähnt Mörikes Brief vom 26. Februar 1832 (S. 56). Die im darstellenden Text erwähnten Stellen ergänzend, sei hingewiesen auf das abfällige Urteil über Fr. Rückert: „Bei Rückert spielt ein spitzfindiger Witz unendlich widerwärtig mit der Poesie . . . " (Nov. 1833, S. i n ) , eine Bemerkung,

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die allerdings von einem entsprechenden Urteil Fr. Th. Vischers herausgefordert worden war (S. 97). Vischer hatte freimütig bekannt: „Rückerts in sich verbissenes, mit eigner Herbheit kokettierendes Interessanttun erzeugt mir Übelkeiten". Daß Mörike sich trotz jener Sulzer-Lektüre nicht gerade u m Kunsttheorie und Ästhetik zu reißen pflegte, bestätigt neben dem achtungsvollen Vorbeischreiben an Vischers Habilitationsschrift „Über das Erhabene und Komische" (Dez. 1837) a u c h das spätere Eingeständnis an den Freund, daß er dessen „Ästhetik" nur erst flüchtig durchblättert habe (Juni 1851, S. 192/93). E r bewundert ganz allgemein die „riesenmäßige Arbeit" (zwei Bände) und das Zusammenwirken des „spekulativen Vermögens" mit einem „geborenen" Künstlertum. Das Wesentliche dürfte er damit getroffen haben, aber auf die Einzelheiten geht er nicht näher ein. S. 79.

B r i e f w e c h s e l M ö r i k e — S t o r m . — Briefwechsel zwischen Th. Storm und E. Mörike, hrsg. von Hanns Wolfg. Rath, Stuttgart o. J. (1919). Als Beispiel für die Berücksichtigung einer Kritik bei dichterischen Umarbeitungen sei erwähnt, daß Storm die Anregung Mörikes (April 1854, S. 32) für die Buchfassung von „ E i n grünes B l a t t " (erstmalig 1850; stärkeres Hervortreten Regines) „im Wesentlichen befolgt" hat, wie er selber nachträglich auf Mörikes Brief in einer Notiz vermerkt.

S. 80.

Briefwechsel Mörike—Schwind. — Briefwechsel zwischen E. Mörike und M. v. Schwind, hrsg. von H. W . Rath, Stuttgart 1918 gibt von vornherein eine gute Einfühlungsmöglichkeit in die Zeit, indem eine Daguerreotypie von 1855 (Bildnis v. M.) vorangestellt wird. Mörike war freilich nicht damit zufrieden; aber es ist dennoch merklich eine Sensation gewesen: „Letzten Dienstag habe ich mich richtig daguerreotypisieren lassen . . .", es sei freilich nur ein „Kanzleiratskopf mit halboffenem latschigen Maul" dabei herausgekommen. A. v. Droste-Hülshoff bringt ζ. B. eine Anspielung auf die neue Erfindung Daguerres in einem Gedicht; vgl. Droste-Abschnitt, vgl. auch als Beleg für das Einrücken der Photographie in die Vervielfältigungsverfahren von Kunstwerken den Brief Mörikes vom Januar 1864. Damals spricht er schon von einer „photographischen Anstalt", die ein Bekannter gründen will. Ein kleines Glanzlicht fällt so auf das im Gesamt einigermaßen düstere Verhältnis Technik—Poesie. Mörike ahnte eben noch kaum den

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Kummer, den die Photographie der Programmatik des Naturalismus bringen sollte. S. 80. Maler-,,Grille". — Die betreffenden Verse lauten: „Saß da und hing den Kopf — warum ? Gesteh' ich dir / Die große Torheit ? Jene alte Grille war's, / Die lebenslang mir mit der Klage liegt im Ohr, / Daß ich nicht Maler werden durfte, Maler, ja!" a. a. 0., S. 97. Das Kunstwollen Mörikes griff also über die Grenze der Sonderkünste hinweg; und zwar nicht nur im noch unentschiedenen Ansatz. — Er sieht aber mit Vorliebe das Malerische dichterisch: „Welch' eine süße Stille herrscht ringsum" bemerkt er zu einer Illustration Schwinds, wie er andererseits das Dichterische ζ. T. malerisch erlebt und gestaltet. S. 81. Der Name R o h t r a u t . — Mörike schreibt an Schwind: „Ich stieß einmal, es war in Cleversulzbach, zufällig in einem Wörterbuch auf den mir bis dahin unbekannten altdeutschen Frauennamen. Er leuchtete mich an wie in einer Rosenglut, und mit ihm war auch schon die Königstochter da. Von dieser Vorstellung erwärmt, trat ich aus dem Zimmer zu ebener Erde in den Garten hinaus, ging einmal den breiten Weg bis zur hintersten Laube hinunter und hatte das Gedicht erfunden, fast gleichzeitig damit das Versmaß und die ersten Zeilen, worauf die Ausführung auch wie von selbst erfolgte" (Juli 1868), a. a. 0., S. 126. Da Mörike dieses Erlebnis ausdrücklich als Beispiel für „Momente plötzlicher Eingebung" mitteilt, hat die Poetik Ursache, sich, vom Produktionsvorgang (nach äußerer Anregung) her gesehen, dafür zu interessieren. Auch ein suggestivkräftiges Wort kann also fruchtbarer Keim werden; bei Orplid oder Weyla dürfte es nicht viel anders gewesen sein. — Über die Beziehung Mörike—Schwind vgl. Bruno Schliep: Schwind und Mörike, Versuch einer Kritik ihrer Freundschaft auf kunstgeschichtlicher Grundlage, Diss. Greifswald 1926. S. 82. Fragwürdigkeit der Zuordnung zum Biedermeier. — Selbst B. v. Wiese: E. Mörike, Tübingen/Stuttgart 1950, S. 15 gibt zu bedenken, daß für Mörike die „üblichen geistesgeschichtlichen (?) Formeln wie Klassik und Romantik, Biedermeier und Realismus nicht ausreichen". Im Einzelfall eine unbeabsichtigte (und unerbetene) Rechtfertigung der hier gewählten Kapitel-Überschrift „Zwischen Nachklassik und Nachromantik einschließlich Biedermeier und Frührealismus".

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E X K U R S E UND ANMERKUNGEN

S. 83.

D i n g g e d i c h t . — Vgl. u.a. Marcella B u r g e r : Die Gegenständlichkeit in Mörikes lyrischem Verhalten, Diss. Heidelberg 1945.

S. 83.

Schönheitsidee. — B. v. Wiese a. a. 0. (1950) greift im Kapitel „Das Schöne" (S. 211—32) mehrfach auf diese Prägung (schön = „selig in ihm selbst") zurück. Die „aura divina der Kunst" wird indessen ein Mittel, Mörike allzusehr A. Stifter anzunähern. Und die „ewigen Mächte" (S. 214, 221), die für B. v. Wiese wohl weniger an Hegel als letztlich religiös gebunden bleiben (nicht nur in dieser Mörike-Monographie), drohen bedenklich die Kunstmächtigkeit des Dichters Mörike zu erdrücken. Es kommt zudem B. v. Wiese mehr auf das Herausinterpretieren an als auf die Schönheitsidee als solche. Immerhin gelingt es, Stufen der Entwicklung und Wandlung an den Gedichten „Der junge Dichter" (1823) über „An eine Äolsharfe" (1837) mit vorwiegend romantischer Tendenz zum „Weihgeschenk" (1846) und zum Gedicht „Auf eine Lampe" (1846) mit klassisch-antiker Tendenz sichtbar zu machen. Anzuerkennen ist auch das Ausgehen vom Nachlaßgedicht „Nachts", das in Beziehung gesetzt wird zu dem „Letzten König von Orplid". Dagegen ist der Briefwechsel Mörikes nicht in erwünschtem und erforderlichem Grade ausgewertet worden. Hier (und nicht nur hier) rächt sich die enge Einseitigkeit der Interpretationsmethode. Kunsttheoretisch erkennt B. v. Wiese nicht den Zusammenhang dieses von ihm mit Recht so oft herangezogenen „Seligsein des Schönen in sich selbst" (S. 223) mit dem „In-sich-selbstVollendeten" der Klassik (K. Phil. Moritz/Goethe). Manche Umständlichkeit der Darlegung hätte sich durch den Blick auf den größeren Zusammenhang vermeiden lassen. Bei diesem prinzipiellen Einwand gegen die selbstgenügsame (und selbstbewußte) Interpretationsmethode wird im Einzelfall Mörike nicht die Sicherung übersehen, die B. v. Wiese einzubauen versucht mit dem vorbeugenden Satz: „Das Schöne bedeutet für ihn (Mörike) nicht eine Idee, die man von Ort und Zeit ablösen könnte". Er vergißt dabei, daß, um nur eines hervorzuheben, der Anteil des Klassischen in Mörike abhängig blieb von der überzeitlichen und nicht ortsgebundenen Schönheit an sich, die nicht aus dem Einzelfall herausinterpretiert werden kann. Was das abschließende Kapitel „Die Kunst" (S. 270—95) betrifft, so nimmt es sogleich eingangs (S. 272) jenes

III. ANMERKUNGEN

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letztlich von dem Kunstideal der Klassik überkommene Kriterium eines „Seligseins des Schönen in sich selbst" wieder auf. Weil jedoch dieser Zusammenhang der Kunstideen außer acht gelassen wird, kann „Mozart auf der Reise nach Prag" zu sehr als ein unverwechselbar Eigenes und Eigenwegiges gedeutet werden. Berechtigt ist dagegen der Ansatz: „Mörike ist ebensowenig oder ebensoviel Romantiker wie Klassiker" (S. 271). Man darf hinzusetzen: er ist auch in der Mozart-Novelle auf der Wegsuche zwischen Nachklassik und Nachromantik (einschließlich Biedermeier und Frührealismus). Dieser Abschnitt bietet nicht etwa eine Deutung der Kunstanschauung Mörikes, sondern im Gesamt nur eine freilich liebevolle Interpretation der Mozart-Novelle. Er bestätigt jedoch jene Annäherungstendenz Mörike/Stifter mit der Zuhilfenahme des „sanften Gesetzes, wie es Stifter genannt h a t " (S. 274). Erfreulicherweise aber fällt auch hier das Wort von der „biedermeierlichen Klassik", nicht etwa das vom klassischen Biedermeier. S. 86.

„ K l a s s i s c h e B l u m e n l e s e " . — Erinnert sei weiterhin an das knappe Dutzend von „Idyllen des Theokrit" sowie an die Anakreon-Übertragung von 1864.

S. 90.

Annette v. Droste-Hülshoff. — Forschungsberichte von C l e m e n s H e s e l h a u s in: Jb. der Droste-Ges. 2 (1948/50), S. 334—52, und G u s t a v K o n r a d in: Wirkendes Wort 4 (1953/54), S. 291—98. Ü b e r g a n g v o n B i e d e r m e i e r z u F r ü h r e a l i s m u s . — Für die Biedermeier-„Epoche" nahm u. a. die Droste in Anspruch G ü n t h e r W e y d t : Naturschilderung bei Annette von Droste-Hülshoff und Adalbert Stifter, Beiträge zum „Biedermeierstil" in der Literatur des 19. Jh.s, Germ. Studien 95, Berlin 1930. Die mehr impressionistischen Anteile berücksichtigte G e r h a r d F r ü h b r o d t : Der Impressionismus in der Lyrik der Annette von DrosteHülshoff, Neue Forschung 7, Berlin 1930, und zwar unter Herausarbeitung der Wendung vom physiologischen zum psychologischen Impressionismus. Die Balladendichterin würdigte H e i n r i c h C ä m m e r e r : Zu den Balladen der Droste, in: Euphorion [Dichtung und Volkstum] 36 (1935); vgl. H. A b e l e : A. v. Droste-Hülshoff und die Romantik, Diss. München 1929. — J. M ü l l e r : Natur und Wirklichkeit in der Dichtung der Droste 1941. — Briefe der Annette von Droste-Hülshoff, hrsg. von K a r l S c h u l t e K e m m i n g h a u s e n , 2Bde., Jenai945. — A n n a F r e u n d : A.V.Droste

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in ihren Beziehungen zu Goethe und Schiller. Diss. München 1915. — H. L ü c k e : A. v. Drostes Verhältnis zur Romantik. Diss. Köln 1927. — H. A b e l e : A. v. Droste und die Romantik. Diss. München 1929. — C l e m e n s H e s e l h a u s : A. v. Droste. Die Entwicklung des Seins in der Dichtung des 19. Jh.s 1943. —• W a l t e r W i n k l e r : Metapher und Vergleich im Schaffen der A. v. Droste. Diss. Zürich, gedr. Winterthur 1954. — K a r l S c h u l t e K e m m i n g h a u s e n : A. v. Droste und Friedrich Engels in: Wiss. Zschr. Univ. Jena, Ges.- und sprachw. R. 5 (1955/56), S. 439 ff. S. 91.

S c h m e r z l i c h e W i d e r s p r ü c h e . —· Auf die komplizierte Struktur richtet seine Aufmerksamkeit besonders E m i l S t a i g e r : Annette v. Droste-Hülshoff; Wege zur Dichtung 14 (1933). Es handelt sich um die Diss. Ε. Staigers, die aber bereits die Eigenwegigkeit in der Urteilsbildung erkennen läßt. So wird ζ. B. die Droste nicht modegerecht im Biedermeier, sondern m. E. richtiger zwischen Romantik und Realismus angesiedelt. Hinsichtlich jener schmerzlichen Widersprüche wird u. a. hingewiesen auf das Novellenfragment „Ledwina", den wahrscheinlichen Reflex der Doppelliebe im fragmentarischen Gedicht „Not", das Lustspiel „Perdu", das frühe Sich-Orientieren „an äußerlichen, dilettantischen Begriffen von Poesie", das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit, den „Aberwitz eines Dichters des 19. Jh.s, Naturgesetze verleugnen und Wunder erleben zu wollen" (im Bezug auf das „Geistliche Jahr") usw. Interessant ist die Deutung der „Schlacht im Loener Bruch" als Annäherung an das „historische Lehrgedicht" (historische und geographische Anmerkungen A. v. Drostes), der „Judenbuche" als „Durchbruch zum Gegenständlichen". Doch widerstreite der Dichterin trotz des „Realismus" die naturalistische Auffassung der Umwelt als Schicksalsträger. Quellenmäßig sei erwähnt der Hinweis auf Schellings (Pseudonym Bonaventura) „Die letzten Worte des Pfarrers zu Drottning auf Seeland" (in L. Tiecks „Musenalmanach" 1802) als wahrscheinlich anzusetzende Quelle für das „Vermächtnis des Arztes".

S. 93.

„ H o s p i z auf dem G r o ß e n S t . B e r n h a r d " . — Der frührealistische Anteil könnte ζ. B. gesehen werden in den Erkundigungen, die durch die Dichterin von einer befreundeten Dame eingeholt werden, um „mich so genau wie möglich über die Lokalität zu unterrichten" (an Frau v. Thielmann, 2. 12. 1828). Weitere Belege bringt H e i n r i c h

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R e i n h a r d t : Die Dichtungstheorie der sog. Poetischen Realisten, Diss. Tübingen 1939, S. 26—28, dem es darum geht, A . v . Droste-Hülshoff neben K . Immermann und J. Gottheit den „Vorbereitern" des poetischen Realismus zuzuordnen. E s liegt aber H . Reinhardt durchaus fern, A . v . Droste-Hülshoff etwa dem „Biedermeier" entreißen zu wollen. Seinem T h e m a gemäß beleuchtet er nur die „ a n d e r e " Seite unter Auswertung des Selbstzeugnisses der Dichterin, sie vermöge nur „ i m Naturgetreuen, durch Poesie veredelt", sich produktiv zu entfalten (Richtung: poetischer Realismus). S. 96.

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Adalbert Stifter. — A . R . H e i n : A . Stifter, sein Leben und seine Werke, P r a g 1904, 2. Aufl. Wien 1952, 2 B d e . — T h . K l a i b e r : A . Stifter, Stuttgart 1905. — E r n s t B e r t r a m : Studien zu A . Stifters Novellentechnik, Dortmund 1908. — G ü n t h e r M ü l l e r : Stifter, der Dichter der Spätromantik, in: Jb. d. Verb. . . . kath. A k a d . 1924. — H u g o B l a n c k : Technik der Rahmenerzählung bei A . Stifter, Schwelm 1925. — R . v . S c h a u k a i : A . Stifter, Beiträge zu seiner Würdigung, Augsburg 1926. —• M a r g a r e t e G u m p : Stifters Kunstanschauung, Berlin 1927. — Dorothea Sieber: Stifters „Nachsommer", Jenaer Germ. Forsch. 1 0 , 1 9 2 7 . —• J o s e p h B i n d t n e r : A . Stifter, sein Leben und sein Werk, Wien 1928. —• E r n s t A l k e r in Zschr. „ W i t i k o " Jg. 1931, dort auch A . R o e ß l e r über A . Stifter als Maler Jg. 1928. — A . G . M ü l l e r : Weltanschauung und Pädagogik A . Stifters, Bonn 1930. — E m i l M e r k e r : Stifter, Stuttgart 1939. — F r . K l a t t : Stifter und das Dämonische, in: Euphorion [Dichtung und Volkstum] 1939. — J u l i u s K ü h n : Die Kunst A . Stifters, Neue D t . Forschung 28, Berlin 1940 (zeitbedingt eingetrübt), so etwa S. 1 1 , 1 6 9 u. a. — A n ζ. Z. neueren Sonderforschungen seien erwähnt E r i k L u n d i n g : A . Stifter, in: Studien zur K u n s t und Existenz I, Kopenhagen 1946. — H e r m a n n K u n i s c h : Mensch u n d Wirklichkeit bei A . Stifter, Münchener Univ.-Reden, N.F., H. 13, 1950. —• W a l t h e r R e h m : Nachsommer, Bern—München 1951. — E m i l S t a i g e r : A . Stifter als Dichter der Ehrfurcht, Zürich 1952. — R o l f H e m p e l : Studien z u A . Stifters epischer Kunst.Diss.Tübingen 1953 ( M a s c h . ) . — J o a c h i m M ü l l e r : A . Stifters „ W i t i k o " und das Problem des historischen Romans, in: Wiss. Zschr. der Univ. Jena 1953/54 (Auch in: Wiss. Annalen 3 [1954], S. 230—41, 261—70). — D e r s . :

M a r k w a r d t , Poetik IV

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A. Stifter, Weltbild und Dichtung, Halle 1956 (dort weitere Lit.-Hinweise). — K o n r a d S t e f f e n : A.Stifter, Deutungen, Basel und Stuttgart 1955. — I n g r i d K r a c k e r v. Schwartzenfeldt: Das Gestaltungsprinzip in vier Einzelwerken und im Gesamtwerk Stifters. Diss. Berlin FU 1955 (Masch.; Ausz. in: Vjschr. des A. Stifter-Inst. 4 [1955], S. 161—179). — I l s e B a u e r : Das Prinzip der Anschaulichkeit und die Möglichkeiten der Bildgestaltung in der Dichtung Stifters. Diss. Heidelberg 1945 (Masch.). — G e r t r u d e M . R a u c h : StifterundGrillparzer.Diss.Wien 1946(Masch.). — Ε. A. B l a c k a l l : A. Stifter. A critical study. Cambridge 1948. —• H e r b e r t C y s a r z : Der Dichter des seienden Seins: A. Stifter. In: Welträtsel im Wort. Vaduz 1948, S. 246—76. — H. U t ζ : Das Bild in der Dichtung A. Stifters. Diss. Würzburg 1948 (Masch.). — C u r t H o h o f f : A. Stifter. Seine dichterischen Mittel und die Prosa des 19. Jh.s. Düsseldorf 1949. —• E r i k a S e i t e i b e r g e r : A. Stifter als Beurteiler der zeitgenöss. Literatur. Diss. Wien 1949 (Masch.). — L o t h a r W e b e r : Die Bedeutung des Künstlertums in Leben und Werk A. Stifters. Diss. Freiburg 1950 (Masch.). — W i l h . W e i n g a r z : A. Stifter. Mensch und Künstler im Verhältnis zur Religion. Diss. Bonn 1951 (Masch.). — R u t h B r u n n h o f e r : A. Stifters Verhältnis zum histor.-polit. Leben seiner Zeit. Diss. Berlin FU 1952 (Masch.). — W i l h . K o s c h : A. Stifter als Mensch, Künstler, Dichter und Erzieher. Regensburg 1952 (katholischkonservativ; nützlich jedoch die mit M. S t e f l bearbeitete A. Stifter-Bibliographie, S. 130—56). — D e r s . : A. Stifter und die Romantik. Nymwegen 1946. — W. H e c k : Das Werk A. Stifters. Versuch einer Bibliographie. Wien 1954; lfd. Bibliographie von demselben in Vjschr. des A. StifterInstituts 1952 ff.; vgl. ferner E r i k L u n d i n g : Probleme und Ergebnisse der Stifterforschung 1945—54, in: Euphorion49(i955),S.203—44. — P a u l R e q u a d t : Über den gegenwärtigen Stand der Stifter-Forschung, in: Wirkendes Wort, Jg. 1951/52, S. 160f. — K u r t V a n s c a : Neue Stifterliteratur, in: Vjschr. des A. Stifter-Instituts, Jg. 5 (1956). S. 96.

P r i m a t des R e l i g i ö s e n u n d E t h i s c h e n . — Durchweg von der Sonderforschung (s. o.) erkannt, wenn auch bald verhüllter, bald offener dargestellt. Auch das ungewöhnlich lebhafte Interesse, das man gerade neuerdings Stifter entgegenbringt, hängt unverkennbar mit dem Bestreben zusammen, Dichter betont herauszustellen, die geeignet er-

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scheinen, ein religiöses Gegengewicht gegen das politische Übergewicht zu schaffen. Daher ist die Würdigung durchweg eng verbunden mit einer vielfach überhöhenden Bewertung, die ohne weiteres das Kunstwollen gleichstellt mit der Kunstleistung. S. 96.

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E t h i s c h e r R e a l i s m u s . — Die Annäherung Stifters an den poetischen Realismus ist unverkennbar, und es geht nicht, gut an, ihn, wie G. M ü l l e r möchte, zu sehr auf die „Spätromantik" einzuengen. Ebensowenig überzeugt die Patentlösung, „daß er in seinen Naturschilderungen Realist, in der Menschendarstellung dagegen Idealist war", J u l i u s K ü h n a. a. O., 1940, S. 37. Denn auch und nicht zuletzt in die natürliche Wirklichkeit ragt für Stifter überall die Wirklichkeit und das stille Wunder Gottes als „sanftes Gesetz" hinein. Goethes schöne Gegenständlichkeit wird immer wieder aufgehoben und aufgehöht vom „magischen Realismus" des Novalis. Das Zusammensetzspiel und Pusselspiel aus Zettelkasten-Belegstellen, mit deren Hilfe J. M ü l l e r den „Geist" zu bannen und die Bedeutung zu „beweisen" sucht (so schon bei Hebbels Weltbild, 1955), muß vollends fehlgehen, wenn zu moderne Ding-Vorstellungen (Hofmannsthal-Rilke) auf A. Stifter rückübertragen werden, so daß ein Kapitel die kühne, scheinphilosophische Überschrift trägt „Wesenheit der Dinge", a. a. 0. (1956) S. 170—77. Die von H e r m a n n K u n i s c h a. a. Ο. (1950) S. 8/9gegebenenAnregungen,auf die„Ding"Idee in Stifters Wirklichkeitsauffassung zu achten, sein Hinweis auf die reiche Vielgestalt der „Ding"-Vorstellung, haben offenbar J. Müller ermuntert, nun sogleich mit Hilfe von Belegstellenhäufung ein eigenes Kapitel daraus zu machen. Schon H. Kunisch ist die „Wesenheit" nicht entgangen; aber er versäumt nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß Stifter diesen Begriff von Goethe übernommen habe. Dieser Müllersche Hexensabbat von durcheinandergewirbelten Belegstellen schafft eher Verwirrung als Klärung. Das Briefzitat (Juli 1858), daß Stifter, also sein Kunstwollen (das J. M. übersieht, einen Einzelfall berührend), gewisse Dinge „in ihrer Wesenheit zur Erscheinung bringen" wollte, berechtigt noch nicht zu jener vielversprechenden Kapitelüberschrift, um so weniger als Stifter dort „Dinge" als Sammelbezeichnung gebraucht für Natur, Kunst, Wissenschaft, Freundschaft, geselligen Umgang, also letzt-

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lieh Motive meint, wo er „Dinge" sagt. Von Dinghaftigkeit im Sinne von realistischer Gegenständlichkeit ist dort durchaus nicht die Rede. Weit eher hätte als Motto die Stelle aus dem „Nachsommer" voranstehen können, wo von dem die Rede ist, „was die Dinge nur für sich forderten und was ihrer Wesenheit gemäß war" (S. 174). Aber „am allerrealsten" bleibt für Stifters Lebensgefühl und Sehweise immer Gott. Und auch „Ding" trägt oft die Färbung der Erbauungsliteratur, die etwa vom menschlichen Herzen wie von einem gar gebrechlichen „Ding" spricht. S. 98.

A n r e g u n g e n J e a n P a u l s . — A n J.Pauls Unterscheidung der Materialisten und Nihilisten (vgl. Bd. III) und seine Forderung, den „beseelten Stoff" als Synthese zu gestalten und künstlerisch formend zu verwalten, erinnert ζ. B. deutlich Stifters Äußerung gelegentlich einer Besprechung der Ausstellung eines österreichischen Kunstvereins (1863; wo es freilich um bildkünstlerische Fragen ging), daß jenes Idealisch-Göttliche (Stoffbeseelung) immer das Entscheidende bleibt: „Ist es in der Kunst dem größten Realismus als höchste Krone beigegeben, so steht das vollendete Kunstwerk da. Wie grober Realismus grobe Last ist, so ist bloßer Idealismus unsichtbarer Dunst oder Narrheit". Also noch 1863 wirkt Jean Paul bewußt oder unbewußt nach; er wurde vom Goethe-Einfluß ebenso wenig radikal abgelöst wie der ebenfalls dauerkräftige Herder-Einfluß. Das lag letzten Endes darin begründet, daß Stifters religiöses Lebensgefühl mehr mit Jean Paul und Herder sympathisierte als mit Goethe. Jedenfalls darf man den Ablösungsvorgang Jean Paul—Goethe nicht zu sehr vereinfachen und vergröbern. Im Kunstschaffen mag der Ablösungsvorgang einfacher sein; im Kunst wollen war er weit komplizierter.

S. 98.

S o n d e r f o r s c h u n g . — M. G u m p : Stifters Kunstanschauung, Berlin 1927; aber auch J. M ü l l e r : A. Stifter, Weltbild und Dichtung, Halle 1956, S. 186/87; Besonnenheit, Vernunft und Geduld auch beim Genie, das nicht rauschhaft-dämonisch gesehen wird (Abwehr aller Formen von ungezügelter Leidenschaft); H. K u n i s c h : Mensch und Wirklichkeit bei A. Stifter (Univ.-Rede 1950) S. 1 1 : „Maß, Beherrschung" u. a. m.

S. 99.

„ D a s G ö t t l i c h e im G e w ä n d e des R e i z e s " . — Durchweg als ein Kem-Gesetz der Kunstanschauung Stifters richtig erkannt, von J. M ü l l e r a. a. O. (1956) zur Überschrift „Das Göttliche im Kleide des Reizes" (Kap. VIII,

III. A N M E R K U N G E N

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S. 178—89) erhoben. Die Variante Gewand-Kleid ergibt sich daraus, daß Stifter im Lebensrückblick von 1866 schildert, wie er auf der Benediktiner-Abtei Kremsmünster schon in sehr jungen Jahren auf die Prägung seines Lehrers (P. Hall) gestoßen sei: „das Schöne sei nichts anderes als das Göttliche in dem Kleide des Reizes dargestellt". Dagegen variiert der Essay „Über Beziehung des Theaters zum Volke" (1867) zu: „Darstellung des Göttlichen im Gewände des Reizes". Leider wird nirgends die Frage aufgeworfen oder beantwortet, ob beim Begriff „ R e i z " nur eine übliche Wendung (aus Lehrermund übernommen) vorliegt, oder wirklich ein kunsttheoretischer Begriff, der dann mit dem „Reiz"-Begriff der Poetik des 18. Jh.s (vgl. Bd. II) in positive oder negative Beziehung gesetzt werden könnte oder müßte. Wäre das der Fall, so würde mit dem AnmutGrazie-Begriff des Rokoko auch wieder das Problem der „schönen Seele" näher rücken. Es darf daran erinnert werden, daß Stifter einmal von einem (Vorstellungs-) Bild ausgesagt hat, es wirke so, „als wäre es i n r e i n l i c h e n F a r b e n a u f P o r z e l l a n g e m a l t " . Damit wird auch ein Wesentliches und Wertvolles seiner eigenen Bildhaftigkeit getroffen. Natürlich rückt sein Primat der Schlichtheit weit ab von der Zierkunst des Rokoko. Aber die Anmut des „ N a i v e n " im Grenzgebiet Rokoko-Klassik ist seinem Kunstwollen und Kunstschaffen durchaus gemäß. Doch zurück zu J. M ü l l e r . E r stellt richtig fest, daß gelegentlich die Rangstufung von Religion und Kunst ein wenig schwanke: bald Unterordnung der Kunst, bald Nebenordnung. Wertvoll ist sein Hinweis und mehrfaches Belegen des Wortes „ d a s Z u s a g e n d e " . Es dürfte sich bei diesem „Zusagenden" in Wirklichkeit um einen d o m i n i e r e n d e n k u n s t t h e o r e t i s c h e n T e r m i n u s handeln. Und vielleicht hätte J. Müller gut daran getan, diesen Begriff in die Zentralstellung des Sonderkapitels zu rücken. Mir möchte fast scheinen, als ob Stifter mit dem „Zusagenden" als Merkwort der Wirkungspoetik zugleich wieder eine religiöse Teilvorstellung verbindet: nämlich den des Zukommenden. Was dem Menschen und der Menschheit „zusagt" (gefällt), ist zugleich das, was dem Menschen und der Menschheit „ z u k o m m t " (religiös gesehen) und „ b e k o m m t " (pädagogisch gesehen). S. 100. V o r r e d e z u d e n „ B u n t e n S t e i n e n " . — O b w o h l bereits A. Stifter in der ihm eigenen Schlichtheit, Klarheit und

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Eindeutigkeit mit aller pädagogischen Verständlichmachung — denn auch er war Pädagoge von Fach — das von ihm Gemeinte ausgebreitet hat, vermißt J. M ü l l e r dennoch eine erschöpfende Interpretation, in der er nun a. a. O. (1956) S. 78 f. bis zum schulmäßigen Überdruß das Selbstverständliche noch verständlicher zu machen sucht, als es schon A. Stift er gemacht hat. D i e I η t e r ρ r e t a t i ο η s m e t h o d e b e d e u t e t a b e r n i c h t eine Ü b e r t r a g u n g v o n S c h u l p r a k t i k e n auf die W i s s e n s c h a f t . Ein Beispiel dieses mehr aufregenden als anregenden Verfahrens: Stifter hat gesagt, daß nicht „Tugend und Sitte gepredigt werden" sollen. Das ist J. Müller nicht verständlich genug, und er hebt zu „interpretieren" an: „Nein, Tugend- und Sittenprediger, Moraltrompeter, das will Stifter nun ganz und gar nicht sein . . ." usw. Dieselbe Angst, ja verstanden zu werden, spiegelt sich in der Argumentation, daß es leichter sei, von der Epik das Weltbild abzuleiten und abzuziehen (es sind in der Tat Welt-Abziehbilder) als von der Dramatik. Denn warum ? Darum, weil im Drama ein Gegenspieler vorhanden ist und man nie so recht wissen kann, ob der nun am Ende auch das „Weltbild" des Dichters vertritt („so daß wir —· in der Epik —· nicht wie beim Drama zu fragen haben, ob der Held oder der Gegenspieler des Dichters Ansicht vertritt"; S. 4). Weit wertvoller als dieses Kapitel III, soweit es um Kunsttheorie geht, ist das Kapitel V I I I : „Das Göttliche im Kleide des Reizes", wobei sich freilich J. Müller auf Vorarbeiten wie die von M a r g a r e t e G u m p a. a. Ο., 1927 und J u l i u s K ü h n a. a. Ο., 1940 stützen konnte. Die Kunsttheorie ist überhaupt bei Stifter von der Sekundärliteratur besser betreut worden als bei manchem bedeutenderen Dichter (ζ. B. bei Goethe). Am geglücktesten sind aber wohl die Kapitel II „Menschwerdung des Menschen", da sich hier das Pädagogische auswirken kann, und Kapitel VI „Der Mensch in der Landschaft", da J. Müller durch frühere Arbeiten darin ebenfalls über besondere Erfahrung verfügt. Dagegen wirkt es wenig glücklich, wenn J. Müller bei Stifter von dem „Gepräge eines anthropologischen Realismus" (S. 83) spricht. Denn dieser Terminus liegt philosophisch weitgehend fest für — L. Feuerbach. Und mit Feuerbach will J. Müller doch gewiß nicht Stifter parallelsetzen. Es steht ähnlich wie mit der Prägung „Gestaltdenker" (Hebbel-Arbeit) denn der Terminus „Gestaltdenken" liegt bereits philosophisch fest

III. ANMERKUNGEN

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ζ. Β. für „Die deutsche Schulmetaphysik des 17. Jh.s" (Max Wundt, Tübingen 1939). S. 104. M a n g e l a n G r o ß g e i s t i g k e i t . — Gelegentlich hat Stifter indessen den Mangel an Sinn für das Großartige und Bedeutende bzw. die mangelnde Fähigkeit, es von der Umklammerung und dem Verstelltwerden durch das vordergründige „Kleine", der Detailfreudigkeit zu lösen und freizusetzen, auch wohl sich selber eingestanden. Denn es fehlte ihm durchaus nicht an Selbstkritik. Er spürt aber, wie leicht ihn auch im Schaffensvorgang die Kleinigkeiten des Lebens ablenken und alle Konzent ration auf sich lenken. In der Vertraulichkeit des Privatbriefes kommt das zum Ausdruck: „Manchmal ist mir, ich könnte Meisterhaftes machen, was für alle Zeiten dauert und neben dem Größten bestehen kann; es ist ein tiefer, heiliger Drang in mir, dazu (daran) zu gehen — aber da ist äußerlich nicht die Ruhe, die kleinen (Amts-) Dinge schreien drein.. . . und das Große ist dahin" (Mai 1854). Im allgemeinen aber genügte es seinem Lebensgefühl, daß hinter dem „Kleinen" der Wirklichkeit die Größe Gottes stand, die sich nun um so erhabener abheben konnte. In diesem Sinne tendierte er mehr zur „schönen Seele" als zum großen Geist. Aber nur in diesem Sinne der Veredelungstendenz, damit der Mensch „menschlicher", d. h. menschenwürdiger und damit gotteswürdiger werde. Bereits H. K u n i s c h a. a. 0. (1950) S. 5 warnt vor der Auffassung, als ob Stifter „schöne Seelen" ästhetisierend verweichlichter Art „bilden" wolle. Aber das tragende Gefühl eines Irdischen Vergnügens in Gott war Stifter durchaus vertraut. Insofern sah Hebbels Epigramm doch nicht so ganz schief, wenn es Stifter neben H. Brockes stellte. Und die Parallele mit S. Geßner ist nicht so ganz verfehlt. Man könnte sie sogar ins Positive wenden, da auch über der Idylle Geßners der Hauch einer klassischen Heiterkeit lag, die Stifter ebenfalls auszeichnet. Den aufklärerischbürgerlichen Eintrübungen bei Geßner würden dann die biedermeierlich-bürgerlichen Eintrübungen bei Stifter entsprechen. Im übrigen aber begegnen sich Vorklassik dort und Nachklassik hier: Geßner kam der Klassik schon sehr nah, Stifter bleibt ihr noch sehr nah oder kommt ihr wieder sehr nah. Man muß nur das Idyllische mehr in klassischer als in biedermeierlicher Ausprägung verstehen. Tut man das, so braucht man nicht so nachdrücklich, wie es bei H. Kunisch S. 4 geschieht, dem Mißverständnis vorzu-

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beugen, als ob Stifter „Idylliker" im landläufigen, leicht etwas abschätzigen Sinne des Wortes gewesen sei. S. 105. S e i n s - G e s e t z e . —• Eine Deutung des Wesens und des Werks nach „existentiellen" Kriterien unternimmt E r i k L u n d i n g : A. Stifter, mit einem Anhang über Kierkegaard und dessen existentielle Literatur-Wissenschaft (Studien zur Kunst und Existenz I, 1946). E. Lunding betrachtet Herrn. Pongs als „Künder einer existentiellen LiteraturWissenschaft" (S. 119), rückt aber aus weltanschaulichen Gründen von ihm ab. Obwohl nun Lunding reichlich mit dem Terminus „existentiell" operiert (auf der nicht vollständigen S. 13 ζ. B. kommt er 5mal vor), gewinnt man doch den Eindruck, daß das Eigene der Interpretation Lundings weit eher in der Nachwirkung von Wilhelm Worringers „Abstraktion und Einfühlung" und des damit gekoppelten Expressionismus zu suchen ist. Denn diese Eigen-Deutung betrifft besonders den späteren Stifter, und zwar dessen sich mehr und mehr der Abstraktion nähernden „Stilisierung". Der „Exkurs über Stilisierung" (S. 97—101) läßt über die angedeuteten Zusammenhänge nicht im Unklaren (Richtung Alois Riegl und dessen Schüler W. Worringer). In diesen Partien nähert sich E. Lunding kunsttheoretischen Problemen der Kunstphilosophie, während ein Sonderabschnitt über Stifters Kunstanschauung nicht vorliegt. Bei dieser Gelegenheit begegnet die entsprechend begrüßte Wendung: „überhaupt sind wohl Kunst und Kunsttheorien die feinsten Seismographen geistiger Wandlungen, wenn man nur die Zeichen zu deuten versteht" (S. 99). Auf derselben Seite fällt denn auch das merklich immer noch bannkräftige Kennwort „Expressionismus". Was das Deuten der Zeichen betrifft, so mißtraut freilich E. Lunding den deutschen Forschern, weil sie durchweg schlechte Psychologen seien. Diesmal ζ. B. bekommt schon in der Vorrede Karl Voßler nach flüchtigem Streicheln („geist- und kenntnisreicher Romanist", immerhin!) seinen dämpfenden Seitenhieb; denn auch seine anregende „Poesie der Einsamkeit in Spanien" kann E. Lunding „jedoch nicht voll befriedigen", weil Karl Voßler „zu sehr auf das Äußerlich-Motivgeschichtliche" ausgehe. Aber das nur als Beispiel für eine Haltung, die in dem frühen Barock-Versuch noch krasser zutage trat. Im allgemeinen wirkt das Stifter-Buch weit gemäßigter und einsichtsvoller. Gewiß liebt E. Lunding immer noch das Sensationelle oder doch

III. ANMERKUNGEN

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Gewagte. Denn gewagt ist gewiß die Deutung, die angeblich völlig einzigartige Sonderstellung des „Witiko"-Romans im 19. Jh. erkläre sich ganz einfach daraus, daß mit ihm A. Stifter überraschend in die erst zukünftige Richtung „abstrakter K u n s t " vorgestoßen sei. Ermutigt durch Hinweise A . v. Grolmanns sucht Lunding diese These bis in Stilmerkmale hinein durchzusetzen. So unterscheidet er „zwischen der klassisch-typisierenden Kunst des Nachsommers und der Abstraktionskunst des Witiko" (S. 103). Ein eigentlich historischer Roman dagegen sei der „ W i t i k o " nicht. Ähnlich wird die „Letzte Mappe" in die Richtung „auf Abstraktionskunst" verwiesen (S. 114). Fraglos ist diese Auslegung zugleich interessant. Dankenswert ist auch der Hinweis auf die Problematik des Marionettenhaften und auf die einschlägige 4. Duineser Elegie Rilkes. Aber wie nun, wenn ein Kritiker auf den Gedanken käme, in dieser angeblich verfrühten Abstraktionskunst Stifters (dem Zeitalter, 19. Jh. nach) eine ermüdete Alterskunst (dem Lebensalter oder doch der Lebenserschöpftheit nach) zu sehen, die zum Klassisch-Typisierenden nicht mehr hinreichende Kraft besaß und dergestalt aus der Not eine Tugend (formverspielter Art, litaneihafte Wiederholungen usw.) machte ? — Aber Andeutungen über die Deutungen müssen hier genügen. S. 106. Fr. Th. Vischer. — T h e o d o r K l a i b e r : Fr. Th. Vischer, Stuttgart 1920. — Der Herausgeber der großen Hegelausgabe H e r m a n n G l o c k n e r verfaßte seine Diss, über: Fr. Th. Vischers Ästhetik in ihrem Verhältnis zu Hegels Phänomenologie des Geistes, Leipzig 1920 und läßt später folgen: Friedr. Th. Vischer und das 19. Jh., Berlin 1931. — E. V o l h a r d : Zwischen Hegel undNietzsche, der Ästhetiker Fr. Th. Vischer, Frankfurt/M. 1932. — H e i n r i c h R e i n h a r d t : Die Dichtungstheorie der sogenannten Poetischen Realisten, Diss. Tübingen 1939, S. 100—106. — H a n n e l e n e K i p p e r : Die Literaturkritik Fr. Th. Vischers (1941)· — D. Fr. Strauß und Fr. Th. Vischer: Briefwechsel in 2 Bdn., hrsg. von A. R a p p . Stuttgart 1952/53. — F r i t z E r n s t S c h l a w e : Fr. Th. Vischer als Literaturkritiker. Diss. Tübingen 1954 (Masch.). — G e o r g L u k a c s : Karl Marx und Fr. Th. Vischer, in: Beitr. z. Gesch. d. Ästhetik. Bln. 1954, S. 217—385. — W i l l i O e l m ü l l e r : Das Problem des Ästhetischen bei Fr. Th. Vischer, in: Jb. der Deutschen Schillergesellschaft 2 (1958), S. 237—265 (Verf. plant Aus-

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bau in Richtung: nachhegelsche Ästhetik, zugleich kritische Sichtung der Vischerforschung). S. n o . „ G u n s t des Z u f a l l s " . — E d u a r d v. H a r t m a n n : Die deutsche Ästhetik seit Kant, erster historisch-kritischer Teil der Ästhetik, Berlin 1886 stellt in seinem VischerAbschnitt (S. 211—19) kritisch fest: „So spielt denn der Zufall in Vischers Ästhetik (§ 31—34, 50, 51) eine noch wichtigere Rolle als bei Hegel, was ihm mit Recht von der Kritik zum Vorwurf gemacht (worden) ist". (S. 214). Außerdem habe Vischer die Begriffe „Idee" und „Schein" bei Hegel falsch aufgefaßt, besonders aber Hegels „Realität" zu sehr ins empirisch Realistische hinübergespielt. „Realität" meine jedoch bei Hegel nur „Objektivität" in diesem Zusammenhange. Vischers Ästhetik wird aber auch im Gesamt von E. v. Hartmann sehr nachteilig beurteilt. Dabei stützt er sich — nicht gerade fair — auf eine weit später liegende Selbstkritik Fr. Th. Vischers in dessen „Kritischen Gängen", 6. H., 1873. Die breite Wirkung — „von nachhaltigen Wirkungen begleitetes Werk" — muß er jedoch zugestehen (S. 213). Besonderes Ärgernis hat bei Ε. v. H. die Vorstellung von der „Harmonie des Weltalls" (Vischer) als dem höchsten Schönheits-Inhalt erregt, wobei seine eigene philosophische Position offenbar (wie auch sonst allzu häufig für eine Ästhetik-Geschichte) die Opposition bestimmt. Es rächt sich allenthalben, daß er diesen Ausschnitt einer Ä s t h e t i k - G e s c h i c h t e seit Kant ausdrücklich nur als ersten Teil seiner eigenen Ästhetik auffaßt und entsprechend interpretiert. Seine Aversion gegen Hegels „Panlogismus" muß nun auch Vischer büßen, obwohl der späte Vischer sich von Hegel zu lösen versuchte. Überdies polemisiert E. v. Hartmann gegen die „Verballhornisierung Hegels" durch Vischer (S. 216). Von Weisses zweibändiger „Ästhetik" (1830) habe Vischer manches Positive gelernt, anderes aber wiederum „falsch" verstanden. Das mehrbändige Werk Vischers (1846—57) sei durch historische Einschübe zur Geschichte der Ästhetik unvorteilhaft aufgeschwollen usw. Jetzt (1886) werde höchstens noch derjenige zu Vischers „Ästhetik" greifen, der sich über die Einzelkünste näher unterrichten wolle. Wie Eduard v. Hartmann über das Eingehen auf die Sonderkünste und deren Sonderprobleme denkt, enthüllt er mit lässiger philosophischer Gebärde: „wir besitzen ferner poetische, musikalische usw. Kunstlehren (!), welche es dem Ästhetiker

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ersparen (!), sich mit den Details der künstlerischen Technik herumzuschlagen" (S. 213). Wenn H. R e i n h a r d t : Die Dichtungstheorie der sog. Poetischen Realisten, Diss. Tübingen 1939 unbefangen die Wendung „auf dem Wege der Zufälligkeit" (S. 103) zitiert, so scheint er nicht zu ahnen, wieviel an Resistenz, von der abstrakten Ästhetik her gesehen, hinter solcher verräterischen Wendung lauert. S. 110. Karl Rosenkranz. — E . v. H a r t m a n n a. a. 0., S. 367^ Das Häßliche als Negativ-Schönes. Das Häßliche existiert für Rosenkranz „nur als Negation" des Schönen, wird also recht vorsichtig eingeführt (erinnert etwas an die Definition des Humors bei Jean Paul als das „umgekehrt Erhabene"). Uber R.s Beziehung zu Hegel vgl. E . M e t z k e : Rosenkranz und Hegel (1929). H. R e i n h a r d t s Vischerabschnitt vernachlässigt zu sehr die Rolle, die das Komische sowohl im Kunstdeuten wie im Kunstwollen bei Fr. Th. Vischer spielt. Denn nicht zuletzt dieser theoretische und praktische Sinn für das Komische war es, was Fr. Th. Vischers Kunstdeutung sowie seine Kunstübung dem poetischen Realismus (der eben doch nicht nur ein „sogenannter" ist) näherbrachte. Nicht von ungefähr verfügen die besten poetischen Realisten über Humor, Keller sowohl wie Raabe, Reuter sowohl wie J. Brinkman, Fr. Th. Vischer sowohl wie Theodor Fontane. S. i n . S t i l r i c h t u n g d e s „ C h a r a k t e r i s t i s c h e n " . — Fr. Th. Vischer fordert eine Durchsättigung oder eine „Versetzung des Idealismus (der Klassik) mit dem realistischen Elemente der stark individualisierenden Charaktergebung", wie T h . K l a i b e r es formuliert hat. Kein Wunder, wenn H. G l o c k n e r Fr. Th. Vischer als „Idealrealisten" bezeichnet, was nun die Diss, von H e i n r i c h R e i n h a r d t (S. 101, 103) eifrig aufgreift, immer froh, beruhigende Gewährsmänner anzurufen. Dabei hätte er sich ruhig selber ein wenig mehr vertrauen dürfen. Denn fast ist es bewundernswert, wie er trotz der von vornherein alles vorurteilslose Bemühenbeträchtlich (bis betrüblich) lähmenden Biedermeierspritze der Kluckhohn-Direktive und trotz der unglücklichen Hegel-Vischer-Versöhnungsbemühung H. Glockners noch herausspürt, daß Fr. Th. Vischer das Gegenständliche der Klassik mit dem Gegenständlichen des poetischen Frührealismus irgendwie in Beziehung zu bringen versucht hat. Richtig bemerkt er auch das Unsichere und Schwankende in der Terminologie Fr. Th.

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Vischers (S. 103/04) betreffs des Terminus „Realismus" einerseits und „Naturalismus" (als Stilbegriff, noch nicht als Epochenbezeichnung) andererseits. Und er ist nahe daran, die Sondersituation Vischers zwischen den Fronten, das Anvisieren des dritten Weges zu erkennen, wo er und wenn er beobachtet und erfreulich kritisch beachtet, daß Fr. Th. Vischer das Typische der Klassik einerseits nicht missen und andererseits das Charakteristische und Individualisierende des Frührealismus wie weiterhin des (freilich nur) „sogenannten" poetischen Realismus nicht vernachlässigt sehen möchte. Denn die als unzulänglich empfundenen Vokabeln „naturalistisch" und „individualisierend" faßt Fr. Th. Vischer mehr und mehr unter dem Sammelbegriff des „Charakteristischen" zusammen (a. a. 0. 1939, S. 104). Die „volle Lebenswahrheit" des Realismus einerseits und die„generalisierende Allgemeinheit des Idealismus" andererseits sucht Fr. Th. Vischer dergestalt als Antithesen in einer (hoffentlich) höheren Synthese zu versöhnen. Obwohl R. neben den Vischerschen Vorträgen über „Das Schöne und die Kunst" die ,,Shakespeare-Vorträge" keineswegs übergeht, vergißt er doch die naheliegende Frage, ob nicht die Shakespeare-Autorität, die ihm von Otto Ludwigs damals noch nicht veröffentlichten „Shakespeare-Studien" kaum aufgezwungen sein kann, eher auf den Shakespeare-Kultus der Romantik zurückverweist als auf den „sogenannten" poetischen Realismus vorausweist. Für Fr. Th. Vischer ist nämlich Shakespeare einerseits „schrecklich lebenswahr", aber andererseits doch „durch und durch ideal". Shakespeare verbindet das Typische mit dem Charakteristischen, die verallgemeinernde Idealität mit der verbesondernden Realität. Aber Shakespeare wird von Fr. Th. Vischer keineswegs nur realistisch, sondern auch noch romantisch gesehen. Mit kargen Worten: er repräsentiert das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik einschließlich Frührealismus und Biedermeier. Die Freundschaft und der geistige Austausch mit E. Mörike weist in dieselbe Richtung. Die „schlimmsten Ausartungen" (Idealismus, Realismus in extremer Fassung und Form) sucht Fr. Th. Vischer zu vermeiden durch die Bevorzugung einer gesunden Mitte. Mag ihn deshalb H. R e i n h a r d t mit bedingtem Recht der Dichtungstheorie der sogenannten (!) poetischen Realisten einordnen: allein die Einflußkraft auf den Münchener Dichterkreis sowie das Italienerlebnis lassen es — ganz abgesehen von seinem

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engen K o n t a k t mit Mörike —• ratsam erscheinen, ihn auf die „ W e g s u c h e " zu verweisen, die zwar u m den dritten W e g (Realismus) weiß, ihn aber nicht entschlossen will. Denn der Sinn für K o m i k im eigenen Kunstschaffen sowie im Kunstdeuten darf nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden mit der Sicht und Ansicht eines „poetischen" Realismus. Ohne die R e t t u n g der Nachklassik und in gewissem Grade selbst der Nachromantik wäre für Fr. Th. Vischer ein resoluter oder gar ein konsequenter Realismus untragbar. W a s aber das Biedermeierliche betrifft, so war angesichts der konträren Weltanschauung selbst P. Kluckhohn stutzig geworden. S. 113. Moriz Carrifere. — Die Belegstellen beziehen sich auf die eigentliche Kunsttheorie a. a. 0 . , S. 1—304, und zwar von S. 123 der obigen Darstellung ab gerechnet auf folgende Seiten des Textes bei M.Carriere: S. 8, 12, 41, 60, 63, 76 bzw. 225 (Untrennbarkeit von Form und Inhalt), 250 (Abwehr des blinden Verhängnisses), 203, 458 (Rückbezug auf Hegel), 55 (Dramatik als zeitliche Aufgipfelung über E p i k und Lyrik), ebenso 225, plastisches Ideal 149, dramatische Komposition 233, Verhältnis zur Historie 69, 182/83, E n t sprechung des künstlerischen und menschlichen Wertes 57. — Einiges zu M. Carriere bringt I n g e b o r g B e i t h a n : Fr. Nietzsche als Umwerter der dt. Literatur (1933) im K a p . „ U m w e r t u n g der Werte in der Ä s t h e t i k " , S. 34—76. S. 120. Münchener Dichterkreis. — Einschlägige Sonderliteratur bei W . S i e b e r : Der Münchner Dichterkreis und die Romantik, Diss. Bern 1937, übersehen wurde dort die Sonderarbeit E r i k a D a m e r a u : P. Heyses Dichterbegriff, Diss. Frankfurt a. M., gedr. Augsburg 1932. — Über P. H e y s e als den Bedeutendsten sei wenigstens einiges verzeichnet, so E . P e t z e t : P. Heyse als Dramatiker (1904), als Lyriker (1914) und Abhandlungen über Heyse 1916, 1923, 1925. — V . K l e m p e r e r : Moderne Geister, B d . I V , Berlin 1907. — H. S p i e r o : P. Heyse, der Dichter und seine Werke(1910). — A . F a r i n e l l i : P . H e y s e , M ü n c h e n 1 9 1 3 . — G. P l o t k e : P. Heyses epische und novellistische Anfänge, Diss. München 1914. — H. S c h i m m ö l l e r : P. Heyse als Lyriker, Diss. Münster 1922. — K . F i s c h o e d e r : Heyses Novellen in Versen, Diss. (Masch.) München 1923. — Η . Β r a s c h : D a s Tragische bei P . Heyse, Diss. Jena (Masch.) 1922. —• E. D a m e r a u : P. Heyses Dichterbegriff (1932). —

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L e o n i l d e F e r r a r i : P. Heyse und die literarischen Strömungen seiner Zeit, Diss. Bonn, gedr. Würzburg 1938 u. a. S. 120. A b l e h n u n g der T e n d e n z . — Literaturblatt von 1858, Stellungnahme Heyses. — P. Heyse mußte zweimal gegen die politische Tendenz Front machen; einmal — zur Zeit der Blüte des Münchener Dichterkreises —• gegen die politische Tendenz des Jungen Deutschland; später — zur Zeit des Aufblühens und der forcierten Nachblüte des Münchener Kreises — gegen die politische Tendenz der Jüngstdeutschen des Naturalismus. Im ersten Falle stand er dabei im Angriff, im zweiten Falle in der Verteidigung. Seine Zugeständnisse im zweiten Falle (Naturalismus) waren immerhin größer als seine Zugeständnisse im ersten Fall. Das dürfte mit gewissen Ermüdungserscheinungen und dem Sich-Behauptenwollen zusammenhängen. Denn an sich stand der Sproß aus gutbürgerlichem, wenn auch nicht „rassereinem" Hause der Sozialdemokratie noch ferner, als er dem Liberalismus gestanden hatte. Im Einzelnen vgl. F r i t z B u r w i c k : Die Kunsttheorie des Münchener Dichterkreises, Diss. Greifswald 1932, III, C: „Die Stellung zur Tendenzpoesie und Aktualität" S. 128—32; dabei wird auch Geibel einbezogen. Die — vom Verfasser betreute — Sonderforschung Fr. Burwicks ging erstmalig daran, eine empfindliche Lücke zu schließen, indem sie das Kunstwollen der Münchener Gruppe zum Gegenstand einer Sonderuntersuchung machte. Indessen, der Betreuer war damals noch sehr jung, und der Betreute war noch jünger, so daß wohl eine beachtliche Teillösung, aber keine restlose Lösung zustandekam. Die Hauptschwäche liegt im Einbeziehen der späteren Bekundungen, die wiederum kaum entbehrt werden konnten, wenn das Material ausreichen sollte. Immerhin hat Fr. Burwick säuberlich überall die Jahreszahl der Bekundungen in den Fußnoten verzeichnet, so daß sich das Zeitparallele (mit der Blütezeit des Kreises) von der späteren Rückschau unterscheiden läßt. Aber ζ. T. übersieht auch Fr. Burwick, daß P. Heyses Opposition gegen den Naturalismus weit weniger interessiert als seine Opposition wie überhaupt die Gegenstellung der Münchener zum Jungen Deutschland. Im allgemeinen aber bleibt er „dichter am Feind", bietet daher mehr über die Kunsttheorie im engeren Sinne, und zwar auch über die P. Heyses als die gleichzeitige Sonderarbeit von E r i k a D a m e r a u : Paul Heyses Dichterbegriff,

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Diss. Frankfurt a. Μ., gedr. Augsburg 1932, die zu sehr ins Biographische abschweift. Doch gewinnt sie aus dem Biographischen die Einsicht, daß auch über Heyse hinaus die Italien-Reise einerseits und das höfische Gebundensein andererseits (Maximilian II) entscheidend für die Mitglieder des Münchener Dichterkreises wurden. Aber sie hätte gut getan, sich weniger um die Münchener und mehr um Paul Heyse zu kümmern, der nun nur recht spät in ihrer Arbeit zur Geltung kommt. Wesentliche Gedanken verdankt sie H e r b e r t C y s a r z : Von Schiller zu Nietzsche, Halle 1928, aber ohne natürlich seinem Niveau entfernt gewachsen zu sein. Bei der Novellentheorie (die Fr. Burwick im Anhang bringt), stützt sie sich merklich auf P. Zincke. S. 121. R o m a n t i s c h e K ü n s t l e r v e r e h r u n g . — Sie spiegelt sich nicht zuletzt in jener „Ahnengalerie" romantischer Künstler, so daß es sich nicht nur um eine romantische Künstlerverehrung im allgemeinen Sinne, sondern speziell auch um eine Verehrung romantischer Künstler handelt. Einem romantischen Geniekultus stand man teilweise recht kritisch gegenüber. Doch bestimmte Vorbild-Dichter verehrte man. Daran knüpft besonders an W a l t e r S i e b e r : Der Münchner (so!) Dichterkreis und die Romantik, Diss. Bern 1937. Und zwar werden besonders Eichendorff, Uhland, Freiligrath für die Vorbildpoetik beansprucht. Schon diese Namen deuten auf das Bemühen hin, den romantischen Einfluß möglichst stark erscheinen zu lassen; denn Uhland ist kein reiner Romantiker und Freiligrath noch weniger. Was Freiligrath betrifft, so stutzt W. Sieber selber ein wenig. Es erscheine „seltsam", Freiligrath in die „romantische Ahnengalerie" einzureihen, aber sein „Exotismus" habe die romantische Fern-Sehnsucht weitergebildet. Es komme auf den romantischen Stilbegriff (Fritz Strich) an, und Fr. vertrete die romantische Entgrenzung. Während hier Formbegriffe ins Feld geführt werden, heißt es dann doch, daß die Anregung, die von Freiligrath oder auch Friedrich Bodenstedt („Lieder des Mirza-Schaffy") ausgegangen und besonders bei Schack und H. L. Lingg erkennbar sei, vom Stoff, nicht von der Form ausgegangen wäre. Die gewundene Beweisführung kann nicht überzeugen. Wesentlich mitgespielt beim Ansetzen Freiligraths hat offensichtlich die Tatsache des Einflußes an sich und das Vorhandensein einer älteren Vorarbeit J. H a l l e r m a n n : Freiligraths Einfluß auf die Lyriker der Münchener Dichterschule, Diss.

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Münster 1918. Methodisch nicht ganz einwandfrei ist das Einbeziehen etwa der Frühstufe Geibels, überhaupt der Frühstufen einerseits und der weit später liegenden rückblickenden Zeugnisse andererseits. Freilich ist sich Verf. dieser Schwächen bewußt, die merklich mit dem Mangel an Material für die eigentliche Blütezeit des Münchener Kreises zusammenhängen (vgl. auch die Greifswalder Diss, von Fritz Burwick über die Kunsttheorie). Richtig ist, daß in Heinrich Leuthold und Julius Grosse die Romantik deutlich erkennbar weiterwirkt. Für J. Grosse und besonders dessen erste Gedichtzyklen (1856) hatte das schon betont H. G e r s t n e r : Studien über J. Grosse, Diss. München 1928. Richtig ist weiterhin, daß Hermann Lingg stark nach dem (unpolitischen frühen) Freiligrath tendiert. Bei Schack spielt das eigene Reisen wesentlich mit. Dankenswert ist der Hinweis darauf, daß die Vertreter der älteren Romantik (Frühromantik) auffallend in Bekundungen — auch im Briefwechsel — der Münchener selber genannt werden im deutlichen Unterschied von den Dichtern der jüngeren Romantik (Hochromantik) und der Spätromantik. Trotz dem „Bruch mit der Romantik" (S. 49f.), wie er teils durch Italien- und Griechenland-Reisen, teils durch die Platenrenaissance, teils durch Verbindung beider Ursachen (Geibel lernt auf seiner Griechenlandreise, Leuthold auf seiner Italienreise Platen schätzen) bewirkt wird, bleibt eine rein menschliche und nationale Sympathie mit dem Romantischen, oft verborgen, bestehen. Dadurch ergeben sich Spannungen zwischen Menschentum und Künstlertum: man blieb romantischer Mensch und wollte doch zugleich klassischer Künstler sein (S. 57). Das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik wäre also trotz der ζ. T. sehr betonten Abwehr der Romantik auch darin zu beobachten. Geibel ζ. B. hofft den „Hellenen, Christen und Deutschen" in sich irgendwie versöhnen zu können. In der Frage der Religion ist man in München sehr behutsam. P. Heyse hatte besonders anfangs mit diesen Schwierigkeiten zu kämpfen. Nur H. Leuthold spielt offen die heidnisch-gesunde Schönheit gegen die durch das Christentum „angekränkelte" romantisch-deutsche Kunst aus. In der werkimmanenten Poetik Leutholds tritt deutlich die Wandlung vom romantisch-subjektiven Typus („Entsagung") zum klassisch-objektiven Typus („Das Mädchen von Recco") zutage. In dem Kapitel „Versuche zur Uberwindung des romantisch-klassischen Gegensatzes" (S. 105 f.)

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werden besonders Geibel und Leuthold als Beispiele dieser Bemühungen herangezogen (P. Heyse tritt überall sehr zurück). Im Rahmen des „Münchener Dichterbuchs" wirkt programmatisch ein Gedicht Melchior Meyrs „ A n Peter Cornelius", in dem die Synthese Romantisch-Klassisch, Christlich-Hellenisch angesichts der Fresken Peter Cornelius' (Ludwigskirche) gepriesen wird. Im Gesamt verfuhr man auf die Weise, daß man dem romantischen Stoff eine klassische Form zu geben trachtete. Dafür reichte jedoch die künstlerische Kraft durchweg nicht aus. Dagegen ist es zum Teil gelungen, die Abflachungsform einer biedermeierlichen Spätromantik zu überwinden. Die Untersuchung verliert an Beweiskraft, weil merklich Paul Heyse und damit die stärkste dichterische Begabung des Kreises ausgeklammert oder doch allzu stark zurückgedrängt wird. S. 123. „ M e r l i n " . — Diese kunsthistorischen Bestände im recht spät liegenden „Merlin"-Roman Heyses berücksichtigt vor allem E r i k a D a m e r a u : Paul Heyses Dichterbegriff, Diss. Frankfurt a. M. 1932. E s handelt sich also fast ausschließlich um den Dichterbegriff des späten P. Heyse. Verf. motiviert das so: „Diese Arbeit will ein Versuch sein, Heyses Künstlertum aus seiner ganzen Welt- und Lebensanschauung heraus zu verstehen". Dabei ist nun aber der Dichterbegriff selber zu kurz gekommen. Selbst im Schlußkapitel, das endlich die Überschrift trägt „Heyses Dichterbegriff" (S. 56 f.) und dem also alles andere zusteuert, weicht E . Damerau ihrem eigentlichen Thema merklich aus. Die ersten zehn Seiten bringen nämlich das Bekannte über den Naturalismus (56—66), erst dann folgt mit Abschweifung auf Th. Mann („Tonio Kröger") eine Analyse des Dichterbegriffs, abgelesen von der zentralen Künstlergestalt (Georg Falkner) des „Merlin"-Romans. Erfreulich ist diese Auswertimg der im Kunstwerk als Kunstgespräch usw. formulierten Poetik, weniger erfreulich die zu geringe Auswertung der formulierten Poetik jenseits des Kunstwerks. Richtig wird erkannt, daß Heyses eigene dramatische Ambitionen mitspielen, wenn er im „Merlin" gerade einen Dramatiker zum „Sprecher seiner Kunstanschauungen" gemacht hat (S. 67). Ebenso wird zutreffend beobachtet, daß das Verhältnis Künstler—Bürger bei Heyse nicht so kritisch gesehen wird wie bei den Naturalisten einerseits und Th. Mann andererseits. 36

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Sie übersieht aber ein gewisses Zugeständnis zur Zeitbezogenheit. Eine Tagebuch-Notiz des Helden verwirft zwar das natur. Wahrheitsstreben, billigt höchstens eine „Illusion der Wahrheit" (immerhin!), gibt aber dann merklich dem Zeit-Druck nach: „Das Höchste, was der Dichter tun kann, um an den großen Aufgaben der Kultur mitzuhelfen, wird immer nur Klärung und Vertiefung der sittlichen Begriffe sein, die Erziehung des Herzens, mit welchem der Einzelne sich an den Kämpfen der Zeit beteiligt." P. Heyse ist also deutlich in die Verteidigung gedrängt. So ganz unmodern wollte er doch auch nicht gern erscheinen. Aber er geht nur so weit mit, wie es um eine Veränderung der Menschen, nicht der Verhältnisse geht. Bemerkenswert ist, daß sich P. H. Gedanken macht über das Formproblem im Verhältnis des Individuellen zum Typischen. Das Typische muß zugleich individuell sein oder doch wirken. Künstlertum und Menschentum müssen konform gehen. Der Dichter Georg Falkner geht nicht zugrunde (Wahnsinn, Selbstmord), weil er als verkanntes Genie an der Welt zerbricht, sondern weil er als Mensch eine Schuld (Ehebruch unter erschwerenden Umständen) auf sich geladen hat. Auch jetzt geht es übrigens ohne die erotische Pikanterie P. Heyses nicht ganz ab. Und vor diesem mürben Hintergrund klingt das Pathos reichlich hohl und oberflächlich, mit dem feierlich verkündet wird, daß „die Menschheitsfragen", nicht jedoch das „flüchtige Interesse des Tages" die würdigen Themen der Poesie zu stellen haben. Trotzdem dürfte H a n s M a y e r zu weit gehen, wenn er Heyses „Merlin" kurzweg als einen „albernen Roman" abtut; vgl. Leiden und Größe Th. Manns, Bln. 1956, S. 41. S. 126. V e r t e i d i g u n g g e g e n ü b e r F. L e w a l d . — Vgl. Briefwechsel P. Heyse und Fanny Lewald, hrsg. von Göhler (1920), S. 412. S. 127. A u s g l e i c h s s t r e b e n v o n F o r m u n d I n h a l t . — Geibel versinnbildlicht innerhalb der im,, Kunstwerk'' formulierten Poetik, die bei ihm fast allzu reich vertreten ist: „Fließend Wasser ist der Gedanke / Aber durch die Kunst gebannt / In der Form gediegne Schranke / Wird er blitzender Demant" (Ges. Werke I, S. 320, 1847); v §l· F f · B u r w i c k a. a. 0. (1932) S. 122—28. E. D a m e r a u a. a. 0. (1932) betont, daß P. Heyse in dem Essay „Hebbel als Lyriker" (1858) das Ausgleichen des Schmerzes (als Gehalt) durch

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die Form (als Gestalt) vermißt (S. 36). P. Heyse macht geltend, daß der Dichter trotz aller Begabung „die Form . . . nicht fertig mit auf die Welt" bringe, so daß er es „als ein Glück betrachten" müsse, „wenn ein richtiger Meister ihm hilft, sie auszubilden", vgl. P a u l Z i n c k e : P. Heyses Novellentechnik, Karlsruhe 1927, S. 11. Paul Zincke vermißt allgemein die Ausbildung des Dichters in der Kunsttechnik, die bei den anderen Künsten selbstverständlich sei. Er verfolgt bei Heyse die Kunstmittel zur Erreichung einer möglichst geschlossenen epischen Objektivität (Kapitel VII). Heyse sei wohl bereit, von der klassisch epischen Objektivität der Griechen zu lernen, verwahre sich aber andererseits gegen die betont frostige Kälte und scheinbare, zur Schau getragene Gleichgültigkeit, mit der ζ. B. Prosper Merimee selbst die grauenvollsten Vorkommnisse berichte, worin nur eine gestellte Pose zu erkennen und also zu verurteilen sei. P. Heyse fordere dementsprechend keine absolute, sondern eine relative, eine „maßvolle Objektivität". Immer komme es auf den persönlichen künstlerischen „Takt und das Maß der subjektiven Anteilnahme" an. An gewissen Stellen dürfe der Novellendichter wie der alte Homer „gleichsam den Chor machen", also objektiv betrachten und resümieren. P. Zincke meint, daß wir dieses Verfahren, wie er es an der Novelle „Zwei Gefangene" analysiert und interpretiert, heute (1927) „eine künstlerische Impression" nennen würden. Im Gesamt aber rechnet P. Zincke den Kunsttypus P. Heyses merklich zum poetischen Recilismus. Im übrigen benutzt er mehrfach die epische Theorie Fr. Spielhagens als Richtmaß, wie denn auch mehrfach Aussprüche Spielhagens einem Abschnitt als Motto vorangestellt werden, so ζ. B. auf S. 148, 198, 214. Spielhagen hatte neben dem Roman auch die Novelle berücksichtigt. Auf die Vorform des Impressionismus würde auch die Heysesche Forderung einer nuancenreichen Darstellungsweise hindeuten. Doch vermißt man bei P. Zincke eine klare Abhebung dieser Vorform des Impressionismus von der bei Annette von Droste oder Adalbert Stifter auf relativ früheren Stufen der Entwicklung. Dagegen sei anerkannt, daß ein Versuch vorliegt, die Kunsttheorie mit der Kunstpraxis in Beziehung zu bringen, so etwa S. 198—200. S. 130. J. B e r n a y s . — Zu Wilh. Wackemagels Auseinandersetzung mit B. vgl. den Abschnitt über fachwissenschaftliche Poetik in den Exkursen. so ·

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S. 134. Conrad Ferdinand Meyer. — Sämtl. Werke, hrsg. von R o b e r t F a e s i , 4 Bde. 1926 (Textrev. v. Herb. Cysarz, Jonas Fraenkel, Fr. Michael). — Sämtl. Werke, hrsg. v o n C h r . C o l e r , 2 Bde. Leipzig 1956 = Slg. Dieterich 198/99. —• G e r t r u d e F e l d e r e r : Die Komposition in C. F . Meyers Novellen. Diss. Wien 1948 (Masch.). —· R o b e r t M ü h l h e r : C. F. Meyer und der Manierismus, in: Dichtung der Krise, Wien 1951, S. 147—230. —• H e i n r . H e n e l : The poetry of C. F. Meyer. Madison 1954. — G e o r g L u k a c s : C. F . Meyer und der neue Typus des historischen Romans, i n : N D L 2 (1954), H. 12, S. 95—105. — E m i l S t a i g e r : Das Spätboot. Zu C. F. Meyers Lyrik, in: Die K u n s t der Interpretation, Zürich 1955, S. 239—73. — W e r n e r O b e r l e : Ironie im Werke C. F . Meyers. In: G R M 36 (1955), S. 212—• 22. — D e r s . : C. F. Meyer. Ein Forschungsbericht. Ebda. 37 (1956), S. 231—52. S. 135.

Seelenkundler(E.Kretschmer).—ErnstKretschmer: Geniale Menschen, 3. Aufl. 1942, S. 1 3 4 ! Bemerkenswert erscheint, daß E. Kretschmer a. a. O., S. 135 auch Dostojewski und — einigermaßen überraschend — Detlev von Lüiencron hinsichtlich der verwandten „Lebenskurve", wenn auch bedingt, mit einbezieht. Kretschmer gibt zu bedenken, daß kaum jemand von C. F. Meyer etwas wüßte, wenn der Dichter vor seinem 40. Lebensjahre gestorben wäre. Selbst seine Mutter habe damals nichts Wesentliches und Wertvolles mehr von ihm erwartet (S. 136). Etwas herbe wirkt der Hinweis auf das Aufsuchen der „Irrenanstalt" mit 27 Jahren (S. 137.) Von seinem 39. bis 67. Lebensjahre erst habe C. F. Meyer „sein gesamtes künstlerisches Werk geschaffen". Weiterhin betont Kretschmer das „überempfindliche Gemütsleben" C. F. Meyers.

S. 136. V e r g l e i c h m i t W e b e a r b e i t — Der hohe Formungsanspruch und das Vergleichsbild vom Weben etwa eines Teppichs, das bedingt auf Stefan George vorausdeutet, bestätigen sich etwa auch in der kunstvollen Anordnung und der wohlerwogenen Gruppierung seiner Gedichte, ζ. B. in der pflegsamen Art, wie hinzutretende Gedichte eingefügt werden usw.; vgl. W a i t h e r B r e c h t : C. F. Meyer und das Kunstwerk seiner Gedichtsammlung, Wien und Leipzig 1918. Diese durchdachte und durchfühlte Anordnung kann in der Tat als ein „ K u n s t w e r k " bezeichnet werden, hinter dem ebenfalls ein zum mindesten kunsthandwerkliches Kunstwollen wirksam ist. W . Brecht er-

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läutert u. a. „Die Komposition als Ausdruck der Problemw e l t " (S. 176 ff.) und „Die Komposition als architektonisches Kunstwerk" (S. 194 ff.). E r geht weniger v o m Vorstellungsbild und Verfahren des Webens aus, sondern betont mit Recht das Architektonische, an das sich auch manches Vergleichsbüd in kunstkritischen Äußerungen C. F . Meyers anlehnt (S. 221). W . Brecht spricht vom „plastischen Gruppensehen und Neigung zur symbolischen, beziehungsvollen Symmetrie ä outrance in der Komposition" sowie vom Sinn für „Kontraste". S. 137. N a c h k l a s s i s c h e I d e a l e . —• Sie spiegeln sich ζ. B. auch in den R e z e n s i o n e n C. F. Meyers über eine — an sich überschätzte — Gedichtsammlung (1873) von F e l i x D a h n . Dort begegnet ein Satz wie dieser: „Formvollendete antikisierende Gedichte werden den Gebildeten (!) immer ansprechen". Aber ebenso bemerkenswert ist der Zusatz: „Besonders, wenn sie . . . durch eine Blutwelle modernen Bewußtseins erwärmt sind." Ein bedeutender Kritiker war C. F. Meyer schwerlich. Aber indem in seinen Rezensionen, auch in der über H. L i n g g s Dichtungen, merklich Eigenes widerscheint, werden sie relativ aufschlußreich für sein eigenes Kunstwollen; vgl. auch W . B r e c h t a. a. 0 . , S. 218—21. Beachtenswert ist der Hinweis C. F. Meyers darauf, daß in „langatmigen Werken . . . ein symmetrischer Bau und völlig richtige Proportionen kaum festzuhalten sind" (briefl., Aug. 1879). Zwar bezieht sich diese Bemerkung zur Kompositionsfrage im Sonderfalle auf eine wissenschaftliche Arbeit. Aber es ist unverkennbar, daß dabei Erfahrungen des Epikers entsprechend übertragen werden. C. F. Meyer dürfte damit einen der Hauptgründe dafür berühren, daß es oft schwerfällt, den Roman als vollwertige Kunstform im Sinne der Dichtkunst anzuerkennen. Außerdem äußert sich der latente dramatische Zug im starken Bewerten des Dynamischen als Gegengewicht zur Architektonik, so etwa in Wendungen wie „schreitendes Tempo — Balladen . . . von rascher, kräftiger Bewegung — energische Gebärde" u. a. S. 146. Junges Deutschland. —· Als allgemeine Literatur zum Jungen Deutschland und zum „Vormärz" (aber auch zum Nachmärz) seien verzeichnet außer den betreffenden Abschnitten bei T h e o b a l d Z i e g l e r (1899), G e o r g B r a n d e s (1924), H u g o B i e b e r (1928) u. a. mit besonderer Berücksichtigung der Kunsttheorie und Weltanschauung

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bzw. Weltanschauungs-Ästhetik: R. P r o e l ß : Das junge Deutschland 1892. —• L u d w i g G e i g e r : Das junge Deutschland und die preußische Zensur, Berlin 1900. — H a n s F r i e d r i c h : Die religionsphilosophischen, soziologischen und politischen Elemente in den Prosadichtungen des Jungen Deutschland, Diss. Leipzig 1907. —• Η. H. H o u b e n : Jungdeutscher Sturm und Drang, Erlebnisse und Studien, Leipzig 1911. — F r z . M e h r i n g : Das junge Deutschland, in: Die neue Zeit, Jg. 30 (1912). — K a r l M ö c k e l : Der Gedanke der Menschheitsentwicklung im Jungen Deutschland, Diss. Leipzig 1916. — W e r n e r S t o r c h : Die ästhetischen Theorien des jungdeutschen Sturmes und Dranges, Diss. Bonn 1926. — M a r t a A l e x a n d e r : Die Novellentheorien der Jungdeutschen, Diss. München 1926 (Masch.-Expl.). — H u g o v. K l e i n m a y r : Welt- und Kunstanschauung des Jungen Deutschland, Wien und Leipzig 1930. — E s t h e r G a m p e r : Dichter und Dichtertum ζ. Z. des Jungen Deutschland, Diss. Zürich 1932. —• W e r n e r S u h g e : Saint Simonismus und Junges Deutschland, Berlin 1935. — A r n o W i l d h a b e r : Das Bild der Reformation in der Jungdeutschen Epoche, Diss. Bern 1936. —• F r i e d r . K a i n z : Studien über das Junge Deutschland, in: „Euphorion", Jg. 26. — F e d e r i c o F e d e r i c i : Der deutsche Liberalismus, die Entwicklung einer politischen Idee von I. Kant bis Th. Mann, Zürich 1946. — W. E. U m b a c h : The reflection of natural science in German literature from 1830—59. Diss. Michigan 1950. — R. Η. T h o m a s : Liberalism, nationalism and the German intellectuals (1822—1847): an analysis of the academic and scientific conferences of the period. Cambridge 1951. — G ü n t h e r W e y d t : Biedermeier und Junges Deutschland, in: Dt. Vjschr. 29 (1951). — G ü n t e r B l i e m e l : Die Auffassung des Jungen Deutschland von Wesen und Aufgabe des Dichters und der Dichtung, Diss. Freie Univ. Berlin 1955 (Masch.-Expl.). — W a l t e r D i e t z e : Junges Deutschland und deutsche Klassik, zur Ästhetik und LiteraturTheorie des Vormärz, Berlin o. J. (1957). G ü n t e r B l i e m e l : Die Auffassung des Jungen Deutschland von Wesen und Aufgabe des Dichters und der Dichtung, Diss. (Masch.-Expl.), Freie Univ. Berlin 1955 (181 S.). Da es sich um eine als Masch.-Expl. vorliegende Diss, handelt, die verhältnismäßig selten eingesehen wird, sei sie sowohl hier wie in den einzelnen Abschnitten eingehender berücksichtigt, um so mehr als ihre Themen-

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Stellung auf Poetik abzielt oder doch darauf abzuzielen scheint. Nachdem schon ein Vierteljahrhundert vorher H u g o v o n K l e i n m a y r : Welt- und Kunstanschauung des Jungen Deutschland, Wien und Leipzig 1930, von G. Bl. selber als „grundlegende Arbeit" bezeichnet (S. 80), dasselbe Thema erörtert hatte, nimmt also G. Bl. einen neuen Anlauf. Dieser wirkt zunächst recht verheißungsvoll in dem klar abgehobenen Kapitel über Börne, Heine und Menzel. Hier setzt sich Verf. besonnen, wenn auch ζ. T. nicht ohne eigene Tendenz (Heine-Abschnitt) mit seinem Material auseinander, leider aber nirgends eingehend kritisch mit seinem „Vorarbeiter" H. v. Kleinmayr. Es wird auch nicht begründet, warum Kleinmayrs Darstellung „grundlegend" sei. Nur soviel erfährt man durch eine Anmerkung (zu S. 80), daß der Lebens-Begriff der Jungdeutschen aus einer „Opposition gegen die Begriffsbildung Hegels" erwachsen sei. Es ergibt sich indessen bei näherem Zusehen der Eindruck, als ob H. v. Kleinmayr einer problemfrohen „Vertiefung" und Verdunkelung weit eher zugewandt sei als einer begriffklärenden Erhellung. Wahrscheinlich hat sich G. Bl. in der zweiten Hälfte seiner Untersuchung, die es an sich nicht an Bemühung um Stoffreichtum und Gründlichkeit fehlen läßt, von Kleinmayr dazu verleiten lassen, nun auch seinerseits alles einigermaßen wirr durcheinanderzuwirbeln (nur vermeintlich zusammenzuschauen), was denn nun Gutzkow und Laube, Wienbarg und Th. Mündt, G. Kühne und Alex. Jung über Kunstwollen und Kunstwirken geäußert haben. Obwohl er über die Kunst „Auffassung", nicht aber über das Kunstschaffen und die Literatur-Kritik zu handeln versprochen hat (vgl. Titel der Arbeit), was er schon in den an sich brauchbareren drei Eingangskapiteln (S. 5—61) streckenweise aus den Augen verliert, obwohl er Gutzkow und Laube als die „Führer" erklärt (was für die Theorie schwerlich zutrifft), geht er nicht etwa nach der Würdigung der „Vorläufer" (Börne, Heine, Menzel) von deren Theorie aus, sondern läßt ihre Meinungen und Bestrebungen unter Leitbegriffen wie „Reformation der Dichtkunst" (Kapitel 5) und „Reformation des Lebens durch die Dichtkunst" (Kapitel 6) im Wirrwarr der Zitate weitgehend verloren gehen. Dieser Wirrwarr wird erhöht dadurch, daß er unkritisch allerlei v i e l s p ä t e r liegende Bekundungen aus allerlei Memoiren und „Zeugnissen" aus zweiter Hand, so etwa Piersons „Empfundenes und Gedachtes, lose Blätter (!) aus Gustav Kühnes

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Schriften" (1890!) oder „Wolfgang Menzels Denkwürdigkeiten" (1877!) oder auch allerlei von Η. H. Houbens „mitgeteilten Gesprächen" (wer war dabei?) genau so gläubig registriert wie unmittelbare und datenhaft belegte Zeugnisse aus der Durchbruchszeit der jungdeutschen Bewegung. Gerade für das Junge Deutschland haben wir einen peinlichen Überfluß an wissenschaftlich letztlich nicht absolut schlüssigen „Belegen" (ähnlich wie später für den Münchener Dicht erkreis). Dieses unkritische Vertrauen und Verfahren führt aber dazu, daß L. Wienbargs für die Theorie und Programmatik grundlegenden, in der Anlaufszeit des Jungen Deutschland entscheidenden „Ästhetischen Feldzüge" (1833/34) gar nicht zur Geltung kommen. Hier und da erfährt man etwas davon, im Zusammenhang aber nur auf einer einzigen Seite (S. 113). Und so ergibt sich das groteske Resultat, daß in jener Tabelle, die einerseits die „zeitkritischen Werke", andererseits die „zukunftorientierten Werke" zusammenstellt (S. 147), Wienbargs „Ästhetischen Feldzüge" in der Rubrik „zeitkritische Werke" ganz fehlen (obwohl sie natürlich Zeitkritik üben) und in der Rubrik der „Zukunft" höchst schämig in Klammern auftauchen, weil, wie eine Anmerkung erläutert. Wienbarg seiner „Forderung nach dichterischer Prophetie" (die Heine als Anmaßung angerechnet wurde!) selber nicht nachgekommen sei. G. Bl. verzeichnet zwar sehr säuberlich vor diesen zwei Schlußkapiteln (II. Teil seiner Untersuchung) die Namen: Gutzkow, Laube, Wienbarg, Mündt, G. Kühne, Alex. Jung nebst Lebensdaten, und das sei (weil eine Seltenheit in Diss.) anerkannt. Aber diese tröstliche Maßnahme erweist sich nur als Angleichung an den I. Teil (Börne, Heine, Menzel). Bl. hat ganz offensichtlich die Geduld verloren. Und es scheint ein ewiger Fluch des Jungen Deutschland zu sein, daß die Sonderforschung da aufhört, wo sie eigentlich anfangen sollte. Es ist schon als ein Gewinn zu buchen, wenn auch G. Kühne und Alex. Jung mehrfach zu Worte kommen. Man wartet immer noch vergeblich auf eine Darstellung, die sich nicht gutgläubig auf „Memoiren" usw. verläßt, sondern sich streng beschränkt auf Bekundungen, die für j e n e E p o c h e als solche belegt sind, die für das Kunstwollen des Jungen Deutschland allein entwicklungsgeschichtlich in Betracht kommt (etwa 1825—40). Wahrscheinlich hat die Rücksicht auf die frühere Bonner Diss, von W. S t o r c h : Die ästhetischen Theorien des jungdeutschen Sturms und Drangs

III. ANMERKUNGEN

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(1926) G. Bl. dazu veranlaßt, mehr allgemeine Leitideen, wie vor allem den Begriff der Zeit- und Gegenwartsnähe oder der Freiheit herauszuarbeiten. Die Forderung des engen Wechselbezuges von Literatur und Leben war schon von früheren Arbeiten her bekannt (Freiburg-Rüter usw.), wird aber reicher mit Material belegt. Hinsichtlich des Zeitund Gegenwartsbezuges der Poesie kommt die Unterscheidung klarer zur Geltung, die von den Jungdeutschen gemacht wurde zwischen oberflächlicher, äußerlicher, hastiger Zeitanpassung einerseits (die abgelehnt wird) und vertiefter Erfassung der wesentlichen und wertvollen Ζ eit I d e e n andererseits. Das ist mit dankenswertem Nachdruck klargestellt worden. Die Jungdeutschen wollten also nicht nur Tagesschriftsteller und Tageskritiker, sondern im weiteren und tieferen Sinne „Zeitschriftsteller" und Zeitkritiker sein. Daß dieses Hinarbeiten auf „Ideen" wahrscheinlich auf Hegel-Schulung zurückgeht, wird allerdings kaum hinreichend berücksichtigt. Es war doch nicht selbstverständlich und muß auffallen, wie abstrakt, kompliziert und spekulativ durchweg junge Leute (Geburtsjahrgänge 1800—1810 für sämtliche Jungdeutschen; nur Gutzkow 1811) über die „Zeit" philosophierten, von der sie doch andererseits wirklich erlebnismäßig ergriffen waren. — In etwas verkürzter Form wäre der Arbeit eine Drucklegung zu wünschen. Eine Leipziger Diss. (Schule H. Mayer) von W a l t e r D i e t z e : Junges Deutschland und deutsche Klassik. Zur Ästhetik und Literaturtheorie des Vormärz, Berlin 1957 = Beitr. zur Lit.-Wiss. 6 übernimmt sich in der Titelgebung, die von vornherein unklar ist. Von deutscher Klassik erfährt man recht wenig, von jungdt. Ästhetik etwas mehr. Es geht auch nicht überwiegend um die „Klassik-Diskussion" im Jungen Deutschland, sondern weit überwiegend um das G o e t h e b i l d oder Goethe-Zerrbild der Jungdeutschen. Das Schillerbild wird weit weniger berücksichtigt. W. v. Humboldt kommt nicht gebührend zur Geltung, ζ. B. nicht mit seinen „Ästhetischen Versuchen", da doch nach dem Zusatztitel über „Ästhetik" gehandelt werden soll. Winckelmann wird nur an einer Stelle erwähnt, ebenso K. Phil. Moritz. Hölderlins Name fehlt völlig im Namensverzeichnis usw. Wer aber Beiträge „ z u r Ä s t h e t i k und Literaturtheorie des Vormärz" verspricht und zugleich „ d e u t s c h e K l a s s i k " , dürfte an der Ästhetik der Klassik und ihrer Kunsttheorie nicht achtlos (bis ζ. T. ahnungslos) vorübergehen.

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Aber vielleicht will sich W. Dietze weislich auf die vormärzliche Ästhetik beschränken. Dann wäre er mit der Berliner Diss, von G ü n t e r B l i e m e l (1955) in Kollision geraten. Befragt man den L. Wienbarg-Abschnitt, auf den alles ankäme, wenn W. Dietze „Zur Ästhetik und LiteraturTheorie des Vormärz" Wesentliches aussagen könnte, so versagt dieser Abschnitt. Er enthält sogar sehr peinliche Unrichtigkeiten, die gerade in einer Diss, nicht hätten übersehen werden dürfen (zum mindesten vor der Drucklegung). Da findet sich ζ. B. auf S. 120 ein denkwürdiger Absatz, der unbekümmert die Behauptung aufstellt bzw. übernimmt, daß die „abstrakten Theorien" Sulzers und Riedels „sich an Kant orientierten". Und woran hat sich W. Dietze orientiert ? Seit Jahrzehnten hat die Sonderforschung klargestellt, daß Fr. J. Riedel längst vor Kants „Kritik der Urteilskraft" das Prinzip des interesselosen Wohlgefallens vertreten hat, daß sich also in diesem Punkte Kant wahrscheinlich an Riedel „orientiert" und nicht umgekehrt. W. Dietze beginnt diesen Absatz mit der lapidaren Frage: „Worum geht es?" Nun, es geht um wissenschaftliche Verläßlichkeit! Auch in dem Schlußkapitel über Fr. Engels, der übrigens noch vor dem Abitur stand, als 1835 der bekannte Bundeserlaß gegen das Junge Deutschland erfolgte, der also beim besten Willen und Vermögen für die „Ästhetik und LiteraturTheorie" des Jungen Deutschland nichts Bahnbrechendes auszumachen vermochte (eher schon für die Literaturtheorie des Vormärz), dominiert der Hinblick auf das Goethe-Bild eindeutig und einseitig. Die Polemik Fr. Engels gegen Karl Th. Ferd. Grün kann nur interessieren in Blickrichtung auf das Goethe-Bild. Was dieses Goethe-Bild betrifft (im Reflex des Jungen Deutschland), so hat W. Dietze zu seiner Klärung nicht ohne fleißige Bemühung um das Material wesentlich beigetragen. Er erkennt durchaus richtig, daß ζ. B. das Goethebild W. Menzels oder L. Börnes wesentlich abweicht von dem relativ gerechteren L. Wienbargs (Neu war diese Erkenntnis allerdings nicht). Er verfährt auch erfreulicherweise nicht so grobschlächtig, daß er Goethe kurzerhand als „Fürstenknecht" fertigmacht bzw. fertigmachen und erledigen läßt. Das Verhältnis zu Hegel wird sauber herausgearbeitet, allerdings gestützt auf gute Spezialforschungen, die vorlagen (ebenso wie beim Goethebild). Verdienstlich sind vor allem neben den sehr reichen Anmerkungen die gründlichen Literaturangaben. In diesen

III. ANMERKUNGEN

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Teilen der Arbeit liegt ihr wissenschaftliches Hauptverdienst. Sie lassen erkennen, daß hier ein anlagemäßig bemerkenswertes wissenschaftliches Streben in eine letztlich stark journalistisch eingestellte Richtung bedauerlich abgelenkt worden ist. S. 156. B ö r n e u n d H e i n e . — G. R a s : Börne und Heine als politische Schriftsteller, Groningen, Den H a a g 1927. Ausgehend von einer Schilderung der Restaurationszeit (wobei einiges aus der Poesie einbezogen wird, wie ζ. B . L u d w i g Uhlands Nachklang zu den Freiheitskriegen: „ W e n n heut' ein Geist herniederstiege", 1816 oder das BurschenschaftsLied von August von Binzer) und nach einer Darstellung der Einwirkung der Julirevolution, werden im Nacheinander Börnes und Heines „politisch-literarische T ä t i g k e i t " (Hauptkapitel) und abschließend im Nebeneinander und Gegeneinander Börne und Heine als politische Charaktere gewürdigt. U m 1830 habe man B . und H. als Waffenbrüder und wesensverwandt betrachtet, u m 1840 als Feinde und „ K o n t r a s t f i g u r e n " . G. Ras deutet nun Börne als starren „Moralisten", obwohl er Börnes vorübergehend unklare Haltung zu Wolfgang Menzel (1835) nicht schönfärbend übergeht (S. 95 f.). E s wird versucht, den Vorwurf des Feuilletonistischen und Journalistischen von Börne und Heine abzuwehren; dieser Einbruch in die Poesie wäre zeitbedingt gewesen etwa wie seinerzeit die kämpferische Haltung Lessings (S. 177). Martin Greiner ignoriert das (noch 1954). F ü r die Poetik fällt themagemäß wenig ab, höchstens der Hinweis auf Heines Forderung, daß nun der Dichter „ s t a t t der Narrenkappe die phrygische Mütze" tragen müsse, u m sich „ i n den Kerker seines V o l k e s " zu schleichen und „ihm seine Befreiung zu verkünden" (S. 107). Der Wert liegt vor allem im reichen zeitpolitischen Material und der klaren Herausarbeitung der beiden Profile als Grundtypen dichterischer Publizistik. — S o n d e r a s p e k t der Betrachtung: H . P o l i t z e r : Studies on Jewish contributors to German literature: Heine and Börne. Diss. B r y n Mawr Coll. 1950 (Ausz. in: Diss. Abstr. 13 [1953], S. 553). S. 156. Ludwig Börne. — Zit. nach L . Börnes Gesammelten Schriften, hrsg. von A . K l a a r , Leipzig o. J. (1899). — A u s dem Lager der Goethe-Gegner, A n h a n g : Ungedrucktes von und an Börne, hrsg. von Michael Holzmann, Berlin 1904, in: D L D d 18. und 19. Jh., B d . 129. — R . R o s e a u : L . B ö r n e als Kunstkritiker, Diss. Greifswald 1910. — L u d w i g

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EXKURSE

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ANMERKUNGEN

M a r c u s e : Revolutionär und Patriot, Das Leben L. Börnes, Leipzig 1929. — G ü n t e r B l i e m e l a. a. O., (1955), S. 5ff. — W a l t e r D i e t z e a . a . O . (1957), S. 37Ü. und 284L (Anm.), besonders auf Goethebild eingestellt. S. 157.

TagesschriftstellerundZeitschriftsteller.—Börne selber bekennt: „ W a s jeder Morgen brachte, was jeder T a g beschien, was jede Nacht bedeckte, dieses zu besprechen hatte ich Lust und Mut, vielleicht auch die Gabe", L. Bs. Gesammelte Schriften, hrsg. von Alfred Kaar (1899) I, S. 6; und er betont: „ D i e wahre Kunst ist eine Tochter der Zeit" V I I I , S. 201; es komme für den Tages- und Zeitschriftsteller darauf an, die „Aussagen der Zeit zu erlauschen" und ihr „Wesen . . . aus ihren Zeichen zu erforschen" I, S. 72, I I I S. 227; vgl. hierzu G ü n t e r B l i e m e l a. a. O. (1955), S. 14. Bliemel geht in seinem Börne-Abschnitt (S. 5—24) weniger auf die Kunsttheorie und Kunstkritik in ihren einzelnen Ausprägungen ein als vielmehr auf die Geschichtsauffassung, die weltanschaulichen Grundlagen und die Unterscheidung der „wahren K u n s t " von derbloßen Formkunst der „Formschneiderei" (vgl. V I I I , S. 201). Börne will kein „Schreibekünstler" sein, wenn er sich auch vom „literarischen Pöbel" abheben möchte; er begnügt sich mit dem Ehrentitel „Zeitschriftsteller", den er indessen sehr hoch veranschlagt. „ Z e i t " meint dabei nicht einmal in erstem Betracht augenblickliche Gegenwart, sondern zugleich und vor allem Zukunft. Zeitschriftsteller als „Wagenführer der Zeit" sind in Börnes Sinne nicht nur „Geschichtsschreiber", sondern auch und vorzüglich „Geschichtstreiber" (V, S. 120). Diese Seite belichtet G. Bliemel (S. 15 u. a.) besonders stark. Goethe und später Heine rechnet Börne zu den Nur-Dichtern, Jean Paul dagegen, dem er eine warmherzige Gedenkrede hält („Denkrede auf Jean Paul" 1825), zu den „wahren", echten Dichtern, weil er ein Herz für die Trostbedürftigen und „ A r m e n " und die „Niedergeborenen" gehabt habe. Das aber sei in unzulänglichen Zeiten das Amt des Poeten: „Der Dichter ist der Tröster der Menschheit" (I, S. 157). Auch das religiöse Element in Börne erhöht diese Sympathie für Jean Paul, den er ähnlich gegen Goethe ausspielt — wenn auch weniger robust — wie W. Menzel Schiller gegen Goethe ausspielt, aber ebenfalls mit Jean Paul sympathisierend. In Goethe sah L. Börne vor allem eine Hemmung des Fortschritts. E r konstruierte sich von diesem großen Beispiel aus ein Ab-

III. ANMERKUNGEN

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schreckbild des rein ästhetischen Nur-Dichters, einen Typus, der schon um der ungestörten Produktionsbedingung- und Stimmung willen ganz einfach genötigt, aber auch charakterlich geneigt sei, alles Störende der Zeitbewegung abzuwehren und jeden persönlichen Einsatz abzulehnen. Ganz allgemein sei die „Ästhetik", so verstanden, eine Gegnerin der Politik. Börne fürchtet nicht nur, daß das bekannte Huhn im Topf den gallischen Hahn (Revolution) zum Schweigen bringen werde, sondern auch daß, „wenn man die Ästhetik gut bezahlt, . . . die ungereimte Politik zu Grunde gehen" werde, womit er die Hoffnung der Herausgeber der unpolitischen französischen Zeitschrift „Europe litt6raire" (Mitarbeiter Heine) ironisiert; vgl. hierzu auch G. Bliemel a. a. 0., S. 6. S. 157. L i e b e s h a ß g e g e n G o e t h e u n d S c h i l l e r b i l d . — Entsprechend ihrem Hauptanliegen entwirft die Diss, von W. D i e t z e (1957) eine eingehende Darstellung des Goethebildes Börnes, das er höher einschätzt als das Menzels, aber tiefer als das Heines oder Wienbargs. Er beanstandet an Börne den mangelnden Sinn für die geschichtliche und gesellschaftliche Situation Goethes in Weimar. Ohne die Erträge G. Bliemels in diesem Falle fruchtbar zu machen, nämlich den Hinweis auf die Problematik des ästhetischen Menschen, die Börne wesentlich von seiner Goethe-Vorstellung ableitete, geht W. Dietze in der Entlastungsoffensive zugunsten Goethes (die kaum ernstlich erforderlich ist oder doch sein sollte) zum Angriff auf Börne über, dessen Übertritt zum Christentum doch auch auf ein Bemühen um größere Wirkungsmöglichkeit zurückzuführen sei (S. 43). Die von G. Bliemel bereitgestellte Möglichkeit eines Eingehens auf das kunsttheoretisch Prinzipielle des Falles Börne verschmäht er, versäumt dabei jedoch eine gute Gelegenheit, den erwünschten näheren Anschluß an das Zusatzthema seiner Untersuchung „Zur Ästhetik und Literaturtheorie des Vormärz" (S. 3, Titel) zu gewinnen. S. 158. M a ß s t a b W. Menzels. — W o l f g a n g M e n z e l (1798— j 873), Verfasser einer frühen, damals einflußreichen Literatur-Geschichte: „Die deutsche Literatur" (1828, sehr erweitert 1836), als Redakteur des Stuttgarter „Literaturblatts" zu einer Art von Stuttgarter Literatur-Diktator sich aufschwingend (wie weiland Gottsched zum Leipziger Literatur-Diktator), bereitete schon in seiner Schweizer Zeit mit Jean Paul nachfolgenden „Streckversen" seine

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EXKURSE

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ANMERKUNGEN

hartnäckige Goethe-Polemik vor, die von außerästhetischen Kriterien ausging. Als Literaturkritiker beachtenswert, kommt W. M. als Kunsttheoretiker nicht ernstlich in Betracht, muß sich also mit dieser Anmerkung begnügen. Sein liberaler Ansatz barg von vornherein nationale, religiöse und moralische Elemente in sich, gemäß seinem Herkommen aus der Deutschen Burschenschaft, bei deren Begründung (Jena 1818) er anwesend war. Wertungskriterien bezieht er dementsprechend aus der Prävalenz der Ideale: Religion, Vaterlandsliebe, Tugendliebe, Männlichkeit (Tapferkeit). Für die Literatur-Historiker liegt der Rückblick auf den Göttinger Hain nahe. Erinnert sei u. a. an Klopstocks Mahnbrief an den Goethe der Weimarer Frühzeit, aber auch an die Goethe-Polemik Garlieb Merkels (vgl. Bd. III), die zeitlich näherliegt, ebenso an die teilweise Goethe-Gegnerschaft der Romantiker. So beruft sich W. M. etwa auf Novalis. Berühmt oder berüchtigt geblieben ist er vor allem durch diese unversöhnliche Goethefeindschaft, die, abgesehen von der Polemik gegen Goethes unmännliche Eitelkeit, von ästhetischem Standpunkt nicht viel höher liegt als die J. F. W. Pustkuchens, von nationalem Blickwinkel aus aber immerhin verständlicher wird. Die Sekundärliteratur betont durchweg das Bornierte und Absurde dieser Kritik, so neuerdings W i l h e l m G i r n u s in der Einleitung zu seiner kunsttheoretisch dankenswerten NeuHerausgabe: ,,J. W. Goethe über Kunst und Literatur" (Auswahl), Berlin 1953. So auch W a l t e r D i e t z e : Junges Deutschland und deutsche Klassik, Berlin o. J. (1957) in seinem Menzelabschnitt, a. a. O., S. 21—34, der zugleich die Nachwirkung Menzels und die Gegenwirkung gegen ihn eingehend herausarbeitet, darunter die frühzeitig erfolgte Abwehr durch den russischen Kritiker Wissarion Belinski (1839). Dietze verweist u. a. auf Menzels Gewährsmänner oder Lieblinge Schiller, Jean Paul, J. Görres, L. Tieck, Ε. Μ Arndt u a. wie darauf, daß Menzel Zustimmung gefunden habe, nicht nur bei zweitrangigen Geistern, sondern auch bei L. Uhland, Anastasius Grün, Freiligrath, Grabbe, J. Gotthelf. Das sind kennzeichnenderweise alles Männer, die entweder die nationale oder religiöse Tendenz vertraten, also eine gewisse weltanschauliche Übereinstimmung mit Menzels Grundposition zeigen. Diese Grundposition wurde am klarsten erkannt von G ü n t e r B l i e m e l : Die Auffassung des jungen Deutschland von Wesen und Aufgabe des Dichters und der Dichtung, Diss. Berlin W. 1955 (Masch.-

III. A N M E R K U N G E N

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Expl.); Menzel-Abschnitt a. a. 0., S. 54—61. Denn dort ererfolgt die Zurückführung auf Burschenschaftswesen, auf Romantik, auf Religion, Nation und Moral, so daß W. Dietze diese Erträge als gesichert übernehmen kann (S. 22/23), wie auch Dietzes Hinweis auf den christlich-spiritualistischen Zug auf G. Bliemel (H. Heine-Abschnitt) zurückgehen dürfte, der aber genauer die „nationale Kirche", wie sie W . M. vertrat, abhebt von der übernationalen Kirche, die W . M. ablehnt (S. 60). Allerdings übersieht G. Bliemel bei der Verwertung des Zitats: „ D e r neurömische Cultus imponierte mir nicht" (Menzel), daß es sich dabei um eine nachträgliche Positionsbestimmung aus den „Denkwürdigkeiten" (1877) handelt. Anknüpfungsmöglichkeiten für das Junge Deutschland waren u. a. gegeben durch den liberalen Zug der Burschenschaftsbewegung und durch die bei Menzel nachdrücklich betonte Wechselwirkung von Kunst und Leben, wobei die Kunst als „Produkt des Lebens" gilt, das aber würdig verwaltet werden will, wenn es vorteilhaft auf das Leben zurückwirken soll. Das bloße „ T a l e n t " aber (Goethe) entzieht sich der religiösen, nationalen und sittlichen Verantwortung (Vergleichsbild von der „Hetäre" und dem „Chamäleon") und verstößt „bloß hübscher Verse wegen" unbedenklich gegen den Wertprimat des nationalen Gewissens und der nationalen Würde. Wolfgang Menzel zielt auf Wirkungspoetik ab, aber nicht auf eine ästhetische Wirkung (Gestaltung), sondern auf eine ethische Wirkung moralpädagogischer und nationalpädagogischer Art (Haltung, Gesinnung). Darin berührt er sich in gewissem Grade mit L. Börne, aber prinzipiell und trotz des religiösen Faktors auch mit der Aufklärung (soweit es um die Poetik geht). Selbst also bei diesem betont religiösen Vertreter oder Vorläufer des Jungen Deutschland bestätigt sich die Parallele mit der Aufklärung als berechtigt und aufschlußreich. S. 160. Heinrich Heine. — Krit.Gesamtausg.von E r n s t E l s t e r , 7 Bde. Leipzig 1887/90 (Meyer), von 2. Aufl. 1924 nur 4 Bde. ersch. — Gesammelte Werke, hrsg. von W o l f g a n g H a r i c h , 6 Bde. Berlin 1951, 2. verm. und verb. Aufl. 1956. —• Briefe, 1. Gesamtausg. nach den Hss. hrsg., eingel. und erl. von F. H i r t h , 5 Bde. Mainz 1950/53, Auswahl daraus: Mainz 1950. — Gespräche mit Heine, hrsg. von Η. H. H o u b e n , 2. Aufl. Potsdam 1948. — Bibliographie in Goedekes Grundriß 2. Aufl., Bd. 1 4 : 1 8 1 5 — 3 0 , Berlin 1955,

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ANMERKUNGEN

S. 206—·332. — O t t o z u r L i n d e : Heine und die dt. Romantik. Diss. Freiburg 1899. — F. M e l c h i o r : Heine, Verhältnis zu Lord Byron. 1903. — Ε. A. S c h a l l e s : Heines Verhältnis zu Shakespeare. Diss. Berlin 1904. — W. O c h s e n b e i n : Die Aufnahme Lord Byrons in Deutschland und sein Einfluß auf den jg. Heine. 1905. — P. S a n t k i n : Börnes Einfluß auf Heine. Diss. Bonn 1913. — Ε. A. Boucke: Heines Weltanschauung, in: Euphorion 16. —• H. M u t z e n b a c h e r : Heine und das Drama. Diss. Bonn 1914. — Ε . Β rau w e i l e r : HeinesProsa. 1915. — A . M a y r h o f e n Heines Literaturkritik, Diss. München 1919 — E r i c h L o e w e n t h a l : Studien zu Heines Reisebildern. 1922 = Palaestra Bd. 138 — F. G o w a : Heines Ästhetik. Diss. München 1923 (Masch.). — W. L e i c h : Heines Kunstphilosophie, in: Zschr. f. Ästhetik 17 (1924), S. 411 ff. — K a r o l i n e R e d i s c h : Heine als Historiker der dt. Literatur, in: Jb. d. Phil. Fak. Prag 2 (1924/25), S. 53—58. — M a r i a F i l t s o : Heine und die Antike. Diss. München 1928. —• S a l l u s t e : Heine et Karl Marx, in: La Revue de Paris 15. VII. 1928; vgl. dazu neuerdings W a l t h e r V i c t o r : Marx und Heine. Tatsache und Spekulation i. d. Darstellung ihrer Beziehungen. Berlin 1951. —• F. F r i e d l ä n d e r : Heine und sein Verhältnis zu Goethe. 1932. — F. H. W o o d : Heine as a critic of his own work. New York 1934. — W. R a h m e l o w : Zu den Anfängen des feuilletonistischen Stils. Diss. Freiburg 1936. —• H e n r y S l o c h o w e r : Heine in German literary criticism, in: Jewish Social Studies 3 (1941). —• A. S p a e t h : La pensee de Heine. Paris 1946. — L u d w i g M a r c u s e : Heinrich Heine. Ein Leben zwischen Gestern und Morgen. 2. Aufl. Hbg. 1951. — E s t h e r C a f f e : Henri Heine, critique litteraire. These Paris 1952. — H o r s t K r ü g e r : Die freie Kunst als ästhetisches Prinzip bei Heine. Diss. Würzburg 1952 (Masch.). —• H e i n z S e e g e r : Der Erzähler in Heines Balladen und Romanzen. Diss. Bonn 1953 (Masch.). — W a l t e r W a d e p u h l : Heine-Studien. Weimar 1956 = Beiträge z. dt. Klassik, Abhandlungen Bd. 4. —• H a n s P f e i f f e r : Begriff und Bild. Heines philos. u. ästhet. Ansichten. Rudolstadt 1958 = Wir diskutieren H. 6 (vom marxist. Standpunkt, Verf. war ursprüngl. Schüler Ernst Blochs). S. 160. Z w i e s p ä l t i g k e i t v o n ä s t h e t i s c h e m u n d p o l i t i s c h e m I d e a l . — G. B l i e m e l a. a. O., (1955) erkennt und demonstriert an der Entwicklung und Wandlung Heines

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diesen Zwiespalt, möchte ihn aber entscheiden zugunsten eines endlichen Überwiegens des ästhetischen Ideals; HeineAbschnitt, S. 25—53. Im Verfolgen dieser Leitidee (Prävalenz des Künstlerischen) kommt G. Bliemel zu der sensationellen Vermutung, daß ζ. B. die bekannten und oft zitierten hochpolitischen Bekundungen im sogen. Helgoländer Tagebuch („Ich weiß jetzt wieder, was ich will, was ich soll, was ich muß. Ich bin der Sohn der Revolution" usw.), das in der Tat erst ein Jahrzehnt später im Rahmen der Streitschrift „Heinrich Heine über Ludwig Börne" (1840) abgedruckt wurde und erschienen ist, ursprünglich gar nicht vorhanden gewesen, sondern erst nachträglich hinzugefügt worden seien, und zwar um seine von Börne angezweifelte politische Position in diesem Kampfgang mit dem einstigen Freunde zu verstärken (S. 33). Diese kühne, aber nicht ganz abseitige Vermutung sucht nun G. Bl. zur beweiskräftigen Behauptung zu festigen, indem er sich vor allem auf briefliche, gegensätzliche Äußerungen Heines aus derselben Zeit (um 1830) stützt. Für die Brief-Zitate steht ihm schon die von Fr. Hirth veranstaltete Brief-Ausgabe „nach den Handschriften" Mainz 1950 f. zur Verfügung. So weit, so gut. Aber nun versäumt er, wie das übrigens häufig bei Briefauswertungen besonders in Diss, geschieht, das Moment der Briefanpassung gebührend mit in Rechnung zu stellen. Es sind nämlich gerade Briefe an Vamhagen, die das politische Desinteressiertsein bekunden, so vom 24. Oktober 1826 und, worauf Bliemel besonderen Wert legt für seine Argumentation, vom 4. Januar 1831 (Briefe I, S. 471). Dort setzt Heine merklich Varnhagen ein wenig unter Druck: nur das Erreichen einer festen Position in Deutschland oder Österreich könne verhindern, daß Heine nach Paris emigriere, wo er notwendig der Politik verfallen und seine künstlerische Produktivität verlieren würde. G. Bliemel bringt also den betreffenden Briefausschnitt und setzt hinter „Wien" ein dreifaches Ausrufezeichen. Indessen, dieses Schwanken Heines war ja längst bekannt. Er war nicht so fest wie Börne. Als bewiesene Behauptung kann also die These Bliemels nicht anerkannt werden, sie bleibt vorerst eine Vermutung, die allerdings nicht undiskutabel erscheint. Mit der leidigen Staatsstipendiums-Angelegenheit in Paris, die auch Karl Marx verworfen hat, argumentiert dagegen Bl. nicht. Es kommt ihm zunächst darauf an, die Position um 1830/31 zur Zeit der Julirevolution zu klären und zu erhärten, daß Heine „als Dichter", nicht als Politiker nach 37

M a r k w a r d t , Poetik IV

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Paris gekommen sei (S. 34). Weiterhin wird der Einfluß Ruge/Marx für die „Zeitgedichte" verantwortlich gemacht und auch für „Deutschland, ein Wintermärchen", das zudem von Heine selber als „poetisiertes Reisebild" erklärt und damit der reinen Dichtung entzogen wäre. Sonderbarerweise zieht Bl. nicht den Brief Heines an Marx heran, in dem Marx als Rezensent des politisch-satirischen Epos geworben werden soll. Ebenso läßt Bl. die Haltung Heines zu den Vorgängen 1848 unberücksichtigt, obwohl sie seiner These in gewissem Grade zugute kämen. Vielmehr meint er, daß besonders „seit dem Ende der dreißiger Jahre" Heine sich „immer nachdrücklicher zum Standpunkt des l'art pour l'art" bekannt habe (S. 49). Er zitiert denn auch ausführlich die Geschichte mit dem Tütendrehen aus den Blättern des „Buches der Lieder", und zwar in der französischen Fassung („ne h61as, mon Livre des Chants servira ä l'epicier pour en faire des cornets, ou il versera du cafe ou du tabac ä priser pour les vieilles femmes de l'avenir . . ."), S. 47. Er unterläßt es jedoch, die Äußerungen des Politikers Heine über die Stärke der Kommunisten und die guten Köpfe unter ihnen nun ebenfalls zu bringen. Täte er es, so würde sich ergeben, daß jener Zwiespalt Dichter—Politiker eben doch nicht so einfach und eindeutig aufgehoben worden ist zugunsten der Poesie. Vielmehr gehört dieses Schwanken zwischen Herz und Kopf untrennbar zu Heines Gesamtbild und zum Dualismus seiner Welt- und Kunstanschauung. Rein kunsttheoretisch gehört er nicht eigentlich zum Jungen Deutschland, sondern zum Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik. Im Kunstschaffen tritt der Realismus hinzu (Prosa) wie in der Lyrik die Zeitgedichte. Heine urteilt stark von Fall zu Fall und entscheidet nach der jeweiligen Situation, teilweise auch nur nach der vorherrschenden Stimmung. S. 161. A n f a n g der z w a n z i g e r J a h r e . — G a n z zu Beginn seiner ÄußerungenstehtderSeufzergegenüberK. L. Immermann: „eigentlich sind es doch nur wenige, für die man schreibt" (24. Dezember 1822, Briefe I, S. 51); recht zynisch oder bitter klingt der Rat: „Auch schreibe nicht für Nachwelt, schreib für Pöbel / Der Knalleffekt sei deiner Dichtung Hebel". Aber in dem erwähnten Brief vom Heiligenabend 1822 steht dann die oben zitierte Prägung von der Poesie als einer „schönen Nebensache" und die Bereitschaftserklärung: „Wollen Sie mich zum Waffenbruder in diesem

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heiligen Kampfe, so reiche ich Ihnen freudig die Hand". Es soll nun ein Kampf anheben gegen das „verjährte Unrecht", die „herrschende Torheit" usw. — G. B l i e m e l schlägt daher vor, außer den biographischen Großeinschnitten 1831 (Übersiedlung nach Paris) und 1845/46 (Krankheit) noch für 1822 einen Einschnitt anzusetzen, so daß ein Unterabschnitt 1822—31 entstehen würde mit starker politischer Aktivität bei teilweisen Rückwendungen ins rein Artistische. Von späteren Einschnitten ist nicht so deutlich die Rede. Doch scheint ein weiteres Ende der 30 er Jahre angesetzt zu werden, da Heine von da ab völlig den Autonomiegedanken der Kunst vertreten haben soll. Etwas unklar bleibt dann aber der Ruge-Marx Einfluß Anfang/ Mitte der 40 er Jahre und also die Epoche der Zeitgedichte. Mit Heinrich Heine will Günter Bliemel überhaupt nicht so recht klarkommen; mit Menzel und Börne ging das wesentlich besser. Überbesorgt ist ζ. B. auch die Reinerhaltung des christlich-religiösen Prophetentums von dem doch nicht gar so ernst gemeinten „Propheten"-Anspruch H. Heines (S. 42). Sogar W a l t e r M u s c h g wird mit seiner „Tragischen Literatur-Geschichte" (1948) bemüht, um die Fronten zu bereinigen. S. 161. D a s G o e t h e b i l d . — vgl. W. D i e t z e a . a . O . (1957) S. 54—75· S. 164.

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EntspannungderEnttäuschung.—ErichLoewent h a l : Studien zu Heines „Reisebildem", Palaestra Nr. 138 (1922). Unterabschnitt (IV, a) „Theorie der Dichtung und Literatur" verweist auf das 11. Kapitel des „Buches Le Grand", „in welchem Heine den Versuch macht, eine eigene Theorie der Dichtung und Literatur aufzustellen", a. a. 0., S. 76 ff. Die Einkleidung darf darüber nicht hinwegtäuschen. Leitspruch sei: „Du suhlime au ridicule il n'y a qu' un pas" (Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt). Das sind zugleich die Worte, die Napoleon aus Anlaß seiner Flucht aus Rußland (Dezember 1912) gebraucht habe. H. Heine knüpft daran die dämonisch-dialektische Nähe des Erhabenen zum Lächerlichen, denn „das Leben ist im Grunde so fatal ernsthaft, daß es nicht zu ertragen wäre ohne solche Verbindung des Pathetischen mit dem Komischen". Sowohl in den „Vögeln" des Aristophanes als auch in den Narrenszenen von „König Lear" als auch in der Puppenspielform von Goethes „Faust" spiegelt sich diese Nähe des Erhabenen und Lächerlichen. Denn das

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„Ungeheuerste, das Entsetzlichste, das Schaudervollste, wenn es nicht nur poetisch werden soll, kann man auch nur in dem buntscheckigen Gewände des Lächerlichen darstellen, gleichsam versöhnend". Das „Göttliche im Gewände des Reizes" (A. Stifter) weicht dergestalt dem geistvoll Grotesken im „Gewände des Lächerlichen". Der Heinesche Witz entwaffnet die Stiftersche Würde. Das Würdige der Klassik springt mit Hilfe des Sprungbrettes des Witzes vom, .ironisch'' Romantischen zurück ins oft robust Realistische. Die „gute Dosis Spaßhaftigkeit", die allen „Schreckensszenen dieses Lebens" beigemischt ist, hat schon H. Heine als Heilmittel der Wirklichkeit gegen die Würde benutzt wie später B. Brecht. Was bei H. Heine balladeske Spannung war, wurde bei B. Brecht zur bänkelsängerischen Entspannung. Das Revoltierende Heines wurde zum Relativierenden Brechts. Heine entwarf manches (ζ. B. die bürgerliche Sentimentalität biedermeierlicher Art), was B. Brecht verwarf. Aber beide begegnen sich im Dramatisieren des Epischen und im Karikieren des Ethischen. Wie für L. Feuerbach beginnt das Moderne für Heine mit der Reformation. Die Dissonanz des Kunstschaffens Heines entspricht durchaus der Dialektik seines Kunstwollens. Immerhin erkennt die Sonderforschung (E. Loewenthal 1922): „dennoch wäre die Behauptung übertrieben, er (Heine) habe sich diese Theorie (Diskrepanz von Weltklage und „jauchzendem Narrentum") erst auf Grund seiner eigenen Kunstübung (Kunstschaffen) zurechtgemacht" (S. 79). Und wie Gottfried Benn sich an seinen frühen Poetik-Lehrer E. Elster erinnert, so erinnert sich H. Heine an seinen Poetik-Lehrer auf dem Düsseldorfer Gymnasium (wahrscheinlich Prof. Cremer). Derartige Lehren wirken nach bis hin zur Einstufung von Shakespeares „Troilus und Cressida" in die Tragödien unter Berücksichtigung des Tragikomischen, das bei Heine von der romantischen tragischen Ironie in die realistische Ironie des Tragikomischen zwanglos-zwangsläufig hinüberspielte. Dieses Verfahren wird sowohl auf Aristophanes angewendet (Antike) wie auf Shakespeare (Moderne). Die junge Aufklärung des Jungen Deutschland würde sich insofern mit der „alten" Aufklärung des 18. Jh.s berühren, als bereits Chr. M. Wieland in seinem „Agathon"-Bildungsroman (XII, 1) die Mischung des Tragischen und Komischen bei Shakespeare weit besser verstanden habe als etwa Joh. Elias Schlegel in der Frühzeit der Aufklärung („Ver-

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gleichung Shakespeares und A. Gryphs", 1741) A. W. Schlegel schien die Mitte zwischen Joh. Elias Schlegel und Wieland —• nämlich G. E. Lessing —• vergessen zu haben, als er an Samuel Johnsons „Preface to Shakespeare" (1768) Anschluß suchte (a. a. O., S. 81), indem er die Diskrepanz von „joy and sorrow" hervorhob. Möglich auch, daß H. Heine Goethes Essay „Shakespeare als Theaterdichter" (in: „Kunst und Altertum") gekannt und genutzt hat, wo ebenfalls die Vermischung des Tragischen und Komischen eine Rolle spielt. Die Sonderforschung zieht, nicht so ganz unberechtigt, in Erwägung, ob dieses 11. Kapitel des „Buches Le Grand" nicht eine verhüllte Polemik gegen den genannten Aufsatz Goethes darstellt. Als Vorbilder der Heineschen Reisebilder kämen neben und vor Justinus Kemers „Reiseschatten" auch die Franzosen Chapelle und Bachaumont mit der „Voyage" (1656) in Betracht. Was aber die ursprünglich geplante Literaturkritik der Heineschen „Reisebilder" betrifft, so behilft sie sich neben eigenen Ansätzen mit Epigrammen aus der Feder K. Immermanns, die dann Platen auf den Kampfplatz rufen, wenn man von Franz Horn (satirisch bereits von Chr. D. Grabbe erfaßt) absieht sowie von A. Müllner, E. v. Houwald und Fouque bzw. Fr. Rückert. Der Abschnitt „Stellung zu Goethe" (S. 84—88) dürfte inzwischen wenigstens teilweise überholt worden sein durch das Goethebild der Jungdeutschen, das W. D i e t z e unter dem freilich irreführenden Titel „Junges Deutschland und deutsche Klassik", Berlin 1957, S. 54—75 entworfen hat. S. 167. B e w e r t u n g des K u n s t w o l l e n s . —• Einige einschlägige Bemerkungen dazu bietet W a l t e r L e i c h : Heines Kunstphilosophie, Zf. Ästhetik 17 (1924) S. 411 f. — Er macht dabei Heines Kunstphilosophie stark von der Literaturphilosophie und Kunstphilosophie der Romantik abhängig. So nimmt er ζ. B. Bezug auf Wackenroder „Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe in der Kunst". Auf der anderen Seite wird ein damals moderner Bezug zu W. Worringer und dessen Lehrer Alois Riegl (Kunsthistoriker) gesucht, wobei die Betonung des Kunstwollens die Brücke schlägt. So gedeutet, steht Heine zur Romantik etwa so wie Worringer zum Expressionismus. Heine habe gleichsam Ideen Worringers vorweggenommen (S. 415). Die Aufmerksamkeit W. Leichs ist dementsprechend vor allem auf die bildende Kunst gerichtet, ζ. T.

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auch auf die Musik und auf Heines Äußerungen darüber. So etwas wie eine wechselseitige Erhellung der Künste (O. Walzel) wird darin gesehen, wenn Heine das Nibelungenlied einen „versifizierten Dom" und andererseits den Kölner Dom ein „steinernes Nibelungenlied" nennt. Die Musik tritt für Heines Gegenwart nach dessen Meinung stärker hervor, weil sie als subjektive Kunst dem subjektiven Zug dieser Gegenwart gemäßer sei als die deshalb zurücktretende bildende Kunst (vgl. „Musikalische Saison von 1841"): „Musik ist vielleicht das letzte Wort der Kunst wie der Tod das letzte Wort des Lebens", während sich mit zunehmendem Bewußtsein die Plastik abschwäche. Heine lehnt die Neu-Gotik als bloßes Gefühlsplagiat ab (im Hintergrunde stehen Worringers „Formprobleme der Gotik"). Rein kunsttheoretisch dagegen bezieht W. Leich (in den Anm.) mehrfach Heine auf Schiller, ζ. T. auch auf Goethe zurück. Im ganzen erscheint die Gegenwartsparallele interessant, aber etwas gepreßt. Dagegen bleibt der Hinweis auf die Betonung des Kunstwollens durch Heine durchaus berechtigt. Als Beispiel für eine Bewertung des Kunstwollens besonders in Anbetracht der Funktion des Kunstkritikers sei eine Tagebuch-Aufzeichnung Fr. Hebbels vom 10. März 1847 herangezogen: „Es gibt nur eine einzige Kritik.Diese entwickelt aus dem Innersten der Sache heraus. Sie sagt zum Dichter: Dies hast du g e w o l l t , denn dies hast du wollen müssen, und untersucht nun, in welchem V e r h ä l t n i s sein V o l l b r i n g e n zu s e i n e m W o l l e n steht. Jede andere ist vom Übel". Hebbel steht also in dieser Frage Heine näher, als man zunächst annehmen möchte. Wahrscheinlich dachte Hebbel hierbei an den von ihm damals noch hochgeschätzten Kritiker Fr. Th. Rötscher. S. 172. V e r s a g e n v o r der R o m a n t i k , A u s w e i c h e n in den „ E r o s " . — Diese These vertritt M a r t i n G r e i n e r a. a. 0. (1954) in dem Abschnitt „Der junge Heine" (S. 121 f.), besonders mit Hilfe der Auslegung eines allegorischen Gedichts und des Lorelei-Gedichts (S. 127 ff.), selbst die „Wallfahrt nach Kevlaar" wird mit merklicher Hilfestellung der Psychoanalyse (S. 135) einbezogen. Auch der zweite umfangreichere Abschnitt „Heine in Paris" (S. 278—338) greift die These von der Mutter-Bindung im Sinne S. Freuds wieder auf: „es ist die Mutter, der Muttergeist, der ihn niemals ganz aus seiner Obhut und erotischen

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Bevormundung (!) entläßt" (S. 302/03). Die These vom Primat des Erotischen bei Heine sollte eigentlich nachgerade überwunden sein. Ernster zu nehmen ist die These von Heines Versagen vor der Romantik, besonders wenn man stärker, als dies bei M. Greiner geschieht, die Stellung zur Religion mit einbezieht. M. Greiners Buch trägt den Zusatztitel „Ein Kapitel deutscher Literatur-Geschichte im Zeichen Heinrich Heines". Damit begründet wird u. a. die Aufteilung der Heine-Darstellung in zwei voneinander weit getrennte Kapitel. Wahrscheinlich aber war dieser Zusatztitel im wesentlichen zeit- und situationsbedingt. Jedenfalls stehen etwa die Droste-Grabbe-Büchner-Abschnitte kaum irgendwo spürbar „im Zeichen Heines". Es ist sogar zu sagen, daß Heine selber im Gesamt recht unvorteilhaft beurteilt wird. Abgesehen davon, daß er einerseits der Hotel-Pächter, andererseits der Zugschaffner ist: seine dichterische und stilistische Leistung wird sehr zwiespältig beleuchtet. Vielleicht hätte M. Greiner ruhig ein wenig die Kunsttheorie Heines berücksichtigen sollen, die seit Fritz Strichs Diss, immerhin etwas mehr beachtet wurde, statt eigene neue Deutungen zu forcieren, die zudem hinsichtlich der Erotik einigermaßen „altbekannt" wirken. Was hilft es nachzuweisen, daß Heine so erotisch war, daß er selbst einen Berggipfel (Lorelei) erotisieren mußte (S. 131), wenn es doch wohl so etwas gibt wie eine Volkssage. Da hilft auch die „Cellophanhülle" (S. 132) nichts. Ahnlich kommt M. Greiner nicht los von dem Vorwurf, Heine habe die Entwertung der Sprache eingeleitet und ebenso die „Lustseuche der Sentimentalität"; denn „diese letzte Phase ist in überwiegendem Maße Heines Werk" (S. 320). Das einzige, an sich dankenswert berücksichtigte Kunsttheoretische, ein Auszug aus einem Gespräch des späten Heine mit Adolf Stahr (Oktober 1850), dient ebenfalls nicht der an sich betonten Absicht, das Ansehen Heines zu heben. Denn Heine empfiehlt dort einen „gewissen Scharlatanismus" der Kunst, um dem „großen Publikum" entgegenzukommen. Für Heine lag gewiß eine persönliche Bitterkeit in der Feststellung: „die Masse bedarf des Scharlatanismus" (S. 291). Bedenklich aber wird die Angelegenheit, wenn nun dieser Maßstab, den Heine dem Verfasser einer Reiseschilderung („Ein Jahr in Italien"), der an sich populär schreiben wollte, anempfahl, allen Ernstes auf Heine selber übertragen wird (S. 322, 328). Ob nicht Heine in jenem Gespräch („Gespräche" sind zudem selten ganz verläßlich)

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ein wenig den Mephisto aus der Schülerszene gespielt haben sollte? M. Greiner ist doch sonst geneigt, Heine auf das Mephistophelische hin zu stilisieren. S. 174/ S o z i a l i s m u s , K a r l M a r x . —• Gegen den Herausgeber 175. der Briefe Heines, F r i e d r i c h H i r t h : H. Heine und seine französischen Freunde, Mainz 1949 polemisiert W a l t h e r V i c t o r : Marx und Heine, Tatsache und Spekulation in der Darstellung ihrer Beziehungen, Berlin 1951, der den Brief Heines an Marx (Hamburg 21. September 1844) faksimiliert abdruckt. Zur Zeit der Begegnung zwischen Marx und Heine (Ende Dezember 1843) w a r d e r u m 20 Jahre jüngere Marx erst 26 Jahre alt, also noch ganz am Anfang seiner Entwicklung. Erst seit etwa 1844/45 gilt Marx als von L. Feuerbach beeinflußt und als „wissenschaftlicher Materialist"; es handelt sich damals noch nicht um den gereiften Politiker. In jenem Brief bittet Heine, ihm Rezensenten für seine neueste Dichtung („Deutschland ein Wintermärchen") zu werben. Der Brief endet: „aber wir brauchen ja wenige Zeichen, um uns zu verstehen". Bei der Polemik Hirth—Victor handelt es sich u. a. um die Motive Heines für das Verlassen Deutschlands. S. 175. Ludolf Wienbarg. — Die Belege beziehen sich auf die Ausgabe der „Feldzüge" von 1834. — Wanderungen durch den Tierkreis, Hamburg 1835, Zur neuesten Literatur, Hamburg 1838 (2. Auflage). — Tagebuch von Helgoland, Neudruck 1921. — V i k t o r S c h w e i z e r : L. Wienbarg, Beiträge zu einer Jungdeutschen Ästhetik, Leipzig 1897. — E m i l B r e n n i n g : L . Wienbargs Nachlaß, Euphor. 15 (1908). — A d o l f G r a f : Freiheit und Schönheit bei L. Wienbarg, Diss. Bonn 1949 (Masch.-Expl.). S. 175. In seinem Eingangskapitel „Hegel als A n l a ß " trägt H. v. K l e i n m a y r : Welt- und Kunstanschauung des Jungen Deutschland, Wien, Leipzig 1930, alles zusammen, was nur irgendwie auf Hegel zurückführbar sein könnte. Grundsätzlich wäre dagegen einzuwenden, daß Hegel nicht als wirklicher und vorherrschend wirksamer „ A n l a ß " für die Weltanschauungs-Ästhetik der Jungdeutschen gelten kann. Ein Einzelner kann überhaupt kaum eine derartige „ B e wegung" veranlassen, er kann sie höchstens anregen und nach der philosophischen Seite hin decken oder abschirmen. Hegel wäre wahrscheinlich selber erschrocken, wenn man ihm gesagt hätte, daß er das Junge Deutschland „ver-

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anlaßt" habe. Und was geschieht denn wirklich in diesem Kapitel (a. a. 0., S. 9—22) von etwa einem Dutzend Seiten Umfang? Es werden die Zeugnisse geprüft, die eine Beschäftigung der Jungdeutschen mit Hegel erkennen lassen. Sie werden —• und das ist anzuerkennen — auch auf ihre Verläßlichkeit bzw. Unverläßlichkeit hin überprüft. Es ist nämlich in diesem Betracht manches behauptet worden, was sich nicht beweisen läßt, sondern als Anekdote oder Vermutung mitgeschleppt worden ist. Was L. W i e n b a r g betrifft, der mit seinen „Feldzügen" weit eher als H e g e l die Tendenz-Programmatik und Weltanschauungs-Ästhetik der Jungdeutschen untergründet hat, so kann gerade bei ihm höchstens ein mittelbarer Anstoß von Hegel her verzeichnet werden. Es muß aber als dankenswert begrüßt werden, daß H. v. Kleinmayr in Abhebung von H. Marggraf, K. Rosenkranz und R. Prölß, die an sich aus größerer Zeitnähe urteilten und Wienbarg vom Hegel-Einfluß freisprachen, auf die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit eines mittelbaren Einflusses hingewiesen hat. Es handelt sich dabei um E r i c h v o n B e r g e r (1772—1833) und dessen „Allgemeine Grundzüge zur Wissenschaft" (1817—27), wenn man von der Vorstufe von 1808 absieht. E. v. Berger, der über Reinhold zugleich auf Kant zurückwies, fußte zwar als „Naturdenker" vorab auf Schelling. Aber neben Kant, Schelling und Fichte konnte er merklich ohne Hegel nicht auskommen; vgl. a. a. O., S. u/12. Immerhin wäre L. Wienbarg dann nur auf einem Umweg zu Hegel gelangt. Zudem widerstrebt der warme Gefühlsimpuls der „Feldzüge" der kühlen Vernunftintention Hegels, wie die leidenschaftliche Rhetorik der leidenschaftslosen Logik Hegels auch temperamentmäßig widerstreitet. Kurz, Hegel förderte zwar den Anlauf, bestimmte aber nicht den Ablauf der jungdeutschen Bewegung. Das Leben erwies sich stärker als die Logik. Hegel bot wohl die Deckung, bewirkte aber nicht die Entdeckung. Denn der eigentliche „Anlaß" ging nicht von der Philosophie aus, sondern von der Politik, zum mindesten von der Kulturpolitik. Wenn der ehrgeizige junge Kieler Privatdozent L. Wienbarg seine Vernunft befragte, konnte er nicht gut an Hegel vorbeigehen; aber wenn er sein Herz befragte, konnte er erst recht nicht an Herder vorbeigehen. Denn was Herder im Sturm und Drang wirklich gewesen war, das wollte Wienbarg für den Jungdeutschen Sturm und Drang nur allzu gerne sein: ein genialer Anreger.

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Hegel gab nämlich bestenfalls die Konstruktion, Herder aber verlieh die Intuition. Mochte Wienbarg ohne Hegel nicht deutbar sein, ohne Herder war er überhaupt nicht denkbar. Unmittelbar war er von dem jüngeren Herder ergriffen; nur mittelbar suchte er Hegel zu begreifen. Der relative Wert der Negation, der die Antithese einer „Hetorethesis" annähert, war ihm weniger zugänglich als der revolutionäre Wert der von dem jungen Herder bezogenen Position, die dem Positivismus vorbeugend begegnete, bevor er noch „erfunden" worden war. Denn nicht nur Th. Mündts „Kritische Wälder" beziehen sich auf die jungherderschen „Kritischen Wälder". Auch Wienbargs „Feldzüge" gehen mehr auf den frühen Herder als auf den späten Hegel zurück. S. 175. K u n s t t h e o r e t i s c h e s H a u p t w e r k . — Daher berücksichtigt bei V. S c h w e i z e r (1897),W. S t o r c h (1926), G. B l i e m e l (1955), W. D i e t z e (1957) u. a. Durchweg aber wird zu wenig der Vorlesungs-Charakter der „Feldzüge" beachtet, der die häufige Bezugnahme auf Gewährsmänner nahelegte, um Gelehrsamkeit darzutun (besonders bei einem jung, Privatdozenten). g. 175. „ D i e Ä s t h e t i k ist a l s W i s s e n s c h a f t . . . " — „Feldzüge" S. 8 (vgl. auch 13); die weiteren Zitate im Text beziehen sich in der Reihenfolge ihrer Erwähnung auf S. 77, 80, 30, 134, 170 (vgl. 174 u. a.), 145, Abwehr des Mittelalters 26/27, Organismusgedanke 74, 77, 80; Tat-Betonung 145, Wesen der Dichtung 231, das Schöne, Gute, Wahre 152,156, Verteidigung Schillers gegen Kant 155 f., sittliche Wiedergeburt 176, Schellings Naturphilosophie 201 f., Kunst und Wirklichkeit 205, Gefühlsbetonung 231,228,57, Tatwille und Begeisterung 87, 231,145, Prosa als Waffe 139, Zeitgebundenheit des Geschmacks 129 und 229, Theorie folgt der Praxis 81 und 131, Gültigkeit von Lessings „Laokoon" 208 f., Epos als älteste Gattung 238 f., Alleingeltung der revolutionären Lyrik 275. S. 176. S t a a t s t h e o r i e u n d K u n s t t h e o r i e . — Es ist wahrscheinlich, daß Wienbargs hohe Schätzung des Staates auf Hegels Staatsphilosophie zurückgeht. An sich sind Hegels Einflüsse deutlicher bei K. Gutzkow, wo sie auch durchweg erkannt worden und also bekannt sind. Hegel war nur wenige Jahre vorher gestorben. — Wienberg hat Hegel nicht selber gehört (wie K. Gutzkow, Th. Mündt und G. Kühne) und im allgemeinen sich passiv verhalten. W.

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D i e t z e a. a. 0 . (1957) S. 147 weist auf versteckte Polemik gegen Hegeische Begriffsdefinition in den „Feldzügen" (S. 7, 9, 67, 168) hin. S. 183. Kail Gutzkow. — B e r n h . R i e f f e r t : Karl Gutzkows Stellung zur Romantik, Diss. Münster 1908. — O t t o B a u m g a r d : Gutzkows dramaturgische Tätigkeit am Dresdener Hoftheater, Diss. Bonn 1915. —• L u d w i g M a e n n e r : K . Gutzkow und der demokratische Gedanke, München und Berlin 1921. —• H a r r y I b e n : K . Gutzkow als literarischer Kritiker, die jungdeutsche Periode, Diss. Greifswald 1928. — K l e m e n s F r e i b u r g - R ü t e r : Der literarische Kritiker K . Gutzkow, eine Studie über Form, Gehalt und Wirkung seiner Kritik, in: Form und Geist X V , Leipzig 1930 (zugleich Greifswalder Diss.). — K a r l E d m . F r a n c k : K . Gutzkows literarisches Werk als Ausdruck seines Zeiterlebnisses, Diss. Kiel 1951. —· M a g d a l e n a C a p e l l e : Der junge Gutzkow. Werden und Wirken im jungdt. Sturm und Drang. Diss. Berlin F U 1 9 5 1 (Masch.)—. H e r m a n n G e r i g : K . Gutzkow, der Roman des Nebeneinander, Diss. Bern 1953. — E v a S c h m i d t : Möglichkeiten und Verwirklichungen des Gutzkowschen „Romans des Nebeneinander", Diss. Erlangen 1954 (Masch.). S. 184. B r ü c k e d e r V o l k s t ü m l i c h k e i t . — Das Kriterium der Volkstümlichkeit mildert auch ζ. B. die Abwehr Schillers, der im übrigen als Kantianer in Mißkredit steht, zum mindesten in der jungdeutschen Periode Gutzkows. Ob in diesem Punkt nicht doch W . Menzel auf den jüngeren K . G. eingewirkt hat ? Im allgemeinen dürfte sonst in dem Ausspielen Schillers gegen Goethe bei W . Menzel eine der Ursachen zu suchen sein, warum seit Menzels Verrat sein moralischer Liebling Schiller nicht gerade beliebt war bei den Jungdeutschen (nicht d i e Ursache, aber e i n e der . . .). S. 184. „ L a o k o o n " . — Hierin also weicht K . Gutzkow von L. Wienbarg ab, der die Lessing-Autorität des „ L a o k o o n " gelten ließ, vgl. „Ästhetische Feldzüge", S. 208 f. S. 184. „ V o r l e s u n g e n ü b e r Ä s t h e t i k " . — H e g e l s Ästhetik-Vorlesungen wurden ebenso wie seine GeschichtsphilosophieVorlesungen zwar erst im Rahmen der Hegel-Ausgabe von G. Hotho und E. Gans (1835 f.) publiziert. A b e r K . Gutzkow war in Berlin Hörer Hegels (Naturphilosophie, Geschichtsphilosophie, Religionsphilosophie). Und es bestehen Zeug-

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nisse auch über kunstphilosophische Debatten aus der Studentenzeit. W e r n e r S t o r c h a. a. 0 . (1926) formuliert hinsichtlich des Einflusses der Geschichtsphilosophie vielleicht etwas überbetont, aber im ganzen zutreffend: „Gutzkow legt eine kompliziertere Ästhetik (als Mündt u. a.) der Tendenzkunst vor, die mit Gedankengut von Hegels Geschichtsphilosophie operiert". W. D i e t z e hebt hervor, daß sich K. G. „am intensivsten" mit Hegel auseinandergesetzt habe, a. a. O. (1957), Hegel-Kapitel S. 146. Für unsere Zwecke hat mehr die spezielle Poetik, nicht oder weniger die allgemeine Ästhetik zu interessieren. S. 185. „ G r ü n e r W a l d der E r f a h r u n g " . — Die Lebensnähe als Forderung betont G. Bliemel a. a. 0 . (1955), S. 83 unter Hinweis darauf, daß die Feder des Zeitschriftstellers in den „Strom des Lebens" getaucht sein müsse, „Forum" Januar 1831, daß erst der Blick auf das „großartige Leben... um uns her" dem Zeitschriftsteller die erforderliche Blickrichtung ermögliche, „Forum", Mai 1831 usw. Das wird aber außerdem an der formulierten Poetik innerhalb der Kunstwerke ablesbar, so etwa in dem Roman „Blasedow und seine Söhne" (V, S. 93) oder in dem Roman „Die Ritter vom Geiste" (1850/51), wo Dankmar Wildungen den Künstler Siegbert auffordert, sich „ins Rauschen der Begebenheit" zu stürzen, jenseits aller „tapezierten" Geborgenheit im kultivierten Innenraum der ästhetisierenden Salons und befreit von der „klassischen Walpurgisnacht". Mit „Begebenheit" ist jedoch in diesem Falle nicht die Tagespolitik gemeint, vielmehr wird der verirrte Siegbert auf Natur und Geschichte verwiesen, um zu Vernunft und Erfahrung zu gelangen. Aber mittelbar liegt wiederum ein politischer Bezug vor, weil Natur im Gegensatz steht zur Konvention, und Historie an sich schon das Politische einschließt. — Auch eine Nebengröße wie Gustav Kühne verurteilt die Lebensfremdheit als Ursache des Versagens der Kunst, in: „Literar. Zodiacus, Journal für Zeit und Leben", redigiert von Th. Mündt, 11. Heft, November 1835. Im Rahmen von Gustav Kühnes „Eine Quarantäne im Irrenhaus, Novelle . . ." (1835), also als im Kunstwerk formulierte Poetik (Aussagen über die Kunst) findet sich wieder die beliebte Gegenüberstellung von muffiger Zimmeratmosphäre und freier, frischer Luft. Die neuen Poeten wollen nicht mehr am ästhetischen Teetisch in Abendzirkeln hocken (vgl. Heines Gedicht) und von Empfindsamkeit,

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Nervenschwäche oder über Stanzen und Sechsmesser diskutieren, sondern — wenn nicht anders, dann durchs Fenster — ins Leben hinausspringen, wo sie auch „natürlich" sprechen (Primat der Prosa) lernen, befreit von der „Stanzensprache". Die Zeugnisse gewinnen an Gewicht, weil sie in einem Haupt jähr des Jungen Deutschland liegen (1835). Das gilt auch von Kühnes Ausspielen des „Literaten" (positiver Begriff) gegen die überholten „Poeten" (negativer, desavouierter Terminus) im Novemberheft des „Zodiacus"; vgl. hierzu in Einzelheiten G. Bliemel, a . a . O . , S. 85/86, der außerdem noch die Formulierung „Demokratie der Talente" bei Kühne belegt in dessen „Portraits und Silhouetten" (1843), ähnlich wie vorher Th. Mündt von einer „republikanischen Literaturverfassung" gesprochen hatte („Kritische Wälder" 1833). G. Kühne, mit Mündt von der Schulzeit her eng befreundet, bewies sich also auch darin als „Mündts Pylades" (brieflicher Ausspruch K. Gutzkows). S. 185. L i t e r a t u r b l a t t z u m „ P h ö n i x " . — D i e dort von Gutzkow entwickelten programmatischen, ζ. T. auch im engeren Sinne kunsttheoretischen Forderungen und Bekundungen sind, gemäß der zeiträumlichen Beschränkung auf die jungdeutsche Periode, von H a r r y I b e n a. a. 0. (1928) genauer erfaßt und eingehender berücksichtigt worden als von der an sich themagleichen Diss, von K l . F r e i b u r g - R ü t e r a. a. 0. (1930), die deshalb (S. 36) auf H. Iben zurückverweist. Doch hält Freiburg-Rüter für besonders hervorhebenswert die (etwas gefühlsferne) Prägung Gutzkows, wonach ein „Gedanke, der sich klar werden will", Anlaß und Gegenstand einer Dichtung sei. Er sieht darin mit Recht eine Nachwirkung Hegels. Es darf ergänzend bemerkt werden, daß Gutzkow schon im „Forum" (Mai 1831) die Überbewertung der Sprachform ablehnt und dementsprechend auch nicht Literatur-Geschichte als eine „Geschichte der Sprache" betrieben und betrachtet sehen will, sondern vielmehr als eine „Philosophie der Geschichte" (Anlehnung an Hegel). Zum mindesten die Anfänge Gutzkows stehen deutlich unter dem Leitstern: Hegel. S. 186. „ I c h z i e h e P r o s a v o r " . — Diese lakonische Erklärung begegnet im Rahmen der im Kunstwerk formulierten Poetik in dem Roman „Wally, die Zweiflerin", und zwar in Abkehr von der Vers-Lyrik. Wally findet den neuen Musenalmanach, hrsg. von Schwab und Chamisso, „sehr ennuyant"

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wegen der „Monotonie der Gefühle". Und so entscheidet sie im Kunstgespräch: „Ich ziehe Prosa vor. Heines Prosa ist mir lieber als Uhland und sein ganzer Bardenhain" (zugleich rückgreifende Kritik am Göttinger Hain), vgl. K . Gutzkow: Werk II, S. 197. W o Gutzkow als Kritiker urteilt, kommt zum mindesten L. Uhland wesentlich günstiger davon, der zeitweise sogar im Vergleich mit Goethe als Lyriker überschätzt wird. Gutzkow verfällt dabei (ähnlich wie der junge Hebbel) der Suggestion des in der jeweiligen Gegenwart tonangebenden Lyrikers. Schon dieser Umstand sollte genügen, dem Kritiker G. mit mehr Kritik zu begegnen, als es in den einschlägigen Sonder-Untersuchungen geschehen ist. Denn ein echter Kritiker sollte sich vom Druck des Gegenwarts-Urteils freihalten, wie sich z.B. Lessing freihielt gegenüber der modischen Macht der „malenden" Dichter. — H. I b e n a. a. 0. (1928), S. 81/82 erkennt zwar richtig, daß K . Gutzkow sich in gewissem Grade auf die Position Gottscheds zurückdrücken läßt, wenn er dem Lyriker allen Ernstes so etwas anrät wie eine Als-Ob-Naivität: „ U m ein guter Lyriker zu werden, so soll man . . . sich stellen, als wüßte man von Gott und der Welt nichts, weder von der Geschichte noch von der Wissenschaft . . ." Aber er verkennt den deutlichen Anteil an Ironie und Polemik gegenüber der Lyrik überhaupt, der an solchen Ratschlägen beteiligt ist. Und was H. Iben da bescheiden als „Versuch einer Entwicklung seiner Kunsttheorie" bezeichnet hat, das ist auch wirklich sehr bescheiden, und zwar auch, was die „Prosa" (besonders Roman und Novelle) und das „ D r a m a " betrifft. Gewiß hängt das nicht zuletzt mit den längst und zu Recht vergessenen Beispielen zusammen, mit denen sich Gutzkow damals herumschlagen muß. Das Beste weiß er noch über Grabbe zu sagen, den er bereits neben G. Büchner stellt. Der Roman-Abschnitt leidet darunter, daß H. Iben nicht die Theorie des Romans des Nebeneinander sogleich mit erledigt, so daß nun noch (bislang) zwei Sonderarbeiten möglich und erforderlich wurden (H. Gerig, E. Schmidt). Das Brauchbarste ist vielleicht die Kennzeichnung der Einstellung Gutzkows zur Musik, weil hier Einzel-Einflüsse von Hegels Ästhetik-Vorlesungen greifbar und glaubhaft gemacht werden, die davor warnen sollten, Hegels Einfluß zu unterschätzen. Wie für Hegel ist für Gutzkow die Musik zu vieldeutig und gedankenarm. Hegel beanstandete das Inhaltlose der Musik, die ohne Hilfe des Wortes gedanklich

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recht hilflos bleibt (vgl. Hegels Ästhetik-Vorlesungen III, S. 221) und bot damit Gutzkows Primat der Inhaltsbewertung einen günstigen Einsatzpunkt, a. a. 0., S. 102—104: Hegel-Einfluß. S. 188. R o m a n des N e b e n e i n a n d e r . — Die Untersuchung von H e r m a n n G e r i g : Karl Gutzkow, der Roman des Nebeneinander, Diss. Bern, gedr. Winterthur 1954 geht von der Theorie aus, um dann die „Ritter vom Geiste" als Roman des „Nebeneinander" mit dieser Theorie in kritische Beziehung zu setzen (S. 38 ff.). Was die hier besonders interessierende „Theorie" betrifft, so erschwert sich H. Gerig seine Aufgabe durch Hineintragen moderner Begriffe wie „Vieldimensionalität" (S. 15) oder „Zusammenschau" (S. 14), die eher geeignet sind, die Linien der Interpretation zu verwirren als sie zu entwirren und zu klären. Hinzu tritt die Hervorkehrung der „Weltanschauung" unter Hineininterpretieren des „Integralen". K. Gutzkows Theorie eines Romantypus des Nebeneinander ist in Wirklichkeit gar nicht so kompliziert und hintergründig, wie das H. G. vorkommt. So wird der Akzent sehr stark auf Gutzkows Wendung „in Gott Ruhendes" verlagert, während er für K . Gutzkow weit stärker auf dem, was „in der Mitte liegt", ruht, in der Mitte nämlich der willkürlich herausgegriffenen extremen Pole des Nacheinander-Romans. Hierher gehört etwa die These: „Das wahre Wesen der Menschenexistenz besteht also darin, daß sie in der Gesamtheit ihrer Träger . . . ein „in Gott Ruhendes ist" (S. 13). Richtig ist der Hinweis auf den Roman des Nebeneinander als „Zeit- und Tendenzroman" (S. 25 f.). Tendenziös wirkt dagegen das Herausgreifen des Stichworts „Zauberworte", das so gar nicht zu K. Gutzkow passen will. Hermann Gerig versucht Karl Gutzkow zu interpretieren, als ob er Novalis oder Cl. Brentano vor sich hätte. Als das nicht restlos glücken will, wird er ärgerlich auf Gutzkow (statt auf sich selber). Wahrscheinlich hat ihn das Thema angezogen, weil er so etwas wie eine Vorform der James Joyceschen „Vieldimensionalität" in Gutzkows Theorie vom „Roman des Nebeneinander" vermutet hat. Kurz, Gutzkow wird beträchtlich umgebogen, um ihn der „Möglichkeits"-Theorie und „Integral"-Theorie als Nebenströmung der Existenzphilosophie irgendwie, d. h. auf Biegen oder Brechen zuordnen zu können. Fast wird aus Wally der Zweiflerin Gutzkow der Gläubige. So kommt es, daß relativ brauch-

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barer die Nachprüfung des Kunstschaffens wirkt. Hier erkennt K . Gerig, daß wesentlich Kompositionsfragen mitspielen. V o n dieser Erkenntnis hätte auch seine Deutung der Theorie ausgehen sollen. Hinsichtlich des Verhältnisses von Theorie und Praxis erscheint K . G u t z k o w als „ v e r hinderter R o m a n t i k e r " (S. 98). V o m Terminus des „ S c h w e b e n s " in der Literatur-Philosophie der R o m a n t i k (vgl. B d . III) ahnt H . Gerig offenbar nichts, sonst würde er ζ. B . auf S. 14 („Perspektive des in L ü f t e n schwebenden Adlers") daran in s e i n e m Sinne der Romantisierung und Existenzialisierung angeknüpft haben. Dankenswert bleibt das Eingehen auf das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Theoretisieren u n d Produzieren. A b e r wenn man mit merklicher, weltanschaulich bedingter Antipathie einem Schriftsteller gegenübersteht, sollte man nicht gerade ihn z u m Gegenstand einer Untersuchung machen. D a s fördert weder die Weltanschauung, die leicht zum Vorurteil entwertet erscheint, noch die Fachwissenschaft, die beträchtlich verbogen erscheint. H . Gerig glaubt, was er schreibt; aber müssen wir es auch glauben ? E t w a s weniger Interpretation und etwas mehr Material würde dem Dauerwert solcher Untersuchungen wesentlich zuträglicherund dienlicher sein. S. 191. Heinrich Laube. — H . H . H o u b e n : H . Laubes Leben und Schaffen, Leipzig 1906. — G. A l t m a n n : Laubes Prinzip der Theaterleitung, Beitrag zur Ästhetik der dramaturgischen K u n s t im 19. Jh., Diss. Jena 1907. — F . B r o s s w i t z : H . L a u b e als Dramatiker (1908). — P . W e i g l i n : Gutzkows u n d Laubes Literaturdramen, Berlin 1910. — W . F ö r s t e r : H . Laubes dramatische Theorie im Vergleich zu seiner dramatischen Leistung, Diss. Breslau 1932. — E . Z i e m a n n : H . L a u b e als Theaterkritiker, Emsdetten 1934. — G. S c h w e i t z e r : Der Journalist und Theaterleiter H . L a u b e in seiner Stellung zur dramatischen Weltliteratur, Diss. München 1949. — G. B l i e m e l : a . a . O . (1955), S. 84, 95/96, 100 u. ö. — W . D i e t z e a. a. O. (1957), S. 95—104, 305—07 u. ö. S. 191. G e s t a l t u n g s - F o r d e r u n g e n , F o r m g e b u n g . — Die Vorherrschaft der Prosa wird auch von H . L a u b e befürwortet, so etwa in den „Modernen Charakteristiken" (1835). E r sucht ihr ein historisches Ansehen zu geben, indem Prosa immer erst auf Reifestufen der Sprachentwicklung hervortrete und sich wertvoll auspräge. L a u b e bedauert den unausrottbaren, abwertenden Ausdruck „prosaisch", der aus

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dem Irrtum entstanden sei, nur Frühstufen der Sprache brächten echte Poesie hervor (Abwehr Herders ? J. Grimms?). Vielmehr: „Die Prosa hat nicht minder ihre Schönheit"; sie sei ebenso wenig ein Gegensatz zur Poesie wie der Mann zum Jüngling (das scheint auf den Sprachenroman des jungen Herder anzuspielen). Und nun das stolze Programm: „Die moderne Prosa unsrer Zeit soll dies exemplarisch beweisen". Bestehende Mängel führt Laube zurück auf das vorerst hastige Verfahren, sogleich das Wichtige im Plakatstil herauszustellen („man schrieb Wirtshausschilder"), eine Vorahnung gleichsam der Sichtwerbung. Aber das seien Kinderkrankheiten; und es sei zu bedenken: „man schrieb auf dem Markte und für den Markt". Das schnelle Einwirkenwollen (bloße Wirkungsform) werde jedoch mehr und mehr einem Streben nach „dem tiefen und schönen Eindrucke" weichen. Bemerkenswert erscheint, daß sich hier Laube noch mit der alten Wirrnis im Prosabegriff (Prosa als das „Prosaische") herumzuschlagen hat. S. 195. „ V e r n a c h l ä s s i g u n g d e s G e s c h m a c k s " . — L a u b e verwendet dabei merklich Gedanken und Forderungen, die ganz ähnlich begegnen in der „Einleitung" zum I. Teil der „Modemen Dichtercharaktere" (1835). Dort hatte er den Terminus „modern" zu umschreiben versucht als Gegensatz zur klassisch-romantischen Auffassung, und zwar stark an der „Schreibart" (wohl nicht nur, aber doch wesentlich Sprachstil) orientiert. Ausgehend von der Auffassung: „Die Poesie ist idealistisch, aber ihr Boden ist materiell", gelangt er über die Kritik an einer Mißachtung des Alltäglichen, vermeintlich Trivialen zu der Forderang nicht etwa eines Realismus, sondern eines Ausleseprinzips mit Hilfe des Geschmackskriteriums. Die „moderne" Schreibart und Gestaltungsweise „bringt das, was ist ^realistischer Ansatz), und hebt es in den Bereich der Poesie (Abschwenken in Richtung des „poetischen" Realismus) — die Geschmacksfrage bildet . . . das Hauptmoment: was von dem Wirklichen, Daseienden in passenden Verhältnissen passend (!) auszuwählen sei" (Rückwendung in das Ausleseprinzip). Nebenbei sei vermerkt, daß die Titelwähl der von W. Arent im Natural, herausgegebenen Sammlung „Moderne Dichtercharaktere" (1885) dem Vorbild H. Laubes folgte, der schon ein halbes Jh. vorher „Moderne Dichtercharaktere" demonstrieren wollte. Ähnlich entwarf bekanntlich K . Gutzkow weit vor G. Hauptmann einen „Hamlet in Wittenberg". 3S

M a r k w a r d t . Poetik IV

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Was Laube betrifft, so propagiert er unter den Jungdeutschen besonders das „modern"; vgl. auch „Moderne Charakteristiken" (1835). S. 197. Theodor Mündt. — O t t o D r a e g e r : Th. Mündt und seine Beziehungen zum Jungen Deutschland, Diss. Marburg 1908/09. — W a l t e r P r i n z : Th. Mündt als Literarhistoriker, Diss. Halle 1912. — W a l t e r G r u p e : Mündts und Kühnes Verhältnis zu Hegel und seinen Gegnern, Hermaea X X (1928, Diss. Halle). —• H a n n a Q u a d f a s e l : Mündts literarische Kritik und die Prinzipien seiner Ästhetik, Diss. Heidelberg 1932. S. 198. H e g e i s c h e P h i l o s o p h i e . — Mündts Stellung dazu, vgl. besonders W. G r u p e a. a. O. (1928), aber auch W. D i e t z e a. a. 0. (1957). S. 198. A b w e h r der T e n d e n z in der „ Ä s t h e t i k " . — Teilweise war diese Abwehr zwar von der Rücksicht auf die Zensur bedingt, s. u.; Einleitung und Ausführung widersprechen sich ζ. T.; Literatur hat gewöhnlich eine Sonderstellung (zeitnäher). Trotzdem ergibt sich ein schiefes Bild der Gesamttendenz der „Ästhetik" Mündts, wenn man sie nur unter die Leitgedanken: Die „ideelle Construction der Zukunft" und der Dichter als Prophet unterordnet, wie das geschieht bei G. B l i e m e l a. a. O. (1955) S. 127. Das beigebrachte Zitat berücksichtigt nur die Position der „Einleitung" (Mündts „Ästhetik", S. 19). Die dort angestrebte „erfüllte Wirklichkeit" bleibt eben nur in der ästhetischen Schicht. Es klingt deutlich der ältere Gedanke der Jungdeutschen an, daß nur die Kunst und besonders die Literatur eine Zufluchtsstätte sei, ein Refugium für die in der äußeren Wirklichkeit noch nicht erfüllbaren, realisierbaren Fortschritts· und Zukunftsideen. Die „Sphäre der Kunst" ist der Bereich der „berechtigten und erfüllten Wirklichkeit, die wir in der Form des Kunstwerks zu konstruieren (!) haben werden". Es bleibt bei dem nur konzipierten und konstruierten Wirklichkeits-Ersatz ästhetischer Illusion, und selbst dieser erscheint Mündt in seiner „Ästhetik" schon einigermaßen lästig. Jedenfalls wird in der „Ästhetik" eine Schwenkung von dem sehr interessierten Wohlgefallen der Jungdeutschen zum interesselosen Wohlgefallen Kants spürbar, letztlich ähnlich wie bei H. Heine, wenn der teilweise Abschied auch schwerfällt von dem, „was in allen unsern heutigen Lebenszuständen uns nottut".

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Als Einzelbeleg dagegen konnte G. Bliemel die betreffende Stelle mit Recht einbeziehen. S. 205. M o d e r n e s D r a m a . — Z u r Dramentheorie, vgl. Th. Mündts „Dramaturgie oder Theorie und Geschichte der dramatischen Kunst", Bd. I/II, Berlin 1848; auch sie vertritt nicht mehr den ausgeprägt jungdeutschen Standpunkt und übernimmt manches aus der Gattungstheorie der „Ästhetik". — Das moderne Drama findet schon deshalb in der Gegenwart keine günstigen Voraussetzungen, weil die Vorbedingungen zur vollen Entfaltung des Dramatischen fehlen (latenter politischer Vorstoß), nämlich großzügige, freie Verhältnisse, vgl. a. a. Ο. I, S. 4. S. 207. Georg Büchner. — G. Büchners Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von F r . B e r g e m a n n , Leipzig (Insel) 1922. — G. Büchners Werke und Briefe, Leipzig 1952. — H a n s W i n k l e r : G. Büchners „ W o y z e c k " , Diss. Greifswald 1925. — H a n s M a y e r : Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin 1954; dort S. 143 f.: „ G . Büchners ästhetische Anschauungen". — R u d o l f M a j u t : Studien um Büchner, Berlin 1932 (Germ. Studien 121). — A r t h u r P f e i f f e r : G.Büchner, Vom Wesen der Geschichte, des Dämonischen und Dramatischen, Frankfurt a. M. 1934. — J e a n S t r o h l : Lorenz Oken und G. Büchner, zwei Gestalten aus der Übergangszeit von Naturphilosophie zu Naturwissenschaft, Zürich 1936. — K a r l V i e t or (s.u.). — H a n s M a y e r : G . Büchner und seine Zeit, Wiesbaden 1946 (Lizenzausg. Berlin o. J. [1948]: Verlag Volk und Welt). — L u d w i g B ü t t n e r : G. Büchner, Revolutionär und Pessimist, Nürnberg 1948 (dort weitere Literatur, besonders betr. bibliographische Forschung: R. Majut, F. Bergemann, K . Vietor). — W i l h . L e n z : Untersuchungen zur Sprache und zum Weltbild G. Büchners. Diss. Köln 1949 (Masch.). — H. O p p e l : Die tragische Dichtung G. Büchners. Stuttgart 1951· S. 208. K a r l V i e t o r : G.Büchner, Politik—Dichtung—Wissenschaft, Bern 1949 und G. Büchner als Politiker, Bern/ Leipzig 1939, 2. Aufl. 1950. A n Exaktheit der Materialverwendung verläßlicher als H. Mayer, dem er jedoch sich angleicht in der Uberschätzung der Einmaligkeit der Wirklichkeits-Forderung Büchners (S. 115—18). Vietor betont u. a. in dem Buch von 1949 die „entschieden antibürgerliche" Gesinnung Büchners (S. 48). Entsprechend 38·

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weist er einen etwaigen Einfluß von Edm. Burke über Gentz, Α Müller, Savigny zurück (S. 50). Auch die Beziehungen auf St. Simon und dessen Schüler Enfantin und Bazard dürfen nicht überschätzt werden (S. 52 f.), da sie zu sehr im Utopischen verharrten. Beziehung zu Weidig (S. 69 f.). Über das Verhältnis von Politik und Poesie (S. 95 f.): „Als der Verschwörer ablassen muß, beginnt der Poet zu reden". Zitat der bekannten Briefstelle über die Relativität der Historie (S. 99). Vietor sieht darin einen Ansatz zur Gesinnungswandlung. Bezug auf Schopenhauer (S. 110), ohne daß Einfluß angenommen wird. Gelegentlich der Robespierre-Deutung wird auf Hegel und dessen „Philosophie der Weltgeschichte" hingewiesen (S. 132). Im Gegensatz zu H. Mayer (Aufsatz 1954) führt K. Vietor die Thesen des Kunstgesprächs in der „Lenz"-Novelle auf Lenz selber und dessen „Anmerkungen übers Theater" zurück (S. 166/67). S. 209. R e v o l u t i o n i e r e n d e B e d e u t u n g . — D i e s e Klarstellung schien angebracht, um vor allem die betreffenden Interpretationen H a n s M a y e r s in gebotenem Grade einzuschränken. Es geht dabei um die formulierte, nicht um die werkimmanente Poetik Büchners. Das sei noch einmal hervorgehoben. In seinem Buch „G. Büchner und seine Zeit", Verlag Volk und Welt o. J., und zwar in dem Kapitel „Kunst und Natur", a. a. O., S. 273—319, überschätzt H. Mayer beträchtlich die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung sowie den revolutionierenden Charakter der kunsttheoretischen Äußerungen G. Büchners. Er betont nämlich, Büchner habe eine „neue Etappe in der Geschichte der deutschen Ästhetik und deutscher Bemühungen um eine Theorie der Literatur eingeleitet" (S. 274). Wirkungsmäßig konnte das schon deshalb nicht geschehen, weil die beiden Hauptbelege (Brief und Novellenfragment) vorerst nicht der Öffentlichkeit zugänglich waren. H. Mayer übersieht diesen Umstand nicht, hält ihn jedoch für nebensächlich. Aber auch inhaltlich gingen diese Bekundungen keineswegs so revolutionär vor, wie das H. Mayer vorkommt, dem zumindesten damals noch der hinreichende Einblick in den allgemeinen Entwicklungsstand der Kunsttheorie gefehlt haben dürfte, um Büchners Meinung sachlich und ideelich gegen die anderen Meinungen richtig abzuwägen und abzuschätzen. Um 1835 war das kaum etwas Aufregendes (außer den Jungdeutschen vgl. ζ. B. den jungen R. Wagner

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1834). Und zum mindesten war das in der Gesamtentwicklung keine „neue Etappe", nun gar „in der Geschichte der deutschen Ästhetik". Zutreffender ist dagegen für die Sehweise H. Mayers die Bemerkung, daß Büchners Äußerungen „einen wichtigen Anhaltspunkt zum Verständnis (gemeint ist: für das Verständnis) der geistigen und gesellschaftlichen Problematik ihrer Zeit" biete (a. a. 0.). Worauf es H. Mayer merklich ankommt, stellt in diesem Zusammenhange der Satz klar: „Revolutionierung der künstlerischen Anschauungen einer Zeit pflegt stets etwas Entscheidendes auszusagen über politische und gesellschaftliche Umwälzung". H. Mayer folgert aber im Einzelfall Büchner recht eigentlich umgekehrt: Büchner muß auch in seinen kunsttheoretischen Bekundungen, die ja klar überprüfbar vorliegen (und auch vergleichbar mit zeitparallelen Äußerungen anderer), revolutionär gewesen sein, weil er es in seinem politischen Streben gewesen ist: „Sie (Büchners Kunstanschauung) ist ästhetisch revolutionär, gerade weil sie im Kern politisch und sozial revolutionär ist". Er hält also das sinntragende Leitwort „revolutionär" bewußt fest. Eben deshalb mußten Bedenken dagegen geltend gemacht werden. Selbst K. Vietor, sonst behutsamer, überhöht die Position Büchners (S. 117). Übrigens kann eine Kunstanschauung weniger fortschrittlich sein als eine Weltanschauung, so ζ. B. bei Heinrich Heine. Die Bezüge sind weit komplizierter, als sie H. Mayer sieht. Und in gewissem Grade ist das auch bei G. Büchner der Fall, soweit bei ihm überhaupt hinreichende Zeugnisse vorliegen. Was im fraglichen Brief an die Eltern steht, könnte auch in dem Brief eines Stürmers und Drängers stehen. Und was das Kunstgespräch im „Lenz"-Fragment betrifft, so ist es dort sogar wirklich ein Stürmer und Dränger (eben Lenz), dem gewiß nicht von ungefähr die Hauptthesen anvertraut worden sind. Sollten sie Lenz vom stets die ganze Gestalt gegenwärtig habenden Dichter (Büchner) am Ende nicht nur anvertraut, sondern auch bewußt anverwandelt worden sein ? H. Mayer macht allerdings geltend, daß Büchner mehrfach nicht in der Rolle bleibt. Gewiß, die betreffenden Stellen finden sich nicht in der stofflichen Quelle (Oberlin); sie sollen ein Eigenes mit hineinformen; aber doch kaum so, daß diese Hineinformung die Lenz-Gestalt sprengt um des Programms willen. So verfahren höchstens künstlerisch unzulängliche Tendenz-Schriftsteller. Nach alledem müssen Thesen zurückgewiesen werden wie diese: „Nicht weniger

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nämlich stellen sie (Büchners Kunstansichten) dar als die entschiedenste und klarste, die erste (?) wirkliche Gegenthese zur Kunstlehre des deutschen Klassizismus" (ist Klassik gemeint?). Richtiger ist schon, daß sich Büchner sowohl scharf abhebt von der Ästhetik Kants oder auch der Hegels. Aber das taten damals viele, die politisch nicht entfernt so weit reichten wie G. Büchner. (Mit dem „Ersten" sollte man nicht nur in der Wirtschaft vorsichtig sein, sondern auch in der Wissenschaft, vollends in der Kunstwissenschaft und Kunstphilosophie). Grundsätzlich kann dagegen gerade von der Poetik her, und zwar einer das Kunstwollen betonenden Literaturphilosophie aus lebhaft das begrüßt werden, was H. Mayer a. a. 0., S. 295 zu Beginn des Kapitels „Romantisch-ironisches Zwischenspiel" über das Verhältnis von Theoretisieren und Produzieren ausführt (freilich wieder etwas temperamentvoll ins Extreme geratend). S. 210. A u c h ein S t ü r m e r u n d D r ä n g e r . — In seinem Aufsatz über „G. Büchners ästhetische Anschauungen" in: Studien zur deutschen Literatur-Geschichte o. J. (1954) S. 143—70 hat H. M a y e r gegenüber den sensationellen Behauptungen in seinem Büchner-Buch (1946) einen peinlich wirkenden Rückzug antreten müssen. Ob er nun selbst inzwischen zu der Einsicht gelangt oder von dritter Seite dazu gebracht worden ist: ihm ist jetzt aufgegangen, daß das meiste Sturm und Drang einerseits und Junges Deutschland andererseits manifestiert von dem, was er dort kurzerhand zum genialen Fund Büchners deklariert und unbesehen der tieferen politischen Einsicht zugewiesen hatte. Zwar sucht er anfangs noch die „jedesmal . . . entscheidenden Äußerungen" Büchners aufrechtzuerhalten (S. 149), also das Außerordentliche und also Entscheidende. Aber das dient mehr der Einleitung eines ehrenvollen Rückzugs; ebenso die Tirade von den „großen Bekenntnisbriefen"; ebenso die nun einigermaßen deplacierte Behauptung: „Diese Ästhetik aber entspricht genau (!) der politischen und sozialen Grundkonzeption des jungen, genialischen Menschen". Genialisch ist übrigens kein besonders geachtetes Attribut, wirkt eher wie ein „typisches" Journalisten-Attribut. Georg Büchner war genial; genialisch war Hans Mayers Büchner-Buch. Die großen Klänge sind H. Mayer immer noch nicht vergangen: „berühmter Brief . . . berühmt gewordene Sätze" usw. Aber sonst sind inhaltlich beträchtliche

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Dämpfer aufgesetzt worden. Es ist Η. M. immerhin nachgerade aufgefallen, daß im Kunstgespräch Camille-Danton („Dantons Tod") keine „entschiedene" Entscheidung fällt. In Wirklichkeit lehnt hier Büchner die Extreme eines rhetorischen Idealismus und eines robusten Naturalismus gleichermaßen ab, ganz abgesehen von der Vorliebe für das Groteske und Bizarre in der erstrebten Eindruckswirkung, die ebenfalls beteiligt gewesen sein dürfte. Büchner setzt gern grelle Glanzlichter auf. Jetzt aber heißt es auf einmal: „Dieses Bekenntnis zum ästhetischen Realismus im Kampf gegen die Idealdichter war nicht neu". Mit der völlig „neuen Etappe in der Geschichte der Ästhetik" (Büchner-Buch) scheint es also nichts gewesen zu sein. Jetzt sieht sich H. Mayer zu dem freilich noch erstaunten Ausruf genötigt: „Höchst eigentümliche (!) Übereinstimmung des ästhetischen Credos (!) zwischen dem Dichter der Räuber und jenem des Danton!" (S. 156). Das „höchst eigentümlich" läßt die Enttäuschung nachzittern darüber, daß publizistisches Temperament etwas anderes ist als wissenschaftliche Gediegenheit und Verläßlichkeit. Irgendwie aber gilt es, die Blöße zu decken. Da gibt es nun den schützenden Schild der Politik. Deshalb koppelt H. Mayer das Zugeständnis, „daß G. Büchners ästhetische Anschauungen, schaut man in die Vergangenheit (das hätte schon 1946 geschehen sollen), überraschende (!) Ähnlichkeiten aufweisen mit der Kunstauffassung des Sturm und Drang . . ." mit dem Respekt fordernden Hinweis darauf, daß sie „in den wesentlichen Zügen übereinstimmen mit der Ästhetik eines Karl Marx und Fr. Engels" (S. 158). Soviel sucht jedenfalls H. Mayer aus den Trümmern einst so stolzer Luftschlösser zu retten, daß es sich bei Büchner um einen „plebejisch-demokratischen Realismus" handle (S. 161). Es bleibt aber die Frage, ob sich das vom Kunstschaffen (bes. „Woyzeck") so ohne weiteres auf die formulierte Poetik (bes. Privatbrief) übertragen läßt. Denn es geht hier doch wohl um G. Büchners „ästhetische Anschauungen". Gewiß ergänzen sich für Büchner Realismus und Humanismus; aber liegt darin wirklich ein unverwechselbar und unaustauschbar Eigenes, das damals nur Büchner (wohlverstanden der Kunsttheoretiker) aufzuweisen hat ? Es wäre dankenswert gewesen, wenn H. Mayer den Platz, den er nun bloßen allgemein-politischen Betrachtungen und Büchners politischer Sonderstellung innerhalb des Jungen Deutschland (schon genauer bei K. Vietor)

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EXKURSE UND ANMERKUNGEN

einräumt (S. 143—47 und 161—70), zur exakten Erörterung der strittigen Probleme genutzt hätte. S. 214. D e k a d e n z , d i e e i n e u n d d i e a n d e r e S e i t e . — G e m e i n t sind Hans Mayer (1946) einerseits und Ludwig Büttner (1948) andererseits. L u d w i g B ü t t n e r a. a. 0. gibt wohl den „Revolutionär" zu, deutet ihn aber zugleich als „Pessimisten" (vgl. den Titelzusatz). Er kennt schon die näher gewürdigte Sonderarbeit von Hans Mayer, die er erwähnt, ohne sie dort ausdrücklich zu nennen, wo er merklich gegen sie polemisiert. So ζ. B. glaubt er über „Dantons Tod" (im Gegensatz zu H. Mayer) behaupten zu können: „Das Drama ist ohne politische Tendenz und ohne Propaganda für sozialistische Ziele" (S. 73). Wenn er S. 75 gegen Karl Marx polemisiert, so vergißt er im Eifer des Gefechts, daß Marx erst 1818 geboren worden ist, also hier ernstlich noch nicht in Betracht kam. Noch deutlicher wird die Polemik gegen H. Mayer ζ. B. auf S. 95: „Eine derartige Deutung verwechselt immer den Politiker und den Dichter Büchner und erblickt in der Dichtung nichts anderes als den Ausdruck des sozialistischen Revolutionärs und Verfassers des Hessischen Landboten". Diesen Dichter nun deutet L. Büttner ganz zur Dekadenz hinüber, was nicht überrascht, wenn das „Nachwort" eine größere Arbeit „Büchner und das 19. Jh." verheißt, wobei der „tragische Pessimismus" sowie das „Problem der Dekadenz" im Vordergrunde stehen sollen. L. Büttner ist nicht von ungefähr tief beeindruckt von der Greifswalder Diss, von H. Winkler über den „Woyzeck" (1925); die aber lag im Strahlungsbogen des Expressionismus. Ob jedoch mit einer solchen Anknüpfung G. Büchner sehr gedient sein kann, muß fraglich bleiben. L. B. hofft mit dem sog. „Pantragismus" Grabbe/Hebbel weiter zu kommen. Offensichtlich interessiert ihn besonders das Phänomen des genialen Menschen (S. 101), und Büchner läuft unter seinen Händen Gefahr, zum aufschlußreichen Versuchsobjekt für die Ermittlung der typischen Merkmale des Genies zu werden. Wenn er meint, Woyzeck sei für den Doktor „nur Material und Objekt, ein .interessanter Kasus'. An ihm versucht e r . . ." usw., so ist man versucht, diese Kritik auf das Verhältnis Büttner/Büchner sinngemäß zu übertragen. Das Tragikomische an dieser Büchner-Diskussion liegt nicht zuletzt darin, daß Hans Mayer, weil er die exakte Werkanalyse scheut oder doch versäumt, mit seiner Danton-Deutung erstaunlich willig dem Ansatzpunkt

III. ANMERKUNGEN

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Büttners entgegenkommt. Robespierre ist aber keineswegs gleichsam nur zweite Garnitur für Büchner, dem von der „Gesellschaft für Menschenrechte" die Thesen Robespierres viel zu fest im Ohr saßen, als daß seine ganze Sympathie nur Danton gehören könnte. H. Mayer hat, so gesehen, nicht verstanden, seine Chancen zu nutzen. Aber es kann hier nicht die Aufgabe sein, ihn gegen ihn selber zu schützen. Was L. Büttner betrifft, so geht er allzu ästhetisierend vor und für das Kunsttheoretische, das H. Mayer zwar überschätzt, aber keineswegs übergeht, hat er kaum einen Seitenblick übrig. S. 217. Georg Herwegh. — Herweghs Werke in drei Teilen, hrsg. von H e r m a n n T a r d e l (Bong), besonders 2. Teil. — Der Freiheit eine Gasse (Auswahl), hrsg. von B r u n o K a i s e r , Berlin 1948. — Aus Herweghs Nachlaß, hrsg. von V . F l e u r y , Lausanne 1911. — Neben älteren Monographien (V. Fleury 1 9 1 1 ; A . Belli 1914 und dem umfangreichen „Lebensbild" von H. Tardel in der genannten Ausgabe) auch B. K a i s e r : G. Herweghs Exil in der Schweiz, a . a . O . (1948), S. 7—82. — R. K a y s e r : G. Herweghs Shakespeare-Auffassung, in: Germ. Quart. 20 (1947), S. 231—38. — H e i n z S t o l t e : Drei Dichter von 1848. Hoffmann von Fallersleben, Herwegh, Freiligrath; Rudolstadt 1948. — Da verhältnismäßig wenig an Sonderliteratur über Herwegh vorliegt, ist er hier eingehender gewürdigt worden. S. 219. H e r w e g h s V o r b i l d ( V o r b i l d - P o e t i k ) . — K . H e n s o l d : Herweghs deutsche Vorbilder, Diss. München 1916. S. 219. „ D a s L i e d P r ü f s t e i n f ü r L y r i k e r " . — Diese ausdrückliche, auch theoretische und programmatische Zurückführung auf die liedhafte Lyrik ist in der Gesamtentwicklung der Theorie der Lyrik bedeutsam und tritt mit diesem Nachdruck und bei gleichzeitiger Abwehr von Reflexions-Eintrübungen in einem solchen Grade und einer derartigen Konzentration auf das wesentlich Lyrische erst wieder bei Th. Storm zutage, vgl. W a l t e r B e i s s e n h i r t z : Th. Storms Theorie der reinen Lyrik, Diss. Marburg 1932. Es sei daran erinnert, daß der ganz frühe und wieder der ganz späte Th. Fontane Herwegh als Lyriker geschätzt hat. S. 220. „ G e d i c h t e e i n e s L e b e n d i g e n " . — E . B a l d i n g e r : Herwegh, die Gedankenwelt der „Gedichte eines Lebendigen" (1917).

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S. 224. Ü b e r K a r l B e c k . — S . L i p t z i n : Herweghund Karl Beck, in: The Germanic Review 2 (1927). S. 227. K e r n f r a g e : w e r t v o l l e Z e i t d i c h t u n g . — Die Vorrede von 1845, von der „Verlagshandlung" gezeichnet, aber offenbar für Herwegh bezeichnend, und wenn nicht von ihm verfaßt, so doch gutgeheißen, meinte: „ E s zeugt von einer beschränkten, einseitigen Auffassung des Wesens der Poesie, wenn man die Behauptung aufstellen will, daß die politischen Zustände, die Zustände des sozialen Lebens zum Gegenstande der Dichtkunst nicht geeignet seien!" (a. a. 0 . II, S. 16). So weit wie damals R . Prutz mit seiner glatten Unterordnung des Ästhetischen unter das Politische ging man immerhin angesichts der Formbewertung G. Herweghs nicht. S. 231. „ D e s t o s t r e n g e r . . . d i e Ä s t h e t i k " . — E s darf darauf hingewiesen werden, daß sich G. Herwegh mit dieser optimistischen Meinung scharf abhebt von dem skeptischen Zweifel, ja der unverhohlenen Befürchtung H. Heines, ob bzw. daß der politische Fortschritt schließlich zu einem künstlerischen Rückschritt führen werde, j a müsse. S. 232. Robert Prutz, „ P o s t a m e n t d e r P h i l o s o p h i e " (Ergänzung). — In der Tat erstrebte R o b e r t P r u t z (1816—72) nicht eine reinliche Scheidung von Poesie und Philosophie, sondern im Gegenteil deren innigstes und vermeintlich einträchtiges Zusammenwirken. Nicht nur Poesie und Publizistik, auch Poesie und Philosophie glaubte Prutz zusammenzwingen zu können. Im Endertrag zersplitterte er jedoch seine Kräfte. Und das Hebbelwort: „Die Hölle gab mir meine halben Talente" trifft weit eher auf R. Prutz zu. Sein weit um sich greifendes Bildungserleben entfernte ihn mehr und mehr von dem Bemühen um Originalität. Und eigentlich ist er nirgends über das Aufrichten des „Postaments" hinausgekommen, so imposant ihm auch immer diese Grundsteinlegung vorkommen mochte. Insofern trifft G. Herweghs Urteil durchaus zu. Bewertet man die politische Lyrik, die Romane und Dramen sowie den Tendenzdichter R o b e r t P r u t z , so fügt er sich ein in die Bestrebungen des Jungen Deutschland, bzw. des Vormärz, vgl. E. H o h e n s t a t t e r : Die politischen Romane von R. Prutz, Diss. München 1918. — A n t o n D i e t r i c h : R. Prutz als politischer Tendenzdichter, Diss. Wien 1928. —• Allgem. G e o r g B ü t t n e r : Robert Prutz,

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ein Beitrag zu seinem Leben und Schaffen 1816—42, Diss. Leipzig 1912, gedr. Greifswald 1913. — H. N e u m a n n : R. Prutz und seine Komödien, Diss. Marburg 1913. Betrachtet man jedoch die philosophischen Hintergründe, so bewegt er sich in der Linie eines „Idealrealismus", der nicht ohne Anregungen Schellings und Hegels auskommt, vgl. K a r l - H e i n z W i e s e : Robert E. Prutz' Ästhetik und Literaturkritik, Halle 1934. Wenn auch K.-H. Wiese Robert Prutz allzu sehr auf Hegel zurückzuführen bestrebt ist, so kann doch Prutz, der zugleich Dichter zu sein glaubt, zunächst einmal als Jung-Hegelianer gelten. Denn schon in seiner Terminologie verleugnet er nicht den Meister Hegel. Aber er versucht Hegel weiterzuentwickeln im Sinne eines ausgeprägten „Realidealismus" als Sonderform des objektiven Idealismus. Er versucht zu vermitteln zwischen Theorie und Praxis, indem er der „Entwicklung" zur Freiheit die Entwicklung zur Schönheit beiordnet. Er stützt sich dabei merklich auf die Geschichtsphilosophie Hegels, andererseits aber auf Schillers Schönheitsbegriff: „Geschichte überhaupt ist Entwicklung des Geistes als des Absoluten (Hegel); dieses Absolute selbst aber tritt in doppelter Form auf: einmal in Form der Freiheit, wo es den Staat und die politische Geschichte — und zweitens in Form der Schönheit (Schiller), wo es die Kunst, insbesondere die schöne Literatur und die Literaturgeschichte gibt". Neben Schiller und Hegel darf jedoch die Einwirkung Schellings nicht unterschätzt werden. Zugleich gerät Prutz in den verwirrenden Strudel von Philosophie und Politik. Er möchte politisch etwas bewirken und zugleich doch künstlerisch bewertet sein. Und alles „Umschlagen" der Dialektik endet zuletzt beim „poetischen Umschlag" des Poetischen ins Politische. Es ist rührend (bis erschütternd) zu beobachten, welche Verrenkungen Prutz vollführt, um das Verhältnis von Poesie und Politik „irgendwie" philosophisch-spekulativ einzurenken. Eben dagegen wandte sich G. Herwegh mit den oben zitierten Bedenken. Immerhin treffen sie nicht für den ganzen R. Prutz zu. Politik blieb der „innerste Lebensnerv"; aber stets hat Poesie für das blühende Fleisch des künstlerisch Organischen zu sorgen, wenn anders Tendenzpoesie wirklich echte Poesie bleiben will. Man ertappt sogar auch R. Prutz u n t e r den Z a h l r e i c h e n , die v ö l l i g v o n T e n d e n z b e f a n g e n , d o c h n i c h t s v o n T e n d e n z zu w i s s e n v o r g e b e n : „Doch sicher (?) sind der Dichtung

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heil'ge Grenzen / Und ich weiß nichts (?) von Dogmen und Tendenzen". Nur gut, daß dieser gewiß subjektiv ehrliche Spruch, der zugleich die ganze nackte Nüchternheit von Prutz' „Dichtung" enthüllt, sich nur in einem „Märchen" findet. Es ist fast so märchenhaft wie bei Gottfried Keller die Konzeption eines hochpoetischen Parteimanifests. Und das Abrücken von der Tendenz wirkt fast so forciert wie in Heines „ A t t a Troll", nur daß Prutz vor der politischen Lyrik der 40 er Jahre stand, deren echter Begeisterung schwerer zu widerstehen war. Mochte Prutz auch prinzipiell der „Tendenziosität" des Jungen Deutschland widerstreben; er selber stand mitten in ihr, so daß er eher zum Dispens geneigt als zur Distanz befähigt war. Zum mindesten als Dichter spricht er insofern von Tugenden, die er nicht aufzuweisen hat. Und die Theorie gerät vielfach eindeutig in Widerstreit mit der eigenen Praxis, wobei es schwer ist, die Grenze von bewußter Täuschung und unbewußter Selbsttäuschung überall auch nur einigermaßen gerecht zu ziehen. Prutz predigt zwar mit Hegel den „Fortschritt in der Freiheit", kommt aber selber nicht frei von vermeintlich fortschrittlichen Tendenzen. Kurz, er übersetzte das Philosophische ebenso unbefangen ins Politische, wie er das Politische ins Poetische umsetzte. Der Fall Robert Prutz liegt im Grunde ganz einfach. Kompliziert erscheint er nur dadurch, daß Prutz angesehene Philosophen und Ästhetiker zur Tarnung gebrauchte, so vor allem Schelling und Hegel, zum mindesten in der leicht abzulesenden und abzulernenden Terminologie. Was besagt es denn schon, daß er beim abgeschlossenen „ K r e i s " Hegels nicht haltmachte, sondern von „ewigen endlosen Kreisen" einigermaßen konfus sprach, wenn er nicht einmal zur Vorstellung einer Entwicklungsspirale (K. Lamprecht) vorstieß. Was besagt es denn schon, wenn er ein künstlerisch Organisches forderte, wenn er doch immer ein politisch Organisiertes zutage förderte. Was besagt es denn schon, daß er eine „historische Kritik" propagierte, wenn er selber eine bloße Gegenwarts-Kritik demonstrierte. Immerhin sei zugestanden, daß sich Prutz als Kritiker und Theoretiker der Kritik subjektiv ehrlich um ein historisches Verstehen bemüht hat. Aber dazu hat ihm Herder mindestens ebenso stark verholfen wie Hegel. Und der Punkt, um den sich zuletzt alles drehte, war „Die politische Poesie der Deutschen" (1845). Aufgabe aber der „politischen Poesie" war es, sich der jeweiligen „Ereignisse des öffentlichen Lebens, . . . der

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politischen Zustände'' usw. z u , .bemächtigen". Das war ganz gewiß jungdeutsch, zeitweise verstärkt durch die Impulse des Vormärz. Die Abweichung von Schelling und Hegel wird ζ. B. auch in seiner Auffassung des Tragischen deutlich. Prutz, der nicht im philosophischen Raum frei konstruieren konnte, sondern als literarischer Kritiker mehr mit dem Einzelkunstwerk zu operieren hatte als die mehr oder minder frei schwebenden Kunstphilosophen, glaubte ohne Schuldbegriff nicht auskommen zu können. In diesem Sinne bezeichnet er ζ. B. Hebbels „Agnes Bernauer"-Drama als nur „traurig", nicht aber „tragisch" und begründet allgemein: „ D e r tragische Held darf nicht bloß leiden, er muß auch handeln, ja noch mehr, er darf nicht bloß Unrecht leiden, sondern er muß, eben um tragisch zu werden, auch Unrecht t u n " . Damit vollzieht Prutz die Wendung ins EthischMoralische, die, kunstphilosophisch gesehen, eine Rückentwicklung war, die aber doch die „reine" Ästhetik daran erinnern sollte, daß sich eng im Räume die „Sachen" stoßen. S. 238. Friedrich von Sallet. — Sämtliche Werke, hrsg. von T h . P a u r , 5 Bde. 1845—48. — O t t o H u n d e r t m a r k : Fr. v. Sallet, ein Dichterphilosoph. Diss. Würzburg 1916. S. 242. Hoffmann von Fallersleben. — Gesammelte Werke, hrsg. von H e i n r i c h G e r s t e n b e r g . 8 Bde. 1890—93. Gerstenberg lieferte auch eine umfassende Hoffmann-Bibliographie. — H e i n z S t o l t e : Drei Dichter von 1848. Hoffmann v. F., Herwegh, Freiligrath. Rudolstadt 1948. S. 243. D a s p o l i t i s c h e W i r k u n g s r e c h t d e r P o e s i e . — Ein extremer Fall liegt bei R o b e r t P r u t z vor, der große Anstrengungen unternimmt, aus der „reinen" Ästhetik Hegelscher Observanz die Berechtigung der politischen Poesie mit aller Umständlichkeit und in allem Ernst abzuleiten und zu erweisen. Der Mitarbeiter an den Hallischen Jahrbüchern und spätere Herausgeber des „Deutschen Museums" (1851—67) war nicht zufällig Verfasser einer Schrift „Die -politische Poesie der Deutschen" (1845). Besonders in den 40 er Jahren ging er auch als literarischer Kritiker so weit, daß er prinzipiell die Poesie der Politik unterstellte. Wertkriterium war damals für R. Prutz nicht der ästhetische Wert, sondern die politische Wirkung, so ζ. B . im „Göttinger Dichterbund" (1841). Er betont 1847, daß „die besondere Gabe des poetischen Vermögens nur ein untergeordnetes Moment" sei, verglichen mit der aktiven po-

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litischen Wirksamkeit. Entscheidend bleibt vielmehr, daß der Dichter zum Organ seiner Zeit und zum Träger des Geistes seines Jahrhunderts sich qualifiziere. R. Prutz, der nach 1848 vor allem als politischer Romanschriftsteller hervortrat, schrieb in seiner Frühzeit neben historischen Tragödien auch Literaturkomödien, darunter „Die politische Wochenstube" (1845). Seine Lyrik ist ganz überwiegend rhetorisch. S. 245. S o n d e r f o r s c h u n g , Z e i t - L y r i k . — Unveröffentlichtes Material verarbeitet H i l d e g a r d B e h r : Die Zeitlyrik Fr. Rückerts 1848—66, Diss. Greifswald 1937. S. 247. Ferdinand Freiligfath. — Werke, hrsg. von J u l i u s S c h w e r i n g . 2 Bde. Berlin 1909 (Bong). — A . V o l b e r t : F . Freiligrath als politischer Dichter, Münster 1907. — M. B o l l e r t : F. Freiligrath und Gottfried Kinkel. 1916. — J. H a l l e r m a n n : Freiligraths Einfluß auf die Lyrik der Münchener Dichterschule, Diss. Münster 1 9 1 7 . — G . K l e i n : Freiligrath, eine Erscheinung aus der Stilgeschichte, Diss. Zürich 1919. — H e i n z S t o l t e : Drei Dichter von 1848, Hoffmann von Fallersleben, Herwegh, Freiligrath. Rudolstadt 1948; feuilletonistisch, politisch unklar. Z u Stoltes Bewertungs- und Einordnungskriterien: Freiligrath ist „der K a r l May unter den deutschen Lyrikern". Karl May, über den Stolte (Jena 1936) promovierte, ist für ihn also noch nicht ganz „überwunden"! S. 248. W e s t f ä l i s c h e H e i m a t k u n s t . —• O t t o T h i n i u s hat „Ferdinand Freiligraths ausgewählte Gedichte und Briefe", Halle 1948 mit „Einführung" und „Lebensbild" herausgebracht. Die „Einführung" gibt immerhin zu bedenken, „daß einige Gedichte ins Agitatorische abgleiten und dadurch den Charakter der Flugblattdichtung erhalten". Das stimmt nun weniger mit der Tendenz zusammen, während das Temperament mehr idyllisch wirkt; dergestalt möchte man bei Thinius von einer idyllisch gedämpften Fortschrittlichkeit mit Rücktrittbremse sprechen. Dazu gehört etwa die hängengebliebene Wendung von den „erbbiologischen Grundlagen" (angeblich vom Vater ererbtes Gerechtigkeitsgefühl S. 12). Zu dem Idyllischen gehört der Umstand, daß beim Dichter des „Löwenritts" ausgerechnet ein Unfall beim Aufspringen auf die Pferdebahn feierlich verzeichnet wird (S. 188) und daß in der biographischen Tabelle 1865 die silberne Hochzeit und 1867 die Verlobung

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beider Töchter und Vermählung der Ältesten ebenso feierlich verzeichnet werden. D a s ist eine Scheingründlichkeit, die ermüdet und schwerlich der merklich angestrebten Hebung des Ansehens Freiligraths dient. E t w a s mehr Genauigkeit möchte man wünschen, wo es u m die Dichtung geht. D a heißt es z . B . mit B e z u g auf Immermann: „ d u r c h die Lektüre seines .Oberhof' wurde Freiligrath mit aller Macht (!) auf das Erlebnis seiner westfälischen Heimat g e l e n k t " (S. 179). Einen „ O b e r h o f " konnte Freiligrath damals gar nicht lesen; der wurde erst später aus den betreffenden Kapiteln des „Münchhausen"-Romans zusammengestellt aus letztlich verlegerischem Interesse. Auf derselben Seite begegnet der S a t z : „ D e r Briefwechsel mit Chamisso und Schwab, denen er manchen guten R a t verdankte, wurde zwar weniger; aber statt i h r e r . . . " Otto Thinius ist hier nur ein Beispiel für viele. E s „ m u ß t e " damals schnell etwas „ h e r a u s " , und manches wurde den Verfassern auch herausgestrichen. Allgemein fällt aber in solchen Ausgaben das unverhältnismäßig starke biographische Interesse auf, das recht bürgerlich (bis kleinbürgerlich) wirkt und auch im seligen Pusselkram solider Häuslichkeit so gar nicht z u den großen politischen Leitlinien sich fügen will. Nicht immer ist das jeweils „ N e u e s t e " auch das wissenschaftlich Fortschrittlichste. S. 253. Georg Weerth. — Georg Weerth, Sämtliche Werke, 5 B d e . hrsg. von B r u n o K a i s e r , Berlin 1956. — K n a p p e Überblicke bieten: H o r s t B u n k e : G. Weerth, ein Überblick über sein Leben und Wirken, Berlin 1956. — H a r r y P r o s s : R o m a n t i k und Revolution. G. Weerth, der erste Arbeiterdichter . . . I n : D t . Rundschau 82 (1956), S. 7 5 5 — 6 1 . — M a r i a n n e L a n g e : G. Weerth, der erste und bedeutendste Dichter des deutschen Proletariats, Berlin 1957. Der Zusatztitel übernimmt eine spätere Bemerkung (1883) Friedr. Engels'; vgl. K a r l M a r x und F r i e d r . E n g e l s : Über K u n s t und Literatur, Berlin 1948, S. 410. Bei der Einschätzung der literarischen Leistung ist z u berücksichtigen, daß G. Weerth nicht einmal das 35. Lebensjahr erreicht hat. S. 254. H u m o r i s t i s c h - s a t i r i s c h e s T e m p e r a m e n t . — Ergänzend sei hingewiesen auf die „Humoristischen Skizzen aus dem deutschen Handelsleben", Zwischenformen von Satire und Humoreske, kurze Inhaltsangabe bei M. Lange a. a. 0 . , S. 4of.

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S. 254. R e i n e K a m p f l i e d e r . — In die Motiv-Geschichte des Weber-Aufstandes (1844) gehört das Gedicht „Sie saßen auf den Bänken" (I, S. 204), das den mittelbaren Reflex der „schlesischen Weberschlacht" bei den englischen Arbeitern schildert im Sinne der Solidaritätserklärung und mit einem „Glück auf, Silesia!" schließt. Überhaupt finden sich in dieser Gruppe „Lieder aus Lancashire" am ehesten noch reine Kampflieder, so etwa auch das Gedicht „Der Kanonengießer", das den Undank des Vaterlandes ähnlich anprangert wie Chamissos soziale Ballade „Der Invalid' im Irrenhaus"; nur daß es nicht um den Soldaten, sondern den Rüstungsarbeiter geht. Die grollende Schluß-Drohung erinnert an Freiligraths „ V o n unten auf". S. 255. V o r b i l d H e i n e s . — Das gilt nicht nur von der Lyrik, auch von der Publizistik. So etwa liegt ein Vergleich nahe zwischen Heines „Englischen Fragmenten" und G. Weerths „Skizzen aus dem sozialen und politischen Leben der Briten". Kunsttheoretisch bemerkenswert erscheint die auch stilistisch beachtenswerte Skizze „Das Blumenfest der englischen Arbeiter", weil Weerth dort die ästhetischen Möglichkeiten und Bedürfnisse der Arbeiter weit positiver als etwa der späte Heine beurteilt. Entgegen der Skepsis Heines ist G. Weerth betont zuversichtlich und vertrauensvoll eingestellt : „Darin liegt denn auch der Beweis, daß der Arbeiter neben seiner politischen Entwicklung noch einen Schatz von wahrer Liebe für die Natur in seinem Herzen bewahrt hat, eine Liebe, die die Quelle aller Poesie ist und die ihn einst in den Stand setzen wird, eine frische Literatur, eine neue gewaltige Kunst durch die Welt zu führen". Weltanschaulich ist die Beschäftigung mit Hegel und Feuerbach belegt. Während ihm Hegel nicht recht zugänglich scheint, bestätigt Weerth selber die revolutionierende Einwirkung L. Feuerbachs; vgl. hierzu M. Lange a . a . O . (1957), S. 23 und 32/33. S. 257. H e r a u s b i l d u n g des T e r m i n u s „poetischer Realismus". — Kunsttheoretisch herausgebildet erst bei Otto Ludwig, besonders in Heft 4 der „Shakespeare-Studien" und insofern eine Prägung Otto Ludwigs. Die Formulierung als solche dagegen begegnet schon einmal bei S c h e l l i n g , und zwar in dessen „ V o r l e s u n g e n ü b e r d i e M e t h o d e d e s a k a d e m i s c h e n S t u d i u m s " (1802). Schelling umschreibt dort Piatons Abweisung der Poesie als eine „Polemik gegen den poetischen Realismus, eine Vorahnung der

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späteren (christlichen) Richtung des Geistes überhaupt und der Poesie insbesondere" (Werke, hrsg. von M. Schröter, München 1927, Bd. 3, S. 368). Bei Schelling untersteht der Begriff „ p . R . " seiner Identitätsvorstellung („Ineinsbildung des Realen und Idealen''). Ob O.Ludwig diese, .Vorlesungen*' gekannt hat, besonders die 14. Vorlesung, die jene Formulierung bringt, muß offen bleiben. Auf die Möglichkeit einer Vermittlung der Terminologie etwa durch Julian Schmidt ist hingewiesen worden; vgl. P a u l Merkers Ludwig-Ausgabe Bd. 2, S. 28 (Einleitung) und H. R e i n h a r d t : Die Dichtungstheorie der sogenannten Poetischen Realisten, Diss. Tübingen 1939, S. 64 (und 17). S. 257. „ P o e t i s c h e r R e a l i s m u s " . — D i e an sich ebenso arbeitstüchtige wie umsichtige Sonderuntersuchung von H e i n r i c h R e i n h a r d t : Die Dichtungstheorie der sogenannten Poetischen Realisten, Diss. Tübingen 1939 verspricht doch mehr, als sie erfüllen kann. Schon die Titelgebung verrät eine passive (bis aktive) Resistenz gegen die Epochenbezeichnung „poetischer Realismus" unter dem Eindruck (und Druck) der Konzeption Paul Kluckhohns vom „Biedermeier als literarische Epochenbezeichnung", in DVLG., Jg. 13 (1935). Auf S. 89 trifft man denn auch auf die erlösende (und doch „schulmäßig" recht gebundene) Formel: „Es erübrigt sich, Ludwigs (=Otto Ludwigs) Begriff .poetischer Realismus' als literarhistorischen Terminus zu verwenden". Daher „sogenannte", daher auch nicht „poetischer Realismus", sondern, die Epochenbezeichnung desavouierend, „poetische Realisten", daher der fortgesetzte Bezug auf den Biedermeier. Ob nun H. Reinhardt die Vorläufer oder Nachläufer des, .sogenannten'' poetischen Realismus oft nur recht obenhin betrachtet und bewertet, immer ist die erste Frage, ob das nicht womöglich überhaupt verkannte Biedermeier oder, wie H. Reinhardt (wenig klangschön) formuliert, verkappte und entsprechend erkannte „Biedermeiermenschen" seien (S. 21, 26, 50). Und warum soll schließlich dem „Barockmenschen" nicht auch (weltanschaulich irgendwie, wenn auch ζ. T. nur als Kontrast verwandt) ein „Biedermeiermensch" folgen. Menschen sind wir alle (in Gottes Hand), warum nicht auch „Biedermeiermenschen" ? — So fragt denn H. Reinhardt schulgerecht linientreu, ob nicht die Vorläufer des (nur) sogenannten poetischen Realismus Annette v. Droste-Hülshoffund Karl Immermann eigentlich und überhaupt Bieder39

M a r k w a r d t , Poetik IV

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männer oder Biederfrauen waren. Bei J. Gotthelf wird er angesichts der genialischen Konstruktionen von Wilh. Bietak und H. Pongs doch einigermaßen stutzig (S. 35/36). Stutzig wird er auch bei Fr. Th. Vischer, umso mehr als auch Paul Kluckhohn mit Vischer nicht so recht klargekommen ist. Schön wär's ja, aber weltanschaulich will es doch nicht so recht stimmen. Schön wäre es überhaupt, wenn der Biedermeier das (leider Gottes) Besondere des „sogenannten" poetischen Realismus restlos überschlucken könnte. Wenn da nur nicht die peinliche „positivistische" und peinliche „realistische" Rückversicherung wäre (besonders in der Theorie), die allenthalben den Primat des Biedermeierlichen so frappant in Frage stellte. Nun gut, W. Bietak erkennt bei der Droste das „typische Verhalten des Biedermeiermenschen" (S. 26); aber er „erkennt" es auch bei J. Gotthelf. P. Kluckhohn hat in Erwägung gezogen, daß Fr. Th. Vischer womöglich überhaupt und überall „Biedermeiermensch" sei; aber gerade betreffs der Weltanschauung will das nun ganz und gar nicht zutreffen. So hat auch der Biedermann und der „Biedermeiermensch" seinen Kummer. Zwar bei Wilh. Raabe ist das klar: er ist (mehrfach von H. Reinhardt auf kurzem Raum mit dem Kennwort seines Lehrers P. Kluckhohn willig wiederholt) ein ausgesprochener „Nachfahr des Biedermeiers" (S. 118, 119, 120). Und es wäre ganz verfehlt, ihn (W. Raabe) etwa auf den „l'art pour l'art-Standpunkt" (S. 120) festzulegen (woran sowieso niemand denkt). Aber in vielen anderen Fällen tut man (nach H. Reinhardt) doch gut, zunächst einmal das irgendwie Biedermeierliche und Biedermeiermenschliche abzuziehen, bevor man die Verwegenheit hat, womöglich auf den „sogenannten" poetischen Realismus zu beziehen. Kurz, man kann als geschulter und überzeugter Biedermann oder „Biedermeiermensch" den ver . . . (trackten) poetischen Realismus nicht so ganz entbehren, aber er liegt einem doch bedenklich im Magen. Peinlich genug, daß man vom lästigleichtsinnigen Initiator des „sogenannten" poetischen Realismus Otto Ludwig wohl oder übel (mehr übel) eingestehen muß: „Den Begriff Biedermeier als psychologische, soziologische (!) oder literarische Begriffsfestsetzung (das steht 1939 urdeutsch für Terminologie) kennt Ludwig ( = O t t o Ludwig) selbstverständlich nicht" (S. 45). Das ist höchst bedauerlich; noch bedauerlicher aber ist, daß eine an sich arbeitswillige Sonderforschung, die über den

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poetischen Realismus oder (wenn auch nur) über die „sogenannten Poetischen Realisten" handelt, das ständige Schielen nach dem Biedermeierlichen oder Biedermeiermenschlichen nicht unterlassen kann. Wenn man davon absieht (aber wer könnte das angesichts der biedermeiergerecht gebannten ständigen Seitenblicke), erfreut H. Reinhardts freilich improvisierte Zusammenfassung durch die Energie, mit der der Blick trotz aller aufgezwungenen Seitenblicke (auf den Biedermeier) sich immer wieder einstellt auf die Schnittlinie von Idealismus und Realismus, auf Gegenstands-Veranschaulichung und GegenstandsVerklärung. Bedauerlich aber bleibt, wenn man von den notwendig rudimentären Rahmenteilen des Vorher und Nachher absieht, daß H. Reinhardt auch im Kernstück seiner Untersuchung, als das er selber die Kunsttheorie Otto Ludwigs (S. 46—89) bezeichnet, so wenig Blick beweist für die Problematik des Typischen, in der 0. Ludwig fortschrittlicher war, als man vielfach zugeben will. Denn es kommt nicht darauf an, bei einem Kunsttheoretiker und Literaturtheoretiker nachzuweisen, was er von anderen hat, sondern was er für sich selber voraushat und was deshalb womöglich weiterhelfen kann. Wenn aber H. Reinhardt Dichter wie Anzengruber, Rosegger, Fritz Reuter, Klaus Groth, John Brinckman einbezieht, so rächt sich dabei die Blut- und Boden-Anpassung der Biedermeier-Konstruktion P. Kluckhohns, die schon E. Lunding mit Recht beanstandet hat, an gewisse politische Zeittendenzen. Man dürfte besser tun, die Genannten als Vorbereiter der „Heimatkunst" zu betrachten (vgl. Bd. V). Auf die Einzelergebnisse H. Reinhardts wird noch an entsprechenden Stellen mehrfach einzugehen sein. Es kommt ihm im ganzen weniger auf die allgemeine und besondere „Dichtungstheorie" an, als vielmehr auf die Kriterien der Deutung des Vorstellungskomplexes „poetischer" Realismus. Er hätte Raum für ein näheres Eingehen auf die allgemeine und spezielle „Dichtungstheorie" gewinnen können, wenn er nicht (auch bei kurzen Abschnitten) allzu großzügig in der Platzzuteilung an die „Weltanschauung" verfahren wäre. Denn diese Weltanschauungsabschnitte oder Unterabschnitte sind in der angedeuteten Weise teils biedermeierlich befangen, teils zeitgemäß eingetrübt. — Zum Realismus-Begriff vgl. auch R i c h a r d B r i n k m a n n : Wirklichkeit und Illusion, Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des

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19. Jh.s, Tübingen 1957 (Habil.-Schrift; hinsichtl. Einschränkung der Geltung des „Realismus" ähnl. Haltung wie Reinhardt). S. 260. G. W . Ft. Hegel. — Originalausgabe der Vorlesungen über die Ästhetik in: Werke, hrsg. von H. G. H o t h o , X. Abt., Bd. 1—3, 1835—38; Faksimile-Neudruck in: Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bdn., hrsg. von H e r m a n n G l o c k n e r , Band 12—14,1937—39. Sonderausgabe: Ästhetik, hrsg. von F r i e d r i c h B a s s e n g e , Berlin 1955 (AufbauVerlag) ; nach dieser wird hier zitiert. — L u d w i g F e u e r b a c h : Zur Kritik der Hegeischen Philosophie 1839, Neudrack hrsg. von W. Harich, Berlin 1955. — G. H. W e i ß e : Über das Verhältnis des Publikums zur Philosophie in dem Zeitpunkte von Hegels Abscheiden, Leipzig 1832. —• R u d o l f H a y m : Hegel und seine Zeit, Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Wert der Hegelschen Philosophie, Berlin 1857, (Neudruck wäre erwünscht, da weit wertvoller als vieles „Neuere"!). — K a r l R o s e n k r a n z : Hegel als deutscher Nationalphilosoph, Leipzig 1870. —• K. L e e s e : Die Geschichtsphilosophie Hegels, Berlin 1922. — E r n s t S i m o n : Ranke und Hegel, München und Berlin 1928. —• H e l m u t K u h n : Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel, Berlin 1931. — E r n s t B l o c h : Subjekt—Objekt, Erläuterungen zu Hegel, Berlin 1952. — K a r l L ö w i t h : Von Hegel zu Nietzsche, der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jh.s, Marx und Kierkegaard, Stuttgart 1953. — I n g r i d S c h ü ß l e r : Hegels Kritik an der dt. Literatur seiner Zeit. Diss. Freiburg 1953 (Masch.). — G e o r g L u k ä c s in: Beiträge zur Geschichte der Ästhetik, Berlin 1954, S. 97—134 (tendenziös), abgedr. auch als Einleitung zur Sonderausgabe von Hegels Ästhetik, hrsg. von Friedrich Bassenge, Berlin 1955. — J o n a s Cohn : Hegels Ästhetik, in: Zschr. für Philosophie und philosophische Kritik Bd. 120, S. 160—186. — Hegel-Abschnitt bei Ren6 W e l l e k : A History of Modern Criticism, Bd. II: The Romantic Age, 1955. Kapitel 12: The German Philosophers, S. 298—334 m. Anm. S. 428—38. S. 263. D a s D r a m a h ä l t die M i t t e . — Hegel kämpft in seiner Art gegen den „Verlust der Mitte". Das Drama ζ. B., das H. sehr hoch stellt (jedenfalls als Tragödie), steht in der ausgeglichenen Mitte zwischen der Objektivität der Epik und der Subjektivität der Lyrik. Es hebt ihren Gegensatz

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im höheren Dritten auf („aufheben" im Sinne Hegels, ausgleichen und aufbewahren zugleich). Hegel hebt hervor, daß „das Drama das Prinzip des Epos und der Lyrik in sich zusammenfaßt" (S. 1049). Die Lyrik als „Form des Innern" hat epische Elemente nur soweit einzubeziehen, wie sie eine anschauliche „Erklärung" bieten für eine „innere Situation des Gemüts". Die Subjektivität der Lyrik wird klar herausgestellt: „Hier wird sich der Mensch in seiner subjektiven Innerlichkeit selber zum Kunstwerk" (S. 1006). Das Drama nimmt nun Lyrisches und Episches in sich auf. Es soll „beide Seiten in sich zusammenhalten" (S. 1040). Schon rein äußerlich steht es seinem Umfange nach zwischen Lyrik und Epik, aber auch seinem Wesen nach. Mit dem Epos teilt es die Handlung: „Dies Substantielle (wesentlich durchgreifender Terminus), das sich an den selbständig aus sich handelnden Individuen geltend macht, ist die andere Seite des Epischen, die sich im Prinzipe (ebenfalls Terminus) der dramatischen Poesie wirksam und lebendig erweist". Was die Abgrenzung zur Lyrik betrifft, so argumentiert Hegel: „Denn das Drama zerfällt nicht in ein lyrisches Inneres dem Äußeren gegenüber, sondern stellt ein Inneres und dessen äußere Realisierung dar". In diesem Abgehobensein wird aber zugleich das Aufgehobensein des Lyrischen spürbar. Denn diese Antithese trägt bei zur Synthese, indem nun auch das epische Geschehen (Handlung) im Drama eine andere Bezogenheit erhält: „Dadurch erscheint dann das Geschehen nicht hervorgehend aus den äußeren Umständen, sondern aus dem inneren Wollen und Charakter und erhält dramatische Bedeutung nur durch den Bezug auf die subjektiven Zwecke und Leidenschaften" (S. 1040). S. 265. „ P r o s a i s c h e s " . — Hegel warnt in seiner „Ästhetik" immer wieder vor dem Abgleiten in das „Prosaische", nicht zuletzt in seiner Dramen-Theorie. Im Dritten Teil, dem „System der einzelnen Künste", behandelt im Kapitel „Die Poesie" ein Abschnitt ausdrücklich „Die poetische und prosaische Auffassung" (S. 878 f.). Die Poesie (eigentlich hier das Poetische) ist vor allem „substantieller" (allgemeiner Wertbegriff Hegels) als das „Prosaische". Was ζ. B. die Dramensprache betrifft, so hätten sich Diderot, Lessing, Goethe und Schiller (besonders in der Jugend) mehr einer „realistischen Natürlichkeit" zugewendet. „Diese Art der Natürlichkeit aber kann bei einer Überfülle bloß realer Züge leicht wieder nach einer anderen Seite ins Trockene und

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Prosaische hineingeraten . . ." (S. 1050). Mitleid gerät, zur bloßen Rührung abgeflacht, ins Prosaische: „Mit solchem Bedauern sind besonders die kleinstädtischen Weiber gleich bei der Hand", gibt Hegel leicht humorig zu bedenken (S. 1073). Denn „die wahrhaft poetische" ist von der „bloß menschlichen Rührung" scharf abzuheben. Das Schauspiel ist als „Mittelgattung" (zwischen Tragödie und Komödie) leicht der Gefahr ausgesetzt, „ins Prosaische zu geraten" (S. 1078) usw. Allgemein darf geltend gemacht werden, daß selbst Hegel nicht recht freikommt von der Vermischung des „Prosaischen" mit der „Prosa". Denn das „Prosaische" gerät unversehens hinein in den Bereich des Sprachlichen: „Die Poesie ist älter als das kunstreich ausgebildete prosaische Sprechen" (S. 879). Kurz, der Begriff der Prosa und der des „Prosaischen" geraten heillos (bis hoffnungslos) durcheinander. Was das Realistische betrifft, so scheint ihm immerhin ζ. B. das Häßliche tragbarer für die Poesie als etwa für die bildende Kunst, da in der Poesie nur eine mittelbare (Phantasie-) Anschauung statthat und die Eindrücke sich schnell ablösen. Hier konnte daher sein Schüler K. R o s e n k r a n z mit seiner „Ästhetik des Häßlichen" anknüpfen. Mehrfach stellt Hegel das „Prosaische" mit dem „Abstrakten" zusammen, dessen er sich merklich zu erwehren versucht. S. 269. H e g e l s G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . — K. L e e s e : Die Geschichtsphilosophie Hegels, Berlin 1922. Die Entwicklungsstufen der Weltgeschichte sind zugleich Entwicklungsstufen des Weltgeistes, dabei bleibt Grundprinzip der „Fortschritt des Geistes im Bewußtsein der Freiheit". Das, was Hegel mit „List der Vernunft" umschreibt, äußert sich darin, daß die große Individualität geschichtlicher Gestalten zunächst einmal glaubt, bei ihren Bestrebungen eigene Zwecke zu verfolgen, in Wirklichkeit aber höheren Zwecken und Zielen des Weltgeistes dient. So bleibt das „Bewußtsein der Freiheit" bestehen und gleichzeitig der „Fortschritt des Geistes" verbürgt. Darüber hinaus erfaßt die Entwicklung auch das Fortschreiten im Bewußtsein der Freiheit als solcher. Es geht also letztlich mehr um eine Freiheit wozu, weniger um eine Freiheit wovon. Von hier aus ergibt sich eine Annäherungsmöglichkeit der Hegeischen Deutung des Tragischen. Ein rein moralisches Maß wird für die großen historischen Gestalten abgewehrt, während es für den Durchschnitt aufrechterhalten bleibt. Die wertmehrende

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Funktion fällt mehr den „heroischen" Einzelwerkzeugen des Weltgeistes zu, die werterhaltende Funktion mehr den breiten Schichten (vgl. auch Chr. D. Grabbe; Hegel-Einfluß umstritten). Beide aber stehen im Dienste des WeltGeistes". S. 269/ „ W a l t e n d e M ä c h t e , A u f l ö s u n g der E i n s e i t i g k e i t " . 270. — Diese Faktoren müssen besonders helfen, die Tragödie zu beschreiben und das Tragische zu umschreiben. Für die Kollision „gleichberechtigter MächteundIndividuen" kann nämlich die „Vorstellung von Schuld oder Unschuld" nicht entscheidend sein. Gerade für die heroischen Gestalten und Charaktere besteht keine eigentliche Wahl des Willens, weil sie ihrem Wesen und ihrem „Pathos" (etwa ein Begriff wie später bei H. Baumgart das „Ethos") gemäß handeln müssen (S. 1086). Der Eindruck des Tragischen entsteht nun in dem „gleichen Gelten beider Mächte" sowie in der „Anschauung der affirmativen Versöhnung". Aber durch die Notwendigkeit der „Einseitigkeit" und daher Maßlosigkeit der an sich edlen und heroischen Individualbestrebung entsteht dennoch so etwas wie ein relatives Verschulden, gemessen an der überlegenen „Vernünftigkeit des Schicksals", das in der antiken Tragödie keineswegs als bloßes „Fatum" zu deuten sei. Die „höchste Gewalt" (Annäherung der philosophischen Auffangsstellung an die religiöse Auffangsstellung) kann schlechterdings nicht dulden, daß jene an sich heroischen Mächte „die Grenze ihrer Befugnis" überschreiten (S. 1088). Hegel arbeitet letztlich wie in seiner Geschichtsphilosophie mit dem Postulat der „Vernünftigkeit" auch im Tragischen, was ihm seine dialektische Methode erleichtert, jaeigentlichüberhaupt erst ermöglicht. Nicht so stark wie Schelling betont er die Schuldlosigkeit des tragischen Helden. Der Ansatz für Hebbel ist unverkennbar. Doch betont Hebbel über die Schuld der „Einseitigkeit" hinaus eine Art von Urschuld im Individuum überhaupt (Vereinzelung). S. 270. Friedrich Hebbel. — R.M. W e r n e r s c h e Hebbelausgabe, Berlin 1901—07. — Neue Hebbel-Dokumente (1913). — Bibliographie: H. W ü t s c h k e , Berlin 1910; P. M i c h e l s e n in: Hebbel-Jb. 1953, S. i n — 3 3 ; 1954, S. 93—122; 1955, S. 113—41; 1956, S. 131—43 usw. — A. K u t s c h e r : Fr. Hebbel als Kritiker des Dramas, Hebbel-Forschung I (1907). — D e r s . : Hebbel und Grabbe, München 1913. —

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tung, Frankfurt a. M. 1936. —· R. R i c h t e r : Studien über das Drama des Historismus 1850—1890, Diss. Rostock 1936. — K l a u s Z i e g l e r : Mensch und Welt in der Tragödie Fr. Hebbels, Neue Forschung 32 (1938), anregend, aber einseitig. — W. R. v a n B r a k e l l B u y s : Het ideen drama van Fr. Hebbel, Utrecht 1938. — Aus den 40 er und 50 er Jahren seien erwähnt F r a n z K o c h : Welt und Ich, Grundproblem von Hebbels Theorie des Dramas, Pr. A. d. Wiss. (1940), tendenziös-politisch. — J. M e u s e r : Hebbels Anschauungen über die deutsche Literatur der nachklassischen Zeit 1940. —• H. K i n d e r m a n n : Hebbel und das Wiener Theater seiner Zeit 1943. — K a r l A u g s t e i n : Hebbel als Denker, Berlin 1947. — K u r t May: (nach Untersuchungen über die „Nibelungen" und „Maria Magdalene", Euph. [Dichtung und Volkstum] 1941 bzw. 1943) Fr. Hebbels opus metaphysicum („Genoveva"), Euphorion 1950. —• J. D. W r i g h t : Hebbel's theory of tragic guilt and its application in „Judith" and „Agnes Bernauer", Diss. Madison 1942. — C. A u g s t e i n : Hebbel als Denker, Berlin 1947. —• L u d w i g M a r c u s e : Der Hegelianer Fr. Hebbel — gegen Hegel, in: MDU39 (I947)»S. 506—14; dazu H a n s M. W o l f f ebda. 40 (1948), S. 157—59, und L. M a r c u s e S. 159 f. — B e a t e E v e r l i n g : Der Mensch zwischen Mythos und Individualität, eine Untersuchung der tragischen Übergangssituation im Drama Fr. Hebbels, Diss. Freiburg 1948 (Masch.). — R. G r u e n t e r : Der Prosastil des jungen Hebbel, Diss. Köln 1949 (Masch.); Hebbels ästhetische Theorie des Wortes, in: Euphorion 45 (1950), S. 365—72. — P. G. G r a h a m : Hebbel on criticism and the critics, in: Germ. Rev. 26 (1951), S. 215—22. — W o l f g . L i e p e : Hebbel zwischen G. Η. Schubert und L. Feuerbach, Studien zur Entstehung seines Weltbildes, in: Dt. Vjschr. f. Litwiss. u. Geistesgesch. 26 (1952), S. 147—77. — W. W i t t k o w s k i : Der junge Hebbel, zur Entstehung und zum Wesen der Tragödie H.s, Diss. Frankfurt a. M. 1955 (Masch.). — Y o s h i t a k a K a w a s a k i : Die tragische Versöhnung bei Fr. Hebbel, in: Doitsu Bungaku (Dt. Lit.), Tokio, 14 (1955), S. 50—59. — G e r h a r d F r i c k e : Studien, 1955. — B e n n o v. W i e s e : Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, 3. Aufl. Hamburg 1955, vorher schon: Das Tragische in Hebbels Welt- und Kunstanschauung, in: Euphorion41, S . 5 9 1 — 6 5 9 . — J o a c h i m M ü l l e r : Das Weltbild Fr. Hebbels, Halle 1955 (Habil.-Schrift Jena). — K. S c h u l z - S t r e e c k : Das Komische und die Komödie

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im Weltbild und im Schaffen Fr. Hebbels. Diss. Marburg 1956 (Masch.). S. 270. A b d r ä n g e n des D r a m a t i k e r s z u m D e n k e r , G e f a h r f ü r H e b b e l . —· Der denkerisch-grüblerische Zug niederdeutschen Sinnierens in Hebbel kam dieser Gefahr entgegen. Ebenso das ζ. T. krampfhafte Bemühen des Autodidakten, den geistigen Bildungswert hervorzukehren. Daher macht zum mindesten die Terminologie Hegels unverkennbar Eindruck auf ihn. Er jongliert gern mit der Hegeischen Schulsprache, ohne ernstlich dessen Schule durchlaufen zu haben. Das teilt er mit manchem Jungdeutschen. Aber gelegentlich trifft man auf Bemerkungen Hebbels, die tiefer ins Philosophische eindringen, als das bei jenen Jungdeutschen der Fall ist, die Hegel selber gehört hatten. So ganz mit einer lässigen Handbewegung (wie G. Fricke es versucht) läßt sich das Denkerische in Hebbel als Theoretiker eben doch nicht abtun. Hebbel geht vereinzelt in der Hochschätzung des Geistigen so weit, daß er die Kunst (fast wie Thomas Mann) aus einem „reinen Verstandesbedürfnis" ableiten möchte. Der Terminus „Idee" hat geradezu etwas Bannendes für ihn. Die Poesie gilt als Ideenträger. Aber dieser denkerische Ehrgeiz, der nicht selten im denkerischen Dekorum stecken bleibt, gerät nun in Konflikt mit dem dichterischen Ehrgeiz. Das dichterische Ansehen darf nicht unter der denkerischen Aufmachung leiden. Daher wird die Echtheit und Spontaneität des schöpferischen Vorgangs, das geheimnisvolle Begnadetsein und das rauschhafte Begeistertsein, das Traumhafte, ja „Nachtwandlerische" der ersten Konzeptionsstufen unermüdlich und mit großem Nachdruck in zahlreichen kunstphilosophischen Bekundungen zur Schau gestellt. Man darf vieles davon nicht allzu wörtlich nehmen. Auch das überkompensierte Minderwertigkeitsgefühl des im niederen Stande Geborenen spielt, nicht so grotesk wie bei Grabbe zwar, aber doch merklich mit. Jedenfalls begegnet bei Hebbel deutlich eine stark romantisierende Vorstellung und Deutung des Dichtertums, die weitgehend abweicht von Hegels Polemik gegen die Romantik, gegen das Traumhafte usw. Schelling und Görres, die Hebbel als Gasthörer kennen lernte, schaffen entsprechende Voraussetzungen. S. 270. F r ü h e r e V o r s t u f e n . — B e r ü c k s i c h t i g t s c h o n b e i A r t h u r K u t s c h e r : Fr. Hebbel als Kritiker des Dramas, HebbelForschungen I (1907). Der Titel darf nicht darüber hinweg-

III. ANMERKUNGEN

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täuschen, daß sich A. Kutscher in seinem Kapitel II mit „Hebbels Verhältnis zur Ästhetik seiner Zeit" (S. 6 ff.) ebenso sachlich wie einsichtig auseinandersetzt. Nachgewiesen wird u. a. eine Beschäftigung Hebbels mit Schelling, Hegel (Münchenund Kopenhagen), Solger, Fr. Th. Vischer, A. Schopenhauer („berührt sich vielfach mit mir . . ."), der jedoch verhältnismäßig spät begegnet (1857). Scheunerts Abwehr der Beeinflussung wird abgelehnt, die vermeintliche „philosophische Originalität" Hebbels angezweifelt mit dem Resultat: „Hebbels Kritik fußt ganz auf der absoluten Philosophie und ist ohne diese undenkbar". Auch die Lektüre der bekannten Kritik Heinr. Theodor Rötschers von Goethes „Wahlverwandtschaften" (Kopenhagen) wird richtig eingeschätzt. Zuzustimmen ist seiner Warnung davor, Hebbels Behauptung von 1847, Hegel sei bei ihm von Kant verdrängt worden, allzu wörtlich zu nehmen (S. 29). In der Tat war Hegels Einfluß durch die Vermittlung Rötschers und F. Bambergers viel zu sehr verstärkt worden, um noch kurzerhand „verdrängt" werden zu können. Es ist bemerkenswert, daß der Autodidakt Hebbel wirklich an die Schriften Hegels selber herangegangen ist, wenn ihn deren Schwierigkeit in Form und Inhalt auch zeitweise zu einer kaum noch gelinden Verzweiflung bringen mußten, schien ihm doch selbst Fr. Th. Vischer „schwer verdaulich", von G. Weerths einschlägigem Seufzer ganz abgesehen. Es scheint sich eine Art von Liebeshaß zwischen Hegel— Hebbel, von Hebbel her gesehen, herausgebildet zu haben, der zwischen Anziehung und Abstoßung schwankte. Bei der Abstoßung ist Hebbels Bemühen um Selbstbehauptung, aber auch sein Drang nach Selbstgeltung gebührend einzukalkulieren. Entsprechende Schwankungen sind in der Hebbel-Forschung zu verzeichnen. S. 271. „ E i n W o r t ü b e r d a s D r a m a " . — Dieser Aufsatz, der rein kunsttheoretisch und von Polemik freier bleibt als „Mein Wort über das Drama", wird leider nicht hinreichend dort mit herangezogen, wo J o a c h i m M ü l l e r : Das Weltbild Fr. Hebbels, Halle 1955, entwirft und in Kapitel 7 „Die Kunst und das Drama" (S. 156—92) auf die Dramentheorie übergeht (S. 175). Entsprechend der Methode, gesammelte Belegstellen teils in wörtlichem Zitat, teils in möglichst wortnaher Vermittlung fast lückenlos aneinanderzureihen, hat weit mehr Fr. Hebbel das Wort als Joachim Müller, und zwar nicht selten auch dort, wo nicht

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EXKURSE UND ANMERKUNGEN

jede von Hebbel gebrauchte Wendung in Anführungsstriche gesetzt wird, so daß der nicht genau orientierte Leser häufig nicht weiß, ob sie von Hebbel oder Müller herrührt. Das ist kein besonders erwünschtes Verfahren, weil das Authentische wesentlicher Prägungen nicht zur Geltung kommt. So etwa steht das Hebbelwort vom Drama als „Lebensprozeß an sich" nicht in Anführungsstrichen (S. 176); ein in den Hebbel-Text eingeschaltetes „nun" berechtigt noch nicht zu einer nicht näher gekennzeichneten Herübernahme in den eigenen Text. Das ist nur ein herausgegriffenes Beispiel unter vielen. Mit anderen Worten: Hebbel spricht oft auch dort, wo Müller zu sprechen scheint. So wird das Zusammensetzspiel noch lückenloser in seinem Ertrag, der aber nur recht bedingt als wissenschaftlicher Ertrag gelten kann. Es ist nicht so, daß J. Müller etwas verschleiern wollte, denn auch an solchen Stellen verweist die Anm.-Nr. säuberlich auf die Stellenhinweise der Belegstellen-Tabellen („Nachweise", S. 241 f.). Aber es ist doch so, daß es ihm selber — gottlob —· peinlich ist, noch häufiger, als es jetzt schon geschieht, „anzuführen". Deshalb behilft er sich ζ. Β . auch mit Parenthesen wie „ —· so sagt der Dichter wieder einmal mit unvergleichlicher Einprägsamkeit — aber man weiß nicht recht, was Hebbel sagt, weil derartige Parenthesen vermeintlich die Anführungsstriche entbehrlich machen (S. 178). Aus Hebbels „eigenmächtiger Ausdehnung des Ichs" macht J. Müller mit wörtlichem Anklang eine „eigensüchtige und vermessene Ausdehnungssucht des Ich" (S. 176); Das kunsttheoretisch sehr bedeutsame „in der Schwebe"-Halten wird nicht als Hebbelwort markiert, ganz abgesehen davon, daß der Blick für den größeren Zusammenhang (Romantik vgl. Bd. III) fehlt; vgl. auch ein nach innen gekehrtes Handeln (S. 183/84). Man erhält auf diese Weise jedenfalls ein unklares Bild über das rein quantitative Verhältnis von Hebbels Meinungen und Müllers Meinungen. Da auch im Stifter-Weltbild J. Müllers dieselben imposanten Zahlenkolonnen im Anhang begegnen, so wird eine prinzipielle Stellungnahme erforderlich, um diesem Mißbrauch zu steuern. J. Müller zitiert nach der textkritischhistorischen Hebbel-Ausgabe. Der Hebbel-Kenner, dem diese Ausgabe zugänglich ist, glaubt J. Müller auch ohnedies, daß er nicht falsch zitiert. Die meisten der Belege sind ihm bekannt (eben deshalb erkennt er auch die nicht ausdrücklich zitierten Zitate). Den weiteren Kreisen aber ist

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wiederum jene Ausgabe nicht zugänglich. So entfalten jene Nachweise nur eine Wissenschaftlichkeit, die weniger überzeugt, als (leider nicht vorhandene) Anmerkungen getan hätten. Der Vorteil dieser Zusammensetz-Methode von direkt oder indirekt zitierten Belegstellen liegt natürlich darin, auf kurzem Raum viel Material bringen zu können. Und in diesem Sinne sind J. Müllers Mitteilungen als reiche Materialergänzung durchaus dankenswert. Aber hätte das nicht einfacher durch eine H e r a u s g e b e r a r b e i t von Hebbels Äußerungen über Kunst und Drama erreicht werden können, wobei sich für den Leser noch der Vorteil ergeben hätte, etwa in einer größeren Einleitung geschlossen die eigenen Stellungnahmen, Einschätzungen und Abschätzungen J. Müllers ungestört auf sich wirken zu lassen, die er jetzt einigermaßen mühevoll zwischen den direkten und indirekten Zitaten (Zitaten in indirekter Rede) heraussuchen muß? Die „fortlaufende Interpretation" (S. 175), die J. M. anstrebt, mag für die Würdigung von Kunstwerken (besonders Klein-Kunstwerken, besonders Lyrik) relativ berechtigt sein (solange sie nicht zu sehr isoliert), kann aber kaum fruchtbar auf kunstphilosophische und kunsttheoretische Bekundungen eines Schriftstellers übertragen werden, weil dort Fragen der Darbietungsweise (Sprachstil usw.) nicht sehr erheblich, dagegen durchgreifende Leitideen unentbehrlich sind, wenn neben dem Instruktiven der Kenntnisvermittlung das Konstruktive der Erkenntnisvermittlung nicht weitgehend verloren gehen soll. Dieses I n s t r u k t i v - P ä d a g o g i s c h e erdrückt allzuleicht das Konstruktiv-Philosophische. Gerade dort, wo ein „Weltbild" versprochen wird, wird aber die ideeliche Durchdringung nicht bei gewiß ζ. T. recht verheißungsvollen Anläufen stehen bleiben dürfen. Weit bedenklicher allerdings erscheint, daß dieses Weltbild orientiert wird an einer doch wohl zum Mißlingen verurteilten Vermittlungstendenz, mit etwa 60% Existenzphilosophie oder Lebensphilosophie und 40% Marxismus (oder umgekehrt) einen hastigen Ausgleich zu erzwingen (Stichjahr 1955). Diese peinliche Tendenz wird zwar im einschlägigen Kapitel nicht so grell sichtbar wie in anderen Teilen (etwa Kapitel 6: „Gott und das Göttliche" einerseits und Kapitel 8: „Staat, Gesellschaft, Geschichte" andererseits), aber bemerkbar ist sie auch hier. Denn nachdem J. Müller etwas allzu betont hervorgehoben hat, daß Hebbel keineswegs ein „Schüler" Hegels gewesen sei, muß das ständige Hervorkehren der „Dialektik" doppelt

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auffallen. Hebbel spricht in der Tat häufig von „Dialektik". Aber wo er es tut, dürfte allenthalben Hegel das Stichwort zum häufigen Auftreten gegeben haben. Ganz richtig erkennt G. F r i c k e , daß Hebbel von modischen Schlagwörtern allzu leicht angezogen wird. Hat Hebbel wirklich das Ziel gehabt zu demonstrieren, „wie die geschichtliche Dialektik die neue Form der Menschheit erzeugt" (J. Müller S. 181) ? Fricke bezweifelt das und meint, es handle sich nur um einigermaßen äußerlich und modisch aufgesetzte Glanzlichter, die erst nachträglich die „Idee" herausholen („Studien" 1955, S. 296). J. Müller aber manövriert die Dialektik zielstrebig auf den gesellschaftskritischen Boden hinüber (S. 182/83). Heine sei da freilich weiter als Hebbel, und zwar dank der Fühlung mit K. Marx. Auf der anderen Seite schimmert auch in diesem kunsttheoretischen Kapitel die Existenzphilosophie deutlich durch in Formulierungen wie „Seinstotalität" (S. 185) oder „Das Tragische erst gibt ihm die volle S e i n s g e w i s s h e i t , in der er sich ebenso als Abbild wie als Werkzeug Gottes erkennt" (S. 189). Dieses Dilemma der doppelten dialektischen Buchführung war schon in J. Müllers Aufsatz zum Schillerjahr über Schillers lyrische Kunst (in: „Sinn und Form") erkennbar, um nun vollends unverkennbar zu werden. Bliebe immer noch das Verdienst, recht vollständig die Belege aus Abhandlungen, Tagebüchern und Briefen zusammengestellt zu haben. Aber hier rächt sich die Mißachtung früherer Erträge der „bürgerlichen" Sekundärliteratur. Da gab es ζ. B. eine Sonderuntersuchung von A n n a S c h a p i r e - N e u r a t h : Zu Hebbels Anschauung über Kunst und künstlerisches Schaffen, in: Archiv für systematische Philosophie Bd. 13 (1907), die allerdings die R. M. Werner-Ausgabe noch nicht verwerten konnte, aber doch manches „Quellen-Studium" (was heißt das schon bei einem relativ modernen Dichter wie Hebbel ?) J. Müllers als müßig erwiesen hätte. Da gab es ferner eine aus einer Diss, hervorgegangene, aber wesentlich ausgebaute Sonderantersuchung von E m i l i e L o o s e : F r . Hebbels Anschauungen über die deutsche Literatur, Berlin und Leipzig 1928, sowie K u r t M e y s e l : H. und die ältere deutsche Literatur (Masch.-Expl., München 1922), da gab es für die Theorie der Lyrik die umfassende Arbeit des Franzosen L o u i s B r u n (auch in deutscher Übersetzung, Leipzig 1922) u. a. Aber wir vergessen, daß J. Müller bewußt ganz von vorne anfangen möchte. Es ist zudem wesentlich bequemer, als

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sich mit der älteren und daher verachteten Literatur auseinanderzusetzen. J. Müller aber vergißt, daß es schwer, ja grotesk ist, ganz von vorne anzufangen, wenn man (zum mindesten in der Zeitfolge) nun einmal ganz hinten steht. Man überspringt einfach die Vordermänner, das ist praktisch; aber ist es auch — ratsam? Auch ältere Forscher waren tüchtig und tätig, oft viel tüchtiger und gewissenhafter als die „modernen". Was machen wir mit ihnen ? Wir übergehen sie großzügig. Irgendwie sind sie ja doch „implizit" alle im Eigenen „enthalten", wenn sie auch „explizit" nicht in Erscheinung treten; vgl. d. Bemerkung „Zur Sekundärliteratur", a. a. O., S. 254, wo zugleich Mängel das Vertrauen nicht heben: A. Scheunert 1930 statt 1903 Druckfehler? Elise Dosenheimer: Das Zentralproblem in der Tragödie . . . (auch Druckfehler?, schwerlich) statt: Das zentrale Problem . . . Die ganze Untersuchung, deren Thema keine uferlosen Stoffmassen zu bewältigen hatte, macht den Eindruck einer hastigen Zusammenstellung. Ohne ihr Ziel zu erreichen, bleibt sie im Vorfeld liegen. Auch bei einem Mosaik wollen die Steinchen ausgelesen sein. J. Müller aber wird rettungslos unter ihnen begraben. „Wir sind bei der Frage der Form", tröstet er ζ. B. einmal (S. 172) sich und seinen völlig verwirrten Leser. Es wird feierlich verkündet (S. 175), daß Hebbel auch über die einzelnen Gattungen seine „eigenen Gedanken" habe. Aber die Lyrik ist vorher vertan worden, und so bleiben nur die dramatischen Formen. S. 272. E i n f l u ß S c h o p e n h a u e r s ? —• Mit dem philosophischen Werk Schopenhauers hat sich Hebbel, wie erwähnt, erst später nachweisbar beschäftigt (Wiener Zeit). Trotzdem könnten mittelbare Anregungen durchaus schon früher vorliegen (vgl. Grillparzer)'. Bei dem späten persönlichen Besuch bei Schopenhauer soll dieser skeptisch sich geäußert haben zu Hebbels zuversichtlichem Versuch in der Vorrede zu „Maria Magdalene", allzu zuversichtlich die Poesie aus der Philosophie heraus zu entwickeln. Immerhin war das eine denkwürdige Begegnung zwischen dem kunstfreudigen Philosophen und dem philosophiefreudigen Dichter. Der Hang zu einem — vorerst notgedrungen dilettantischen — Philosophieren ist Hebbel von vornherein eingeboren. Eben deshalb gewannen selbst solche Philosophen eine unüberwindliche Anziehungskraft für Hebbel, denen er seiner lückenhaften Vorbildung nach kaum gewachsen war. Zu

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ihnen dürfte neben Hegel auch Schopenhauer gehört haben. Denn gerade bei Philosophen und Philosophien entscheidet nicht allein die unmittelbare Beschäftigung, sondern — vollends für Autodidakten — auch die mittelbare Kenntnisnahme von ihren Haupttendenzen. Da jedoch Hebbel philosophischer veranlagt war als die meisten Jungdeutschen, so wußte er auch verständnisvoller das Wesentliche abzuhören selbst als diejenigen, die ζ. B. Hegel noch selber „gehört" hatten. S. 273. „ D u a l i s t i s c h e F o r m des Seins". —• Auf diesen Dualismus führt das „Tragische" bei Hebbel weitgehend zurück B e n n o v. W i e s e : Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel, 1955, S. 599: „Darin besteht der tragische Dualismus, der durch die Dramen Hebbels hindurchgeht". Wenn auch nicht in dem Grade wie G. F r i c k e , den B. v. Wiese noch nicht berücksichtigt, stellt B. v. Wiese die Dramaturgie Hebbels zurück gegenüber der Interpretation der Dramen selber, einer Interpretation, die vom religiösen Wertungswinkel aus konsequent durchgehalten wird. Andererseits legt er Wert darauf, anders als etwa K l a u s Z i e g l e r : Mensch und Welt in der Tragödie Fr. Hebbels, Berlin 1938, mit dessen „bedeutsamer Arbeit" er an sich ebenso wie J. M ü l l e r in dessen „Weltbild Fr. Hebbels" (1955) sympathisiert, nicht etwa (wie Kl. Ziegler) „unabhängig von Hebbels theoretischen Äußerungen" die Deutung nach Art einer reinen Werkinterpretation vorzunehmen. Vielmehr legt er erfreulicherweise Wert darauf, „die theoretischen Äußerungen Hebbels aus einer zur Schablone erstarrten Auslegung (wahrscheinlich polemisch gerichtet gegen A. Scheunerts Stichwort vom „Pantragismus") zu befreien und von ihrem religiösen Ursprung her zu erschließen" (a. a. 0., S. 715 Anm.). Nach dieser Ankündigung erwartet man allerdings mehr als vorliegt. Denn B. v. Wiese bringt nicht etwa Theorie und Praxis in Zusammenklang oder in Gegenüberstellung, deutet nicht etwa die Theorie von der Praxis her (etwa im Sinne der Selbstrechtfertigungspoetik) oder umgekehrt, faßt überhaupt nirgends die „theoretischen Äußerungen" zusammen, sondern begnügt sich mit gelegentlichen Einsprengungen, die, gemessen an dem Umfang der Hebbel-Kapitel (23 und 24) a. a. O., S. 591—659, notwendig als recht dürftig erscheinen müssen. Wohl aber hält B. v. Wiese zielklar und unbeirrbar seine Ausgangsposition fest, diejenigen Äuße-

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rangen zur Geltung zu bringen, die auf einen „religiösen Ursprung" zurückzuführen sind. Er geht darin nicht recht konform mit den Beiträgen zur Hebbel-Deutung W o l f g a n g L i e p e s , der sehr dankenswerte Einzelbezüge Hebbels zu G. H. Schubert (1951), zu G. H. Schubert und L. Feuerbach (DVLG, Jg. 1952) und zu Schelling (1953) herausgestellt hat und so endlich einmal daran gegangen ist, greifbare philosophische Bezüge im Weltbild Hebbels exakt zu untersuchen. Auch G. Flickes Hebbeldeutung geht im wesentlichen andere Wege. Nur J. Müllers „Weltbild" nähert sich in der religiösen Leitidee in gewisser Weise B. v. Wiese, von dem ihn freilich sein andererseits hervorgekehrter politischer Standpunkt weit entfernt. S. 273. H e g e l s Nähe. — Diese Annäherung wurde ζ. T. wesentlich verstärkt durch H e i n r i c h T h e o d o r R ö t s c h e r (1803—1871) als Kritiker und Theoretiker der Schauspielkunst. Heute gilt Rötscher vor allem als Theoretiker der Schauspielkunst durch sein Hauptwerk „Die Kunst der dramatischen Darstellung" (1841 f.). Hebbel dagegen wurde kennzeichnenderweise zunächst auf ihn aufmerksam durch die sogenannten „Abhandlungen zur Philosophie der Kunst" (1837/38). Ihn interessierte sicherlich auch der Titelzusatz „ . . . und der Kritik zum einzelnen Kunstwerk". Was ihn zunächst einmal anzog, war die Rötscher zugestandene Meisterschaft „in der Entwicklung der Ideen" aus dem einzelnen Kunstwerk. Rötscher aber war Hegelianer. Nun hat zwar die einschlägige Sonderforschung W a l t e r S c h n y d e r : Hebbel und Rötscher unter besonderer Berücksichtigung der beiderseitigen Beziehungen zu Hegel, Hebbel-Forschungen X (1923) den unmittelbaren HegelEinfluß als solchen zurückgedrängt. Aber wenn Schnyder sich mehrfach „wundert", daß Hebbel zwar theoretischformal gegen Rötscher protestiert, aber ihm in der praktischen Urteilsbildung dennoch folgt, so erklärt sich das ganz einfach aus dem stillen Respekt, den Hebbel vor der philosophischen Fundierung (in diesen Fällen durch Hegel) besitzt, ohne ihn ausdrücklich eingestehen zu wollen. Es ist immer zu berücksichtigen, daß Hebbel vor allem als Originaldenker gelten möchte und schon deshalb möglichst alle Abhängigkeiten weit von sich weist. Dazu gehört etwa auch der Protest gegen jene Kritik, die „in meiner Anschauung der Welt und der Dinge den Hegelianismus zu wittern glaubte" (an A. Rüge, 15. September 1852). Gerade 40

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dort, wo Hebbel so heftig protestiert, hat er meistens vorher profitiert. Hinzu trat die Scheidung der Geister um 1848. Rötscher sah nicht ganz mit Unrecht Nachwirkungen der Philosophie Hegels in der Revolutionsbewegung. Hebbel dagegen distanziert sich recht bald von diesen Ereignissen und damit auch von Hegel. Er hält es nun vollends für ratsam, einen klaren Trennungsstrich zu ziehen. Die Nähe Hegels war jetzt zu meiden, wo sie sich als so gefährlich „ansteckend" erwiesen hatte. Das aber ändert nichts an der überwiegend mittelbaren, ζ. T. aber selbst unmittelbaren Einwirkung Hegels auf Hebbel. Der Mittelsmann Rötscher hat nachweisbar eingewirkt auf die kritischen Werturteile Hebbels, so ζ. B. auf den Ludovico-Aufsatz (ζ. T. wörtliche Anklänge), auf die Lear-Deutung (unter Bezugnahme auf Hegel), auf die Einschätzung von Goethes „Wahlverwandtschaften" usw.; aber auch auf die Kunsttheorie, ζ. B. auf die Theorie vom historischen Drama, auf die Erörterung des Versöhnungsproblems im Drama, auf das Vorwort zu „Maria Magdalene", um hier nur einiges hervorzuheben. Wo Hebbel mehr eigene Wege ging, wie in der Abhandlung „Über den Stil des Dramas", vermißte Rötscher, dem der Artikel 1847 eingesandt wurde, sogleich die „philosophische Terminologie" (Hegels), wenn er auch das „Dialektische" anerkannte. Bemerkenswert erscheint, daß Hebbel damals „Herodes und Mariamne" in Angriff nimmt, also eines der Dramen, das Nachwirkungen Hegels aufweist. Es sind das eben doch nicht nur nachträglich und oberflächlich aufgesetzte Glanzlichter, wie G. F r i c k e meint, den offensichtlich mehr die Interpretation des Werkes als dessen geistige Umwelt interessiert (Kehrseite der Interpretationsmethode). Es spricht für Hebbels philosophischen Sinn, daß er auf der Wegsuche zwischen Hegel und Schopenhauer begegnet. Größen zweiten Grades wie Solger oder Vischer standen ihm gleichsam „fachlich" näher, entsprachen aber weniger seinem Lebensgefühl und seiner Weltdeutung durch das Dichterwort. S. 275. Der „ z w e i t e F a k t o r " . — Der Autodidakt Hebbel, keineswegs frei von überkompensierten Minderwertigkeitskomplexen, erstrebt merklich geistige Geltung neben und in der künstlerischen Leistung. K l a u s Z i e g l e r : Mensch und Welt in der Tragödie Fr. Hebbels, Neue Forschungen 32 (1938) bezeichnet dieses oft forcierte Verfahren als eine Art von Berufspolitik bzw. „Diplomatie". Er glaubt darüber

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hinaus zu beobachten, daß auch die Hebbelforschung von dieser theoretischen und abstrakten Ideelichkeit beherrscht worden sei. Es wäre also gleichsam der „zweite Faktor" zum ersten Faktor geworden. Daher vollzieht er eine volle Kehrtwendung vom Primat der Theorie zur Prävalenz der Praxis im Sinne einer reinen Werkinterpretation, die nun vom existenzialistisch-philosophischen Blickwinkel aus Hebbels Tragödien neu zu deuten sucht („Nothaftigkeit des Mensch-Welt-Verhältnisses", S. 13, „absolute Chaotik der äußeren Wirklichkeitswelt", S. 161 u. a.). Er verfährt im Prinzip ähnlich, wie in derselben „Reihe" vor ihm H. R e m p e l mit Lessings Theorie-Praxis-Verhältnis verfahren war. Man gerät so indessen von einem Extrem in das andere Extrem. Zwar hat Kl. Ziegler in Erwägung gezogen, das Wechselspiel von Theorie und Praxis selber anzupacken; aber es kommt ihm zu kompliziert oder noch nicht spruchreif vor, weil die Literatur-Wissenschaft dieses Problem vernachlässigt habe (S. 10). Hier interessiert sein Hinweis auf den zweckgebundenen, zudem widerspruchsvollen Typus des Theoretisierens Hebbels, besonders die Äußerungen einer Reihe von Hebbel-Interpreten über die oft eindeutigen Gegensätze zwischen Theorie und Praxis bei Hebbel (S.8, Anm.). Das ist jedoch nichts Ungewöhnliches in der Selbstrechtfertigungs-Poetik von schaffenden Künstlern; nur liegt der Grad bei Hebbel merklich höher als im Durchschnitt. S. 276. „ A t m o s p h ä r e der Z e i t e n " . — Recht relativ spiegelt sich die „Atmosphäre der Zeiten" in dem Aufsatz von F r a n z K o c h : Welt und Ich, das Grundproblem von Hebbels Theorie des Dramas, Abhandlung der preußischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse Nr. 4 (1940). Die Titelgebung bezieht sich auf ein Sonett Hebbels, aber die Tendenz gehört merklich dem „dritten Reich" an. Denn jenes Sonett sucht das „höchste Sein im engsten Raum", wobei das Verhältnis von Selbstbewahrung einerseits und Selbstaufgabe zugunsten der Gemeinschaft andererseits vorherrscht. Frz. Koch „deutet" entsprechend um. Der Schlußakzent sagt alles, denn ihm zufolge ist es der „germanische Schicksalsglaube und der germanische Schicksalstrotz, der in Hebbels Dichtung aus dem Blute seines nordischen Wesens wieder aufbricht" (a.a.O., S. 17). Kurz und gut, der Holsteiner Hebbel wird willkürlich und gleichsam z u 40*

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sätzlich (und zeitwillig) „aufgenordet". Um dieser Tendenz willen ist offensichtlich der kaum über Miszellen-Charakter hinausgehende Aufsatz geschrieben worden. Das nämlich ist das eigentliche „Grundproblem". Den Trost Hebbels für die Individualisten stellt gleichsam das Motto:, ,Und fürchte nicht . . . , Dich selbst und dein Ureigenstes zu verlieren/ Der Weg zu dir führt eben durch das Ganze". Daher wird ebenso kurz wie kernig behauptet, daß sich Fr. Hebbel „dazu mitten ins Geschehen selber stellt, sich nicht daraus oder darüber hält, sondern miterlebend t ä t i g e i n g r e i f t " (S. 6). Fr. Hebbel wird so als Ordnungsmacht zur Regulierung des ewig revoltierenden „Abendlandes" in Anspruch genommen. Hebbel hilft, daß dem Abendland ein Licht aufgeht, letztlich das Licht der Neu-Aufklärung, noch bevor sich der ideelle und „poetische" Realismus zum konsequenten Realismus (Naturalismus) geklärt hat. Hebbel hat dem „Abendland" einen Morgenstern zu sichern, wobei seine robuste Natur der „abendländischen Kultur" ein weniger tröstliches Schwänzchen von Oswald Spengler mit hineinzuschmuggeln hat. Unter Berufung auf Hebbels Wort von der „realisierten Philosophie" erklärt Franz Koch die Dramen Fr. Hebbels als „philosophische Dramen", übrigens wesentlich abweichend von G. Fricke, der Hebbels philosophischen Anspruch und dessen Hegel-Hegemonie nicht gar so wörtlich und feierlich nimmt. Freilich begegnen sich in diesem Betracht Franz Koch und Georg Fricke. Denn auch Franz Koch meint: „Man hat Hebbel allzusehr in Verbindung mit dem deutschen Idealismus, mit Schelling, Hegel und Solger gesehen" (S. 6). Wenn jedoch die HegelFormulierungen Hebbels, die also an sich erkannt und anerkannt werden, beiläufig als „rein formal" abgetan werden, so berühren sich an dieser Stelle eigenartig genug Frz. Koch und Joachim Müller. Franz Koch aber hält es — alle Soziologie hin und her — vor allem mit der Biologie. Das Lebensrecht des Individuums ist bestenfalls immer bezogen auf das „Ganze" der (völkischen) Gemeinschaft, und „das heißt biologisch gesehen" (S. 7). Fr. Hebbel ist für Frz. Koch gar nicht einmal so uneben (unbrauchbar); aber er hat manches „freilich erst nur geahnt, noch nicht ganz klar erkannt" (wie nun 1940 Frz. Koch). Das erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß sich Fr. Hebbel einer peinlichen „Vermischung biologischen und idealistischen Denkens" schuldig gemacht habe (S. 8). Selbst der (von O. Ludwig energischer in Angriff genommene) „Idee"-Begriff sei für Fr. Hebbel nur mehr

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ein „Stiefkind des Idealismus". Kurz, Frz. Koch bringt die längst landläufigen Hauptsätze der Dramaturgie Fr. Hebbels; aber sie werden, so gut oder übel es gehen will, von ihm ins Biologische umgebogen. Und der ideelle Realismus gerät unter den Händen von Frz. Koch betrüblich in den konsequenten Realismus (Naturalismus) hinein. Darüber kann kaum der Trost hinweghelfen, daß Fr. Hebbel „die Aufgabe des Dramatikers neu zur Erörterung" stellte (S. 10). Kein Wunder, daß ihn die „Agnes Bernauer" besonders interessiert, die bereits Elis. Dosenheimer einigermaßen in Verlegenheit brachte. Selbst Frz. Koch gerät angesichts dieser Tragödie Hebbels in eine kaum noch zu verbergende Verlegenheit, tröstet sich indessen damit, daß es auch noch so etwas gäbe wie die „Idee einer metaphysischen Tragik" (S. 12). Ganz so robust wie weiland Robert Prutz, der in der „Agnes Bernauer" kurzerhand alle echte Tragik ableugnete (weil es an hinreichender „Schuld" fehle), geht also Frz. Koch immerhin nicht vor. Aber einigen Kummer hat ihm die Agnes gemacht, fast so viel Kummer wie dem Herzog Ernst. Er sucht Zuflucht bei Wilh. v. Scholz, der die „Agnes Bernauer" bereits bündig als „Tragödie des Fürsten" gekennzeichnet habe, die höher steht als die bloße „Schönheits-Idee"-Tragik. S. 284. G e h a l t und G e s t a l t , F o r m p f l e g e . — Besonders zugespitzt erscheint das Wertverhältnis und das Problem der Formpflege angesichts des Sonetts; vgl. A l f r e d M o h r h e n n : Fr. Hebbels Sonette, Hebbel-Forschungen X I (1923). Schon Joh. Heinrich Voß hatte in den „Kritischen Blättern" (1828) die Frage aufgeworfen: „Ob wohl dem Sonett einer so hell auf den Grund sehen mag, daß, wäre es nicht erfunden, er selbst es zu erfinden und mit unwiderstehlicher Lebenskraft zu beseelen, sich zutraut?" A. Mohrhenn interessiert besonders der Zwiespalt zwischen „Starrheit der überlieferten Form und der Eigengesetzlichkeit der dichterischen Persönlichkeit" (S. 22). Hebbel besitzt einen merklichen Ehrgeiz, sich auch schwierige Formen frühzeitig zu erobern. Theoretisch — das dürfte A. Mohrhenn ein wenig übersehen — spricht er dabei recht streng von Tugenden, die er selber kaum besitzt. Hebbel war kein Platen, und die Petrarca-Tradition war bei ihm schwerlich gesichert. Die strenge Forderung (von 1844) geht dahin, daß nur „Pfuscher" glauben, sich angesichts der Schwierigkeit gewisser lyrischer Sonderformen, so etwa des Sonetts,

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eher Freiheiten erlauben zu dürfen als etwa in der liedhaften Form. Das aber sei ein Irrtum; denn gerade im Bewältigen schwieriger Formen müsse sich die souveräne kunsttechnische Leichtigkeit bewähren. In diesen Zusammenhang gehört auch das Gedicht „Die poetische Licenz", wo die Forderung begegnet: „Doch das Sonett muß rein erklingen"; es bedürfe des Meisters, „das Wort vierfach und dreifach zu verflechten" (Anspielung auf die Kombination von Quartett und Terzett im Sonett). Form und Inhalt, Gehalt und Gestalt müssen sich im Sonett zur Eintracht finden: „Denn Beides wächst aus einem Keime" (a. a. 0., S. 97/98). S. 287. Otto Ludwig. — E r n s t W a c h l e r : Über 0. Ludwigs ästhetische Grundsätze, Diss. Berlin 1897. — R. M. M e y e r : Otto Ludwigs Shakespeare-Studien (1851—65), Jb. der Shakespeare-Gesellschaft 1901. — F r i t z L ü d e r : Die epischen Werke 0. Ludwigs und ihr Verhältnis zu Charles Dickens, Diss. Greifswald 1910. — K u r t A d a m s : 0. Ludwigs Theorie des Dramas, Diss. Greifswald 1912. —• F r i e d r . B r u n s : Fr. Hebbel und O.Ludwig, HebbelForschung 5 (1913). —• H. L o h r e : O.Ludwigs Romanstudien und seine Erzählungspraxis, Berlin 1913. — E r n s t J e n t s c h : Das Pathologische bei O.Ludwig, Wiesbaden 1913. —• W i l h . G r e i n e r : O.Ludwig als Thüringer in seinem Leben und Werk, Halle 1913. —• K a r l H o l l : O.Ludwig-Probleme, GRM 6 (1914). — M. M ä h l i c h : Ludwigs Romanplan „Dämon Geld" und sein Verhältnis zu den Romanstudien. Diss. Greifswald 1918. — G a s t o n R a p h a e l : O. Ludwig, ses theories et ses ceuvres romanesques, Paris 1919. — L e o n Mis : Les „etudes sur Shakespeare" d' Otto Ludwig, Paris 1929. —• Ders. Les ceuvres dramatiques d' Otto Ludwig I (1922), II (1925). — A r t h u r K r a c k e : O.Ludwigs Schaffensnot, Diss. Hamburg 1925. — K o n r a d N u ß b ä c h e r : Psychologie und Dichtung, über ihre Zusammenhänge im allgemeinen und bei O. Ludwig und Kierkegaard im besonderen, Diss. Heidelberg 1923 (Masch.-Expl.). — G a s t o n R a p h a e l : Les Shakespearestudien d' Otto Ludwig et le Shakespeare de Gervinus, in: Melanges offerts ä M. Charles Andler, 1924, S. 291 f. — K a r l F u n k e : Schuld und Sühne bei 0. Ludwig, Diss. Marburg 1931. —• L. A l f e s : Ludwigs ShakespeareStudien und ihre Beziehungen zurromantisch-idealistischen Shakespeare-Kritik. Diss. Bonn 1934. — W. G r e i n e r :

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0. Ludwig, ein deutscher Dichter und Kämpfer, 1941. — H. Schönweg: 0. Ludwigs Kunstschaffen und Kunstdenken, 1941. — Hans S t e i n e r : Der Begriff der Idee im Schaffen 0. Ludwigs, 1942 (Wege zur Dichtung Bd. 37). — W. Silz: 0. Ludwig and the process of poetic creation, in: PMLA 60 (1945), S. 860—78. — R. H. Esser: 0. Ludwig's dramatic theories. Diss. Ohio 1949. — Alfred Schwarz: 0. Ludwig's Shakespearean criticism, in: Perspectives of criticism, hrsg. v. H a r r y Levin, Harvard Studies in Comp. Lit. 20 (1950), S. 85—101. — B. E. Schatzky: 0. Ludwig's conception of environment in drama, in: Mod. Lang. Rev. 50 (1955), S. 298—306. —• Η. E. Losing: Der Aufbau der Novellen 0. Ludwigs und ihr Verhältnis zu seinen Romanstudien, Diss. Bonn 1953 (Masch.). S. 287. Ä s t h e t i k / D i a l e k t i k . — Otto Ludwig hatte sich in Leipzig aus der Beobachtung heraus, „sonst" bei den Kunstdebatten aufzufallen und entsprechend abzufallen, u.a. auch mit Hegel befaßt wie überhaupt mit Ästhetik. In einem Brief an Chr. Otto (17. März 1840) bekennt er: „Die Abstraktion und Negation Hegels . . . war vergebens. Du mußt nämlich wissen, daß ich, um den Geist der modernen Zustände, besonders ihrer Ä s t h e t i k halber, die ungeheuer auf die Kunst aller Gattung (so) eingewirkt, beim Schöpfe zu fassen, mich einigermaßen in diese berufene (einschlägige, auf die man sich beruft, oder erwähnte, angegebene ?) Philosophie hineinstudiere". Es hat also an einem ernstlichen Anlauf nicht gefehlt (so wenig wie bei Hebbel in München und Kopenhagen), wenn er auch zunächst aus einem gewissen Bildungsehrgeiz erfolgte. 0. Ludwig meldet nicht ohne leisen Stolz und zugleich seinen theoretischen Hang rechtfertigend: „Ihr Leute in Eisfeld und Hildburghausen habt gar keinen Begriff von der Richtung der Musik und Poesie der letzten Jahre". Die Revolution von 1789 (die von 1830 scheint er vergessen zu haben) habe in der Musik „nachrebelliert" und „gleicher Art" sei die „neue, sogenannte jungdeutsche Literatur"; vgl. Otto Ludwigs Briefe, hrsg. von K u r t Vogtherr, 2 Bde. 1935, Bd. I, S. 21/22. In Heft 5 der „Shakespeare-Studien" finden sich Auszüge aus Hegels „Ästhetik". Aber was die übrigen Bezugnahmen auf Hegel betrifft, so hört man immer nur, daß O. Ludwig die Absicht habe, sich näher mit Hegel zu befassen oder daß er von e i η e m Β e k a η η t e η etwas Ν äheres

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über Hegel zu erfragen beabsichtige und zu erfahren hoffe. Es steht also mit 0. Ludwig betreffs Hegel-Kenntnis ähnlich wie mit vielen anderen Dichtern. Man will von Hegel mitreden können, ohne sich von der Sprödigkeit und Schwierigkeit Hegels „mitnehmen" zu lassen. Immerhin hat O. Ludwig einiges unmittelbar und manches mittelbar (später besonders durch Vermittlung von Julian Schmidt) von Hegel übernommen, auch in den „Romanstudien". S. 290. S e l b s t p r ü f u n g , S e l b s t e r z i e h u n g . — Sie setzt frühzeitig ein, verstärkt durch den Zweifel am eigenen Talent. So besteht ein Brief-Konzept (an L. Tieck, März 1843) gelegentlich der geplanten Übersendung eines „Agnes Bernauer "-Entwurfs. Mag die Anpassung an den Briefempfänger mitspielen, wenn O. Ludwig bescheiden betont, er habe in Tiecks „Dramaturgie einen Leitstern aus dem Irrgarten erbärmlicher Eitelkeit in dramatischer Selbstbespiegelung" gesucht, so ist der Vorgang der Selbstprüfung und Selbsterziehung doch ganz unverkennbar. Bei Übersendung eines Entwurfs lag es zudem nahe, daß sich Selbst rechtfertigungs-Poetik einmischt. Er betont, daß er angesichts des „komplizierten" Stoffes, der ohne straffe Gliederung nicht zu bewältigen gewesen wäre, jeden Akt so gebaut habe wie ein eigenes kleines Drama mit eigener Exposition und eigener Katastrophe. Er habe den Jambus bewußt „prosaischer behandelt", um nicht ins „Liedmäßige" (Lyrische) zu geraten. Vielleicht habe er „zu konkret" und „zu wenig pathetisch" gestaltet; darin liege wohl ein Mangel, weil schon die Bedingungen der „theatralischen Aufführung" (theatralisch hier nur für Bühnenaufführung wie vielfach im 18. Jh. und darüber hinaus) einen „stärkeren Ausdruck der Leidenschaft" rechtfertigen und fordern. Dagegen habe er ein subjektives Hervortreten und eine gesinnungsmäßige Einmischung absichtlich vermieden. Briefe a. a. 0. (1935) I, S. 69—72. S. 291. „ D e r B e g r i f f des p o e t i s c h e n R e a l i s m u s " . — Es darf nicht übersehen werden, daß diesem Satz bei O. Ludwig nicht etwa ein Hinweis auf Schelling oder Hegel folgt (obgleich Schelling die Formulierung „poetischer Realismus" schon 1802 vorgeformt hatte), sondern ein Argument aus Solger: „Solger hat sehr schön den Verstand der Phantasie vom gemeinen Verstände beim künstlerischen Schaffen unterschieden" (Kritik an dieser schiefen Solger-Interpretation bei H. Reinhardt a. a. O. [1930], S. 56). Die Beziehung

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zu Solger sollte m. E. überhaupt nicht unterschätzt werden. Auch die Sonderuntersuchung von H a n s S t e i n e r : Der Begriff der Idee im Schaffen Otto Ludwigs, Diss. Zürich 1942 (vollständiger Druck in „Wege zur Dichtung" 37) beachtet in ihrem Eingehen auf die Theorie nicht hinreichend die kunstphilosophischen Zusammenhänge. Schon die Literatur-Angaben lassen das erkennen. An sich ist es dankenswert, daß H. Steiner einen Sonderabschnitt bringt „Der poetische Realismus als ideale Kunstforderung Ludwigs" (S. 168 f.). Die oben versuchte, zum Verständnis Ludwigs notwendige Unterscheidung von „ideal" und „ideell" wird bei H. Steiner vermißt. Der Hilfsbegriff vom „naiven Realismus" ist geeignet, eher Verwirrung als Klärung zu bringen (S. 72 f.). Vollends darf er nicht, ,als Ludwigs Standpunkt" in Anspruch genommen werden. Zu begrüßen bleibt bei allen Bedenken im einzelnen das Hinlenken auf die Bedeutung der „Idee" nicht nur im Schaffen, sondern auch in der Theorie 0. Ludwigs. Insofern geht die Untersuchung erfreulich über ihr Thema hinaus. Aber wenn man dem Satz zustimmen kann: „Seine Poetik weist dabei der ,Idee' im künstlerischen Schaffen einen bestimmten Platz zu", so melden sich Einwände, wenn behauptet wird, das sei für 0. Ludwig eine „rein psychologische und ästhetische Angelegenheit" (S. 12). Auch will eine Zusammenschau von Idee-Begriff und Typus-Begriff nicht gelingen. Das war schon bei H. R e i n h a r d t a. a. O. (1939) zu vermissen, obwohl seinem eingehenden und eifrig um Begriffs- und Terminologie-Klärung bemüht enO. Ludwig-Kapitel S.37 ff. zuzugestehen ist, daß es bereits auf die Bedeutung des „Idee"-Begriffs die Aufmerksamkeit gelenkt hatte, besonders S. 57 f. Über den Typus-Begriff vgl. auch R. B r i n k m a n n a. a. 0 . (1957).

S. 295. S c h e l l i n g u n d S o l g e r . — Nachdem schon allgemein diese Einwirkungen verzeichnet worden waren, nachdem der Hegel-Einfluß u. a. von H. L o h r e : O. Ludwigs Romanstudien und seine Erzählungspraxis, Berlin 1913 (etwas übertreibend vielleicht) berücksichtigt worden war, muß es H. R e i n h a r d t a. a. O. (1939) als Verdienst angerechnet werden, daß er in seinem 0. Ludwig-Kapitel, das offensichtlich das Kernstück seiner Untersuchung darstellt (S. 37—89), dem Verhältnis zu Schelling und Solger näher nachgeht, während er das zu Hegel m. E. doch wohl ein wenig zu überschätzen scheint. Obwohl ihm die schwankende

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Terminologie und Begriffsbestimmung einen zu verstehenden Kummer bereitet, läßt er nicht locker, hinter das eigentlich und zuletzt von O. Ludwig wirklich Gemeinte (denn gesagt hat 0. L. sehr vieles und sehr Widersprüchliches) zu kommen. Für eine Diss, eine achtenswerte Intensität des Dahinterkommen-Wollens. Auch wenn er (etwas zuversichtlich zwar) in der Unterscheidung von schöpferischer Phantasie und „gemeiner" Phantasie den Schlüssel von 0. Ludwigs Konzeption eines „künstlerischen" oder „poetischen" Realismus zu finden glaubt, so ist er gar nicht einmal so schlecht beraten. Denn die „gemeine" Phantasie begnügt sich mit der „gemeinen" Wirklichkeit, die schöpferisch-konstruktive Phantasie aber ergreift und erstrebt die „poetische Wirklichkeit", erhöht die allzu prosaisch-platte Wirklichkeit und dämpft andererseits das an sich schon „Poetische" in der Wirklichkeit, sucht und sichert also jene „künstlerische" Mitte, um die sich zuletzt doch alle Möglichkeiten drehen. Aber daß O. Ludwig vom „Verstand" der Phantasie, wenngleich Solgers Meinung umbiegend (oder eben weil sie umbiegend), spricht, hätte ihn — ebenso wie der Lieblingsterminus O. Ludwigs „Idee" — auf die Lösung „ideeller Realismus" führen müssen, um so mehr als er mit dem Attribut „poetischer" ebenso wie F r i t z M a r t i n i : Das Problem des Realismus im 19. Jh. und die Dichtung W. Raabes (Euph. 36, 1935) so ganz und gar nicht einverstanden ist (S. 89). Letzten Endes wird die Blickrichtung an dieser entscheidenden Stelle abgelenkt vom Schielen der (Kluckhohn-) Schule nach dem Biedermeier. Der Arzt und Dichter Frhr. von Feuchtersieben muß helfen, mit seiner Darlegung „Zur Diätetik der Seele" (1838) den „Zusammenhang mit dem Biedermeier" zu verstärken (S. 49), wobei der „Dämmerungsvogel" (0. Ludwig) hinüberflattert zu Feuchterslebens Gleichnis, daß „Dämmerung" zuletzt „Menschenlos in jeder Beziehung" bleibe. Angesichts des BiedermeierBanns wagt man kaum noch zu fragen, warum Η Reinhardt, obgleich er das Ringen um die versöhnende „Mitte" und aussöhnende Vermittlung „genau so in der Kunstauffassung Hebbels" anzutreffen meint (S. 69), dennoch nicht Friedr. Hebbel in die „Dichtungstheorie der sogenannten Poetischen Realisten" (Haupttitel seiner gewiß arbeitsreichen und auch relativ ideenreichen Schrift) einbezieht, während zweitrangige (bis drittrangige) Vertreter wie Julian Schmidt oder B. Auerbach oder Hermann Kurz

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gewissenhaft betreut werden. Vor Hebbel brach selbst die willigste Biedermeierwelle, die so gern das gesamte 19. Jh. überspülen (und überspielen) möchte, hoffnungslos (bis hilfslos) in sich zusammen. Freilich Bietak zwang selbst den realistisch störrischen Jeremias Gotthelf unter das biedermeierlich verträumte Joch bodenständigen Trotts. Aber H. Reinhardt hat sich nun einen redlichen Restbestand an eigener Urteilsbildung tröstlich (bis tapfer) bewahrt. Bedauerlich bleiben die zeitgegebenen (1939!) Eintrübungen, das fortgesetzte Sich-Berufen auf die „deutsche Bewegung" (Idealismus einschließlich Klassik und Romantik der Deutschen, vgl. Frz. Schultz) und das betonte Abrücken von dem Juden B. Auerbach, sowie die abschließende Weisheit in der „Zusammenfassung" (S. 162 f.) von der „verantwortungs- und geschichtsbewußten Haltung" und von der „Übernahme und Weiterführung des Erbgutes der gesamten deutschen Bewegung" (S. 165 als stimmungsvolle Schlußsätze). Aber man darf gerechterweise die Schwierigkeiten nicht unterschätzen, vor denen der Verfasser damals stand. So gut es irgend ging, hat er sich aus der Affäregehalten. Der Weihrauch vorn und hinten verfliegt, aber die gesunde Mitte bleibt. Kurz, H. Reinhardt hat ehrlich gearbeitet, und das versöhnt mit manchen Schwächen. Er ist manchmal ein wenig kühn (bis keck), aber wer möchte der wissenschaftlichen Jugend dieses reizende Recht entziehen! Doch ist P. Kluckhohn die Großzügigkeit zu danken, mit der er soviel latente Revolte gegen den absoluten Anspruch einer schier unendlichen Biedermeier-Epoche geduldet hat. Denn darüber muß er sich klar sein, wenn H. Reinhardt nur gekonnt hätte, wie er eigentlich wollte, so hätte er wohl dem Biedermeier seine Reverenz erwiesen, aber trotz allem die jetzt nur „sogenannten" Poetischen Realisten doch gelten lassen. Mitten im biedermännlichen Kampf hat er sich offenbar ein wenig in seine Gegner verliebt. S. 298. U n s i c h e r e s S c h a f f e n s v e r m ö g e n / U n s i c h e r h e i t in W a h l der G a t t u n g . — Einige Beispiele mögen das erhärten. Gelegentlich des Novellenfragments „Aus einem alten Schulmeisterleben" (1845/46), dessen Hauptteil noch Adolf Stern vorgelegen hat und jetzt als verschollen gilt, bemerkt Otto Ludwig (17. März 1845): „Ich glaube, daß der humoristische Roman mein eigentliches Feld ist; meine ganze Natur und die meisten meiner Studien stimmen vor

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allem zu dieser Gattung"; vgl. das Vorwort Paul Merkers zur Gesamtausgabe I, S. 24. Dagegen hatte er etwa zwei Jahre vorher (Mai/Juni 1843) unter dem Eindruck einer Emil Devrient-Vorstellung (suggestiver Theatereindruck) sein Erstaunen der Rückwirkung auf den eigenen schöpferischen Impuls verzeichnet und eindeutig geäußert: „ . . . ich selbst glaube, daß, wenn ich ja eine dichterische Ader besitze, diese eine dramatische ist. Die Neigung, die ich zu dieser Gattung trage, kann freilich für die Anlage nur wenig beweisen, mich aber für das verhältnismäßige Gelingen desto mehr hoffen (lassen)". Und sogleich denkt er an sechs Pläne; vgl. Briefe Bd. I (1935) S. 76/77. Dann wieder erwägt er, ob die „Romanpoesie" oder das Drama auch rein objektiv den Vorzug verdiene. Der Roman habe (damals) jedenfalls den Vorteil der Spannung, während das (damalige) Drama „im Beschaulichen das vorwiegende Element" aufweise: „Die Leute erzählen, was sie und andere getan haben, was und warum sie das und das tun — würden, wenn sie vor Gründen zum Tun kämen . . ." (a. a. 0., S. 218/19). Ob hier nicht O. Ludwig den Splitter im Auge des Nächsten sieht ? Jedenfalls nimmt er sich vor, das Theaterpublikum aufzuwecken durch Handlungsfülle und Kraft. S. 300. S h a k e s p e a r e - S t u d i e n . —• Da die von P a u l M e r k e r veranstaltete historisch-kritische Otto Ludwig-Ausgabe (von geplanten 18 Bdn. konnten 1912—22 nur 6 erscheinen; einen neuen Anlauf unternimmt seit 1953 die Dt. Akademie d. Wiss. zu Berlin, jedoch liegt noch kein weiterer Band vor) diese Partien (ζ. Z.) noch nicht einbezogen hat, sei verwiesen auf: Otto Ludwig, Shakespeare-Studien, hrsg. von M o r i t z H e y d r i c h (1871, 2. Aufl. 1904). Es handelt sich zunächst um tagebuchartige Aufzeichnungen von literarischen und theatralischen Eindrücken, Beobachtungen, Analysen, Folgerungen und Forderungen, die für die eigene Entwicklung und Klärung, nicht aber für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Dem entspricht es, wenn in diesen Studienheften ζ. B. auch längere Auszüge aus einschlägigen dramaturgischen Schriften, ob nun der literarischen oder theatralischen Dramaturgie, wie etwa K. Immermann oder Ed.Devrient, sich finden, die von M. Heydrich wegen Raumersparnis (und da anderenorts auffindbar) nicht mit abgedruckt wurden. Besonders stark sind die Exzerpte aus Ed.Devrient; aber auch Hurd wird exzerpiert. Erst später konzentrierten sich

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die Lektüre-Eindrücke usw. mehr und mehr auf Analysen der Dramen Shakespeares mit dem Ziel der kritisch vergleichenden Selbsterziehung und Selbstvervollkommnung. Dem entspricht es sowie dem engen Verflochtensein von Theorie und Praxis, wenn vielfach eigene Proben, Pläne, Varianten, Fragmente usw. eingelagert waren, die vom Herausgeber ebenfalls ausgeschieden wurden, um die Übersichtlichkeit zu erleichtern. Überall herrscht die Methode der kritisch wertenden und die Ursachen der Wert- und Wirkungsunterschiede abwägenden Vergleichung und Gegenüberstellung (besonders Antike und Shakespeare). Die umfangreiche Einleitung M. Heydrichs a. a. 0., S. ι—85 stellt das klar und betont die Herausarbeitung gerade der wesentlichen Momente (Furcht/Mitleid, Schuldbegriff, Katharsis) durch O. Ludwig, dem insofern nur Lessing gleichkomme. Merklich ist Heydrich bestrebt, die Geltung des Theoretikers 0. L. zu heben. Auch mischen sich Zeittendenzen (1871) ein; 0. Ludwig wird mit H. v. Kleist verglichen, der auch kurz vor dem Siege gestorben sei. So ist mit kritischer Reserve aufzunehmen, wenn in diesem Zusammenhange behauptet wird, Otto Ludwig habe „unser vaterländisches Volksdrama" vorbereitet. Das klingt eher nach einem vorweggenommenen Ernst v. Wildenbruch. Und nachdem gerade vorher das Realistische hervorgehoben worden ist (0. L. habe hingestrebt auf „die realistischen Ideale unserer Zeit"), liest man etwas überrascht den Satz der Schluß-Apotheose: „Still und sinnig (wo bleibt Kleist ?) wie unsere Altvordern (das klingt mehr nach G. Freytag) ihre Runen, so schrieb Ludwig seine Betrachtungen nieder; aber Schrift und Wort des Thüringer Waldsohns werden mächtig nachhallen . . ." (S. 85). Trotz solcher Eintrübung des Ludwig-Bildes bleibt das Verdienst der HerausgeberArbeit ungeschmälert (bei Reclam hat M. Gr ein er dankenswerterweise die Shakespeare-Studien herausgegeben). S-452ff. Weitgehend deckt sich mit dem Bemühen um eine werk(w. P.). immanente Poetik und um Deutung des mannigfach widerspruchsvollen „Wechselspiels von Theorie und Praxis" bei Otto Ludwig die zudem sprachstilistisch gepflegte Sonderuntersuchung von H a r a l d S c h ö n e w e g : O. Ludwigs Kunstschaffen und Kunstdenken, Diss. Köln, gedr. Jena (E. Diederichs) 1941. Am Drehpunkt von Kunstwollen und Kunstkönnen wird hier besonders der schöpferische oder vermeintlich schöpferische Vorgang sowie das Verfahren

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(aber auch kritisch das Verfahrene) im Verwertenwollen des theoretisch Erkannten einsichtig und einfühlsam bemerkt und kritisch enthüllt. Besonders der 2. Teil „Ludwigs Kunstlehre als Abbild der Schaffensweise" (S. 78—116) führt mitten in die brennenden Fragen des Wechselspiels und Widerspiels von Dichtungsübung und Dichtungsdeutung hinein, das bei 0. Ludwig besonders instruktiv in Erscheinung tritt. Trotz dieses Widerspiels glaubt H. Schöneweg (S. 80) feststellen zu müssen: „Die bisher erschienenen Untersuchungen über Ludwigs Dramenpläne aus der späteren Zeit nehmen auch die Ergebnisse seiner Studien herein und suchen zu erweisen, daß sich die dichterischen Entwürfe mit den Forderungen der Kunstlehre decken". Es fragt sich freilich nur, ob das Kunstwollen auf das Kunstkönnen zugeschnitten blieb oder ob die Poetik 0. Ludwigs mehr war als eine Selbstrechtfertigung. Soviel darf eingestanden werden, daß eine Selbstrechtfertigung bei O.Ludwig nie erfolgt ist ohne eine oft recht harte Selbstkritik. Zu dieser Selbstkritik gehört es ζ. B., daß „Handlung" (im Gegensatz zu Lessing) nicht als der dramaturgischen Weisheit letzter Schluß gilt. Auch H. Schöneweg geht davon aus und in gewissem Sinne auch darauf zu, daß es 0. Ludwig war, der den Terminus „poetischer Realismus", wenn nicht zuerst gebrauchte (die Vorläuferschaft Schellings übergeht er zu sehr), so doch als Erster „bildete" (S. 83). Die Rückbildung des Tragischen in das Moralische aber erkennt er durchaus (S. 87). Aber ebenso die Abhängigkeit des Erhabenen vom sich tragisch Überhebenden (S. 89). Die „Versöhnung" (Kernbegriff Hegels) liegt zuletzt in dem tragischen Trost O. Ludwigs: „Wir sehen nichts, was uns an der Vernünftigkeit der Weltordnung zweifeln machen könnte" (Hegel). H. Schöneweg beanstandet vor allem, daß O. Ludwig als Dichter jene „Gesamt-Idee" fehlte, die er als Dichtungsdeuter so oft und unermüdlich forderte, daß er erst nachträglich zu begründen versuchte, was ihm von vornherein fehlte und abging, nämlich die Einheit von Idee und „Fabel", das Zurückführen des Komplizierten auf das Konkrete, die Projektion der intellektuellen Anschauung (Schelling) auf das Produktive der poetischen Veranschaulichung. Kurz, O. Ludwig bleibe im Vorfeld liegen, ohne die Festung zu stürmen. Er kam vor lauter (theoretischem) Zielen nicht zum (praktischen) Schluß. Vor lauter „Arbeitsvorgängen" und deren planender Überwachung kam er

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nicht recht zur künstlerischen Arbeitsleistung selbst. O. Ludwig sieht den Menschen suggestiv-plastisch; aber er verliert sich bei der Bewältigung der Verhältnisse, in die dieser Mensch wohl oder übel hineingestellt worden ist. Er sieht das Komplizierte und versäumt darüber das Konzentrierte. Er fürchtet die (romantische) Willkür der Phantasie (wie Frz. Grillparzer), aber fast noch mehr den „Verstand" als bloßen „Tyrannen der Phantasie". Denn der Verstand macht die Phantasie zur „gemeinen", er entmachtet aber die eigentlich produktiv-konstruktive Phantasie. Der instruktive Verstand und der „intuitive Verstand" verlieren die Fühlung, befehden sich, statt sich befruchtend zu befrieden. —• Interessant ist die Parallele und Abhebung von 0. Ludwig und Grillparzer, a. a. O., S. 126. Aber hinter Grillparzers Klagen über die Erschöpfung nach dem Geschaffenen steht die Kunstleistung, hinter O. Ludwigs ähnlichen Klagen steht nur die Sehnsucht nach der Kunstleistung. 0. Ludwig scheint stärker zu sein als Mensch, Grillparzer ist stärker als Künstler. Aber Andeutungen müssen auch hier genügen. Die Arbeit von H. Schöneweg ist ein achtenswerter Versuch, das Verhältnis von Kunstfordern und Kunstleisten an einem Sonderfall zu erhellen, ohne den Begriff der „Idee", an den sich O. Ludwig geradezu klammert, aus den Augen zu verlieren (S. 93). S. 302. Ludwig Feuetbach. — Die 1846—66 erschienene Feuerbach-Ausgabe ist im Text verläßlicher als die später von W. Bolin und F. Jodl besorgte (1903—11), die aber im Materialbestand reicher ist, besonders durch Einbeziehung des Nachlasses. S. 302. „ Z u r K r i t i k der H e g e i s c h e n P h i l o s o p h i e " . — Philosophische Bücherei 5, Berlin 1955, hrsg. und eingeleitet von W. Harich (Einleitung tendenziös). S. 302. S o n d e r f o r s c h u n g . — Den bisher wohl wertvollsten Beitrag bietet das umfangreiche Werk von S. R a w i d o w i c z : L. Feuerbachs Philosophie, Ursprung und Schicksal, Berlin 1931. Dort Einfluß auf Heine (S. 351 und 368 Anm.), Herwegh (S. 368—72), G. Keller (S. 372—84), R. Wagner (S. 388—410) u. a. m. S. 308. Arnold Rüge. — Seine Stellung zur Poesie konnte nicht einbezogen werden; doch sei hinsichtlich seiner Kunstauffassung verwiesen auf seine „Neue Vorschule zur Ästhetik, das Komische mit einem komischen Anhang", Werke,

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2. Aufl., Bd. io, S. 183 ff. Als Hegel-Anhänger stellt A. Rüge das Komische sehr hoch. Es ist ein Merkmal hoher Entfaltungsstufen des geistigen Selbstbewußtseins, der Bildung und der Freiheit. Primitive Völker hätten keinen Humor. Vielleicht wirkt Jean Paul mit seiner Vorbedingung der Freiheit für eine Entwicklung des echten Humors mit. Diese Theorie des Komischen bei A . Rüge wird bis in die Terminologie hinein von Robert Prutz als Mitarbeiter der Hallischen Jahrbücher übernommen. Auch R. Prutz, der auf den englischen Humor als Beispiel verweist, verbindet den Humor mit dem Zustand der Freiheit, auch der politischen. Daher ist das vollendete Kunstwerk des Humors erst von einer besseren Zukunft zu erhoffen. Vielfach hängt die hohe Schätzung des Komischen — vom Ansatz Hegels aus — mit dem Fortschritts-Optimismus zusammen, so etwa auch bei Fr. Th. Vischer; vgl. K a r l - H e i n z W i e s e : Robert E. Prutz' Ästhetik und Literaturkritik, Halle 1934 und H e r m a n n G l o c k n e r : Friedr. Th. Vischer und das 19. Jh. (1931). S. 311. Gottfried Keller. — J. B a e c h t o l d und E. E r m a t i n g e r G. Kellers Leben, 1. Aufl. 1894/97, 8. Aufl. Zürich 1950; Briefe und Tagebücher, 3 Bde., 1915/16, 2. Aufl. 1924/25. — Briefe, hrsg. von M. N u ß b e r g e r , Leipzig 1927. — P. Heyse und G. Keller im Briefwechsel, hrsg. von M. K a l b e c k 1919. — M a x P r e i t z : G. Kellers dramatische Bestrebungen, Diss. Marburg 1909, besonders S. 72t. — O t t o L u t e r b a c h e r : Die Landschaft in G. Kellers Prosawerken, Diss. Tübingen 1911, besonders S. 6gf. — H. D ü n n e b i e r : G. Keller und L. Feuerbach, Zürich 1913. — R. F a e s i : G. Keller und Goethe, GoetheJb. 6 (1919). — R e g i n a S c h m i t t - S o e d e r : Die Anschauungen G. Kellers vom Wesen und der Aufgabe des Künstlers, Diss. Gießen 1922. — A. I b a c h : G. Keller und Fr. Th. Vischer, Diss. München 1 9 2 7 . — J . K l i n k h a m m e r : G. Kellers Kunstanschauung, Diss. Gießen 1928. — E d g a r Ν e i s : Romantik und Realismus in G. Kellers Prosawerken, Germ. Studien 85 (1930; als Diss. Frankfurt a. M. 1929). —· E. G l a s e r - G e r h a r d : H. Hettner und G . K e l l e r , Diss. Leipzig 1929. — E l i s a b e t h S c h w a r z h a u p t : G. Keller und die sozialen und volkserzieherischen Probleme seiner Zeit, Diss. Frankfurt a. M. 1929, besonders S. 47ff. (die Ziele der dichterischen Darstellung). — F. R e d e n b a c h e r : G. Kellers religiös-lyrisches Erlebnis, Dt.Vjschr. 8 (1930). —

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Ε. H o w a l d : G. Keller, New York 1933. — A l i c e S t a m m : Die Gestalt des deutsch-schweizerischen Dichters um die Mitte des 19. Jh.s, Wege zur Dichtung 26 (1937). — H. B ä n z i g e r : G. Keller und J . Gotthelf 1943. —• E r w i n A c k e r k n e c h t : Gottfried Keller, Geschichte seines Lebens, Leipzig 1942 (erhebt keinen rein wissenschaftlichen Anspruch) . — Vollends populäre (und politische) Zwecke verfolgt R i c h a r d D r e w s : G. Keller — Dichter, Politiker, Patriot, Berlin 1953. — Georg L u k a c s : Gottfried Keller, Berlin 1946 (auch in: Dt. Realisten des 19. Jhs., Berlin 1951). — H i l d e E i s e n h u t : G. Kellers Prosastil, Diss. München 1948 (Masch.). — Gerh. Weise : Die Herausbildung der ästhetischen Prinzipien G. Kellers, Diss. Jena 1955 (Masch.). — T a k e o I t o : Die Probleme der künstlerischen Gestaltung beim jungen G. Keller, in: Doitsu Bungaku (Dt. Lit.), Tokio, 14 (1955), S. 28—36. S. 3 1 1 . „ P o e t i s c h e W a h r h e i t " . — Angesichts des Attributs „poetisch" in O. Ludwigs Zielprägung des „poetischen Realismus" sei an eine Wendung G. Kellers aus dem „Grünen Heinrich" erinnert, die „poetisch" gleichsam zum IdealAttribut (auch in Ablösung von „malerisch") erhebt: „Ich hatte mir, ohne zu wissen wann und wie, angewöhnt, alles, was ich in Leben und Kunst als brauchbar, gut und schön empfand, poetisch zu nennen, und selbst Gegenstände meines erwählten Berufes, Farben wie Formen, nannte ich nicht malerisch, sondern immer poetisch so gut wie alle menschlichen Ereignisse . . ." Das ist zunächst bezogen auf die Situation im Roman. Aber es darf doch daran erinnert werden, daß —• wie in der Klassik eine ähnliche Ausweitung des Begriffs „ästhetisch" — in der Romantik eine recht nahestehende Ausweitung der Poesie-Vorstellung erfolgte („Das Poetische", vgl. Bd. III). Keller bemühte sich, soweit er schon Realist war, von diesem romantisch verschwommenen Oberbegriff eines „Poetischen" schlechtweg loszukommen, blieb aber im Gesamt auf der Linie eines „poetischen" Realismus. So ordnet ihn auch H. R e i n h a r d t a. a. O. (1939) ein, dessen Keller-Abschnitt (S. 130—39) im ganzen bemüht ist, Keller von Feuerbach fortzurücken und die religiösen Elemente zu retten. Die Kunstanschauung wird relativ kurz behandelt. Da auch die ältere Untersuchung von R e g i n a S c h m i t t - S o e d e r : Die Anschauungen G. Kellers vom Wesen und der Aufgabe des Künstlers, Diss. Gießen 1922 nicht gerade sehr tief greift, so wäre eine 41

M a r k w a r d t , Poetik IV

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Darstellung über Kellers Kunstanschauung unter Einbeziehung der werkimmanenten Poetik erwünscht. E d g a r N e i s : Romantik und Realismus in G. Kellers Prosawerken, Germ. Studien 85, Berlin 1930 will zwar zugleich der „Begriffsbestimmung der literarisch-historischen Terminologie des 19. Jhs." dienen, richtet aber (bei sonst sauberer Arbeit) damit neue Verwirrung an. S. 312. V o r s t e l l u n g d e s D i c h t e r i s c h e n , K u n s t a n s c h a u u n g . — Nachdem schon einige Jahre vorher eine themaverwandte Diss, von R e g i n a S c h m i t t - S o e d e r : Die Anschauungen G. Kellers vom Wesen und der Aufgabe des Künstlers (1922) in Gießen angenommen worden war, könnte es überraschen, daß bald darauf auch noch J o h a n n e s K l i n k h a m m e r : Gottfried Kellers Kunstanschauung, Diss. Gießen 1928 (Teildruck ?) gewürdigt hat. Ein Blick auf den „Lebenslauf" bietet die Erklärung (ursprünglich Bonner Arbeit, Frontkämpferjahre, Tätigkeit in der Industrie usw.). Gedruckt scheint nur vorzuliegen Kapitel III „G. Kellers Kunstanschauung" mit 25 Seiten Umfang. Von diesen 25 Seiten wird mehr als ein Drittel durch breite Keller-Zitate ausgefüllt. Im übrigen stützt sich Joh. Klinkhammer mit Vorliebe natürlich auf seinen ursprünglich vorgesehenen Betreuer (C. Enders, Bonn, S. 13, 23). Nächstdem stützt sich der Verf. besonders auf die Keller-Erinnerungen von C. F. M e y e r (ζ. B. auf S. 21, 22, 23), sowie themagemäß auf B ä c h t o l d und E r m a t i n g e r . Bemerkenswert wäre vielleicht der Satz: „Die Vereinigung von Volk und Kunst ist zeitlebens Kellers Ideal geblieben" (S. 13), sowie der Hinweis auf das Sonett „Subjektives Dichten" (S. 5) und auf den Terminus Kellers von der „großen Nationalästhetik" (S. 16). Von den Unterabteilungen: Lyrik, Drama, epische Dichtung kann am ehesten noch der Abschnitt über Lyrik interessieren wegen der Gegenstellung zu Th. Storm (Brief vom 20. Dezember 1879) und einer gewissen Anhänglichkeit an die ursprüngliche Ausgangsstellung der Bejahung einer politischen Lyrik, die erst in den 70 er Jahren zugunsten der allgemein menschlichen Motive etwas zurücktritt. S. 313. A u f s ä t z e ü b e r J. G o t t h e l f . — Eingehender analysiert Kellers Gotthelf-Rezensionen E l i s . S c h w a r z h a u p t : G. Keller und die sozialen und volkserzieherischen Probleme seiner Zeit, Frankfurt a. M. 1929. Keller lehnt J. Görres und dessen Deutung des Volksschriftstellers als

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einer überzeitlichen Instanz ab. Görres habe zu sehr das Altertümliche mit dem Volkstümlichen gleichgesetzt. Um es vorwegzunehmen, Keller hebt bereits das nur Volkstümliche von dem im höheren Sinne Volkswürdigen ab. Das übersieht E. Schwarzhaupt, obwohl darin zuletzt das Wesentliche liegt. Für den Feuerbachanhänger Keller ist selbst das positive Christentum, das J. Gotthelf als Gottesmann betont, nicht volkswürdig. Humanität sei würdiger als Religiosität; aber „Etwas ist besser als gar nichts" (Keller). Es kommt Keller auf die Aufgabe des Volksschriftstellers an, glaubhaft zu machen, daß jeder Stand seine Würde habe und sie hegen müsse. Das Demokratische setzt sich durch. Der Volksschriftsteller muß den einfachen Menschen klarmachen, daß „ihre Lust und ihr Leid so bedeutungsvoll ist wie die Leidenschaften der Prinzen und Grafen" (Nachgelassene Schriften, S. 97). Das erinnert etwas an die laufende Polemik der Jungdeutschen gegen die „Prinzessin", die eine Art Gegenstück bildet zur durchgängig verfolgbaren Programm-These der Jüngstdeutschen (Naturalisten) gegen die „höhere Tochter". An sich setzt hier Keller dem Volksschriftsteller eine Aufgabe, die eigentlich erst der Naturalismus (wenigstens annähernd) löste. Um zu E. Schwarzhaupt zurückzukehren, so greift sie Kellers Vorwurf gegen J. Gotthelf hinsichtlich des zu sehr im Volk wurzelnden Naturdichtertums etwas unkritisch auf. Von hier aus und dem „Mangel an ästhetischer Zucht" aus, hätte eine Abhebung des „poetischen Realismus' ' Kellers vom frührealistischen Einschlag bei Gotthelf erkannt werden können. Über die Kritik des FeuerbachSchülers Keller an J. Gotthelf (S. 34—36). Kellers poetische Thesen zur Verfassung eines politischen Manifests, die sehr hübsch zu lesen sind, aber nur selten befolgt werden, übergeht E. Sch. nicht (S. 39). S. 314. „ D i c h t e r i s c h e A n s c h a u u n g " . —• Die Abwehr des Studienmachens in der Natur, um „poetisches" Material zu sammeln, begegnet ganz ähnlich in einem Brief L e n a u s (an Schurz, Juni 1834): „Ferner tadle ich dieses Hinausgehen in den Wald, dieses Herumspionieren, ob die Natur nicht irgendwo einen poetischen Anhaltspunkt biete, gleichsam eine Blöße gebe, wo ihr beizukommen ist. Bei dieser Manier . . . lebt der Dichter gar zu sehr in der Außenwelt; er lauert beständig auf Naturerscheinungen, an welchen er am Ende bloß heramdeutelt", vgl. hierzu O t t o L u t e r 41»

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b a c h e r : Die Landschaft in G. Kellers Prosawerken, Tübingen 1911, S. 80. Ob jene Polemik u. a. gegen Heines „Reisebilder" gerichtet ist, bleibe dahingestellt. Im ganzen sah und urteilte Lenau mehr von der Nachromantik aus, Keller mehr vom poetischen Realismus aus. S. 316. „ M u n d a r t des S c h ö n e n " . — Im Schillerprolog Kellers aus Anlaß des Schillerjahres 1859 begegnen Verse wie „Zur höchsten Freiheit führt allein die Schönheit / Die echte Schönheit nur erhält die Freiheit". Die Definition der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung" (Schiller) klingt an, wird aber merklich ins Politische umgebogen oder erhält doch deutlich in diesem Prolog einen politischen Akzent. Das Häßliche wird an das Unfreie herangerückt; „Und knechtisch ist das unschön Mißgestaltete / Im Keim verborgener Gedanken schon". Es darf in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß in jenem Schiller-Jahre der Briefwechsel mit Paul Heyse begann, in dem nicht selten Fragen der Form erörtert werden. Die persönliche Bekanntschaft mit Heyse war schon 1857 durch J. Burckhardt in Zürich vermittelt worden. In dem ersten Brief Kellers (November 1859), der in die Situation des Schillerfestjahres Einblick bietet, findet sich eine für den dichterischen Schaffensvorgang bzw. für den Anlaß zur Umformung einer Dichtung (Werkwandlung) bemerkenswerte Äußerung. In der zweiten Novelle „Anfang und Ende" des Novellenbandes P. Heyses „Neue Novellen" (1859) hatte Heyse Einzelzüge eines Motivs verwendet, wie sie Keller ganz ähnlich für den Ausgang seines „Sinngedichts" vorgesehen hatte. Keller drückt das launig so aus: „In der zweiten Novelle haben Sie mir ein Motiv wie eine Schnepfe vor der Nase weggeschossen, nämlich das feine Bummeln zweier Verliebten einen schönen Tag hindurch in einer schönen Landschaft, wodurch das bewußte Ende herbeigeführt wird''. Besonders handelte es sich um die Schilderung einer alten Kirche oder Kapelle, in der nun Wein gekeltert wird. Keller fährt nach Hinweis auf die Motiv-Parallele fort: „Ich werde das meinige Gotteshäuschen nun abtragen müssen, wenn ich nicht den Reminiszenzenjägern in die Hände fallen soll". Auch jetzt noch besteht eine gewisse Ähnlichkeit, obwohl Keller den etwas kecken Einzelzug aufgegeben hat. Man erkennt, wie vorsichtig übereifrige und allzu sichere Einflußjäger sein sollten. Einen FeuerbachEinfluß braucht man ebenso wenig anzusetzen. Es lag

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höchstens eine liebenswürdige Neckerei vor mit der alten und neuen Bestimmung des „Kirchleins". Von der Poetik her gesehen, interessiert der eindeutige Beleg für die Möglichkeit einer Parallelität selbst in einem markanten Einzelzug ohne wechselseitiges Abhängigsein sowie das Vermeiden des schon von dritter Seite Verwendeten, um Mißdeutungen einer Abhängigkeit vorzubeugen, vgl. P. Heyse und G. Keller im Briefwechsel, hrsg. von Max Kalbeck (1919), S. 58 und Anm. S. 61. S. 317. „ D i e F r a g e d e s D r a m a s " (Ergänzung). — Trotz früher Pläne und späterhin geäußerter Absichten hat G. Keller eigentlich nur die „Therese" aufzuweisen. Es gab aber schon eine damals ein knappes Jahrzehnt zurückliegende theoretische Bemühung Kellers um Wesen und Wirkungsform des Dramas. Sie war offenbar angeregt durch die vorbereitende Arbeit H e r m a n n H e t t n e r s an dessen Schrift „Das moderne Drama, ästhetische Betrachtungen", Braunschweig 1852 und wird also ablesbar von den Briefen Kellers an H. Hettner. Allerdings übertreibt Max Kalbeck etwas, wenn er in der umfangreichen Einleitung zum Briefwechsel Heyse/Keller (S. 39), um den Seitenblick auf Otto Ludwig zur Wirkung zu bringen, es so formuliert, Keller sei damals „ein Ausbund theoretischer Dramaturgie, ein epistolarischer Mitarbeiter an H. Hettners ästhetischen Untersuchungen über das moderne Drama". Die Anregungen gingen doch mehr von H. Hettner aus. Kalbeck stand offenbar unter dem Eindruck der an sich verdienstvollen Sonderuntersuchung von M a x P r e i t z : G . K e l l e r s dramatische Bestrebungen, Marburg 1900, die eifrig alles Material zusammenträgt und von jenem Hettner/Keller-Briefwechsel sagte: „Dieser Briefwechsel stellt gewissermaßen Kellers Dramaturgie dar" (S. 25). Preitz druckt auf mehreren Seiten (zudem in Petitdruck) alle einschlägigen Briefpartien ab (S. 72f.), so daß sie dort übersichtlicher als in den Briefzusammenhängen und zudem unter ordnenden Stichworten für den Interessierten leicht zugänglich sind. Eine eigentliche kritische Analyse erspart sich M. Preitz allerdings, indem er „lieber" Keller selber zu Wort kommen lassen will. Daher werden einige erläuternde Bemerkungen erforderlich. Zunächst: eine Dramaturgie liegt nicht vor; die Bezeichnung wäre zu hoch gegriffen. Der junge Hettner möchte von Keller allerlei erfahren, da Keller sich damals in der Theaterstadt Berlin aufhält. Keller als Autodidakt seiner-

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seits fühlt sich in seinem Bildungsehrgeiz angerufen und packt emsig aus, was er an „Einschlägigem" (und Einschlagendem) nur irgend im Kopf und auf dem Herzen hat. Im ganzen überwiegt dabei das, was er an dramatischen Entwicklungswünschen auf dem Herzen hat. Es sind das nicht zuletzt, ja überwiegend kulturpolitische, ζ. T. rein politische Wünsche. Für den Schweizer Demokraten Keller wird trotz des Rückschlages nach 1848 auch um 1850/51 (Zeit dieser Briefe) das Volk immer noch großgeschrieben. Das ist das Gemeinsame mit dem späteren Schiller-Aufsatz „Am Mythenstein". Aber hier (Briefe) sieht er mehr das unruhige Berliner Volk, dort mehr das alte Bräuche bewahrende Schweizer Volk. Hier herrscht also gleichsam mehr Politik, dort mehr Volkskunde. Da Keller mit Hettner vorerst ganz auf das N e u e hinauswill, „reichen . . . unsere alten klassichen Dokumente nicht mehr aus" (März 1851), darunter auch Lessings Dramaturgie. Veränderte „Sitten- und Völkerverhältnisse" bedingen neue „Kunstregeln und Motive". Aber wie sie aussehen sollen, darüber ist sich Keller noch einigermaßen unklar. Soviel steht fest, daß vom klassischen Erbe die „Humanität" gerettet werden muß, aber mit neuem, zeitgemäßen „ I n h a l t " erfüllt. Entscheidend ist das Bedürfnis des Volkes, nicht das der Gebildeten. Der Humorist und Demokrat verbinden sich im Interesse für das politische Volksstück humoristisch-satirischen Gepräges (Volksposse, Seitenblick Wiener Vorstadttheater). Das Improvisieren der Schauspieler (Berliner Theatereindrücke) könnte den kommenden Lustspieldichtern den Weg weisen (unmittelbare Zeitnähe). Keller, der sich selber auch im Lustspiel versucht hat (ζ. B. „Jedem das Seine"), rechnet sich in seiner lebhaft vorauseilenden Phantasie merklich schon zu ihnen. Platen (mehr literatursatirische Komödie) und Robert Prutz (politische Tendenzkomödie) sind viel zu gebildet, um die Wünsche des Volkes wirklich aufspüren und wirksam erfüllen zu können. Die Berliner Lokalpossen (und Hettner hatte zudem ausdrücklich gebeten, darüber einiges zu erfahren, 28. Februar 1851) scheinen da viel brauchbarere Ansätze zu bieten. Dabei spielt die „ K r i t i k der Tages-Misere" eine wesentliche und zugkräftige Rolle (einschließlich Couplet). Kriegerisch verkündet Keller: „Denn es ist eine Lüge, was die literarischen Schlafmützen behaupten, daß die Angelegenheiten des Tages keinen poetischen bleibenden Wert hätten." Das klingt fast resoluter als das Lavieren der Jungdeutschen zwischen Gegenwarts-

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poesie und bloßer „Tagesschriftstellerei", die kunsttheoretisch durchweg von ihnen abgewehrt wurde. Sogar der große Name Aristophanes wird, freilich zwiespältig akzentuiert, in die Debatte geworfen. Doch kommt er (und vollends sein Nachahmer) Keller schon allzu gebildet vor. Der hohen Tragödie steht Keller offensichtlich etwas hilflos gegenüber. Er lehnt Intrigenhandlungen und äußere Verwicklungen ab und fordert vor allem (fast „klassisch") eine „größere Einfachheit und Klarheit" und noch einmal: „größtmögliche Einfachheit, Ruhe und Klarheit". Dabei denkt er indessen weniger an klassische Formprinzipien als an leichtere Über ichtlichkeit und Verständlichkeit, und zwar wieder mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Volkes. Kennzeichnend für das Interesse des schaffenden Künstlers an greifbaren Einzelwinken des praktischen Verfahrens ist 7. B. die Beobachtung, daß Shakespeare gern Reflexionen an einen symbolischen Gegenstand, der dann weggeworfen wird, anknüpft (der Schädel im „Hamlet" usw.). Auf die Polemik gegen R. Wagners „Ein Theater in Zürich" sei kurz aufmerksam gemacht. Der Autodidakt Keller findet sich wahrscheinlich in Lessings Hamburgischer Dramaturgie nur mühsam zurecht. So ganz sicher scheint er sich jedenfalls nicht zu fühlen, wenn er sie als überholt hinstellen möchte: „Ich glaube keine krasse Dummheit zu sagen, wenn ich behaupte, daß die Lessingsche Dramaturgie uns mehr in historischer und formeller Hinsicht noch berührt, fast wie sein Kampf mit dem Pastor Göze" (an H. Hettner, 4. März 1851). Vor allem nimmt er Ärgernis an Nachbetern Lessings, weil nun jeder Lump über Corneille und Racine aburteilen zu dürfen glaube. In diesem Punkt trifft er sogar das Richtige. Ähnlich ist um Jahrzehnte später der Protest gegen Lessings „Laokoon" zu verstehen (an Heyse, 30. Dez. 1880). Keller kann hier aber als Maler-Dichter und Meister der Schilderung mehr aus eigenem Erfahren und Beobachten urteilen als in Sachen der Dramaturgie. Es will ihm scheinen, als ob der „Laokoon", wie es ausdrücklich heißt: „hinsichtlich des malerischen Schilderungswesens einer Revision unterzogen werden" müßte. Sogar einige Gegen-Beispiele aus Homer bringt er auf die Bahn, betont jedoch — darin abweichend von der kritischen Stellung zur „Hamburgischen Dramaturgie" — : „Natürlich will ich an der Hauptsäule hiermit nicht rütteln". Er ist also vorsichtiger geworden als 1851, obwohl er hier zum Urteil berufener war.

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Für die Poetik bemerkenswert erscheint, daß er als Hauptargument die zunehmende Weiterentwicklung der Rezeptionsfähigkeit seitens der Leserschaft, also des Kunstwertaufnehmenden geltend macht. Denn seit der „ L a o k o o n " geschrieben worden sei, „hat sich die innere Sehkraft der Menge durch die Verbreitung der ästhetischen Bildung, die Realistik der Bühne usw. so vermehrt, daß . . ." (es folgen Einzelheiten). Diese Einzelheiten sind jedoch nicht besonders glücklich gewählt, weil gerade die Reduktion auf einen Einzeleindruck (besonders malerisch-farbiger Art) Lessing näher kommt, als Keller annimmt. Lessing beanstandet doch gerade die Häufung von Einzelzügen, nicht aber den prägnanten Ton, für den Keller eintritt. Wesentlich bleibt aber, daß auch dieser späte Einwand, wie einst schon der vom zeitgenössischen Lessing-Rezensenten Chr. Garve breiter dargelegte, von der Möglichkeit und Fähigkeit der nachschaffenden Phantasie beim Kunstwertaufnehmenden ausgeht. Der beachtenswerte Unterschied liegt j edoch darin, daß G. Keller auf die historische Entwicklung der Rezeptionsfunktion aufmerksam macht. Der Akzent liegt auf dem „so vermehrt". Es ist das für die Poetik keine müßige Nebensache. Vielmehr handelt es sich um einen kleinen Ausschnitt aus dem größeren Problemkreis, ob und wieweit die Gestaltungsweise auch gerade kunsthistorisch abhängig war von der Rezeptionsfähigkeit des Publikums. Äußerer Anlaß war die Verärgerung Kellers über kritische Bedenken, die der W . Scherer-Schüler Otto Brahm angesichts der zweiten Fassung des „Grünen Heinrich" geäußert hatte. Daher der Hieb auf die „neuphilologische Schule Wilh. Scherers". Keller argumentiert nun ähnlich wie damals bei der Dramaturgie. Lessing habe gewissen „Schulmeistern" mit seinen theoretischen Gesetzen den Stock in die Hand gedrückt, den sie nun, eines Lessing wenig würdig, mißbrauchen. Die Kritik O. Brahms lag im Dezember 1880 (Dt. Liter. Ztg. und Dt. Rundschau). Otto Brahm lernte bald darauf Keller persönlich kennen, und seine späteren Keller-Essays sind sehr verständnisvoll; vgl. Briefwechsel Heyse/Keller a . a . O . (1919), S. 199/200 und Anm. S. 203. S. 319. Berthold Auerbach. — Gesammelte Schriften in 18 Bdn. 3. Ausgabe 1892/95. — F. S e b r e c h t : Auerbachs dramaturgische Studien. Diss. Würzburg 1912. — H. G l ü c k : Der Dialekt in Auerbachs Dorfgeschichten, Diss. Tübingen

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1914. —• W . R. D o r n h e i m : Auerbachs Verhältnis zu Goethe. Diss. Frankfurt a. M. 1935. S. 328. Wilhelm Raabe. — Sämtliche Werke. Braunschweiger Ausgabe, hrsg. von Karl Hoppe. Freiburg/Braunschweig 1951 ff. Ergänzungsband 1 : W . Raabe-Bibliographie von F r i t z M e y e n , Freiburg/Braunschweig 1955. — W . Raabe-Kalender 1912/13. — Raabe-Gedenkbuch 1921. —· RaabeStudien, hrsg. von C o n s t . B a u e r 1925. —• H e i n r i c h S p i e r o : W . Raabe; Leben, Werk, Wirkung, 2. Aufl. Darmstadt 1925. —• W i l l i F e h s e : W . Raabe, sein Leben und seine Werke, Braunschweig 1937. — E r n s t S t i m m e l : Der Einfluß der Schopenhauerschen Philosophie auf W . Raabe, Diss. München 1919. — F r i t z J e n t s c h : W . Raabes Zitatenschatz, Wolfenbüttel 1925. — N. S . A . P e r q u i n : W . Raabes Motive als Ausdruck seiner Weltanschauung, Amsterdam 1927. — W a l t h e r S c h a r r e r : W . Raabes literarische Symbolik, dargestellt an „Prinzessin Fisch", Diss. München 1927. — E d u a r d W i e g a n d : Die Weltanschauung des reifen Raabe, Diss. Münster 1933. — Seit seiner Diss, über die Stadt in der Dichtung Raabes, Berlin 1934 bzw. dem Aufsatz in der ZfdtPhil. 58 (1933) hat F r i t z M a r t i n i eine ganze Reihe von Raabe-Abhandlungen publiziert: Über das Problem des Realismus im 19. Jh. und die Dichtung W . Raabes (Euphor. bzw. Dichtungund Volkstum36,1935), Raabe und der literarische Biedermeier (Raabe-Gesellschaft 23) bis hin zum Raabe-Beitrag in der GüntherMüller-Festschrift 1957. — H a n s - J o a c h i m B o c k : Grundzüge von W. Raabes Weltanschauung und Kunst, aufgew. an den „Alten Nestern", Diss. Bonn 1937 (streift das Kunstwollen S. 40 f., über Symbolik und Zitate S. 59 f.; setzt sich mit Ed. Wiegand auseinander, betont kosmozentrisches Weltbild, vernachlässigt Schopenhauer-Einfluß). —· G. K ö t t g e n : W . Raabes Ringen um die Aufgabe des Erziehungsromans (1939). — W i l l i F e h s e : Wilhelm Raabe und Wilhelm Jensen, 1940. — H e r m a n n B o e c k h o f f : Raabes Weltverhältnis, Diss. Kiel 1949. — M a x M e t z g e r : W . Raabe und die Antike, ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Altertums, Diss. Freiburg 1949 (Masch). — W a l t e r B i t t e r m a n n : Die Kunstmittel des Humors bei W . Raabe, Diss. München 1951 (Masch.). — H e r r n . M e y e r : Raum und Zeit in Raabes Erzählkunst, D . V L G . 1953. — A l o i s e E ß e r : Zeitgestaltung und Struktur in den historischen Novellen W . Raabes, Diss. Bonn 1953 (Masch.). —

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R o y P a s c a l : The Reminiscence-technique in Raabe, in: Mod. Lang. Rev. 49 (1954), S. 339—48.—I. H a l b e r s t a d t : Das Motiv der Schönheit im Schaffen W. Raabes, Diss. Frankfurt a. M. 1955 (Masch.). — D. L i e p e : Die Zentralsymbolik in W. Raabes epischer Dichtung, eine Studie über das Einsamkeits- und Vergänglichkeitsgefühl im Symbol, Diss. Freie Univ. Berlin 1955 (Masch.). — Herrn. P o n g s : Wilh. Raabe, Leben und Werk, Heidelberg 1958 (dort im Text kritische Stellungnahme zur Sekundär-Literatur). S. 329. A u t o d i d a k t . — Eben diese Eigenschaft hat vielen Lesern den Zugang zu seinem Werk und nicht immer zum Besten in diesem umfangreichen Werk erleichtert. Unvergessen aber sei das Wort Raabes: „Erkenntnis macht frei, Bildung fesselt, Halbbildung stürzt in Sklaverei", wobei vielleicht nur der Zusatz fehlt, daß Halbbildung vor allem dazu neigt, gerade die Erkennenden und nicht nur die Gebildeten in Sklaverei zu stürzen. Auch das Raabe-Wort gehört hierher: „Dem ungebildeten Menschen erscheint alles als Einzelheit, dem gebildeten alles im Zusammenhange". Doch erkennt Raabe mancherlei Übergänge und „Nuancen" an. Kritisch gesehen, gehört er selber ein wenig zu diesen Zwischenstufen, sowohl weltanschaulich wie künstlerisch. Wesentlich anders und vorteilhafter für W. Raabe steht es mit der Herzensbildung und der Fähigkeit, das Gemüt zu lenken, sowie mit der Weisheit der Erfahrung, die freilich manches Selbstverständliche allzu pädagogisch noch einmal verständlich zu machen versucht (und dies für nötig hält). S. 329. R a a b e - G e s e l l s c h a f t , e t w a s h o c h g e g r i f f e n . — Da liest man ζ. B. tiefsinnige Bemerkungen wie diese: „Sein Sterben war Wilhelm Raabes letztes Erlebnis (alles in Sperrdruck). Nach ihm hörte er auf zu atmen." Oder Fritz Hartmann bekennt bescheiden („Gespräche mit Raabe"), die Parallele mit Goethe unbefangen unterstreichend, etwa: „Man hat mich gelegentlich den Eckermann Raabes genannt. Ich hörte dies nicht ungern" — was begreiflich ist, aber kaum berechtigt. (H. Pongs sieht den Bezug weniger auf Goethe, weit mehr auf L. Sterne). Die große Lesermasse darf die Bedeutung eines Schriftstellers nicht über Gebühr empordrücken, besonders nicht die Bedeutung eines Schriftstellers, der sehr wenig wohlwollend über die Masse geurteilt hat. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß Raabe, darin Lessing verwandt, auch einen „gebildeten Pöbel" kennt und gerade ihn anprangert. Diese

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Bemerkung soll die unleugbaren Verdienste der RaabeGesellschaft um die Raabe-Sonderforschung in keiner Weise beeinträchtigen. Es geht nicht um Fragen des Grundsatzes, sondern des Grades; denn gerade die Liebe bleibt nicht immer gerecht. S. 331. „ G e d a n k e n u n d E i n f ä l l e " . — Leicht zugänglich gemacht werden die „Gedanken und Einfälle" im RaabeGedenkbuch, hrsg. von C. Bauer und Η. M. Schultz, Berlin 1921, S. 103 f., 134 f. Da sich ihre Aufzeichnung auf etwa zwei Jahrzehnte erstreckt, sind sie nur sehr bedingt für die Situation des „poetischen Realismus" im engeren Sinne aufschlußreich. Wenn ζ. B. ein Aphorismus „Die soziale Frage" voranstellt, so war diese Frage noch nicht das Entscheidende für den poetischen Realismus. Die soziale Verantwortlichkeit tritt an sich in mehreren Aphorismen eindrucksvoll zutage. Daneben aber fehlen auch bittere Erfahrungen nicht: „In dem Augenblicke, in welchem du dem Volke dein Bestes zu geben dich abhastest (!), ruft der Pöbel (!) unter deinem Fenster: Rache! oder gar: du Narr!" Der Pöbel sage stets „ D u " zu einem großen Mann, erwarte aber, daß man zu ihm selber achtungsvoll „Sie" sage. Andere Aphorismen belegen, daß er der Massen-Gesinnung und Massen-Bewegung ablehnend gegenübersteht. Eine weitere Gruppe richtet sich gegen billige Illusionen. Manche Aphorismen deuten unverkennbar auf Schopenhauer, so etwa: „Der Erdenmensch erlebt In einer Minute mehr Elend als das Tier der Erde vom Anfang bis zu Ende" oder die Klage über die Länge des Lebens usw. Das Wort von der Frau mit dem Kinderwagen einerseits und der Bedeutung des „Faust"-Dichters andererseits weist bereits ein wenig voraus auf das Wort von Arno Holz, daß dem Elend ein Pfund Butter bedeutender vorkomme als der „ganze Faust", steht aber mehr in der konservativen Linie gegen die Gleichberechtigung der Frau; denn das Wochenbett löst für ihn am überzeugendsten die ganze Frauen-„Frage". Der Aphorismus vom Türenzuschlagen als Kriterium des Ehe-Glücks bzw. Unglücks weist schon ein wenig auf Aug. Strindberg voraus, obgleich man das Gespenst der Langenweile auch auf die Grabbe-Büchner-Gruppe zurückbeziehen könnte. Raabe steht eben überall zwischen den Zeiten, darin Franz Grillparzer verwandt, nur eben in einem späteren Entwicklungsraum angesiedelt. Auch der Bezug auf Schopenhauer erinnert bei allem künstlerischen und gattungstypo-

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logischen Wert- und Wirkungsabstand an Grillparzer. Wie Grillparzer steht er allem kühnen Fortschritt von vornherein mißtrauisch gegenüber. Er gesteht wohl (dem Realismus) zu, daß man zunächst einmal „in den Dreck hineingeschlagen haben" muß, bevor man kritisch beurteilen kann, „wie weit er spritzt"; aber er gibt auch zu bedenken, daß die „Wiese im Morgentau und Sonnenglanz doch ihr Recht" in der Kunst bewahrt, „so genau" man auch immer „den Düngerhaufen beschreiben" mag. Das richtet sich in der Spätzeit schon gegen den Naturalismus, den im Grunde schon Homer vollendet und überwunden habe. Und so werde es „wohl auch durch das zwanzigste (Jh.) bei der Ästhetik unseres Vaters Homer verbleiben". In diesem Sinne sei schon Homer „naturalistisch" gewesen. Bei dieser Gelegenheit (a. a Ο., S. 139) wird das Dichterische schlechtweg abgehoben von der Wandlung der Epochenstile. Und dieses Poetische schlechtweg liegt für W. Raabe eben doch wieder beim „poetischen Realismus", der seine Position und Opposition nach rückwärts und vorwärts gleichermaßen bestimmt. Nicht zuletzt ist es der Humorist, der das Vergangene und Gegenwärtige ineinszubilden vermag: „Wer ist ein Humorist ? Der den winzigsten aller Nägel in die Wand oder die Hirnschale des hochlöblichen Publikums schlägt und die ganze Garderobe der Zeit und aller vergangenen Zeiten daran aufhängt". Wohl am tiefsten ins Persönliche greift —wieder an Grillparzer u. a. erinnernd — die lapidare Prägung: „Meine Bücher gewonnen, ein Leben verloren". S. 332. „ A l l e P o e s i e ist s y m b o l i s c h " . — Erst kurz vor Abschluß der Drucklegung konnte (vorerst also nur provisorisch) herangezogen werden H e r m a n n P o n g s : Wilhelm Raabe, Leben und Werk, Heidelberg 1958. Unter dem Eindruck von R u d o l f K a s s n e r : Das 19. Jahrhundert, Ausdruck und Größe, 1947, und im Abwägen gegen H e r b e r t C y s a r z : Von Schiller zu Nietzsche (1928) will ihm scheinen, daß beide eine Stelle leer gelassen hätten: „es ist die Eigenwüchsigkeit der Raabeschen Symbolkunst, die dem unscheinbaren Alltag des Kleinbürgers durch aufschließende Symbolkraft menschliche Tiefe abgewinnt, um aus solcher Lebens-Sinnfülle Heilkräfte aufzurufen gegen die Gleichgewichtsstörungen des Zeitalters" (S. 19). Formungstechnisch werden Wölfflins kunstgeschichtliche Grundbegriffe befragt und verwendet. Es ist H. Pongs nicht

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entgangen, daß die „neueste" Raabeforschung die Grundkräfte „Schicksal und Gemüt" stark vernachlässigt bzw. bewnßt verschmäht hat, so etwa S i e g f r i e d H a j ek (1950), Frz. K o c h (1957), K a r l H o p p e (Raabe-Rede 1957). Demgegenüber scheint H. Pongs, unter bewußtem Zurückgreifen auf die weit früher liegenden Prägungen und Wesensbestimmungen von W i l h . B r a n d e s , (zum 70. Geburtstag Raabes) mit seinem liebevoll eindringenden Raabe-Werk nicht zuletzt dem um sich greifenden „Gemütsschwund" (S. 633) heilsam begegnen zu wollen. Raabes „belebendes Prinzip im Gemüte" dürfte eine der Leitideen hergegeben haben neben der Symbol-Kraft (S. 636). Jene Gemütsaufwertung wurde offenbar ermutigt und gestärkt durch H e r m a n n F r i e d m a n n : Das Gemüt (1956). Gegen Schluß der Darstellung faßt H. P o n g s noch einmal zusammen: „Das besondere Ziel war, das allmähliche Wachsen der G e m ü t s - u n d S y m b o l k r ä f t e zu verfolgen durchs ganze Werk" (S. 638). Hinsichtlich des Zwiespalts von Verantwortlichkeit und Determinismus gilt für Pongs das Leitund Leidwort Raabes vom „Freidurchgehen" (trotz allem frei hindurchgehen) als sehr wesentlich für die richtige Einschätzung des Ethik-Ästhetik-Verhältnisses. Andeutungen müssen hier genügen. Und noch einmal wird klargestellt, daß auf die „Mitte des Raabeschen Gemüts" auch im Form-Inhalt-Verhältnis alles bezogen bleiben muß, um zu einer richtigen Deutung zu gelangen. Wiederum verbindet sich damit das Ethische: „Sein Freidurchgehen ist das dauernde Ringen um die symbolische Gestalt aus der Mitte seiner im Gemüt ergriffnen Welt" (S 653). — H . Pongs begründet den Verzicht auf Anmerkungen, baut nun aber gleichsam die Auseinandersetzungen mit der Sekundärliteratur in den darstellenden Text hinein, sozusagen mit Hegelscher „List der Vernunft". Aber der darstellende Text verliert dadurch die ungestörte Einheitlichkeit der Aussage; eine Ideallösung des leidigen Anmerkungsproblems ist also kaum gefunden worden. Nebenbei: Keller und Storm haben auch viel „Gemüt"; blieben als das Spezifische die „Symbolkräfte" und jenes „Freidurchgehen" in V e r b i n d u n g mit dem Gemüt. S- 333- V e r h ä l t n i s v o n H i s t o r i e u n d Poesie.—Einige charakteristische Merkmale arbeitet durch vergleichende Gegenüberstellung mit Th. Fontane heraus C l a r a S i e p e r : Der historische Roman und die historische Novelle bei Raabe

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und Fontane, Diss. München, gedr. Weimar 1930, wobei z . T . die Masch.-Expl.-Diss. München von F. G. S u n d : Raabe als Gestalter geschichtlichen Geschehens (1922) ausgewertet werden konnte. Danach bevorzugt Raabe den Geschehensausschnitt vom 16. bis 18. Jh., während das 19. Jh. nur mit zwei Erzählungen vertreten ist; am stärksten belegt ist das 16. Jh. (fünf Erzählungen). Nur mit dem Briefroman „Nach dem großen Kriege" (i860) nähert sich W . Raabe seiner Gegenwart, ohne jedoch die Grenzen des Historischen zu überschreiten. Das Kunstwollen wird berührt, wenn Raabe einerseits von suggestivkräftigen Einzeleindrücken, andererseits von kompakten Quellen werken ausgehen soll. Doch will es C. Sieper nicht recht gelingen, von dieser Beobachtung aus entsprechende Gestaltungstypen klar voneinander abzuheben. Vielleicht hindert daran themagemäß der ständige Vergleichsblick auf Fontane. S. 337. Richard Wagner. — P a u l M o o s : R . Wagner als Ästhetiker, Versuch einer kritischen Darstellung, Berlin und Leipzig 1906. Paul Moos hatte in seinem Werk „Moderne Musikästhetik in Deutschland" (1902) R . W a g n e r ausgeklammert und behandelt ihn nun gesondert als „ K u n s t philosoph" in einer umfangreichen, kenntnisreichen Darstellung. Als Ästhetiker sei Wagner Autodidakt gewesen. P. Moos verweist zur Sicherung der Grundlagen auf die Kapitel über Hegel und Schopenhauer in seiner „Musikästhetik" von 1902. Er legt Wert auf die Klarstellung, daß Wagners Musikdramen nicht nachträgliche Paradigmen einer vorher aufgestellten Theorie seien. „Seine Theorie ist im Gegenteil nichts anderes als ein abstrakter Ausdruck des in ihm unbewußt sich vollziehenden künstlerischproduktiven Prozesses". Nicht zufällig seien Opem wie der „Fliegende Holländer" oder „Tannhäuser" oder „Lohengrin" bereits vor den „großen theoretischen Schriften entstanden" (S. 365). P a u l M o o s hat u. a. auch Ε . Τ. A. Hoffmann, der frühzeitig auf Wagner einwirkte, gewürdigt: Ε. T. A . Hoffmann als Musikästhetiker, in: Die Musik, Bd. 23. Zusammenfassend legte er später vor: Die deutsche Ästhetik der Gegenwart I (1920), II (1932). — P. Th. H o f f m a n n : Schopenhauers Erlösungsgedanke und die Erlösungsmotive bei R. Wagner, in: Schopenhauer-Jb. 32 (1945/48), S. 123—39. — I. M. S t e i n : The influence of Schopenhauer on Wagner's concept of the 'Gesamtkunstwerk', in: Germ. Rev. 22 (1947), S. 92—105. — M a u r i c e

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B o u c h e r : Les idees politiques de R. Wagner, Paris 1948. — H a n s J o a c h i m S c h ä f e r : Gehalt und dramaturg. Gestaltung im Kunstwerk R. Wagners, Diss. Marburg 1950 (Masch.). —• A. R. N e u m a n n : Wagner's 'Gesamtkunstwerk', in: Opera News 15 (1951), X V I I , S. 6—8. — G. G. W i e ß n e r : R. Wagner, der Theater-Reformer, vom Werden des dt. Nationaltheaters im Geiste des Jahres 1848, Emsdetten 1951. — 0. F r i e s : R. Wagner und die dt. Romantik, Versuch einer Einordnung, Zürich 1952. — T h e o d o r W. A d o r n o : Versuch über Wagner, Frankfurt a. M. 1952. — H a n s M a y e r : R. Wagners geistige Entwicklung, in: Studien zur dt. Litgesch., 2. Aufl. Berlin 1955, S. 171—212. S. 337. E i n f l u ß S c h o p e n h a u e r s . — Im einzelnen kann hier der Einfluß Schopenhauers, der den Hegels unverkennbar übertrifft, nicht nachgewiesen werden. Immerhin sei erinnert an folgende Übereinstimmungen: mit Schopenhauer betont R. Wagner „Une soiree heureuse, Fantasie sur la musique pittoresque" (1841 übersetzt als „Ein glücklicher Abend") die Fähigkeit der Musik, über das Individuelle und Besondere der einmaligen Empfindung hinaus das Typische der Freude an sich, des Schmerzes an sich, also das jeweils Wesentliche zum Ausdruck zu bringen. Selbst seine Vorstellung von dem Ursprung der Sprache aus einer Urmelodie erscheint wie eine Analogiebildung zu Schopenhauers Konzeption vom Urwillen als bewegender Kraft. Noch die späte Schrift über „Religion und Kunst" (1880) mit dem Nachtrag „Was nützt diese Erkenntnis ?" verrät allenthalben Nachwirkungen Schopenhauers. Allerdings überschätzt m. E. die Darstellung und Interpretation bei Paul Moos ein wenig diesen Schopenhauer-Einfluß, zum mindesten in der Spätzeit, wo er es für erforderlich hält, seitenweise Schopenhauer zu Wort kommen zu lassen a. a. 0., S. 447f. (Kapitel „Religion und Kunst"). Der Tenor dieser Interpretation ist vielleicht am klarsten gekennzeichnet durch die Bemerkung: „Da, wo ihm Schopenhauer ein sicheres Fundament bietet . . . " , da sei alles in Ordnung. In dieselbe etwas tendenziöse Richtung weist der Hinweis auf Eduard v. Hartmann. Allerdings entspricht es dem Niveau P. Moos', daß er auf die Gefahr aufmerksam bleibt (offenbar angeregt von E. v. Hartmann), die in der Annäherung Wagners an den Quietiv-Begriff Schopenhauers liege (S. 458). E r n s t W a c h l e r , dessen kritische Wagner-Abhandlung noch zu

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würdigen sein wird, hatte bereits geltend gemacht, daß im Gesamt der Kunsttheorie Wagners Hegel wahrscheinlich stärker eingewirkt habe als Schopenhauer. Aber P. Moos hat offensichtlich diese an abseitiger Stelle erschienene sehr interessante Abhandlung übersehen, obwohl sie fast ein Jahrzehnt vor seiner Wagner-Arbeit erschienen war. Wenigstens zeitweise hat sich R. Wagner unverkennbar der Hegeischen Linken (Rüge, Feuerbach, Strauß) genähert. Doch ist eine Schwenkung Wagners von L. Feuerbach zu A. Schopenhauer unverkennbar. Einflüsse von L. Feuerbach und den Junghegelianern sind anzusetzen etwa seit 1848, Einflüsse von Schopenhauer vor allem etwa seit 1854. S. 342. A b w e h r des K l a v i e r s a l s M u s i k i n s t r u m e n t . — Die Anpassungswilligkeit R. Wagners äußert sich nicht zuletzt auch darin, daß er diese Antipathie dort aufgibt, wo er gleichsam amtlich einen „Bericht über eine in München zu errichtende Musikschule" (1865) dem Bayernkönig zu erstatten hat. Dort ist plötzlich das Klavier das „eigentliche Haupt instrument". Aber auf Schwenkungen und Widersprüche muß man bei R. Wagner jederzeit gefasst sein. S. 344. K u n s t w e r k der Z u k u n f t . — Daß es sich dabei ζ. T. um ein Kunstwerk der Vergangenheit handelte, wird erkennbar, wenn man Vorläufer der Ideen R. Wagners gebührend einbezieht, von denen allerdings R. Wagner kaum etwas Näheres gewußt hat. Das gilt besonders von seiner Polemik gegen die Opern-Arie, ζ. T. aber auch vom Dramatischen der Oper und selbst vom Gesamtkunstwerk. Von fachlicher Seite ist hingewiesen worden auf A. W. Ambros „Geschichte der Musik" Bd. IV, Emil Vogel: Marco da Gagliano, in D. Vschr. für Musikwiss. Jg. 1889 u. a. Vor allem kommen in Betracht der Graf Bardi sowie Vincenzo Galilei; aber zu Beginn des 17. Jh.s auch Marco da Gagliano (Vorrede zur „Dafne"-Partitur, 1608), der auch schon das Zusammenwirken der Einzelkünste ins Auge gefaßt hat, wobei die bildende Kunst (Malerei) übrigens eigentlich mehr zur Geltung kommt als bei R. Wagner. S. 344. „ L a o k o o n " ü b e r M u s i k / D i c h t k u n s t . — Es lag in dieser Richtung damals schon ein bemerkenswerter Ansatz vor in einem Beitrag des Musikhistorikers A u g . W i l h . A m b r o s : Die Grenzen der Musik und Poesie, eine Studie zur Ästhetik der Tonkunst, 2. Aufl. Leipzig 1872. Aber es war nur ein Ansatz von der Tonkunst her, und Ambros

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wendet sich naturgemäß vorwiegend an den Musiker, weit weniger an den Dichter; vollends das Dramaturgische bleibt fast ganz aus dem Spiel. Diesen Mangel suchte auszugleichen der später für die Heimatkunst (Bd. V) noch näher zu berücksichtigende Begründer des Harzer Bergtheaters E r n s t W a c h l e r : Die Grenzen der Ton- und Dichtkunst nebst einem Urteil über die Wagnerische Kunstform, in dessen Streitschrift „Die Läuterung deutscher Dichtkunst im Volksgeist", Leipzig 1897, S. 57—138. Dr. Ernst Wachler schreibt hier eine viel zu wenig beachtete rein kunstwissenschaftliche Abhandlung mit Anmerkungen usw., die zum Schaden der Wagner-Sonderliteratur durchweg übersehen worden ist, was mit dem Gesamttitel der Streitschrift zusammenhängen dürfte. Was E. Wachler dort an versteckter und vergessener Stelle ausführt, ist weit gründlicher und kritisch einsichtsvoller als viele „neue" WagnerInterpretationen, jedenfalls was die Kunsttheorie betrifft, die hier themagemäß besonders zu interessieren hat. Selbst der Musik-Fachwissenschaftler von Ansehen Paul Moos hätte gut getan, sich einmal diese Argumentationen Ernst Wachlers etwas näher anzusehen, von späteren und allerneuesten Wagner-Interpreten einmal ganz abgesehen. Obgleich es nicht seiner Tendenz entspricht, verfährt nämlich E. Wachler gründlich genug, um Lessings Nachlaß zum „Laokoon" mit heranzuziehen (S. 129 f.). Lessing handelt dort „Von der Verschiedenheit der Zeichen" (Zeichenlehre, vgl. Bd. II), aber auch von gewissen Verbindungsmöglichkeiten. Die natürlichen Zeichen der bildenden Kunst waren von den aufeinanderfolgenden Zeichen der Poesie scharf abzuheben („Laokoon"); aber das Aufeinanderfolgen (zeitliche Succession) können auch willkürliche Zeichen (Poesie) und natürliche Zeichen (Tonkunst) g e m e i n s a m haben. Es bestehen für den Lessing des ,,Laokoon"-Nachlasses mehr Verbindungsmöglichkeiten zwischen Dichtkunst und Tonkunst (Musik) als zwischen Dichtkunst und bildender Kunst. An dieser Stelle hätte R. Wagner vorteilhaft einsetzen können. Indessen: E. Wachler weist zwar darauf hin, meint aber einigermaßen spitzfindig, nicht eine,, Verbin dung von Poesie und Musik", sondern höchstens eine Annäherung „der Worte und Musik" sei damit gegeben bzw. von Lessing zugegeben (S. 130). Demgegenüber muß festgehalten und nachdrücklich herausgestellt werden, daß R. Wagner sich durch Nicht-Berücksichtigung des „Laokoon"-Nachlasses Lessings, dessen Kenntnis man freilich 42

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billigerweise nicht von ihm erwarten konnte, ein wertvolles Argument entgehen ließ. Lessing dachte allerdings mehr an die Opernform, in der die Poesie eine helfende Funktion hatte; aber er vermißte immerhin eine Kunst-Mischung, wo die Musik nur Hilfestellung leistete (höchstens das Rezitativ kam in Betracht). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß R. Wagner — fast umgekehrt — das Drama der Dichter ein „rezitierendes Drama" nennt in Abhebung vom Musikdrama. Die Schwäche und Einseitigkeit der Position und Opposition E. Wachlers liegt darin, daß er in dem Musikdrama eine Gefährdung des reinen Dramas sieht, ähnlich wie die Naturalisten (er schreibt 1897) Novelle und Drama verquickt hätten. Weiterhin darin, daß er einerseits den Gefühlsausdruck der Poesie betont, damit Wagners Primat der Musik von dieser Seite her gebrochen werden kann, andererseits aber das Geistig-Gedankliche in der Sprache, auch in der Dichtersprache betont, damit die Unzulänglichkeit (und damit der Unterschied) der Musik möglichst klar hervortreten kann. Außerdem bejaht er die nationalen Thesen Wagners, überhaupt dessen allgemeine Tendenzen, weil sie einigermaßen mit seinem Haupthema von der „Läuterung deutscher Dichtkunst im Volksgeiste" konform gehen, bekämpft aber die „engere Theorie" vom Gesamtkunstwerk. Dabei geht er so weit, daß er geradezu ein verläßliches Kriterium der Fehlerhaftigkeit eines Dramas darin sieht, daß es sich veropern läßt; was sich für die Oper eignet, ist fehlerhaft: „In der Tat kann der Dichter aus dem, wonach der Tonsetzer greift, entnehmen, was ihm im Schauspiel versagt ist" (S. 120). Und so gilt ihm R. Wagner als das „größte und verführerischste Beispiel der Grenzverrückung" zwischen Musik und Poesie (S. 129). S. 347. S o n d e r f o r s c h u n g , „ J u g e n d s c h r i f t e n " . — Aus der Schule W. Golthers (zeitweise Wagner-Spezialist und Herausgeber) stammt u . a . die Untersuchung von P a u l B ü l o w : Die Jugendschriften R. Wagners, Diss. Rostock, gedruckt Gießen 1916. Behandelt wird die schriftstellerische Bemühung R. Wagners in der Pariser Zeit (1839—42) unter Berücksichtigung der literarischen Einflüsse als Rückgriff auf die Nachwirkung der „Jugendlektüre". In Betracht kommen: Tieck/Wackenroder, Ε. T. A. Hoffmann, Wilh. Heinse (Musikinteresse), Friedr. Rochlitz, H. Laube, Ernst Ortlepp, Heinrich Zschokke und gerade für die Pariser Zeit

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Heinrich Heine. Warum der Sturm- und Drang-Dichter Wilh. Heinse (sogar in der Inhaltsangabe) dem Jungen Deutschland zugeordnet wird, bleibt rein formal einigermaßen unklar (vgl. auch die Kapitel-Überschrift S. 87: Aus dem Kreise des jungen Deutschlands: Heinrich Laube und Wilh. Heinse). An sich sind die nachgewiesenen Parallelen zwischen Wagners „Ein glücklicher Abend" und W. Heinses Roman „Hildegart v. Hohenthal" dankenswert (S. 95 f.). S. 352. G r u n d s c h w ä c h e s e i n e r K o n z e p t i o n . —• R.Wagner geht so weit im Abdrängen der Dichtkunst, daß er ihr letzten Endes nur zwei Ausweichwege zugesteht, das Ausweichen zur Philosophie einerseits und zur Musik andererseits. Das Ideal ist natürlich das Eingehen und Aufgehen in Musik; vgl. auch Paul Moos a. a. 0., S. 364. S· 352. „ J e s u s v o n N a z a r e t h " . —• Es besteht darüber eine Untersuchung von P. R. G r a a p : R. Wagners dramatischer Entwurf „Jesus von Nazareth", Entstehungsgeschichte und Versuch einer kurzen Würdigung, Diss. Marburg 1920. Da der Entwurf 1848/49 entstanden ist, erhebt sich trotz des biblischen Motivs die Frage, ob schon Feuerbach eingewirkt hat (Einflußvorwelle in Dresden, dann Hauptwelle Zürich). Eindeutig kann auch P. R. Graap diese Frage nicht beantworten, obgleich er ausführlich auf Einwirkungen revolutionärer Art (August Rockel, Michael Bakunin, Arnold Rüge) eingeht. Gewisse Einschläge christlichsozialer Vorstellungen sind im Entwurf unverkennbar. Lamennais käme also in Betracht und auch Weitling. R. Wagner wollte moderne philosophische und soziale Tendenzen hineinformen, sah aber ein, daß es sehr schwierig sei, die „populäre Vorstellung" zu überwinden. Er selber gibt diese Gründe an. Daneben dürften aber doch rein begabungsmäßige Ursachen entscheidend mitgewirkt haben, wenn es bei einem bloßen Entwurf blieb. Hebbels Christusfragment liegt erst 1863, Grabbes Plan war R. Wagner sicherlich unbekannt. Ebenso wie „Friedrich I " war „Jesus von Nazareth" als Wortdrama, als dichterisches Drama angelegt, eine Umsetzung in ein Musikdrama hat R. Wagner auch späterhin nicht vorgesehen (a. a. 0., S. 84). S. 352. L e s e r s e i n e r O p e r n t e x t e . —• Selbst die Sonderuntersuchung von W e r n e r R a m a n n : Der dichterische Stil R. Wagners in seiner Entwicklung von Rienzi bis Parsifal, 42*

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Diss. Jena (Teildruck 1929), obwohl zur Verklärung geneigt, muß gelegentlich zugeben: „Gelesen verlieren die Opern viel"; aber der Haupttenor bleibt: „Nur ein Wagner brachte es fertig . . ." (S. 6). Verf. kann schon Golther, Lichtenberger, Pfordten, Schrenck auswerten, auch die Sonderarbeit von Paul: R.Wagner und der Stabreim. In dieser metrischen Bemühung kommt Fouque als Vorläufer in Betracht. Ramann macht sich R. Wagners Argument zu eigen, daß die Dichtersprache nicht ausreiche. Dramatiker seien zuletzt verhinderte Musiker: „In jedem Dichter steckt schließlich (!) das Bedürfnis . . ." Trotzdem kommt er angesichts des „Tondramas" zu der Kompromißformel: „Musik u n d Wort, das ist Wagners wahrhafte D i c h t e r sprache". Das hat nur Sinn, wenn man Wagners Ausweitung des Terminus „Dichter" annimmt und gutheißt. S· 353/ B u d d h i s m u s im E n t w u r f , „ S c h m e r z e l e i d e " . — Auf 354. den Entwurf sowie die Parallelen zu den literarischen Quellen geht näher ein C u r t R. H o h b e r g e r : Die Entstehungsgeschichte von Wagners Parsifal auf philologischhistorischer Grundlage, Diss. Greifswald (mitberaten von W. Golther) 1914. Die Arbeit wurde von G. Ehrismann betreut, verbürgt also Exaktheit gerade in der Auswertung der Quellen-Vorlagen. Hinweis auf Buddhismus S 167, auf „Schmerzeleide" usw S. 33. Eingehende Text-Vergleichung. S. 354. B ü c h n e r s R e a l i s m u s . — Wenn allerdings H. Mayer allzuviel Wesens macht (1946, gedämpfter 1954) von Büchners revolutionärem Realismus in der formulierten Poetik, so fühlt man sich versucht, einmal ernüchternd auf eine Büchner ganz nahe Formulierung des sehr frühen R. Wagner hinzuweisen, die sogar etwas früher liegt als die entsprechende Büchners. Sie lautet als Antwort auf die Frage, warum so lange Zeit (angeblich) kein deutscher Opernkomponist sich durchzusetzen vermocht habe: „Weil sich keiner die S t i m m e d e s V o l k s zu verschaffen wußte — d.h., weil keiner d a s w a h r e , w a r m e L e b e n p a c k t e , wie es i s t " (kurzer anonymer Essay „Die deutsche Oper" in H. Laubes „Zeitgeschichte für die elegante Welt", Jg. 1834). Die positive Forderung daraus läßt sich unschwer ablesen. Sie erfolgte nicht zufällig im Raum des Jungen Deutschland, das Wagner hier theoretisch überbietet. Sein Kunstschaffen aber bleibt darin hinter dem G. Büchners zurück, folgt aber auch einem anders gearteten Kunstwollen.

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S. 356. Gustav Freytag, T e c h n i k d e s D r a m a s . — Die Belegstellen beziehen sich auf die Erstausgabe, Leipzig 1863. Sie war aus früheren, teilweise hastig entworfenen Aufsätzen hervorgegangen. G. Freytag hat später eine Umarbeitung vorgenommen. Unmittelbar in die Entwicklung eingegriffen (und darauf kommt es hier an) hat jedoch die Fassung von 1863. — Bekanntlich hat sich bereits W i l h . D i l t h e y in einer längeren Rezension (Neudruck im Shakespeare-Jb. 69, S 27—60) mit Freytags „Technik des Dramas" auseinandergesetzt . Was das weit verbreit et e, immer noch nachwirkende A u f b a u s c h e m a Freytags betrifft, so hat u. a. Frz. Saran daran produktive Kritik geübt. Ich selber habe im Reallexikon einen Gegenvorschlag angedeutet. Es handelt sich dabei um einen Gedanken meiner Habil.-Vorlesung (vor der engeren Fakultät, 1924), der vielfach in Seminaren erprobt und ausgebaut wurde und auch in einige Diss, übergegangen ist, so ζ. B . in die Diss, von H.-E. Bleich über den Boten aus der Fremde als kompositionsbedingenden Faktor im naturalistischen Drama (1936). Diese produktive Kritik ging u. a. davon aus, daß bei Freytag Exposition und Katastrophe auf derselben Kurvenhöhe liegen, daß außerdem der analytisch-regressive Handlungstypus nicht mit einbezogen worden ist und daß für das Kurvenbild überhaupt klare Beziehungswerte (sozusagen die Abzissen) fehlen. Deshalb schien ratsam, zunächst einmal eine Katastrophenlinie und eine Lebensdurchschnittslinie anzusetzen, zwischen denen sich die Handlungskurve bewegt. Der im Aufbauschema senkrechte Abstand zwischen Katastrophenlinie und Lebensdurchschnittslinie ergibt die Spannungslinie, an der die jeweiligen Ausschläge der dramatischen Spannung abzulesen sind. Beim analytischregressiven Handlungstypus (bei Freytag ganz ausgeschaltet) sind alle markanten Stellen bezogen auf rückwärtige Antriebskräfte (rückwärtiger Beziehungspunkt), sie enthüllen mehr und mehr diese Antriebe aus der Vorfabel (Enthüllungsdrama). Bei Mischformen (ζ. B . inneres Geschehen progressiv: Humanität und Toleranz im „ N a t h a n " ; äußeres Geschehen regressiv: Recha als Schwester des Tempelherrn, vgl. auch Kleists „Käthchen von Heilbronn", Schillers „Maria Stuart") sind alle markanten Einschnitte und Wendungen der Kurve jeweils bestimmt vom rückwärtigen Beziehungspunkt oder vom gleichsam vorwärtigen Beziehungspunkt, wobei diese Zugkräfte an besonders markanten Wendungen der Handlungskurve gleichzeitig ein-

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zu wirken pflegen. Auf diese Weise kann die Kurve auch subtileren Schwingungen im dramatischen Kraftfeld Rechnung tragen und sie veranschaulichen. Ohne den Vorschlag zu überschätzen, scheint er zum mindesten für den „Schulgebrauch" seine Vorteile zu haben. Doch Andeutungen und Anregungen müssen hier genügen. S· 357· „ I m p o n i e r e n d e B e g e b e n h e i t e n " . — G. Freytags frühere Meinungen über das Verhältnis von Poesie u n d P o l i t i k spiegelt recht instruktiv der Aufsatz aus der Revolutionszeit „Die Kunst und Künstler in der Revolution" („Grenzboten" Jg. 1849). Damals wird ein anregender und fördernder Impuls von der Politik erwartet und behauptet, betr. der Poesie bestehe beim Durchschnitts-Talent eine gewisse Gefahr des Sich-Verlierens, für die echte Begabung dagegen gilt das politische Anteilnehmen als erwünscht, ja als erforderlich, wenn anders seine „Schöpfungskraft" nicht in der Enge „verkümmern" soll. Vor allem erhofft Freytag eine Erneuerung und Belebung der dichterischen MotivWelt durch bedeutende politische Vorgänge. Der Vergleich mit Schillers Prolog zu „Wallenstein" liegt nahe (franz. Revolution). Die Haltung ist ähnlich: der Dichter soll die Möglichkeit nutzen, bewegende Stoffe zu ergreifen, Ereignisse, um sie „zu tragischen Stoffen und großen Kompositionen" auszuwerten. Merklich ist es das Scheitern der Revolution, das ihn auf tragisch erhebendes Heldentum hinweisen läßt, also auf Motive und Stimmungen, die sich den Dichtern aufdrängen müßten, „wenn sie die stärkste Kraft, den reinsten Menschenwillen in unseren Tagen zerschellen sehen . . ." Vergleicht man mit dem späteren G. Freytag, schon mit dem der „Technik des Dramas" und vollends mit dem der Romantheorie, so ergibt sich eine fast so beträchtliche Schwenkung wie etwa bei R. Wagner (vgl. auch K. Classe: G. Freytag als politischer Dichter, 1914). S. 358. Absage an das J u n g e D e u t s c h l a n d . — In diesem Zusammenhang sei an die Annäherung an das Junge Deutschland in G. Freytags Frühzeit erinnert. Das Fragment „Der junge Gelehrte" (1844) entspricht noch weitgehend dem Programm, das (als im Kunstwerk formulierte Poetik) Karl Gutzkow im „Urbild des Tartuffe" (1. Akt, 3. Szene) aufgestellt hatte: „Die Bühne soll das Leben mit der Kunst, die Kunst mit dem Leben vermitteln; stellt doch Menschen hin, die nicht vergangenen Jahrhunderten,

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sondern der Gegenwart, nicht den Assyrern und B a b y loniern, nein, euren Umgebungen entnommen sind", vgl. O t t o M a y r h o f e r : G . Freytag und das Junge Deutschland (1907) und J o s e p h S c h e n k e l : Das Verhältnis des jungen Freytag zum Jungen Deutschland, Diss. Bonn 1920 (Masch.-Expl.; Auszug). S. 358. Julian Schmidt: i d e a l i s i e r e n d e L i n i e (Ergänzung). —• Freytags Mitherausgeber der in den 40 er bis 50 er Jahren recht angesehenen Zeitschrift „Die Grenzboten, Zeitschrift für Politik und Literatur" (1841—60). J u l i a n S c h m i d t (1818—86), ist vor allem als Literaturhistoriker bekannt geblieben. Nachdem er eine „Geschichte der deutschen Literatur im 19. Jh." (1853) herausgebracht hatte, folgte seine umfassendere „Geschichte der deutschen Literatur seit Lessings T o d " , die 1867 bereits in 5. Aufl. erscheinen konnte. Julian Schmidt war aber nicht nur LiteraturHistoriker, sondern auch Literatur-Kritiker. Diesen Literatur-Kritiker hat vor allem gewürdigt die mit sehr breiten Zitaten arbeitende Untersuchung Von A l e x K ö s t e r : Julian Schmidt als literarischer Kritiker, Diss. Münster 1933. Und wiederum war dieser Literatur-Kritiker zugleich in einem beachtenswerten Grade Literatur-Theoretiker mit ausgeprägt kulturpolitischen Einschlägen. Diese Kulturpolitik ihrerseits läßt sich am knappsten mit dem Kennund Stichwort nationalliberal umschreiben. Das bedeutet, — von der Poetik aus gesehen — Julian Schmidt verharrte im ganzen bei der nachklassischen Idealisierung und gab dem Realismus, den er heraufkommen spürte, letztlich nur soweit Raum, wie dieser Realismus sich dem „Prinzip" des überkommenen Idealismus der Nachklassik anzupassen verstand und unterzuordnen bereit war. Es ist das Wort „Prinzip" gefallen, nicht von ungefähr, denn es ist ein Lieblings wort, ja fast schon ein kunsttheoretischer Terminus, an dem man einigermaßen verläßlich Julian Schmidts „Grenzboten"-Rezensionen und Reflexionen erkennen kann, auch dort, wo sie nicht mit Namen gezeichnet wurden. So kann es kaum noch den „ K e n n e r " (Anführungsstriche; denn wer wollte für diese verworrenen Zeiten und so widerspruchsvolle Erscheinungen wie J. Schmidt sagen, daß er es wirklich sei?) überraschen, wenn ein kunsttheoretisch belangreicher „Grenzboten"-Beitrag Julian Schmidts den Titel trägt „Der neueste englische Roman und das Prinzip des Realismus" (Jg. 1856, IV S. 466—74). Die „ G r e n z -

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b o t e n " führten an sich schon eine Sondersparte über den „Neuen Roman", was gattungstheoretisch keineswegs unerheblich war, nimmt es doch manches von dem vorweg, was späterhin in dieser Darstellung (vgl. Bd. Y) recht häufig geltend gemacht werden mußte, daß nämlich dem „Roman" als Gattung eine besondere Aufmerksamkeit zukomme, obgleich er in seinem Kunstrang noch reichlich (und mit relativ. Recht) umstritten war (und blieb). Dieser Essay J. Schmidts geht davon aus, daß der zeitnahe Kritiker nicht den Anschluß an das jeweils vorherrschende „Stichwort" verlieren darf, indem er in seiner Sondersituation erkennen muß: „Unter den neuesten Stichwörtern ist eins der beliebtesten das P r i n z i p des R e a l i s m u s " (a. a. O., S. 467). Und da er es (wie erwähnt) mit den „Prinzipien" hält, läßt er sich natürlich (bis notgedrungen, denn eigentlich empfindet und urteilt er nachklassisch-„idealisierend") auch dieses „beliebteste" Prinzip nicht entgehen. In England sei es zudem führend, in Frankreich besonders von Victor Hugo vertreten (?), in Deutschland zum mindesten, und darin bleibt die Anlehnung an die Gattungs- und Arttheorie aufrechterhalten, durch die Ausbildung der „Dorfgeschichte" spürbar. Die englischen Romanciers Charles Reade (kaum noch bekannt) und Charles Dickens (unverwüstlich und auch für G. Freytag neben W. Scott weithin verbindlich) gaben Julian Schmidt Anlaß zu diesen allgemeinen kunsttheoretischen Betrachtungen. Jedenfalls dürfte man diese engl, „matter of fact-Dichter" keineswegs unterschätzen; denn bei ihnen wird die Dominante bereits entwickelt zu einer „Doktrin". Dabei sei das „neue Prinzip" keineswegs identisch mit der alten Prävalenz der (klassischen) „Objektivität" (unbewußte Kritik an Spielhagens Konzeption und Konstruktion). Julian Schmidt ist sich bei alledem klar darüber, daß es nicht um die „innere Wahrheit", sondern um die „äußere Wirklichkeit" geht (S. 468). Es ist bei der Erörterung über das Paradigma Max Piccolomini im „Wallenstein" Schillers unschwer zu erkennen, daß es Julian Schmidt widerstrebt, wenn der „Realist" im Roman das Verfahren der Genremalerei auf das „historische Gemälde" übertragen will. Im Grunde erscheint ihm dieses Kunst wollen als „prinzipiell" verfehlt. Aber er sieht sich angesichts der erfolgreichen englischen Romane gezwungen, Geduld zu üben. Und hier greift nun wieder die Gattungstheorie entscheidend ein und über. Denn nach J. Schmidt beginnt der Realismus im Drama sehr bald zu langweilen,

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während er im Roman williger geduldet zu werden pflegt: „In anderen Dichtungsarten ist schon durch die poetische Form (Versform ?) eine gewisse ideale Erhöhung notwendig gemacht". Im ausgedehnten Raum des Romans dagegen sei die „Detailmalerei" nicht nur möglich, sondern geradezu „notwendig". Die Warnung vor einem „zu weit getriebenen Realismus" bleibt bei alledem unüberhörbar, wenn auch dem Roman als Gattung mehr Spielraum vergönnt wird als etwa dem Drama. Aber selbst, was die Gattungstheorie des Romans betrifft, so muß das Material stets Mittel bleiben und darf nie Ziel und Zweck der Poesie werden: „er soll nicht abhängig sein von seinem Material, sondern er soll über dasselbe nach Gesetzen der (nachklassischen) Kunst verfügen" (S. 469). Das neue Lebensrecht darf vom Realismus nirgends „auf die Spitze" getrieben werden. Das „Typische" ζ. B. (und hier irrt H. Reinhardt mit seiner weitgehenden Gleichsetzung von G. Freytag und J. Schmidt mit 0. Ludwig) sei zwar zu „akademisch"-klassizistisch (Verwechslung von Norm und Typus); aber das nur Charakteristisch-Realistische sei ebenso einseitig. Um das zu beweisen, wird wie bei allen lauten oder latenten Gegnern des resoluten und konsequenten Realismus das „Prinzip" der (inneren) „Wahrheit" gegen das „Prinzip" der (äußeren) Wirklichkeit ausgespielt: „Die Wahrheit darstellen kann weder derjenige, der die Wirklichkeit nicht kennt (besonders bei Gegenwartsmotiven im Roman), noch derjenige, der ihr Sklave ist". Es sei ein „prinzipieller" Irrtum der Realisten im Roman, zu glauben, die Garantie des Realismus liege vorwiegend in der Größe des „Grotesken" (vgl. jetzt die Sonderschrift von Wolfgang Kayser). Hier meldet sich die Gegenwehr vom „Gesunden" aus und vom „Gemüt" aus, das die „Grenzboten"-Gewaltigen (G.Freytag/J. Schmidt) vor allem als Grundprinzip vertraten, dergestalt sich zum Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik (mit Hauptneigung zur Nachklassik) mehr oder minder bewußt bekennend, so sehr sie auch als relativ „Fortschrittliche" überall den Volksaberglauben der Romantik mit billigen Argumenten prosaischen Banausentums im Sinne des „gesunden Menschenverstandes" (vgl. noch Th. Fontane) bekämpfen und bekritteln zu müssen meinten ebenso wie das „Phantastische" der Romantik. Selbst ihrerseits reichlich „grotesk" wirkende Zusammenstellungen wie die von Büchner, Hebbel und — Auerbach scheut Julian Schmidt in dem genannten Aufsatz (S. 470) nicht, um darzutun, daß

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die „Realisten" vielfach nur verblüffen wollen. Vor allem abschreckend wirkt für J. Schmidt die Relativität des Ethischen innerhalb des realistisch Ästhetischen. Nicht einmal der kategorische Imperativ Kants (J. Schmidt neigt eher zu Kant als zu Hegel, dessen „Vernünftigkeit" ihn jedoch anziehen mußte) bleibt gesichert. Und entgegen dem Primat des Gesunden und Gemütvollen (Zentralwerte Julian Schmidts und Gustav Freytags) machen sich pessimistische, skeptische und „hypochondrische" Stimmungen und Bestimmungen geltend. Das aber führe zu einer beklagenswerten Abstumpfung des „sittlichen Gefühls" durch den Realismus. Mit reichlich gemischten Gefühlen steht daher Julian Schmidt auch der Verkoppelung von Realismus und Gesellschaftskritik gegenüber. Gewiß, Romane vermögen da manches: vielleicht wird Dickens' Oliver Twist die Zustände in den Armenhäusern oder der Roman „Onkel Toms Hütte" die Zustände der Sklaverei verändern und verbessern helfen. Aber Aufgabe der Kunst sei das keineswegs, bestenfalls ein Nebenertrag. Bemerkenswert erscheint kunsttheoretisch, daß J. Schmidt, völlig abweichend vom späteren Prinzip des konsequenten Realismus (Naturalismus), einen „systematischen Realisten" (S. 471) gerade und nur dort am Werke sieht, wo (wie bei Thackeray im Gegensatz zu Dickens) das Realistische nicht ins Satirische abschwenkt und seiner Meinung nach vom eigentlich „realistischen Prinzip" abirrt. An solchen Stellen wird das Kunsttheoretische ganz unverkennbar abgewandelt durch das Kulturpolitische, das immer nur einen „vernünftigen Fortschritt" duldet. Ästhetisch behilft er sich so, daß er jene die wirklichen Verhältnisse anprangernde Sicht als schielend, als „einseitig" und ihr Eindrucksbild der erfahrenen Beobachtungen als „übertrieben" oder formungstechnisch als „übertreibend" zu desavouieren sucht (S.472). Das möchte J. Schmidt u. a. erhärten an V. Hugos „Die letzten Tage eines Abgeurteilten" („Les derniers jours d'un condamne") mit ihrem Angriff auf die Todesstrafe. Hier wäre das Objekt als nervenschwach von vornherein tendenziös charakterisiert. Shakespeare ζ. B. kenne und schildere auch abgestumpfte Verbrecher. Ähnlich stehe es mit dem Angriff auf das Einzelzellen-Gefängnis usw. Die Einwirkung auf die Nerven des Romanlesers verbürge zudem noch keine Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit jenseits des bewußt gewählten extremen Einzelfalls. Das führe, ästhetisch gesehen, nur zu einer „Verderbnis

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des Geschmacks" der Leser derartiger realistischer Romane (S. 473). Dementsprechend lautet das Endurteil: „Der Realismus der Poesie wird dann zu erfreulichen (!) Kunstwerken führen, wenn er in der Wirklichkeit zugleich die p o s i t i v e S e i t e aufsucht, wenn er mit Freude am Leben (!) verknüpft ist, wie früher bei Fielding, Goldsmith, später bei Walter Scott und teilweise auch noch bei Dickens, wo er aber der Kritik und der reinen Prosa (gleich dem „Prosaischen") ins Handwerk greift, wird er ebenso gefährlich (!) in sittlicher Beziehung einwirken als unerfreulich (!) in ästhetischer" (S. 474). Der Blickwinkel, unter dem ganz unverkennbar Julian Schmidt den damals heraufkommenden Realismus betrachtet, ist wesentlich von der Klassik und deren Annäherungen an eine realistische Sehweise und Darstellungsart bestimmt. Es war gar zu verlockend, die Romantik mit Hilfe klassischer Gegenständlichkeit zu entwaffnen. Zwar was Goethe im „Wilhelm Meister" von der „Handlung" und der doppelten Buchführung aussagt, will J. Schmidt ebensowenig gefallen, wie etwa zwei Jahrzehnte später Th. Fontane als Theaterkritiker das gefallen will, was im „Egmont" an Nationalökonomie begegnet. J. Schmidt meint in seiner 0. Ludwig-Rezension (Grenzboten 1857, IV): „Das ist gewiß sehr verständig, aber für poetisch wird es niemand halten". Das wäre also nicht einmal „poetischer Realismus" (den Terminus selber gebraucht J. Schmidt nicht). Aber im Gesamt habe Goethe, auf das „neu aufgehende Prinzip" (angeblich durch J. H. Voß' „Luise"Epos) aufmerksam geworden, in „Hermann und Dorothea" sowie in den „Wanderjähren" die einzig richtige Methode gefunden und „die bürgerlichen Beschäftigungen in einer Weise idealisiert, die den neueren Dichtern als Muster dienen kann". Goethe stellt also für J. Schmidt die Muster- und Vorbildpoetik, nicht in erster Linie die englischen RomanRealisten. Julian Schmidt rettet aus allem Realismus, mit dem er sich notgedrungen herumschlagen muß, immer noch seine Überzeugung: „Die echte (!) Aufgabe der Dichtkunst ist, uns in Kreise einzuführen, die über uns stehen". Und er stellt mit trockenem Humor, mehr ergeben als hingegeben, lakonisch fest: „Jetzt hat sich die Sache umgekehrt" (S. 404). Der Ausweg, den er aus diesem Dilemma sucht, ist das Abschieben des Realistischen auf die Schicht des Komischen: „Die einzige poetische Form, durch welche dieser Realismus seine Berechtigung in der Kunst erwirbt,

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ist der Humor" (S. 407). Der ganze Artikel ist gesättigt von einem fast arroganten bürgerlichen Bildungsdünkel, obgleich nicht ganz ohne Einfühlungs-Psychologie in die Mentalität der breiten, ungebildeten Schichten des Volkes. Julian Schmidt wußte, was er der Leserschaft der „Grenzboten" schuldig war. Im übrigen hebt er auch sonst gern den Nachteil des Realismus hervor, nur „Bruchstücke" bieten zu können, denen dann notwendig die poetische Ganzheit abgeht. Deshalb bedeutet es eine hohe Anerkennung, wenn er Otto Ludwig zugesteht, er habe „die fragmentarischen Eindrücke des Alltagslebens in poetische W i r k l i c h k e i t u m z u w a n d e l n " verstanden (S. 410). Die „gemeine" Wirklichkeit bedarf also einer Umwandlung in die „poetische Wirklichkeit", und das ergibt dann eben poetischen Realismus. Jeremias Gotthelf, den zwar J. Schmidt gern als Trumpf gegen Gutzkow ausspielt, wird immerhin zunächst einmal als Wegbereiter eines solchen poetischen Realismus anerkannt. Aber nach Gotthelfs „Zeitgeist und Bernergeist" (1852) erfolgt Abkühlung, und 1854 hat J . Schmidt den, .übertriebenen Naturalismus" vollends satt. Es ist ihm merklich lieb, daß Otto Ludwig (mit „Vom Regen in die Traufe") nun ähnlich wie einst Jean Paul in den Humor, in die Komik hinübergewechselt ist, wo die bösen realistischen „Bruchstücke" weniger anstößig erscheinen. Dumas fils geht ihm schon viel zu weit. Und gleichsam symbolisch für die klassisch-idealisierende Grundhaltung (mit Zugeständnissen an den Realismus) wirkt es, wenn J. Schmidt („Grenzboten", Jg. i860) wieder einmündet in eine Umschreibung dessen, was denn nun eigentlich „klassisch" sei, was auch in der damaligen Poesie „klassisch" sein (und bleiben) könne: „allgemein menschliche Ideale . . . , echter bleibender Lebensgehalt. . . Ideale so darstellen, daß man an ihre Realität (also nicht an die des Lebens) glaubt" sind Bedingungen für den, der ein „klassischer Dichter" heißen will. Und je mehr er vom bloßen Zeitgeist, von bloßer Wirklichkeit zu „abstrahieren" weiß, „desto klassischer wird er sein". Um es kurz zu sagen: Julian Schmidt vertritt im Grunde das Wertkriterium der Nachklassik. An den poetischen Realismus paßt er sich nur mit merklicher Mühe an, die ihm durch die Bekanntschaft mit Otto Ludwig erleichtert wird. Was er mit einem „systematischen Realisten" meint, das hat nichts zu schaffen mit „konsequenten Realisten" (Naturalisten). Es bedeutet eher noch eine weitere Abdämpfung und Ein-

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schränkung des „poetischen Realisten". Otto Ludwigs „Idee" (Erfassen des Wesens der Sachen und Dinge) bildet er wieder zurück in das längst bekannte „Ideal" einer in seine eigene Nüchternheit transponierten „Nachklassik" von fast rationalistisch-aufklärerischem Gepräge. Wenngleich Hebbels Antikritik im Vorwort zur „ Julia"-Tragödie bei der Enthüllung des Kritikers J. Schmidt als „Abfertigung eines ästhetischen Kannegießers" ebenso über das Ziel hinausschießt wie Lasalles Streitschrift „Herr J. Schmidt, der Literarhistoriker" (1862), die H. v. Treitschke bereits zu entwaffnen versuchte, so bleibt doch die Nüchternheit des Rationalisten und Anti-Individualisten J. Schmidt unzweifelhaft bestehen, die u . a . A l e x K ö s t e r : Julian Schmidt als literarischer Kritiker, Diss. Münster 1933, gebührend herausarbeitet. Die Konkurrenz Julian Schmidts mit Karl Gutzkow wird offensichtlich. Julian Schmidt kam von der Politik her und endete bei der Kulturpolitik. Die Poesie blieb für ihn bestenfalls eine „schöne Nebensache". Es sei ihm unvergessen, daß er den soziologischen Wert der gelockerten Unterhaltungsliteratur einbezog, daß er sie der Beachtung für würdig und nicht von vornherein der Verachtung preisgegeben betrachtete und bewertete. Aber auch dahinter stand mehr der Kulturpolitiker als der literarische Kritiker. In manchem Betracht wirkt Julian Schmidt wie ein ins 19. Jh. verschlagener Fr. Nicolai; auch das publizistische Interesse ist ähnlich. Außerdem scheint sich in J. Schmidt als Publizist der frühere Lehrer im schulmeisternden Ton immer wieder durchzusetzen. Nach den „Grenzboten" hat er 1861 die Redaktion der früheren „Berliner Allgemeinen Zeitung" (1859—63 bestehend) übernommen, die indessen bald einging. Es muß überhaupt gesagt werden, daß Fr. Nicolai im 18. Jh. ein weit großzügigerer und geschickterer Zeitschriftenherrscher war als Julian Schmidt im 19. Jh. S. 358. E p i g o n e n t u m der K l a s s i k . — Das bezieht sich hier auf die „ T e c h n i k des D r a m a s " . Aber ein gewisser Grad an nachklassischem (ζ. T. auch nachromantischem) Epigonentum bleibt auch dem späteren Freytag eigen, der diesen konservativen Zug mit der nationalen und religiösen Grundeinstellung verbindet. Er bezeichnet sich selber als „einen der wenigen Bewahrer der idealen Habe unseres Volkes" und steht nicht von ungefähr im Briefwechsel mit Heinrich v. Treitschke. Als Kulturpolitiker nach frühen

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Schwankungen etwa liberal gesonnen, macht er ähnlich wie J u l i a n S c h m i d t den Eindruck, das „ N e u e " vor allem deshalb teilweise einzubeziehen, um den „Neuerern" den allzu stürmischen Wind aus den Segeln zu nehmen (eine Taktik, wie sie später E. v. Wildenbruch verfolgt). Man darf nicht immer nur an seine „Journalisten" denken. Auf der anderen Seite darf man ihn nicht als gar so reaktionär ansehen. E r ist eine nicht ungeschickte Vermittlernatur. E r hat in seinem Romanwerk (das entsprach seinem bewußten Kunstwollen) vermittelt zwischen der hohen Kunst und der sogenannten gehobenen Unterhaltungsliteratur, wobei ihm sein publizistischer Sinn zur Hilfe kam. — Will man G. Freytag dem poetischen Realismus (und zwar als Theoretiker) zuordnen, wie das bei H. R e i n h a r d t a. a. O. (1939), S. 92f. geschieht, so müßte man schon den Akzent auf das Attribut legen, und zwar ganz entschieden. H. Reinhardt möchte G. Freytag m. E . allzu sehr an Otto Ludwig (immer als Theoretiker) heranrücken, geleitet (und ein wenig verleitet) von der Tatsache der persönlichen Beziehung G. Freytag/O. Ludwig (Hinweis auf „Grenzboten"Bekenntnis Freytags zu 0 . Ludwig von 1856). Er möchte das Odium des Epigonen von G. Freytag fernhalten, wobei zugleich Zeittendenzen sich einmengen (1939!). Auch legt er Gedenk-Artikeln (so auf Dickens, so auf Fritz Reuter) zuviel objektiven Zeugniswert bei; besonders als Niederdeutscher ist man ein wenig (oder nicht wenig) erstaunt über den Satz: „Die Kunst Freytags entspricht mehr der eines Fritz Reuters" (S. 94). Auf wenig Raum bringt H. R . erfreulich reiches Material. Besonders wurden auch die ,, Vermischten Aufsätze aus den Jahren 1848—94" (hrsg. von E. Elster 1901) ausgewertet. Aber wenn die einzelnen Beiträge aus einer großen Zeitspanne nicht datiert werden, verliert man die rechte Ansatzstelle für die Interpretation. G. Freytag gebraucht „Realismus", nicht „poetischer Realismus" in seiner Terminologie, auf die H. R. auch hier mit Recht achtet. Ergänzend sei der Freytag-Ausspruch verzeichnet: „Der Realismus, welchen man rühmend oder zürnend die Signatur der Gegenwart nennt, ist in Kunst, Wissenschaft, im Glauben wie im Staate nichts als die erste Bildungsstufe einer aufsteigenden Generation, welche das Detail des gegenwärtigen Lebens nach allen Richtungen zu vergeistigen sucht, um dem Gemüt neuen Inhalt zu geben" (S. 95). Das „vergeistigen" könnte (theoretisch) auf den „ideellen Realismus", das „ G e m ü t " auf den „poetischen

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Realismus" bezogen werden. (H. R. deutet da wieder mehr auf die Nähe O. Ludwigs hin). Aber vieles bleibt in G. Freytag lebendig von der früh (1844) ausgesprochenen Überzeugung: „Die Poesie kennt nur einen Himmel, den der Schönheit . . . Jeder Zwang, jeder Druck scheucht sie zurück." S. 363. Friedrich Spielhagen. — M a r t h a G e l l e r : Fr. Spielhagens Theorie und Praxis des Romans (1917). —· V i c t o r K l e m p e r e r : Die Zeitromane Fr. Spielhagens und ihre Wurzeln, in: Forschung zur neueren Literatur-Geschichte X L I I I , Weimar 1913, Kapitel V „Das Theoretische bei Spielhagen" a. a. 0., S. 142 ff., besonders S. 147 f. —• H. S c h i e r d i n g : Untersuchungen über die Romantechnik Fr. Spielhagens, Diss. Münster 1914. S. 364. O b j e k t i v i t ä t als o b e r s t e s Gesetz. — Die Praxis will dabei oft genug nicht mit der theoretischen Forderung übereinstimmen. Der Roman „Problematische Naturen" (1861) war bereits durch die modellartige Ich-Bezogenheit des Helden stark subjektiv bezogen. Und die folgenden Zeitromane wie „Die von Hohenstein" (1864), „In Reih und Glied" (1867), „Hammer und Amboß" (1869) waren zu stark politisch bezogen, um trotz aller technischen Kunstgriffe das Gesetz der Objektivität restlos verwirklichen zu können. Nicht zuletzt ist es die ausgesprochene Neigung zum Romanhaften und zum Theatralischen, die Spielhagen von vornherein hindert, die angestrebte epische Objektivität zu erreichen. Die an sich recht eifrige und schon durch ihre Themenstellung dankenswerte Sonderantersuchung von M a r t h a G e l l e r : F r . Spielhagens Theorie und Praxis des Romans, Diss. Bonn, gedr. Berlin 1917 ist zwar merklich bemüht, Theorie und Praxis möglichst weitgehend in Einklang zu bringen. Wenn sie aber in Auseinandersetzung mit R. M. Meyers gegenteiliger Ansicht eine Reihe von Selbstzeugnissen, in denen Spielhagen betont, sich immer nach seiner Theorie gerichtet zu haben, aufmarschieren läßt (S. 71), so „widerlegen" diese Zitate nicht die Behauptungen oder Beobachtungen R. M. Meyers.Natürlich war Spielhagen geneigt, eine weitgehende Deckung von Theorie und Praxis hervorzukehren, und daher war es nicht schwer, derartig wenig beweiskräftige Selbstzeugnisse beizubringen. Aufschlußreicher ist die Arbeit M. Gellers dort, wo sie auf Ubereinstimmungen, aber doch auch einige Abweichungen von Theorie und Praxis eingeht. Was den ersten

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Teil der Arbeit (Theorie) betrifft, so fehlt hier notwendig der Überblick über die Vielfalt der Einflüsse und Anregungen, denen Spielhagen unterworfen war. Dagegen neigt Verf. dazu, allzu sehr Anschlüsse zwischen Spielhagen und W. Dilthey herzustellen, ohne auch hier Abhängigkeiten gelten zu lassen. W. D i l t h e y : Die Einbildungskraft des Dichters, Bausteine zu einer Poetik (1887) lag immerhin erst in der Spätzeit Spielhagens. Mit Recht arbeitet M. Geller Spielhagens tapferen Kampf um eine höhere Bewertung und Entwicklung des Romans als Kunstgattung liebevoll und durchweg auch einsichtsvoll heraus. Ob sie freilich den kleinen Theorie-Abschnitt in V i c t o r K l e m p e r e r s früher Spielhagen-Untersuchung (1913) ebenso streng zensiert haben würde (Klemperer „versteht mehrmals die Ansichten Spielhagens falsch", S. 2), wenn sie geahnt hätte, was Klemperer später noch alles (auch jenseits der Germanistik) „verstand", sei dahingestellt. Aber das nur zur Aufmunterung, und womöglich war sie damals sogar im Recht oder glaubte es doch wenigstens zu sein. Jedenfalls hat sie schon alle Hände voll zu tun, ihren verehrten Spielhagen gegen allerlei Widersacher wie Käthe Friedmann, H. und J. Hart usw. zu retten. In der Tat ist hier manches Vorurteil zu brechen. S. 364. E k l e k t i s c h e i n b e z o g e n . — Es ist zu berücksichtigen, daß Spielhagen 7 Bände an kritisch-theoretischen Beiträgen aufzuweisen hat, was den Umstand rechtfertigen mag, daß ihm hier mehr als ein Dutzend Seiten eingeräumt wurden. Dabei spielte allerdings zugleich die Beobachtung mit, daß Spielhagens Theorie später stärker nachwirkt, als man zunächst annehmen möchte. Es seien vermerkt als Sammelstellen: Vermischte Schriften I (1864), II (1868), Aus meinem Skizzenbuche (1874), Beiträge zur Theorie und Technik des Romans (1883), Finder und Erfinder 2 Bde. (1890), Neue Beiträge zur Theorie und Technik der Epik und Dramatik (1897); als Einzelbeitrag: Noch etwas vom Ich-Roman, Liter. Echo 1900; Am Wege, vermischte Schriften (1903). Diese erschöpfende Breite, die an sich der starken theoretischen Neigung Spielhagens entspricht, war nur durchzuhalten mit Hilfe vieler Anleihen. Fast hinter jedem auffallenden Gedanken steht ein Gewährsmann, auch dann, wenn ihn Spielhagen nicht ausdrücklich nennt. Und wo er sich von einem an sich gern von ihm bekannten Gewährsmann wie W. v. Humboldt löst, wie ζ. B. hin-

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sichtlich der Definition der epischen Dichtung, haben ihn merklich andere zu dieser Kühnheit ermutigt, wobei an ζ. T. mittelbare Einflüsse von Hegel und Fr. Th. Vischer zu denken wäre. Wo er die historischen Gestalten als fast unbrauchbar, weil zu gebunden, ablehnt, dürfte der frische Einfluß W. H. Riehls nachwirken usw. Weit mehr Eigenes als Theoretiker bietet er dort, wo er vom Eigenen seines Romanschaffens ausgeht, also besonders auf dem Gebiet der Kunsttechnik. In der Gruppe „Theorie und Technik" (s. o.) trägt daher „Technik" den Wertakzent. Es darf erwähnt werden, daß Spielhagen jedoch schon ausgiebig theoretisierte, bevor er wirksam produzierte. Wertvoller aber wurde das Theoretische erst, als er von eigenen Schaffenserfahrungen berichten und davon abstrahieren konnte. Insofern sehen die Brüder H. und J. Hart in ihren „Kritischen Waffengängen" nicht ganz klar, wenn sie Spielhagen zu sehr auf eine Selbstrechtfertigungspoetik festzulegen versuchen. Weit eher dürfte es sich um eine Selbstbewahrungs-Poetik oder Theorie handeln. Spielhagen wollte ζ. B. von vornherein seine temperamentvolle Subjektivität schützen durch die haltgebende Theorie von der „Objektivität". Jedenfalls zeugt jene frühe Selbsterziehung durch Theorie von Gewissenhaftigkeit und Achtung vor dem Ideal der Kunst. S. 364/ H u m b o l d t s E i n w i r k u n g . —• Α. H. H u g h e s : W. v. 365. Humboldt's influence on Spielhagen's esthetics, Germ. Review 5 (1930). S. 365. E r w e i c h u n g des I d e e b e g r i f f s , G u t z k o w . — Wenn das zutrifft, würde also Gutzkow nicht nur für die Praxis der Zeitromane als eine der Wurzeln in Betracht kommen, wie frühzeitig V. Klemperer näher nachweisen konnte, sondern auch, wenngleich in schwächerem Grade, für die Theorie. S. 367. „ T h e o r i e u n d P r a x i s des R o m a n s " . — So hätte richtiger der Titel gelautet zu der „Theorie des Romans und der Erzählkunst", die in erster Auflage H e i n r i c h K e i t e r (1876), in erweiterter 2. Aufl. T o n y K e l l e n herausgab (1904). Mehrfach erfolgt in beiden Auflagen eine Bezugnahme auf die einschlägigen Schriften von Fr. Spielhagen (S. 26, Anm., S. 31,34, 54,63,97,101,119 u. a. m.). Gleichzeitig wird Bezug genommen auf Fr. Th. V i s c h e r , a. a. 0., S. 27, 57, 59, 62, 74, 103 u. a. m. Vor allem aber wird vom konfessionellen Standpunkt Bezug genommen auf G e r h a r d 43

M a r k w a r d t , Poetik IV

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G i e t m a n n (S. J.): Poetik und Mimik, Freiburg 1900 und auf dessen „Allgemeine Ästhetik" von 1899. Auf G. G i e t m a n n greift diese verspätete Anweisungspoetik mit fachwissenschaftlichem Einschlag (mehrfach wird die damals moderne Sekundärliteratur angegeben, besonders eingehend französische) mit Vorliebe zurück. Streckenweise übernimmt sie, besonders in den Ergänzungen von Tony Kellen (1904), ganze Abschnitte aus zweiter Hand, natürlich mit freundlicher Erlaubnis des jeweils zuständigen Verlages oder Verfassers. So zeichnet etwa für den Abschnitt über den Roman-Titel R u d o l f F ü r s t , der bekanntlich auch über die Vorläufer der Novelle instruktiv berichtet hat, mit seiner „hochinteressanten" Studie „Die Mode im Buchtitel" (Lit. Echo 1900/01) verantwortlich (S. 261), was dieses Mal „mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers" übernommen wird. Im Abschnitt „Wie die Schriftsteller arbeiten" (S. 275ff.) wird ein Essay von G u s t a v F r e n s s e n „Wie ein Roman entsteht" natürlich wieder ganz offiziell und „mit seiner freundlichen Genehmigung" abgedruckt (S. 280 f.). Ähnlich steht es mit dem einleitenden Überblick über die Geschichte des Romans, wobei die Russen besonders schlecht abschneiden und ganz von oben her abgefertigt werden (S. 25) auf Grund von E r w i n B a u e r : Naturalismus, Nihilismus, Idealismus in der russischen Dichtung (1890). Immerhin verhindern solche Anleihen aus der Fachliteratur, daß dieses vielgelesene Buch vollends in die Anweisungspoetik abgleitet. Den Anlauf dazu macht es mehrfach: „Deshalb wollen wir bei den Regeln, die wir in diesem Werk (! sprich Machwerke) formulieren . . ." (S. 32). Selbst dort, wo es um „Die Idee" geht (2. Abschnitt), scheint sich die Aufforderung an die lernbegierigen Romanschriftsteller: „Der Roman muß eine Idee haben . . . Die Idee finden!" (S. 36) den Rezepten der Dichtungslehre und Anweisungspoetik anzugleichen. Vielleicht kamen diese Impulse vom Verlag her; denn der brachte (laut Reklameanhang) ein „elegant gebundenes", hochanständiges „Goldenes Anstandsbuch" heraus, das 5 M. kostet; daneben aber höchst sozial ein (offenbar weniger anständiges) „Kleines Anstandsbuch" für „einfache Verhältnisse", das demgemäß für 1 M. bzw. 1,30 M. zu haben war. Die Verfasser jedoch zogen vor, diesem Verlag ein (bedingtes) Schnippchen zu schlagen, so gut oder schlecht sie konnten. Sie flüchteten vor dem Rezept in die Renaissance, wenn auch nur in die Renaissance von verwässerter Sekundär-

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literatur. Sie mußten zwar „Cooper, Marryat, May" mitnehmen, flüchteten sich aber auf eine vermeintliche Höhenschicht zum „trefflichen Walter Scott" (S. 108/09). Bedenkt man jedoch, daß beiläufig Schopenhauer und Hegel in jenem „Werk" bemüht werden, daß einerseits katholischkonservativ verfahren, andererseits (zwar Zolas Experimentairoman als abgetan gilt, sonst) jedoch mit Zola (der besonders mit Literatur-Hinweisen betreut ist, S. 91), merklich schonsam verfahren wird, daß das erste Vorwort (1876) von den „gesunden Überlieferangen unserer klassischen Epoche" ausgeht, das zweite Vorwort (1904) dagegen (oder auch immer noch nur — bzw. schon wieder) für einen „maßvollen, künstlerisch abgeklärten Realismus" einzutreten feierlich verkündet: dann kann man sich annähernd eine Vorstellung machen von dem Wirrwarr zwischen hastig angelesener Wissenschaft und Verlegerwünschen nach einem poetischen Koch- oder goldenen Anstandsbuch (s. 0.). K e i t e r - K e l l e n mit ihrer „Theorie des Romans und der Erzählkunst" sind jedoch eine Warnung für alle diejenigen, die glauben, daß in Schriftstellerkreisen kein Bedarf besteht für Hinweise auf Verfahrensweisen, technische Kunstgriffe usw. Wie es Stillehren gibt, so auch „praktische" Dichtlehren, die auf Gefahren hinweisen und auf Vorteile und Vorzüge aufmerksam machen, ja die sogar bewußt anleiten wollen wie etwa B r o d e r C h r i s t i a n s e n mit seiner „Kunst zu schreiben" (keine Stilistik, sondern eine kunsttechnische Dichtungsanleitung in Schulungsbriefen) . Keiter-Kellen biegen merklich von der praktischen Anweisung ab, um sich von der Praxis in die Theorie zu retten, genauer in die Technik. Nicht umsonst interessierten sie sich für A. B r u n n e r : Zur Technik des Romandialogs (Lit. Echo 1900/01) oder für G e o r g v. O m p t e d a : Gedanken eines Romanschriftstellers über seine Kunst (Velh. und Klasing, Jg. 1903/04). Tony Kellen hatte sich offensichtlich bemüht, das damals (1904) Neueste für die 2. Aufl. heranzuziehen, hielt sich allerdings auch schadlos, indem sie ζ. B. die „interessante Studie" von L o u i s e F a u r e F a v i e r : La toilette de la femme dans le Roman contemporain (Revue bleue, 1902) durchstöberte. Was Spielhagen betrifft, so ermutigen seine mannigfachen Beiträge zur Theorie und Technik des Romans und der Novelle zu derartigen Unternehmungen wie das von Keiter-Kellen, die ihn nicht nur als Theoretiker reichlich ausschlachten, sondern auch seine Roman-Praxis häufig unter ihren Bei43*

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spielen berücksichtigen (fast fünfzigmal!); zugleich ein Beleg, wie hoch Spielhagen damals im Ansehen stand. S. 369. N a t u r a l i s m u s . —• Mit der Einstellung des späten Spielhagen befaßt sich eingehender W. R. R o o t e : Spielhagen on naturalism, Germ. Review 9 (1934). S. 374. „ S o z i a l e B e d i n g u n g e n " , Z e i t b e z u g . — Seit den Jungdeutschen dürfte Fr. Spielhagen in seinen Romanen am klarsten den Typus des politischen Zeitromans ausgeprägt und weitergebildet haben, und zwar unter Vermeidung einer allzu aufdringlichen Tendenz. In diesem Falle darf man sagen, daß er seine theoretische Abwehr des grell Tendenziösen durch sein Romanschaffen befolgt und bestätigt hat. Auf die rückwärtigen Verbindungen hat frühzeitig die Aufmerksamkeit gelenkt V i c t o r K l e m p e r e r : Die Zeitromane Fr. Spielhagens und ihre Wurzeln, Diss. München, gedr. Weimar 1913. Hinsichtlich des Theoretischen allerdings forciert er ein wenig eine Parallelbeziehung zu L. Wienbarg (S. 142 f.). Überzeugender wirkt der Hinweis darauf, daß Gutzkows Theorie eines „Romans des Nebeneinander" auf Spielhagens Romankomposition nachgewirkt habe, zum mindesten als Technik zur Entfaltung der verschiedenen Schichten des staatlichen Gefüges, so etwa bei „In Reih und Glied", „Die von Hohenstein" und „Sturmflut" (1877). Klemperer findet es befremdend, daß sich Spielhagen nirgends mit dieser Theorie, die ihn neben Wienbarg „am stärksten beeinflußt" habe, auseinandersetzt. Allerdings ist zu sagen, daß Spielhagen in „Finder und Erfinder" II, S. 442 die Abhängigkeit ausdrücklich leugnet zum mindesten hinsichtlich der „Problematischen Naturen" (Sp. bezeichnet dort seine Kompositionsart als „im Gegensatz zu dem Roman des Nebeneinander" stehend). Vielleicht überspitzt Klemperer hier ein wenig unter dem Einfluß der damaligen EinflußMethode. Dagegen wirkt der Rückbezug hinsichtlich des Zeitromans weit überzeugender, so auf Gutzkow und Laube. Mit Recht erinnert V. Klemperer daran, daß die Buchausgabe von Gutzkows „Der Zauberer von Rom" fast zeitparallel liegt mit Spielhagens erfolgreichem Erstlingsroman „Problematische Naturen" (1861). Auch Gutzkows „Die Ritter vom Geiste" lagen nur ein Jahrzehnt vorher. In Literaturgeschichten und ihrem notgedrungenen Nacheinander geht der Eindruck des Nebeneinanders und der zeitlichen Überschneidungen allzu leicht verloren. Da pflegt

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Spielhagen sehr viel später an der Reihe zu sein. Bemerkenswert ist weiterhin, daß Spielhagen als Student K . Immermanns,, Münchhausen "-Roman liest und bezeugt, ihn hätten weit mehr die „instruktiven satirischen Partien" als die Dorfidyllik des Oberhof-Ausschnittes angezogen. V . Klemperer faßt den Unterschied etwa zu G. Freytag, auf den Julian Schmidt Spielhagen ζ. T . zurückführen wollte, knapp und klar in die Formel „Transponieren ins Politische und Soziale" (S. 74). Dagegen wirkt das Vorausblicken von einem Nebenmotiv der „Problematischen Naturen" auf —• Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen" wieder etwas forciert. An solchen Stellen schlagen bei Klemperer publizistische (bis journalistische) Anlagen durch, die das Interessante suchen, jedenfalls noch 1913. Bei den Einzelanalysen gerät er noch zu sehr in Inhaltsangaben oder doch in Einzelheiten, die in ihrer Fülle mehr entmutigen und verwirren als klären. S. 377. Theodor Fontane. — C o n r a d W a n d r e y : Th. Fontane, München 1919. — Β. E. T r e b e i n : Th. Fontane as a critic of the drama, New York 1916. — H a n n a G e f f c k e n : Ästhetische Probleme bei Th. Fontane und im Naturalismus, G R M 8 (1920). — E r h a r d K l e t t e : Th. Fontane als Kritiker deutscher erzählender Werke des 18. und 19. Jh.s, Diss. Greifswald 1923 (Masch.-Expl.). — E . A e g e r t e r : Fontane und der französische Naturalismus, Diss. Bern 1922. — H. F r . R o s e n f e l d : Zur Entstehung Fontanescher Romane, Groningen 1926. —• H e i n r i c h S p i e r o : Fontane, Wittenberg 1928. — H a n s A s c h a f f e n b u r g : Der Kritiker Th. Fontane, ein Beitrag zur Frage des kritischen Wesens und Wirkens, Diss. Köln 1930. — C l a r a S i e p e r : Der historische Roman und die historische Novelle bei Raabe und Fontane, Diss. München, gedr. Weimar 1930. — J o a c h i m K r a u s e : Fontane und der Dialekt, Diss. Greifswald 1932 (S. 16 Theorie und Praxis). — K o n r a d P e t e r s : Th. Fontane und der Roman des 19. Jh.s, Diss. Münster 1932. — H e i n r i c h W a f f e n s c h m i d t : Symbolische Kunst in den Romanen Th. Fontanes, Diss. Frankfurt a. M. 1932. — A. P a u l i : Der Einfluß Scotts auf die epische Technik Fontanes 1934. — Α. K . S a u e r : Das aphoristische Element bei Fontane 1936. — A n s e l m H a h n : Th. Fontanes „Wanderungen . . ." und deren Bedeutung für das Romanwerk, Diss. Breslau 1935. — C h r i s t i n e W a n d e l : Die typische Menschendarstellung in Fontanes

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Erzählungen 1938. — S. R e s i n k o w : Das Gesellschaftsbild im Romanwerk Fontanes, Diss. Madison 1942. — R ü d i g e r R. K n u d s e n : Der Theaterkritiker Th. Fontane, Berlin 1942. — E h m W e l k : Parkettplatz 23, Th. Fontane über Theaterkunst, Berlin 0. J. (1949?). — G u s t a v R a d b r u c h : Th. Fontane oder Skepsis und Glaube. Leipzig 1945 (u. ö.). — E r n s t L o t h a r R e i c h : Th. Fontane als Historiker, Diss. Innsbruck 1948 (Masch.). — K a r l D i e d e n h o f e n : Th. Fontane und Th. Mann. Diss. Bonn 1951 (Masch.). — M a r i a T h e r e s i a K ö r n e r : Zwei Formen des Wertens, die Theaterkritiken Th. Fontanes und Alfred Kerrs, Diss. Bonn 1952 (Masch.). — I n g e b o r g S c h m e i s e r : Th. Fontanes Auffassung von Kunst und Künstlertum unter besonderer Berücksichtigung der Dichtung. Diss. Tübingen 1955 (Masch.). — J o a c h . B i e n e r : Fontane als Literaturkritiker 1956 (Diss. Leipzig; Überblick). S. 378. A b g r e n z u n g g e g e n ü b e r dem N a t u r a l i s m u s . — Im Privatbrief äußert er sich zwar nicht so völlig feindlich und verständnislos wie G. Keller über Zola, aber es ist doch nicht nur die Anpassung an den Briefempfänger (P. Heyse), wenn er einmal temperamentvoll losbricht: „sie (die Naturalisten) überspannen den Bogen (welcher Blödsinn ζ. B. der neuste Zolasche Roman, den Brahm in seinem Wochenblatt als was .Besonderes' bringt) . . ." (an Heyse, 9. März 1890). Es fehle bei einem „Mangel an Talent und dem Überschuß an Unverschämtheit" auch an „frischem Nachwuchs" für die „Freie Bühne", und „auf dem Gebiete des Romans steht es womöglich noch schlimmer". Nicht nur Zensur und Gericht hätten die „Herren Bleibtreu, Conradi, Walloth, Alberti" gelähmt, „erst die kolossale Gleichgültigkeit des Publikums gegen diese ganze Produktion hat die Lähmung herbeigeführt" (an P. Heyse 5. Dez. 1890). Allerdings entschuldigt sich Fontane in diesem Brief, daß er sich (nach Heyses Geschmack) mit „Stine" wohl zu sehr der neuen Richtung genähert habe (Briefanpassung) und gesteht seine „Vorliebe" für diese „neue Richtung" ein. Er tröstet auch Heyse ein wenig damit, daß der Naturalismus bereits wieder abebbe. P. Heyses Antwortbrief rechnet Fontane denn auch nur „halb und halb" zu den „Neuen" und ertappt sich mit komischem Erschrecken bei der „Sprache der reaktionären Poetik" (an Fontane, 15. Dezember 1890). Ein gewisses Entgegenkommen gegenüber Heyse liegt auch im Hinweis auf den Essay von

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E r n s t v. W o l z o g e n „Humor und Naturalismus" (in: Freie Bühne, Dezember-Heft 1890) im Briefzusatz vom 8. Januar 1891. Bei alledem ist einzukalkulieren, daß P. Heyse unter dem Eindruck des Fontane-Heftes schon etwa ein Jahr vorher (Dezember 1889) einigermaßen knirschend gemeint hatte: „Dafür bürgt mir auch der Respekt, mit dem die grünen Jüngsten zu Dir aufblicken, wenn es auch bedenklich ist, zu den Ihren gezählt zu werden". Der Meinung des Nachsatzes nun freilich war Th. Fontane nicht, aber eine gewisse Abgrenzung hielt er auch jenseits der Briefanpassung für ratsam. Wenn dagegen der frühere Fontane in einem Brief an Th. Storm (13. Dezember 1862) gelegentlich der Novelle Storms „Auf der Universität" einiges kritisch beanstandet als „zu naturalistisch", so hat das schon rein zeitlich nichts mit dem Naturalismus als Epoche zu tun; es erinnert vielmehr daran, d a ß der S t i l b e g r i f f N a t u r a l i s m u s l ä n g s t da war, bevor die nach ihm benannte Stilepoche da war. Bei allem Wohlwollen für den Realismus betont Fontane noch Oktober 1889: „Der Sieg des Realismus schafft die Romantik nicht aus der Welt"; vgl. hierzu: Der Briefwechsel von Th. Fontane und P. Heyse 1850—97, hrsg. von E r i c h P e t z e t (Berlin 1929) und Storm/Fontane, Briefe der Dichter und Erinnerungen von Th. Fontane, hrsg. von E r i c h G ü l z o w , Reinbek/Hamburg 1948. Übrigens müßte hier im Titel Fontane mindestens voranstehen, da es sich weit überwiegend um Briefe Fontanes handelt; die StormBriefe beschränken sich auf Mitteilungen in Fontanes Erinnerungen. Die ganze Bemühung ist bei Gülzow rein biographisch interessiert, ähnlich seinen an sich dankenswerten Ε. M. Arndt-Forschungen. S. 380.

„KreisvonMenschen".—DenRoman-„Helden"drängt Fontane bewußt zurück. Gelegentlich seines breitschichtigen, bedingt und begrenzt historischen Romans „Vor dem Sturm" verteidigt sich Fontane gegen kritische Einwände Paul Heyses mit dem Hinweis darauf, daß auch ein „vielgestaltiger Zeitabschnitt" neben dem Individualschicksal (Beleg Ch. Dickens, der damals oft als Vorbildpoetik auftritt) einen Roman geschehensmäßig ausfüllen könne. Er gebraucht in diesem Ausschnitt der Rechtfertigungspoetik den Terminus „ V i e l h e i t s r o m a n " , der irgendwie korrespondiert mit dem „Roman des Nebeneinander" von Karl Gutzkow, ohne sich gewiß völlig mit ihm zu decken. Fontane

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stellt betont neben den Roman „mit e i n e m Helden" bzw. mit einem H e l d e n als gleichberechtigt diesen Typus des sogenannten „Vielheitsromans" (an P. Heyse, 9. Dez. 1878). Kühne Konstrukteure könnten von hier aus sogar einen entsprechend kühnen Verbindungsbogen bis hin zu — James Joyce ausschwingen lassen. Sie pflegen sich aber (gottlob) nicht mit Brieflektüre abzugeben, und so ist ihnen diese Sensation (wie so viele andere) entgangen. — Übrigens streift Fontane in diesem Brief auch — leicht schalkhaft gewendet — das Problem des Kunstwollens („gerade das wollt' ich") sowie seine damals „schon" eingestandene ,.Schwäche'' für die Schilderung von „Liebesverhältnissen", die dann nicht zum wenigsten seine Stärke wurde („Irrungen, Wirrungen; Stine; Effi Briest; Unwiederbringlich"). S. 380. „ W i e die W i r k l i c h k e i t " . — Man darf freilich das „wie" nicht ganz überhören. Immerhin wird die Wirklichkeitsnähe als Wertkriterium schon anfang der 60 er Jahre von Th. Fontane auf Storms Novelle „Auf der Universität" angewandt: „Eine wirkliche Tragödie, wie sie das Leben täglich spielt, keine Jammergeschichte" (an Storm, 13. Dezember 1862). Er selber sollte später Meister werden in diesem Bezirk; und fast wirkt es so, als ob hier sein eigenes, noch latentes Kunstwollen sich anmeldet und vorerst gleichsam behelfsweise von Storm abgelesen wird. S. 381. N i c h t h e r a u s g e r i s s e n w e r d e n . — Wie für den Kunstwertaufnehmenden gilt auch für den Kunstschaffenden und dessen Schaffensvorgang die Forderung ungestörter Konzentration, die keinerlei Ablenkung ausgesetzt sein darf. Aus eigener Erfahrung verzeichnet Th. Fontane die Beobachtung: „Ist man erst im Produzieren, so wirkt neu hinzukommender Stoff, und wenn es auch bloß Landschaftliches und Anekdotisches wäre, nur störend" (an Heyse, 20. November 1885). Diese Bekundung wiegt um so schwerer, als Fontane an sich großen Wert auf das Auffinden geeigneter „Stoffe" legt, darin übrigens G.Keller verwandt. Durchweg begegnet bei den poetischen Realisten ein starker „Stoff"-Hunger; man mißt dem gut gewählten Stoff und Motiv eine ζ. T. übertriebene Bedeutung zu. S. 381. „ D a s H e r z u n d das ä s t h e t i s c h e G e s e t z " . — Fontane bezeichnet damit bündig die beiden Grundkräfte seines kritischen Reagierens und wertenden Entscheidens. Hinzu tritt noch das Sich-Berufen auf die Verläßlichkeit des per-

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sönlichen Geschmacks (die „feinfühligen Fingerspitzen") und die damit verbundene Sicherheit des Gefühls eines intuitiven Unterscheidens des Echten und Unechten („ . . . daß ich in poetischen Dingen echt von unecht unterscheiden kann"). Im Rang jener beiden Grundkräfte überwiegt die Bewertung des „Herzens", wobei unter „Herz" mehr oder minder alle jene Teilfaktoren instinktivintuitiver Art zusammengefaßt werden. Steht das „Herz" gegen das ästhetische Gesetz, so hat das Gesetz zurückzutreten; dann heißt es: „vom Befragen des ästhetischen Gesetzes nehm' ich Abstand . . . " Jedenfalls will er sich in Zweifelsfällen lieber auf die gefühlsmäßige Reaktion verlassen als auf Gesetze. Und noch einmal: „Der Schlag des Herzens ist die gültige Stimme"; vgl. die Rez. vom 8. Oktober 1881 (zugleich als Schlußresümee betont) und die „Manfred" (Byron-) Rez. vom 28. März 1877. In eine ähnliche Richtung weist eine prinzipielle briefliche Bekundung von 1886 (gegenüber seiner Frau) aus Anlaß einer wohlwollenden Begutachtung einer Rez. P. Schienthers über ein Volksstück Anzengrubers; Schienther habe den Nagel auf den Kopf getroffen: „Und auf diesen sicheren Hammerschlag, der weiter nichts ist als die natürliche Konsequenz eines frischen, gesunden und starken Empfindens, kommt es einzig und allein an. D a s macht den Kritiker, nur das". Dagegen wird ein Messen an Lessing oder Tieck oder Aristoteles als „Mumpitz" abgetan. Dennoch ist nicht zu überhören, daß in diesem gern fragmentarisch zitierten Brief Fontane selber auf Findung eines allgemeinen Gesetzes Wert legt, sogar im Sinne einer sollästhetischen Forderung („zugleich aussprechen, wie solche (Volks-) Stücke überhaupt sein sollen"), aber eben induktivempirisch. Die Sonderarbeit von R ü d i g e r R. K n u d s e n a. a. O. (1942) weist S. 286 in einer Anmerkung darauf hin, daß der angesehene, auch von Fontane sonst hochgeschätzte Berliner Kritiker Karl Frenzel u. a. 1882 eine Rez. gerade mit einem Messen an Aristoteles begonnen hatte. Fontane stand als Kritiker in einem unverkennbaren Bildungs- und Herzenskonflikt. Er gesteht seiner Frau, daß es fachbildungsmäßig bei ihm „überall entsetzlich hapert". So eindeutig wie jene Belege wirken, die Haltung bleibt zwiespältig. Fontane hat nämlich recht häufig auch den „gesunden Menschenverstand" als entscheidendes Wertkriterium in die Waagschale geworfen, und zwar nicht nur im Rahmen seiner Ibsen-Kritik, sondern auch dort,

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wo er sich grundsätzlich über Bewertungskriterien äußert (Voss. Ztg., 4. 4. 1884); ein Beleg lautet, daß die Stücke sich „innerhalb des gesunden Menschenverstandes" halten müssen. Kurz, Fontanes zweites Wort ist „Herz"; aber sein drittes Wort ist „gesunder Menschenverstand". Es läge an sich nahe, ihn als Einfühlungskritiker an Herder heranzurücken und von dem Gesetzeskritiker (Kritik nach Gesetzen und an „Gesetzen") Lessing abzurücken. Es darf aber in diesem Zusammenhange nicht ganz übersehen werden, daß eine gewichtige Stimme wie die Thomas Manns (Fontane-Essay 1910) für eine Verwandtschaft mit dem rationalistisch-aufklärerischen Typus plädiert. Vom rationalen Esprit („Witz", vgl. Bd. II) war neben dem gesunden Menschenverstand vieles in Fontane wirksam. Und es ist kaum nötig, wie Β. E. T r e b e i n : Th. Fontane as a critic of the drama, N Y 1916 nun sogleich auf die „romantic irony" oder gar ein auf „element of selfdestruction" (S. 153) hin zu interpretieren, so beachtenswert die Leistung Trebeins an sich damals war. Das Humanitätsideal ist gelegentlich aufklärerisch getönt. In gewisser Weise darf gesagt werden, daß der Kritiker Fontane aus der Not (der fehlenden Fachbildung) eine Tugend zu machen versuchte. Er bekennt in jenem vertraulichen Brief an seine Frau, daß er sich nur dort auf ganz sicherem Boden fühle, wo er Werte einspringen lassen könne, „die mir der liebe Gott mit auf den Weg gegeben hat", dem „Herz" und „Geist" oder wie Fontane bescheidener formulierte „gesunden Menschenverstand". Das Aus der Not eine Tugend Machen hat Fontane übrigens nachträglich selber demonstriert in den autobiographischen Betrachtungen „Kritische Jahre—KritikerJahre". Dort wägt er berufsnotwendige Fachkenntnis und spontanes Fingerspitzengefühl gegeneinander ab, hilft, sich selbst überredend, ein wenig nach, und schon erweist sich der Vorteil des „Nichteingeweihtseins" als schwerer wiegend. Es war zuletzt der Dichter in Fontane, der die Bildungslücken bewundernswert, zum Teil freilich auch „spielend" überwand. Aber weil dieser Dichter kein Dramatiker war, so wollte die Rechnung nicht überall aufgehen, wo es um Theaterkritik ging. S. 383. H i s t o r i s c h e r R o m a n . — C l a r a S i e p e r : Der historische Roman und die historische Novelle bei Raabe und Fontane, Diss. München, gedr. Weimar 1930 betont in

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Fontanes „Vor dem Sturm" zu sehr das Historische: „Jetzt ist also aus dem Geschichtsromantiker ein h i s t o r i s c h e r R e a l i s t geworden." Verfasserin hätte gut getan, die Studie H a n s - F r i e d r i c h R o s e n f e l d s „Zur Entstehung Fontanescher Romane", Groningen, den Haag 1926 auszuwerten. Rosenfeld führt einen schlüssigen Nachweis über das Zurücktreten des Historischen bei der Entstehung des Romans (S. iof.). Dankenswert ist H.Fr. Rosenfelds Hinweis darauf, daß die Titelgebung „Vor dem Sturm" wahrscheinlich angeregt sei durch den Roman des Scott-Schülers und „Tunnel"-Mitglieds G. Hesekiel, dessen Roman „Stille vor dem Sturm" dieselbe Zeit behandelt. Auch dürfte die Gestalt Tubais (Fontane) einen Vorläufer in Robert v. Rouvroy (Hesekiel) anzuerkennen haben (S. 16). Indem Rosenfeld gleichzeitig die jeweils parallelliegenden Bekundungen Fontanes über dessen veränderte Darstellungsabsicht (etwa auch bei „Stine") berücksichtigt, berührt er neben Fragen des Werkwerdens und der Werkwandlung auch das Kunstwollen. Was C l a r a S i e p e r betrifft, so bleibt auch die Romantheorie Fontanes unbeachtet. Die These, daß Fontane eine individualistische, Raabe dagegen eine „kollektivistische Geschichtsauffassung" vertrete, will nicht recht überzeugen. Im Gesamt gelingt in der an sich instruktiven und geschickt angelegten Gegenüberstellung die Einfühlung in den hintergründigen Typus Raabes besser als die Herausarbeitung der Sonderart Fontanes. Das Einzige, was an Theorie zu verzeichnen wäre, ist das Fontane-Zitat, das die dichterische Freiheit hervorhebt: „die freie künstlerische Behandlung des Stoffes um des Künstlerischen willen, auch wenn die strikte historische Wahrheit dabei in die Brüche geht" (II, 10). Aber das belegt kaum etwas spezifisch Fontane-Eigenes. Relativ bemerkenswert ist die Antithese: „Raabes Historik macht Zeiten bedeutsam, Fontanes Historik macht sie verständlich" (S. 27). Ließe sich aber „Historik" nicht entbehren? S. 385. Im D r a m a (Ergänzung). — Th. Fontane hat bekanntlich jahrzehntelang Theaterkritiken geschrieben, vgl. Th. Fontane: Plaudereien über Theater (1870—90), Bln. 1926, frühere Auflagen unter dem Titel „Causerien über Theater" (1905). Schon vorher lagen seine Aufzeichnungen über die englischen Theater. Eine geschickte Auswahl nach Leitideen bringt Ε hm W e l k : Parkettplatz 23,

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Th. Fontane über Theaterkunst, Dichtung und Wahrheit, Bln. o. J. (1949?), von der besonders der Abschnitt „Vom Theaterstück", a. a. O., S. 62f. für die Theorie des Dramas in Betracht kommt. Die wissenschaftliche Benutzbarkeit der von Ehm Welk besorgten Auswahl wird dadurch erschwert, daß nur die Jahreszahl angegeben und die jeweilige Fundstelle nicht näher bezeichnet worden ist. Dieser technische Mangel einer zudem für breitere Leserschichten bestimmten Auswahl wird bei weitem dadurch aufgewogen, daß gerade das Charakteristische und Wesentliche erfaßt worden ist, und zwar sowohl hinsichtlich der theatralischen Dramaturgie wie der (bei Fontane weit schwächer vertretenen) literarischen Dramaturgie. Th. Fontane konnte kaum — wie beim Roman — von eigenem Schaffen aus über das Drama urteilen. Er war nicht nur „Theater-Fremdling" (schalkhaft kritische Auslegung seiner Chiffren Th. F.), sondern auch DramenFremdling. Er betonte selber den Subjektivismus, das Zugrundelegen des gehabten Eindrucks. Insofern handelt es sich um den Typus einer impressionistischen Kritik. Dennoch sprach Fontane gern von „Gesetzen", auf deren Autorität er sich gelegentlich zurückzog. Es ist aber unschwer nachzuweisen, daß ihm wesentliche „Gesetze" der vor ihm entwickelten literarischen Dramaturgie (Theorie des Dramas) nicht vertraut gewesen sein können, jedenfalls im Augenblick der Abfassung einer Rezension nicht gegenwärtig waren. Da schreibt er ζ. B. in der Würdigung einer Aufführung von Sophokles' „König Ödipus" (20. Sept. 1873) unbekümmert: „Unsere Dramaturgen haben es mehr und mehr (?) zu einem Fundamentalsatz erhoben, daß es ohne eine Schuld nicht geht". Besonders seit Schellings und Hegels Deutung des Tragischen und den entsprechenden Definitionen ihrer unmittelbaren oder mittelbaren Nachfolger ist diese Behauptung kaum berechtigt. Th. Fontanes Polemik rennt also insofern offene Türen ein. Er baut sich einen Gegner abschußfertig auf, der von vornherein schon schwer angeschossen ist. Das muß klargestellt werden, weil Fontane besonders bei Dekorations- und Architekturfragen gern seine kunstgeschichtlichen Kenntnisse aufrücken läßt, um Mängel nachzuweisen. Dabei überschneiden sich vielfach sein historischer Sinn mit seinem Gegenwartssinn und seiner ewig jungen Zukunftshoffnung. Und wohl war ihm aus der älteren Kunsttheorie der Satz A. W. Schlegels

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vertraut und lieb: „Jedes neue Kunstwerk muß den Vorhang vor einer neuen Welt wegziehen". Schon Paul Schienther wies auf diese Bemerkung hin (Vorwort zur i. Aufig. 1905, abgedr. 1926), später auch Ehm Welk a. a. 0. (1949?), S. 28. Aber diese neue Welt hat ebensowenig mit aufdringlichen Tendenzen sich in Empfehlung zu bringen wie die alte oder halb alte Welt. So rügt Fontane ζ. B. den Widerspruch von Tendenz-Anspruch und historischer Wahrheit an K. Gutzkows tendenziösem Ideendrama „Uriel Acosta", das mehr traurig als tragisch wirke: „Es ist ein Tendenzstück... Meinungen sollen unterstützt, Bestrebungen gefördert werden; und so fehlt denn diesem Drama, w i e den m e i s t e n T e n d e n z s t ü c k e n , denen es eben auf ganz andere Dinge ankommt, der Stempel historischer Wahrheit" (Rez. 30. Jan. 1879). Ihm genügt auch nicht die „äußerliche dramatische Wirkung" in diesem Falle. Das ist umso bemerkenswerter, als der impressionistisch subjektiv urteilende Theaterkritiker Fontane sonst weit überwiegend den Wertkriterien der Wirkungspoetik folgt. Entscheidend nämlich bleibt immer „jenes G e t r o f f e n s e i n im e i g e n s t e n H e r z e n , das nur die dramatische Szene hervorzubringen vermag", und zwar auch dann, wenn es sich um Historisches handelt (Rez. v. Shakespeares Richard II, 28. Dez. 1872). — Man vermißt durchgreifende Leitideen in der Sonderuntersuchung von R ü d i g e r R. K n u d s e n : Der Theaterkritiker Th. Fontane, Schriften der Gesellschaft für Theater-Geschichte 55, Bln. 1942, die an sich über gutes Quellenmaterial (ζ. B. die Theater-Tagebücher) verfügt. Die umstrittene Spätkritik von Hauptmanns „Webern" kann nun verläßlich für Fontane in Anspruch genommen werden (S. 186—88). Aufschlußreich für die Arbeitsweise ist die vergleichende Gegenüberstellung von Notizen der Theatertagebücher mit den zugeordneten ausgeführten Rezensionen (S. 232f.). Störend wirkt (1942!) die ζ. T. recht tendenziöse Eintrübung. Nicht nur der akademisch ausgebildete Publizist und Theatergeschichtier wehrt sich in Rüdiger R. Knudsen gegen den Subjektivismus der Theaterkritik (S. 290), sondern es spielt die Befürchtung mit, auf Th. Fontane könne der Schatten fallen, der „Willkür der jüdischen Kritiker" womöglich den Weg gewiesen oder doch erleichtert zu haben. R. R. Knudsen hat alle Hände voll zu tun, um diesen ihm bedrohlich erscheinenden Doppel-Schatten zu bannen, indem er Th.

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Fontane eine Ausnahmestellung einräumt. Dagegen stellt M a r i a T h e r e s i a K ö r n e r (Zwei Formen des Wertens, Diss. Bonn 1952) ein Jahrzehnt später, frei von jenen Vorurteilen, Th. Fontane in kritischem Vergleich mit A. Kerr zusammen. Es fällt auf, daß der Kritiker Th. Fontane fast überreichlich von Sonderuntersuchungen betreut worden ist. Zunächst einmal von Β. E. T r e b e i n : Th. Fontane as a critic of the drama, Columbia Univ. Press, New York 1916, eine Untersuchung, die gar nicht so leicht zu überholen ist, wie sich das manche vorstellen, der es jedoch an mancherlei Material (Theater-Tagebücher) fehlt, das spätere Forschungen (ζ. B. die Arbeit von R. R. Knudsen 1942) verwerten können; weiterhin die Sonderarbeit von H a n s A s c h a f f e n b u r g : Der Kritiker Th. Fontane, ein Beitrag zur Frage des kritischen Wesens und Wirkens, Diss. Köln 1930, die vor lauter großen Perspektiven (Gesellschaftskritik) im Allgemeinen der Bestimmung eines „geborenen Kritikers" zu sehr stecken bleibt und sich im Biographischen verzettelt, außerdem von der aparten Stilgebärde des St. George-Milieus entsprechend angesteckt erscheint — bis hin zur wissenschaftlich eklektischen Zusammenfassung von J o a c h i m B i e n e r : Fontane als Literaturkritiker (1956, tendenziös). Zu begrüßen ist, daß J. Biener erstaunlich gut Bescheid weiß und auch gibt über kunsttheoretische Einlagerungen im Kunstwerk (formulierte Poetik) in den Dichtungen Th. Fontanes und daß er ζ. B. in „Vor dem Sturm" nachweist, wie dort ein Ansatz zu einem Kunstgespräch Hansen-Grell den Unterschied von Naturanlage und gebildetem Geschmack herausstellt. Der Geschmack kann zwar weiter führen als die „Natur", aber nur scheinbar und für die Produktion schädlich. Denn letztlich müsse man (nach Fontane) der angeborenen Natur vertrauen und nicht dem angelesenen Geschmack, weil sonst im Produktionsvorgang bloße Totgeburten zustandekämen (S. 89). Derartige Hinweise wie etwa auch der Abschnitt über den Kritiker Fontane als Kritiker über sich selbst sind wertvoller als der notgedrungene Abschnitt „Naturalistische Infekte in Fontanes ästhetischen Auffassungen" (S. 70 f.)'. Th. Fontane wußte um das Außerordentliche, aber er hielt sich doch lieber an das Ordentliche des „gesunden Menschenverstandes". Er wußte von den Konflikten des Dramas, aber er hielt sich doch mehr an die „Versöh-

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nungen", und zwar nicht nur im Sinne Hegels und dessen Nachfolger. E r hat viel über Dramen geschrieben, ohne verleugnen zu können, daß seiner liebenswürdigen und liebenswerten Konvenienz das eigentlich Dramatische so ganz und gar nicht lag. E r wurde zum Dramen-Kritiker, ohne sein kritisches Verhältnis zum Dramatischen und sein noch feindlicheres Verhältnis zum Theatralischen und bühnenmäßig Pathetischen jemals wirklich ganz aufzugeben. E r wußte um die Notwendigkeit des Dramatikers, vieles zu verkürzen an psychologischer Motivierung und Abstufung, aber als geborener Romancier hat er diese Methode nie ehrlich gutgeheißen. Selbst seine frühe Balladenkunst, die man nicht unterschätzen sollte, entsprang nicht sowohl einem dramatischen Impuls als vielmehr einer ins konzentriert Epische verlagerten mißverstandenen „ L y r i k " . Denn darüber muß man sich klar sein, daß zu dem ganzen Fontane nicht nur der konziliante Plauderer der Spätzeit gehört, sondern auch der konzentrierte Balladendichter der Frühzeit. Dort war er, ohne es selber einzugestehen, oft dem Drama weit näher als in seinen vielberufenen Dramen- und Theaterkritiken. Das Beste nämlich dieser Theaterkritiken gehört (abgesehen vom Stil) dem Balladendichter Fontane und nicht dem „Romancier" Fontane. Dieser Balladendichter aber war überall lebendig, wo er von „ H e r z " spricht, während der Romancier allzu oft vom „gesunden Menschenverstand" und bestenfalls vom „ G e m ü t " spricht. Die Witwe Pittelkow, die er selber gegen die Stine ausgespielt hat, ist ein Stück Volksballade oder halb bänkelsängerischer VolksRomanze; kurz die Plauderei seiner Romane wäre ermüdend ohne den bewegenden und erregenden Impuls des Balladesken. Und man sollte über dem Romandichter Fontane den Balladendichter nicht so ganz vergessen. E r nämlich rettet das Dramatische, das ihm wenigstens ein relatives Recht gab, auch als Theaterkritiker über dramatische Darbietungen zu urteilen. S. 390. Theodor Storm. — A l b e r t K ö s t e r : Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke Th. Storms, Lpz. 1918. — Storm, Sämtliche Werke, hrsg. von A. K ö s t e r , Lpz. 1919. — A . B i e s e : Th. Storms Leben und Werke, Lpz. 1917. — F r a n z S t u c k e r t : Th. Storm, sein Leben und seine Welt, Bremen 1955. — Franz Stuckert hat seit Jahren zur Storm-Forschung beigetragen: Storms novellistische Form

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GRM 27; Idyllik und Tragik in der Dichtung Th. Storms DVLG 15 (1937). — Sonderuntersuchung W a l t h e r H e r r m a n n : Th. Storms Lyrik, Probefahrten (A. Köster) 17, Lpz. 1911 (S. I3if.)· —• Enno K r e y : Das Tragische bei Th. Storm, Diss. Marburg 1914. — K a r l G r a t o p p : Volkspoesie und Volksglauben in den Dichtungen Th. Storms, Diss. Rostock 1914 (Storm zu sehr als Heimatkünstler gesehen). — G e r h a r d K u n z : Storms Verhältnis zur Volkspoesie, Diss. Frankf. a. M. 1936 (S. 8 ff. Kunstauffassung). — R. L. D i n g u s : Α study of literary tendencies in the Novels of Th. Storm, Diss. Charlottesville 1916. — Th. R o c k e n b a c h : Th. Storms Chroniknovellen, Diss. Münster 1916. — W. B r e c h t : Storm und die Geschichte, DV Sehr. 3 (1925). — G. A. A l f er ο: Th. Storm novelliere, Palermo 1928. — W a l t e r B e i s s e n h i r t z : Th. Storms Theorie der reinen Lyrik, Diss. Marburg 1932. —• W o l f g a n g K a y s e r : Bürgerlichkeit und Stammestum in Th. Storms Novellendichtung, Bln. 1938 (S. 20f.). — H. F e u c h t e : Th. Storm und die Romantik, Diss. Hbg. 1940. — W a l t e r S c h m i e l e : Psyche, Untersuchungen über das genrehafte Element bei Th. Storm. Diss. Frankfurt a. Μ. 1941 (Masch.). — E l m e r O t t o W o o l e y : Studies in Th. Storm, Bloomington, Indiana 1943 (bibliogr. wichtig). — F r e d e r i c E. C o e n e n : Death in Th. Storm's Nov., Publ. of the MLA, New York 1949. — W. K o h l s c h m i d t : Th. Storm und die Züricher Dichter (G. Keller, C. F. Meyer), Th. Storm-Gesellsch. I (1952). — H . - W . F u l l e r : Th. Storm as a theorist of the „Novelle", in: Summ, of Doctor-Diss. Univ. of Wisconsin 13 (1952), S. 394ff. — C. A. B e r n d : Die gegenwärtige Th. Storm-Forschung. Eine Bibliographie, in: Schriften der Th. Storm-Ges. 3 (1954), S. 60—79. — H. G e b a u e r : Beitrag zur Th. Storm-Bibliographie. Ebda. 5 (1956), S. 60—70. Eine umfangreiche Storm-Bibliographie bietet Ε Im er O t t o W o o l e y : Studies in Th. Storm, Indiana Univ. Publications, Humanities Series 10 (1942) S. 113—41; an sich eine überwiegend biographisch interessierte Arbeit, stellt ζ. B. fest, daß Bertha von Buchau eigentlich Buchan hieß, möchte aber anders als Albert Köster das Gedicht „Dämmerstunde" nicht auf B. v. Buchan(P), sondern auf Doris Jensen beziehen. Die erste Studie handelt über „Storm and Bertha v. Buchan" (Sonderpublikation: St. and Bertha von Buchan, Bloomington 1951). Durch einen Irrtum von Gertrud Storm (Tochter) sei der Name falsch in

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die Stormbiographie geraten. Gertrud Storm ist überhaupt eine wesentliche Gewährsmännin für E.O. Wooley gewesen (Preface). Das lyrische Epigramm „ J u l i " trug eigentlich den Titel „August" bzw. „An Frau Susanne"; Storm habe dabei an die Frau des Bruders Constanzes gedacht. Die Schluß-Studie stellt die Frage: „Was Th. Storm religious?" (S. ößff.). Auf Kunsttheorie geht E. 0 . Wooley nicht ein. Ursprünglich plante Verfasser eine Storm-Biographie, die Studien sind Fragmente von diesem Vorhaben. Mit der Frage nach der Religiosität Storms hatte übrigens eine Sonderuntersuchung, die allerdings zeitgebunden eingetrübt erscheint, geschlossen, nämlich K a r l B o l l : Die Weltanschauung Th. Storms, in: N. Dt. Forschungen, Bln. 1940, letztes Kap. „Frömmigkeit", mehr pantheistisch gedeutet. Tenor der Arbeit: Stämme und Landschaften usw. einerseits, viel Nietzsche-Zitate (Nietzsche paßt schlecht zu Th. Storm), „Friesisches Thüle"; andererseits religiöser Einschlag „Das Rätsel des Todes" (8. Kap.) und „Frömmigkeit" (9. Kap.). K . Boll dehnt Weltanschauung nicht auf Kunstanschauung aus, obgleich die Sonderarbeit von W. Beissenhirtz (s. u.) längst vorlag. Die Vorrede berührt einmal flüchtig (S. 9) die Novellentheorie durch Storm-Zitat. Die wertvolle Storm-Monographie, mit der F r a n z S t u c k e r t : Th. Storm, sein Leben und seine Welt, Bremen 1955 die Reihe der Gesamtdarstellungen ( E r i c h S c h m i d t 1902, A l f r e d B i e s e 1917, B . L i t z m a n n 1917 usw.) bereichert, kennt und nennt schon die Sonderarbeit Beissenhirtz' und berührt die Theorie der „reinen" Lyrik S. 170. E r meint: „Sie bedeutete theoretisch für ihn (Storm) eine Bestätigung und Rechtfertigung seines eigenen Schaffens, praktisch einen Maßstab für die Beurteilung anderer Dichter". Als Kriterien gelten für Storm: Echtheit, Reinheit, Tiefe der Kunst. Frz. Stuckert bringt dazu eine knappe Anmerkung (S. 473/74) mit Bezug auf die bekannten beiden Vorreden zu den „Dt. Liebesliedern" und zum „Hausbuch". Verzeichnet sei der Hinweis auf die Briefe an H. Brinkmann (Briefe an seine Freunde S. 36f., 49f., 72f.) und an Friedr. Eggers (S. 16f.). Gelegentlich streift er die Theorie, so durch Hinweis auf das Gedicht „Lyrische Form" (1884), derselbe Gedanke (Form als Kontur des lebendigen Leibes) begegne in Prosafassung schon in den 50er Jahren, Verweis auf ausführliche Nachweise bei A. Köster S. W. 44

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VIII (Hauptbd. f. Kunsttheorie) S. 174 f. und Böhme Bd. I X S. 177—80. S. 390. G e s e t z der L y r i k . — Die Sonderuntersuchung von W a l t e r B e i s s e n h i r t z : Th. Storms Theorie der reinen Lyrik, ihre Forderangen, ihr Sinn und ihre geschichtliche Bedeutung, Diss. Marburg 1932 arbeitet ein Wesentliches („reine Lyrik") heraus, steht aber merklich vor einem zu schmalen Materialbestand. So erklärt sich das Kapitel I (Überblick über „reine" Lyrik seit Herder) und IV (Überblick über „reine" Lyrik seit Storm). Es bleibt also das Mittelstück und davon eigentlich auch nur die Partie S. 23—44. W. Beissenhirtz operiert in an sich richtiger Einschätzung des Primats liedhafter Lyrik mit dem Begriff des „neuen Volksliedes" und kommt zu den wenig glücklichen Kategorien: „Theorie des Inhalts" (S. 25f.), Unterbegriffe: „Realität, Notwendigkeit, Allgemeinmenschliches, Abtönung". Mit „Inhalt" soll offenbar Gefühls-Gehalt gemeint sein, wie denn auch spätere Partien durchweg treffender von „Gefühlsinhalt" sprechen; mit „Abtönung" soll keineswegs Abstufung, sondern eher Abdämpfung gemeint sein, soweit das überhaupt zu erkennen ist. Sodann folgt (S. 34f.) die „Theorie der äußeren Form"; Unterbegriffe: „Verschmelzung, Simplizität, Schlagkraft". Auch das sind kaum schlagkräftige Termini. „Verschmelzung" bezieht sich auf das enge Verschmelzen von „Inhalt" und Form (gehört also nicht zur „äußeren Form"). R. Prutz ζ. B. bezeichnete das gerade umgekehrt als „innere Form". „Simplizität" deutet als kunsttheoretischer Terminus viel zu stark auf die Klassik (und Vorklassik). Aber obwohl W. B. beobachten muß, daß Th. Storm diesen Terminus nur ganz vereinzelt anwendet (Preller-Rez. VIII S. 81), bevorzugt er ihn dennoch. Und obgleich er ihn umschreibt mit: Schlichtheit des „Naturlautes", kommt er nicht auf den Gedanken, diesen von Storm mit Vorliebe gebrauchten Terminus („Naturton") zum Ansatz zu nehmen, und zwar nicht nur für diesen Abschnitt. Ein solcher Ansatz würde sich m. E. als weit fruchtbarer erwiesen haben, und man hätte gern etwas Näheres über dieses Suggestiv- und Lieblingswort Storms (das an sich bei H. Heine vorgebildet war) und seine kunsttheoretische Bedeutung erfahren. So bleibt im wesentlichen die sauber herausgestellte Leitidee von der bewußten Konzentration auf die reine Lyrik und das

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Nebeneinanderstellen der einschlägigen Zitate, wobei Verfasser gern in indirekter Rede das wiederholt, was Storm im Zitat schon deutlich genug ausgesagt hat. Das mag mit dem erwähnten Mangel an Material zusammenhängen; ebenso die ermüdenden Wiederholungen („wie ich schon sagte"). Das wirklich Gemeinte kommt recht eigentlich erst im Kapitel III u. IV klarer zur Geltung. Besonders im 4. Kapitel zwingt das Bemühen einer Abhebung Storms von späteren Lyrikern wie Liliencron, R. Dehmel, George, Rilke zu präziseren Formulierungen. Dort fehle vielfach der Gefühlsinhalt und dessen allgemein-menschlicher Charakter (gesucht abseitige Stoffe, nicht allgemein interessierende und bewegende Inhalte). Diese Mahnung und die Kritik an der neueren Lyrik will durchaus ernst genommen werden. Aber Verfasser vergißt im Eifer ein wenig, daß es immer mißlich ist, das Kunstwollen eines Einzeldichters zur sollästhetischen Forderung zu erheben. S. 393· V o r r e d e zu den „ D e u t s c h e n L i e b e s l i e d e r n . . . " . — Soweit aus dem Literarisch-Historischen und Kunstkritischen dieser Vorrede zur Anthologie von 1859 überhaupt Kunsttheoretisches hervortritt oder mittelbar zu erschließen ist, entsteht echte Lyrik aus dem „Drang, ein inneres Erlebnis poetisch zu fixieren" (VIII, S. 108) unter Abwehr bloßen „Versemachens"; gefordert wird die persönliche Hingabe, das Hineinleben und Anvertrauen der „eigensten Persönlichkeit" (VIII S. 107). Das Material ist gründlich verarbeitet bei W. Beissenhirtz a. a. O. (1932). S. 394. „ P h r a s e u n d B i l d e r m a c h e r e i " . — Die Polemik ist durchgängig zu verfolgen, auch im Briefwechsel, so etwa schränkt er in einem Brief an Fr. Eggers (März 1853) s 0 " gleich fürsorglich ein „ad vocem Bild; darunter verstehe ich nicht die sogenannte bilderreiche Sprache". Bei dieser Gelegenheit begründet Storm seine Antipathie gegen das Vergleichsbild mit dem Einbrechen der Reflexion (zur Ermittlung des „tertii comparationis") in die Geschlossenheit von Gehalt und Gestalt. Diese Stellungnahme des Lyrikers verdient Hervorhebung. Wohl begegnete mehrfach eine derartige Warnung an die Adresse der Dramatiker (vgl. Bd. II u. III). Für die Lyrik dagegen hat sie wohl Storm am nachdrücklichsten vertreten. Letzten Endes richtet sich diese Warnung stets gegen ein Abgelenktwerden und eine Störung der unmittelbaren Wir44*

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kung; hinzu kommt, mehr äußerlich, das Verwerfen der Ausschmückung besonders durch konventionellen ..Aufp u t z " . Das berührt schon die „Phrase", wie denn Storm im erwähnten Brief begründet: „im Ganzen will ich es (das Bild) nicht, es führt überdies direkt zur Phrase". Die Polemik gegen die Phrase ist kunsttheoretisch weniger interessant, wenn auch kunstkritisch beachtenswert. S. 396. G e d i c h t e i n l a g e n , „ M a l e r N o l t e n " . In diesem Zusammenhang c ei hingewiesen auf H i l d e g a r d E m m e l : Mörikes Peregrinadichtung und ihre Beziehung zum „Nolten"-Roman, Weimar 1952 (Habil.-Schrift Rostock: von merklicher Selbstsicherheit, doch un-merklicher Treffsicherheit). S. 398. G e s t a l t u n g s w e i s e d e s T r a g i s c h e n . — Storm versteift sich nicht auf eine restlose Deckung von Novelle und Drama. Vielmehr stellt er im Tagebuch zur Erwägung: „Man könnte untersuchen, ob ein episch· und ein dramatisch-Tragisches zu unterscheiden sei". Dabei denkt er sich das Episch-Tragische mehr als passiv, das Dramatisch-Tragische mehr als aktiv, wie folgende Briefbemerkung zeigt: „ I n Erwägung zu ziehen wäre es, ob nicht eine dramatische und eine epische Tragik zu unterscheiden wäre, gleichsam eine aktive und eine passive; doch das ist nur so eine entfernte Empfindung" (an d. Lit.-Hist. Erich Schmidt, 26. Juni 1880); vgl. E n n o K r e y : Das Tragische bei Th. Storm (1914) S. 60. S. 402. Hermann Kurz (Ergänzung). —· Kunsttheoretisch wenig bedeutend, sowohl im Kunstwollen wie im Kunstschaffen anlehnungsbedürftig. An Beiträgen kämen etwa in Betracht der „Epilog" (in mäßigen Hexametern) zu der „Reise ans Meer" (1839), der Briefwechsel zwischen H. Kurz und Eduard Mörike (hrsg. v . H. K i n d e r m a n n , Stuttgart 1919), „Die Fragen der Gegenwart und das freie Wort" (1845), die Darlegungen „Zu Shakespeares Leben und Schaffen" (in: Streifzüge in L i t . u . Gesch. 1868), die Vorrede zum Roman „Der Sonnenwirt" (1854, nach Schillers „Verbrecher aus verlorener Ehre"). Herrn. Kurz (1813—73) hat wenig Ähnlichkeit mit den größeren Künstlern, die im Schicksalsjahr 1813 geboren worden waren. E r bewegt sich, aus dem Schwäbischen Dichterkreise kommend, zeitweise liberaler Publizist, abtrünniger Theologe, zwischen Nachromantik und Nachklassik mit Schwenkung zum poetischen Realismus. Einige schätzen seinen kulturhistori-

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sehen Künstlerroman „Schillers Heimatjahre" (1843) höher als seinen „Sonnenwirt". In späterer Zeit lebend, hätte er sich wahrscheinlich der „Heimatkunst" angeschlossen. Das bestätigt u. a. sein Bekenntnis: „Das Heimatgefühl für sich selbst ist schon eine Quelle der Dichtung". Seine Novellen waren zeitweise recht beliebt. Aber sein bestes Werk war wohl — seine Tochter Isolde Kurz, die dem Vater eine liebevolle Biographie gewidmet hat. In der Sonderforschung hat sich vor allem H e i n z K i n d e r m a n n in mehreren Arbeiten um H. Kurz bemüht: als Balladendichter hat er ihn im Rahmen des Schillervereins (Marbach 1918), als Übersetzer (Stuttgart 1918) und schließlich als Literaturhistoriker in H. 67 der Germanischen Abhandlungen (Breslau 1933) zu würdigen versucht. Eine kurze Aufzählung seiner kunsttheoretischen Forderungen bringt in gedrängter Form H. R e i n h a r d t a. a. 0. (1939) S. 112—17, wobei er allerdings übersieht, daß das sog. „Gesetz der Perspektive", das an sich aufhorchen lassen würde, ganz einfach von Fr. Th. Vischer herübergenommen sein dürfte. In seiner Begeisterung über die innere Wahrheit des Sagenschatzes und dessen tiefen historischen Wert (Einfluß J. Grimm ?) gerät H. Kurz zu der köstlich naiven Formulierung: „Im Dienst der Wahrheit zu lügen, ist das holde Vorrecht der Poesie". Er verwechselt nämlich vielfach das Poetisieren mit der Poesie. Der Streit, ob er „Positivist" oder „Biedermeier-Mensch" gewesen sei, erscheint einigermaßen müßig, weil manche Tübinger Theologen von der Gottesgelahrtheit mehr oder minder in das Naturwissenschaftlich-Fortschrittliche umschlugen, ohne sich jedoch auf die Dauer über die idyllische Grundstruktur hinwegtäuschen zu können. Die Verbindung von Kulturgeschichte, Chronik-Novelle und Dorfgeschichte im „Sonnenwirt" verdient immerhin Beachtung kurz vor W. H. Riehls Propagierung der kulturgeschichtlichen Novelle und des kulturgeschichtlichen Romans (1856). Paul Heyse erkannte richtig den nachklassischen (und nachromantischen) Zug in Hermann Kurz, als er ihn zum Mitherausgeber des „Deutschen Novellenschatzes" machte. Dem poetischen Realismus gehört er (schon wegen seiner frühen Einsatzzeit) nur sehr bedingt an (trotz H. Kindermann und H. Reinhardt, der wiederum darin H. Kindermann Gefolgschaft leistet). Neben dem Einfluß K . Immermanns, dessen Bedeutung für die frührealistische Wendung H. Kurz richtig erkannte, (wie übrigens auch Julian Schmidt),

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dem Einfluß W. Scotts, W. Alexis' und B. Auerbachs ist nämlich der E. Mörikes doch wohl nachhaltiger gewesen, als man vielfach annimmt. Deshalb scheint er mehr am Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik mit Einschluß des Frührealismus und Biedermeier beteiligt, als einem ausgeprägten „poetischen Realismus" zugewandt. — M a r g o t S c h l i n g h o f f : H. Kurz, V/erk und Persönlichkeit, Diss. Marburg 1949 (Masch.). S. 405. Wilh. H. Riehl. — Riehl war vor allem Kulturgeschichtler, Soziologe und Volkskundler; vgl. H a n n a S t e p h a n : Studien zu W . H . R i e h l s Soziologie, Diss. Marburg 1932 (tendenziös, überschätzt Einflüsse Adam Müllers und Joh. Jakob Wagners — vgl. der junge Platen); E l i s a b e t h H a u s s i g : W. H. Riehl, Ursprünge der mittelständischen Soziologie in Deutschland, Diss. Frankfurt a. M. 1934. — Aber er war zugleich Liebhaber der schönen Künste und versuchte sich selber in der kulturhistorischen Novelle; vgl. M. J a n k e : W. H. Riehls Kunst der Novelle, Diss. Breslau 1918. Über seine kunsttheoretischen Ansichten vgl. H. R e i n h a r d t a. a. 0 . (1939), S. 106—112 (etwas zu viel über Weltanschauung und zu wenig über Kunstanschauung, die weit reicher ausgebildet ist, als dort erkennbar wird). S. 407. „ F r e i e V o r t r ä g e " . —• Weitere Fundstellen wären ζ. B. die „Religiösen Studien eines Weltkindes", „Land und Leute" u. a. m. — Der Riehl-Abschnitt dieser Darstellung war ursprünglich mehr als doppelt so umfangreich. Doch ging das Manuskript durch mittelbare Kriegseinwirkung (wie so manches andere) verloren. Und nicht alles ließ sich nachträglich ersetzen. Es wäre eine lohnende Aufgabe (zum mindesten für eine Abhandlung), wenn von dritter Seite diese Lücke geschlossen würde. Schon die „Freien Vorträge" bieten reiches Material. Auch die Zeitschrift für Ästhetik (nun amerikanische Fassung) könnte sich einmal für W. H. Riehl interessieren. S. 408. Ferd. Gregorovius. — Außer geschichtlichen Sonderarbeiten vgl. F. D a m m a n n : Gregorovius und Gervinus, Zschr. für Geschichte des Oberrheins, Jg. 56. S. 413. Ernst v. Wildenbruch. — Außer den Abschnitten in zusammenfassenden Werken wie bei A. v. H a n s t e i n : Das jüngste Deutschland, 3. Aufl. Leipzig 1905; F r i e d r . K u m m e r : Deutsche Literatur-Geschichte des 19. Jh.s,

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Dresden 1909, S. 49iff.; R. M. M e y e r usw. vgl. für das Drama besonders S i g i s m u n d F r i e d m a n n : Das deutsche Drama des 19. Jh.s II (1903), S. 245—330. — Sonderforschungen von Α. M. M o r i s s e : Die epische Kunst und Technik E. v. Wildenbruchs, Diss. Bonn 1912. — Ε. A. M o r g a n : E. v. Wildenbruch as a naturalist, Diss. Madison 1930. —• U. M a n n e s : Ε. v. Wildenbruchs dramatische Technik, Diss. Jena 1934. S. 414. „ D e r d r a m a t i s i e r t e T r e i t s c h k e " (Ergänzung). — Das bezieht sich natürlich auf das Pathos des HistorienDramatikers Wildenbruch, wobei R. M. Meyer übersah, daß H e i n r i c h v o n T r e i t s c h k e (1834—J896) selber dramatische und poetische Ambitionen hatte, also eigentlich gar nicht erst „dramatisiert" zu werden brauchte. Während man einschlägige Sonderforschungen über so manchen Dichter vermißt, liegt über Treitschke eine Einzeluntersuchung vor von R i c h a r d H e b i n g : H. v. Treitschkes Kunstanschauungen, mit besonderer Berücksichtigung der Dichtkunst. . . , Diss. Münster 1931 (Jahreszahl unklar, da nur 1929 mündliche Prüfung angegeben. Läßt sich da nicht endlich eine Einheit des Verfahrens erreichen?). Nachdem man die dunkle Erklärung über eine frühe Krankheit, „welche bewirkte, daß H. v. Treitschke nach und nach Staub (!) wurde" (S. 10), als Druckfehlerkomplikation erhellt und hingenommen hat, erfährt man, daß er bei dem auch noch von Julian Schmidt in den „Grenzboten" gerühmten weiland Literaturhistoriker Julius Klee (Vater des seinerzeit populären Gotthold Klee) sogar über Poetik etwas erfahren hat (Dresdener Zeit). Wesentlicher war, daß er 1857 mit Fr. Th. Vischers Ästhetik, Teil „Dichtkunst" sich befaßte. Denn damit ist etwa die Grundrichtung angedeutet, die immer wieder zwischen Idealismus und Realismus zu vermitteln suchte. Was heraussprang, war für Treitschkes leicht enthusiasmierte National-Pathetik eine oft recht sonderbar anmutende Mischung von veräußerlichtem Klassizismus und ebenfalls sehr nach außen bekundetem, wenngleich gewiß echt preußischem Patriotismus. Fast so wie auf der Gegenseite etwa vorher Friedr. Engels dilettierte H. v. Treitschke besonders in seiner Frühzeit in der Poesie. Er betrieb alles mit Emphase: „Im Schweiße meines Angesichts lese ich den Vischer" (8. 2. 57); Julian Schmidt und Gervinus sagen ihm nicht zu, und die Poetik von R. ν Gottschall findet keine Gnade

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(25. i. 59). Im Grunde war er ganz recht beraten, wenn er Vischer weit über Gottschall stellte. Unter den Gattungen schätzt er am höchsten das Drama. Eben deshalb war seine Geschichte so leicht zu dramatisieren. Kein Wunder auch, daß in seinen Dichterwiirdigungen (Kleist, Otto Ludwig, Hebbel, Keller) die Dramatiker überwiegen („Deutsche Lebensbilder"). Die Fühlung mit dem Münchener Kreis (Lingg, Bodenstedt, Hopfen) i860 war durch die Beschäftigung mit Vischers Poetik erleichtert. Aber natürlich muß der Pathetiker mit militantem Einschlag aus dem Sich-Versenken in Vischer sogleich ein „Stahlbad" machen; denn sein Grundtrieb war das Übertreiben, die idealisierende Übersteigerung; Geibel und Heyse sind ihm schon zu ausgeglichen. Seit 1862 ist er mit G. Freytag bekannt und bald auch befreundet (vgl. A l f r e d D o v e : G. Freytag und H. v. Treitschke im Briefwechsel, Leipzig 1900). Mehr als Kuriosum sei seine Bekanntschaft mit der Birch-Pfeiffer verzeichnet, deren Poesie er immerhin „schauerlich" findet. Aber seine eigenen, keineswegs auf die Jugend beschränkten dichterischen Versuche können auch nicht gerade als vollendet bewertet werden (vgl. H a r r y M a y n c : Der Dichter H. v. Treitschke, in: „Der Türmer" I). Der lockere essayistische Darstellungstypus seines englischen Kollegen Macaulay, den W. H. Riehl hochschätzte, sagt Treitschke nicht zu, der mehr zur dramatischen Pathetik neigt. Scheffels „Trompeter . . . " überschätzt er; aber rührend wirkt es, daß er sich bemüht, Plattdeutsch zu lernen, um Zugang zu Klaus Groth und dessen „Quickborn" zu finden. Die Poesie gilt im kulturpatriotischen Sinne als Wertausweis und Wertzuwachs der nationalen Geltung. Politische Lyrik (Zeitgedichte) mögen künstlerisch umstritten sein, erfüllen aber eine wichtige kulturpatriotische Funktion (S.76). Mit der damals aufkommenden Dorfgeschichte hat er ebenso wenig im Sinn wie Julian Schmidt (vgl. „Grenzboten", Jg. 1857 über 0 . Ludwig); am ehesten sei sie als Episode im Roman zu rechtfertigen (Immermanns „Oberhof"Geschichte im „Münchhausen"). Längst vor H. Hesse ist ihm das Feuilleton verleidet. Von hier aus verdammt er H. Heines „krankhaften Zwitterstil", der weder Poesie noch Prosa sei (Reisebilder usw.). Treitschkes Einzelforderungen an die Gattungen (S. 56 ff.) stammen durchweg aus zweiter Hand, was die Sonderforschung nicht hinreichend beachtet und belegt hat. Was die Kritik an Heine betrifft, so dürfte Treitschke nicht frei von Vorurteilen

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sein. Denn an sich beurteilte er die Weltschmerzdichtung erstaunlich positiv, wohl vor allem unter dem Eindruck Byrons. Ihm widmete er im Rahmen seiner „Historischen und politischen Aufsätze", die neben den „Deutschen Lebensbildern" für seine Dichterporträts besonders in Betracht kommen, schon 1867 eineliebevolle Aufmerksamkeit. Sonst so eifrig über das Gesunde wachend, sieht er in der Weltschmerz-Poesie Byronscher Prägung keineswegs das bloße „Krankheitssymptom einer aufregenden Epoche", sondern einen überzeitlichen Ausdruck von „unsterblichem Gehalt". Allerdings spielt bei solchen Urteilen die erwähnte leichte Begeisterungsfähigkeit und labile Anpassung mit, sowie die vielfach spürbare Besorgnis, womöglich auf künstlerischem Gebiet nicht großzügig genug zu erscheinen. Im Grunde nämlich war sich H. v. Treitschke sehr wohl bewußt, daß er auf kunstpolitischem Gebiet konservativer war als auf politischem Gebiet, wo er —• nicht zufällig mit G. Freytag zeitlebens befreundet — eine Art von Nationalliberalismus vertrat unter Verwertung und Abwandlung geschichtsphilosophischer Ideen Hegels. Bei näherem Zusehen ergibt sich nämlich, daß er kunsttheoretisch dem Münchener Dichterkreis nähersteht, als man (einschließlich der Sonderforschung) noch vielfach annimmt, mochte es immerhin mit seiner Taubheit zusammenhängen, wenn er so stark an das Formideal der Plastik (vgl. Klassik und Antike) gebunden blieb. In der „Besonnenheit" der Klassik und der Junonischen Nüchternheit Hölderlins hatte er sich ganz bewußt ein Gegengewicht geschaffen gegen jenes Pathos des leicht „aufschäumenden" Temperaments, das man auf den tschechischen Zustrom (vgl. den Namen) seines Herkommens zurückgeführt hat. Diese notgedrungene Nüchternheit als unentbehrlichen Ausgleichswert glaubt er ζ. B. auch an Ludwig Uhland beobachten zu können, der nicht zuletzt deshalb dem deutschen Bürgertum lieber geworden sei als mancher Vollromantiker, der mit der zunächst einmal bestechenden Phantasie allzuleicht die Krankheit der Phantastik einschleppt. Auf der anderen Seite leuchtet ein, daß er dem konsequenten Realismus, auf den er in seiner Spätzeit traf, ebenso ablehnend gegenüberstand wie etwa Paul Heyse. War ihm — wie erwähnt — doch schon die Dorfgeschichte (ähnlich wie Julian Schmidt) zuviel gewesen als „derbe Hausmannskost", die den „Tollpatsch" selbst noch pikant fand. Ein Blick auf Julian Schmidt, der alles das am liebsten dem „Humor" zuweisen

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wollte, und H. v. Treitschke läßt erst die ganze Kühnheit des konsequenten Realismus (Naturalismus) erkennen und entwicklungsgeschichtlich ermessen. Auf der anderen Seite kann Tr. etwa in der bildenden Kunst das anachronistische Verfahren eines Peter Cornelius bei der Freskomalerei in der Münchener Ludwigskirche kein Genüge tun, weil es sich zu sehr einer naiven Schwarz-Weiß-Kunst nähert (S. 33). In solchen Fällen vermißt er jene ihm durch Hegel nahegelegte „Spur einer höheren Idee", die ihm auf literarischem Gebiet etwa auch in der Schwarz-Weiß-Kunst der „Familie Schroffenstein" Kleists zu fehlen scheint. Es ist hier unmöglich, die recht tapfere und tüchtige Einzeluntersuchung R. Hebings, die aus einer sehr gediegenen wissenschaftlichen Schule (Schwering) hervorgegangen ist, in ihren reichen Erträgen zu erschöpfen. Bedauerlich bleibt nur, daß diese klug geleitete junge Kraft sich nicht an einem fruchtbareren Thema erprobt hat. Denn wir besitzen leider keinen Überfluß an kunsttheoretischen Sonderuntersuchungen.

Verzeichnis der Begriffe, Merk- und Kennwörter (Versuch einer systematischen Gliederung) Auf die Vorbemerkungen in Band III S. 691 darf zurückverwiesen werden, gerade auch hinsichtlich des Grund-Legenden und des Grenze-Setzenden. Wie dort (gegenüber Band II) eine Sondergruppe „Gesetz und Freiheit" (S. 711/12) herausgestellt wurde, schien es hier angebracht, dem Verhältnis von „Lebenswirklichkeit und Dichtkunst" besondere Aufmerksamkeit zu widmen. In die Lebenswirklichkeit ist dabei die innere, geistige Wirklichkeit einbezogen worden. Das Schlußkapitel über „Gattungstheoretische Sonderbeiträge" (S. 336 ff.) ermöglichte einen entsprechenden Ausbau des Registers im Bereich der Gattungen und Arten. Es hätte an sich nahegelegen, etwa den „Roman" oder die „Novelle" zu Oberbegriffen zu erheben. Doch sollte eine weitere Untergliederung vermieden werden, die leicht zu leise erschreckenden Konsequenzen für andere Teile des Registers geführt hätte. Bei einigem gutem Willen (und wer hätte den nicht?) kann der Benutzer sich auch ohne subtile Untergliederungen zurechtfinden. Das eine oder andere Merk- und Kennwort, das nun unter den „Einzelbegriffen" begegnet, hätte sich in das „System" einbauen lassen, so ζ. B. die „Konzeption" beim Oberbegriff „Schaffensvorgang". Aber oft wird erst im Spätstadium des nicht ganz einfachen Arbeitsverfahrens voll erkennbar, wie reich (oder arm) ein Begriff belegt ist. Wieder wird vom (jüngeren, noch studierenden) Leser produktive Kritik im Sinne eigener Ergänzungen erhofft. Nicht alles Material wurde erfaßt; und nicht alles erfaßte Material wurde einbezogen und für das Register ausgewertet. Wohl aber sind dem Verfasser manche Erinnerungen haften geblieben aus den herangezogenen, aber nicht voll ausgeschöpften Quellen, die ihn dazu ermutigen und in gewissem Grade doch wohl auch ermächtigen, im Register diesen oder jenen anregenden „Wink" zu geben in Richtungen, die er selber nicht bis zum Ende verfolgen konnte, wenn anders Zersplitterung vermieden werden sollte. So ζ. B. wäre das Verhältnis von Dichtung und Publizistik durchaus ausbaufähig, ebenso das Wechselspiel von Produktion, Kritik und Selbstkritik. Wenn jedoch wenigstens das erreicht werden konnte, was nun als Versuch einer systematischen Gliederung vorliegt, so ist dies nicht zuletzt der zähen Arbeitstreue und ordnenden Umsicht meiner wissenschaftlichen Hilfskraft Inge S c h w e l g e n g r ä b e r zu

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V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

verdanken, die sich in diesem Falle nicht auf die Vorsichtung des Materials beschränkte, sondern ζ. T . auch bei der Ausfächerung wertvolle Hilfe leistete. — V o n einem bloßen Register der „ B e g r i f f e " usw. ist hier die Rede. Darin liegt eine bewußte Selbstbescheidung der Literaturwissenschaft gegenüber der Philosophie. Gelegentlich aber dürfte es sich darüber hinaus u m „ I d e e n " handeln, wenngleich vielfach nur u m „Ideengefühle" im Sinne Maler Müllers. D a s gilt freilich für B a n d I I I in einem höheren Grade als für B a n d I V , gemäß den geringeren geistigen Grundkräften des 19. Jahrhunderts. — D a s eingeklammerte Τ weist auf das Vorkommen des Begriffswortes im Titel (oder der Kapitelüberschrift) einer zeitgenössischen Publikation hin. Die „Einzelbegriffe" wurden weder alphabetisch noch systematisch geordnet aus den in B a n d I I I angegebenen arbeitstechnischen Gründen. Sonderfofmen der Poetik A l l g e m e i n e s S. 62, 97, 110, 111, 114, 115, 127, 147, 167, 168, 175, 183, 202, 203, 207, 208/09, 2 I 2 > 213/14, 222, (260), 271, 277, 287, 290/91, 298, 319, 327, 343, 356, 359, 363, 370, 379. 386, 398/99. 402, 423. 424. 5I6, 524, 527, (538), 541. 552> 558, 561, 579- 580, (586), 588, 596, 598, 6 1 1 , 624, (626), 627, 633, 636/37, 648, 673, 695. A n w e i s u n g s p o e t i k S. 126, 168, (299), 359, 360, 488, 493, (527, 528, 531. 554). 674. W i r k u n g s p o e t i k S. 26, 100 (T), 147, 220, 252, 332, 374, 380, 387, 390/91, 402, 415, 434, 575, 685. S c h ö p f u n g s p o e t i k S. 26, 147, 390, 391 u. ö. (vgl. Schaffensvorgang). A u s g l e i c h s - u n d B i l d u n g s p o e t i k S. 26, 76, 99, 127, 271 u. ö. (vgl. K l a s s i k ; Ausgleich von Form und Inhalt u. a.). L i t e r a t u r p h i l o s o p h i e S. (13), 21, 152, 207, (257), 266, 267, 287, 486, 493, 581, 588, 592, 598, 601. F o r m u l i e r t e P o e t i k (durchgängig) S. 10, 8 3 , 1 3 2 , 208, 209, 2 1 1 , 212 u. ö., 417, 419, 420, 425, 428, 450, 452, (453). 455. 456, 457, 460 u. ö., 519 (T), 521, 527 (T), 534 (T), 561, 596, 599, 660. I m D i c h t u n g s w e r k f o r m u l i e r t e P o e t i k (besonders K u n s t gespräche, Gedichte über Dichtkunst, kunsttheoretische Äußerungen im Dichtungswerk auftretender Personen, Stellvertreter des Dichters usw.) S. 83, 97, 98, . . . 209, 210, 2 1 1 , 2 1 3 , 234, 238 u . ö., 5 3 1 , 561, 562, 579, 588—90,

662, 686.

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND KENNWÖRTER

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W e r k i m m a n e n t e P o e t i k (latente, implizite, im Kunstwerk eingekörperte Gesetzlichkeit, Gestalt gewordenes Kunstwollen, abgelesen vom Gepräge des Dichtungswerkes als Ganzheit) S. i o , 20, (48), 89, 132, 139, 172, 173, 209, 211, 2 x 2 , 213, 404, 417—86, 521, 5 3 2 — 3 6 , 560, 596, 637, 642. S e l b s t r e c h t f e r t i g u n g s p o e t i k (Poetik als Selbstverständigung, Selbstrechtfertigung oder Selbstkritik) S. io, 41, 42, 137, 191, 209, 210, 211, 212, 361, 399, 404, 417 u. ö., 531, 537, (624), 632, 638, 673, 679, 689. S y s t e m - P o e t i k (systematisierte, konstruktive, prinzipielle Poetik) S. 82, (114), 115, (195), 214, 425, 440, 443, 445, (457), 486—510. V o r b i l d - P o e t i k S. 66, 123/24, 166, 193, 212, 219, 227, 230, 330, 332, 418, 424, 455, 5 5 9 , 560, 601, 679. P o e t i k in V o r l e s u n g s f o r m (und als Teil im Rahmen von größeren Publikationen, ζ. B . innerhalb der Ästhetik)*) S. 22, 30, 109, 113, 115, 175, 182, 202, 260, 402, 489, 494/95, 505. 508, 519, 527, 586, (587). G e s a m t - P o e t i k u n d G a t t u n g s - P o e t i k S. 58, 62, 6 7 , 1 0 9 , 1 1 3 , 115, 169, (188/89), 199. (202), 217—55, (260), 262, 271 f·, 284, 285, 286, 290, 299f., 313, 317, 3i9f., 325, 327/28, 336—416. „ P o e t i k " im T i t e l (oder im Zitat) S. 127, 327, (402), 487, 488, 489, 493, 498, (499), 504, 505, 506, 507, 509, 516, 527, 672, 674, 678. K u n s t t h e o r e t i s c h e T e r m i n o l o g i e S. 29, 44, 46, (153/54), I 79> 202, 240, 257, 277, 284, 348, 350, 351, 352, 359, 360/61, 361, 363. 365, 370, 387. 388, 397. 414. 439. 489. 490. 494. 499, 501, (502), 503. 521, 549. (550), 57 2 . ( 5 9 0 — 9 2 ) . 6 0 8 , 609, 632/33, 638, 660, 6 6 8 , 679, 6 9 0 . R ü c k g r i f f a u f die f r ü h e r e P o e t i k S. 6, 7, 8, 13, 17, 18, 24, 26, 26/27, 30, 31, 33, 35, 3 7 , 38, 39, 4 0 / 4 1 , 43, 46, 47, 48/49, 5 1 , 52. 55. 57. 65. 68, 76, 7 7 , 83, 94, 97, 98, 99, 101, 106, (107), 113, 114, 115, 119, 130/31, 133, 147, 150, 152, 153, 164, 168, 169, 175, 178, 1 8 0 , 1 8 2 / 8 3 , l f * 4 . 198, 200, 201, 208, 209, 211, 213, 217, (222/23), 228, (229, 233, 235, 239, 240, 242), 243/44, 249, 260, 261, 262, (266), 2 6 7 / 6 8 , 270/71, 272, 274, 277, 278, 279, 2 8 1 , (283), 284, 2 8 5 (T), 287, 289 (T), (290), 291, 293, 2 9 4 , 2 9 5 , 297, 298, 2 9 9 , 303, 304, (307, 308, 311), 316, 318, 320, 322, 323, 325 (T), (327, 333), 3 3 9 , *) Auch hier kann — wie in Band I I I — der Oberbegriff: Typus, Anlage- und Äußerungsform der Poetik (Band I, II) entbehrt, aber wie dort eine nun stärker hervortretende Sonderform einbezogen werden.

702

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

347. (348). 358, 361, 3 6 4. 3 6 5. 369. 37°. 372, 386, 39°. 391, 392, 393, 395, 396, 399, 40a, 403, 410, 458, 486, 494 (T), 496, 499, 500, (501), 502, 503, 504, 506, 508, 509, 528, 531, 532, 533. 539. 542, 543. 547. 54». (55*. 563), 570, (580, 581). 582, 585/86, 586, 587, 596, 597, 598, 599, 603, 608, 620, 629, 632, 636, 637, 642/43, 644, 646, 647, 657, 681, 684, 690, 695. V o r g r i f f a u f d i e s p ä t e r e P o e t i k S. 4, 5, 7, 9, 10, 11, (12), 13, 14, 18, 19, 23 (T), 28, 30, 31, (33), 35, 37, 50, 56, 60/61, 77 u. ö., 181/82, 183, 188, 195, 206, 228, 234, 240/41, 241, 244, (252), 258, 259, (262), 263, 269, 270, (275), 290, 300, 311, 319, 330 u. ö., 487, 499, 501, 506, 509, 528, 529, 537, 547. 56i, (564), 580, 591, 618, 637, 643, 651, 682. Vorbild-Poetik mit Bezug auf das Ausland (und allgemeine Auslandseinflüsse) A l l g e m e i n e s S. 50, 58, 66, 139, 149, 151, 154, 158/59, 170, 171, 172, . . . 224 (T), 248, 253, 254, 263, 265, 286, 307, (310, T), 311, 313, 317/18, 319, 320, (321), 330, 331, 341, 348/49. 363 (T), (389), 531, 559. 56°· G r i e c h e n l a n d , A n t i k e (vgl. Rückgriffe und Vorgriffe). S t e l l u n g z u r A r i s t o t e l e s - A u t o r i t ä t S. 130 (T), 131, 277, 488, 492, 499 (T), 500, 502, 504, 506, 507, 681. E n g l a n d (und Stellung zur Shakespeare-Autorität) S. 33, 44, 50, 54, (58), 66, 67 (T), 68, 69, 70, 78, 109, 118, 136, 149, 150, 154, 169, 191, 227, 234, 236, 241, 248, 252, 253, 254, 263, 286, (287), 290, 293, 296, 298, 299, 300, (329), 330, 331. 334. 341. 347. (352), 362, (376), 379. 3 8 2 . 383. 385, 386, 401, 405, 424, 427, 437, 438, 441, 453 (T), 454, 455, 462, 478, 490, 530, 533/34, 537. 539. 556 (T). 580, 581 (T), 596, 608 (T), 636, 637, (640), 647, 650, 664, 667, 670, 675, 681, 683, 693, 696, 697. F r a n k r e i c h S. 33, 40, 41, 49, 50, (58), 68, (91), 1 3 4 / 3 5 . *37. (138), 150,153,154,155,158,159,160,167 (T), 168,169 (T), 170, 172, (173), 196, 235, 236, 237, 238, 248, 252, 254, 264, 306 (T), 307 (T), 309 (T), 326/27, 330, 331, 341, 342. 348, 370/71. 423. 439. 441. 462, 486, 528, (534. 540). 563. 581 (T), 647, 659, 664, 668, 674. I t a l i e n S. 28, 50, 127, 132, (136, 139), 140, (141), 144, (145), 154, 171, 236, 263, 263/64, 305, 344, 351, 362, 402, 403, 411. 559. 560. S p a n i e n u n d P o r t u g a l S. 44, 46, 58, 60, 66, 136, 156, 166, 254. 264, 403, 405, 423, 439, 525, 533.

V E R Z E I C H N I S DER B E G R I F F E , M E R K - U N D K E N N W Ö R T E R

703

S k a n d i n a v i e n (Dänemark, Schweden, Norwegen) S. 19, (58, 174), 272, 273, 274, 330, (348), 370, 371, 448, 449, 537, 616, 651, 681. A m e r i k a S. 301, 330, 372, (386/87), 438, 462, 675. R u ß l a n d S. 301, 309, (400, 534), 564, 574, 674. P e r s i e n , I n d i e n , C h i n a S. 24, 56, 124, 171, 176, 264, 353, 386, 390. 559 (T).

Rückgriffe auf frühere und Vorgriffe auf spätere Epochen (Entwicklungszusammenhänge und Entwicklungsansätze bzw. Entwicklungsnachklänge) D a s E p o c h e n - V e r h ä l t n i s (und die Problematik der EpochenZuordnung) S.i, 2, 5, 7, 8, 9, 18—20, 39, 65, 73, 74, 75, 89, 134, 164, 172, 201, 214/15, 235, 256, 257, 258, 264/65, 266, 267, 271, 300, 316, 322, 334/35. 357/58, 377/78, 379. 385, 418, 419, 420, 422, 423, 428, 512, 513, 514, 541, 543, 547. 551, 556, 561, 578. 602/03, 609, 611, 612, 628, 634, 635, 642, 651, 663, 678/79, 690, 692, 693. R ü c k g r i f f a u f d i e A n t i k e S. 41, 57, 58, 60, 62, 63, 64, 67, 68, 76, 83, 90, 109, 113, 114, 154, 304, 341, 349, 350, 357, 368, 376, 386, 390, (408), 412, 489, 491, 493, 498, 499, 508, 509, 522, 523, (525), 527, 530, (537, 539), 543, 551, 563, 580, 636, 647, 697. R ü c k g r i f f a u f B a r o c k (und „galant-kuriöse" Epoche, Renaissance, Humanismus und 16. Jh.) S. (32), 48, 58, 109, 144, 154, 168, (230), 254, 265, 386, 465, 514, 533, 552, 581, 599. 609. R ü c k g r i f f a u f d i e A u f k l ä r u n g S. 1, 7, 13, (15, 17), 18, 27, 39, 77, 104, 107, 108, 134, 146, 147, 150, 151, 153.154. 157, 158, 159, 160, 177, 178, 200, 222, 223, 225, 266, 289, 323> 346, 347. 362, 364, (400), 419, 421, 422, 423, 429, 433, 462, (466), (Zeichenlehre: 496, 500, 509, 510), 526, 528, 551, 575, 580/81. R ü c k g r i f f a u f d i e R o k o k o z e i t (und das Rokokohafte) S. 26/27, 29, 47, 169, 466, 490, 514, 549, (551). R ü c k g r i f f a u f d e n S t u r m u n d D r a n g (Geniezeit) S. 1, 12, (13), 134, 146, 147, 150, 194, 209, 210, 211, 212, 256, 2 7 1 , 298, 299, 3 4 1 , (343, 358), 368, 392, 393, 400, 584/85,

659· R ü c k g r i f f auf die 44. 57. 76, 77. 121, 122, 132, 258, 265, 267,

K l a s s i k S. 1, 12, 13, 18, 20, 39, 40, 41, 83, 86, 87, 89, (94), 108, 109, 1 1 1 , 116, 117, 133, 153, 163, 164, 167, 172, 174, 194, 206, 268, 271, 285, 305, 322, 357, 358, 363, 364,

704

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

4X9, 42Ο, 423, 428, 429, 432, 433, 447, 493, 494, 525,

(535). 542, 543. 549. 551. 553. 555, 560, 561. 569. (588), 598, (635). 667, 668, 697. B e z u g n a h m e auf den K l a s s i z i s m u s (zugleich als Stilbegriff) S. 56, 57, 68, 133, 187, 196, 265, 271, 283, 526, 598, 695. R ü c k g r i f f auf die R o m a n t i k S. 1, 2, 5, 6, 7, 8, 13, 14, 18, 20, 41, 44, 46, 56, 73, 76, 77, 83f., 93, 94, IO7, I08, IO9, I2X, 133, 152, 153, 158, 162, 163, 164, 172, 173, 174, 176, 177, 215, 216, 229, (233), 256, 258, 260, 263, 266, 267, 268, 269, 280, 290, 295, 304, 305, 321, 326, 328, 331, 338, 345, 348, (382), 402, 419, 420, 423, 428, 429, 433, 436 (T), 437, 438, 440, 443, 444, 462, 463, 464, 466, 469, 473, 478, 479,

486, 493, (494). 501, 508, 535. 543. 544. 556. 559. 5 6 °.

561, 580, 582, 583, 592, 618, 620, (635), 665, 667, 679. K r i t i k an der R o m a n t i k (Abwehr) S. 6, 7, 13, 40, 69, 149, 156, 176, 206, 244, 266, 267, 268, 269, 299, 304, (320), 321, (326), 328 u. ö. R ü c k g r i f f auf den s c h w ä b i s c h e n D i c h t e r k r e i s S. 75, 76, 89, 113, 120, 185/86. N a c h k l a s s i k S. 18, 20, 1 1 1 , 114, 118, 120, 121, 132, 134, 137, 257. 316, 322, 327, 365, 369, 386, 419, 432, 534, 551, 556, 557. 560, 565, 578, 663, 665, 668, 692, 693, 694. N a c h r o m a n t i k S. 18, (19), 20, 93, 214, 249, 257, 263, (318), 346,430,466, 5 3 4 , 5 5 6 , 5 5 7 , 560, 578,644,665,692, 693,694. W e c h s e l w i r k u n g von N a c h k l a s s i k und N a c h r o m a n t i k S. 16, 18, 20, 22, 37, 40, 41, 42, 44, 65, 73, 74, 76, 77, 82, 83, 84, 85 f., 93, 107, 132, 133, 172, 181, 256 u. ö., 418, 421, 430, 433, 445 (vgl. Kap. Das Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik S. 2 2 — 1 4 5 und Anm. dazu S. 512 bis 565). Die B i e d e r m e i e r - , , E p o c h e " und ihre P r o b l e m a t i k S. 18, 20/21, 74, 75/76, 77, 78, 80, 82, 83, 87, 90, 91, 92, 93, 94, 101, 102, 103, 104, 106, 107, 120, 258, 418, 428, 430, 432, 451, 512—14, 524/25, (535), 541, 543, 544, (551), 555, 557, 609, 610, 611, 634/35. B e z u g n a h m e auf den Münchener D i c h t e r k r e i s S. 3, 9, 13, 56, 61, 76, 97, 98, 105 (Darstellung des Kreises selber: 1 1 3 — 1 3 4 ) , 142, 207, 229, 256, 257, 258, 284, 315, 316, 359, 409, 430, 494, 502, 556, 557I (Anm.), 692, 696. B e z u g n a h m e auf das Junge D e u t s c h l a n d (zugleich unter dem Kennwort „Weltanschauungsästhetik") S. 6, 8, 1 3 , 1 6 , 19, 21, 33, 44, 59, 73, 74, 105, 108, 109, i n , 114, 120, 121, 140 (Darstellung des Jungen Deutschland: S. 146 bis 207), 223, 227, 231/32, (236), 237, (238), 243, 254, 256,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

705

257, 258, 259, 260, 264, 268, 300, 316, 323, 324, 342, 357, 358, 359. 387. 419. 423. 436, 488, 558, 565ff· (Anm.), 631, 643, 646, 662/63. B e z u g n a h m e a u f d e n F r ü h r e a l i s m u s S. 2, 20, 22, 73, 74, 90, 92, 93, 206, 214, 335, . . . 534, (535), 544, 555, 556, (563), 693, 694. B e z u g n a h m e auf den p o e t i s c h e n u n d ideellen R e a l i s m u s S. 2, 99, 105, 109, i n , 112, 114, 115, 120, 121, 129, 132,134,199, 201, 205, 206, 207 (Darstellung des poetischen Realismus: S. 256—335), 336, 358, 363, 369, 377, 378, 381, 3 8 4. 385. 388, 393» 412, 456, 457. 458, 459. 462, 463. 464. 467, 472, 478, 479, 485, 514, 545, 555, 563, 608ff. (Anm.), 632/33. 638. V o r g r i f f a u f d e n N a t u r a l i s m u s („konsequenter Realismus", das „Jüngste Deutschland") S. 5, 9, 13, 16, 19, 20, 35, 80, i n , 121, 123, 129, 146, 163, 183, 208, 210, 215, 258, 259, 291, 292, 300, 313, 321, 326, 327, 328, 330, 334, 335, 358, 362 (T), 363, 364, 369, 370, 371, 377, 378, 379, 380, 383, 385. 387, 388, 398. 407. 413. 415. 436, 445. 463. 464. 467. 471, 472, 478, 482, 487, 497, 499, 501, 541, 558, 561, 628, 643. 652, 658, (665), 678/79, 679 (T), 698. V o r g r i f f a u f d i e N e u k l a s s i k S. 3/4, 5, 8, 9, 10, 13, 14, 18, 21, 133. 134. 257· V o r g r i f f a u f d i e N e u r o m a n t i k S. 4, 5, 10, 13, 14, 18, 19, 21, 419, 482. V o r g r i f f auf den K r e i s um S t e f a n George und den „ C h a r o n " - K r e i s S. 9, 13, 19, 20, 31, 137, 163, 264, 487, 494. 610. V o r g r i f f a u f D e k a d e n z u n d f i n d e s i e c l e S. 15, 76, 214, 215· V o r g r i f f a u f d i e „ H e i m a t k u n s t " (Regionalismus) S. 5, 19, 35, 82, 91, 95, 195, 248, 249, 250, . . . 611, 657, 688, 693. V o r g r i f f a u f d e n I m p r e s s i o n i s m u s S. 31, 80, 89, 90, 93, 95, 96, 100, 210, 215, (344), 429, 431, 433, 435, 471/72, 473. 478, 482, 485. 510, 543, 563. V o r g r i f f a u f d e n E x p r e s s i o n i s m u s S. 3, 11, 13, 15, 19, 20, 28, 31, 210, 215, 258, 510, 552, 553, 581, 600. V o r g r i f f a u f w e i t e r e „ n e u e " R i c h t u n g e n (Nach-Expressionismus, Neurealismus, sozialer Realismus, Surrealismus, religiöser Neusymbolismus) S. 2, 4, 7, 13, 15, 16, 18, 19, 20, 77, 210, 215, 427, 429, 432, 436, 437, (447), 522, 528, 591, (599), 680. 45

M a r k w a r d t , Poetik IV

706

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

Nation, Volk und Dichtkunst

A l l g e m e i n e s S. 5, 6, 7, 58 (T), 59, 64, 68, 69, 70, 72, 73, 74, (89, 184, 230, 264,

90), 124, 147/48. 154. 155. 159. 166, 170, 175, 179, 197, 202/03, 212, 221 (T), 222, 223, 224 (T), 225, 231, 232, 234, 235, 242, 244, 246 (T), 251, 252, 263/64, 265, 277, 286, 317, 318, 319 (T), 321, 323/24. 325.

326, 330, 331. 341. 348/49. 3 6 7. 368, 375. 386, 387, 389, 390, 404 (T), 414, (422), 424, 425, 426, 427, 438, 440, 441,

447. 451. (460). 462, 463. 473. 479. 484. 498. (513). 522, 527 (T), 534. 537. 549 (T)> 56o, 571. 574/75- 587. 637, 642, 658. (663), 669, 695, 697.

B e w e r t u n g d e s N a t i o n a l e n S. 6, 58, 64, 69, 70, 72, 73, 74, 124, 147/48, 154, 155, 159, 170, 175, 179, 184, 197, 202/03, 221/22, 223, 251, 264, 277, 286, 317/18, 321, 330, 331, 340, 348/49, 386, 387, 389, 390, (406), 413f., 425 u. ö.,

527. 574. 575· K u l t u r p a t r i o t i s c h e E i n s t e l l u n g S. 58, 68, 69, 7of., 159 u. ö., 331, 348/49. 386/87, 560, 696.

D i c h t k u n s t im D i e n s t der N a t i o n u n d d e s V o l k e s S. 59, 7of., 147/48, 175, 179, 184, 202/03, 221 (T), 222, 232, (233), 235. 253, 263, 264, 265, 286, 317/18, 319 (T), 321, 322, 325, 326, 386, 389.

S p a n n u n g u n d E n t s p a n n u n g im V e r h ä l t n i s v o n N a t i o n a l g e f ü h l u n d p o l i t i s c h e r Ü b e r z e u g u n g („Vaterland" und „Zeitbestrebung", L. Wienbarg) S. 147, 148, 154/55. 156/57. 158, 170/71. 175. (178). 179. (182), 191, 202, 235, 242, 244, (246), 251, 252, 253, (277), 317, 321, 391, 414, 574, 575.

Verhältnis von Kunsttypus und Nationalcharakter (und Reflex des Nationalcharakters) S. 63, 64, 68, 69, 70, 124, (147/48), 155, 159, 170, 196, 197, (232), 234, 263/64, 265, 286, 317, 318, 321, (326), 330, 331, 341, 348/49, 367/68, (375). 386, 389, 390, 414, 424, 473.

Bewertung des Volksgemäßen, Volksnahen, Volkst ü m l i c h e n S. 6, 7, 87, 90, 166, 184, 202/03, 212, 223, 230, 232, 234, 242, 252, 317, 318, 319 (T), 321, 323/24, 325,

326, 367. 368, 375. 389/9°. 4°4 (T). 414. 424 u. ö., 587, 643, 646.

E r h ö h t e r K u n s t a n s p r u c h d e s V o l k e s (besonders als Zukunftsperspektive) S. . . . 221, 222, 223, 230/31, 602, 608. V e r h ä l t n i s v o n V o l k s p o e s i e u n d K u n s t p o e s i e S. 90, 166, 170, 202/03, 212, 222, 223, 235, 3x7/18, 319 (T), 320, 321,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

707

324, 325, 367/68, 389/9°. 438. 44°. 441. 498. 522, 642, 646, 657 (T), 660, 668. S o n d e r t y p u s d e s V o l k s s c h r i f t s t e l l e r s (und Angleichung an den Kunstschriftsteller; Volksstück, Vaudeville usw.) S. 318, 319, 321, 325, 326, 492, 498, 522, 523, 525, 642, 643. H e r a u s b i l d u n g der N a t i o n a l p o e s i e aus der Volksp o e s i e (und A b w e h r dieser Theorie; Zukunftsperspektive: Richtung Heimatkunst) S. 317/18, 321, 389, 390. V o l k s l i e d (vgl. lyrische G a t t u n g : Volksliedhafte Lyrik). V o l k s a b e r g l a u b e u n d V o l k s b r a u c h S. 5 u. ö., 321, 323, 473, 479, 484, 665. M u n d a r t (vgl. Sprache und Dichtkunst). H e i m a t l i e b e , H e i m a t s i n n (Richtung: Heimatkunst, Regionalismus) S. 68, 73, 74, 75 (T), 79, 89, 91, (149, T), . . . 693.

Geschichte und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 29, 30, 32, 34, 42, 43, 44, 45, 66, 67, 70, 71, 72, 73, 120, 139, I40f., 153, 155, 180, 181, 1 9 1 — 9 4 , 197» 200, 203, (205), 210, 212, 213, 216/17, 230, 231, 233, 234, 235, 240, 241, 251, 259, 261, 262, 263 (T), 264—66, 269, 275, 276, 277, 278, 279, (288), 306, 308, 3x1, 331, 333, 334. 337. 338, (340—43. 356), 358. 362, 374. 386, 387. 405 (T), 406, 407, 408 (T), 410, 4 i 2 f . , 422, 425, 426, 430, 431. 434. 436, 442. 447. 448, 449. 450, (451), 452, 464, (468), 469, 475, 490, 516, 520, 537, 553, 557, 572, (573), 588, 589, 604, (606, 626), 653, 664, 673, 679, 683, 685, 695, 696, 697 (T). G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e S. 17, 240, 259, 268, 269, 276, 288, 337. 447. 450/51. 537. 587. 588. 589. 603, 614, 697. G e i s t u n d I d e e d e r G e s c h i c h t e (Geschichtsgeist und „Geistesgeschichte", ζ . B . bei Hegel) S. 32, 43, 67, 70, 71, 72, 153, (180), 192, 210, 213, 259f., 263, 265, 266, 269, 277, 406, 425, 426, 434, 450/51. R a n g , B e w e r t u n g d e r G e s c h i c h t e S. 29/30, 32, 43, (139), 153. 155. l 8 o , 181, 194, 197, 213, (230), 231, 233, 234, 235, 251, 263, 265/66, 333/34, 406, 410, 413, 126, 434, 436, 447. Ü b e r l e g e n h e i t des D i c h t e r s g e g e n ü b e r dem H i s t o r i k e r (im Erfassen u n d Deuten des Geistes u n d Sinns der Geschichte und der Geschichtsidee) S. (29), 32, 235, (251), 261, 262, 276, (358). D i c h t u n g u n d D a t e n t r e u e (Kunstwahrheit und Geschichtswirklichkeit) S. 29, 66, 70, 71, 72, '120, 137, 191, 197, 45»

708

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

212, (241), 260, 263, 265, 266, 269, 276, 277, 3 3 3 , 383, 406, 407, 4IO, 425, 537/38, 683.

Historismus S. 29, 30, 44, 45, 67, 72, 191, 235, 241, 263 (T), 264, 265, 269, 306, 342, 408, 410, 414, 490, 516. H i s t o r i s c h e r Sinn und h i s t o r i s c h e s I n t e r e s s e (Verstehen von Historie und Geschichtlichkeit) S. 71, 72, 73, (233), 234, (288), 362, 386, 413, 425, 469, 520, 604.

Nutzen und N a c h t e i l der Historie für die D i c h t k u n s t (allgemein) S. 34, 43, 44/45, 66/67, 7 1 . 72. (120), 139, (155), 193, 194, 230, 234, 262, 263, 266, 275, 276, 3 3 1 , 374, 406, 408, 412, 4 1 3 .

Geschichte im R e f l e x der D i c h t u n g s g a t t u n g e n (historisches Drama, historischer Roman, historische Novelle usw.) S. 32, 33, 42, 69, 70, 7 1 , 72, 120, 139, 1 4 1 , 142, 144, 155, 1 9 1 , 193, 200, 210, 213, 214, 216/17, 230, 240, 262,

263, 333- 341. 356, 361, 406. 4!2, 4 J 3» 422, 424, 426/27, 430, 434, 442, 447, 449, 468, 490, 520, 537, 553.

Eignung h i s t o r i s c h e r Motive und Personen für die einzelnen Gattungen S. 34, 42, 67, 120, 193, 263, 269, 276, 278, (341), 342, 362, 405, 406, 407, 408, (412, 415), 450/51, 673.

Darstellungsweise h i s t o r i s c h e r Motive und Ideen (Struktur, Charakteristik usw.) S. 43, 120, 192, 203, 214, 216/17, 262 f., (266), 275, 277, 278, 279, 406, 413, 414, 426/27, 434. 447. 448. 449- 452. 468, 475/76. 490· Einwirken eines Zeitgeschehens auf die E n t s t e h u n g und Wandlung einer h i s t o r i s c h e n D i c h t u n g (Werkwandlung durch Zeitgeschehen) S. 139, 214, 425, (662). H i s t o r i s c h e G e s t a l t e n und Motive in Z e n t r a l s t e l l u n g oder im Hintergrund einer Dichtung (Abwehr des historischen „Kostüms") S. 51, 63, 120, (140), 192, 193, 333/34. 4o6, 490, 520.

Gegenwartsbezug h i s t o r i s c h e r Dichtungen (Anknüpfungsmöglichkeit für das Gegenwartsinteresse, historisch-politische Poesie) S. 59, 67, (139, 140), 192, 193, 200, 214, (230), 234, 235, 241, 264, 3 3 1 , 342, 414, (422, 434).

Begrenzung des Vergangenheitsgrades bei h i s t o r i s c h e n Motiven S. 67, 263, 375, 382/83, 384. B e r ü c k s i c h t i g u n g und Bevorzugung des K u l t u r h i s t o rischen S. 120, (180, 276), 362, 374, 405 (T), 406, 408, 410, 414, 448, 449.

L o k a l g e s c h i c h t e , Chronik-Geschichte (im Reflex der Dichtung) S. 70, 333, 342, (469), 475, 693.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

709

N a t i o n a l g e s c h i c h t e u n d U n i v e r s a l g e s c h i c h t e (und Geschichte der „Menschheit", „Weltgeschichte") S. 70, 72, 73, 120, 231, 235, 240, 241, 263, 331, (387), 406, 414, 422, 447. K u l t u r g e s c h i c h t e u n d L i t e r a t u r g e s c h i c h t e (undKunstgeschichte) S. 120, 234, 310 (T), (337), 338, 362, 405, 406, 408, 448, 450, 464. S t e l l u n g z u m M i t t e l a l t e r S. 97, 162, 176, 185, 586. Die H i s t o r i e als „ G e d i c h t " und das Gedicht als His t o r i e S. 155, 203, 212, 235. Politik und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 5, 6, 7, (15), 16, 17, 18, . . . 105 (T), 106, 107, 161, 164, 171, 174, 175, 176, 179, 183, 185, 187, 191, 192, 193, 200, 201, 203/04, 216, 217, 220/21, 222, 223, 226, 227—30, 231, 232—39, 242, 249, 251, 254, 258, 266, 277, 300, 305—09. 3 1 1 . 3 l 6 . 321, 323, 324, 331, 334, 336t., 340, 342, 357, 358, 359, 365, 368, 375, 387, 391, 410/11,

413, 414, 418, 431, 436, 437, 444, 449, 451, (453), 460, 466, 478, 483, 489, 520, 569, 570, 5 7 1 , 572/73, 5 7 6 — 7 8 . 584, 588, 595, 597, 598, 599, 601, 602, 603, 604 (T), 606 (T), 643, 644, 646, 659, 662 (T), 663 (T), 677.

V e r h ä l t n i s v o n P o l i t i k u n d K u n s t (besonders Zwiespalt und Diskrepanz) S. 160, 161, 162, 164, 166, 167, 170, 171, 175, 176, 181/82, 185/86, 191, 215, 222—26, 227, 228, 229, 230, 231, 235, 237, 244, 3 1 1 , 316, 321, 323, 324, 338, 340, 342, 358, 359, 365, 368, 375, 391, 413, 414, 415, 436,

437. 572/73. 576—78, 603.

P o e s i e im D i e n s t e der P o l i t i k

(Primat der Politik) S. 147,

148, 149—58, 160, 1 6 1 , 162, 176, 1 7 9 , 1 8 1 , 182, 185, 192,

193, 220/21, 222—24, 226—29, 230, 231, 243—45, 246, 247, 248, 2 5 1 — 5 5 , (309, 311), 316, (338, 340, 368), . . . 432, 436, 605. P o e s i e i m B ü n d n i s m i t d e r P o l i t i k (Pro Tendenz und Tendenzprogrammatik) S. 146, 147, 148—55, 157, 158, 162, 179, 180, 181, 184, 185/86, 190—93, 198, 205/06, 223, 224, 225, 226, 227/28, 244, 246, 247, 256, 259, 264, 432,

436, 437. 442.

A b w e h r d e r p o l i t i s c h e n T e n d e n z (Contra Tendenz) S. 33, 34, 44, 109, 117, 120, 137, 139, 140, 162, 166, 167, 191, 194, 195, 198, 202/03, 228, 258, 283, (301), 323/24, 358,

...

558, 562, 685.

710

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

Vermittelnde und schwankende H a l t u n g im Für und W i d e r d i e T e n d e n z (Kompromiß und Lösungsversuche) S. . . . 162, 164, 166, 170, 1 7 1 , 174, (181/82), 191, 194, 195/96, 202/03, 224, 225, 300/01, 323, 368, 375, 603/04 (Tendenz-Verleugnung seitens Tendenz-Verfallener). F o r t s c h r i t t s g e d a n k e (und das „Fortschrittliche", Liberalismus u. a.) S. 17, 35, 91, 107, 161, 167, 175, 184, 190, 219, 227, 230, 233, 234, 236, 250, 305, 365, 378, 410/11, 436, 558, 572, (574). 589. 594. 597. 602, 604, (606), 614, 640. S o z i a l e r G e d a n k e u n d s o z i a l e T e n d e n z (das „Soziale", Ansatz zum Sozialismus u. a.) S. 3, (4), 17, 18, 73, 137, 149, 150, 1 5 2 , 1 5 7 , 1 5 9 , 183, 230/31, 249, 252, 253

(T),

254/55. 277, 374. 398. 4 1 1 · 442. 447. 462, 463. 477. 480, 597. 598, 600, 602, 608, (628), 651, 659, 666, 677. G e s e l l s c h a f t u n d Z e i t v e r h ä l t n i s s e (wegen Zensur vielfach Umschreibungen allgemeiner Art) S. 1, 147, 148, 179, 200, 203, 208, 2 1 3 , 217, 2 2 1 , 225, 243, 252, 254/55, 264, 265,

338. 34°. 342. 345. 349. 367. 374. (406), 411. 594. 597.

601, 604/05. P o e s i e u n d Ö k o n o m i e (Berücksichtigung des Wirtschaftlichen) S. 199, 208, 349, 439, 459, 460, 461, 463, 668. D e m o k r a t i s c h e A b w e h r d e s A r i s t o k r a t i s c h e n (und S y m pathie für das Aristokratische) S. 1 7 1 , 227 (T), 229, 233 (T),

234. 235. 237. 643· V e r h ä l t n i s v o n S t a a t u n d D i c h t k u n s t S. 176, 201, 223, 224(T), 228(T), 229,232, 233,237, 241, (246/47), 266,311 (T), 321, 324, (338), 340, 394, 449, 451, 586, 603, 670, 676. D a s Z e i t - u n d S t r e i t g e d i c h t (politische K a m p f l y r i k u. a.) S . 227/28, 234, 235. 236, 238, 239, 243 (T), 244, 245, 246,

247 (T), 248, 2 5 1 — 5 5 , 264, 265, 300 (T), 317, 435, 436, 438, 442, 466, 483, 602, 604, 608, 642, 696. D i c h t u n g u n d „ Z e i t g e i s t " (vorwiegend politischer A k z e n t , „Bestrebungen unserer Zeit") S. 175, 179/80, 183, 185, 186, 190, 192, 193, 198, 200, 205, 225, 242, 244, (300, 304/05),

317. 338, 342. (357). 368, 375. 387. 464·

P o l i t i s c h e r R e f l e x i m e i n z e l n e n K u n s t w e r k (jenseits der politischen L y r i k ; vgl. Zeit- und Streitgedicht) S. 186, 188, (191), 193, 195, 196, 210, 214, 216, 219, 235, (236), 237,

243/44· Wechselwirkung von politischer und künstlerischer F r e i h e i t (Freiheitsbegriff und Freiheitsidee) S. 56/57, 1 7 1 , 187, 200/01, 220, 221, 224—26, 231, 232, 235, 236, (238), 239, 243, 244, 251, 272, (277), 321, 323, 338, (339), 340,

349. 365, (432). 446. 453. 454. 569. 57*·

V E R Z E I C H N I S DER B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

711

Religion und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 2 , 6, 7, 1 7 , 18—20, 2 3 , 2 4 , 2 5 , 2 9 , 43, 5 6 , 7 8 , 7 9 , 8 2 , 9 1 , 9 2 , 9 5 , 96, 9 9 , 1 0 0 , 101, 102, 103, 1 0 4 ( T ) , 1 0 5 , 115, 116, 1 1 8 , 1 4 6 , 1 4 7 , 1 5 4 , 1 6 9 , 1 7 0 , 1 7 6 , 2 1 1 , 2 1 2 , 2 2 5 , ( 2 2 6 , 2 2 8 ) , 2 3 2 , 236, 237, 2 3 8 ( T ) , 239, (240), 2 5 5 , 2 6 1 , 2 7 2 , 2 7 7 , 2 7 8 , 3 0 2 , 303 ( T ) , 304, 305 ( T ) , 3 0 6 ( T ) , 3 0 7 ( T ) , 308 (T), 3 0 9 (T), 3 1 1 , 312, 314/15. 322, 325. 333. 340, 3 4 5 . 353. ( 3 6 5 ) . 3 6 9 . 3 8 9 . 3 9 0 . 406/07,421,428,429,430,431—35. 4 4 2 ( T ) , 4 4 8 , 4 4 9 , 4 5 1 , ( 4 5 4 ) , 458, ( 4 5 9 ) , 4 8 4 , 488, 489, 494. 495. (503. 513). 527. 5 4 4 (T). 546/47. 54». 549. 5 6 ° . 5 6 1 , 5 6 8 , 572, 5 7 3 , 574/75. 579. 583. 587. 591. 6 0 9 , 6 1 5 , 6 2 2 , 624/25, 6 4 1 , 643, (644), 6 5 5 ( T ) , 659, 6 6 9 , 6 7 0 , 6 7 3 , (682), 6 8 9 , ( 6 9 2 ) , 6 9 3 . R a n g s t u f e , B e w e r t u n g S. 1 8 / 1 9 , 43. ( 7 8 ) , 8 7 , 9 9 , 1 0 1 , 3 1 4 / 1 5 , 494. 495. 546 f., 549. (583)· P o e s i e i m B ü n d n i s m i t d e r R e l i g i o n (und Vorrang der Religion) S. 2, 1 8 / 1 9 , 4 3 , 7 9 , 82, 8 7 , 9 1 / 9 2 , 9 5 , 99, 101, 1 0 2 , 1 0 4 ( T ) , 1 1 6 , 1 1 8 , 1 2 5 , 1 4 7 , ( 2 3 9 , 2 5 5 ) , 3 3 3 , 406/07, 4 3 0 , 4 3 1 , 4 3 2 , 489, 494, 4 9 5 , 546f., 6 2 2 . R e l i g i ö s e T r a g s c h i c h t u n d A u f f a n g s s t e l l u n g (und Religion als letzte Instanz) S. 1 8 / 1 9 , 43. 5^. (82), 9 2 , 1 0 1 , ( 1 9 4 ) , 277/78, 314/15. 307. 389. 434. 448. 449, 489. 494. 54». 591. 615· R e l i g i ö s e M o t i v e i n d e r D i c h t u n g (und Dichter religiöser Haltung) S. 19, 20, 8 2 , 8 3 , 8 7 , 9 2 (T), 96 (T), 1 0 2 , 1 0 4 (T), 154, ( 1 6 8 ) , 2 3 7 , 2 3 8 f . , 2 7 7 / 7 8 , (308), 3 1 4 / 1 5 , 3 2 5 , 3 3 3 ( T ) , 3 5 2 , 353. 4 0 6 / 0 7 , 4 2 1 , 4 2 9 , 4 3 0 / 3 1 f., 4 3 4 / 3 5 , 4 4 2 , 448. 451, 454. (484), 494. 546/47. 548, (560), 574, 6 4 1 , 6 4 3 , 6 4 4 , 659, 6 6 9 , (689). E r b a u u n g s d i c h t u n g (und Übergänge) S. 7 , 9 6 , 4 2 8 , 4 3 0 , 4 3 1 , 432. 434. 435. 548. P r o p h e t e n t u m u n d „ P r i e s t e r t u m " d e s D i c h t e r s (ζ. T . säkularisiert) S. 7 , 2 0 , 9 9 , 1 2 1 , 1 2 8 , 1 7 1 , 2 2 4 , 4 3 6 , 5 6 8 , 579. 594· D a s „ G ö t t l i c h e " (religiöser Akzent) S. 1 7 , 8 3 (T), 9 9 , 1 0 0 , 3 2 5 , 429. 430, 431, 433. 434. 548, 549. 580. D a s „ E w i g e " (religiöser Akzent) S. 1 7 , 1 0 1 , 1 0 4 , 3 2 2 . S ä k u l a r i s i e r u n g r e l i g i ö s e r V o r s t e l l u n g e n S. 2 0 , 1 0 5 , 1 1 6 , (171), 185, 237, 239, 272, 322. K r i t i s c h e S t e l l u n g z u r R e l i g i o n S. 2 9 , 7 9 , 1 4 6 , 1 5 4 , 1 6 2 , 1 7 6 , 200, 2 3 6 , (237), 2 4 0 , 3 0 2 f . , 3 1 0 , 3 1 2 , 3 4 0 , (389), 3 9 0 , 4 5 8 , 459. (484). 560.

712

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

V e r d r ä n g u n g der Religion d u r c h die P o l i t i k S. 6, 7, 1 4 6 / 4 7 , 1 8 5 , 2 3 1 / 3 2 , 2 3 6 , 309.

V e r h ä l t n i s von K u n s t u n d Religion S. 56, 99, 100, 105, 1 x 5 / 1 6 , 1 7 0 , (237), 2 6 1 , 303, 304, 3 1 0 , 3 1 1 , 3 4 5 / 4 6 , (350), 430, 5 4 6 f . , 6 5 5 ( T ) , 6 7 0 .

Die W e i t e des W u n d e r s u n d W i r k l i c h k e i t des W u n d e r s S . 82, 8 3 , 84, 3 0 2 , 3 4 5 , 3 4 6 , (369), 4 2 9 , 5 4 4 .

K ü n s t l e r i s c h e s S c h ö p f e r t u m (religiös gedeutet) S. 116, 118, 1 4 7 , 2 1 1 , 430.

S t e l l u n g z u r Mystik S. 20, 154, 273, 527. D a s W u n d e r b a r e S. 256, 301, 312, 323, 345, 346, 347, 369. R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e S. 302, (566), 5 8 7 . P a n t h e i s m u s S. 306, 390, 430, 689. M o n o t h e i s m u s S. 304. B u d d h i s m u s S. 24, (25), 353, 660. A t h e i s m u s S. 309. Philosophie und Dichtkunst

Allgemeines S. 2,

5, 7 , (12), 1 3 , 1 4 — 1 8 , 2 1 , 2 2 — 3 7 , 4». 43. 44, 46, 4 7 , 56, 7 8 , 9 7 , (103), 1 0 6 , 107, 1 5 0 , 1 5 1 , 1 5 2 , 1 6 7 , 1 7 4 , 175 ( T ) , 1 7 8 , 1 8 1 , 1 8 2 ( T ) , 1 8 4 ( T ) , 1 8 7 , 1 9 7 , 198, 1 9 8 / 9 9 ( T ) , 1 9 9 , 200, 206, 2 1 7 , 2 2 8 , 229, 232, 233 (T), 2 3 9 , 240, 2 5 7 , 2 5 9 , 260, 2 6 1 ( T ) , 2 6 2 , 2 6 6 — 6 8 , 2 7 2 , 2 7 5 , 2 7 7 , 2 8 7 , 289, 303 ( T ) , 3 0 5 ( T ) , 3 0 6 , 3 0 7 , 3 1 0 ( T ) , 3 1 1 , 3 1 2 , 328/29, . . . 3 8 7 , 422, 4 3 1 , 4 4 2 ( T ) , 4 4 9 , 4 5 0 , 4 5 1 , 458, 4 5 9 , 460, 4 6 3 , 4 6 4 , 4 6 9 , 4 8 5 , 493, 4 9 5 , 500, 5 0 5 , 5 1 4 — 1 7 , 5 1 5 , 5 1 6 , 5 1 8 — 2 1 , 527/28, 537- 5 5 0 , 55*. 554/55. 5 5 6 , 5 6 7 . 5 6 9 , 5 7 0 , 584—86, 586/87, 587/88, 590, 602, 603, 6 1 4 , 6 1 5 , 618, 6 1 9 , 621, 6 2 2 , 623, 6 2 4 , 6 2 5 , 628, 629, 631, 632, 633, 6 4 3 , 6 4 4 , 649, 6 5 1 , 653, 655/56, 6 5 9 , 666, 6 7 3 , (689), 6 9 7 .

Ä s t h e t i k (und „ästhetisch") S. 6 (T), (14), 15, 16, 22, 23f., 30, 3 1 , 36, 3 7 ( T ) , 3 8 ( T ) , 40 (T), 5 5 ( T ) , 65, 6 6 , 77, 82, 97 98 ( T ) , 99, 1 0 0 ( T ) , 1 0 6 (T), 107 ( ( T ) , (108), 109 ( T ) , ( i i i ) , 1 1 4 , 115, 1 1 8 , 1 2 8 , 1 3 2 , ( 1 4 5 ) , 1 5 2 , 1 6 0 , 1 6 1 , 1 6 3 , 1 6 4 , ( 1 6 5 ) , 1 6 7 , 168, (170), 1 7 1 , 1 7 2 , 175 ( T ) ,

(T), 110, 162, 176,

1 7 7 , 178, 1 8 0 , 1 8 1 , 182, 1 8 3 , 184 ( T ) , 1 9 6 ( T ) , 1 9 8 ( T ) , 1 9 9 ( T ) , 200 ( T ) — 2 0 3 , 206, 222, 2 2 4 , 2 2 6 , 2 3 1 ( T ) , 244, 2 5 9 , 260 (T), 2 6 2 ( T ) , 264, 266, 2 6 7 , 282 ( T ) , 287, 3 0 2 , 3°3> 3 ° 4 . 305. 3 1 0 ( T ) , 3 1 1 (T), 3 1 4 , 3 2 5 , 3 2 7 ( T ) , 3 4 5 , 3 5 9 , 3 6 4 . 3 7 7 , 3 8 2 , 432 ( T ) , 4 4 7 , 486, 489, 4 9 1 (T), 494, 495 ( T ) , 4 9 6 ( T ) , 498, 4 9 9 ( T ) , 500 (T), 505 (T), 506, 515/16, 5 1 9 ( T ) , 5 2 7 , 5 4 0 ( T ) , 554 (T), 555, 568 ( T ) , 5 6 9 ( T ) , 5 7 0 , 5 7 3 , 586, 5 8 7 , 5 9 5 (T), 5 9 6 , 5 9 7 . 598, 5 9 9 . (602), 6 0 5 , 6 1 8 , 6 2 5 ( T ) , 641, 6 4 3 , 6 5 2 , 6 6 7 , 6 7 4 ( T ) .

619,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

713

D a s S c h ö n e , d i e S c h ö n h e i t S. 4, 23, 27 (T), 29, 38, 39, 40 (T), 41, 60, 61, 65, 66, 83, 99, 100, 101, 105, 107, n o , i n , 115, 116, 117, 127, 128, 129, 131, 132, 150, 152, 176, 177, 200, 201, 202 (T), 203, 224, 225, 226, 227, 230, 231, 262, 283, 310 (T), 311, 315, 328, 388, 429, 432, 433, 456, 494, 495 (T), 520, 529, 530, 536, 542, 555, 556 (T), 560, (586), 603, 629, 6.44, (650). D a s H ä ß l i c h e S. 66,110 (T), 1 1 1 , 1 3 2 , 236,379,384, 494, 614 (T), 644. E t h i k u n d M o r a l (das Edle und Moralische) S. 40, 47, 48, 49, 60, 66, 96, 110, 116, 120, 122, 128, 129, 146, 150, 151, 158, 161, (172), 177, 178, 209, 210, 212, 213, 273, 279, 306, 307, 325 (T), 326, 333, 346, 358, 377, 384, 401, 432, 433. 470, 471. (474). 485. 490, 494, 501, 502, 537. 546. 550, 562, 572. 574/75. 580, 586, 605, 614, 615, 653, 666. V e r h ä l t n i s v o n E t h i k u n d Ä s t h e t i k S. 60, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 103, 104, 105, 128, 131, 160, 161, 176, 177, 178, 183 u. ö „ 228/29, 232/33. (240), 241, 261, 272/73, 279, (286/87), 325, 326, 333, 407, 428, 429, 432, 494, 501, (502), 653. 666.

D a s i n t e r e s s e l o s e W o h l g e f a l l e n S. 26, 27, 28 u. ö., 496, 570, 594· I d e a l i s m u s (auch im vulgären, popularphilosophischen Sinne) S. 23, 24 (T), 27/28, 30/31, 32, 44, 103, 105, 110, in, 112, 115, 116, 120, 128, 129, 164, 206, 211, 222, 267, 291, 292, 293. 294, 295, 296, 297, 300, 301, 304, 305, 322, (326), 328, 334. 340, 342. 356, 357. 35 8 . 365, 367. 379. 387, (388, 409), 510, 547, 548, 555, 556, 599, 603, 609, 611, 619, 628, 629. R e a l i s m u s u n d M a t e r i a l i s m u s a l s B e g r i f f (im philosophischen und popularphilosophischen Sinne; nicht als bloße Epochenbezeichnung) S. 14, (23, 26, 27, 30, 31, 32, 36), 39. 44. « ι , " 2 . 116, (129), 149, (256), 261, 262, 269, 3 0 2 . 3°3> 3°4. 305. 307. 308, 310, 311, 458, 510, 599, 609. W e l t a n s c h a u u n g (allgemein, ζ. T. politisch) S. 14, 15, 16, 18, 19, 20, 45, 99, 103, 108, 153, I56, 161, 166, 180, 182, 184, 189, 217, 240, 270, 282, 287, 329, 336, 354, 417, 421, 442, 465, 466, (469), 485, (513), 521, 561, 565, 610, 611, 689. W e l t a n s c h a u u n g s ä s t h e t i k (allgemein, vorwiegend politisch) S. 15, 16, 18, 108, 146, 156, 175, 176, 180, 181, 182—85, 192, 205. M e t a p h y s i k (das Metaphysische) S. 24, 27 (T), 272, 273, 278, 287, 365, 449. (551. T), 629.

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

E x i s t e n z i a l p h i l o s o p h i e S. 2, 15, 552, 591, 592, 621, 622, 629 E r k e n n t n i s t h e o r i e S. 24, 27, 28, 31, 37, 262, (297). A n t h r o p o l o g i e S. 1 7 4 / 7 5 . 3 02 > 303 (T), 3 0 4 . 3°5. 3»7, 3«8, 3 1 0 , 3 1 1 » 550. L o g i k , L o g i s m u s S. 303, 585. D e t e r m i n i s m u s S. 25, (28), 29, 653. E m p i r i s m u s (und „empirisch") S. 274, 296, 496, 505, 506. P e s s i m i s m u s S. 22, 23, 25, 30, 35, 600 O p t i m i s m u s S. 362, 422, 433, 602, 640. V e r n u n f t (und das „Vernünftige") S. 24 (T), 78, 92, 146, 152, 231, 268, 269, 307, 340, (381), 418, 449, 458, 471, 548, 614, 615, 638, 666. V e r s t a n d (und das Rationalistische) S. 39, 42, 52, 108, 162, 165, 184, 186, 187, 280, 284, 297, 343, 393, 471, 493/94, 495, 632, 638. „ I d e e " (im philosophischen und popularphilosophischen Sinne) S. 26, 28, 30 (T), 31, 32, 36, 164, 260, 274/75, 276, 280, 281, 287, 288, 293, 365, 366, 406, 448, 450, 520, 554, 569, 618, 622, 633, 634, 638, 639, 669, 673. D i a l e k t i k (und „dialektisch") S. 16, 17, 78, 199, 206, 260, 266, 267—70, 275, 278, 279, 287, . . . 431, 450, 603, 615, 621, 622, 626, 631. S p e k u l a t i o n , d a s S p e k u l a t i v e S. 38, 42, (43), 192, 195, 198, 274, 295, 297, . . . 603. D i c h t e r - D e n k e r S. 15, 16, (22), 23, 29, 107, 275, 276, 284, 287, 447.448,449, 45°. 4 5 9 , 4 6 4 u. ö. V e r h ä l t n i s v o n P h i l o s o p h i e u n d P o e s i e S. 18,19, 22, 23—28, 29, 36, 37, 78, 107, 154, 167, 196, 197, 198, 199, 200, (221, 222), 232, 233, 239, 257, 261, 262, 276, 287, 289, 297, 515, 516, 518—21, 623. E i n f l ü s s e der P h i l o s o p h i e auf D i c h t e r u n d D i c h t u n g S. 17, 18, 33, 35, 37, 46, 97, 106, 107, (146), 150, 151, 152, 154, (158), 167, (171), 175, 178, 181, 182 (T), 183, 184, 187, 192, 196, 200, 201, 206, 217, 232, 233 u. ö., 305/06, 311/12, 328/29, 330, 353, 365, 387 u. ö., 615, 618, 619, 621,623,624,625,631,632,633,643,644,649,651,655/56, 659- 673*)· P o e s i e i m W i d e r s t r e i t m i t d e r P h i l o s o p h i e S. 38, 39, 43. 44, 56, (78, 97), 107, (154). 172, (187, 19 6 ), ! 9 8 / 9 9 ( T ), 229, 232, 233 (T), 240, 287, 289, . . . 585/86, 586, 587. *) Vgl. das Verzeichnis der Namen, in dem sich die Seitenzahlen bei den Philosophen, besonders K a n t , Schelling, Hegel, Schopenhauer, Feuerbach, vielfach auf Einfluß-Hinweise beziehen.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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P ä d a g o g i k , D i d a k t i k i m R e f l e x d e r P o e t i k (einschließlich Erziehungsoptimismus und Selbsterziehung) S. 8, (9, 15), 47. 49. 77. 98, 101 (T), 150, 177, 178, 222, 223, 287, 291, 318, 322, 324, 325, 326/27, 329, 330, 333, 334, 382, 408, 421, 422, 429, 432, 433, 451, 457, 459, 462, 491, 492, 493, 495, 497. 5°3> 5o6, 526, 537. 549. 562, 574/75. 632, 637, 650, 673. Lebenswirklichkeit und Dichtkunst D a s V e r h ä l t n i s z u m L e b e n (und Erlebnis) S. 5, (18), 28, 45, 59, 81, 105, i n , 116 u. ö., 156, 161, 163, 176, 177, 181, 183, 184, 186, 188, 189, 200, 201, 203, 204, 205, 211, 212, 213, 214, 218, 236, 251, 271, 272, 274, 275, 276, 279, 281, 312, 320, 358, (364), 366, 380, 382, 384, 393, 394, 396, 397. (405). 407, 412, 417. 422, 447. 448. 449. 450, (451/52), 458, 459, 466, 469, 471, 473, 494, 500/01, 507, 513, (536), 551. 556- 567. 575. 579. 580, 582, 588/89, . . . 660, 662, 680, 691. L e b e n s - u n d G e g e n w a r t s n ä h e S. 44—46, 161, 176, 177, 178, 184, 186, 187, 189, 201, 211 f., 279, 281, 301, (317), 326, 331. 345. 368, 375, 382, 383, 407 , . . . 464, . . . 569. D a s V e r h ä l t n i s z u r W i r k l i c h k e i t (auch zur „inneren Wirklichkeit") S. 2, 6, 19, 22, 30, 32, (34), 42, 43, 45, 46, 65, (66), 71, 73, 84, (90), 93, 99, 110, i n , 112, (128), 129, 140, (144), 148, 149, (156), 163, 164, 166, 172, 176, 178, 185, 189, 197, 199, 200, 201, 204, 206, 210, 211, 212, 217 u. ö., 256, 261, 262, 265, 268, 269, 276, (286), 291, 292, 293. 294. 295. 296, 301, 302, 304, (305), 306, 307, 312, 314, 322, 327, 328, 342, 345/46. (357). 358, 369. 372, 374. 380, 382, 384, (388), 396, 412, 415, 417, . . . 444, 446, 456, 459. 46I, 463. 464. 476, 478, 479/8°. 49 6 . 507. 525. 536. 544. 547. 551, 580, 586, 594, 634, 664, 665, 667, 668. D a s M o m e n t d e r I l l u s i o n (Wirklichkeits-Illusion oder Illusion eines ,,Wirklich"-Seins) S. 39, 46/47, 49, . . . 129, 295, 326, 380, 381, 382, . . . 562, (651). D a s M o m e n t d e r E r i n n e r u n g (poetische Distanz vom unmittelbaren Eindruck der Wirklichkeit) S. 110, 294, 320, 375. 380, 381, 403, 479. 480, 482, 483. D i e „ g e m e i n e " u n d „ v e r k l ä r t e " W i r k l i c h k e i t (und die innere Wirklichkeit) S. 19, 84, 129, 132, 140, 148, 178, 189, 211, 261, 262, 286, 291, 292, 293, 294, 313, 326, 346, 357. 358. 379. 3 8 °. 381, 388, 412, 414/15. 424. 435. 444. 446, 457, 464, 470, 502, 611, 634, 668.

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

D i e „ v e r e d e l t e , g e s t e i g e r t e , e r h ö h t e N a t u r " (vgl. N a t u r und Dichtkunst). W a h r h e i t , W a h r h a f t i g k e i t (und innere Wahrheit) S. 2, 17, 39, 55. 61, 73, 84, 112, 129, 163, 177, 178, 189, 197, 200, 243, 261, 265, 296, 297, 305, 306, (307), 3 1 1 , 313, 314, 322, 3 2 4. 325. 33 2 . 380, 406, 412, 423, 433, 435, 448, 456, 459, 461, 463, 464, 478, 536, 556, 562, (586). M e n s c h u n d M e n s c h h e i t (Menschengeschlecht, Menschengattung) S. . . . 100, 101, 104, 105, 150, 153 (T), 165, 1 7 1 , 200, 201, 213, 223, 225, 232, 235, (236), 241, 272, (273, 274), 278, . . . 304, 306, 338, 349, 350, 365, 375, 401, 414, 429, 436, 446, 447, 449, 451, (452), 459, 563, 470, 549, 562. B e o b a c h t u n g u n d B e r i c h t S. 96, (129), 149, 158, 208, 210, 251, 269, (289) u. ö. 368, 369, 371, 378, 409, 462, 463, 464, 470, 472, 478, (538), 647, 666. D a s l e b e n d e M o d e l l (Modelldichtung) S. 361, 372/73, 427, 475.

Natur und Dichtkunst*) A l l g e m e i n e s S. 5, 19, 63, 102 (T), 103, 116, 162, 163/64, 172, 175, 178, 184, 211, 212/13, 257, 261, 262, 266, 285, 294, 295. 302, 303, 306, 307, 311, 312, 313, 314, 322, 327, 358, 374. 3 8 5. 38®. 3 9 1 . 392, 429. 43°» 4 3 i . 43», 45 8 , 459. 460, 466, 470, 473, 479, 487, 494, 499 (T), 507, 510, 545, 547, 550, (585). 588. (589). 608, 643. N a t u r p h i l o s o p h i e S. 261, 262, 266, 302, 303, 305, 307 (T), 310, . . . 458, 459, (460), 585, 587. N a t u r n a c h a h m u n g s b e g r i f f (tritt in der Theorie zurück) S. 116, 262, 163/64,172,175 (T), 1 7 8 , 1 8 4 , 294, 295, 301/02, 323. 326, 327, 328, 358, 479, 519. Verhältnis von Naturwissenschaft und Dichtkunst S. 5, 1 9 , 309, 336, 387/88, 487, 493, 494, 496, 497, 499 (T),

504, 507, 508, 510, 516, 524, 527, 544, 628, 629, 693. V e r h ä l t n i s v o n N a t u r u n d K u l t u r (Natur und Geist) S. 103, (175, T), 178, 257, (262), 303, 307, (324), 374, 470, $88. *) Wesentliche Anteile finden sich unter: Lebenswirklichkeit und Dichtkunst. Das hängt ζ. T. mit den Wandlungen der Terminologie zusammen. Wo etwa das 18. Jh. von „ N a t u r " sprach, spricht das 19. Jh. häufig von „Wirklichkeit" oder „Leben". So sagt Wienbarg ζ. B. „Poesie des Lebens" (statt Naturpoesie), und B. Auerbach spricht von „Lebensfarben" (statt Naturfarben). Otto Ludwig spricht von „Nachahmung der Wirklichkeit" (statt Naturnachahmung) usw.

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND KENNWÖRTER

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„ N a t u r w a h r h e i t " (und ihre Problematik) S. . . . i n , 1 1 2 , 178, 184, 2 i i , 212/13, 294, 295, 303/04. 305. 306, 313/14. 322, 358· „ N a t u r a l i s m u s " a l s F o r m b e g r i f f (noch n i c h t als Epochenbezeichnung) S. 169, (210), 291, 292, 294, 302, 307, (313, 327). 556, 599. 6 5 2 , 668, 679. D a s N a t ü r l i c h e u n d „ S c h l i c h t e " S. 49, 99, 2 1 1 , 212, 295, 312, 379, 380, 429, 430, 432, 437, 444, 474, 475, 476, 484, 549, 551, . . . 613. N a t u r s c h i l d e r u n g S. . . . 96, . . . 314, 320, (339, 379), 385, 409, 412, 429, 430/31, . . . 547, 550, 643. N a t u r a l s T e i l f a k t o r im G e d i c h t S. 63, . . . 262, 312, 374, 385. 388, (473) u. ö. „ E r h ö h t e " u n d „ v e r e d e l t e N a t u r " S. . . . 172, 285, 3 1 1 , 3 1 3 , 322 u. ö., 545 (vgl. Lebenswirklichkeit: die „gemeine" und „verklärte" Wirklichkeit). „ N a t u r l a u t , N a t u r t o n " (und „Naturlyrik") S. 126, 294, 391, 392, 438, 690. N a t u r - „ R e l i g i o n " u n d „Natur"-Religion (Naturfrömmigkeit) S . 3 0 7 , 430, 466. D a s G e s u n d e S. 51, 76, 78, 104, 275, 326, 473/74, 478, 665, 666, . 681, (682), 697. Sprache und Dichtkunst (einschließlich Stil) A l l g e m e i n e s S. 8, 14, 15, 16, 17, 22, 29, 36 (T), 52, 57 (T), 58, (108), 1 1 2 , 123, 124, 129, 137, 1 4 1 , 146, 162, 163, 166, 179, 186, 187/88, 194, 205 (T), 241 (T), 275 (T), 276, 279, 280, 286, 291, 294, 3 1 5 , 321, 325, 327, 329, (342), 344, 354, 355. 358, 362, 364. 387. 388, 392, 400 (T), 402 (T), 404, 406, 429, 439, 440, 441, 442, 445, 460, 475, 477, 488 (T), 489 (T). 493. 497, 509. 510, 529, 531, 553, 572, 583, 589, 592, 614, 658. S p r a c h p h i l o s o p h i e , S p r a c h t h e o r i e (und ,,Zeichen"-Lehre) S. 52, 343. 364. 387, 388, 493. 496. 497. 500, 509, 510, 593. 655, 657, 658, 660. S p r a c h e a l s D a r s t e l l u n g s m i t t e l d e r P o e s i e S. 8 , 14, 15, 16, 17, 22, 36, 52, 495, 529, 531. P o e s i e a l s S p r a c h k u n s t (und Abwehr) S. 14/15, 28, 388, 445, 53 1 . 572. (583). 5 8 9· S p r a c h e a l s G e d a n k e n f o r m u n g S. 275/76, 342, 343, 442, 589, 658. A u s d r u c k s g r e n z e n d e r S p r a c h e S. 52, 343, 344. V e r h ä l t n i s von gebundener und ungebundener R e d e (vgl. Metrik und Dichtkunst).

718

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

8, 14/15, 58, 124, 137, 205, 286, 362, 445, 497, 510, 583, 589.

B e w e r t u n g der S p r a c h e und des S p r a c h s t i l s S.

V e r h ä l t n i s von S p r a c h e und S p r a c h s t i l S. 14, 15, 16, 29,

36 (T), (108), 137, (141), 162, 179, 187, 194, 275 (T), 276, 279, 280, 286, 291, 315, 321, 325, 327, 329, 354/55. 378·

386, 393/94, 4°4, 429. 439» 440, 441. 442, 445. 460, 475. 477. 489 (T), 593, 696. K u n s t a n s p r u c h der P r o s a S. 8, 15, 146, 163, 166, 179, 186,

187, 188, 205 (T), 362 (T), (400, T, 406), 442, 488 (T), 593.

V o r r a n g der P r o s a S. 157, 163, 179, 186, 187, 205, 586, 589/90, 592. W e r t s e n k u n g der P r o s a S. 112, 124, 358, 489, (493, 572). S t e l l u n g zur M u n d a r t (Dialekt) S. 123, 129, 182, 321, (529),

696.

A u s d r u c k s w a h l und A u s d r u c k s v e r k n ü p f u n g S. 36, 1 4 1 , 194, . . . 327, 329, 354/55. 393/94. 404. 440, 442. 460, 475, 477. 509, 529· B i l d g e b r a u c h (besonders gattungstypologisch) S. . . . 279, 280 (T), 294, 445, 503, 691. K l a n g w e r t und K l a n g w i r k u n g S. . . . 313, 387, 391, 392, 404, 440, 529 (vgl. Metrik, Rhythmik). A b w e h r der P h r a s e (und des überhöhten Pathos) S. . . . (279), 291, 296, 325, 692. S o n d e r t y p e n der S p r a c h g e s t a l t u n g (vgl. Gehalt und Gestalt : pathetische oder rhetorische Darstellungsweise usw.). Metrik, Rhythmik und Dichtkunst*) (und das „Rhythmische"). A l l g e m e i n e s S. 28, 36, 37, 56, 57 ( T ) . 58, 61 (T), 112, 113, 124,

125, 163, 165, 166, 184, 229, 250, (252), 284 (T), 318, 344,

356/57> 358, 367, 386 (T), 387, 391, 392, 393. 404. 409. 421, 438, 440, 447, 491, 495, 496, 498, 528 (T), 529,

531 (T), 573, 575, 589. 630, 632, 660, (691). 28, 36/37, 56, 57, 58, 61, 124, 165/66 u. ö., 528.

B e w e r t u n g von M e t r i k und R h y t h m i k S.

E n t w e r t u n g (vgl. Sprache und Dichtkunst: Vorrang der Prosa)

S. 163, (165), 184, (229), 284, (318), 357, 391, 393. 575. 589.

W e r t v e r h ä l t n i s von g e b u n d e n e r und u n g e b u n d e n e r R e d e (Versform ζ. T. noch Kriterium für „echte" Dicht-

kunst) s. 56,124,163,184, 186, . . . 357, 358, 367. 404. 489. 490, 491. 495. 497. 507·

*) Das Gebiet der Metrik wurde nur gestreift, da in ebendieser Publikationsreihe die dreibändige Deutsche Versgeschichte A n d r e a s Heuslers. besteht.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

719

M e t r u m , R e i m u n d R h y t h m u s a l s S t i m m u n g s t r ä g e r (und Ausdruckswert) S. 36, 165/66, 357, 387, 392/93, 438, 529. V e r s u n d M e t r u m S. 28, 56, 57, 58, 61, 124, 125, 163, 165, 184, 250, (252), 318, 344, 356, 357. 358, 367, 386 (T), 387, 393, (404), 440, 529, 531, 573, 575, 589. V e r h ä l t n i s v o n S p r a c h a k z e n t u n d M e t r u m S. 357, 409. R h y t h m u s (und das „Rhythmische") S. 36/37, 57, 112, 113, 165, 166, 184, 252, 344, 357, 387, 391, 392, 404, 409, 421, 438, 495, 529. R e i m S. 36/37, 56, 57 (T), 58, 166, 250, 344. S t a b r e i m S. 229, 318, 386 (T), 496, 660. E i n z e l h e i t e n : Jambus S. 57, 124, 632; Alexandriner S. 250; Hexameter S. 409, 447; Terzinen S. 125; Distichon S. 57; Zäsur S. 250; Streckverse S. 573; Stanzen; „Sechsmesser" S. 589.

Nachbarkünste und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 35, 36, 52, 53, 65, 80, 81, 121, 133, 134, 153, 1 6 8 , 1 6 9 , 180, 2 6 1 , 299, 3 1 0 , 317, 337, 339, 3 4 7 , 350/51, 364, 388, 390, 393, 407 (T), 408, 452, 554, 563, 613 (T).

B i l d e n d e K u n s t S. 28, 105, 119, 121, 133, 153, 180, 182 (T), 192, 234, 299, 304, 310, 347, 351, 364, 390, 405, 409, 410, 411, 412, 495, 500, 502, 519, 530, 532, (540), 541, 548, 55 2 · 5 6 5 . 5 8 i > 6 1 4 , 6 5 3 , 6 5 6 , 657.

M a l e r e i S. 80, 8r, 85, 121, 167, 168, 169, 234, 240, 351, 364, (392), 435. (452), 472. 500, 519, 541. 549- (590). 647, (648), 656, 698. D a s M a l e r i s c h e S. 63, 80, 81, 133, 251, 288, 541. D a s G e n r e b i l d (auch das poetische) S. 313, 320, 380, 405, 406, 412, 519, 590, 664. „ M o d e l l " - D i c h t u n g (vgl. Leben und Dichtkunst). M u s i k S. 24, 27, 32, 35, 36, 51, 52, 53, 84, 121, 153, 229, (230), 285, 299, 317, 33 7 ff., 345 (T), 347, 348 (T), 349 (T), 350, 355 (T), 387, 388, 390, (391), 392, 407 (T), (414), 421, 452, (466), 496, 497, 498, 582 (T), 590, 631, 654^ O p e r (und Singspiel) S. 35, 51, 52, 53, 84, 160 u. ö., 337 (T), 339. 341. 342. 344. 345. 347. 348. 349 (T). 360, 419. 423. 427, 452, 492, 498, 654, 656, 658, 659, 660 (T). M u s i k d r a m a S. 299, 336, 337t, 346, 348, 349, 352, 414, 419, 654. 658, 659. G e s a m t k u n s t w e r k S. 336, 339, 348, 349, 350, 351, 352, 354, 356, 658. T a n z k u n s t u n d D i c h t k u n s t (Tanz-Pantomime usw.) S. 342 350, 435. 495·

720

V E R Z E I C H N I S DER B E G R I F F E , M E R K - U N D K E N N W Ö R T E R

T h e a t e r u n d S c h a u s p i e l k u n s t S. 4, 10, 11, 41, 47, 48, 49, 50, 51, 58 (T), 59, 60, 159, 160, 169, 170, 187, 196, 197,

279. 325 (T), 35°. 3 5 * 1 5 * . 353 (T), 360, 362/63. 388, 408, 418, 432 (T), 453, 454, (455, 499), 527 (T), 534, 537, 549 (T), 581 (T), 625, 632, 636, 646, 647 (T), 662, 678 (T), 682, 683f. T h e a t e r k r i t i k (vgl. Kritik und Dichtkunst). R e d e k u n s t u n d D i c h t k u n s t (und der Dichter als Rhetoriker) S. 147, 226, 230, 232, 235, 249, 250, 251, 253, 254, 287, 341, 342, 350, (387), 489 (T), 491, 495, 506 (T), 507 (T). S p r e c h k u n s t (Rezitation) S. 50, (59), 169, 170, 387, (414), 528. R a n g s t u f e d e r K ü n s t e S. 35, 36, 52, 53, 133, 299. Wesen, Wert und Wirkung der Dichtkunst (als Sonderkunst) D i c h t k u n s t im V e r h ä l t n i s zu den a n d e r e n K ü n s t e n S. 52 (T), 53, 133, 153, 168, . . . 261, . . . 337f., 345, 35°. 351, 352—56,

. ·.

495. 496, 497, 531, 563.

582·

E i n l a g e r u n g d e r P o e s i e in a n d e r e W e r t b e z i r k e (Nation, Politik, Religion, Philosophie usw.) S. 2, 3, 4, 5, 6, 7, 13/14, 16, 18—20, 27, 32, 34, 43, 56, 58 (T), 59, 70, 92, 96, 99, ioof., 115, 147, 148 f., 156, 158, 161, 170, 174, 175/76, 177/78, 179, 189, 198, 200, 201/02/03, 220, 224, 228 (T), 236, 239/40, 259, 261, 264, 279, 316, 317/18, 319 (T), 333, 340, 348/49, 458/59 u. ö., 549, 562. V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e u n d W i s s e n s c h a f t S. 2, 5,14, . . . 67, 1 0 7 , 1 5 2 , 1 9 1 , 1 9 2 , 232, 261, 287, 363, 388, 393, 486/87, 497. V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e u n d T e c h n i k (und Erwähnung der Technik) S. 2, 3, 4, 8 , 1 4 , 20, 90, 9 1 , 1 1 7 , 155, 199, . . . 507, 524, 540. V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e u n d N a t u r w i s s e n s c h a f t (vgl. Natur und Dichtkunst). W e s e n s b e s t i m m u n g d e r P o e s i e (Definitionen und andeutende Umschreibungen) S. 44, 52, (56), 57, 75, 100 (T), (107), 113 (T), (116, 117), 128, 153, 161, 163/64, (171), 172, 173, 177, 178, 179, 184, 185, 191, 192, 211/12, 213, 220, 221—23, 224, 225, 258, 261/62, (267, 269), 276, 280, 283, 287, 295, 297, (304), 3 " , 315. 324, 326, 328, 341, 343, (346), 365, 375. 379. 382, 387. 388, 393, 412 u. ö., 491, 492, 493, 495, 497, 500/01, 502, 507, 508, 521, 531, 536, (544), 562, 572, (586), 602, 618, 628, 693. A b s e i t i g e D e u t u n g e n d e r P o e s i e S. . . . 351, 352, 387, 388, 496,

497·

B e w e r t u n g u n d R a n g s t u f e d e r P o e s i e S. 57, 75, (107, 116), 141, 174, 224, 261, 497, 508, 516.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

721

Ansätze zur Entwertung der Poesie S. 1 0 7 , 1 6 1 , 1 8 4 , 1 9 1 , 2 2 5 , · · · 5 7 8 . 605, 608. Uberlegensein oder Unterlegensein im Verhältnis zur Philosophie S. . . . 1 0 7 , 1 5 2 , 200, 2 3 2 , 2 3 3 . Überlegensein im Verhältnis zur Geschichte (vgl. Geschichte und Dichtkunst) S. 3 2 , 1 9 8 , 2 3 5 , 2 6 1 . Weihe und Würde der Poesie S. 1 3 , 20, 9 8 (T), 99, 1 1 6 / 1 7 , 1 2 1 , 1 2 2 , 128, 129, 1 3 3 , 134, 1 3 7 , 1 4 1 , 144/45. ( I 7 1 . x79). 2 2 4 u. ö. Neigung und Nötigung der Poesie zum Veredeln, Verklären, Steigern, Konzentrieren S. . . . 3 9 , 2 1 1 , 3 0 4 , 3 2 4 , 326, 346, 3 6 5 , 3 7 9 , 380, 3 8 7 , 388, 4 1 2 , 414, 5 0 2 . Poesie als Versöhnung von Idealismus und Realismus S. . . . 1 0 5 , 1 1 5 , 1 2 8 / 2 9 , 2o6> 292—97» 322, 3 2 8 , 6 1 1 . Nachwirken des Autonomiegedankens S. 7, 4 0 , 5 6 , 1 0 9 , 117, 128, 1 6 7 , 170, 1 7 1 , 1 7 4 , 1 9 1 , 1 9 3 , ( 1 9 5 ) , 331/32, 4 9 5 ,

578, 579· Erneute Zweckbindung außerästhetischer Art S. 147/48, 1 5 3 , 177, 1 8 5 , 191, 220 u. ö. (vgl. die Kennwörter: Politik, Religion). Schwankungen zwischen politischer Zweckbindung und Eigenwert S. 171, 174, 1 9 1 , 192, 2 2 0 , 222, 223, 2 2 4 u. ö. Poesie als Verskunst oder Prosakunst (vgl.Metrik, Sprache). Dichtkunst als Bewahrung und Bewährung des Gemüts (und Gemüts-Vorstellung) S. 1 9 , 20, 3 9 , 44, 5 2 , (60), 1 0 1 , 1 x 6 , 1 1 9 , 1 5 3 , 162, 2 2 0 , 231, 232, 2 3 4 , 2 3 9 , 242, 2 6 3 , 270, 2 8 3 , 285, (358), 3 7 4 , 3 8 0 / 8 1 , 3 9 3 , 430, 4 3 5 , 458, 464, 468, 469, (471), 490, 493, 494, 5 2 1 , 653, 658, 665, 666. Dichtkunst als Bewahrung und Bewährung des Gefühls (und Gefühls-Wert; vorzugsweise, aber keineswegs ausschließlich in der Lyrik, vgl. Lyrische Gattung: GefühlsAusdruckslyrik) S. 44, . . . 1 7 7 , 178, 179, 204, 2 3 1 , 282, 283, 284, 285, 298, ( 3 1 2 , 3 4 2 — 4 4 ) . 3 5 7 . 3 7 9 . 3 8 0 / 8 1 . 389. 3 9 0 — 9 4 , 397, 443, 444, 445, 493, 494, 495, 590. Dichtkunst als Bewahrung und Bewährung des Geistes (und der „Idee", Bewertung des „Geistigen"; Geist und Idee werden im Jungen Deutschland vielfach als bloße Deckung für politische Tendenz in Umgehung der Zensur gebraucht, und zwar trotz des Hegel-„Einflusses"; das gilt also besonders für die Belege S. 1 4 6 — 2 5 5 . Im übrigen wirkt für Kap. I vielfach der „Geist"-Primat der Frühromantik nach) S. 39, 107, 1 5 2 , 1 7 7 , 1 8 4 , 1 8 6 (T), (190), 1 9 9 , 200, 206, 2 0 7 , 2 5 7 , 2 6 1 , 262, 2 6 5 , 266, 268, 269, 2 7 5 , 2 8 1 , 2 8 3 , 46

M a r k w a r d t , Poetik IV

722

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

285, 293, 294, 295, 297, (303), 327, 328, 34Ο, (364), 365, 366, (383), 406, 435, 551, 618, 633, 638, 639, 669, 673. D i c h t k u n s t als s p e z i f i s c h e „ g e i s t i g e K u n s t " in A b h e b u n g v o n d e n a n d e r e n K ü n s t e n (vgl. den jungen Herder) S. 26, 39, 186, 265, 266, 393, 496, 497. D i c h t k u n s t als B e w a h r e r i n u n d B i l d n e r i n des M y t h i s c h e n (Poesie und Mythologie, das Mythologische) S. 14, 67, 86, 87, 88, 270, 338, 343, 346, 353, (368), 388, 414 u. ö., (513), 533D i c h t k u n s t als Gebilde und B i l d n e r i n der „ F r e i h e i t " (und Freiheitsbegriff; vgl. Politik und Dichtkunst: Wechselwirkung von politischer und künstlerischer Freiheit) S. 56/57, 171, 200, 201, 220, 221 u. ö., 323, 349, 432, 446, 595, 603, 604, 614, 640, 644, 678 (T). D a s S c h a f f e n s g e s e t z d e r D i c h t k u n s t (und Kunstgesetz allgemein) S. (105), 108, 115, 163, 180, 191, (213), 279, 280, 281, 284, 289, 290, 319, (320), 364, 375, 376, 381, 418, 429, 443, 445, 446, 480, 493, . . .

665, 670, 6 7 1 , 680—82.

Der dichterische Schaffensvorgang (Voraussetzungen, Merkmale, Begleiterscheinungen) A l l g e m e i n e s S. 27, 28, 29, 53, 54, (66), 70, 91/92, 93, 94, 98, 100, 1 0 1 , 1 1 6 , 120, 1 2 1 , 124, 1 2 5 , 126, 136, 137/38, 1 3 9 ,

141/42, 143/44, 162/63,

i65.

171. (178), 179. I 9 I » 214, 249.

250, 280, 2 8 1 , 282, 285, 286, 288/89,

2 9°> 29I-

298, 3 0 0 >

331»

312. 313. 359. 360/61, 365, 372/73, 374, 375, 385, 387, 389, 417, 441, 443, 454/55. 456, 464. · · · 525, 536, 541. 544. 573. 618, 632, 637, 638, 639, 644, 654, 673, 674 (T), 675, 680. D e r ä u ß e r e S c h a f f e n s v o r g a n g (Situation, Umweltbedingungen usw.) S. 93, 94, 132/33. (138), 226/27, 245, 248, 249, 288, 331, 373, 381, 447, 541, 551, 573. F r ü h s t u f e d e s S c h a f f e n s v o r g a n g e s (vgl. Einzelbegriffe: Konzeption). B e g a b u n g u n d A n l a g e (Talent) S. 1, 11, 25, 28, 30, 32, 38, 39. 50, 53. 54. 57. 6 l > 6 4, 75. 77. 9 2 . 94. (106), 118, 120, 122, 125, 126, 135, 141, 142, 144, 162, 163, 165, 178, 187, 195/96, 201/02, 215, 216, 219, (221), 224, 225, 226, 231, 283, 285, 298, 299, 301, 314, 321, 325, 330, 331, 345, 352, 354. 361, 383. 389. (391. 394). 398, (404). 413, (415). 418, 430, 431, 433, 435, 440, 441, 442, 443, 452, 453, 454, 456, 458, 464, 465, 466, 467, 469, 474, 477, 484, 493, 529/30. 5 5 1 , 564, 572, 5 7 5 , 589, 602, 605, 6 1 8 , 632, 635/36, 659, 662, 678, 686.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

723

P h a n t a s i e , E i n b i l d u n g s k r a f t (Erfindung, Einfall) S. 28, 43, 65. 7 8 . 94. 107, 108, u z , 116, 119, 162, 164, 184, 251, 261, 263, 285, 295, 301, 327, 339, 343, 368, 372, 374, 382, 383. 388, 390, 393. 403. 416, 417. · · · 463, 479. 493. 494. 495. 525. 614, 632, 639. G e n i e (Genialität und Geniebegriff) S. 8, 28, 56, 57, 61, 74, 110, 117, 118, 125, 126, 147, 162, 178, 180, 183, 195, 196, 201, 202, 213, 229, 230, 249, 281, 283, 298, 299, 379, 385, 387, 443, 464, 487, 508, 548, 559, 600. G e s c h m a c k S. 50, 122, 131, 168, 177, 180, 195, 220, 284, 355, 586, 593.

V e r h ä l t n i s v o n G e n i e u n d T a l e n t S. 38, 39, 118, 125, 163, 187, 195, 196, 202, 283. A n s c h a u u n g (Anschauungsvermögen und Wirkungswert) S. 28, 31, 45, 46, 49, 275, 276, 287, 296, 366, 388, 415, 497, 502, 516 (philos.), 521, 529/30, 614, 638 (philos.). B e o b a c h t u n g (Beobachtungsvermögen), vgl. Lebenswirklichkeit und Dichtkunst. B e g e i s t e r u n g , R a u s c h d e s S c h a f f e n s S. 4, 92, 145, 239, 253, 304, 344, 349, 353, 365, 434, 618. B e s o n n e n h e i t u n d D i s t a n z S. 28, 98, 139, 140, 142, 239, 240, 267, 287, 298, 375, 480, 493/94. 548, 563. 604. 632, 697. R e f l e x i o n u n d M e d i t a t i o n S. 96, 219, 226, 235, 241, (245), 281, 284, 285, 286, 287, 289, 297, 298, 363, 365, 376, 377, 401, 412, 418, 465, 466, 485, 493f., 536, (539), 601. D a r s t e l l u n g s a b s i c h t (Darstellungsziel) S. 25, 28, 75, 76, 128, 137. l 6 3 . 167, 190, 195, 280, 338, 372, 385, 400, 417, 434, 440, 444, 445, 460, 462, 479. 521. K u n s t v e r s t a n d S. 25, 38, 141, 164, 165, 167, 169, 253, 290, . . . 521. K u n s t w o l l e n (durchgängig verfolgt). M o m e n t d e r „ E r i n n e r u n g " (vgl. Lebenswirklichkeit und Dichtkunst). D a s S c h ö p f e r i s c h e S. 29, 43, 92, 94, 125, 126, 127, 142, 162, 163, 167, 281, 285, 286, 288, 441. D e r W i l l e z u m W e r k S . 9 3 , 9 4 , 1 3 6 , 1 3 7 , 1 4 1 , 1 4 4 , (167,168), 178. K o n z e n t r a t i o n S. 227, 294, 295, 337, 346, 365, 401, (413), 452. S t i m m u n g (zugleich als Wirkungswert) S. 1 0 , 1 1 , 63, 86, 88 u. ö., 186, 217, 270, 288 u. ö., 358, 385, 389, 396, 397, 443, 444, 445. 510. W e r k w e r d e n u n d W e r k w a n d l u n g (Entstehungs- und Umformungsvorgang) S. 139, (141), 142, 143, 144, 191, 214, 312, 347. 353. 354/55. 404. 4*8, 54, 644, 683, (689). 46 ·

724

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

D e r D i c h t e r a l s T r ä g e r d e s S c h a f f e n s v o r g a n g e s (der Dichter als Dichter, besonders der „echte Dichter" und der „wahre Künstler") S. 58, 70/71, 75, (79), 83, 100, 105, 109, 1 1 6 , 153, 177, 178, 1 7 9 , 181, 187, 191, 192, 194, 202, 211, 221, 222, 2 2 4 (T), 225, 235, 240, 245, 251, 252, 258, 277, 280 (T), 281, 282, 289, 293, 295, 3 1 0 , 3 1 2 , 3 1 4 , 3 1 5 ,

324—26,

3 2 8 · 331» 340, 35 1 (Sonderbegriff), 355, (356), 365, 373, 387. 393. 409. 430. 431. 433. 436, 453. 58 (T), 531, 536, 557. 559. 560, 5 6 1 , 562, 563, 567, 5 7 1 , 572, 629. V e r h ä l t n i s v o n P r o d u z i e r e n u n d T h e o r e t i s i e r e n (bzw. Kunstwollen und Kunstschaffen) S. 6, 9/10, 11, 25, 26, 27/8. 38. 39. 48. 55/6. 64, 66, 77, 82, 84, 86, 87, 88, 89, (92), 94, 98, 101, 102, 116, 126, 1 2 7 , 135, 136, 137, 138, 141, 142, 143, 144, 145 u. ö., 164, 165, 167/68, 180, 209, 211, 212, 2 1 3 , 2 1 6 , 219, (220, 227), 241, 2 5 3 , 257, 258, 2 7 9 , 2 8 7 , 2 9 0 , 2 9 1 , 297, 2 9 8 , 3 1 7 , 3 5 3 — 5 6 , 3 6 8 , 3 7 0 , 372/73,

394. 396/97. 398. 399. 402, 404. 417. 421. 428, 430. 431. 435. 452. (453). 456. 462. 464. 468, 479. 486/87, 509, 521, 532f·. 539. 547. 548. 555. 557. 563. (567). 5»°. 59*/92. 598. 627, 633, 637—39, 654. (660), 673—75, 676, (677). Widerstreiten(Gegensatz) von Kunstwollen und Kunstl e i s t u n g (Widerspruch von Theorie und Praxis) S. 8, 9, 10, 11, 38, 48, 55, 64, (66), 89, 98, (104), 127, 139/40. 141. 143/44, 165, 167/68 u. ö. (vgl. Produzieren und Theoretisieren) *) . . .

284/85, 417, 426, 427, 436, 437, 438, 439,

4 4 6 , 4 4 8 , 4 5 2 , ( 4 5 3 ) , 4 5 6 , 4 6 5 , 466, 5 3 2 f . , 5 3 9 , ( 5 4 7 ,

548),

561, 568, 604, (625), 627, 629, 637, 671. Z e i t l i c h e A b f o l g e v o n T h e o r i e u n d P r a x i s (vgl. Einzelbegriffe). D i c h t e r i s c h e s S c h a f f e n (Bezug auf Einzelwerke der Dichtkunst) S. 2, 3, 4, 10, 12, 19, 29, 33, 35, 39, 41. 42, (44). 45/6, 46, 47, 48, 49, 50 u. ö. (da durchgängig verfolgt, nur Stichproben): 213, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, (221), 222, 224, 225, 226, 227, 230 u. ö., 300, 301, 304, 305, 306, 307. 312, 313. 33°. 331. 333. 347. 353. 354. 35 6 . 358. 361, 362, 368, 372, 375, 378, 380, 381, 382, 387, 390, 402, 403, 404, 405, 406, 408, 409, 412, 4 1 3 , 414, 4 1 7 — 8 6 (werkimmanente Poetik), 488, 490, 493, 494, (495), 499, 500, (501), 502, 503, 504, 508, 519, 520, 522, 523, 524, 525, 526, 527. · · · *) Der Gegensatz wurde in das Verhältnis von Produzieren und Theoretisieren einbezogen. Er tritt aber natürlich bei der „werkimmanenten Poetik" besonders greifbar zutage; daher wurde besonders dieser Exkurs durch Bezugszahlen (S. 417—486) erfaßt.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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Verhältnis von Kunstwert-Schaffendem und Kunstw e r t - A u f n e h m e n d e m (Berücksichtigung und Reagieren des Kunstwert-Aufnehmenden) S. 33, 45, 46, (50), 51, 56, 63, 143. 155. 187. 204, 23°. 231, 263. 301, 322, 331/32, 363, 373. 376, 377. 380. 3 S l . 387. 39°/9 r . 393. 402/03, 408, 415, 422, 455, 468, 469, 472, 479, 491, 495, 500, 507 (T), 508, 578, 583, 646, 648, 650, 664/65, 678, 680. Kritik, Publizistik und Dichtkunst (und Selbstkritik) A l l g e m e i n e s S. 8, 30, 36 (T), 53/54, 71, 73, 77, 79, 98 (T), 107, 146, 147, (149), 156, 157, 158, 159, 159/60, 160, 167/68, 169, 170, 1 7 1 — 7 3 . 174. 179. 182/83, 207, 217, 222/23, 240, 250, 251, 254, 266, 267, 274, 282, 284, 286, 289, 290/91 313, 314, 315 (T), 316 (T), 327, 362/63, 367, 381, 404, . . . 435. 436. 437. 438. 439. 440. 442, 443. (457). 467. 4 6 9472. 475. 477. · · · 540. 554 (T), 565. (567). 569. (570, T), 574, 581, 582, 590, 602, 604, 605, 608, 625 (T), 663, 666, 669, 673 (T), 680 f., 692. K r i t i k u n d K r i t i k e r t u m S. 8, 53/4, 156, 157, 158, 167/68, 174, 240, 313. 3*4. 3r5 ( T ). 3 i 6 (T), 327, 381, 404, 477, 604, 605, 625 (T), 626, (636), 663, 666, 673 (T), 680-82 (T), 683—87. K u n s t k r i t i k u n d k r i t i s c h e K u n s t (Wesen, Wert, Wirkung) S. 8, 156, 157, 158, 159, 160, 167/68, 172, 173, 174, 222/23, 266, 267, 274, 282, 284, 286, 313f., 381, 404, 439, 540. D e r D i c h t e r a l s K r i t i k e r S. 53/54, 73, 77, 79, 174, 182/83, (240), 250, 282, 284, 286, 289, 290, 313, 314, 315/16, 327. 367, 381, 438, 439. K r i t i k a l s W a f f e S. 146, 156/57, 160, 477. T h e a t e r k r i t i k S. 71, 156, 159/60, 169, 170, 173, 362/63, 472, 682, 683—87. S o n d e r f o r m e n d e r K r i t i k (Essay, Brief u. a.) S. 146, 158, 159, 160, 385/86, 442, 443. V e r h ä l t n i s z u r S e l b s t k r i t i k S. . . . 250, 251, 284, (290), 314, 361, 399, 404, 417, (457), 475, 551. V e r h ä l t n i s v o n K r i t i k u n d P o e t i k (Wertkriterien und setze der Kritik) S. 158, 161, 168, 172, 319, 364, 367, 380, 381, 391, 395, . . . 563, 574, 605, 648, 658, 680—82, 689. G e s e l l s c h a f t s k r i t i k (vgl. Politik und Dichtkunst). P u b l i z i s t i k (Wert, Wesen, Wirkung) S. 30, 146, 156, 157, 301, 327, 342, (349), 378, 435, 436, 439, 440, 442, 469, 571, 589, 602, 608, 669, 692.

467, 149, 291, Ge368, 668,

158, 467,

726

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

P u b l i z i s t i s c h e r Sinn (Anlage, Talent) S. 107, 156, 157, 207, 254, 442, 443. Der D i c h t e r als P u b l i z i s t (Dichter-Publizist, Wert- und Wirkungsverhältnis von Poesie und Publizistik) S. 107, 147, 156, 157. 171. 172. 173, 174. 207, 323, 435, 436, 437, 439, 440, 442, 443. V e r h ä l t n i s v o n D i c h t e r und „ S c h r i f t s t e l l e r " S. 36 (T), 98 (T), (176), 179, 436. V e r h ä l t n i s v o n „ T a g e s s c h r i f t s t e l l e r " und „ Z e i t s c h r i f t s t e i l e r " S. 179/80, 569, 572. Gehalt und Gestalt (Haltung und Gestaltung) A l l g e m e i n e s S. 1, 3/4, 9, 28, 36, 37, 56, 84, 85, 87, 117, 118, 121, 122, 124, (125), 126, 127, 128, 137, 138, 140, 1 4 1 , 142, 143, 158, 163, 165, 186, 189, 190, 191, 192, 1 9 3 — 9 6 , 204, 225, 226, 250, 259, 279, 281, 284, 288, 289, 290, 291, 294, 299, 312, 313, 314, 315, 316, (317), 321, 322, 324, 331, 338, 356 (T), 358, 359, 361 (T), 362 (T), 366, 367 (T), 369, 370, 371, 372/73, 374, 375, 381, 382, 384, 387, 389, 391, 392, 399, 400, 403, 412, 417, 441 f., 454f., 461, 462f., 467, 469, 470, 475, 488, 489, 493, 497, 507/08, 509, 519, 526, 561, 563, 564/65, 572, 588/89, 592, 602, 629/30, 647, 680, 691/92.

102, 129, 187, 257, 301, 326, 364, 377, 404, 471, 529, 632,

109, 136, 188, 258, 302, 329, 365, 378, 406, 472, 559, 644,

B e w e r t u n g der F o r m (Prävalenz der Form und Entwertung) S· 13. 3 6 . 55. 5 6 . 57. 58, 59. 60, 61, 1 1 7 , 118, 121, 124, 125, 126, 127, 128, 141, 165, 166, 191, 194, 195, 196, 224, 225, 231, 248, 266, 283, 284, . . . 315/16, 519 (T). 526. 529, 602, 625, 643, (647). B e w e r t u n g des I n h a l t s (und Prävalenz des Inhalts) S. 28, 36, 42, 142, 158, (161), 165, 179, 187, 190, 191, 227, 249, 250, 251, 253, 262, 263, 265, 266, 269, 271, 278, 283, 294, 297, 298, 3 I2 > 313. 316, 324, 326, 338, 358, 366, 370, 371, 374, 375. 381, 382, 387. 389. 39 1 . 392, 403. 406, 412, 458, 476, 489, 500, 501, 510, 590/91, 632, 638, 646, 662, 680. V e r h ä l t n i s v o n S t o f f und Form (Gehalt und Gestalt) S. 28, 36, 37. 56, " 7 . " 8 , 126, 127, 128, 158, 165, 186, 187, 190, 191, 193, 194, 225, 226, 250, 257, 259, 284, 288, 312, 315, 326, 366, 387, 391, 392, 424, 442, 443, 446, 447, 448, 557. 559. 56i. 562/63, 564/65, 632. A u s g l e i c h v o n F o r m und I n h a l t (und „Harmonie"-Ideal; schwaches Nachwirken der Identitätsvorstellung) S. 39, 40, 45, 60/61, 116, 117, 118, 127/28, 177, 193, 194, 197, 225,

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(257), 284, 294, 3 1 2 , 315, 366, 375, 376, 557, 562, 63Ο, 690, 691. Formung und Umformung (vgl. Dichterischer Schaffensvorgang: Werkwerden und Werkwandlung). Verhältnis von Motiv und Form (besonders Motiv) S. 42, 93, 106, 136, 137, 1 4 1 , 142, 168, 252, 253, 262, 264, 278. 283, 320, 334, 337, 346, 354, 366, 375, 389, 405, 412, 419, 420, 421, 424, 426, 427, 442, 446, 447, 448, (449), 450, 451. 455. 462, 468, 470, 475, 476, 479, 481, 533, 535, 548, 552, (608), 642, 644, 646, 659, 662, 665, 680. Komposition und S t r u k t u r S. 9, . . . 188, 189, (190), 204, 289, 290, (300), 301, 356, 359/60, 362, 3 7 1 , 376, 403 u. ö., 436, 441, 442, 492, 565, 632. K u n s t t e c h n i k (Methoden und Verfahren der Darstellungsart einschließlich Technik der Dichtungsgattungen) S. 3, 5, (9, 10), I i , 12, 57, 58, 1 1 8 , 125, 126, 165, 192, 256, 290, 294, 298, 299, 329, 3 3 1 , 356 (T), 361 (T), 362 (T), 365, 367 (T), 369. 370, 371, 372/73. 377- 384. 387. 399. 400, 404. 431. 440, 443, 444, 446, 454, 456, 466, 471, 477, 479, 555, 563, 564/65, 671, 672 (T), 673, 673—76. S y m b o l i s c h e Darstellung (und das Symbolische) S. 39, 40, 41, 45, 76 u. ö., 221, 267, 275, 276, 277, 278, 279, 332, 335. 354. 385. (414). 420, 448, 450, 502, (503), 565, 647, 649, 652/53. Allegorische Darstellung (und das Allegorische) S. 39, 40, 41 u. ö„ 267, 274, 275, 280, 284, 498, 502, 503, 504. T y p i s c h e Darstellung (und das Typische) S. 28, 57, 163, 2 95—9®. 3°4. 368, 384, 456, 459, 472, 508, 510, 553, 556, 562, 6 1 1 , 633, 655. Verhältnis des Besonderen und Allgemeinen S. 40, 57 u. ö., 276, 285, 288, 295, 296, 297, u. ö., 472, 562. Realistische Darstellung (und das Realistische) S. 1, 2, 8, 14, 65, 93, 1 1 0 , i n , 112, 1 1 6 , 1 1 7 , 128, 129, 1 3 1 , 149, 1 5 1 , 163, 164, 172, 199, 206, 207, 210, 214/15, 216, 235/36, 256, 259, 264, 265, 274, 275, 286, 291, 294, 298, 300, 301, 302, 304, 3 1 1 , 312, 313, 315, u. ö. 327/28, (332), 334, 362 (T), 363. 369. 37 2 . 373. 378, 379. 380, 382, 384, 398, (406, 4 1 1 ) , 425, 430, 437, 444, 463, 469, 471, 473, 479, 499 (T), 500, 521, 522, 525, 534, 535, 544, 554, 556, 580, 599, 614, 637. O b j e k t i v i t ä t in der Darstellungsweise (und das „Objektive") S. 3 0 , 1 0 0 , 1 1 3 , 1 1 9 , 238, 262, 263, 265, 266, 363 (T), 364, 365—68, (374, T), 375, 376/77 u. ö., 509, 560, 563, 612, 632, 664, 671, 673.

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S u b j e k t i v i t ä t i n d e r D a r s t e l l u n g s w e i s e (und das „ S u b j e k t i v e " , durchweg Abwehr, abgesehen von der Lyrischen Gattung, s. d.) S. 265/66, 363/64, 366, 367, 368, 369, 377, 385, 401, 560, 563, 642, 671, 685. A b s t r a k t e D a r s t e l l u n g s w e i s e (und das „ A b s t r a k t e " ; durchweg theoretische Abwehr) S. 28, 45, 46, 274, 275, 276, 282, 284, 285, 287, 289, 296, 297, 303, 316, 322, 340, 363, 372, 4 1 5 u . ö., 496, 4 9 7 , 552/53.

P a t h e t i s c h e o d e r r h e t o r i s c h e D a r s t e l l u n g s w e i s e (und das „Pathetische") S. 98, 103, 1 1 7 , 124, 132, 136, 169, 217, 218, 230, 231, (235), 250, 253, 291, 325, 326, (338), 342, (344). 35 2 . 353. 355. (370). 428, 562, 579, 599, 606, 615 (philos.), 632. Phantastische oder groteske Darstellungsweise (und das „Phantastische, Groteske") 5.301/02,304,321,323,328, 425, 437- 438, 458, 47°. 536, 580, 599. 665. N a i v e o d e r s e n t i m e n t a l i s c h e D a r s t e l l u n g s w e i s e (und das „ N a i v e " und „Sentimentalische") S. 30, 86, 88, 169, 281, 285 (T), 289, 291, 293, 325, 433, 549, . Humoristische, komische, satirische Darstellungsw e i s e (und das „Humoristische, Komische, Satirische") S. 24, 40, 50, 56, 60, 78, 80, 94, 95, 100, i n , 113, 151, 155, 164, 165, 1 7 1 , 172, . . . 203, 217, 225, 236, 240, 244, 254, 255. 302, 329. 330, 371 (T), 379. (4 1 1 ). 422, 431. 439. 441. 442, 443, 455, 457, 458, 460, 462, 463, 464, 467, 470, 490, 491, 493, 494, 501, 502, 503, 530, 555, 607 (T), 640, 646, 677. I n d i v i d u e l l e D a r s t e l l u n g s w e i s e (und das „Individuelle") S. 57, 107, i n , 115, 162, 174, 177, 191, 192, . . . 261, 270, 272, 273, 274, 275, 278, 279, 280, 283, 295, 296, 340, 368, 384, (389), 390, 449, 516, (538), 555, 556, 562, 614, 615, 620, 628. Dichtungsgattungen (Sonderformen und Arten) A l l g e m e i n e s S. 9—12, 28, 30, 33, 41, 42, 58, 59, 64, 65, 103, 112, 113, 115, 119, 120, 121, 166, 180, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 203, 204, 205 (T), 241, 258, 263, 272, 273, 285, 290, 299, 300, 336, 337, (339), 356, 357, 363, 370, 371, 374. 388, 389. 394. 395. 396, 397. 4»7. 452, 453, 488 (T), 489, 491, 492, 495, 499, 508, 526, (550), 595, (623), 635/36. G a t t u n g s b e g r i f f u n d G a t t u n g s g e s e t z S. 28, 65, (166), 203, 204, 272, 290, 299, 337f., 363f., 370, 371, 376, 389, 39°· G a t t u n g s g l i e d e r u n g (und Unterscheidung durch Merkmale) S. 30, 58/59. 64/65, 103/04, 112, 119, 120, (180), 190,

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

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203/04, 263, 299, 300, 336, 337f„ 357, 370 (T), 406/07, 495, (499)· R a n g s t u f u n g u n d R a n g s t r e i t d e r G a t t u n g e n (und Arten) S . 3 3 . 34, (35, 59). 65, (113). 185, 187, 204, 205, (258), 272, 273, 276, 299, (357), 367, 369, 374, 386, 387, 388, 389. 394, 395, · · · 493, 503, 612, 664. P r o p a g i e r t e o d e r „ n e u e " G a t t u n g e n (und Arten) S. 188, 189, 203, 285, 299, 336, 337f., 363, 368, 374, 386, 389 394/95, 406/07, 440, 441, 489, 506. W a h l d e r G a t t u n g u n d A r t (durch den Dichter) S. 9, 10, n , 12, 299, 300, 356. Annäherung von Gattungen und Arten aneinander (Wechselbezug, Austausch, Mischung) S. 59, 64, 65, 118/19, 204, 270, 299, 339, 341, 347, 361, 371, 382, 389, 395, 396, 397, 398, 400, 401, 404, 407 (T, Sonate!), 420. V e r h ä l t n i s der D i c h t u n g s g a t t u n g e n zu den anderen S o n d e r k ü n s t e n (und deren Arten) S. 59, 299, 333, 334, 388, (391), 393, 407 T, 419. B e a n s p r u c h u n g des R a n g e s v o n S o n d e r k ü n s t e n für die D i c h t u n g s g a t t u n g e n (Otto Ludwig) S. 299. Dramatische Gattung (Theorie des Dramas). A l l g e m e i n e s S. 4, 9, 10, 11, (12), 17, 24, 29, 30, 33, 34, 40, 41—46, 56, 58, 59, 62, 63, 64, 65, 68, 70, 71, 98,103,112/13, 118/19, 135, 136, 137, 167, 170, 171, 172, i86f., 195, 196, 204, 2iof., 240/41, 263, 269/70, 271 (T), 272 (T), 273f., 278, 280, 289, 297, 299, 300, 317, 331, 336, 337 (T), 338—46, 347 (T), 348, 350, 351. 352, 356 (T) f., 361, 362 (T), 363 (T), 364 (T), 368, 370 (T), 371, 388, 389, 395, 405, 412, 413 (T), 414/15, 418, 421, 422, 426, 427, 428, 435, 441, 442, 446f., 447, 449, 450, (451). 452> 453, 454, 456, 468, 475, 480, 481, 484, 488/89, 492, 496 (T), 497, 499 (T), 506, 509 (T), 520, 529, (557), 56i, 580, 595, (T) 619, 629, 632, 636, 645, 647, 658, 659, 661/62, 684. R a n g s t u f e , B e w e r t u n g d e s D r a m a s S. 9, 30, 33, 65, 118, 187, 263, 270, 272, 273, 274, 276, 350, 357, 367, . . . 612. W e s e n u n d W i r k u n g d e s D r a m a s S. 24, 30, 33, 42, 45—47, 59, 63, " 3 . 118/19, (Ϊ24). 172, 187, 204, 235, 270, 271—80, 282, 289, 300, (317), 337 (T), 338, 339, 414/15, . . . 645, 658, 664, (692). S c h i c k s a l s b e g r i f f d e s D r a m a s S. 29, 33, 41, 45, 98, 113, II8, 185, 269, 272, 273, 274f., 279, 280. 488, 489, 520, 557, 627.

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V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

S c h u l d b e g r i f f d e s D r a m a s (und „Versöhnung") S. 33, 34, . . . 272, 273, 278, . . . 449, 450, 454, 520, 557, 605, 615, 626, 629, 637, 638, 684. D i e I d e e d e s D r a m a s u n d d a s D r a m a d e r I d e e S. 28, 29. 3°. 33. (34). 43. 44. (70), 186, 204, 2 1 3 , 269/70, 2 7 2 ,

273—75. 282, 288, (346, 353), 354, 358, 421, 422, (426), G e s c h e h e n i m D r a m a (Inhalt, Stoff) S. 33, 34, 41, 42, 43, 46, 63, 113, 119, 120, 197, 217, 235, 263, 265, 275, 276, 277, 27 8 . 341. 346, 3 7 1 . 389. 4 01 » 4*3. 414. 446, 447. 538. 613, 636, 638. H a n d l u n g u n d A u f b a u (und Komposition) S. 33, 35, 59, 65, 70, 113, 120, 195, 196, 214, 279, 289, 341, 346, 356, 357, 359. 360, 361. 427. 455. 490, 492> 538, 557. 632, (636), 661/62.

D i e d r a m a t i s c h e n E i n h e i t e n S. 44, 195, 196, (293). D r a m a t i s c h e K o n z e n t r a t i o n u n d S p a n n u n g („Zentralisation") S. 70, 119, (188), 270, 337, 346, 401, (413), 452. P e r s o n e n u n d C h a r a k t e r e (Charakteristik) S. 33, 43, 63, 70, 1 1 9 , 216/17, 274. 2 7 5 . 2 7 6 , 356, 3 5 7 , 4 1 3 , 426, 4 2 7 , 446/47.

490, 492, 497, 537, (550), 605, 613, 629, 661. S p r a c h g e s t a l t u n g u n d R e d e w e i s e i m D r a m a S. 70, 216, 275 (T), 276, 279, 342, 343, 351, 354/55. 357. 358. (360), . . . 613, 632. D e r C h o r i m D r a m a (Tragödienchor) S. 29, 350, 357, 563 (episch bezogen). M o t i v i e r u n g i m D r a m a S. 42/43, 119, 337, 346, (413), 490, 538, 687. K a u s a l i t ä t i m D r a m a S. 42, 43, (276), 289, 357, 520. D a s D r a m a t i s c h e u n d T r a g i s c h e S. 12, 24, 30, 33, 34, 35, 41, 47, 103, 113, 188, 204, 270, 272, 273, 278, 280, 283, 285, 287, 317, 341, 352, 357, (359), 399, 418, 421, 422, 438, 447, 449, 450, (451), 454, 467, 489, 499 (T), 520, 580, 581, 605, 614, 615, 624, 629, 662, 687, 692. D a s T h e a t r a l i s c h e (auch jenseits des Dramas) S. 12, 47, 136, 217. 352, 355. 360, 411, 413, 428, 671, 687. B ü h n e u n d D r a m a (Rückwirkung der Bühnenerfordernisse usw.) S. (35). 45. 47. 48. 49- 6 ° . 6 6 . 70. 72, 187, 196, 275, 279, 360, 388/89, 413, 415, 453, 454, 455, (538), 632. Das D r a m a als V e r s c h m e l z u n g , „ S y n t h e s e " von L y r i k u n d E p i k (und lyrische und epische Faktoren im Drama) S. 59, 64, 65, 118, 119, 204, 270, 299, 420, 492, 557, 613. A n n ä h e r u n g d e s D r a m a s an N o v e l l e u n d R o m a n S. 361, 371, 382, 395, 398, 400, 401.

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

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A n n ä h e r u n g a n die M u s i k , M u s i k d r a m a (vgl. Nachbarkünste und Dichtkunst). T r a g ö d i e S. n , 29, 33, 34, 35, 41, 42, 43, 44, 45, 62, 63, 70, 71, 118, 119, 171, 172, (237), 326, 350, 418, 422, 446, 455, 488, 502, 506, 520, 580, 612, 614, 627. T r a g i s c h e „ F a l l h ö h e " u n d t r a g i s c h e I r o n i e S. 34, 35, 63, 217, 278, 425. K a t h a r s i s S. 40, 123, 130, 131, 499 (T), 50a (erweitert auf Poesie schlechtweg), 637. B ü r g e r l i c h e s T r a u e r s p i e l S. 34, 35, 67, 197, 271, 278, 279. S c h i c k s a l s d r a m a (im engeren Sinne) S. 69, 98, 185, 272, 418, 488/89. I d e e n d r a m a S. 43, 264, 272f., 409, 451. H i s t o r i s c h e s D r a m a S. 42, 43, 66, 67, 70, 71, 72, 124, 136, 142, 196, 197, 212, 213, 241, 263, 269/70, 276—78, (279), 342, 4i2f., 425, 426, 427, (449), 450, (451), 490, 520, 537, 606, 626. N a t i o n a l e s D r a m a S. (58, T), 62, 64, 68, 70, 73, 191, 197, 235, 263, 349, 413, 414, 450, 637. P s y c h o l o g i s c h e s P r o b l e m d r a m a S. 423, 445, 446, 447, 450, 461, . . . S c h a u s p i e l (durchweg farbloser Sammelbegriff) S. 70, 171/72, (237). 337 (T). 339. 343 (T), 351, 356, 455, 658. L u s t s p i e l u n d K o m ö d i e S. 171, 356, 407/08, 420, 426, 522/23, 524, 525, 614, 646. L i t e r a t u r s a t i r i s c h e K o m ö d i e S. 56, 60, 425, 466, 530, 531, 606. V o l k s s t ü c k (und Volksszene im Drama) S. 418, 426/27, 522/23, 524, (637), 646, 681. Z e i t s t ü c k , T e n d e n z s t ü c k S. 33/34, 45. Epische Gattung (Roman, Novelle, Erzählung, Epos usw.). A l l g e m e i n e s S. 3, 4, 10, 11, 12, (20), 30, 41, 58, 59, 64, (65), 67, 85, 86, 87 (T), 88, 92, 104, i n , 112, 113, 114 (T), 119, 120, 121, 131, 132, 134, 136, 137, 239, 144, 149, 151, 166, 179, 180, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 199, 200, 204, 225, 234, 236, 241, 252, 258, 262, 263, 269, 270, 283, 285, 299. 300, 314, 317, 329, 330, 331, 332, 333, 335, 336, 338, 339. 341. 342, 343. 347. 357. 358. 361/62, 363 (T) f., 366, 367 (T), 368, 369 (T), 371 (T), 372/73, 374, 375, 376 (T), 377 (T), 380, 381, 382, 383, 384. 385, 386 (T), 386-90, 394, 396 (T), 397, 398, 400, 401, 405, 407, 408, (414), 418, 489, 490, 491, 503, 509 (T), 550, 580, 612.

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V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

D a s E p i s c h e (und Epik) S. 10, 58/59, 64, (65), 113, 1 1 4 (T), 1 1 9 , 1 2 0 , 1 6 6 , 1 7 9 , 1 8 0 , 2 0 3 , 2 5 8 , 2 6 3 , 269,272, 283,285,299. W e s e n u n d W i r k u n g d e s R o m a n s (und Allgemeines) S. 3, 4, 9, 1 1 , 12, i n , 1 1 2 , 1 2 0 , 1 6 6 , 179, 188, 189, 190, 1 9 1 — 9 4 , 199, 200, 204, 236, 252, 263, 329, 330 (T), 338, 339, 341, 342, 343. 347. 3 6i / Ö2 > 3^3 (T) f., 3 6 7 CO. 369 (T), 37* (T), 376 (T), 377 (T). 3 8 °. 382, 394. 39^ (T). 4 » i . 439. 44*. 457. 460, 46a. 463. 465. 467. 468f., 475. 481, 484. 49°. 498, 563, 618,632 (T), 636, 659, (662), 664, 665,673 (T)—76, (678). D e r R o m a n a l s A b l ö s u n g s f o r m d e s E p o s („modernes E p o s " , T h . Mündt) S. 179, 199, 362, 375. R a n g s t u f e , B e w e r t u n g d e s R o m a n s S. 4, (12), m / 1 2 , 179, 192/93, 236, 338, 339, 341, 358, 362, 367, 368, (394), 498, 565, 664, 672. G e s c h e h e n i m R o m a n (Inhalt, Stoff, Motiv, Idee) S. (9), 120, 188, 190, 191, 193, 199, 200, 252, 263, 330, 341, 361, 363, 365, 366/67, 369, 371, 374, 375, 380, 383, (401), 490, 680. P e r s o n e n i m R o m a n (und Charakteristik) S. 120, 189, 192, 205, 330. (347). 366, 368, 372/73. 374. 376 (T), 377. 381, 384, 385, 470, 471, 472/73, 474, 475, 561, 680. K o m p o s i t i o n u n d S t r u k t u r i m R o m a n S. 188, 189, 190, 192, 199, 204, 361, 362, 363f., 468, 473, 475, 476, 481, 533. 565· D a r s t e l l u n g s w e i s e d e s R o m a n s (und Sprachstil) S. 120, 179, 189, 191, 193, 194, 329, 330, 362, 364, 367, 371, 473/74· H e r v o r t r e t e n u n d Z u r ü c k t r e t e n d e s R o m a n c i e r s („Obj e k t i v i t ä t " , Stellvertretertum usw.) S. 330, 363 (T), 366, 372, 374 (T), 375. 385. (509)· D e r „ R o m a n d e s N e b e n e i n a n d e r " S. 188, 189, 190, 191, 59°. 59I/92> 6 7 6 . 6 79· H i s t o r i s c h e r R o m a n (und politischer Roman) S. 67, 120, 131, 191, 192, 193, 194, 241, 333, 342, 356, 374, 375, 383, 384, 405, 407, 434, 490, 679, 682. P o l i t i s c h e r u n d z e i t k r i t i s c h e r R o m a n S. 193, 199, 200, 236, 676. K u l t u r h i s t o r i s c h e r R o m a n S. 333, 362, 366, 369, (405), 407. 693. W e l t a n s c h a u u n g s - u n d B i l d u n g s r o m a n S. 4, 112, 460, 462, 465. Der humoristische, „komische" und satirische Roman 5. 225, 236, 254, 371 (T), 457, 491, 580, 635. A n d e r e S o n d e r f o r m e n (Künstler-, Spezialisten-, Reise-, Chronik-, Brief-, Unterhaltungs-Roman) S. 4, 85, 88, 149, 151,

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

733

i 8 8 , 1 8 9 , 1 9 4 , 259, 329, 332, 333 (T), 335, 342, 469, 533, 561, 669, 670.

I c h - R o m a n S. 367 (T), 368, 369. W e s e n u n d W i r k u n g d e r N o v e l l e (und Allgemeines) S. 10, I i , 86, 88, 92, i 2 i , 131, 132, 134, 136, 137, 139, 140, 144, 188,194, 199 (T), 203, 204, 205, 241, 263, 347, 366, 370 (T), 37 1 . 388, 39°. 3 9 4 4 0 0 (T), 402 (T), 403. 405 (T), 406/07, 407 (T), 420, 435, 439, 440, 441, 452, (453), 457, 458, 463, 464 (T), 465, 468, 475, 480, 484, 485, 490, 491, 544, 559, 563. (590). 644 (T), 658, 674, 675, (680), 689, 692, 693 (T). R a n g , B e w e r t u n g d e r N o v e l l e (und Idealtypus) S. 92, 134, 203, 205, 366, (388), 394/95. 396, 398· V e r h ä l t n i s v o n N o v e l l e u n d R o m a n (durchweg Unterscheidung) S. 86, 88, 188, 199, 204/05, 366, 370, 371, 388, 394, 396, 401/02, 406/07, (439), 481. V e r h ä l t n i s v o n N o v e l l e u n d D r a m a (durchweg Annäherung) S. (136), 137, 371, 395, 397, 398, 400, 401/02, 481. N o v e l l e a l s m o d e r n e A b l ö s u n g s f o r m d e s D r a m a s (Ersatz für das Drama) S. 395, 398. V e r h ä l t n i s v o n N o v e l l e u n d L y r i k („lyrische Novelle", Stimmungsnovelle) S. i o , 11, 86, 88,144, 396, 397, 398, 420, 481. S t r u k t u r , K o m p o s i t i o n d e r N o v e l l e (das „Spezifische", Paul Heyse) S. 88, 132, 136, 137, 144, 199, 204, 205, 371, 395, 399, 400, 401, 402/03, 404, 407, (465), 491. „ F a l k e n " - T h e o r i e (und Theorie vom „Wendepunkt") S. 132, 137. 395. 399. 402/03, 491. G e s c h e h e n i n d e r N o v e l l e (Motiv, Stoff, „Situation" und Personen) S. 136, 137, 144, 203, 263, (347), 370, 371, 396, 397. 398, 401, 402, 403/04. 406. E i n z e l - „ S i t u a t i o n " a l s F a b e l k e r n d e r N o v e l l e (und „Einzel-Episode") S. 199, 204, 396, 401, 402, 491. P s y c h o l o g i s c h e P r o b l e m n o v e l l e S. 86, 144, 397, 468, 481/82. H i s t o r i s c h e u n d „ k u l t u r h i s t o r i s c h e " N o v e l l e (und Chroniknovelle) S. 139, 140, 241, (263), 397, 401, 405 (T), 406, 407. 693. E r z ä h l u n g u n d E r z ä h l u n g s k u n s t (als „ A r t " durchweg unklar abgegrenzt) S. 11, 59, 144, 252, 3i8f., 330, 341, 375, 401, 404, 452, 453, 456, 461, 462, 463, 464, 465, 466, 490, 491. (501), 673 (T). U n t e r s c h e i d u n g v o n N o v e l l e u n d E r z ä h l u n g S. (288), 491. E p o s (tritt in der Theorie zurück) S. 3, 10, 11, 12, 30, 41, 58, 59, 65, 104, 139, 199, 203, (230), 234, (236), 262, 270, 331, 357. 362, (369), 375, 386—90, 408, 437, 441, 447, 481, 49°. 498- 508/09, 536, 544, 586, 613.

734

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

R a n g s t u f e , B e w e r t u n g d e s E p o s S. (12), 58, 65, (199), 234, 362, 386, 387, 388, 389, (481). W e s e n , D a r s t e l l u n g s a r t und V o r a u s s e t z u n g e n des E p o s (und Inhalt) S. 30, 41, 65, 104, 138/39, 203, 262, 270, 331, 357. 368, 386, 388—90, 509, 536. S a g e u n d M ä r c h e n (treten in der Theorie zurück) S. 41, 77, 85, 240, 252, (323), 330, (347), 368, 389, 461, 462, 463, 464, 490, 507, (604), 693. L e g e n d e , F a b e l , P a r a b e l S. 252, 457, 461, 462, 463 (T), 491, 500, 503/04.

D i e I d y l l e (Grenzform) S. 28, 85 D o r f g e s c h i c h t e S. . . . 252, 533, D a s „ R e i s e b i l d " (Grenzform) S. 644, 696. H u m o r e s k e S. 199 (T), 457, 489,

(T), 331, 412 (T), 428, (431). 535, 664, 677, 693, 696, 697. 64, 313, 440, 484, 578, 581, 607.

Lyrische Gattung (und Sonderformen der Lyrik) A l l g e m e i n e s S. 3, 10,11, 12, 37, 45, 46, 58, 59, 64, 65, 84, 85—87, 88, 89, 90, 95, 96, 112, 120, 144/45, 164, 166, 185, 186, 1 8 7 , 203, 204, 2 1 2 , 215/16, 219, 220, 226, 232, 235, 238,

239, 241, 242, 244, 245, 246, 247, 248f., 258, 263,270, 282—85, 285 (T), 286 (T), 287, 299, 300, 3 1 7 , 3 1 8 , 336,

339. 343. 344, 357. 364, 367. 388. 389. 39°—94. 396/97> 404, 418, 419, 420, 435f., 438, 440, 441, 443, 445, 465/66, 476, 480, (481), 482, 484, 485, 492, 495, 500, 501, 528, 531, 562 (T), 586, 589, 590, 606, 612, 622, 642, 647, 689, 690, 691, 696. D a s L y r i s c h e (auch jenseits der Lyrik) S. 10, 11, 45, 46, 58, 64, 65, 95, 113, 204, 2 1 6 , 219/20, 242, 247, 254, 283, 285, 286 (T), 492, 501, 509.

Das

L y r i s c h e i n n e r h a l b d e r a n d e r e n G a t t u n g e n (und A r t e n ; Übergänge) S. 10, 11, 45, 46, (58), 64, 88, 166, 215/16, 219, 285, 299, 396/97, 419, 420, 441, (465), 484, 509. W e s e n u n d W i r k u n g d e r L y r i k (und Merkmale) S. 37, 45, 96, 112, 120, 186, 187, 203/04, 222, 244, 245, 2 4 7 , 248, 282/83, 285, 286/87, (299), 300, 357, 389, 390/91, 392, 393.

R a n g s t u f e ; B e w e r t u n g d e r L y r i k (Idealtypus, Vorbild) S. 65, (89), 144, 166, 185, 186, 187, (212), 219, 235, 239, 241, 255, 258, (282), 285, (286/87), 317, 343, 367, 493. (503). S u b j e k t i v i t ä t u n d „ I n d i v i d u a l i t ä t " d e r L y r i k (IchBezogenheit und Selbstverständigung des Gefühls) S. 37, 65, 120, 166, 203/04, 220, 245, 263, 270, 282/83, 283, 285, 286, 300, (343), 344, 357, (364), 389, 391/92, 393, 492· 493,612,613.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

735

W e r t k r i t e r i u m l y r i s c h e r „ W a h r h e i t " (das Echte) S. 144, 163, (164), 228, 239, (244 T), 484, 492, 500.

T y p u s d e s u n m i t t e l b a r e n G e f ü h l s a u s d r u c k s (expressive Lyrik, „reine" Lyrik) S. 11, 88, 92, 96, 120, (142—44), 203/04, 220, (228, 231), 241, (244), 247/48, 282/83, (357), 391, 392, 394, 465/66, 492, 495, 500, (510), 531, 689, 690.

T y p u s d e r s t i m m u n g s v o l l e n B e t r a c h t u n g (meditative Lyrik, erlebte Meditation) S. 3, 46, 85, 96, 112, 120, (185), 226, 230, 235, 241, 242, (245, 247), 287, 438, 465/66, 485.

T y p u s d e r r a t i o n a l e n B e t r a c h t u n g („reflektive" Lyrik, Reflexions-„Lyrik") S. 112, (120), 219,241, 245, 283, 285/86, 286/87, 465. 485. 492, 493. 495· T y p u s d e r g e i s t i g e n o d e r m y t h i s c h e n V i s i o n (visionäre Lyrik) S. 86/87, 9°> I44> 2 ^7· T y p u s d e r s c h i l d e r n d e n u n d m a l e n d e n L y r i k (impressive Lyrik) S. 120, 145, 218, (248), 250, 251, 392, 482, 495, 500, 647. 59, 165, 219, (220), 343, 344, 357, 388, 391, 392

A n n ä h e r u n g d e r L y r i k a n die M u s i k S. 229, 230, (246, 250), 317, 392/93.

G e h a l t d e r L y r i k (Motive, Inhalt) S. 37, 84, 112, 220, 221, 227, 242, 244, 248, 249/50, 263, 283/84, 300, (389), 391—93, 492, 500, 690, 691.

G e s t a l t d e r L y r i k (Darstellungsart, Stil, Versform) S. 87, 89, 95, 142, 143, 165/66, 218, 219, 220, 231, 242, 248, 250, 283. 300, 391, 392 (T), 393, 443/44, 482, 690.

L i e d h a f t e L y r i k (Kunstlied) S. 37, 79 (T), 88, 112, 144, 219, 220, 251 404 632,

226 (T), 232 (T), 235, 243 (T), 244 (T), 245 (T), 247 (T), (T), 254, 255 (T), 388, (390), 391, 393 (Ό, 400 (T), (T), 437 (T), 438, 440, 441, 444, (501), 531, 601, 630, 690.

V o l k s l i e d h a f t e L y r i k (Volkslied) S. 37, 85, 86, 90, 166, 203, 212, 215, 235, 263, 285, 286,437,438,440,441,491,492, 690. 89, 96, 249, 285, 420/21, 437, 438, 441, 442, 444, 467, 468, 475, 482, 489, 492, 497, 501, 529. 565, (580), 687.

B a l l a d e (und Volksballade) S. 11,

R o m a n z e S. 37, 81, 82, 89, 166, 232 (T), 420, 442, 489, 492, 497. 5 0I > 5°3> 6 8 7„ R o m a n e s k e " S. 489, Rangstufe der Romanze S. 503. U n t e r s c h e i d u n g v o n B a l l a d e u n d R o m a n z e (und Ansätze) S. 89, 420, 489, 497, 501, (503). O d e u n d H y m n e S. 112, 245, (248, T), 263, 441, 491, 494, 528. D i t h y r a m b e u n d f r e i r h y t h m i s c h e L y r i k S. 112, 438, 441. S o n e t t S. 11, 231, 245 (T), 263, 527, 528, 535, 627, 629/30, (642).

736

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

E l e g i e (und das Elegische) S. 10, 12 (T), 166, 219, 230, 247, 485. 491· G a s e l (Ghasel) S. 527, 528. L y r i s c h e s E p i g r a m m (und Epigramm, allgemein) S. 112, 438, 441, 465 (T), 486, 644 (T). L e h r g e d i c h t S. 107, 283, 506. A l l e g o r i e (als Gedichtart) S. 503 — E k l o g e S. 528. Einzelbegriffe Z e i t l i c h e A b f o l g e v o n T h e o r i e u n d P r a x i s (Ausgehen von der Theorie oder Ableitung von der Praxis) S. 8, (10), 12, 3 7 — 3 9 . l 8 ° . I 9°/9 I > (281), 288/89, 290, 298, 344/45. 359- 360, 364, (374), 377, 390, 398/99, (402), 402/03, (405), 417. (452). 453. 454. 645, 654, 671, 673, 676. D i c h t k u n s t a l s : gestaltete Geistigkeit S. 265, 266; Leben, D a sein 213, Lebensprozeß 272; Geistesprodukt 206; schöne Nebensache 1 6 1 ; verleiblichte Geistigkeit 275; Schriftstellerei 179; eingeborener Sohn der Zeit 185; realisierte Philosophie 287; geistig konzentriertes Phantasiebild 295; etwas Lebendiges und Vernünftiges 3 1 2 ; Vorspannpferd (für Politik) 324; Sprachmusik 387; Beseelung 379, 388; Formschneiderei 572. U n g e w ö h n l i c h e W o r t b i l d u n g e n : Unbegriff S. 281; ästhetischer Prosaist 1 7 9 ; Lehrdichterei 283; Formalismus 284; ästhetischer Kannegießer 282, T ; Haarkräusler des Verses 284; Gebärdung 288; geistgeschwängerte Wirklichkeit 294; Unpoesie 312; Abstrakticismus 3 1 6 ; Nationalästhetik 3 1 7 ; Schriftfähigkeit 320; Geistreichisieren 321; Unwillkür 340; Vielstoffigkeit 3 4 1 ; Kunstpatriotismus 348; Sprachdichter 3 5 1 ; Vielheitsroman 679, 680; Tendenziosität 604. K o n z e p t i o n S. 29, 81, 82, 92, 94, 125, 126, 127, 141, 143, 162, (216), 227/28, 271, 281, 285/86, 288, 289, 300, (311), 372, 376, 417, 604, 618. P o e t i s c h e L i z e n z (vgl. Dichtung und Datentreue: Geschichte) S· 277, 330, 366, 369, 385, 425, 426, . . . 537. 630 (T), 683. D a s „ P o e t i s c h e " ( u n d „ D i c h t e r i s c h e " ) S. 168, 238, 239 (T), 240, 259, 261, 276, 293, 298, 312, 326, 330, 353. 355. 3 6 3. 39°. 505. 541. 580, 603, 604, 613, 614, 641, 667, (693). D a s „ P r o s a i s c h e " ( z . T . noch vermischt mit Prosa als Sprachform) S. 265, (358), 363, 367, 376, 493, 593, 613/14, 667. D a s K o m i s c h e S. 100, 111, 113, 151, 422, (536), 540 (T), 555, 579—81.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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A b d r ä n g e n des R e a l i s t i s c h e n ins K o m i s c h e S. 379, 4 1 1 , 667, 668, 697. „ W i t z " S. 70, 1 5 1 , 164, 165, 283, 439, 443, 444, (539), 580, 682. S a t i r e S. 155, 203,254,425 (T), 491, 501, 504. P a r o d i e S. 428. I r o n i e (allgemein; romantische, rokokohafte, realistische, tragische Ironie) S. 9, 107, 173, 217, 233, 260, 320, 425 (T), 428, 439, 443, 444, 445, 457, 458, 460, 461, 462, 463, 474, 490, 508, 580, 682. D a s „ G e i s t r e i c h e " S. 1 5 1 , 283, 321, (370), 377, 386. W o r t s p i e l S. 216, 221, (343). H u m o r (als Begriff und Sonderwert) S. 78, 80, 94/95, (100), 171, 225, 302, 431, 652, 679 (T). K a r i k a t u r S. 81, 217, 281, (282), 580. D a s S e n t i m e n t a l e (Empfindsame, ζ. T. Sentimentalische) S. 86, 278, 300, 433, 490, 493, 580, 583, 588. W e l t s c h m e r z S. 24, 76, 217, 219, 229, 230, 286, 421, 697. G e g e n s t ä n d l i c h k e i t (Dingnähe) S. 75/76, 83, 100, 102, 109, 1 1 2 , 266, 286, 312, 346, (388), 392, 393, 430, (449), 544, 547, 548, 6 1 1 , 667. D a s P l a s t i s c h e (und Plastik, Rückbezug auf die bildende Kunst, das Statuarische) S. 41, 63, 77, 86, 133, 192, 288, 304, 373. 393. 53*. 565. 5**. 697. D a s D e t a i l S. (81), 96, 199, 262, 289, 325, 379, 384, 406, 452, 472, 551, 665, 670. D a s A r c h i t e k t o n i s c h e S. 565, 582. B r i e f - F o r m (Einkleidung als Brief) S. 158 (T), 159 (T), 170 (T), 173, 220 (T), 232. D a s „ P r i n z i p " (auch jenseits der Poesie) S. 161, (170, 223, 237), 268, 384, 613, 663 (T), 664, 665, 667. D a s „ K o n k r e t e " S. 262, 266, 281, (282), 289, 334, 400, 632, 638. U m w e l t S. 262. A u t o d i d a k t e n t u m S. . . . 251, 265, . . . 618, 619, 623, 624, 645, 647, 650, 654. D i l e t t a n t e n t u m (und Dilettantismus) S. 80, 95, 126, (225), 535. (623), 695. V i r t u o s e n t u m S. 9, 1 1 7 , 1 1 8 , 125, 242, (250), 283, 284, 370, 371, 467· E p i g o n e n t u m S. 258, 292, 358, 530, 533, 534 (T), 669. O r i g i n a l i t ä t S. 54, 68, 69, 118, 168, 377, 425, 426, 539, 602, 619, 625. T o t a l i t ä t S. 204, 274, 365, 372, (376), 379. H u m a n i t ä t S. 73, 1 2 1 , 122, 137, 150, 152, 159, (321), 322, 483, 522, 523, 525, 643, 646, 682. 47

M a r k w a r d t , Poetik IV

738

V E R Z E I C H N I S D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

Kunstfertigkeit, Kunstgewerbe, Kunsthandwerk (und Handwerk) S. 125, 126, 138, 188, 192, 202, 290, 298, 359, 371. 535. 564· „ P u p p e n s p i e l " - S y m b o l S. 2 1 1 , 213, 274, (297), 579. „ V e h i k e l " S. 277, 363, 374. G r a z i e S. 169, 198 (T), (220), 421, 549, (580). S c h ö n e S e e l e S. 379, 549, 551. D a s C h a r a k t e r i s t i s c h e S. 1 1 1 , 288, 359, 555/56, 665, (684). Der „poetische Glaube", Kunstfrömmigkeit, „Kunstr e l i g i o n " S. 185, 227, 388. „Zeitatmosphäre", Z e i t g e i s t (Epochen-Charakter) S. 179, 180, 185, 242, 277, 286, 324, (334), 374, 375, 382, 383, 384, 606, 668 (T), 683. D e r „ I m p e r a t i v " (ethischer und ästhetischer) S. 228, 282, 428, 429, 666. K o n s t a n z (der Stimmung oder des Charakters) S. 283, 376. E m o t i o n s t h e o r i e (und das Emotionale) S. 30, (44, 100), 152/53, 178/79, 219/20, 231, 232, 302, 380. D a s E r h a b e n e S. 103 ,(104), 108 (T), 128, (136), 431, 494, 540 (T), 555. 579· K u n s t a l s „ Q u i e t i v " S. 13, 24, 25, 422, 524, 655. K u n s t g e s p r ä c h S. 174, 209, 351, 561, 596, 597, 599, 662, 686. U m w e l t , M i l i e u (Lebenskreis) S. 63, 189, 262, 472, 544. L i t e r a t u r g e s c h i c h t e S. (80), 109, 115, (134, 138), 167 (T), 174, 183 (T), 234, 341. 486/87, 492, (508), 603, 663 (T), 669 (T), 676, 691, 695. „ E n d e d e r K u n s t p e r i o d e " S. 1, 2, 8, 12, 13, 14, 15, 82, 147, 161, 174, 181, 258, 442, 527. „ S t i l " - B e g r i f f (allgemein, jenseits des Sprachstils) S. 513, 519, 552/53· E n t w i c k l u n g s g e d a n k e S. 17, 277, 278, 362, 447, 450, 451, 507, 603, 604. d e d u k t i v / i n d u k t i v S. 37, . . . 262, 263, 274, 290, 295, 338, 368, 505, 506. M i t l e i d S. 30, 131, 279, 614, 637. P a n t r a g i s m u s S. . . . 270, 272, 273, 280, 287, 449, 624. S p r i c h w o r t S. 462, 463, 491. D a s D ä m o n i s c h e S. 86, 92, 110, 323, 420. D a s P a t h o l o g i s c h e S. 92, 321, 472, 473, 564. D a s T r a u m h a f t e (und Verträumte, der Traum) S. 46, 76, 77, 143, 148, 173, 174, 176, 189, 218, 244, 302, 380, 422, 618. D a s P s y c h o l o g i s c h e (Psychologie) S. 135, 137, 287, 289, (294), 354. 5o8, 543. 564, (614). 668. P s y c h o a n a l y s e S. 174, 582/83.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

739

D a s B e w u ß t e u n d U n b e w u ß t e S. 46, 125, 141, 162, 167, 213, 240, 280/81,

288.

D a s I n t u i t i v e (Intuition, „Einfall") S. 122, 126, 187, 241, 299, 541, 586, 681. D a s V i s i o n ä r e (Vision, innere Sicht) S. 13, 92, 144, 241. D a s D y n a m i s c h e (Dynamik) S. 188, 271, 274, 280, 427, D a s „ H e r z " (gefühlsmäßige Spontaneität) S. 157, 177, 178, 219, 220, 225, 228, 231, 232, 283, 380, 381, (382), 680/81, 6 8 5 ,

297, 565. 204, 531,

687.

D a s „ E c h t e " S. 76, 79, 84, 144, 211, 213, 228, 353, 389, 437, 440, 444, 445, 603, 604, 6 8 1 . D a s U r s p r ü n g l i c h e (und Unmittelbare) S. 86, 276, 286, 289, 320, 3 9 1 , 392, 393. D a s O r g a n i s c h e (Organismusgedanke) S. 4, 15, 117, (118), 176, 200/01, 278, (281), 307 (philosophisch), 392, 534, 586, 603, 604. „ R e i z " - S z e n e (erstes Kristallisationszentrum) S. 81, 288, 360, 361, 405. „ W e n d e p u n k t " S. 395, 403. D a s „ S p e z i f i s c h e " S. 399, 402/03, 403, 404. D i e „ S i t u a t i o n " S. . . . 288, 289,369,389,396,400 (T), 401, 613. D i e „ P e r s p e k t i v e " (das „Perspektivische") S. 400, 693. „ K o n t u r " S. 78, 392, 689. „ E p i s o d e " S. 199, 401, 696. R a i s o n n e u r , R a i s o n n e m e n t S. 366, 401. D i e „ F a b e l " (Begebenheit, Geschehen) S. . . . 288, 368, 403, (538), 638. R ü h r u n g u n d E r s c h ü t t e r u n g S. 278, 279, 458, 467/68, 470, 471. 474· K l a r h e i t , „ H e i t e r k e i t " S. 55, 70, 83, 108, 283, 325, 380, 428, 435. 647. D a s H e r o i s c h e S. 34, (72), 272, 423/24, 425/26, (434), 614, 615. D u a l i s m u s S. 273, 450, 624.

47'

Verzeichnis der Namen (Namen moderner Forscher sind — in Abweichung von Band III — auch dann nicht einbezogen worden, wenn sie im darstellenden Text erwähnt wurden. Nur Verfasser von Poetiken usw. mußten schon mit Rücksicht auf den Exkurs zur fachwissenschaftlichen Poetik genannt werden. Vornamen werden nur in Zweifelsfällen angedeutet. Die über 416 hinausgehenden Zahlen betreffen die Exkurse und Anmerkungen. Dieses Register wurde — wie schon das in Band III — von I n g e S c h w e l g e n g r ä b e r betreut.) Aischylos 154, 350 Alberti, Konrad 678 Alexis, Willib. 193, 330, 381, 383 (T), 384. 693 Ambros, A. W. 656 Anakreon 543 Andersen, H. Chr. 330 Anzengruber 6 1 1 , 681 Arent, Wilh. 593 Ariost 362, 4 1 1 Aristophanes (78), 226, 350, 408, 579, 580, 647 Aristoteles 130 (T), 131, 277, 488, 492, 499 (T), 500, 502, 504, 506, 507, 516, 681 Arnal, Etienne 169 Arndt, Ε. M. 154, 234, 527, 574, 679 Arnim, Achim v. 224 (T), 225, 234, 243. 533 Arnim, Bettina v. 73, 243 Arnswald, Aug. v. 91 Auber 159, 348 Auerbach 98, 252, 291, 313, 318, 319—24, 326, 370, 634, 635, 648/49, 665, 693 Bachaumont 581 Bachmayr 318 Bahr, Herrn. 5 Bakunin, Mich. 309, 659 Balde, Jac. 198 Balzac 236 Bamberger, F. 619 Bardi, Graf 656 Barlach, Ernst 19, 20

Batteux 178 Baudissin, Wolf Graf v. 356 Baumgart, Herrn. 487,498—504, 615 Baumgarten, G. A. 39, 106, 115, 152, 182, 496, 506 Bayle, Pierre 306 (T) Bazard 596 Beck, Karl 224, 227, 248, 602 Beer, Mich. 167 Beethoven 347 (T), 348 Belinski, Wissarion 574 Bellini 351 Benn, Gottfr. 12, 331, 436, 437, 528, 580 B^ranger, Pierre Jean de 219, 221, 235. 236 Berger, Erich v. 585 Bergson, Henri 516 Bernard, J. C. 427 Bernatzki 404 Bernays, Jak. 130/31, 502, 563 Bernhardi, A. F. 402 Binzer, Aug. v. 571 Birch-Pfeiffer 696 Blankenburg 361, 369, 396, 533 Bleibtreu, Karl 123, 183, 206, 398, 678 Boccaccio 399, 402, 403 Bodenstedt, Friedr. 559, 696 Böhme, Jak. 154 Bölsche, Wilh. 195, 378, 499 Börne, Ludwig 72, 155, 156—60, 170, 174, 183, 184, 187, 193, 205, 207, 208, 217, 219, 223, 466, 567, 568, 570, 571—73, 575. 577. 579

VERZEICHNIS DER NAMEN

Böttger 219 Bouterwek 37, 40, 55, 152, 423, 486, 519, 520, 527, 528 Brahm, Otto 378, 486, 648, 678 Brämer, C. F. 168 Brecht, Bertolt 4, 10, 1 1 , 12, 130,

741

Cooper, J . F. 675 Corneille 33, 196, 647 Cornelius, Peter 234, 561 (T), 698 Cotta 156 Cousin, Victor 439 Cremer (Prof.) 580

1 7 1 , 506, 580

Breitinger 77, 138, 318 Brenner 100 Brentano, Cl. 216, 252, 423, 591 Brinckman, John 555, 6 1 1 Brinkmann, H. 689 Broch, Herrn. 4, 19 Brockes, Β. H. 96, 104, 429,431,551 Brunner, A. 675 Bruno, Giordano 266, 516 Buchan, Bertha v. 688 Büchner, Georg 12, 33, 35, 73, 74, 150, 152, 155, 168, 206, 207—17, 2 1 7 (T), 218, 219, 221, 222, 223, 225, 226, 255, 256, 257, 279, 354, 426, 432, 441, 513, 522, 524, 530,

535. 583. 59°. 595—601, 651, 660, 665 Bulwer, Edw. 347, 408 Burckhardt, Jak. 123, 134, 644 Bürger, G. A. 98, 116, 184, 208, 235, 322, 454, 469, 5 0 1

Burgmüller, Norb. 74 Burke, Edm. 596 Burns, Rob. 224 (Τ) Byron 30, 76, 160, 219, 224, 286, 437. 438, 441. 5 ° o , (681), 697

Calderon 44, 46, 66, 71, 156, 423, 525 Camoens (Camöes) 239, 264 Carrifere, Moriz 98, 105, 113—24, 125, 126, 127, 128, 134, 327, 488,

557 Cassius Dio (vgl. Dio Cassius) Cervantes 136, 166, 254, 403, 439, 533 Chamisso 236, 238, 243, 249, 589, 607, 608

Chapelle 581 Claudius 390 (T) Clostermeier 74, 425 Coligny 137 Conradi, H. 678

Daguerre 91, 540 Dahn 414, 565 Dante 140, 141, 236, 362 Darwin 507 Daudet 326, 371 Daumer, Georg Friedr. 306 Dehmel, Rieh. 444, 691 Devrient, Eduard 353, 360, 453, 636

Devrient, Emil 636 Dickens, Ch. 236, 379, 664, 666, 667, 670, 679

Diderot 158, 613 Dilthey, Wilh. 486, 487, 515, 661, 672

Dingelstedt 286 Dio Cassius 408 Döblin, Alfr. 20 Dostojewski 301, 564 Dößekel, E. 312 Droste-Hülshoff, A. v. 19, 21, 78, 80, 82, 89, 90—96,155,193. 243, 249, 418, 438, 442, 529, 535.

543—45, 563, 583, 609, 610 Duller, Eduard 208, 238, 242 Dumas, Alexandre 169 Dumas fils, Alexandre 668

540,

Ebers, Georg 394, 414 Echtermeyer, Theod. 207, 308 Eckermann 650 Eggers, Friedr. 689, 691 Eichendorff, J. v. 6, 7, 105, 185, 243, 397. 438, 465. 484. 559 Eichendorff, Louise v. 105 Eliot, George 376 Elster, E. 580 Ems, Rud. v. 354 Enfantin, Prosper 150, 596 Engel, J. J. 460 Engels, Friedr., 17, 174, 254, 309, 57°. 599, 607, 695

742

VERZEICHNIS DER NAMEN

Enghaus, Christine 4 4 5 Enk, Michael 4 0 5 , 4 8 8 Erigena, Joh. Scotus 5 1 6 Ernst, Paul 1 0 , 11, 1 3 , 1 3 2 , 134, 204, 336, 454,

Garve, Chr. 3 0 , 1 x 9 , 3 3 9 , 5 0 0 , 5 2 8 ' 648

133,

133. r38. 223, 245, 378, 381, 391, 3 9 2 , 4 0 3 , 4 3 0 , 4 8 4 , 4 9 4 . 558, 5 6 0 . 561, 562, 696

456

Eschenburg 4 0 2 Euripides 4 4 (Τ), 1 5 4 , 522 Fechner, G. Th. 5 0 3 Feuchtersieben, E. v. 6 3 4 Feuerbach, Anselm 3 0 5 Feuerbach, Ludw. 6 , 2 1 , 1 7 4 (T), 1 7 5 , 2 1 9 , 2 3 6 (T), 2 5 7 , 302—311, 312. 313. 349. 353. 4 2 2 , 430. 458, 459, 4 6 0 , 4 6 1 , 4 6 3 , 4 6 5 , 5 1 6 , 5 5 0 , 5 8 0 , 5 8 4 , 6 0 8 , ( 6 1 2 ) , 6 2 5 , 639, 641, 643, 644, 656, 659

Fichte 2 3 , 1 1 4 , 2 3 3 , 4 5 9 , 5 1 6 , 5 8 5 Fielding 6 6 7 Folien, K. 2 5 5 , 3 0 6 Fontane, Theodor 11,12,67,99,123, 132, 257, 258, 259, 329, 335, 336,

3 6 3 , 3 7 2 , 377—86, 4 1 7 , 4 3 8 , 457. 4 5 8 . 4 6 3 . 466—78, 4 7 7 ( T ) , 4 8 2 , 486,

555,

601,

653,

654,

665,

6 6 7 , 677—87 Förster, Georg 1 4 9 , 1 5 0 , 1 5 3 , 1 5 5 , 193 Fouqu6, Friedr. Baron de la Motte 245. 496, 5 8 1 , 6 6 0 France, Anatol 4 6 2 F r a n c i s , Luise v. 1 3 7 , 1 4 0 , 1 4 1 Franzos, Κ. E. 3 9 7 Freiligrath, Ferd. 6 , 1 4 7 , 1 7 3 , 2 0 7 , 227

(T), 242, 243, 245

(T),

247—53, 2 5 4 , 2 5 5 , 3 0 6 , 3 1 6 , 5 5 9 , 5 6 0 , 5 7 4 , 606/07, 6 0 8 Frenssen, Gustav 6 7 4 Frenzel, Karl 2 3 4 , 6 8 1 Freud, Sigmund 5 8 2 Freytag, Gustav 11, 1 1 2 , 2 5 9 , 3 3 2 , 3 3 6 , 356—63, 3 7 7 , 3 8 0 , 3 8 1 , 3 8 2 , 3 8 4 , 3 8 5 , 4 6 9 , 4 8 8 , 4 9 9 , 661—63, 6 6 4 — 6 6 , 669—71, 6 7 7 , 6 9 6 , 6 9 7 Gagliano, Marco da 6 5 6 Galilei, Vincenzo 6 5 6 Gans, E. 5 8 7

Geibel, Emanuel 5 6 , 9 9 , 1 1 4 , 1 2 2 , 1 2 3 , 1 2 4 , 1 2 5 , 1 2 6 , 127—31, 1 3 2 ,

Geliert 1 5 0 , 4 3 3 , 5 0 3 Gentz, Friedr. v. 5 9 6 Georg v. Meiningen (Herzog) 4 1 3 George, Stefan 4 , 9 , 1 2 , 1 3 , 2 0 , 2 6 4 , 486, 494, 530, 564, 686, 691

Gerstenberg 6 3 Gervinus 6 9 5 Geßner, Salomon 2 6 2 , 2 6 3 , 4 3 1 , Gietmann, Gerhard 6 7 4 Gluck, Willib. 3 5 , 5 3 , 3 4 1 , 3 4 8 , Goethe 2, 5 , 1 2 , 2 9 , 3 0 , 3 1 , 3 3 , 4 1 , 54. 57 (T), 58. 6 2 , 6 6 , 6 9 . 7 3

551 349 47,

(T), 77, 8 1 — 8 3 , 86, 88, 89, 96, 99, i n , 112, 114, 115, 116, 119, 1 2 9 — 3 1 .

1 3 7 , 1 4 4 , 1 4 7 , 1 5 4 , 157—59. 1 6 1 , 164, 182, 192, 227, 266,

166, 183, 194, 243, 274,

169, 174, 185, 186 195, 199, 244, 256, 281, 285,

176, (T), 211, 258, 286,

178, 179, 187 (T). 212, 224, 262—64, 290, 293,

329. 331—33. 34 1 · 358, 362, 364. 368, 380, 384, 385, 395, 403, 406. 408, 418, 420, 421, 428, 4 3 1 — 3 3 , 435. 438. 439, 459. 465. 468, 4 8 1 , 4 8 9 . 491. 493. 499 (T), 500. 5°2,

53. 5°9. 516, 5 j 8 . 5 r 9 . 522, 5 2 6 , 5 2 7 , 5 3 2 , 5 3 6 (T), 537, 547. 548. 55°. 5 6 9 , 570. 572—74, 5 7 5 , 5 7 9 , 5 8 1 , 5 8 2 ,

525. 542.

571. 587,

590, 613, 619, 626, 650, 667

Goeze 4 7 , 5 0 3 , 6 4 7 Goldoni, Carlo 171 Goldsmith, Oliver 3 3 1 , 6 6 6 Görres, J. 5 7 4 , 6 1 8 , 6 4 2 Gotthelf, Jeremias 3 1 3 ( T ) , 3 1 4 ( T ) , 3 1 6 (T), 318, 324, 325, 327, 428, 545. 574. 6 l ° . 6 35. 6 4 2 , 6 4 3 , 6 6 8

Gottschall, Rud. v. 2 4 1 , 2 4 2 , 327/28, 455. 488, 695,

696

Gottsched 4 3 , 1 6 0 , 2 2 2 , 3 2 3 , 3 2 7 , 362, 493. 573.

590

Gozzi, Carlo 1 7 1 , 3 4 7

VERZEICHNIS DER NAMEN Grabbe, Chr. D. 12, 17, 33, 35, 56, 66, 67—74, 104, 139, 147, 155, 194. *97. 2I 3> 214. 2I 5< 216, 249. 25 1 . 253, 255.269,293,342,349, 417, 423—28, 434, 454. 498, 513. 524. 53°. 534. 535. 536—39, 574. 581. 583. 590, 600, 615, 6x8, 651, 659 Gregorovius, Ferd. 408—10, 4 1 1 , 412, 486, 694 Grillparzer 1 2 , 1 5 , 1 8 , 20—22, 29, 30, 33. 35. 37—54, 55, 62, 82, 197, 215, 417—23, 426, 445, 450, 451/52, 453, 488, 490, 499, 517—26, 623, 639, 651, 652 Grimm, Herman 385, 386 Grimm, Jak. 242, 247, 486, 498, 503, 593. 693 Grosse, Julius 1 2 1 125 133, 560 Groth, Klaus 6 1 1 , 696 Grotius 153 Grün, Anastasius (eig. Alex. v. Aueisperg) 207, 227, 231, 248, 466, 574 Grün, Karl 306 Grün, Th. Ferd. 570 Gryphius, Andr. 48, 96, 425, 533, 581 (T) Gubitz, Anton 73, 310, 3 1 1 Gu&in, Maurice de 238 Gundolf, Friedr. 486 Gutenberg 221 Gutzkow, Karl 18, 73, 119, 165, 167, 183—91, 192, 193, 207, 208, 225, 236. 237. 243, 269, 292, 315, 316, 365. 378, 383, 454. 567. 568, 569, 586, 587—92, 593, 662, 668, 673, 676, 685 Halbe 417 Halövy 50 Hall, Peter Placidus 433, 549 Haller 135 Halm, Friedr. 405 Hamann 114, 147, 493 Hamerling, Rob. 214, 404 Handel, Siegm. v. 99 Händel 348 Häring (vgl. Alexis, Willib.)

743

Harris 299 Hart, Heinr. 672, 673 Hart, Julius 672, 673 Hartmann, Ed. v. 515, 527, 554, 655 Haug 400 Hauptmann, Gerhart 3, 9, 12, 19, 20, 41, 5 0 , 1 1 7 , 249, 413, 420, 519, 537. 593. 685 Hebel, J. P. 318, 319 (T), 320, 322, 494 Hebbel 3, 12, 17, 18, 21, 33, 35, 51, 72. 86, 97, 101, 104, 106, i n , 131 (T), 132, 168, 185, 186, 206, 207, 240, 257, 259, 260, 269, 270—87. 288—90, 292, 293, 295, 297. 326, 329, 354, 365, 396, 401, 417, 420, 422, 423, 426, 430, 431, 434, 445—52, 453, 455, 468, 481, 482, 484, 499, 516, 521, 538, 547, 550. 551. 562 (T), 582, 590, 600, 602, 605, 615—30, 631, 634, 635, 659, 665, 669, 696 Heckenast 99, 102, 105, 434 Hegel 16, 17, 18, 21, 22, 27, 29, 32, 33. 38, 72. 77. 78. 107, 110, 1 1 2 , 114, 118, 126, 147, 162, 163, 166, 167, 174, 175, 184, 186, 187, 192, 196, 198—201, 204, 206, 229, 232, 233, 238, 240, 242, 259, 260—70, 273, 274, 277, 287, 302 (T), 303 (T), 307, 310 (T), 328, 387, 406, 439, 447. 451. 458, 459, 488, 496, 501, 505, 516, 519, 537. 538, 542, 554. 555. 557. 567. 569, 57°. 584, 585—91, 594. 596, 598, 603, 604, 605, 608, 612—15, 618, 619, 621, 622, 624, 625, 626, 628, 631—33, 638, 639 (T), 640, 653—55. 656, 666, 673, 675, 684, 687, 697, 698 Heiberg 271, 272, 273, 274 Heidegger 15 Heine, Amalie 437 Heine, Heinrich 1, 8, 12, 14, 15, 19, 55. 59. 61, 64, 67, 72, 75, 76, 82, 85, 89, 116, 147, 156, 157, 160—75, 179, 183, 186, 196, 198, 205, 206 (T), 207, 208, 214, 222—24, 226 (T), 232, 237, 242,

744

V E R Z E I C H N I S D E R NAMEN

249, 250. 253—55, 257, 283, 305, 3°6. 334. 34 2 . 391. 4 r 7 . 435—45, 466, 467, 469, 484, 489, 499, 522, 524. 527. 53i. 567, 568, 571, 572, 573, 575—84, 577 (Τ), 588, 590, 594, 597, 602, 604, 608, 622, 639, 644, 659, 690, 696 Heine, Therese 437 Heinse, Wilh. 150, 182, 658, 659 Heinzen, Karl 255, 306 Herbart 175 Herder 17, 51, 52, 78, 86, 110, 113, 114, 118, 147, 152, 170, 175, 176, 178, 180, 198, 209, 222, 233, 261, 263, 299, 390, 392, 393. 428, 433. 435. 493. 496, 498, 500, 503, 505, 506, 515, 548, 585, 586, 593. 604. 682, 690 Herwegh 147, 159, 207, 217—38, 239. 241, 242, 243, 247, 249, 251 (T), 252, 253, 302, 305, 407, 466, 601/02, 603, 639 Hesekiel, G. 403, 683 Hesse, Herrn. 4, 20, 429, 523, 696 Heß, Peter 234 Hettner, Herrn. 310, 455, 505, 645 Hetsch, Ludw. 84 Heurteur 51 Heyse, Paul 9, 76, 113, 114, 117, 122, 123, 124—32, 133, 134, 137, 141, 142, 204, 257, 315, 316, 326, 327, 336, 394. 395. 396. 399. 4 ° ° . 402/03, 405, 430, 455, 491, 494, 557—63, 644, 645, 647, 648, 678, 679, 680, 693, 696, 697 Hildebrandt (Maler) 234 Hilscher, Jos. Emanuel 219 Hofer, Andreas 252 Hoffmann, Ε . Τ. Α. 268, 3 ΟΙ > 33°. 347. 348. 351. 355. 399, 435, 454. 455. 4^3, 654. 658 Hoffmann ν. Fallersleben 147, 207, 221, 242—45, 247, 248, 308, 605 Hofmannsthal, Η. v. 9, 10, 11, 12, 19. 51. 84. 547 Hoffmeister 488 Hölderlin 77, 86, 89, 218, 220, 224, 230. 235, 267, 328, 355, 429, 569. 697

Hölty 247, 493 Holz, Arno 7, 290, 387, 388, 436, 438, 487, 501, 651 Homer 30, 221, 364, 367, 368, 386 (T), 408, 409, 410, 498, 509, 563, 647, 652 Hood, Thomas 253 Hopfen 125, 696 Horaz 508 Horn, Daniel Uffo 237 Horn, Franz 427, 581 Hotho, H. G. 233, 240, 587 Houben, Η. H. 568 Houwald, E . v. 29, 185, 272, 581 Hugenberg 413 Hugo, Victor 248, 441, 664, 666 Humboldt, W. v. 38, 111, 112, 114, 119, 262, 363, 364, 365, 369, 370, 372, 374« 386, 493, 532, 569. 672, 673 Hurd 636 Huß 234 Hutten 138 (T), 139, 230 Ibsen 370, 371, 423, 449, 499, 616, 681 Iffland 35, 169, 197, 395 Immermann 57, 59, 61—67, 68, 71, 72, 74, 147, 165, 173, 197, 226, 236, 249, 252, 368, 530—36, 537, 545. 578, 581, 607, 609, 636, 677, 693, 696 Irving, Washington S. 330 Itzstein, v. S. 243 Jacoby, Günther 515 Jaegli, Minna 208, 218 Jahnn, Η. H. 19 Jaspers 15 Jean Paul (Fr. Richter) 40, 55, 82, 95. 96, 97, 98, 99, i n , 112, 114, 171, 175, 179, 184, 202, 205, 224, 225, 232, 233, 236, 298, 329, 330, 367, 429, 431, 433, 457, 458, 465, 467, 491, 494. 5°5. 5 i 8 , 548, 555. 572 (T). 573. 574. 640. 668 Jensen, Doris 397, 688 Jensen, Wilh. 334

VERZEICHNIS DER NAMEN

Joel, Felix 419 Johnson, Samuel 581 Jordan, Wilh. 11, 59, 386—90, 409 Joyce, James 591, 680 Jung, Alex. 567, 568 Junkmann, W. 94

336,

368,

Kafka, Franz 19, 252 Kaiser, Georg 3, 12 Kant 23, 24, 26, 27, 32, 37, 40, 65, 97, 114, 115, 178, 183, 200, 228, 232. 233 (T), 266, 307, 334, 496, 499 (T), 500 (T), 502, 504, 515, 516, 520, 554, 570, 585, 586, 587, 594. 598, 619, 666 Kapp, Christ. 307 Kapp, Johanna 307, 308 Kean, Edm. 169 Keller, Gottfr. 12, 98, 105, 109, 123, 132, 141, 142, 257, 258, 259, 302, 304—308, 310,311—19,324—27, 328. 329, 378, 380. 394. 395. 398, 417, 452, 457 (T), 457—€6, 468—70, 473, 477, 485, 499, 555. 604, 639, 640—48, 653, 678, 680, 696 Kerner, Justinus 440, 484, 581 Kerr, Alfred 362, 487 Kettembeil S. 67, 74 Kielland, A. 378, 380 Kind, Friedr. 53, 57 Kinkel, Gottfr. 218, 410 (T), 410 bis 412 Klages, Ludw. 515 Klee, Gotthold 695 Klee, Julius 695 Kleinpaul(-Langewiesche) 486, 488/ 89 Kleist, Heinr. v. 24, 92, 94, 111, 119, 148, 157, 213, 215, 268, 282 (T), 289, 293, 297, 298, 355, 393, 396, 418, 419, 420, 421, 435, 449, 473, 481, 482, 637, 661, 696, 698 Klingemann 240 Klinger, Fr. M. 400 Klinger, Max 210 Klopstock 87, 223, 227, 328, 353, 354. 355. 431. 434. 494. 574

745

Kolbenheyer 4, 391 König, Heinr. 193 Kopisch 245 Körner, Theod. 239, 282 (T) Kotzebue 35, 58, 265, 395, 401 Kretschmer, E . 135, 564 Kretzer, Max 380, 417 Kröger, Timm 19, 195 Kühne 187, 205, 269, 567, 568, 586, 588, 589 Kurz, Hermann 397, 402, 634, 692—94 Kurz, Isolde 693 Lachmann 516 Lachner, Ignaz 84 Lamennais, F61icitö de 237. 238, 439. 659 La Mettrie 307 Lamprecht 604 Langewiesche (vgl. Kleinpaul) Lassalle 227, 669 Laßberg, Frhr. v. 90 Laube, Heinr. 30, 154, 165, 183, 186, 187, 191—97, 363. 455, 567. 568, 592—94, 658, 659, 660, 676 Lavater 147, 308 Leibniz 17, 22, 266, 272, 306 Leisewitz 235 Lemaitre, Fr£d£ric 169 Lenau 227, 231, 243, 407, 643, 644 Lensing, Elise 445 Lenz 30, 210, 2 i i , 212, 255, 596, 597 Leroux, Pierre 439 Lessing, G. E . 15, 24, 30, 33, 34, 39, 47. 49. 52, 53. 101, 114, 122, 130, 142, 180, 209, 222, 223, 227, 265, 271, 277, 279, 290, 297, 299, 339, 364, 368, 388, 399, 406, 410, 418, 426, 429, 433, 466, 475, 488, 495, 496, 499 (T), 5°o. 502, 503, 504, 5°6, 507. 508, 509, 510, 531, 571, 581, 586, 587, 590, 613, 627, 637, 638, 646, 647, 648, 650, 657, 658, 663 (T), 681, 682 Lessing, Karl Friedr. 234 Leuthold, Heinr. 124, 125, 128, 143 315 (T), 560, 561 Lewald, Aug. 169, 173, 232

746

VERZEICHNIS DER NAMEN

Lewald, Fanny 126, 128, 562 Lewin, Rahel 223 Lichnowski, Felix 254 Lichtenberg 76, 78, 107 Lienhard, Friedr. 19, 133 Liliencron 80, 81, 95, 486, 564, 691 Linn£ 71 Lindau, Paul 380, 381, 383, 385, 408 Lindau, Rudolf 385 Linde, Otto zur 19, 163, 165, 438, 529. (561) Lingg, Hermann 125, 133, 137, 142, 559. 560, 565, 696

Liszt 219, 230 Logau 465 Lombroso 28, 508, 510 Lortzing 72 Louvet 254 Lublinski, Samuel 5, 14, 208 Ludwig, Otto 12, 68, 97, 106, 142, 1 9 3 , 2 0 7 , 257, 2 5 8 , 2 8 7 — 3 0 2 , 3 1 1 , 3 1 2 . 3 1 3 . 3 1 5 . 326, 3 2 7 , 328, 330,

334. 335. 372. 417. 425. 452—57, 479, 481, 556, 608, 609, 6 1 0 , 628,

630—39, 641, 645, 665, 667 (T), 668, 669, 670, 6 7 1 , 696

Luther 155, 175, 278 Lützow, Elise v. 532 Macaulay 386, 405, 696 Malibran (Schauspielerin) 159 Mann, Heinrich 12, 228 Mann, Thomas 4, 12, 15, 88, 436, 457. 463, 467. 469. 47°. 471. 473—7 8 . 484—86, 523. 526, 529, 5 6 1 , 618, 682

Marggraf, H. 585 Marivaux 137 Marr, Wilh. 306 Marryat 462, 675 Marx, Karl 17, 175, 254, 309, 439, 577. 578. 579, 584. 599, 600, 622 Matthisson 12, 119, 493 Maudsley 508 Maximilian II. 113, 132, 559 May, Karl 606, 675 Mayer, Karl 75 Mendelssohn, Moses 40, 107

Mendelssohn-Bartholdy, Felix 452 Menzel, W. 158, 167, 174, 183, 184, 193, 567. 568 (T), 57°. 571.572, 573—75, 579, 587 Mercier, L. S. 2 1 1 Μέήηιέβ, Prosper 563 Merkel, Garlieb 574 Metternich 432 Meyer, C. F. 88, 134—45, 218, 230, 257, 404, 410, 4 1 1 , 468, 469, 470,

485, 564/65, 642 Meyer, R. M. 505 Meyerbeer 50, 348 (Τ), 349 Meyr, Melchior 561 Mickiewitz, Adam 224 Miegel, Agnes 438, 442, 529 Mignet 216 Milton 144 (Τ) Möcke, Julius 240 Moltere 237 Mombert 438 Mommsen, Theod. 400 Mommsen, Tycho 400, 404 Montesquieu 55 Moore, Thomas 252 Moreau 508

Mörike, Eduard 12, 19, 21, 74, 75—90, 96, 102, 106, 107, 108, 1 2 3 , 1 3 1 , 1 3 3 , 1 5 5 , 168, 169, 230, 396, 397. 43°. 435, 465. 468, 484.

485. 513. 528, 539—43, 556, 557. 692, 694

Mörike, Marg. 79 Moritz, K. Phil. 12, 40, 83, 110, 167, 194, 2 8 1 , 532, 542, 569

Mosen 227 Moser, Justus 69 Mozart 53, 84 (T), 85 (T), 88 (T), 348, 349, 484 (T). 543 (T) Münchhausen, Börnes v. 438 Mündt, Theod. 146, 183, 186, 187, 197—206, 207, 243, 269, 362, 375, 567. 568, 588, 589, 594/95 Müller, Adam 148, 527, 596, 694 Müller, Friedr. (Maler M.) 168 Müller, Wilh. 437, 438, 440 Müllner, Adolph 29, 53, 60, 62, 69, 98, 185, 272, 488, 5 8 1

747

VERZEICHNIS DER NAMEN

Musil, R o b . 4, 19, 20, 77, 132,

487.

Prölß,

Rob. 495—98,

Prutz,

528 Musset,

Alfred de

160,

216

Rob.

232,

Pückler-Muskau 579

Pustkuchen

N i e t z s c h e 13, 14, 15, 18, 19, 20, 21, 23, 24, 36, 86, i 8 I , 212, 263, 302, 34°. 349. 515. 516. Novalis

(Hardenberg,

689 F r . v.)

154. 328. 331. 547. 574. Oberlin

159, 220,

223

J . F . W . 536,

574

108,

591

555, 610, 6 4 9 — 5 4 , Rabelais

254

Rabener,

Wilh. 462

Rachel

F61ix, E l i s a

Racine

160,

Ramler

G. 370

Ompteda,

Raumer,

58

Ortlepp, Ossian

Ernst

658

Chr. 454,

631

50

196, 341,

522, 524,

308,

647

525

516

F r i e d r . v . 44, 72, 159,

425

R a u p a c h , E r n s t 35, 66, 71, 72,

171,

205,

262

683

122

Ranke

Georg v. 675

328—35,

457. 458, 460. 4 6 8 . 469. 470, 499.

Raimund

597

Ohnet,

R a a b e , W i l h . 37, 257, 259,

Olfers, Marie v. 370

Otto,

690

522

Nicolai, Friedr. 4 8 , 1 1 4 , 1 5 7 , 1 9 9 , 669

Opitz

602—05,

605/06, 629, 640, 646,

N a p o l e o n 5, 2 3 0 , 3 4 0 , 4 2 2 , 4 2 5 , Nestroy

(585) 487,

538

Reade,

Charles

Recke,

Elisab. v. d. 154

664

Rehfues, Phil. Jos. v. 193 Paganini Paoli,

160

Betty

Pannwitz, Paulsen

137

R u d . 19,

20

252 263,

305,

P f a u , L u d w . 310,

Joh. Gustav

Reinhold

Petersen, Wilh. 404 Petrarca

Georg

Reinbeck, Reinhardt,

R u d . 20

Pestalozzi

Reinbeck,

629

Renan,

Ernest

Chr. 254

Riedel,

567

L u d w . 85 Fr. Justus

116,

118,

121, 122,

123,

124, 126, 128, 147, 161, 165, 173, 187, 197, 218, 2 2 0 2 2 4 (T),

230,

232 (T), 235, 283, 284, 316,

489,

693, 694,

553.

(28),

30

(T),

295. 365. 392, 516408

Poe, Ε . A. 301,

(31),

608

228,

372

Joh. G. 528 690

Pringles, T h o m a s

Ernst

Röckel,

102

Friedr. 658 Aug. 659

Rodenberg, Rodin

144

696

691

Rochlitz,

694

Julius

136, 383,

392

12

Rolland,

Romain

Rosegger

404,

214

611

R o s e n k r a n z , K a r l 78, H O , m , 236, 555, 585,

248

581

R i l k e 11, 12, 19, 82, 84, 9 6 , 476, 5 4 7 ,

560, 581, 629, 646,

Preller

515,

401, 4 0 5 — 0 8 , 412, 414, 480, 673,

Ritter,

Prändel,

496,

Riehl, W . H . 241, 263, 269, 311, 333,

494, 522, 5 2 6 — 3 0 , 531. 532. 537.

Poggio,

26/27,

Riegl, Alois 26, 552,

P l a t e n , Aug. Graf v. 5 4 — 6 1 , 62, 65,

Plinius

137

57°

Pinder, M. 402

27,

172

670

Pichler, A u g . 72

Piaton

400—02

401

R e u t e r , F r i t z 243, 375, 458, 555, 611,

311

Richter,

68, 98,

50,

336,

585

Reuter,

Pfizer, G. 75 Pierson

Max

132,

R o s s i n i 5 2 (T)

614

233,

748

VERZEICHNIS D E R NAMEN

Röttger,

Karl

587, 603, 613, 622, 644, 646,

20

Rötscher, F r . T h . 582, 619, 625, Rousseau

150,

154,

626 283,

495. 5°3. 527. 528. 539, 54°. Elise

58i

91

309,

639/40, Runkel,

Sachs,

439,

Hans

265

Saint-Simon

150,

Salis

579,

625,

559,

Albr. 11,

Schaukai

19

171),

596

305,

605

237

168,

121,

123,

560 13,

169 696

169 198,

200, 201, 206, 267, 274, 287,

293,

295, 449, 459, 514, 516, 527.

544,

585, 586, 603, 604, 605, 608,

609,

615, 618, 619, 625, 628, 632,

633,

684 Wilh. 486, 510,

487,

489,

498,

648

Schiller 12, 23, 24, 33, 37, 38, 48,

54,

58, 59, 62, 70, 73, 86, 94, 97,

98,

i n ,

6

77>

693,

Schnitzler,

181,

308

399,

112,

114—16,

119, 148, 150, 152, 154, 157,

158,

161, 164, 169, 175, 177, 178,

181,

183, 198, 200, 201, 208, 210,

211,

212, 216, 222, 223, 227, 228,

232,

(T), 256, 281, 285, 286,

290,

291, 292, 293, 296, 297, 313,

314,

317, 322, 325, 341« 342, 349,

352,

353, 355, 406, 413, 4 i 8 > 421,

424,

118,

695,

696,

Arthur

22—37,

13,

46,

697

10,

Wilh. v. 133,

11,

471

629

15,

167,

16,

229,

18, 257,

21, 265,

272, 278, 302, 3 2 8 — 3 0 , 332,

353,

386,

508,

421,

422,

458,

459,

5 1 4 — 1 7 , 5 1 8 — 2 0 , 521, 525,

596,

619,

623/24,

654,

655,

656,

Schreyer,

Schelling 65, 175, 178, 181, 182,

233

175,

394,

Julian

Schopenhauer

596

486

104,

116,

Erich

Schmidt,

Scholz,

Scheffel, Viktor v. 125, 259, 438,

103,

348,

670,

Schaeffer,

99,

295,

431,

516,

504—509,

170,

581

282, 287,

242,

Scherer,

Joh. Elias

580,

487, 609, 632, 634, 663—69,

(160,

S c h a c k , Graf 56, 113, 114,

638,

Schlegel,

486,

224 (T),

Karl

370,

404,

661

Scheffler,

260,

692

Franz

Ary

148,

Schmidt,

George

Scheffer,

87,

532

685

Sand,

136,

F r . 13,

178,

684

Schienther, P a u l 486, 681,

Saran,

124,

160,

Schleiermacher

Friedr. v. 238—42,

Savigny

148,

659

493

Sallet,

A. W . 35,

Schlegel,

661,

(T)

71

656,

Martin

578,

692

295, 437- 488, 532, 581, 436,

R ü g e , Arnold 206, 207, 233, 243, 306, 308,

664,

Schlegel,

343

R ü c k e r t 58, 242, 244, 2 4 5 — 4 7 , Rüdiger,

662,

626,

651,

675

Lothar

Schreyvogel,

649,

510

J . 51,

Schröder-Devrient

418, 159,

453 351

Schücking, L e v i n 91, 93, 94, 95, 236,

248,

249,

193,

251

Schubart,

Chr. D . 341,

Schubert,

Gotth.

435

Heinr. v.

76,

267,

S c h w a b 249, 250, 253, 400, 500,

589,

625 Schurz,

Carl

410,

643

607 S c h w i n d 8 0 (T), 81, 85, 168, 230, 540, 541 S c o t t , W a l t e r 44, 191, 234, 334,

362,

382, 383, 490, 533, 534, 664,

667,

675,

683,

693

Scribe

159,

160

Seume

147,

148—55,

Shaftesbury

150

Shakespeare

33,

41,

249 46,

50,

54,

67 (T), 68, 69, 70, 73 (X), 78,

66, 109,

425, 427, 431, 433, 454, 455,

469,

III, 1 1 8 , 1 9 6 , 2 1 2 , 2 2 5 , 2 4 1 ,

263,

488,

5

oo,

290, 2gl, 292, 293, 296, 298,

300,

501—04, 509, 521—23, 532,

537,

30I, 329, 332, 334, 34I, 342,

352,

539, 569, 572, 573, 574, 582,

586,

385, 4

454.

489,

493,

494,

499,

Q I

,

424, 427. 453

(T),

VERZEICHNIS D E R NAMEN

455. 489. 534. 537. 538, 539. 556 (Τ), 580, 5 8 ι (Τ), 6ο8 (Τ), 6 3 Ι (Τ), 6 3 6 , 6 3 7 , 647. 666, 6 8 5 ,

6 9 2 (Τ) Shaw 478 Shelley 227 Simrock, Κ. 354 Solger 114. 175. 198, 260, 261, 274. 295, 486, 619, 626, 628, 632, 633, 634 Sonnleithner 419 Sophokles 33, 49, 62 (Τ), 350, 408, 504. 534 (Τ), 537 (Τ), 6 8 4 Spalding 308 Spielhagen, Fr. 11, 100, 200, 259, 33o. 336, 363—77, 385, 509, 563, 664, 671—77 Spinoza 40, 2 1 7 Spitteier, Carl 12, 336 Spitzweg 329 Spohr, Ludw. 349, 427 Sprickmann, Ant. Matth. 92 Stael, Madame de 439 Stadler, Ernst 12 Stahr, Adolf 583 Stern, Adolf 635 Sterne, L. 149, 367, 650 Stieglitz, Charlotte 198 Stifter 19, 20, 82, 87, 96—106, 119, 3M. 319, 324. 325. 380, 417, 418, 420, 428—35, 474, 513. 535. 542. 543, 545—53, 563, 580, 620 Stilling, Heinr. 252 Stolberg, L. v. 12, 250, 438 Storm, Constanze 689 Storm, Gertrud 688, 689 Storm, Theod. n , 12, 79, 80, 88,123, 132, 142, 143, 144, 244, 257, 258, 336, 390—400, 402, 403, 404/05, 417. 435. 440, 457. 465, 469, 470. 475, 476, 479—86, 499, 540, 601, 642, 653, 679, 680, 687—92 Strachwitz 438 Straube, Heinr. 9 1 Strauß, David Fr. 6, 84, 108, 173, 233, 238, 240, 656 Strauß u. Torney, Lulu v. 442 Strindberg, Aug. 19, 448, 537, 616, 651

749

Sudermann 190, 417, 460 Sulzer 77, 106, 153, 201, 267, 318, 539. 540, 570 Taglioni (Tänzerin) 160 Talma 50, 169 Tasso 263 Thackeray, W. M. 330, 666 Theokrit 543 (T) Thielmann, Frau v. 544 Thierry, Augustin 135, 136 Thiers 2 1 6 Thörring 106 Thorwaldsen 502 Tieck 68, 74, 108, 194, 234, 260, 301, 395. 403, 439. 491, 493. 539, 544. 574, 632, 658, 681 Treitschke, H. v. 414, 515, 669, 695—98 Twain, Mark 462, 463 Uechtritz 234 Uhland 66, 6 7 , 1 8 5 , 1 8 6 (T), 391, 407, 495. 559. 571. 574. 590, 697 Unruh, Fr. v. 12 Utitz, Emil 486 Varnhagen v. Ense, Κ. A. 191, 194, 195. 223. 577 Varnhagen v. Ense, Rahel (vgl. Lewin, Rahel) Vega, Lope de 41, 46, 405 (T), 525 Vernet, Horace 168 Viehoff 488 Vinet, Alexandre 138 (T) Vischer, Fr. Th. 75—79, 81, 83, 89, 97, 105, 106—13, 114, 116, 1 3 1 , 206, 220, 233, 236, 315, 316, 3 1 7 , 327, 400, 488, 489, 496, 539/40, 553—57, 610, 619, 626, 640, 673, 693. 695, 696 Vogel, Emil 656 Vogt, Niklas 427 Volkelt, Joh. 5 1 5 Voltaire 33, 154, 232, 423 Voß, Joh. Heinr. 12, 262, 493, 629, 667 Voßler, Karl 552 Vuillemin, Louis 134, 135, 136

750

VERZEICHNIS DER NAMEN

Wachler, Ernst 35, (630), 655, 657/58 Wackenroder 581, 658 Wackernagel, Wilh. 489—95, 498, 506, 507, 508, 509, 563 Wagner, Joh. Jak. 527, 528, 694 Wagner, Rieh. 11, 50, 51—53, 169, 229, 230, 299, 317, 318, 336, 337—56, 360, 361, 414, 418, 422, 496, 516, 522, 596, 639, 647, 654—60, 662 Walloth 678 Waither v. d. Vogelweide, 166 Wandrey, Conrad 486 Wassermann, J . 11 Weber, C. M. v. 53, 349 Wedekind, Frank 4, 12, 18, 447, 677 Weerth, Georg 252, 253—55, 607/08, 619 Weidig 596 Weigl 419 Weisse, Chr. Herrn. 198, 554 Weitling 254, 659 Welcker 243 Welk, Ehm 683, 684, 685 Werfel 19 Werner, Zacharias 7, 29, 272, 488 Whitman, Walt 438

Wieland 12, 27, 49, 5 1 , 1 0 9 , 1 5 4 , 4 2 1 , 465, 466, 467, 489, 490, 508, 537, 580, 581 Wienbarg, Ludolf 5, 1 1 2 , 114, 148, 152, 156, 175—83, 184—86, 193, 201, 205, 207, 231, 232, 237, 244, 301, 567, 568, 570, 573, 584—87, 676 Wilbrandt, Adolf 408 Wilde, Oscar 530 Wildenbruch, Ernst v. 4 1 1 , 412, 413—16, 454, 637, 670, 694/95 Winckelmann 41, 154, 295, 349, 428, 502. 53°. 532. 569 Wohl, Jeanette 157, 159 Wolf, Fr. Aug. 364 Wolf, Friedr. 427, 432, 447 Wolff, Chr. 1 5 1 Wölfflin, Heinr. 486, 652 Wolfram v. Eschenbach 354 Wolzogen, Ernst v. 378, 679 Worringer, Wilh. 486, 552, 581, 582 Zedlitz, J . Chr. v. 2 1 9 Zola 326, 327, 330, 378, 675, 678 Zschokke, Heinr. 658 Zweig, Arnold 12

Ende 1959 erscheint

WORTE UND WERTE Festschrift B R U N O MARKWARDT zum 60. Geburtstag

herausgegeben von G u s t a v E r d m a n n und A l f o n s E i c h s t a e d t

Unter Mitarbeit von Emst Alker, Freiburg i. Ue. — Paul Bückmann, Köln — Hans-Heinrich Borcherdt, München — Maurice Boucher, Paris — August Closs, Bristol — Herbert Cysarz, München — Torsten Dahlberg, Göteborg — Albert Deblaere, Brüssel — Wilhelm Dobbek, Weimar — Willi Flemming, Mainz — Karl S. Guthke, Berkeley, Calif. — Johannes Erich Heyde, Berlin — Günther Jacoby, Greifswald — Herbert Jhering, Berlin —Johann Knobloch, Innsbruck — Toyotaka Komiya, Tokio — Gerhard Lenssen, Dresden — Jeri Levy, Brünn — Lutz Mackensen, Bremen — Fritz Martini, Stuttgart — Walter Muschg, Basel — Armand Nivelle, Lüttich — Will-Erich Peuckert, Göttingen — Hermann Pongs, Gerlingen/Stuttgart — Waither Rehm, Freiburg i. Br. — Hans Rheinfelder, München — Hans-Friedrich Rosenfeld, München — Joachim Rosteutscher, Kapstadt — Emil Staiger, Zürich — Wolfgang Stammler, Freiburg i. Ue. — Hans Steffen, Paris — Lotte Stembach-Gärtner, Paris — Joachim Storost, Würzburg — Max Wehrli, Zürich — Ren6 Wellek, New Haven, Conn. — Emst G. Wolff, Weiningen/Zürich — Hans M. Wolff, Berkeley, Calif. — und anderen. Groß-Oktav, etwa 400 Seiten, Ganzleinen etwa DM 54,—

WALTER

DE GRUYTER

& CO., B E R L I N

W35

vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbudihandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp.

FRANZ

ANSELM

SCHMITT

STOFF- UND MOTIVGESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR Eine Bibliographie. Begründet von K u r t B a u e r h o r s t Groß-Oktav. X, 210 Seiten. 1959. Ganzleinen DM 35,— Als Ergebnis langjähriger Arbeit legt Franz Anselm S c h m i t t , der Direktor der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe, diese erste vollständige Bibliographie der Stoff- und Motivgeschichte vor, die allein der deutschen Kunstdichtung (Drama, Erzählung, Lyrik) gewidmet ist. Sie versucht mit großer bibliographischer Sorgfalt alle deutschen und ausländischen Monographien und Zeitschriftenaufsätze zur deutschen Literatur zu erfassen, in denen entwicklungsgeschichtlich ein Stoff oder ein Motiv im Werk verschiedener deutscher Dichter oder eines bestimmten Zeltraumes behandelt werden. Die 1932 von Kurt Bauerhorst herausgegebene Bibliographie wurde Titel f ü r Titel überprüft und nach Ausscheidung von Aufsätzen in Tageszeitungen und Beiträgen zur vergleichenden Literaturwissenschaft etwa zur Hälfte übernommen. Mit den neu hinzugekommenen Titeln aus der Zelt vor und nach jener Veröffentlichung ist audi in Anlage und Titeldarbietung ein ganz neues Werk entstanden, wie es in der erstrebten Vollständigkeit nunmehr nur f ü r die deutsche Literaturwissenschaft nachweisbar ist. Das vorliegende bibliographische Nachschlagewerk ist ein ideales Auskunftsmittel. Die thematische Vielseitigkeit des Buches bietet Anregungen zu eigenen neuen Stoff- und motlvgeschichtUchen Gedanken und Arbelten. GERHARD

RUDOLPH

ZUR DICHTERISCHEN WELT ACHIM VON ARNIMS Oktav. VII, 169 Seiten. 1958. DM 16,— (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Begr. von Bernhard ten Brink und Wilhelm Scherer, Neue Folge hrsg. von Hermann Kunisch, Band 1) EMMY

ROSENFELD

FRIEDRICH SPEE VON LANGENFELD E i n e S t i m m e in d e r W ü s t e Mit 25 Abbildungen. X, 399 Seiten. 1958. Ganzleinen DM 45,— (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge Band 2) MARIANNE

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L U D W I G T I E C K , „DER HEILIGE VON DRESDEN" Aus der Frühzeit der deutschen Novelle Etwa 200 Seiten. 1959. Ganzleinen etwa DM 28,— (Im Druck) (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge Band 3) HUGO

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„JOHANN FISCHARTS WERK" Eine Einführung Etwa 150 Seiten. 1959. Ganzleinen etwa DM 14,— (Im Druck) (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Neue Folge Band 4) Unser Auswahlverzeichnis Literaturwissenschaften Sie stets kostenlos bei Ihrem Buchhändler.

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W A L T E R D E G R U Y T E R & CO., B E R L I N W 3 5