Geschichte der deutschen Poetik: Band 5 Das zwanzigste Jahrhundert [1967. Reprint 2014 ed.] 9783110825060, 9783110001693


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German Pages 1032 [1044] Year 1966

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Der „Konsequente" Realismus (Naturalismus)
II. Das Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik
Grund- und Grenzformen
Der Entwicklungsraum George–Hofmannsthal–Rilke
Der Entwicklungsraum Ernst–V. Scholz–Lublinski
Heimatkunst und mundartliche Dichtung
III. Das Wegsuchen zwischen Impressionismus und Expressionismus
IV. Die großen Einzelgänger
Exkurse und Anmerkungen
I. Exkurse zur werkimmanenten Poetik
II. Exkurs zur fachwissenschaftlichen Poetik
III. Anmerkungen
Verzeichnis der Begriffe, Merk- und Kennwörter
Verzeichnis der Namen
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Geschichte der deutschen Poetik: Band 5 Das zwanzigste Jahrhundert [1967. Reprint 2014 ed.]
 9783110825060, 9783110001693

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GESCHICHTE DER DEUTSCHEN POETIK V

GRUNDRISS DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE UNTER M I T W I R K U N G ZAHLREICHER FACHGELEHRTER BEGRÜNDET VON

H E R M A N N PAUL HERAUSGEGEBEN VON

W E R N E R Β ETZ

13/V

BERLIN

W A L T E R DE G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J . TRUBNER — VEIT it COMP.

1967

GESCHICHTE DER DEUTSCHEN POETIK VON

BRUNO M A R K W A R D T EM. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT GREIFSWALD

BAND V DAS ZWANZIGSTE JAHRHUNDERT

BERLIN

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP. 1967

CO Archiv-Nf. 43 05 66/1 — Printed in Germany — Copyright 1%7 by Walter de Gruyter & Co., vuimals G. J. Göschen'schc Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübnet — Veit 4t Comp. — Alle Rechte der Ubersetzung, des Nachdruckes, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. — Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin

VORWORT Z U M F Ü N F T E N BAND Die eigentliche Darstellung der Geschichte der deutschen Poetik schließt mit diesem V. Bande ab, dessen Erscheinen situationsgemäß erheblich verzögert wurde. Soweit möglich, wurden die Literaturangaben in den Anmerkungen noch ergänzt. Als bewährter Mitarbeiter blieb mir Dr. Gustav E r d m a n n erhalten, während Inge S c h w e l g e n g r ä b e r in den späteren Stadien der Arbeit nicht mehr zur Verfügung stand. Hieraus erwuchsen für meine Frau, Irmgard M a r k w a r d t - O e s e r , entsprechend verstärkte Aufgaben. Der vom Verlag bereits angekündigte und vom Verfasser weitgehend geförderte Ergänzungsband über Strukturen und Perspektiven des dichterischen Kunstwollens in der Gegenwart wird sich als selbständige Publikation bei Wahrung des Grundcharakters doch insofern von den Hauptbänden abheben, als der wissenschaftliche Apparat stark reduziert werden kann, wie denn überhaupt das Ideal des Erschöpfenden für zeitnahe Thematik schlechthin undurchführbar bleibt. Stralsund, den 27. Juli 1966 Bruno Markwardt

I N H A L T DES F Ü N F T E N B A N D E S Seite

Vorwort I. Der „konsequente" Realismus (Naturalismus)

V . . . .

ι

II. Das Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik

134

Grund- und Grenzformen Der Entwicklungsraum George — Hofmannsthal — Rilke Der Entwicklungsraum Ernst — v. Scholz — Lublinski Heimatkunst und mundartliche Dichtung

134 196 277 328

III. Das Wegsuchen zwischen Impressionismus und Expressionismus

367

IV. Die großen Einzelgänger (Frank Wedekind — Gerhart Hauptmann — Thomas Mann — Heinrich Mann — Hermann Hesse)

462

Exkurse und Anmerkungen I. Exkurse zur werkimmanenten Poetik II. Exkurs zur fachwissenschaftlichen Poetik

561 670

III. Anmerkungen

706

Verzeichnis der Begriffe, Merk- und Kennwörter

967

Verzeichnis der Namen

1019

I. Der „konsequente" Realismus (Naturalismus) Der N a t u r a l i s m u s a l s „ k o n s e q u e n t e r " R e a l i s m u s setzt in Deutschland nicht mit geschlossener und zielklarer Programmatik ein. Die Bezeichnung „Naturalismus" bzw. Naturalisten war vorerst überwiegend Kampf-Schlagwort der Gegner. Der Frühnaturalismus könnte innerhalb der Programmtheorie noch durchaus als eine neuzeitlich modifizierte Spielart des ideellen Realismus angesehen werden. In Frankreich hatte E m i l e Z o l a in seiner Abhandlungsreihe „Le roman experimental" (1880) festere Grundlagen zu schaffen gesucht, wesentlich gefördert durch die M i l i e u - L e h r e von H i p p o l y t e T a i n e . Die revoltierende Generation in Deutschland dagegen empfand sich anfangs überwiegend als Trägerin einer neuen Geniezeit. Sie prägte für ihr neuartiges Wollen die Kennworte „die Jüngstdeutschen", gleichsam als rückwärtigen Hinweis auf das „Junge Deutschland", und „die Moderne" als Andeutung voller Gegenwartsverbundenheit und Zukunftsfreudigkeit. Fest stand vorläufig die Opposition gegen das Alte, gegen die oberflächliche Formkunst, die Literatur der „höheren Tochter" fein in allen Programmäußerungen immer wiederkehrendes Angriffsziel), die Butzenscheibenpoesie, die „Bonbonpoesie" (so Bleibtreu). Dieser kämpferisch vollzogene Ablösungsprozeß durchläuft mehrere Stufen in den (in der Titelwahl merklich Fr. Th. Vischers „Kritischen Gängen" wahlverwandten) „Kritischen Waffengängen" (i882f.) der Brüder H e i n r i c h u n d J u l i u s H a r t , in den beiden Vorreden zu der lyrischen Anthologie der Jüngstdeutschen, den ,,Modernen Dichtercharakteren" (um Weihnachten 1884, durchweg zitiert 1885), und zwar der Einleitung von H e r m a n n C o n r a d i (1862—1890) „Unser Credo" und dem zweiten einleitenden Aufsatz von K a r l H e n c k e l l (1864—1929) „Die neue Lyrik", und in H e i n r i c h H a r t s unmittelbar darauf herausgebrachten „Berliner Monatsheften für Literatur, Kritik und Theater" (1885); aber auch in dem Organ der Münchener Gruppe der „Gesellschaft, realistische Wochenschrift" (hrsg. von M. G. Conrad, 1885f.), und zwar besonders in dem einleitenden Artikel „Zur Einführung". Ein starker Aktivismus der Jungen fordert X

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„unbeirrbaren Wahrheitssinn" auf Grund einer „resolut realistischen Weltauffassung'*, erstrebt „Willenssteigerung" und Befruchtung des „schöpferischen Lebens". Man fühlt sich als Vorkämpfer wie Hutten, als gehemmtes Genie wie Lenz. Das Geltungsrecht, der stürmische Wille, sich durchzusetzen, das Bewußtsein, die Stunde zu beherrschen und „dran zu sein", dieses Recht, das Fontane den Jüngstdeutschen wohlwollend einräumte, klingt in immer neuen, vielfach ähnlichen Variationen auf und übertönt die zersplitterten und unklaren Parolen der Marschrichtung. Man wollte in die Zukunft marschieren, das wußte man und daran berauschte man sich. Die Heysesche Paradefront, die klassizistische Linie der „Plateniden" sollte durchstoßen und aufgerollt, der zähe Wust des Epigonentums, der glitzernde Tand der Butzenscheibenlyrik von den neuen Stürmern und Drängern beiseitegefegt werden. Man wollte „durch", nicht nur in jener Vereinigung, die diesen charakteristischen Namen trug (der Verein „Durch"), sondern auch in der Münchener „Gesellschaft". Aber bewußt „durch" zum N a t u r a l i s m u s wollte man damals schwerlich. Wer unbefangen die programmatischen Manifeste jener ersten Hälfte der achtziger Jahre auf sich wirken läßt, findet durchweg starke Betonung des Individuellen, Originalen, Genialen, Schwungvollen, Jugendlich-Idealistischen, Nationalen, aber keineswegs ausgeprägt einen nüchternen Positivismus, keinen dogmatischen Materialismus und keinen zu Ende gedachten oder auch nur energisch aufgegriffenen Naturalismus. H e i n r i c h H a r t hatte in einer früheren Zeitschriftengründung, den „Deutschen Monatsblättern" (1878) den poetischen Realismus, die Verschmelzung von „erdfrischem Realismus und sittlich hoher Idealität" als durchaus geeignete Form einer Zukunftsdichtung angepriesen. Aber auch seine späteren „Berliner Monatshefte" (1885) wollen nichts von einseitigem „Realismus, Naturalismus, Idealismus" wissen, sondern fordern eine „Poesie des Genies", die zu allen Zeiten „realistisch und doch auch idealistisch" gewesen sei. Der Persönlichkeitswert wird überall leidenschaftlich betont; das Ideale, Geistige ebenso warm verteidigt wie das Gebläht-Pathetische und der Fassadenidealismus verhöhnt. Individualität und Genie waren unverkennbar Ausgangswerte und Zielwerte eines jugendlich-künstlerischen Geltungsstrebens. Selbst Zolas Formel ließ mit dem „gesehen durch ein Temperament" dem Individuellen eine gewisse Bewegungsfreiheit. Und

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darin liegt, um es vorwegzunehmen, wohl die tiefere Begründung für die Hartnäckigkeit, mit der dann Arno Holz' Formel den Faktor der künstlerischen Individualität trotz mehrfacher Angriffe der Kritik fernhielt, als es Ernst zu machen galt mit dem konsequenten Naturalismus. Was die Stoßkraft der Richtung anfangs zersplitternd lahmte, war vor allem der Persönlichkeitskultus der vielen kleinen „Genies", über die selbst ein Verteidiger des Geniekultus wie Bleibtreu Klage führen mußte. Und damit wird zugleich die entwicklungsmäßig notwendige Abwehr der Genievorstellung seitens des Naturalismus, wie sie Holz und vor ihm teils schon Bölsche vertritt, verständlich. Der Genietaumel der Jüngstdeutschen war zu sehr der Geniezeit nachgebildet, um selbst bildend die neue Richtung formen und festigen zu können. Die Entwicklung von der kraftvollen aber ungeklärten Gärung der Jüngstdeutschen (Frühnaturalisten) zur reifen Ausprägung des Hochnaturalismus verläuft innerhalb der Dichtungsdeutung vor allem über Bleibtreu, Bölsche und Holz. Bevor jedoch auf diese Entwicklung und ihre literaturprogrammatisch und kunsttheoretisch entscheidenden Phasen näher eingegangen wird, sei zunächst einmal daran erinnert, daß das Merk- und Kennwort vorerst nicht „naturalistisch" war, sondern in fast sämtlichen wesentlichen Bekundungen „realistisch". Die Münchener „Gesellschaft" trug die Artbezeichnung „realistische Wochenschrift", Wilhelm Bölsches Hauptschrift versprach im Untertitel eine „realistische Ästhetik", Bleibtreu sprach von einem „besonnenen Realismus", Arno Holz von einem „konsequenten Realismus", Alfred Kerr nennt einen frühen Beitrag zur Gattungstheorie „Technik des realistischen Dramas", nicht also des naturalistischen Dramas. Und Kerr verrät mit der Prägung „neurealistisches Drama", warum man „Realismus" gegenüber „Naturalismus" bevorzugte und situationsgemäß auch bevorzugen mußte, ganz abgesehen vom terminologischen Einfluß des Auslandes. Kerr war eigentlich schon zu entgegenkommend, wenn er von „Neurealismus" sprach. Denn durchweg wurde der Anteil Realismus im ideellen oder „poetischen" oder „künstlerischen" Realismus ganz einfach nicht anerkannt, abgesehen von Ausnahmen wie Th. Fontane. Alfred Kerr z.B. nennt und kennt in dem erwähnten Essay durchaus Otto Ludwig, der den Terminus „poetischer Realismus" und den anderen „künstlerischer Realismus" geprägt hat. Aber er bekennt sich keineswegs zu ihm. Das Programm 0. Ludwigs genügt ihm nicht; selbst seine 1*

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an sich wohl bemerkten klugen kunsttechnischen Winke wollen ihm nicht recht behagen, etwa der Wink, die „Gebärden der Rede" auszuwerten und stellvertretend wirken zu lassen für die ausführlich darlegende Rede. Kerr reizt das, aber er beruhigt sich nicht daran. Er strebt darüber hinaus. Und so ist es allenthalben. Auf der anderen Seite fühlen gerade die klarer Erkennenden, daß dort weit eher Anknüpfungsmöglichkeiten liegen als bei den Epigonen des poetischen Realismus und den Nachzüglern der Nachklassik und Nachromantik. Aber man konnte nicht mit einem Ruck alles kurzerhand über den Haufen werfen, was nun einmal noch da war und was zum Teil noch eine beträchtliche Geltung hatte. Vor allem die Zeitschriften mußten wohl oder übel an Bestehendes anknüpfen, um nicht von. vornherein ihre Leser abzuschrecken. Man stieß z.B. in München auf PaulHeyse, mit dem nicht so leicht fertigzuwerden war wie mit anderen Restbeständen des Münchener Dichterkreises. Und die „Gesellschaft" erkannte sofort diese immer noch mächtige Gegenkraft. Sie war gemeint, wenn Micheal Georg Conrad die,,falsche Vornehmheit"bekämpfte, und sie sollte getroffen werden, wenn Wolfgang Kirchbach eine literarische Vision vom „Münchener Parnaß" improvisierte. Aber schon eine frühere Teilaktion Kirchbachs hatte den kunsttheoretischen und kunstphilosophischen Gewährsmann des „Münchener Dichterkreises" Moriz Carrtere auf den Plan gerufen. Kurz, es ging einigermaßen bunt und keineswegs unblutig zu. Und mit der billigen Polemik gegen die „höhere Tochter" war es doch nicht einfach getan. Das ist nicht weiter verwunderlich. Eher schon verwirren sich die Linien und Fronten, wenn nun z.B. ein Mitglied des weiland Münchener Dichterkreises wie Hermann Lingg Mitarbeiter der „Gesellschaft" wurde oder wenn ein Name wie Martin Greif auftaucht. Immerhin fiel schon aus M.G.Conrads Mund das Wort „Naturalismus", kennzeichnenderweise aber als Schlagwort der Gegner, die zunächst einmal belehrt werden mußten, daß nicht jede Wahrheit „stinkt" und daß vor allem nicht die Nase der Naseweisen und ästhetischen Geschmackspächter das rechte Organ sei für die Kunstwertaufnähme. Immer wieder aber taucht da eine Fülle von Namen auf, deren Träger als Waffenbrüder oder doch Wahlverwandte achtungsvoll in Augenschein oder wenigstens diplomatisch mit in Kauf genommen wurden, während sie in historisch-kritischer Rückschau keineswegs als Naturalisten und konsequente Realisten erschienen. Und in Berlin

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steht es nicht viel anders, obwohl hier die revolutionäre Kulturund Kunstpolitik nicht einen so achtenswerten und zähen Gegner vor sich hat wie dort die „reaktionäre Kirchenpolitik". Auch da gab es manche Anhänger, die ebenso entschlossen jene Rückwärtswendung mitmachten, die ζ. B. in München Kirchbach zum späteren Geburtstagsgratulanten für —· Paul Heyse werden ließ. Die „Modernen Dichtercharaktere" gaben zwar vor, einen neuen Glauben aufzurichten, „Unser Creio" von Hermann Conradi. Aber da war noch ganz nachromantisch von „Singen und Sagen" die Rede und im positiven Sinne von der dichterischen „Leier aller Laute" usw. Da begegnen noch, achtungsvoll genannt, Namen wie Hermann Lingg, Julius Grosse (beide aus dem Münchener Dichterkreis), Graf Schack (Hauptstütze im Münchener Dichterkreis) und der formkünstlerisch wesensverwandte Versependichter Robert Hamerling. Karl Henckell schwärmte noch dort, wo er „Die neue Lyrik" zu vertreten vorgab, vom „heiligen Namen" der „reinsten aller Dichtungsarten", was auch nicht gerade naturalistisch klingt. Aber alle diese Verworrenheiten und vorerst noch recht hilflos wirkenden Halbheiten sind schon von anderer Seite hinreichend bemerkt und verzeichnet worden. Und es scheint ratsam zu sein, sich nach diesem nicht sehr klärenden Seitenblick den schon oben genannten Hauptträgern einer vorantreibenden Entwicklung des neuen Kunstwollens zuzuwenden, unabgelenkt von den mannigfachen und vielfach eintrübenden Nebenströmungen. Dabei ergibt sich jedoch die Notwendigkeit, auch die Entwicklung im Ausland etwas eingehender zu würdigen und den Ansatz des Neuen auch innerhalb deutscher Zeitschriften zu verfolgen. Vielleicht gelingt es auf diese Weise, wenigstens einige tragende Grundstrukturen der neuen Bewegung sichtbar zu machen, ohne fortgesetzt vor fremden Interpretationen und Zitationen mehr oder minder mühsam ausweichen zu müssen. Der Naturalismus und vollends seine Theorie ist leicht dem Vorwurf der geistigen Verflachung ausgesetzt. Das Platte, Ungeistige, rein Stoffliche wird von zeitgenössischen und späteren Gegnern unermüdlich aufgestochen, bald triumphierend, bald resignierend. Der Determinismus galt als Verrat an Persönlichkeitsgeltung und der sittlichen Verantwortung, zum mindesten als Verzicht auf Selbsterziehung und Vervollkommnung. Er schien zudem in groteskem Kontrast zu stehen zum optimistischen Entwicklungsgedanken. Die Bevorzugung des Durchschnittlichen und Unter-

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durchschnittlichen schien allen Spitzenbegabungen und Spitzenleistungen Hohn zu sprechen, besonders natürlich den künstlerischen. Damit schien die Kunst sich selber zu verneinen, weil sie auf Überdurchschnittliches angewiesen ist. Da war weiterhin der Bericht als Idealform, der aller idealen Begeisterung widersprach. Man sollte berichten, statt zu begeistern. Man sollte sich an Fakten und Dokumente halten, statt das Wesentliche jenseits des Wirklichen zu gestalten. Man sollte die Natur wiederholen — und wenn es nicht glückte, lag das nur an der Unzulänglichkeit der Reproduktionsmittel —, statt daß man die Natur durch steigernde Auswahl veredelte. Man sprach in der Naturwissenschaft von Auslese (Selektionstheorie), aber in der Kunst war das Auserlesene verpönt: da sollte man nur ablesen und durfte man nicht auslesen. Man predigte Befreiung von bloßen Formgesetzen und klammerte sich ζ. B. im Drama erstaunlich gern und oft an die Ortseinheit. Man stellte ein Programm auf, das hinsichtlich der echten Lebensvielfalt nur im Roman zu verwirklichen war, und man konzentrierte sich — jedenfalls in Deutschland — trotzdem auf das Drama, das nun in seinem Zwischentext doch wieder dem Epischen nachgeben mußte. Allerdings: wenn Widerspruch den Anspruch auf Fortschritt hat, dann war der Naturalismus erstaunlich (bis erschreckend) fortschrittlich. Aber war er auch kämpferisch, nicht hinsichtlich des Weltanschaulichen, sondern kämpferisch hinsichtlich des Kunstanschaulichen? Er kämpfte nicht mit der neu heraufziehenden Macht und Übermacht der Naturwissenschaft, sondern er unterwarf sich ihr, er gab sich ihr hin bis zur Selbstaufgabe; denn er hoffte vom Naturwissenschaftler befruchtet zu werden. Das Perverse der Situation enthüllt sich nicht zuletzt in solchen an sich verschrobenen Vergleichsbildern. Der „esprit createur" der Aufklärung wurde zum empfangenden Geist (oder Ungeist) innerhalb der j ü n g s t d e u t s c h e n Neu-Aufklärung. Man begann — abgesehen vom Frühnaturalismus der Übergangszeit — den Geniebegriff zu scheuen und die Genievorstellung zu verschleiern. Auch das Genie war durch Naturgesetze wie Vererbung und Umwelteinfluß gebunden und gebrochen in seiner souveränen Willkür des spontanen Kunstwollens und seiner Wucht des alles niederdrosselnden Kunstkönnens. Letztlich war es lästig als Ausnahme in der Reihe der bestimmbaren Normen. Es maßte sich an, zu erweisen, daß Kunst ein anderes bot und brauchte als lückenlose

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Kausalität oder soziale Moralität. Denn auch die jüngstdeutsche Aufklärung hat die Diskrepanz zwischen Kausalität und Moralität der alten Aufklärung in die sonst so gut aufgehende Rechnung mit einzusetzen. Einmal sprach man von „more geometrico", jetzt spricht man (ζ. B. Zola) von der mathematischen Gewißheit, die auch von der Poesie als Endziel anzustreben sei. Eigenartig genug überkreuzen sich auch die Gegebenheit (Vererbung, Milieu) des Charakters und der Wunsch nach Entwicklungsfähigkeit. Oft genug rechtfertigen sich Gestalten wie etwa Robert Scholz in Gerhart Hauptmanns „Friedensfest", daß sie eben nun einmal so sein müßten, wie sie sind. Aber andererseits macht derselbe Robert Scholz die Fehlerziehung durch den Vater für diesen Charakterzustand im Zustandsdrama des Naturalismus verantwortlich. Und auch an Helene Krause in „Vor Sonnenaufgang" ist die Erziehung in Herrnhut keineswegs spurlos vorübergegangen. Hinsichtlich der Arbeiterfrage bedarf sie allerdings noch der Erziehung durch Alfred Loth; aber diese Erziehung setzt präzise ein und zeitigt auch in erstaunlich kurzer Zeit ansehnliche Teilerfolge. Nicht umsonst hatte der junge Hauptmann den reichlich moralpädagogischen bzw. sozialpädagogischen Titel „Der Sämann" vorgesehen; der jetzige Symboltitel mit Naturparallele und politischem Zukunftsbezug stammt bekanntlich von Arno Holz. Aber worauf es hier ankommt: der Widerspruch von Unerziehbarkeit (Determinismus, Vererbung, Umwelt) und Erziehungswille tritt oft tragikomisch zutage. Protest und Propaganda überkreuzen sich wunderbar-wunderlich genug. Erziehungspessimismus und Erziehungsoptimismus geraten gleichsam in den Endkampf um die Entscheidung. Zucht war Schicksal, aber es gab immerhin eine Wahl in der Qual: die Zuchtwahl. Dasein war Schicksal; aber es gab immerhin den „Kampf ums Dasein". Umwelt war Schicksal; aber es gab immerhin eine geistige und sogar eine geistliche Umwelt (Helene Krause, Ida Buchner, in gewissem Grade auch Anna Mahr oder Wendt in „Familie Selicke"). Das aber bedeutet — in größerem Zusammenhang gesehen —: wie die alte Aufklärung trug auch die jüngstdeutsche Aufklärung den gefährlichsten Gegenspieler in sich selber: es war letztlich die Sehnsucht jenseits der Predigt der Vernunft, die schließliche Hoffnung ohne schlüssigen Beweis, die Sprache des Herzens jenseits der Predigt der Vernunft, die Rettung des Gefühls aus der Umklammerung des Verstandes, es war die Ahnung und Mahnung,

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daß der Mensch, der zur Vernunft gekommen ist, noch längst nicht zu seinem Glück gekommen ist. Mitten im Machtrausch der Naturwissenschaft meldete die Möglichkeit des intimeren, aber auch intensiveren Rausches der künstlerischen Suggestion ihr unverlierbares Recht an. Imitation und Illusion hin und her: Suggestion und Intuition erweisen sich sehr bald im Kunstwerk von Rang als schlechthin unentbehrlich. Und gerade in ihrer scheinbar trostlosen Niederlage läßt die Kunst ihre werkimmanente Leuchtkraft um so tröstlicher aufstrahlen. So verriet sich der Verrat an der Kunst durch Kapitulation vor der Wissenschaft überall dort, wo wirkliche Künstler ihre unermutigt und unermüdlich formende Hand im Spiele hatten, etwa in der schlichten und eben deshalb echten Liebesszene Helene—Alfred („Vor Sonnenaufgang"), deren Schönheit der frühe Hauptmann vor dem Richterstuhl der naturalistischen Kritik noch entschuldigen zu müssen meinte. Es darf auch nicht übersehen werden, daß für die Naturalisten die nackten und nüchternen Naturgesetze so etwas in sich bargen wie Schicksalsgeltung, wobei die Transzendenz transponiert wurde in die Deszendenz und das Sakrale in die Selektion wie das Anerwerben der Überwelt in die Anverwandlung an die Umwelt. Auch die Götzen — und gerade sie — bedürfen der Vergottung, um in der Dichtung als notgedrungener Ersatz der Götter gelten zu können. Trotz alledem ist dieser naturalistische Versuch nur zu verstehen aus dem jahrhundertelangen Hin- und Herreden über die Notwendigkeit oder Möglichkeit einer exakten „Naturnachahmung". Das Ernstnehmen dieser Richtung resultiert aus ihrem Ernstmachen mit der Naturnachahmung, mit der man sehr lange gespielt hatte, um sie nun endlich auszuspielen. Der Trumpf in der Hinterhand war nun endlich in vermeintlichem Triumph zum Vorschein gekommen. Man hatte ihn häufig genug gezückt, aber nie resolut gezogen. Indessen: die Poesie wagte ihn nur auszuspielen unter der Deckung der Naturwissenschaft, die ihr zuzuspielen schien, während sie ihr in Wirklichkeit bedenklich „mitspielte". Daher konnte mit mindestens relativer Berechtigung von derTragikomik des Naturalismus gesprochen werden. Tragikomik auch insofern, als man früher — und noch der Frühnaturalismus der Brüder Hart neigte dazu —das Realistische mitVorliebe der Komik zugewiesenhatte, während die Naturalisten es nun für das Tragische reif und geeignet proklamierten und auch theoretisch deklarierten und gesetzgebend dekretierten.

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Einer der entschlossensten Gesetzgläubigen und Gesetzgebenden war Emile Zola, der „Großmeister des Naturalismus", wie ihn Michael Georg Conrad genannt hat. Aber gerade, wenn man diesen Großmeister unbefangen betrachtet, bestätigt sich ein Eindruck, der von der Poetik leichter zu erfassen ist als von der Poesie: der N a t u r a l i s m u s b e s t e h t , nahe besehen und kritisch bewertet, nicht sowohl in einer N a t u r n a c h a h m u n g als vielmehr in einer N a t u r w i s s e n s c h a f t - N a c h a h m u n g . Der naturalistische Dichter ahmte weniger die Natur nach, sondern weit mehr den Naturwissenschaftler. Denn der war das „Neue"; die Natur war immer schon dagewesen. Gewiß sollte das Nachahmen des Naturwissenschaftlers eigentlich nur Mittel zum Zweck eines Nachbildens der Natur sein; es wurde aber in einem hohen Grade zum Selbstzweck. So wie die Naturwissenschaft arbeitet in Wirklichkeit die Natur selber keineswegs. Die Naturwissenschaft stellte künstliche Bedingungen und wollte erst durch das Experiment erfahren, was für die Natur längst schon Erfahrung und Selbsterfahrung war. Man bot in Wirklichkeit nicht Natur-Proben, sondern man griff mit Vorliebe Natur-Probleme auf, genauer: naturwissenschaftliche Probleme wie die Vererbung oder die Anpassung der Arten an die Umwelt oder den mit Vorliebe ins Soziologische übertragenen Kampf ums Dasein. Und dieser tiefe Einbruch des Sozialen und Humanen durchstieß nun wieder die unerbittlich strenge Richtlinie der Natur, die kaum Mitleid kennt im Vorgang der Auslese und des Daseinskampfes. Selbst ein naturalistisches Hauptmotiv, der Alkoholismus, war etwas Problematisches und nichts „Natürliches". Wohl aber war er sowohl eine Frage der Naturwissenschaft, besonders in Verbindung mit der Vererbung, als auch eine brennende Frage der Soziologie, besonders im Rahmen der Arbeiterfrage. Der Naturalist wollte keineswegs nur beobachten und berichten, er wollte auch bessern und belehren. Er wollte nicht nur beschreiben, sondern auch vorschreiben. Streckenweise — und zwar gerade auf den künstlerisch fruchtbaren Strecken — war er in diesem Sinne überhaupt kein Naturalismus, sondern eine Art von Neuhumanismus realistischen Gepräges. Fast möchte man zuspitzen, wo der Naturalist Künstler wird, da hört er auf, Naturalist zu sein. Da wird er Impressionist oder Symbolist der Gestaltung und Humanist der Haltung. Auch das Unparteiische des Naturwissenschaftlers konnte er nicht durchhalten unter dem über-

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mächtigen Druck des Kulturwissenschaftlers und Gesellschaftswissenschaftlers, die oft beide zugleich in ihm und seiner Kunst wirksam waren. Es gab aber nicht nur Gesellschaftskritik und Kulturkritik, sondern auch Naturkritik, besonders dann, wenn es ein kritisches „Temperament" war, durch das der durchaus nicht immer idyllische „Winkel Natur" betrachtet wurde. Man erkennt in diesem Zusammenhange aber auch, daß Arno Holz als Theoretiker konsequenter war als Emile Zola. Arno Holz verfuhr ernsthaft wie ein Naturwissenschaftler, wo er seine nüchterne Formel aufstellte. Emile Zola wollte immer Künstler bleiben, wo er den Naturwissenschaftler spielte und ihn gegen die ältere klassische und romantische Kunstform ausspielte. Man gewinnt den Eindruck, daß E m i l e Z o l a (1840—1902) das Romantische und Idealistische nicht zuletzt deswegen so unerbittlich bekämpfte, weil er es zunächst einmal in sich selber zu überwinden hatte. Kaum ein anderer hat so leidenschaftlich das verbrannt, was er vorher ebenso leidenschaftlich angebetet (ζ. T. allerdings wohl auch nur nachgebetet) hatte. Denn der frühe Zola, von jener Kunstbegeisterung getrieben und sich zu ihr bekennend, die man ihm später so oft abgesprochen und aberkannt hat, läßt das Romantische nicht nur in den Ansätzen seines Kunstschaffens vorherrschen. Auch in seinen theoretischen Bekundungen — darauf hat die Sonderforschung mit Recht hingewiesen — herrscht damals durchaus das romantisch-idealistische Prinzip vor, und zwar ganz offensichtlich. In vertraulichen Privatbriefen, etwa dem jungen, noch nicht berühmten Cezanne gegenüber, verwirft er den anmaßenden Anspruch der seelentötenden Wissenschaft, bekämpft er den Kultus des Körperlichen, fordert er „jederzeit und jeden Orts die Seele zu zeigen", treibt er einen durchaus romantischen Kultus der Kunst und des Künstlers, bevorzugt er sittliche Werte und Lehren der Poesie, beklagt er die Unterdrückung „aller idealen Regungen" durch materielle Erwägungen. Daran zu erinnern ist nicht ganz überflüssig. Denn jene Bekenntnisse gefühlsbetonter Art in vertraulichen Privatbriefen (vgl. „Briefe an Freunde", Ausgabe 1918) widerlegen die Ansicht, daß Zola überhaupt keinen anderen Blickwinkel gekannt habe als den naturwissenschaftlichen. Sie beweisen, daß ihm die idealistische Auffassung der Kunst und die fast priesterliche Würde und Weihe des Künstlers („ein wahrhafter Hohepriester") nicht nur bekannt und vertraut, sondern darüber hinaus lieb und ein Herzensbedürfnis gewesen sind. Ein

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Rest davon lebt übrigens auch später im „Temperaments"-Begriff weiter. Die wirkliche Wandlung brachten erst eingehende naturwissenschaftliche Studien, die bald bewirkten, daß Zola zur Gegenpartei überging, und zwar nun mit aller ihm eigentümlichen Energie. Zola wurde so etwas wie ein Konvertit deralleinseligmachenden Naturwissenschaft. „Le roman experimental" (1880) überträgt bewußt die Methode der experimentellen Naturwissenschaft auf die Theorie des Romans und (vermeintlich) auch auf die Methode der eigenen Romanpraxis. Um es vorwegzunehmen: was das eigene Romanschaffen betrifft, so hat Zola sein extremes Programm nicht restlos durchführen können. Vielmehr hat er — eben weil er Dichter war — Zugeständnisse an den Symbolcharakter der Poesie machen müssen. Man hat sogar frühzeitig eine Tendenz zur Mythologisierung (etwa der Großstadt) beobachtet, so ζ. B. der neuklassische Kritiker der „Moderne" Samuel Lublinski. Hier hat jedoch vor allem die T h e o r i e a l s s o l c h e zu interessieren. Zola lehnt den idealistischen Dichtertypus ab, der darauf eingestellt ist, stets aus irgendeiner irrationalen Quelle („d' une source irrationelle quelconque") zu schöpfen und zudem geneigt ist, eine traditionelle und konventionelle Autorität anzuerkennen („une tradition oü une autorit6 conventionelle"). Alles Metaphysische ist abzulehnen. Die romantische Genievorstellung gilt als problematisch und kann kein Maßstab sein für den „romancier experimental", ebensowenig wie seine aus der Beobachtung und Erfahrung gewonnene soziale Leitidee gemessen werden darf an einer idealistisch-philosophischen „idee a priori". Zola weiß natürlich, daß ein Künstler sich nicht gern das Genie-Attribut entziehen läßt. Und so hält er denTrost bereit, daß zwar das Kontrollorgan allein in der Erfahrung liege („seulement il est controM par 1' experience"), daß aber das schöpferische Organ unter dieser Kontrolle nicht zu verkümmern braucht. Ganz im Gegenteil, sie schwächt nicht, sie kräftigt das Genie („1' experience ne peut detruire le genie, eile le confirme au contraire"). Eine weitere Klippe scheint vom Subjektiven der Stilform her zu drohen. Aber auch sie weiß Zola geschickt zu umgehen. Einerseits hilft ihm dabei sein Zugeständnis an das individuelle „Temperament" des Schriftstellers, andererseits aber die alte französische Tradition der „clarte". Denn so traditionslos, wie er sich vorkommt und sich dem modernen Leser vorstellt, ist Zola in Wirklichkeit keineswegs. Vielmehr versteht er recht geschickt, die Überlieferung des französischen Materialismus des 18. Jahrhun-

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derts mit der Tradition des französischen Klassizismus zu verbinden. Aufklärung (weltanschaulich) und Klarheit (kunstanschaulich) lagen zudem so nahe beieinander, daß Zola nur noch wenig nachzuhelfen brauchte. Die Klassik fordert Klarheit; tut das Experiment etwas anderes? Die Sprache an sich ist nichts weiter als eine logisierende Konstruktion letztlich wissenschaftlicher Art. Was helfen alle dunklen Lyrismen, verworrenen Hypothesen und nervenschwachen Sublimitäten ? Der wirklich große Stil bleibt entscheidend bestimmt durch Folgerichtigkeit und lichtvolle Klarheit („le grand style est fait de logique de clarte"). Trotz dieser für alle Fälle eingebauten Sicherung macht Zola kein Hehl aus seiner eigentlichen Stil-Gesinnung. Vom Blickpunkt vorherrschender Inhaltsbewertung aus erscheint ihm die ganze Formfrage als übertrieben in ihrem ungerechtfertigten Anspruch. Das Übergewicht, das man der künstlerischen Form gegeben habe („pr6ponderance exagiree ä la forme"), sei ungerechtfertigt und stehe in keinem rechten Wertverhältnis zu ihrer nur dienenden Rolle. Zudem liebäugelt Zola mit einer Annäherung der Romanprosa an die wissenschaftliche Berichtsprosa. Die Diktatur der Naturwissenschaft wirkt sich konsequenterweise auch auf die Diktion aus, wenigstens theoretisch. Die gesamte Roman-Theorie gründet auf Empirismus, Materialismus, Positivismus, Darwinismus. Dementsprechend ist die Terminologie beherrscht von Merk- und Kennwörtern wie Erfahrung („1' expdrience"), Beobachtung („1' observation"), Entwicklung (Involution"), experimentelle Methode („la methode exp6rimentale"), Naturgesetze („les lois de la nature"), Tatsachen („des faits"), Determinismus („le d6terminisme domine tout"), menschliches Dokument („document humain"), vgl. auch Hippolyte Taine: Dokumente über die Natur des Menschen; „documents sur la nature humaine"), Bestandsaufnahme, ökonomische „Erhebung" („l'enquete"), Protokoll u. a. m. Um mit dem Letzten zu beginnen: der Roman gilt als General-Inventuraufnahme von Natur und Mensch. Jedenfalls ist er mit Recht dazu geworden: „le roman est devenu une enquete gdn^rale sur la nature et sur l'homme". Das ist nur eine notwendige Folge aus der allgemeinen Aufgabe der Schriftsteller, keiner anderen Autorität zu gehorchen als den durch die Erfahrung überprüften Tatsachen und wirklichen Gegebenheiten („ . . . ne reconaissant d'autre autorite que celle des faits, prouvde par l'experience"). Wie die Aufklärung alle Werte der Kritik der

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Vernunft unterwarf, so unterstellte der Naturalismus Zolas alle Werte und Wirklichkeiten der Kritik der Erfahrung und dem Experiment der Beobachtung. Es gilt aber nicht nur eine „enquete** (Bestandsaufnahme), sondern auch eine „conquete" (Besitznahme und Bemeisterung) der Natur durchzusetzen. An dieser Stelle liegt ein Anknüpfungspunkt für die sozialen Tendenzen. Bislang wurde die V e r e r b u n g s l e h r e als ein wesentlicher Faktor in Zolas Theorie zurückgestellt, ein Faktor, der zugleich im Theoretisieren und Produzieren hervortritt. Der „Roman experimental" läßt keinen Zweifel darüber, daß Zola dem Vererbungsproblem einen bedeutenden Einfluß auf die geistigen und gemütsmäßigen Bekundungen des Menschen einräumt („J'estime que la question d'heredite a une grande influence dans les manifestations intellectuelles et passionelles de l'homme"). Der Weg der Vererbungstheorie führt — kurz skizziert — nach Ansätzen bei Lamarck („Philosophie zoologique" 1809,im Geburtsjahr Darwins) über Geoffroy de St. Hilaire (Gegner Cuviers im Kampfgang der Französischen Akademie um 1830) zu C h a r l e s D a r w i n (1809 bis 1882), dessen grundlegendes Werk über den Ursprung der Arten vermittels der natürlichen Auslese unter dem klar alles Wesentliche herausstellenden Titel „On the origin of species by means of natural selection" 1859 erschien und sehr bald große Verbreitung und Beachtung fand. Hier war bereits über die Veränderlichkeit der Arten hinaus die Deszendenztheorie mit der Selektionstheorie verbunden, wobei der Kampf ums Dasein wie die natürliche Zuchtwahl eine entsprechende Rolle spielten. In Deutschland vollzog unter dem heute kaum noch vorstellbaren sensationellen Eindruck der Lehren Darwins wenige Jahre später Carl Vogt mit seinen „Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde** (1863) eine Schwenkung von fast hundertundachtzig Grad von Cuvier (Gegner Hilaires) zu Darwin, wobei freilich im Terminus „Schöpfung" noch religiöse Vorstellungen nachschwingen dürften, hatte doch sein früherer Gewährsmann Cuvier die Schöpfungstheorie aufrechtzuerhalten versucht. Etwa ein Jahrzehnt später folgt Georg Büchners Bruder Ludwig Büchner mit seiner „Stellung des Menschen in der Natur..." (1870), der er im Todesjahr Darwins „Die Macht der Vererbung und ihr Einfluß auf den moralischen und geistigen Fortschritt der Menschheit" (1882) folgen läßt. Das war zugleich das Jahr der „Kritischen Waffengänge" der Brüder Hart,

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die absichtlich überraschend in diesen Zusammenhang hineingestellt werden, um anzudeuten, wie zahm und vorsichtig sie im Grunde sind. Die Medizin bemächtigt sich ζ. T. übereifrig der neuen Perspektiven, so etwa in der Schweiz Hans Locher-Wild mit seiner Schrift „Über Familienanlage und Erblichkeit" (1874). Wilhelm Bölsche war in der Kunsttheorie trotz der betonten „Naturwissenschaftlichen Grundlagen .. ." seiner „realistischen Ästhetik" (1887) weit vorsichtiger und reservierter, indem er die Angelegenheit für die Kunst noch nicht als hinreichend gesichert betrachtete, um unbesehen als Motiv verwendet zu werden. Inzwischen hatte bald nach dem Durchbruch Darwins sein wohl am meisten genannter und bekannter Anhänger in Deutschland, Ernst Haeckel, mit einer Popularisierung der Lehren Darwins begonnen, die später zusammengefaßt und ergänzt wurden in Haeckels „Gesammelten populären Vorträgen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre" (1878). Aber über diese Dinge hat die Sonderforschung hinreichend berichtet. Emile Zolas „Le roman experimental" (1880) liegt also zeitlich hinter diesen Bekundungen (abgesehen von W. Bölsche). Für ihn aber waren die deutschen Beiträge weniger relevant als gewisse Bemühungen in Frankreich. In demselben Jahre, in dem Ernst Haeckels Vortrag in Jena Darwins Lehre schon als Ausgangspunkt nehmen konnnte, veröffentlichte der französische Arzt Claude Bernard eine Einführung in das Studium der experimentalen Medizin: „Introduction ä l'etude de la medicine experimentale" (1865). Das Wesentliche war für Zola, der Claude Bernard als seinen entscheidenden Anreger anerkennt, die experimentelle Methode überhaupt, die er nun Zug um Zug auf das Gebiet der Poesie überträgt. Nicht nur das zentrale Attribut (experimental) im Titel klingt an, Zola spricht auch wohl vom „roman d'analyse" und „roman naturaliste", die gesamte Ideenfolge schließt sich mit angelehnter und nur leicht für den eigenen Bereich abgewandelter Terminologie an. Zola hat kein Hehl daraus gemacht, daß er für die Poesie keine neue Verfahrensweise selber gefunden, sondern daß er das „Neue" aus anderen, wie ihm schien, fortgeschritteneren Wissensbezirken übernommen und eben nur sinnvoll übertragen habe. Er brachte keine neue Wendung, sondern eine neue Anwendung, die Anwendung nämlich des Neuen in der Naturwissenschaft auf die alten Bestände der Kunstwissenschaft und der Kunst überhaupt: „ E t le n a t u r a l i s m e , je le dis encore, c o n s i s t e u n i q u e -

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m e n t d a n s la m d t h o d e e x p 6 r i m e n t a l e , dans l'observation et l'exp6rience a p p l i q u 6 e s ä. la l i t t 6 r a t u r e " . Hinter dem „Roman experimental" blieb die Sammlung eigener Theater- bzw. Dramenkritiken mit dem allzuviel versprechenden Titel „Le Naturalisme au theatre, les theories et les exemples" (zit. nach der Ausg. von 1900) in demselben Grade zurück wie das dramatische Schaffen Zolas hinter seinen epischen Großleistungen. Das lag nicht zuletzt darin begründet, daß es Zola auf der französischen Bühne an Paradigmen fehlte, wie sie in Deutschland so eindrucksstark in der „Familie Selicke" (Schlaf und Holz) und in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang" recht frühzeitig vorlagen. Und so durchzieht die umfangreichen Darlegungen und Darstellungen Zolas immer wieder die Klage, daß das Drama so weit hinter dem Roman zurückstehe, und die Frage, wie dieser empfindliche Mangel möglicherweise zu überwinden sei. Aber einem Balzac kommt eben im dramatischen Sektor nichts an Wert und Wirkung gleich, obwohl sich Zola merklich bemüht, Dramatiker zweiten Ranges wie Alexander Dumas fils, Augier, Daudet und Henri Becque über Gebühr zu heben. Natürlich wird dieser Mangel anMüstern besonders im zweiten Teil („LesExemples") fühlbar. Er beeinflußt aber zugleich die teilweise merklich tastende Wegsuche des ersten Teils („Les Theories"), hinter dessen streckenweise hervorgekehrter Sicherheit allenthalben die unzureichende Orientierungsmöglichkeit an überzeugenden Beispielen erkennbar ist. Angesichts dieser Situation bleibt Zola kaum etwas anderes übrig, als den reichlich breit gedehnten Raum mit literaturhistorischen Exkursen in die Klassik und Romantik zu füllen und — oft einigermaßen jäh — ein kräftiges naturalistisches Glanzlicht aufzusetzen. So liegt trotz des Titels „les theories" weit mehr Kunstkritik als Kunsttheorie vor und nicht zuletzt auch ganz einfach kritische Literaturgeschichte, im Sonderfall also Dramengeschichte. Dabei erfährt sowohl die Klassik wie die Romantik Ablehnung, die Klassik aber in weit stärkerem Maße. Denn der Romantik, die mit der revolutionären Bewegung von 1830 verbunden erscheint, wird immerhin das Verdienst zugestanden, daß sie die künstlerische Freiheit erstrebt („proclame la libertd de l'art") und die Künstler zu dem gemacht habe, was sie heute seien; „c'est k dire des artistes libres". Zola hofft, daß das romantische Drama einen Schritt zum Naturalismus hingeführt habe: „le drame romantique est un premier pas vers le drame naturaliste auquel nous

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marchons". Aber dieser Marsch kommt Zolas drängender Ungeduld reichlich langsam vor. Im Roman habe Balzac überzeugend dargetan, daß es darauf ankomme, „l'observation du savant k la place de l'imagination du poete" zu setzen; aber auf dem Theater „revolution semble plus lente". Es besteht also schon Zolas Leitsatz, die „Einbildung" des Dichters durch die Beobachtung des Wissenschaftlers nicht nur zu ergänzen, sondern zu ersetzen (Der Neuerer „mit... ä la place). Dahinter steht die Überzeugung, daß jede Epoche ihr Prinzip, ihre verbindliche Formel besitze, die man respektieren müsse. Die Gegenwartsformel könne nicht die von 1830 sein, die einmal einen relativen Fortschritt darstellte. Jetzt dreht sich alles um die wissenschaftliche (naturwissenschaftliche) Methode: „Nous sommes k un äge de mdthode, de science experimentale, nous avons avant tout le besoin de l'analyse exacte". Daher kann auch die Weiterentwicklung von der (französischen) Klassik zur (französischen) Romantik nicht mehr befriedigen. Und daher muß im Ablösungsvorgang ein Kampf, eine Schlacht („bataille") entbrennen „entre le drame romantique et le drame naturaliste". Gar zu wörtlich war es also kaum gemeint, wenn kurz vorher das romantische Drama als ein erster Schritt (un premier pas) in Richtung des naturalistischen Dramas bezeichnet wurde. Mit Widersprüchen nimmt es Zola überhaupt nicht so genau. Denn auf der anderen Seite imponiert ihm als Franzose doch auch der Dauerwert der französischen Klassik über etwa zweihundert Jahre hinweg. Und so fordert er auch für die Verwirklichung des Naturalismus im Drama „les Corneille, les Moliere, les Racine pour fonder chez nous un nouveau theatre. II faut esperer et attendre". Bei aller Abwehr der Klassik aus Prinzip verrät Zola doch vor ihr einen gewissen Respekt aus Patriotismus, wenigstens aus Kulturpatriotismus. Ihre rhetorische Deklamation ist ihm ganz und gar zuwider, und ebenso ihre Gestalten, die keine lebendigen Menschen, sondern Personifikationen „des sentiments, des arguments, des passions deduites et raisonnees" gewesen seien. Dergestalt habe die Klassik, aber auch die Romantik mit der Natur auch die Wahrheit vom lebendigen Körper weggeschnitten, und zwar ganz systematisch („l'amputation systdmatique du vrai"). Übrigens sei die gespreizte Rhetorik der Redeweise der Klassik in der Romantik nur durch eine „rhetorique nerveuse et sanguine" ersetzt worden, aber das wäre auch alles („voilä tout"), die Rhetorik an sich sei

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geblieben. Auch sonst habe die Romantik es nicht weiter als zu einer Rebellion (une simple dmeute), nicht zu einer echten Literaturrevolution gebracht. Trotzdem bleibt Zola merklich von der Romantik abhängig, wenn er die Eigenart eines Schriftstellers (l'individualite d'un 4crivain) schützt und sie, gemäß seiner Lehre vom modifizierenden „Temperament", freisetzt von den beherrschenden „formules litteraires de son temps". In diesem Punkt wird der Dichter nicht gleichgestellt mit dem Wissenschaftler, behält vielmehr ein Privilegium. Es ist dies eben der Punkt, an dem dann die Zola-Kritik von Arno Holz einsetzte. Dieses dichterischen Vorrechts bedarf aber auch der Verfasser der „Th6ories" selber. Denn bei aller Betonung des wissenschaftlichen Verfahrens entwickelt er darin keineswegs klare oder auch nur zusammenhängende Gedanken zum naturalistischen Drama und Theater. Vielmehr geht er über allgemeine programmatische Einsprengungen nicht hinaus, die zudem häufig dieselben wenigen Thesen in ständiger Wiederholung wohl propagandistisch einhämmern, aber kaum irgendwo tiefer oder gar systematisch Untergründen. Der Anknüpfungspunkt ist mehrfach recht bescheiden: schon die zunehmende Natürlichkeit des Bühnenkostüms (die Griechen auf der Bühne tragen keine Allongeperücken mehr) wird als tröstliches Merkmal für die Entwicklung zum „Naturalismus" gebucht. Im Gesamt jedoch hält Zola eine historische Wahrheit auf der Bühne für unmöglich, und zwar unter Berücksichtigung der von Aristoteles über Lessing verlaufenden Linie (Abschnitt „Le drame historique" im zweiten Teil „Les exemples"). Gegenüber dem historischen Drama steht für Zola das Gegenwartsdrama, das auch den vierten Stand des Arbeiters einbezieht. Die fällige „Formel" sollte man am besten im engen Wohnraum des Arbeiters suchen, nicht aber in den weiten Schloßräumen der Historie („On trouvera la formule, on arrivera ä prouver qu'il y a p l u s d e p o ö s i e d a n s le p e t i t a p p a r t e m e n t d'un o u v r i e r que dans tous les palais vides et vermoulus de l'histoire"). Immerhin wird noch „po6sie" gesucht, wenn auch möglichst im vermeintlich unpoetischen Lebenskreis des Handarbeiters. Der Geistesarbeiter gilt „natürlich" für Emile Zola — obgleich er selber einer war, und zwar ein recht arbeitswilliger — schon nicht mehr als „Arbeiter". Und daß die Dachkammer des Poeten oft noch schäbiger gewesen ist (und noch ist) als „le petit appartement d'un ouvrier", was Spitzweg ins biedermeierlich Idyllische entschärfte, 2

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Arno Holz aber unbekümmert aussprach (sogar in lyrischer „Aussage"!), darüber sah Zolas „scharfe" Beobachtungsgabe — zum mindesten in der Theorie — höchst „sozial" hinweg. Auch eine absolute Gerechtigkeit gegenüber der Natur und ihrer Vorbildgeltung wurde keineswegs aufrechterhalten oder auch nur ernsthaft erstrebt. Denn das Experiment war kein Naturvorgang und sollte es im Sinne Zolas auch gar nicht sein. Das Experiment sollte die Natur wohl provozieren, um ihr das „Gesetz" abzulauschen und abzulocken. Aber es konnte und sollte den Naturvorgang nicht imitieren, ihn nicht nur wiederholen. Das wird oft von der ZolaInterpretation übersehen, ist aber sehr wesentlich. Es waren vom Experimentator, und zwar auch vom dichterischen Experimentator Verhältnisse zu konstruieren, wie sie die Natur als solche nicht ohne weiteres darbietet. Das Experiment war nicht vorab Konterfei des Beobachtenden, sondern Kontrolle der Beobachtung und Erfahrung. Der Naturalist war dergestalt im Sinne Zolas nicht nur und nicht einmal vorwiegend ein Berichter über die Außenansicht von Beständen und Vorgängen der beobachteten und erfahrenen Wirklichkeit der Sinne (Wirklichkeit ersten Grades), sondern auch und vor allem ein Richter über sie mit Hilfe der experimentalen Analyse. Erst der experimentell überprüften „Natur" war endgültig und wissenschaftlich geltend zu trauen. Die Beobachtung der Erfahrung bedurfte der Bestätigung des Erweisens. Bloßer Beleg ohne Beweis (durch Experiment) blieb anfechtbar. Es war eben doch nicht nur eine Anpassung an Bernards Experimentalmedizin, wenn Zola vom Experimental-Roman ausging und — zum mindesten theoretisch — auf das Experimental-Drama zuging. Keineswegs zufällig ist die Zola-Sonderforschung zu dem Schluß gelangt, daß Zolas dramentheoretische Forderung von der dramatischen Praxis zeitparallel schaffender französischer Dramatiker wie der Brüder Goncourt, Alphonse Daudet, Henri Becque vor allem dadurch abweicht, daß dort jenes von Zola propagierte und im Roman demonstrierte Experimental-Verfahren nicht statthat. Allerdings, wenn man etwa bei Henri Becque spätere Erinnerungen („Souvenire") mit heranzieht, so ist es — wie ζ. B. auch beim Münchener Dichterkreis usw. — leicht, das Auseinanderstreben und Widerstreben von Theorie und Praxis nachzuweisen. Mancher Dichter verleugnet frühere Überzeugungen, um späte Erfolge zu erzielen. So war es auch bei Henri Becque, dessen Dramen „Die

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Raben" und „Michael Pauper" („Les Corbeaux", „Michael Pauper") eindeutig auf den Naturalismus zusteuern, während die erst 1886 aufgeführte „Pariserin", unverkennbar ermüdet, Kompromisse schloß mit der die „Gesellschaftsmoral" merklich ironisierenden „comedie rosse". Das Fachwort „rosse" war abgeleitet aus dem Spanischen. Die Methode, späteres Einlenken (um Erfolg zu haben) auszuspielen gegen ein unverkennbares früheres Hinlenken auf ein Neues und auf diese billige Weise Theorie und Praxis in Diskrepanz zu stellen, muß grundsätzlich abgelehnt werden. Das wäre etwa jenes völlig unwissenschaftliche Verfahren, desavouierende Äußerungen des sehr späten Goethe über „Wanderers Sturmlied" (des sehr jungen Goethe) wörtlich zu nehmen und als „Theorie" gegen die „Praxis" auszuspielen. Ein an sich auch in der zeitparallelen Kunstpraxis nachweisbares neues Kunstwollen kann nicht dadurch entmachtet und entkräftet werden, daß man es mit einer nicht selten entmachteten und entkräfteten späteren Einsicht und mehr oder minder notwendigen Einlenkung kecklich konfrontiert. Nur annähernd gleichzeitige Theorie und Praxis können nach Zusammenstreiten oder Widerstreiten sinnvoll verglichen werden. Strindberg hat sein „Nach Damaskus" künstlerisch gestaltet: erlebt haben es viele. Aber dadurch war das Kunstwollen, das vor der Wendung nach Damaskus lag, nicht weniger energisch gemeint und nicht weniger echt „gemacht", also in die Kunstpraxis umgesetzt als das Kunstwollen n a c h der Wendung. Ein wirklicher Gegensatz von Theorie und Praxis liegt nur dann vor, wenn die Setzung des Werks der Satzung des z e i t p a r a l l e l e n W o l l e n s widerspricht. Genauer: wenn sie dem theoretisch oder programmatisch außerhalb des Kunstwerks oder (etwa als Kunstgespräch) im Kunstwerk formulierten Kunstwollen widerspricht. Denn die werkimmanente Poetik als im Kunstwerk und durch das Kunstwerk demonstriertes (und nicht nur formuliertes) Kunstwollen bringt eine stets verläßliche Kontrolle, soweit dieses latente Kunstwollen vorurteilslos und einfühlungswillig interpretiert worden ist, und zwar ohne Ablenkung durch „weltanschauliche" (religionspolitische, staatspolitische usw.) Tendenzen. Aber zurück zu Zolas Theorie des naturalistischen Dramas im Verhältnis zur unzulänglichen Praxis der französischen Bühnendichter! Zola bekämpft ζ. B. den Monolog, letztlich aus verwandten Gründen wie einst schon Gottsched (gemeinsame Basis: Wahro·

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scheinlichkeitstheorie), und zwar neben dem Expositions-Monolog und dem psychologisch erläuternden Monolog auch den sogenannten „Vergleichsmonolog". In diesem Betracht ist er mit den romantischen Dramatikern ebensowenig einverstanden wie mit den klassischen. Henri Becque jedoch verwendet den Monolog, obwohl gerade er in seiner ersten Produktionsperiode noch am ehesten mit Zolas Forderungen konform geht. Zola fordert wissenschaftliches Auswerten der „Dokumente"; Daudet verwendet sie zwar auch, aber nur im Dienst der Phantasie, also im Sinne eines durchaus poetischen Auswertens. Belege der Beobachtung sind für ihn nur Füllsteine, nicht aber Grundsteine für die künstlerische Gestaltung. Im Gesamt vermittelt Daudet zwischen romantischem Geist und naturalistischer Gesinnung. Er weiß, besonders in seiner zweiten Produktionsperiode, die Modelldichtung zu schätzen, ohne den Wert der Phantasiedichtung zu unterschätzen. Es ist im Grunde schon ähnlich wie bei Henrik Ibsen, der freilich mehr von den Deutschen im ideellen Realismus (besonders Friedrich Hebbel) gelernt haben dürfte als von den französischen Dramatikern, zum mindesten in der Motivwahl. Zola forderte das objektiv Bestimmte, die Brüder Goncourt berücksichtigten mehr das subjektiv Gestimmte. Sie wußten zwar, daß neben Gesichtssinn und Gehörssinn nun auch ζ. B. der Geruchssinn beachtet und einbezogen werden wollte, wie es Zola demonstriert hatte. Aber sie meinten dennoch, daß die Reizsamkeit der Nerven überhaupt entscheidend sei und den „6crivains des nerfs" die Zukunft — es war dann der Impressionismus — gehörte. Das ist umso bemerkenswerter, als Zola ihr früh liegendes Drama „Henriette MarSchal" (aufgeführt 1865) als eine wesentliche Vorstufe für den Naturalismus im Drama und auf der Bühne in Anspruch nehmen zu dürfen glaubt. Was so ziemlich von allen erfüllt wurde, das war die Forderung einer Abwehr der Intrige. Aber das lag, besonders seit der Überbeanspruchung der Intrigen-Handlung durch Scribe, ganz allgemein nahe genug und war nicht gerade revolutionär. Zwar die repräsentative Darbietung einer zeitgemäßen Wirklichkeit („representation de la realite contemporaine") war seit Balzacs entsprechender These ebenso wenig neuartig. Man sammelte „documents", die mehr oder minder „documents humains" waren, und man legte sich wohl auch „dossiers" an. Aber schon Jean Paul hatte in seiner Art mit Zettelkästen gearbeitet. Man hatte dem gesprochenen Wort gegenüber der deklamierten

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Tirade mehr Geltungsrecht eingeräumt. Schon das romantische Drama hatte den klassischen Alexandriner belebend aufgelockert, und Victor Hugo hatte in einem Brief von 1843 verlangt nach einem „vers qui püt se parier". Der „style parl6" und das „mot propre", die individuelle Redeweise, waren im Kommen. Zola jedoch zielte darüber hinaus auf das „mot exact". Das war ein recht langwieriges Ringen mit jenen zähen Hemmungen, die der romanische Sinn für Poesie in Versen in sich barg und die in einem entsprechenden Grade in Deutschland kaum vorstellbar sind. Jeder kleine Fortschritt war auf diesem eifersüchtig vom Geschmack umhegten Gebiet für die französische Literatur schon so etwas wie ein Ereignis, ja wie eine Sensation. Man darf nicht vergessen, daß einst Bouhours und späterhin Mauvillon den „Geschmack" für Frankreich als alleinigen Besitz in Beschlag genommen hatten (vgl. Band II). Sollte man nun dieses Ererbte aufgeben, zudem ohne feste Bürgschaft für einen ebenwertigen Neuerwerb? So ganz sicher war sich selbst Zola nicht, ob sich neben den ererbten auch die erworbenen Eigenschaften vererbten, trotz seinem „Rougon-Macquart"-Zyklus. Immer wieder mußte er anrennen gegen die Festung der Formvollendung, um klar zu machen, daß Schönredner niemals die Sprache der Natur nachzuformen vermochten. Es war außerdem kein leichtes Vorhaben, die „edle Einfalt" der inneren Haltung der Klassik durch die „humble verite" des konsequenten Realismus zu ersetzen oder die naive Nacktheit durch die bewußt beobachtete, höchst reale „nudite". Wesentlich leichter war es, der Lehre realistischer Stofferweiterung Resonanz zu verschaffen. Denn darin hatte man schon mannigfach vorgearbeitet. Und hinsichtlich des Milieus besaß Zola in Hippolyte Taine eine nicht zu unterschätzende Stütze. Allerdings hatte Taine neben dem „milieu", das als Berufsumwelt einst schon Diderot für das Drama gefordert hatte (vgl. Band II), auch den modifizierenden Faktoren „race" und „moment" eine beträchtliche Teilgeltung eingeräumt. Zola vertrat keine Prävalenz des Milieus um jeden Preis. Vielmehr durfte der Mensch von seiner Umwelt (auf der Bühne) nicht erdrückt werden. Aber das geht mehr auf die Wirkung, weniger auf das Wesen. Und der Kernsatz behält Bestand: „Le milieu doit ddterminer le personnage". Der Zuschauer darf es nur nicht als lästig und ablenkend empfinden. Und der Dramatiker soll nicht der Weisheit letzten Schluß darin sehen, daß er eine „copie textuelle" der Umgebung vorlegt.

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Bevor jedoch der Blick von Zola auf Ibsen und Tolstoi, auf Strindberg und Dostojewski gerichtet wird, mag die sogenannte Milieu-Theorie Taines wenigstens mit einem Seitenblick gestreift werden. Die sogenannte Milieu-Theorie; denn H i p p o l y t e - A d o l p h e T a i n e (1828—1893) berücksichtigt in seiner Kultur- und Kunstphilosophie keineswegs nur das Milieu. Neben dem Milieu stehen vielmehr als gleichrangige Faktoren la race, le moment und la facultd maitresse. Zeitweise betrachtet und bewertet er sogar die vorherrschende Fähigkeit und Anlage (faculte maitresse) als durchaus vorrangig. Aber eben: diese vorherrschende Fähigkeit, Nötigung und Neigung ist wiederum abhängig von physiologischen Erbqualitäten (la race), von Umweltverhältnissen (milieu) und von Zeitverhältnissen (moment). Jedenfalls handelt es sich bei allen diesen Kräften nach Taines Meinung nicht nur um modifizierende und variierende Elemente, sondern um konstituierende und schlechthin determinierende und dominierende Faktoren. Er entwickelt seine vielberufene Milieu-Theorie mindestens ebenso prägnant in der Vorrede zu seiner „Geschichte der englischen Literatur" (auch K. Bleibtreu schrieb nicht zufällig eine englische Literaturgeschichte) und in dem Vorwort zu seinen „Essays" wie in seiner „Philosophie de l'art" (1865/69, deutsch 1893), deren erster Teil indessen schon 1885, also im Einsatzjahr der deutschen naturalistischen Kunsttheorie, in deutscher Übersetzung als „Philosophie der Kunst" herauskam. Damals an den französischen Einfluß gewöhnt, griffen die Deutschen nicht etwa nach ihrem Herder, obgleich er ihnen die V e r b i n d u n g v o n O r t s - M i l i e u und Z e i t M i l i e u hätte nahebringen können und Taine von ihm abhängig war, sondern zu Taine, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er die Kulturgeschichte geradezu unter dem Aspekt der Naturgeschichte zu würdigen wußte, also eine engere Verbindung mit der Naturwissenschaft herstellte. An sich hätte der Umstand, daß H. Taine seine Milieutheorie vorzüglich als Kulturhistoriker und Soziologe entwickelte und nicht vorab als Ästhetiker, daran erinnern können und müssen, daß schon einmal bei J. G. Herder die Kunsttheorie stark von der Kulturtheorie und die Kunstphilosophie stark von der Kulturphilosophie bestimmt worden war. Aber bei Taine führte ein relativ gerader Weg zur Naturphilosophie, ja zur Naturwissenschaft. Und das war damals das Maßgebende und Richtunggebende (freilich auch das Verlockende und Verführende), sozusagen (und um Taines Lehre

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sinngemäß zu übertragen) die „vorherrschende Fähigkeit", die facultd maitresse. Es war dies — mit einer der regulierenden Leitideen dieser Poetik-Darstellung zu reden — der Keim, den gerade diese Epoche aus dem reichen Keimgeflecht der Gesamtentwicklung zu bevorzugen und zu betreuen besonders berufen und ζ. T. auch besonders befähigt war. Deshalb empfand man die dogmatisierte und mechanisierte Formulierung, die H. Taine den Deutungen und Andeutungen seiner mannigfachen Vorläufer gab, nicht als abstoßend, sondern im Gegenteil als anziehend. Deshalb konnte Taine unbekümmert um das Selbstbewußtsein und Originalitätsstreben der Künstler so weit gehen, die Kultur- und Kunstwissenschaft wie auch die Kunst- und Literaturgeschichte als eine Art von angewandter Botanik (er hätte auch Zoologie sagen können, wie etwa Leo Berg freilich bereits rebellierend von einer „zoologischen" Epoche sprach) zu betrachten und zu bewerten („une sorte de botanique appliqu6e, non aux plantes, mais aux ceuvres humaines"). Auch das Kunstwerk war dergestalt ein bloßes Produkt seiner örtlichen Umwelt und seiner zeitlichen Umwelt. Immerhin berücksichtigt H. Taine schon die geistige Umwelt. Der Einzelne glaubt zwar, auf eigenem Wege zu seinen Erträgen gelangt zu sein, folgt aber in Wirklichkeit nur dem übermächtigen Druck von herrschenden Zeitideen (Zeitmilieu). Der Geist der Zeit ist maßgebender und richtunggebender als der Geist des schöpferischen Genius. Das Gewachsensein auf diesem Boden unter diesem Klima ist (zugleich erbbiologisch) entscheidender als das Gewachsensein aus individuellem künstlerischem Schöpfertum. Das war nun alles (oder doch das meiste) nichts weniger als neu. Aber es kam den Naturalisten doch neu vor, weil es einen Kompromiß mit der Naturwissenschaft und dem Positivismus einging. Es gab an sich eine ganze Reihe von Traditionsträgern der Milieutheorie und damit an Gewährsmännern für Taine. Da waren nach dem Abb6 Dubos vor allem Montesquieu mit seiner Klima-Lehre, Condillac (beide nennt H. Taine selber), da war Diderot mit seiner BerufsMilieu-Theorie (der Dramatiker hat den beruflichen Lebenskreis einzubeziehen, vgl. Mercier und J. M. R. Lenz, Band II), da war J. J. Rousseau, de Stael, Villemain, Stendhal und nicht zuletzt Sainte-Beuve. Und es liegt in der Natur der Sache (und des Menschen), daß Taine den ihm zeitlich Nächsten am meisten bekämpfte (eben Sainte-Beuve), während es ihm leichter fiel, zeitlich weit

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zurückliegende Vorläufer gelten zu lassen. Er half sich ζ. T. auch damit aus der Abhängigkeit heraus, daß er die Terminologie Darwins gelegentlich anklingen ließ. Bei alledem will jedoch festgehalten werden, daß H. Taine anders als E. Zola keineswegs auf den Realismus oder gar Naturalismus eingeschworen war, was nicht selten vergessen wird angesichts der Einwirkung der Milieu-Theorie an sich. Sein Streben nach Objektivität ist nicht gleichzusetzen mit der Befürwortung des Realismus. Erinnert sei in diesem Zusammenhange nur an die geradezu vernichtende Abwertung des realistischen Typus: „Die Typen, die von der realistischen Literatur vorgezogen werden, stehen auf der niedersten Stufe . . . Diese Schriftsteller, die sich vorgenommen, die Menschen so zu malen, wie sie sind, wurden gezwungen, sie unvollkommen, gemischt, inferior zu malen . . . " Die Realisten vermögen die „Mittelmäßigkeit und Häßlichkeit" ihrer dichterischen Gestalten nur notdürftig mit allerlei „Kunststückchen" (der Technik) zu verdecken, um so von der Durchschnittlichkeit abzulenken („Philosophie der Kunst", II. Teil). Hippolyte Taine besaß durchaus Geschmack und Kunstsinn genug, um den Leerlauf der Kunst-Maschinerie des konsequenten Realismus zu erkennen. Aber als Soziologe suchte er vom Biologischen Anregungen zu gewinnen für seine kultur- und kunstphilosophischen Konstruktionen. Und dieses Zusammenwirken von Soziologischem und Biologischem bringt ihn als Theoretiker doch wieder dem Naturalismus prinzipiell näher, als es sein kunstsinniges Temperament erwarten läßt. Nur auf diese Weise konnte eine Renaissance-Natur wie Taine, die auch E. Zola in seinem Essay über Taine erkannt und anerkannt hat, mittelbar in den Sog naturwissenschaftlichnaturalistischer Anschauungen und Anregungen hineingeraten. Die Umsetzung dieser Mittelbarkeit in eine Unmittelbarkeit der Einwirkung ist nicht zuletzt auf G e o r g B r a n d e s zurückzuführen, der Taine an der £cole des Beaux Arts noch selber vortragen hörte. Georg Brandes aber stand in freundschaftlichem Briefwechsel mit Henrik Ibsen, der die Stützung durch den angesehenen Kritiker gerade in seiner frühzeitig umkämpften Situation gebührend zu schätzen wußte. Ein Jahrzehnt nach K. Bleibtreus „Revolution der Literatur" brachte L e o B e r g einen größeren Essay über „Hebbel und Ibsen" (1896) heraus. Schon die Zusammen-„Schau" mit Hebbel bestätigt die immer noch bemerkbare Neigung, den Naturalismus mit dem

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poetischen und ideellen Realismus in Verbindung zu bringen. Anders als Zola erschien also H e n r i k I b s e n (1828—1906) nicht als traditionsloser und traditionsfeindlicher Neuerer. Es lag, von Deutschland aus gesehen, nahe, zunächst einmal zu überprüfen, ob das von Henrik Ibsen empfangene geistig-künstlerische Gut nicht in Wirklichkeit ein Rücklehngut darstellte. Die Sonderforschung hat nachgewiesen, daß Ibsen spätestens 1852 auf Fried» rieh Hebbel aufmerksam geworden sein muß durch die Lektüre von Hermann Hettners Arbeit über „Das moderne Drama", und zwar auch auf die dramaturgischen Theorien Hebbels. Das psychologische Problemdrama Hebbels hat in der Tat durch Ibsen eine umsetzende Fortsetzung erfahren, noch bevor der frühe Gerhart Hauptmann diese dankbare Aufgabe für die deutsche Literatur übernehmen konnte. Dabei knüpfte Hauptmann an den Norweger Ibsen an, ohne sich bewußt zu werden, daß er damit mittelbar doch wieder an deutsches dramatisches Erbe sich anschloß. Mag die Einfluß-Forschung in bloße Einflußjagd übersteigert erscheinen, wenn etwa der Graf Bertram in Hebbels Drama „Julia" mit dem Kammerherrn Alving in Ibsens „Gespenstern" in Zusammenhang gebracht wird, weil beide sich offenbar durch ein ausschweifendes, wildes erotisches Leben eine zermürbende Krankheit zugezogen haben (bei Hebbel fehlt aber das Zentralmotiv der „Gespenster" Ibsens, die Vererbungslehre): recht überzeugend wirkt doch das Übernehmen des Zentralmotivs Hebbels von der Mißachtung des menschlichen Eigenwertes der Frau durch Ibsen. Nur daß eben Ibsen dieses Motiv durch Einbeziehung der Frauen-Emanzipation als „sozialer Frage" modernisiert („Nora"), wie er das Krankheitsmotiv durch die Erblehre modernisiert hatte („Julia" - „Gespenster"). Hinzu trat vom Persönlichen der grüblerische, bohrende, skeptisch-kritische Zug, der beiden gemeinsam war, der Hang zur begrifflichen Klärung, zum Vertrauen auf die psychologisierende Analyse, die allerdings noch keine wissenschaftliche Psychoanalyse war, aber doch eine Art von künstlerischer Vorwegnahme und Vorahnung darstellte. Es kann daher kaum überraschen, wenn Leo Berg in feuilletonistischer Zuspitzung Henrik Ibsen als einen „Hebbel redivivus in vollkommener Gestalt" bezeichnete. Etwa ein halbes Jahrhundert später, schon an der Schwelle des neuen Jahrhunderts greift A l f r e d K e r r diese Perspektive auf in einem Essay über „Hebbel und Ibsen" (Neue Deutsche Rundschau

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1901). Später hat man ζ. B. das Motiv von „Wenn wir Toten erwachen" (1899) auf Hebbels „Gyges und sein Ring" zurückzuführen versucht, aber das würde doch kaum über die Ausgangssituation hinausweisen (Irene steht Akt-Modell bei dem Maler Arnold Rubek), da die Problematik des Künstlertums und seines Inspiriertwerdens bei Hebbel im „Gyges" keine Rolle spielt, so daß man, verlegen nach einem neuen Wild auf der Einflußjagd Ausschau haltend, zur „Sappho" Grillparzers gegriffen hat. Ebensogut und besser hätte man den Parallelenhunger in diesem Falle übrigens an — Lenz' „Catalina von Siena"-Fragment befriedigen können. Im Gesamt verdient der Hinweis auf Hebbel Beachtung. Man wird aber kaum behaupten wollen, daß nun neben der Ableitung des analytischen Verfahrens von Hebbels Expositionsanalyse etwa auch der Sekretär Friedrich in Hebbels „Maria Magdalene" die Anregung zur Verwendung des Botenmotivs gegeben habe. Der B o t e a u s der F r e m d e (oft als Heimkehrer nach langjährigem Fernsein) wird von Henrik Ibsen als strukturbedingender Handlungsfaktor so eindeutig in dramaturgische Funktion gebracht, daß darin einer der hauptsächlichen Bestände an VorbildPoetik zu verzeichnen ist. Der „kritische" Realismus (mit nachromantischen Einschlägen) bedurfte geradezu dieses „Mittlers und Motors", wie Max Halbe den Boten später umschrieb, um einmal den „Zustand" zu analysieren, und zum anderen, um ihn in Bewegung zu bringen. Zugleich gestattete sein Auftreten und seine Anwesenheit, jene breiten Anteile der Vorfabel, auf die das analytische Enthüllungsdrama angewiesen war, verhältnismäßig zwanglos zu vermitteln. Nicht zufällig gewinnt daher das BotenMotiv und die Boten-Struktur ganz unverkennbar an Bedeutung, seit mit den „Stützen der Gesellschaft" (1877) die entscheidende Wendung vom Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik zum modernen Realismus vollzogen war. Die beiden Amerika-Fahrer Lona Hessel und Johann Tönnesen, als Boten oder Heimkehrer das Morsche des Milieus um Konsul Bernick pflichtmäßig bloßstellend, steuern noch fest entschlossen auf den Naturalismus zu, während Max Halbes „Amerikafahrer" schon auf Gegenkurs zu kreuzen versuchen. Es gibt da überall viel zu enthüllen und zu erziehen. Und wenn man sich den dergestalt belehrten und bekehrten Konsul am Schluß anschaut, möchte man fast von einem aufklärerischen Erziehungsoptimismus redivivus

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sprechen. Einen erzieherischen Teilerfolg kann in „John Gabriel Borkmann", ähnlich wie Lona dort, Ella Rentheim hier für sich und ihre Boten-Mission buchen. Henrik Ibsen scheint gemäß seiner These vom Eigenwert der Frau (vgl. Hebbel) Botinnen zu bevorzugen. Im „Baumeister Solneß" ist es Hilde Wangel, die allerdings nicht gerade erzieherisch wirkt, wohl aber einen letzten Kraftaufwand im alternden Baumeister zustande bringt. Ist jedoch eine Frau bereits die titeltragende Zentralgestalt wie Ellida in der „Frau vom Meere", so tritt der männliche Bote (in diesem Falle als geheimnisvoller Seemann) in Funktion. Zugleich greift der Symbolismus, Ibsen als Wirkungswert und veranschaulichender Lehrwert längst vertraut, in tiefere dichterische Traggründe hinab. Am stärksten vielleicht in der „Wildente" (1884), wo der heimkehrende Sohn (Georg Werle) wiederum als Bote fungiert, und zwar nicht zuletzt als Veranlasser der von Ibsen ebenso geliebten wie gemeisterten Diskussionen. Diese Diskussionen sind durchweg E x e r z i t i e n der T h e s e , die mit einem Eifer verfochten wird, der den Zeitgenossen verständlicher sein mußte als er den Späteren sein kann. Das T h e s e n d r a m a des Sturmes und Dranges (Prototyp: J. M. R. Lenz) wird jetzt erst in allen seinen Möglichkeiten ausgeschöpft. Vielfach wird auch in Ibsens diskutierenden Thesenstücken die These an der Hauptperson demonstriert und von einer Nebenperson (nicht selten dem Boten) formuliert. Doch kommen Mischformen vor, bei denen die belehrte Zentralgestalt, nachdem die These an ihr demonstriert wurde, sie gleichsam bestätigend am Ende ausdrücklich selber formuliert und für den Zuschauer, der immer noch nicht begriffen haben sollte, rekapituliert. Das D e m o n s t r i e r e n u n d F o r m u l i e r e n d e r T h e s e , wie auch immer auf die Personen verteilt, ist ein Grundgesetz im dramatischen Kunstwollen H. Ibsens. Es ist nicht nur eine Eigenheit oder gar eine Eigenwilligkeit seines Kunstschaffens. Es entspricht vielmehr durchaus seiner Darstellungsabsicht. Demonstriert und formuliert wird ζ. B. in dem noch tastenden Versuch der „Komödie der Liebe" (1862) die These vom Verkümmern der Liebe in der Ehe, in den „Stützen der Gesellschaft" (1877) die These einer Untrennbarkeit von Wahrheit und Freiheit, im „Puppenheim" („Nora", 1881) die These eines Nichtverbürgtseins der Seelengemeinschaft durch die Ehegemeinschaft (modifiziert

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wiederaufgegriffen in „Die Frau vom Meere"), in „Gespenster" (1881) die These von der erbbiologischen Unentrinnbarkeit, in „Ein Volksfeind" (1882) die These des ewigen Widerstreits von Gemeinnutz und Eigennutz, in der „Wildente" (1884) die These von der Lebenslüge als Zuflucht und Ausflucht, in „Rosmersholm" (1886) die These von der Möglichkeit einer Läuterung (Rebekka West) durch Lauterkeit der Gesinnung (Rosmer). Samuel Lublinski verkannte dieses Kunstwollen, wenn er — ohne Ibsen zu nennen — über jenen spottete, der durch „Trinkwasserrezepte" die „Menschheit kurieren" möchte, offenbar eine Anspielung auf den Badearzt Dr. Stockmann, den „Volksfeind", der in Wirklichkeit ein verantwortungsbewußter Volksfreund ist. Ibsen wollte freilich im Endziel die „Menschheit kurieren". Aber er weiß, daß die Kunst d a s A l l g e m e i n e a m k o n k r e t e n S o n d e r f a l l v e r a n s c h a u l i c h e n muß. Die Fabeln seiner Dramen sind immer zugleich Parabeln. Seine Dichtungen sind Bruchstücke einer großen Mission, die mehr auf Lessings Erziehung des Menschengeschlechts zuriickdeutet als auf Goethes Bruchstücke einer großen Konfession. Auch die Liebe, vor allem die Liebe in der Ehe, ist für ihn weniger eine Angelegenheit intimen Bekennens als instruktiven Erkennens und Verstehens. Hier liegen Anknüpfungsmöglichkeiten für die Leitidee des Verstehens bei Gerhart Hauptmann, die stärker ist als sein Leitgefühl des Mitleidens. Für Henrik Ibsen heißt „Dichten: Gerichtstag halten/Über sein eigenes Ich". Es ist deutlich, daß dabei im Verhältnis von Ästhetik und Ethik das ethische Kriterium die Oberhand gewonnen hat oder doch den Wertvorrang beansprucht gegenüber dem Ästhetischen. Natürlich lag auch in Goethes: Dichtung ist Konfession nicht nur der Anteil Selbstbeurteilung und Selbstverurteilung. Das zentrale Motiv in Hebbels Dramatik (Eigenwert und Ebenbürtigkeit bei Andersartigkeit der Frau) ist biographisch weitgehend aus einem derartigen Gerichtstaghalten abzuleiten (Elise Lensing). Und vielleicht war Friedrich Hebbel darin näher der Ibsenschen Forderung als Ibsen selber. Denn für Ibsen — weit weniger Lyriker als Goethe — stand das „eigene Ich" auch als Künstler nicht in der Zentralstellung. Ein lebhafter sozialer Zug verweist ihn an das Du. Aber seine Zeit verweist ihn zugleich auf die Kritik am Anderen. Deshalb geht es zum mindesten in seinen gesellschaftskritischen Thesenstücken naturalistischen Gepräges weit überwiegend um ein Gerichtstaghalten über das fremde Du und nur recht mittelbar

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„über sein eigenes Ich". Das mag zunächst hart klingen und enttäuschen. Aber das eigentliche Meinen jenes vielzitierten Spruchs zielt vorerst nur auf eine unerläßliche Voraussetzung echten und also ethischen Dichtertums. Nur wer bereit ist, über das eigene Ich zu richten, ist berufen und berechtigt, über den Anderen und die Anderen kritisch und gesellschaftskritisch zu Gericht zu sitzen. Die „große Veränderung" muß mit der eigenen Änderung beginnen und darf nicht von ihr ablenken durch das Hervorkehren sozialer Tugenden, hinter denen sich die eigenen Schwächen verbergen. Die „ethische Forderung" darf nicht als bloße Anforderung an die Anderen abgeschoben und vom eigenen Ich schonsam verlagert werden. Insofern legt Ibsen mit dem „Dichten (heißt) Gerichtstag halten über das eigene Ich" gleichsam seinen Ausweis als Gesellschaftskritiker vor. Es ist das eine sehr ernst zu nehmende Ermahnung zur Besinnung für alle „Gesinnungsdichter". Schon von A. Soergel ist auf das Gedicht „An die Mitschuldigen", das als Einleitung zu der Epos-Fassung des Ideendramas „Brand" gedacht war (Mitte der sechziger Jahre), mit Nachdruck hingewiesen worden. Aus diesem Gedicht seien deshalb hier nur die Wendungen in Erinnerung gebracht, die Ibsens Entschluß bekunden, sich aus romantisierenden und mythologisierenden Phantasien von blendendem Glanz mutig in die „Nebelwelt der Gegenwart" zu wagen, „um das Rätsel seiner (eigenen) Zeit zur Lösung (zu) bringen". Etwa um dieselbe Zeit kann die Abwendung vom Primat des isoliert Ästhetischen durch eindeutige briefliche Erklärungen Ibsens (September 1865) an die Adresse Björnsons belegt werden. Aber dabei dürfte der politische Impuls von 1864 eine Entwicklung vorweggenommen haben, die sich erst etwa ein Jahrzehnt später im Werkschaffen wirklich vollzieht („Stützen der Gesellschaft"). Immerhin lehren die Zeitereignisse der Umwelt ihn, die bisherigen Bestände seiner Innenwelt und deren Wertordnung einer kritischen Revision zu unterziehen. Ibsen gehört zu den Dichtern, die den Denkern nahestehen. Er durchdenkt gern eine Sache, bevor er sie in die Tat — auch in die künstlerische Tat — umsetzt. Aber es sollte nicht übersehen werden, daß schon das Frühwerk aus noch jünglingshafter Entwicklungsstufe „Catilina" (1848/49) Anlehnung suchte beim ethischen Pathos des jungen Schiller. Das scheint nun zunächst einfach ein Fehlgriff des unsicher Tastenden nach einem falschen Vorbild gewesen zu sein. Auch spielte der Revolutionsimpuls von 1848 merklich mit, ganz abge-

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sehen von der persönlichen Erbitterung des damaligen Apothekerlehrlings zu Grimstad in seiner mehr als kleinstädtischen Enge. Ibsens Vorwort zur zweiten Ausgabe des Frühwerks läßt keinen Zweifel über die revolutionierende oder doch rebellierende Sturmund Drangstimmung jener Tage. Und dennoch war der Griff nach Friedrich Schiller nicht wahllos. Selbst wenn man sich auf die realistischen Dramen beschränkt, die ja keineswegs den ganzen Ibsen umfassen (vgl. „Brand", „Peer Gynt", „Kaiser und Galiläer"): das Verhältnis von Ästhetik und Ethik ist für Ibsen ähnlich beherrschend wie für Schiller. Es ist nur auf eine anders geartete Dichternatur und eine anders geartete Zeit übertragen und entsprechend modifiziert worden, beträchtlich modifiziert gewiß, aber im Kernbestand unverkennbar verwandt. Die nordische Dichternatur neigt mehr zu Hebbel. Der Kunsttechniker lernt mehr von den französischen Dramatikern unmittelbar vor und neben ihm, mit denen sich Zola in seinem Buch „Le naturalisme au th64tre"befaßt, so etwa von Emile Augier („Stützen der Gesellschaft"). Seine kritische Schärfe erinnert mehr an Lessing, wie überhaupt der Aufklärung im Naturalismus eine neue Welle verwandter Weltanschauung nachfolgt. Aber die Leidenschaft der sittlichen Forderung ist trotz der Abwehr des Pathetischen am ehesten an Schiller zu messen. Und wiederum: es ist einigermaßen schwierig, Schiller ähnlich zu sein, wenn man Schopenhauer ähnlich sieht und vollends, wenn man ähnlich wie Schopenhauer durch ein (Zolasches) Temperament sieht, das nur durch die pädagogische Neigung zum Erziehungsoptimismus immer wieder aufgelichtet und insoweit „aufgeklärt" erscheint. Gerade Ibsens Welt- und Kunstanschauung läßt es berechtigt erscheinen, den N a t u r a l i s m u s a l s eine A r t v o n N e u - A u f k l ä r u n g zu interpretieren. Die enge Kampfgemeinschaft mit dem bedeutenden Kritiker Georg Brandes verstärkt diesen Eindruck. Denn Brandes war der geistige Vermittler westeuropäischer Fortschrittsgedankens. Über Taines Kunstphilosophie ergaben sich Rückverbindungen zu J. Stuart Mill. Kurz, der Positivismus gewann an Boden. Und wie schon 1865 der Nachteil der Ästhetik für die Kunst mit dem Nachteil der Theologie für die Religion verglichen worden war, so wird nun im vertrauten Brief (Dezember 1879) die Überzeugung ausgesprochen: „Solange eine Bevölkerung es noch für wichtiger hält, Bethäuser zu bauen als Theater, . . . so lange kann die Kunst auch auf kein gesundes Gedeihen rechnen".

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Es geht noch heftiger her in der Polemik gegen das „finstere mittelalterliche Mönchstum" usw. Der ganze Tenor ist durchaus aufklärerisch-fortschrittlich. Aber dieser Fortschritt wird noch keineswegs der Masse, der „kompakten Majorität" anvertraut, die Ibsen einen wahren Schrecken einflößt, sondern der wegbahnenden, vorahnenden Individualität, dem Einzelmenschen als Persönlichkeit. Fast wie einst Lessing betont Ibsen, daß auch in Angelegenheiten der Kunst vorerst Aufräumungsarbeiten dringlicher seien als theoretisch-programmatische Aufbauarbeiten. Zunächst einmal gelte es, „ g e g e n das K u n s t f e i n d l i c h e " zu kämpfen. Vom Persönlichen verstärke diesen Impuls die Auseinandersetzung mit den Rezensenten seiner Thesen- und Tendenzstücke. Vom Zeitlichen aus gab das Gefühl der Zeitgemäßheit erneuten Antrieb; denn „die Zeit ist in starkem Vorwärtsfließen". Dem Vorrang dieser Kräfte haben vermeintlich starre Gesetze gattungsmäßiger Art zu weichen. Gegenüber Heinrich Laube, der damals noch in München das Theater leitet und den Mut besitzt, „Das Puppenheim" aufführen zu wollen (Junges Deutschland und „Jüngstes Deutschland" berühren sich, soweit man Ibsen einbeziehen will), macht Ibsen geltend, daß die scheinbare Diskrepanz zwischen der Bezeichnung „Schauspiel" und dem tragischen Ausgang (Urfassung) nicht relevant sein kann. Er persönlich sei jedenfalls überzeugt, „daß die dramatischen Kategorien dehnbar sind und daß dieselben sich nach den vorhandenen Tatsachen (tatsächlichen Beständen) in der Literatur richten müssen, nicht umgekehrt" (Februar 1880). Es ging um den sogleich heftig umstrittenen Schlußentscheid, ob Nora ihre Kinder verlassen dürfe, weil sie ihren menschlichen Persönlichkeitswert in der Ehe mit Helmer nicht entfalten konnte. Nachdem Übersetzer und Theater, besonders in Deutschland, eine eigenmächtige Schlußvariante androhten, hat sich bekanntlich Ibsen dann doch zu dem kleineren von zwei Übeln bereitgefunden, lieber selber eine behutsame andeutende Schlußversion zur Verfügung zu stellen. Auch für Heinrich Laube war der Angriff auf die Artbezeichnung natürlich nur ein schonender Umweg, die harte Konsequenz des Ausgangs zur Diskussion zu stellen. Für Henrik Ibsen ging es nicht nur um ein Liebesdrama, sondern um das Problemdrama im Liebesdrama. Und wiederum nicht nur um ein psychologisches Problemdrama, sondern um ein ähnliches Prinzip (Geltungsrecht der Frau auf ein würdiges Menschentum)

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wie für Gerhart Hauptmann bei seinem Thesenträger Alfred Loth in „Vor Sonnenaufgang". Aber rein kunsttheoretisch entsprach jener Einwand gegen den Zwang der gattungsmäßigen „Kategorien" durchaus seiner Meinung, nach der das mustersetzende Beispiel entschied und nicht eine sollästhetische Forderung. Ibsen spürte, daß es hier um die Kernposition seines Kunstwollens und seiner Darstellungsabsicht ging und nicht nur um Außenwerke. Es ging zugleich um die These und die Tendenz, eine verfeinerte und verinnerlichte Form der Frauenemanzipation. Das psychologische Problemdrama wechselte mit der ersten Schlußfassung hinüber — und offenbar bewußt hinüber — auf den Bereich des sozialen Problemdramas. Es war dies der Weg, den dann auch der frühe Gerhart Hauptmann beschritt. August Strindberg hat später einmal brieflich vom „Tendenz-Ibsen" gesprochen, ohne zu berücksichtigen, daß er selber mitten im Glashaus saß, das freilich schon von sich aus spitziges Splitterglas bevorzugte. Aber auch er wehrt die Meinung ab, daß seine Gestalten seine eigenen „Ansichten" vertreten. Henrik Ibsen hatte längst vorher — ebenfalls brieflich — einschlägige Vorwürfe gelegentlich der „Gespenster" abgewehrt. Und es ist in diesem Zusammenhange erheblich, daß er dabei vor allem Deckung sucht hinter der objektiven Berichtshaltung des Realisten. „Man sucht mich für die Ansichten verantwortlich zu machen, die einzelne Gestalten des Dramas aussprechen. Und doch steht in dem ganzen Buch („Gespenster") nicht eine einzige Ansicht, nicht eine einzige Äußerung, die auf Rechnung des Autors käme. Davor habe ich mich wohlgehütet. Die Methode, die A r t der T e c h n i k , die der Form des Buches zu Grunde liegt, hat dem Verfasser ganz von selbst verboten, im Dialog zum Vorschein zu kommen. Meine A b s i c h t w a r , beim Leser den E i n d r u c k h e r v o r z u r u f e n , daß er während des Lesens ein Stück W i r k l i c h k e i t erlebe" (Januar 1882). Das Kunstwollen tritt in den beiden Schlußsätzen eindeutig und eindrucksvoll zutage. Es dürfte sich zudem um eine der klarsten Äußerungen Ibsens überhaupt über seine naturalistische Darstellungsabsicht handeln. Diese Äußerungen sind nämlich keineswegs so häufig, wie man vielfach anzunehmen geneigt ist. Was aber den Vorwurf des „Nihilismus" betrifft, so verweist Ibsen auf den Unterschied von ausgebrochener Krankheit und Krankheitssymptom. Das Signalisieren der Gefahr, von dem weit später

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Friedrich Wolf in immer neuen Variationen spricht, gilt bereits für Ibsen merklich als berechtigte dichterische Funktion im Dienste der Gesellschaft. Er habe sich mit dem Warnungssignal begnügt, „daß der Nihilismus unter der Oberfläche gärt, bei uns wie anderwärts". Was die realistische Form angeht, so wacht er ζ. B. darüber, daß auch Nebengestalten (in der Gruppe) von tüchtigen Schauspielern verkörpert werden: „je mehr charakteristische, naturwahre Gestalten in der Menge, desto besser". Die Forderung bezieht sich auf den „Volksfeind". In der Abwehr der Versform geht er damals so weit, daß er die Abfassung eines Prologs für eine Schauspielerin ablehnt „um meiner Überzeugung und meiner Kunstanschauung willen". Die Versform habe gerade der Schauspielkunst „außerordentlich vielen Schaden" zugefügt. Vorstellungen der Naturwissenschaft von aussterbenden Arten müssen helfen, das vermeintlich endgültige Überholtsein der Verssprache im Drama zu erhärten. Ibsen selber habe sich seit Jahren nicht vor der — wie er hervorhebt — größeren Schwierigkeit gescheut, „in schlichter, wahrer Wirklichkeitssprache zu dichten" (an Lucie Wolf, Mai 1883). Bemerkenswert erscheint die Sicherheit, mit der damals der Vers für alle Zeit totgesagt wurde. Wenige Jahre später lebte er bekanntlich wieder auf, um im neuromantischen Drama zu einer neuen Blüte zu gedeihen. Also: hier irrt Ibsen. Er irrt sich natürlich auch mit seiner betonten Tendenzfreiheit, bleibt dabei aber subjektiv ehrlich. Denn er durfte als Künstler für sich die große Gabe in Anspruch nehmen und als Aufgabe in seinem Werke gelöst und erfüllt sehen, Lehre und Leben, Idee und Wirklichkeit als Einheit und Ganzheit gestaltet und nicht nur gedeutet zu haben. Diese Einheit von Dichten und Deuten bleibt ein Hauptverdienst gerade seiner realistischen Dramen, während in seinen philosophischen Dramen noch strekkenweise ein Nebeneinander aushelfen mußte. An Elementen der Aufklärung im Sinne einer naturalistischen Neu-Aufklärung begegnen: Abwehr der Kirchenlehre (wenn auch nicht der Religion schlechtweg) als fortschritthemmend, Ergänzung — wenn nicht Ersetzung — des göttlichen Glaubens durch die menschliche Vernunft, dadurch gesteigerte persönliche Verantwortlichkeit (Konflikt mit dem Determinismus): in „Klein Eyolf" ζ. B. wird diese These so dick aufgetragen, daß Allmers an einem Buch schreibt „Über die menschliche Verantwortlichkeit". Als Träger eines solchen Verantwortlichkeitsgefühls kommt nur 3

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eine wertvolle Persönlichkeit in Betracht. Die Ausbildung der Persönlichkeit ist daher unerläßliche Voraussetzung. In diesem Punkt berührt sich Ibsen enger mit der Aufklärung als der konsequente Realismus in Deutschland. Voraussetzung wiederum für die Ausbildung der Persönlichkeit ist die Freiheit. Diese Freiheit wird eingeengt durch die Rücksicht auf die Gesellschaft. Aber sie wird eben dadurch erst zur „echten" Freiheit. Ibsen laboriert mit seiner neuen Aufklärung ebenso wie die alte Aufklärung des 18. Jahrhunderts daran, wie denn nun das Recht des Individuums in Eintracht zu bringen ist mit der Pflicht gegenüber der Gesellschaft. Zahlreiche Konflikte seiner Dramen sind an dieser Bruchstelle angesiedelt. Ein letztlich aufklärerisches P r i n z i p ist das der „ W a h r h e i t " oder doch des S t r e b e n s n a c h W a h r h e i t (vgl. Lessing). Wohl alle Gesellschaftsdramen Ibsens richten sich gegen die Lüge, vor allem gegen die Lüge um des persönlichen Vorteils willen, aber auch gegen die Lüge um der persönlichen Selbstberuhigung willen. Ibsen ist kein platter Aufklärer. Die „Wildente" macht die Gegenrechnung auf: „Nimmt man einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, so nimmt man ihm gleichzeitig das Glück". Immerhin: dieses Glücksstreben neben dem Erkenntnisstreben bleibt wieder im Kern aufklärerisch trotz der neuromantisch-symbolistischen Umhüllung. Aufklärerisch in der Grundsubstanz wirkt ein realistisch demonstrierter Idealismus, der eng mit Erziehungsoptimismus verschwistert bleibt. Das ganze Leben ist eine große Schule. Da gibt es Schwererziehbare wie Peer Gynt, aber der steht jenseits der naturalistischen Gesellschaftsdramen neuaufklärerischer Prägung, ebenso Brand. Der eine ist der Phantasie verfallen, der andere dem extremen Willen, der eine ist Phantast, der andere Fanatiker. Beide sind Leidenschaften verfallen und damit weitgehend der Vernunft entrückt. Daher sind sie als unfertige Persönlichkeiten der Halbheit ausgeliefert. Wie lehrte Lessing? „Die Wahrheit läßt sich nicht im Taumel der Leidenschaften erhäschen" und „Nichts verdunkelt unsere Erkenntnis so sehr wie die Leidenschaften". Henrik Ibsen hat einmal auf die Forderung nach einer Definition des Wesens der Poesie reagiert mit der prägnanten Formel „Dichten ist Sehen". Das klingt naturalistisch etwa wie Zolas „gesehen durch ein Temperament". Aber dieses Temperament war bei Ibsen stark pädagogisch und moralpädagogisch eingestimmt. Daher

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soll dieses Sehen immer abzielen auf ein Einsehen, die Sicht erfolgt zugunsten der Einsicht. Und das klingt neu-aufklärerisch. Der Mensch ist nicht nur veränderlich, er ist auch veränderbar. Das Wissen muß moralisch aktiviert werden, um das Gewissen zu stärken. Die Beobachtung der Lebenswahrheit hat ständig die Beachtung der Lebenslehre in sich aufzunehmen. Wahrheit hat eigentlich nur dann Wert, wenn sie belehrt. Und Erkenntnis setzt immer eine gewisse Ernüchterung voraus. Henrik Ibsen hat keinen „Rausch" geschrieben wie August Strindberg. Und sogar seine Traumspiele träumen von der Erziehung des Menschengeschlechts. Selbst Peer Gynt wird von der gewiß gefühlvollen Solveig dahin belehrt, wie er „eigentlich" hätte sein sollen und sein müssen. Alles das bleibt in der tragenden Struktur „bürgerlich" wie die Aufklärung. Dazu gehört auch die Problematik des Genies, das mehr störend als fördernd wirkt. Brand ist ein Willensgenie, macht aber nur Trümmer. Peer Gynt ist ein Phantasie-Genie, bringt es aber nur zu grandiosen Bruchstücken. Helmer möchte Nora zur Einsicht in den Lebensernst des formalen Rechtsbegriffs bringen. Nora möchte Helmer emporziehen zur Einsicht in die Ebenbürtigkeit der ernstzunehmenden Frau, die freilich auf das „Wunder" vergeblich wartet. Rosmer möchte Rebekka West erziehen und nicht nur sie („Rosmersholm"). Dr. Stockmann will gar eine regelrechte Schule aufmachen, natürlich als Paradigma einer Schulreform, usw. Alles das ist Neu-Aufklärung in Reinkultur als Kultur der Reinen und Wertvollen und Würdigen. Und alles das spielt sich fast ausschließlich im Raum des — wenn auch ökonomisch modern bestimmten und bedrohten — Bürgertums ab. Man war, wie Ibsen beweist, mit der letzten Verbesserung des drittens Standes noch vollauf beschäftigt, daß man sich nicht wundern kann, wenn selbst im Drama des konsequenten Realismus der vierte Stand in der Praxis nicht entfernt in dem Maße zum Spiel kam, wie es die Theorie erwarten lassen konnte. Ibsen war Vollender des bürgerlichen Dramas mit sozialer Tendenz. Und das hat ihm den Welterfolg eingetragen. Wie verschüttet dieser Weg war, beweist der Umstand, daß er — ζ. B. selbst in Frankreich, von dem er doch gerade in seinen Gesellschaftsdramen manches gelernt hatte — allgemein als Bahnbrecher eingeschätzt wurde. Nur in gewissem Grade ist er als Vollender auch schon ein Überwinder des bürgerlichen Trauerspiels. 3*

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Diese Überwindung nämlich kommt im Gesamt der Entwicklung Gerhart Hauptmann zu und nicht Henrik Ibsen. Theodor Fontane, der allerdings allzu einseitig über Henrik Ibsen geurteilt und abgeurteilt hat, übertreibt in seiner frühen Begeisterung etwas, wenn er zuspitzt: „Dieser Hauptmann . . . ist das wirklich, was Ibsen bloß will". Fraglos ist Hauptmanns Weg von Ibsen wesentlich erleichtert worden. Und er war stolz auf die anerkennenden Worte, die Ibsen für den jungen Dramatiker fand. Im unerbittlichen Sichtbarmachen eines mehr als unerquicklichen Milieus hat sein umstrittenes Programmdrama „Vor Sonnenaufgang" von L. Tolstois „Macht der Finsternis" gelernt. Aber er vermeidet sowohl die aufklärerische öffentlich geübte Selbstkritik des Konsuls Bernick am Schluß der „Stützen der Gesellschft" wie auch die religiöse öffentliche Selbstanklage Nikitas. Der bislang kaum ernstlich unternommene Vergleich der angedeuteten beiden Szenen erhellt schlagartig den grundlegenden Unterschied zwischen Ibsen und Tolstoi. Das Gerichtstaghalten über das eigene Ich ist von L e o N i k o l a j e w i t s c h T o l s t o i (1828—1910) weit rücksichtsloser und demonstrativer verwirklicht worden als von Henrik Ibsen. Aber dieses Gerichtstaghalten war mehr vom Religiösen inspiriert als vom Lebensphilosophischen determiniert. Ibsens Aphorismen zur Lebensweisheit in dramatisierter, auf Sonderprobleme spezialisierter Form entsprechen bei Tolstoi die Apotheosen einer allerdings nicht rein kirchlichen Heilslehre. Eigenartige und eigenwillige Verschmelzung von Pietismus (Läuterung des Büßenden und Bereuenden) und Pantheismus (Natur als Zugang zu Gott), von Urchristentum und utopischem Sozialismus werden dabei umgesetzt in theoretische Erkenntnis und künstlerisches Bekenntnis. Mission und Konfession erfahren mancherlei Überkreuzungen und Verwerfungen, um schließlich doch zu einer spannungsreichen Einheit und Ganzheit sich zu überwölben. Der eine (Ibsen) ruft die Lebenslehre zur Hilfe, der andere (Tolstoi) die Heilslehre. Der eine lauschte der Botschaft der Vernunft, der andere rettete sich in die Botschaft des Glaubens, da alle menschliche Vernunft und Übereinkunft schließlich versagt. Der eine bedurfte der philosophischen, der andere der religiösen Auffangstellung, um den Lebenskampf sinnvoll und trostreich zu deuten. Beide gaben vor und waren überzeugt, sich an die Wirklichkeit zu halten und auf die Wahrheit als Ziel zuzuhalten. Aber für Tolstoi war oder wurde die „wahre"

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Wirklichkeit weit mehr als für Ibsen zugleich zur „wirklichen" Wahrheit. Und diese wirkliche Wahrheit wurde bei Tolstoi nicht oder doch nicht gültig und endgültig von einem sinnenhaft Wirklichen abstrahiert, sondern in ein Überwirkliches transponiert und transzendiert. Die Brücke schlug jene „innere" Wirklichkeit, die vom Rezeptiven zum Produktiven den Übergang sicherte, indem sie das künstlerische Schöpfertum eingehen ließ in die schaffende Gottheit und es mehr und mehr in ihr aufgehen ließ. Vereinfachend und vergröbernd gesehen und gesagt: Ibsen hatte den Idealismus hinter sich, als er zum Realismus durchstieß. Tolstoi hatte den Realismus oder doch den national modifizierten „poetischen" und „künstlerischen Realismus" hinter sich, als er auf einen religiös betonten Idealismus zuschritt. Vom einseitig Ästhetischen löste sich Tolstoi — auch rein kunsttheoretisch — ähnlich wie Ibsen und unter ähnlichen ethischen Impulsen. Und zunächst könnte die Einheit des Schönen, Guten und Wahren, die er an die Stelle des ästhetischen Primats rückte, noch ganz wie bei Ibsen als ein Neuaufleben von Vorstellungen der Aufklärung wirken. Diesen aufklärerischen Anteil fühlte die Kirche, der „Heilige Synod" heraus, als Tolstoi 1891 — das war das Gesetzesjahr des Kunsttheoretikers Arno Holz — exkommuniziert wurde. Aber wenn Tolstoi von dem „Schönen" als von einer „Krönung des Guten", des Göttlich-Guten, spricht, so erinnert das weit weniger an die Aufklärung und weit mehr an die bekannte Formel Adalbert Stifters, nach der die Kunst das „Göttliche im Gewände des Reizes" darbietet. Und wiederum: bei Stifter, der als Dichter in weiter Ferne von Tolstoi zu stehen scheint, war die Natur ein von Gott gütig Betreutes und der Mensch ein väterlich fürsorgend Gelenkter und Beschenkter. Bei Leo Tolstoi mußte sich der Mensch durch die Natur hindurchkämpfen, um sich seinen „Gott" in schwerem Ringen immer wieder zu erobern. Beide aber, so sehr sie immer in extremer Distanz begegnen mögen, sahen in den Leidenschaften die stärksten Gegenmächte des Göttlichen. In ihnen ballte sich für Tolstoi die „Macht der Finsternis" auch jenseits des Dramatischen, z . B . in der „Kreutzersonate". Dennoch, und hier erfolgt eine eigenartige Zusammenschau von Humanität und Christlichkeit, bleibt die Zuversicht in aller Widrigkeit und Niedrigkeit des Lebens: „Das Licht leuchtet in der Finsternis", und zwar nicht nur in diesem Drama, sondern auch im Endertrag der öffentlichen Bußszene in der „Macht der Finsternis", im halb

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realistischen und halb neuromantisch-symbolistischen Nachlaßdrama „Der lebende Leichnam" und vollends im Roman „Auferstehung" (1899). Wenn übrigens die Ibsen-Sonderforschung den Konsul Alving aus den „Gespenstern" mit dem durch Triebleben zerrütteten, lebensmüden Grafen Bertram aus Friedrich Hebbels „Julia"Tragödie in Beziehung gebracht hat, so könnte die Tolstoi- Sonderforschung mit vielleicht mehr Anrecht den Fedja im „Lebenden Leichnam" mit Hebbels Bertram in Beziehung bringen, da hier über den Charakter hinaus das ganze Motiv (Ermöglichung einer Eheschließung durch Verzicht des Dritten auf das Eherecht) und die Problemlösung (geplanter Freitod bei Hebbel, ausgeführter Freitod bei Tolstoi, um das Glück der Liebenden zu sichern bzw. nicht zu stören) viel ähnlicher sind. Doch soll damit kein „Einfluß" aufgedeckt, nur eine vielleicht nicht uninteressante Parallele angedeutet werden. Sie hilft zugleich den Blick hinlenken auf eine größere allgemeinere Parallele. Man hat sich, besonders in deutschen Literaturgeschichten, allzusehr gewöhnt, das Gesamtwerk Leo Tolstois überwiegend vom Naturalismus aus zu sehen. Das große Romanwerk Tolstois „Krieg und Frieden", das den Roman fast der Größe des Epos angleicht, liegt jedoch zeitparallel mit einer Hauptwelle des poetischen und künstlerischen Realismus in Deutschland. Das dem napoleonischen Krieg gewidmete Romanwerk erschien zunächst im „Russischen Boten" 1865—69. Viele der mit Recht gerühmten Vorzüge entsprechen durchaus den Forderungen des poetischen Realismus, der allerdings kaum etwas Ebenbürtiges an Breite und Weite der epischen Entfaltung aufzuweisen hatte. L.Tolstoi nahm zugleich die Forderung Theodor Fontanes vorweg, daß der Roman nicht viel weiter zurückreichen solle als die mündliche Überlieferung. Ebenso verwirklichte er bereits längst vor Friedrich Spielhagens Theorie jene Objektivität im Roman, die das Stellvertretertum immer noch bei weitem kunsttechnisch berechtigter fand als das persönliche Hineinreden des Romanautors. Denn unverkennbar verbirgt sich Tolstoi mehrfach hinter einzelnen Romangestalten (darüber weiter unten). Insofern verbindet sich der objektive Bericht immer wieder mit dem subjektiven Bekenntnis, die sachliche „Wahrheit" mit der persönlichen Ehrlichkeit. Die sachliche und psychologische Wahrheit und Wahrhaftigkeit war ihm zuerst im Krimkrieg begegnet. Deutliche Spuren dieses den jungen Offizier notwendig alarmie-

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renden Wahrheitserlebnisses begegnen in den „Sewastopol"-Erzählungen. Tolstoi weicht der Frage nicht aus, was auch der tapfere Soldat in dem Augenblick empfindet, in dem eine Granate in seiner unmittelbaren Nähe krepiert. Und er lernt an ihrer ehrlichen Beantwortung die Problematik eines verklärenden, „poetischen" Realismus erkennen. Das war kunsttheoretisch wesentlich bedeutsamer und fördernder als jene Reminiszenzen des Gegenständlich-Gegenwärtigen, die frühe Erinnerungen an die Knabenzeit schon vom Thema her mit sich brachten in „Kindheit" und „Knabenzeit" (1852/57). Denn der Rückblick auf das Knabenalter legte ebenso stark gewisse Zugeständnisse an das „Verklären" nahe. Gewiß sind hier beachtenswerte Ansätze zum Entwicklungsroman im engeren Sinne jenseits des Erziehungsromans zu verzeichnen. Aber ein Vergleich etwa mit Andersen Nexö oder auch mit Heinrich Mann („Henri Quatre") läßt erkennen, wie sehr diese Versuche damals, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, noch in den Anfängen steckenbleiben mußten. Karl Gutzkow entwickelte in Deutschland die Theorie eines „Romans des Nebeneinander". Tolstois „Krieg und Frieden" hat vieles von diesem Programm verwirklicht, mehr als Gutzkow in den „Rittern vom Geist". Die Steppenweite dieser Romane ermöglichte ein solches „Nebeneinander". Das mag irgendwie naturalistisch wirken, wie das Kapitel „Brandgasse" bei Gutzkow mit seiner Schilderung der Mietskaserne vornaturalistisch aufgefaßt werden könnte. Aber in Wirklichkeit dürfte der damalige Tolstoi weit weniger von den deutschen und weit mehr von den französischen Romanciers gelernt haben. Trotz der russischen Atmosphäre herrscht die westeuropäische Kunsttechnik. Das Objekt der Gesellschaftskritik trug östliches Gepräge aus guter Kenntnis und Beobachtung des östlichen Milieus und der östlichen Gesellschaftsstruktur. Aber die Methode war durchaus westlicher Erwerb von spezifisch europäischem, indessen nicht speziell naturalistischem Habitus. Tolstoi hat das „Russische" so überbetont, daß es nicht mehr ganz echt wirkt, ähnlich wie er den Privat-Kommunismus so überbetonte, daß er ebenfalls nicht ganz echt wirkt. Er ähnelt in manchem Rousseau, obwohl es ihm merklich ernster war um eine Überwindung des Widerspruchs von Theorie und Praxis. Er war im Gesamt seines Kunstwollens Realist, aber nicht Naturalist. Er warnte geradezu davor, die Methode des Naturwissenschaftlers kurzerhand (etwa mit der Energie

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Zolas) auf die Dichtung zu übertragen. Die täuschendste Illusion täuschte ihn nicht hinweg über die Sinnestäuschung. Die Wirklichkeit, die von den Sinnen erfaßt wurde, war für ihn nicht gleichwertig mit der Wahrheit, die von der Seele erfaßt wurde. Die gesellschaftlichen Gesetze interessierten ihn weit mehr als die Naturgesetze. Auch die gesellschaftlichen Gegensätze: so etwa in dem Roman „Anna Karenina" (1874/76), der die sozialkritischen Züge viel schärfer herausarbeitet als etwa Theodor Fontanes an sich motivlich verwandter Eheroman „Effi Briest" (1895). Naturalistisch j edoch wird man die „Anna Karenina " als Gesamtwerk schwerlich nennen können, auch nicht dem vorherrschenden Darstellungswollen nach. Denn unbestechliche Aufrichtigkeit ist noch kein Naturalismus. „Auferstehung" (1899) vollends kommt schon rein zeitlich für die entscheidenden Jahre des (deutschen) Naturalismus zu spät, ganz abgesehen von der abweichenden, fast ins religiöse Erbauungs- und Büßer-Schrifttum hinüberweisenden weltanschaulichen Tendenz. Auch wenn man von den Großwerken zu den begleitenden Erzählungen greift, etwa zu dem künstlerisch besonders hochstehenden „Tod des Iwan Iljitsch" (1885), also aus dem Ansatzjahr der deutschen Programmatik des Naturalismus, so liegt wohl Realismus, nicht aber ausgesprochener Naturalismus vor. Nach alledem ist es gar nicht einmal so abseitig, wenn sich — allerdings von seinem Blickwinkel aus nicht gerade unparteiisch — schon aus unmittelbarer Zeitnähe Adalbert von Hanstein bitter darüber beklagte, daß es nur Otto Brahms pronaturalistischer Fanatismus gewesen sei, der auf seiner Bühne alles Mögliche zusammenschleppte, was ihm nur irgendwie „naturalistisch" vorkam, darunter vorzugsweise Ausländer, „die nie Naturalisten gewesen sind wie der Ideengrübler Ibsen und der Religionsneuerer Tolstoi". Das war nun gewiß auch wieder zu einseitig gesehen und gewertet. Denn fraglos näherte sich der Realismus Tolstois streckenweise bereits dem konsequenten Realismus (Naturalismus). Es ist überhaupt im Einzelfall gar nicht leicht, verläßlich zu unterscheiden und säuberlich abzugrenzen, wo denn nun der Realismus aufhört und der Naturalismus anfängt, weist doch selbst schon der poetische Realismus, ganz abgesehen von der mundartlichen Regionalpoesie, mannigfache konsequent realistische Einschläge auf. Es kommt immer darauf an, ob man nur die Darstellungsweise und Motivwahl meint oder zugleich das betont Soziologische und Biologische in der ganzen Problemstellung. Erst diese Verbindung ist

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für den Naturalismus als Epochenstil entscheidend, während die Darstellungsweise allein kein verbindliches Kriterium abgibt. Bei Tolstoi aber tritt das Biologische weitgehend zurück. Gerade auch oder selbst noch jenes Drama ist in diesem Betracht aufschlußreich, das am ehesten als ausgesprochen „naturalistisch" gelten konnte, „Die Macht der Finsternis". Vollends nachdem der junge Gerhart Hauptmann dankbar und freimütig bekannt hatte, daß sein sensationeller Früherfolg „Vor Sonnenaufgang" manches dem Vorbildwerk Tolstois zu danken habe, war zunächst einmal für die Bühne der Ruf Tolstois als Wegbereiter des Naturalismus gesichert. Hier eben hat die erwähnte Polemik A. v. Hansteins eingesetzt. Näher betrachtet, war Tolstois „Die Macht der Finsternis" ein Thesenstück nach Ibsens Art, aber ohne den weltanschaulichen Traggrund Ibsens. Der ideeliche Traggrund Ibsens nämlich war durch eine dunkle, tief religiöse Wurzelschicht ersetzt worden. Die tierische Dumpfheit des Trieblebens und der Besitz- undGenußgier, die der Knecht Nikita, aber auch Anisja, die lebenshungrige Frau des totkranken Bauern Pjotr, und mehr als thesenhafte Abstraktion die zum Gattenmord anstiftende Mutter Nikitas, Matriona, bis ins Extrem vorgetrieben und mit wahrhafter Brutalität der Zeichnung verkörpern, das schien allerdings Naturalismus in Reinkultur zu sein. Wenn dort der leichtsinnige Knecht Nikita ein lästiges neugeborenes Kind, das zudem von der schwachsinnigen jugendlichen Stiefschwester der Bäuerin als Frucht eines zusätzlichen (und entsetzlichen) Liebesverhältnisses des vielbegehrten Knechts stammt, auf Anstiften der Frauen unter einem Brett breitquetscht, so schien das die letzte Konsequenz eines unüberbietbaren konsequenten Realismus zu sein oder gleichsam vorwegzunehmen. Für Tolstoi war das übrigens gar nicht einmal so „neu" wie für den jungen Hauptmann. Das Soziologische des russischen Realismus, die von ihm (besonders auf dem Lande) vorgefundenen Verhältnisse und Gepflogenheiten, arbeitete längst mit grellen Farben. Aber dieses Soziologische wurde nun im Schlußertrag des realistischen Schauderdramas eindeutig in den Dienst des Theologischen gestellt. Der ganze trostlos trübe und bestialisch blutige Sündenpfuhl der Lebensgier und Geldgier wurde nur deshalb so naturgetreu oder tiergetreu ausgebreitet und mit allen realistischen „Glanz"-Lichtern ausgestattet, damit die Bußhandlung und das Schuld- und Reuebekenntnis Nikitas im Schlußakt als Apotheose

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der göttlichen Geduld und Gnade um so triumphaler sich abheben und Spielende wie Zuschauer in echte Erbauung emporheben konnte. Laster werden demonstriert, darunter nicht zuletzt der Alkoholismus. Aber das biogenetische Gesetz der Vererbungslehre wird nicht in Anspruch genommen. Es würde die religiöse Tendenz des Ganzen beeinträchtigt haben. Denn der Mensch mußte ganz von sich aus schuldiger und bußbedürftiger Sünder sein. Vererbung und Schicksal hätte von Schuld wenigstens zum Teil befreit. Gerhart Hauptmann dagegen weicht gerade in dieser Hinsicht von Tolstois Vorbild ab. Er stellt das Biologische in die Zentralstellung, ohne das Soziologische zu vernachlässigen. Das Religiöse wird nur noch angedeutet (Herrnhutertum Helene Krauses), um in den „Einsamen Menschen", wo nicht umsonst die Bildnisse Darwins und Haeckels das Zimmer des der Theologie abtrünnig gewordenen Privatgelehrten schmücken, im Endertrag des Dramas geradezu in Anklage gestellt zu werden. Mit wenigen Worten, die Darstellungsweise in der „Macht der Finsternis" war naturalistisch, die Tendenz war un-naturalistisch, zum mindesten nichts weniger als naturwissenschaftlich orientiert. Das Tendenzstück Tolstois ist im ganzen Typus ein Lehrstück so gut wie die Lehrstücke Bertolt Brechts; und der arme Latrinenreiniger Vater Akim ähnelt im Prinzip dem armen Wasserverkäufer in Brechts „Gutem Menschen von Sezuan". Aber natürlich: die Tendenz ist anders. Die „innere" Wirklichkeit scheint sich leichter zu verändern als die äußeren Verhältnisse. Es war zudem nichts Ungewöhnliches in der russischen Literatur, daß die Gesellschaftskritik und das Sozialrevolutionäre zu guter Letzt umgebogen und abgelenkt wurden in das Bejahen der religiösen Trostgründe und die Hilfe der Heilslehre. Selbst Gogol, dessen „Tote Seelen" mit seinem scheinbar so gegensätzlichen „Revisor" das gemeinsame gesellschaftskritische Motiv von den betrogenen Betrügern teilen, unternahm es, seinem berühmten Roman betont religiöse Zusätze nachzusenden. Das Realistische war gleichsam immer bereit, ins Religiöse umzuschlagen, um sich damit zu rechtfertigen und darin zu beruhigen. Es war keineswegs nur eine phantastische Realistik des Grauens, die hinter der „Macht der Finsternis" stand. „Gespräche mit Tolstoi" (J. Teneromo, deutsch 1911) lassen ablesen, daß MotivModelle und auch Gestalten-Modelle aus Tolstois eigenem Beobachtungs- und Erfahrungskreis vorgelegen haben. Nur daß dabei

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von dem dichterischen Recht Gebrauch gemacht wurde, mehrere Vorkommnisse der ländlich-rohen Wirklichkeit in ein Geschehen zusammenzuziehen und es zugleich auszubauen. Bei den Vorkommnissen handelte es sich einerseits um die Ehescheu eines Bauernburschen, der ein Dorfmädchen geschwängert hat und vom ehrlichen Vater lange vergeblich ermahnt wird, während die Mutter eine zwiespältige Haltung einnimmt. Zum andern ging es um die brutale Beseitigung eines unehelichen Kindes. Die Modell-Nähe wurde vom Dramatiker noch während der Ausformung dadurch aufrechterhalten und erlebnismäßig gestützt, daß er, wie er selbst vermerkt, zunächst die wirklichen Namen beibehalten und sie erst später abgewandelt oder ersetzt hat. Die erste Fassung war bewußt modelltreu: „Später werde ich selbstverständlich alles umarbeiten und ihnen andere Namen geben". Der Sondertypus des Modell-Dichters ist — besonders seit Müller-Freienfels — allgemein vertraut. Tolstoi scheint in hohem Grade diesem Typus zuzuneigen, wie etwa auch die Selbst-Modelle zu mannigfachen StellvertreterFiguren (Lewin in „Anna Karenina", Butler in „Hadschi Murad", Nechljudow in „Auferstehung" a. u.) bestätigen. Es darf aber darüber hinaus nicht unterschätzt werden, daß das naturalistische Kunstwollen und seine kunsttechnische Methode auch diejenigen Dichter auf ein Modell-Verwenden verwiesen und sie daran gewöhnten, die rein anlagemäßig nicht so ohne weiteres dem ModellDichtertum zuzurechnen wären. Mit anderen Worten, der Naturalismus war schon seinem Programm zufolge eine besonders modellgläubige Kunstrichtung. Im Sonderfall der „Macht der Finsternis" ist es recht interessant zu beobachten, wie Tolstoi jene Modell-Verarbeitung weniger mit der des Malers als mit der des Bildhauers vergleicht. Es geschieht das ausdrücklich mit dem Bezug auf das Drama unter Abhebung vom Roman. Die Produktion einer dramatischen Großform wird von Tolstoi als etwas Neuartiges erlebt, und er möchte sich merklich Klarheit über das vom Epischen Abweichende der ganzen Arbeitsweise verschaffen. Es will ihm scheinen, als ob seine BegleitEindriicke nicht mit dem übereinstimmen, „was man gewöhnlich darüber erzählt. Ich schreibe nicht, ich beschreibe nicht, ich zeichne nicht, sondern — wie kann man sich deutlicher ausdrücken? — ich meißle es. Ist der Romanschriftsteller ein Maler, so ist der dramatische Dichter ein Bildhauer." Eigenartig muß es in diesem Zusammenhange anmuten, wenn es gerade ein Dramatiker

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gewesen ist, der von der Bildhauerei hergekommen war, auf den dieses „gemeißelte" Tolstoi-Drama eine so anregende Wirkung ausübte: der junge Gerhart Hauptmann. Vielleicht sind solche Künstlerbegegnungen doch mehr als ein bloßer Zufall, und die Vorstellung einer zwangsläufigen Wahlverwandtschaft drängt sich auf, ohne daß sie erst „gepreßt" werden müßte. Noch ein Anderes aus diesem Zeugnis über den dichterischen Schaffensvorgang bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Mit schlichten, aber klaren Worten umreißt nämlich Tolstoi schon bei dieser Gelegenheit (1886) die angestrebte Sonderform des Dramas des reifen Zustandes, die für das naturalistische Drama so charakteristisch wird (voigeformt bei Henrik Ibsen). Die langsame Entwicklung der Geschehensstufen scheint für das Drama des einzigen fünften Aktes nicht geeignet: „Die Ereignisse müssen s c h o n h i n t e r der S z e n e reif w e r d e n , sie müssen bereits fertig herauskommen". Soviel wird deutlich, Tolstois „Macht der Finsternis" war kein bloßer naturalistischer Zufallstreffer, sondern eine gezielte Leistung, von einem lebendigen Kunstwollen geleitet. Es war trotz aller Grellheiten das Produkt eines „besonnenen Realismus" (W. Bölsche). Tolstois umfangreiche Schrift „Was ist Kunst?" (1895, deutsch 1902, nach der russischen Ausgabe von 1899), die in Rußland anfangs nur in gekürzten Fassungen erscheinen konnte, vertritt bereits eine schonungslose Kritik an Wesen und Wirkung der Kunst unter dem Wertungswinkel einer religiösen, aber nicht kirchlichen Erbauungskunst mit utopisch-sozialistischen Einschlägen. Obwohl in fanatischer Monotonie und ermüdender Breite die Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit der bislang bestehenden Kunstübung gepredigt wird, ist andererseits die von Tolstoi für seine Darstellung geleistete Vorarbeit auf dem Gebiet der Ästhetik bzw. ihrer Geschichte nicht zu übersehen, obwohl vielfach Anlehnungen an Schaslers Darstellung erfolgen und auch als solche gekennzeichnet worden sind. Es handelt sich dabei vor allem um das dritte Kapitel, das mit G. A. Baumgarten beginnt und bis Taine („Philosophie de l'art" 1865/69), Grant-Allen („Physiological Aesthetic" 1877) oder Knight („Philosophy of the Beautiful" 1893) reicht. Aber, wie gesagt, die „Kritische Geschichte der Ästhetik" (1872) von M a x S c h a s l e r (1819 —1903) erleichterte beträchtlich diesen Überblick, der sich zudem auf die Schönheits- und allgemeine KunstDefinition beschränkt und nicht etwa Definitionen der Dichtkunst

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einbezieht. Diese dekorative Sammlung von Definitionen wird nun aber kaum ausgewertet für die durchweg auf Negation gerichtete Beweisführung. Es kommt Tolstoi überhaupt weniger auf das Überzeugen an als auf das propagandistische Überreden. Wie wenig der damalige Tolstoi noch auf den Naturalismus eingestellt war, geht schon daraus hervor, daß er ausschließlich den „Schönheits"-Begriff berücksichtigt. Es wird wohl gelegentlich einmal auf den Naturalismus zurückgegriffen, etwa um die Uneinigkeit der Kunstrichtungen zu erhärten; ζ. B. „im Roman sehen Sie Naturalisten, Psychologen, Realisten, die einander nicht anerkennen. Dasselbe ist auch im Drama der Fall." Der entsprechend umgebogene Spielbegriff — als Gewährsmänner werden Schiller, Darwin, Spencer zusammengewürfelt — muß dienen, das Zwecklose und Sinnlose der Kunst zu belegen, wie jener Richtungs-Streit das Ziellose zu illustrieren hat. Besondere Angriffsflächen bietet die Oper, und im Anhang sucht Tolstoi Richard Wagners „Ring" durch nackte Inhaltsangaben als sinnarm bloßzustellen. Trotz alledem begegnet als knappe Belohnung für die Wüstenwanderung durch diese Welt des Vorurteils vereinzelt eine Deutung, die zwar mit Naturalismus herzlich wenig mehr zu schaffen hat, aber doch aufhorchen läßt. So etwa: „Die Aufgabe der Kunst besteht gerade darin, das verständlich und faßbar zu machen, was in Gestalt von Erörterungen unverständlich und unfaßbar sein könnte. Gewöhnlich scheint es dem Genießenden, wenn er einen wahren künstlerischen Eindruck erhält, als habe er dies schon früher gewußt, aber nur nicht verstanden, es auszudrücken." Im allgemeinen aber herrscht der reine Zweck- und Nutzwert, der die gesellschaftliche Funktion der Kunst bestimmt und jederzeit neu zu rechtfertigen hat. Das Kunstwerk der Zukunft kann nicht das von Richard Wagner projektierte und propagierte sein. Es muß vielmehr dem einfachen Mann etwas zu bieten haben, durch das er sich gefördert fühlt. So verstanden, sei die Aufgabe der Zukunftskunst „ungeheuer". Denn sie hat den Menschen zur religiösen Gesinnung und zum sozialen Verhalten im Sinne der Eintracht und des friedlichen Zusammenlebens zu führen. Von hier aus wird der Satz verständlich: „Die Kunst muß die Gewalt beseitigen", indem sie die Gefühle der „Brüderlichkeit und Nächstenliebe" kräftigt. So verschmelzen sich auch hier politische und christliche Vorstellungen. Die Dominante aber wird von der Moral (halb aufklärerisch; Tugendlehre) und von der Religion (halb

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mystisch) gestellt. Tolstoi empfindet das nicht als reaktionär, sondern als zukunftweisend, wobei man sich an das Wort Eichendorffs erinnert fühlt, daß die Revolution immer von der Religion ausgegangen sei. Von Poetik kann dabei keine Rede sein und von Naturalismus ebensowenig. Aber auch der Symbolismus findet keine Gnade vor Tolstois strengem moralpädagogischem Richterstuhl, den er gleichsam zur Kanzel eines „Laienevangeliums" machen möchte. Da sich die neuere russische Literatur weit überwiegend im Zeichen des „Realismus" entfaltete, wurde das Kenn- und Merkwort „Realismus" zugleich zu einer Art von Qualitätsmarke. Es wurde deshalb auch dort in Anspruch genommen, wo an sich das Charakteristische eines Gesamtwerks keineswegs im „Realistischen" zu suchen war, so etwa bei F j o d o r M i c h a i l o w i t s c h Dos t o j e w s k i (1821—1881). Eigenwert und Eigenwesen Dostojewskis liegt der Motivgestaltung nach im Psychologisch-Impressionistischen, dem Lebensgefühl nach im Dämonisch-Düsteren, der Tendenz nach aber im Mystisch-Religiösen nachromantischer (oder schon neuromantischer) Art. Es muß auffallen, mit welchem Nachdruck Dostojewski selber hervorhebt, „Realist" zu sein. Zum Teil sieht er sich allerdings gezwungen, sich auf die Formel vom „Realisten der Seele" zurückzuziehen. In der Tat ist die psychologische Motivierung der Ermordung der alten Pfandleiherin in „Raskolnikow" (moralisch betonter Titel: „Verbrechen und Strafe" bzw. „Schuld und Sühne") sowie die Schilderung des Reflexes der Tat ein Kabinettstück, ja eine Gewaltprobe realistischer Psychologie. Insofern liegt eine Spielform des Experimental-Romans vor. Aber ebenso wird erkennbar, wie weit Dostojewski sich von Zola entfernt hält. Denn viel ausgeprägter und subjektiv notwendiger noch als bei Tolstoi ist bei Dostojewski das Soziologische nur ein — freilich pflegsam behandelter — Spiegel für die Widerspiegelung des Theologischen (das „Theologische" immer im weiteren Sinne). Das Biologische kommt wieder, jedenfalls gemessen am Naturalismus, eindeutig zu kurz. Die Lehre von den gesetzlichen Lebensvorgängen würde von ihm als unnötiger Umweg empfunden worden sein, da sich ihm doch von der Erläuterung der gesellschaftlichen Vorgänge zu einer Erläuterung und Erbauung der seelischen Vorgänge und Aufschwünge nach aller Niedergebrochenheit so unmittelbar und deshalb doppelt „wahr" der Zugang aufschloß. Warum den „Idi-

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oten" (1868) womöglich erbgesetzlich erklären, wenn er im romantischen Sich-Berühren des Unbewußten und göttlich Überbewußten sich so (verführerisch) leicht unmittelbar an christliche Vorstellungen und Vorzüge heranrücken ließ ? Es bedurfte selbst für ein weiter verzweigtes Verbrechen wie das in der Gutsherrnfamilie „Die Brüder Karamasow" (Vatermord an unwürdigem Objekt, vgl. „Raskolnikow") keiner erblichen Belastung, um die christliche Vorstellung der Erbsünde zu veranschaulichen. Das Mitleiden mit den Enterbten, Betrogenen, Leidenden, Elenden und Beladenen mochte auf die deutschen Naturalisten zwar „naturalistisch" wirken, war aber von Dostojewski zunächst einmal als christliche Nächstenliebe gemeint. Alles lief letztlich hinaus auf das Gewaltgewinnen über den eigenen Dämon, auch dort, wo es um den bösen Dämon des Nihilismus ging, den „Die Dämonen" (1871) austreiben helfen sollten. Wieder war es nicht sowohl die Tendenz, an die sich die Naturalisten hielten, als vielmehr die psychologische Gründlichkeit in der Ausmalung des menschlichen Elends und der Not, die nun zum Selbstzweck wurden und nicht mehr Mittel zum Zweck der religiösen Erhöhung waren. Zwar mochte in Einzelfällen etwas hinüberwirken von der romantisch-religiösen Atmosphäre. Aber wo man das annehmen könnte, wie etwa im Ausgang von Hauptmanns „Webern", da war immer schon vom Eigenen her (schlesischer Pietismus) die Bereitschaft dafür vorhanden (vgl. auch die Gestalt August Keils, des Verlobten in „Rose Bernd"). Man braucht nicht erst „Das Tagebuch eines Schriftstellers" (1876/77 und 1880/81 in Zeitschrift-Form, vorher schon titelgleiche Feuilletons in der Zeitschrift „Der Bürger") zu befragen, um zu erkennen, daß Dostojewski seinen sogenannten „Realismus" sehr nah an die Romantik heranführt. Denn das „Phantastische" ist auch kunsttheoretisch keineswegs ausgeklammert worden bei der sehr elastisch gehaltenen Umgrenzung des Realismus, wie Dostojewski ihn verstanden wissen wollte. Und ein gut Stück Selbstrechtfertigungs-Poetik dürfte mit im Spiele sein, wenn er die Sonderform des Realismus rühmt, die gleichsam „an das Phantastische" unmittelbar angrenzt. Das war in Wirklichkeit das Verfahren, das schon die deutsche Hochromantik kannte, das Phantastische durch realistische Darstellungsweise dichterisch „wirklich" erscheinen zu lassen. Der ganz frühe Dostojewski hatte nicht nur — wie Ibsen — von Schiller, er hatte auch von Ε. T. A. Hoffmann gelernt. Im Hinüberblicken zu Bemühungen der deutschen Kunst-

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theorie des Naturalismus interessiert nicht zuletzt eine ähnliche Einstellung zum „Unwahrscheinlichen". Aber wieder ist es nicht das naturwissenschaftliche, naturgesetzliche Kriterium, was für den großen Russen wesentlich ist. Das Wunder der unberechenbaren Lebensvielfalt ist ihm Rechtfertigung genug für eine künstlerische Einbeziehung des Unwahrscheinlichen. Es bedarf nicht der Abgrenzung durch den Bereich des naturgesetzlich schlechthin Unmöglichen. Die Naturalisten aber sahen vor allem die exakte psychologische Analyse, die ihnen nur eine folgerichtige Entsprechung darzustellen schien zur exakten logischen Analyse in Diskurs und Diskussion. Das Mechanische lag greifbarer zutage als der tiefe Dämmerg rund des Metaphysischen. Den ganzen und „eigentlichen" Dostojewski vermochte erst die „Reizsamkeit" des Impressionismus und der religiöse Impuls der Neuromantik auszuschöpfen. Ja, ähnlich wie Strindberg wirkte er bis in den Expressionismus hinüber. Seine Kehrseite und Gefahrenzone aber wurde besonders verlockend für die Dekadenz. Wenn man aus der Biographie Dostojewskis erfährt, daß er ein ausgesprochener Nachtarbeiter gewesen ist, daß er verbannt und gefangen war, so mag das stimmungsmäßig einiges aussagen. Mehr sagt für die Kunsttheorie die Zugehörigkeit zu einem Literatenkreise, deren Mitglieder den Verkehr in verrufenen Spelunken nicht scheuten, um Studien am Modell zu machen. Das sieht nun zunächst konsequent realistisch aus. Aber Dostojewski suchte im Modell den Menschen. „Bei vollständigem Realismus im Menschen den Menschen finden": das bezeichnet er selber als Ziel seines Kunstwollens in den „Notierten Gedanken" unter dem betonten Stichwort „Ich.. .". Eben dort findet sich auch die erwähnte (von A. Soergel bereits zitierte) Abwehr des bloßen Psychologeseins, die auch hier nicht zu entbehren ist: „Man nennt mich einen Psychologen. Das ist nicht richtig. Ich bin nur ein Realist im höheren Sinne, d. h. ich zeige alle Tiefen der Menschenseele". Aber derselbe Aphorismus birgt als Selbstbetrachtung zugleich einen ausdrücklichen Hinweis einmal auf das spezifisch Russische und zum anderen auf das spezifisch Christliche; beides wird zusammengezogen zum „christlichen Volksgeist". Jenes Aufspürenwollen des Menschen bei Wahrung eines „vollständigen Realismus" wird nämlich als „ein durchaus russischer Zug" in Anspruch genommen, ebenso die Neigung und Nötigung zur Christlichkeit. Mit anderen Worten, schon als Dostojewski noch bitter einschränken muß:

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„obwohl ich dem gegenwärtigen russischen Volk unbekannt bin", hat er den eigenen Wert nur als Bezugswert auf Rußland und als Nutzwert für Rußland gelten lassen. So sieht er überhaupt die dichterische Leistung als ein Bahnbrechen für die nationale Ebenbürtigkeit. Von seiner Slawophilie her interessiert hier vor allem sein ausgeprägter Kulturpatriotismus. Seine berühmte PuschkinRede vom Juni 1880, die er vor der Vereinigung der „Freunde russischer Dichtung" mit großem Erfolg hielt und der er erläuternde Bemerkungen „Zur Puschkin-Rede" folgen ließ, war ein einziger Ausdruck von Kulturpatriotismus. Wieder auch wird das Verdienst Puschkins nicht nur aus dem individuellen Genie abgeleitet, sondern auf den russischen Nationalcharakter bezogen. Die Fähigkeit der Anverwandlung an den Geist anderer Nationen, wie sie Puschkin trotz seines kurzen Lebens (1799—1837, gefallen im Duell) so erstaunlich bewiesen habe, sei überhaupt ein Vorzug des russischen Nationalcharakters. Nicht das Beeinflußtwordensein Puschkins in seiner Frühzeit durch Byron (vom „Byronismus" handelt ein eigener kleiner Essay, der auch Lermontow mit einbezieht) oder Andre Chenier ist gemeint, sondern das Berufen- und Befähigtsein zum Verstehen fremder Nationen. Es wirkt rührend (bis erschütternd), wenn man beobachtet, wie Dostojewski in seiner Würdigung „Der Roman Anna Karenina, eine Tatsache von besonderer Bedeutung" seine kulturpatriotische und kulturpolitische Begeisterung herauszuretten versucht aus der rein politischen Enttäuschung des Slawophilen über das achte Buch, in dem sich Tolstoi merklich distanziert von der Hochstimmung des Balkankrieges. Diese Enttäuschung schlägt besonders am Schluß der recht umfangreichen Rezension wieder durch, durchzittert auch mit spürbarer Erregtheit das Ganze. Aber, wie schon der Zusatztitel erkennen läßt, Dostojewski möchte so gern in diesem dichterischen Großwerk zugleich eine patriotische Tat, eine bedeutende Tatsache sehen, die über das nur Literarische ermutigend hinausweist. Wenn Iwan Turgenjew seine Widersacher abzuwehren versuchte durch den Hinweis darauf, daß er in „Väter und Söhne" in der Gestalt Basarows nicht das Revolutionäre desavouiert habe, ein Vorgang der Selbstrechtfertigung, der etwa der Verteidigung liberaler Gesinnungstreue H. Sudermanns gelegentlich seiner Komödie „Sturmgeselle Sokrates" entspricht, und wenn er bei dieser Gelegenheit sein Kunstwollen umschreibt mit der Darstellungsabsicht, „die Realität genau zu reproduzieren" und der „Lebenswahrheit" 4

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zu dienen, so wirkt das fast schon wie eine Vorwegnahme des Kunstgesetzes von Arno Holz (vgl. Turgenjew: Literatur- und Lebenserinnerungen). Aber ebenso leuchtet ein, daß Dostojewski daran kein Genüge finden konnte. Ebensowenig wie an dem Hinüberspielen des Realismus in den Utilitarismus, das bei N. G. Tschernyschewski, mit dem er 1861 persönlich bekannt wurde, in fast aufklärerischer Weise ganz unverkennbar seine billigen Triumphe feiert. Und es ist gleichsam ein Symbol für die Schwenkung in der Dostojewski-Deutung, daß man die sogenannte Beichte Dostojewskis gegenüber oder vor Turgenjew nicht mehr so wörtlich nimmt, sondern mehr als bloße Improvisation, wenn nicht gar als bloße Erfindung betrachtet. Auch dürfte Thomas Mann, der in einer Ausgabe-Einleitung „Dostojewski mit Maßen", also nur bedingt und begrenzt empfiehlt, mit dem Bezug auf Nietzsche einerseits und die Krankheit Dostojewskis (Epilepsie) andererseits nicht den ganzen Dostojewski erfassen, obwohl seine kluge Zurückführung auf die Problematik des „kranken Gewissens" in die allgemeine T e n d e n z des R e a l i s m u s (und Naturalismus), mit V o r l i e b e G e w i s s e n s f r a g e n zu s t e l l e n , offenbar mit vollem Recht einmündet. Die Ausrichtung Dostojewskis auf Nietzsche war dagegen längst vertraut gewesen und teilweise sogar übertrieben worden. Dostojewski als Gegenstück und Gegensatzstück zugleich zu Nietzsche: diese Sicht und Ansicht war viel zu naheliegend und verlockend, um nicht mehrere Deuter gefesselt zu haben. Was jene Selbstverteidigung Turgenjews durch einen mit Naturtreue reproduzierenden Realismus betrifft, so lautete für Dostojewski der Satz durchaus als Gegensatz: „Die höchste Schönheit liegt nicht außen, sondern innen". Dieser denkwürdige Satz findet sich in den Entwürfen, die man unter dem Titel „Die Urgestalt der Brüder Karamasow" (erschienen 1928) zusammengefaßt hat. Bei dieser Gelegenheit mag erwähnt werden, daß von beachtenswerter Seite Einwände erhoben worden sind gegen die Neigung, Dostojewski allzusehr zu identifizieren mit den Ansichten und Meinungsäußerungen Iwan Karamasows im genannten Romanwerk (1879/80). Vielmehr dürfe die Korrektur nicht übersehen werden, die Iwans Bekundungen durch Aljoscha Karamasows Äußerungen erfahren. Wieder einmal bestätigt sich also die Erfahrung, daß der Dichter sich relativ selten mit einer Gestalt völlig identifiziert, daß er vielmehr dazu neigt, sich durch ein Gegenüber freien Spielraum zu wahren. Das gilt keineswegs nur für das Drama oder auch

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für das Kunstgespräch (dramatischer Dialog im Verhältnis zum kunsttheoretischen Dialog), sondern wie im erwähnten Falle ebenso für den Roman, den in Rußland nicht zuletzt Dostojewski zum Weltanschauungsroman herausbilden half. Nicht Zufall dürfte es daher sein, wenn er jenen Satz von der nach innen verlagerten Schönheit stützt durch einen Hinweis auf Goethes großes Ideendrama, den „Faust", und zwar dessen Teil II. Sein Realismus ist also jederzeit bereit und fähig, in eine Art von Romantik umzuschlagen. Und vielleicht liegt in dieser Fähigkeit und dieser Bereitschaft nicht zuletzt das Geheimnis der Wirkung und das Eigengepräge des Wesens seiner Kunst. Auch die Schönheit trägt nicht nur das leuchtende Antlitz der Wahrheit, sondern auch das lockende Gesicht der Lüge. Dabei können die Extreme sich eng berühren. Was Cervantes demonstriert mit seinem irrenden Ritter: das Umbrechen der absoluten Idealität vor der absoluten Realität, das gestaltet Dostojewski, der Cervantes nicht umsonst verehrt, etwa in seinem „Idioten" (1868). Das Aufsuchen der religiösen Auffangsstellung bringt es mit sich, daß zuletzt nur die Gestalt Christi der Gefahr eines Umschlagens vom Erhabenen ins Lächerliche angesichts der Diskrepanz von Ideal und Leben nicht ausgesetzt ist. Und auch von vornherein gar nicht ausgesetzt sein kann, weil über ihn die Schönheit der Lüge keine Gewalt zu gewinnen vermag. Vom Naturalismus aus gesehen bleibt bemerkenswert, daß die Problematik der Lüge, auch der schönen Lüge, auch der tröstlichen Lebenslüge (vgl. H. Ibsen) von Dostojewski keineswegs übergangen, vielmehr kämpferisch „angegangen", aufgegriffen und angegriffen worden ist. Zum mindesten mittelbar und andeutend berührt er damit aber zugleich eine Prinzipienfrage der Kunst schlechtweg; die Frage nämlich, ob denn die Kunst zuletzt womöglich nur die Funktion des Lebenstrostes einer „schönen Lüge" (Ansatz: Illusionstheorie) zu erfüllen habe. Ähnlich und doch ganz anders wie bei Heinrich Heine (Sphinx-Parabel) ist auch für Dostojewski die Schönheit als Kunstideal ein ewiges „Rätsel". Aber für ihn liegt die ästhetische Lösung nahe bei der religiösen Erlösung. Und die „Wollust" ästhetischen Genießens löst und erlöst sich im sittlichen und spezifisch christlichen Wohlgefallen. Denn nicht nur die Gestalt der Nastasja Filippowa (im „Idioten") symbolisiert und demonstriert das ewige Schicksal des Schönen auf Erden, dem Tragischen des Unterdrücktwerdens ausgesetzt zu sein. 4·

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Trotz alledem verfällt Dostojewski nicht in dem Grade, wie es bei dem späteren L. Tolstoi der Fall war, in jene Erbitterung gegen die Kunst überhaupt, weil sie nichts sei als eine „schöne Lüge". Man kann also nicht gut von einem Kunst-„Nihilismus" (der Terminus „Nihilismus** soll erstmalig von Nadshdin geprägt worden sein) bei Dostojewski sprechen, wohl aber von einer Prävalenz des Transzendenten, ob es sich nun im Einzelnen anlehnen mochte an christlichen Glauben oder russischen Volksaberglauben, an Mystik oder Mythos, ob man ihn in Einklang zu bringen (und ζ. T. wohl auch ein wenig zu zwingen) versucht mit J. Böhme oder K. Barth, mit Fr. Schiller oder Fr. Nietzsche. Trotz aller Verinnerlichung aber darf nicht vergessen werden — und die von Tragik zeugende Biographie erinnert immer wieder daran —, daß neben und oft recht nah dem Dichter der Publizist Dostojewski stand, daß er eine, wenngleich recht komplizierte und sublimierte Spielform des Dichter-Publizisten vertritt. Man kann daher das „Philosophische" nicht (wie es von der Sonderforschung versucht wurde) ohne Schaden vom „Politischen" trennen. Ihm brannte die Not seiner Zeit und die Notdurft seines Volkes viel zu sehr auf dem Herzen, als daß er jemals wirklich frei und systematisch hätte philosophieren können, ohne für Freiheit und ein neues System zu politisieren, teils unvorsichtig offen, teils durch bitterste Erlebnisse belehrt (er hatte 1849 unmittelbar vor der Exekution durch Erschießung gestanden), verhüllt. Damit soll nicht die alte These aufgenommen werden, als ob er, durch die Zensur gezwungen und den Despotismus jederzeit bedroht, seine Unterwerfung oder gar seinen Slawophilismus nur erheuchelt habe. Wohl aber besteht Anlaß, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, daß bei einem feinnervigen Naturell wie dem Dostojewskis jener brutale Schock aus der Exekutionssituation sowie jene bleibende Zermürbimg durch die Gefangenschaft in Sibirien nicht ohne nachhaltige Folgen bleiben konnte. Das war ein Erleiden, das bei weitem etwa die Kerkerhaft des deutschen Stürmers und Drängers D. Chr. Schubart übertraf. Wer will und kann verläßlich entscheiden, was an Demut durch derartige Schicksale erzwungen oder was jenseits ihrer — oder, durch sie höchstens verstärkt — völlig ehrlich und unbeeinflußt echt errungen ist. Und Dostojewski besaß nicht die zähe Lebenskraft Schubarts! Der Skandinavier (mit deutschem Einschlag) Ibsen steht Tolstoi näher, jedenfalls im naturalistischen Entwicklungsausschnitt und

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dem ausgeprägt didaktischen Zug nach; der Skandinavier A u g u s t S t r i n d b e r g (1849—1912) steht im Typus der nervösen Reizsamkeit Dostojewski näher. Wie Dostojewski hat auch Strindberg stärker auf Expressionismus und selbst Surrealismus hinübergewirkt. Er ist niemals vollständig dem Naturalismus ausgeliefert gewesen, auch nicht in seinen sogenannten „Naturalistischen Dramen" (Fräulein Julie, Vater, Gläubiger, Kameraden usw.). Die „Schweizer Novellen" bekunden ebenfalls nur eine relative Nähe zum konsequenten Realismus, mit dem Roman „Die Inselbauern" mag es etwas anders bestellt sein, wobei Motiv und Milieu Hilfestellung leisteten. Mit „Nach Damaskus" und dem „Traumspiel" wird die andere wesentliche Tragschicht des Kunstwollens Strindbergs voll sichtbar. Aber dieDoppelschichtigkeit und Doppelgesichtigkeit lag von vornherein in der starken Gebrochenheit und Zwiespältigkeit Strindbergs bereit. Und die naturalistisch-rationale Schicht wurde auch nach jener Wendung keineswegs restlos aufgegeben. Ganz abgesehen davon, daß danach noch ein neuer Anlauf zu einem etwas modifizierten Naturalismus mit „Rausch", „Totentanz" usw. erfolgte — Strindberg selber spricht damals (brieflich) von einer „neunaturalistischen" Werkgruppe —: auch die scheinbar rein symbolistisch-neuromantischen Dramen sind nicht gesichert vor jederzeitigen naturalistischen Einbrüchen. Mancher wird diese Einbrüche als Stilbrüche empfinden, aber ihre Zulassung war keine Lässigkeit, sondern entsprach durchaus dem Kunstwollen Strindbergs. Vielleicht liegt das Geheimnis der angedeuteten Reichweite in der Nachwirkung Strindbergs nicht zuletzt darin begründet, daß er aus der scheinbaren Entgegensetzung eine Fortsetzung durch Umsetzung zu entwickeln verstand, kraft der (mindestens) zwei Künstlerseelen, die in seiner Brust (oft etwas bohemehaft) wohnten. So gesehen, war A. Strindberg ein Realist, in dem von vornherein der Surrealist steckte, der sich aber erst später entdeckte und allen sichtbar enthüllte — oder doch den Einsichtigen, die für Strindberg keineswegs identisch waren mit den „Rechtdenkenden" (im „Traumspiel"). Trotz alledem ist eine Epoche der Naturalismus-Nähe unverkennbar, der zudem — ähnlich wie bei Gerhart Hauptmann — eine zweite Welle „neunaturalistischer" Art folgte. In der formulierten Poetik wird diese Naturalismus-Nähe vor allem markiert von der sogenannten „Vorrede" zu dem ausgedehnten Einakter „Fräulein Julie" (1888), dem Strindberg die Art- und Stilbe-

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Zeichnung „ein naturalistisches Trauerspiel" mit auf den ethisch umkämpften, aber bühnenkünstlerisch erfolgreichen Weg gegeben hat. Wenn von einer „sogenannten" Vorrede gesprochen wurde, so deshalb, weil es sich in Wirklichkeit um einen ausgewachsenen Essay handelt, der so lang ist wie ein Drittel des ganzen Trauerspiels. Situationsgemäß handelt es sich in diesem kunsttheoretischen Aufsatz überwiegend um Selbstrechtfertigungs-Poetik. Das übersieht man (auch A. Soergel), wenn man ζ. B. die Äußerungen über das Theater als „Biblia pauperum", ja recht eigentlich als Bilderfibel, als „eine Volksschule für die Jugend, Halbgebildete und Frauen" (!) allzu wörtlich nimmt. Das mit den Frauen auf Kinderstufe war natürlich echter Strindberg. Aber im Gesamt gilt es zugleich, der Zensur und den Bedenken des moralischen Bürgertums vorbeugend in die Parade zu fallen. Eben deshalb nämlich dürfte vor allem dieses Vorwort geschrieben worden sein. Und eben deshalb wurde es von den auch bei A. Soergel bereits zitierten Eingangssätzen wie mit einem einstimmenden Grundakkord eingeleitet. Weil er Primitive kurieren wollte, habe er so drastischdemonstrativ verfahren müssen, so entschuldigt und entlastet sich der naturalistische Strindberg des „Fräulein Julie" hinsichtlich des konsequenten Realismus. Wesentlich zweckbefreiter ist schon die Argumentation, daß es sich allgemein bei „Gefühlen" um verkümmerte Verstandesurteile handle, wie denn „diese niedrigen, unzuverlässigen Gedankenmaschinen, die Gefühle genannt werden", im stolzen Vernunftlicht der neuen Aufklärung nur als freilich suggestive Surrogate kursieren. Es geht vorläufig noch um eine technische Nothilfe und kunsttechnische Notlösung, da das künstlerische „Urteilsorgan" noch nicht dem naturwissenschaftlichen Urteil über das Organische und dessen Gesetze gewachsen ist. Deshalb muß noch manches als Exekution popularisiert werden, was man noch nicht als Experiment demonstrieren kann, ohne die Zuschauer zu verscheuchen. An anderer Stelle (und später in der sogenannten „Dramaturgie") hatStrindberg unbefangener und vorbehaltloser vom „Rassen-und Klassenkampf" in „Fräulein Julie" gesprochen, wobei der Diener Jean letzten Endes den gesunden aufsteigenden „sozialen" Trieb vertritt: ähnlich, wenngleich brutaler, als Robert Heinicke in Sudermanns „Ehre". Noch wird das „Mitleid" fast im Sinne Nietzsches entwaffnet und entwertet durch die Notwendigkeit des Sieges der gesunden aufsteigenden Kräfte, die das Dekadente mit Hilfe der

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Deszendenztheorie überwinden, wie der Diener Jean in der sinnlich schwülen Mittsommerfestnacht das Edelfräulein (daher das „Fräulein" noch wie in Goethes „Faust") Julie, dem er als Symbol ihrer Absterbereife das Rasiermesser für den Selbstmord in die Hand drückt. Denn schon ist es ein „rohes, zynisches, herzloses Schauspiel . . d a s das Leben leistet". Das gilt bei Strindberg sowohl für die naturalistischen Liebesund Ehedramen (Julie, Gläubiger, Vater, Kameraden usw.) als auch noch für das symbolistisch-neuromantische „Traumspiel". Selbst die idealistischste Liebe neuromantischer Art muß in die naturalistische und „neunaturalistische" Quarantäne des Seuchenverdachts. Denn auch dort, wo man nicht „schuldig" ist, bleibt man dennoch „verantwortlich", weil neben allem Determinismus dennoch eine „gewisse" Willensfreiheit bestehen bleibt, die immer wieder das Gewissen gegen das Wissen und die Wissenschaft ins ethisch-ästhetische Feld führt, vorab des Ehekrieges, aber allgemein auch des Lebenskampfes schlechtweg. Diesen Lebenskampf als ausgesprochenen Kampf ums Dasein und ums Stärker- und Lebensfähigersein demonstriert das Trauerspiel (ohne Akteinteilung) „Fräulein Julie" und formuliert und interpretiert das abhandlungsbreit ausgeweitete „Vorwort" von 1888. Schon Attribute wie „rudimentär" (vgl. das berüchtigte Steißbein als äffischer Restbestand), das hier auf das „Gefühl" als ein „rudimentäres, unvollständiges Denken" übertragen wird, vollends die Betonung einer „Lebensfreude", die ein Genüge findet an den „starken, grausamen Kämpfen des Lebens": alles das deutet ein-„deutig" und vielsagend (und, wie man damals meinte, vielversprechend) auf Darwin oder Haeckel, mit dem Strindberg Briefe wechselte. Der „ungewöhnliche Fall" gilt zugleich als der „lehrreiche Fall", immer im Deckungsuchen vor der Zensur und der Bürgermoral. Der spätere Strindberg fragt nicht von ungefähr bei seinem Übersetzer Emil Schering an, ob eigentlich „Julie" und „Der Vater" in Preußen verboten gewesen seien, ähnlich wie er bei ihm anfragt, ob eigentlich eine seiner Ehescheidungen, die in Österreich ausgesprochen war, auch für Preußen gültig sei. Frank Wedekinds Zensur-Nöte waren bei Strindberg schon mannigfach vorweggenommen. Und der psychopathische Verfolgungswahn korrespondierte mit der gerichtlichen Verfolgungsfurcht. Denn Schuld und Schicksal geraten in Diskrepanz wie Verschulden und Verantwortung.

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Vorerst sucht Strindberg im ,,Julie"-Vorwort die Trauer über das Unterliegen des nervenmäßig Schwächeren (Julie) unter den scheinbar klassenmäßig Schwächeren (Jean) noch in den Trotz des nervenmäßig und klassenmäßig Stärkeren umzusetzen. Trotz dieses (damals als heroisch empfundenen) Trotzes, der dem (damals als heroisch angesehenen) Trotzen Alfred Loths in Gerhart Hauptmanns ein Jahr später liegendem Milieu- und Erbdrama auf seinem pedantisch verfochtenen Prinzip entspricht, sah sich der Strindberg der „Julie" in die Verteidigungsposition zurückgedrückt und abgedrängt nach Art der Selbstrechtfertigungspoetik. Die „Vererbung von der Mutter" (vgl. Max Halbes „Jugend", H. Sudermanns „Johannisfeuer" usw.) schien eben doch nicht auszureichen. Fast geniezeitgemäß zieht sich Strindberg auf die „echte Lebensvielfalt" zurück, und zwar sowohl hinsichtlich der Vielfalt der Motivierung wie hinsichtlich der Vielstufigkeit der Charakterisierung: „Dieser Mannigfaltigkeit der Motive will ich mich rühmen als einer zeitgemäßen" (wie angedeutet: schon geniezeitgemäßen). Aber das Überkommene muß bei vermeintlicher Konventionsfeindschaft und Traditionsfreiheit (wieder einmal) immer neu entdeckt werden. Die Typisierung und vollends die Normierung der Charaktere gilt (wieder einmal) als überholt. Denn derartige erstarrte Formen und Normen „mußten von Naturalisten angefochten werden". Aber die Formel, unter der Strindberg diese echte Lebensvielfalt faßt, ist naturwissenschaftlich modifiziert und variiert, denn es sind geologisch-biologische „Konglomerate". Und zugleich erfolgt eine Art von Zuchtwahl in Wissen und Wort; denn Wissen und Worte „stehlen" die Schwächeren von den Stärkeren. Strindberg ist nicht müde geworden, das in seinen Mann-WeibKampfdramen zu demonstrieren, aber auch zu formulieren. Denn seine psychologischen Problemdramen, die an sich das Erbe Friedrich Hebbels ebensowenig verleugnen können wie die Ibsens, drehen die Tendenz gleichsam um hundertundachtzig Grad, indem nun nicht mehr der Mann den Eigenwert der Frau mißachtet, sondern die Frau den Eigenwert des Mannes. Eben weil sich die Frauen immer wie „Gläubiger" des Mannes fühlen, der alle Zivilisation und Kultur geschaffen hat, als die Frauen noch unbeschwert „hinter den Büschen spielten", schlägt ihre Liebe so leicht, ja notwendig um in einen Liebeshaß, der jene Abhängigkeit verlogen leichtsinnig ableugnen und abschütteln möchte. Und eben weil die Frauen Nutznießer und Schmarotzer sind, können sie nie echte

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„Kameraden" sein. Und eben deshalb muß das „Band" brüchig bleiben. Und eben deshalb schämen sie sich nicht, den „Vater" bei Erziehungsdifferenzen hinsichtlich des Kindes in den schamlosen Zweifel und Wahnsinn hineinzutreiben, ob er denn wirkliche Garantien besitze, der Vater seines Kindes zu sein. Aber zurück zu jenem kunsttheoretisch belangreichen „Julie"Vorwort, von dem Strindberg später selber betont, daß er sich von dort ab mit Fragen der Dramaturgie befaßt habe! Zunächst meldet sich schon damals (1888) die Relativität des Schuldgefühls an. Denn „die Schuld hat der Naturalist mit Gott ausgestrichen, aber die Folgen der Handlung" (später gern als „Verantwortung" formuliert), „Strafe, Gefängnis oder die Furcht davor, kann er nicht streichen aus dem einfachen Grunde, weil sie bleiben". Schon erwägt Strindberg — vor Sudermanns „Ehre" — die Gewichtigkeit des Ehr-Motivs. Der lebensfähig Robuste hält sich mehr an das Ehrliche als an das Ehrenhafte: „Darum bleibt der Bediente Jean am Leben, aber das Fräulein Julie kann nicht leben ohne Ehre". Ehrlichkeits-Komplex und Ehrenkodex geraten in Widerstreit wie eigentlich noch in Fontanes Roman „Effie Briest" und — etwa zeitparallel — in Form des Thesenstücks bei Sudermanns „Ehre". Noch ganz darwinistisch erscheint für den Strindberg der „Julie" dieses abstrakte und gesellschaftlich konventionelle Ehrgefühl als im Grunde „unvorteilhaft für den Bestand der Art". Von der Veränderlichkeit der Arten (Lamarck) war der ganze Darwinismus ausgegangen. So wird ζ. B. der Diener Jean als ein aufstrebender „Artbildner" hingestellt. Verwirrend in den Ablösungsvorgang der Klassen spielt Strindbergs Anspruch des Geschlechtsvorranges des Mannes hinein. Der Diener Jean erweist sich als lebensfähiger nicht nur, weil er das Gesunde des aufstrebenden Standes vertritt, sondern weil er ganz einfach das Überlegene des Mannestums vertritt. Im übrigen beschränkt sich das Vorwort nicht auf „Fräulein Julie". Vielmehr ragt die Rechtfertigung der skizzenhaft behandelten Nebenfiguren über die Magd Brigitte (Sklaventypus) hinaus und auf den „Vater" hinüber (Landgeistlicher, Provinzarzt). Der Dialog —und Strindberg bekämpft auch späterhin den „gestellten" katechismushaften Frage-Antwort-Dialog etwa der französischen Klassik und ihrer Nachahmer — sei bewußt willkürlich-zufällig durchgeführt. Das Mathematische habe dem Musikalischen zu weichen, wie Strindberg späterhin („Dramaturgie") die polyphone Symphonie bevorzugt gegenüber dem „opernhaften Jamben-

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drama" mit Solo-Nummern und bloßer Begleitmusik. Eben deshalb habe er weder Monolog noch Pantomime gescheut. Der Monolog, an sich von unseren „Realisten als unwahrscheinlich in den Bann getan", werde wahrscheinlich, wo er motiviert auftrete. Noch Jahre später atmet Strindberg auf, als der Monolog wieder „erlaubt" ist (Briefe an E. Schering). Das aberhängt ursächlich damit zusammen, daß Strindberg eigentlich immer vom männlichen Monolog ausgeht, den er nur in einen raffinierten Scheindialog mit dem „Weibe" umsetzt. Die Selbstverständigung des Mannes bricht sich immer erneut an der Verständnislosigkeit in der zwiespältigen Zwiesprache mit dem Weibe, gleichgültig ob dieses Weib naturalistisch oder symbolistisch, realistisch oder surrealistisch (Tochter Indras im „Traumspiel") gesehen und gestaltet wird. Dem Realisieren des Naturalisten widerstreitet aber schon damals das Improvisieren des naturalistischen Schauspielers. Und hinsichtlich der Dekoration, die auch später immer wieder in Essays und Briefen erörtert wird, bekennt sich schon der Verfasser des „naturalistischen Trauerspiels" zum Prinzip des Impressionismus als eines intimen, verfeinerten, nach innen verlegten Naturalismus: „Was nun die Dekoration angeht, so habe ich der impressionistischen Malerei das Unsymmetrische, das Abgeschnittene (Reduktion des Impressionismus) . . . entlehnt". Allerdings will er seine echt naturalistische „Höllen-Küche" an sich ganz wirklichkeitsgerecht dargestellt sehen. Im Gesamt jedoch genügen ihm „kleine Modifikationen" anstelle der vermeintlich unentbehrlichen großen „Revolutionen". Dazu gehört auch das „Fortnehmen der Rampe" und der den Schauspieler vielfach irritierenden Rampenbeleuchtung. Aber genug der Einzelheiten, ohne die freilich die naturalistische Situation und Position nicht zu ihrem damals noch von Strindberg beanspruchten Recht käme. Die Frage der Transformation des Illusionären in das Intime, die schon hier mehrfach anklang, stellt nun vollends der Essay „Der Einakter" (1889). Dieser Essay aus dem Jahre von Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" und Sudermanns „Ehre", der also beim besten Willen nicht mehr als vorbereitende Wegweisung gelten kann, ist zunächst einmal nicht umfangreicher als die oben gewürdigte Vorrede zu „Fräulein Julie". Denn man muß billigerweise jene Seiten abziehen, die Strindberg aus Lessings „Hamburgischer Dramaturgie" einerseits und vor allem die weit zahlreicheren, die er aus einem Bericht des „Figaro" von Emile Blavet

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zitatweise abdrucken läßt. Bei Gelegenheit der Zeitschrift „Figaro" sei erwähnt, daß der spätere Strindberg (der „Dramaturgie") die Tendenz seiner „Fräulein Julie"-Tragödie auf gewisse soziale Impulse des „Figaro"-Dramas von Beaumarchais zurückgeführt sehen möchte, in dem das Morbide des Feudalen enthüllt worden sei. Wiederholt wird aus der ,,Julie'*-Vorrede der Zweifel an der Zeitgemäßheit des Theaters alter Observanz für das Zeitalter der Beobachtung und experimentalen Erfahrung. Und die bange Frage taucht erneut auf, ob nicht das Drama, statt „Ausdruck des Kulturzustandes eines Volkes" zu sein, in Wahrheit nur eine „aussterbende Kunstart" darstelle. Es ist nicht gerade neu, wenn das veraltete Intrigen-Drama der Sardou usw. bekämpft wird; denn diesen Kampf führte ebenso zäh Emile Zola in seiner Schrift „Le naturalisme au Theatre". Strindberg, an sich mehrfach mit den Brüdern Goncourt sichtlich sympathisierend, möchte denn auch das „Neue" nicht mit der „Henriette Marechal" (1865) der Goncourts, sondern mit Emile Zolas,.Therese Raquin" (1873) ansetzen, obwohl es sich nur um eine dramatisierte Roman-Übertragung gehandelt habe. Im Prinzip geht es ihm jedoch um die Rechtfertigung des Einakters als der modernen Ablösungsform gegenüber dem traditionellen Fünfakter. Es ist ganz unzweideutig, daß er dabei angesichts seiner Einakter pro domo verfährt. Jedenfalls kann er den „Dekadenten" Sardou nicht länger als Vorbild anerkennen. An anderer Stelle („jBegriff: Intimes Theater") hat er in eigener Sache eingestanden, daß es u. a. Björnsons Einakter „Zwischen den Treffen" gewesen sei, von dem ihm selber die erste Anregung ausgegangen ist. Vorerst aber bezieht er sich auf der Suche nach der „Formel des kommenden Dramas" noch mehr auf die „Proverbes dramatiques" der Franzosen und besonders auf den auch von Zola herangezogenen Henri Becque („La Navette"). Jenseits aller „gräulichen" Soll-Ästhetik darf dieses konzentrierte Einakter-Gebilde der Gegenwart und Zukunft weder eine spezifisch politische noch eine speziell religiöse Tendenz vertreten, weder ein „politisches Reithaus" noch ein theologisches „Bethaus" sein. Den „TendenzIbsen" hat Strindberg zum mindesten im vertraulichen Privatbrief verworfen, ohne sich klar darüber zu sein, daß seine anti-feministische, frauenr-echtsfeindliche Haltung nicht weniger „Tendenz" war. Ibsen wollte bei aller Gesellschaftskritik den Bürger retten, Strindberg bei aller Geschlechtskritik das „natürliche" Weib.

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Er war sich klar darüber — und spricht es im „Inferno" aus — „die naturalistische Epoche, die kräftig und fruchtbar war, hat ihre Zeit gehabt. Man braucht sie nicht zu tadeln und nicht zu bedauern: die Mächte haben gewollt, daß wir sie durchmachten." Aber dieses Durchmachen war für Strindberg doch mehr gewesen als ein bloßer Durchgang. Denn dieser Zeitwert erwies sich als Bürge für seinen Dauerwert. Und das solide Fundament des Realismus mußte auch noch die kühne Fassade seines Früh-Surrealismus tragen helfen. Alle Konstruktion blieb zudem immer abhängig von der produktionsfähigen „Disposition", auf die sich Strindberg immer erneut berief, wenn man etwas von ihm verlangte, was noch nicht fertig geworden war, weil er noch nicht mit ihm „fertig geworden" war (ablesbar am Briefwechsel). Schon 1898 beteuert er seine „Fremdheit hier auf Erden" und das Gefühl einer bloßen „Gastrolle", und zwar „auch während der kurzen atheistischen Periode", in der er zudem ein Experiment sieht, „das sofort mißglückte". Noch verweist er auf die „Inselbauern" (Februar 1899). Aber bald mißtraut er dem Sich-Festlegen des Dramatikers auf irgendwelche „konstanten Ansichten". Vielmehr komme es darauf an, sich den jeweils geschilderten Gestalten zu „inkarnieren". Strindberg spitzt diese Erfahrung zu in der Warnung: „Ein Dramatiker darf keine Ansichten haben, d. h. keine andern, als seine Figuren für den Augenblick haben". Tendenz und Leben erscheinen im Widerstreit, zum mindesten in der damaligen Theorie: „Der Tendenzschriftsteller hat Ansichten; darum leben seine Figuren nicht" (März 1901). Es ist nicht schwer, dieser Theorie die eigene Praxis Strindbergs gegenüberzustellen, die oft genug aus der Tendenz das „Leben" borgte. Denn zahlreiche Frauengestalten danken ihr „Leben" nur dem Leben aus der Tendenz, die leidenschaftlich gegen die Frau „an sich" gerichtet war. Ähnlich streiten in der Form das Epische und Dramatische miteinander. Strindberg selber gesteht (brieflich), der „Totentanz" solle wirken ebenso „gründlich wie ein Roman". Und noch später (Mai 1907) betont er, daß alle seine Novellen und Märchen eigentlich „Dramen" seien. Zum mindesten nach den „neueren freien Begriffen vom Drama" mußten sich dergestalt jene Novellen so mühelos in Dramen umwandeln lassen, und zwar selbst von künstlerisch unzulänglichen Familienangehörigen, wie einst die wackere Charlotte Birch-Pfeiffer verfahren habe. Wie bei Shakespeare, wie bei Kleist, wie bei Hebbel, wie

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(zum mindesten theoretisch) bei Storm werden also dergestalt Novelle und Drama recht nahe aneinandergerückt. Trotzdem muß Strindberg im Einzelfall das Versagen solcher Verwandlung zugestehen: „Richtfest ist ein Kammerspiel, aber ich habe nicht die Kraft, aus der Novelle das Drama zu machen". Die Möglichkeit jedoch wird grundsätzlich eingeräumt. Der Terminus „neunaturalistisch" begegnet schon Ende 1903, also im Jahre der „Rose Bernd" Gerhart Hauptmanns. Was die sogenannte „Dramaturgie" Strindbergs betrifft, so handelt es sich dabei nicht vorwiegend um eine Theorie des Dramas, sondern teils um eine theatralische „Dramaturgie", indem die erste Abteilung die „Kunst des Schauspielers" würdigt, teils um eine Programmschrift, indem das sogenannte „Intime Theater" als Kleinkunstbühne mit begrenzter Spieldauer und Publikumszahl empfohlen wird, teils um Selbstinterpretationen seiner historischen Dramenfolge, um Shakespearestudien sowie um eine „Faust"-Deutung. Selbst der Sonderessay „Begriff ,Intimes Theater'" zielt weit mehr auf historische Verwirklichungen als auf grundsätzliche Erörterungen. Das besagt: rein kunsttheoretisch enttäuscht diese angebliche „Dramaturgie" Strindbergs, die kaum etwas anderes darbietet als eine lockere Essaysammlung zum Titel-Thema Drama. Im übrigen liegt das schon jenseits der naturalistischen Epoche. Konsequent realistisch glaubte Strindberg dort verfahren zu sollen, wo er mit dem Anspruch der Frau auf Gleichberechtigung abrechnete. Wo es um religiöse Fragen ging, griff er zum ewigen Gleichnis des Symbolismus und zur Gestaltungsweise des Surrealismus. Aber er war mit der Ent-Götterung des Weibes so emsig beschäftigt, daß er zum Tempelbau des Göttlichen kaum jemals die künstlerisch formenden Hände völlig frei bekam. Deshalb bleibt er vielfach beim Mythischen (ζ. B. Indischen) stehen, wo Dostojewski das Mystische erreichte. Ebenso bleibt er beim realistischen Außenwerk stehen, ohne es sich wohnlich einzurichten. Die erste seiner „Schweizer Novellen" (1885) ζ. B. beobachtet zwar genau die Spuren der Erdformationen am beschmutzten Uniformbeinkleid des preußischen Leutnants, der in Wahnsinn verfällt, weil er Franktireure erschießen lassen muß, beobachtet auch (fast schon genau so subtil wie Holz und Schlaf) den Sonnenreflex des blitzenden Bajonetts des Wachpostens, das das friedliche Bild der Landschaft im Fensterausschnitt störend durchschneidet. Kurz,

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Strindberg macht zunächst wohl formal mit, meldet aber inhaltlich von vornherein Bedenken an. Und eigentlich ist er nur sehr bedingt von jenem Schopenhauer losgekommen, dessen „Parerga und Paralipomena" jener gewissenhafte Leutnant der „Utopie in der Wirklichkeit" nicht zufällig zur Lektüre gewählt hat. „Fräulein Julie" verwirklicht dann weitgehend den Naturalismus und auch die begleitende Abhandlung nähert sich ihm in der angedeuteten Weise. Man gewinnt den Eindruck, daß Strindberg über den Naturalismus zum Nihilismus gelangt wäre, wenn er nicht Zuflucht in der religiösen Auffangsstellung gesucht und gefunden hätte. Aber es darf nicht unterschätzt werden, wie nachhaltig Schopenhauer trotz Swedenborg und Kierkegaard das Lebensgefühl bestimmt. Das „Kunst"- Gespräch zwischen der indischen Göttertochter und dem Dichter im „Traumspiel" verweist durchaus auf die Synthese von Traum und Dichtung und damit in die neuromantische Richtung: „Der Dichter: Vielleicht hab ich's geträumt! — Die Tochter: Oder es vielleicht gedichtet ? — Der Dichter: Oder es g e d i c h t e t . . . — Die Tochter: Dann weißt du, was Dichtung ist. — Der Dichter: Darm weiß ich, was Traum ist!" Das liegt gewiß jenseits der naturalistischen Theorie, obwohl erläuternde Briefstellen (an E. Schering, Mai 1902) die Funktion des Traums fast noch mit naturalistischer Psychologie zu umschreiben versuchen: „Alles Unsinnige wird wahrscheinlich". Das Wahrscheinlichkeitskriterium ist also keineswegs restlos fallen gelassen worden. Die werkimmanente Poetik weist allerdings schon sehr viel weiter. Aber noch gilt das Kunstwerk als ein Naturwerk: „Ein Kunstwerk soll etwas nachlässig, unvollkommen sein wie ein Naturerzeugnis: nicht ein Kristall ist fehlerfrei . . .". Und, wie angedeutet: das Lebensgefühl bleibt verwandt mit dem früherer Stufen. Im naturalistischen Ehekriegs-Einakter „Das Band" meint die Frau beim Schlußertrag: „es ist schade um mich", der Mann ergänzt: „Es ist schade um uns beide!" Das wird im „Traumspiel" leitmotivartig ausgebaut und ausgeweitet zu der bekannten Prägung: „Es ist schade um die Menschen" aus dem Munde der auf die Erde niedergestiegenen indischen Göttertochter. Auch der Dichter vermag die Menschen nicht aufzurichten, wie er der Göttertochter klagt: „Wenn du ahntest, wieviel Leiden und Verderben ich durch die Erfüllung meines Berufs in der Welt hervorgerufen h a b e . . . " . Die schon von Soergel herangezogene Formulierung Diebolds über

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Strindbergs „Armeseelenstücke" (statt Armeleutedramen) trifft letztlich auch noch für das „Traumspiel" zu, ebenso die Mahnung Strindbergs, man könnte erst „Mystiker" dann werden, wenn man vorher ein wacher „Naturalist" gewesen sei. Strindberg hatte, soweit er überhaupt ohne Vorbehalte zu glauben vermochte, an das naturwissenschaftliche Zeitalter (besonders in den achtziger Jahren) geglaubt. Er hatte in seiner Art Experimental-Dramen geschrieben, in denen Mann und Weib gewissen Bedingungen unterworfen werden, um ihr Wesen möglichst restlos und rücksichtslos zu beobachten und zu bestimmen. Er hatte dabei ebenso oder insofern ebenfalls mehr den experimentierenden Naturwissenschaftler nachgeahmt als die Natur. Er glaubte dann selber zum Naturkundigen und Chemiker berufen zu sein. Umfangreiche Arbeiten zeugen davon. Man benannte sogar eine Blumenart daraufhin nach seinem Namen. Aber es ist wie ein inneres Kunstgesetz jenseits aller Naturgesetze, daß gerade Naturalisten, die als Dichter wie Naturwissenschaftler verfahren, als vermeintliche Naturwissenschaftler weitgehend wie Dichter verfahren. Das ist in gewissem Grade bei dem späteren Johannes Schlaf der Fall und in weit höherem Grade bei August Strindberg, dessen phantasiemäßige Konstruktionen ihn vom Chemiker zum Alchimisten werden ließen, so daß er höchst romantisch mehr und mehr auf die „Nachtseite der Naturwissenschaften" geriet. Es bleibt aber Tatsache, daß er ganze Briefe mit chemischen Formeln vollschrieb, Fühlung mit urteilsfähigen Vertretern der Naturwissenschaft suchte und sehr stolz war, wenn er höfliche Zustimmung von ihnen erfuhr. Das Umschlagen von Naturalismus in Mystizismus ist bei Strindberg instruktiver als bei Dostojewski, bei dem das religiöse Lebensgefühl von vornherein bereitlag. So reizvoll es wäre, auf seine Beschäftigung mit der Naturwissenschaft und dem darin eingekörperten Kunstwollen, das sich immer wieder durchsetzte, etwas näher einzugehen, es scheint doch gebotener, einiges über seine „Dramaturgie", die vor allem eine skizzierte T h e o r i e der S c h a u s p i e l k u n s t u n d des T h e a t e r s enthält, ergänzend nachzutragen. Die sogenannte erste Abteilung handelt von der „Kunst des Schauspielers". Der zeitliche Blickpunkt liegt wie bei den naturwissenschaftlichen und naturmystischen Studien im wesentlichen nach dem Verebben der naturalistischen Hauptwelle, wobei immer in Rechnung gestellt sein will, daß der naturalistische Impuls trotz Symbolismus und Mystizismus

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bei Strindberg eigentlich niemals ganz erloschen ist. Auch die Theorie der Schauspielkunst basiert auf der naturalistischen Illusionsforderung. Es begegnen daher Sätze, die in vollem Kontrast stehen zu Goethes Regeln für Schauspieler einerseits und Bertolt Brechts Verfremdungstheorie andererseits. Die Opposition gegen Goethe als Theatermann schließt nicht aus, daß Strindberg anerkennt, wieviel an Gegenwehr gegen den Sturm- und Drang-„Naturalismus" in jener Strenge wirksam war. Aber das „Stilisieren", weder das klassische noch das nach-naturalistische, kann gerade der naturalistischen Dramatik nicht gerecht werden; „denn ein naturalistisches Schauspiel kann nur naturalistisch wiedergegeben werden". Doch soll damals schon der „gute Geschmack" das womöglich „Geschmacklose" dämpfen. Eine rückhaltlose und dem Geschmackskriterium gegenüber rücksichtslose Bejahung eines konsequenten Realismus besteht nicht oder doch nicht mehr. In diesem Aphorismus „Stilisieren" — vielfach handelt es sich um etwas längere Aphorismen — werden mit dem Auftauchen Maeterlincks um 1890 die „letzten Tage des Naturalismus" angesetzt. So wird es verständlich, wenn Strindberg, wie angemerkt, von einer „neunaturalistischen" Periode spricht. Der Sturm- und Drang-Realismus aber gilt als ein früher und „roher deutscher Naturalismus". Auf der anderen Seite will Strindberg — und das betrifft den Kontrast zu Brecht — nicht dulden, daß man „den Schauspieler zu einem Referenten herabsetzt, der den Inhalt des Stücks erzählt". Strindberg gebrauchte hier das Imperfekt, weil er an das Konversationsstück dachte. Er hätte aber auch das Futurum brauchen können, wenn er von gewissen Kehrseiten des „epischen Theaters" schon gewußt hätte. Jedenfalls muß für ihn eine volle Deckung zwischen Schauspieler und Rolle bestehen: ,,Wann kann man einen Schauspieler mit Recht schlecht nennen ? ", so fragt er, um zu antworten: „Wenn er die Rolle nicht i s t . . . , sich vordrängt, den Kopf durch die Rolle steckt". Noch an anderer Stelle (Aphorismus „Memorieren") warnt er vor dem betrachtenden Abstand: „Auf diese Weise wird ein Stück referiert und nicht gespielt". In eigener Sache verfährt Strindberg, wie auch briefliche Äußerungen bestätigen, recht liberal mit den Rollenauffassungen der Schauspieler. Er meint, man solle den Schauspieler lieber in der einmal von ihm konzipierten Auslegung verharren lassen, statt ihn durch Regieeingriffe oder Einmischung vom Dichter aus unnötig zu irritieren. Manches pflege er schlechter, anderes aber ge-

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legentlich auch besser herauszubringen, als es dem Dichter vorgeschwebt habe. Seine Antwort auf eine Rundfrage (1901) beginnt: „Die größte Freiheit gebe ich dem Schauspieler...". Ähnliche Meinungen vertritt die „Dramaturgie". Er gibt wohl einmal knappe Anregungen wie ζ. B. für die Schauspieler von „Rausch" (brieflich 1902), ist aber großzügig und weit duldsamer als etwa Frank Wedekind. Man hat den Eindruck, als ob sich Strindbeig bewußt ist, daß seine Gestalten vielfach zwar schön geschnitzte Schachfiguren sind, aber doch (und eben deshalb) durch eine eigenmächtige Belebung durch den Schauspieler in vielen Fällen nur gewinnen können. Die naturalistische Begeisterung (zur Zeit der „Julie") ist merklich abgeflaut. Strindbeig spricht despektierlich von der „zoologischen" Weltanschauung, „die wir eben durchgemacht haben". Und hinsichtlich des Schauspielers: „Ein guter Schauspieler wird, wer sich selber als Künstler nimmt, also seine Kunst als Kunst betrachtet, nicht über allgemeines Stimmrecht oder Frauenemanzipation grübelt, nicht über Welträtsel (Haeckel) und Zoologie (Darwin) sinnt". Es hatten sich nämlich ausgesprochene „Tendenz"-Schauspieler auf Grund der Tendenz- und Thesenstücke herausgebildet, die mehr „predigen" als darstellen wollten. Bis zur Ermüdung wiederholt Strindberg die Forderung des langsamen, deutlichen, wohlakzentuierten Sprechens. Es sei daran erinnert, daß der frühe Strindbeig selbst einen Anlauf zur Schauspielkunst unternommen hatte. Zusammenfassend kann gesagt werden: Von den A u s l a n d s e i n f l ü s s e n wirkt also kunsttheoretisch und literaturprogrammatisch Emile Zola am stärksten. Nächst ihm am ehesten noch August Strindberg mit dem essayhaft ausgeweiteten Vorwort zu „Fräulein Julie", ζ. T. auch noch mit dem Essay über „Einakter". Henrik Ibsen und Leo Tolstoi dagegen bieten Anregungen vor allem in Form der Vorbildpoetik, also durch ihr Kunstschaffen und das diesem eingekörperten Kunstwollen, also im Sinne der werkimmanenten Poetik. Dabei blieb der Naturalismus bei Ibsen, selbst in den „Gespenstern", immer noch weit zahmer als in Tolstois „Macht der Finsternis" oder in Strindbergs „Fräulein Julie". Erst der Vergleichsblick auf Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" läßt die Steigerung in Deutschland voll erkennen, sowohl wenn er sich auf die „Gespenster" wie auf „Fräulein Julie" richtet. Am ehesten noch hält, abgesehen vom 5

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Mundartlichen, Tolstois „Macht der Finsternis" diesen Vergleichsblick hinsichtlich der Konsequenz des Realismus der Form nach aus. Ein Ähnliches gilt von der „Familie Selicke", obwohl sie in der Tendenz wesentlich verhaltener wirkt. Im Einzelnen kann das hier nicht begründet und belegt werden. Doch wird soviel klar, daß einerseits reiche Auslandseinflüsse vorlagen, daß andererseits die Weiterbildung in Deutschland nicht unterschätzt werden darf. In gewissem Grade gilt dasselbe für den Bereich der Epik, nicht zuletzt durch das experimentelle Verfahren von Arno Holz und Johannes Schlaf in den Sammlungen „Die papierene Passion" und „Papa Hamlet". Doch ist der Vorsprung des Auslandes in der Epik schwerer einzuholen. Und wiederum: der Blick auf das Ausland bestätigt, daß im Naturalismus der Erwerb des „poetischen" und „künstlerischen" Realismus keineswegs verlorenging, so daß sich die scheinbare Entgegensetzung in Wirklichkeit als eine Fortsetzung durch Umsetzung darstellt. In der formulierten Poetik liegen die Dinge nicht viel anders. Auch sie wurde in Deutschland vor allem durch Arno Holz bis zur letzten Konsequenz vorangetrieben, die das Gesetz der Kunst nicht nur (wie bei Zola) möglichst nahe an das Naturgesetz heranrückte, sondern die spezifischen Produktionsbedingungen der Kunst immerhin als Regulativ und in gewissem Grade auch als Reservat einbezog. Und wiederum: auch sie verrät in ihren Vorstufen und Zwischenstufen jene Kontinuität, die sich vom „poetischen Realismus" ableitete, obwohl sie streckenweise recht radikal von ihm fortzuleiten schien. In noch größerem Zusammenhang gesehen, geht es um die Frage: Realismus als Epoche oder Realismus als F o r m - K a t e g o r i e und I n h a l t s Kriterium. Realismus als Epoche entfaltet sich besonders im neunzehnten Jahrhundert, um in dessen letzten zwei Jahrzehnten eine deutliche Kulmination zu erreichen, eben den konsequenten Realismus (Naturalismus). Realismus als Stilkategorie oder doch Stileinschlag ist auf vielen früheren Literaturstufen anzutreffen. Dabei verdichtet er sich fast schon zum Epochentypus vorwiegend in materialistisch und frühpositivistisch eingestellten Perioden, so in der Aufklärung und im Jungen Deutschland, aber auch in der Bürgerdichtung des sechzehnten Jahrhunderts. Das schließt nicht aus, daß in an sich unrealistischen Epochen wie in der Barockzeit, besonders im Sektor der kulturkritischen Satire, Möglichkeiten und

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Vorteile einer realistischen Sehart und Darstellungsweise ausgewertet werden (Grimmelshausen, Moscherosch). Man wird sich nämlich gewöhnen müssen, selbst Epochenstile nicht als einsträngige Gebilde von normierender Verbindlichkeit aufzufassen. Vielmehr überwiegt der Eindruck, als wenn aus einem lebendigen Geflecht von verschiedenartigen Keimen die e i n e Epoche den e i n e n , die a n d e r e Epoche den a n d e r e n Keim vorzugsweise in Pflege nimmt. Genauer: daß jeweils eine Entwicklungsmöglichkeit zunächst versuchsweise, dann — und nicht selten nach einer längeren Unterbrechung — endgültig ihrer Verwirklichung und Vollendung zugeführt wird. Für den Realismus lag die Bereitschaft zum Ausreifenlassen vor allem im neunzehnten Jahrhundert und einer mehr weltanschaulich verstärkten Variante im zwanzigsten Jahrhundert. Es ist nun nicht immer so, daß die nächst vorausgehende tendenzverwandte Stufe den betreffenden Darstellungsstil nach Form und Inhalt am ausgeprägtesten aufweist. Es überbietet in den Einzelheiten etwa das sechzehnte Jahrhundert oder die gegenhöfische Strömung im siebzehnten Jahrhundert oder die Geniezeit (Sturm und Drang) bereits den poetischen Realismus, der ζ. T. bewußt dämpft und vergeistigt. Außerdem ist in diesem Betracht die mundartlich-ländliche Sonderform in Rechnung zu stellen. Es ist verständlich, daß Literaturgeschichten und vollends Sonderarbeiten das „ N e u e " eines „neuen" Abschnitts teils aus Gründen der Pädagogik, teils aus Gründen der Sensation weit über Gebühr herausarbeiten. Das lange vorher „ G e h a b t e " (im Sinne Johannes Rehmkes) wird in solchen Fällen allzuleicht vergessen. Vollends dann, wenn noch weltanschauliche Ambitionen mit hineinspielen, — wie beim Naturalismus —, will man möglichst etwas „ g a n z " Neues vortäuschen, oft sich selber mehr als den anderen. Bei näherem Zusehen bestätigt sich nicht nur die Wiederkehr auf einer anderen Kehre der Entwicklungsspirale oder (in dem anderen Vergleichsbild) das Weiterentfalten eines längst gepflegten Keims, sondern auch das Fortsetzen durch Umsetzen trotz Hervorkehrung der Entgegensetzung. Die Entgegensetzung war im Sonderfall nur zu erzielen, indem sich die Polemik mehr an den Neuklassizismus des Münchener Dichterkreises hielt als an die Abhebung vom poetischen Realismus, der in seinen sehr „poetisierten" Spielarten als Scheingegner aufgebaut werden mußte, um die Notwendigkeit eines „Neuen" glaubhaft zu machen. Die ,,Kritischen Waffengänge" 5*

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der Brüder Heinrich und Julius Hart lassen deutlich genug jene rückwärtigen Bezüge erkennen; und selbst die Münchener „Gesellschaft" ist keineswegs von ihnen frei, obwohl sie Zola in den Vordergrund rückt. Und was die Hauptträger der Theorie und Programmatik betrifft, so weist Karl Bleibtreu selbst noch über den poetischen Realismus auf Romantik und Geniezeit zurück, während Wilhelm Bölsche trotz der naturwissenschaftlichen Grundlagen bei einem „besonnenen Realismus" haltmacht. Das dürfte damit zusammenhängen, daß „Realismus" durchweg nicht auf naturnahe Gegenständlichkeit beschränkt bleibt, sondern leicht zur Polemik und Kritik strebt. Er geht vielfach nur deshalb so nahe an das Wirkliche heran, um ihm zugleich auf den Leib zu rücken. Und indem er die Wahrheit sucht, endet er leicht dabei, den anderen die „Wahrheit" zu sagen, während er sich selber nur sehr bedingt die Wahrheit sagt; die Wahrheit nämlich, daß er als Kunstform selbst dann und gerade dann den Sinn verlieren würde, wenn er eine absolute Deckung von Kunstwahrheit und Naturwirklichkeit erringen oder erzwingen könnte, was von vornherein unmöglich und unsinnig wäre. Photographie einerseits, Schallplatte bzw. Tonband andererseits müßtenauch die Fanatiker des konsequenten Realismus stutzig machen, die einen (betreffs der Photographie) früher, die anderen (betreffs Schallplatte und Tonband) später. Aber immer wieder setzte sich der Anspruch der Kunst durch, nicht nur zu kopieren, sondern zu konzentrieren, nicht nur zu berichten, sondern zu berichtigen, und zwar bereits innerhalb des Realismus selber. Denn das Berichten diente sehr bald dem Berichtigen, und das Kopieren wurde erst als Kunst erkannt und anerkannt, wo es zu konzentrieren verstand. Unversehens berührten sich dergestalt die Extreme: der konzentrierende Typus des Realismus mit dem abstrahierenden Typus des Idealismus. Das hing letzten Endes nicht nur, aber auch nicht zuletzt damit zusammen, daß unter Einmünden der fortschrittlichen Tendenz aus den „charakteristischen" Trümmern einer detaillierten Wirklichkeit ein irgendwie doch wieder idealer Typus der Zukunft entwickelt wurde in dem Maße, wie die bestehende Wirklichkeit verformt wurde, um sie zu „verbessern" und zu verändern. Auf dem Umweg über Illusion der Wirklichkeit und Desillusionierung der Wirklichkeit gelangte man dergestalt oft nicht nur zu einem neuen „klassischen" Ideal (Gegenständlichkeit, „Plastik"), sondern sogar zu einer mehr oder minder romantisierenden Utopie. Die Not-

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wendigkeiten des Wirklichen weisen immer wieder über sich hinaus auf die Möglichkeiten des Wesentlichen. Und andererseits suchen alle Idealitäten immer wieder festen Halt an den Realitäten. Der Traum möchte Wirklichkeit werden, die Wirklichkeit aber möchte über sich hinausträumen. Ob die Kunst dabei das, was recht ist, verklären will (Idealismus) oder das, was nicht recht ist, verändern will (Spielform des politischen Realismus), ist für Wesen und Wert der Kunst nicht einmal gar so erheblich, wie radikale Richtungsverfechter gern wahrhaben möchten. Auch die Kehrseite gehört zur Münze und ist für ihre „Ganzheit" ebenso unentbehrlich wie ihre Schauseite. Es wirkt daher wie ein kindlich-künstlerisches Spiel, wenn man einmal die Schauseite zur Kehrseite und dann wieder die Kehrseite zur Schauseite machen zu können meint. Man vertreibt damit die Zeit, aber nicht den Zweifel. Denn die Einzelheiten kann man (bis zur Erschöpfung) diskutieren, die Ganzheit der Kunst bleibt (bis zur Vollendung) stets indiskutabel. Ein wesentlicher Zugang vom Realen zum Idealen, vom Stofflichen zum Geistigen scheint über das Symbol zu erfolgen, und zwar unmittelbarer als der scheinbar kürzere Weg über die idealisierende Verklärung der Wirklichkeit. Die historischen Bestände des Naturalismus bestätigen überzeugend diese prinzipielle These, denn oft genug vollzieht sich der Übergang fast unmerklich. Diese noch kaum hinreichend anvisierte und analysierte Erscheinung dürfte mit der stark ausgeprägten inhaltlichen Komponente des Realismus zusammenhängen. Nicht die Sache um der Sache willen — damit versuchte es streckenweise die „Neue Sachlichkeit" — stand für den Realismus im Vordergrund, sondern die Sache um des Sinnes willen, das Ding um der Deutung willen. Auch wo der Sachbestand an sich wirken sollte, sollte er wirken als sinnfällige Anklage und sinnhaltige Aussage. Und in diesem Augenblick stellte sich zwangsläufig die Wendung zum Symbolischen oder zum Typischen ein. Nicht erst „Die versunkene Glocke" trägt einen Symboltitel, schon „Vor Sonnenaufgang" meint nicht nur die Einsatzzeit des Geschehens. Und hätte Gerhart Hauptmann den ursprünglich vorgesehenen Titel „Der Sämann" beibehalten, wäre der „Sinn der Sache" noch dicker aufgetragen worden. Tolstoi will mit der „Macht der Finsternis" auf die Situation nicht nur, sondern auch auf den Sinn zielen. Ebenso Ibsen mit den „Gespenstern", denn selbst wenn man sinn-näher mit „Wiedergänger" übersetzt (vgl. in Frankreich „Revenants"), so bleibt über das Volkskundliche hin-

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weg (Volksaberglaube in Kontakt mit dem Bibelglauben) der sinnbildhafte Bezug, auch aufgefangen in Oswalds letztem Ausruf „Die Sonne!", ganz unzweideutig bestehen. Kurz, das Sinnenhafte drängte von vornherein zum Sinnbildhaften, fast als ob der konsequente Realismus der Sachlichkeit einer Entschuldigung bedurft hätte vor der Immanenz des Geistigen. Es wäre ungerecht, diese latente Widersprüchlichkeit nur dem Realismus nachzuweisen und zuzuweisen. Der klassische Idealismus oder der Idealismus der Klassik birgt ganz entsprechend in sich ein Hingewiesensein auf die „schöne Gegenständlichkeit", aber eben doch auf Gegenständlichkeit und plastische Dingfreudigkeit. Und selbst die Romantik muß die Kühnheit des Wunderbaren sichern durch den Rückgriff auf das Wunder der Wirklichkeit als Stütze für die Wirklichkeit des Wunders. Kurz, der Realismus, so umstürzend er sich besonders in seiner letzten Kraftdemonstration als konsequenter Realismus (Naturalismus) auch vorkommen und manchem seiner Verfechter vorkommen mag, reagiert durchaus nicht „so ganz anders" wie die anderen Kunstkategorien, Kunststile oder Kunstepochen. Denn auch er muß sich dem Grundgesetz der Dichtkunst, einer Einheit und Ganzheit von Stoff und Geist beugen, wenn er nicht aufhören will, Kunst zu sein, um bloße Kunsttechnik zu bleiben. Die Stoff- und Motiverweiterung etwa in der Richtung der „Elendsmalerei" mochte das zunächst einmal Auffallende sein. Das „Neue" lag schwerlich darin, wenn man von der Quantität der dichterischen Verwendung absieht. Das Elend hatte schon Grimmelshausen geschildert und Georg Büchner u. a. m. Das „Neue" lag in diesem Bezirk mehr im Neuerwerb der Naturwissenschaft, während der Neuerwerb der Gesellschaftswissenschaft jenes an sich alte Thema nur variieren half, und zwar wiederum in Anlehnung an das „Neue" der Technik (Entwicklung der Produktionsmittel). Selbst ein Sonderthema der „sozialen Frage", wie etwa das Frauenrecht warnach der Emanzipation des Herzens in der Romantik und vollends der „rehabilitation de la chair" im Jungen Deutschland keineswegs eine wesenhafte, sondern höchstens eine graduelle Motivvariante mit längst vorbereiteten Problemstellungen und im ganzen nur leicht modifizierten Problemlösungen. Alkoholismus und Erbkrankheit aber standen bereits wieder im Problemkreis der Naturwissenschaften. Also nicht nur die Methode, auch das Motiv war neuartig am ehesten dort, wo man nicht die Natur nachahmte, sondern die Naturwissenschaft.

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Mit dieser naturwissenschaftlichen Methode konnte man gewissen Motivwelten nur recht schwer beikommen, ζ. B. den historischen. Der konsequente Realismus blieb in seiner Stoffwahl vorzugsweise an die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit gebunden. Es ist in diesem Zusammenhange nicht uninteressant zu beobachten, wie der Strindberg der großangelegten Historiendramen bekennt, mehr von Goethes „Götz" lernen zu können als von Gerhart Hauptmanns „Florian Geyer". Er studiert damals, wie die Briefe ablesen lassen, diese beiden Vorbilddramen. Und es will ihm scheinen, als ob Hauptmann viel zu sehr mit Quellenstudium (übrigens auch Lokalstudium) sich belastet habe, um noch die großen Linien konstruktiv entwickeln zu können. In der Tat hat Florian Geyer nicht nur schwer zu tragen an seiner historischen schweren Rüstung. Vielmehr hat er auch den Widerstreit auszutragen und durchzufechten, in den die naturalistische Methode und das historische Motiv notwendig geraten mußten. Denn ein konsequenter Realismus, auf die Historientragödie übertragen, geriet unversehens in unbeabsichtigte Nähe eines konsequenten Historismus mit weitgehender Deckung von Dichtung und Datentreue. Und diesen Historismus des 19. Jahrhunderts hatte man doch gerade überwinden wollen. Es spricht für Hauptmanns dichterischen Instinkt, daß er lieber ins Neuromantische auswich, als daß er dieser Gefahr verfallen wäre. Aber prinzipiell bestand ganz allgemein jene Gefahr. Und sie signalisierte eine der kaum überwindbaren Grenzen des Naturalismus. Mit Erblehre, Alkoholismus oder Frauenfrage, vollends mit dem Fortschritt der Technik war im historischen Drama nichts Rechtes anzufangen. Und die technische Überlegenheit der Artillerie blieb doch immer nur ein relativer, ein historisch zurückweisender „Fortschritt". D i e R e k o n s t r u k t i o n des G e w e s e n e n w o l l t e n i c h t z u s a m m e n s t i m m e n m i t der R e p o r t a g e des V o r h a n d e n e n . Die Rückübertragung der Tendenz war leichter durchführbar als die Rückübertragung der Methode. Zudem grenzte das Historische in seinen letzten Ursprüngen an das Mythische. Und das Mythische mußte für den Naturalismus ebenso verpönt und verfemt sein wie das Metaphysische. Aber selbst wenn man von derartigen Perspektiven absieht: das historische Drama und überhaupt die historische Dichtung machte einen Aufwand an nachschaffender Phantasie beim Kunstwertaufnehmenden erforderlich, wie er dem „naturalistischen" Zuschauer oder Leser programm-

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gemäß eigentlich nicht zugemutet werden durfte. Seine Mitarbeit erschöpfte sich im wesentlichen mit der vergleichenden Funktion, ohne auf die ergänzende Funktion eingestellt zu sein. Die „Kritischen Waffengänge" (1882—1884), die H e i n r i c h (1855—1906) und J u l i u s H a r t (1859—1930) nach mehreren früheren Anläufen zu Zeitschriften (vgl. am Eingang dieses Kapitels) herausgaben, stehen noch durchaus im Zeichen des Friihnaturalismus, ja streckenweise noch des poetischen und ideellen Realismus. Man darf also nicht unbedingt Bekundungen des konsequenten Realismus von ihnen erwarten. Das „eigene Prinzip", das ankündigend verheißen wurde, blieb entsprechend elastisch und weist kein scharfes Gepräge auf. Die Zeitschrift hatte mehr Perspektive als Profil. Aber auch die Perspektive richtete sich nicht eindeutig auf die Zukunft, sondern zum großen Teil auf die zu überwindende Vergangenheit. Das läßt schon die Titelwahl („kritisch") erkennen. Immerhin betonte man programmatisch das Zukunftweisende und Gegenwartdienende, vorerst aber nicht viel anders als einst im Jungen Deutschland. Hierher gehören Leitsätze allgemeiner Art wie etwa: „Nicht hinter uns, vor uns liegt das Ziel" oder die Selbstermutigung: „Unsere Sache ist es, in der Richtung darauf vorwärts zu gehen und keine Vergangenheit zu fürchten". Die Forderung der Aktualität tritt eindeutig zutage in zugespitzten Thesen wie: „Nur der Lebende hat Recht" oder, näher auf das Literarische bezogen: „Wir sehnen uns nach einer modernen, in unsrem eigenen Leben wurzelnden Dichtung". Als wesentliche Kriterien der „Kritischen Waffengänge" ergeben sich zunächst einmal: der Dienst an Gegenwart und Zukunft; Zurückdrängen der Tradition; r e a l i s t i s c h e , n a t i o n a l - v o l k s t ü m l i c h e , m o d e r n e Tendenz. Das sind alles Elemente, die das Jüngste Deutschland (Naturalismus) ohne weiteres vom Jungen Deutschland hätte übernehmen können. Abweichend wirkt vorerst am ehesten noch die sehr betonte nationale Tendenz, die von den Brüdern Hart streckenweise bis ins Nationalistische, ja „Germanistische", Germanophile übersteigert wird. Man spürt: nicht eine Revolution, wie bei den Jungdeutschen, sondern ein siegreicher nationaler Krieg bot den geschichtlichen Hintergrund. Der deutsche Sieg über Frankreich lag nur ein Jahrzehnt zurück. Auch die Befreiungs-Polemik gegen die Klassik, an sich vom Jungen Deutschland her vertraut, trägt entsprechend stärkere nationale oder doch kulturpatriotische Akzente. Denn im Gesamt handelt es sich bei

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den Brüdern Hart mehr um Kulturpatriotismus als um rein politischen Patriotismus. Heinrich und Julius Hart gaben sich noch der Hoffnung hin, der neuen Zivilisation eine neue nationale Kultur entreißen und abtrotzen zu können. Sie wollten merklich ein wenig die Rolle G. E. Lessings auf ihre kämpferische moderne Kritik übertragen, wie sie denn auch manches von seiner Methode und seinem Stil zu lernen und zu übernehmen trachteten. Aber es bleibt doch unverkennbar, daß dazwischen nicht nur Herder stand, sondern auch — Fr. Th. Vischer mit seinen „Kritischen Gängen". Die „Waffengänge" bekämpfen einen „seichten Idealismus, welcher die Wirklichkeit bald durch eine blaue Brille, bald in einem Hohlspiegel sieht"; aber sie kommen nur recht schwer los vom Gedanken der erhebenden (und erheblichen) Natursteigerimg, wobei die „individuell gefärbte Natur zum Ideal zu verklären" ist. Längst vorher hatte Karl Rosenkranz eine „Ästhetik des Häßlichen" zur Zeit des Jungen Deutschland mutig ins Auge gefaßt. Die „Waffengänge" glauben schon kühn zu verfahren, wenn sie mit M. Schaslers „Kritischer Geschichte der Ästhetik" (1872), die später auch L. Tolstoi ausgewertet hat (vgl. den Tolstoi-Abschnitt dieses Kapitels), ein „Geistig-Häßliches" in den Dienst des realistisch „Charakteristischen" stellen. Sie kommen sich kühn vor, wenn sie gegen die „vom Hauche des Jahrhunderts unberührt gebliebenen Poeten" bedrohlich vom Leder ziehen. Aber so kühn sind sie nun wieder nicht, das versprochene (8.) Sonderheft der „Waffengänge" mit der angekündigten Generalabrechnung mit Goethe wirklich zustande zu bringen. An dieser Stelle entsanken den Waffengängern ihre Waffen beim Endkampf bis zur Entscheidung. Im Grunde waren da die Jungdeutschen viel unbekümmerter vorgegangen. Inzwischen hatte der poetische Realismus der Opposition gegen den Idealismus viel Wind aus den Segeln genommen. Es gibt sogar Situationen, wo man erstaunlich willig mit dem Münchener Dichterkreise paktiert. Hat doch Heinrich Hart einen sehr umfangreichen Essay dem Grafen Schack gewidmet, ohne Gefühl dafür, daß Schack letztlich nur jene Klassik notdürftig aufwärmte, die Hart sonst so kühl abfertigte. Unklar bleibt auch, wie man einerseits den Dilettantismus so energisch bekämpfen kann wie die „Kritischen Waffengänge" und andererseits nicht merkt, daß man in dem kunstliebenden Grafen Schack ein Musterexemplar von notfalls gehobenem Dilettantentum vor sich hat.

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Mit mehr als gemischten Gefühlen wird man sich einem Kritiker auf dem Flug in die Zukunft anvertrauen, der wie Heinrich Hart in der pompösen Ideenlyrik der „Weihegesänge" des Grafen Schack gar so etwas, wie „Adlerflug" rauschen hört. Das gilt um so mehr, als derselbe Heinrich Hart dem weit fortschrittlicheren Romanschriftsteller Friedrich Spielhagen einen sehr zwiespältig gestimmten Essay widmet. Wenn H. Hart die soziale Frage wirklich am Herzen gelegen hätte, würde er schwerlich einen damals sehr angesehenen Schriftsteller, der zeitweise für den Roman ebenso repräsentativ war wie um ein halbes Jahrhundert nach ihm Thomas Mann, und dessen wertvollste Romane wie „In Reih und Glied", „Hammer oder Amboß", „Sturmflut" und in gewissem Grade auch die „Problematischen Naturen" um eben diese soziale Frage als Zentralproblem kreisen, so herbe abgefertigt haben. Damit freilich, daß er in Spielhagen mehr den Schriftsteller und weniger den Dichter anerkennt, dürfte H. Hart nicht das Falsche treffen. Aber auch Thomas Mann mußte sich, oft recht verbittert, mit dieser Unterscheidung (Schriftsteller — Dichter) herumschlagen (vgl. Kap. IV). Gewiß hatte H. Hart nicht so ganz unrecht, wenn er die personifizierten und allzu schabionisierten Ideenträger Fr. Spielhagens als bloße „Karikaturen pathetischer Art" enthüllte oder auch das „Romanhafte" kritisch beanstandete. Vollends verrät der Essay „Für und gegenZola" (2.Heft der „Kritischen Waffengänge") das Schwanken Heinrich Harts zwischen fortschrittlicher und kulturpatriotischer Tendenz. Denn was dort Zola mit der einen Hand gegeben wird, wird ihm mit der anderen Hand wieder genommen. Schon der geringe Umfang des Essays, der es nicht einmal zu einem Dutzend Seiten bringt, gibt zu denken, wenn auch die „Wahrheits"These Zolas anerkannt wird. An Einzelheiten der „Waffengänge" verdient Beachtung die nicht nur historische Abhebung von Epos und Roman, wobei das Epos mehr den überzeitlichen Idealen, der Roman mehr den zeitgebundenen Ideen zu dienen hat. Die Brüder Hart nämlich sind nicht einverstanden mit der landläufigen Meinung, daß der Roman nichts weiter sei als eine moderne Ablösungsform des alten Epos. Sie verwerfen zwar nicht unbedingt diese genetische Wesensbestimmung, sehen darin aber keineswegs eine erschöpfende Wertbestimmung. Dem Roman ist die Tendenz zuträglicher als dem Epos. Dem Roman ist der Humor zugänglicher, ja unentbehrlicher als dem Epos. Eine Abhebung von Roman und Drama hat Hein-

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rieh Hart noch um etwa ein Jahrzehnt später und jenseits der „Waffengänge" vorgenommen in der Abhandlung „Drama und Roman" (1906). Es darf in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß in Deutschland der Naturalismus mehr auf das Drama zielte, während in Frankreich, besonders durch Zola, der Roman im Vordergrund stand. Was den Humor betrifft, so möchte H. Hart vor allem ihm die Funktion zuweisen, die Kehrseiten und „Nachtseiten des Lebens" zugänglich und erträglich zu machen. Auf ihn versucht man in den „Waffengängen" den Primat der „auf die Spitze getriebenen Objektivität" abzuschieben. Die Entwicklung von Jean Paul bis Wilhelm Raabe erscheint als zu „ s u b j e k t i v " . Das Realistische sei dabei nicht gebührend zu seinem Recht gekommen. Bei näherem Zusehen ergibt sich, daß man vorerst noch geneigt ist, das Realistische nicht gar zu ernst zu nehmen, sondern es auf das Komische einigermaßen unverbindlich zu verlagern. Davon zeugt das mehr persönlich gefärbte Bekenntnis Heinrich Harts, das sich zugleich zu einer Teilanerkennung Zolas durchringt: „ W a s mich persönlich betrifft, so gestehe ich gern, daß es mir lieber ist, wenn die Nachtseiten des Lebens mit souveränem Humor behandelt werden; aber diese Vorliebe wird mich niemals hindern, die Eigenart eines Zola als vollberechtigte und mächtige anzuerkennen, und mich niemals veranlassen, einem großen Talente mit Schicklichkeitsbedenken entgegenzutreten." (2. „Waffengang"). Wenn die Ankündigung des ersten „Waffenganges" davon ausging, daß es an kritischen Zeitschriften fehle, die „ein eigenes Prinzip und eigene Anschauungen zu entwickeln" wüßten, so haben die „Kritischen Waffengänge", die im Todesjahr Darwins ins Leben traten, diese Lücke doch nur recht bedingt ausgefüllt. Rein programmatisch waren die „Deutschen Monatsblätter" (1878) recht eigentlich schon resoluter vorgestoßen. Im „Neue W e l t " überschriebenen Einleitungsmanifest begegnet frühzeitig der Terminus „Naturalismus", und zwar nicht mehr — wie schon im 18. Jahrhundert (vgl. Band II und III) — als Stilbezeichnung, sondern als Richtungswort. Noch einmal verwenden die Harts den Begriff im gleichen Jahr und im gleichen Sinne im Vorwort zum 1. Jahrgang ihres „Allgemeinen Deutschen Literatur-Kalenders für das Jahr i8yg" (datiert: Mitte September 1878), der heute noch als „Kürschners Deutscher Literatur-Kalender" regelmäßig erscheint (zuletzt: 54. Jahrgang 1963). Schon erhoffen die Brüder Hart der „Deutschen

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Monatsblätter" von Ibsen (und Björnson) eine befreiende Anregung für die junge deutsche Dramatik, wenn vorerst auch nur im Sinne eines „gesunden, kernigen Volksdramas" (Anklänge und Vorklänge zur Heimatkunst begegnen mehrfach bei den Harts). Vor allem aber trifft man zunächst recht alarmierende Leitsätze wie etwa: „Die Neubildung der gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse . . . die naturwissenschaftliche Bewegung mit ihren gewaltigen Errungenschaften in Forschung und Technik und die pessimistische Philosophie". An solchen Stellen wird spürbar, daß die zurückgreifenden „Erinnerungen" (1907) Heinrich Harts, die von seinem jüngeren Bruder Julius Hart postum herausgegeben wurden, doch wohl nicht allzuviel Späteres in die Frühzeit projizierten, wenn sie auf Gewährsmänner wie Proudhon, Bebel, Lassalle, Liebknecht einerseits und Schopenhauer, Feuerbach, D. Fr. Strauß, Ludwig Büchner, Moleschott, E . v. Hartmann, Darwin, Haeckel andererseits hinweisen. Von solchen Einflüssen zeugen die „Monatsblätter" mit ihren allgemeinen Programmthesen weit mehr als die späteren „Kritischen Waffengänge", die viel zu stark mit Einzel-Kritiken belastet waren, um sich frei im Zukunftsraum bewegen zu können. Deshalb dürfte nur recht bedingt zutreffen, was die Sonderforschung durchweg behauptet und merklich unter dem Einfluß des zeitlichen Nacheinander voraussetzt, daß nämlich die „Waffengänge" fortschrittlicher seien als die „Monatsblätter". Man gewinnt bei näherem Zusehen weit eher den wohl richtigeren Eindruck, daß die Harts späterhin eher abbremsen als anspornen. Gegenüber jenen „Deutschen Monatsblättern" von 1878 rücken ζ. B. die „Berliner Monatshefte" von 1885, wie bereits oben vermerkt, vom Terminus „Naturalismus" kritisch wieder ab, etwa in ähnlicher Weise, wie es zeitparallel (1886) in K . Bleibtreus „Revolution der Literatur" geschah. Dazwischen lagen — eben nicht nur zeitlich — die sechs Hefte der „Kritischen Waffengänge" (1882—1884). Sie mußten sich noch mit damals einflußreichen Erscheinungen wie dem einigermaßen seichten Theaterdichter und recht oberflächlich selbstbewußten Theaterkritiker P a u l L i n d a u (1839—1919) herumschlagen. Ein wenig übertreibt eine Darstellung aus den zwanziger Jahren, wenn sie die damalige Machtstellung Paul Lindaus mit der (damals) „heutigen" von Alfred Kerr gleichstellt, um dem Leser die Situation anschaulich zu machen; aber so ungefähr traf der Vergleich zu. Richtig ist es auch, das Teilverdienst Paul Lindaus

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nicht unter der Kritik der Brüder Hart verloren gehen zu lassen, das in Lindaus Kampf gegen Dingelstedt, Bodenstedt und in gewissem Grade auch gegen Julian Schmidt als einflußreichen Rezensenten der „Grenzboten" lag. Aber diese „Literarischen Rücksichtslosigkeiten" (Lindaus) greifen nun immer weiter um sich. Bereits damals wurde die Theaterkritik, die Lindau gewiß interessant aufzumachen verstand, in weitgehendem Grade zum Selbstzweck. Daß sie selber subjektiv nur auf den persönlich empfangenen Eindruck (Ansatz zur impressionistischen Theaterkritik) und nur — wie Paul Lindau selber zugab — auf eine „individuelle Überzeugung" zurückging, wird ihr von den „Waffengängen" sehr verdacht. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß kein Geringerer als Theodor Fontane prinzipiell ein verwandtes Verfahren als Theaterkritiker bevorzugte. Daß Paul Lindaus Kritik auch positive Seiten aufweist: Zurückdrängen der Eigenmächtigkeit des Schauspielers, auch wenn er berühmt war wie Klara Ziegler, Dienst am Dichterwort, gründliche Proben, Heranziehung des Dichters bei den Proben, was allerdings für Lindau nahelag, u. a. m., ist von der Sonderforschung bereits geltend gemacht worden. Der kritische Bück der Brüder Hart wurde merklich getrübt durch ihre kulturpatriotische Einstellung und ihre Abwehr der leichten französischen Unterhaltungsstücke, in diesem Einzelfalle genauer: der Blick Julius Harts. Denn der Essay „Paul Lindau als Kritiker" stammt aus der Feder des jüngeren der beiden Brüder. Julius Hart ist es auch, der für den Artikel über den inzwischen vergessenen „Dramatiker Heinrich Kruse" zeichnet (i. „Waffengang"), so daß er das Ressort Drama vorzugsweise verwaltet zu haben scheint. Der Stralsunder H. Kruse war, um es kurz zu machen, eine Art von früherem Ernst von Wildenbruch in Kleinoktav. Dieser Kruse war im Grunde so wenig poetisch wie sein Name; und das war es letzten Endes, was J. Hart unbekümmert um den Zeitruhm und bekümmert um das Ansehen des Dramas feststellte. Als historischer Jambendramatiker hielt es Kruse weniger mit dem Geist der Geschichte als mit der Datentreue. Gerügt wird u. a. das einseitige Überwiegen der nur formulierenden Charakteristik gegenüber der gestaltenden Charakterzeichnung. Übrigens hatte auch P. Lindau als Kritiker H. Kruse als Dramatiker weit überschätzt. Fast ein halbes Hundert Seiten glaubt J. Hart mit der kritischen Abfertigung Kruses verschwenden zu müssen. Wesentlich berechtigter war es, wenn die „Waffengänge" dem langjährigen Leiter

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des Deutschen Theaters A d o l p h L ' A r r o n g e (1838—1908) eine noch umfangreichere, durchweg positive Würdigung widmeten, hatte doch L'Arronge u. a. noch einige der naturalistischen Frühdramen Gerhart Hauptmanns auf die Bühne gebracht. Erst 1894 wurde er von Otto Brahm abgelöst. Seit 1883 war das Friedrich Wilhelmstädtische Theater, dem L'Arronge von 1881 an vorstand, in „Deutsches Theater" umbenannt worden. Das fiel also mitten in die Zeit der „Kritischen Waffengänge". Von einem Verwischen der Grenze zwischen Dramatik und Epik, wie es teils in der Theorie, teils in der Praxis des Naturalismus beobachtet werden kann, sind die „Kritischen Waffengänge" der Brüder Hart noch merklich entfernt. Nicht nur die Eigenart, auch der Rang der Dichtungsgattung wird vielmehr festgehalten. Man ist überzeugt, daß das „Drama den Gipfel aller Kunst bildet". Kennzeichnend für die latente Unentschlossenheit, dem Realistischen den Vorrang einzuräumen, ist der Umstand, daß es die Komödie ist, der vor allem das „ R e a l e " zugewiesen wird. Das entspricht dem schon erwähnten Bemühen, das Realistische auf das Humoristische abzuschieben. Neben dem Zuordnungskriterium des Realen behält das Kriterium des Idealen durchaus seine Gültigkeit. Die Lyrik überzeitlicher A r t untersteht dem Kriterium des Idealen, die Lyrik zeitgebundener (besonders politischer) A r t dem Kriterium des Realen. Die Epik überzeitlicher Art, vertreten durch das Epos, untersteht mehr dem Idealen, die Epik zeitgebundener Art, vertreten durch den Roman, neigt sich mehr dem Realen zu. Kurz, der Idealrealismus wird auch hinsichtlich der Gattungs- und Artbestimmung noch keineswegs verdrängt vom ideellen oder gar vom konsequenten Realismus. Schon wird man stutzig angesichts des Theaters als eines erzieherischen Bildungsinstituts, weil dann das aufklärerische Drama Chr. Felix Weisses das geniale Drama Shakespeares überbieten würde. Das Theater als nur moralpädagogisches „Institut" gilt den Brüdern Hart nicht mehr als verbindlich oder gar als verpflichtend. Jenseits der Schaubühne als moralischer Anstalt möchten sie weitere Möglichkeiten offenhalten, weil das moderne Drama „noch weitere Gipfelpunkte ahnen" läßt. Sie ahnten damals noch nicht, daß ihre Humanisierung und Demokratisierung des Bühnenwerks sehr bald in einer Vermischung von Moralität und Kausalität enden würde, die jene „moralische Anstalt" als sozialkritische Veranstaltung fast noch prinzipiengerechter aufleben ließ, als das in der Aufklärung jemals der Fall

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gewesen war. Denn mehr und mehr suchte das Realistische seine Rechtfertigung im Moralistischen, bei Gerhart Hauptmann ebensowohl wie bei Hermann Sudermann oder Max Halbe. Allenthalben nämlich war das Realistische geneigt und genötigt, sich durch das Moralistische zu rechtfertigen: in Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" ebenso wie in Schlaf-Holz' „Familie Selicke", wie in Halbes „Jugend" oder Sudermanns „Ehre" oder „Heimat". Das kühn Realistische bedurfte des letztlich konventionell Moralistischen. Naturalismus und Moralismus sind viel enger und strenger aufeinander angewiesen, als es die Kritik vom ästhetischen Idealismus her wahrhaben möchte. Wo Gott ausgeschieden wird, kann nur noch das „Gute" entscheiden. Wo das Wirkliche dominiert, kann nur noch das Wesentliche kontrollieren. Wo das Wahre angerufen wird, kann man sich nur noch auf das subjektiv Ehrliche berufen. Denn die „Natur" verspricht ein Objektives, aber die Naturnachahmung verbürgt immer nur ein Subjektives. Mit anderen Worten: in dem Augenblick, in dem Arno Holz das individuelle „Temperament" Emile Zolas auszuscheiden trachtete, nahm er der Kunst das Eigentümliche und Eigenartige, das die Brüder Hart noch zu retten versuchten. Die Treue zur Tendenz war dabei größer als die Treue gegenüber der Kontinuität der Kunst, die Natur-Kunst stand höher als die Kunst-Natur. Das Gesetz der Kunst-Methode war wichtiger als das Gesetz der Kunst an sich. Kein Wunder, wenn die bekannte Formel, die Arno Holz einigermaßen umständlich gefunden hatte: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein; sie wird sie nach Maßgabe der jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung" einlud oder ermutigte zu folgender — allerdings übermütiger und eigenmächtiger — parodierenden Modifikation „Die Tendenz hat die Natur, wider die Kunst zu sein; ihr gelingt das nach Maßgabe der jeweiligen Destruktionsbedingungen und deren handfester Handhabung". Aber derartige Parodien, wie sie in Künstlerkreisen anzutreffen waren und von denen wenigstens eine verzeichnet werden sollte, um den gegnerischen Standort schlagartig zu belichten, derartige Verkehrungen und Umkehrungen sind gewiß von einem Eingehen auf das Kunstwollen des radikalen Naturalismus (konsequenter Realismus) so weit wie nur möglich entfernt. Bemerkenswert bleibt immerhin die Beobachtung, daß Epochen mit stark ausgeprägtem Willen zur Tendenz besonders nachdrücklich nach der „Methode" zu fragen und zu rufen pflegen: so dieAuf-

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klärung, so das Junge Deutschland, so der Naturalismus, so der „sozialistische Realismus". Vielfach bleibt jedoch die Frage nach der „Methode" recht allgemein gehalten. Man müßte erwarten, daß der Naturalismus etwa Theorien der einzelnen Dichtungsgattungen entwickelt hätte. Das ist aber kaum ernstlich der Fall. Überhaupt wurde die Theorie der Kunsttechnik nicht gepflegt oder gar bevorzugt. Arno Holz ging zwar von technischen Fragen aus, aber nur um seine Kunst-Formel abzuleiten, nicht um praktische, kunsttechnische Winke zu geben. Das Kapitel über gattungstheoretische Sonderbeiträge Band IV erinnert daran, daß derartige Bemühungen im poetischen und ideellen Realismus weit extensiver und intensiver gewesen waren. Aber auch neben und nach dem Naturalismus stößt man auf Abhandlungen wie Jakob Wassermanns „Kunst der Erzählung", Alfred Döblins „Der Bau des epischen Werks", Oskar Loerkes „Formprobleme der Lyrik" bis hin zu Gottfried Benns „Problemen der Lyrik", ganz abgesehen von mehrfachen gattungstheoretischen Beiträgen Albrecht Schaeffers. Darüber wird an entsprechender Stelle noch zu berichten sein. In allen erwähnten Beiträgen geht es zugleich stark um kunsttechnische Fragen. Arno Holz schreibt zwar eine „Revolution der Lyrik"; das bleibt aber mehr programmatisch. Er fordert zwar in seinem Hauptbeitrag eine Gebiet- und Aufgabenverteilung unter den Gattungen: „keine Kunstform darf sich leisten wollen, was eine andere Gattung durch die ihr eigentümlichen Mittel noch wirksamer zu leisten vermag". Aber eine nähere Bestimmung der Aufgaben oder Formprobleme der einzelnen Gattungen wird nicht unternommen. Ihn fesselt zu sehr das Grundgesetz. Man hatte im Naturalismus das Gefühl, „ganz neue" Grundlagen legen zu müssen. An den Ausbau des Einzelnen konnte man noch nicht gut denken. In gewissem Grade verschwammen die Gattungsgrenzen, so vor allem die zwischen Epik und Dramatik. Sie verschwammen in dem Grade, wie alle Gattungen nur dem einen Ziel dienen sollten. So konnte ζ. B. noch Arno Holz, der doch die Übergangssituation des Frühnaturalismus schon hinter sich hatte, allen Ernstes eine Verwechslung von Handlungsbegriff und Geschehensbegriff (bzw. Begebenheitsbegriff) unterlaufen. Um das Drama ganz auf Charakteranalyse festzulegen und weitgehend darauf einzuschränken, wies er nämlich darauf hin, daß auf wenigen Seiten einer Novelle mehr an Begebenheit und Geschehen bewältigt werden könne als selbst in einem gedehnten zehnaktigen Drama.

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M a x H a l b e (1865—1944), neben und nach Gerhart Hauptmann wohl der begabteste naturalistische Dramatiker, kritisiert an Karl Bleibtreus Drama, daß es die Natur nicht wachsen läßt, sondern aus vielen Stämmen des Waldes einen ganz bestimmten „wohlgewachsenen Stamm" heraussucht und selbst den sorgsam ausgewählten noch kunstgerecht zustutzt, letztlich mit Rücksicht auf die Bühne. Neben der Vorstellung vom Motivstamm spielt die vom Handlungsstamm in diese Polemik hinein. Max Halbe, in Wirklichkeit selber ein guter Kenner der Bühnentechnik, weiß sehr wohl, daß die Sonderform des Dramas nicht zuletzt von den Notwendigkeiten der Bühne bestimmt ist. Aber er stellt — zum mindesten theoretisch — das allgemeine Ziel, das Prinzip des Naturalismus höher als das Gattungsgesetz der Bühnenbezogenheit des Dramas: „Der Naturalismus verzichtet nicht schlechtweg auf die Bühne, aber er weist die Zumutung, daß er sich der Bühne anpasse, mit Entrüstung zurück und verlangt, daß sich die Bühne ihm anpasst". Dabei verraten ζ. B. die häufigen symbolischen Naturvoigangsparallelen in Halbes Dramen, daß er sehr genau die Bühnenwirkung mit in Rechnung gestellt hat und nicht bereit war, sie dem Prinzip der konsequenten Wahrscheinlichkeit aufzuopfern. Das bestätigt nicht erst der „Strom", sondern schon die „Jugend". Der Naturalist aus Prinzip hat den Dichter aus Anlage in Max Halbe nicht zu unterdrücken vermocht. Er behilft sich frühzeitig mit symbolischen Notausgängen aus der Enge realistischer Konsequenz, darin dem frühen Gerhart Hauptmann in gewisser Weise verwandt. Streckenweise besteht sogar eine nicht ganz unbedenkliche Neigung, sich der bewußten Theatralik Hermann Sudermanns anzunähern, wenn er auch zu jener Gruppe von naturalistischen Dramatikern gehört, die ζ. B. den Aktschluß merklich bewußt dämpft und verschlichtet, weil man die bühnenwirksame Aktschlußverstärkung als unnatürlich und zum Natürlichen künstlich hinzugesetzt empfinden könnte. Dagegen fordert er, entsprechend der Bedeutung der Vorfabel für die durchweg analytisch-regressiv angelegte Folge- und Enthüllungshandlung, ein organisches Verbundensein von dramatischer Fabel und Vorfabel. Im „Berliner Brief", den er in der Münchener „Gesellschaft" 1889, also im Jahr von Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" erscheinen ließ, umschreibt er diese Forderung in einem zwar mehr medizinischnaturwissenschaftlichen als poetischen Vergleichsbilde als Verflochtensein des „fleischgewordenen" Organismus mit allerlei 6

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Blutadern, Muskelsträngen und Nervenfasern, die erst seine Existenz garantieren und demonstrieren helfen. Den epischen Anteil räumt er für die Vermittlung der Vorfabel jedoch ohne Bedenken ein, indem er jene Verflechtungen „mittelbar durch Erzählung" erfolgen läßt. „Die Gesellschaft", in der so einer der markantesten Dramatiker des Naturalismus auch als Kunsttheoretiker zu Wort kam, war als „Realistische Wochenschrift" von M i c h a e l G e o r g C o n r a d (1846 bis 1927) gegründet worden und zu Jahresbeginn 1885 mit ihrem ersten Heft herausgekommen. Die Münchener Zeitschrift schloß sich also zeitlich unmittelbar an die „Kritischen Waffengänge" von Heinrich und Julius Hart an. Ihre programmatische „Einleitung" konnte schon kurz gewürdigt werden. In München galt es zunächst einmal, die immer noch starke Machtposition Paul Heyses zu erschüttern. Es ist daran zu erinnern, daß wenige Jahre vorher (1882) das zweite „Münchener Dichterbuch" als freilich abgeblaßter und matter Neubelebungsversuch des weiland Münchener Dichterkreises und seines ersten „Dichterbuchs" von 1862 in eine recht verwandelte Welt hinausgeschickt worden war. W o l f g a n g K i r c h b a c h (1857—1906) zielte mit der Karnevalssatire „Münchener Parnaß" eindeutig in diese Richtung. Aber es war kennzeichnend, daß der im kritischen Fegefeuer geläuterte Paul Heyse immerhin noch auf dem „Parnaß" geduldet wurde. Und später schwenkte Kirchbach sogar eindeutig zugunsten Heyses von der neuen Richtung ab und auf die ältere wieder ein, wenn auch nicht restlos. Aber neben solchen Übergangserscheinungen standen gewagte Vorstöße ins Biologische und Soziologische, so etwa der Aufsatz von E r d m a n n G o t t r e i c h C h r i s t a l l e r (1857—1922) über „Natürliche und vernünftige Zuchtwahl in der Menschheit". Eigenartig genug mischen sich darin Darwinismus und Malthusianismus (Beschränkung der Kinderzahl) mit Vorstellungen Nietzsches von einer aristokratischen Aufzucht. Derselbe besonders rührige E. G. Christaller steuerte zum Jahrgang 1885 „Gedanken über die schöne Kunst" in mehreren Fortsetzungen bei. Er sucht den Blick des Kunstwertaufnehmenden für das Neue zu schärfen durch Erörterungen über „Realistische und unrealistische Kunstbetrachtung" (Jahrgang 1886), abgesehen von moraltheoretischen Erwägungen über die „Moral in der Liebe". Und erbringt in demselben Jahrgang eine erste Würdigung von Karl Bleibtreus „Revolution der Lite-

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ratur" (1886). Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Münchener „Gesellschaft" als „realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben" über den engeren literarischen und ästhetischen Rahmen bewußt hinausgriff. In den „Gedanken über die schöne K u n s t " versucht Christaller u. a. das Gebiet des für den Realisten Zulässigen näher zu bestimmen. Danach ist der Naturalist nicht im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie Gottscheds eingeschränkt auf das nur im strengen und engen Sinne Wahrscheinliche. Auch das Leben selber bringt an sich Unwahrscheinliches und Zufälliges. Der Realist braucht darin nicht pedantischer zu verfahren als die Natur selber. E s kommt vor allem an auf die Wahrung der Grenze des naturgesetzlich „Möglichen". Das in diesem Sinne Unmögliche ist auszuscheiden. Aber innerhalb des „Möglichen" besitzt neben dem „Durchschnittlich-Wirklichen", das mit dem „Wahrscheinlichen" gleichgesetzt wird, auch das Nicht-Durchschnittliche, also das „Ungewöhnliche" und „Außerordentliche" eine großzügig eingeräumte Daseinsberechtigung. „Unwahrscheinliches" wird also bedingt geduldet, unter der Bedingung nämlich, daß es nicht gegen grundlegende Naturgesetze verstößt. Schon im ersten Jahrgang der „Gesellschaft" (1885) hatte sich Erdmann G. Christaller mit dem vermeintlich negativen Kriterium des „Unwahrscheinlichen" und dem vermeintlich positiven Kriterium des „Durchschnittlichen" kritisch auseinandergesetzt. E r hatte dabei etwa eine mittlere Stellung zwischen Idealismus und Naturalismus bezogen, die dem poetischen und besonders dem ideellen Realismus gar nicht einmal so fern lag. Denn er befürchtet vor allem ein Herabdrücken des geistigen und künstlerischen Niveaus durch die einseitige Vorherrschaft des Durchschnitts, des nur Wahrscheinlichen und der „aktuellsten Wirklichkeit". E r möchte die äußeren Bedingtheiten des Wirklichen nicht einseitig triumphieren sehen über die inneren „Voraussetzungen des Kunstwerkes". Diese inneren Voraussetzungen liegen auch beim Kunstwertaufnehmenden letzten Endes immer noch im Bereich der Phantasie, auch der willig nachschaffenden Phantasie. Sonst wird ein Kunstbanausentum herangezüchtet, das nur den nüchternen Alltagsverstand als robust gehandhabten Maßstab kennt. Zum mindesten: gilt das von dem in seine Alleingültigkeit „verrannten Naturalisten". Nun wird verständlicher, warum Christaller das „Mögliche" und selbst das Unwahrscheinliche zu retten versucht, soweit es nicht den Naturgesetzen widerstreitet. 6·

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Daß ein Verstoß gegen die Naturgesetze auch einen Verstoß gegen die (realistischen) Kunstgesetze bedeutet, hat besonders nachdrücklich ausgesprochen K o n r a d A l b e r t i (1862—1918) in seinen fast ein wenig den weiland Bauernkriegs-Artikeln angeglichenen „Zwölf Artikeln des Realismus" (Jahrgang 1889), wo zuversichtlich dekretiert wird: „Da alle Naturgesetze, welche die mechanischen Vorgänge in der physischen Welt regeln, auch alle geistigen Vorgänge und Erscheinungen bestimmen, so ist a u c h die K u n s t g e n a u d e n s e l b e n G e s e t z e n u n t e r w o r f e n w i e die m e c h a n i s c h e W e l t " . Die Sonderforschung konnte darauf aufmerksam machen, daß diese These dem Sinne und ζ. T. auch dem Wortlaute nach bereits ein Jahr vorher in K . Albertis Essay über den Literaturkritiker „Frenzel und der Realismus" (Jahrgang 1888) begegnet. Dort wird diese Anschauung als eine gemeinsame „Entdeckung" von Alberti und Bleibtreu herausgestellt. Sie sei geeignet, der „ganzen spekulativen Ästhetik" den „Todesstoß" zu versetzen. Und dort ist nicht nur allgemein von „Kunst" die Rede, sondern davon, daß die mechanischen Naturgesetze auch ganz „speziell das künstlerische Schaffen" (Berücksichtigung des Schaffensvorganges) regeln sowie eine „Wandlung des allgemeinen Geschmacks" bewirken helfen. Die „Artikel des Realismus" scheinen zwar einerseits eine Ausweitung der zulässigen Stoffbereiche zu bringen; denn das Verbot des Häßlichen und selbst des „Schmutzigen", das man der Epigonendichtung zuschrieb, wurde zunächst einmal aufgehoben. Aber es erfolgen auf der anderen Seite empfindliche Abstriche durch Ausschluß alles Naturwidrigen, Phantastischen, naturgesetzlich schlechthin Unmöglichen, der „realen Beziehung Entbehrenden", das Daseinsgesetz „Verschleiernden" wie ζ. B. Gestalten der antiken Mythologie (Zentauren oder Tritonen) oder der christlichen Vorstellungswelt (Engel). Der Spieß wird so radikal umgedreht, daß „in der Kunst" nun, merklich durch den Gegenangriff gereizt, das Phantastische geradezu als „häßlich und schmutzig" entwertet wird. Es gehört nach K . Alberti „Zum Glaubensbekenntnis des Realismus" (ebenfalls Jahrgang 1889 der „Gesellschaft") — so nennt er programmatisch einen weiteren, kürzeren Beitrag — die Überzeugung, die er also unermüdlich einhämmert, daß „im ästhetischen Sinne" alles das auch „wahr" sei (Einmündung des Wahrheitsbegriffs in den Wirklichkeitsbegriff), was im mehrfach angegebenen Betracht „möglich" sei und „was den Naturgesetzen der (wissenschaftlichen) Erkenntnis nicht wider-

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spricht". Er faßt, gesetzgebend gestimmt, lapidar zusammen: „Alles in diesem Sinne Mögliche bildet das Stoffgebiet der Kunst". Damit sucht er Anlehnung bei dem „Möglichkeits"-Begriff Erdmann G. Christaliers. Als Kritiker erwirbt ihm ein arrogantes Fehlurteil über Gottfried Keller nicht gerade Vertrauen, wenn auch darin prinzipiell das Abrücken vom poetischen Realismus bemerkenswert bleibt. Ebenso schroff zieht er den Trennungsstrich gegen Paul Heyse als Führer des Münchener Dichterkreises. Obwohl Michael Georg Conrad jenes groteske Urteil über Keller keineswegs teilt, sind die in der „Gesellschaft" bemerkbaren radikaleren Ansichten und Aussichten offenbar gefördert worden durch die Atmosphäre der Zola-Verehrung, die der Herausgeber und Initiator der Zeitschrift, der in Paris mit Zola persönlich bekannt geworden war, zu schaffen verstand. Das gilt von seinem Essay „Zola und Daudet" (Jahrgang 1885) ebenso wie von dem Abdruck von „Aussprüchen (Zolas) über bildende Kunst" (Jahrgang 1885) oder seine größere Darstellung jenseits der „Gesellschaft", die 1890 abschloß unter dem Titel „Von Emile Zola bis Gerhart Ηawptmann" (1902). In Abhebung von Arno Holz setzt Emile Zola auch in jenen von der Münchener „Gesellschaft" aufgenommenen Bekundungen über die bildende Kunst den Anteil subjektiven Künstler-„Temperaments" nachdrücklich durch. Danach barg jedes Kunstwerk neben dem allgemeinen Bildungsfaktor (Natur) auch eine besondere Voraussetzung in sich: die individuelle Reaktion und Sehweise des Schaffenden selber. Zola postuliert noch durchaus die Mitwirkung des Künstlers als eines „Schöpfers". Würde man nämlich dieses „Temperament" ausscheiden wollen, so würde — nur auf Grund der Natur-Kunst-Gesetze — eine große, monotone Sammlung von „Photographien" entstehen, aber eben doch keine echten Kunstwerke. Selbst das Wort „realistisch" verliert für Zola in diesem Zusammenhange seine Bannkraft: „denn ich erkläre, d a ß ich die W i r k l i c h k e i t dem i n d i v i d u e l l e n Temperament unterordne". So viel weiter also die „Gesellschaft" vorstieß als die „Waffengänge": auch sie machte Halt vor dem schöpferischen Privilegium des schaffenden Künstlers. Es ging noch nicht wie bei Arno Holz um die Reproduktionsbedingungen, um die Darstellungsmöglichkeiten als letzte Instanz, sondern es ging noch um das individuell abgestufte Kunstwollen des Schaffenden, der nicht nur ein Nachschaffender (der Natur) war. Der schaffende Künstler blieb noch

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deutlich vom nachschaffenden Künstler und vollends vom nur nachbildenden Kunsttechniker abgehoben. Die letzte bittere (und ästhetisch bitterböse) Konsequenz des theoretisch „konsequenten" Realismus wurde noch nicht gezogen. Allerdings sei schon hier die Frage aufgeworfen, ob denn Arno Holz mit seiner bekannten KunstDefinition wirklich so restlos den individuellen Anteil beim Schaffensvorgang ausgeklammert hat, wie es seine Polemik gegen das „Temperament" in der Formel Zolas glauben machen möchte und wie es die Sonderforschung weithin willig ihm nachgeglaubt hat. Zum mindesten liegt in dem Zusatz „und deren Handhabung" bei aller betonten Nüchternheit eine Einschränkung des schlechthin Objektiven zugunsten eines schlecht wegzuleugnenden Subjektiven. Die Handhabung nämlich der Darstellungsmittel, die Auswertungsweise der jeweiligen „Reproduktionsbedingungen" bleibt letzten Endes auch bei Arno Holz dem einzelnen Künstler überlassen. Ob man als Künstler die Welt individuell „sieht" (Zola) oder ob man die Art ihrer künstlerischen Wiedergabe individuell „handhabt" (Holz): liegt das im Ansatz oder Ertrag gar so weit auseinander ? Ist da nicht am Ende der Schulmeister in Arno Holz in eine wenig imposante Splitterrichterei (bei aller grandiosen Pedanterie in Ableitung und Formulierung) hineingeraten ? Aber der Eindruck und Einfluß auf die damalige Zeit war anders. Und in ihn und in diese Zeit überhaupt gilt es sich zunächst einmal einzufühlen. Vorerst hatte man noch alle Hände voll zu tun, um überhaupt die programmatische Position einigermaßen zu klären. Nicht einmal der Terminus „Naturalismus" wurde unbesehen von Frankreich her übernommen. Während Emile Zola sich mit Stolz zu jener Gruppe von Schriftstellern bekannt hatte, die man als „Naturalisten" bezeichnete, hielt Leo Berg noch 1887 im Berliner Literaturverein mit dem höchst stürmischen Namen „ D u r c h " einen höchst bedachtsamen Vortrag über die Begriffe „Naturalismus und Idealismus", an sich schon eine recht unphilosophische Gegenüberstellung. Noch bedachtsamer verlief offenbar die anschließende Diskussion, wie das von Bruno Wille gezeichnete Sitzungsprotokoll eindeutig erkennen läßt. Zunächst einmal fällt auf, daß man bei „Idealismus" nicht etwa an den Idealismus der Klassik oder gar an den Idealismus Kants oder den transzendentalen Idealismus Schellings gedacht hat, sondern vielmehr damit eine reichlich verschwommene Vorstellung vulgärer Observanz verband, die von

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dem Eindruck der Epigonen-Literatur bezogen worden war. Idealismus gilt nämlich als „Richtung der künstlerischen Phantasie", die nicht die Natur wiedergibt wie sie ist, sondern wie sie sein sollte. Dabei ist das „Ideale" ganz allgemein als das „Vorbildliche, Vollkommene, Wünschenswerte" gemeint. Ebenso wird „ N a t u r a l i s m u s " nicht etwa als eine machtvolle S y n t h e s e v o n B i o l o g i e u n d S o z i o l o g i e innerhalb des Kunstwollens und Kunstschaffens gefaßt, sondern höchst literarisch-ästhetisch als bloße „Geschmacksrichtung". Diese Geschmacksrichtung findet nun den Geschmack daran, die Natur so darzustellen, wie sie ist (die Formel von Arno Holz klingt insoweit schon vor). Aber im Eifer des Gefechts schießt sie, so gibt man kritisch zu bedenken, ihrerseits über das Nahziel einer tendenzfreien Naturerfassung hinaus. Der „Naturalismus" verfalle nämlich der Tendenz, „mit Vorliebe" das auszuwählen und einseitig in den Vordergrund zu rücken, „was n i c h t so ist, wie es sein s o l l t e " . Woher der Gegenwind weht, wird eindeutig spürbar, wenn der Einwand sich gegen das „ästhetisch und moralisch Beleidigende" (!) richtet. Eben hierin lag eine Haupthemmung der deutschen Theoretiker des Naturalismus gegen eine glatte Herübernahme des französischen Naturalismus. Deshalb nicht zuletzt scheute man die Bezeichnung. Und deshalb — um bei jener denkwürdigen Diskussion über die Thesen Leo Bergs zu bleiben — rückte man von dem Terminus „Naturalismus" ausdrücklich ab, um den Terminus „Realismus" zu bevorzugen. Der „Realismus" nämlich, so meint man, vermeide jene peinliche „Übertreibung", ohne das Prinzip der „Wahrheit" aufzuopfern. Das Biologische tritt in diesem Falle merklich zurück, während das Soziologische zu seinem Recht kommt. Denn die „Wahrhaftigkeit" einer „objektiven Betrachtung" gewöhnt an die Beobachtung und Beachtung der „gesellschaftlichen Verhältnisse" und gewöhnt dergestalt den Kunstwertaufnehmenden an soziale Tugenden wie Gerechtigkeit und „Erbarmen". Der Realist wird eine entsprechende Beleuchtung über seine Stoffe „ausgießen" (ungewolltes Zugestehen der Tendenz), also insofern „ideal" gestalten, aber nicht „idealistisch". Der Eiertanz der Begriffsbildung Otto Ludwigs wiederholt sich also (Realidealismus, Idealrealismus usw.), nur daß er auf anderem Boden (mehr sozialer Art) erfolgt. Leo Berg hat noch im Entfaltungsraum des Naturalismus etwa ein halbes Jahrzehnt später eine Schrift erscheinen lassen „Der Naturalismus,

zur Psychologie

der modernen Kunst"

(1892).

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Doch handelt es sich hier strenggenommen nicht mehr um eigentlich naturalistische Kunsttheorie, wie in anderem Zusammenhang noch ausführlicher darzulegen sein wird. Diese ist, tastend noch und mit starken Rückversicherungen beim poetischen und ideellen Realismus, von K . Bleibtreu, dann aber vor allem von W . Bölsche und in letzter Zuspitzung von A. Holz, dem „consequentesten Realisten", wie ihn das Widmungsblatt G. Hauptmanns zu „ V o r Sonnenaufgang" 1889 mit bezeichnendem Superlativ nennt, ausgeprägt worden. Nicht sowohl systematische Theorie als vielmehr allgemeine Dichtungsdeutung und programmatische Kritik brachte K a r l B l e i b t r e u (1859— 1 9 2 8) in seiner „Revolution der Literatur" (1. und 2. Aufl. 1886), besonders in den Abschnitten „Der Realismus", „Die Poesie und der Zeitgeist" und „Noch einmal das jüngste Deutschland", während der einleitende Artikel einen kurzen Rückblick wirft auf die „Historische Entwicklung", und weitere Aufsätze den historischen Roman, die „erotische Epik", das Drama, die Lyrik, den „Deutschen Dichter und sein Publikum" und den „Dichter an sich" der Anlage nach empirisch-kritisch, der Form nach essayhaft behandeln in feuilletonistisch schneidiger, aber zum Teil auch flüchtig hinwerfender Darstellungsart. Nicht „Naturalismus", sondern „Realismus" wählt Bleibtreu als Kennwort des richtungsmäßig grundlegenden Aufsatzes. Durchaus mit Recht; ja, es zeigt sich sehr bald, daß noch nicht einmal reiner Realismus, sondern überwiegend poetischer Realismus verteidigt und gefordert wird, nicht zum wenigsten aus jenem individuell abgestuften Zuge Bleibtreus heraus, der ein Stück kraftgenialen Schwunges, ein gut Stück Romantik auch, hinüberretten möchte in das noch ungeklärte junge Kunst wollen. Realismus wird erläutert als „diejenige Richtung der Kunst, welche allem Wolkenkukuksheim entsagt und den Boden der Realität bei Wiederspiegelung des Lebens möglichst (!) innehält". Eine derartige Definition war durchaus nicht so radikal revolutionär wie der von Blitzen durchzuckte Himmel auf dem Titelbild der Broschüre und ihr Titel selbst vermuten lassen könnten. Den falschen, schönfärbenden Idealismus phantastisch weltfremder Art hatte schon Otto Ludwig klar genug verworfen. Daß gerade die Abkehr vom Formschön-Lyrischen, vom „Plateniden Geibel", von diesem „aufs Moderne gepfropften Minnesängertum" es war, was Bleibtreu mit seiner heimlichen Sehnsucht zum Idealen den-

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noch dem Realismus zudrängte, läßt die einführende Skizze der historischen Entwicklung deutlich ablesen. Aber wenn dort gefolgert worden war, „daß die Reaktion des Realismus nunmehr mit rücksichtsloser Brutalität erfolgen muß", so vermeidet Bleibtreus Programmatik als Ganzes doch unverkennbar diese brutale Konsequenz der Realistik. Und wenn dort etwa im positiven Sinne von dem „modernen Naturalismus der Zukunftsdramatik" die Rede gewesen war, der an Lenz sich zu schulen haben werde, so weist der Kernartikel ,,Realismus" im wertsenkenden Sinne die Bezeichnung „Naturalisten" jener Gruppe „unreifer Jünglinge" zu, die glauben, durch Derbheiten und die Darstellung „gemeiner Situationen" ohne weiteres realistische Kunst erzwingen zu können. Überwiegend scheint es die einseitige Bevorzugung des Sexuellen bei den „sogenannten Naturalisten" zu sein, was Bleibtreu wiederholt abrücken läßt im Bemühen um vertiefte Problemstellungen, die mehr der Vielseitigkeit des Lebens gerecht werden können, anstatt „fortwährend auf der einen Saite herumzuharfen". Dieses spannkräftige Streben nach ideellen Werten nimmt nicht nur kritischen Abstand von den „gemeinen Situationen" der Naturalisten — wie sie Bleibtreu hier versteht; denn Bedeutung und Wertung schwanken noch in der Bezeichnung —·, sondern auch von der anderen Gruppe der „Niederländer", der Genremaler, die ihr Kunstprinzip in der „Wiedergabe des Platten und Alltäglichen" erfüllt sehen. Wahrheit und Einfachheit indessen finden dort ihre Wertgrenzen, wo die Wahrheit „trivial" und das Einfache „unpoetisch" wird. So wird H. Heiberg anerkannt als Künstler realistischen Stils, der „sehen" kann, „was sehr viel sagen will". Doch besagt es für Bleibtreu keineswegs alles. Denn was er an diesem „Realisten der Nüchternheit" vermißt, ist eben der Ergänzungsfaktor zum ideellen Realismus hin, der „Aufschwung zum eigentlich Ideellen, das bei äußerster Realistik dennoch nie am Stoffe kleben bleibt, sondern die Materie durch überlegene Idealität vergeistigt". Wahrscheinlichkeit kann nicht entscheidend sein, selbst nicht für eine „äußerste Realistik", da ja das Leben selbst eine Fülle von Unwahrscheinlichkeiten bietet. Notwendig sind vielmehr die „dralle Gegenständlichkeit des Ausdrucks" neben der Wahrhaftigkeit des „Lokaltons" und dem — unvermeidlichen — „Erdgeruch der Selbstbeobachtung". Aufgabe ist Schulung des scharfen Sehens und der gestaltenden Kraft, auch „mechanische Dinge plastisch zu modellieren". Indessen

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betrifft das nur die realistische Komponente. Wahre und wertvolle Dichtung entsteht erst als Resultante aus Realem und Ideellem: „Die neue Poesie wird vielmehr darin bestehen, Realismus und Romantik derartig zu verschmelzen, daß die naturalistische Wahrheit der trockenen und ausdruckslosen Photographie sich mit der künstlerischen Lebendigkeit idealer Komposition verbindet". So sucht Bleibtreu, der es nicht zufällig als ein „Labsal" begrüßt, „endlich wieder eine Schillersche Ader in der Literatur zu entdecken", noch aus der Realität ein Stück Idealität herauszutrotzen. Es wird bei eingehender Nachprüfung seiner Stellung ganz klar, daß er sich revolutionärer vorkommt, als er in Wirklichkeit ist, daß er mit leidenschaftlicher Zähigkeit auch noch in der seit 0 . Ludwig wesentlich verschärften Vorherrschaft des Realistischen die Rechte des Ideellen zu wahren sucht, auf neuer Basis, aber in ganz ähnlicher Weise , wie der poetische bzw. ideelle Realismus. Er will, daß „des Dichters reiches Gemüt" aus dem „Schlamm" der Wirklichkeit das „Goldkorn" idealer Werte zu entdecken weiß. Kretzer gilt als ein derartiger Realist; aber auch Bleibtreu selbst rechnet sich in seinem Kunstschaffen ausdrücklich „zum dichterischen Realismus". Aus der Hochzeit des „jungen Titanen" Realismus und der „ewig alten, ewig jungen Romantik" soll die echte Zukunftsdichtung hervorgehen. Dieses zeitbedingte Hingedrängtwerden zum Realismus und das letztlich doch unbewußte Widerstreben individueller Einstellung führen zu dem von Bleibtreu bevorzugten Ausweg, von dem „wirklichen" bzw. „echten" oder „wahren" Realismus zu sprechen, um eine Abstufung zu gewinnen für seinen poetischen Realismus. Er nimmt die neue Richtungsbezeichnung, nicht überall mit Recht, in Anspruch für das ihm vorschwebende Ideal, so etwa wenn er über Berthold Auerbachs Wortkunst meint: „Das ist echter und wahrer Realismus". Aber —• wie er mehrfach von den Naturalisten abrückt —: er meint einen ideelich bereicherten, gefühlsmäßig beschwingten Realismus, der die Romantik in sich hineinrettet. Und da er andernorts den „Romantikplunder" verworfen hat, so muß auch hier das abstufende Attribut „wahr" die Sonderbedeutung verstärken helfen. Das Resultat ist die Entdeckung: „Der wirkliche Realist wird die Dinge erst recht sub specie aeterni betrachten; und je wahrer und krasser er die Realität schildert, um so tiefer wird er in die Geheimnisse jener wahren

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Romantik eindringen, welche trotz alledem in den Erscheinungsformen des Lebens schlummert". Dahinter stand die Sehnsucht nach dem „wahren" Sturm und Drang, nach dem Stück Rousseau, das dem Anteil Voltaire —• nach Bleibtreus eigener Andeutung —• folgen mußte, wenn wirklich Neuland erobert werden sollte. Es ist klar, daß also noch ein spezifisch Poetisches durch das Medium auch des krassen Realismus gesucht und erstrebt wird. Und tatsächlich verfällt Bleibtreu —• wohl ungewollt —• nicht nur dort, wo er vom eigenen Schaffen handelt, der Bezeichnung „dichterischer Realismus". Vielmehr fordert auch die Vorrede zur zweiten Auflage (ebenfalls 1886) einen „hochdichterischen Realismus, welcher Romantik und Realismus verschmilzt", und zwar dadurch verschmilzt, daß er sich „überall durch höhere und freiere Gesichtspunkte . . . über die Realität erhebt". Insofern kann für Bleibtreu selbst Zola nicht als letzte Erfüllung gelten, obgleich er durch kraftvolle Wahrhaftigkeit erlöst von den „Verlogenheiten" und „Verlegenheiten" schönfärbender Damenliteratur Heysescher Art und Unart, obgleich er wenigstens größere allgemeine Probleme anzupacken wagt. Damit wird eine relativ einheitliche Zielrichtung — denn vielfach überschneiden sich in teilweise forciert-genialischer Lässigkeit die Wegrichtungen — in Bleibtreus programmatischen Äußerungen berührt: die Entwertung der Formpflege zugunsten einer Aufwertung und Überschätzung des Gehaltlichen. Die Übersättigung an Heysescher Formpflege, wie sie Bleibtreu und andere beobachten zu können glaubten, spielt merklich mit. Indessen wird zugleich grundsätzlich festgestellt, daß die Kunstanschauung durchweg „zu sehr am sogenannten Künstlerischen, dem äußeren Gewände der Form" hafte (Abschnitt „Historische Entwicklung") oder polemisch das Feldgeschrei „L'art pour l'art" als „Unding" bezeichnet, „weil es die Form über den Inhalt stellt" (Abschnitt „Die Poesie und der Zeitgeist"). Mit dem burschikosen Schneid des Jüngstdeutschen eifert Bleibtreu: „Die alten Herren kamen immer mit der ,Form'. Da möchte man nun gern eilig dagegen setzen: Die Form ist Nichts, der Inhalt Alles! Und im tieferen Sinne muß dieser Satz auch gelten". Nicht völlig wird die Formberechtigung übersehen; aber sie wird als sekundär, als selbstverständlich Gegebenes betrachtet, wenigstens innerhalb der Poesie, wo „die Form stets die naturgerecht zugewachsene Hülle des Gedankens" darstellen sollte. Diese immanent gesetzliche Zusammen-

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arbeit von Gehalt und Gestalt jedoch vermißt der Kritiker gerade beim Formprunk und der „Wortschnitzerei" der „Platenidenschule", der er resolut „fast durch die Bank die e c h t e FormSchönheit" abspricht (Abschnitt „Noch einmal das Jüngste Deutschland"). Und wie bei der Würdigung der historischen Entwicklung das Junge Deutschland als späterer Ansatzpunkt nach der Geniezeit besondere Hervorhebung fand, so berührt sich Bleibtreu, ohne das im einzelnen selbst zu erkennen, auch in der hohen Bewertung des Gehalts unter Zurückdrängung der Gestalt mit den Anschauungen der Jungdeutschen. Was dahin führte, war letzten Endes das aktivistische Element. Auch bei Wienbarg oder Gutzkow könnten die Worte Bleibtreus stehen: „Wahre Poesie wird nie aus abstrakter Liebe zur Kunst, sondern aus leidenschaftlicher Teilnahme an den Schmerzen und Freuden der Mitwelt geboren". Es ist „die soziale Frage" neben dem „Gegensatz der Nationalitäten", die als eines der würdigsten „großen Themata der Zukunftspoesie" gilt, wie die Vorrede (2. Aufl.) ausdrücklich betont. Die Gegenwartsnähe der Jungdeutschen war nicht beibehalten worden — die Münchener hatten Hemmungen in dieser Richtung zu überwinden — , so daß sie Bleibtreu als neuerlebte Forderung aufstellen kann, teils mit wörtlichen Anklängen an entsprechende Formulierungen aus der jungdeutschen Epoche. Dort, wo er „Die Poesie und den Zeitgeist" überprüft, drängt sich ihm die bittere Klage auf: „Es ist, als wären die furchtbaren sozialen Fragen für die deutschen Dichter gar nicht vorhanden: und doch ist unsere Zeit eine wilderregte, gefahrdrohende. Es liegt wie ein Schatten über dem ganzen neuen Reich trotz des kurzen blendenden Sonnenscheins". Die Zeit erscheint zu ernst für Butzenscheibenlyrik und „Süßholzraspelei". Daher kann die „Bonbonpoesie" nur mit bitterem Nachgeschmack genossen werden. Doch muß nach „Aufklärung" und „Zweifel" als bereits gegebenen Auflockerungssymptomen für den Materialismus jetzt „wieder die Begeisterung an die Reihe" kommen. Auch diesen Faktor der Begeisterung kennen wir von L. Wienbarg her. Und wie ein Abschnitt überschrieben worden ist „Noch einmal das Jüngste Deutschland", wie Adalbert v. Hanstein seine miterlebte Literaturgeschichte des Naturalismus „Das jüngste Deutschland" nennt, so könnte man Bleibtreu vielleicht am treffendsten als den Wienbarg dieses jüngsten Deutschland be-

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zeichnen und kennzeichnen. Damit würde zugleich angedeutet, daß er sich in vieler Hinsicht abhebt von der Richtung, deren Stoßkraft seine Broschüre fördern half, obgleich selbst sie noch allen Ernstes das Vorhandensein einer realistischen Schule in Frage stellte. Nicht zum wenigsten deshalb auch in ihrem Wirkungswert in Frage stellte, weil er die „Stürmer und Drängier" (Bleibtreu sagt gern „Drängier"), die neuen „Jungdeutschen" und „Jüngstdeutschen" zu einseitig auf Lyrik festgelegt sieht, so daß eigentlich vorerst nur von einer „lyrischen Revolution", nicht aber von einer Revolution der Literatur gesprochen werden könne. Bleibtreus S t e l l u n g z u den D i c h t g a t t u n g e n führt dementsprechend zu einer kritischen Haltung gegenüber der Lyrik, wie sie bedingt ist durch seine Forderung großgeistiger Zeitfragen einerseits und seiner Abwehr übertrieben kultivierter Formkunst andererseits, ganz abgesehen von der Gegnerschaft gegen die Entartung in „Minnesängertum". Nicht, als ob er das Wesen der Lyrik verkennt. Er bietet einige runde Prägungen, auch Abhebungen, so etwa: „Die Lyrik ist der Ausdruck der persönlichen Empfindung der Gegenwart. Das Epos ist die Poesie der Erinnerung, die breite Darstellung des Lebens in allen seinen Details und Erscheinungsformen". Aber als Trägerin einer problemreichen Volldichtung muß die Lyrik versagen (vgl. Hebbel). Sie bleibt als überwiegende Formkunst — dabei spielt die Polemik gegen die „Plateniden"und Geibeischule mit — unfähig, die Zukunftsdichtung zu bringen. Und der Lyriker-Hochmut, der die Prosa verschmäht, übersieht ganz, „daß der wahre Volldichter stets nach der Gestaltung des Realen ringt und schon die Enge der lyrischen Form sie untauglich macht, den ungeheuren Zeitfragen zu dienen". Die Entwertung des Lyrischen zugunsten des Epischen und Dramatischen kommt ebenso wie die Grundforderung eines poetischen Realismus oder, wie Bleibtreu einmal mit Betonung des Attributes formuliert, „des dichterischen Naturalismus" dort zur vollen Geltung, wo er mehrere Schichten der damaligen Literatur klärend zu scheiden sucht und der fünften Gruppe, zu der er sich offenbar selbst rechnet, diejenigen wertvollsten und zukunftsträchtigen Dichter zuordnet, die „die Wahrheit realistischer Weltabspiegelung zu erreichen" streben, „ohne darüber die Schönheit einzubüßen. Keiner (aus dieser Gruppe) hat sich von der Lyrik ins Kleine verlocken lassen; mit mächtigen Armen klammern sie sich

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ans tatvolle Leben und reißen es an sich zu epischer oder dramatischer Gestaltung". Doch scheint Bleibtreu über die dramatische Wirkungsform die epische zu stellen. Es ist ihm ζ. B . ein sicheres Anzeichen für die Entwicklungsfähigkeit J . H. Mackays, wenn dieser nach einseitiger Pflege der Lyrik zur Epik hin abschwenkt, während ihm Arno Holz mit seiner lyrischen Formpflege verdächtig erscheint, trotz des sozialen Anstriches im „Buch der Zeit". Er gibt zu bedenken, „daß eine schlechte Novelle manchmal mehr Schöpferkraft verrät als das formvollendetste Stimmungslied". Wie hier das hochbewertete Inhaltskriterium hineinragt, beweist der Schlußsatz des Artikels „Noch einmal das Jüngste Deutschland", wo die Frage nach dem Dauerwert der Neutöner in der Lyrik echt jungdeutsch abhängig gemacht wird von dem Befähigungsnachweis in der Prosa: „Sobald sie Prosa schreiben, also etwas zu sagen haben, werden wir uns wieder sprechen". Für das Drama fehlen Bleibtreus lockerer Aufsatzreihe noch die entscheidenden neuen Leistungen im Dichtschaffen. Weder Gerhart Hauptmann noch Arno Holz und Johannes Schlaf können hier bereits Erwähnung finden. Ernst von Wildenbruch muß noch herhalten und Rudolf von Gottschall. Eine Anmerkung erfaßt Liliencrons dramatische Versuche. Aber von den eigentlichen Zukunftsdramatikern sind Bleibtreu bloße Verheißungen zu Ohren gekommen: „Man sagt mir, daß neuerdings einige Herren vom jüngsten Deutschland sich dem sozialen Drama zuwenden wollen. Das Wunder (gleich: die Botschaft) hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube". Immerhin wird hier von den „Gebrüdern Hart" Großes erhofft. So bleibt es nicht verwunderlich, daß der Epik die Gipfelstellung vorbehalten wird, und zwar der Sonderform des Romans·. „Die höchste Gattung des Realismus ist der soziale Roman"; als dessen Hauptvertreter feiert Bleibtreu unermüdlich Max Kretzer, der schlechtweg „als Schöpfer des deutschen Realismus" eingeordnet wird. Darüber hinaus gilt Zola als Führer, besonders durch seinen „Germinal", diese „Bibel des dichterischen Naturalismus". Die hohe Rangstellung des sozialen Romans bestimmt die Haltung gegenüber dem historischen Roman. Trotz lebhafter historischer Interessenbindung kommt Bleibtreu zu dem Ergebnis, daß ein wirklich realistischer Roman in der Geschehenszeit nicht über die Französische Revolution zurückreichen darf. Will der historische Roman Zukunft haben, „so muß er endlich das Altertum und Mittelalter im Rücken lassen"; denn

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es ist letzten Endes unmöglich, „einen Römer oder einen Kreuzfahrer wirklich realistisch reden" zu lassen. Mehrfach berührt sich dabei Bleibtreu unbewußt mit Fontane, aber vor allem doch auch mit den Jungdeutschen. „Theoretisch" hat der historische Roman keine Zukunft. Ein mittelbarer Ausweg wird darin gesehen, daß man, nach jungdeutscher Art, die Probleme früherer Epochen „in Beziehung zur Gegenwart setzt", ein Ausweg, den man im Münchener Dichterkreis als Irrweg abtun wollte. Ein hoher Wert aber bleibt der Beschäftigung mit dem historischen Roman vorbehalten, und zwar als Erziehungsfaktor für den Romandichter der Gegenwart: denn nur der wird die Gegenwart voll erfassen in ihren doch auch historisch gewordenen Erscheinungsformen, der „die Vergangenheit zugleich in seiner Phantasie umfaßt". Jenes historische Interesse, wie es verschiedentlich in den Aufsätzen hervortritt, könnte bereits als einer der Faktoren gelten, die Bleibtreu von der gebundenen Marschroute des Naturalismus individuell abweichen bzw. ihn diese Richtung als Theoretiker ebenso wenig streng vorzeichnen lassen wie als K u n s t s c h a f f e n den. Wesenhaft modifizierend wirkt indessen vor allem sein Sinn für das Großgeistige, Romantische und Geniehafte, der kein Genüge am Materialismus finden kann. Symptomatisch erscheint es, daß eine Artikelreihe, die vorwiegend dem Realismus gewidmet sein sollte, ausklingt in der Erkenntnis vom Idealismus als einem spezifisch „dämonischen Impuls". Bleibtreus Byron-Kultus behauptet sich hartnäckig und zeitweise überlegen neben seiner Zola- und Kretzer-Verehrung. Überall aber zeigt sich ein teils durch persönliches Geltungsstreben verstärkter Geniebegriff, der den Kultus der Geniezeit ernstlich wiederaufgreift und sich scharf abhebt von der Entwertung der Genievorstellung durch Bölsche und vollends durch Arno Holz. Mit Fr.M. Klinger wird das Vergleichsbild des Löwen für das Kraftgenie gern herangezogen, um die Majestät des Schöpferischen wirkungsvoll herauszustellen. Lyrische Virtuosität ist noch keine Genialität: „Originale Fortentwicklungsfähigkeit — da steckt das Geheimnis genialer Begabung". Fast möchte man hier einen naturwissenschaftlichen Einschlag, den Einschlag des Darwinismus vermuten. Und tatsächlich steht die so entschieden geformte Definition nicht allein. So wird ζ. B. Zolas Höhenleistung im „Germinal" erklärt „mit dem plötzlichen, unbewußten Entwicklungssprung des Genies".

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Aber wiederum, dieser Sprung in der Entwicklung räumt doch dem Dichter ein Sonderrecht ein gegenüber den Naturgesetzen. Und eine ganze Reihe anderer Äußerungen verweist denn auch auf eine durchweg ideale Vorstellung vom „Originalgenie" und Dichtertum überhaupt, als dessen erste Bedingung die „Unmittelbarkeit im Ausdruck des Selbsterlebten" aufgestellt wird. Der Künstler als „freischaffendes Ingenium" soll und wird stets ein Element des Heldischen in sich tragen; eine Auffassung, die fast aus dem Münchener Dichterkreis stammen könnte. Indessen — und damit ergibt sich eine scharfe Schwenkung von den Münchenem —• Dichtung bedarf nicht des „erlernbaren Handwerks" wie die Technik der anderen Künste. Im Hinblick auf Byron gilt Weltschmerz als genialitätsfördernde Kraft; ebenso „die Sehnsucht nach dem Unendlichen, dies innerste Mysterium der Poesie". Das Dämonische und die Inspiration sind untrennbare Wesensattribute des Genialen, des „absoluten, souverainen Genies". Zwar die „Schnelligkeit der Tat" —• also auch dieser Faktor des Geniebegriffs aus dem Sturm und Drang „Schnelligkeit" wird von Bleibtreu festgehalten —· darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine Vorarbeit in oft zahlreichen Konzeptionsstufen vorausgeht, ehe der eine schnelle Löwenschlag zupackt. Aber es handelt sich dabei keineswegs um das exakte, wissenschaftliche Arbeiten und subtile Studieren naturwissenschaftlicher Art, wie es der Naturalismus dann forderte und teils auch durchführte, sondern um ein Wegbereiten für den schließlich jäh eingreifenden Schöpfungsimpuls. In diesem Sinne erläutert Bleibtreu: „Dichten ist ein sich Erinnern, Festhalten von Phantasien" (Abschnitt „Der Dichter an sich"). Auch liegt nicht nur fleißige Kleinarbeit vor, sondern ein Idealismus im zähen Beharren, ein dämonischer Idealismus, der ebensowohl „dämonischer Trieb" ist wie „Geiz, Wollust, Blutdurst", von dem also der Dichter gleichsam besessen sein muß. Dagegen zeigt die E i n s t e l l u n g zum M e t a p h y s i s c h e n eine gewisse Annäherung an den naturalistischen Standpunkt. Zwar nötigt das Bedürfnis gerade auch des sich verkannt fühlenden Dichters Bleibtreu, den Geniebegriff zu überhöhen, zu einigen Zugeständnissen an das Irrationale und Metaphysische. Denn die Dichter sind „Gefäße der göttlichen Gnade, des heiligen Geistes, der über den Dingen schwebenden Zentralkraft". Doch nur gelegentlich wird eine derartige transzendente Zentralkraft angenommen, um das Idealbild des Dichters zu verklären. In Wirk-

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lichkeit empfindet Bleibtreu das Transzendente als „unsicher und verwirrend". Er verlegt es in die schöpferische Künstlernatur als solche; denn „das poetische Temperament trägt sein Transzendentales in sich selbst". Dort, wo er nicht so schwungvoll vom Wesen des Dichterischen predigt wie in dem Artikel „Der Dichter an sieh", dort, wo er andere auf metaphysischen Pfaden zu ertappen glaubt, wie etwa im Aufsatz über „Die Lyrik", verschärft sich das Mißtrauen gegen das Irrationale: „Nach dem alten Grundsatz: Denn wo Begriffe fehlen, da stellt das Transzendentale zur rechten Zeit sich ein, schwelgen unsre Stürmer im Metaphysischen". Dabei gilt schon eine dichterische Wendung wie ζ. B. „aus dem ungeheuren Nichts" als metaphysisch belastet. Besseres oder doch wenigstens „ganz Erkleckliches" scheint ihm erst dann herauszuspringen, wenn „die Musenknaben das Metaphysische metaphysisch sein lassen und lieber ihre Geliebten anbeten". Bei alledem ist zu berücksichtigen, daß Bleibtreus Aufsatzreihe, wenn auch teils polemisch, teils ergänzend, doch stark an Franz Hirschs Literaturgeschichte orientiert ist, weiterhin, daß nicht nur in den kritischen Urteilen, sondern auch im Prinzipiellen eine nicht selten irritierende, teils recht grelle Übermalung durch das persönliche Geltungsstreben erfolgt ist. Gerade der Geniebegriff und der Kultus des Künstlertums steigern sich am Gefühl einer verkannten Genialität, wie es bei Bleibtreu teils als Erbitterung, teils als Sehnsucht nach Erfolg unverkennbar und unverhüllt sich durchsetzt. Weil er an sich als Schaffendem das Niederdrückende des unzulänglichen Erfolges in der Praxis erlebte, suchte er Genugtuung durch ein Übersteigern der Bedeutung in der Theorie vom „Dichter an sich". Nicht kunsttheoretische Einsicht, sondern mehr persönliches Erleben und Erleiden diktiert vielfach seine Äußerungen, muß oft genug auch die zahlreichen Widersprüche erklären helfen. Ebensowenig wie die „Revolution der Literatur" revolutionär wirkt, hat Bleibtreus Broschüre „Der Kampf um's Dasein der Literatur" (1888) mit Darwins Kampf um das Dasein zu tun. Man müßte dann schon an den Kampf aller gegen alle in der Literatur denken. In Wirklichkeit geht es weit mehr um einen sehr bewegten und erregten Kampf Bleibtreus um sein eigenes literarisches Dasein und seine eigene literarische Geltung. Leitmotiv ist das des verkannten und totgeschwiegenen „Genies", das so sehr recht hat und dem man doch so sehr unrecht tut. Als Folgerung ergibt sich 7

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ein erbitterter Kampf gegen die Tageskritik und das Pressewesen überhaupt, besonders gegen die Kreuzzeitung. Es geht also um Kunstkritik, nicht um Kunsttheorie. Bleibtreu verwahrt sich gegen Kritik, was ihn nicht hindert, selber Kritik zu üben, so vor allem an Ernst von Wildenbruch, mit dessen patriotisch-historischer Tendenz er sich merklich in Wettbewerb fühlt. Er kann immerhin darauf hinweisen, daß er den frühen Wildenbruch gefördert habe. Schwerer wiegt schon der Umstand, daß er für Max Kretzers Roman eingetreten ist. Wolfgang Kirchbach habe kein Recht, den „Meister Timpe" Kretzers anzuerkennen, gleichzeitig aber Kretzer von den „Naturalisten" abzurücken, obgleich Werke wie „Die Verkommenen" und „Drei Weiber" vorliegen. Das klingt wie eine unbedingte Bejahung des Naturalismus. In Wirklichkeit nimmt K. Bleibtreu eine zwiespältige Haltung ein. Schon die Vorrede hält es für erforderlich klarzustellen, daß er „rein zufällig" in die bekannte Anthologie von Wilhelm Arent hineingeraten sei. Und von dem „kindlichen Atheismus, Pantheismus und Revolutionsgebelfer der Jüngstdeutschen" will der Essay „Größenwahn" (Titelbezug auf Bleibtreus „pathologischen Roman") ganz und gar nichts wissen. Trotzdem hört man dann wieder einigermaßen überrascht von der „gewaltigen Bewegung, die unser Geistesleben durchwogt". Kurz, Bleibtreu erkennt das neue Kunstwollen, ohne sich bindend zu ihm zu bekennen. Er spricht von einer „wahrheitsernsten Realität", geht jedoch mit dem Wertattribut „realistisch" sehr großzügig um. Größere Partien der Broschüre wirken wie ein Vorspiel zu Hermann Sudermanns Kampfschrift „Verrohung in der Theaterkritik". Dabei schlägt Bleibtreu selber einen eher rauhen als herzlichen Ton an: „um mit satanischem Genuß das Talent zu verwunden . . . Reklame lutschen . . . Horde winziger Gassenbuben und altersschwacher Faselhänse . . . unheilbare Dummköpfe oder bewußte Schurken . . . feige Canaillen . . . von lahmen Schindmähren geschleppte Kotkarren..." und ähnliche Zärtlichkeiten werden im vermeintlichen Abwehrkampf reichlich ausgeteilt. Doch sei anerkannt, daß K. Bleibtreu vor einem echten und gerechten Kritiker wie Karl Franzel mehrfach mit einer freilich dekorativen Grandezza den Degen senkt. Die „wahrheitsernste Realität" wird kontrastiert mit dem „falschen Sozialismus der Literatur". Neben jedem Fortschritt steht gleichsam ein Vorbehalt, der vom „Alten" retten möchte, was nur irgend zu retten ist. Kunsttheoretisch bemerkenswert erscheinen am ehesten noch Äußerungen wie: „Diese

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Zeit kennt n i c h t s . . . " oder: „Der Geist wissenschaftlicher Forschung muß sich verbinden mit dem Geist der Dichtung. Denn die Einbildungskraft (!) bildet das eigentliche Element jeder schöpferischen Fähigkeit". Hinsichtlich des Verhältnisses von Dramatikertum und Dichtertum sei die Überlegung verzeichnet: „Aber es ist ja mit dem Dramatischen ein eigen Ding. Das Dichterische stört da häufig nur." Hinsichtlich des Verhältnisses von Dramatik und Epik erinnert Bleibtreu daran, daß ζ. B. das Gesetz der Exposition auch vom Epiker nicht ungestraft vernachlässigt werden dürfe. Schon ein Jahr früher suchte W i l h e l m B ö l s c h e (1861—1939) „Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie" zu sichern als „Prolegomena einer realistischen Ästhetik" (1887). Dabei vertritt Bölsche noch keineswegs eine konsequent naturalistische Auffassung, sondern bemüht sich mit ruhiger Besinnung im hitzigen Tageskampf der Meinungen dem „ b e s o n n e n e n R e a l i s m u s in unserer Literatur" sachlich überzeugte Freunde zu gewinnen. Dennoch fühlen wir uns unter seiner Führung durchaus schon auf der naturalistischen Linie. Als Basis gelten die Naturwissenschaften, wobei als besonders wesentliche „Prämissen der realistischen Poesie und Ästhetik" behandelt werden: erstens die Willensfreiheit im Sinne eines toleranten Determinismus (physiologisch-psychologische Gewöhnung an gewisse „Gedankengeleise", ererbte und erworbene Eigenschaften, Erziehung, Konvention u. a. als willensbeschränkende Faktoren); zweitens Unsterblichkeit als naturwissenschaftlich problematisch; drittens Liebe auf Grund des natürlichen Triebes; viertens des realistische Ideal als „Tendenz" gefaßt; fünftens der Darwinismus. Dem Thema entspricht das lange Verweilen bei diesen naturwissenschaftlichen Voraussetzungen. Immerhin ergeben sich einige wesentliche Folgerungen für die Poetik, so etwa (als negative Kriterien) wird, an die Aufklärung erinnernd, den altvertrauten Kampf um das Wunderbare wiederaufnehmend, die dichterische Verwertung der Geisterwelt (weit schärfer als bei Lessings Zugeständnissen) rundweg verboten, da „das Dasein von Gespenstern wissenschaftlich widerlegt ist". Ähnlich werden spiritistische Motivkreise verworfen: „Der Dichter, der hier pikante Stoffe zu finden glaubt, ist zu bedauern". Markant hervor tritt darüber hinaus die stetige Abwehr aller Metaphysik in jeder Erscheinungsform und auch nur teilweisen Beimischung. Ja selbst die Philosophie im weiteren Sinne gilt als recht minder7*

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wertige, unvorteilhafte und bedenkliche Grundlage der Poesie (S. io, 1 2 , 1 3 : Willensfreiheit ist kein [ ! ] Problem der Philosophie). Abgelehnt wird Schönfärberei und Vergeistigung (S. 40/41 und Abschnitt „Liebe"). Dichtung „im echten und edeln (so) Sinne" soll (als positive Kriterien) „eine Anpassung an die neuen Resultate der Forschung" aufweisen, und ein „in der Phantasie durchgeführtes Experiment", eine „Art von Mathematik" (Berechnung der Willenskurven beim Handeln, S. 35) darstellen. Aufgenommen wird die ältere Forderung (Julian Schmidt—G. Freytag): „Die Dichtung soll das Volk bei der Arbeit aufsuchen". Dementsprechend ist vom Dichter ein ernstes Studium zu dieser „gewissenhaften Poesie" erforderlich; denn eine „echte realistische Dichtung... ist eine harte Arbeit". Überhaupt bleibt kennzeichnender als die breite Erörterung fast die Reihe der Attribute für Dichter und Dichtung, so etwa: besonnen, gewissenhaft, klar denkend, einsichtig, vorsichtig u. a. m. Indem für das Dichterideal das Vorbild des Naturforschers und damit ein durchaus verstandesmäßiger Dichterbegriff aufgestellt wird, nähert man sich — nur von anderer Fachseite her — dem gelehrten Dichter der Frühaufklärung. Das bekannte Ergebnis lautet: „Der realistische Dichter soll das Leben schildern, wie es ist". Interessant zu beobachten bleibt in diesem Zusammenhange das Ausweichen vor dem G e n i e oder doch vor dessen Urkräften. Die „geniale Anlage" wird als erste „Instanz" zwar zugegeben — das geschah auch im Barock und im Frühklassizismus —·, aber gleichzeitig beiseitegeschoben, um auf die zweite Prämisse eingehen zu können, die von vornherein im Vordergrunde steht als „erworbenes Wissen.. ., sein schöpferisches Wollen nach vernünftigen Gesetzen zu regeln. . .". Das Ideale liegt denn auch für Bölsche nicht in den „Träumen des Genies". Nicht aus innerem Drange, nicht als Ausdruck, nicht als Ausbrechen und Aufflammen innerer Glut, sondern „durch Zusammenstoß mit einem äußeren Zündstoffe" wird die Idee im Genie „entfesselt". Es bedarf also zur Entfaltung stofflicher Ansatz- und Angriffspunkte (von außen affiziert). Im Zusammenhange mit dem Darwinismus und dem Entwicklungs- und Fortschrittskultus wird nicht die Genialität des Künstlers, die Bleibtreu noch ganz in den Mittelpunkt gestellt hatte, sondern die des Erfinders und — sonderbarerweise — des

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Entdeckers als Musterbeispiel gewählt. Genie ist also vor allem das, was die Entwicklung und das Fortschreiten der Menschheit fördert; offenbar deshalb hat Bölsche auch den an sich nicht notwendig genialen „Entdecker" einbezogen. Die Problematik des Geniebegriffs wird ablesbar an der Definition: „Genialität wird angeboren; aber das Ausleben der Genialität ist unablässige Durchdringung des Stoffes, ist ewiges Studium". Dabei geht Bölsche fast noch über Lessing auf den Gottsched-Standpunkt zurück; denn selbst Lessing war sich bei schwankendem Geniebegriff doch darüber klar, daß bloßes stoffliches Wissen kein wesentliches Ingrediens der Genialität ausmache: „Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu wissen, die jeder Schulknabe weiß. . ." (Dramaturgie). Indessen darf nicht übersehen werden, daß Bölsches Wissen um die Natur an sich dem Dichter verwertbarer sein kann als das abstrakte Wissen der Lessingzeit. Ein Nachwirken des poetischen Realismus ist unverkennbar. Denn im Ganzen vertritt Bölsche noch eine recht gemäßigte Richtung; er hält sich von krasser Konsequenz fern und bemüht sich, einen Teil der alten poetischen Freiheit zu retten. So warnt er ζ. B. vor einem allzu kühnen Sprung in die „Detailmasse des exakten Fachwissens", da dort überwiegend der erkrankte Organismus das Studienobjekt sei. Auch das an sich zu beachtende Vererbungsproblem sei — als wissenschaftlich noch nicht ganz spruchreif — mit Vorsicht zu behandeln. Nicht übersehen wird eine Wechselbeziehung zwischen religiösem und dichterischem Gestimmtsein; und wenn auch im Reiche der Stoffe die Naturwissenschaft die Unsterblichkeit ablehnen muß, so bleibt doch die „Fernsicht in ein Zweites, das dahinter liegt" und der „tröstende Gedanke" für die Dichtung erhalten. Zu berücksichtigen ist allerdings, daß Bölsche diese delikate Frage (Unsterblichkeit) schonend beantwortet, um der realistischen Dichtung einen der schwersten Widerstände forträumen zu können, wie denn überhaupt ein Teil seiner Einschränkungen des starren Realismus merklich aus dem Bemühen erwächst, das „Vertrauen in der Menge" zu gewinnen. Auf der anderen Seite aber ist es Bölsches eigener dichterischer Impuls, der zur toleranten Haltung führt und ihn das Übergehen und Aufgehen in dogmatischen Materialismus scheuen läßt. Sucht er doch sogar etwas wie ein neues Ideal zu retten: Glücksstreben, Betonen des Gesunden als Teilelement dieses Glücks unter ent-

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sprechender Abwehr des damals wachsenden Interesses für das Kranke. Aber überraschend klar tritt gerade hier das — ungewollte und unbewußte — Hingedrängtwerden zum einstigen Aufklärungsideal hervor (Glückseligkeitsstreben, Entwicklung, gesunder Durchschnitt). Und wenn einerseits schon bei Bölsche eine vorbeugende Abwendung von der ,,Krankenstubenpoesie", die ja in der praktischen Kunstübung damals erst einsetzte und ihren Höhepunkt in Deutschland noch keineswegs erreicht hatte, vorliegt, und eine Hinwendung zur „gesunden" Dichtung an sich erfreulich wirkt, so ist andererseits die Kehrseite nicht zu übersehen: das Krankhafte der Wirklichkeit war wenigstens als unnormal doch auch in gewissem Grade übernormal, während das Gesunde erst recht eigentlich in die platte Durchschnittlichkeit hinabführen mußte. Und so kommt denn Bölsche ganz folgerichtig etwa auf dem Stoffgebiete der „Liebe" zu der Forderung: ,,. . . was sich vom Normalen derartig trennt, muß . . . unterdrückt werden". Hier handelt es sich dabei nicht einmal um Abwehr des Krankhaft-Unnormalen, sondern um eine Verteidigung des Normalen gegenüber der vergeistigten und „metaphysisch verbildeten" Erhebung über das naturgesetzlich vorgeschriebene Durchschnittsniveau (nivellierende Tendenz). Die „idealisierende" Verlogenheit der vorhergehenden Liebespoesie erklärt und rechtfertigt, historisch gesehen, die scharfen Vorstöße gerade auf diesem Gebiete, wie sie sich in der gesamten Programmtheorie der Zeit nicht zufällig wiederholen. Zwangsläufig aber stellt sich mit dem Glücksprinzip und dem Durchschnittskultus das andere rationalistische Element des Erzieherisch-Lehrhaften wieder ein: „Die Poesie wahrt nur so ihre alte(!) Rolle als Erzieherin des Menschengeschlechts". Das Wahre im ethischen Sinne wird betont, die Mitleidsidee wenigstens berührt. Die Willensunfreiheit wird nicht als dichterisch ungünstig, sondern im Gegenteil als vermeintlicher Vorzug gedeutet: „Für den Dichter . . . scheint . . . in der Tatsache (!) der Willensunfreiheit der höchste Gewinn zu liegen", nicht etwa, weil so eine tiefere Notwendigkeit im Sinne der Schicksalsvorstellung gewonnen wird, sondern ganz einfach deshalb, weil so das Handeln aus der Charakteranlage, dem Lebenskreise (Milieu) und entsprechenden Teilfaktoren geradezu exakt errechnet werden könne. Zu ähnlicher Folgerung war einst Schopenhauers Determinismus gelangt, wo indessen diese Teilerscheinung des blinden Urwillens organisch sich einfügt in das Gesamtsystem des Pessimismus, während es

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bei Bölsche recht fraglich erscheint, wie er denn diesen Determinismus mit seinem Glückseligkeitsideal versöhnen will. Doch greifen derartige Erwägungen bereits von der Dichtungsdeutung zur Lebensdeutung hinüber. Bleibtreu läßt die realistische ,,Zukunfts"-Dichtung aus der ungeklärten Gärung einer vermeintlichen neuen Sturm- und Drangzeit unklar aufdämmern, läßt sie, gestützt auf Kretzer und Zola, ruckweise aufsteigen, aber nicht recht freikommen von der dämmernden Hülle des dichterischen Realismus. Nüchterner und härter zeichnet Bölsche vom naturwissenschaftlichen Blickpunkt aus die Richtlinien eines besonnenen und gesunden Realismus. Aber das prägnante Gesetz naturalistischer Wortkunst suchte und fand erst A r n o H o l z (1863 —1929). Bleibtreu ist schon durch die individuelle Gebrochenheit seiner persönlichen Haltung und seiner entwicklungsgeschichtlichen Stellung, die von Byron mitbestimmt wurde, mannigfaltiger an stimmungsmäßigen Stufungen der Dichtungsdeutung, reicher auch an rein theoretischen Gesichtspunkten, vielseitiger an Anknüpfungsmöglichkeiten. Nicht nur die Neuromantik (er selbst gebraucht einmal die Bezeichnung „Neuromantiker"), selbst die Neuklassik könnte zurückgreifen auf Teilausschnitte seiner Darlegungen, wie z.B. auf Partien des Aufsatzes „Der Dichter an sich", wo er das Typische betont und das „Höchste" dadurch erreicht sieht, daß der Dichter „aus dem Endlich-Selbsterlebten (das Individuell-Besondere) sich das Unendlich-Allgemeine kombiniert und konstruiert und Formeln für das Ewige" findet und dichterisch „umsetzt". Im Besonderen könnte sich der Symbolismus auf die dann folgenden Ausführungen berufen. Bölsche macht weniger Umwege, entwickelt stetiger, legt besinnlicher klar unter Abwehr dichterischer Eigenwilligkeit und pathetischen Schwunges. Aber erst das Zäh-Verbissene, Eigenwillig-Einseitige und bei aller lockeren Lässigkeit der Darstellung dennoch Zielstrebige im Theoretisieren Arno Holz' drang zum Kernproblem der naturalistischen Gestaltungsmöglichkeit und -notwendigkeit vor. Das lag letzten Endes nicht nur daran, daß das naturalistische Kunstschaffen inzwischen zur vollen Eigenwertigkeit erstarkt war, sondern vor allem doch daran, daß hier ein Schaffender seine künstlerische Entwicklungsmöglichkeit abhängig machte von der Erkenntnis eines vermeintlich erlösenden Schaffensgesetzes. Der erlebnismäßige Vorgang erinnert notwendig an Otto Ludwigs

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Sichklarwerdenwollen; aber das Ergebnis war wesentlich anders geartet. Holz faßte es vorerst zusammen in der Schrift mit dem wissenschaftlich strengen Titel „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze" (1891). Oder richtiger: er faßte es nicht zusammen, sondern schwellte es in wortreichen und eifernden Improvisationen künstlich, wenn auch teilweise künstlerisch auf. Der spröden, straffen Titelgebung entspricht nämlich keineswegs Art und Form der Ausführung, sollte sie nach Holz' Darstellungsabsicht auch gar nicht entsprechen. Ihm kommt es darauf an, daß man sein Buch trotz des abstrakten Themas „lesen kann mit der Zigarre auf dem Sofa . . . ohne danach Kopfschmerzen zu bekommen". Es gehört also der Anlage nach in die — ja keineswegs erst mit Holz ansetzende — Linie der künstlerisch aufgelockerten Darstellungen der Kunsttheorie. Das „möglichst schwerfällige Kauderwelsch" sollte um jeden Preis vermieden werden und wurde denn auch vermieden um den Preis einer streckenweise recht forciert wirkenden Lässigkeit, die burschikos sich auslebte. Aber eine einheitliche künstlerische Form konnte schon deshalb nicht gefunden werden, weil Holz bei aller entrüsteten Abwehr des Systems doch von einem wissenschaftlichen Ehrgeiz nicht freikam, der seine „neue Theorie" merklich gegen das Vorurteil „freier Geister" als Theorie zu decken suchte. Immerhin mußte er im zweiten polemischen Teile der Kritik (Carl Erdmann: „Der konsequente Realismus und seine Absurditäten") einräumen, daß der Titel, hinter dem eben auch jenes wissenschaftlich-theoretische Geltungsstreben gestanden hatte, die Erwartungen irreführen könnte: „Der Titel ist in der Tat so. Wie ich ihn mir jetzt ansehe, kommt er mir ordentlich vor wie aus Rindsleder geschnitten. Er ist einfach scheußlich". Der Weg, den das Auflockerungsstreben einschlägt, ist letztlich der einer genetischen Definition, die Wesen und Wert des „ursächlichen" Grundgesetzes am erlebnismäßigen Werden erläutert, eine Belebungsform der Darstellungsart, wie sie einst schon der junge Lessing herangezogen hatte. Holz will „einfach erzählen", wie seine Theorie nach und nach in ihm gewachsen und geworden ist, unter Verzicht auf die billige Geste des „intuitiven" Einfalls. So gewinnt die Schrift, deren rein kunsttheoretische Erörterungen auf wenigen Seiten zu bewältigen gewesen wären, zugleich Bedeutung als Entwicklungsausschnitt zwischen dem „Buch der Zeit" (1884/85) und den „Neuen Gleisen" (1892). Sie berichtet behaglich,

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teils selbstkritisch, teils selbstgefällig, findet mehrfach Gelegenheit — fast wie die Barockpoetik — eigene Dichtungen einzuflechten, ohne daß diese Dichtungen als Paradigma der Theorie organisch einbezogen würden. Immerhin: die Versfreudigkeit der Frühzeit wird daran kritisch beleuchtet und damit ein weiterer Ansatz vorbereitet. Und was Bleibtreu vermutet hatte, als er den jungen Lyrikern geradezu einen gewissen Hochmut gegenüber der Prosa zuschrieb, bestätigt in schlagender Weise Holz' drastisches Eingeständnis: „Verse, Verse, Verse! Ich sah, hörte, fühlte und roch nur Verse . . . Was in Prosa geschrieben war, existierte für mich gar nicht". Inzwischen setzt die Loslösung vom Verskultus als Theorie des Rhythmus ein, kritische Hinweise aus dem Freundeskreise helfen sie beschleunigen. An der Schwenkung steht die Frage: „Hatten meine Freunde, die den Vers für die überwundene Form einer überwundenen Epoche erklärten, recht?" Den Übergang zur Prosa soll dann ein erster Prosaroman „Goldene Zeiten" vollziehen. Doch schon der Einsatz zum ersten Kapitel dieser „tatsachenschlichten Geschichte eines Kindes" bringt den Absprang vom Schaffen zur Dichtungsdeutung. Eine Prägung, eine leicht rhythmisierende Wortfolge erregt das ganz besondere ästhetische Wohlgefallen des Überprüfenden; es ist die bekannte Wendung: „In Holland mußten die Paradiesvögel entschieden schöner pfeifen, und die Johannisbrotbäume noch viel, viel wilder wachsen!" Holz registriert die lustbetonte Eindruckswirkung dieser Stelle: „Und plötzlich . . . stutzte ich und fragte ich mich: Warum?". Eine kritische Einstellung könnte dieses bewußte „Warum?" gleichsam als Sündenfall des Künstlers bezeichnen und an Heinrich von Kleists Mahnung erinnern: „Jede erste Bewegung, alles Unwillkürliche ist schön; und schief und verschroben alles, sobald es sich selbst begreift . . . " . Indessen Arno Holz lehnte geniale Intuition ab; er wollte die technische Seite seiner Wortkunst, das Handwerkliche, das noch Bleibtreu als unwesentlich für den Dichter im Vergleiche mit Bild- und Tonkünstlern bezeichnet hatte, erkennen lernen, wollte diesen Sündenfall der Erkenntnis wagen, um klug zu werden, um „dahinter zu kommen". Denn dann „befände ich mich überhaupt erst im vollen Besitze meines Handwerkzeuges". Die Darstellungsmittel mußten noch Möglichkeiten in sich bergen, die er bislang nicht voll ausgewertet hatte, die es zu erfassen galt, um „als Künstler meine Mittel zu beherrschen".

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Von diesem Ansatz aus hätte Holz leicht Zugang gewinnen können zu seiner späterhin ausgebildeten Lehre vom Rhythmus. Denn im Grunde war der akustisch auf den Versklang Eingestellte in seinem werdenden „ersten Prosabuch" ganz einfach und entwicklungsmäßig folgerichtig in leicht rhythmisierende Prosa hineingeraten, eine Erscheinung, die beim Überschwenken von Lyrikern zur Prosa gewiß nichts Außergewöhnliches darstellt. Er fühlt es ja selbst, das Rhythmische jener Worte: „ich wiegte mich in ihnen, und es klang wie Musik". Doch seine sprunghafte Art nimmt vorerst nicht das Problem des Rhythmischen auf, sondern springt auf das Grundsätzliche über. Im Erwägen jener Sensation, im Tasten nach Erklärung greift er anfangs zu der Definition Zolas: „Une ceuvre d' art est un coin de la nature vu ä travers un temp6rament". Holz mißt die Brauchbarkeit dieser Wesensbestimmung an dem ihm vorliegenden Einzelfall, empfindet „auf einmal" die „ganze Nichtssagendheit" und „triviale Gemeinplätzigkeit" jener Formel. Sein „Temperament" kann nicht —• so glaubte er — für das Sich-Abheben jener eindrucksvollen Stelle verantwortlich gemacht werden, während benachbarte Wendungen humoristisch-burschikoser Art ihm weit mehr vom individuellen „Temperament" mitbestimmt erscheinen, ihm aber weit weniger gefallen. Auf den Gedanken, daß es sich ja schließlich um eine ihm bislang noch weniger bewußt gewordene Seite seines „Temperaments" handeln könnte, etwa um die Einstellung auf rhythmische Ausdruckswerte, kommt er nicht. Vielmehr folgert er überwiegend stimmungsmäßig: „Der Satz Zolas sagte eine Wahrheit aus über die Kunst, aber nur eine Teilwahrheit. Welches war die ganze?". Um sie zu finden, durchwühlt Holz die „alten Schweinslederscharteken" als verspäteter Student der „Wissenschaft vom Schönen". Das Ergebnis ist kaum mehr als ein Einstimmen in den Skeptizismus Proudhons hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeit. Reisen bringen ihm die französische Theorie des Naturalismus näher, die ihm indessen kaum mehr gibt als dasselbe „alte, leere metaphysische Stroh, das ich nun schon den ganzen Winter über gedroschen hatte! Nur höchstens, hier und da, mit etwas neumodischem Salat vermengt!" In einem Sonderaufsatz ,,ΖοΙα als Theoretiker" führt er den Theoretiker Zola auf Taines „Philosophie de l'art" zurück. Taines Auswertung der naturwissenschaftlichen Methode findet Aner-

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kennung; aber Holz vermißt wirkliche Beschränkung auf Gesetze, wirkliches Festhalten am Positivismus und rügt eine Vermischung von Gesetzen mit bloßen Dogmen. Taines Gesetz „Jedes Kunstwerk resultiert aus seinem Milieu" sagt ihm zu; aber schroffe Ablehnung trifft das als veraltet empfundene Dogma „In der exakten Reproduktion der Natur besteht das Wesen der Kunst n i c h t " . Zola hat den von Holz angenommenen Widerspruch in jenen beiden Kernsätzen Taines nicht erkannt und also auch nicht auflösen können. Ebensowenig besteht Zolas eigene Deutung des künstlerischen Prozesses als „in der Phantasie durchgeführtes Experiment" vor Holz' spitzem Einwand, daß doch eben das naturwissenschaftliche Experiment in der Realität durchgeführt wäre, daß diese Verwirklichung das Experiment erst zu einem Experiment mache, daß also ein Experiment, das nur im „Hirn", nur in der Phantasie vor sich gehe, einen Widerspruch in sich selbst darstelle. Den kritischen Selbsteinwand, daß im Kunstwerk — worüber ihn schon Batteux hätte belehren können —• und also auch im „roman experimental" niemals die Realität an sich, sondern immer nur ein reales Abbild geboten würde, erhob Holz nicht. Er lehnt die einfache Übertragung der Experimental-Theorie, wie sie Zola vertrat und wie wir sie auch von Bölsche aufgenommen sahen, ab wegen Nicht-Wirklichkeit des Phantasieexperiments. Näher hätte gerade für seine Ziellinie die Begründung gelegen, daß der Dichter in anders gearteter Materialwelt wirke als etwa der Chemiker. Aber er findet auch von diesem günstigen kritischen Ansatzpunkt noch nicht den Absprung in sein Material- und Materialhandhabungsgesetz. Man spürt indessen, wie der Suchende das ihn mehr und mehr anziehende Zentralproblem immer wieder umkreist. Eine Stütze findet seine Zuversichtlichkeit im zeittypischen Bewußtsein und der naturwissenschaftlich suggerierten Gewißheit „Es ist ein Gesetz, daß jedes Ding ein Gesetz hat". Diese „große Erkenntnis von der durchgängigen Gesetzmäßigkeit alles Geschehens", auf deren Fundament „die ganze, große geistige Bewegung unserer Tage basiert", führt ihn zu den „modernen Naturwissenschaftlern", läßt ihn außerdem „alte Herren wie Aristoteles, Winckelmann und Lessing" zurückstellen hinter „Leute wie Mill, Comte, Spencer". Empirisch-induktiv müßte natürlich auf dieser Gesetzessuche vorgegangen werden; denn auch die Kunstwerke

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müssen „Gesetzen unterworfen" sein, die also von einer Fülle von Einzelfällen abzuleiten wären. Der „ungeheure" Umfang des Untersuchungsbereichs zwingt Holz, sich mit dem Hilfsverfahren einer engeren Auswahl zu begnügen. Indessen bleiben gegebene Kunstwerke in engerer Auswahl immer noch zu kompliziert, um die gesetzlichen Bedingungen überblicken zu können. Da nach „alter naturwissenschaftlicher" Weisheit die Erkenntnis eines Gesetzes um so leichter ist, je einfacher die Erscheinung ist, in der es sich äußert, da keine Art-, sondern nur Gradunterschiede zwischen einem „primitiven Fall" und dem Vollkunstwerk bestehen, so hält es Holz für zweckmäßig einerseits und methodisch berechtigt andererseits, die kindlichen Kritzeleien eines Jungen auf einer Schiefertafel seiner Gesetzesableitung zum Grunde zu legen. Diese „Schmierage" wird von dem Knaben zuversichtlich für einen „Suldaten" erklärt. Das Darstellungsziel „Soldat" hat also für den kleinen Jungen festgestanden, ist aber nicht erreicht worden. Es klafft eine Lücke, die Holz als negativen Wert mit — χ bezeichnet. So gelangt er zu den vorbereitenden Formeln „Kunstwerk = Stück Natur — x " bzw. „Kunst = Natur — x " . Dieses χ kann, wie Holz mehr überredend als überzeugend darlegt, nicht im „Temperament" bestehen; Zola könnte das „verschmitzte Löchelchen x " , eben jene Lücke im Produktionswege, nicht „mit seinem dummen, klobigen Temperament zustopfen". Dagegen hat es offenbar vor allem am Material und den Reproduktionsbedingungen gelegen, wenn jenes χ entstand. Andererseits war die Größe der Lücke χ offenbar abhängig von einer „entsprechenden Handhabung" der Reproduktionsmittel, die ζ. B. bei einem Menzel ein anderes Ergebnis gezeitigt haben würde. So stellt denn nach mannigfachen Vorbereitungen Holz als Wesens- bzw. Wirkungsbestimmung „nur im ersten und gröbsten Umriß" die Formulierung heraus: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jedweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung" (S. 83). Karl Marx' Lehre von der Erfassung der Produktionsmittel klingt deutlich an und wird gleichsam auf das künstlerische Produzieren übertragen (Reproduktionsbedingungen). Gerhart Hauptmann freilich, der damals schon über den Naturalismus hinausstrebte, vermerkte in seinem Handexemplar ziemlich unverblümt: „Mit diesem Gesetze kann man Schuhmacher ausbilden." Doch Holz ist überzeugt, daß

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dieses Gesetz „die ganze bisherige Ästhetik über den Haufen" wirft. Immerhin war er sich damals noch bewußt, jene unbekannten Teilfaktoren nur in ihren „gröbsten, allerhandgreiflichsten" Umrissen erfaßt und aufgestellt zu haben, „um überhaupt erst einmal festen Boden unter den Füßen zu fühlen". Aber eine spätere Verfeinerung, die danach in Aussicht zu stehen schien, erfolgte nicht. Der zweite Teil der grundlegenden Abhandlung (Herbst 1891), die ja nach dem Lieblingswort der Zeit mehr den Charakter eines document humain aufwies, brachte in polemisch geschärfter Auseinandersetzung mit der Kritik (besonders Erdmanns) nur einige Erläuterungen, so ζ. B. die Klarstellung, daß eine „völlig exakte Reproduktion der Natur durch die Kunst . . . ein Ding der absolutesten Unmöglichkeit" sei, weil das Reproduktionsmittel „stets unzulänglich ist und stets unzulänglich bleiben wird". Die Definition selbst wurde festgehalten und am Schlüsse wiederholt, zugleich mit der vorbeugenden Wendung, daß die Form dieser Prägung „mit Vergnügen" preisgegeben werden könnte, nicht aber der Inhalt. In der Tat erfolgte eine Abwandlung der äußeren Formgebung, aber nicht im Sinne subtiler stufender Verfeinerung, sondern nur als Vereinfachung. Das geschah in der etwa um acht Jahre später liegenden Schrift „Revolution der Lyrik" (1899), und zwar in deren Nachtrag, der sich mit Artur Möller-Brucks Angriffen („Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen", Band IV) auseinandersetzt und das 1891 gefundene Grundgesetz verteidigt. Nur um es „sprachlich etwas weniger vierkantig zu machen", formuliert er jetzt: „Die Kunst hat die Tendenz, die Natur zu sein; sie wird sie nach Maßgabe ihrer Mittel und deren Handhabung". Der Anklang an die Terminologie von Karl Marx wird also fallen gelassen. Holz legt dabei Wert darauf, daß dergestalt die Kunst nicht mehr als „ein Absolutum", sondern als „ein Relativum" aufgefaßt wird. Denn es gibt ebensowenig eine Kunst an sich wie eine Natur an sich; Kunstauffassungen und Naturauffassungen wandeln sich durch Stellung des Betrachters und Einstellung der Zeit. Insofern hätte das etwas gespreizte „jedweilig" der älteren Fassung vielleicht richtiger beibehalten werden können. Außerdem legt Holz Wert darauf, daß sein Gesetz zugleich einen „Entwicklungssatz" bietet, weil die Anzahl der Künste von der Anzahl ihrer „Mittel" abhängt, also variabel erscheint und weil diese Mittel weder „in

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ihrer Anzahl begrenzt", noch „ewig" seien. Die Wortkunst hat den Vorrang, weil sie über das umfassendste Darstellungsmittel verfügt. Das harte „sie wird sie" ist aber zäh aufrecht erhalten worden, obgleich doch Holz zugestehen mußte, daß Kunst nie gleich Natur werden kann. Es lag gerade in diesem Passus die suggestive Kraft zum naturalistischen Mut. Dem Inhalt nach setzt er es voraus, daß sein „Natur" schon den Begriff „bloßes Vorstellungsbild" in sich einschließe. Sogar Kant wird bemüht, um die Berechtigimg dieser stillschweigenden Voraussetzung darzutun, da es uns seit Kant doch wahrhaftig fest genug im „Bewußtsein" säße, daß wir es immer nur mit Vorstellungsbildern (Anschauungen) zu tun hätten. Den anderen betonten Vorwurf, daß er die Individualität des Schaffenden nicht einbezogen habe, wehrt er nur durch den allgemeinen Hinweis darauf ab, daß er Zolas Definition nicht als irrig, sondern eben nur als selbstverständlich verworfen und im übrigen vorausgesetzt habe. Die an sich gegebene Möglichkeit, diesen Individualfaktor in dem Begriff „Handhabung" ähnlich vorauszusetzen, wie er das Vorstellungsbild als a priori einbeschlossen im Begriff „Natur" erklärte, wertete Holz für seine Verteidigung nicht aus. Es läßt sich aber — deutlicher als vielfach angenommen — ablesen, daß er doch nicht so restlos von Zola freikam, wie er glauben machen möchte und selbst offenbar ehrlich glaubt. Schon gelegentlich der ersten Ableitung seines Gesetzes streicht er das „Temperament" nicht kurzerhand weg, vielmehr: „Das geheimnisvolle χ bestand also auch noch (!) aus ganz anderen Faktoren. So plump plausibel, daß es nur (!) aus dem einen simpelen .Temperament' zusammengeleimt war, ging es leider nicht zu in der vertrackten Realität!". Anklingt auch die Wendung auf dieser späteren Stufe: „Das selbe Kunstwerk, gesehen durch zwei Verschiedene, ist nicht mehr das selbe". Die wesentlichsten Kritiker der Ableitungsmethode — A. von Hanstein spricht geradezu von einem „Irrtum" Holz' — vermissen ein wirklich exakt induktiv-empirisches Vorgehen. Doch hatte Holz ernstlich kein Hehl aus dem nur teilweise empirischen Verfahren gemacht („Ich bin also gezwungen, mich nach einem anderen Verfahren umzusehen"). Ja, darüber hinaus läßt eingehendere Nachprüfung unschwer erkennen, daß Holz bewußt eine Kombination von Induktion und Deduktion wählte: „Die Induktion bereits dieses einen einzigen Falles mußte . . . genü-

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gen . . ., hinreichendes Material für die Deduktion (!) aller überigen zu liefern". Es darf aber wohl angenommen werden, daß Holz — ähnlich wie Lessing im „Laokoon" —· heimlich deduktiv vorgegangen war, bevor er noch den Einzelfall mit der Knabenzeichnung auf der Schiefertafel als empirisches Beispiel einsetzte. In diese Richtung deutet auch die beiläufige frühere Bemerkung: „Ich suchte eigentlich gar nicht mehr. Ich hatte schon längst gefunden". Es kam nur noch auf die schrittweise Rekonstruktion des Beweisvorganges an. Und diesem Wiederfindenlassen durch den Leser diente der empirische Einzelfall (Knabenzeichnung) als Erläuterungsexempel. Methodisch liegt zum mindesten eine Verschmelzung von Induktion und Deduktion vor, wahrscheinlich aber bloße Einkleidung und Verkleidung der Deduktion als Induktion. Wenn Holz Neues finden wollte, konnte er empirisch-induktiv aus dem bereits Gegebenen wenig gewinnen. Er war nicht zweckbefreiter Theoretiker, sondern Programmpoetiker des Naturalismus. Und als solcher hatte er das Recht, den neuen Gedanken „von oben her" aufzugipfeln und ihn nur wenig mit Erfahrungsnachweisen zu stützen. Tatsache bleibt, daß Jahrhunderte zwar vielfach schon von der Naturnachahmung gesprochen, daß zwar ein Batteux z.B. bereits alle Künste un meme principe" zurückzuführen suchte, daß man aber gerade das Wie, die Möglichkeit, die Mittel und Technik der Naturnachahmung durchweg vernachlässigt hatte oder doch wenig darüber zu sagen verstand, jedenfalls in der Dichtungsdeutung. Und so durfte etwa M a t t h i a s C l a u d i u s in seiner „ K o r r e s p o n d e n z z w i s c h e n mir und m e i n e m V e t t e r , das S t u d i u m der s c h ö n e n W i s s e n s c h a f t e n b e t r e f f e n d " nach anfänglicher Empfehlung Batteuxs die herbe Nachschrift hinterdreinsetzen: „Du kannst auch statt des Batteux den Meerrettig reiben, kommt alles auf Eins hinaus!" — Holz brachte als Erster das entscheidende Gegengewicht, indem er gerade die Mittel, die Möglichkeiten der Technik, die Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung in den Schwerpunkt seiner Definition verlegte. Gewiß verschob dieses Gegengewicht nun seinerseits den Schwerpunkt einseitig. Aber nur diese Einseitigkeit konnte das Neue befreiend herausstellen. L e o B e r g (1862—1908) nennt sein Buch „Der Naturalismus" (1892) im Untertitel einen Beitrag „Zur Psychologie der modernen Kunst" und gibt ihm ein Nietzsche-Zitat als Motto mit auf den Weg. Beides deutet an, daß es nicht um Naturalismus im engeren

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und strengeren Sinne geht, sondern um damals „moderne Kunst", ja um die Problematik der Kunst überhaupt. Denn einen „tanzenden Stern aus dem Chaos" zu „gebären" (Nietzsche): darin sahen die Naturalisten schwerlich ihre Hauptaufgabe. Man gewinnt den Eindruck, daß Leo Berg hier bereits vom „eigentlichen" Naturalismus abrückt und alle möglichen literarischen Kenntnisse und vermeintlichen Erkenntnisse in dieser Sammlung von GroßAphorismen unterzubringen versucht. Wie Alfred Kerr hält er es mit Kurzabschnitten aphoristischen Gepräges, die zudem das KerrSignum römischer Bezifferung aufweisen, das damals noch nicht abgegriffen war. Auch Erträge aus anderen Publikationen Bergs werden auf diese Weise in die lockere Abfolge einbezogen. So werden ganze Abschnitte aus dem „Sexuellen Problem" abgedruckt, das ursprünglich als Teil des „Naturalismus"-Buches angelegt worden war, so bezieht sich L. Berg auf seine Abhandlung „Die Krankheit in der modernen Poesie", die im zeitweise von K. Bleibtreu redigierten „Magazin" (1891) herausgekommen war. Da es L. Berg merklich darum geht, als Literat zu brillieren (vgl. A. Kerr), so liebt er die latente Antithese in seinen Thesen, spricht ζ. B. vom „Anti-Naturalismus im Naturalismus", womit nicht eine äußere Gegenströmung, sondern der innere Gegenspieler im Naturalismus selber gemeint ist. Es sei ζ. B. richtig, daß der Naturalist die „Natur will"; aber der Akzent liege auf dem „ w i l l " (immerhin ein Reflex des Kunstwollens). Denn sobald er sie ergreift, ist sie schon nicht mehr Natur, sondern wandle sich unter seinen Händen. Das klingt beträchtlich nach Goethes bekannter Prägung und will gar nicht so recht zum Programm des Naturalismus sich fügen. Oder es wird mit Nietzsche von einer „dionysischen" Kunst geschwärmt, die aber „in einem höheren Sinne — naturalistisch" sei. Hier hält es L. Berg immerhin für ratsam, einen Gedankenstrich zu setzen; aber nicht um nachzudenken, sondern um zu verblüffen. Schiller sei schlecht beraten, wenn er moderne und sentimentalische Poesie gleichsetze. Vielmehr: „die moderne Kunst ist ebensogut eine naive (Natur) als die griechische. Nur ist die griechische Natur nicht mehr unsere Natur." Zum Verblüffen gehört es, wenn Nikolaus Lenau zum „naiven" Typus deklariert wird. Ähnliche Sensationen finden sich allenthalben. Nur nicht das Durchschnittliche I — das ist L. Bergs freilich reichlich strapazierte und ramponierte Richtlinie. Wozu überhaupt Richtungen, wenn man dabei nicht zur Geltung kommt! Wozu „Naturalismus" in

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den Titel eines Buches setzen — so möchte man ergänzen —, wenn Naturalismus vorerst doch weiter nichts darstellt wie „Zolaismus" oder bestenfalls „Ibsenmanier". Die Abgrenzung gegen den „Realismus" bleibt verschwommen. Bei Realismus handle es sich um „Tatsächlichkeits"-Kunst, die sehr „tatsächlich" und „vernünftig" sei. Warum jedoch „Naturalismus" immer „unvernünftig" sein muß, solange er Naturalismus bleiben will, ist einer der sensationellen, tiefsinnigen Rätselsprüche, die L. Berg so geistvoll vorkommen: „Der Naturalismus aber ist schlechtweg unvernünftig, von der Vernunft unbegriffen (man spürt die Begriffs-Akrobatik). Denn sobald die Vernunft dahinterkommt, ist es mit dem Naturalismus zu Ende". Das gilt, wenn man es überhaupt gelten lassen will, letztlich von jeder noch im Fluß befindlichen Kunstrichtung, vermag also nichts nur für den Naturalismus Verbindliches auszusagen. Dabei gab sich doch gerade der Naturalismus als Neu-Aufklärung alle Mühe, möglichst vernünftig zu sein, die Menschen nicht nur zur Vernunft zu bringen, sondern ihnen auch die neue Vernunft zu bringen, die er im wesentlichen von der Naturwissenschaft bezog. Mit der Naturwissenschaft indessen hat L. Berg offenbar wenig im Sinn (abgesehen von Sexualproblemen), denn die „Offenbarung" und „Himmelserscheinung" der „modernen Naturwissenschaft" trägt ironische Reflexe. Sein Sonderabschnitt „Im Zeitalter der Naturwissenschaft" ist recht karg ausgefallen, sowohl an Umfang wie an Gehalt. In einem Buch von zweieinhalbhundert Seiten fällt etwa ein Dutzend Seiten für dieses an sich zentrale Thema der naturalistischen Kunsttheorie ab. Ohne klare Entscheidung ventiliert L.Berg die Frage, ob die Kunst in der Nähe und im Dienst der Wissenschaft gewinne oder verliere. Das analytische Verfahren gilt zum mindesten für die Charakteristik als vorteilhaft. Zolas „roman expdrimental" klingt flüchtig an. Doch scheint L. Berg die Satire geeigneter als der Roman zur Verwirklichung des naturalistischen Programms. Das erinnert an das Abschieben des Realistischen in die Komödie (in früherenZeiten, aber auch noch bei den Brüdern Heinrich und Julius Hart). Jedenfalls wird — ohne Beleg — die Behauptung aufgestellt: „Die hervorragendsten Schöpfungen der zeitgenössischen Literatur im Abendlande sind Satiren". Möglicherweise sind damit gesellschaftskritische Dichtungen gemeint. Denn Berg hält die Vorherrschaft des Satirischen für ein Merkmal überkultivierter Epochen, 8

M a r k w a r d t , Poetik V

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in denen dem Künstler nichts anderes mehr übrig bleibe als „Zerstörer" zu sein, das Alte anzugreifen, um sich als Neuer und Neuerer vorzukommen. Außerdem deutet er jenes Anlehnungsbedürfnis der Kunst an die Wissenschaft als Zeichen der bewußt gewordenen „Über-Kultur". Die Naturwissenschaft habe für die moderne Literatur dieselbe Geltung wie in der Romantik die Historie. Von dem L'art pour l'art-Prinzip, das schon mehrfach berührt wird, hebe sich der Naturalismus ab durch seine „hochmoralische Absicht zu bessern". In demselben Jahr, von dem an Hauptmann das Vererbungsmotiv bereits zurücktreten läßt, meint L. Berg noch hervorheben zu müssen, daß die neue Kunst „mit so zäher Konsequenz das Vererbungsthema behandelt". Der Glaube an die Berechtigung des Häßlichen sei zurückzuführen auf den „Glauben an die Medizin". Aber so recht wohl ist L. Berg bei alledem nicht. Und während er vorher gegen Gustav Freytags „Technik des Dramas" politisch polemisiert, stimmt er doch — ohne es freilich zu bemerken — fast wörtlich mit Freytags Abwehr einer Krankenschwester-Muse überein, wenn er betont: „Der Beruf der Kunst ist es nicht, den Arzt oder Krankenwärter zu spielen". Nicht vor jeder „Tatsächlichkeit" muß der Naturalist Respekt haben. Entschieden wird der Trennungsstrich gegen die drastischen Derbheiten gezogen und mit fast Schererscher Entrüstung festgestellt: „Es gibt freilich Naturalisten unter den Dichtern und Malern, die den Kot verehren, bloß weil er Kot ist und als solcher auch Natur". Das sind falsche Propheten, ebenso die, welche nur die erkrankte Natur als Modell bevorzugen. Schamlosigkeit sei nicht schon Wahrheit. Und die Lösung müsse in diesem Betracht lauten „naturam expellere, die Natur austreiben". Man spürt, wie gern und selbstgefällig Leo Berg zwischen Extremen schaukelt, um leichte Beschwingtheit zu demonstrieren. Denn dieses Austreiben, ja Vernichten der Natur „ist auch ein Naturalismus der Kunst". Ähnlich steht es mit seinen unbestimmten Bestimmungen des Realismus. Bald heißt es, Realismus „als Tatsächlichkeits-Glorifizierung" finde nirgends „seine Rechnung", komme also künstlerisch nicht auf seine Kosten oder Unkosten. Dann wieder heißt es (zudem in Sperrdruck): „Realist ist jeder Künstler, wann und sofern er Realitäten schafft". Und schließlich wird betont, daß die „Realität des Künstlers" selber entscheidend und bislang von der Ästhetik vernachlässigt worden sei. Gerhart Hauptmann und

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Hermann Bahr seien nur in ganz bestimmten Stücken und Beziehungen Realisten. Nicht zuletzt erklärt sich ein solcher Wirrwarr der Begriffe außer aus dem artistischen Jonglieren aus der an sich beachtenswerten Überzeugung, daß der Kontrast Idealismus—Realismus nicht in den verschiedenen Kunstrichtungen und Künstlern, sondern zuletzt in j e d e m e i n z e l n e n K ü n s t l e r zu suchen und nur von dort aus zu erklären sei. Dieses Hinein verlegen der gegensätzlichen Möglichkeiten in die Künstlerpersönlichkeit birgt zugleich ein Ausweichen vor der Entscheidung in sich und bereitet den Künstlerkultus der Neuromantik zum mindesten keimhaft vor mitten in einer Schrift, die noch das Leitwort „Naturalismus" auf dem Titelblatt trägt. Die zeitliche Überschneidung darf auch in diesem Falle nicht außer Acht gelassen werden. Im Jahre 1892 erschienen bereits die „Blätter für die Kunst" des George-Kreises. Auf der anderen Seite wird die ganze Unsicherheit der Zuordnung aus unmittelbarer Zeitnähe deutlich, wenn Ibsen, Tolstoi, Hauptmann, Conradi, Bahr und Maupassant in einem Atem genannt werden, wie auch dort, wo das Beieinander von Idealismus und Realismus in derselben Dichterbrust verfochten wird. Dagegen wirkt die Abwehr des landläufigen Vorwurfs, man wolle nicht in der Poesie von Trunkenbolden und Schwindsüchtigen belästigt sein, denen man im Leben geflissentlich ausweiche, wieder recht naturalismus-gerecht. Ebenso die zähe Verteidigung der Tendenz, die in dem rätselreichen Satz gipfelt: „Die Kunst ist sich selbst Tendenz", ein Satz, der offensichtlich als Gegen-Satz gemeint ist zu der klassischen Satzung: „das Kunstwerk ist sich selbst Zweck". Der moderne PropagandaGedanke wird also ausgespielt gegen den klassischen AutonomieGedanken. Leo Berg ist überzeugt, daß ζ. B. das Drama „an seiner Tendenzlosigkeit zu Grunde geht" und spricht geradezu von einem „Abgrunde der Tendenzlosigkeit", von dem H. v. Kleists Rechtsfanatismus mehrfach bedroht war. Bedingung bleibt nur, daß die Tendenz künstlerisch zum Tragen kommt. Das Thesenstück scheint ihm glücklicher komponiert, wenn es nicht von der These ausgeht, sondern auf die These zugeht. In gewissem Grade darf die Tendenz der These selbst die Richtung eines dramatischen Charakters umbiegen, so etwa den Charakter des Nikita im Schlußakt von L. Tolstois „Macht der Finsternis". Um nun neben der außerhalb des Kunstwerks formulierten Poetik wenigstens mit einem markanten Falle die im Kunst8·

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werk selber formulierte Poetik (Kunstgespräche usw.) zur Geltung zu bringen, sei auf ein zugleich kunsttheoretisch und literaturprogrammatisch bedeutsames Beispiel aus den Dramen G e r h a r t H a u p t m a n n s etwas näher eingegangen. In seiner Frühzeit hat Hauptmann mit seinen Dramen selber ein entscheidendes Stück Programm des Naturalismus geschrieben, das als Vorbild-Poetik stärker wirkte, als es noch so gut formulierte Programmthesen hätten tun können. Aber daß ihn, der mehrfach auf die naturalistische Grundkonzeption in späteren Jahren zurückgriff, auch prinzipiell die bald umstrittene Frage nach der Möglichkeit naturalistischer Motivwahl und Darstellungsweise beschäftigt hat, bekundet vielleicht am eindrucksvollsten das K u n s t g e s p r ä c h innerhalb der „Ratten". Mitten in der Entfaltung der Gegenbewegungen (Neuromantik, Neuklassik) greift der Hauptmann der Berliner Tragikomödie „Die Ratten" (1911) die alte These von der Tragikfähigkeit der vierten Standes wieder auf, und zwar im positiven Sinne. Thesenträger ist der ungetreue Pastorensohn Erich Spitta, der vom Kandidaten der Theologie zum Schauspielschüler überwechselt. Im vierten Akt führt er ein sehr temperamentvolles Kunstgespräch mit dem entlassenen Theaterdirektor Hassenreuter, in dessen Verlauf er die Moderne gegen Schiller, den freilich z.T. mißverstandenen Gewährsmann seines theatralisch-idealistischen Mentors, hartnäckig verteidigt. Es geht dabei nicht nur um die Form; es geht auch um den Inhalt eines hochwertigen Dramas. Den jungen Schiller, den jungen Goethe und vor allem Lessing und Diderot als Dramaturgen will der kunstrevolutionäre junge Spitta durchaus gelten lassen (das entspricht etwa der allgemeinen naturalistischen Einstellung). Aber die französische Klassik erscheint ihm problematisch, und vollends natürlich Goethes „Regeln für Schauspieler" gelten als indiskutabel. Ob Hauptmann bei der Erwähnung und Hervorhebung Diderots an dessen frühe Forderung einer Berücksichtigung wenigstens des Berufs-Milieus (vgl. Band II) gedacht hat, bleibe dahingestellt. Angesichts der zeitgenössischen Diskussionen über das naturalistische Milieu-Drama dürfte ihm aber Diderot als Traditionsträger und Kronzeuge in der theoretischen Dramaturgie auch von dieser Seite her vertraut gewesen sein. Die eigentliche Verdichtungsstelle, der entscheidende Drehpunkt aber der heißen Kunstdebatte ist die Frage, ob der einfache Mensch aus

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niedrigem Stande kunstfähig oder vor allem und im Sonderfalle des Dramas tragödienfähig sein, ob sein Schicksal echte Tragik bergen könne. „Hassenreuter: Sie haben neulich behauptet, daß unter Umständen ein Barbier oder eine Reinemachefrau aus der Mulackstraße (Scheunenviertel) ebensogut ein Objekt der Tragödie sein könnte als Lady Macbeth und König Lear. — Spitta (bleich, putzt seine Brille): Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, Herr Direktor". Hassenreuter bezeichnet diesen lapidaren Ausspruch des halb in die Ecke manövrierten Spitta als bestenfalls „hübschen Gemeinplatz". Und als die Frau des Maurerpoliers John im weiteren Verlaufe des Kunstgesprächs, in dem auch noch Gustav Freytags „Technik des Dramas" in die polemische Schußlinie gerät, von jenem unheimlichen Oberboden herabsteigt, da spielt er situationssicher angesichts der Reinmachefrau, die seinen untergestellten Theaterfundus zu säubern hat, den vermeintlich stechenden Trumpf aus: „Da kommt Ihre tragische Muse, Spitta". Damit bricht das Kunstgespräch als solches ab. Frau John wird nur noch dahin beruhigt, daß ihr vermeintlich stilles, friedliches Leben sie „zur tragischen Heldin ungeeignet" mache. Aber wenn bisher Spitta jene These theoretisch formulierte, so wird sie nun an Frau John demonstriert. Schon in dem Augenblick, wo sie mit dem Vizewirt Quaquaro vom Oberboden heruntersteigt, steht die vom ungestillten Muttertrieb Besessene mitten im Tragischen, und sie gerät immer tiefer hinein. Mit anderen Worten — und von G. Hauptmann her gesehen — der Formulierung der These entspricht die Demonstrierung der These. Entspricht sie ihr wirklich völlig ? Ist es nur die zum großen Teil komische Nebenhandlung um Hassenreuter, was Hauptmann selber die Artbezeichnung „Tragikomödie" wählen läßt ? Ist es nur eine geschickt verflochtene Zweisträngigkeit von Tragödie und Komödie, wie man vielfach kritisch geltend gemacht hat? Wenn aber in das Komische um Hassenreuter auch Halbtragisches hineinragt und in die John-Handlung auch Halbkomisches oder eben Tragikomisches: dann scheint sich der Hauptmann der Berliner Tragikomödie doch nicht so ganz identifizieren zu wollen mit seinem Erich Spitta. Wie denn überhaupt in Kunstgesprächen die bloße „Identitätsphilosophie" selten weiter führt. Es ist bekannt, daß die köstliche Gestalt Hassenreuters einem Modell nachgezeichnet war. Und so liegt es nahe, für den jungen Spitta auch ein Modell anzunehmen, eben den

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jungen Hauptmann etwa auf der Stufe der Geschehenszeit des Dramas (um 1885). Aber es stellt nicht nur die dramaturgische Objektivität des Dichters dahinter, wenn Hassenreut er auch einiges Positive zugewiesen wird. Will man zuspitzen, so kann man, da auch Aristoteles in die Debatte geworfen wird, bereits von einer naturalistischen Vorform des antiaristotelischen Theaters sprechen, in einem anderen Sinne gewiß, wie dann Bertolt Brecht sein nichtaristotelisches Theater begründet hat. Dem theoretisch und dergestalt im Kunstwerk —• wenigstens mittelbar —• ausgesprochenen Glauben an die Tragödienfähigkeit des vierten Standes —• oder wie G. Hauptmann im „Narren in Christo Emanuel Quint" noch formuliert, des „dritten Standes" — hat nun aber die Praxis seines Dichtschaffens weniger entsprochen, als man rein stimmungsmäßig annimmt. Frau John ist nur in ihrer Funktion als Reinmachefrau „ungelernter" Arbeiter; sie ist aber die Frau eines Maurerpoliers. Und ein Maurerpolier ist kein bloßer Maurer und vollends kein Maurerhandlanger, der das Baumaterial zuträgt. Und der „Fuhrmann Henschel" ist kein bloßer Fuhrknecht, sondern bereits ein kleiner Fuhrunternehmer mit beachtlichem Kapital, auf das Hanne Schäl, die Magd und ungetreue zweite Frau, nicht von ungefähr spekuliert. Und die Zentralgestalten seiner naturalistischen Frühdramen sind ausschließlich akademisch Gebildete, in der Sprache des Volkes also „Studierte", so Alfred Loth („Vor Sonnenaufgang"), Johannes Vockerat („Einsame Menschen"), Dr. Scholz („Ein Friedensfest"). Im Lustspiel ist das anders: Mutter Wolff, Schluck und Jau usw. Aber für die Komödie waren von altersher niedere „Standespersonen" zugelassen. Es dürfte überhaupt und auch jenseits Hauptmanns schwer sein, in den bedeutenderen naturalistischen Dramen Vertreter des vierten Standes (ungelernte Arbeiter usw.) als Zentralgestalten nachzuweisen. Kurz, die Praxis des Dramas weicht merklich ab von der Dramentheorie. Und wo wirklich Arbeiter in den Mittelgrund gerückt werden, da handelt es sich wie in Hauptmanns „Webern" um eine Gruppe, gleichsam um eine Gruppenpersönlichkeit, um den kollektiven „Helden", nicht aber um die eindeutig dominierende Einzelpersönlichkeit, ganz abgesehen davon, daß auch die Weber Handwerker und nicht vorwiegend ungelernte Arbeiter sind. Im Grunde bleibt aber auch die ironische Wendung Hassenreuters ungenau in der beruflich-ständischen Zuordnung

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(„Barbier oder Reinemachefrau"). Im Ganzen hielt man sich an den Handwerker und Kleinbürger als äußerste unterste Grenze. Weiter scheint man sich jenseits der Ansprüche der Tragödie in der Epik vorzuwagen. Aber auch „Bahnwärter Thiel" ist so etwas wie ein ganz kleiner Beamter, Segelmacher Kielblock in der gleichfalls 1887 erschienenen Novelle „Fasching" sogar selbständiger Handwerksmeister. Und Emanuel Quint, der „Narr in Christo", für dessen brünstig geglaubte Berufung der Beruf schon vom Motiv her wenig Bedeutung hat, ist der Sohn oder Stiefsohn eines Tischlermeisters und selber Tischlergeselle, jedenfalls bei aller wesensgemäßen und situationsgemäßen Berufsfremdheit kein ungelernter Arbeiter. Eben deshalb aber fordert jenes Kunstgespräch aus den „Ratten" Beachtung, weil sich daran ablesen läßt, daß man in der Theorie weiter ging, während die Praxis nur zögernd und gehemmt folgte, ja vielfach ganz offensichtlich abwich von den programmatischen Forderungen und weltanschaulichen Folgerungen. Man muß schon auf Nebengestalten zurückgreifen, wie etwa den sektiererischen Laienprediger Nathanael im „Narren in Christo", dessen ursprüngliche Tätigkeit als „Landarbeiter" beschrieben wird, um verläßliche Belege für das Einbeziehen ungelernter Arbeiter beibringen zu können. Mit Rose Bernd steht es ähnlich wie mit Frau John; die berufstätige Frau hatte keinen eigenen Stand, sondern wurde nach ihren Angehörigen eingestuft. Es geht hierbei nicht um eine ständische Splitterrichterei. Diese Fragen haben kunsttheoretisch und besonders dramentheoretisch Bedeutung weit über den Naturalismus hinaus, weil es sich um das uralte Problem des ständischen Zuordnungskriteriums und dessen zähe Ausläufer handelt, die das bürgerliche Trauerspiel letztlich nur bis zum kleinbürgerlichen Trauerspiel gelangen ließen. Vielfach aber mußte der Akademiker, dessen Vorkommen als Zentralgestalt einst A. Gryphius noch entschuldigen zu sollen glaubte, an die Stelle der „hohen Standespersonen" von einst einspringen, und zwar — wie angedeutet — nicht zuletzt in den Dramen des frühen Hauptmann. Selbst der „konsequente Realismus" (Naturalismus) war nicht so konsequent, den ungelernten Arbeiter zur eindeutigen Zentralgestalt einer bedeutenden Tragödie zu erheben und durchzusetzen. Was aber G. Hauptmann betrifft, so sollte jene unverkennbare Bevorzugung von „studierten" Zentralgestalten andererseits davor warnen, ihm eine ungeistige Neigung oder gar Nötigung

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zu unterstellen (Abwehr der Ironisiening durch Thomas Mann im „Zauberberg"). Das gilt um so mehr, als man gerade dem Naturalismus bald den Vorwurf der Flachgeistigkeit gemacht hat, es aber ausgesprochen frühnaturalistische Dramen Hauptmanns sind, die jene Bevorzugung einer hohen Vorbildung der „Helden" erkennen lassen. Der von der Sonderforschung bereits erkannte Widerspruch zwischen den überspitzten Forderungen der Theorie und Programmatik des Naturalismus und seiner Kunstleistung, wie er ζ. B. auch in der Frage der Ortseinheit zutage tritt (Problematik der Wahrscheinlichkeit und Lebensechtheit), wird in diesem merklichen Ausweichen vor dem vierten Stand besonders deutlich sichtbar. In vielen Punkten waren die Programmthesen in der Kunstpraxis schlechthin undurchführbar. Der Realismus war so „konsequent", daß er sich nicht konsequent befolgen ließ. Abstriche mußten allenthalben gemacht werden. Notausgänge, wie etwa die breiten Bühnenanweisungen von epischem Eigenwert, täuschten nur mühsam über die starre Einengung der Kunst hinweg. Der Bote aus der Fremde mußte über das nur Zuständliche des Milieus weiterhelfen und wurde so zu einem strukturbedingenden Faktor im naturalistischen Drama. Diese schon von Henrik Ibsen angewandte Technik beherrscht den gesamten Dramenbestand des Naturalismus in einem weit höheren Grade, als man im allgemeinen annimmt. Sie stimmt aber insofern mit der Theorie überein, als sie das Verfahren des Experiments auf das Drama überträgt und so den Experimental-Roman (Ε. Zolas) ergänzt durch das Experimental-Drama. Denn der Bote aus der Fremde (auch in der Spielform des Heimkehrers) dient nicht nur einer Belebung der Handlung, sondern auch einer Analyse des Milieus. Er ist gleichsam das Reagenzmittel, das die chemischen Bestandteile erkennen läßt, alle jene Verbindungen des Milieus, die unter seiner Einwirkung bald in voller Auflösung begriffen sind, vor allem aber nun erst voll sichtbar werden in ihrem Wert, Wesen und Wirken. Was das ständische Zuordnungskriterium der Klassenzugehörigkeit (der Personen) betrifft, das vom Kunsttechnischen weiter weist auf Weltanschauliches, so lohnt es sich einmal, einen kurzen Blick zu werfen auf die Kritik des Naturalismus durch S a m u e l L u b l i n s k i in dessen „Bilanz der Moderne" (3. Aufl. 1904). In dem einleitenden Aufsatz „Geistige Struktur um 1890", der vor allem das

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Reagieren auf die „.soziale Frage" mit unerbittlichem Scharfsinn nachprüft, kennzeichnet Lublinski die durchweg idealistisch-kleinbürgerliche Haltung der vermeintlich so revolutionären jungen Dichter des damals „Jüngsten Deutschland", das er deshalb mit dem „Sturm und Drang" des achtzehnten Jahrhunderts vergleicht. Es herrschte nicht kühle wirtschaftswissenschaftliche Dialektik, sondern romantische Freiheitsbegeisterung mit sozialem Teileinschlag. Man suchte immer Ausweichgebiete wie Alkoholfrage, Geschlechtsfrage, Vererbungsfrage, also bloße Randgebiete, ohne in den Kernbereich einzudringen. Alles das seien Symptome gewesen, an denen man herumkurierte, ohne den Krankheitsherd anzugreifen. Ja, vielfach seien es sogar nur Symbole gewesen, also gleichsam Symbole von Symptomen: „Man lebte und schwelgte in einer ewigen und berauschenden Atmosphäre von naturalistischen Symbolen, die man aber nicht für Symbole hielt, sondern für Wirklichkeit". Kurz, es fehlte dem konsequenten Realismus auch in der sozialen Frage die Konsequenz des Realistischen. Kein Wunder — so darf man Lublinski ergänzen — , wenn auch die Zentralgestalten der Poesie jene Konsequenz vermissen ließen oder richtiger, wenn die Dichter bei der Wahl der ständisch-klassenmäßigen Zuordnung ihrer handelnden Personen jene Konsequenz nicht aufbrachten. Fast war da Georg Büchner mit seinem „Woyzeck"Fragment schon konsequenter gewesen. Und es wirkt wie eine historische Ironie, wenn der weltanschauliche Gegner Ernst von Wildenbruch mit seiner damals stark beachteten „Haubenlerche" (1890) eigentlich „konsequenter" war, indem er eine junge Fabrikarbeiterin zur Zentralgestalt machte, wobei nun freilich dieses Fabrikmädchen, entsprechend Wildenbruchs Gegentendenz, weitgehend ins Kleinbürgerliche und Sentimentale hinüberstilisiert und hinüberinterpretiert worden war. In demselben Jahre, in dem Arno Holz vom Wesen und den Gesetzen der Kunst allgemein berichtete, spezialisierte sich der nachmals bekannte Berliner Theaterkritiker A l f r e d K e r r (1867 bis 1948) auf die Dramentheorie, und zwar besonders auf ihre kunsttechnischen Fragen, mit dem Aufsatz „Technik des realistischen Dramas" (1891). Dieser immerhin beachtenswerte, unmittelbar in die laufende Entwicklung des Naturalismus eingreifende Beitrag erschien zunächst in der Vossischen Zeitung. Er wurde aber von Alfred Kerr für würdig befunden, später als „Anhang" in

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den Sammelband „Das neue Drama" (1904; später „Die Welt im Drama" Band I, 1917) aufgenommen zu werden. Kerr meint zwar nun in einer Vorbemerkung, daß einige Punkte inzwischen überholt seien, so etwa der Hinweis auf den Gebrauch des Monologs. Hier aber muß gerade jene Frühform interessieren. Methodisch verwendet der Theaterkritiker das induktive Verfahren, indem er Stärken und Schwächen der realistischen Dramentechnik von den damals vorhandenen — noch merklich schmalen —• Beständen abliest und sie gegeneinander abwägt. Gleichzeitig aber baut er Sicherungen von der überkommenen Dramaturgie, vor allem von der Lessings, ein. Er unterscheidet (vermeintlich) absolut neue kunsttechnische Praktiken von an sich übernommenen, aber nun erst zum Prinzip erhobenen Erscheinungen und Forderungen. Er geht vom Kunstwollen und der Programmatik des Naturalismus aus, um daran den Wert der praktisch geübten Kunsttechnik abzulesen. Die Weltanschauung bleibt merklich bewußt ausgeklammert, ebenso die allgemeine Kunstanschauung. Das kunsttheoretische Werk Arno Holz' dürfte Kerr damals noch nicht gelesen haben. Als Dichter kommt Holz bei ihm recht schlecht weg, wenn auch bei weitem nicht so schlecht wie Hermann Sudermann, der nicht von ungefähr sich über die „Verrohung in der Theaterkritik" (1902) beschwert hat (worauf weiter unten noch einzugehen sein wird). Durchweg wohlwollend wird neben dem Vorbild Henrik Ibsen auf Gerhart Hauptmann eingegangen. Theoretischer Leitstern bleibt Lessing. Gottsched dagegen scheint A. Kerr im Augenblick — wie man so schön sagt — nicht voll gegenwärtig zu sein. Es hätte an sich nahe gelegen, über Lessing hinaus auch Gottsched zu befragen, weil schon Gottsched seine Poetik auf dem Prinzip der Natumachahmung und der Wahrscheinlichkeit gründen ließ („Versuch einer Critischen Dichtkunst"). Hätte Alfred Kerr das getan, so würde er die Forderung nach Vermeidung des Monologs nicht zu den „absolut neuen Punkten" gezählt haben, wie es nun der Fall ist. Im Prinzip nämlich stand Gottsched dem Monolog derartig abwehrend gegenüber (wenigstens als Theoretiker), weil er ihm als unwahrscheinlich vorkam. Der „ W e g f a l l des M o n o l o g s " ist also keine so neue Forderung, wie es Kerr vorkommt. Vielleicht will Kerr auch nur möglichst betont das Neue am „neurealistischen Drama" herausstellen. Er spricht mehrfach vom „neurealistischen Drama", meint aber damit das Drama des konsequenten Realismus (Naturalismus), also nicht das,

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was in dieser Darstellung unter „Neurealismus'* (vgl. Schlußband) verstanden wird. Kerr spricht aus seiner zeitlichen Situation davon, weil er schon etwa ein Jahrhundert als Lebensalter des realistischen Dramas annimmt. Trotzdem entgeht seiner feinnervigen kritischen Witterung nicht die Möglichkeit: „Vielleicht steht es erst am Anfang seiner Entwicklung" — eine der zahlreichen Voraussagen des Kritikers Alfred Kerr, die eingetroffen sind. Wie Gustav Freytag, der die Titelwahl jenes Essays beeinflußt haben dürfte, richtet auch Kerr den Vergleichsblick auf den Roman. Er kennt auch die Romantheorie Friedrich Spielhagens, der mit Recht den Ichroman empfohlen habe. Doch meldet Kerr bereits hier seine kritischen Bedenken an: „Der Roman hat für seinen neuen Inhalt keine neuen Formen geschaffen". Nur Ansätze seien zu beobachten. Das „Streben nach größerer Wahrscheinlichkeit" habe sich im Roman noch nicht voll durchgesetzt. Dem Prinzip der Zentralisation stehe etwa bei Emile Zola das Gegenspiel „ausgedehntester Dezentralisation" gegenüber. Man spürt, wie der Deutsche das Durchsetzen des Naturalismus auf der Bühne gern vorteilhaft abheben möchte von den Unzulänglichkeiten des Romans. Zudem fällt auf die Romantechnik nur ein flüchtiger Seitenblick. Und der Löwe der Theaterkritik begibt sich in seine Arena. Man bewundert, wie viele Züge er aus dem relativ noch geringen Material herausholt: Vermeidung des Monologs, Vermeidung des Beiseitesprechens, Bevorzugung der gestaltenden (indirekten) gegenüber der formulierenden (direkten) Charakteristik, Verteilung der Vorfabel auf das gesamte Drama und ihre beiläufig unmerkliche Vermittlung an den Zuschauer, Vermeidung von ausgesprochenen „Zufällen", das „Wahrheitsstreben" in der Sprachgestaltung unter Abwehr der pathetischen und Teilabwehr der betont „geistreichen" Redeweise, Stellung zum Dialekt, Vermeidung eines aufdringlichen „Kommentars" seitens des Dramatikers („der bekannte Wink mit dem Zaunpfahl") hinsichtlich der Leitidee und Tendenz, Abwehr von Episoden, Problematik der Zeiteinheit. Die Frage der für die Praxis des naturalistischen Dramas recht schwierigen Ortseinheit bleibt indessen unberücksichtigt. Wenig fällt ab hinsichtlich der mundartlichen Redeweise. Bei der Erörterung über die direkte und indirekte Charakteristik läuft der Satz unter: „Oder er (der Dramatiker) läßt den Charakter lediglich (!) aus den Handlungen des Menschen erkennen: die indirekte Charakteristik". Dabei ist

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Alfred Kerr durchaus überzeugt, daß diese indirekte Charakteristik weit schwieriger und vor allem künstlerisch weit wertvoller ist. Sein feiner Sprachsinn spürt aber dem „indirekt" etwas Minderwertiges ab, daher entschlüpft seiner Feder jenes „lediglich". Es sei empfohlen, jene Bezeichnungen zu ersetzen durch g e s t a l t e n d e C h a r a k t e r i s t i k (indirekte) und f o r m u l i e r e n d e C h a r a k t e r i s t i k (direkte) oder, dem Ertrag nach und vom Zuschauer aus gesehen, g e s t a l t e t e und f o r m u l i e r t e Charakteristik. Dann gerät Sinn und Wertnuance in die richtige und reibungslose Beziehung. Alfred Kerr ist doch sonst gewöhnt und bemüht, nicht nur von dem Publikum her zu sehen (Wirkung), sondern auch und vor allem vom Schaffenden (schöpferischer Vorgang). Für den schaffenden Künstler aber wäre gerade die indirekte die direkte, weil sie direkt gestaltet (und umgekehrt). Relativ wertvoller als die aus Verlegenheit und daher ganz unmotiviert formulierende Charakteristik, die Kerr mit Recht an P. Heyse kritisiert, wäre die „motiviert formulierende" Charakteristik, etwa auf Befragen über den Charakter aus der Situation heraus usw. Um wieder auf Kerr zurückzukommen: als besonders ungeeignet für das realistische Drama gilt die Selbstcharakteristik. Bei der Begründung der im zwanglosen Nach und Nach zu enthüllenden Vorfabel hätte man einen begründenden Hinweis über die bloße Wahrscheinlichkeit hinaus auf den vorwiegend analytischen Bau des naturalistischen Dramas erwartet. Aber hier rächt sich am Einzelfall eben nur die allgemeine Vernachlässigung der Aufbauund Kompositionsprobleme. Alfred Kerr sieht impressionistisch die Einzelerscheinungen mit großer Schärfe. Und vor allem liegt seine Stärke neuromantisch-impressionistisch mehr als naturalistisch im Abtasten und Abstufen seelischer oder geistiger Vorgänge. Aber sein Sinn für das konstruktive Denken und die Zusammenschau des Einzelnen zum Ganzen wirkt weniger ausgeprägt oder doch weniger ausgebildet, obwohl man die ernste Absicht Kerrs als solche nicht über der oft lässigen Eleganz oder der burschikosen Zwanglosigkeit seiner stilistischen Eigenwilligkeit und Eigenwegigkeit übersehen darf. Wie dem immer sei: eigentliche Aufbaufragen interessieren ihn hier nicht. Und so weicht er der Möglichkeit aus, dem Aufbau-Schema Gustav Freytags etwa ein eigenes, vom naturalistischen Drama abgeleitetes Gebilde entgegenzustellen. Er erwähnt Gustav Freytag nur dort, wo er dessen Argument zugunsten des Monologs abwehrt, daß

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der Monolog „das lyrische Element im Drama" zu vertreten habe. Voll in seinem Element aber bewegt er sich mit entsprechender Sicherheit bei der Einzelinterpretation und Exemplifikation. Feinsinnig spürt er ζ. B. den tiefer liegenden Ursachen nach, die daran beteiligt sind, daß der Zuschauer lieber selber seine Schlüsse zieht, als daß er sich vom Dichter als Kommentator gegängelt sieht, daß also Andeutungen mehr ästhetisches Wohlgefallen hervorrufen als breite Ausdeutungen. Er spricht in diesem Zusammenhange geradezu von einem „ästhetischen Reiz des Schlüsseziehens". Nicht nur die „Freude am eigenen Scharfsinn, dem es gelungen ist, das Ungesagte herauszufinden", sei daran beteiligt, vielmehr wesentlich auch die Beobachtung und das Erlebnis, „daß es überhaupt möglich ist, etwas deutlich zu sagen (vom Dichter her), ohne es doch auszusprechen". Das ist, wie gesagt, eine feine und vertiefte Art, den Reaktionen auf den Grund zu kommen. Im weiteren Umkreis handelt es sich dabei nur um einen Einzelausschnitt aus dem Problemkomplex der nachschaffenden Phantasie. Aber ob das nun gerade ein Merkmal des naturalistischen Dramas darstellt, muß fraglich bleiben. Ibsens „Wildente", die einen Beleg hergeben muß, kann kaum als ausgesprochen naturalistisch gelten, ebensowenig die „Frau vom Meere". Kerr sieht sich denn auch unversehens auf den Symbolwert (als sinnliche Andeutung der geistigen Bedeutung) abgedrängt. Das naturalistische Drama in seiner vollen Entfaltung jedenfalls neigt nur allzu sehr zu breiten Diskussionen und Kommentierungen von Thesen und Tendenzen und gibt sich in diesem Kernbezirk keineswegs mit feinbesaiteten Andeutungen zufrieden. Nicht zuletzt — im Gegenteil ganz „zuerst" (denn was war wirklich „zuerst" ?) —• Henrik Ibsen war es, der diese weltanschaulichen Ausdeutungen kommentarhaft ausdiskutierte, während er freilich mit psychologischen Andeutungen sich weise (und wirksam) begnügte. Aber vielleicht ist dieser Einwand einbeschlossen, wenn am Schluß dieses denkwürdigen Essays von 1891 über die „Technik des realistischen Dramas" Alfred Kerr zu bedenken gibt: „Noch schwört man auf Ibsen" und bereits folgert, ebenso wie der Typus des klassischen Dramas nicht als absoluter Maßstab gelten kann, „so war' es kurzsichtig und unhistorisch, das Ibsensche Drama als ein unverrückbares Muster für künftige Zeiten hinzustellen". Bei aller anschmiegsamen Einfühlung in die Wandlungen des dramatischen Kunstwollens und die zugeordnete Auswechselbar-

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keit der Maßstäbe hat doch Kerr gewisse überzeitliche Bedingungen der Dramen-Technik keineswegs aus den Augen verloren. Er weiß durchaus, daß es Grundforderungen der dramatischen Struktur und des dramatischen Verfahrens gibt, um die auch die Realisten schwerlich ohne Schaden an der dramatischen Substanz und Wirkung herumkommen, und zwar auch dann, wenn diese Prinzipien und allgemeingültigen Gesetze dem Sonderstreben des konsequenten Realismus „zum Teil. . . ins Gesicht schlagen". So zum Beispiel die „Aneinanderreihung w e s e n t licher Momente" in der Stoffwahl und Entfaltung (oder richtiger Konzentration) des Geschehens. Denn das Leben mischt wahllos Wesentliches mit Unwesentlichem. Der Dramatiker dagegen bleibt zu allen Zeiten darauf angewiesen, das für ihn Wesentliche und Wirksame aus dem Unwesentlichen des nur Begleitenden und dem Wirrwarr der Verflechtungen herauszulösen und „herauszuschälen". Zum mindesten stofflich und motivlich bleibt es also auch für ihn bei der Auswahl, Aussonderung, Auslese im Sinne der dramatischen Konzentration und nicht bei dem genauen Lebensabbild um jeden Preis. Hierzu gehört auch die Rückversicherung bei Lessings Forderung, den „Durchschnitt des Lebens" darzustellen, der die seltenen Abseitigkeiten der ungewöhnlichen Zufälle vermeidet (vgl. in Kap. II die andersartige Zufallstheorie im Neuklassizismus bei Paul Ernst und Wilhelm von Scholz). Was diesen nur etwa zwanzig Druckseiten umfassenden Essay, der sich kennzeichnenderweise von der zum Teil manierierten („Was ist Manier?" fragt Kerr später, um zu antworten: „Der Defekt im Leser") Sprachgestaltung Kerrs erstaunlich weitgehend fernhält (Sinn für die thematische Bedingtheit des Stiltypus), so reich an praktischen Erträgen macht, das erklärt sich nicht nur daraus, daß der Theaterkritiker, auch wenn er wie hier eine kunsttheoretische Abhandlung schreibt, immer an der Schnittstelle von Theorie und Praxis steht. Es erklärt sich vor allem oder wesentlich doch auch daraus, daß er es jenseits der bereits weithin abstrahierenden Kunsttheorie mit den Einzelhinweisen kunsttechnischer Art hält, die im Sinne der angewandten und deshalb wieder anwendbaren und auswertbaren Poetik gerade für schaffende Künstler so fördernd, brauchbar und daher so beliebt sind. Immer wieder konnte und mußte im Verlaufe dieser Darstellung die Aufmerksamkeit auf diese Erscheinung gelenkt werden. Und man darf es einmal ganz klar aussprechen: wenn es um Kunsttechnik

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geht, verschmäht der Kunstschaffende durchaus nicht modernere Spielformen der alten, so verpönten „Anweisungspoetik". Nur eben muß ihm diese A n w e i s u n g s p o e t i k in der V a r i a t i o n der H i n w e i s u n g s p o e t i k begegnen. Dann wird sie in seinen Augen — mit voller Berechtigung — weit vertrauenerweckender. Und an dieser Stelle, eben der nahen Schnittstelle von Theorie und Praxis, liegt ein Hauptaufgabengebiet des Kunstkritikers und der Kunstkritik überhaupt, soweit sie nicht nur betrachten, sondern auch bewirken will. So tapfer und leidenschaftlich der junge Herder den schöpferischen Impuls in aller Spontaneität, so berechtigt er als Träger des Organismus- und Entwicklungsgedankens das unwillkürlich und ungestutzt Gewachsene und Gewordene gegen das kunstverstandesmäßig Gebaute und gelenkt Geleitete ausspielte: die viel verlästerten „Kunstgriffe" Lessings sind zum mindesten im Raum der Kunsttechnik immer noch nicht zu entbehren, wenigstens prinzipiell nicht, wenn sie auch als Einzelhinweise vielfach überholt sein mögen. Irgendwie berühren sich dabei die äußersten Extreme: Anweisungspoetik—Schöpfungspoetik. In der Mitte nämlich liegt immer der Wille zum Werk und der Dienst am Werk (Poetik der Klassik). Und dieser Dienst darf die Demut nicht entbehren, zum mindesten nicht die stolze Demut, auch als Genie noch lemen zu können und lernen zu wollen. Diese Demut freilich vermißt man nun nicht selten beim Kritiker, während der Künstler sie weit williger aufbringt. Und das gilt nicht zuletzt von Alfred Kerr, der gewiß ein geistvoller Kritiker war, der aber durchaus ein Dichter sein wollte. Oder genauer — denn er hat sich auch rein dichterisch betätigt —: der als Kritiker zugleich Dichter sein wollte. K r i t i k ist auch eine K u n s t . So lautet seine These, die mehr sein wollte als eine temperamentvolle Sentenz. Auf diese lebhaft verfochtene These muß eingegangen werden, weil sie die Drei-Gattungs-Theorie der neueren Poetik umwerfen möchte (und weil es versprochen worden ist im G. Freytag-Abschnitt). Alfred Kerr behauptet nämlich nicht nur, daß Kritik eine „Kunst" sei. Er beansprucht vielmehr, daß sie eine eigene Kunstgattung sei, in seinem Bereich also die vierte Dichtungsgattung. Die T h e a t e r k r i t i k als D i c h t u n g s g a t t u n g wäre immerhin ein Novum. Denn daß an sich auch die Gattungseinteilung mancherlei Schwankungen unterworfen war, wurde schon in früheren Teilen dieser Gesamtdarstellung mehrfach beobachtet (vgl. besonders Band II und III). Bald zog man die

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Dreizahl auf eine Zweizahl zusammen, besonders unter der Einwirkung der Zweitypengliederung der Dichtkunst (naiv — sentimentalisch usw.), bald baute man eine vierte — ζ. Β „didaktische" —• Gattung an. Alfred Kerr möchte also dergestalt die Kunstkritik anbauen. Schon im Vorwort zum „Neuen Drama" (1904) meldet er diese Absicht und diesen Anspruch vernehmlich an. Er deklariert und dekretiert bündig, zunächst noch subjektiv bezogen: „Der wahre Kritiker bleibt für mich ein Dichter: ein Gestalter". Aber sehr bald fällt das einschränkende „für mich" fort zugunsten der objektiven Verallgemeinerung: „Der wahre Kritiker bleibt ein Dichter: ein Gestalter". Einige Schritte weiter, und die Kritik steht nicht mehr als wesensverwandt und wertgleich neben der Dichtkunst, sondern wird als eigene Gattung in sie einbezogen. Sie ist „als eine Dichtungsart anzusehen". Das „Gelalle" von einer „produktiven Kritik" hat nur Sinn, wenn Kritik selber „Produktion" ist. Kurz, der Kritiker gilt als „Vertreter seiner Dichtungsart". Es fehlt auch an robusten ärgerlichen Bekundungen nicht, wie etwa: „Der blöden Abgrenzung: dieser ist kein Dichter, sondern ein Kritiker, setzt das Buch (Band I von Kerrs gesammelten Kritiken) ein Ziel". Derartige Wendungen lassen unwillkürlich hinüberblicken auf die ähnlich ärgerliche Verfemung der Unterscheidung von Schriftsteller und Dichter durch Thomas Mann. Es geht um die Palme des echten Dichtertums. Natürlich muß auch Lessing als Beispiel herhalten. Die „Einleitung zu den Gesammelten Schriften" (1917) nimmt jene These verstärkt auf, nun gestützt auf ähnliche Bekundungen Oscar Wildes. Aber einigermaßen pompös setzt sich Alfred Kerr in pathetische Positur mit Hilfe des „Fiesko"-Zitats, das den theoretischen Vorschlag von der wirklichen Ausführung gebührend abhebt: „Ich habe getan, was Du — nur maltest" (Malerszene im „Fiesko"). Auch Heinrich Heine habe längst vor Oscar Wilde so etwas vorgeschwebt mit seiner Forderung, daß die Kunstkritik „kunstwertlicher" werden müsse. Aber er, Alfred Kerr, habe alle diese Ansätze weit hintei sich gelassen. Es ist angesichts derartiger Überhebungen und Überspitzungen schwer, keine Satire zu schreiben. Dennoch stehl ein Anteil an Berechtigung dahinter. Seit Karl Frenzel und Adoli Stern als achtenswerten Zwischengliedern hatte sich die Theaterkritik unverkennbar zum Künstlerischen hinüberentwickelt. Ir gediegener Form der Plauderei bei Theodor Fontane, in extreme)

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Form eines sensationellen Feuilletonismus bei Maximilian Harden und Alfred Kerr, wobei wiederum Kerr den erfolgreichen Nachbarn Harden am leidenschaftlichsten bekämpfte. Eben deshalb aber überwiegt der etwas peinliche Eindruck, daß es doch mehr um die Person als um die Sache geht. Die Geltungsrevolte begabter Kritiker gegen den Vorrang der Dramatiker gleicht in mancher Hinsicht der etwa parallelen Geltungsrevolte begabter Regisseure gegen den Vorrang der Dichter. Zuzugeben ist, daß g u t e K r i t i k e r s e l t e n e r als g u t e K ü n s t l e r sind. Wenn Alfred Kerr die Kritik für eine dichterische Sondergattung erklärt, so erhebt sich folgerichtig die Frage, wie denn nun das Kunstwollen beschaffen war, das hinter dieser neuen Kunst steht. Kerr war in jener Vorrede von 1904 unvorsichtig und unbeherrscht genug, frank und frei zu erklären, daß er weder dem Dramatiker zuliebe noch dem Zuschauer zuliebe seine Kritiken geschrieben habe, sondern sich selber zuliebe („um des Rezensenten willen"). Wie sich diese ästhetisierende Subjektivität mit der angeblich ethischen Objektivität vertragen soll, bleibt unerfindlich und unergründlich. Ebenso strotzt die spätere Gesamt-Einleitung von 1 9 1 7 von Widersprüchen. Sie bleibt dabei: „Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik". Aber einerseits postuliert sie: „Du sollst die Welt vom Wahn erlösen —• / Besteht sie gleich auf ihrem Schein — / Der Dichter müsse dauernd dösen / Und unzurechnungsfähig sein". Und andererseits: das heilige Stigma des Dichterischen vermag sie doch nur zu gewinnen, wenn eine Synthese „des Verstandes mit der Ahnung", des Scharfsinns mit dem Tiefsinn, des „grausamen Umrisses mit dem Dämmer", der „wildesten Wachheit mit dem Blutschlummer" stattfindet. Besagt das nicht doch wieder, daß der Produzierende, ob nun als Dichter oder Kritiker, nicht nur deutend denken, sondern auch dichtend „dösen" müsse? Mit anderen und kargen Worten: derjenige, der mehr sein möchte als ein bloßer „Triebtrottel" und ein bloßer „Instinktler", sieht sich doch wieder geneigt und genötigt, hinter die Deckung des „Dämmerns" zu flüchten, um der Abstempelung als Dichter — er selber spricht gern von den „Abgestempelten" —· teilhaftig zu werden. Als ein M e r k m a l der P r o d u k t i o n bezeichnet Kerr immer wieder die K o n z e n t r a t i o n . Dahin zielt sein Mozart-Zitat vom in Deutschland allzu beliebten „langen Geschmack", dieweil doch „kurz und gut" viel treffender sei. Dahin zielt die zugleich in be9 M a r k w a r d t , Poetik V

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merkenswerter Weise und gewiß nicht zufällig auf die Aufklärung zurückverweisende Prägung: „Dein Ausdrucksziel: das Knappere. / Der Inhalt: audesapere!" Dahin zielt der Aphorismus: „Aus einem Gedanken macht ein Stückemacher ein Stück. Der Schriftsteller einen Aufsatz. Ich einen Satz." Besieht man sich aber diesen „einen Satz" etwas näher und (in berechtigter Anpassung an den Kritiker) etwas kritischer, so ergibt sich, daß Alfred Kerr diesen einen Satz durch wortspielerische Variationen aufschwellt zu einem ganzen Absatz und Aufsatz — so macht er aus diesem einen Satz auch wieder ein ganzes „Stück". Und er vergißt, daß es immer ein gewagtes und selten ganz gewonnenes Unterfangen bleibt, den Zarathustra-Menschen der bergigen Höhe in den „Keller" unterm Strich (Feuilleton) einsperren zu wollen. Zu dieser Vermahnung ist man berechtigt, wenn man auf wahrhaft arrogante Sätze stößt wie diesen: „Es gibt in Deutschland kein Stück so konzentriertes Schrifttum wie dieses Werk" (seine fünf Bände „Die Welt im Drama"). Der Konzentration pflegt nämlich bei Kerr sogleich eine im Grunde recht langatmige Variation zu folgen. Freilich versteht Kerr durchaus ins Ziel zu treffen. Hermann Sudermann hat er nicht erst seit 1896, wie A. Soergel meint, kunstund kritikgerecht abgeschossen, sondern schon 1891 in dem Essay über die „Technik des realistischen Dramas". Schon dort wird Sudermanns Dramentechnik, z.B. in „Ehre", zurückgeführt auf eine bloße „Technik der Zauberposse". Und wenn Kerr etwas mehr auf den Aufbau gesehen hätte, würde ihm nicht die ganze Nüchternheit der Rechnung und Berechnung der „Ehre" Sudermanns entgangen sein: Vorderhaus — Hinterhaus, das Vorderhaus birgt eine gute Tochter und einen bösen Sohn, das Hinterhaus einen guten Sohn und eine böse Tochter. Der gute Sohn aus dem Hinterhaus liebt die gute Tochter aus dem Vorderhaus, dieweil der böse Sohn aus dem Vorderhaus ein böses Verhältnis zu der bösen Tochter aus dem Hinterhaus unterhält usw. Alles das entgeht Kerr, weil er sich mit dem zufälligen Treffen zwischen dem Grafen Trast und Alma begnügt, weil er nicht konstruktiv denkt, sondern assoziativ. Er bleibt dem Naturalismus gegenüber der überlegene Kritiker, weil er eigentlich in Haltung und Gestaltung schon dem Impressionismus angehört. So wird er der Kritiker des Naturalismus, ohne ein naturalistischer Kritiker zu sein. Seine „Ehre" auf Zauberpossen-Technik festgelegt zu sehen (und manche andere kritische Bemerkung) ging H e r m a n n S u d e r -

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m a n n (1857—1928) denn doch gegen seine Ehre. Oder genauer und gerechter: die Gruppe von ursprünglichen Feuilleton-Aufsätzen, die er zur Kampfschrift „Verrohung in der Theaterkritik" (1902) zusammenfaßte, wollte jene Grenze gewahrt wissen, wo Schriftsteller-Ehre und bürgerliche Ehre empfindlich nah einander berühren. Es ging auch zunächst weniger um Alfred Kerr als um M a x i m i l i a n H a r d e n (1861—1927), den Herausgeber der „Zukunft". Gestützt auf bereits von offizieller Seite (Wilhelm Singer als Präsident des Pressevereins) vorliegende Bedenken, geht Sudermann aus von der „eingerissenen Verwilderung des journalistischen Tones", von der „Schmäh- und Skandalsucht" einer gewissen Journaille, häuft in der weiteren Entfaltung seines Angriffs entsprechende Beispiele und Belege, um schließlich die Schäden zusammenzustellen, die durch derartige unverantwortliche Verfahren hervorgerufen worden sind. Zu diesen Schäden rechnet Sudermann vor allem die Entmutigung der Dramatiker, die in ihrer Produktionskraft gelähmt würden (Beispiele, die Sudermann anführt: Kleist, Hebbel, Grillparzer, Anzengruber und ausdrücklich bestätigendes Zeugnis Gustav Freytags: „Ich bin zwar den Erregungen des Abends gewachsen, was ich aber am nächsten Tage zu hören bekomme, das ertrag' ich nicht mehr" — Gegenbeispiel, von Sudermann freilich nicht angeführt: er selber, dessen Produktivität unter den Schlägen der Kritik keineswegs erlahmte); weiterhin die Entmutigung der Theaterbesucher und die damit zusammenhängende wirtschaftliche Gefährdung der Theaterbetriebe und ihrer Angestellten. Die verfolgte Taktik ist also an sich nicht ganz ungeschickt, weil sie über das Persönliche hinaus immer wieder auf Sachliches hinarbeitet. Auch hinsichtlich der Beispiele stellt Sudermann die eigene Person zurück, ohne sie natürlich ganz auszuklammern. Alfred Kerr gilt ihm als Typus des „schöngeistig-hämischen Witzjägers". Die schwersten Stöße aber zielen auf Harden und dessen „Zukunft", die an Verrohung des Tons die „Gegenwart", an der Paul Lindau kritisierte, weit hinter sich gelassen habe. Paul Lindaus kritische Technik erscheint Sudermann ebenso wie die Oskar Blumenthals noch als relativ harmlos (wobei er übersieht oder übergeht, daß man den Kritiker Blumenthal in Fachkreisen den „blutigen Oskar" zu nennen pflegte). Erst seit etwa 1885 sei — nach Sudermann — in bald verstärktem Maße der neue Zustand eingetreten, der schließlich zu einem ausgesprochenen Mißstand und zum Miß9·

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brauch des Kritikeramtes geführt habe. Das Ansetzen gerade dieses Termins war unvorsichtig insofern, als Sudermann nur wenig später in die Öffentlichkeit der Bühne trat (1889), von hier aus also ein verdeckter persönlicher Bezug hergestellt und bloßgestellt werden konnte. Das geschah denn auch prompt in der Gegenschrift Maximilian Hardens„Kampfgenösse Sudermann" (1903), die in ihrer Titelgebung anknüpfte an eine persönliche Widmung Sudermanns aus früherer Zeit, aber wohl noch nicht auf Sudermanns gleichzeitig herausgekommene Tendenz-Komödie „Sturmgeselle Sokrates" anspielte. Im übrigen nahm Harden naturgemäß Gelegenheit, seinen Wissensprunk voll zu entfalten, indem er die gesamte Kultur- und Geistesgeschichte nach scharfen Kritikern „abklopfte": Lessing gegen Corneille, Schopenhauer gegen Hegel, Nietzsche gegen Wagner usw. Befragt man Sudermanns Kampfschrift nach Zeitbeständen besonders kunsttheoretischer Art, so fällt auf, daß z.B. die Bezeichnung „literarisch" offenbar vorwiegend positiv verwendet wurde. Denn alles Verrissene nennen die Rezensenten „unliterarisch". Es ist noch nicht so wie in der Heimatkunst, die an sich etwa zeitparallel ihr Programm entwickelt hat. Dagegen wird auch damals schon das Attribut „theatralisch" durchweg im wertsenkenden Sinne gebraucht. Zudem mußte gerade Sudermann ein gutes Ziel bieten für die Angriffe auf das „Theatralische". Hinsichtlich des Verhältnisses von Theorie und Praxis interessiert der Hinweis darauf, daß für die Naturalisten Hauptmann „als Paradigma für ihre Lehrsätze" willkommen gewesen sei. Sudermann selber schwört nicht oder nicht mehr auf die naturalistischen Leit- und Lehrsätze. Die Entdeckung Hauptmanns bucht er als Verdienst der naturalistischen Kritiker, um dann deutlich dieses Verdienst einzuschränken und die Dauergeltung des Naturalismus anzuzweifeln: „ . . . mögen auch die ästhetischen Theorien, die sie teils für ihn, teils nach ihm schmiedeten und die sie mit nie vorher (?) geschauter Unduldsamkeit der Welt aufzuzwingen trachteten, zum großen Teil schon heute dem Rost anheimgefallen sein". Es klingt also so etwas wie ein Epilog für den Naturalismus auf. Im übrigen hat Sudermann bereits Kerrs Schwäche, durchaus als Kritiker-Dichter gelten zu wollen, erkannt und gestreift. Kerrs Gegenschrift gibt diese Anzweiflung des Dichtertums bereits in der Titelgebung zurück: ,,Herr Sudermann, der D...Di...Dichter'' (1903; ausgegeben November und Dezember 1902). Er bringt also

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im Falle Sudermann das „Dichter" nur stotternd über die Lippen. Übrigens war schon das „Herr" ein Rück-Schlag. Denn Sudermann hatte beobachtet und kritisiert, daß der ganze Tenor einer Rezension schon auf den ersten flüchtigen Blick durch die Verwendung der Anrede „Herr" für den Autor, Regisseur oder Schauspieler zu erkennen sei. Kerr geht außerdem noch ausdrücklich auf das Problem Kritiker oder Dichter bzw. Kritiker und Dichter ein: Sudermann „läßt etwa durchblicken, daß ich selbst mich für einen Dichter halte. Das ist ganz richtig . . . ich trachte, die Kritik auf eine Stufe zu bringen, wo sie . . . eine dichtergleiche Kunst werden kann." Das liegt 1902, also zwei Jahre vor dem breiteren, bereits oben erwähnten Vorstoß. Sudermann seinerseits hatte nun aber angeknüpft an eine Einzelrezension Kerrs (über ein Stück von Georg Hirschfeld), die etwas früher lag und in der Alfred Kerr zwar meinte, der Kritiker dürfe „ganz frech gehässig" sein — diese Formulierung erregt Sudermanns ganzen Zorn und wird von ihm, aus dem Zusammenhang gerissen, ausführlich beleuchtet —, aber doch auch zugleich die (von Sudermann allerdings ignorierte) Forderung aufgestellt hatte: der Kritiker „mühe sich, über ein Kunstwerk nur durch ein Kunstwerk zu richten". In dieser Form mag man seine Forderung durchaus begrüßen, da sie die dem Kritiker und seiner Aufgabe gesetzten Grenzen noch richtig sieht, während der nach-naturalistische Kerr, vielleicht unter der Einwirkung des neuromantischen Impressionismus (besonders der L'art pour l'artTheorie) den klaren Blick für diese Grenzen mehr und mehr verlor. Kerr ist nun freilich überhaupt Impressionist neuromantischer Prägung. Er ist es als Kritiker insofern, als er zu ihm eigentlich anlage- und stimmungsmäßig verwandten Bestrebungen das kritische Verhältnis nicht findet, das er zum Naturalismus durchweg hatte. So wird beispielsweise Max Reinhardts neuromantischimpressionistische Regiekunst von Kerr ständig und in ständigem Vergleich mit Otto Brahm abgewertet. Dergestalt könnte man bei Alfred Kerr sprechen von einem Wegsuchen gleichsam zwischen dem „konsequenten Realismus" und einem nicht minder konsequenten Symbolismus. Einen Ausgleich zwischen den Stilen und literarischen Epochen vermag er freilich nicht herzustellen.

II. Das Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik Grund- und Grenzformen Wenn in der Überschrift die Neuklassik vor der Neuromantik steht, so nicht nur wegen der Entsprechung zu der Abfolge Klassik — Romantik, sondern auch aus der Erwägung, möglichst von vornherein klarzustellen, daß es sich um keine bloß zeitliche Aneinanderreihung handelt, sondern um ein weit komplizierteres Wechselspiel, das sich —• wenngleich nur andeutend — im Bild des „Wegsuchens" spiegelt. Zum mindesten im ideelichen Raum ist ein ausgeprägt o r g a n i s c h e s N e b e n - und I n e i n a n d e r zu beobachten, nicht aber ein mehr oder minder mechanisches Nacheinander, wie es in manchen Literaturgeschichtsdarstellungen zu unerwünscht konventioneller „Tradition" geworden ist. Es sei in diesem Zusammenhang auch darauf verwiesen, daß Paul Ernst manches schon in den frühen neunziger Jahren einzeln veröffentlicht hatte, was im „Weg zur Form" (1906) dann nur noch einmal gesammelt (und mit Neuerem vereint) wurde. Wenn trotzdem im folgenden die Würdigung der Neuklassik der der Neuromantik folgt, so mit Rücksicht darauf, daß in den entscheidenden Jahren der neuklassischen Programmbildung Paul Ernst, Wilhelm von Scholz und Samuel Lublinski eine persönlich und lokal eng verbundene Gruppe bildeten. Es sei aber mit Nachdruck hervorgehoben, daß Stefan George und seine „Blätter für die Kunst" ideelich gleichsam eine echtere Neuklassik herausbildeten als die Gruppe, die man als Neuklassizisten zu bezeichnen gewöhnt ist. Bei aller gebotenen Einschätzung der neuromantischen Einzelzüge kann es doch keinem Zweifel unterliegen, daß die Grundstruktur — besonders in der Kunsttheorie des George-Kreises — neuklassisch bestimmt erscheint. Außerdem würde dadurch auch die Theorie der Lyrik repräsentativ im Rahmen der Neuklassik in Erscheinung treten. Im George-Abschnitt wird diese These näher zu begründen sein. In gewissem Grade gilt sie auch für Rainer Maria Rilke, in geringerem Maße selbst für Hugo von Hofmannsthal.

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Es wurden schon mehrfach Spuren Nietzsches im Kunstwollen des Naturalismus angetroffen. Aber es ist doch recht kennzeichnend für die Gesamthaltung der Neuromantik, daß es der DichterPhilosoph F r i e d r i c h N i e t z s c h e (1844—1900) war, dem sie wesentliche Impulse ihres Lebensgefühls und ihrer Kunstauffassung verdankte. So schroff die Entwertung des Christentums (durch Nietzsches vermeintliche Begründung einer neuen Religion) dem religiösen Zug der Neuromantik widerstreiten mußte, so unvermeidbar sein forcierter Kraftkultus ihrer liebenswürdig verträumten Lässigkeit fremd bleiben mußte, so sehr sein Wille zur Macht ihrer willenlosen Hingabe an die Stimmung widersprach: es gab in seiner Dichter-Philosophie und in seiner Philosophie der Dichtung eine ganze Reihe von Elementen, die sie sehr wohl in ihr ungeschriebenes Programm einbauen konnte. Schon der Umstand, daß hier ein Denker zugleich dichterische Züge trug und sich in seiner ganzen Sprachgestaltung zu ihnen bekannte, erleichterte der Neuromantik den Zugang zu seiner Eigenwelt und Eigenwilligkeit und Eigenwertigkeit. War es doch fast wieder so wie in der großen Epoche deutschen Dichtens und Denkens, wo das Wechselspiel von Philosophie und Poesie so innig gewesen war, daß man die Fülle der Bezüge kaum sichten und sondern kann (vgl. Bd. III). Ja, noch näher der Poesie stand hier der Denker, der selber als Dichter neuromantische Merkmale nicht verleugnet. Zieht man neben der zum guten Teil romantisierenden Ideenlyrik das lapidare Manifest des „Zarathustra" mit heran, so überbietet der Philosoph Friedrich Nietzsche ,wo er vorab Dichter und Wortkünstler war, sogar unverkennbar manches schwächere Dichtertalent der Neuromantik. Aber auch er hatte gelernt. Und in seinem eindrucksstarken Gedicht „Vereinsamt", das irgendwie in der ganzen trostlosen Schwermut an das Gedicht „The Raven" von Edgar Allan Poe erinnert, würde die „alte Romantik" über Ε. T. A. Hoffmann gleichsam zur deutschen Neuromantik zurückschwingen. Es gibt aber auch Spannungen und Anspannungen seiner rauschhaft gesteigerten Vershymnik (und Prosahymnik!), die von Klopstock zu Hölderlin hinüberweisen („Die Sonne sinkt"). Das gilt nicht nur von den „Dionysos-Dithyramben" (bzw. den „Liedern Zarathustras" 1888). Es ist nicht nur der Schwung derOden Pindars, dessen Kraft und Rhythmik ihn mit emporreißt. Er, der gleichsam vorbeugend und von der Junonischen Nüchternheit Holder-

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lins lernend, so nachdrücklich die heilige Nüchternheit pries und anpries, bedurfte als Dichter (und ζ. T. auch als Denker) immer wieder des Rauschhaften, und zwar in einem Grade, der oft mehr an Klopstock als an Hölderlin erinnert. Was ihn aber, vom Weltanschaulichen einmal ganz abgesehen, von Klopstocks Rauschkunst trennt und unverwechselbar unterscheidet, das ist die Kritiklosigkeit in Klopstocks dichterischen Rauschzuständen, der er eine sehr betonte Kritik und kritische Wachheit entgegenstellt. Daß er die kritischen Rückstürze mit hineinformte in die rauschhaften Aufschwünge: das ist es nicht zuletzt, was seiner Ideendichtung im engeren und weiteren Sinne ihr Eigengepräge verleiht. Auch noch das „Trunkene Lied" birgt in sich solch einen kritischen Anteil an Besonnenheit selbst in einer scheinbar besinnungslosen Steigerung des mahnenden Anrufs und mächtigen Aufrufs („0 Mensch! Gib acht!"). Der Wille zur Kritik war oft stärker als die Welle des Rausches und selbst noch als der Wille zur Macht. So verstanden, wäre auch der Dichter Nietzsche ein produktiv gewordener Kritiker, so daß sich die scheinbaren Extreme LessingNietzsche irgendwie und irgendwo doch wieder seltsam, aber sichtbar berühren. Damit soll nicht gesagt sein, daß Nietzsches neuromantische Lebenslehre letzten Endes nichts weiter gewesen sei als eine romantisierte Neu-Aufklärung. Es soll vielmehr zunächst einmal nur die Artung des Kämpfers Lessing mit der Nietzsches verglichen werden. Lessings ethisches Postulat und Programm des Mitleidübens steht unendlich weit ab von Nietzsches Verwerfung der Willensschwächung durch das Mitleidhaben. Und Lessings „Rettungen" stehen weit ab von Nietzsches Vernichtungen, die schließlich zur Selbstvernichtung führten. Aber ein elementarer Trieb zur Kritik ist unverkennbar in beiden wirksam. So gewagt es klingen mag: Nietzsche verbindet gleichsam den Rausch Klopstocks mit der Kritik Lessings. Aber diese Verbindung erfolgt in einer romantischen und neuromantischen Atmosphäre. Eben deshalb konnte in dieser phantastisch überhitzten Atmosphäre aus Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts" eine fast fanatisch gepredigte „Erziehung" zu einem Geschlecht von Übermenschen werden. Blickt man auf die Auswirkung dieser „Erziehung" im Kreise um Stefan George, so möchte man fast ergänzen: und eines Geschlechtes von Überkünstlern. Aber das würde Nietzsches Intentionen und Konzeptionen kaum entsprechen. Denn der Wert der Kunst erscheint in seiner Weltdeutung und Lebenslehre recht

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zwiespältig belichtet. Er mißtraut als Kritiker um jeden Preis (auch um den Preis seiner Selbstaufgabe als Dichter) zu sehr der Verführung durch die Kunst, um ihr etwa gar die Führung anzuvertrauen. Gewöhnt und letztlich darauf angewiesen, mit Gegengewichten und Gegengiften zu arbeiten, um seine Lebenslehre „gesund" zu erhalten, verdrängt er sein eigenes Mitleid durch die Mitleidlosigkeit, die Güte durch die Größe, das Schöne durch das Erhabene, die freie Kunst durch die „fröhliche Wissenschaft". Zudem ist seine Stellung zur Kunst Schwankungen ausgesetzt, die gelegentlich ins Extreme schlagen. Seine ganze Philosophie ist die eines mühsam niedergedrosselten Künstlers; aber eine in sich geschlossene Kunstphilosophie hat er eigentlich nie und nirgends entwickelt. Der Lebensdeuter Nietzsche ist immer auch Gestaltdenker. Und der Lebenslehrer ist immer auch „Lebenskünstler". Genauer: er möchte es sein und möchte auch andere dazu machen, und zwar mit aller Gewalt und mit aller Macht dazu machen. Weil er die Kunst nicht voll zu „meistern" vermag, versucht er zum mindesten theoretisch-philosophisch das Leben zu „meistern". Dieser Anspruch an die Kraft erwuchs aus dem Gefühl der eigenen Schwäche. Und nicht zuletzt darin begegnet er sich mit den Neuromantikern. Sie leben in und von der Illusion, Illusionen zerstören oder doch in Frage stellen zu sollen. Und ihre Selbstkritik greift gleichsam die Substanz des Persönlichkeitswertes und des Kunstwertes an, um aus den Zerfallsprodukten den Nährstoff für ein letztes süßes müdes Blühen zu gewinnen. Trotz des protzigen Protestes ist Nietzsche von seinem einst geliebten Lehrmeister Schopenhauer eigentlich nie recht losgekommen, ob nun die Position beibehalten wurde oder die Opposition eigene Wege zu gewinnen trachtete. Nietzsches Lehre eines instinktstarken Lebens gründet auf Schopenhauers Konzeption vom „Urwillen", seine Konzeption des Übermenschenideals gründet auf Schopenhauers Geniekultus, seine Umwertung aller Werte gründet auf Schopenhauers kritischer Skepsis gegenüber allen Scheinwerten usw. Und eigentlich hat Nietzsche immer wieder Aphorismen zur Lebensweisheit geschrieben, nur daß er die Schopenhauersche Lebensweisheit entsprechend umgeschrieben hat. Selbst seine Sprache, soweit sie lichtvoll durchhellt und nicht ekstatisch aufgestellt und verzückt entzündet war, hat Schopenhauer vieles zu danken. Aber der rhetorische und rapsodische Rausch etwa des „Zarathustra" beweist, daß Nietzsche allent-

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halben überbieten wollte, um seinem Lehrmeister Trotz bieten zu können. Schopenhauer hatte der Musik als „Quietiv" eine zum mindesten tröstliche Funktion in den trostlosen Demonstrationen des düster-dumpfen Urwillens eingeräumt. Nietzsche läßt nicht nur zur Zeit zugestandener Wagnernähe „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1872) erfolgen. Aber Schopenhauer bedauert, daß der Geist vom Willen überrannt wird. Nietzsche sieht darin eine Selbstrettung des Lebens und der Lebenskraft. Schon der Umstand, daß Schopenhauer die Welt als „Vorstellung" des Geistes auffaßt, bekundet nicht nur sein philosophisches Herkommen vom deutschen Idealismus, sondern auch eine stille und starke Liebe zum Geistigen. Bei Nietzsche ist diese stille Liebe in lauten und tumultarischen Liebeshaß umgebrochen. Der Geist ist noch nicht wie in der Lebensphilosophie Ludwig Klages' ein „Widersacher der Seele", aber schon ein Gegenspieler und vermeintlicher Verfälscher einer lebenstüchtigen Triebhaftigkeit. Schopenhauer wurde für den späteren Nietzsche gleichsam ein warnendes Beispiel dafür, wohin man gelangt, wenn man vom Geist her das Leben zu deuten und zu bewältigen versucht. Ruckhaft und krampfhaft brach er den geistvollen Pessimismus Schopenhauers in einen rauschhaft betäubenden Optimismus um, der im Grunde verzweifelter war als Schopenhauers Zweifel an der Sinn- und Geisterfülltheit des Lebens. Denn er versuchte die Schwächen und Schäden des Lebens nicht vom Geist her zu kontrollieren und zu regulieren, sondern vom kraftvollen, machtberauschten Trieb zu überbieten und dergestalt mit den eigenen Waffen zu bekämpfen. Er suchte den Lebenshunger zu überwinden durch den Machthunger und destruktive Instinkte irgendwie produktiv zu machen; „In der Kunst heiligt die Lüge, und hat der Wille zur Täuschung das gute Gewissen auf seiner Seite". Man vergesse nicht, daß Nietzsches Übermensch keine bloße Wertsteigerung des Durchschnittsmenschen nach der idealen Seite hin darstellt, sondern mit jenen Lastern ausgerüstet sein soll, die allein dazu befähigen, das Leben zu „überleben", mit Rücksichtslosigkeit, Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Hochmut usw. Fast scheint eingestandenes Erlesenen, zur man variieren:

es so, als ob dem Pastorensohn der Adel als unIdeal vorschwebt, die Auslese der Vornehmen und Herrschaft brutal Berechtigten. Und fast möchte wie Theodor Fontane im Adel die „letzte Poesie"

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sah, so sah Nietzsche im Adel die „letzte Philosophie" oder doch der Lebensphilosophie Weisheit letzten Schluß. Sein Übermensch vertritt nicht das Edle in höchster Humanität, sondern den Adel in seiner höchsten Brutalität. Das lebenstüchtige Tier (die „blonde Bestie") ist ihm immer noch lieber als der liebestätige Gott. Es wird besser mit dem lastervollen Leben fertig, selbst dann und eben deshalb, wenn es und weil es alles Lebendige des Geistes „fertig macht". Vereinfacht und vergröbert: Schopenhauer ist ein die Schönheit verehrender Scharfgeist, Nietzsche ein die Scharfgeistigkeit verkehrender und sie mißbrauchender Schöngeist, ein Schöngeist, der sich in der Pose des Kraftkerls gefällt. Schopenhauer gelingt bei aller individualistischen Willkür ein philosophisches System; Nietzsche gefällt sich in der Geste der Systemlosigkeit. Schopenhauer fühlt sich in der Welt und in seiner Haut nicht wohl; aber in der Philosophie ist er zuhause. Nietzsche ist überall und nicht nur in dem so benannten Gedicht seiner Frühzeit eigentlich immer „OhneHeimat" gewesen; immer steht er, wie in dem so benannten Gedicht „Vereinsamt" unter dem Motto: „Weh dem, der keine Heimat hat". Er ist vorab Kulturphilosoph; aber er glaubt nicht an die Kultur, sondern vielmehr an die geistlose, aber triebvolle Natur. Er ist vorab Psychologe; aber er glaubt nicht an die Seele, zum mindesten nicht an die „Schöne Seele", sondern vielmehr an die „böse" Seelenlosigkeit und eine „heilige" (bis heillose) Herzlosigkeit, die grausam sein darf, um groß zu bleiben, die Erstarrung duldet, um sie als Erstarkung auszugeben und lehrhaft anzustreben. Anfangs freilich hatte er, beklommen und bewundernd zugleich, Schopenhauers grausame Konsequenz als eine „entsetzliche Großartigkeit" empfunden. Entsetzlich, weil sie unentrinnbar schien, großartig, weil sie unerbittlich wahrhaftig schien. Mehr und mehr aber erschlossen sich ihm wesenhafte Wirklichkeiten, die das Entsetzliche zum Verbündeten machten, um es zu entschärfen und zu entwaffnen und so die „Großartigkeit" in Reinkultur im Reich und im Bereich einer reinen Kultur hinüberzuretten in ein Weltbild, das das Häßliche umzuformen versuchte in ein Heroisches. Aus den Leiden am Leben (Schopenhauers) suchte er sich die Lust am Leben, auch und gerade auch am leidvollen Leben zu ertrotzen. Es galt als Wertungskriterium des Persönlichkeitswertes und der Lebenskraft, „wie tief einer leiden kann" (vgl.R.M.Rilke). Die Einsamkeit und das Herzeleid sollten

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nicht nur ertragen werden, sondern emportragen helfen zu einer Bejahung auch noch des leidvollen Lebens. Unschwer ist aus solchen unüberhörbaren Klängen in der lustvollen Lebensklage der Tenor einer alten Predigergeneration und Predigertradition zu erkennen. Ebenso unüberhörbar aber ist der lebhafte und leidenschaftliche Protest gegen die Duldsamkeit eines charakterlos gewordenen „Protestantismus", der nicht mehr recht und echt zu protestieren verstand. Wieder ging es um Selbstbehauptung und Selbstbewahrung überkommenen und übermächtigen Einwirkungen gegenüber so gut wie beim vermeintlichen Sich-Freisetzen vom übermächtigen Eindruck Arthur Schopenhauers oder Richard Wagners. Nietzsche fürchtete und floh seine Vorlieben ebenso selbstkritisch und selbstquälerisch wie seine Vorurteile. Er glaubte, darin liege seine Mission, ohne zu erkennen, daß darin sein Fluch lag. Der Mut des Bekenners versagte nicht vor der Furcht, sondern vor der Ehrfurcht. Schlicht gesagt: er hatte Angst, Liebe zu haben und sich zu ihr rückhaltlos zu bekennen. Er zwang sich und brüstete sich damit, Haß zu hegen; aber er schämte sich, ganz einfach lieb zu haben. Hinzu trat seine Überschätzung dessen, was er als „vornehm" empfand oder empfahl. Die „Vornehmheit" zwang zu einer Kälte, die mehr hochmütig als hochgemut wirkt (vgl. Stefan George). Die Einsamkeit gilt als Merkmal der Überlegenheit und ist doch oft genug nur das Kennzeichen einer Überheblichkeit, die sich den sozialen Verpflichtungen enthebt und sich über sie hinwegsetzt, ohne ihnen etwas wirklich Ebenwertiges entgegen setzen zu können. Nietzsche hat immer wieder betont, wie schwer er es sich gemacht habe, indem er nicht der landläufigen Moral folgte, sondern ihr bewußt widerstrebte. Aber in soziologischem Betracht hat er es sich und seinen übermütigen Übermenschen verdächtig leicht gemacht, indem er das billig Biologische gegen das teurer zu bezahlende Soziologische ausspielte. Und wenn Lessings Nathan mahnt, wieviel leichter es sei, andächtig zu schwärmen als gut zu handeln, so hat Nietzsche mit einer schmerzlichen (bis peinlichen) Wollust demonstriert, wieviel leichter es sei, böse zu handeln als geistvoll zu denken. Nicht so ganz mit Unrecht hat man ihm eine „Romantisierung des Bösen" zum Vorwurf gemacht. Die Romantisierung zwar nicht gerade des menschlich Bösen, aber doch des menschlich Schwachen, des „Allzumenschlichen", teilt nun aber die Neuromantik mit

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ihrem großen Traditionsträger. Sie teilt auch mit ihm die Infragestellung des Moralischen, die Uberbewertung des Psychologischen, den Kultus des Ästhetischen, die Bevorzugung des Ungewöhnlichen und Ungemeinen, das Umwerben des „Aparten", den Anspruch auf das Vorrecht und den Vorrang der „Vornehmen", das Getriebensein vom Triebhaften, den Egoismus der Lebenssehnsucht, wobei Lebensweisheit und Lebenswille oft wunderlich ineinanderspielen. Nicht zuletzt aber lernen sie von ihm das Vortäuschen der Kraftgebärde bei in Wirklichkeit bestehender und oft auch enthüllter Kraftlosigkeit, die Verachtung des Durchschnittsmenschen, die Verfemung der bloßen Zweckmäßigkeit und die Mißachtung der Vorschriftsmäßigkeit, die Skepsis gegenüber einem billig-idyllisch sich anbietenden Lebensglück, die Überzeugung von einer bloßen Relativität der Wahrheit, den Zweifel am Wert der Wissenschaft, den Genußwert des Grausamen einerseits und — oft damit verbunden — des Grandiosen andererseits, um vorerst nur Einiges an Gemeinsamkeiten in Lebensgefühl und Kunstauffassung herauszugreifen. Um jedoch der Gewöhnung an die Vorstellung eines Nacheina n d e r im Ablauf der Kunstrichtungen auch in diesem Bezirk entgegenzuwirken, scheint es dienlich, einmal daran zu erinnern, daß zeitparallel mit den „Kritischen Waffengängen" der „Zarathustra" von Friedrich Nietzsche erschienen ist. Und ihm waren bereits (seit 1872) die grundlegenden Schriften Nietzsches vorausgegangen. Mit anderen Worten: b e v o r n o c h der k o n s e q u e n t e R e a l i s m u s ( N a t u r a l i s m u s ) seine F r o n t e n g e g e n ü b e r dem p o e t i schen und ideellen Realismus g e k l ä r t und g e f e s t i g t h a t t e , bevor er sein Kunstwollen voll entfalten und begründen konnte, w u r d e n w e s e n t l i c h e G r u n d s t r u k t u r e n f ü r das K u n s t w o l l e n der N e u r o m a n t i k u n d der N e u k l a s s i k h e r a u s g e b i l d e t o d e r d o c h w e i t g e h e n d v o r b e r e i t e t . Deshalb ist es ratsam, zunächst einmal die Konzeptionen Nietzsches etwas näher ins Auge zu fassen. Das wird von einem Blickwinkel aus geschehen müssen, der vor allem die Konsequenzen und Perspektiven der Kunstphilosophie innerhalb der Kulturphilosophie und Moralphilosophie in das Blickfeld der Betrachtung und Bewertung rückt. Anschließend soll Richard Dehmel mit seiner formulierten, zum Teil auch mit seiner werkimmanenten Poetik gewürdigt werden. Denn R. Dehmel bewegt sich einerseits im engen ideelichen Anschluß an Nietzsche und ist andererseits geeignet, mit seinem

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„naturalistischen Idealismus", der freilich eine Seite seines Wollens überbelichtet, den Übergang zu erleichtern. Das gilt trotz seiner demonstrativen Abwehr naturalistischer Programmthesen, und zwar besonders für gewisse Ausschnitte seiner werkimmanenten Poetik. Doch bleibt — wenn schon von zeitlichen Überschneidungen die Rede ist — zu berücksichtigen, daß R. Dehmel mit seinen Essays und vor allem mit seinem umfangreichen Briefwechsel weit über die hauptsächliche Entfaltungszeit der Neuklassik und Neuromantik hinausreicht. In seinen Briefen ζ. B. sind nicht nur Arno Holz, Detlev von Liliencron, Gustav Falke u. a. die Angesprochenen oder Besprochenen, sondern auch Paul Scheerbart, Alfred Mombert, Oskar Loerke u. a. bis hin zu Joh. Rob. Becher, Franz Werfel und Fritz von Unruh. Der lyrische Pathetiker Richard Dehmel berührt sich also zum mindesten äußerlich noch mit den Neopathetikem des Expressionismus. Umgekehrt hat Nietzsche schon im Naturalismus, zum mindesten in dessen werkimmanenter Poetik, unverkennbare Spuren hinterlassen, die schon gelegentlich im Seitenblick beobachtet werden konnten. Jene Anknüpfungsmöglichkeiten für Neuromantik und Neuklassik ergaben sich nicht von ungefähr. Uberblickt man die Gesamtentwicklung Nietzsches in der Kunstwertung und Kunstdeutung und stellt man sie in größere Zusammenhänge, so wirkt sie (so überraschend und simplifizierend das zunächst erscheinen mag) wie ein neu unternommenes Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik (vgl. Band IV), nur eben mit der zeitlichen Abfolge: Nachromantik/Nachklassik. Dieses erneute Wegsuchen zwischen N a c h r o m a n t i k und Nachklassik aber erfolgte in u n m i t t e l b a r e r Zeitnähe und zum Teil zeitparallel mit dem bereits einsetzenden Wegsuchen von Neuromantik und Neuklassik. Das Wegerproben nach rückwärts wurde so ein Wegbereiten oder doch Wegerkunden nach vorwärts. Oder genauer: das Überprüfen der Möglichkeiten, bewährte Wege auszubauen, wurde zu einem Abtasten der Gangbarkeit „neuer" Wege. Der Mittelweg des „poetischen Realismus" war Nietzsche von vornherein nicht recht gemäß. Er liebte und brauchte die Extreme, auch als Kunsttheoretiker. Und er liebte und brauchte die Antithesen: das Apollinische und Dionysische blieb nicht zufällig der dauerkräftigste Fund, den er als Kunsttheoretiker machte. Aber er machte ihn kennzeichnenderweise auf dem Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik. Er sah

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die Antike, die ihm damals („Geburt der Tragödie") schon rein beruflich am Herzen liegen mußte, mit den Augen eines Romantikers, eines Nachromantikers. Und er sah später die französische Klassik mit den Augen eines Nachklassikers oder — wenn man will — schon eines Neuklassikers, wenn auch eines Neuklassikers eigener Prägung. Die deutsche Klassik war ihm nicht einmal streng genug. Trotz aller Verbesonderung und Verwandlung und trotz des Aphoristischen und Fragmentarischen seiner Konzeptionen und Improvisationen hat er wesentlich beigetragen, den Übergang zu schaffen oder doch zu erleichtern von einem Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik zu einem Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik. Sein zeitweises Entwerten der Kunst aber (bes. in „Menschliches, Allzumenschliches", 1878) erfolgt bereits unter dem zunehmenden Druck eines Primats der „Wissenschaft" (vgl. Einleitung zu Band IV). Eben das, was zur Zeit der „Geburt der Tragödie" noch als Feind und Irrwegweiser galt (Sokrates), wird jetzt, modern abgewandelt, zum Freund und Wegweiser. Das A p o l l i n i s c h e u n d D i o n y s i s c h e stellt der frühe Nietzsche betont an den Anfang seiner umfangreichsten Darstellung kunstphilosophischer Probleme überhaupt in der Schrift über die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1872), und zwar in der hier beibehaltenen Reihenfolge. Das sei deshalb vermerkt, weil sowohl der genetischen Wesensbestimmung wie der Wertgeltung nach eigentlich das Dionysische vorangeht bzw. voransteht. Es war bereits in den früheren Teilen dieser Darstellung (bes. in Band III) hinreichend Gelegenheit, auf die Versuche einer Zweitypenbildung einzugehen unter Vorausblicken auf die Konzeption Nietzsches. Sie war seit Schillers Unterscheidung von „naiver" und „sentimentalischer" Dichtungsweise der haftkräftigste Eindruck und der triebkräftigste Ausdruck innerhalb jener reichgestuften Typenbildung. Und diese Konzeption war merklich von vornherein als Sensation gedacht und auch entsprechend aufgemacht. Der junge ehrgeizige (vor der Promotion berufene) Baseler Professor der klassischen Philologie, ein Jahr vor dem Abschluß der Schrift zum ordentlichen Professor außer der Reihe ernannt, fühlte sich gleichsam verpflichtet, auch aus der Reihe zu tanzen. Es war zwar noch nicht der Tanz des „Zarathustra"; aber es war doch schon ein Tanz, der selbst den St. Veitstanz zur Erläuterung des

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Dionysischen heranzuziehen wagte, um dessen rauschhaft-epidemischen Grundcharakter anzudeuten. Selbst berauscht vom Rhythmus R. Wagners, vergaß und verleugnete er unbedenklich den Lieblingskomponisten seiner noch jünglingshaften Frühzeit Robert Schumann und sogar den ihm blutsmäßig verwandten Polen Chopin, wie er später R. Wagners Musik preisgab um des persönlichen Freundes Peter Gast willen. Aber wie Schiller wohl das „Naive" würdigte, das „Sentimentalische" jedoch in eigener Sache wertschätzte, ganz ähnlich versuchte der frühe Nietzsche der „Geburt der Tragödie" wohl dem Apollinischen gerecht zu werden, aber doch das Anrecht des Dionysischen zunächst einmal durchzusetzen. Der Genius R. Wagners war es, der ihn zu diesem damals kühnen Unternehmen ermutigte und — wie er vorerst noch meinte — auch ermächtigte. So sehr hatte ihn dieser Genius eingefangen, daß er weder ihn ohne eine neugesehene Antike, noch die Antike ohne dieses neuerlebte Musikalisch-Rauschhafte richtig deuten zu können meinte. Und es war ihm nur recht, mit Hilfe der Wagnerschen Revolution konzeptionell und sensationell in die „klassische", und zwar auch die klassisch-philologische Tradition einzubrechen. Der Treibkeil, auf den er resolut-robust hämmerte, um das konventionell und traditionell Altklassische mürbe zu machen für ein letztlich Neuromantisches, war eben das Dionysische. Dieses D i o n y s i s c h e nämlich war das eigentlich und eigenmächtig Neue. Zwar hatte es auch Winckelmann gekannt. Aber er hatte es als ein Eintrübendes und dem antiken Kunstwollen Abträgliches bewußt unterdrückt, um der Prävalenz der griechischen „Heiterkeit" und „Ausgeglichenheit" willen. Diesen dergestalt verkümmerten Keim nahm nun Nietzsche in bevorzugte Pflege, indem er über den Stamm des Kontemplativen auf die Wurzel des Intuitiven zurückbohrte. Nicht das „Naive" nämlich war das wirklich Primitive und das letztlich Produktive, sondern das Dionysische als ein Primitiv-Produktives, als ein Urtümliches und Ur-Einiges, als ein Natur-Instinkt vor allem Kultur-Intellekt. Dieses Dionysische war Mythus in unmittelbarer Nähe zur Musik, weit entfernt von der Brechung durch den (sokratischen) Intellekt. Es war das Dämonische längst vor und weit über allem Didaktischen, das naturhaft Paradigmatische vor und über allem Pädagogischen, es war das Intuitive vor und über allem Instruktiven und Konstruktiven. Es war das Rauschhafte jenseits des Traumhaften, das Ruckhafte jenseits der besonnenen

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Ubergänge. Es war Überschwang, nicht Übergang. Es war „titanenhaft" (Ansatzstelle für das Herrische) und selbst „barbarisch", besaß jedoch die zeugende Schöpferkraft als Voraussetzung für die formende und bildende Gestaltungskraft des „Apollinischen". Es war die unförmliche Bedingung für das apollinisch Bildende der Formung. Es war die naturhafte Norm, aus der die kulturhafte Form erst werden und wachsen konnte. Es war mythologisch symbolisiert durch den Silen und durch den Satyr. Durch jenen Silen, der die bittere Wahrheit aussprach, daß das Beste sei, nicht geboren worden zu sein, das Zweitbeste aber, „bald zu sterben" (Schopenhauer). Durch jenen Satyr, aus dem die brutale Lebenswirklichkeit ausbrach, noch vor dem Verzichten sich ganz dem Zeugen hinzugeben, dergestalt daß der Wille zum Leben über die Verneinung des Lebenswillens triumphiert. Der Triumph des T r i e b h a f t e n über den Trumpf des Geistgerechten sichert die Kultur vor der Zivilisation, die Intuition vor der Konstruktion, das Produktive vor dem Konstruktiven, die Begeisterung vor dem Geist, das Dionysisch-Dämonische vor dem und über dem Dialektisch-Didaktischen. Und selbst wo das Dionysische scheinbar vernichtend in das Apollinische eingreift und einbricht, wirkt es immer zugleich befruchtend. Denn der apollinische „Traum", den Nietzsche vor allem als kontemplativ auffaßt, vermag nur schöpferisch-zeugend zu werden, wenn er den „Rausch" in sich aufnimmt, wie jener dionysische „Rausch" nur bildend-gestaltend zu werden vermag, wo er in Bildern (apollinisch) träumt. Das Moment der emotionalen Steigerung (im Dionysischen) war übrigens — das sei einmal hervorgehoben — nicht nur in der Kunst R. Wagners vorgebildet, sondern es spielte auch in der Kunsttheorie Wagners eine sehr betonte Rolle (vgl. Band IV). Die Musik war für ihn bereits besonders (und eigentlich allein) befähigt, letzte Gefühlssteigerungen zum Ausdruck zu bringen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, daß in dieser Wagnerschen Theorie ein Keim für das „ D i o n y s i s c h e " Nietzsches zu suchen ist. Das Apollinische nähert sich weitgehend dem „Naiven" Schillers, jedenfalls beträchtlich weiter, als das Dionysische dem „Sentimentalischen" zu vergleichen wäre. Aber dieses „Naive" ist keineswegs gleichzusetzen mit dem Primitiven, das weit eher im Dämonisch-Dionysischen sich äußert. Vielmehr setzt das Apollinische bereits die fördernden und fordernden Vorstufen des Dionysischen 10

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voraus. Es bedarf bereits der Besonnenheit des Besonderen. Es ist bereits umzirkt vom Kontur der Kultur und steht im Kontrast zur Konzentration der Natur und Naturkraft. In ihm wird der triebhafte Rausch zur betrachtenden Reflexion, die Intuition zur Vision, die spontanen Kunsttriebe zu späteren Kulturtrieben. Es vertritt die verklärende Überhöhung des Lebens wie das Dionysische die triebhaft-trübe, aber mächtige Steigerung des Lebens. Es ist unentbehrlich, wo Natur zur Kultur, wo Lebenstrieb zum Kunstgebilde werden will. Es manifestiert sich innerhalb der verschiedenen Künste vor allem in der bildenden Kunst und innerhalb der verschiedenen Dichtungsgattungen vor allem im Epos. Aber auch das Drama, zum mindesten in der Höhenform der Tragödie bedarf seiner. Denn überall gewinnt die Gewalt des Dionysischen zuletzt doch nur Gestalt (und Halt) im Apollinischen. Es befestigt gleichsam das, was beim Dionysischen in berauscht „schwankender Erscheinung schwebt", begrenzend und beruhigend mit „dauernden Gedanken". Denn es ist Nietzsches Zugeständnis an die dauernde Idee des Absoluten innerhalb der klassisch-idealistischen Ästhetik. Es symbolisiert und demonstriert das Olympische gegenüber dem „Orphischen", die Distanz gegenüber der andrängenden Dynamik, das Rührende gegenüber dem Rastlosen, das Gebildete gegenüber dem chaotisch Gärenden, das Bewußte gegenüber dem Unbewußten, kurz das Konstruktive gegenüber dem Intuitiven, die Konstruktion gegenüber der Intuition. Entwicklungsgeschichtlich gesehen und gewertet, nimmt das Apollinische mehr die Tradition auf, während das Dionysische mehr die Revolution oder doch die Rebellion in Angriff nimmt. Es ist nun aber unverkennbar, daß auch der frühe Nietzsche Vorsorge trägt, das Dionysische und das Apollinische miteinander zu versöhnen. Von vornherein spricht er von einer „ D u p l i z i t ä t des A p o l l i n i s c h e n u n d des D i o n y s i s c h e n " . Und er opfert selbst die Attraktion der Sensation, verzichtet wenigstens zum Teil auf das Grandiose des Gegensatzes, um das Ineinander zur Geltung zu bringen neben dem Gegeneinander. Das Brutale des „Rausches" bedarf immer des Bildenden des „Traumes", um Kunst zu werden. Schon der Umstand, daß er einerseits vom „Rausch" ausgeht, andererseits auf den „Traum" zugeht, verrät jenen Willen zur endlichen Versöhnung im vollendeten Kunstwillen und Kunstwerk. Denn an sich ist es nicht ohne weiteres einleuchtend, warum

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„Rausch" und „Traum" so weit voneinander getrennt werden. Vielmehr wird der kritische Blick darin eine Schein-Antithese erkennen, die eben nur eine schonende Synthese vorbereiten soll. „Verzückt und erhoben" ist schließlich der Mensch nicht nur und nicht erst im „Traum", sondern auch schon im „Rausch". Und „Bilder" sieht er dort wie hier. Aber irgendwie muß Nietzsche von der Musik, die unter dem übermächtigen Einfluß R. Wagners vorherrscht, Anschluß gewinnen an die bildende Kunst. Denn so weit er auch immer das Drama vom Epos abrücken mag (unter dem Eindruck von R. Wagners Polemik gegen den angeblichen Ursprung der Dramatik aus der Epik, vgl. Band IV), er muß doch gleichzeitig dem Epos den Vorrang im Apollinisch-Kontemplativen zuerkennen. Schon in der Frühfassung sucht Nietzsche dem Dionysischen eine Überfülle an zeugender Lebenskraft zu sichern. Das verstärkt sich später in der „Götzendämmerung", wo es von dem „Phänomen" des Dionysischen heißt, daß es allein erklärbar sei „aus einem Zuviel von Kraft". In ähnlicher Weise jedoch krankt das Apollinische an einem Zuviel an Besonnenheit. Erst die Verbindung beider verbürgt ein ästhetisch Ganzes. Der dionysische Vitalismus bedarf des apollinischen Symbolismus. Die gesetzlose Freiheit des Dionysischen wird nur kunstträchtig mit Hilfe der apollinischen „Freiheit unter dem Gesetz", wie in jenen Aphorismen betont wird, die man sich, geleitet oder irregeleitet durch Elisabeth Förster-Nietzsche, gewöhnt hat, unter dem Titelwort „Der Wille zur Macht" zusammenzufassen. Im Grunde aber kündigt sich schon mit der „Geburt der Tragödie" an, was vom späten Nietzsche einmal so formuliert wurde: „Schön ist, was lebenerhöhend ist". Auf die mannigfachen Ideenkeime dieser größeren Erstlingsschrift sei mit Nachdruck hingewiesen. Denn so fern sonst immer Nietzsche einem Herder stehen mag, das eine zum mindesten hat er neben dem kulturgeschichtlichen Interesse mit ihm gemeinsam: den Reichtum wiederkehrender Ideen in fast allen Schriften. Dagegen kann ein Eingehen auf philologische Einwände und damit verbundene Polemiken (etwa zwischen dem damals noch blutjungen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Nietzsches Freund Erwin Rohde) in diesem Zusammenhang zurückgestellt werden. Das Nachlaß-Fragment (in aphoristischer, stichworthafter Form) über „Homers Wettkampf" (entstanden 1872) äußert sich mehrfach über den Dichter im engeren Sinne. Dort gilt der Dichter 50*

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„als Lehrer des Wahren" und, im Verfolgen des Gedankens von einer Herausbildung des Genius (als Endziel des „dionysischen" bzw. „hellenischen Willens") als „höchster Mensch", als der er bei den Wettkämpfen beurteilt wird. Eine Anknüpfungsstelle für die Neuromantik würde die Definition bieten: „Das Dichten selbst (ist) nur eine Reizung und Leitung der Phantasie". Auf der anderen Seite verrät sich ein gewisses Anknüpfungsbemühen an die moderne Naturwissenschaft in Wendungen wie etwa: „Ästhetik hat nur Sinn als Naturwissenschaft: wie das Apollinische und das Dionysische" (Kunsttrieb als Naturtrieb) oder: „Der Dichter überwindet den Kampf ums Dasein (Darwin), indem er ihn zu einem freien Wettkampf idealisiert". Eine beherrschende Vorstellung, die merklich das Kulturphilosophische mit dem Naturphilosophischen verbinden und zusammenbringen bzw. zusammenzwingen möchte, tritt zutage in dem Begriff der „ D i f f e r e n z i e r u n g " , g e n a u e r des „ D i f f e r e n z i e r e n s " als organischer Progression mit Entwicklungstendenz, wobei das Entfalten und Auseinanderfalten ineinanderspielen. So ist vom „differenzierenden apollinischen Trieb" die Rede als der kulturhaften Verfeinerung des naturhaften dionysischen Urtriebs, der mehr komplex gesehen wird. Und der Ursprung der Sprache wird geradezu ein ästhetisches Phänomen als Differenzierungsvorgang aus dem zunehmenden Bedürfnis des Differenzierens. Das Naturgesetz führt zur Kultursetzung auch in diesem sprachüchen Bereich: „Der Dichter g e h t v o r a n , er erfindet die Sprache, differenziert". Der junge Nietzsche meint damit keineswegs nur die dichterische Sprache als künstlerisches Ausdrucksmittel, sondern die Sprache überhaupt. Aber es leuchtet ein, daß diese kühne Konzeption vom eigenen latenten Spracherleben dichterischer Prägung entscheidend bestimmt wurde. Zugleich ist jedoch zu berücksichtigen, daß bereits der frühe Nietzsche den „Menschen" schlechtweg zum „Künstler" macht, zum mindesten soweit im Differenzierungsbedürfnis, aber auch im Differenzierungsvermögen (das ihn vom Tier abhebt) ein „Kunsttrieb" wirksam ist. So will das Stichwort verstanden werden: „Der Dichter (ist) nur möglich unter einem Publikum von Dichtern". Überaus kennzeichnend für das fortgesetzte Transponieren von Gegenwarts- oder richtiger Zukunftsidealen in das Wunschbild eines (insofern) idealen, frühen Griechentums erscheint der Umstand, daß Nietzsche hinter jene Bemerkung über das Verhältnis Dichter/Publikum die vielsagende

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Klammer setzt „(Wirkung der Nibelungen Wagners)". An solchen Stellen wird jene erwähnte Akzentverschiebung unmittelbar vorbereitet und besonders greifbar. Der Selbstgenuß des Dichters und der Kunstgenuß des Aufnehmenden, ja selbst die hochwertige Kunstkritik gehen aus derselben Quelle hervor und fließen untrennbar zusammen: „Also Dichter und Kritiker ein unsinniger Gegensatz" (Abhebung von Lessing). Denn, wie schon die „Geburt der Tragödie" forderte, nicht mehr der gelehrt definierende und moralisch reagierende „Kritiker" ist maßgebend, sondern der „ästhetische Zuhörer". Produktion des Kunstwertschaffenden und Rezeption des Kunstwertaufnehmenden stehen dergestalt in ständiger Wechselwirkung. Der Dichter hat gleichsam nur dort den Mut und die Macht zur Produktion, wo er im Kunstwertaufnehmenden auf die adäquate Möglichkeit einer entsprechenden Rezeption trifft. Er ist auf die Begegnung angewiesen, damit aus der Befruchtung die Frucht wächst. Denn das Publikum ist schon da, bevor noch das Produkt da ist, und nur ein „gewaltiger Kunstzauber" vermag es aus seiner Erwartung emporzuführen zur Andacht und Ehrfurcht, vermag aus einem bloßen „Kultus der Tendenz" einen Kult der Kunst zu erlösen, indem die „eigentlichen Kunstabsichten" (Kunstwollen) sich durchzusetzen wissen. Das Problem des „Bildenden" der Kunst hat immer wieder die Probe der „Bildung" der Kultur zu bestehen. Und das Künstlertum orientiert sich vorerst noch am Deutschtum, wie sich das nationale Wiedererstarken aufrichtet an einem „Wiederbringen aller deutschen Dinge" als rational-nationalem Vorspiel zur „ewigen Wiederkunft" als dem irrational-universalen Nachspiel. Der Mythos jedoch bleibt vorerst gebunden an die Musik, wie das Tragische sich entbindet bei einer Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, und zwar der „dionysischen Musik". Denn allenthalben verharrt die „Geburt der Tragödie" bei der Einheit von Musik und Mythos, die schon bei R. Wagner, und zwar a u c h in d e s s e n T h e o r i e (vgl. Band IV) beobachtet werden konnte. Nietzsche greift das auf und verdichtet es zu Prägungen wie etwa: „Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und voneinander untrennbar". Das sind also die Restbestände der jungromantischen Vorstellung von der dichtenden „Volksseele". Nicht das Apollinische kommt ihr zu, weil seine vergeistigende Distanz einen „Volksgeist voraussetzt, der indessen keineswegs zugleich oder gar

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notwendig mit der gemütvollen „Volksseele" gegeben ist und ebensowenig von Nietzsche zugegeben wird. Denn das Gemütvolle verbürgt längst noch nicht das Geistvolle (vorweggenommene Abhebung von der Heimatkunst), wie andererseits das Geistvolle noch nicht das Kunstvolle veranlaßt und veranstaltet im Sinne einer verläßlichen Kunstgestaltung. Vielmehr muß die dionysische Grund- und Untergrundkraft, die an sich beim Zustandekommen des Kunstwerks unentbehrliche Voraussetzung bleibt, stets aufs neue „überwunden" werden von der gestaltgebenden, betrachtendbildenden „apollinischen Verklärungskraft", durch die sie und in der sie als ausgleichende Vollendung „aufgehoben" ist. In allen diesen Fragen und Antworten reicht die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" wesentlich weiter als jenes Fragment über „Homers Wettkampf". Aber spezifische Formulierungen über Dichter und Dichtkunst begegnen in diesem sehr kurzen Fragment relativ weit häufiger als in jenen sehr langen Ausführungen, die mehr über Kultur und Kunst als über Dichtung und Dichter aussagen. Eben deshalb mußte selbst in einer vereinfachenden und also auch vergröbernden Gesamt-Darstellung die Aufmerksamkeit auf diese Nachlaß-Notizen gelenkt werden. Sie verraten, daß Nietzsche sehr oft an den Dichter dachte, wo er vom „Künstler" sprach. D a s R o m a n t i s c h e u n d K l a s s i s c h e : Im größeren Zusammenhang gesehen, deutet das Dionysische mehr auf das Romantische (ohne sich mit ihm zu decken), das Apollinische mehr auf das Klassische. Gesucht wird ein Zusammenspiel oder doch ein Wechselspiel unter vorläufiger Bevorzugung des Romantischen. Das Klassische wurde verstärkt durch Schopenhauer, das Romantische durch R. Wagner, soweit die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" in Betracht kommt. Die Vorstellung vom Künstlertum trägt romantische Züge. Das enge Verschmelzen von Poesie und Musik wirkt (auch jenseits Wagners) romantisch; ebenso die Hauptfaktoren der Grundkonzeption vom „Volkslied", überhaupt der ganze Seitenblick vom Chor der Antike auf das Volkslied. Die Sicht des Dramatischen vom Lyrischen her wirkt (auch jenseits Wagners) romantisch. Ja, die ganze Sehweise der Antike erfolgt aus einem „romantischen" Blickwinkel. Es darf in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß in der sehr frühen Darstellung über „Homer und die klassische Philologie" (Antrittsrede zu Basel, 1869) die Homerfrage (Einzeldichter oder Kollektivleistung) in Verbindung gebracht wird mit der „wunderbaren Fähigkeit der

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Volksseele" (vgl. J. Grimm, Band III) unter Rückgriff auf die Hypothese von Friedrich August Wolf. Auch die „Geburt der Tragödie" greift mehrfach den romantischen Terminus „Volksseele" auf. Aber an dieser Stelle geht Nietzsche in beiden Fällen zur Kritik über. Es ist von der Gefahr die Rede, die „dichtende Volksseele" in eine „dichtende Volksmasse" umzudeuten und den an sich schon „unklar gefaßten Begriff der Volksseele zu dem des Volksgeistes" willkürlich-unwillkürlich (u. unstatthaft) zu „erweitern". Wenn der frühe Nietzsche bei dieser Gelegenheit mit satirischer Bitterkeit davon spricht, daß man mit jener Sanktionierung des schöpferischen Volksgeistes gleichsam der „so unschönen und unphilosophischen Masse" den „Kranz des Genies auf das kahle Haupt setzte", so wird damit fraglos eine deutliche Einschränkung der romantischen Vorstellung (bes. J. Grimms) von der spontan dichtenden „Volksseeele" vollzogen. Offenbar hält schon damals Nietzsche nicht viel von der Theorie der „dichtenden Volksseele". In der früheren Tragödien-Abhandlung als der ersten (u. eigentlich auch letzten) umfangreicheren, geschlossenen kunsttheoretischen Bekundung Nietzsches ist das nicht viel anders, wenn es ihm auch darauf ankommt, die lyrische Tragschicht der Tragödie entsprechend zu heben. Nietzsche kann hier das „Volk" besser gebrauchen als Träger dionysischer Rauschzustände epidemischen Charakters; aber der Glaube an eine schöpferische „Volksseele" bleibt letztlich wiederum ein schöner Aberglaube. Es ist verlockend, diese Abwendung von der jüngeren Romantik als ein erstes Protestieren gegen den kulturlosen Kultus des hoffnungslosen „Herdenmenschen" zu registrieren. Und etwas von einem ersten Aufbegehren mag in der Tat dahinterstehen. Aber näher liegt es, vorerst den Geniekultus Schopenhauers (u. das künstlerische Modell R. Wagners) für diese (zudem recht gewundene) Abwendung vom romantischen Wege verantwortlich zu machen. Auch darf, nur um eine Scheinoriginalität Nietzsches imposant herauszustellen, nicht übersehen werden, daß schon L.Uhland, M. Carrtere u. a. kritische Bedenken gegen die phantastische „Philologie" J. Grimms geltend gemacht hatten. Fr. Th. Vischer freilich hatte sich im romantischen Bezirk, der ihm weniger gemäß war als der klassische, noch mit den alten Theoremen beholfen, um sich einigermaßen geschickt aus der Affäre zu ziehen. Nietzsche jedoch wollte nichts weniger als sich wendig aus der Affäre ziehen.

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Er provozierte im Gegenteil die kunstphilosophischen und kulturphilosophischen, die ästhetischen und ethischen Affären, um aus der Affäre den Affront zu gewinnen. Es ging ihm oft mehr um das Herausfordern als um das Fordern, mehr um das Umwerten als um das Bewerten. Und nicht zuletzt darin dürfte die Anziehungskraft Schopenhauers und Wagners als ein Wesens- und Wahlverwandtes begründet liegen. Ruhe galt als Rückschritt, nicht als Bedingung für organisches Wachstum. Unruhe-Stiften galt als Zukunft-Stiften und selbst als Religion-Stiften. Nicht zuletzt deshalb besaß R. Wagners „Kunstwerk der Zukunft" eine so starke Bannkraft, während sein „Gesamtkunstwerk" der romantischen Grenzauflösung der Künste und Gattungen entgegenkam. So konnte es (wie schon bei Wagner selbst, vgl. Band IV) nicht ausbleiben, daß sich das Romantisierende mit dem Revolutionären oder doch Revoltierenden und Rebellierenden eigenartig und eigenwillig verband oder mit ihm mannigfach überkreuzte und überschnitt. Nietzsche empfand diese oft aufregende Überschneidung offenbar als besonders anregend, indem er das Aufreizende zum Reizvollen aktivierte und so produktiv machte. Destruktive Kritik und produktive Kritik spielen fortgesetzt ineinander über. Und die progressive Universalpoesie (vgl. Band III) wurde unversehens zu einer produktiven Universalphilosophie, wobei das Produzieren mit (notgedrungener) Vorliebe aus dem Protestieren entwickelt wurde. Als Friedrich Nietzsche nicht mehr klassischer Philologe war, da wurde er „klassischer" Kunstphilosoph und Kunsttheoretiker. Aus latenter Opposition gegen die klassische Philologie war er damals Romantiker gewesen. Aus offener Opposition gegen die Romantik R. Wagners wurde er nun ein fanatischer Anhänger des Klassischen. Ein dergestalt eifernder Anhänger, daß ihm die deutsche Klassik kein Genüge mehr tun konnte, sondern nur noch die französische Klassik notdürftig ausreichte, um sich im neuen Extrem exemplarisch exemplifizieren zu können. Denn nun galt es, an R. Wagners Musik-Romantik ein klassisches Exempel — mit Hilfe der französischen Klassik — zu statuieren. Und während in der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" der Einbruch des sokratischen Rationalismus und intellektuellen Optimismus gar nicht hoch genug angekreidet und gar nicht tief genug bedauert werden konnte, galt nun die distanzierende Besonnenheit (in weitester Beziehungsferne vom „Dionysischen") als allein noch menschenwürdig und daher auch kunstwertig. Auch die „Bild-

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funken", die einst aus dem dionysischen „Rausch" des Musikalischen (als dem Ur-Musischen) sporadisch (und dann im plastischen Bilden sich verbindend) „abgespritzt waren", konnten nun nicht mehr ausreichen, um den Übergang vom dionysischen Rausch zum apollinischen Traum zu verbürgen. Vielmehr wurde jetzt aus den „Bildfunken" romantischer Art ein funkelndes Bild des ewig Bildenden, das die Phantastik zurückzwang in die Plastik. Das interesselose Wohlgefallen der (Riedel-) Kant'schen Ästhetik, einmal im Vergleichsbild vom „vollen, interesselosen Sonnenauge der Kunst" sich spiegelnd, in der „Geburt der Tragödie" umschrieben als ein reines („willenloses Erkennen", arbeitet sich nun vollends zutage als Vorbedingung jeder künstlerischen Vollendung. Die „Wissenschaft" fordert auch das Wissen um die Kunstwirkung. Die Schöpfungspoetik wird abgelöst nicht nur von der Wirkungspoetik, sondern auch von der klassischen Bildungs- und Gestaltungspoetik. Die „formale Bildung" zeitigt nun die Bildung durch die Form. Und Friedrich Nietzsche beschreitet den „Weg zur Form" etwa um zwei Jahrzehnte vor Paul Ernst. Sein Radikalismus fragt deshalb lieber sogleich bei der französischen Klassik an, indem seine Konsequenz über den (vermeintlichen) Kompromiß der deutschen Klassik mehr oder minder verachtend und verurteilend hinwegschreiten zu können und zu sollen glaubte. Voraussetzung dafür ist die resolute Schwenkung von der romantischen Musik zur klassischen Plastik. Hatte einst der Einbruch des kontemplativ Betrachtenden oder genauer: des Somatischen in das konvulsivisch Triebhafte als ein Verhängnis für die Kunst gegolten, so jetzt der formfeindliche Shakespeare-Kultus. Vielmehr: „der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten", gilt jetzt als „wichtige Schule" für die Heranbildung echter und edler Bühnenkunst. Die schroffe Trennung von Drama und Epos („Geburt der Tragödie") wird aufgehoben, weil angeblich das Wort Drama nicht von „Handlung" abzuleiten sei, sondern im Dorischen nur soviel wie „Ereignis" bedeute und also an das Epische näher heranrückt. In den Dramen der Antike spiele denn auch das handlungsmäßige Geschehen keine wesentliche Rolle. War einst das Drama der Lyrik angenähert (und damit ging Nietzsche den Weg, den Wagner zu erproben versäumt hatte), so jetzt der Epik. Die Nähe von Epik und Plastik aber hatte schon die „Geburt der Tragödie" zum mindesten andeutend vorgezeichnet.

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Kurz, Nietzsche räumt in dieser m i t t l e r e n P e r i o d e seiner Kunstphilosophie den Vorrang dem Apollinischen ein unter weitgehender Zurückdrängung und Entwertung des Dionysischen. Dem entspricht es, wenn nun dem Drama die tiefere Rangstufe im Verhältnis zum Epos zugewiesen wird. Verstärkt wurde diese Mißachtung des Dramas durch den Mißkredit des Theaters als einer spezifisch demokratischen Einrichtung, die den armseligen Instinkten der Herdenmenschen entgegenkam. Klar wird nun vollends, warum das heroische Drama der französischen Klassik so hoch kursieren konnte. Dort hob sich der heldische Übermensch vom heillosen (bis hoffnungslosen) Herdenmenschen in gebührender Weise und Würde ab. Und wo blieb die romantische „Volksseele" angesichts der klassischen Heldenseele ? Sogar die „schöne Seele" wurde nun geduldet, soweit sie zugleich eine „große Seele" war. Das hätte zwar Friedrich Nietzsche schon von Martin Wieland lernen können. Aber ihm kam das alles unendlich neu und kühn vor. Es enthüllt aber ruckhaft wie ein jäher Maskenabriß den b e t r ä c h t l i c h e n A n t e i l v o n N e u - A u f k l ä r u n g , der sowohl hinter seiner Nachoder Neuromantik wie hinter seiner Nach- oder Neuklassik immer wieder sichtbar wird. Der Aufbegehrer endet vielfach ganz einfach beim Neuaufklärer, so einmalig und neuwertig, umstürzend und umwertend er sich selber und den Jüngern seiner Kunstreligion und Religionskunst auch immer vorkommen mochte. Die weitestgehenden Annäherungen an Formideale der deutschen Klassik werden wohl zur Zeit von „Menschliches-Allzumenschliches" (1878) erreicht. Damit die Kunst ein würdiges Bündnis mit der Wissenschaft, der hier der Wertvorrang zufällt, eingehen kann („das Wissen und die Kunst zu einer neuen Einheit zusammengeflossen"), muß notgedrungen die einstige Überbewertung des dumpf Unbewußten, vorrational Triebhaften (Dionysischen) aufgehoben werden. Der Geist ist nicht mehr Widersacher der Seele, der Intellekt nicht mehr Feind des Instinkts, sondern gewissenhaft wissender Sachwalter auch des Seelischen. Die dämonisch-dynamische „Ungeduld", das regellos Unrastvolle und Unausgeglichene hat einer „Darstellung des Gleichbleibenden, in sich Ruhenden, Hohen, Einfachen" zu weichen. Jetzt wird neben Racine auch Goethe genannt, um die höchste, die „letzte Aufgabe des Künstlers" würdig-wirksam zu umschreiben. Dieser höchsten Aufgabe vermag eine „ungebändigte, chaotische Seele" nicht gerecht zu werden. Die Prägung vom „In-Sich-Ruhenden" nähert sich spürbar

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dem „In-Sich-Vollendeten" der Klassik (vgl. Band III). Der echte Künstler der Zukunft hat auch unter ungünstigen Bedingungen der Moderne die Stellen auszuspähen und „auszuwittern" und die Fälle aufzufinden, „wo die schöne große Seele noch möglich ist". Zugleich aber verbindet sich schon hier das Kunstwollen und der Schönheitswille mit dem Zukunftswillen einer gesteigerten Kultur. Denn die „Vorbildlichkeit" weist über die bloße Genugtuung an „harmonischen, ebenmäßigen Zuständen" hinaus als Anregung und Wegweisung zum Mitschaffen einer schönen Zukunft („die Zukunft schaffen hilft"). Dagegen lehnt Nietzsche die politische Tendenzdichtung ab. Er möchte bei seinem Entwurf eines künstlerischen Ideals in Eintracht mit dem wissenschaftlichen Ideal nicht dahin mißverstanden werden, „als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte". Es kommt nicht auf die zu erwerbende Möglichkeit, sondern auf das „eingeborene Maß" an, und zwar auch in Haltung und Verhalten der dichterischen Gestalten. Vernimmt man damals aus Nietzsches Mund die Forderung, daß bei alledem kein „künstliches" Abrücken von der Wirklichkeit, keine Abwehr oder „Entziehung" der Realitäts-Anteile erfolgen dürfe, so möchte man fast versucht sein, daran ein etwas enttäuscht-ermüdetes Einlenken in den zeitgemäßen poetischen oder genauer (und angesichts der Hervorkehrung des Geistigen) in den ideellen Realismus abzulesen (vgl. Band IV). Indessen könnte davon nur recht bedingt die Rede sein, weil nicht zu vergessen ist, daß auch die schöne Gegenständlichkeit der Klassik die Nähe des Wirklichen nicht verschmähte. Immerhin meint hier Nietzsche offensichtlich ein „Wirkliches", das nicht so ohne weiteres in ein „Schönes" sich einfügen und emporheben läßt. So gesehen, wäre gleichsam dem Manne der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" das Menschlich-Allzumenschliche widerfahren, daß er nach der Wagner-Enttäuschung zum mindesten in Kunstfragen dem Zeitgemäßen sich angepaßt hätte. Aber diese weitreichende Frage kann hier wohl aufgeworfen, nicht aber im Nebenbei beantwortet werden. Auf der Wegsuche zwischen Nachromantik und Nachklassik jedoch ist der vermeintlich so eigen wegige und eigenwillige Nietzsche zum mindesten zeitweise anzutreffen (x. u. 2. Periode). Jene Ausblicke dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß Nietzsche damals (bes. 1876—78) die Problematik, die F r a g w ü r d i g -

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keit des K ü n s t l e r s , ja die Problematik des ästhetischen Menschen schlechtweg in grelle kritische Beleuchtung rückte. Geradezu wie ein verlogener Verbrecher hockte nun der einst so gepriesene, von milder Gnadensonne umflossene Künstler in der Untersuchungszelle vor der unbarmherzig forschenden Lichtquelle der „strengen Wissenschaft". Das Schreck- und Abschreckbild des „Bildungsphilisters" mit seiner kompromißfrbhen und profitgierigen „Gebildetheit", die keine wahre Bildung war (aus den „Unzeitgemäßen Betrachtungen") wurde, wenn möglich, noch überboten vom schonungslos enthüllten Jammerbild des Künstlers. Die einst verherrlichten Dionysiker (Dionysier) sind jetzt bloße „schwärmerische Trunkenbolde". Ihre Intuition und Inspiration ist Betrug, im besten Falle Selbstbetrug, vielfach aber bewußte Täuschung, um die eigene, eitle Geltung in den staunenden Augen des Bildungsphilisters zu erhöhen. Ihnen fehlt der Ernst des Lebens. Sie sind weitgehend infantil und bleiben auf der Entwicklungsfrühstufe des kindlichen Spiels stehen. Vision und Improvisation stehen tief im Kurs der Werte. Sie sind Unwerte der geistig Unmündigen und ethisch Unwürdigen. Die Überfälle aus der Uberfülle sind in Wirklichkeit kein jäher Erguß, sondern ein folgerichtiges Überfließen von vor längerer Zeit (durch irgendwelche Hemmkräfte) angesammelten und aufgestauten „Produktionskräften". Am Maßstab des (wissenschaftlichen) Wahrheitsstrebens schrumpft die aufgeblähte Größe kläglich zusammen und wird zur Blöße. Am ernsten Pflichtmenschen tüchtiger Tätigkeit gemessen, wirkt der Künstler vollends als anspruchsvoller Phantast. DerWissenschaftler steht in diesem Schwarz-Weiß-Bild dem Künstler gegenüber nicht nur wie Antonio dem Tasso, sondern einem Zerrbild des Tasso. Auf diese neue Position (aus Opposition gegen die früher gewonnene) einzugehen, besteht Anlaß nicht zuletzt deshalb, weil in diesem schrillen Widerrufen und anprangernden Verrufen des Dämonisch-Orphischen, Unbewußt-Spontanen, Urtümlich-Urtriebhaften („Geburt der Tragödie") wesentliche Wurzeln liegen für die parallel gerichteten Angriffe späterer Dichter und Schriftsteller bis hin zu Thomas Mann und Gottfried Benn oder Bertolt Brecht. Die Kampfansage der Ratio gegen den Irrationalismus dunkel zeugender Urgewalten erfolgte durch den Nietzsche jener Jahre besonders repräsentativ und demonstrativ, obwohl sie im Widerstreit der Klassik gegen die Geniezeit (Sturm und Drang) oder des späten Goethe gegen die Romantik wie in der Philosophie

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durch Hegels Polemik gegen die Romantik bereits deutlich genug vorgebildet worden war. Das Junge Deutschland hatte den entsprechenden Gegenstoß gegen die Romantik nicht wie Nietzsche von der Wissenschaft, sondern von der Politik aus unternommen. Man sollte also nicht, wie es ζ. T. von der Sonderforschung geschehen ist, Nietzsche, und zwar auch nicht den damaligen Nietzsche zu nahe an das Junge Deutschland heranrücken. Dann würde er zudem in die Nähe Wagners (zum mindesten des frühen Wagner) geraten, von dem er sich doch gerade freikämpfen wollte. Man müßte sonst schon annehmen, daß er dabei den früheren Wagner gegen den späteren Wagner bewußt oder unbewußt ausgespielt habe. Aber die erwähnte eindeutige Abwehr von politischen Tendenzen in der Kunst spricht dagegen. Das G e n i a l i s c h e u n d H e r o i s c h e : Nietzsche konfrontiert aber nicht nur den Künstler und den Wissenschaftler, sondern auch, und zwar in zunehmendem Grade den Künstler und den Helden, den ästhetischen Menschen und den heroischen Menschen. Dabei schneidet der Künstler nicht so schlecht ab wie gegenüber dem Repräsentanten der Wissenschaft. Trotzdem wirkt aus jener Degradierung und Desillusionierung ein nicht zu unterschätzender Anteil von wachsamem Mißtrauen nach bis hin zum „Zarathustra" (1882—84/5) und darüber hinaus (größere Aphorismengruppe, die Elisabeth Förster-Nietzsche wohl etwas eigenmächtig zu dem sogenannten „Willen zur Macht" zusammengefaßt hat). Es erhob sich jedoch unüberhörbar die Frage, ob denn nun der Künstler, im Sonderfalle der Dichter, dem von der Kulturpädagogik und Kultursoziologie bzw. Kulturbiologie zu erstrebenden „Übermenschen" zuzuordnen sei. Nietzsche hat diese Frage keineswegs zuversichtlich bejaht. Schon deshalb nicht, weil er bei der Auslese der Auserlesenen nicht vorsichtig und kritisch genug verfahren zu können glaubte. Und auch deshalb nicht, weil er vorab Moralphilosoph war oder (richtiger) zu sein meinte und nicht Kunstphilosoph; und weil er selbst alsDichter des „Zarathustra" durchaus nicht als „Dichter" und Künstler, sondern als Philosoph, als Kulturerneuerer, um nicht zu sagen als Religionsstifter gelten wollte. Und je mehr das Dichtertum in ihm den Denker zu übermannen drohte, desto krampfhafter suchte er sich seiner zu ermannen, desto deutlicher unterstrich er die Distanz zum Denkertum, obwohl längst das Künstlerische die höchste Instanz war, zu der seine beschwörende Stimme drang.

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Er suchte und fand nicht wie H. v. Kleist neben der „Kritik der reinen Vernunft" eine Kritik des reinen Gefühls. Er war erkenntnistheoretisch letztlich ebensowenig interessiert wie Kleist. Aber er überwand nicht (wie Kleist es tat) die Aufklärung in sich und den Drang nach einer Erziehung des Menschengeschlechts (Lessing). Er hatte sich auch den Ausweg verbaut, das Heroische etwa im Nationalgefühl (Kleist) ausruhen und gipfeln zu lassen, weil er sich als „Europäer" jenseits der Nation fühlte. Die religiöse Auffangsstellung fiel vollends fort durch die Vergottung des großen Menschen. Bis zum „Antichrist" flüchtete er vor dieser großen Zuflucht der Romantik. Und doch geriet er gleichsam am grotesken Höhengrad seines „aufklärenden" Weges am gefürchteten tiefgründigen Abgrund der Romantik gleichsam zwangs-„läufig" hinein in die romantische Vorstellung der ewigen „Progression" (vgl. Band III). Nur eben, daß er dieser letztlich religiösen romantischen Progression den zeitgemäßen Mantel der letztlich darwinistischen Evolution und Selektion (Züchtung des Übermenschen) überwarf. Was ihm blieb, war dergestalt nur ein Genialisches schlechtweg und ein Heroisches schlechtweg. Das aber lebte bereits längst als fernes Wunschziel, teilweise auch schon zum Greifen nah in fast allen seinen Schriften. Das Genialische schwebte ihm schon vor, als er, ja bevor er auf Schopenhauer und Wagner stieß. Es feiert seinen ersten großen Triumph in der „Gehurt der Tragödie aus dem Geiste der Musik". Dann unternimmt er einen „heroischen" Gewaltstreich, um sich seiner zu erwehren (bes. „Menschliches, Allzumenschliches"). Doch nimmt hier der Gegenspieler des Künstlers (der Wissenschaftler) unversehens und unwillkürlich künstlerische Züge an, so besorgt und bemüht der damalige Nietzsche (der mittleren Periode) auch immer sein mochte, das Odium des Genialischen vom echten Mann der Wissenschaft femzuhalten. Er vermochte es zu entschärfen durch den Hinweis auf das arbeitsam Handwerkliche auch im echten Dichter und Künstler, dessen auswählender, besonnen anordnender Aufbauwille und dessen bewußt sichtende Auswahl und Auslese höher gestellt werden als der vermeintlich instinktsichere Zugriff rauschhafter Spontaneität. Aber merklich schmerzt es ihn, daß die Kunst sich mit einer, wenngleich klassisch verklärten Abendröte zufrieden geben muß. Es herrscht hier spürbar die Stimmung einer „Endschaft der Kunstperiode" (Heine), da kaum mehr als Epigonentum in der

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Gegenwart möglich sei. Schon auf dieser Stufe muß von der Aufklärung (Anpreisen Voltaires) einiges tröstliche Licht geborgt werden. Auch ist zu bemerken, daß die Aphorismenform, die Nietzsche damals erst in meisterhafte und musterhafte Pflege nimmt, von dem deutschen Aufklärer Lichtenberg und von den französischen Aufklärern Montaigne, Fontenelle, Chamfort u. a. mindestens ebenso vieles gelernt haben dürfte wie von Heinrich Heine, in dem überdies gleichfalls ein gut Stück Aufklärertum steckte (von der Emerson-Theorie einmal ganz abgesehen). Dann geht nicht nur für das Ethische, sondern auch das Ästhetische die Sonne neu auf in der „Morgenröte". Denn diese kritischen „Gedanken über die moralischen Vorurteile", die letztlich Sitte durch Sittlichkeit ersetzen wollen, gönnen wieder dem „Schönen" etwas von dem Raum, der dem nur sittegemäß „ G u t e n " entzogen wird. Das Geniale drückt daher merklich die bloße (vorschriftsmäßige) Gesinnung zurück, die sich gleichsam erst vor dem Schönen auszuweisen und zu rechtfertigen hat (Schiller: „ W a s schöne Seelen schön empfunden, muß . . . " ) . Zum mindesten Ansätze in dieser Richtung sind unverkennbar. Sie kann im einzelnen hier nicht weiter verfolgt werden. Aber trotz aller bei Nietzsches ruckhaften Schwankungen unvermeidbaren, ja aufgesuchten Umkehrangen und Umbrüchen besteht eine teils latente, teils offen zutagetretende Kontinuität in der Wertung des Genialischen, weil die Liebe und Vorhebe immer wieder den zur Schau getragenen Liebeshaß durchbricht. Sie gehörte zu ihm; er wollte ihr nur nicht hörig werden. In der „Fröhlichen Wissenschaft" (1882) steht die Frage: „ W a s macht heroisch ? " Die Antwort geht mehr den Kultur- und Moralphilosophen an als den Kunstphilosophen. Aber die Frage an sich ist wesentlich. Denn hier lag die empfindliche Stelle, wo der Zweifel sich anmelden konnte oder (für Nietzsches Rigorismus) anmelden mußte, ob das künstlerisch Genialische zu bestehen vermöge vor dem Wertmaß des Heroischen. Das Heroische aber war untrennbarer Wertbestand des Übermenschen und vollends des „Herrenmenschen". Schon in der zweiten der „Unzeitgemäßen Betrachtungen", die der Problematik der Historie in Abwehr des Historismus auf den Leib rückte, begegnet die knappe Zielprägung: „ D a s Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren". E t w a zeitparallel aber trifft man auf den Satz und Vorsatz, seine Aufgabe solle liegen in der „Erzeugung des Genius . . . alles Tröstende heißt K u n s t " . Danach wäre das

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zu Erzielende und — wie Nietzsche gegen Mitte der 70-er Jahre betont — zu Erziehende noch der geniale Künstler. Aber erneut erhebt das Heroische seinen Anspruch auf den Vorrang gegenüber dem nur ästhetisch Genialen. Doppelt auffällig, weil es zu einer Zeit geschieht, wo der Wissenschaftler als das Ideal gilt (und nicht der Künstler). Der Mann der Wissenschaft, weil er etwas bewirkt und nicht nur erdichtet, gilt als Held, gleichsam als Held der Arbeit. Und es wird definiert und deklariert: „DasHeroische besteht darin, daß man Großes t u t . . ." Es trägt also noch keinen spezifisch kriegerischen Akzent, nachdem als Zwischenstufe eine flüchtige Begegnung mit dem „Heroisch-Idyllischen" als neueste „Entdeckung" überstiegen worden ist. Das Heroische scheint dann mehr und mehr das „nur" Genialische zu überwachsen, weil es zur Auslese der Kraftvollen besonders berufen ist und keine Dekadenz (wie der Künstler) zu befürchten hat. Der Dichter läßt auch jene stolze Vornehmheit vermissen (Stefan George suchte das reichlich nachzuholen), die dem Übermenschen und „Herrenmenschen" eignet. Er stellt wohl Vorbilder auf, aber ohne sie selber zu bestätigen und zu verwirklichen. Er stellt ein Vorbild, aber stellt es nicht dar. Ihm fehlt die Haltung der Distanz auch zu seinen Erlebnissen. Daher vertritt er nicht den „Echten" und das „Echte", oder vielmehr er „vertritt" es immer nur. Er ist nicht der Heros, der das Große tut. Er bleibt zuletzt (und „zutiefst" im doppelten Sinne) immer nur ein „Wortemacher". Kurz, er bleibt irgendwie und irgendwo immer oder doch auch nur ein Maskenträger und Spieler oder Schauspieler. Er bleibt genialischer Mimus und wird nicht heldischer Mythos. Daher ist auch im Begabtesten immer ein Rest von ungelöster Aufgabe in der scheinbar göttlichen Gabe. Er stellt also nur einen Annäherungswert zur übermenschlichen Vollkommenheit dar, die zudem und an sich schon immer nur im Werden begriffen und zu begreifen ist. Auf der anderen Seite, und das wird leicht übersehen, hat auch das Heroische seine Schwächen und Schwierigkeiten. Und hier nun ist (plötzlich) wieder das „Schöne", also das Ästhetische der Prüfstein, selbst noch für den Willen zur Macht. Nietzsche fragt jetzt: „Wo ist Schönheit?", um (fast mit Schopenhauers Deutung der Musik) zu antworten: „Wo ich mit allem Willen wollen muß" (weiteste Entfernung von Kants interesselosem Wohlgefallen). Und er fragt weiter, ob dem Heroisch-Erhabenen nichts mehr zur Voll-

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kommenheit fehle, um zu antworten, daß die Anmut zur Größe des Großgesinnten gehöre: „Aber gerade dem Helden ist das Schöne aller Dinge schwerstes. Unerringbar ist das Schöne allem heftigen Willen". Es bleibt nur das (peinlich) gnädige Entgegenkommen: „Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt ins Sichtbare: Schönheit heiße ich solches Herabkommen". Freilich deutet das „Sichtbare" ein Herkommen aus dem Unsichtbaren an, so daß ein religiöser Schimmer geborgt wird. Zum mindesten aber wird Prometheus zum Ganymed. Mühsam nur und gleichnishaft vermag sich so der Kultus der Kunst neben (oder nicht doch unter ?) dem Kultus der Kraft zu behaupten. Das Genialische nimmt fast geniezeitgemäße Färbung an, um dem Heroischen nicht mißliebig zu sein. Der Wille zur Macht aber beugt sich bei Nietzsche eigentlich (und persönlich) nur vor der Gewalt der Musik. Die Tragikomödie des Übermenschen sucht wieder Zuflucht bei der „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", nur daß jetzt das Dionysische vollends das Apollinische zu überschatten und zu beschatten droht, ohne es wie dort wirklich zu befruchten. Lag das daran, daß nun Dionysos zum Philosophen geworden war und Nietzsche zum „letzten Jünger des Philosophen Dionysos", als den er sich selber bekennt ? Zuletzt überwiegt (kritisch betrachtet) recht eigentlich nicht der Wille zur Macht, sondern der Wille zur Philosophie. Daher reichen Genialisches und Heroisches nicht ganz aus; beide vermögen immer erneut umworbene Werte und Welten nicht völlig zu befriedigen, können sie nicht den Frieden der Vollendung bringen. Deshalb werden Künstler und Dichter mit liebend-lieblosem Liebes-Haß beiseitegedrückt, um den Weg zum Philosophen frei zu machen. Aber indem dieser Philosoph ein Diener des Dionysos bleibt (oder wieder wird), bleibt er auch ein verkappter Künstler, eine Maske des Mimus. Und weil hinter dem Willen zur Philosophie eben doch zugleich der Wille zur Macht steht, gerät das Genialische bedenklich in den Bezirk des „forcierten Talents" und das Heroische bedenklich in dieSphäre eines „über die Kraft". Zugespitzt ausgedrückt: als der jüngere Nietzsche Gelehrter war, wollte er Künstler sein; und als der mittlere Nietzsche Moralkritiker war, wollte er Wissenschaftler sein; und als der reifere Nietzsche Künstler war, wollte er Philosoph sein. Er schuf sich immer ein Gegenbild, um daran vermeintlich zu gesunden und geistig zu wachsen. Und vielleicht war sein Glaube, Philosoph zu sein, sein größter Aberglaube. 11

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Fast scheint es so, als ob er im Freikommen-Wollen von Schopenhauers Pessimismus in die Dialektik Hegels hineingeraten sei, wenn auch nur im Sinne einer Philosophie des „Als Ob". Fast scheint es aber auch so, als ob er im Freikommen-Wollen vom Christentum dennoch nie ganz von ihm losgekommen wäre, zum mindesten im Sinne einer Bindung der erstrebten Position durch die Opposition. Der zum Philosophen „gepreßte" Pastorensohn war nicht wirklich indifferent; der Bezug auf das Christentum ließ auch den „freiesten der Geister" niemals ganz frei. Wie Extreme sich berühren, berührt er sich darin mit dem großen Pastorensohn G. E. Lessing, nur daß er sich weit radikaler gebärdet. Aber die Gebärde ist bei Nietzsche oft nicht das Echte, sondern ein leicht etwas theatralisches Anspielen auf den Gegenspieler in seiner eigenen Tragödie. Kein Wunder, daß er mit der großartig (genialisch und heroisch) gemeinten Gebärde des „Antichrists" endete. Und doch wirkt die „ewige Wiederkunft" fast wie eine Paraphrase der christlichen Lehre von der Wiederkehr Christi. K u n s t u n d L e b e n , L e b e n s k u n s t : Nicht wie die Jungdeutschen (das Junge Deutschland) oder die Jüngstdeutschen (Naturalismus) wollte Nietzsche den innigen Wechselbezug von Leben und Kunst herstellen. Und auch nicht wie Georg Büchner. Der „Versuch einer Selbstkritik" (1886), der zugleich neben scharfer Selbstkritik doch auch Selbstrechtfertigung in sich barg, hegt zeitlich n a c h dem „Zarathustra". Und er greift denn auch die frühere Leitthese der „Geburt der Tragödie" nachdrücklich auf, „ d a ß n u r a l s ä s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n d a s D a s e i n der W e l t g e r e c h t f e r t i g t i s t " . Hinter diesem Satz und Grund-Satz stand offenbar Schopenhauer. Nietzsche weiß das. Er versucht jedoch den Pessimismus Schopenhauers als Ausdruck und Ausgeburt der Schwäche hinzustellen und ihm einen eigenen „Pessimismus der Stärke" entgegenzustellen, der notwendig in Lebens-Optimismus umschlagen muß (R. Dehmel allerdings leugnet das). Nicht der Wille zur Verneinung des Lebens und des Willens zum Leben (Schopenhauer) ist der Ausweg, sondern gerade der mutig-übermütige Wille zum Leben als Bejahung, ja als Bejubelung des Lebenswillens. Nicht die Kontemplation, vielmehr die Konzentration des Lebens macht es lebenswürdig und kunstwertig. Variiert man den Titel einer der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" zu der Version „Nietzsche als Erzieher", so wollte Nietzsche durch die Kunst zum Leben und durch das Leben zur Kunst erziehen. Nicht zufällig hat er es aus-

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gesprochen, daß er den Menschen zwar nicht zum Künstler, aber zum „Kunstwerk" umbilden und „umwerten" wollte. Und so gehen K u n s t p h i l o s o p h i e u n d L e b e n s p h i l o s o p h i e bei allen Sprüngen und Brechungen untrennbar ineinander über. Darüber kann und darf nicht hinwegtäuschen der stets gegenwärtig zu haltende Umstand (kritisch-systematisch: die unsystematische Umständlichkeit), daß Nietzsche als Philosoph zu erziehen und zu „bilden" vorgab, wo er und während er in Wirklichkeit immer wieder als Künstler bildete. Sein ganzer großer „Zarathustra" war ein lapidarer Gegenbeweis gegen eine rein philosophische Rechtfertigung des Lebens und eine grausam grandiose Bestätigung jenes Grund-Satzes, „daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt" sei. Bei aller Abwehr der Metaphysik kam doch so etwas dabei heraus wie eine philosophisch getönte „Artisten-Metaphysik" zur Hebung der Lebenskunst auf ein höheres Niveau. Selbst die „ewige Wiederkunft" barg neben der erwähnten religiösen (halb indischen, halb christlichen) Analogie einen beträchtlichen Anteil an vertiefter Lebenskunst in sich. Es hieß nicht (wie bei Kant): handle so, daß die Maxime deines Wollens (Handelns) zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnte. Es hieß vielmehr: handle und lebe so, daß du auch bei einer Wiederkehr die Wiederholung als lebenswürdig erleben und als liebenswürdig genießen kannst. Auch als liebenswürdig; denn Nietzsches kultur- und lebensphilosophische „Kunsttheorie" und Lebenskunst-Theorie machte nicht halt bei der Diesseits-Jenseits-Spannung des Barocken, sondern bezog auch das Spiel des Rokokohaften zwischen Kunstgesetz und Kunstgeschmack in sich ein. DasgewichtigThesenhaftedesSchreitenszuneuenTafeln Schloß das leichtbeschwingt Tänzerische keineswegs aus, sondern allenthalben in sich ein. Mit anderen Worten: auch das Neu-Rokoko war neben der NeuRomantik und der Neu-Klassik vorgebildet. Aber auch dieses NeuRokoko hatte den Filter einer Neu-Aufklärung durchlaufen und war dergestalt nicht nur ein unmittelbarer Schößling und Sprößling des Neu-Barocken. Nietzsche faßte viele Farben in seinen Fächer, damit die echte Vielfalt des Lebens zur edlen Einfalt der Kunst, damit die laute Größe des Lebens zur stillen Größe der Kunst, aber auch zur aristokratischen Distanz der Lebenskunst werden konnte. Das Dionysische des Lebensrausches steigerte die Distanz vom Leben (vom Durchschnittsleben) zum Dithyrambus 11»

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des Lebens, so daß alle Lebenskunst sich sammelte in der lebendigen Kunst. Und selbst der Wille zur Macht war letztlich nur zu ermessen an dem Kunstwillen zur schöpferischen Macht und also am Kunstwollen zur produktiven und progressiven Kunst-Mächtigkeit. Wenn das Dasein sich nur ertragen und rechtfertigen ließ als „ästhetisches Phänomen", so wurde die Phänomenologie des Geistes zu einer Phantasmagorie der Begeisterung. Dann wurde alle lebensfähige Kunst zur Lebenskunst. Dann war alle Spannung des Ethischen und Ästhetischen „aufgehoben" in einer Anspannung des Lebenswerks zum Kunstwerk, des Lebenswertigen zum Kunstwertigen. Nietzsche war nicht der logisierende Scharfgeist, um zu erkennen, daß man dabei nur eine Unbekannte durch eine andere Unbekannte „erklärte". Und die Naturfrömmigkeit vermochte sich einen unmittelbaren Zugang zu erringen und zu erzwingen zur Kunstfrömmigkeit, ohne der religiösen Frömmigkeit zu bedürfen. Denn selbst der ewige Widerstreit von Kunst und Leben versprach sich aufzulösen in der ewigen Wiederkehr von kunstwertiger Lebenswürdigkeit. Und so fordert denn Nietzsche als Gegenmacht gegen Pessimismus und Nihilismus die Kunst: „Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens". Und zwar deshalb, weil sie (in Abwehr Schopenhauers) die „einzige überlegene Gegenkraft gegen den (Schopenhauerschen) Willen zur Verneinung des Lebens" darstellt „als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence". Sie ist die Rettung des Genialischen sowohl wie des Heroischen, die Überwindung des Leidens durch das Leben, weil in ihr das Leiden als bewußt gelebt sich im Bewußtsein aufhebt, weil in ihr das sinnlos Verstellte und „Verrückte" ihre rechte Stelle und Zurechtrückung findet. Eben deshalb wird das „Kunstfeindliche" zuletzt enthüllt und entwertet als das Kulturfeindliche, selbst dann, wenn es vom Religiösen gedeckt zu sein scheint. Und selbst das Gesunde bleibt abhängig vom Geschmackvollen, zum mindesten vom Geschmack am Gesunden und Lebensfähigen. Das Gesunde aber schlägt um in die Gesinnung in dem Augenblick, wo die Sitte zur Sittlichkeit wird. Das Häßliche, das Nietzsche keineswegs verwirft, schlägt um in das Schöne in dem Augenblick, wo der ästhetische Mensch sich seiner Berufung zum ethischen Menschen bewußt wird. Es ist keineswegs nur als Kontrastwert geduldet, sondern als kon-

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struktiver Wert unentbehrlich, um im Schönen das „Jenseits von Gut und Böse" aufrechtzuerhalten. Denn das Dämonische (jenseits des Terminus Goethes) ist schlechtweg untrennbar vom Dionysischen. Und das Häßliche kann das Großartige für sich haben auch dort noch, wo es das Schöne gegen sich zu haben scheint. Das „Integral" reicht weiter als das Ingrediens, wie der „heitere" Himmel der Antike weiter sich wölbt als die düstere Dämonie des Dionysischen. Trotzdem bleibt dem späten Nietzsche nur die Auffangsstellung des Dionysischen, weil er sich den Appell an das Apollinische verscherzt und verbaut hat, aber auch deshalb, weil er sich die religiöse Auffangsstellung verscherzt und verschüttet hat. Vom ewigen Leben bleibt bestenfalls die ewige diesseitige Wiederkehr. Vom Leben der Kunst bleibt bestenfalls die Lebenskunst. An sie klammert sich der ausgeschlossen Ausschließliche um so mehr, als er die Verkündigung des jenseitigen Lebens durch die Kunde vom diesseitigen Leben notgedrungen und notdürftig zu ersetzen trachtet durch die ethische Forderung, die im Wissen um ein „ewiges" Wiederkehren liegt. Die sittliche Forderung, also das ethische Problem wurde jedoch weitgehend „ersetzt" durch das „ästhetische Phänomen", durch das die Welt und das Dasein zwar nicht gerecht gerichtet, aber wenigstens stilgerecht eingerichtet werden konnte, gemäß der nur scheinbar überwundenen Überzeugung, „daß nur als ästhetisches Phänomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist". Weil jedoch Friedrich Nietzsche mit allen seinen betont vorgeschobenen ethischen Lösungen dieser letztlich ästhetischen Erlösung als einer Phänomenologie des ästhetischen Geistes Vorschub leistete, konnte und mußte er auf viele, wenn nicht alle ihm nachfolgenden Geister der Kunst so nachhaltig einwirken, wie es in der Tat der Fall ist. Er selber verleugnete den Künstler in sich um des erstrebten Philosophen willen. Aber zu ihm bekannt haben sich die kommenden Künstler und nicht (oder doch weit weniger) die kommenden Philosophen. Nur die Lebensphilosophen verleugnen nicht ihr Herkommen vom Philosophen der Kunst, der seine Vollendung in der Lebenskunst suchte. Nietzsche sah zwar das „Klassische" bestenfalls in Goethe erfüllt, nicht in Schiller. Aber der Faust (als Gestalt) ist ihm bereits zu wenig heroisch. Denn mehr und mehr bog er das „Klassische" um in das Heroische, wie er längst vorher das Romantische umgebogen hatte in das Dionysische. Und weil er das Klassische ab-

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wandelte ins Heroische, geriet er streckenweise näher an Schiller heran, als er selber wahrhaben wollte. Er hat gleichsam die Briefe Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen" ersetzt oder doch ergänzt durch Aphorismen über die Erziehung des klassisch-heroischen Menschen. Es konnte schon in früheren Teilen dieser Darstellung (Band III) darauf hingewiesen werden, daß man damals vielfach „ästhetisch" sagte, wo man „klassisch" meinte. Nietzsche seinerseits sagt gleichsam „klassisch", wo er „ästhetisch" meint. Denn das Klassische wird für ihn zum Wertmaß mehr als zum Stilmaß. Es geht ihm mehr um die Haltung als um die Gestaltung. Aber weil es ihm zugleich mehr um das ewige Werden als das vollendete Sein ging, blieb die statische Symmetrie immer wieder auf die Zerreißprobe der dynamischen Dämonie des Dionysischen angewiesen. Denn damit es ein progressiv-produktives Über-Sich-Hinaus gab, durfte beim In-Sich-Vollendeten nicht haltgemacht werden. Kritisch gesagt, überschnitten sich bei Nietzsche die Gesetze der Kunst und die der Lebenskunst. Denn in der Kunst bleibt die Triebkraft das Dionysische, während in der Lebenskunst das Apollinische sich in dem Maße bewährt und empfiehlt, wie es das „Klassische" kräftigt zum Heroischen. Es gelingt Nietzsche verhältnismäßig leicht, das Europäische vom Deutsch-Nationalen abzulösen und die innere Sittlichkeit von der äußeren Moral der Sitte abzulösen. Aber es will ihm in dem Maße, wie er selber Künstler war und Kulturgründer sein wollte, nur recht schwer gelingen, die Kultur als Zukunftsbild von der Kunst als Vorbild abzulösen. Und im Grunde ist es ihm niemals restlos gelungen. Deshalb nicht, weil er die „Bildung" vom B i l d e n d e n u n d B e d e u t e n d e n der K l a s s i k oder genauer: des Klassischen ableitete.. Und weil ihn auf der anderen Seite trotz aller Lossprechungen und Losreißungen die Gewalt der Musik niemals ganz freigegeben hat. Mit kargen Worten: Nietzsche geriet als Kulturphilosoph zwischen Kunst und Lebenskunst, weil er als Kunstphilosoph zwischen die Einzelkünste geraten war. Und bei aller leidenschaftlichen WagnerAbwehr des späteren Nietzsche blieb ihm zuletzt doch kein anderer Ausweg als die Perspektive eines Übermenschen, der gleichsam ein „Gesamtkunstwerk" von höchstem Wertrang darstellte. Aus dem „Kunstwerk", zu dem er schon früher den Menschen umbilden und umwerten wollte, wäre — so verstanden — dann schließlich so etwas wie der große Entwurf (und vermeintlich

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große Wurf) zu einem „Gesamtkunstwerk" geworden. Und das Dionysische sollte mit der Inbrunst seines triebmächtig-schöpferischen Rausches eben nur darüber hinwegtäuschen oder hinwegtrösten, daß die genialische Konzeption doch nur eine heroische Konstruktion blieb, daß die K o n z e p t i o n des G e n i a l i s c h e n H i l f e u n d H a l t s u c h e n m u ß t e in der K o n s t r u k t i o n des H e r o i s c h e n , daß der Glutfluß des Romantischen nur sichtbare Gestalt gewinnen konnte im großen Gleichnis des „Klassischen", so wie es Nietzsche verstand und verwandelte. Was jedoch im Gesamtertrag sich ergab, war kein Klassikertum, sondern ein klassisches Dionysiertum. Das Verhältnis von Kunstphilosophie und Kulturphilosophie kann hier nur andeutend berührt, die „Enthüllung" über den „Willen zur Macht" und die Frage der EmersonAnregung (bes. der Grad dieses Einflusses) können nur beiläufig Erwähnung finden. Es konnte nicht ausbleiben, daß der Dichter-Philosoph Friedrich Nietzsche besonders nachhaltig auf Dichter einwirkte, die zugleich einen philosophischen Zug in sich spürten oder doch zu spüren glaubten. Zu ihnen gehört nicht zuletzt R i c h a r d D e h m e l (1863— 1920). Sowohl seine formulierte wie seine werkimmanente Poetik verrät überall eine Abhängigkeit, die nur um der „Selbständigkeit" willen demonstrativ verleugnet wurde. Richard Dehmel ist geradezu der Prototyp und das Paradigma für diejenigen Dichter, die so abhängig waren von Nietzsche, daß sie sich nur dadurch mühselig behaupten zu können glaubten, daß sie überall ihre „Unabhängigkeit" von ihm behaupteten. Die eine „Behauptung" war untrennbar mit der anderen „Behauptung" verbunden. Sie schworen sich selbst noch frei von der von ihm beschworenen „Freiheit". Wer nun (wie ζ. B. Albert Soergel oder Julius Bab) diesen Judaslohn des Abschwörenden für bare Münze nimmt, muß R. Dehmel mehr eigenes geistiges Kapital zusprechen, als seiner geistigen Kapazität zukam und entsprach. Das rein bildungsmäßige, kritische Niveau Dehmels sei dabei nicht unterschätzt. Richard Dehmel mochte auch dort subjektiv ehrlich sein, wo er meinte, ohne die objektive Echtheit Nietzsches auszukommen und in der Eigengeltung und Dauerwirkung (von der er auch theoretisch so oft spricht) besser voranzukommen. Aber fast überall, wo er das Natur-Abbild des Naturalismus zu überwinden und zu überarbeiten trachtete mit Hilfe des Vorbildes einer „neuen" Ethik und Ästhetik, war Nietzsche sein eigenes Vorbild, so willig er auch

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immer ablenken mochte durch den Hinweis darauf, daß der Kunst wertaufnehmende angesichts seiner Lyrik und lyrischen Epik („Zwei Menschen") ebensogut an Schopenhauer oder selbst Hegel denken könnte. Was das Wertungsverhältnis Hegel/Schopenhauer betrifft, so hat Dehmel gelegentlich Hegel sogar nachdrücklich über Schopenhauer gestellt, vielleicht deshalb, weil er eher eine Loslösung von Nietzsche zu ermöglichen schien als Schopenhauer. In Wirklichkeit ließ ihn auch der Dichter Nietzsche nicht los. Nicht zuletzt die eigenartige, innige Berührung von „Dithyrambus" und Spruch, von Lebenswille undLebensweisheit,von Rausch und Rätsel, von Protest und Manifest, von Entfesselung des TriebhaftNaturhaften und „Naturbeherrschung" hat er mit seinem verleugneten Meister gemein. In dem Essay „Das Rätsel des Schönen", in dem er (bei ironischer Erwartung eines „exakten" Aufschlusses seitens der Dissertation eines Assistenten an einem physikalischen Institut) die Allgemeingültigkeit des „Schönen" bezweifelt, verwirft er nicht nur die Hilfshypothese eines „Durchschnittsmenschen", sondern befürchtet auch, daß er womögüch als ein „Nietzscheaner" angesehen werden könnte, wenn er das Verbindlichsein, ja sogar das bloße Vorhandensein eines solchen Durchschnitts vermeint. Und mit Nietzsche (der ausdrücklich genannt wird) verwirft R. Dehmel das Urteil und Vor-Urteil der „Vielzuvielen". Auch von „Übermenschen" und selbst vom „bestialisch Besten" ist da die Rede sowie von der Synthese Tier/Gott und vom „Bildungspöbel". Alle diese Begriffe und Termini und manche andere wären ohne Nietzsche kaum denkbar und deutbar. Und der zur Abhandlung ausgeweitete Essay „Tragik und Drama", der schon neben der neuen (lyrischen) „Diktion" Hugo von Hofmannsthals die neue dramatische „Komposition" von P. Ernst und W. v. Scholz (also Neuromantik und Neuklassik) einbezieht, dieser weitaus längste Essay unter den „Betrachtungen über Kunst, Gott und die Welt" (Ausg. v. 1926, vorher 1909) kunsttheoretischer Art innerhalb der „Gesammelten Werke" des verwöhnten Lyrikers (und verhinderten Dramatikers) R. Dehmel kommt ebenfalls ohne den Antrieb Nietzsche keineswegs aus. Denn Kants „pseudoästhetische Redereien" (!) von einer vermeintlich „erhabenen Zwecklosigkeit" des Kunstwerks werden dort keineswegs als befriedigend empfunden. Ganz abgesehen davon, daß der Lyriker R. Dehmel dem „Tragischen" überhaupt mit einer ähnlichen Skepsis gegenübersteht, wie weiland der Lyriker

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Th. Storm dem Dramatischen gegenüberstand, als er das Drama durch die Novelle ersetzen zu können glaubte, ganz abgesehen von Dehmels prinzipieller Anzweifelung der traditionellen Ranghöhe der Tragödie: das „selig freie Spiel der Triebe" sowie die „fröhliche Wissenschaft", selbst noch die Tragik des Triebes geistig überwältigen zu können: das alles war verlegen verleugnetes Erbe Nietzsches. Freilich konnte R. Dehmel noch nicht voraussehen, daß man dermaleinst den „Willen zur Macht", zum mindesten aber die Zusammenfassung zahlreicher Aphorismen zu einem vermeintlichen „Hauptwerk", Friedrich Nietzsche absprechen und dessen übereifriger Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche zusprechen würde, und so argumentiert er noch zutulich-zuversichtlich: „Also die Unvernunft im „Willen zur Macht": das vor allem ist es, wodurch das tragische Fatum begreiflich und ergreifend wird". Aber die „Moira" und „Nemesis" erscheint ihm doch nachgerade reichlich überholt und dementsprechend überholungsbedürftig. Und er scheint ernsthaft und lebhaft zu bedauern, daß Fr. Nietzsche nicht nur ein Dionysisches neben dem Apollinischen und das Wechselspiel beider Triebkräfte zur Geltung brachte, sondern auch eine spielerische Freiheit als gültig gelten ließ neben der ernstgenommenen Unfreiheit des Schicksalhaften. Eben deshalb faßt er als moderne Möglichkeiten die Tragikomödie ins Auge, nicht ohne sein eigenesDrama „Die Menschenfreunde" leise in entsprechende Empfehlung zu bringen. Da war übrigens noch ein früherer Anlauf zum Drama (des Lyrikers) zu verzeichnen, halb H. v. Kleist, halb H. Ibsen verpflichtet, wie R. Dehmel selber zugesteht. Aber das (oder ein anderes?) war inzwischen (etwa 1904) selbstkritisch vernichtet worden. Da war auch ein Anlauf zu einem „Saul"-Drama, das jedoch nie vollendet wurde, da war der „Mitmensch", die nachgelassene „Götterfamilie" und manches andere an Anläufen zum Drama. Dergestalt wirkt das Unbehagen gegenüber dem TragischDramatischen etwas wie eine verschmähte Liebe. Überall dort, wo die Distanz vom Naturalismus, dem man gelegentlich noch R. Dehmel allzu voreilig zuordnet, betont wurde, gab letzten Endes Fr. Nietzsche den Ton an. Mag man in der werkimmanenten Poetik noch manches Element des Naturalismus beobachten, in der formulierten P o e t i k rückt R. Dehmel eindeutig vom N a t u r a l i s m u s ab, obwohl er Teilverdienste anerkennt. Er will nicht „Abbild, sondern Vorbild". Er will nicht

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Naturnachahmung, sondern „Naturbeherrschung" durch den Geist und den Willen, durch den Willen zum Geist, den er selber höher schätzt als den „Willen zur Macht". Es gilt ihm als ein bloßer „altersgrauer Aberglaube, daß Kunst Naturnachahmung sei". Das spricht er nachdrücklich aus in der Abhandlung über „Tragik und Drama", das betont er aber auch in dem Essay „Natur, Symbol und Kunst", wo er eine „reinliche Scheidung der Begriffe" schon im Titelzusatz vielversprechend verheißt. Niemals will der Künstler zum zweitenmal Möglichkeiten des Nachschaffens erschöpfen. Seit Aristoteles habe man dieses leere Stroh gedroschen. Der echte Künstler „will überhaupt nicht nachahmen; er will schaffen, immer wieder zum erstenmal". Weit entfernt vom Nachahmen will er vielmehr das „reinweg Unnachahmliche" gestaltend zur Wirkung bringen. Zur Wirkung; denn über die Wirkungspoetik gelangt R. Dehmel nur selten hinaus. Weder Zola mit seinem „Eckchen Natur", noch A. Holz mit seiner Tendenz, „wieder die Natur zu sein", die nur allzu leicht abirrt in ein „wider die Natur", können ihn befriedigen. Es kommt vielmehr auf die Befriedigung von Vorstellungsreizen und zugleich auf die Befreiung von bloßen ReizBindungen an: „Das also ist das Grundwesen jeglicher Kunst: maßvolle Anordnung teils natureller, teils kultureller Einbildungsreize zur Befriedigung von Freiheitsgelüsten". Diese häufige Betonung des „Reizes" und der Reizsamkeit rückt ihn dem Impressionismus näher, den zugleich sein langjähriger enger Kontakt mit Detlev v. Liliencron (seit 1891) im biographischen Bezirk symbolisiert. Doch darüber einiges Ergänzende an entsprechender Stelle (Impressionismus). An Julius Bab schreibt Dehmel (Jan. 1903) im Bemühen, einem Verglichenwerden mit Hebbel auszuweichen: „Ich wurzle zwischen Nietzsche und Liliencron". Auch die Reihenfolge der Namen dürfte der Abfolge der Einflußwellen entsprechen. Die erste größere Sammlung des noch nicht Dreißigjährigen mit dem kennzeichnenden Titel „ E r l ö s u n g e n " (1891) trägt so eindeutig den Stempel Nietzsches, daß R. Dehmel ein Erinnerungsfehler unterlaufen sein dürfte, als es sich ihm (und er es anderen gegenüber) so darstellte: „Nietzsche hat mich einmal kurz (?) vor der Drucklegung meines Jugendbuches „Erlösungen" acht Tage lang (?) völlig berauscht ; ich war besinnungslos hingerissen in die großartige Kampflust der Zarathustra-Rhythmen; dann aber trat eine ebenso völlige Ernüchterung ein". Dieser Ernüchterung scheint die demonstra-

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tive Lossage von Nietzsche in dem „Offenen Brief an den Herausgeber der Kultur" (1902) zu entsprechen. Aber diese Absage war eben durchaus für die Öffentlichkeit bestimmt, gleichsam in Wahrung berechtigter Interessen (dichterische Originalität). Daher auch will er sich nicht einseitig festlegen lassen auf den „Mystiker" oder den „Rationalisten" (den er in sich betont), sondern legt Wert auf die vielseitige Spannung seines Wesens und Wollens. „Ich bin . . Empirist wie Metaphysiker — Naturalist wie Symboliker". Daß er freilich oft mehr Allegoriker als Symboliker war, sieht er noch nicht ein. Noch will er die Ganzheit des Entgegengesetzten (Hegels), und eigentlich hat er sie immer (auch später) beansprucht. Jedenfalls gilt es zunächst einmal, offiziell von Nietzsche abzurücken. Im vertraulichen Privatbrief hört es sich nicht einmal ein Jahr darauf (s. o.) schon wieder wesentlich anders an. Und in Wirklichkeit ist Dehmel von Nietzsche kaum jemals völlig freigekommen. Zeitweise ist seine Vorliebe in eine Art von Liebeshaß umgeschlagen im streckenweise etwas krampfhaft wirkenden und entsprechend robust ausgefallenen Versuch der Selbsterhaltung und Selbstbewahrung. Genauer gesehen und kritischer gesagt: Richard Dehmel gehörte (anders als R. Pannwitz) zu denjenigen Dichtern, die es sich etwas zu leicht vorgestellt und zu leicht gemacht haben, über Nietzsche hinauszugelangen. Daß ihn, von Früherfolgen verleitet, dieser Ehrgeiz, Nietzsche zu überbieten und zu überwinden, in der Tat gepackt hatte, bekundet das stolze Bekenntnis, daß er Hans Benzmann gegenüber wieder in der Vertraulichkeit eines Briefes ablegt (14.11. 02). Unter dem Eindruck von Schillers Geburtstags-Jubiläum und von Traumerscheinungen erwägt er (kühnlich), was er von Schiller besäße (die „Inbrunst zum Leben") oder von Goethe (die „Andacht vorm Leben") und ob er nicht gar berufen sei, das Wertvolle und zur Zeit besonders Erforderliche beider zu verbinden. Und nun taucht der große Schatten Nietzsches merklich als Störenfried in diesen tröstlichen Träumen der Künstlersehnsucht auf. Aber er verscheucht diesen Schatten mit einer lässigen, kritischen Handbewegung: „Nietzsche war viel zu einseitig sentimental (will sagen: sentimentalisch) im Schillerschen Sinne, als daß er diese Bedeutung (der Synthese) erlangen könnte. Ob ich sie beanspruchen darf, kann sich f ü r A n d e r e natürlich erst erweisen, wenn ihnen mein ganzes Lebenswerk vorliegt.. .". Er selber aber glaubt „natürlich" schon damals daran, das zu vermögen, was Nietzsche nicht vermochte. Der

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Schlußsatz des Briefes spricht es ganz unumwunden und ohne falsche (oder echte) Bescheidenheit aus. Dieser nicht öffentliche Brief liegt in demselben Jahre wie jener öffentliche Brief an die „Kultur". Und er verrät den geheimen Ursprung jener Kritik an Nietzsche. Dehmel wollte sich Geltungsraum sichern. Er wollte, positiver geurteilt und beurteilt, nicht erdrückt werden von der in jenen Jahren gewaltigen Übermacht des Nietzsche-Kultus. Er suchte ein eigenes Kunstwollen herauszuretten aus dem Sog der mächtigen Nietzsche-Strömung. Gelegentlich gerät er bei diesem Manövrieren in heikle oder doch prekäre Situationen. Elisabeth Förster-Nietzsche hatte ihm 1904 die Werke ihres berühmten Bruders als Geschenk übersandt. Aber damit nicht genug, hatte sie ihn gebeten, zum Nietzsche-Gedenktag aus dessen Dichtungen auf einer Feier zu rezitieren. Dehmel gesteht nun (Liliencron) eine Art von Gewissenskonflikt milderer Art, da er ja jenen Offenen Brief nicht einfach verleugnen konnte. So fragte er denn bei Liliencron an, wie er sich würdig aus der Affäre ziehen sollte. Dabei leitete ihn das richtige Gefühl, daß Liliencron ihm überhaupt in Sachen Nietzsche am besten helfen könnte. Und wenn es ihm wenigstens streckenweise gelang, jener Einflußströmung zu entkommen, so dankte er das der frischen Gegenwirkung Liliencrons, wie er selber dankbar bekennt. Aber vom R h e t o r i s c h - P a t h e t i s c h e n u n d der t h e a t r a l i s c h e n G e b ä r d e vermochte ihn auch Liliencron nicht endgültig zu befreien; denn diese Züge lagen in seinem eigenen Wesen und waren durch Nietzsches Vorbild nur verstärkt, nicht bewirkt worden. Ein Eingehen auf die werkimmanente Poetik würde diesen Zwang zum Rhetorisch-Pathetischen und Theatralischen in der Lyrik R. Dehmels bestätigen. Aber es würde auch das unrastvolle Hin- und Her von Begeisterung und Ernüchterung, von Emotion und Depression, von Symbolik und Sinnlichkeit, von berauschtem Dithyrambus und besonnener Spruchweisheit überall herausspüren. Demnach wäre also das Kunstwollen, das eine Ausgleichung der Spannungen in der formend bewältigten Rhythmik anstrebte, vom Kunstkönnen nicht voll (ζ. T. nicht einmal entfernt) erreicht worden, ebensowenig wie die theoretisch geforderte Ganzheit und Einheit von Naturkraft und Kulturmacht. Am ehesten noch gelang die Erfüllung des Grundprinzips einer letztlich ziellosen Sehnsucht als Trägerin einer rastlos vorandrängenden Dynamik („Sehnsucht ohne Ziel"). Und trotz der vielfach grell belich-

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teten Erotik, die von der Kritik sehr bald aufgegriffen und angegriffen wurde, wird man Dehmel als dem Präger des Terminus „Kulturgewissen" ein zähes Ringen um künstlerische und menschliche Gewissenhaftigkeit nicht absprechen können. Es lag nicht nur ein gelegentlicher Ausspruch und Ausbruch in dem Bekenntnis: „Wenn ich nicht Dichter wäre, würde ich mich als Kulturphilosoph betätigen". Er hat es übrigens in manchen Aufsätzen und nicht zuletzt in seinen Briefen, die von einer vielseitigen Bildung zeugen, tatsächlich getan und sich auch insofern dem „Kulturphilosophen" Nietzsche genähert. Aber wieder blieb es ein Ringen um „Naturbeherrschung", stark genug, um theoretisch und praktisch von der „Naturnachahmung" loszukommen, und doch nicht stark genug, um von der Triebvergötzung freizukommen. Es war und wirkt gleichsam entschuldigend, wenn R. Dehmel auch als Theoretiker in dem Essay „Natur, Symbol und Kunst" die Möglichkeit einer wirklichen Naturbeherrschung selbst den Großmächten Wissenschaft (Biologie, Soziologie) und Religion abspricht. Die Kunst, so meint er dort, begnüge sich in weiser Selbstbescheidung mit einem schönen Schein der Naturbeherrschung, „mit Feststellung unsrer eingebildeten (illusionären) Naturbeherrschung". Gegenüber dem „Tief-Punkt" menschlicher Machtvollkommenheit, den jene Kräfte anspruchsvoller Art (Wissenschaft, Religion) durch ihre Anmaßung gegenüber der Natur zu erreichen pflegen, fällt der bescheideneren Kunst als Dank für ihre Demut ein „Höhe"-Punkt zu. Denn: „Sie schafft nicht Abbilder des natürlichen, sondern Vorbilder menschlichen Daseins und Wesens". In seinem pantheistischen Eifern vergißt hier Dehmel ganz, selber seine sonst so streng anempfohlene Tugend der Begriffsklärung durch Vergleich und vergleichende Gegenüberstellung (Anteil Hegel) zu üben. Denn die Religion stellt ebenfalls Vorbilder auf, so daß also nichts spezifisch Künstlerisch-Eigentümliches erfaßt wird, und auch sie — und sie vorab — hat es mit „Gesinnung und Gesittung" zu tun. Man darf und muß gerade in diesem Falle genau sein, weil Dehmel hier merklich seine Trümpfe ausspielt. Hier fällt denn auch das schon oben zitierte Wort von dem „unvergänglichen Zuwachs" an „Freiheitsgefühlen". Und ein wenig gefällt sich dabei R. Dehmel in der Schiller-Pose der „Moralischen Anstalt". Nur daß jetzt nicht Religion und Gerichtsbarkeit von der Poesie ersetzt oder ergänzt werden sollen, sondern — zeitgemäßer — Religion und Naturwissenschaft, denen jene vorläufig

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oder „ b i s h e r zwecklosen Vorstellungsgebiete . . . entweder noch nicht zugänglich oder überhaupt unbeschreitbar sind". — Indessen, es dürfte einigermaßen schwerfallen, diese theoretischen Vorbilder in den Sammlungen „Aber die Liebe" (1893), „Lebensblätter" (1895), „Weib und Welt" (1896), „Schöne, wilde Welt" (1913) hinreichend klar zu erkennen und entsprechend anzuerkennen. Selbst das großangelegte, als „Roman in Romanzen" bezeichnete Epos „ Z w e i M e n s c h e n " (1903) läßt wohl — recht romantisch — die Seele des Weibes und des Mannes „singen"; aber „läutert" es sie wirklich zu „Vorbildern" ? Und nicht zufällig wurden noch (ζ. T. aus „Aber die Liebe" herausgelöst) die „Verwandlungen der Venus" gesondert dargestellt, gleichsam rechtfertigend („Venus heroica, Venus fantasia"), aber doch auch gebannt-gebunden von diesem einen Thema. In einer ganzen Reihe von Einzelgedichten wie „Bekenntnis, Empfang, Entzückung, An die Ersehnte" usw. besteht die Gefahr, daß das vordringliche Thema der Triebbejahung als aufdringlich empfunden wird. Es erwies sich, was daraus wurde, wenn die Idee des dionysischen Rausches (Nietzsche) von einer mehr festen als zarten Hand in die künstlerische Praxis umgesetzt wurde, zum mindesten was den sinnlich-erotischen Rausch anbetrifft. Nun verfügt R. Dehmel fraglos über jenen Überschuß an Lebenskraft, von dem Nietzsche mehr theoretisch besessen war, als daß er ihn selber besessen hätte. Und diese Echtheit mag bei Dehmel mit mancher Grellheit versöhnen. Aber was zum mindesten Mangel an Geschmack und Takt verrät, das ist das mehrfach begegnende Auftrumpfen eines genialischen Trotzes der „Leibeigenschaft" als echtester Form aller Leibes-Eigenschaft und vor allem das Ausspielen des Venuskultus gegen den Kult des Christentums sowie die peinliche Verquickung beider Welten. Es ist das aber ganz einfach eine etwas wortwörtliche Verwirklichung der Thesen Nietzsches vom Genialischen einerseits und Heroischen andererseits. Denn die mehr als irdische „Liebe" wird ganz unbekümmert heroisiert und nicht nur durch Moralinfreiheit sanktioniert; sie wird geradezu „sanktifiziert", denn sie wird „heilig" gesprochen (das Attribut oder Adverb oder Prädikatsadjektiv „heilig" begegnet mehrfach in derartigen Zusammenhängen). Nun hat Dehmel immer erneut das Gegengewicht der Selbsterziehung und Selbstzucht als Ausgleichswert zur Geltung gebracht. Aber auch darin folgt er weitgehend Nietzsche. Und auch darin.

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daß er die Gefühlserweichung durch Mitleid betont bekämpft. In dem seinerzeit sehr bekannten, viel zitierten und rezitierten „Bergpsalm" lautet die warnende Forderung: „Empor aus deinem Rauschi Mitleid glüh ab!/Laß dir die Kraft nicht von Gefühlen beugen !/Hinab! laß deine Sehnsucht Taten zeugen !/Empor, Gehirn! Hinab, Herz! Auf! hinab". Zieht man die Pathetik ab, so klingt manches darin schon wie — echter Gottfried Benn. Vorerst war das aber noch der ganz nahe Nietzsche, vor allem dessen mitleidslose Kraftgebärde. Auf den ersten Entwurf eines ihm zur Prüfung vorgelegten Essays „Dehmel und Nietzsche" von Gustav Kühl (der dann 1898 in „Die Zeit" erschienen ist unter Berücksichtigung der Verbesserungsvorschläge Dehmels) machte Dehmel die Randbemerkung :„Nietzsche redet immerfort von Lebensbejahung, hat sie selber aber nie geübt. Mein höchster Wille ist, vollkommen das zu sein, was mich in Einklang mit dem Leben setzt, nicht aber etwas zu werden, was mich hinwegsetzt über das Leben... Ein Allmensch will ich sein, kein Übermensch". Zarathustra stehe nicht „im Einklang mit dem Leben", weil er es artistisch übertanze. Das wäre kein Vorbild. Dehmel bekämpft bei dieser Gelegenheit wieder die Zeitgemäßheit und Lebensberechtigung des „Tragischen", was von der Kunsttheorie aus besonders interessiert, obwohl er den Begriff allgemein ausweitet und ihm so die Prägnanz nimmt. Für Dehmel ist der Künstler ganz selbstverständlich und „natürlich" vieles von dem, was Nietzsche erst zu einem „künstlichen Dogma" erhebt. Doch ist diese andere Fundstelle der Polemik gegen Nietzsche schon von A. Soergel ausführlich zitiert. Dehmel kommt gar nicht auf den Gedanken, daß jene von ihm als überflüssig beanstandeten Forderungen ganz einfach daraus entsprangen, daß Nietzsche sein Kulturideal als Künstler konzipiert hatte. Etwas erzwungen und mißverstehend wirken seine Einwände dagegen, daß der Künstler angeblich jenseits von gut und böse stehen oder den Herdenmenschen verschmähen solle. Hier hat er Nietzsche entweder nicht verstanden oder nicht verstehen wollen, um sich abheben zu können. In solchen Fällen wird ein Schein-Nietzsche merklich bewußt in einer günstigen Abschußstellung aufgebaut, damit die Polemik bequem zielen und vermeintliche Blößen leicht treffen kann. Anderes hat schon die Sonderforschung aus dem damaligen Stand der erst im Werden begriffenen Nietzsche-Forschung erklärt (Übermensch angeblich als klar bejahtes Endziel usw.).

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Immerhin: Einheit von Kunst und Leben, „Einklang" von Künstlertum und Menschentum vertritt Dehmel auch in der Vertraulichkeit des Privatbriefs. So etwa scheint ihm nach vorausgegangener schwerer Entzweiung mit Arno Holz eine echte Versöhnung nicht möglich durch ein billiges Trennen von Kunstanschauung und Lebensanschauung, indem man den Menschen achte, den Künstler jedoch mißachte; vielmehr „Für mich ist Kunst nur der reinste Ausdruck des menschlichen Wesens" (Nov. 1905). Ähnliche Wendungen, die ja nicht gerade eine kunsttheoretische Offenbarung darstellen, sind auch sonst anzutreffen. Aufhorchen lassen demgegenüber mehrfache Bekundungen und Erklärungen, w o n a c h f ü r den g e s t a l t e n d e n D i c h t e r s e l b s t W e l t a n s c h a u u n g e n nur d i c h t e r i s c h e M o t i v e u n v e r b i n d l i c h e r A r t d a r s t e l l e n . Es ist unschwer zu erkennen, daß Dehmel diese Distanz nicht angesichts der erotischen Motive, sondern vor allem angesichts der sozialen Motive beansprucht. Es handelt sich dabei durchweg um Selbstrechtfertigungen mehr oder minder verhüllter Art. Es handelt sich aber auch um die Scheu, seinen künstlerischen Individualismus zugunsten eines gebundenen Parteiergreifens aufzugeben. Es gab da eine ganze Gruppe von sozialen Gedichten zu erläutern und zu verteidigen. Das bekannteste, indessen keineswegs radikalste ist das halb balladeske „Der Arbeitsmann". Gedichte wie „Ein Märtyrer, Vierter Klasse, Zu eng" (bereits in den „Erlösungen" von 1891 bzw. 1898) oder wie „Hafenfeier" und der erwähnte „Bergpsalm" greifen ζ. T. weiter ins Anklagende über. Aber daneben steht nun die theoretische These: „Nicht als solche fesseln den Künstler die Entwicklungsideen der Zeit, . . . sondern als Äußerungen menschlicher Naturkraft". Also Dehmel versucht eine Art von Analogiebildung zu: erotischer Naturkraft und Triebmacht, die noch einer gewissen Rechtfertigung zu bedürfen scheint. Auf einem Vortragsabend seiner sozialen Gedichte rückt Dehmel vom reinen Bekenntnischarakter betont ab und nimmt das Recht als Künstlerpflicht für sich in Anspruch, sich liebevoll und subjektiv ehrlich in die Gesinnungen und Bestrebungen zu versetzen, indem „der Dichter nichts weiter will, als natürliche Triebe und Kräfte in Schönheit darzustellen". Das entspricht freilich recht wenig jenem propagierten Einklang von Leben und Kunst, erinnert dagegen beträchtlich und (in Dehmels Sinne s. 0.) bedenklich an Zarathustras virtuos tänzerisches Hinwegschreiten über Ideen und Ideale. Wieweit Dehmel hier nur Deckung sucht, kann nicht näher

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untersucht und erörtert werden. Man gewinnt den Eindruck, daß seine Poesie in diesem Betracht echter und offener war als seine ihr zugeordnete Poetik, so daß die teilweise Diskrepanz von Theorie und Praxis wohl auffällt, nicht aber zuungunsten des Dichters und Menschen ausfällt. Zu oft steht die Lehre locker neben dem Leben, das zudem fast nur im Liebesleben sich erschöpft. Im Kosmischen schwärmend, unterschätzt Dehmel oft die Nähe des Komischen, das durch den Hang zum Rhetorisch-Pathetischen und Theatralisch-Romanhaften noch bedrohlicher, selbst dem willigen Leser oft überrumpelnd auf den Leib rückt. Nietzsche konnte auch das GroteskNärrische auffangen durch seine sprachliche Gestaltungskraft. Dehmels Kraft überhebt sich nicht selten, wenn es gilt, das Dionysische auf das Idyllische umzuschalten (vgl. das „Glühwürmchenpärchen" in dem triebhaften Gedicht „Aus banger Brust"), oder die Tragfähigkeit der großen idealen Gebärde einer „Inbrunst . . . zur ganzen Welt" richtig einzuschätzen für das — nun recht prosaisch wirkende — Einbauen einer vielleicht persönlich durchaus echten Alltagsgeste realistischer Art („Ich steh, und schmerzhaft reiß ich mir den Bart"). Das ist eben nicht dasselbe, als wenn Nietzsche (in „Vereinsamt") sagt: „Was stehst, du Narr . . . " Richard Dehmel hat in seiner formulierten Poetik (wohl in jedem Essay) immer wieder nach der Kunst-Wirkung und vor allem der Dauer-Wirkung des Kunstwerkes gefragt. Und er hat fast die gesamte Wertung von dieser Wirkung abhängig gemacht. Die werkimmanente Poetik aber scheint oft nicht einmal die Augenblickswirkung klar abzuschätzen. Fast möchte man zuspitzen: auf der Jagd nach dem fernen Ideal ist er nicht selten über die nahe Realität gestolpert, und zwar auch dann und gerade dann, wenn er diese Realität keineswegs übersah, sondern sie sah und im Nebenbei sogar suchte. Was er dagegen in allzugroßer Selbstsicherheit übersah, das war eben jene von ihm theoretisch so oft beschworene Wirkung der Realität im Raum der pathetischen Idealität. Jedenfalls fällt es schwer, solche Fehlwirkungen als positive Merkmale eines „naturalistischen Idealismus" gelten zu lassen, von dem man mit nur bedingtem Recht bei Dehmels Kunst und Kunstanschauung gesprochen hat. Es darf doch nie vergessen werden, daß schon der frühe Dehmel noch zur Blütezeit des Naturalismus zwar in einer naturalistischen Programm-Zeitschrift, aber ihrer Haupttendenz deutlich widerstrei12

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tend, einen Essay über „Die neue deutsche Alltagstragödie" erscheinen ließ (Münchener „Gesellschalt", 1892, entstand, schon 1890), die ihm so ganz und gar nicht zusagen wollte. Der naturalistischen Prosa-Epik war er damals fast ebenso wenig gewogen, wie das Gedicht „An die Zolaisten" (im Rahmen der „Erlösungen", 1891) bekundet. Mit Arno Holz und dessen Gesetz (von 1891) reibt er sich mehrfach. An sich läßt er die naturalistische Darstellungsweise noch am ehesten in der Prosa gelten. Aber letzten Endes und trotz einiger notgedrungener Einräumungen galt ihm Prosaepik überhaupt nicht als vollwertige, jedenfalls nicht als besonders hochwertige Dichtung. Angesichts des Zola-Nachrufs Julius Babs muß er zwar höflicherweise etwas nachgeben; aber er meint doch prinzipiell: „Was man gegen ihn (E. Zola) einwenden kann, ist nur das, was sich gegen a l l e Prosaisten sagen läßt, die m e h r als äußere Lebensvorgänge darstellen wollen. Für die Darstellung innerer Lebensgesetze, die ja das B i n d e n d e p a r e x c e l l e n c e bedeuten, wird ewig der Vers, die g e b u n d e n e Form, das entsprechendste Ausdrucksmittel bleiben" (Nov. 1902). Als er das etwas waghalsige Unternehmen durchführte, die dreimal 36 Romanzen seines „Romans in Romanzen" auf drei Vortragsabende zu verteilen, beschwichtigte er seine Hörer durch einige allgemeine Betrachtungen über „Hörer und Dichter, Faktoren epischer Komposition". Er nahm dabei die Rechte des Epos in Anspruch, ohne geradezu Neuigkeiten mitzuteilen (mündliche Darbietungsweise als „bleibendes Stilgesetz", Goethe-Schillers Theorie der „retardierenden" Elemente usw.). Aber worauf er sich merklich etwas zugutetut, was angeblich „noch kein Ästhetiker" (kennt er alle?) gebührend gewürdigt hat, das ist der „Zwang zur rhythmischen Struktur". Und bei dieser Gelegenheit spricht er von einem „concentrativen Rhythmus" (vgl. A. Holz' „notwendigen" und 0. zur Lindes „phonetischen Rhythmus"), wie übrigens beim Drama wenigstens von einem „concentrierten Stil" die Rede ist. Der R h y t h m u s als K o m p o s i t i o n s f a k t o r und stofforganisierende Formungskraft hebt die echte versepische Poesie vom „ungefügen Bastardprodukt" des Prosaromans, der also merklich als Halbkunst rangiert, erlösend ab. Aber hinter diesem Preislied auf den Rhythmus steht ein Lieblingsgedanke Dehmels, der Gedanke nämlich vom „rhythmischen Pathos des Lebens" überhaupt und aller seiner Äußerungsformen. Dichterische Einbildung und naturwissenschaftliche Teilbildung geraten dabei eigenartig genug durch-

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einander, fast so wie bei Strindbergs chemischen und biologischen Ambitionen. Und ähnlich wie Strindberg Zustimmung bei Fachgelehrten erstrebte, hat Dehmel, wenn auch nicht ganz so intensiv und extensiv, allen Ernstes Resonanz für seine reichlich phantastischen „rhythmodynamischen Ideen" und seine Theorie von einer „rhythmischen Transformationsenergie" bei dem Jenaer Physiker Prof. Felix Auerbach gesucht (Dez. 1904 u. Jan. 1905). Kunsttheoretisch im Vordergrande steht da ein Sonder-Essay über „ K u n s t f o r m und R h y t h m u s " , der ausgeht von der These des „jungen Dichters" (!) Julius Bab, „neue Worte und Wortordnungen zu schaffen", das sei vorzüglich die Aufgabe des Dichters. Richard Dehmel wendet wohlwollend ein, daß dies zu unbestimmt sei, da auch Meister der Rede wie Luther oder Nietzsche (er wird also wieder einmal heraufbeschworen) wortmächtig seien. Er setzt nun, um es kurz zu machen, die „Komposition", und zwar die „rhythmische Komposition" als entscheidendes Wesensmerkmal und Wertkriterium des Dichterischen schlechtweg ein. Erst durch den Rhythmus werde die „triebhafte Gestaltung" als eine „instinktive Organisation" wirksam. Wieder spielt — wie dort in den Briefen an F. Auerbach — Naturwissenschaftliches und Mystisches wirr durcheinander. Vom Vergleichsbild elektrischer Wechselströme wird gesprochen, um die „Verhältniswerte" zu umschreiben, aber auch vom „mystischen Akt der Transformation", ja sogar von einem „absoluten Mysterium". Dann wieder ist recht sachlich von Spannungsverhältnissen, Gleichgewicht bzw. Spannungsausgleich die Rede. Aber der Endertrag, auf den als Synthese (u: Hypothese) alles zielt, der „rhythmo-dynamische Instinkt" gleicht doch wieder der „unio mystica". Dieses instinktive „Maßgefühl" wird geradezu gleichgesetzt mit dem Geniebegriff, sowohl für den Kunstschaffenden wie für den Kunstkritiker. Manche Momente könnten als romantisch, andere als symbolistisch bezeichnet werden. Hinzu tritt eine gewisse Mystik, die nun freilich nicht mehr aus den „Nachtseiten" der Naturwissenschaft abgeleitet wird, aber doch gern an die problematischen Stellen der Naturwissenschaft anknüpft. Ähnlich weist das Moment der Sehnsucht (und besonders der „Sehnsucht ohne Ziel") auf Romantisches. Das Ausgleichsstreben u. a. würde auf Klassisches deuten. Und so stecken in Dehmel mancherlei Kräfte, die zum Wegsuchen zwischen Neuromantik und Neuklassik führen könnten. Aber das Gesund-Kraftvolle widerstrebte von vornherein jeder, wenn auch neuromantisch 12·

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gefärbten Dekadenz. Fast möchte man fragen, warum Richard Dehmel nicht zum Expressionismus übergegangen ist. Vor allem dann, wenn man etwas kritisch Expressionismus mit Exzessionismus gleichsetzt. Aber das Sinnenhafte war zu stark in Dehmel wirksam, als daß er (trotz der Anlehnung an Alfred Mombert) diesen Weg hätte gehen können. Nicht zuletzt durch die Kraftzufuhr von Nietzsche her wurde Dehmel zu einem interessanten Einzelgänger zwischen Naturalismus und Expressionismus, ohne deshalb den „großen Einzelgängern" (vgl. Kapitel VI), die alle wesentlichen Literaturepochen seit dem Naturalismus überdauert haben, zugeordnet werden zu könen, ohne deshalb aber auch zur Neuromantik oder Neuklassik im engeren Sinne gerechnet werden zu müssen, deren Grundstrukturen jetzt näher ins Auge zu fassen sind. Im Naturalismus war der Realismus als „konsequenter Realismus" nach mannigfachen Ansätzen und Anläufen zu einem Ziel gelangt, das bereits in früheren Epochen immer wieder als erstrebenswert ins Auge gefaßt, aber niemals zuvor völlig erreicht worden war. In derselben Richtung war er schwerlich zu überbieten, weder im Kunstschaffen noch im Kunstwollen, nicht nur deshalb, weil er Entwicklungsgewinne des Auslandes (Frankreich, Skandinavien, Rußland) verwerten konnte und glückliche Voraussetzungen in einer willig diesem mächtigen Zuge folgenden Generation von Dichtern und Kritikern antraf, sondern auch und nicht zuletzt, weil er soziale Schäden vorfand unter dem verhüllenden Deckmantel wirtschaftlicher Scheinblüte, die eine rücksichtslose Aussage über die wirklichen Verhältnisse herausfordern mußten. Wie einst in der Aufklärung hatte diese Generation das richtige Gefühl, am Vorabend einer Revolution zu stehen. Und sie nahm —· wie einst der Sturm und Drang —· gleichsam die künstlerische Revolution vorweg, da ihr die politische vorerst noch in eine zukünftige Feme entrückt zu sein schien. Wie die Jungdeutschen sahen sich die Jüngstdeutschen auf eine Möglichkeit verwiesen, die sie noch nicht als Wirklichkeit erzwingen konnten, wohl auch kaum ernstlich erzwingen wollten. Sie unterwarfen den Geist ihrer Zeit, den sie, wie einst vom nationalen Standort Ernst Moritz Arndt es getan hatte, nun auch vom sozialen Wertungswinkel aus als Ungeist der Zeit einer scharfen und schonungslosen Kritik, die jedoch vom Destruktiven nicht recht zum Konstruktiven oder Produktiven vorzustoßen die hin-

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reichende Kraft besaß. Sie verfügten über das klare Bewußtsein, daß der „Kunstepoche" eine politisch gelenkte Kulturepoche folgen müsse, in der die Kultur nicht ein Luxus der Wenigen und Auserwählten, sondern eine innere Erlösung der Vielen und Gequälten sein und werden mußte, wobei die Kunst nur ein Kernstück dieser allgemeinen Menschheitskultur zu bilden und eine feste Kristallisationsstelle zu bieten hatte. Die gesellig verschönernde Funktion der Dichtkunst sollte bei diesem Bemühen der gesellschaftlich verbessernden Funktion der Poesie zeitgemäß und situationsgemäß weichen. Die kunsttechnischen Mittel für solche Zwecke stellte der Realismus, in der konsequenten Ausprägung als „Naturalismus". Zu übertrumpfen und zu überwältigen war er eigentlich erst durch den Surrealismus und den Expressionismus. Denn erst durch das Extreme konnte das Extrem entwaffnet und entschärft werden. Und wenn der Naturalismus eine Verdichtungs- aber auch Vergröberungsform des Impressionismus darstellte, so konnte im Raum des Irrationalen, das an die Stelle des beobachtenden Experiments die erlebte Ekstase und an die Stelle der äußeren eine innere Wirklichkeit setzte, recht eigentlich erst der Expressionismus die voll ebenbürtige Gegenkraft entfalten, die das exakt Erlauschte durch das expressiv Erlebte zu verdrängen vermochte. Aber nicht nur kunstanschaulich, auch weltanschaulich bot der Expressionismus das letzte, an sich und in sich wiederum überladene und (mit Vulgärmystik, Religionszuflucht, Erotik usw.) überlastete Gegengewicht gegen die positivistische Nüchternheit und impressionistische Nacktheit des Naturalismus. Selbst die grundlegenden und anregenden philosophischen Kräfte bewegender und erregender Art (dort die Naturtheorie, hier die Lebensphilosophie) weisen in die Richtung einer Antithese, die eine Synthese in sich trägt, ohne sie bislang wirklich und wirksam fruchtbar ausgetragen zu haben. Impressionismus und Expressionismus sind eben doch nicht nur zwei „linke Kinderschuhe", die man so oder so tragen kann und die schlechthin „immer passen". Sie umfassen nicht allein das verschiedenartige Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern auch das zur Wesenhaftigkeit und Werthaltigkeit, nicht nur das zur Physik, sondern auch zur Metaphysik, nicht nur das zur Realität, sondern auch das zur Idealität, nicht nur das zur Hingabe an ein Gegebenes, sondern auch das zum Hinweis auf ein Aufgegebenes, nicht nur das zu einer wirklichen Umwelt, sondern

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auch das zu einer wesenhaften, geistig-seelischen Eigenwelt und Innenwelt. Aber das sind Aussichten auf einen weiten Weg, der erst Schritt für Schritt erobert werden mußte. Vorerst lag es entwicklungsgeschichtlich näher, sich im Abwehrund Überwindungskampf gegen den Naturalismus zu besinnen und vor der anscheinenden (oder scheinbaren) Ubermacht zurückzuziehen und zurückzureiten auf die alten bewährten und — wie man in diesen Kreisen hoffte — nur vorübergehend besiegten Gegenspieler im Kräftespiel der künstlerischen Gewalten: auf die Klassik einerseits und die Romantik andererseits. Das galt um so mehr, als diese Mächte niemals ganz in Ohnmacht versunken waren und man damit das (im 19. Jahrhundert) altgewohnte Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik nun erneut wieder aufnehmen konnte. Das „Nach" wurde dabei aufgefrischt zu einem „Neu", indem man eine Neuklassik einerseits und eine Neuromantik andererseits programmatisch „neu" verkündete und produktiv „neu" versuchte. Inwieweit man bei diesem Verfahren letztlich sich zurückzog, während man vorzugehen und fortzuschreiten vermeinte, kann hier nicht entschieden werden. Wohl aber ist von vornherein so viel klar, daß man auf höherer Kehre der Entwicklungsspirale das neu erobern zu können und zu sollen meinte, was an sich alter Besitz war, von dem man indessen hoffte und allen Ernstes erwartete, daß er inzwischen reiche Zinsen abgeworfen hatte. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in beiden Fällen die erstrebte Position von der Opposition gegen den konsequenten Realismus (Naturalismus) weitgehend bestimmt wurde. Beide Stilrichtungen „wollten" zunächst einmal nicht das, was der Naturalismus „gewollt" hatte. Darin liegt zugleich das beiden Gegenströmungen Gemeinsame, soweit sie sonst immer voneinander abweichen mochten. Und eben durch jene Opposition glaubten beide das eigentliche Wesen und Wollen der Klassik und Romantik reiner erfassen zu können, weil inzwischen der Filter des Realismus durchlaufen worden war. Denn weil die restlose Befriedigung der Wirklichkeitsdarstellung immer noch ein Bedürfnis nach idealisierender und romantisierender Kunstgestaltung wach erhielt, mußte dieses Bedürfnis über die einstige Bewährung in der Klassik und Romantik irgendwie und irgend wodurch lebensfähig und wirkungsmächtig hinausgreifen. Das Kunstwollen zum mindesten beanspruchte ein Mehr, obwohl das Kunstschaffen nur ein Weniger bewährt, zum min-

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desten was die Neuklassik betrifft, denn in der Neuromantik liegen die Dinge verhältnismäßig vorteilhafter. Gemeinsam aber blieb beiden Kunstrichtungen das Hingerichtetsein auf die gepflegte und gewählte Formung unter Zurückstellung des Inhaltlichen, das im Naturalismus sehr stark beteiligt gewesen war, wenn es nicht sogar den Vorrang zugebilligt erhalten hatte. Gemeinsam war beiden Gestaltungsbereichen weiterhin die Entfernung von den Naturwissenschaften und eine entsprechende Annäherung an andere Künste, an Architektur und Plastik innerhalb der Neuklassik, an Malerei und Musik innerhalb der Neuromantik. Gemeinsam war beiden der Glaube an eine Renaissance trotz und jenseits des Realismus (nicht nur die „Blätter für die Kunst" Stefan Georges glauben „in der K u n s t . . . an eine glänzende Wiedergeburt"), an eine Kunstwelt jenseits und über der Wirklichkeitswelt, an eine Steigerung des Erlebens jenseits der bloßen Erfahrung, an eine innere Wertwelt jenseits der äußeren Wirklichkeitswelt, an den Dauerwert eines idealisierten und romantisierten Typus jenseits des realistisch konzentrierten Typus, an die bedeutende Bildung und Bildung des Bedeutenden (Neuklassik) einerseits und die bildhafte Bedeutsamkeit der Symbolik andererseits (Neuromantik). Gemeinsam ist beiden, daß nicht die Formung und Erfassung des Lebens, sondern dessen „künstlerische Umformung" und geistig-seelische Deutung als Aufgabe des Dichters galt. Den Übergang erleichterte der Symbolismus, weil seine Ansätze schon im Realismus keimhaft bereitlagen. Und selbst noch im Expressionismus vermag der Symbolismus wesentliche Formgebungen und Sinngeltungen zu ermöglichen und gestalterisch zu verwirklichen, wenngleich auf entsprechend emporgepreßter Steigerungsschicht, wobei freilich eben wegen dieser Pressung das Symbolische gelegentlich wieder zum Allegorischen abgleitet. Daß die Position aus der Opposition gewonnen wurde bei der Gegenwehr gegen den Naturalismus und sein Kunstwollen, geht schon daraus hervor, daß die Neubelebungsversuche von Klassik und Romantik nicht in der zeitlichen Abfolge unternommen wurden, die jene Vorbild-Epochen an sich nahegelegt hätten. Kurz gesagt: die Neuromantik ging chronologisch der Neuklassik voraus. Die Neuromantik nämlich weiß als Stimmungskunst die fin-de-siöcle-Stimmung produktiv zu machen und tritt fast genau ein Jahrhundert nach dem Durchbruchsjähr der älteren, „echten" Romantik (1797) deutlich in die Erscheinung (etwa 1895—97).

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Dagegen erfolgt der Gegenstoß der Neuklassik im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Das ist kein Wunder; denn über die symbolische Vergeistigung des Realen zum Neu-Romantischen war der Weg näher als über die bildende Idealisierung des Realen in der Neuklassik, ganz abgesehen von der Verwandtschaft der Neuromantik mit dem symbolistisch umgeformten Realismus hinsichtlich der Abwehr des selbstzufriedenen Philistertums und hinsichtlich der freilich ins Sentimentalische bis Sentimentale umgebogenen Mitleidsthese einer passiven Hingabe an den nachbyronschen „Weltschmerz". Außerdem und vor allem versprach die Neuromantik mit ihrer scheinbar schroffen Entgegensetzung gegen den Naturalismus das wirksamere Radikalmittel. Denn Realismus und Romantik, konsequenter Realismus und konsequente Romantik vollends standen kräftiger im unversönlichen Kontrast als Realismus und Klassik. Und zwar schon deshalb, weil sich Realismus und Klassik, und also auch Neu-Realismus und Neu-Klassik im formenden und gestaltenden Umwerben und Bewältigen des GegenständlichPlastischen doch irgendwie und irgendwo wiederum berührten. Dabei bleibt freilich zu berücksichtigen, daß die Prävalenz des Ästhetischen gegenüber dem Ethischen sowohl der Neuromantik wie der Neuklassik eigen ist, während der konsequente Realismus den Vorrang des Sozialen als Positivum für sich buchen konnte. Auch verbindet Neuromantik und Neuklassik der Glaube an die Uberwertigkeit und künstlerische Überlegenheit der Versdichtung gegenüber der Prosadichtung des konsequenten Reedismus. Das „neue" Deutschland hob sich dergestalt ab als Neu-Romantik und Neu-Klassik vom Jungen Deutschland sowohl, das die Prosa als zeitgemäße „Waffe" ebenso erklärt hatte wie das Jüngste Deutschland des Naturalismus. Im Wert- und Wesensverhältnis von „Poesie und Unpoesie" (0. Walzel 1937) galt jetzt wieder die Verspoesie als die „eigentliche". Denn was die Neuromantik übersteigerte bis zum lässig-eleganten Spiel der Formenwerte und der Klangwerte und Klangwirkungen, eben das kultivierte in ihrer Art und unter stärkerer Anlehnung an die Antike die Neu-Klassik. Für die Kunsttheorie ist festzuhalten: die werkimmanente Poetik überwiegt in der Neu-Romantik, die formulierte Poetik (jenseits der im Werk enthaltenen Kunstgespräche) überwiegt in der Neu-Klassik. Mit anderen Worten: die Neu-Romantik ging mehr von der künstlerischen Stimmung aus, die Neu-Klassik

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mehr von der kunsttechnischen Bestimmung, die Neu-Romantik mehr von den dichterischen Gaben, die Neu-Klassik mehr von den dichterischen Aufgaben. Einen so programmatisch eingestellten und ausgerichteten Kunsttheoretiker wie ihn die Neu-Klassik in Paul Emst besaß, hat die Neu-Romantik schwerlich aufzuweisen. Man müßte dann schon auf die kultur- und kunstphilosophische Grundlegung durch Fr. Nietzsche und auf die werkimmanente Poetik, Literaturtheorie und Musiktheorie bei Richard Wagner zurückgreifen. Es dürfte innerhalb der Neu-Romantik kein so wegweisendes Werk theoretisch-programmatischer Art geben, wie es ζ. B. Paul Emsts „Weg zur Form" innerhalb der Neu-Klassik darstellt; denn ein „Weg zur Stimmung" ist —• trotz Hofmannsthal — in neuromantischen Kreisen niemals geschrieben worden. So kommt es, daß man sich hinsichtlich des Kunstwollens der Neu-Romantik weit mehr an die werkimmanente Poetik und vielleicht noch an die im Kunstwerk formulierte Poetik halten muß, angefangen mit der bekannten Prägung Hugo v. Hofmannsthals in den Widmungsversen für Arthur Schnitzlers notdürftig dramatische Szenenreihe des „Anatol", die da lauten: „Frühgereift und zart und traurig" und die damit die dekadente VorreifeundFrühreife„tragisch'*-sentimentalisch umschreiben. Wie hier ist es vorab und zuletzt das Lyrische (auch das Lyrische im Drama), das der Neu-Romantik eigentümlich bleibt, während die Neu-Klassik unverkennbar einer neuen Grundlegung des Dramatischen zustrebt. Die Neu-Romantiker sind vorwiegend Lyriker, und zwar auch dort, wo sieDramatiker zu sein glauben wie Hofmannsthal. Die NeuKlassizisten sind vorwiegend Epiker, und zwar auch dort, wo sie Dramatiker zu sein glauben. Weder die Neu-Romantik noch die Neu-Klassik hat dauerwertige Dramen hervorzubringen vermocht. Und im Gesamt ist von der romantisch-lyrischen Dramatik der Neu-Romantiker immer noch weit mehr am Leben geblieben als von den formgerechten Konstruktionen der Neu-Klassiker. Der „Tor und der Tod" von Hugo v. Hofmannsthal oder seine Neubelebung des Spiels vom „Jedermann" hat sich als dauerkräftiger erwiesen (auch auf der Bühne) als etwa Paul Emsts „Kassandra" oder „Demetrios" oder „Brunhild". Vor lauter „klassischem" Stil gelangt er nicht zur Wirkung (und vollends nicht zur Bühnenwirkung) eines Klassikers oder gar eines klassischen Nationalautors im Sinne von Goethes Aufsatz „Über den literarischen

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Sansculottismus". Mit anderen und kargen Worten: die Neuromantik hat selbst dort die Neuklassik geschlagen, wo die Neuklassik besonders beschlagen sich dünkt: im Bereich des Dramas. Das muß stets gegenwärtig gehalten bleiben, wenn nun von der Poetik und Literaturtheorie die Rede ist. Rein quantitativ steht die Neu-Romantik hinter der Neu-Klassik zurück. Aber hinsichtlich der Produktion überbietet die Neu-Romantik die Neu-Klassik und auch hinsichtlich der Wirkung und Nachwirkung. Das mochte nicht zuletzt daran liegen, daß die Neu-Romantik tiefer untergründet war im Lebensgefühl und Weltbild, vor allem durch Fr. Nietzsche. Sie war mehr eine natürliche Reaktion auf den Realismus, während die Neu-Klassik mehr wie ein künstlich konstruiertes Gegen-Programm wirkt. Dem entspricht es, wenn die Neu-Romantik tiefer in den Expressionismus eindringt, als die Neu-Klassik etwa auf die „Neue Sachlichkeit" eingewirkt hat, was an sich nach dem Prinzip des schlechthin Gegenständlichen und GreifbarTypischen nahegelegen hätte. Die Opposition der Neu-Romantik etwa gegen das neuzeitliche „Maschinenwesen", um ein Stichwort aus Goethes „Wanderjähren" aufzugreifen, mußte zeitgemäß und situationsgemäß wirksamer sein als das Heraufbeschwören antikisierender Haltung und Gestaltung. Kein Wunder, wenn die Novellen Paul Emsts noch lesbarer erscheinen als seine Dramen aufführbar sind. Die „große Form", die hier tapfer und tüchtig angestrebt wurde, versank und versandete nur allzu leicht in einer „bloßen Form". Und der Idealismus gab sich allzu schnell (und vorschnell) zufrieden mit einem Formalismus, dergestalt, daß der „Weg zur Form" veräußerlichte zu einem Irrweg zum Formalismus. Man klammerte sich allzu vertrauend und zuversichtlich an den Felsen an, den Felsen der „klassischen" Formung, der „klassischen" Kunst und Komposition, an dem der Naturalismus als formlose, wenngleich inhaltreiche Kunst gescheitert zu sein schien, Paul Ernst so gut wie Samuel Lublinski oder Wilh. v. Scholz. Wo die Neu-Romantik ehrlich und ernstlich protestiert hatte, da demonstrierte und konstruierte die Neu-Klassik allzu weit und willig. Und wo die Neu-Romantik aus lebendigem Stoff eine lebendige Gestalt hervortrieb, was einst schon Jean Paul gefordert hatte im Grenzbezirk von Klassik und Romantik, da betrieb die Neu-Klassik das vergebliche Kunststück, aus einem toten Stoff eine scheinlebendige (aber in der Wirkung tote) Gestalt hervorzutreiben. Der Gegenstoß der Neu-Klassik war zu starr, als daß er

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den Druck des konsequenten Realismus wirksam auffangen konnte. Die Gegenkraft der Neu-Romantik erwies sich auf die Dauer als weit nachhaltiger, weil sie elastisch das auffing, was den konsequenten Realismus zunächst und zuvörderst anging. Man konnte das Realistische nicht einfach umwandeln in ein Idealistisches (Neuklassik); man konnte es weit leichter umsetzen in ein Symbolistisches (Neuromantik bis Expressionismus). Aber eine erhöhte Bewertung der Form (bes. der Versform) blieb beiden Richtungen eigentümlich. Darin verbanden sie sich im Kunstschaffen und im Kunstwollen zu einem Bündnis, das sich in der Kampfansage gegen den Naturalismus einig war, so uneins sie untereinander sonst immer sein mochten und in der Theorie und „Tat" waren. Denn mag man gewohnheitsmäßig Stefan George der Neuromantik zuordnen, gestaltungsmäßig und im Kunstwollen steht er dennoch einer neuen „Klassik" im Sinne einer Zweckbefreitheit der Kunst um der Schönheit und des ästhetischen Geschmacks willen ganz unverkennbar nahe, jedenfalls weit näher als mancher der Neuromantiker im engeren und strengeren Sinne. Gerade im Zusammenhange der Gesamtentwicklung wird evident, daß man in der Neuromantik und der Neuklassik nicht ein um jeden Preis „Neues" erwerben und bewirken, sondern daß man zugleich und nicht zuletzt ein „Altes" erhalten und bewahren wollte. Je eingehender und einläßlicher sich die Sonderforschung mit Kunstleistung und Kunstwollen dieser Stilrichtungen befaßt, die wiederum doch mehr waren als bloße Stilrichtungen, desto zahlreicher werden die Verknüpfungen mit der Klassik und Romantik; und gelegentlich wird mit dem Nachweis solcher Bezüge schon des Guten zuviel getan. Denn die Antike kann man so oder so sehen, wie die Spannung Winckelmann-Nietzsche andeutet, und auch das Mittelalter und die Mystik kann man so oder so „erleben", wie die Spannung Herder-Kolbenheyer andeutet. Zwischen Novalis und Rilke besteht bei aller Verwandtschaft doch ein weiter Abstand und ebenso zwischen Hölderlin und George. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren wesentlich anders geartet, so daß allein aus diesem Grunde der „Weg nach Weimar" denn doch nicht so leicht beschreitbar war, wie es Fr. Lienhard glauben machen möchte. Die Abwehr des „Maschinenwesens" wird schon in Goethes „Wanderjahren" vernehmbar. Aber die erdrückende Übermacht der Technik, die Furcht und Flucht vor der Technisierung und Mechanisierung mußte jetzt

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einen weit höheren Grad erreichen, bis sich der frühere Seufzer der Beklommenheit im Expressionismus vollends zu einem erschrockenen Angstschrei steigerte. Und nicht unähnlich stand es mit dem Sich-Bedrängt- und -Bedrohtfühlen durch die „Masse". Da genügte nicht mehr die Zuflucht, die auch noch der poetische Realismus des 19. Jahrhunderts etwa im Idyllischen gesucht hatte. Nur der Rausch der Schönheit und der Rausch der Größe („Übermensch") oder der Rausch der Ferne vermochten wirksame Gegenkräfte zu stellen. Gewiß wurde zugleich der längst bewährte Ausweg in die Idylle nicht verschmäht; er wurde sogar planmäßig ausgebaut (Heimat-Kunst). Aber den Neuromantikern und Neuklassizisten im engeren und strengeren Sinne tat diese Ausflucht als bloßer gesundend-erholsamer Ausflug in das Heimelig-Heimatliche kein Genüge. Sie spielten nicht das Volk (bes. das Landvolk) aus gegen die Masse (besonders die Großstadtmasse), sondern die Individualität mit ihrem Anspruch auf Genialität, den Übermenschen mit seinem vermeintlichen Anrecht, am stärksten (auch künstlerisch stärksten) allein zu sein. Die Neuromantiker transformieren die Hochspannung der Menschheitsprobleme in den temperierten Schwachstrom individueller Problematik. Ihnen wird nicht die Anspannung produktiv, sondern die Abgespanntheit, nicht das geistige Wachsein, sondern das gemütvolle Verträumtsein. Sie transponieren das geistige Wort mit seiner schmerzenden Helligkeit in das wohltuende Halbdunkel der sinnenden Dämmerung, das Gesprochene in das Malerisch-Musikalische. Dabei bevorzugen sie das Pastell der zarten Farbigkeit oder die Meditation in gedämpften Zwischenklängen. Nicht die Konturen, die Tönungen entscheiden über die Wahl der Mittel und die oft virtuos erzwungenen Wirkungen. Das Fixativ, mit dem sie ihre Pastellfarben festigen, ist eine neuromantische Ironie. Nicht selten aber lassen sie es auch darauf ankommen, daß die an sich schon blassen Farbtöne vollends ineinander verwischt werden. Sie scheuen die große Vision und geben sie preis, um eine kleine Illusion heimzubringen. Sie brauchen immer neue Illusionen, um alte Illusionen zu desillusionieren. Sie brauchen immer neue Reize, um aus der Ruhe der nervös Ermüdeten den Rausch der nervös Erregten zu gewinnen. Denn in Wirklichkeit ist das Reagieren der Wahrnehmung auf das Stimulans der Stimmung nicht deshalb angewiesen, weil die Sinne überschärft sind — wie man sich und andere glauben

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machen möchte —, sondern weil die Sinne abgestumpft sind. Und das Diffuse ist nur eine Begleiterscheinung des Dekadenten. Teils ist man d e k a d e n t , t e i l s g i b t m a n v o r , es zu sein. Die bei der echten Romantik zu Identitätsvorstellungen vertiefte Zweieinigkeit des Unbewußten und Bewußten (vgl. Band III) wird zu einem raffinierten Spiel leiser Spannungen zwischen Gemüt und Geist. Man beobachtet sich aus kühler Distanz, wo man in heiliger Hingabe ganz aufzugehen meint. Aber in den Übergängen ist man durchweg echt und gestaltet sie deshalb auch mit hoher Könnerschaft. Wie die gesamte Neuromantik als Übergang erscheint, wenn anders man sie dem Vorwurf des Untergangs entziehen will, so erscheint auch das neuromantische Einzelkunstwerk als K a b i n e t t s t ü c k der Ü b e r g ä n g e . Letzten Endes handelt es sich dabei um die Eroberung einer neuen Motivwelt oder doch einer neu gesehenen und neuartig erschlossenen Motivwelt. Und beim Umwerben dieser Motivwelt sind die Neuromantiker von einer sonst unzeitgemäßen Treue, wie sie beim Erwerben dieser neu gehobenen Schätze von einer erstaunlichen Griffsicherheit sind. Das K u l t i v i e r e n der Ü b e r g ä n g e in G e m ü t u n d Geist ist der eigentliche und eigentümliche Beitrag zur Kultur der Kunst, die man zwischen Lebenskunst und Stimmungskult anzusiedeln suchte, zwischen Lebensfreude und Weltschmerz neuerer Prägung, ja der man gern den Rang einer Kunst der Kultur zuschreiben möchte. Es gibt Äußerungsformen des neuromantischen Kunstwollens und weite Entfaltungsräume der Kunstleistung, die eine K e n n z e i c h n u n g als N e u - R o k o k o näherlegen könnten als die gängige Bezeichnung Neuromantik. Denn in diesen Bereichen der Verfeinerung und Überfeinerung, des Zierlichen und Gefälligen (vgl. Band II) fehlen die großen Grundkräfte der Romantik, oder sie werden doch überspielt vom Graziös-Anmutigen, vom VerziertVerzärtelten, Köstlich-Kapriziösen. Wie hinter dem echten Rokoko die morbide Aristokratie mit ihrem Luxusbedürfnis stand, so taucht hinter diesem so verstandenen Neu-Rokoko die morbide Geistesaristokratie des fin de siMe auf. Und wie dort die Idylle der Antike rokokohaft einbezogen wurde, wie dort überhaupt Antikisches mannigfach sich mit der Schöngeistigkeit verband (S. Geßner, M. Wieland u. a.), so wurde die Zierlichkeit des Spiels lässiger Eleganz gleichsam „klassisch" legitimiert durch die Formkultur der Antike, und also durch jene „Zierlichkeit" der Elo-

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quentia, die einst schon das Barock mit Renaissance-Elementen durchwoben hatte. Das aber würde besagen —• wenn man einen freilich gewagten Schritt weitergeht —, daß die K e n n z e i c h n u n g a l s N e u - R o k o k o geeigneter wäre, auch jene Antinomien aufzulösen und im Doppelsinne des Wortes „aufzuheben", die zwischen der z.T. klassisch tendierenden „Neuromantik" des Georgekreises und der z.T. rokokohaft tendierenden Neuromantik der Wiener Gruppe fraglos (in der oben angedeuteten Weise) bestanden. Äußerlich greifbar werden solche Bezüge am schnellsten etwa an den ,,Da/ms"-Ambitionen des späteren Arno Holz oder an Rudolf Hans Bartsch' nicht von ungefähr wehmütig rücksehnender Titelgebung seines Novellenbandes „ V o m sterbenden Rokoko", vor allem aber bei R. Schaukai, der nicht zufällig ein Gedicht „Rococo" nannte und seine Novellensammlung „Eros Thanatos" mit der „Sonate aus der galanten Zeit" einleitete. Noch innerhalb des Naturalismus erholte sich bereits Otto Julius Bierbaum etwa in einem rokokohaft-galanten Gedicht wie „Jeanette" von den Strapazen der didaktischen Idee, wobei diese Bierbaum-Grazie entsprechend gesund ausfällt, aber doch das Kunst wollen auf das Leicht-Beschwingte, Gelockert-Gelöste, Graziös-Grazile einstellt. Auch die „neuromantische" Ironie nähert sich vielfach mehr einer rokokohaften Ironie des Espritvollen als der romantischen Ironie mit deren philosophischen und religiösen Hintergründen. Selbst wenn man „Rokoko" nur als abgesunkene Spiel- und Spätform der Barock-Kunst betrachtet und bewertet, lag die tiefere Ursache für ein solches Abgleiten in der Brechung und Gebrochenheit des (religiösen) Lebensgefühls durch die Frühaufklärung. Ganz ähnlich aber stand hinter dem in sich gebrochenen Lebensgefühl des Neu-Rokoko die Neuaufklärung des Positivismus und Rationalismus. Die notgedrungene Nüchternheit des naturwissenschaftlichen Zeitgeistes wurde als amusisch und also als Ungeist der Zeit empfunden. Und man suchte dem Logisch-Konstruktiven an Psychologisch-Kompliziertem abzutrotzen, soviel irgend noch möglich war. Jenes „rette sich wer kann!" des Rokoko war dem Neu-Rokoko ebenso vertraut. Und man rettete sich in seelische und geistige Kompliziertheiten und Differenziertheiten, wo auch eine selbstgefällige Naturerklärung nicht recht hineinzuleuchten und lästig-aufdringlich „aufzuklären" drohte. Die Kunst als Reservat des Lebens suchte, mehr und mehr in die Enge getrieben, Zuflucht bei einem Reservat im Reservat, wo sie sich ungehindert

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ausleben konnte, obwohl sie dem Aussterben ausgesetzt schien. Die Rokokozeit war in die Schäferidyllik geflüchtet, das Neurokoko flüchtete in die Bohömeidyllik. In beiden Fällen suchte man sich etwas mehr oder minder künstlich das am Leben zu erhalten, was nicht recht als lebensfähig galt. Und wenn man zum Sterben verdammt war, dann wollte man wenigstens in Schönheit sterben, gleichsam „mit allem Komfort" des Leibes und der Seele. Auch die lieben Kleinigkeiten gepflegter Kultur gehörten dazu. Und wenn der Naturalismus auch mit Recht den verstaubten und kleinbürgerlich verkitschten Nippeskram hinausfegen mochte, das künstlerisch echte Porzellan, das im Rokoko aufgekommen war, das leicht zerbrechliche feingliedrige Porzellan verliebter Schäferstunden wollte man sich nicht von der Plumpheit des konsequenten Realismus zertrümmern lassen. Wenn das Gesunde grob und amusisch war, dann wollte man lieber ein wenig krank sein, um musisch zu bleiben. Gewisse Perversionen waren auch dem Rokoko nicht so ganz fremd gewesen (Feenmärchen u. a.). Da körperliche Gebrechen leicht unschön wirkten, da die Poesie es zudem an sich schon mit dem Gemüt „zu tun" hatte, so hatten es die Neuromantiker eben ruhig ein wenig mit dem krankenden Gemüt „zu tun". Hier melden sich kritische Bedenken an, die Parallele Rokoko-Neurokoko zu überspannen. Hinter dem Rokoko, zum mindesten der stark verbürgerlichten deutschen Spielart, stand der Optimismus, hinter dem Neu-Rokoko als Sonderbezirk der Neuromantik stand die Skepsis. Hinter dem Rokoko wurde höchstens die stilisierte Elegie des klagenden Schäfers spürbar, während im romantisierten NeuRokoko eine teils manirierte, oft aber auch maniehafte Melancholie sehr vernehmbar wurde und nicht selten das Leitmotiv an sich brachte, wobei dann Leitmotiv und Leidmotiv zuletzt fast stereotyp zur Deckung gelangten. Aber die Formpflege ist wieder verwandt. Und wenn ein Haupt verdienst der Rokokopoesie in der Verfeinerung und Schmeidigung des Sprachstils zu suchen ist, so gilt ein Entsprechendes von dem Neu-Rokoko innerhalb der Neuromantik. Dabei wirkten sowohl dort wie hier nicht zufällig Anregungen aus romanischen Literaturen befruchtend ein. Aber die gegebenen Hinweise mögen an dieser Stelle genügen, um die Erscheinungsform und „Nuance" der stufungsreichen Neuromantik von den Wandlungen und „Wiederkehren" (vgl. Nietzsche) des Kunstwollens aus historisch zu erhellen.

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Die Bezüge, die den Österreicher R i c h a r d [ v o n ] S c h a u k a i (1874—1942) nach Stoff und Stimmung mit dem Neu-Rokoko innerhalb der Neu-,,Romantik" im Kunstschaffen verbinden, klangen schon kurz an. Aber auch in seinem Kunstwollen sind ihm die „blassen Nuancen" letztlich lieber als die prallen Nuditäten des Naturalismus. Seine früh entstandenen „Interieurs aus dem Leben der Zwanzigjährigen" aus der Mitte der neunziger Jahre des alten Jahrhunderts sind zwar noch Arno Holz gewidmet; aber seine ganze Liebe ist einer rokokohaft gefärbten Neuromantik geweiht. Er mag deshalb schon hier — wenngleich zeitlich etwas verfrüht —• eingeordnet werden. Seine kunsttheoretischen Proteste und Programme sind einem historischen Traditionswillen unterworfen, der freilich über das Romantische ins Reaktionäre zurückschlägt, zum Teil aber auch auf die Barockkultur vertiefend zurückgeht. Die Position seines Vergangenheitskultus ist merklich und unverkennbar gewonnen aus einer fast leidenschaftlichen Opposition gegen den Gegenwartskultus. Eine stilvolle Vergangenheit muß ihn über die stillose Gegenwart hinwegtrösten. Nicht Natur wird bei ihm großgeschrieben, sondern Kultur, und zwar vorab und vorzüglich Geschmackskultur. Nicht Genie ist der Gott, sondern Geschmack. Und man erinnert sich an den Primat des „guten Geschmacks" im Kunstschaffen und Kunst wollen des aufklärerischen Rokoko (vgl. Band II). Kein Wunder, wenn Schaukai etwa zweihundert Jahre nach Joh. Ulrich König noch — und wieder — „ V o m Geschmack" (1910) ein Hilfreich-Heilsames erwartet. Das Graziöse der Graziendichtung des achtzehnten Jahrhunderts wird dabei auf der neuen Wende der Entwicklungsspirale umgesetzt in das Grazile des österreichischen Neu-Rokoko. Aber auch der österreichischen Neuromantik; denn hinter diesem neuen Glauben an den Geschmack steht zugleich das Wort A. W . Schlegels, daß auch das Genie zuletzt nur einen produktiven Geschmack in seiner höchsten Potenz darstelle und demonstriere, ohne den Kunstwertaufnehmenden zu degoutieren. Und es dürfte keineswegs Zufall sein, daß Schaukal aus seiner „unbeschreiblich gemeinen Zeit" (zitiert nach A . Soergel, S. 695) einmal einen schutzsuchenden „ B r i e f " an das achtzehnte Jahrhundert gerichtet und sich darin an Namen wie Diderot, Cazotte, Chamfort und Rivarol aufgerichtet hat. Dennoch wäre es verfehlt, ihn restlos auf ein letztlich aufklärerisches Rokoko zurechtzurücken. Einem solchen Unterfangen,

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das an sich verführerisch naheliegt, widerspricht nämlich völlig seine betonte Christlichkeit. Mochte sein Geschmack zum Rokoko tendieren; sein Gemüt tendierte zu einer religiösen, ja zu einer katholischen Romantik. Denn er verleugnet den gläubigen Katholiken nicht, ob es sich nun um die Frage handelt, wie ein katholischer Literaturkritiker mit konfessionsfremden oder konfessionsfeindlichen literarischen Produkten zu verfahren habe, oder um die Frage einer Errichtung von katholischen Universitäten. Seine Kampfansage an den Rationalismus und Positivismus, an den billigen Fortschrittsglauben und humanitären Optimismus ist viel zu lebhaft und laut, als daß sie überhört werden könnte. Selbst die Mißachtung der Kunst und Kultur beim späten L. Tolstoi sucht er verstehend zu deuten aus einer an sich richtigen Rangstufung zwischen Poesie und Religion, zwischen Kultur und Kultus, zwischen diesseitiger Sicht und jenseitiger Vision, zwischen der Ehrlichkeit der Kunst und der Ewigkeit der Religion. Den Wert des Geistes überspielt und überwindet er mit dem Wert der Gnade. Auch die geistvollste Dichtung ist nur dann vollkommen, wenn hinter ihr der gottesvolle Geist der Begnadung steht. D a s N e u - R o k o k o s u c h t d e r g e s t a l t v e r t i e f e n d e W u r z e l n im A l t - B a r o c k . So verstanden, endet der neuromantische Impressionist Richard Schaukai ebenso beim Barock wie der neuromantische Impressionist Hermann Bahr, beide innerhalb Österreichs, das nicht nur im Theaterwesen dem Barocken willig geöffnet blieb. Die barocke Kunstfreudigkeit Schaukais konnte sich keineswegs auf die Poesie beschränken. Und wie er einige seiner Gedichte, die nicht umsonst in eine Sammlung „Bilder" zusammentreten, großen Bildkünstlern wie Veläzques u. a. gewidmet hat, so faßt er seine ersten „Gespräche über die Kunst", also Kunstgespräche innerhalb der formulierten Poetik (und nicht nach Art der im Kunstwerk formulierten Poetik) zusammen unter dem Titelwort „Giorgione" (1906), denen dann drei weitere Kunstgespräche über die Wortkunst unter dem Titelwort „Literatur" (1906) zeitlich und ideelich zugeordnet erscheinen. Diese Bekundungen hat schon A. Soergel in seine verständnisvolle Schaukal-Würdigung einbezogen. Hier mag deshalb ergänzend ein Blick fallen auf die kritischen „Versuche" zum Teil kunsttheoretischer Art, die unter dem Titel „Vom unsichtbaren Königreich" (1896—Ί909, erschienen 1910) zusammengefaßt worden sind. Einige der Leitideen, z.B. das Verhältnis von Dichtung und Religion, wurden bereits 13

M a r k w a r d t , Poetik V

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berührt. Stärker, als es A. Soergel vermuten läßt, überwindet nämlich in diesen durchweg sehr knappen Essays der Ethiker den Ästhetiker. Das muß und darf betont werden, obgleich R. Schaukal ursprünglich den Gesamttitel „Das Problem der Kunst" geplant hat, und zwar nach dem Sondertitel des dritten der Essays. Der jetzige Gesamttitel ist nicht politisch-patriotisch gemeint, obwohl der erste Essay vom „Vaterland" handelt. Vielmehr ist jenes „unsichtbare Königreich" gemeint, von dem nun der zweite Essay zeugt, der ganz der Kunst gewidmet ist, indem er „Variationen über das ewige Thema" bringt, das G. Hauptmann in „Und Pippa tanzt" symbolisiert hatte. Denn diese ewig romantische Pippa tanzt nicht (nur) für die Kunstbanausen, sondern für die Kunstgläubigen. Das unsichtbare Königreich ist das Reich der Seele, in dem die Kunst regiert. Die Entfaltung der Seele bedeutet mehr als die Entwicklung des Geistes. Aber insgesamt enttäuscht dieser titelgebende Essay, weil —• näher und kritisch betrachtet — Schaukai den angeblich von ihm so verachteten Sinndeutungen dieser neuromantischen Symbolik schließlich doch nur eine eigene und nicht einmal besonders originale oder tiefe Sinn-Interpretation hinzufügt. Durch Begeisterung allein läßt sich eben doch nicht so ohne weiteres der Geist ersetzen oder gar übertrumpfen. Und man könnte in diesem Falle Schaukais Lehre: „Wo Lärm ist, da kehr uml" auch gegen ihn selber anwenden. Uberhaupt will sein leicht begeistertes Pathos nicht recht übereinstimmen mit der Reserviertheit eines beherrschten und beherrschenden Geschmacks. Und es fällt häufig schwer, dem Dandy des Geschmacks die Demut des Begnadeten zu glauben. Eben deshalb fällt es auch schwer, die Schwenkung des späteren Schaukai auf die Tradition Goethe, Kleist, Stifter, Storm so willig mitzumachen, wie es Soergel für gerechtfertigt und gerecht — der Gesamterscheinung Schaukais gerecht werdend — hält, obwohl er die Gefahr eines bloßen Literatentums dekadenter Prägung keineswegs ganz aus den Augen verliert. Nicht ohne ein leise schmerzliches Lächeln betrachtet man heute die nicht einmal übertrieben eitle Sicherheit, mit der sich Schaukal als erlauchter und gottbegnadeter Dichter vom blinden Geschmeiß der gottverlassenen „Literaten" abhebt — jedenfalls in seinen Essays. Beim besten Willen vermag man an ihn nicht mehr so zu glauben wie er an sich selber. Hatte er wirklich das Recht, sich „Zur Naturgeschichte der Literaten" so lieblos zu äußern und

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die „Verfallzeit der vielen Worte" einer „vorzüglich aufs Literarische gerichteten" Bemühung so robust an den kritischen Pranger zu stellen ? — oder „Das stolze Volk der Übersetzer" (damit ist das deutsche Volk, nicht eine Berufskaste gemeint!) so brutal bloßzustellen ? — oder H. v. Hofmannsthals „Elektra"-Text so grell abwertend von der groß gefeierten Musik Richard Strauß' abzuheben (Essay „Zur Elektra") ? Es ist eigenartig: Glauben schenkt man meistens Richard Schaukai weniger dort, wo er sich über Poesie äußert, als vielmehr dort, wo er sich über die bildende Kunst und vor allem dort, wo er sich über die Musik ausspricht. Die Brücke schlägt am ehesten noch sein erklärter Liebling E. T. A. Hoffmann. Nicht umsonst hatte er in dem Jahr jener erwähnten Kunstgespräche einen „Kapellmeister Kreisler" (1906) herausgebracht. Und nicht von ungefähr handelt ein Essay aus der hier vor allem berücksichtigten Sammlung von 1910 über „Die Moral der Musik" (in Anlehnung an einen Buchtitel von Rudolf Kassner), wobei der alte Wunsch nach einem „Laokoon" der Musik (vgl. auch E. Wachler) allzu vorschnell erfüllt erscheint, ein anderer über „Richard Wagner", der geradezu als „der größte deutsche Künstler" glorifiziert wird, freilich unter Uberbewertung des christlich-religiösen Impulses in der Musik Wagners, ein weiterer verspricht „Beiträge zum Problem des Musikalischen". Aber selbst in einem „Literatur" überschriebenen Essay, der Hugo von Hofmannsthal nun nahezu schon mit massiven Injurien auf den Leib rückt, findet sich eine Erholungspause für das Quietiv der Musik. Denn es wird hingewiesen — wirklich in einer Gefechtspause —· auf die wunderbare Erscheinung eines Wechselspiels von Poesie, Philosophie und Musik, auf das Nachdichten des „Kongenialen in einer anderen Tonart", das Transponieren in die andere Schicht, auf die „Wiedergeburt Mozarts in Mörike, die Mörikes in Hugo Wolf, die Schopenhauers in Wagner". Dagegen fallen die „Elektra"-Experimente Hofmannsthals prompt in Ungnade. Es wird deutlich: über den frühen Loris-Hofmannsthal ist R. Schaukai im Grunde ungehaltener als über den „Elektra"-Hofmannsthal, den er nur taktisch gegen jenen ausspielt. Und hat A. Soergel so ganz unrecht, wenn er Schaukais Gedicht „Rococo" künstlerisch und programmatisch höher stellt als Hofmannsthals vielberufenen Prolog zum „Anatol" von Arthur Schnitzler ? Auf der anderen Seite allerdings muß gesagt werden, fast alle die Beanstandungen, die der Essay „Literatur" gegenüber dem vermeint18·

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liehen Dichtertum des durch Freitod geendeten HofmannsthalJüngers W a l t e r Cale (1881—1904) macht, treffen, wenn nicht Wort f ü j Wort, so doch Satz für Satz auf Schaukai selber zu! Er sah diese Schwächen so genau, weil er sie selber an sich hatte und in sich hatte. Da heißt es: „Walter Cale ist als Schöpfer Anempfinder, als Denker vorzüglich Leser . . . noble Intelligenz . . . Mangel an schöpferischer Potenz . . . formale Suggestionen" usw. Ist das bei Schaukai selber viel anders ? Aber Cale ist nur der Blitzableiter für das Hofmannsthal zugedachte kritische Gewitter, das dann ja auch präzise losbricht. Dieser Bruderzwist im Hause Habsburg, dieser Zwiespalt zwischen den beiden österreichischen Neuromantikern Schaukai und Hofmannsthal entbehrt nicht einer tragikomischen Ironie. Man sah seine Schwächen ganz richtig (wenn auch entsprechend übertrieben); aber man sah sie immer nur beim anderen. Und beide wiederum können mit Stefan George nicht ganz klar kommen (um es einmal so auszudrücken). Kurz, schon hier wird ersichtlich: Von einer in sich geschlossenen Front, die im Naturalismus in gewissem Grade bestanden hatte und auch in der Neuklassik auf einem freilich schmaleren Ausschnitt hergestellt wurde, konnte in der Neuromantik nicht die Rede sein.

Der Entwicklungsraum George—Hofmannsthal—Rilke S t e f a n G e o r g e und sein K r e i s wird durchweg der Neuromantik zugeordnet, obwohl sich sein Kunstwollen vielfach und unverkennbar dem Neuklassizismus angleicht. Freilich wird niemand ernstlich behaupten wollen, daß S t e f a n G e o r g e (1868 bis 1933) ein „klassischer Nationalautor" gewesen sei; aber ebensowenig wird man beweisen können, daß er ein „neuer" Romantiker gewesen sei, wenn anders man das Neuromantische nicht sehr weit in das Neuklassische hinüberlenken und hinüberleiten will. Etwas schroff formuliert: Stefan George glaubte ein Neuromantiker zu sein, war aber auf weite Strecken hin ein Neuklassizist. Nur eben, daß er gattungstypologisch vorwiegend Lyriker und Hymniker war, während die „Neuklassik" vorzüglich das Drama in den Vordergrund rückte. Stefan George war, so verstanden und richtig gedeutet, ein Dichter, der eine Neuklassik zu schaffen weit eher berufen schien als Paul Ernst, Wilh. v. Scholz oder Samuel Lublinski. Die klassische Spezialpoesie war nämlich weit mehr seine Sache und seine Sendung als die romantische Universalpoesie.

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Auch die Zweckfreiheit und Autonomie der Dichtung verwies sein Programm der ,,1'art p o u r l ' a r t " weit eher zu einer neuen Klassik hinüber als zu einer neuen Romantik. Das aber hätte nur dann Geltung, wenn die Neuklassik wirklich auf der entsprechenden Kehre der Entwicklungsspirale der Klassik geglichen und sich ihr angeglichen hätte. Von der Kunsttheorie, aber auch von der werkimmanenten Poetik her gesehen, bietet Stefan George eine Fülle von E n t s p r e c h u n g e n z u d e r K l a s s i k . An erster Stelle stände die unbedingte und unmittelbare Zweckbefreitheit der Kunst, die sogar beträchtlich weiter getrieben erscheint und selbst übertrieben erscheint, gemessen am Kunstwollen der Klassik. Das Aristokratische dieser Klassik hebt sich schroff ab vom Demokratischen des Realismus, besonders des konsequenten Realismus, der sogar dem Sozialdemokratischen willig den Zugang geöffnet hatte zu allen entscheidenden Problemstellungen der Kunst. Auch die schöne Gegenständlichkeit, der Kultus der Form, der Primat des Geschmacks, die Weihe und Würde des Dichtertums, die Abwehr des Volkstümlichen, die Vorliebe für das Bildende und das Bedeutende, das Exklusive und Erlesene muß zunächst einmal weit mehr „klassisch" als „romantisch" ansprechen und angesprochen werden. Und es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die ,,Blätter für die Kunst" (1892) etwa den „Propyläen" Goethes (u. der Einleitung) weit verwandter erscheinen als dem „Athenäum" oder „ L y c e u m " oder der „Trösteinsamkeit" der Romantik. Etwas anders steht es schon mit den von G u n d o l f und W o l t e r s herausgegebenen ,,Jahrbüchern für die geistige Bewegung" (1910—1912). Aber wenn die „Blätter für die K u n s t " das Programm entwerfen und durch ihre ganze Art bekräftigen, gegenüber dem „unvornehmen Geräusch des Tages d e r S c h ö n h e i t u n d d e m G e s c h m a c k wieder zum Siege zu verhelfen", so liegt darin weit mehr ein neuklassisches Ideal als eine neuromantische Idee. Jedenfalls dann, wenn man den Begriff der Neuklassik nicht rein historisch und gattungstypologisch einschränkt. Ebenso deutet die Merk- und Wertwortgruppe; „Stil und Geschmack" weit eher zur Klassik hinüber als zur Romantik, die um der Weite des Wunders, aber auch um des Wunders der Weite willen unbedenklich eine „Stillosigkeit" oder gar „Geschmacklosigkeit" (ζ. B. bei Jean Paul oder Ε. T. A . Hoffmann) mit in Kauf genommen hatte.

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Aber in dem Augenblick, wo Stefan George das Ästhetische dem Ethischen überordnet, wo er das wertvolle Gedicht als die Wiedergabe nicht einer Idee, „sondern einer Stimmung" umschreibt, verläßt er den Weg der Klassik, um zur Romantik hin abzuschwenken. Und indem er den Menschen an sich preisgibt, um den Übermenschen zur Geltung und vor allem zur ästhetischethischen Gültigkeit schlechthin zu erheben, verharrt er nicht bei der klassischen Seelengröße, so lieb und vertraut sie ihm immer sein mag und in der Tat ist, sondern biegt er ein in den Kultus des Dämonisch-Genialischen, das die Romantik wirksamer auszutragen und zu entbinden vermochte. Stefan George geht dergestalt von der Klassik aus, aber auf die Romantik zu. Und man trifft ihn zuletzt doch wieder auf einem Wegsuchen zwischen Nachklassik und Nachromantik oder — orientiert an dem Zwischenspiel des konsequenten Realismus, der mehr war und wollte und wirkte als ein bloßes Zwischenspiel — zwischen Neuklassik und Neuromantik. Denn es kommt nicht darauf an, was in den landläufigen Literaturgeschichten steht, sondern darauf, was vor der formulierten und werkimmanenten Poetik besteht, jedenfalls für die hier verfolgten Zwecke und Ziele. Daran gemessen aber bleibt es durchaus problematisch, ob Stefan George und seine „Blätter für die Kunst" mehr einer Neubelebung der Klassik oder der Romantik zuneigten. Überspitzt formuliert: Stefan George war ein in die Neuromantik hineingeratener Neuklassizist, der nur insoweit Neuromantiker war, wie die neue Romantik nicht der alten (oder jüngeren) Romantik gleicht. Der Sinn der älteren Romantik (der Frühromantik) für die Philosophie ging ihm weitgehend ab und ebenso der Sinn der jüngeren Romantik für das Volkstümliche, für den dichtenden Volksgeist und die schöpferische Volksseele. Die romantische Ironie vollends widerspricht völlig seiner priesterlichen Feierlichkeit. Er nimmt alles unendlich ernst, nicht zuletzt —• sich selber. Und es ist nicht von ungefähr, wenn sein Jünger Friedrich Gundolf ein gutes Goethe-Buch, aber eine schlechte Darstellung über Heinrich von Kleist vorgelegt hat. Bislang orientierte sich die Beurteilung (und stilgemäße Zuteilung) an dem historischen Begriff „Romantik" bzw. „Klassik". Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Richtungsworte und Wertworte wie „Klarheit" oder „Sonnigkeit" der klassischen Harmonie und der antiken Helligkeit und Heiterkeit weit näher

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stehen als dem tiefen Dämmerschein oder gar den „Nachtseiten" der Romantik. Auch die spontane Abkehr von der „nordischen" Rauheit und Tiefe ist der Klassik und ihrer Renaissance weit gemäßer als der Romantik. Fast möchte man meinen, daß aus der „Neuklassik" künstlerisch weit mehr herausentwickelt und herausgewonnen wäre, wenn Stefan George oder Rainer Maria Rilke sie theoretisch propagiert und dichterisch demonstriert und produziert hätten statt Paul Ernst oder Wilhelm von Scholz. Denn auch der historische Sinn, das Verstehen einer Geschichtlichkeit, wie sie in der Frühromantik vorbereitet und in der Hochromantik ausgeweitet und ausgebaut worden waren, blieben Stefan George und seinem Kreis weitgehend fremd. Sein Ideal des geistigen Helden blieb beträchtlich fern dem historischen Helden. Ebenso tendiert seine Konzeption des Menschentums im Sinne eines schöngeistigen und großseelischen Humanismus weit mehr zur Klassik als zur Romantik. Und das Vergöttern des Leibes wie das Verleiblichen des Göttlichen Stefan Georges entspricht weit eher der Dichtungsdeutung der Klassik als der Weite des Wunders der Romantik, die darin eine anmaßende (oder doch maßlose) Profanierung gesehen hätte. Der Dichter als der „Urtypus der Menschheit" nähert sich dem Typusgedanken der Klassik wie der Vorstellung Goethes von gestaltkonstituierenden Urformen und Urnormen. Und selbst wenn die Wendung, daß dieser Urtypus fähig sei, die „Spannung des Entgegengesetzten in sich zu ertragen", begegnet im Kreise um Stefan George, so braucht das noch nicht als rein romantisch aufgefaßt zu werden nach Art der Identitätsphilosophie, sondern kann auch in jenem Grenzbezirk angesiedelt erscheinen, in dem am Rain zwischen Klassik und Romantik Friedrich Hölderlin sich heimisch fühlte. Und wenn eine Sonderuntersuchung über Kunst und Weltanschauung im Kreise um Stefan George in einem Anhang auf die Lehren über Kunst und Kultur bei Gotthilf Heinrich Schubert (1780—1860) zurückgreift, so stehen die Lehren Schuberts doch nur in einem lockeren (eben nur anhangweisen) Bezug zu den Lehren Stefan Georges. Denn auch die romantisierte Naturphilosophie bleibt immer noch Philosophie, der Stefan George und sein Kreis aufs tiefste mißtrauen, weil sie Erkenntnis gibt statt Bekenntnis, Betrachtung statt Gestaltung, Besinnung statt Gesinnung, Bewußtsein statt Selbstbewußtheit. Und jede neue und neuartige Wortbildung steht dieser artistisch-virtuosen Wort-

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kunst höher als jede philosophische Systembildung. Geduldet und dichterisch gedeutet wird letztlich nur der Übermenschenkultus Nietzsches, seine Umwertung aller Werte, sein Wille zur Macht, seine Sehnsucht nach dem neuen Mythos. Hierin liegen Werte und Wirkungen, die auf eine Neuromantik hinstreben. Das Ringen um eine Mythologie und der Glaube an die Bürgschaft einer Art von Urdichtung, die in ihr liegen und den Dichter beleben und erheben soll, ist der Romantik gemäßer als der Klassik. Und auch dies, daß die Lehre vom freien Menschen zur Legende vom frommen Menschen wird, gehört der Neuromantik an, ohne im Kreis um Stefan George besonders stark sich auszuprägen, während es in Rilkes Kunstwollen ganz unverkennbar zutage tritt. Der Denker, den die Friihromantik hochschätzte, wird in der Neuromantik nur als Dichter-Denker (Nietzsche) verehrt (und nachgebildet). Man weicht der Weltanschauung aus, um sich ganz der Wesensschau hinzugeben. Man weicht aber auch der klassischen Dingdichte aus, um eine virtuose Dingdeutung an ihre Stelle zu setzen. Und insofern neigt man zu einer neuen Form- und Spielform des Romantisierens. Gattungstypologisch ist der George-Kreis vorab und vorzüglich auf die Lyrik eingestellt, auf die hymnische Lyrik, nicht aber auf das Drama. Denn das Drama will und muß auf die Öffentlichkeit wirken, die Kunst des Stefan George-Kreises aber auf eine exklusive Gruppe von Formwilligen und Form verständigen. Man scheut zudem die Aktivität und die Dynamik des Dramatischen, das vom streng individualistischen Blickwinkel aus gesehen, wie ein Zugeständnis an die Menge gelten mußte. Insofern entfernt sich Stefan George und sein Kreis von der Neuklassik, die vor allem den an sich und in sich konzentrierten Formen und strenger durchorganisierten Gattungen wie Drama und Novelle zustrebte. Die Kraftballung des Dramas war letztlich stets dem spezifisch Romantischen zuwider. Und insofern wird verständlich, warum man Stefan George und seinen Kreis der Neuromantik zuweisen konnte. Das Drama will immer irgendwie zur breiteren Gruppe sprechen und ihr zusprechen. Das Kunstwollen des George-Kreises war nicht nur konservativ, sondern auch exklusiv, blieb also vorwiegend auf die intime Gattung der Lyrik als eines Ausdrucks für die Geweihten und Eingeweihten des Kreises angewiesen und in ihrer Auswirkung entsprechend beschränkt, wenngleich in ihrer Art und Form konzentriert. Nicht nur die Kunstleistung, auch das

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Kunstwollen blieb demgemäß vorwiegend lyrisch-hymnisch bestimmt und gestimmt. Vollends unter dem Eindruck der opernhaften Theatralik Richard Wagners und seiner Musikdramen glaubte man von einem „Barbarismus des Geschmacks" sprechen zu dürfen. Das heroische Pathos, das man suchte, war ganz anders geartet als das theatralische Pathos, das man vorfand, aber auch als das soziale Pathos, das man im Naturalismus als zeitüblich bemerkte und ästhetischkritisch recht übel vermerkte. Bestenfalls duldete man dialogisch„rhythmische Gebilde" und vereinfacht stilisierte Kontraste als antithetische Vorform zur erstrebten synthetischen Vollendungsform. Und dem erhitzten dramatischen Zwiespalt und der leidenschaftlichen Kompliziertheit setzte man die Forderung einer „kalten Schlichtheit" entgegen. Die lyrische Einfalt duldete neben sich keine dramatisch gespannte und wirkungsmäßig spannende Vielfalt. Die genießende Müdigkeit der klingenden Schönheit empfand den dramatischen Alarmruf zur Aktivität als lästige Störung des Traumhaften, das nun wieder die Nähe zur Romantik bekundet. Das handlungswillige Vorhaben widerstrebte dem gehalten Vornehmen, wie das tragische Vernichten nicht dem elegisch-lyrischen Verzichten gemäß sein konnte. Für diesen Bezirk hat K a r l W o l f s k e h l in „Betrachtungen über Kunst und über das Drama" manches deutlicher und schonungsloser ausgesprochen als Stefan George selber. Und es wirkt recht instruktiv, diese Bekundungen Wolfskehls vergleichend gegenüberzustellen mit den Forderungen Paul Emsts aus dem Bereich der Neuklassik. Ein Vergleich würde ergeben, daß Wolfskehl das Dramatische vorwiegend unter dem Wertungswinkel des Lyrischen betrachtet, während Paul Emst es ganz auf seine Eigenwelt und seinen Eigenwert als handlungsreiche Dichtung des schicksalhaltigen Kampfes zurückzuführen bemüht ist. Trotzdem oder eben deshalb gibt es zu denken, daß sich das lyrische Drama der Neuromantik relativ eher durchzusetzen verstanden hat als das (theoretisch richtiger konzipierte) Drama der Neuklassik, ein Beispiel mehr für die Beobachtung, daß sich auf die Dauer die Kunstleistung als stärker erweist als die Kunsterkenntnis und das gattungsmäßig spezialisierte Kunstverständnis. Hugo von Hofmannsthal ist als lyrischer Dramatiker lebendiger geblieben als Paul Emst oder Wilhelm von Scholz. Denn dort, wo ζ. B. Wilhelm von Scholz bühnenwirksam geblieben ist wie etwa im

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„Wettlauf mit dem Schatten", freilich gefördert durch die geniale Interpretation einer Agnes Strauc, da dankt er es nicht dem Neuklassizismus. Das Bühnengerechte deckt sich aber auch sonst nicht so einfach mit dem Gattungsgerechten und gattungstheoretisch Richtigen, schon deshalb nicht, weil neben dem dichterisch Dramatischen immer auch das bühnennahe Theatralische berücksichtigt werden will als die der Bühne zugekehrte Seite des Dramatischen, durch die und mit der sich das Drama gleichsam an seinen Ursprung aus dem Mimus erinnert und sich zu ihm bekennt. Gemeinsam aber ist dem Dichterisch-Dramatischen wie dem Mimushaft-Theatralischen der Sinn für das Sinnbild, für das Symbol, obwohl dem Bühnenwerk durch die Vordergründigkeit des Szenenbildes leicht eine Wirkungsminderung aus dem geistigen „Bilde" erwächst, gemäß der Konkurrenz der Darbietungsmittel und der Vorstellungsmöglichkeiten. Vollends jedoch für die lyrische Poesie, die man im George-Kreis mit der Poesie schlechtweg gleichzusetzen geneigt war, erschien das Symbol schon durch sein Alter und seine poetische Ursprünglichkeit geweiht; denn „das Sinnbild (symbol) ist so alt wie spräche und dichtung selbst". Und neben der Wortsymbolik wußte man die Symbolgeltung der Gesamtdichtung im George-Kreis durchaus zu schätzen. Hugo von Hofmannsthals Darlegungen über „Bildlichen Ausdruck" im Rahmen der „Blätter für die Kunst" weisen in dieselbe Richtung, wenn sie auch das Bildliche mehr als allgemeines Gesetz der Poesie schlechtweg auffassen. Will man ästhetische Äußerungen Stefan Georges zur Kunsttheorie auffinden, so tut man gut, n i c h t in den „Blättern für die Kunst" nachzuforschen, wo alles reichlich verhüllt bleibt, sondern einmal den Briefwechsel mit Hugo von Hofmannsthal zu befragen, der etwa gleichzeitig einsetzt. Es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie sich der junge Hofmannsthal an kunsttechnischen Essays des erst geplanten „Unternehmens" der „Blätter" interessiert zeigt. Nach herber Abwehr dieses Angebots seitens des Organisators der „Blätter" Carl August Klein macht Hofmannsthal geltend, daß doch irgendwie die „neue Technik" und die allgemeine Perspektive „unserer Kunstanschauungen" zur Geltung kommen müßten, wenn auch nur in andeutenden Umrissen: „Man kann doch wohl Privatmeinungen, aber nicht Kunsttheorien verheimlichen" (Juli 1892). Kleins Hinweis, daß er gegenüber Essays zur Kunsttechnik, die er für undiskutabel hält, Kunstkritiken

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mit „pikanten ansichten" (!) bevorzugen würde, verrät eine nicht gerade sehr exklusive und vertiefte Kunstgesinnung. Und Stefan George muß Hofmannsthal dahingehend beruhigen, daß er keineswegs „kunstmeinungen verheimlichen" wolle. Trotzdem ist der Geheimniskrämerei und der dunklen Andeutungen kein Ende. Immerhin stößt man auf einige charakteristische und ungefähr orientierende Wertungen und Forderungen wie „schönes und klangvolles, klangliche feinheiten"; und die „art erhabenen schwärmens" in Hofmannsthals Essay über Swinburne (1893) findet Anerkennung. George ist „entzückt", daß sich Hofmannsthal von den Gedichten Gabriele d'Annunzios „angesprochen" fühlt. Offenbar stellt d'Annunzio ein gutes Stück an Vorbildpoetik. Ein gewisser, von ihm selber freimütig zugestandener journalistisch-publizistischer Hang Hofmannsthals jedoch wird mit Verachtung gestraft. Fast sieht man etwas vorweggenommen von Hermann Hesses abschätziger Meinung über die „feuilletonistische Epoche" (besonders im „Glasperlenspiel"), wenn man aus dem George-Kreis etwas von „niedrigen konglomeraten" (gemeint ist der „Moderne Musenalmanach", Wien) hört. In der Richard Dehmel-Debatte spricht George mit strenger Aburteilung von „kunstarmut und Seelenniedrigkeit", von „zügellosigkeit und stil-verquickung". Der P r i m a t des G e s c h m a c k s , aber auch die Problematik des Geschmäcklertums tritt allenthalben eindeutig und einseitig zutage. Der Grad der Strenge in Geschmacksfragen wird begründet mit der Notwendigkeit, auf diesem in Deutschland vernachlässigten Gebiet mit Gegengewichten zu arbeiten und durch Gegengifte die allgemeine Geschmackskrankheit zu heilen: „Gerade bei uns, wo der geschmack so unsicher ist, kann man nicht scharf genug sein". Nur „menschen von geschmack" sind „zu höherem leben befähigt". Daher haben Schriftsteller wie Ibsen oder Zola wohl viel Geist aufzuweisen, was aber nicht hindert, daß sie, die George als „mir unliebe Verfasser" bezeichnet, nur wenig „Kunst"(groß geschrieben) enthalten. Mit Hofmannsthal hofft er einen „kunstmeinungs-einklang" herstellen zu können, „jetzt wo die reife Ihnen strengere auswahl befiehlt". Bald aber muß er einen „großen meinungsunterschied" zugeben. In der Tat geraten George und Hofmannsthal immer wieder gegeneinander und auseinander, so oft auch der innere Zwiespalt notdürftig überbrückt wird. Sie geraten ganz einfach deshalb gegeneinander, weil George klassizistische, Hofmannsthal —• damals jedenfalls —• roman-

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tische Anschauungen vertritt. Es gibt verwandte Züge zwischen dem George-Kreis und dem Münchener Dichterkreis um Paul Heyse, Emanuel Geibel, Adolf Friedrich von Schack usw., der ausgesprochen klassizistische Bestrebungen vertrat. Gerade die ζ. T. krampfhaften Annäherungsversuche im Briefwechsel GeorgeHofmannsthal legen die Notwendigkeit des inneren Abstandes bloß. Samuel Lublinski erkannte aus größerer Zeitnähe das NeuKlassische, das den beiden Einsamen dennoch gemeinsam war und ihnen ein Gemeinsames versprach und verbürgte; denn auch in H. v. Hofmannsthal lag —• vorerst noch latent, teilweise aber schon bemerkbar —· das Klassische bereit. Befragt man, nachdem Stefan George wenigstens mit einigen verbürgt persönlichen Bekundungen aus der entwicklungsgeschichtlich entscheidenden Zeit zu Wort gekommen ist, die „Blätter für die Kunst", besonders ihre ,,Einleitungen und Merksprüche" (Auslese 1892—98 und 1898—1904) und daneben einige ihrer Essays, so ergibt sich etwa folgendes, freilich nur skizzenhaft nachgezeichnetes Bild. Die Position wird zunächst einmal gewonnen durch Opposition, und zwar durch O p p o s i t i o n g e g e n den k o n s e q u e n t e n R e a l i s m u s . Es darf angemerkt werden, wie stark der Eindruck des Naturalismus gewesen sein muß, da alle neuen Kunstrichtungen bis hin zum Expressionismus und darüber hinaus ihren Eigenstand nicht zuletzt bestimmen und befestigen durch den Widerstand gegen den Naturalismus. Im Raum der Poetik und des Kunstwollens tritt das noch weit instruktiver zutage als im Bereich der Poesie und des Kunstschaffens. Zugleich aber meldet sich mit dem geistigen Anspruch gegenüber dem gern als ungeistig kritisierten Naturalismus der Anspruch auf eine u n b e d i n g t e A u t o n o m i e der K u n s t im klassischen Sinne an, indem unter Bezugnahme auf den „namen dieser Veröffentlichung" sogleich klargestellt wird: ,,Sie will die G e i s t i g e K u n s t auf g r u n d der n e u e n f ü h l w e i s e und m a c h e — eine k u n s t f ü r d i e k u n s t — und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der Wirklichkeit entsprang." Es wird leicht übersehen, obwohl daran ausdrücklich eingangs angeknüpft wird („Der name dieser Veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll"), daß bereits in den Titel „Blätter für die Kunst" der Anteil „pour l'art" hineingenommen worden ist. Es handelt sich bei der Titelwahl nicht um eine sachliche, sondern

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um eine programmatische Erklärung der Absicht der Publikationsreihe. Nur der Kunst sollen diese Blätter dienen und „besonders der dichtung und dem Schrifttum". Die Poesie duldet keine anderen Götter neben sich, vor allem nicht die Politik. Das Kunstanschauliche will sich bewußt freihalten vom Weltanschaulichen: „alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend". Betont werden jene „Weltverbesserungen und allbeglückungsträume" abgewehrt, in denen man von naturalistischer Seite „den keim zu allem neuen sieht". Derartige Utopien mögen wohl „sehr schön sein", gehören indessen in ein anderes Gebiet „als das der dichtung". Diese Abkehr von politischer Aktivität ist durchgängig zu verfolgen und beschränkt sich keineswegs auf die ersten Programmthesen. Man hält zudem die „tat des einzelnen" für im Endertrag „fruchtlos", da noch „niemals" in dem Grade „wie heute eine herrschaft der massen" den Ausschlag gegeben hat. Immerhin wird in Erwägung gezogen, daß „gelegenheiten denkbar" seien, wo auch der Künstler das Schwert ergreifen müsse (diese Situation trat etwa ein Jahrzehnt später ein, und eine Reihe von Gefolgsleuten Stefan Georges hat am Krieg teilgenommen): aber vorerst ist man der hochgemuten Meinung, daß der Künstler „über allen diesen weiten — staats- und gesellschafts-wälzungen (so!) . . . als bewahrer des ewigen feuers" stehe. Es kommt hier auf das oben angegebene Jahrzehnt an (1892—1904), nicht auf spätere Wandlungen, wie sie bei und nach dem ersten Weltkriege eintraten. Und vollends nicht auf die zwiespältige Haltung Georges zur Zeit der „Machtergreifung" des Nationalsozialismus, also ein Menschenleben später, eine Haltung, die erklärlich wird durch dunkle Vorstellungen von der Aufgabe des geistigen „Führer turns" und die zudem bald von George durch demonstrative passive Resistenz ausgeglichen worden ist, ganz abgesehen von seinem bald darauf erfolgten Tode in der Schweiz (Dezember 1933). Das sind weit später liegende Entwicklungen, teilweise Wandlungen und zeitweise Aberrationen. In den entscheidenden Wirkungsjahren der „Blätter für die Kunst" war dagegen die Haltung eindeutig unpolitisch, und zwar programmgemäß. Doch sei nicht übersehen, daß schon frühzeitig vereinzelt Wendungen begegnen, die nach der Möglichkeit eines mittelbaren Bewirkens im Sinne von Anregungen und Impulsen leise und zunächst fast unmerklich und nur ganz beiläufig Ausschau halten: „Wir suchten die Umkehr in der k u n s t einzuleiten und überlassen es andren wie sie

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a u f s leben fortgesetzt werden müsse . . .". Auch derartige Keime verdienen Beachtung gerade im spröden Boden des George-Kreises. Man gewinnt ein wenig den Eindruck, als ob die Gegenwehr gegen die Tendenzkunst der Jüngstdeutschen (Naturalisten) jene Tendenzfeindschaft verstärkt, wenn nicht hervorgerufen habe. Sogar Richard Wagner wird bemüht („ausspruch eines berühmten tondichters"), um erneut darzutun, daß alle Kunst aufhöre, wo sie und sobald sie „real-programmatisch-tendenziös" wird. Und man bemüht sich, den vermeintlichen Freiheitskämpfern den Wind aus den programmprallen Segeln zu nehmen, indem man kritisch zu bedenken gibt, daß gerade in dem Lager, über dem die Freiheit und die Weitsicht als „fahnenschmuck" so dekorativ flattern, in Wirklichkeit „weite und freiheit am meisten vermißt" wird. Im Gegenteil klinge in jenem (naturalistischen) Lager jede Aussage über höhere Werte nicht allein „gemeinplätzlich, . . . sondern auch engherzig und über alle massen bürgerlich". Einen ähnlichen Eindruck hatte von der Neuklassik her Samuel Lublinski, der das Nur-Bürgerliche der Naturalisten noch schärfer herausarbeitete. Weit eher in Schwierigkeiten gerät man hinsichtlich des Verhältnisses von Kunst und Nation, besonders aber von Kunst und Volk. Man behilft sich zunächst einmal damit, daß man nicht nur einem Stamm dienen wolle (Abwehr der Heimatkunst ?), sondern „einer ganzen stämme-vereinigung". Und was das Volk mit seiner Geschmacklosigkeit und die sogenannte „Volkskunst" betrifft, so ruft man alle großen Geister „von Goethe bis Nietzsche" als Gewährsmänner auf, die noch viel unverhüllter über die „schönheit-tötenden Unsitten, die durchaus nicht in das tagende jahrhundert fortgeschleppt zu werden brauchen", geklagt und gewettert hätten. Der George-Kreis habe bei seinen einschlägigen Kritiken nicht aus Mißachtung, sondern aus fürsorgender Liebe gehandelt: eben im Verfolg seiner Geschmacksveredelung und Geschmackserziehung. Freilich vergaß man bei dieser nachträglichen Rechtfertigung, daß Volkserziehung keineswegs zu den betonten Programmpunkten gehört hatte — um es einmal so milde auszudrücken. Was man da sogleich zu Beginn des „Unternehmens" (davon spricht feierlich George mit Bezug auf die erst noch geplante ZeitschriftGründung in seinen Briefen an Hofmannsthal) gegen „das derbe und niedre des zeitgenössischen schreibewesens" gesagt hatte.

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mochte noch gut und gern auf den Naturalismus gemünzt gewesen sein. Aber man hatte ausdrücklich erklärt, daß man nicht den Durchschnitt fördern, sondern die schon Begabten noch höher entwickeln wolle. Nietzsche mit seiner These von der Höherzüchtung um jeden Preis unter Verwerfung des Mitleids mit den Schwachen stand hinter Bekundungen dieser Art: „Eine ganze niedergehende weit war bei allen ihren einrichtungen aufs ängstlichste bedacht den armen im geiste gerecht zu werden: mochte eine aufgehende (Welt) sich vornehmen der reichen im geiste zu gedenken". Das war das Prinzip des Herrenmenschen, der sich auf dem Wege zum Übermenschen fühlte und das Volk in wesenlosen Tiefen weit unter sich sah. Wesentlich anders und nicht nur aus geistesaristokratischen Ambitionen zu beurteilen ist die freilich nicht allzu schmerzlich errungene Meinung: „Ein weiterer ring der gesellschaft ist für kunst noch nicht zu gewinnen". Dabei hatte man jedoch nicht etwa an die breiteren Schichten des Volkes gedacht. Das schied von vornherein als indiskutabel aus. Man dachte vielmehr an den Grad der Exklusivität und an etwaige Lockerungsmöglichkeiten. Vorerst ging es um eine Auslese und ein Ausschließen aller Unzulänglichen. Auch im Briefwechsel Stefan Georges tritt das oft geradezu grotesk und mit kostbarer (bis köstlicher) Geheimnistuerei in Erscheinung. Einerseits wird geworben, andererseits gesichtet. In dieser Weise geht die Korrespondenz mit Hofmannsthal über Max Dauthendey oder L. Andrian hin und her. Kein Wunder, daß mancherlei künstlerisch Mittelmäßiges in den Kreis hineingeriet, was Hofmannsthal nach und nach erkennt und wovor er vergeblich warnt. Auch „Freundschafts"-Kriterien bestimmten ja z.T. die Auswahl, und das so weitgehend, daß etwa Maximilian Kronberger („Maximin"), der früh verstarb, im wörtlichen Sinne „vergöttert" wurde. Wenn eine bedeutende Begabung wie der jüngere Hofmannsthal im Kreise anfangs nicht nur geduldet, sondern auch gefördert wurde, so hängt das mit dumpfen gefühlsmäßigen Bindungen untrennbar zusammen. Aber als Hofmannsthal — lokal und als Mensch — dem Kreise fernblieb, als er sich nicht als intimer Freund gewinnen ließ und als Dichter einen selbständigen Weg gehen wollte, da erfolgte endgültig der Bruch, der schon vorher immer wieder künstlich geheilt werden mußte. Der Blick Georges dagegen für geistige Begabungen mit künstlerischem Einschlag scheint wesentlich klarer und unbefangener gewesen zu

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sein. Dort fiel auch die Eintrübung durch die latente Befürchtung fort, rein künstlerisch überboten und überholt werden zu können. Das Verhältnis George—Hofmannsthal gleicht — bei allen leicht erkennbaren Unterschieden — in manchem Betracht dem Verhältnis Goethe—Lenz. Nur daß bei jenen die angedeuteten dunklen Mächte triebhafter Sympathie in Rechnung zu stellen sind, die bei diesen fehlten. Die Wandlung des George-„Kreises" zum „Bund" seit dem Maximin-Erlebnis weist in die entsprechende Richtung einer zwangsläufigen Entwicklung. Und vom Bündischen zum politischen oder doch vorpolitischen Bündnis war dann nur noch ein Schritt. George war, als er diesen Schritt (1933) tun wollte, nahe am Straucheln. Aber die „geistige Kunst", die er von vornherein ausgerufen und ausgesondert, aber auch abgesondert hatte, rettete ihn. Vor allem aber der klassische Autonomie-Gedanke, der die Dienstbarkeit der Dichtkunst als unerträglich empfand. Im reiferen George verstärkte sich der Zug zu einem klassischen Ideal. Aber in der Grundkonzeption lag dieser klassische Zug längst bereit, schon in der Frühzeit mit ihren Annäherungen an einen neuromantischen Impressionismus. Auch in den „Blättern für die Kunst" nimmt der A u t o n o m i e g e d a n k e der Poesie vielfach klassisches Gepräge an. Jener Kreis oder „Ring" der wahrhaft Kunstwürdigen und Kunstverständigen läßt sich, so betont man, schon deshalb vorerst nicht wesentlich erweitern, weil im weiten Umkreis der Zweckgedanke vorherrscht. Im Vergleich mit den Nachbarkünsten will es so scheinen, als ob die Dichtung es in dieser Hinsicht weit schwerer habe, vom Zweck-Dienst loszukommen: „Viele, die über ein zweck-gemälde oder über ein zwecktonstück lächeln würden, glauben trotz ihres leugnens doch an die zweckdichtung". Entsprechend der Zweck-Ab wehr tritt der Inhalt als „Stoff" zurück zugunsten des Vorrangs der Form. In immer neuen Wendungen bekundet sich der Primat der Zweckfreiheit und Eigenzwecklichkeit; das zu Erstrebende ist eine „kunst frei von jedem dienst". Damit verbunden erfolgt eine Abkehr von der Wirkungspoetik und eine Hinwendung zur „Bildungs"-Poetik (vgl. Band III), die das „Bilden" des Werks über die Wirkung stellt. Selbst die klassische Idee des „In-Sich-Selbst-Vollendeten" (Karl Philipp Moritz, Goethe; Rücksicherung: Winckelmann) klingt gelegentlich unverkennbar an. K a r l W o l f s k e h l (1869—1948), später emigriert

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und auf Neuseeland gestorben, hebt in „Betrachtungen über die Kunst" (Blätter für die Kunst IV, 3) mit Nachdruck hervor: „Dies eigne selbstgenügende in sich vollendete wesen schließt jederücksichtspflicht des künstlers auf seine zeit ja auf die Menschen aus." Folgerichtig bekämpft er von dieser Position aus, die ihm mehr als ein Postulat bedeutet, die Wirkungspoetik: „Wirkung des kunstwerks, selbst die rühmlichste, lebendigste ist nur eine — wenn auch erfreuliche — begleiterscheinung seines daseins." Der Dienst am Werk und der Wille zum Werk sind entscheidend. Es waren das Kernstücke der klassischen Kunstanschauung. Einzelfolgerungen aus solchen Grund-Sätzen sind Fragen der Haltung und Gestaltung, Fragen der Formung und Kunsttechnik („neue mache"), ja Fragen des Kunsthandwerklichen. Die „neue fühlweise (Haltung) und mache (Gestaltung)" geht weit zurück auf die alte Vorbildpoetik vom klassischen Typus, gewiß oft modifiziert durch den französischen Symbolismus (Georges Bekanntschaft mit Mallarme), aber in ihren Grundstrukturen unverwechselbar auf der „Bildungs"-Poetik ruhend. Es ist von anderer Seite der berechtigte Hinweis erfolgt auf die nationale Anverwandlung des französischen Symbolismus durch Stefan George, und zwar gerade durch den „menschenbildnerischen Zug". Die Humanitätsidee der Klassik und die formende Macht der Schönheit, einst schon von Lessing berührt (von Gottsched noch plump in den Dienst der Erziehung gestellt), von Schiller kunstphilosophisch mit der „ästhetischen Erziehung" umschrieben, von Goethe im Werk verwirklicht, gewinnt neue Gewalt. Selbst Schillers Gedanke, daß die Form den Stoff gleichsam „vertilgt", kehrt ähnlich wieder. L u d w i g K l a g e s (1872—1956) steuert zu den „Blättern für die Kunst" Ideengänge „Aus einer Seelenlehre des Künstlers" bei. Er geht aus von der Formfrage, fordert die Auswahl aus den stofflichen Beständen der Wirklichkeit, ein Ausscheiden störender, das „gesamtbild" durchkreuzender Einzeleindrücke und „kunsttötender beimischungen" der ablenkenden und verwirrenden Umwelt (Abwehr des Naturalismus, aber auch schon des Impressionismus), Auswahl des Wesentlichen und das Wesentliche der Auswahl (Annäherung an die Klassik), gelangt weiter zu Fragen der „gruppierung des stoffs" (Komposition) und endlich zu der „art und weise der Verarbeitung" (Stil). Darin nun sieht er die Schwierigkeit, an der manches Künstlers Kraft gescheitert sei, weil die Schönheit der Form sich an dem Massig14

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Ungefügen des Stoffs gebrochen hat, so daß sich aus dem entstandenen Kunstgebilde der „schöne umriss" nur noch ahnen läßt. Und dann folgt jene Verdichtungsstelle, auf die es in diesem Zusammenhang vor allem ankommt: „Wenn aber der stoff den zwang der geistesspuren trägt (vergeistigter Stoff = der „geistigen Kunst") a l s o b d a s s e i n e n a t u r w ä r e dann ist's ein meisterwerk". Zugleich wird die Nähe der neuklassischen Lehre vom „Zwang zur Form" spürbar. Aber der Kern ist Schillers Ästhetik, in den Einzelheiten ergänzt und demonstriert an Goethes Kunstwollen und Kunstverfahren. Daß die „Blätter für die Kunst" sogleich zu Beginn Richtungswörter wie „Symbolismus, Dekadentismus, Okkultismus" usw. vermeiden wollen, sei im Nebenbei vermerkt. Man übernimmt nicht unbesehen den französischen Symbolismus, obwohl man von ihm zu lernen wußte und wesentliche Anregungen durch ihn erfahren hatte. Oberflächlicher, weniger ins Kunstphilosophische hinablotend, schwärmt P a u l G e r a r d y über „Geistige Kunst" (2. Folge der „Blätter für die Kunst" II, 4). Man hört dort vom „schönen und harmonischen leben", von einer „heiligen Schönheit der linien", von der „Vollendung der form". Abgewehrt wird das „hässliche", das in letzter Instanz doch nur „tod und Verwesung" sei. Wohl aber ist eine Form des Erhabenen im Schmerz (ödipus, Marsyas, Prometheus) künstlerisch auswertbar, solange sie sich freizuhalten vermag „von linie- und formzerstörender entstellung und Verzerrung". Abgewehrt wird ferner die aktive Funktion („gesellschafts-fragen lassen sie kalt"), man hat sich nicht für d i e Menschen, sondern d e n Menschen zu interessieren und formend einzusetzen. Das Inhaltskriterium ist überhaupt unbrauchbar. Es geht nicht um die Beschreibung von „dingen und ereignissen". Es geht für die Künstler des George-Kreises auch nicht um Sittenlehren. Und so schließt Gerardy im begeisterten Schönheitskultus: „Sie sind keine Sittenprediger und lieben nur die Schönheit die Schönheit die Schönheit". Bemerkenswert erscheint, daß Gerardy die Bezeichnung „Symbolisten" ebenfalls als nicht zutreffend erklärt, daß vielmehr die George-Jünger es nur soweit sein wollten, wie „die klassischen meister es waren". Freilich betont der junge H u g o seinem erwähnten Beitrag „Bildlicher des Bildhaften. Es sei für den Dichter sondern organischer Bestandteil, den

v o n H o f m a n n s t h a l in Ausdruck" die Bedeutung kein aufgesetzter Schmuck, ihm schon die Sprache als

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das Darstellungsmittel der Wortkunst nahebringe: „Jede dichtung ist durch und durch ein gebilde aus uneigentlichen ausdrücken." Selbst die sogenannten „handlungen" und „gestalten" lassen sich auf bildhafte Bedeutungen reduzieren. Aber nicht auf den „eigentlichen sinn" kommt es an, sondern auf den Bildwert selber. Er bringt das Spiegelsymbol vom Affen, der hinter den Spiegel greift, um dort den Körper zu erfassen. Vorausgewiesen sei auf Herwarth Waldens erbittertes Gefecht (im „Sturm") gegen die bösen Deutschen, die sich bei der Kunst durchaus etwas „denken" wollen. Karl Wolfskehl faßt die reine Kunst — was im George-Kreis nahelag — einmal in das Sinnbild der Jungfrau: „jungfräulich ist echte kunst, in sich geborgen" (in den „Betrachtungen"). Dabei klingt wieder das In-Sich-Vollendete an, ebenso die Zweckfreiheit und das Idealische: „keiner ist dem sie diene und alles geschehen erklärt ihr licht." Es hieße nun jedoch dem George-Kreis nicht voll gerecht werden, wenn man ihn zu einseitig auf einen nur klassizistischen, leicht neuromantisch aufgelockerten Formenkultus festlegen wollte. Ebenso wie nicht vergessen werden darf, daß der Symbolbegriff schon für die Klassik und deren Kunstdeutung (bei Goethe) eine hervorgehobene Geltung besaß und daß von der deutschen Tradition aus der französische Symbolismus umgemodelt wurde, Man verkannte zum mindesten nicht völlig und überall die Gefahr eines Abgleitens der Formpflege in das Kunsthandwerkliche. So warnt ζ. B. in einem Aufsatz „Vom Schaffenden" Ludwig Klages vor beiden Extremen: vor einer mißachtenden Unterschätzung des „handwerklichen" und vor seiner formalistischmechanischen Überschätzung. Aber was als goldener Mittelweg sich eröffnet, deutet mit der „zähen geduld der echten bildnerlust" (der Dienst am Werk) ebenso auf die klassische Lösung wie mit dem Bewahren des inneren Feuers bei aller Gestaltungskühle (Hölderlin) und bei „aller peinlichkeit (=Genauigkeit) handwerklichen bemühns". Im einzelnen wird vor Fremdwörtern gewarnt, aber auch vor verbrauchten Reimen. Das Spiel mit dem Reim gilt als ein teuer erkauftes Spiel. Denn wenn der anspruchsvolle Dichter einmal zwei Reime gepaart hat, so ist dieser Spielgang eigentlich endgültig, zum mindesten für längere Zeit für ihn unwiederholbar und also ausgegeben. Nur dann ist es mehr als ein Handwerk, den Wörtern „takte und reime einzupressen", wenn sich das Rhythmisch-Gereimte unwiderstehlich als „sangesweise" aufdrängt. Dann dienen Wörter, Gedanken und Bilder „nur zur u·

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körperlichen darstellung der sangesweise". In gewissem Grade scheint an solchen Stellen der „phonetische Rhythmus" Ottos zur Linde aus dem Charon-Kreis vorgebildet zu sein. Wie ein Ableger nun oder richtiger — denn es bestand keine enge Fühlung — wie ein Gegenstück des Kreises um Stefan George wirkt dieser „ C h a r o n " - K r e i s um O t t o z u r L i n d e (1871—1938) der besonders in dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts von sich reden machte, um den es dann freilich bald stiller und stiller wurde, bis er ganz in Vergessenheit geriet. Ist es doch vielfach kaum noch bekannt, daß R u d o l f P a n n w i t z (geb. 1881), damals neben Otto zur Linde Mitherausgeber des „Charon" und an dessen Programmatik wesentlich und wirksam beteiligt war. Der „Charon" würde für den Kreis um Otto zur Linde etwa den „Blättern für die Kunst" im Kreis um Stefan George entsprechen. Die verhältnismäßig zählebige Zeitschrift, der man anfangs wenig Lebensdauer voraussagte, wurde 1904 gegründet, also in dem Jahre von Wilhelm von Scholz' „Gedanken zum Drama", von S. Lublinskis „Bilanz der Moderne", aber auch von Friedrich Lienhards „Thüringer Tagebuch". Nun suchten zwar auch die Charontiker, wie man die Gruppe halb spöttisch, halb ernsthaft nannte, einen Weg zur Form. Aber im Gesamt ihrer Bestrebungen rückten sie von der Neuklassik ab. Eher schon weisen sie gewisse Züge einer Neuromantik auf, die durch den Naturalismus hindurchgegangen ist und noch Spuren dieses Durchgangs an sich trägt. Auf die zeitliche Parallelität Friedrich Lienhards einen flüchtigen Blick zu lenken, erscheint nicht so ganz müßig, weil die Charontiker neben dem Gesunden und unliterarisch oder unlit eratenhaft „Echten" ebenso wie Lienhard die Verantwortlichkeit gegenüber dem Nationalen betont haben. Auch die kulturpolitisch-kulturpädagogischen Kräfte (und Gewährsmänner), die hinter der Heimatkunstbewegung wirksam waren, dürften für den Charon-Kreis nicht ohne Einwirkung geblieben sein. Erinnert sei in diesem kulturpolitischen Zusammenhange etwa an Rudolf Pannwitz' „Die Krisis der europäischen Kultur" (1917), hinter der freilich vor allem Nietzsche sichtbar wird. Überhaupt wirkt Pannwitz geistreicher, begrifflich klarer als der etwa um ein Jahrzehnt ältere Otto zur Linde, der seinerseits (trotz aller theoretisch propagierten Einfachheit und „Natürlichkeit") kunstreicher, zum mindesten lyrisch begabter wirkt, beim theoretischen

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Formulieren aber leicht in das Verschwommene abgleitet. In seiner erörternden Prosa jedenfalls vergißt er, daß auch eine allzustark herausgekehrte Zwanglosigkeit leicht erzwungen und gezwungen, ja geziert erscheinen kann. Beiden aber haftet etwas ausgesprochen K u l t u r p ä d a g o g i s c h e s u n d K u n s t e r z i e h e r i s c h e s an. Und eigentlich sind sie nie recht über die Erziehung der anderen oder die Selbsterziehung hinausgekommen und zum unbefangenen, spontanen Schaffen hindurchgedrungen. Das aber bedeutet, daß der überspannte Bogen der E r z i e h u n g z u r Z w a n g l o s i g k e i t und Spontaneität auf sie selber zurückschlug und ihre an sich schon nicht sehr lebenskräftige „Charon"-Kunst erschlug. Freilich verkündete und versprach Rudolf Pannwitz in einem Titel „Kultur, Kraft, Kunst" (1906). Aber, abgesehen von der Kultur, sprach man da mehr von Idealen, die man ersehnte, als von Fähigkeiten und Eigenschaften, die man besaß. Und schaut man näher, so kommt die pädagogische Besinnlichkeit und Bedenklichkeit sogleich ans Tageslicht. Denn es handelte sich dabei um „Charonbriefe an Berthold Otto". Und dieser Berthold Otto war nicht etwa der bürgerliche Name Ottos zur Linde, sondern ein leibhaftiger Pädagoge, der eine pädagogische Zeitschrift mit leicht schulreformerischer Tendenz „Der Hauslehrer" herausgab. Weil nun dieser Pädagoge B . Otto darauf hinwies, daß man das Kind und seine Redeweise auf den verschiedenen Altersstufen gelten lassen und verstehen müsse und man diesen Hinweis im Charon-Kreis als sinngemäß übertragbar auf den Künstler auswertete, darf und muß man deshalb schon die Einfachheits-Magie der Charontiker mit der Primitivitätsthese der Expressionisten gleichsetzen? Hatte nicht auch Arno Holz seine Definition abgeleitet von den ersten Versuchen eines Kindes; und zwar seine spezifisch naturalistische Definition ? Die Kunst des Primitiven geht von Erwachsenen aus, nicht von Kindern. Die „ K u n s t " des Kindes geht auf das Können des Erwachsenen zu, nicht aber von der Kunst des Primitiven aus. Sie ist naiv, nicht primitiv. Sie manifestiert sich nicht als ästhetischer Vorteil und Vorzug, sondern als Vorstufe und Vorbereitung eines Ästhetischen. Sie will den Versuch und nicht die Vollendung. Im Kind steckt schon keimhaft die Kultur und nicht einfach die Natur des Unkultivierten. Es heißt unbesehen darwinistische Vorstellungen einmischen, als ob sich in den Entwicklungsstadien des Einzelmenschen die

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Entwicklungsstufen der gesamten Menschheit jeweils und immer erneut wiederholten, wenn man das Kind mit dem Primitiven gleichsetzt. Das ist bestenfalls Biologismus, nicht aber schon Expressionismus. Gewiß reichen die Bekundungen aus dem Charon-Kreis zeitlich unmittelbar an die Frühdenkmäler des Expressionismus (etwa 1910) heran. Und gewiß gibt es diese und jene Übereinstimmungen wie etwa das angeblich völlig Neuwertige und nicht nur Neuartige, den fast brutalen Bruch mit der Tradition (Kritik an Goethe bei R. Pannwitz einerseits und H. Waiden andererseits), den Glauben daran, daß eigentlich in jedem Menschen ein Stück Kultur und Kunst bereitliege, das Zerbrechen der starren Form um der Wesenserfassung willen, den starken religösen Antrieb und Auftrieb, das Transponieren des Mythischen in das Mystische, die Verdichtung als Verschlichtung, das ganz von vorne Wieder-Anfangen, den Zweifel an der Willigkeit des Wortes als eines logisch nicht vorbelasteten Ausdrucksmittels, den Appell an das Irreale und das Irrationalistische usw. Aber der Charon-Kreis verharrt im Nationalen, der Expressionismus gefällt sich vor allem im Inter- und Übernationalen. Der Charon-Kreis verwertet die Wissenschaft, der Expressionismus verwirft die Wissenschaft. Der Charon-Kreis lernt vom Pädagogischen, zum mindesten Reformpädagogischen; der Expressionismus lehnt das Pädagogische ab um des P r i m a t s des G e n i e s willen. Der Charon-Kreis glaubt an eine innere Wirklichkeit, der Expressionismus glaubt an innere Wesenhaltigkeit. Der CharonKreis möchte den Naturalismus übersteigern, der Expressionismus will den Naturalismus überwinden. Der Charon-Kreis bevorzugt das Instruktive, der Expressionismus das Intuitive. Der CharonKreis betrachtet das Wort als Darstellungsmittel, der Expressionismus bewertet es als Ausdrucksmittel. Das bloße Improvisieren des Impressionismus, der sich dem jeweilig vorherrschenden Reiz hingibt, ohne aus dem Reiz des Künstlichen die Reinheit der Kunst zu entfalten, verwerfen beide. Aber der Charon-Kreis verwirft das Aparte um des nationalen Partizipierens willen, der Expressionismus verweigert sich der Illusion und der impressionistischen Sensation um der Vision willen. Otto zur Linde fordert ein „Ausbalancieren" des Subjekts vor dem Objekt. Der Sinn des Objekts hat sich vor dem Sein des Subjekts zu bestätigen. Die „Sprachseele" fordert das Objektive heraus, um das Subjektive auszubilden. Seele und Sache bedingen einander wechselseitig.

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Denn die äußere Wirklichkeit bedarf der Bestätigung durch die innere Wahrheit. Mit anderen Worten: es gibt im Charon-Kreis ebenso viele Merkmale, die auf den Expressionismus vorausweisen, als Merkmale, die auf den Naturalismus zurückweisen. Er steht an der Grenzscheide ohne eindeutige Entscheidung. Der Sinn für die äußere Wirklichkeit verweist ihn auf den konsequenten Realismus (Naturalismus), die Sehnsucht nach der inneren Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit verweist ihn auf den Expressionismus. Aber seine ganze Anlage, Aufmachung und Ausschließlichkeit sowie sein Anspruch, systematisch zunächst einmal auf die Schaffung eines hohen künstlerischen Niveaus auszugehen, ein Gegengewicht dienlicher, ja notwendiger Art zu schaffen gegenüber den herrschenden literarischen Zuständen und herrschenden literarischen Richtungen verweist ihn vorab auf den Kreis um Stefan George. Selbst Rudolf Paulsens schwärmerisch verehrendes und fraglos bei weitem überhöhtes Denkmal für Otto zur Linde und den „Charon-Kreis" gleicht im ganzen Tenor und der ganzen propagandistischen Tendenz dem Denkmal Wolters für Stefan George und dessen Kreis. In beiden Fällen waren die Verfasser Mitglieder der Dichter-Kreise. R u d o l f P a u l s e n (geb. 1883) geht in seiner denkmalsetzenden Schrift „Otto zur Linde, ein Kapitel aus dem deutschen Schrifttum der Gegenwart" im Eifer religiösmystischer (bis mythischer) Bestrebungen insofern weit über Friedrich Wolters hinaus, als sie sich nicht wie Wolters mit der Erhebung des Meisters zum vergotteten und vergötzten Priester begnügt, sondern mehrfach Otto zur Linde mit der Gestalt Christi in eine gewagte Parallele setzt. Allerdings möchte R. Paulsen den Christenglauben überhaupt umwandeln zu einem neuen „Christusglauben". Selbst in diesem Extrem spiegelt sich zuletzt doch wieder der s t a r k i n d i v i d u a l i s t i s c h e Z u g , der der ganzen „Charon"-Bewegung unverkennbar anhaftet. Und es ergibt sich als Folgerung, aber doch merklich als Notausgang die vermeintlich erlösende Formel „sozialistischer Individualist", wobei das Soziale von religiösen Kräften gefördert wird. Das politische Parteiergreifen wird abgelehnt. Der individualistische Grundzug setzt sich weiterhin bei der betonten These vom „Mythos" durch, da nach Paulsens Interpretation der „Charon-Lehre" — an sich wird wie im George-Kreis eine eigentliche „Lehre" abgestritten — in der

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„echten" Dichtung immer nur „Der Mythus der eigenen Seele . . . gesungen" werde. Man ist jedoch überzeugt, daß im Einzelnen zugleich das Volk lebt und wirkt, wenn dem Einzelnen eine spontane Vereinfachung und Verschlichtung von innen heraus und von „unten" her gelingt. Ein Volkstümlichmachen von „oben" und von „außen" her dagegen gilt als künstliche Maßnahme der Gebildeten und muß mißlingen (Abwehr der „Heimat kunst"-Bewegung, zum mindesten ihrem falschen Verfahren nach). Otto zur Linde selber fordert für die Charon-Dichter, „Seele unseres Volkes" zu sein, wahrscheinlich in Abhebung von Lienhards Propagierung der allgemein-überindividuellen „Volksseele". Die Frage, wie man an das Volk herankommen könne, beschäftigt den Charon-Kreis nicht sowohl aus Gründen der schriftstellerischen Wirkung als vielmehr des nationalen, religiösen und sozialen Bewirkens eines wahrhaft Echten, Schönen und Guten. Völlig verfehlt wäre es, wie schon angedeutet, sich gnädig zum Volk herabzulassen. Jeder echte Dichter sollte die Stufen des Volkes gleichsam noch einmal durchlaufen, wie er die Altersstufen des Menschen noch einmal durchläuft und auf jeder Stufe ein Recht und eine Vollendung in sich selber findet (Rückbezug auf den Individualismus). Demgemäß ist das Kunstkönnen am Kunstwollen dieser Stufen allein gerecht abzulesen und bewertend abzuschätzen. Die Resonanz im Volk freilich kann nicht allein gültiger Maßstab sein, weil das Volk selber schon nicht mehr ganz echt, sondern durch die Bildung verbildet ist. Rudolf Paulsen zum Beispiel klagt: „Aber die breiten Massen sind schon viel zu gebildet.. ", dergestalt, daß sie Ottos zur Linde Frühdichtung bevorzugen würden, weil diese zunächst notgedrungen Anschluß an die Bildungstradition gesucht habe. Es sei einmal darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Charontiker mit dieser Tendenz gewiß völlig ahnungslos den Thesen Berthold Auerbachs nähern, der die „Schrift für das Volk" weitgehend ableiten möchte von den Schriften „aus dem Volk". Otto zur Linde selber fordert trotz starker philosophischer Neigungen mit mannigfachen Anlehnungen an die romantische Identitätsphilosophie ein „bescheidenes Denken" in Auswirkung des Primats der Vereinfachung, Verschlichtung und Verechtung. Denn die Ver-Achtung, die dieser Ver-Echtung gegenübersteht, trifft die gelehrte Ästhetik und Kritik, den gelehrten Neuhumanismus der Gegenwart, aber auch das subaltern Schulmeisterliche, das der

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Reform bedarf (vgl. auch R. Pannwitz). Fast ein Jahrzehnt nach Erscheinen der ersten „Charon-Hefte", als im Mai 1913 kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges die Gesellschaft der „Charon"Freunde gegründet wurde, verfaßte Otto zur Linde ein programmatisches und zugleich frühere Bestrebungen zusammenfassendes Gedicht „Zum Begleit". Es spricht aus, daß die Charon-Poesie „in der Stille" und „abseits von den vielbetretnen Wegen" geworden und gewachsen sei, um sich „an die Edelsten und Frömmsten im Land" zu wenden. Was begründet werden soll — und darin bekundet sich eine wesentliche Abhebung von der „Heimatkunst"-Bewegung — ist „ein Volk des Geistes", aber doch ein irgendwie Volkstümliches, wie denn die frohe und fromme „Botschaft in die fernsten Dörfer" getragen werden soll (Abhebung vom aristokratischen GeorgeKreis). Ebenso darf nicht die Großstadt ängstlich gemieden oder gar als rettungslos aufgegeben werden (Abwehr der Thesen der „Heimatkunst"). Vielmehr gilt es, auch dort und selbst noch dort „stille Inseln" als gesundende, kraftspendende Zentren zu bilden. Die Zuflucht bei der ländlichen und kleinstädtischen Idylle (so sieht er die Heimatkunst) bleibt für ihn immer eine bloße Flucht in ein biedermeierliches Umhegt- und Behütetsein. Freilich werden merklich gewisse Zugeständnisse an die Heimatkunst gemacht. Denn es findet sich in diesem denkwürdigen Gedicht gewiß nicht von ungefähr der Passus: „Es soll ins deutsche Volk ein Neu-Uraltes dringen / Von Heimatland- und Stamm und deutscher Treue". Leider führt das zum Nationalistischen in dem Augenblick, wo das Mystische mit dem Mythischen zusammengezwungen wird zu jener verkrampften Synthese ChristusWodan, die in abgewandelten Variationen später bei Pannwitz und Röttger wiederkehrt. Die Rückbildung Nietzsches auf das Christentum, wie sie vor allem Pannwitz anstrebt, war mehr als ein Wagnis. Aber Otto zur Linde hatte den ersten Anlaß für diese versucherischen Versuche selber gegeben. Kurz, das Volkstümliche endete im Völkischen, und die religiöse Mystik endete im heidnischen Mythus. Befragt man zunächst einmal andere Gedichte Ottos zur Linde auf das formuliert ausgesprochene Kunstwollen, so ergibt sich etwa folgender Eindruck. Alles Epigonenhafte wird abgelehnt. Es sind Hämmerlinge („Hämlinge" ?), die dem „Dickwansthammel" (angeglichen dem Dickschwanzhammel) stumpfsinnig

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DAS WEGSUCHEN ZWISCHEN NEUKLASSIK UND NEUROMANTIK

folgen. Aber es ist auch mit dem neuromantischen Rokoko und dessen „Theaterschäferkleidsamkleiderträchtigkeiten" keineswegs getan (Abwehr der Wiener Neuromantik). Gleichzeitig kann ein Sich-Begnügen mit dem „lieben Priestertum" Otto zur Linde nicht genügen (Abwehr des George-Kreises). Endlich aber kann der soziale „Revoluzer" keine künstlerische Erfüllung bringen, der tränenselig „der Menschheit Elend" betrüblich auf die Bahn oder die Bretter bringt, indem er alles in „roter Tinte" rettungslos ertränkt (Abwehr des Naturalismus und dessen sozialer Tendenz). Auch die Erotiker vermögen keine wirklich neuen Wege einer würdigen Dichtung zu weisen (Abwehr Wedekinds). Und vollends von der volkstümlichen Derbheit des Alle-Neune-Schiebens lassen sich die neun Musen nicht umwerfen. Daher hilft der Kunst wenig die Kunstfertigkeit: „Stürzen wir Kegel auf der Bahn des Dorfkruges gern". Otto zur Linde kennt das, aber er vermag es nicht (mit der „Heimatkunst") anzuerkennen. Dabei mag biederbürgerliche „Ehrlichkeit" mit im Spiel sein, aber nicht künstlerische „Echtheit". Deshalb rettet sich Otto zur Linde über das Volkstümliche hinweg gern zurück in das Natürliche, ja in die Urform des Vegetativen. Und auch das Konstruktive des Philosophischen läßt er gründen im Vegetativen des Uranfänglich-Poetischen. Ohne vegetative Form keine ästhetische Norm. Selbst keine konstruktive Natur. Denn „Ethos ist bewußt gewordene Natur". Das romantische Verhältnis aber von Bewußtem und Unbewußtem (vgl. Band III) spiegelt sich in der Forderung Ottos zur Linde an einen jungen, noch unklar tastenden Dichter, der nur zum „Sprachrohr" werden kann, wenn er „durch konzentrierteste Bewußtheit überhaupt erst mal die F ä h i g k e i t zur U n b e w u ß t h e i t kriegen" kann. Mit anderen Worten: die Identität des Kunstwollens und des Kunstkönnens tritt erst dort ein, wo das Unbewußte Wert und Wirkung des Bewußten veranlaßt und verbürgt. Nicht nur das Religiöse, auch diese Identität des Bewußten und Unbewußten bestätigt das Anrecht, den Charon-Kreis und dessen kunsttheoretische Lehre der Neuromantik zuzuordnen, obwohl die Ansätze zum Expressionismus nicht verkannt werden können und sollen. Nicht nur einzelne Motive, wie das bei Otto zur Linde anklingende Motiv von Undine, verweisen auf eine neue Romantik. Denn Märchen und Mythos reichen sich immer wieder die Hand, die Hand zur weltanschaulichen Versöhnung, aber auch zur kunstanschaulichen

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Verschmelzung. Der „Quellschacht" des Mythos mündet immer erneut in den Quellschacht des Märchens. Stets aber bleibt die Grundkonzeption des künstlerischen Individualismus wirksam, so noch im Novemberheft des „Charon" von 1911. Denn dort bekennt Otto zur Linde, daß ein „Bildungsideal" besteht, dem sich immer nur der „Einzelne" nähern kann, weil letztlich nur der „Einzelne Bildung erlangen" kann. Der bereits „Gebildete" muß sein Vorrecht durch den Vorrang einer „vertieften" Bildung rechtfertigen. Der Bildungsbegriff bleibt immer an den „Verantwortlichkeitsbegriff" wesenhaft und werthaft gebunden. Der „einfache Mann" ist nur dem Grad nach, nicht aber dem Wesen nach weniger gebildet. Beide aber bleiben zuletzt nicht Herdenmenschen, sondern Einzelmenschen (Anklang Nietzsche). Und darin liegt auch das Zuordnungskriterium zum Charon; denn „wer sich zum Charon schart, ist vor allem und dauernd Einzelner". Der Gruppenmensch dagegen wird allzu leicht „Affe-Mensch", aber nie „Mensch-Dichter". Schutz bietet vor solchem Abgleiten in epigonenhafte Nachäffung nur der Leitsatz: „Lern Echtheit kennen!" Alle echten Menschen und echten Dichter waren zugleich fromme Menschen und fromme Dichter. Denn der Glaube an das Geniale und das Göttliche sind schlechthin untrennbar. „Der Dichter werde wieder fromm wie alle großen Menschen / Wie alle echten Menschen". Er bedarf der Reinigung der Seele, um die Reife der Dichtung zu erreichen. Die christliche Schöpfervorstellung ist für Otto zur Linde Vorbild für die künstlerische Schöpfervorstellung. In dem Gedicht „Der Dichter" wird der Dichter nicht individualistisch abgesondert und priesterlich abgeordnet als Stellvertreter, sondern einbezogen in die Gemeinschaft, aber nur unter der Voraussetzung, daß „ein Einiges war, das ihn und euch verschweißt". Dieses Einigende und Verbindende aber bleibt schwer zu finden und zu formen. Und deshalb „muß der Dichter fern euch einsam bleiben / Bis hoch ein Stern steigt und die Herzen aufwärts reißt". Eine Synthese der Antithese ist also nur verbürgt und verborgen im höheren Dritten. Dieses höhere Dritte ist für Otto zur Linde und die Mehrzahl seiner Anhänger das ChristlichReligiöse. Aber sie transponieren es allzu nachgiebig in das Mythische, weil es dichterisch ergiebiger erscheint. So hält es Otto zur Linde in dem zuletzt genannten Gedicht mit dem mythischen Symbol „Thüle". Auch diese Hoffnung, durch das Mythische das

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Poetische neu beleben zu können, erinnert lebhaft an die Romantik. Und in dem Grade, wie sie das Christlich-Religiöse in die „Moderne" hinüberzuretten versuchen, könnten sich die Charontiker mit mehr Berechtigung der Neuromantik zuzählen als manche der abgestempelten „Neuromantiker" (wie etwa A. Schnitzler, aber auch Stefan George). In dem Grade jedoch, wie sie — besonders in ihrer späteren Entwicklung — zum Transponieren und Transfigurieren des Religiösen und Mystischen in das KosmischMythische streben (R. Pannwitz) oder intuitiv treiben (K. Röttger), geraten sie in eine Art von Gegen-Mythus zu Nietzsches neuer „Religion". Vielleicht ist R. Paulsen noch am ehesten dem ursprünglichen Grundzug verbunden geblieben. Otto zur Linde verwirft alles Espritvolle. Und so mag es anfangs überraschen, wenn man erfährt, daß er einst seine Dissertation über Heinrich Heine geschrieben hat (1899). Aber schon ihr voller Titel „H. Heine und die deutsche Romantik" deutet auf eine Themenwahl hin, die nicht den Bezug auf das Realistische, sondern den auf das Romantische bevorzugt und so gleichsam symbolisch auf die Neuromantik hinüberweist. Zugleich erinnert die Jahreszahl daran, daß in der Zeit noch aufnahmewilliger und schon voll aufnahmefähiger Jugend alle die Richtungen bereits bestanden: Naturalismus, Neuromantik, George-Kreis, zwischen denen Otto zur Linde sich dann zu einem Eigenen hindurchzufinden hatte. Auch dieHeimatkunst-Bewegung war schon damals im Kommen (erster Vorstoß etwa 1893). Es muß gesagt werden, daß Otto zur Linde nicht ganz der situationsgemäß gegebenen Gefahr entgangen ist, die eine Richtung jeweils gegen die andere auszuspielen, um keiner ganz zu verfallen. Gerade dieses fast krampfhafte Austauschen der Ziele führte letztlich zu einer Art von originalem Eklektizismus. Die gewaltsame Simplifikation sollte retten, geriet aber bald in Mystifikation hinein, wo sie echte Mystik zu erreichen meinte. Otto zur Linde hat ganz einfach zu vieles gewollt (und daran gemessen zu wenig gekonnt). Sein Kunstwollen wirkt zersplittert. Und die ersehnte und gepriesene, ja gepredigte Einfalt wurde verschüttet und schließlich erstickt von der Fülle der Vielfalt. Was herauskam, war eine etwas peinliche Spielform von echter Vielfalt und lauter Größe, die nicht gerade geniezeitgemäß wirkt. Für die „laute Größe" sorgten schon seine Anhänger, nicht zuletzt Rudolf Paulsen, der ihn kurzentschlossen zum „größten Lyriker der Zeit" und „großen Mystiker Deutsch-

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lands" erhebt. Und was soll man dazu sagen, wenn Karl Röttger als Kronzeuge dafür herbeigerufen wird, daß der „charontische Mythus" so groß dastehe, „wie er . . . seit den Tagen der Edda (wann waren die übrigens?) nicht dagewesen ist". Rudolf Paulsen erklärt diese Bedeutung des Mythus gerade aus einer liebevollen Wirklichkeitsbetrachtung und Versenkung in das Seiende. Um den Mythus des „Daseienden" haben z.T. zeitparallel mit dem Charon-Kreis Franz Kafka und Robert Musil gerungen. Hermann Broch aber gibt zu bedenken, daß man es sich mit einem „neuen Mythus" gern etwas leicht mache, ohne es damit den geplagten Menschen leichter zu machen, auch nur dichterisch-seelisch leichter. Ihm scheint bei Franz Kafka weit wirksamer eine kühne Art von „Gegen-Mythus" gewonnen zu sein, nämlich die „Symbolisierung der Hilflosigkeit an sich". Immerhin sei bei dieser Gelegenheit einmal darauf hingewiesen, daß bei allem Wesensunterschied und Wertabstand dennoch eine gewisse Verwandtschaft besteht zwischen den Vertretern des Charon-Kreises und der Gruppe Kafka, Broch, Werfel zum mindesten im Weltgefühl und Lebensgefühl. Und insofern würde die Weiterentwicklung der Charontiker fast eher auf den Neusymbolismus hinüberdeuten als auf den Expressionismus. Diese Zusammenhänge konnte Albert Soergel, als er im (oder gerechter: beim) „Banne des Expressionismus" stand, beim besten Willen, größere Zusammenhänge zu sehen, noch nicht gut überblicken. Formungstechnisch aber und in rhythmischem, sprachlichem Betracht hat er das eigenartige Vorwegnehmen expressionistischer Formen durch die Lyrik Ottos zur Linde durchaus zutreffend herausgespürt. An die genannten Neusymbolisten erinnert weiterhin das Wechselspiel von Subjekt-Bezogenheit und Universum-Bezogenheit, die Vorstellung der „Zeitparallelität", das Hin- und Herweben von Individualismus und Universalismus, das Wechselverhältnis des Mystischen und Mythischen, um hier nur einige wesentliche Züge herauszugreifen. Otto zur Linde definiert unter dem Merkwort „Der Poet" im Rahmen von ,,Fantoccini" (einer Art Aphorismensammlung) einmal den Poeten so: „Vor allem ist er ein Ich. Und mag dieses Ich noch so erbärmlich sein (Bevorzugung des Unscheinbaren, Alltäglich-Unbedeutenden bei den Neusymbolisten) — es ist sein Ich, also Das Ich. Und das Ich ist ihm das Universum. Und redet der Dichter im Du oder Er, so ist er der Teil des Dus oder Ers, der sein Ich ist". Der letzte Passus würde

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jenseits der Neusymbolisten K a f k a , Broch, Werfel besonders für den großen Einzelgänger Hermann Hesse zutreffen. Aber Otto zur Linde definiert dort auch den Begriff Ewigkeit schon (an sich entwickelten sich diese Ansichten und Einsichten fast zeitparallel) in einer Weise, die mit den Auffassungen und Darstellungen der Neusymbolisten eigenartig verwandt erscheint: „Ewigkeit ist das Nebeneinander von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft — die Zeitparallelität. Unendlichkeit ist der Punkt-Raum. Und Gott ist die Kongruenz von Ewigkeit und Unendlichkeit, Zeit-Parallelität und Punkt-Raum. Die absolute Identität". Wie stellt nun Otto zur Linde den Dichter in dieses Koordinatensystem der Wesen-Wert-Bezüge ? Er läßt ihn einerseits teilhaben an dem Zeit- und Raumlosen, begrenzt ihn aber betreffs der Identität, damit keine Vergottung des dichterischen Schöpfertums eintreten kann. E r drückt das ein wenig kompliziert so aus: „ A b e r der Dichter ist nur bedingte Identität, Proteus. Unabhängig von Zeit und Raum, aber nicht Zeit und Raum selbst. Die Vielheit, aber nicht das All. Er ist Ich, er ist D u ; aber (er ist) nicht Ich und Du (zugleich) — denn das ist Gott". Das Sich-Berühren der äußersten Bewußtheits- bzw. Unbewußtheits-Symbole erfolgt dabei ein wenig nach der tieferen Bedeutung von Kleists etwa ein Jahrhundert vorher liegender Abhandlung „Über das Marionettentheater". Freilich stellt das Otto zur Linde nicht in einen so geschlossenen Gedankenzusammenhang hinein wie Heinrich von Kleist. Und es hängt mit seiner VerschlichtungsThese zusammen, wenn er den Blick, der an Gott gefesselt bleibt, zugleich gern auf das K i n d als den anderen Pol lenkt. Der Dichter darf nicht „ G o t t " werden, aber „ K i n d " bleiben: „ D e r Künstler muß ein Kind bleiben. Das schließt (von sich aus) alle Pose aus und gibt doch dem Phantasie-Spiel unbegrenzten Raum und vollkommene Bewegungsfreiheit". Wo das Kind spielt, ist es in seiner Art ein Dichter, weil es echt und ohne zu posieren und nur zu markieren an die Situation und Rolle glaubt und ganz in ihnen lebt. Anders steht es mit den bloßen Maskierungen und Posierungen von Erwachsenen etwa auf Maskenfesten und bei Maskenspielen. Hier fehlt die naive Gläubigkeit und echte Verwandlung, die Intensität der rückhaltlosen Einfühlung. Ebenso fehle — hinsichtlich der Echtheit der Gottesvorstellung — der „liberalen Theologie" die Unmittelbarkeit der Gottesschau, über die ein „mythenschauender und -schaffender deutscher Geist"

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verfüge. Daher darf ein deutscher Dichter nicht der Beurteilung (und Verurteilung) durch Theologen dieser Art ausgeliefert werden (vgl. das Urteil über Klopstock seitens einer weniger „liberalen" Theologie). In diesem Punkte würde übrigens besonders auch Pannwitz schlecht abschneiden müssen, da er sehr kühn (bis waghalsig) mythologisiert. Auf der anderen Seite möchte Otto zur Linde seinen Ideal-Dichter oder sein Dichter-Ideal gern freisetzen und loslösen von dem Druck rein ästhetischer Verpflichtungen: „ . . . heilige dein Schaffen und glaube daran und sei nicht ästhetisch. Um Gotteswillen nicht ästhetisch!" Das wäre zudem ganz überflüssig, da schon die liebe Kritik (im Charon-Kreis oft angegriffen) die Aufgabe habe und reichlich erfülle, und zwar dreifach: im Namen des Dichters, im eigenen Namen und im Namen des Publikums, immer sind die Rezensenten „ästhetisch". So im Abschnitt „Ästhetik" aus „Fantoccini". Wenn aber bei dieser Gelegenheit der Dichter ermahnt wird, weder ein „Schönheitspriester" noch ein „Armeleuteapostel" zu sein, so mündet das bereits wieder ein in den Zweifrontenkrieg gegen den George-Kreis einerseits und den Naturalismus andererseits. Was die Auseinandersetzung mit dem Naturalismus, oder genauer einem bereits impressionistisch verfeinerten Naturalismus betrifft, so erfolgt sie vor allem in Ottos zur Linde Streit- und Zeitschrift „Arno Holz und der Charon" (1910 u. 1911) zum mindesten hinsichtlich der Abhebung des „ p h o n e t i s c h e n R h y t h m u s " gegenüber dem naturalistischen (eigentlich schon impressionistischen) „Phantasus"-Rhythmus, wie ihn Arno Holz theoretisch als „notwendigen" Rhythmus formuliert und praktisch demonstriert hatte. Das aber sind letzten Endes Probleme einer Geschichte der Metrik, nicht aber Fragen einer Geschichte der Poetik. Soweit Poetik vorliegt, handelt es sich überwiegend um Selbstrechtfertigungspoetik, denn Otto zur Linde war zunächst einmal in die Verteidigung gedrängt. In die Verteidigung nämlich gegen den Vorwurf, daß er in metrisch-rhythmischen Fragen ein bloßer Epigone oder wohl gar ein bloßer Nutznießer der früheren Funde von Arno Holz gewesen sei. Zu dieser Verteidigung lag Anlaß vor, weil schon Arno Holz das Naive und Primitive des rhythmischen Reagierens säuberlich in ein experimentales Registrieren umgesetzt hatte. Freilich war er dabei und damit über den latenten Prosarhythmus nicht beträchtlich hinausgelangt.

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Dennoch hatte Otto zur Linde das berechtigte Gefühl, etwas anderes zu wollen als Arno Holz, ohne dieses Andersartige und relativ Neuartige besonders überzeugend herauszuarbeiten. Aus größerem Zeitabstand ist es leichter, diesen Unterschied zu erkennen und zu benennen. Und hier bewährt sich — wie schon angedeutet — die Sicht und Ansicht A. Soergels, der Otto zur Linde als Vorläufer für den Expressionismus beansprucht. Denn kurz gesagt: das rhythmische „Gesetz" bei Arno Holz verfeinert den Naturalismus und dessen Sprach-Illusion zu einer Sprachhaltung und Sprachgestaltung des Impressionismus und dessen SprachSuggestion. Der „phonetische Rhythmus" bei Otto zur Linde verficht bereits den Primat einer spontanen Sprachhaltung in Richtung des naiven Ausdrucks und damit des Expressionismus. Denn die Verschlichtung grenzt hier haarscharf an das Intuitive und Primitive. Und der immer noch irgendwie pathetische Rhythmus wird zum phonetischen Rhythmus. Indem Otto zur Linde die Konzeption Arno Holz' zu übersteigern scheint, springt er in Wirklichkeit in das Extrem um. Und das Experimentelle weicht dem Expressiven. Die „Fantoccini" von 1902 nehmen dabei manches vorweg von jener etwa ein Jahrzehnt später erfolgten systematischen Auseinandersetzung mit Arno Holz. In dem Abschnitt „ M e t r i k " , der sich bereits mit Arno Holz auseinandersetzt, wird der „Holzweg" zum mindesten als Umweg und damit letzten Endes doch zielstrebiger Weg erkannt und anerkannt. Erst der gelautete, gesprochene Vers verbürgt seine Berechtigung. In den Distichen der halb philosophischen, halb kunstphilosophischen „Kugel" (1902f.) begegnet die Mahnung: „Was die Seele dir drückt, wirf es hinaus im Rhythmus / Was kein Dampfkran hebt (das war damals die neueste Errungenschaft der Technik), spielend lüftet's der Vers / Auf dem Strome der Zeit vom Urquell der ewigen Weisheit / Schwimmen bewimpelte Kähne ins Meer der Poesie". Freilich mußte angesichts der komplizierten „Kugel", die zum symbolischen Mythus wurde, nicht nur die Mathematik, sondern auch die Metrik von Grund auf umlernen. Der Form von innen heraus entspricht dieser allein gültige Rhythmus von „innen heraus". Rudolf Paulsen möchte diese Rhythmen des Liedes Ottos zur Linde am liebsten gleichsetzen mit dem Rhythmus des Lebens schlechtweg. Ihm scheint der angeblich „freie Rhythmus" in Wirklichkeit immer noch oder doch zunächst immer ein „sklavischer" Rhyth-

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mus zu sein. Denn selbst der „freie" Rhythmus führt und verführt zur Unfreiheit des Epigonentums, das Freiheit nachmacht, ohne den Zwang der Metrik völlig zu entmachten. Und es wird deutlich, daß R. Paulsen den „phonetischen Rhythmus" am liebsten auf den „ p h y s i o l o g i s c h e n R h y t h m u s " zurückführen möchte. Denn er erklärt den „physiologischen Rhythmus" für den schlechthin „charontischen" Rhythmus. Und er faßt zusammen, dieser physiologisch-phonetische Rhythmus sei identisch mit, ja er „ i s t Otto zur Linde". Wieder also begegnet ein Beispiel dafür, daß Naturwissenschaftliches und Kunstwissenschaftliches, Technik und Kunsttechnik unmerklich und dennoch „merkwürdig" ineinander übergehen. Denn nicht erst Gottfried Benn hat aus der Spannung Kultur—Technik eine künstlerische Anspannung zu machen vermocht, obwohl bei ihm dann zum Leitmotiv wurde, was im Charonkreis zuletzt doch nur ein Begleitmotiv blieb. Und es fragt sich noch, ob seine Erneuerungsversuche in den „Fragmenten" (1951) nur auf die „Phantasus"-Rhythmen von Arno Holz oder nicht doch auch — vielleicht mittelbar — auf die rhythmischen Theorien im Charon-Kreis zurückdeuten. Aus beruhigtem kritischem Abstand von der bewegten und erregten Auseinandersetzung ergibt sich etwa folgendes Bild: in der Grundkonzeption stand O. zur Linde Arno Holz weit näher, als er selber wußte und später wahrhaben wollte. Wenn er in der Streitschrift gegen A. Holz betont: „Der Dichter singt das physische ,Lied' der Dinge, das Lied der Geschehnisse, das Lied seiner Seele, und . . . sein Lebenslied. Die Physis, der .Leierkasten' (Aufgreifen der polemischen Ausgangsstellung bei A. Holz), das ist's, was den Dichter als Dichter kennzeichnet. Nichts anderes." Wenn er damit das Subjektiv-Ichbezogene im Schlußteil als ein Physisches und doch Psychisches zugleich ausspielt und das Auch-Berechtigtsein von Vers und strophischer Gliederung anklingen läßt, so deckte sich der Eingangsteil weitgehend mit der von A . Holz bezogenen Position. Hatte doch A . Holz unter „Notwendigkeit" nicht zuletzt den jeweils variablen und jedesmal neuartig gelagerten Ding-Bezug verstanden im Gegensatz zu willkürlichen metrischen Zwangsverbindungen von Ding und Wortbewegung. Freilich hatte er von einer „komplizierten Notwendigkeit" gesprochen, während O. zur Linde gleichsam von einer simplifizierten Echtheit sprach. E s handelte sich für A. Holz eigentlich nur um ein Weiterverfolgen des Prinzips der „jedweiligen Reproduktionsbedingungen 15

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und deren Handhabung" nun speziell auf lyrisch-rhythmischem Gebiet. Die „Reproduktionsbedingungen" oder — wie er später weniger marxistisch sagte — „Mittel" sind bei Reim, Metrum und Strophe für die „Gegenwart" sehr ungünstig. Die Reproduktionsbedingungen haben sich von Grund auf verändert. Alte Formen verführen auch zu alten Inhalten, klammern zudem drei Viertel der Naturwirklichkeit aus usw. Den „freien Rhythmen" älteren Gepräges, aber auch noch bei Walt Whitman traute schon er ebensowenig wie dann Otto zur Linde. Und selbst die Forderung „letzte Einfachheit" war bereits durch ihn erhoben worden. Otto zur Linde fand die handliche Formel „phonetischer Rhythmus", verschmolz sie mit seiner Idee des „Ausbalancierens vor dem Objekt", begab sich aber in Gefahr, dem Verdacht zu verfallen, seinerseits gleichsam Arno Holz und Stefan George „voreinander" oder gegeneinander „auszubalancieren". Arno Holz endete bei einer Poetisierung der Syntax, ohne daß man wie weiland Lichtenberg sagen könnte: „Alles atmet Liebe und Syntax". Er verwarf den metrischen „Fuß" und lief sich sehr bald einen syntaktischen Plattfuß an. Und was Ottos zur Linde Forderung betrifft: „Der Vers muß auf Domdadakrücken einherstolzieren, Verse müssen deklamiert werden" — so zielt das zwar auf A. Holz, trifft aber doch nur recht ungenau. Die Ausdehnung auf weite Stoffgebiete führte jedenfalls zu einer Ausdehnung der lyrischen Produktion, der bald jede Konzentration verloren ging. Die Lyrik wurde nicht nur langsätzig, sie wurde langatmig und langweilig. Auch Otto zur Linde wurde wie Rudolf Pannwitz zu breiten versepischen mehr als lyrischen Gebilden verlockt. Hier trat verstärkend hinzu der Hang zum (wieder einmal) erneuerten Lehrgedicht. Denn was da geboten wurde, etwa in Ottos zur Linde „Die Kugel, eine Philosophie in Versen", war weniger Ideengedicht als vielmehr Lehrgedicht. Die Ideen werden lehrhaft breitgetreten, bis sie ermüden. Im Gegensatz zum GeorgeKreis ist man im Linde-Kreis der Charontiker sehr redselig, fast geschwätzig. Das gilt auch von kürzeren Gebilden. In einem Programmgedicht hebt eine Stelle so an: „Dies aber ist Fahrtvater Charons Botschaft an das Volk der Dichter..." Das klingt sehr verheißungsvoll (besonders für die kunsttheoretische Ausbeute), und es verspricht auch kommende Konzentration. Was aber dann folgt, ist ein breitspuriges Fahren auf längst bekannten Programmpfaden. Und die Behauptung, ein echter Dichter „macht nicht viel

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Wesens um ein Tönepaar (Reim), macht nicht Geschrei um ein paar Zeilen" (latente Polemik gegen die Zeilentheorie und Mittelachsentheorie bei Holz ?) — diese tröstliche Behauptung findet durch die Praxis keine Beglaubigung. Bemerkenswert ist aus diesem Gedicht neben der längst bekannten These von Ehrlichkeit und Echtheit und Ich-Bezogenheit am ehesten noch die Meinung, daß ein zerfaserndes Schwatzen über Kunst vom Übel sei, Kunst-Interpretation aber Sinn in dem Augenblick gewinne, wo die Art der Kunstwürdigung selber zu einem Kunstwerk würde: „Dann ist das Sagen neues Kunstwerk und nicht schlechteres" (Kunstwerk als das gewürdigte). Eigenartig genug leistet hier Otto zur Linde — Alfred Kerr Vorschub, ohne es gewiß zu ahnen. Wie erwähnt, wollte Kerr die Kritik zum dichterischen Kunstwerk erhöht wissen. Im CharonKreis war man aus naheliegenden Gründen sehr schlecht auf die Kunstkritik zu sprechen. R u d o l f P a u l s e n propagiert und variiert durchweg nur die Hauptthesen seines anerkannten Meisters, vor allem die Forderung der Echtheit, der Ursprünglichkeit des Naturhaften, das er gern bis ins Pflanzliche, Vegetative zurückverlegt, des Rhythmischen, wobei er den Terminus „phonetischer Rhythmus" stärker ins Naturwissenschaftliche abwandelt als den „ p h y s i o l o g i s c h e n R h y t h m u s " . Er versucht die vorherrschende Beschränkung des Charon-Kreises auf die Lyrik zu rechtfertigen, lehnt die Soll-Ästhetik schroff ab und ebenso die übliche Kunstkritik, die erst lernen müsse, dort zu schweigen, wo sie nicht mehr zu verstehen vermöge. Erbittert geht er zum Gegenangriff über: „Nicht der Charon ist zu klein für die Kritiker, sondern ihr Gehirn ist zu klein für den Charon". Das hindert ihn aber nicht, früher Geschaffenes, auch „das Wertvolle vergangener Literaturen", kurzerhand als „hinderlichen Krempel" abzutun, soweit es als verpflichtendes Wertmaß dem angestrebten „Neuen" lästig wird. Auch holt er bedrohlich aus zum Schlag gegen die „Ästhetengrüppchen", die es bestenfalls „zu einigen neuen Formwerten" gebracht hätten. Wahrscheinlich hat er dabei besonders den George-Kreis im Auge, obwohl er damit das eigene Vorbild verleugnet. Aber es bleibt zu bedenken, daß für ihn die „ästhetische Frage" überhaupt nicht den Vorrang hat. Vielmehr setzt sich wiederum die kulturpädagogische Tendenz durch; denn „die Literatur hat durchaus ihre bedeutende, volkserzieherische Aufgabe". Die Philosophie Ottos zur Linde münde bewußt in den Mythus. Und die Mystik des Charon-Kreises sei nicht mehr die Mystik der 15*

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„Bibelsphäre", und also nicht mehr eine Mystik des geschlossenen Auges, sondern im Gegenteil eine „Mystik des offenen Auges", das sich nicht scheue, die „letzten und grausigsten Erscheinungen des Lebens tapfer und ehrlich zu erfassen" (Wechselspiel des Realen und Irrealen). In gewissem Grade erfolgt dabei erneut eine Annäherung an die Position des Neusymbolismus, wie denn auch die eigentliche „Natur" nicht rückwärts, sondern vorwärts zu suchen sei, also als eine Wirklichkeit zukünftiger Seins- und Sinnhaltigkeit. Noch weit deutlicher hat R u d o l f P a n n w i t z dem Neusymbolismus vorgearbeitet. Es wird von vornherein spürbar, daß er neben Otto zur Linde und, ihn zum Teil übertreffend, der führende Kopf im Charon-Kreis gewesen ist. Er legt vielfach subtiler aus, was O. zur Linde zunächst einmal in groben Zügen entworfen hatte, so etwa auch die Interpretation des „phonetischen Rhythmus". Er geht auch tiefer auf Nietzsche ein, als das Otto zur Linde vermochte oder für gut hielt. Und es schien zeitweise so, als ob durch ihn das philosophische Lehrgedicht zu einem echten Ideen-Epos umgebildet werden könnte. Er wahrte also nicht nur den philosophischen Grundzug, der in so eigenartiger Weise mit der lyrischen Ambition des Charon-Kreises auseinandertrat und in Spannung geriet, sondern verstärkte ihn noch. Aber er blieb konziser, relativ prägnanter, als es Ottos zur Linde Zerreden der Probleme zuließ. Und er vermag auch geistig weiter auszugreifen und eher eine Einbegreifung des Mystischen im Mythischen durchzusetzen und durchzuhalten. Rudolf Pannwitz ist bei alledem niemals ganz von seinen Vorbildern und Gewährsmännern Nietzsche und Stefan George freigekommen. Auf Nietzsches Einfluß verweist seine Weltanschauung, auf George sein Kunstgebaren. Sogar die leidige Kleinschreibung und Interpunktionsfeindschaft Stefan Georges hat er übernommen. Er geht sogar soweit, daß er auch „george" kleinschreibt, obwohl gerade für ihn und angesichts seiner Abhängigkeit George großgeschrieben werden müßte. Aber die „üblichen ausleger- und schulmeisterzeichen" müssen vermieden werden. Und damit ist R. Pannwitz in seiner Charon-Epoche ein lebhaft für Schulfragen und Schulreformen Interessierter: „Der Volksschullehrer und die deutsche Sprache" (1908), „Der Volksschullehrer und die deutsche Kultur" (1909), „Das Werk der deutschen Erzieher" (1909) und der Aufsatz „Die Erziehung" in der von Martin Buber herausgegebenen „Ge-

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sellschaft" (1909). Auch nach der von Otto zur Linde empfangenen Einflußwelle muß er noch einmal die George-Schule durchlaufen (er wechselte zeitweise in den George-Kreis über), um von Schulreformerei sich gesund zu baden. Aber Kulturpädagoge ist er immer geblieben. Wie er George zu überbieten trachtete, so glaubte er allen Ernstes Nietzsche nicht nur überwinden, sondern ihn auch überbieten zu können. Natürlich wiederum ganz anders als die vulgären Nietzsche-Anhänger meint er zuversichtlich, ihn „als erster mit wahrer Berufung fortzuführen". Selbst wenn man auf die spätere Epoche Pannwitz' schon jenseits des Charon-Kreises vorausgreift, etwa auf den Volksprediger mit antisemitischem Einschlag und nationalistischer Ambition, der die umfängliche „Deutsche Lehre" (1919) verfaßt, so verharrt er im Zarathustra-Ton. Nur daß er nicht anhebt „Also sprach Zarathustra", sondern „Der Geist euer Herr spricht", womit trotz des verstärkten Bibeltons keineswegs so ohne weiteres der Herrgott gemeint ist. Diese vermeintliche Weiterbildung wirkt sprachkünstlerisch weit eher wie eine Rückbildung auf den Vorläufer des „Zarathustra", das „Prometheus und Epimetheus"-Epos von Carl Spitteier — natürlich ohne dessen rein künstlerische Motive. Zugleich hat man den Beigeschmack oder Vorgeschmack, als ob durchaus am deutschen Wesen die Welt genesen soll, zum mindesten geistig. Kurz, Pannwitz verfällt einem Geisteskultus und einer Kulturmanie. In ihm hat wirklich der Gebildete den Bildner erdrückt, so sehr der schöpferischschenkende Bildner sich mit aller Gewalt durchsetzen und behaupten möchte und so anerkennenswert, ja zum Teil erschütternd dieses Ringen zwischen geistiger Erkenntnis und künstlerischer Schau wirken mag. Indessen auch weltanschaulich bleibt die Meinung anfechtbar, ob denn nun wirklich seine neuen vielfältigen Götter nur Ausstrahlungen des alten einigen und einzigen Gottes sind und als solche gelten können. Wie stark übrigens die Vorstellung der „Nuance", deren Bedeutung gelegentlich schon berührt wurde, die ζ. T. rokokohafte Neuromantik beherrscht, wird nicht zuletzt daran ablesbar, daß R. M. Rilke selbst noch die Gottesvorstellung auf die „Nuance" zurückführte. Aber bevor man Rilke verstehen kann, muß man auf H u g o v o n H o f m a n n s t h a l (1874—1929) eingehen. Denn Hofmannsthal ist z u n ä c h s t b e r u f e n , die N e u r o m a n t i k a l s W e l t a n s c h a u u n g u n d K ü n s t a n s c h a u u n g vor sich selber und vor den anderen zu r e c h t f e r t i g e n . Er hat mit der Romantik das

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Schwärmen und „Schweben" gemein, aber auch den Zug für das Religiöse und für das Traumhafte, für das Entfalten des vollen Lebens angesichts des Todes, für den Primat des Gemüts und der Phantasie, für die dämmernde Dunkelheit der Ahnung jenseits aller belehrenden Ermahnung. Aber d a s I n t u i t i v e s c h l i e ß t bei ihm i m m e r d a s I n s t r u k t i v e in sich ein. Und so verschmilzt er die Geistigkeit der älteren Romantik mit der „Gemütlichkeit" der jüngeren Romantik. Wo sein Gefühl frei zu schwärmen scheint — und das poetisch Schwärmerische ist ein Grundzug seines Kunstwollens und Kunstschaffens — da will er doch zugleich liebenswürdig und lebenswürdig bleiben und belebend belehren. Die Müdigkeit seiner Skepsis darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er immer wieder zum Wachsein der Wahrheit im Schleier der Schönheit aufruft. Und die Lebensliebe birgt immer auch eine poetisch umgesetzte Lebenslehre in sich, ob es sich nun um die Lehre des Versäumten („Der Tor und der Tod") oder um die Lehre des Verträumten („Terzinen über Vergänglichkeit, Ein Traum von großer Magie, Dichter sprechen", Ausklang des „Kleinen Welttheaters", Ausklang des „Vorspiels für ein Puppentheater" usw.) handeln mag. Das Versäumte und das Verträumte greifen allenthalben innig und untrennbar ineinander. Denn der Lyriker Hofmannsthal, der sich auch in den „kleinen Dramen" treu bleibt, fühlt sich vor allem angewiesen auf das rückgreifende Erinnerungserleben einerseits und auf das vorgreifende Wunscherleben andererseits. Das Erdichtete bedeutet ihm vorab und vorzüglich das Erträumte. Und das Traum-Symbol beherrscht sowohl sein Theoretisieren wie sein Produzieren. Auch die oft berufenen „Dinge", die er längst vor R. M. Rilke zum Merk- und Kennwort erhebt, sind nicht realistisch gemeint, sondern romantisch vergeistigt (ältere Romantik) oder gemütvoll beseelt (jüngere Romantik). Die „Dinge" sind nicht Selbstwert als Ertrag, sondern Beziehungswert als Deutung. Sie sind nicht in erster Linie ein Sein, sondern ein Symbol, nicht ein Bezeichnendes, sondern ein mythisch-mystisches „Zeichen", das der Auslegung bedarf. Sie sind keineswegs nur das Konkrete, sondern auch das Abstrakte. Sie sind nicht nur das Greifbare, sondern auch das Ergreifende, nicht nur das Gegenständlich-Gegebene, sondern auch das moralisch Aufgegebene. In dem kleinen lyrisch-elegisch getönten Drama „Der Kaiser und die Hexe", das ein Sich-Freikämpfen des Ethischen vom Erotischen symbolisiert

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und ein ewiges Lieben in ein ewiges Leben transponiert, spricht der Kaiser von der Vielfalt der Städte: „Und in ihnen viele Dinge: Herrschaft, Weisheit, Haß und Lust". Und in dem Einakter „Der weiße Fächer" sind die „Dinge", an die Miranda „nicht gedacht" hat, keineswegs nur tatsächliche Vorgänge, sondern psychologische Vorgänge, die zwischen Traum und Wirklichkeit in der Schwebe gehalten werden, in jenem typisch romantischen Schwebezustand, der das neuromantische Stimmungsdrama vom MilieuZustand des naturalistischen Bestimmungsdramas so klar abhebt. In dem kunsttheoretisch beachtenswerten D i a l o g z w i s c h e n H u g o v o n H o f m a n n s t h a l und R i c h a r d S t r a u ß aus Anlaß einer mythologischen Oper „ D i e Ä g y p t i s c h e H e l e n a " (Inselalmanach 1929) wird das „Natürliche" als Idealwert und Realbestand des Naturalismus nachdrücklich in Frage gestellt. Denn für Hofmannsthal ist das vermeintlich „Natürliche" nichts weiter als eine sehr vergröbernde „Projektion des ungreifbaren Lebens auf eine sehr willkürlich gewählte soziale Ebene". Gerade für das dichterisch Belangvolle ist „in einem .natürlich' geführten Dialog" oder in einem „psychologischen Dialog", wie er von Hebbel bis Ibsen vorherrscht, „kein Raum". Denn das „Maximum unserer kosmisch bewegten, Zeiten und Räume umspannenden Menschennatur läßt sich nicht durch die Natürlichkeit einfangen". Also auch nach dem Anbranden und Verebben der expressionistischen Welle hält es Hofmannsthal immer noch für erforderlich, von den Praktiken und Taktiken des konsequenten Realismus entschieden abzurücken. Zugleich aber ist dieses improvisierte Kunstgespräch zwischen dem Komponisten und dem Dichter aufschlußreich für die Annäherung der Poesie an die Musik, eine Annäherung, die der „alten" Romantik durchaus entspricht. Denn es geht nicht nur um die Sondergattung der mythologischen Oper, die Hofmannsthal damals für besonders zeitgemäß hält, sondern gleichzeitig um die Darstellungsmittel und deren wirksame Handhabung. Ja, von diesen Darstellungsmitteln geht die Kernpartie des Kunstgesprächs keineswegs zufällig aus. Und es ist ebensowenig Zufall oder ein bloßer kritischer Einfall, wenn Richard Strauß im Verlaufe des Gesprächs dem wieder einmal allzusehr ins Schwärmen geratenen Dichter Hofmannsthal zu bedenken gibt: „Aber das sind ja meine — das sind ja die K u n s t m i t t e l des M u s i k e r s " . Hofmannsthal war nämlich ausgegangen von einer Abwehr des allzu „zweckvollen

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Gesprächs," das im naturalistischen Diskussionsdrama Ibsenscher Prägung vorherrschte und das ihm zu sehr auf eine „dialektische Ebene" herabgedrückt erschien. Er kann darin kein förderndes „Vehikel des Dramatischen" erkennen und anerkennen. Aber darüber hinaus — und das ist wesentlich für seine Entwicklung und sein Abrücken von einer bloßen Wortkunst in seiner Spätzeit (zum mindesten in der Theorie) — glaubt er nun, nahe seinem Tode, nicht mehr daran, daß überhaupt das Wort und das Wort im Gespräch den Ausschlag gibt für den dichterisch-dramatischen Ausdruck. Zum mindesten nicht die „zweckhafte, ausgeklügelte Rede", deren Aufkommen er schon bei Euripides beobachten zu können glaubt und noch an Bernard Shaw bedauert, obwohl bei Shaw die „Lust am Witz" wesentlich mildernd eingreift und so die kühle Schärfe der „Dialektik des Dialogs" weitgehend neutralisiert und aufhebt. Shakespeare dagegen entspräche Äschylos (in Abhebung von Euripides), indem er sich niemals mit dem Wort als Mitteilung begnüge, sondern stets die Ausdruckskraft bevorzuge. Damals geht Hofmannsthal wohl nicht ohne merklich forciertes Bemühen um eine Uberwindung seiner früheren Wortkunst so weit, daß er behauptet: „ein Dichter hat die Wahl, Reden zu schaffen oder Gestalten", wobei eindeutig die Gestalten als wesentlich und wertvoll gelten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der spätere Hofmannsthal auf der Wegsuche zwischen Neuromantik und Neuklassik eine Schwenkung von der Neuromantik seiner Frühzeit zur Neuklassik vollzieht, und zwar sowohl im Theoretisieren wie im Produzieren. Nicht aber gab er dem aufklärerischen Element innerhalb der Klassik nach, sondern bewahrte und verstärkte im Gegensatz zu R. M. Rilke die religiösen Bezogenheiten. Insofern blieb er einer echten Neu-Romantik treu. Auch jene latenten Darstellungsmittel wie Verstrickung der Motive, Anklingenlassen eines Ahnens und Meinens, Wieder-Verschwindenlassen der Anklänge, symbolträchtige Ähnlichkeit der Gestalten (vgl. Schlußsituationen in „Der Tor und der Tod" u. in „Der Kaiser und die Hexe", szenische Anmerkungen), Analogien der Situation, Tonfall, „der oft mehr sagt als Worte": auch diese verhaltenen Wirkungsmöglichkeiten halb unbewußter Art deuten mehr auf die Romantik zurück als auf die Klassik. Hofmannsthal beharrt auch jetzt auf seiner Grundkonzeption eines lyrischen Dramas: „Es sind die K u n s t m i t t e l des l y r i -

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sehen D r a m a s , und sie scheinen mir die einzigen, durch welche die A t m o s p h ä r e der G e g e n w a r t ausgedrückt werden kann". Die Unterredung mit dem Komponisten aber erinnert fast zwangsläufig daran, daß einst im 18. Jahrhundert der Terminus lyrisches Drama ein Synonym für „Singspiel" (u. Oper) gewesen war (vgl. Band II). Das aber besagt, daß dieses Kunstgespräch nicht mehr vom „reinen" Dichter Hofmannsthal geführt wurde, sondern vom Textdichter der „Elektra" und des „Rosenkavaliers", daher auch das Stichwort einer mythologischen Oper „Die schöne Helena". Die zunehmende Anpassung an die Oper wurde auch in der Kunstanschauung so stark sichtbar, daß selbst der KunstgesprächsPartner Richard Strauß nicht daran vorübersehen konnte. Es sei daran erinnert, daß sich Hofmannsthal in der Notzeit der Inflation (1923) „Geldgewinnes halber" mit einem „Filmbuch für den Rosencavalier" herumschlagen und durchschlagen mußte (Brief vom I i . Juli 1923), wobei immerhin für die Gattungstheorie die Bemerkung herausspringt: „Ein Film ist die Auflösung eines dramatischen Vorwurfes in einen Roman" (damals noch in einen „Roman in Bildern"). Sieht man von dieser späteren Situation des Opern-Dichters, seinem In-Beziehungsetzen und In-Beziehungsehen von Musik und Dichtung, das z.B. auch in der Würdigung G. Kellers deutlich wird, hinüber auf die Wortkunsttheorie und Dichtungsdeutung im engeren Sinne, so wählt Hofmannsthal fast ausschließlich die F o r m des K u n s t g e s p r ä c h s , bald des rein dialogischen, bald des mit einer kleinen Szenerie bereicherten Kunstgesprächs. Eine wesentliche Ausnahme von diesem Brauch macht eigentlich nur ein Vortrag: „Der Dichter und diese Zeit" (1907), der als Wesensmerkmal des Dichters hervorhebt: „ihm sind Menschen und Dinge und Gedanken und Träume völlig eins". In diesem Vortrag bildet Hofmannsthal nicht von ungefähr ein Gegenstück zu Maler Müllers Terminus „Ideengefühle", indem er dem Dichter und Deuter vor allem „ G e d a n k e n g e f ü h l e " zuspricht und zuweist. Das gefühlsmäßige Verknüpfen der Erscheinungen ist ihm als Funktion aufgegeben. Er sieht und erlebt und gestaltet alles als „Erscheinung", wobei immerhin Schillers Definition der Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung" mitschwingen könnte. Jedenfalls werden Anklänge an den transzendentalen Idealismus der Romantik oder auch an Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung" vernehmbar ζ. B. in der Art der Voraussetzung,

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die der Dichter schon im Menschen an sich vorfindet: „Wie der innerste Sinn aller Menschen Zeit und Raum und die Welt der Dinge um sie her schafft, so schafft er (der Dichter) aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Tier und Mensch und Traum (!) und Ding, aus Groß und Klein, aus Erhabenem und Richtigem die Welt der Bezüge". Diesem Schaffen der Bezüge geht ein genießendes Leiden an der Überfülle und Überfeinheit der Impressionen und Sensationen voraus, das den Dichter zugleich bedrängt und beglückt. Seine Sensibilität macht ihn auch zu einem präzise arbeitenden Instrument für den Empfang von Erscheinungen, Strömungen und Strebungen seiner Gegenwart. „ I n ihm oder nirgends ist Gegenwart". Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß Hofmannsthal auch schon in jüngeren Jahren, wie der Briefwechsel mit Stefan George ausweist, sich gegen das Exklusive des Kreises um Stefan George, gegen dessen Tagesfremdheit und Tagesfeindlichkeit mit elastischer Zähigkeit zur Wehr setzte, daß er sein Interesse für einen gehobenen Journalismus freimütig bekundete, daß er sich an der Unterschriftensammlung einer Friedensmahnung von geistig führenden Persönlichkeiten aus Anlaß der zeitweise sehr gespannten deutsch-englischen Beziehungen (1905) beteiligte usw. Aber natürlich vertritt er keine Tendenzdichtung. Und der historische Sinn der Romantik läßt ihn in dieser Gegenwärtigkeit des Dichters zugleich die ständige Nähe des Vergangenen fast magisch-mystisch eingekörpert sehen. Mit der Vorstellung einer Ineinsbildung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft klingt dieser sehr ausgedehnte Vortrag, der mehr phantasiert als definiert, mehr manifestiert als demonstriert, aus. Aber man gewinnt bei aller Erwähnung der Gegenwart dennoch den Eindruck, als ob Hofmannsthal seiner Gegenwart und ihren Anforderungen bewußt oder unbewußt ausweicht. Und man erinnert sich unwillkürlich an sein Epigramm „Die Dichter und die Zeit" (1898 bzw. 1916), das es ablehnt, dem Dichter den Dienst an seiner Zeit auch in Bezirken aufzubürden, die dem Wesen und Wollen der Kunst nicht gemäß sind und also nicht wirklich Heimat werden können: „Wir sind dein Flügel, ο Zeit; doch wir (sind) nicht die tragende Klaue! / Oder verlangst du so viel: Flügel und Klaue zugleich?" Es mag erwähnt werden, daß diesem 1916 erschienenen Epigramm eine frühere Fassung vorausgegangen war unter dem Merk-

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wort „Dichter und Gegenwart" (1898). Dergestalt erhält der lapidare Satz: „In ihm oder nirgends ist Gegenwart" eine wesentlich andere Tönung. Und der Vortrag bestätigt als Ganzes, daß Hofmannsthal sehr wohl den Anspruch der Gegenwart auf den Dichter fühlt, daß er aber nicht recht weiß, wie diese Erwartung zu erfüllen wäre. Vielmehr weicht er in das Auffangen von Zeitstimmungen und dunklen Strebungen allgemeiner Art aus, indem er das Symbolische und Visionäre zur Hilfe herbeiruft. Jedenfalls birgt der Vortrag eines späteren österreichischen Dichters unter demselben — an sich etwas steifen — Titel („diese Zeit"), nämlich R. Musils, weit williger den unmittelbaren Zeit- und Gegenwartsbezug in sich. Doch darüber wird an entsprechender Stelle noch einiges zu sagen sein. Vorerst gilt es, diesem sich etwa ein halbes Hundert Seiten ausdehnenden Vortrag „Der Dichter und diese Zeit" gerecht zu werden. Das ist gar nicht einmal so leicht, weniger wegen des Umfangs als wegen einer wahrhaft mehr als neuromantischen Verworrenheit der Ideenführung und einer rettungslosen Verschwommenheit der Begriffsbildung. Denn kaum leuchtet ein klärender Funke tröstlich auf, und sogleich wird er wieder erstickt vom dämonischen Düster der „Magie" oder zugedeckt vom wolkig dahinflatternden Schleier mehr ablenkender als hinlenkender Vergleichsbilder, Gleichnisse und Zauberformeln. Der Vortragende ahnt das selber und hält es für erforderlich, seine Zuhörer immer wieder auf das Befremdende und ganz und gar nicht Alltägliche seiner Darlegungen schonend vorzubereiten und laufend beruhigend auf sie einzuwirken. Er hätte diesen Vortrag eigentlich zu einer Buchwoche halten müssen; denn es geht vorwiegend um das rechte und falsche Lesen von Büchern (vgl. H. Hesse). Der Mann der Wissenschaft und der Mann der Zeitung beherrschen das Leserpublikum. Dramen und Gedichte werden nur noch von Frauen und Kindern konsumiert. Man ist also auf eine völlig unpoetische Epoche gefaßt. Aber plötzlich heißt es wieder mit großem Pathos, es sei eine eminent poetisch interessierte Zeit: „Nie haben vor diesen Tagen Fordernde (Leser) so ihr ganzes Ich herangetragen an Gedichtetes". An ausschließende, superlativistische Urteile und Forderungen muß man sich überhaupt gewöhnen, wenn anders man dem kunsttheoretischen Schwarmgeist folgen will. Immerhin hat sich der Vortragende von vornherein gesichert durch das stolze Selbst-

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bekenntnis, er habe weder die Fähigkeit („die Mittel") noch die Absicht, einen Beitrag zur „Philosophie der Kunst" zu bieten. Schon der Dichterbegriff gehe in Wirklichkeit auf ein „chaotisches Gemenge" von allerlei dunklen und dumpfen Vorstellungen höchst „verworrener, komplexer und inkommensurabler" Art zurück. An Theoretiker, Kritiker und „Schulmeister" wird vorbeugend ein Lähmungsschlag ausgeteilt, damit der Dichter sich ungestört in Positur setzen kann. Es ist die viele Dichter-Vorträge kennzeichnende Positur. Zu ihr gehört auch, daß man sonst übliche Bezeichnungen als ganz sinnlos oder gegenstandslos ablehnt, so etwa wird die Bezeichnung „Romantik" als Epochenname abgelehnt, ebenso die Termini naturalistisch und symbolistisch, was nicht ausschließt, daß bald darauf mehrfach „symbolisch" als Fachwort Verwendung findet. Den Terminus „Genie" findet Hofmannsthal unleidlich, bevorzugt demgegenüber das englische „man of genius", ohne überzeugende Gründe dafür anzugeben. Denn wenn er behauptet, daß der Geniebegriff des Sturmes und Dranges „keineswegs" auf ein „Genie der Tat" hinweise, so irrt er sich. Schon die Aufklärung leitete z.T. die Genievorstellung von den nicht dichterischen Genies ab (vgl. Band II), und der Geniekultus der Stürmer und Dränger bewegte sich unverkennbar auf geniale Taten zu (TatErsatz). Unter dem Einfluß Stefan Georges dürfte er stehen, wenn er statt Genialität vielmehr „Führerschaft" als Ideal aufstellt. Aber dieses „Führer"-Ideal will Hofmannsthal so gar nicht recht zu Gesicht stehen. Er hat weder den Ehrgeiz noch die Energie, den jünglingshaft femininen Grundzug mit einer herrscherlichen „Führer "-Gebärde zu verdecken, wie das bei George der Fall war. Es handelt sich also um ein nur angenommenes Schein-Ideal. Weit besser fügt sich zu seinem Wesen die Umschreibung der Gedichte als „seismographische Gebilde", die feinste Schwingungen empfindlich registrieren. Damit aber wird weit mehr das Passive, Rezeptive, Leidend-Empfangende bezeichnet, das seinem Dichtertum eigen ist. Eigenes begegnet weiterhin in der Vorstellung der „Bezauberung", die sich durch den gesamten Vortrag hindurchzieht. Dabei begnügt sich Hofmannsthal nicht mit der rein ästhetischen Bezauberung. Er fordert vielmehr ausdrücklich eine religiöse Bezauberung. Das Wunder der Wirklichkeit bedarf der Ergänzung und Vertiefung durch die Wirklichkeit des Wunders „als ein Fürwahrhalten über allem Schein der Wirklichkeit". Dergestalt kann Hofmannsthal formulieren: „So glauben die Dichter das, was sie

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gestalten, und gestalten das, was sie glauben". Ein Unterscheidungsversuch von Dichter und Schriftsteller bleibt unentschlossen in den Anfängen stecken. Da war etwa Jakob Wassermann um dieselbe Zeit schon weiter. Dagegen ist die U n t e r s c h e i d u n g des „ D i c h t e r i s c h e n " v o n der D i c h t u n g im engeren Sinne, besonders im ersten Teil des Vortrags, recht verheißungsvoll. Das „Dichterische" nämlich sei es, das die zeitgenössischen Leser in all ihrer unzulänglichen Lektüre suchen und ersehnen. In konzentrierter Form aber vermag es eben doch nur echte Dichtung zu vermitteln. Der Brückenschlag des Dichterischen wird ergänzt durch die Mittlerrolle des Sprachlichen. Das Medium der Sprache bereitet den Sinn für das Dichterische vor und hält ihn ständig wach. Freilich geht Hofmannsthal zu weit mit dem Anspruch, daß ausschließlich die Dichter die Sprache entwickelt und bereichert hätten. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die von Hofmannsthal herausgegebene Sammlung „Wert und Ehre deutscher Sprache" (1927), die Bekundungen von J. G. Schottelius bis J. Grimm zusammenträgt, ganz abgesehen von dem „Deutschen Lesebuch" (1924) mit seinen Prosa-Proben von etwa 1750—1850. Beide Sammlungen beweisen, daß er jenen übertriebenen Anspruch nicht ernstlich aufrechterhalten hat, wohl aber seinen dankbaren Dienst an der deutschen Sprache. Angesichts des schon im weiteren Umkreis beobachteten Bemühens, das Dichterische auf das Lebendige schlechtweg zurückzuführen, wobei allerdings leicht das Anrecht der andern Künste übersehen wird, sei die Prägung mitgenommen, wonach „das Gedichtete nichts ist als eine Funktion der Lebendigen". Im Vorausblicken auf den Expressionismus sei hervorgehoben, daß vor allem der Schlußteil des Vortrages die Bedeutung der Zusammenschau, die jene bloße Aufgabe des Verknüpfens wesentlich vertieft, der Vision, der Magie und der Synthese, auch der „Synthese der Zeit" mit Nachdruck herausarbeitet. Und man trifft dort auf Sätze, die ohne weiteres in eine Programmschrift des Expressionismus herübergenommen werden könnten, wie etwa diesen: „Das All stürzt dahin, aber ihre (der Dichter) Visionen sind die Punkte, die ihnen das Weltgebäude tragen". Diesen Einschlag, diese bemerkenswerten Ansätze und frühen Erkundungen teilt dieser Vortrag mit dem Kunstgespräch eines engeren Generationsgenossen Hofmannsthals. Einige Jahre vor-

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her nämlich hatte J a k o b W a s s e r m a n n (1873—1934) über „Die Kunst der Erzählung" (1904) gehandelt, der er 1928 ein sehr kurzes „Nachwort" hinzufügte. Aber nicht in diesem späten Zusatz, sondern schon in der „Kunst der Erzählung" selber war häufig von der dichterischen Grundkraft des Visionären die Rede und stand schon lakonisch die These: „Die Vision ist alles". Jakob Wassermann war damals schon hervorgetreten mit den epischen Prosadichtungen „Die Juden von Zirndorf" (eigentlich Zionsdorf), „Renate Fuchs", dem „Moloch" und dem „Alexander in Babylon". Die drei Novellen „Die Schwestern" (1906), die also unmittelbar jenem kunsttheoretischen und kunsttechnischen Dialog folgten, nahm seinerseits Hofmannsthal wiederum zum Anlaß eines — noch kurz zu würdigenden — szenisch aufgelockerten Kunstgesprächs. Das dergestalt sichtbar werdende Wechselspiel zwischen dem Lyriker Hofmannsthal und dem Epiker Wassermann legt trotz chronologischer Teilbedenken die Vermutung nahe, daß die wenngleich beiläufige Erwähnung des Schicksals Kaspar Hausers durch Hofmannsthal in dem etwas eingehender analysierten Vortrag zurückgeht auf den „Caspar Hauser"-Roman (1908) Jakob Wassermanns. Und wenn man in jenem Dialog Wassermanns zwischen dem Alten und dem Jungen, die nicht das Vater-Sohn-Ablösungsmotiv, wohl aber die ewig wiederkehrenden Ablösungen der Generationen vergegenständlicht und für die kunsttheoretische Erkenntnis verwertet, auf Wendungen stößt wie die von der „Sehnsucht" und dem „geistigen Bedürfnis der Menschheit", so wird gleichsam Hofmannsthals Konzeption von der unbewußten, aber starken Sehnsucht der Leserschaft nach dem „Dichterischen" in allen Formen und Fassungen und das Bedürfnis nach echt dichterischer Befriedigung des unklaren Bildungsdranges vorweggenommen. Der „Junge", hinter dessen Äußerungen man vorzugsweise die eigene Meinung Jakob Wassermanns vermutet hat, obwohl man die teilweise Übereinstimmung mit dem „Alten" nicht unterschätzen sollte (der Alte, nicht der Junge prägt ζ. B. den Satz „Die Vision ist alles"), vertritt im Gesamt das Intuitive in Abhebung vom Konstruktiven. In ihm verkörpert sich auch vorzüglich das dunkle Recht des Kunstgefühls gegenüber der klaren Forderung des Kunstverstandes, den der „Alte" verteidigt. Diesen Kunstverstand arbeitet Wassermann weit klarer heraus als Hofmannsthal. Und er berücksichtigt dabei auch einsichtiger die alte

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Erkenntnis der Kunstschaffenden, daß ihnen ein kunsttechnischer Einzelhinweis weit lieber, weil weit fördernder sei als alle abstrakte Kunstphilosophie. J. Wassermanns Dialog „Die Kunst der Erzählung" hebt sich klar und entschieden ab von Hofmannsthals Vortrag „Der Dichter und diese Zeit". Wo Hofmannsthal schwärmt und schwelgt und beschwört, da definiert und formuliert und exemplifiziert Wassermann. Und vielleicht ist er als Kunsttheoretiker stärker und überzeugender wie als Kunstschaffender, während es bei Hofmannsthal umgekehrt ist. Freilich hat Jakob Wassermann den Vorteil, auf die Dialogpartner zu verteilen, was Hofmannsthal in seinem Vortrag notgedrungen und notdürftig vereinigen muß. Außerdem hat Wassermann den Vorzug für sich, nach größerem Zeitabstand (1928) erklären zu können, daß keine „unsterbliche Faser" an dem Dichter sei, der nicht „alle zehn Jahre" die einst beschworenen „Gesetze" verlassen, verleugnen und „zerschlagen" müßte. Während Hofmannsthal den Satzungen der Gesetze von vornherein nicht nur mit Vorbehalt und Vorurteil, sondern auch mit kritischer Skepsis entgegentritt, überprüft J. Wassermann diese theoretischen Gesetze an der praktischen Erprobung. Hugo von Hofmannsthal nennt als Gewährsmänner des Dichterischen vor allem Pindar, Dante, Goethe, Novalis, Lenau, Hebbel, aber auch kennzeichnenderweise Lord Byron. J. Wassermann nennt u. a. Goethe mit „Wilhelm Meisters Lehrjahren", nachdem er von Herodot den bloßen Bericht, aber eben doch schon den echt „erzählenden" Bericht, von Cervantes' „Don Quijote" als humorverklärte „Sittenschilderung" die Einmischung der Fabulierkunst abgeleitet hat. Das dritte Paradigma, Tolstois „Krieg und Frieden" vereinige Sittenschilderung, nationale Bedeutsamkeit und allgemeinmenschliche Bedeutung, so daß sich episch-„künstlerische Ruhe, Einfachheit und Größe" zu einer überzeugenden und überwältigenden Eintracht verbinde. Die Folgerungen der epischen Zurückhaltung, die anfangs die Schilderung des Brandes in Goethes „Lehrjahren" von der detaillierten Darstellung einer Feuersbrunst bei Emile Zola bevorzugend abhebt, werden von einer später hinzugefügten Anmerkung Jakob Wassermanns zurückgezogen oder doch deutlich in ihrer Geltung eingeschränkt. Ganz ähnlich nimmt eine spätere Anmerkung die Polemik gegen die „dickbändigen Ungeheuer" von Romanen zurück, die der darstellende Text ursprünglich bekämpft hatte. Die

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Theoreme des „Alten" gelten nun als allzu „akademisch"-erstarrt. Denn die Symmetrie und Harmonie eines epischen Werkes dürften nicht überschätzt werden gegenüber der künstlerisch reicheren „Polyphonie". Trotz solcher Einräumungen und Zugeständnisse an die Variabilität und Labilität der Erzählkunst sucht J. Wassermann dennoch einige Grundthesen der künstlerisch gültigen Erzählkunst aufrechtzuerhalten. Dazu gehört u. a. die These: „Vom Erzähler wird Unsichtbarkeit verlangt (vgl. Friedrich Spielhagens .Objektivität' mit Zugeständnissen), von dem (dagegen), was er erzählt, höchste Sichtbarkeit". Dazu rechnet weiterhin die These, daß die Schilderung nie Eigenwert erlangen und nie von der fortschreitenden Handlung ableiten und ablenken dürfe. Und dazu rechnet endlich und nicht zuletzt die These, daß die Einzelgestalt nicht in Abhängigkeit geraten soll von dem Geschehen, an dem sie beteiligt ist: „Eine Figur muß leben trotz der Handlung, nicht durch die Handlung". Stoff und Form müssen konform gehen, nicht isoliert im Kontrast stehen. Der Stoff ist kein Willkürliches, sondern ein Unwillkürliches, ja Notwendiges. Der Dichter glaubt ihn zu beherrschen, wird aber in Wirklichkeit von ihm beherrscht: „Nicht er wählt seinen Stoff, sondern der Stoff wählt ihn". In Abhebung, wenn nicht in ausgesprochenem Gegensatz zu H. v. Hofmannsthal räumt J. Wassermann dem Motiv mehr Macht ein als der Formung des Motivs. Er erkennt die epische Meisterschaft H. v. Kleists sowohl im Bewältigen des Inhalts als im Beherrschen der Form. Und er ist sich bewußt, daß die Epik, vorab die Prosaepik, sowohl der fortschreitenden Dynamik als auch der ruhenden Rast bedarf. Das Gesetz des „epischen Weiterströmens" darf ebensowenig verletzt werden wie das Gesetz der epischen Kontemplation. Die Epik braucht Weite und Ruhe, und ihre Bewegung bedarf ständiger Dämpfung um dieser Rast und Ruhe willen. Die zielstrebige „Bewegung" darf nicht vorherrschen, sondern muß einer „Zwecklosigkeit der Bewegung" den Vorrang einräumen. Unverkennbar greift dabei die Ästhetik des klassischen Idealismus selbst in ihrer Verengung auf das interesselose Wohlgefallen Kants über auf die Grundströmung der Romantik und Neuromantik. Und nicht zufällig trifft man in J. Wassermanns „Kunst der Erzählung" mehrfach auf Attribute wie „verklärt" und „erhöht". Schillers Forderung, daß sich der Stoff in der Form und durch die Form „auflöse", spiegelt sich unverkennbar in der Mahnung des

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„Alten" an den „Jungen" mit dem Zugeständnis und der kritischen Einschränkung zugleich: „Du hast eine starke und natürliche Empfindung, die aber nur selten in ihrer Reinheit wirkt, weil sich der Stoff nicht ganz in ihr aufzulösen vermag". Auf der anderen Seite rebelliert der „Junge" gegen die klassischen Formen und Nonnen, indem er nach Art der Romantik Gefühl und Gemüt gegen die klassische Satzung des „Alten" ausspielt. Das aber besagt : J. Wassermann bewegt sich im Wesentlichen und Wertvollen seiner Theorie der Erzählung auf der Linie eines Wegsuchens zwischen Neuklassik und Neuromantik. Der „Alte" vertritt dabei mehr die Neuklassik, der „Junge" mehr die Neuromantik. Die zeitgemäße Opposition gegen den Naturalismus bringt es mit sich, daß der Anteil der Schilderungskunst zunächst einmal überbetont und dann über Gebühr zurückgedrängt wird im Bereich der Erzählkunst. Recht extrem wird das so ausgedrückt: „Aus fünfzig Seiten eines Schilderers macht der (echte) Epiker zehn Zeilen". Aber dieser Radikalismus wird später durch die Anmerkung besonnen eingeschränkt, daß diese Behauptung „nicht mehr ganz wahr sei". Denn nicht umsonst plante J. Wassermann nach dem Teil „Fünf Jahre später", der nun im Kunstgespräch enthalten ist, den Teil „Zwanzig Jahre später" mit dem selbstkritischen Stichwort „Selbstwiderspruch". Dennoch darf nicht unterschätzt werden, was auf jener früheren Stufe der epischen Kunsterkenntnis erreicht worden war. Das Gesetz etwa der „scheinbaren Zwecklosigkeit der Bewegung", das Gesetz der neuklassischen „Verklärung und Erhöhung", die Unterscheidung des mündlichen Berichts, den der Naturalismus und, von ihm neu befeuert, Th. Fontane verherrlicht hatte, von der schriftlichen, schriftstellerischen und dichterischen Darstellung und künstlerischen Durchformung und Durchgestaltung, das Wechsel- und Wertverhältnis von stilistischer Periodenbildung und kunsttechnischer Komposition, die Forderung einer „Fülle des Ausdrucks bei größter Sparsamkeit mit dem Wort" (sparsamer Reichtum), die Unterscheidung der „Gegenwärtigkeit" des Dramas von dem Vergangensein der zu erzählenden Geschichte: alles das, um hier nur einiges Wesentliche heranzuziehen, beweist eine intensive Beschäftigung mit der Problematik über „Wesen und Gesetze der Erzählungskunst". Bis ins einzelne verfolgt J. Wassermann dabei den Unterschied von mündlichem Bericht und schriftlich fixierter Erzählung, so etwa durch den Hinweis darauf, daß der mündliche Berich t durch die volle 10

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Gegenwärtigkeit des Berichtenden unterstützt werde in einem Grade, den der schriftlich „Erzählende" erst durch kunsttechnische Hilfen erreichen könne. Eben deshalb wird das Herstellen des Vertrauens von Erzähler und Zuhörer und das Suggestivmachen einer Atmosphäre der „Behaglichkeit" so hoch bewertet. Der Widerspruch aber von Bewegung einerseits und epischer Ruhe andererseits wird aufgehoben im Idealzustand einer gebändigten Bewegung, einer gedämpften Dynamik, einer kontemplativen Schau des Geschehens oder (episch genauer) des Geschehenen. „Geradezu musterhaft ist darin Kleist, der vielleicht das reinste erzählerische Genie ist, das wir besitzen". Sprachstil und Gattungsstil haben bei alledem organisch ineinander zugreifen. Diese Bewertung des Sprachstils erinnert an H. v. Hofmannsthal. Ebenso die Überzeugung, daß Inneres und Äußeres eine untrennbare Einheit bilden müssen. Ebenso das Aufgeben einer verläßlichen Unterscheidung von Dichtertum und Schriftstellertum trotz des Ansatzes, daß Dichter den Stoff vorwiegend „erleben", während Schriftsteller ihn „erfinden". Aber in diesem Betracht hat J.Wassermann H.v.Hofmannsthal überholt, und zwar in dem Essay „Der Literat als Psycholog". Denn liier wird der Mythos und das Mystische, während es in der „Kunst der Erzählung" nur mitschwang als freilich bemerkenswertes Begleitmotiv, geradezu zum Leitmotiv und zum Wertkriterium, um Dichter und Literaten zu unterscheiden. Das bald landläufige Merkmal der mythenbildenden Kraft wird also als Kennzeichen echten Dichtertums bereits weitgehend vorgebildet. Denn der „schöpferische Mensch" ist mehr als der anempfindende Psychologe. Es ist ganz unverkennbar, daß in diesem Punkt J. Wassermann gegen den psychologischen Impressionismus und damit letzten Endes auch gegen Hugo von Hofmannsthal Front macht, obwohl er selber mehr darauf abzielt, die Identität von Psychologismus und Naturalismus zu beweisen. Psychologismus ist auf das Rationale angewiesen, echte Poesie dagegen auf das Religiöse. Daß echte Poesie auch auf das Träumen angewiesen bleibt, ob nun auf das mythische oder mystische Träumen, hatte schon die „Kunst der Erzählung "angedeutet. Aber wie es dort der Kunstweisheit letzter Schluß war, „andächtig und ehrfürchtig zu sein", so galt Wassermann der Traum trotz des neuromantisch erträumten und erstrebten Mythos als ein nicht ungefährliches Grenzgebiet: „Hier ist schon die Grenze des Traumes und der Träumerei".

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H u g o v o n H o f m a n n s t h a l aber überschritt wie im Kunstschaffen so auch im Kunstwollen zuversichtlich die Grenze, die Jakob Wassermann noch sich selber gezogen hatte. Und wenn Wassermann die Allegorie dem Literaten, das Symbol dem Dichter zuwies, so gehen für Hofmannsthal Traum und symbolische Traumdeutung untrennbar ineinander über. Neben der Symbolik des Traums steht die T r a u m h a f t i g k e i t der S y m b o l i k . Denn was besagt das Kunstgespräch, das wiederum ins SchwärmerischUnbestimmte ausweichende „Gespräch über Gedichte" (I, 2), dasHofmannsthal von zwei Gesprächspartnern (Gabriel—Clemens) führen läßt, anders und mehr, als daß die Symbolik, getrennt von der Allegoristerei, im ewigen Menschheitstraum wurzelt. Nicht umsonst lautet einer von den Kernsätzen, soweit in all den verhüllenden Schalen überhaupt von einem Kern die Rede sein kann: „Wenn die Poesie etwas tut, so ist es das: daß sie aus jedem Gebilde der Welt und des Traumes (!) mit dürstiger Gier sein Eigenstes, sein Wesenhaftestes herausschlürft, so wie jene Irrlichter in dem Märchen (Goethes), die überall das Gold herauslecken". Denn an und für sich handelt es sich bei diesem Kunstgespräch um eine reichlich unkritische Schwärmerei über Stefan Georges „Das Jahr der Seele", um eine ebenso hilflos-haltlos hingegebene Schwärmerei, wie sie eben dieser Stefan George an dem anderen Kunstgespräch Hofmannsthals über Balzac ganz richtig sogleich erkannte. Neben Stefan George werden noch mehr oder minder Goethe und — Hebbel als Lyriker herangezogen, aber nur, um die Position Georges zu stützen. Ohne diese verschleiernde und verwirrende Schwärmerei müßte sich Hofmannsthal eigentlich klar darüber geworden sein, daß es sich bei der Diskussion ganz einfach darum handelt, das „Symbol" möglichst weit von der logisierenden Allegorie abzurücken und es möglichst weit zu der „Hieroglyphe" und „geheimnisvollen Chiffer", zur magischen Bedeutsamkeit hinüberzubilden. Das freilich war — auch sprachphilosophisch gesehen — ein durchaus romantischer oder neuromantischer Rückzug. Es genügt Gabriel (der vor allem den Standpunkt Hofmannsthals vertreten dürfte) keineswegs, wenn sein Kunstgesprächs-Partner Clemens für den Dichter eine „gesteigerte Sprache" fordert, die „voll von Bildern und Symbolen" sei. Und vor allem mißfällt ihm, daß Clemens meint, der Dichter setze dergestalt „eine Sache für die andere". Eben das aber tut Hofmannsthal und vollends Rilke, und das tat vor 16·

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beiden Stefan George. Clemens beharrt denn auch erfreulich zäh auf dem Terminus „Symbol". Und Gabriel, obwohl immer dagegen ankämpfend, fällt selber immer wieder in den Symbolbegriff zurück. Das ist kein Wunder, denn im Hintergrunde steht der neuromantische Symbolismus. Und indem sich Hofmannsthal aus diesem symbolistischen Netz der bildlichen Beziehungs- und Bedeutungsfäden zu befreien versucht, verstrickt er sich in Wirklichkeit immer rettungsloser darin. Clemens bemerkt ganz richtig, daß Gabriel (Hofmannsthal) in die Symbole des Glaubens „abzuspringen und sich hinüberzuretten versucht, wenn es auch nur die Symbole des heidnischen Opferglaubens sind, bei dem das Symbol des Opfers mit dem Sinn des Opfernden magisch-mystisch ineinanderwebe." Man gibt sich selber, indem man nur das andere hinzugeben scheint. Und so bleibt Gabriel nichts anderes übrig, als sich in eine „lebenstrunkene orphische Sinnlichkeit" zu flüchten als die Auffangsstellung, die sich jeder Kontrolle entzieht ebenso wie das Hieroglyphische und Chiffernhafte der Bildsprache des Dichters (vgl. Band II und III). Es bleibt nur der „Zauberspruch", der das „All" in das Ich hineinnimmt, die Auflösung des Wunders der Wirklichkeit in die Wirklichkeit des Wunders und damit zuletzt noch eben das, was der Gesprächspartner Clemens als „schwüle Bezauberung" umschreibt oder das, was Gabriel selber als das „Wunder der Wunder" bezeichnet. Und aus der Deutung des Symbols, die Clemens versucht und die Gabriel als Versuchung verwirft, entfaltet sich die Hindeutung, die echt romantische oder neuromantische Hindeutung auf ein Religiöses, in das aller Schönheitskult — den Hofmannsthal immer wieder betont — einmündet und einmünden muß, wenn anders ein „vollkommenes Gedicht" entstehen und sich als solches ausweisen soll. Was aber jenseits der Symbolvorstellung (denn ein Symbolb e g r i f f liegt nicht vor) über das W e s e n u n d W i r k e n des l y r i s c h e n G e d i c h t s ausgesagt wird, weicht wenig von dem Hergebrachten und Herkömmlichen ab, nur daß manches etwas zarter und schwärmender ausgedrückt wird. Das Wertwort „zart" ist überhaupt ein Kenn- und Merkwort Hofmannsthals auch in seiner Kunsttheorie und Dichtungsdeutung. Und das „zart und traurig" begegnet nicht nur im vielzitierten Prolog Loris' (Pseudonym für den jungen Hofmannsthal) zu Schnitzlers „Anatol" (1893). Man hört, leise enttäuscht, etwas vom „zitternden Hauch der menschlichen Gefühle", etwas vom lyrischen Erfassen der „Halb-

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gefühle", der „geheimsten und tiefsten Zustände unseres Inneren", des „Zustande des Gemüts". Überhaupt überwiegt die Vorstellung von Zuständen des Gemüts und Gefühls. Etwas mehr könnte in der Forderung liegen, daß in der Lyrik das Gemütvolle auch „einfach" ausgesagt werden müsse. Aber hier grenzt schon Klassisches an Romantisches. Und mehr auf die allgemeine Wesensart und Wirkungsform der Poesie verweist die — auch Gerhart Hauptmann u. a. geläufige — Forderung, der echte Dichter müsse so verfahren, als ob er „jedes Ding jedesmal zum erstenmal sieht". Insofern steht neben dem Magischen immer das Naive, neben dem Göttlichen das Kindhafte, neben der bezaubernden Vielfalt der Zauber der Einfalt. Und die Naturfrömmigkeit der wirklichen Landschaften geht zwanglos und doch zwangsläufig über in die Frömmigkeit der Seelen-„Landschaften", womit dann das Kunstgespräch in den Ausgang und Anlaß einer Würdigung des „Jahres der Seele" von George wieder einmünden kann. Immerhin sei bei dieser Gelegenheit vermerkt, daß Hofmannsthal wie bei der Vertiefung des Merkworts „Ding" auch mit der Ausweitung des Merk- und Kennworts „Landschaft" (auch im übertragenen Sinne) wesentlich und wegerleichternd R. M. Rilke vorgearbeitet haben dürfte. Am weitesten aber nähert sich Hofmannsthal dem Wesen der Lyrik dort, wo er es aus einer Stimmung heraus symbolisch oder doch mit einem Vergleichsbild umschreiben kann: „Wovon unsere Seele sich nährt, das ist das Gedicht, in welchem wie im Sommerwind, der über die frischgemähten Wiesen streicht, zugleich ein Hauch von Tod und Leben zu uns herschwebt, eine Ahnung des Blühens, ein Schauder des Verwesens (Annäherung an die Dekadenz), ein Jetzt, ein Hier und zugleich ein Jenseits (religiöser Auftrieb der Neuromantik), ein ungeheures Jenseits. Jedes vollkommene Gedicht ist Ahnung und Gegenwart, Sehnsucht und Erfüllung zugleich". In diesem Falle kommt seiner Theorie der Lyrik zugute, was sonst leicht der Klarheit und Begriffbarkeit seiner Kunsttheorie Abbruch tut: die Neigung, ja geradezu die persönliche Nötigung, in ein wortreiches, wortschönes Schwärmen zu geraten, wo es sich nur irgend um Dichtertum und Künstlertum überhaupt handelt (vgl. auch das lyrische Dramen-Fragment „Der Tod des Tizian" 1892). Denn was ist die Situation des Dichters im „Vorspiel für ein Puppentheater" (1906) anders als ein wortreiches Schwärmen von dem Triumph einer absolut herrschenden romantisierenden Phantasie,

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die dennoch ihre Desillusionierung durch die Begegnung mit einem alten Reisig sammelnden Weib erfahren muß. In der äußeren Situation nicht nur, auch im Ertrag erinnert dieses kunsttheoretisch immerhin bemerkenswerte „Vorspiel" an das „Gespräch auf der Paderbomer Heide" des jungen Heinrich Heine, wo auch ein altes Waldweib die Desillusionierung des Romantikers zu vollenden scheint und dennoch die innere Wirklichkeit der Gesichte sich von der äußeren Wirklichkeit nicht entwaffnen läßt. Hugo von Hofmannsthal überbietet Heine insofern, als der „Dichter" durch Umarmung aus dem alten Weib die jugendliche Geliebte zu entfalten hofft, und zwar auf Grund halb naturmystischer, halb pantheistischer Vorstellungen, wonach in allem ein liebenswertes Leben waltet und nur der Entfaltung bedarf durch den Lebensmut und Liebesmut des vom Leben schlechthin nicht zu entmutigenden Romantikers und Neuromantikers. Außerdem aber gibt das Vorspiel zu einem Puppentheater erwünschte Gelegenheit, nicht nur so etwas wie die Natursprachenlehre anklingen zu lassen (der Kuckuckruf), sondern auch mit Hilfe der angekündigten Themen und Stück-Titel Kaspar Hauser, Genoveva, Doktor Faust u. a. die Volksbuch-Renaissance der jüngeren Romantik emeut zu beleben. Nebenbei sei vermerkt, daß auch im lyrischphilosophischen Kurz-Drama „Der Kaiser und die Hexe" der Masken Wechsel: junge Geliebte, häßliches altes Weib eine symbolische Geltung erlangt. Es handelt sich gleichsam um Gewaltproben der dichterischen Phantasie selbst noch gegenüber einer sehr spröden (bis hoffnungslosen) Wirklichkeit, dergestalt, daß die Wirklichkeit des Wunders und das Wunder der Wirklichkeit seltsam genug, im romantischen Sinne aber wunderbar und wunderlich zugleich verwoben erscheinen. Das T r a u m h a f t e d e r R o m a n t i k kehrt auf neuer Entwicklungsschicht fast bis zur Ermüdung wieder. Es geht nicht um die Traumdeutung der „neuen" Psychoanalyse, sondern um die Traum-Bedeutung der „alten" Romantik. Die Dichtung deckt sich für Hofmannsthal weitgehend mit dem Traum. Auch der Lebenssinn und die Lebensaussicht sind am ehesten und am echtesten im Traum aufzuspüren, wobei es sich freilich mehr um ein dunkles Erahnen als ein klares Erkennen handelt. Und nicht zuletzt der traurige und doch tröstliche Traum vom Tode birgt das tiefste Leben und das fruchtbarste Erleben in sich. Insofern kehrt Hofmannsthal zurück zu der christlichen Lehre: Herr, lehre

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uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf das wir klug werden. Der Traum dient nicht allein dazu, auf das Jenseits vorzubereiten, er hilft auch das Diesseits (wenigstens dichterisch) zu bewältigen und es umdichtend zu deuten. Der Traum ist sowohl ein Quietiv als auch ein Stimulans. Er verhilft in der Unrast zum Ausruhen; aber er bewährt sich auch als Reizmittel, um der lässigen Müdigkeit der fin de siöcle-Stimmung so etwas wie einen Restbestand an ethischer Bestimmung abzutrotzen. Man zieht sich nicht allein auf ihn zurück; man greift mit seiner Hilfe auch an. Und man klagt mit seiner Hilfe auch an. Vor allem aber sucht man in ihm und durch ihn zur Besinnung zu kommen. Denn wie in der Romantik spielen Bewußtes und Unbewußtes reibungslos (aber auch rettungslos) ineinander über. Im Traum liegt Freiheit; aber im Traum liegt auch Weisheit. Und durch das Traumhafte werden die „Agonien", von denen der bekannte Prolog zu Schnitzlers „Anatol" spricht, von denen aber auch die Geständnisse der Briefe an Stefan George zeugen, transponiert in „Philosophien". Der Traum wird so zum Theorem, wie die Theorie zum Traum wird. Der Traum enthüllt die ganze latente Traurigkeit, nicht nur die heimlich sehnsüchtige Traurigkeit des „Frühgereiften", der sich übrigens im Briefwechsel mit George keineswegs als schon voll ausgereift vorkommt, vielmehr mehrfach über mangelnde Lebensreife klagt. Der Traum bietet neben Traurigkeit auch Trost. Und er wird geradezu zur Auffangsstellung, aber auch zum Erfrischungsmittel des Erschöpften, des an sich und seinem Dichtertum Zweifelnden und am Sinne des Lebens Verzweifelnden. „Ein Traum von großer Magie" ist so verstanden nicht nur das Titelwort eines einzelnen Gedichts, sondern die Leitmelodie der Dichtung Hofmannsthals überhaupt. Freilich ebenso die Leid-Melodie, wie denn auch in diesem Einzelgedicht die stimmungsbetonten Adverbien „ t r a u m h a f t " u n d „ t r a u e r v o l l " nahe beieinanderstehen und einen Grundakkord der Dichtung Hofmannsthals anschlagen: „Er fühlte traumhaft aller Menschen Los". Die dritte der „Terzinen über Vergänglichkeit" deutet die menschliche Wesenheit in die dichterische Fühlweise hinüber: „Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen" und klingt aus in der Dreieinheit: „ein Mensch, ein Ding, ein Traum". Gewiß fehlt es nicht an kritischer Selbstbesinnung darauf, daß sich durch Träumen kein erfülltes Leben gewinnen läßt („Psyche"). Auch der Lebenstor in „Der Tor und der Tod" hat sein Leben vertan, indem er es

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ichbezogen verträumt und versäumt hat. Aber zugleich ist es doch wieder die Traumvision als Ganzes, die ihm die Lebenslehre aufschließt, als das Leben selber abschließt. Und das Traumhafte verschmilzt sich ebenso mit dem Trauervollen. Aus den Privatbriefen erhellt, daß Hofmannsthal nicht selten unter Depressionen gelitten hat. E r klagt Stefan George, wie er derartige längere Perioden der Ermüdung als produktionslähmend empfindet. Und doch kann kein Zweifel sein, daß er nicht selten auch eben diese Stimmungen produktiv gemacht hat, ja daß das Eigene und Eigentümliche der Lyrik und zum größten Teil auch der lyrischen Dramatik auf ein Produktivmachen von Depressionen zurückgeht, wobei sich die Depression zum Typus der lyrischen Meditation in Benachbarung der musikalischen Meditation wohltuend (und kunsttechnisch wohlgetan) abzuschwächen pflegt. Nicht zuletzt in dieser Dämpfung der psychischen Depression zur lyrischen Meditation hegt der Schlüssel, der das Wesen und Wirken seiner Dichtung aufschließt. Das betrifft schon die werkimmanente Poetik. Befragt man den Briefwechsel mit Stefan George (1891—1906) zunächst einmal nach der formulierten Poetik, so ist der Ertrag weit geringer, als man annehmen möchte. Von den peinlichen Annäherungsversuchen auf kaum normaler Grundlage bei der Begegnung des siebzehnjährigen Hofmannsthal mit dem etwa ein halbes Jahrzehnt älteren George in Wiener Cafes, die Hofmannsthals relativ gesunden Instinkt zwangen, eine Begleitperson mitzunehmen und dann seinen Vater zu alarmieren, über die fortgesetzten Klagen Georges betreffs der merklichen Vermeidung von persönlichen Begegnungen auch in späteren Jahren führt der Briefwechsel im wesentlichen zu einem mehr und mehr sich versteifenden Abwehrgefecht Hofmannsthals gegen ein allzu beklommenbeklemmendes Einbezogenwerden in jenen sonderbaren (bis sonderlichen) „Dichterkreis" der „Blätter für die Kunst". Der junge Hofmannsthal konnte zuerst nicht unfroh darüber sein, eine Stätte gefunden zu haben, wo man seine lyrischen Gedichte und Proben seiner lyrischen Dramatik jederzeit gern annahm. Aber bald erkannte er, daß er neben George die einzige echte Begabung war, die dieses „Unternehmen" stützte, während ihm die Auswahl der anderen Mitarbeiter nicht immer oder nicht einmal vorwiegend nach künstlerischen Kriterien, sondern nach persönlichen „Neigungen" Georges zu erfolgen schien.

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Aufschlußreich für die gesunde Witterung Hofmannsthals ist z.B. der Kampf um die Bewertung Richard Dehmels, dessen kräftige, aber gesunde Erotik den homoerotischen Einschlägen Georges so ganz und gar nicht gemäß war, während Hofmannsthal denn doch einiges Wertvolle an Dehmels Lyrik gelten lassen möchte. Der längst latente Kontrast tritt greifbar zutage besonders in den Briefen Juni/Juli 1902, die deshalb für die formulierte Poetik auswertbar sind. Auf die Grundformel gebracht, vertritt George den Primat eines vermeintlich produktiven Geschmacks (vgl. A. W. Schlegel, Band III dieser Darstellung), während Hofmannsthal das Sterile dieses exklusiven Geschmackskultus und das Arrogante dieses Geschmacksdünkels sehr wohl herausfühlt. In elastischer Kampftaktik räumt er zwar ein, daß er seinerzeit noch ru unreif gewesen sei, um die „Geschmacklosigkeiten und Rohhziten" in Dehmels Dichtung zu erkennen, glaubt aber doch eine „Läuterung" und Entwicklungsfähigkeit bei R. Dehmel festetellen zu dürfen und verteidigend festhalten zu sollen trotz des geradezu tobenden Anwürfe, die George recht zuchtlos, aber unter dem Deckmantel der künstlerischen und ethischen „Zucht" und „Strenge" gegen die ihm auch dichterisch gefährliche Potenz Dehmels schleudert. Außerdem verteidigt er das Kraftvoll-Derbe, das in seiner Volkstümlichkeit oft gesunder und ehrlicher sei als die Verlogenheit einer gespielten und dem Meister George nachgespielten dünnblütigen Vornehmheit. Die absolute Isoliertheit kann er, der eigene T e n d e n z e n z u r P u b l i z i s t i k eingesteht, nicht gutheißen. Gegen den Primat des Kühl-„Lyrischen" im Georgekreise führt er sein engeres Verhältnis zum „Dramatischen" und zum „Theatralischen" ins Treffen, ohne sich freilich einzugestehen, daß das Dramatische ihm stark ins Lyrische abzubiegen pflegt und das Theatralische ihm kaum recht gemäß ist. Gemessen an Stefan George freilich dürfte er hier eine Eigenwelt und einen Eigenwert beanspruchen. Aber wenn er bekennt, von Gerhart Hauptmanns Entwicklung in seinen Erwartungen enttäuscht zu sein, so gesteht er damit eigentlich nur seinen mangelnden Sinn für das spezifisch Dramatische ein. Dagegen spricht es für das Wegsuchen zwischen Neuklassik und Neuromantik, wenn er die Dramatik Karl Vollmöllers recht hoch einschätzt. Bei dieser Gelegenheit fällt für die theoretische Dramaturgie das Geständnis und Bekenntnis ab, daß die „tiefste Gabe des dramatischen Schaffens" darin zu suchen sei, „die Situation

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aus dem Herzen der Figuren heraus zu fühlen". Also nicht aus dem echten Konflikt soll echte Handlung entwickelt werden, sondern aus dem Lebensgefühl soll ein Lebenszustand sich entfalten. Das aber ist letzten Endes lyrisch gesehen und nicht dramatisch und vollends nicht theatralisch. Hofmannsthal merkt gar nicht, wie sehr er sich als Lyriker bekennt, wo er sich als Dramatiker benennt. Das aber spürt er sehr wohl, daß er selbst als Lyriker im Drama immer noch der betonten „reinen Lyrik" Georges überlegen bleibt. Kein Wunder, wenn er immer wieder rebellieren muß, wo er (situationsgemäß als der Jüngere) respektieren möchte. Und so endet dieser sonderbare Briefwechsel folgerichtig mit einer Dissonanz, wie er mit einer Dissonanz begonnen hatte. Mit der persönlichen Sympathie war es nichts; und mit dem „kunstmeinungseinklang", den George gefordert hatte (Mai 1897), war es ebenfalls nichts. Es konnte nichts damit sein, weil Stefan George im Grunde zu einer Neuklassik tendierte (freilich nicht zu der Neuklassik des Dramas und der Novelle), während es Hofmannsthal zunächst einmal zu einer Neuromantik unwiderstehlich hinüberzog, sowohl in seiner Lyrik wie in seiner lyrischen Dramatik. Denn was die theatralische Dramatik betrifft, die er allzu gewalttätig sich selber mit dem „Geretteten Venedig" abzwingen und aufdringen wollte, so brachte er es nur zu einem tragikomischen Fiasko im bühnengerechten Drama. Daran ändert nichts das merkliche Bemühen, in dem Kunstgespräch „Über Charaktere im Roman und im Drama", das Hofmannsthal selber als ein „imaginäres Gespräch" bezeichnet, die Stoffvorlage Otways als „das schönste aller Theaterstücke" herauszustreichen. Sah er sich doch angesichts der Kritik Stefan Georges, dem die ersten Auflagen des Dramas gewidmet waren (vor dem 1906 erfolgten Bruch), genötigt, die unausgleichbaren Fehler dieses so hoffnungsvoll auf die Bahn (und sogar auf die Münchener Bühne) gebrachten effektwilligen Dramas zuzugestehen. Als Drama war das „Gerettete Venedig" schlechterdings nicht zu „retten" vor den Mißgriffen der dramatischen Kunst, wie es in Wirklichkeit ja auch nicht gerettet wurde von der MißWirtschaft der patrizischen Senatoren. Aber davon abgesehen, scheint doch das thematragende Stichwort einiges für die Kunsttheorie der Gattungen zu versprechen. Leider aber ist dieses Stichwort nur journalistisch gemeint, um auf dem verschämten Umweg zum Literarischen hinzuführen. Denn in Wirklichkeit handelt es sich bei diesem von dem

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Dichter Balzac und dem Orientalisten Hammer-Purgstall geführten Kunstgespräch um eine Propaganda des zarten Neuromantikers für Balzac, die etwa der Schwärmerei für Swinburne entsprach („eine art erhabenen schwärmens" sagt George in diesem Falle). Hammer-Purgstall, der so wohlwollend über Hebbels „ J u d i t h " geurteilt hatte, sucht in diesem Kunstgespräch Balzac anzuregen, neben seine hervorragenden Romane nun auch ebenbürtige Dramen zu stellen. Aber Balzac wendet ein: „Eine Kunstform gebrauchen und ihr gerecht werden: welch ein Abgrund liegt dazwischen!" Er möchte nicht „die Formen vergewaltigen" und fühlt sich nicht als Dramatiker. Ihm widerstrebt der dramatische Charakter, denn „der dramatische Charakter ist eine Allotropie des entsprechenden wirklichen", also eine andersartige Kristallisationsform (und Konzentrationsform) desselben chemischen Grundstoffes. Balzac aber brauche Breite der Gestaltung, nicht Dichte der Haltung. Die „Verengerung" des dramatischen Charakters sei seinem epischen Kunstwollen nicht gemäß. Die Charaktere im Drama erscheinen ihm zu sehr als „kontrapunktische Notwendigkeiten". Zudem dürfe man Schicksale (im Roman) nicht mit Katastrophen (im Drama) gleichsetzen. Der Dramatiker habe die Katastrophe gleichsam als „symphonischen A u f b a u " anzulegen, wie er denn „mit dem Musiker so nahe verwandt ist" (Rückgriff auf R. Wagner bzw. Vorgriff auf R. Strauß). Im übrigen läuft wieder alles auf einen „schönen, tröstenden T r a u m " hinaus, selbst wenn man das „Pathologische" dulden möchte, das hier besser davonkommt als im Briefwechsel mit Stefan George. Neben den Musikern werden auch Maler wie Poussin und Frenhofer bemüht; denn es widerstrebt dem Stimmungskünstler Hofmannsthal, sich kunstverstandesmäßig an sein Thema zu binden. Malerei und Musik werden auch herbeigerufen, um Gottfried Keller zu deuten in der „Unterhaltung über die Schriften von Gottfried Keller", die wiederum als szenisch angereichertes Kunstgespräch erfolgt. Hinsichtlich des Malerischen sind dabei weniger die einschlägigen Kunstgespräche im „Grünen Heinrich" gemeint als vielmehr die malerischen Faktoren in der Gestaltungsweise Kellers. Hinsichtlich des Musikalischen wird dabei die eigenartige Zahlenmystik berücksichtigt, die nicht nur in Titeigebungen wie das „Fähnlein der sieben Aufrechten" oder die „Drei gerechten Kammacher" in Erscheinung tritt, sondern auch z . B . in den

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beiden Töchtern des Martin Salander und deren zugeordneten Liebhabern als Zwillingsbrüder (Primat der Zweizahl). Kunsttheoretisch erheblich erscheint neben dem Abzweigen von Anteilen der Nachbarkünste besonders der Versuch, an Kellers Kunstschaffen jene mehrfach in den theoretischen Bekundungen Hofmannsthals auftauchende V o r s t e l l u n g des „ G e m i s c h t e n " zu erläutern. Danach wäre dieses geheimnisvolle „Gemischte" jene Brechung des Überganges zwischen dem Erhabenen und Lächerlichen, „Anmaßung und Unsicherheit, von Hochmut und Bassesse, von Großtuerei und Feigheit", kurz das Schillernde und Schwankende zwischen scheinbaren Kontrasten, die dennoch zu Korrelaten werden. Mit der etwas nüchternen Bezeichnung das „Gemischte" umschreibt Hofmannsthal die Vielfalt der Gegensätzlichkeiten, die Brechung zwischen Scherz und Emst, das Schweben zwischen und über den Gefühlslagen, die Kompliziertheit der seelischen Vorgänge, die Stimmungsschwankungen, kurz alles das, was etwa als Äußerungsformen einer neuromantischen Ironie gelten könnte, zum mindesten aber das charakterlich und stimmungsmäßig Labile und Transitorische (etwa in den „Leuten von Seldwyla"), und die Mischfarben und Halbtöne andeutet. Es darf darauf hingewiesen werden, daß nicht nur in der formulierten, sondern auch in der werkimmanenten Poetik Hofmannsthals dieses „Gemischte" eine wesentliche Rolle spielt. Wohl noch häufiger begegnet in Theorie und Praxis das, was Hofmannsthal mit dem T e r m i n u s „ B e z a u b e r u n g " zu umschreiben pflegt. Damit ist nicht nur das Bezaubernde des Wiener Neurokoko gemeint. Vielmehr drückt sich in der „Bezauberung" jener ganze, dem Alltäglichen entrückte Zustand eines phantasiemäßigen Gebanntseins aus, der beim Kunstwertaufnehmenden der schöpferischen Steigerung des Kunstwertschaffenden entspricht. In diesen Bezirk ragt nicht nur das Traumhafte hinein, sondern auch das Märchenhafte und Magische. Ja, das Reich der Bezauberung ist recht eigentlich das angestammte Heimatland aller echten (neuromantischen) Poesie. Der Kunstwertschaffende muß von seinen Impressionen und Visionen bezaubert sein, um wiederum mit ihrer Hilfe den Kunstwertaufnehmenden bezaubem und bestricken zu können. Ob er dabei mehr von außen nach innen oder von innen nach außen geht, ob er dabei mehr von der Form ausgeht oder auf den Inhalt zugeht, ist weniger entscheidend. Und zwar deshalb, weil im echten Kunstwerk das Innen und

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Außen, der Inhalt und die Form, der Gehalt und die Gestalt, die Haltung und die Gestaltung immer eine Einheit und Ganzheit bilden. Mehrfach greift Hofmannsthal diesen Gedanken auf, spricht er diese Überzeugung aus, ob er nun in einer dialogisch und szenisch aufgelockerten Würdigung der Novellen „Die Schwestern" von Jakob Wassermann („Unterhaltungen über ein neues Buch") betont, daß es „in der Kunst wie in der Natur kein getrenntes Innen und Außen gibt", oder ob er es in der erwähnten Gottfried KellerInterpretation als überholten Mißbrauch ablehnt, „in der Kunst oder im Leben ein Äußeres von einem Inneren scheiden zu wollen", dagegen eine „unzertrennte" Ineinsbildung fordert und auch kritisch bewertend schätzt. Im Sinne einer wechselseitigen Erhellung der Künste (0. Walzel) ist es bemerkenswert, daß in dieser Würdigung der Kunst Kellers dargelegt wird, daß an manchen Stellen der Maler die Vision habe, während der Dichter in Keller diese Vision gleichsam nur „interpretiere". Der Terminus Vision wirkt im allgemeinen blasser als dann etwa im Expressionismus. Er hat merklich noch keine volle Neubelebung erfahren. Der in Prag geborene Lyriker R a i n e r M a r i a R i l k e (1875 bis 1926) wird von seinem österreichischen Landsmann, dem Romanschriftsteller Robert Musil, in dessen Berliner Gedenkrede (Januar 1927) wohl doch etwas über Gebühr gefeiert, wenn er ihn als den „größten Lyriker . . . seit dem Mittelalter" hinstellt und herausstellt. Allzuviel Neues fördert diese Gedenkrede schon deshalb nicht zutage, weil Musil von seinem Thema merklich abgelenkt erscheint durch seinen Groll auf die damals gegründete Preußische Dichterakademie und deren Präsidenten Ludwig Fulda und durch die ihm eigenen allgemeinen Betrachtungen, die R. M. Rilke weitgehend aus den Augen verlieren. Eher trifft W. Mahrholz mit seiner damals soeben zum erstenmal und wenige Jahre später in neuer Fassung erschienenen „Deutschen Literatur der Gegenwart" (1926, Neuausgabe postum 1931 von M. Wieser) das Richtige, wenn er R. M. Rilke neben Richard Dehmel als den damals führenden Lyriker bezeichnet, der mancherlei unzulängliche Nacheiferer auf die Bahn gebracht habe. Immerhin hebt R. Musil einige beachtenswerte Merkmale hervor. Das gilt besonders dann, wenn man neben der erwähnten eigentlichen Gedenkrede das „Nachwort zum Druck" mit heranzieht, das R. Musil nicht so ganz zu Unrecht für erforderlich hielt, um die Vorwürfe wegen jener Ab-

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Schweifungen abzuwehren und einiges positiv Ergänzende nachzutragen. Ihn fesselt besonders der symbolische Typus, das Gleichnisfreudige in der Lyrik Rilkes, gemäß seinem eigenen Wegsuchen zwischen Neurealismus und Neusymbolismus, zwischen Neuer Sachlichkeit und Neuer Mystik. Der lyrische „Affekt" Rilkes sei selten an ein spezifisch „lyrisches Motiv" gebunden und werde nur selten von einem derartigen von sich aus lyrischen Motiv entbunden. Vielmehr werde der lyrische Affekt ausgelöst von dem Bewußtsein und Gefühl eines „unbegreiflichen Nebeneinanders" und „unsichtbar Verflochtenseins". Daher setzt Rilke denn auch nicht einfach das Symbolhafte in Bezug zum Dinglichen, vielmehr: „In diesem milden lyrischen Affekt wird eines zum Gleichnis des anderen", d. h. Rilke verläßt ungern die Schicht des bedeutungsvoll und stimmungsvoll Bildhaften und Sinnbildhaften, sondern stützt und erläutert eine bildliche Vorstellung und Darstellung durch eine andere. Das geschieht — wie ergänzt werden darf — entweder durch K o n t a k t w a h l (Bevorzugen eines sinnbenachbarten, wesensverwandten und also zusätzlichen Bildes) oder durch K o n t r a s t w a h l (Bevorzugen eines abhebenden, gegensätzlichen Bildes). Aber indem dergestalt alles zum Gleichnis zu werden scheint, bleibt doch alles nicht „nur ein Gleichnis". Ein an sich erschöpfter Vorstellungsbereich wird zunächst einmal bildhaft-gleichnishaft „aufgefrischt" (gleichsam lyrischer Verfremdungseffekt). Zugleich sei das Einbezogensein des Kleinsten in das Größte charakteristisch für Rilkes lyrische Gestaltungsweise. Nicht das Festhalten von Einzelgefühlen sei vorab die Aufgabe, die Rilke dem lyrischen Gedicht zuweist — das wäre der eine geläufige lyrische Typus —, sondern das ringende Erstreben jenes Gesamtgefühls schlechthin, wobei es sich „um das Gefühl als Ganzes" handle. Und zwar um ein Ganzheitsbewußtsein gefühlsmäßiger Trächtigkeit und sinndeutender Mächtigkeit, das sich gleichzeitig allenthalben schmerzlich der latenten „versteckten Unruhe, Unstetheit und Stückhaftigkeit" durchaus liebend-leidend bewußt bleibe. Insofern wäre — ergänzend gesagt — in der lyrischen Entspannung der Stimmung immer auch und immer noch ein Stück dramatischer, ja tragischer Anspannung eingeschlossen und gegenständlich eingekörpert in den lyrischen Gebilden untergründig wirksam, eine Anspannung und Einspannung nämlich der menschlichen Bestimmung, die stets durch die bloße Stimmung hindurch-

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greift oder hindurchleuchtet. Kurz, man steht auch in diesem Ausschnitt zugleich im Kraftfeld eines Wechselspiels des Ästhetischen und des Ethischen. Zu solchen Gedanken mögen die knappen Andeutungen R. Musils anregen, wenn man es auch wiederum als etwas übersteigert empfinden mag, wenn Rilke als der „religiöseste Dichter seit Novalis" hingestellt wird. War denn z.B. Joseph v. Eichendorff weniger religiös ? Barg nicht vielmehr das „Religiöse" Rilkes eine starke Neigung zum Pantheismus, ja zur Daseinsvergottung, Dingvergottung und Selbstvergottung in sich ? Nicht umsonst ruft Rilke neben dem Mystischen so häufig das Mythische herbei. Und wenn jenes „Nachwort" zur Rilke-Rede Musils über den Gebrauch des Gleichnisses hinaus die „Bewegtheit des Sinnes im Rilkeschen Vers überhaupt" zu umschreiben versucht und ihm emeut eine Ausnahmestellung einräumt, indem er den festen weltanschaulichen Rückhalt an einer vorgebildeten Weltanschauung einerseits leugnet und eine extreme Gegensatzposition zum Lehrgedicht, politischen Gedicht usw. andererseits behauptet, aber auch die Erregung „großer Gefühle" oder die Erhebung zu „großen Ideen" gleichermaßen als Kriterium ablehnt, so erheben sich mancherlei Bedenken. Freilich gibt selbst R. Musil zu, daß Rilke zum mindesten in den „Sonetten an Orpheus" gelegentlich wie ein „wählerischer Nachfahre" erscheine. Ein wählerischer Nachfahr war Rilke keineswegs nur in diesem Falle. Er konnte nicht nur von J. v. Eichendorff und H. Heine lernen, daß es für einen Lyriker gut sei, sich zunächst einmal am Volkslied zu schulen. Das geschah denn auch sichtlich in der Frühzeit seiner Lyrik, in den „Frühen Gedichten" (durchweg vor 1900). Dann durchläuft er die strenge Schule Stefan Georges, die besonders dem „Buch der Bilder" (1908) ein noch nicht vollendet eigenes Gepräge gibt. Daß er, abgesehen von R. Dehmel, A. Mombert und anderen auch Hugo von Hofmannsthal einiges zu danken hat, verrät nicht nur der vergebliche Anlauf zu stark lyrisch getönten Kurz-Dramen. Zugleich aber durchbricht bis hin zu den „Duineser Elegien" immer wieder die Dämonie und Diktion Nietzsches (auch dessen imperativistische Prophetenhaltung rhetorischer Wortgebärden) das wachsende Bemühen um Sicherung und Abschirmung der lyrischen Eigenwelt und des lyrischen Eigenwerts. Dieses Bemühen, an sich längst vorbereitet und auch schon mannigfach im „Buch der Bilder", ja im „Larenopfer" (1895) und also

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in der Frühzeit spürbar, verfestigt sich zu einem bewußt eigenen Kunstwollen vor allem doch erst im „Stunden-Buch" (1906), das später im „Marien-Leben" (1913) eine würdige Ergänzung und zum mindesten religiöse Steigerung erfährt. Dennoch hieße es, Rilkes Vollendung zu sehr in eine hochwertige religiöse Erbauungslyrik abdrängen, wenn man nur diese Verdichtungsstellen seines eigenständigen Kunstwollens erkennen und anerkennen wollte. Die „Neuen Gedichte" (1907) und deren Fortsetzung (1908) sollten demgegenüber nicht unterschätzt werden. Dagegen kann sich die wohl am populärsten gewordene,,Weise vom Leben und Tod des Cornets Christoph Rilke" (1907) mit ihrer etwas billigen Neuromantik nicht ernstlich mit jenen Höhenwerten der lyrischen Kunst messen. Wohl aber bietet Rilke darin ein würdiges Beispiel für die Überbrückung der verschiedenen Bildungs- und Geschmacksstufen, die einst schon Schiller in seiner bekannten G. A. Bürger-Rezension als schwierige Aufgabe kritisch herausgestellt und programmatisch hingestellt hatte. Und es ist überhaupt schwerlich in Rilkes Sinne, wenn man — wie R. Musil es versucht hat — allzu sehr den absoluten Originalitätswert hervorkehrt. Hat sich doch Rilke in jener Gruppe, die als „Letzte Gedichte und Fragmentarisches" in der einschlägigen Ausgabe begegnen, ζ. B. offen zu Hugo von Hofmannsthal bekannt („Das Füllhorn"), hat er doch in seinen frühen Novellen von dem Dänen Jens Peter Jacobsen eifrig und verehrend gelernt, den er in den „Briefen an einen jungen Dichter" als ein Vorbild neben den Franzosen Auguste Rodin stellt (April 1903, an Franz Xaver Kappus), wirkt es doch fast wie ein zum mindesten formales Bekenntnis zur Sprache Nietzsches, wenn eines dieser Gedichte („Vergänglichkeit") beginnt mit dem Gleichnis „Flugsand derStunden", und zwar bewußt als vorangestelltes lakonisches Richtungswort. Vielleicht tut man daher besser, die Wechselströme von Hingabe (auch an Einflüssen) und Selbstbewahrung mit den Schlußversen eines Gedichts aus dem kleinen Zyklus „Spiegelungen" zu umschreiben: „Er: kein eignes Bild in sich verschließend / aus dem tiefen Innern überfließend / v o n g e w u ß t e r W e l t u n d E i n s a m k e i t " . Auf der Wegsuche zwischen Neuklassik und Neuromantik wendet sich Rilkes Kunstwollen wie auch sein Kunstschaffen stärker der Neuromantik zu. Da ist einmal das Stimmunggesättigte, da ist zum anderen die Freude am schönen musikalischen Klang und am charakteristischen Rhythmus; und da ist schließlich das feine

DER ENTWICKLUNGSRAUM GEORGE—IiOFMANNSTHAL—RILKE 257 Reagieren auf Eindrücke (impress. Neuromantik). Auch besteht wie bei anderen neuromantischen Lyrikern die Gefahr einer Überbewertung des Wortes an sich und damit einer Umbildung der Dichtkunst zur ausgesprochenen Wortkunst. Nachdem er sich z.T. schon im „Buch der Bilder" im Vollbesitz seines Formkönnens gefühlt hatte, gab er in den „Neuen Gedichten" gelegentlich der Versuchung nach, die souveräne Beherrschung aller Kunstmittel in virtuosen „Kunststücken" zu demonstrieren. Zudem schlug in der Pariser Umwelt wieder merklicher der Sinn Stefan Georges für das Erlesene, Auserwählte, Abseitige (Aparte) durch. Aber man wird nicht übersehen können, daß mit manchen der Prunkmotive der Sondertypus des sogenannten Dinggedichts vorgebildet oder weitergebildet wurde, um später u. a. von Josef Weinheber voll entwickelt zu werden (Ansatz zur Neuen Sachlichkeit innerhalb der impressionistischen Neuromantik). Dabei wäre zu berücksichtigen, daß bei dem bekannten Transponieren des Dinghaften in das organisch Belebte des Tierhaften und umgekehrt das „Ding" nicht auf das Anorganische oder Technisch-Zivilisatorische eingeschränkt bleibt. So verstanden wären nicht nur Gedichte, wie etwa die aus dem „Gegenstands"Bezirk der bildenden Kunst hinübergenommenen „L'ange du Maeridien (Engelsfigur, Chartres). Die Kathedrale. Das Portal. Das Kapital. Römische Sarkophage" Vorformen von Dinggedichten und nicht nur kunstgewerbliche Gegenstände verzierter „Nützlichkeit" wie in dem Gedicht „Die Spitze" oder grauenvolle Motive wie das des Leichenschauhauses „Morgue" (Einbrüche der Dekadenz sind auch sonst unverkennbar). Und es wären auch nicht allein impressionistisch wirkende Situations- oder Vorgangsstudien Dinggedichte wie „In einem fremden Park, Vor dem Sommerregen, Im Saal, Die Anfahrt (ebenfalls Parkmilieu), Das Karussell"u. a. Vielmehr bleiben nicht selten Tiergedichte näher beim Dinggedicht, während jene Motive vielfach Menschen zur belebenden Staffage mit einbeziehen. Das berühmte Gedicht „Der Panther" (im Jardin des Plantes, Paris) ist so gegenständlich konzentriert, daß es ebensogut als Vorstufe zum Dinggedicht gelten kann wie besonders überzeugende Gebilde jenseits des Organischen „Die Treppe der Orangerie" (Versailles) oder „Römische Fontaine" (Villa Borghese). Nicht von ungefähr trifft man auf Verschmelzungen wie in dem Gedicht „Die Fensterrose", das nicht nur und nicht vorab vom architektonischen Gebilde ausgeht, sondern vom Reflex dieses Gebildes im 17

M a r k w a r d t , Poetik V

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Auge eines Raubtiers. Der symbolische Austausch: RaubtieraugeFensterrose in der Kathedrale macht eine derartige Verschmelzung auch künstlerisch möglich, so kühn und gewagt (und ein wenig schon gesucht) er sein und erscheinen mag. Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, daß Rilke zwa r in solchen Fällen ein wenig experimentiert mit der Tragfähigkeit abseitiger Motive für lyrische Wirkungen, daß aber dabei sein Kunstwollen ganz bewußt auf die Eroberung neuer Motivwelten nicht allein sich richtet, sondern gleichzeitig und vorzüglich auf das Gewinnen neuer Formwerte und Gedichtarten (Dinggedicht, Gegenstandsgedicht; allgemeine Richtung: Neue Sachlichkeit). Es darf jedoch in Abwehr übertriebener Wertungen gesagt werden, daß Rilke weder seiner Zeit noch seinem Wesen nach berufen war, das Dinggedicht in seiner vollendeten Form herauszubilden, wenn man von vereinzelten Fällen absieht. Kaum ein anderer Dichter hat das Wort „Ding" so häufig in seinen Gedichten verwendet wie Rilke. Und es würde ein erstaunlich hoher Anteil herauskommen bei einer rein statistischen Auszählung. Aber eben dies abstrakte Verwenden des Ding-Begriffs und der Ding-Bezeichnung verrät ein gewisses Unvermögen, von den Dingen nicht nur zu sprechen, sondern sie selber in reiner Gegenständlichkeit zum Reden zu bringen. Er spricht gleichsam dergestalt mit Vorliebe von einer Tugend (Dinghaftigkeit, Gegenständlichkeit), die er nicht voll in der schauenden und formenden Gewalt hat. Unter den Händen wird ihm das Ding zum Symbol. Fast ist es seiner Gewöhnung unmöglich, anders als in Symbolen und in Metaphern zu denken und zu fühlen. Und alle Bilder werden ihm zu Sinnbildern. Auch das erinnert in der Wortkunst an Nietzsche, soweit sich Rilke auch immer weltanschaulich von ihm entfernen, ja sich gegen ihn anstemmen mochte. Insofern verkörperte Rilke den l y r i s c h e n S y m b o l i s m u s . Er ist geradezu der bedeutendste Repräsentant und Spezialist für den lyrischen Symbolismus, wie Gerhart Hauptmann streckenweise für den dramatischen Symbolismus. Aber dieser Symbolismus auf lyrischem Gebiet bleibt ein vorwiegend neuromantischer Symbolismus. Das wird besonders klar, sobald man den Blick auf die religiösen A u f t r i e b s k r ä f t e richtet. Wenn allgemein gesagt werden konnte, daß die Neuromantik sich von der eigentlichen (histor.) Romantik nicht zuletzt abhöbe durch den Mangel an kraftvollen religiösen Impulsen, so bildet R. M. Rilke eine wesentliche der seltenen Ausnahmen, in der Lyrik wohl die wesentlichste, wie

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H. v. Hofmannsthal in der lyrischen Dramatik. Denn alle jene Symbole münden immer wieder ein in die christliche und mystische Symbolik, die freilich mehr und mehr zu einer pantheistischen Symbolik wurde. Hier ist alles Irdische wirklich nur ein Gleichnis. Und soweit Rilke der Mystik sich nähert, handelt es sich nicht um eine bloße Vulgär-Mystik, sondern um die echte alte Mystik. Nicht zufällig hat man sich bei dem „Stunden-Buch" an Angelus Silesius (Joh. Scheffler) und dessen „Cherubinischen Wandersmann" (1674) erinnert gefühlt. Beobachtet man Stileigentümlichkeiten, wie etwa den Bild-Parallelismus von gehäuften Kurz-Metaphern z.B. in dem Gedicht „Du bist die Zukunft" (Stunden-Buch), so stehen diese Überfälle aus der Überfülle der Vergleiche nicht weit ab von ähnlichen parallelen Bildgruppen, die sich bei Heinrich Seuse oder Mechthild von Magdeburg oder im Lied der Mystik finden und sich ζ. T. einem litaneimäßigen Rhythmus anpassen. Auch die Symbolfreudigkeit der Mystiker weist auf Verwandtes. Ebenso ist die abstrakte Tendenz ähnlich. Sie wird bei Rilke in dem erwähnten Gedicht zugleich mit der Gott-Bezogenheit aller Dinge besonders greifbar in der Prägung „Du bist der Dinge tiefer Inbegriff". Das ist nicht mehr einfach des frühen Hofmannsthals „Böser Dinge hübsche Formel",dasistdasZur-Ruhe-Kommen-Wollen desrastlosen und oft ratlosen Gottsuchers im vertiefenden und versöhnenden Gleichnis, im irdischen Gleichnis, das doch über sich hinausweist, weil es sich über sich hinaussehnt: „Wer seines Lebens viele Widersinne — versöhnt und dankbar in ein Sinnbild f a ß t . . ." (StundenBuch). Aber indem Gott in den Dingen aufgehoben ist, und „weil ihm die Dinge immer tönen" (aus: „Du kommst und gehst. Die Türen fallen...", Stunden-Buch), indem Gott auf Ding und Mensch gleichsam angewiesen bleibt, um sich zu erfüllen und bestätigt zu fühlen, so kann dieser mystisch gestimmte Theismus leicht umschlagen in Pantheismus oder Panentheismus. Zuletzt geht das mehr den Menschen Rilke an als den Dichter. Denn der Dichter mit seinem Werben um Dinglichkeit und seinem Willen zum Gleichnis wurde notwendig weiter hinübergedrängt in ein sinnenhaftes Darstellen des Göttlichen und damit in jene Grenzgebiete des Glaubens, die als weit vorgeschobene Posten oft zu verlorenen Posten werden. Streng genommen, würde Rilke gerade durch sein Gott-Herbei-Ringen, ja Herbei-Zwingen auf verlorenem Posten kämpfen. Und vielleicht spiegelt sich das Gefühl dieser Gefahr auch in seiner Kunst. Vielleicht war die künstlerisch oft 17·

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erkältend wirkende Zuflucht zum Abstrakten eine Flucht vor profanierender Verdinglichung — zum mindesten bei den religiösen Motiven. Endgültig ist Rilke kaum über das hinausgekommen, was das „Worpsweder Tagebuch" (1900) einmal so formuliert: „Ich kannte nur Stücke von Gott" und, jenes Angewiesensein einer werdenden Verwirklichung Gottes im Menschen und durch den Menschen betreffend, so umschreibt, indem er das Sein Gottes vom Werden unterscheidet: „Jetzt muß er sein Werden nachholen. Und wir sind (es), die ihm dazu helfen". Aber durch das Wort, auch durch das numinose Dichterwort ließ sich Gott kaum beschwören. Aus diesem latenten Bewußtsein entspringt nicht zuletzt Rilkes Sich-Zurückziehen auf das „Unsägliche", auf das Unsagbare, nicht Aussagbare der Dichtkunst überhaupt, aber auch der einzelnen Kunstwerke. Befragt man die Tagebücher der Frühzeit nach Rilkes damaliger K u n s t a u f f a s s u n g u n d deren W a n d l u n g , so ergibt sich etwa folgender Eindruck. Es überwiegen die Äußerungen über Kunst im allgemeinen. Soweit die Theorie und Kritik der Sonderkünste in Frage kommt, nimmt zunächst die bildende Kunst die Vorrangstellung ein, vor allem im „Florentiner Tagebuch". Dagegen spielt sie im „Worpsweder Tagebuch" nicht die Rolle, die man in diesem Kreise erwarten möchte. Die eingestreuten Gedichte und Prosaskizzen, die dann zunehmen, treten im Tagebuch aus der Zeit zu Florenz auffallend zurück, das indessen am ehesten noch in sich geschlossene kunsttheoretische Bekundungen aufweist. Diese Bekundungen (Frühling 1898) stammen von einem noch sehr jungen Manne und stehen ganz im Zeichen des Persönlichkeitskultes der Renaissance. Gleichzeitig zeichnet sich das Programm Stefan Georges deutlich ab. Der echte Künstler ist die große Persönlichkeit, die nur sich selber Rechenschaft schuldet. Sich hat er auszuwirken, nicht fördernd auf andere einzuwirken. Auch der Schönheitsbegriff wird an dieser einseitigen Sicht und Sucht des Persönlichkeitswertes orientiert: „Denn die Schönheit ist die unwillkürliche Geste, die einer Persönlichkeit eignet". Dem Publikum und dessen Anrecht an den Künstler steht der junge Rilke mit einer Mißachtung gegenüber, die nur noch übertroffen wird von der ausgesprochenen Verachtung der literarischen Kritik. Immerhin übersieht er schon damals nicht gänzlich „das Maß abstrakter Schönheit, das in den Dingen steckt", und schon achtet er gerade auch auf die „leisen Schönheiten". Sein Haupt-

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anliegen aber bleibt merklich das Sich-Durchsetzen als künstlerische Persönlichkeit. Es ist fast so wie bei Nietzsche, daß die Welt und Menschheit nur den Sinn hat, große Einzelgestalten hervorzubringen. Napoleon habe auch nicht gefragt, wie seine Siege auf das Publikum wirkten, jedenfalls habe er nicht dem Publikum zuliebe gesiegt. Und der junge Rilke dekretiert: „Wisset denn, daß die Kunst ist: das Mittel Einzelner, sich selbst zu erfüllen". Ganz parallel verläuft die Definition des Künstlertums: „Wisset denn, daß der Künstler für sich schafft — einzig für sich". Die Menschen dürften nicht meinen, daß der Künstler, weil er notgedrungen auf ihre Welt und ihr Leben als Material angewiesen ist, in seinem Werk ihnen irgendwie zugewiesen und zugewendet sei. Die einzige Funktion des Publikums besteht im Ehrfurchthaben. Wohl bedeutet des Künstlers Schaffen „ein Ordnen", aber eben keine Einordnung. Er errichtet ordnend sein Heim, aber „für — sich selbst". Man spürt deutlich, daß der junge Rilke noch vollauf mit sich selber zu schaffen hat, um zu sich selber zu kommen. Der Gewinn abgestoßener Werke, die oft fälschlich als überholt empfunden werden, damit Neues entstehen kann, liegt zuletzt im „Weg zu sich selbst". Der Alltagsmensch mag und muß ins Ungewisse gehen; der Künstler, der aus dem Ungewissen kommt, ist entwicklungsfähig zur Gewißheit (seines Könnens). Das Dunkle, das Mystische ist nur soweit zu dulden, als es nicht den Vorrang beansprucht, sondern andere Lebenskräfte als ebenbürtig neben sich gelten und zur Entfaltung kommen läßt: „Nur dann hat das Mystische sein Recht". Zu Unrecht aber wird es von manchen zum „heimlichen Grund alles Geschehens" gemacht. Kunst wird in diesem Sinne auch „Gerechtigkeit" genannt. Aber gemeint ist die Gerechtigkeit gegenüber den immanenten Kräften im Künstler selber, also eine Art von künstlerischer Selbstgerechtigkeit. Und Kunst wird auch als „Freiheit" umschrieben. Aber gemeint ist die freie Entfaltung aller ihm innewohnenden Kräfte. Indem er den renaissancehaften Größenkultus mit dem Nietzsches und dessen Kraftkultus verbindet, gelangt er zu dem Selbstaufruf: „Nur Kraft brauche ich. Alles andere weiß ich in mir, um zum Verkünder zu werden". Danach käme Kunst von Künden, das immerhin doch wieder eine Resonanz, also ein Publikum braucht. Aber so genau nehmen die teilweise manifestartigen Bekundungen, die ein wenig auch vor der Freundin imponieren wollen, das alles nicht. Immerhin

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wird der „Verkünder" vom „Lehrer" vorsorglich abgehoben („Ich will es überhaupt nicht zur Lehre"). Und andererseits verschmäht es die werdende, ganz auf sich gerichtete Persönlichkeit nicht, von anderen zu lernen, und zwar auch kunsttheoretisch. Und wenn ihm Lessing auch reichlich kühl vorkommt, dem Hinweis auf das Transitorische im „Laokoon" gesteht er doch dauernde Geltung zu. Nach Theodor Storm begegnet also mit R. M. Rilke bereits der zweite Dichter, und zwar der zweite bedeutende Lyriker (beim Dramatiker wäre das weniger überraschend oder überzeugend), der die kunsttechnischen Belehrungen und Anregungen des „Laokoon" nicht mißachtet, sondern durchaus noch beachtlich findet. Der junge Rainer Maria Rilke erteilt auch sonst dem alten Gotthold Ephraim Lessing nicht ohne Grandezza das Lob, „manchen guten Grundsatz" ausgesprochen zu haben. Es ist also auch bei dem jungen Lyriker nicht so, daß er alle altehrwürdige Kunsttheorie verschmäht hätte, obwohl er meint, daß stets das Kunstwerk vorausgehen müsse, bevor das Gesetz nachfolgen kann und allzu gesetzfrohe Epochen für künstlerisch steril hält. Zudem hätten die Literaturhistoriker und Kunsthistoriker nur so eifrig nach Gesetzen gesucht, um zwischen ganz heterogenen Künstlerpersönlichkeiten, die natürlich gemäß dem Persönlichkeits- und Größenkultus völlig einmalig und unvergleichbar sind, dennoch etwas Gemeinsames und zur Gruppe Verbindendes herauszukristallisieren. Zum Gruppenwert der Gemeinschaftsbezogenheit tendierte schon die Vorstellung des „Verkünders". Aber noch galt die Einsamkeit als die allein produktive Situation. Es bedurfte erst des Gemeinschaftserlebnisses eines aufeinander eingestimmten Künstlerkollektivs im Worpsweder Kreise, um „im Verkehr mit diesen gewissenhaften und guten Malermenschen" zu erleben und zu erfahren, daß man trotz aller Ichbezogenheit „aufmerksam und wach sein und dankbar sein (müsse) gegen alle Umgebung". Trotz eines derartigen Zuwachses an Kunsterkenntnis ist nicht zu übersehen, daß es sich dabei nur um die Einordnung des Ästheten unter andere Ästheten handelt. Waren es in Florenz die Künstler der Vergangenheit gewesen, von denen sich Rilke innerlich umgeben fühlte, so waren es jetzt Künstler der Gegenwart. Aber in beiden Fällen waren es überwiegend Vertreter der bildenden. Kunst (wie dann jenseits dieses Kreises Rodin und Cezanne). Und auch von ihnen hoffte der junge Rilke manches gewinnen zu können. So fragt er sich, ob er nicht manches allzu sehr

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„novellistisch gesehen" und eigentlich allzu sehr „auf seine lyrischen Eigenschaften hin" angesehen habe (z.B. bei Leistikow), wo die rein malerischen Werte hätten überwiegen sollen. Der Hinweis auf das Novellistische wird verständlicher, wenn mein die eingerückten Novellenfragmente berücksichtigt, die man vor allem im „Schmargendorfer Tagebuch" antrifft und die davor warnen sollten, Rilke allzu apodiktisch die Fähigkeit zum sachlichen Schildern und zum Verharren in der Anschauungsschicht ersten Grades abzusprechen. Diese breiten prosa-epischen Proben im Schmargendorfer Tagebuch lassen erkennen, daß eine künstlerische Fertigkeit im Erfassen der realistischen Wirklichkeit vorhanden war. Aber das schöpferische Vorziehen seines Kunstwollens bevorzugte ein schnelles Verlassen jener Anschauungsschicht ersten Grades, um möglichst bald den Absprang oder Aufstieg in die metaphorisch-symbolische Anschauungsschicht zweiten Grades vollziehen zu können. Recht instruktiv wird dieser Vorgang ablesbar an der ersten Strophe eines (ausnahmsweise) liedhaften Gedichts, das in das Schmargendorfer Tagebuch eingeflochten worden ist „Der Garten vor den Fenstern / ist nur ein Bild in Grün / für einen unbegrenztem (Garten) / darin wir beide blühn". Kaum haftet das Urbild, als sich auch schon — fast gleichzeitig — das symbolische Bezugsbild abstrakter Vergeistigung einstellt. Die zwangsläufige Assoziation von Naturbild und Symbolbild aber stellt überhaupt ein Grundsätzliches, eine Grundfunktion, ein immer wieder geübtes Verfahren in der Lyrik Rilkes dar, und zwar keineswegs nur in jener Frühzeit. Die „Dinge" — und auch die Tagebücher häufen das Lieblingswort „Ding" — sind kein Unbedingtes, sondern immer oder überwiegend ein der Sinngebung und Lebensdeutung dienend Verdingtes. Sie sind selten Selbstzweck, weit häufiger Mittel zum Zweck. Sie haben selten Eigenwert, weit häufiger symbolischen Beziehungswert. Das Wirklichkeitsbild lockt sogleich ein Phantasiebild an und springt sehr schnell in ein Phantasiebild um. Ja, das Wirklichkeitsbild wirkt oft genug (und allzuoft) nur wie ein Gelegenheitsmacher für ein oder mehrere Phantasiebilder sinnparalleler und stimmungsparalleler Art. Zu Beginn des Schmargendorfer Tagebuchs (Juli 1898) wird ein Wirklichkeitseindruck als Jugenderinnerung geschildert von einem angeschwollenen Fluß (Elbe), der aus Überschwemmungsgebieten allerlei grausig-groteske Dinge mit sich führt (ab-

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getragene Hausdächer, Wannen usw.). Aber zugleich stellt sich die Vergleichsbild-Parallele zu einem Leichenzug ein und weiterhin zu — Napoleons Rückzug aus Rußland. Und Rilke setzt hinzu : „Zwischen diesen drei oder vier Bildern aber liegen zehn oder zwanzig andere Übergänge . . . tolle Schauspiele voll grotesker Überraschungen, tragische Schicksale und geistvolle (I) Genreszenen". Eine jagende Wolkengruppe gemahnt an Lützows Husaren usw. Fast erinnert diese Suche und Sucht nach Vergleichsbildern an jene Denkmethode veranschaulichender und dennoch abstrakter Art, wie sie einst Heinrich von Kleist seiner vielgeplagten Braut Wilhelmine von Zenge zur geistigen Anregung ihres Kombinationsund Assoziationsvermögens ein wenig schulmeisternd empfohlen hatte. Klopstock hatte in seiner Knabenzeit ein sehr enges Verhältnis zur umgebenden Natur; trotzdem geriet er als Dichter bei Ausnahmen (Eislaufoden usw.) im ganzen doch recht weit in eine naturferne Seraphik hinein. Rilke gesteht, daß er als Knabe wenig Fühlung mit der Natur gehabt habe. Aber es wäre ein Fehlschluß, nun etwa zu folgern, daß er als Dichter um so enger der Natur verbunden gewesen sei. Trotz des seine Jugendzeit umgebenden Naturalismus gerät er — wie Klopstock in die Seraphik — sehr früh und dann immer wieder in die bezugsreiche Symbolik eines schier grandiosen Bildertausches hinein, der in unglücklichen Einzelfällen dem Grotesken fast nach Art einer Parodie Chr. Morgensterns ausgeliefert erscheint. Knapp und karg gesagt, auch dort wo Rilke schildern möchte, vermag er oft nur zu bildem (die Prosa ist davon freier). Was die Natur bietet, muß durchaus von der Phantasie und dem deutenden Geist überboten werden. Das Differenzierte und selbst das Diffuse gilt als wertvoller als die unkomplizierte Einfalt. Schon im „Florentiner Tagebuch" hat es Rilke einmal ausgesprochen, daß die Menschen der Gegenwart schlechthin nicht mehr naiv zu sein vermögen. Nur unter dem Druck des Kunstwollens könnte eine Zurückversetzung erfolgen: „Wir sind nicht mehr Naive; aber wir müssen uns befehlen (!), primitiv zu werden". Fast klingt das wie ein Vorspiel zu der bekannten Klage der Expressionisten und deren entsprechender Forderung. Aber Rilkes Kunstschaffen hat jenem inneren „Befehl" schwerlich Folge geleistet. Seine Verschlichtung wirkt nicht selten gewollt und forciert. Und seine „naive" Einfalt bleibt immer noch vielfältig und kom-

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pliziert genug. Kein Wunder, wenn er nicht sowohl den lyrischen Urtypus des Naiv-Herzlichen, des unmittelbaren Gefühlsausdrucks vertritt als vielmehr weit überwiegend den lyrischen Typus erlebter Meditation, stimmungsgesättigter Betrachtung (z.T. sogar der Reflexion) und demnächst den Typus des Seelisch-Intuitiven (religiöse Lyrik), vereinzelt auch den Typus des Geistig- oder Mythisch-Visionären (Duineser Elegien, Sonette an Orpheus). Einen Ausgleichswert gegen das Übergewicht symbolisierender Sichtfreudigkeit sucht und findet Rilke in einer romantisierenden Klangfreudigkeit. Kunstwollen und Kunstschaffen sind nämlich von vornherein angezogen vom geheimnisvollen W e s e n u n d W i r k e n v o n K l a n g u n d R h y t h m u s . Nicht zufällig war er vom (böhmischen) Volkslied ausgegangen. Die Bildwelt in Florenz und die Maler-Umwelt in Worpswede lenken dann stark auf das Bildhafte hin. Aber schon melden sich Vorbehalte gegen den Primat der Plastik und der Malerei. Man sah, bereits im Florentiner Tagebuch war die Grenzziehung in Lessings „Laokoon" unvergessen. Und es melden sich auch schon Bedenken, ob denn nun die eigene Begabung und Anlage ihn vorzüglich auf das Bildhafte verweise oder gar einschränke. Die allgemeine Erkenntnis „in unserem Schauen liegt unser wahrstes Erwerben" (1899) führt im Gegensatz zu der kritischen Selbsterkenntnis oder doch zu dem Zweifel: „oder mein Schauen hängt überhaupt nicht so fest mit dem Schaffen zusammen, als ich damals empfand" (1900). Jene oben angedeutete Parallele mit dem jungen Heinrich von Kleist bedarf insofern der Korrektur, als Kleist damals noch fest an die Bildsamkeit des Gedankens und des Denkens durch das Gleichnis (ja die Allegorie) glaubte — vielleicht freilich auch nur seine Braut glauben machen möchte, weil ihr Denken der Anschauungsstütze zu bedürfen schien (ein ähnlicher Vorgang übrigens wie bei seiner scheinbar so primitiven Kant-Interpretation, vgl. Band III). Jedenfalls werden bei dem jungen Rilke des „Schmargendorfer Tagebuches", um das es sich vorerst handelt, die Überfälle aus der Überfülle der Bilder und Vergleichsbilder, des Angeschauten (äußeres Bild) und Erschauten (inneres Bild) und Symbolisierten (Versuch einer „bedeutenden" Synthese) zeitweise schon als zerstreuend und ablenkend und in gewisser Weise als Last, wenn auch vorerst noch als liebe Last, empfunden: „Gedanken, was für Gedanken ? In letzter Zeit haben sie alle die seltsame Fertigkeit geübt, sich auf dem Drahtseil der Zerstreutheit

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umzukleiden und immer wieder umzukleiden (Seiltänzerkunststück), und sie haben mir nicht einmal so viel Beschaulichkeit vergönnt, sie in irgendeiner Maske zu betrachten". Es darf hier vorweggenommen werden, daß Rilke eigentlich nie ganz freigekommen ist von diesen Seiltänzerkünsten der Ein- und Umkleidung; und auch seine „Dinge", ja selbst sein „Gott" bleiben einem dauernden Maskenwechsel unterworfen. Sie sind gewiß keine bloßen Masken, aber sie tragen und tauschen gern Masken — wie Nietzsche gern Masken trug und austauschte. Die Nähe Nietzsches wird übrigens auch inhaltlich spürbar, wo Rilke über die Gefahren der Historie für das Selbstgefühl und die Selbstentfaltung der Gegenwart handelt, indem das Überdimensionale der historischen Vergangenheit mehr bedrückt als anspornt, eine kleine Paraphrase zu Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (zweite der „Unzeitgemäßen Betrachtungen", 1873—75). Zugleich erinnern diese Daten daran, daß Rilke gleichsam mitten hineingeboren worden ist in die „Unzeitgemäßen Betrachtungen", die also zur Zeit seiner Tagebücher etwa ein Vierteljahrhundert zurücklagen — aber auch fast ebensolange wirkten und einwirkten. Solche Einwirkungen aber erfolgten, wie schon kurz vermerkt, auch für die Bewertung von Klang und Rhythmus, ganz abgesehen von Zuströmen der französischen Neuromantik. An jener zitierten Stelle aus dem Schmargendorfer Tagebuch, wo Rilke Zweifel an der Berufung zum „Schauen" (im Verhältnis zum Schaffen) aussprach, lautete der diese Selbstanzweifelung begründende, unmittelbar anschließende Satz: „Denn dann war nur Klang in mir". Der andere große Kraftstrom meldet also vernehmlich seinen unüberhörbaren Anspruch an. Und wenn man im ersten Teile des „Stundenbuchs" auf die Strophe von den Dichtern stößt: „. . . begegneten die Dichter sich / und waren Könige von Klängen / und mild und tief und meisterlich", so wäre man wohl geneigt, Rilke in diese Gruppe einzuordnen. Vergleicht man ihn aber mit Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, stellt man ihn so in eine Dichtergruppe der wenn auch neuromantischen Wirklichkeit, so fühlt man ohne weiteres, daß er zwar Stefan George an Musikalität überbot, H. von Hofmannsthal jedoch nicht erreichte. Wohl aber könnte man von einer Art Synthese sprechen, für die weitere Kompositionsglieder von Maeterlinck, Fr. Nietzsche u. a. eingebaut wurden. Und so verstanden, kann jene andere Bekundung im Gedicht nur relativ gelten: „Ich war Gesang, und

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Gott, der Reim / rauscht noch in meinem Ohr". Aber es dürfte dem Kunstwollen Rilkes entsprechen, wenn er der Musikalität Grenzen setzt, jene Grenzen, die Poesie und Musik an ihre Eigenwelt und ihren Eigenwert erinnern und die bei H. v . Hofmannsthal zum mindesten streckenweise überschritten wurden, während Stefan George die Grenzen zur bildenden Kunst zu vergessen geneigt war. Rainer Maria Rilke hatte so Sorge getragen, daß kein Verlust der Mitte eintrat. Das „Lied der Bildsäule", die durch Liebe zum vollen Leben erweckt werden möchte, versinnbildlicht das Bewußtsein, im Bildkünstlerischen kein volles Genüge finden zu können. Und auf der anderen Seite beanstandet Rilke im Tagebuch einen ihm damals nähertretenden Dichter nicht allein, weil dieser ein „Wirkliches durchaus lyrisch aussprechen will", sondern auch vor allem deshalb, weil ihm „so oft Musik" die Anregung zu seinen Gedichten gibt, und zwar in einem Grade, daß dessen Lyrik letztlich nichts anderes als eine „stark persönliche Auslegung von Musik" darstelle. Jenes Ringen um eine Synthese, die der Dichtung als Dichtung zuträglich ist, wird vielleicht greifbar oder doch begreifbar in derStrophe: „ E i n einziges Gedicht, das mir gelingt/und meine Grenzen fallen wie im Winde / es gibt kein Ding, darin ich mich nicht finde / : nicht m e i n e Stimme singt a l l e i n : e s klingt". Daß Rilke dieses Klingen an sich bei der rechten Interpretation und sprechkünstlerischen Vermittlung seiner Gedichte wieder befreit wissen möchte, spiegelt sich recht instruktiv in dem Gertrud Eysoldt gegenüber geäußerten Wunsch, die von ihm hochgeschätzte Schauspielerin, die so echtes Verständnis für die Gedichtgruppe „Mir zur Feier" bewiesen habe, möge zu ihm kommen, „ u m einige Lieder von mir selbst sagen zu hören. Um sie weiterzugeben als etwas, was sie vom .Hörensagen' weiß". Das „Hörensagen" spielt zugleich an auf das bekannte Gedicht „ B e i Tag bist du das Hörensagen . . ." aus dem Stunden-Buch („Von der Pilgerschaft"). Wie schwer aber nicht nur im Nachschaffen, wie unendlich schwer vor allem im Schaffen das Erfassen des rechten Klanges und tiefen Tons ist als eine göttliche Gabe, die Gott eigentlich nie ganz hingibt, auch nicht an seine Lieblinge, schwingt mit in dem dritten der „Sonette an Orpheus", die schon motivlich das Sängertum in den Mittelgrund des Dichtens und Deutens rücken, wo nun nicht der christliche Gott, aber ein ihm doch merklich anverwandelter griechischer Gott (Apoll) den Dichter den Abstand

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schmerzlich fühlbar werden läßt. Denn „ein Gott vermags", vermag den Gesang über das menschliche Werben emporzuheben in die Sphäre des interesselosen Wohlgefallens apollinischer Kontemplation gleichsam als eine Komposition des reinen Seins: „Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes / Wann aber sind wir ?" — Das Gefühl des göttlichen Seins ist so schwer zu bannen im Verlauten des menschlichen Sangs. Mit christlichem Tenor hatte ähnliches zuletzt schon das Stunden-Buch ausgesagt, das im Gesamt aber zuversichtlicher noch dies Sagen-und Singenkönnen umwarb. Nun jedoch wird die Klage lauter und bewußter über das Unzulängliche der Kunst und das Unzulängliche des Ideals: „In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch". Der zweite Teil der „Sonette an Orfheus" knüpft mit seinem Eingangssonett an diese symbolische Vorstellung an, entwickelt aber das Tönende weiter zum Rhythmischen „Atmen, du unsichtbares Gedicht", wo ebenfalls das „eigne Sein" als unzureichend empfunden wird, selbst wenn es gleichsam den „Weltraum" in sich einatmet. Aber in diesem Falle greift die Forderung nicht so hoch ins Göttliche, sondern bescheidet sich mit dem Schaffen eines „Gegengewichts, in dem ich mich rhythmisch ereigne". Das Geheimnis des Klanges und der Melodie wird zwar nicht restlos gelöst — das entspräche auch kaum dem Kunstwollen Rilkes —, aber die Aufgabe wird verlagert in den Bereich des Rhythmischen, das der Sprach be wegung der Wortkunst besonders nahesteht. Die Beiträge zu einer T h e o r i e des D r a m a s und der Schauspielkunst sind aus naheliegenden Gründen unerheblicher. Eingehender befaßt sich das „Worpsweder Tagebuch" mit Maeterlincks „Tod des Tintagiles" und Gerhart Hauptmanns „Michael Kramer"; aber auch bei dem Neuromantiker Beer-Hofmann verweilt er gelegentlich. Den tiefsten Eindruck hat „Michael Kramer" hinterlassen, der für Rilke mehr als ein Künstlerdrama bedeutet: ein „Menschendrama" möchte er es nennen, hält aber auch diese Bezeichnung nicht für ausreichend. Wie Thomas Mann hat es ihm besonders der große Schlußmonolog Kramers angetan. Trotzdem ist es nicht G. Hauptmann, sondern Maeterlinck, durch den er zu eigenen planenden Forderungen angeregt wird. Der Lyriker in ihm fühlt sich merklich angesprochen vom Primat der Stimmung im neuromantischen Drama. Und im Grunde ist es ja auch die tragende lyrisch-elegische Stimmung, der lyrische Typus der

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erlebten Meditation im Grenzbezirk zum Geistig-Visionären des Kramer-Schlußmonologs, was ihn so anzieht. Wenn nun Rilke in einem Theatergespräch vorschwebt, „ein Milieu so genau hinzustellen, daß einfach die Grenzen der Dinge (!) den Umriß der Gestalt ergeben", so könnte man in jenen Jahren zunächst an die naturalistische Milieu-Theorie denken. Aber gemeint ist eine neuromantische Transponierung der Umwelt auf die Stimmungsumwelt (Übergangstypus „Ein Friedensfest", vorwiegend psychologisches Milieu). Etwa das Gefühl der Angst (Maeterlinck) oder der Sehnsucht hat die Gefühlsumwelt zu bilden: „Kannst du dir kein Drama denken, in die Sehnsucht (hinein) komponiert?" Und, kennzeichnend für den Lyriker, der die Ballade scheut und höchstens bis zur Romanze sich gelegentlich vorwagt, wirft er die Frage auf „Läßt sich ein Drama der N i c h t Handelnden denken ?" Das handlungsarme, lyrische Stimmungsdrama gilt ihm als begehrenswerter Typus, den er durch „Die Blinde" zu verwirklichen hofft. Und plötzlich leuchtet der innere Zusammenhang mit dem Klanglich-Musikalischen auf. Nicht zufällig gebraucht er hier sowohl das Fachwort „komponiert" wie auch dort, wo er die Meisterschaft Maeterlincks bewundert, alles in das Gefühl der Angst hinein zu komponieren. Aber auf der anderen Seite enthüllt sich die Gegenkraft des Bildhaften auch auf dramentheoretischem Gebiet. Er sucht ein Gegengewicht gegen Maeterlinck und findet es — in Rodin. In Abwehr der Vorbild-Poetik, der er zu unterliegen fürchtet, soll sein Drama „ganz unmystisch wirken, unmaeterlinckisch". Und er hält es prinzipiell für möglich und fruchtbar, das Dramatische mit dem Plastischen in Beziehung zu setzen: „es ist gut, wenn Drama und Plastik sich gelegentlich gegenseitig ins Auge fassen. Ihnen sind, mehr als zwei Künsten sonst, Parallelen günstig". Und zwar sieht Rilke nicht etwa in der plastischen Gestaltung das Verwandte, sondern in der Wirkung: „Beide sollen einfach und weithin wirksam werden". Klarheit und Einfachheit gelten als Wertkriterien. Freilich in einem Atemzuge mit solchen Erwägungen, die noch nicht von Paul Emsts Neuklassizismus beeinflußt sein konnten, wohl aber unter dem Eindruck Rodins und der Gespräche im Worpsweder Maler- und Bildhauerkreis standen, phantasiert der junge Rilke von einem Drama „Der Brand" (Feuersbrunst): „ein Drama, in den Schrecken komponiert". Im Ganzen aber bevorzugt er die Wirkung des „Leisen", das trotzdem

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ins Weite ausstrahlt, auch für die konzipierte und projektierte dramatische Wirkungsform. Bemerkenswert erscheint das Vorbild in der Traumpsychologie. So verworren derartige Äußerungen zunächst erscheinen mögen und müssen, bei näherem Zuschauen wird hinter ihnen doch wieder das Idealbild einer S y n t h e s e v o n musikalischen und b i l d h a f t e n Wirkungsmöglichkeiten, obwohl in zerfließenden Umrissen, sichtbar. Noch in Rilkes „Briefen an seinen Verleger" (1906—26) wird gelegentlich Dramatisches angekündigt. In ihnen, obwohl sie mehr der geschäftlichen oder freundschaftlichen Seite des Verhältnisses zu Anton Kippenberg sich zuwenden, begegnen spätere Bestätigungen jener frühen Einstellungen. So etwa wird erneut deutlich, was das Gleichnishafte für Rilke bedeutete, wenn der leise Seufzer aufsteigt: „wie sehn ich mich in die Welt hinaus, unter die Gleichnisse, die ich von ihr zu empfangen gewohnt war" (Juli 1920). Oder aber, und damit ideelich benachbart, trifft man erneut auf die Bedeutung der „Ding"-Vorstellung. Es handelt sich um die Gruppe „Letzte Gedichte und Fragmentarisches" und deren Angliederung an die „Duineser Elegien" (damals noch). Rilke will seinem Verleger das „Fragmentarische" schmackhaft machen und begründet: ob es sich nun um Trümmer oder um nur nicht ganz Abgeschlossenes handle, immer seien nur Gedichte ausgewählt worden, „die auch in ihren Bruchflächen noch Ausdruck sind, Gestaltung, Ding . . . " (Febr. 1922). In demselben Jahre bekennt sich der nächste Brief zu dem starken Eindruck, den Alfred Mombert („Die Schöpfung, Der Glühende") auf seine Jugendzeit gemacht habe, und begrüßt deshalb die MombertWürdigung durch Rudolf Pannwitz („Charon"-Kreis). Und als kleine Einzelheit sei verzeichnet, daß Rilke vorübergehend daran gedacht hat, die „Neuen Gedichte" und deren „Anderen Teil" nach den beiden Einzel-Gedichten „Die blaue Hortensie" bzw. „Die rosa Hortensie" zu betiteln. Immerhin steckt in dieser Äußerlichkeit nämlich ein kleiner Beleg für die Bedeutung, die er seinen „Dinggedichten" zuerkannte (Brief vom August 1908). Das gilt um so mehr, als die „Blaue Hortensie" sich sehr frei von Symbolik hält, vielmehr durchaus eine impressionistische Studie darstellt; dagegen wirkt die „Rosa Hortensie" schon wieder mit gedanklicher Meditation ausgestattet. Und gerade um ihretwillen wollte Rilke noch nachträglich eine Um-Betitelung auch des ersten Teils vornehmen.

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Der Blick für den reinen Typus war also noch nicht ausgeprägt, und das Beobachten will noch nicht recht vom Bedeuten freikommen. Das Kunstwollen hielt noch am Symbolgedicht fest, während das Kunstschaffen schon weitgehend das Dinggedicht reiner Gegenständlichkeit sich gewonnen hatte. Dieser Briefwechsel mit seinem Verleger läßt zugleich erkennen, daß Rilke keineswegs nur oder überwiegend aus Anlaß des „Malte Laurids Brigge" Hinweise über die rechte Auffassung seiner Werke gegeben hat, wie die Sonderforschung meint. Vielmehr berichtet dort Rilke über Dichterlesungen in der Schweiz, bei denen er neben und nach einer „allgemeinen Einführung" sich nicht gescheut habe, „auch vor den einzelnen Gedichten jeweils kleine Plattformen der Verständigung zu schaffen" (Zürich, Dezember 1919) nach Art von Selbstinterpretationen. Diese Interpretationen waren offenbar mehr vorbereitend, während die des „Malte Laurids Brigge" mehr vorbeugend (falschen Deutungen vorbeugend) gewesen sein dürften. Es geht bei alledem und dem allen um W e s e n u n d W i r k u n g der D i c h t k u n s t schlechtweg, jenseits aller bildlichen oder klanglichen Wesensbestände und Wirkungsformen oder Verbesonderungen durch Dichtungsgattungen, um G a b e u n d A u f g a b e des D i c h t e r t u m s als Beruf und Berufung, als Produktion und Funktion. Wer jenen Briefwechsel auf sich einwirken läßt, erkennt dieses Dichtertum als eine Ausnahmesituation des individuellen und gesellschaftlichen Verhaltens. Der Rilke der Schweizer Zeit — also der Reifezeit und Spätzeit — nimmt es eher auf sich, eine Einladung zum ungestörten Aufenthalt in irgendeinem Gartenhaus herrschaftlicher oder gar adeliger Besitzungen zu „provozieren" (er selber bekennt sich einmal zu dieser Kennzeichnung) als darauf zu verzichten. Denn er liebt und lebt ein etwas verwöhntes Dichterdasein, um der Ungestörtheit des Werkschaffens und der produktiven Stimmung willen. Er erleidet selbst Demütigungen (und Enttäuschungen) um des Dienstes am Werk willen. Denn längst nicht alle Versprechungen seiner „Anhänger" werden gehalten und erfüllt. Und während er notgedrungen und notdürftig den Schein dessen aufrechtzuerhalten versucht, um den man sich geradezu reißt, wird doch die bittere Wirklichkeit oft genug sichtbar, die ihn lange suchen und bitten läßt, bevor er Zuflucht und Gehör findet. Der irrende Dichter gleicht insofern dem irrenden Ritter, der auf Gönner angewiesen bleibt.

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Allein die „Duineser Elegien" waren auf zwei Zufluchtsstätten angewiesen; denn ein wesentlicher Teil ist erst in Montreux (Schweiz) entstanden. Und wenn man Goethes „Römische Elegien" auch Weimarer Elegien nennen könnte in dem Maße, wie Christiane Vulpius die römische Faustina ergänzte, so könnte man Rilkes „Duineser Elegien" auch die „Montreuser" Elegien nennen. Voraussetzungen waren also die Abschirmung aller störenden Einflüsse und die Gelegenheit zur Sammlung. Und Stimmung ist insofern mehr als Bestimmung. Das Einstimmen des Ich mehr als das Zustimmen des Du. Das zu sich selber Finden mehr als das zum andern Finden. Es ist erfreulich und ersprießlich, wenn das Du (gleichsam zusätzlich) dem Ich zustimmt; aber diese Zustimmung ist nicht unentbehrlich, um das Dichtertum als solches zu legitimieren. Wenn hinter dem Werk das gute künstlerische Gewissen steht, bedarf es nicht einer Rechtfertigung vor dem Kunstwertaufnehmenden (Briefe, Februar 1912). Das Kunstwollen ist mehr als die Kunstwirkung. Freilich muß es sich dabei um ein im Kunstschaffen verwirklichtes Kunstwollen handeln. Liegt das vor, so ist der Dichter letztlich nur sich selber verantwortlich, nicht seinem Leser. Diese Einstellung bleibt keineswegs auf die Frühzeit beschränkt. Rilke gelangt nicht recht zu der Einsicht, daß ein Gedicht in seiner Entstehung den Leser nicht zu berücksichtigen braucht, in seiner Wirkung aber doch auf die Resonanz eingestellt bleibt, daß es zwar nicht im Hinblick auf den Leser wird, aber doch mit Hinweis auf den Leser wirkt. Er behilft sich z.T. mit einem Nebeneinander, ohne die Folgerung des Ineinander zu ziehen. Kurz, es fällt ihm schwer, vom Einfluß Stefan Georges freizukommen. Kunstwollen und Kunstwirkung geraten dergestalt nicht unbedenklich auseinander. Vereinfacht und vergröbert gesagt, die Dichtkunst wirkt auch dort und dann, wo und wann sie es an sich und aus sich heraus gar nicht will. Und so „teilnahmslos" (Nachwirkung des interesselosen Wohlgefallens Kants über Zwischenglieder hinweg) die Kunst immer sein mag, der Leser nimmt eben doch teil daran. Sie erstrebt nicht bewußt Anteilnahme, erwirbt sie aber dennoch. Das Zufällige erweist sich als ein Zufallendes. Das Unverbindliche des Werdens schließt das Verbindliche und sozial Verbindende der Wirkung nicht aus, sondern in sich ein. Und vielleicht deutet man Rilke richtig, wenn man — über Stefan George hinaus — in jenem Beharren auf Absichtslosigkeit oder Wirkungslosigkeit die stille.

DER ENTWICKLUNGSRAUM GEORGE—HOFMANNSTHAL—RILKE

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aber starke Bürgschaft für die unbedingte Echtheit einer Dichtung erkennt und anerkennt. Es sei in diesem Zusammenhange erinnert an den gemeinsam von Goethe und Schiller verfaßten Aufsatz „Über den Dilettantismus" (vgl. Band III). Der Dilettant wird angespornt von der erstrebten Wirkung, der Künstler nicht. Daher nicht zuletzt erklärt sich das zähe Widerstreben gegen ein Wirkenwollen oder gar Bewirkenwollen. Unverkennbar berührt das Wegsuchen zwischen Neuromantik und Neuklassik in diesem Sektor die Neuklassik, die denn auch in mancherlei Fassungen „antiker Form sich nähernd" zutage tritt („Duineser Elegien" usw.). Noch 1922 vermutet Rilke, daß es der Kunst „auf eine Wirkung überhaupt nicht ankäme". Das ist letzten Endes die klassische Auffassung der Kunst als eines in sich selbst Vollendeten (K. Phil. Moritz, Goethe). Das ist — jenseits Paul Emsts — durchaus eine Neuklassik. Und es erinnert daran, daß Rilke nicht einfach als Neuromantiker abzutun und „unterzubringen" ist, sondern auf der Wegsuche z w i s c h e n Neuklassik und Neuromantik bald hierhin, bald dorthin „irrt", wenn anders man sein Kunstwollen überhaupt an einer „Richtung" und nicht an seinem eigentümlichen Gerichtetsem orientieren will. Jedenfalls treibt es ihn nicht, auch und gerade in seiner Spätzeit nicht, Werke zu schaffen, „die in die Mitte der Zeit hineinfallen" (Heinrich von Kleist gelegentlich seiner „Hermannsschlacht"). Sondern sein Werkschaffen als ein auch im orphischen Wort sagendes Singen und als Selbstdeutung und Selbstverständigung zielt darauf ab, in die „Mitte des eigenen Wesens" zu dringen und auf dieses die Mitte-Finden zu dringen. Hermann Hesses Fallen in die „heilige Mitte" (Gedicht „Das Glasperlenspiel" im gleichnamigen Roman) verweist in eine ähnliche Richtung. Befragt man jenseits der (außerhalb des Kunstwerkes) formulierten Poetik (Tagebücher, Briefe, Gespräche) die im Kunstwerk formulierte Poetik, so ergibt sich, daß Rilke von der Vorstellung eines Kunstwertaufnehmenden dennoch selber nicht freikommen kann. Und wie im Leben ihm Frauen näher standen als Männer, so auch spricht er ihnen in der Haltung des Kunstverstehens die überlegene Befähigung zu. Was Goethe in dem liebenswürdigen Ausspruch vom Naturell der Frauen bekundet, das so nah mit Kunst verwandt sei, symbolisiert Rilke frühzeitig im Gedicht „Von den Mädchen", das beginnt: „Andere müssen auf langen Wegen / zu den dunklen Dichtern gehn" und diesem mühevollen Umweg 18

M a r k w a r d t , Poetik V

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das Zugangfinden gegenüberstellt: „Nur die Mädchen fragen nicht / welche Brücke zu Bildern führe" (im „Buch der Bilder"). Es ist aber nicht nur die Bereitschaft und Neigung, verstehend entgegenzukommen. Es ist auch Bedürfnis und Nötigung und das innere Bewußtsein, nicht im Trieb, wohl aber im Wesen und Sein vom Dichter abzuhängen, wie der „Gesang der Frauen an den Dichter" es in vertiefter Weise umschreibt, indem er Unendlichkeitsgefühl und Seinsgefühl so abwägt: „Mit uns geht das Unendliche vorbei / Du aber sei, du Mund, daß wir es hören / du aber, du Uns-Sagender: du sei" (in „Neue Gedichte" I). Hier äußert sich also wieder das Andere, das Gegenüber, das zum mindesten von sich aus den Dichter braucht, um sich bestätigt zu finden. Vom Dichter aus gesehen freilich fühlt sich die Frau nicht wie ein Du angesprochen, sondern gleichsam nur wie eine „Landschaft" erfaßt in kontemplativer Betrachtung, wobei indessen zu berücksichtigen wäre, daß der häufig symbolischabstrakt gemeinte Terminus: Landschaft für Rilke eine sehr vieldeutige Sinngebung und Symbolgeltung in sich einschließt. Der Akzent aber, der auf dem „Da-Sein" liegt, begegnet etwa zeitparallel als ein „Dasein-Aussagendes" in einem Privatbrief (Aug. 1909), so daß die Klage aus dem Sonett an Orpheus, das bereits oben herangezogen wurde und „Gesang" als „Dasein" umschrieb, längst bereitlag. Mit dem wesentlichen Unterschied jedoch, daß in jenem „Gesang der Frauen" dem Dichter noch ein Sein zuerkannt wurde (wenn auch nur als verehrender Wunsch), während das dritte der Orpheus-Sonette auch diesen festen Halt anzweifelt („wann aber sind wir ?"), um ihn dem Sänger-Gotte vorzubehalten. Ebenso darf nicht verkannt werden, daß der bereits unter Nachwirkung der Worpsweder Eindrücke und vor allem unter Einwirkung des Rodin-Vorbildes bewußt herausgestellte „arbeitsame" Dienst am Ding noch beim späten Rilke als betonte Kunstlehre begegnet (1921). Das verweist nicht zuletzt über die Haltung hinaus auf die Gestaltung, besonders auf d i e K u n s t t e c h n i k i n d e r H a n d h a b u n g des W o r t e s als Darstellungsmittel des Dichters. Nicht erst in der Pariser Zeit, die gewiß eine Verstärkung kunsttechnischer Interessen bringt, achtet Rilke auf neue Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks. Beobachtungen an der Dramen-Sprache Maeterlincks zeitigen die Notiz „Ganz einfache, alltägliche Worte klangen wie nie gebraucht" (November 1900). Es sind also keine stillosen

DER ENTWICKLUNGSRAUM G E O R G E — H O F M A N N S T H A L — R I L K E

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Prosaismen, was nicht selten an nüchternen Alltagsformeln im Gedicht Rilkes anzutreffen ist. Vielmehr drückt sich in dieser zunächst auffallenden und leicht irritierenden Stil-Erscheinung ein ganz bewußtes Kunstwollen im Bezirk der Kunsttechnik aus. Vielleicht meint ebendies das siebente der „Sonette an Orpheus" (I), wenn es zugleich festhält und fordert: „Nie versagt ihm die Stimme am Staube . . . / Alles wird Weinberg, alles wird Traube". Jedenfalls wird jenes Stilmittel der veredelten Zweckformen noch in den „Duineser Elegien" festgehalten, z.B. mit Fremdwörtern an sich nüchterner Art wie „Tumult, das Vage" usw. Es fragt sich aber, ob dieses kunsttechnische Wollen, das sich in der Rodin-Epoche versteift hatte, vom Wesen des Lyrischen aus gutzuheißen ist, ob es fördert. Es ist nachweisbar, daß Rilke im Bemühen, sein „Material" auch nach rückwärts (sprachhistorisch) zu bereichern, verantwortungsbewußt und arbeitswillig nach Wörterbüchern gegriffen hat. Er übertrug das sprachliche Verfahren J . P. Jacobsens, aber auch das Ringen Rodins mit dem Darstellungsmaterial auf sein Sondergebiet. Er stellte nicht die Vorfrage des „Laokoon" Lessings, ob ein solches Lernen von Nachbarkünsten allenthalben ersprießlich sei. Der erwähnte „Laokoon"-Bezug im Florentiner Tagebuch war in der bannkräftigen Umwelt und Atmosphäre Rodins offensichtlich vergessen worden. Und andererseits fehlte das Temperament Richard Dehmels, um das Nüchterne des Alltags und der Umgangssprache mitreißend zu erwärmen und einzuschmelzen. Das künstlerische Aktivieren der Sprachreserven entspringt einem allgemeinen dichterischen Bedürfnis und entspricht einem auch sonst anzutreffenden Verfahren. Es kommt aber auf die Voraussetzungen und auf den Grad der Verwendung an. Rilke nimmt manches Wort ernsthaft in den Reim, mit dem Heine noch komische Wirkungen erzielt hatte. Man kann darin — und fraglos mit gewissem Recht — ein Fortschreiten sehen, aber dieses Fortschreiten der Dichtersprache dürfte streckenweise sowohl bei Stefan George wie bei Rilke zu einem Überschreiten gebotener Grenzen forciert worden sein. Und bei ihren Nachahmern ist diese Methode dann zur Mode, dieser Stil zur Manier erstarrt. Kritisch gesehen und gesagt: Rilkes Beschäftigung mit der Sprache macht bei Ansätzen zum Sprachhistorischen und Lexikographischen halt, ohne sich zum Sprachphilosophischen zu vertiefen. Die Frage: „wo ist das Handwerk meiner Kunst", das Bemühen, „das Werkzeug meiner Kunst zu 18«

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finden", drohen ihn nicht nur streckenweise auf ein Wort-Virtuosentum, Bild-Virtuosentum und Klang-Virtuosentum abzudrängen. Das souveräne, spielende Beherrschen des Materials führt und verführt leicht zum unbeherrschten Spiel mit dem Material. Was indessen davor warnen sollte, Rilke auf Grund seiner kunsttechnischen und wortkunsttechnischen Bestrebungen allzu vorschnell auf das Virtuosentum zu reduzieren und zu exemplifizieren, ist die oft genug von ihm selber ausgesprochene Einsicht, daß die Vorbereitung und Erarbeitung der empfangswilligen Bereitschaftshaltung ebenso wichtig und wertvoll für den Künstler sei wie die ausführende Gestaltung. Um müßige Stunden vor sich selber zu rechtfertigen, schreibt er der Indikation fast dieselbe Bedeutung zu wie der Intuition und Produktion. Er ist überzeugt, daß die Intuition zwar nicht erzwungen, aber doch erleichtert und ermutigt werden kann. Denn auch das Unbedingte bedarf der Vorbedingung. Was er an Rodin und Cezanne bewunderte, lag letztlich im Erarbeiten der Voraussetzung für die schöpferische Empfängnis, nicht aber in der Arbeit um der Arbeit willen. Die schöpferische Pause war auszufüllen mit der technischen Schulung. Die Gefahr lag nur darin, auch diese Pause produktiv machen zu wollen durch kunsttechnische Erprobungen und virtuose Experimente. Daher kommt es, daß streckenweise das Kunstvolle seinen Ursprung vom Künstlichen nicht verleugnen kann. Denn die ausgefüllte Pause schafft selten erfüllte Poesie. „Arbeiten und Geduldhaben" (von Rodin übernommene Leitsätze) helfen wohl über die Intervalle hinweg, nicht aber zur Vollendung empor. Und wortkünstlerische Techniken und Taktiken täuschen wohl über unfruchtbare Strecken des Weges zum Werk hinweg, führen aber nicht notwendig zur Werkerfüllung und Werkvollendung hin. Rilke bedurfte jenes Trostes als Antrieb zum Fruchtbaren. Er vermochte nur über das Gesellenstück zum Meisterstück zu gelangen. Er bedurfte des Anlaufs, um den Sprung und die Erreichung des Ziels zu sichern. Die Gefahr bestand darin, daß er sich beim Anlauf verausgabte, weil er der Gabe des Sprunges nicht voll vertraute. Anders zu beurteilen ist das Zurücktreten der gefühlsmäßigen Hingabe und damit das Zurücktreten der reinen GefühlsAusdruckslyrik. Gewiß erleichterte die Gebundenheit an das Kunsttechnische vom Ästhetischen her, und gewiß verstärkte die oft beklagte Herzenskühle vom Persönlichen aus jenes Zurück-

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drängen der spontanen Gefühlsbeteiligung. Aber es war doch wohl nicht nur Selbstrechtfertigungspoetik, nicht nur ein notgedrungenes Kunstwollen (aus Mangel eine Tugend zu machen), sondern Ausdruck eines echten Kunstwollens, wenn noch der späte Rilke im Requiem für Wolf von Kalckreuth es geradezu als „alten Fluch der Dichter" bezeichnet, allzu sehr und ungehemmt ihr Gefühl auszusprechen, statt es aus Distanz zu „bilden", etwa so zu bilden wie der künstlerische „Steinmetz" in „des Steines Gleichmut".

Der Entwicklungsraum Ernst—v. Scholz—Lublinski Der Primat des Inhalts im Naturalismus rief zwangsläufig seinen Gegenspieler herbei: den P r i m a t der F o r m . Die hohe Bewertung des Inhaltlichen war nicht nur durch die soziale (bis sozialistische oder doch sozialdemokratische) Tendenz gegeben, sondern auch in der Kunsttheorie durch Karl Bleibtreu u. a. programmatisch ausgesprochen worden. Zwar konnte auch der Realismus als konsequenter Realismus adäquate Formen nicht entbehren: so etwa die Mundart in der Dichtung, die natürliche Sprechsprache des alltäglichen Umgangs usw. Aber diese Form war nur Mittel zum Zweck des Inhalts, nicht Eigenwert und vollends nicht Ausgangspunkt. Der Zugang zum Inhalt sollte durch die Form erleichtert werden, nicht aber der Zugang zur Form oberstes Gesetz sein. Die Neuklassik jedoch strebte durch P a u l E r n s t nach dem „Weg zur Form" (1906) fast wie nach einem „Schmalen Weg zum Glück". Was hier in Romanform ausgedichtet wurde, war dort zur Kunsttheorie verdichtet, beides etwa um 1900 herum. Die Position Paul Emsts schien um so gesicherter zu sein, als sie von der Opposition ausging. Paul Ernst hatte das damals Revolutionäre der Sozialdemokratie mit ihrer notgedrungenen, freilich oft auch nur recht notdürftigen Inhaltstendenz hinter sich, als er zum Konservativen der Formbehauptung vorwärts zu schreiten meinte. Und sein neu errungener Konservatismus kam in der Kunst doch nicht aus ohne eine Rückbewegung — die Rückbewegung auf die Klassik. Dort schien er das wirksamste Gegengift zu beziehen, das sowohl gegen den Realismus wie gegen die Neuromantik Heilung verhieß. Mitten im Realismus eine Renaissance zu entfalten, mitten in der Neuromantik eine Neuklassik theoretisch zu propagieren und praktisch zu demonstrieren, schien

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des Schweißes der Edlen wert. Und der blinde Eifer dieser resoluten Renaissance gegen den konsequenten Realismus und eine von Natur aus unkonsequente Neuromantik übersah notwendig die Künstlichkeit dieser neuen und neuklassischen Kunst. Denn ihre einzige Wurzel lag im Wollen, nicht im Wesen. Paul Emst und seine Freunde übersahen, daß ein geistiges Adoptivkind eben doch kein natürliches Kind ersetzen kann und daß ein noch so gelehrt gebildeter Homunkulus noch kein Mensch ist. Kein Wunder, daß sie letzten Endes bei der bloßen Kunsttechnik stehen blieben und damit zu Verrätern wurden an ihrer alles Technische und Mechanisch-Maschinelle bekämpfenden Programmatik. Die Kunst der Technik verwarfen sie; aber die Technik der Kunst verherrlichten sie. Kurz, sie retteten sich vor der einen Technik in die andere Technik. Daß dies so war, geht eindeutig daraus hervor, daß ihr führender Theoretiker Paul Ernst vorzüglich und fast ausschließlich die beiden Gattungen bestimmte, die vor allem auf Kunsttechnik angewiesen sind und sich relativ am leichtesten auf kunsttechnische Formgesetze zurückführen lassen: Drama und Novelle. Freilich hatte gerade für eine Neuklassik die neuzeitliche Ausbildung und Umbildung einer Theorie des Epos nahegelegen. Höchstens Samuel Lublinski hat ein Gefühl dafür gehabt. Davon ist sonst kaum etwas Bemerkenswertes zu verzeichnen und also auch zu vermelden. Es ergibt sich, daß die Kunsttheorie der Neuklassik recht abhängig blieb von dem vermeintlichen oder echten Kunstvermögen ihrer Vertreter; denn — wenn man bestenfalls vom „Kaiserbuch" absieht — ein dauerwertiges Epos ist nicht aus diesem Kreise hervorgegangen, auch keine dauerwertige klassische Elegie. Zwar auch die Dramen und Novellen haben sich nicht als dauerkräftig erwiesen. Aber zunächst glaubt man wenigstens mit Hilfe der Kunsttechnik auf diesen Gebieten etwas leisten zu können und so die Theorie durch die Praxis, die Dichtungsdeutung durch die Dichtungsübung zu ergänzen und gültig zu bestätigen. Es darf vorweggenommen werden, daß auch dies nicht überzeugend geschehen ist. Bei dem konsequenten Realismus der Naturalisten und dem stimmungsvollen Symbolismus der Neuromantiker war das eben doch wesentlich anders. Manche Werke der Naturalisten, Symbolisten und Neuromantiker sind noch durchaus lebendig. Das Kunstschaffen der Neuklassizisten — soweit es wirklich neuklassisch war — ist tot. Neurealismus und Neuromantik waren gewachsen,

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die Neuklassik war im wesentlichen „gemacht". Sie entstand aus einer Opposition, die sich keine Position zu gewinnen wußte. Sie blieb bei einer Besinnung stehen, ohne zu einer Gesinnung vorzudringen. Und der „Weg zur Form" verrennt sich in einen Irrweg zum Formalismus. Das Autonome der Kunst muß schließlich nach dem Durchgang durch das Rein-Ästhetische strenger Form die Auffangstellung beim Theonomen der religiösen Gehalte suchen. Die klassische Gelassenheit endet bei der religiösen Geborgenheit. Und der Kunstverstand endet auch im eigenen Werkschaffen häufiger beim Verstand als bei der Kunst, wie das Kunstgewissen oft hinausläuft auf das Gewissen mehr als auf die Kunst. P a u l E r n s t (1866—1933) kommt von der Theologie her und endet letzten Endes wieder bei ihr. Er durchläuft den Naturalismus, dem er durch die Brüder Hart zugeführt wurde, und scheint, besonders nachhaltig von Bruno Wille beeindruckt, bis etwa 1898 dem Naturalismus gänzlich verfallen. Er wird ein williger Jünger der Sozialdemokratie, und seine erste Publikation über „Tolstoi und den slawischen Roman" verbindet christliche Impulse mit sozialen Ambitionen. Tolstoi und Dostojewski werden zeitweise eine Art von Vorbild- und Musterpoetik für sein noch ungeklärtes Streben. Und schon damals richtet er den suchenden Blick vorzugsweise auf das Kunsttechnische. Aber kaum dem Naturalismus gewonnen, stellt er sein Kunstwollen oder doch seine Kunstwertung ein auf den Impressionismus. Denn schon erkennt er die Bedeutung einer wirksamen Auswahl der „die Stimmung erweckenden Einzelwahrnehmungen", die am ehesten jenen Zustand im Kunstwertaufnehmenden hervorruft, auf den die Poesie zielt: „das Schauen des Gedichteten". Freilich scheint ihm sein dramatischer Versuch einer relativ willigen Angleichung an den Naturalismus „Lumpenbagasch" (1898), der schon im Titel die forcierte Anverwandlung verrät, keine echte Lösung zu bieten. Kein Wunder, daß er in demselben Jahre bereits die Loslösung vom Naturalismus vorbereitet, so etwa in den Aufsätzen „Das moderne Drama" und „Das Drama und die moderne Weltanschauung", wobei eigentlich nur gewisse Fortschritte in der naturalistischen Dialogführung vor dem kritischen Einwand bestehen, der die Motivwelt des Naturalismus nicht mehr als kunstwertig und kunstwürdig anerkennen kann. Und das „Chambre separee", obwohl (als Milieu) von ihm selber aufgesucht, gilt ihm schon nicht mehr als würdiger Tempel der Kunst. Das hohe Ziel scheint ihm

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bei solchen Motiven auf Irrwegen der vermeintlichen Lebensechtheit angestrebt zu sein. Er macht wohl mit; aber er fühlt sich bereits nicht wohl dabei. Und schon damals reicht sein Kunstwollen weiter als seine Kunstleistung. Um es vorwegzunehmen: im Grunde ist es immer so geblieben, auch im Raum der „Neuklassik". Stets bleibt die künstlerische Ausführung bei Paul Ernst hinter der kunsttechnischen und vermeintlich kunstphilosophischen Planung beträchtlich (bis betrüblich) zurück. Und nicht einmal mit Otto Ludwig im poetischen Realismus vermag er es als Dichter der Neuklassik aufzunehmen, weder in seinen Dramen noch in seinen ζ. T. von spanischen Mustern abhängigen Lustspielen oder in seinen z.T. von italienischen Mustern abhängigen Novellen. Was z.B. seine Novellen betrifft, die in einer Sonderuntersuchung säuberlich gewürdigt worden sind, so ist die Einleitung (I. Kap.) zum ersten Band der Herausgeberarbeit „Altitalienische Novellen" (1902) wertbeständiger als seine gesamte Novellenproduktion. Nichts mehr lebt heute von seinem Kunstschaffen, weder dem novellistischen noch dem dramatischen, ohne künstliche Nachhilfe des fachlich Interessierten. Manches aber von seiner Kunsttheorie hat sich in das Gegenwartsbewußtsein hinübergerettet. Deshalb muß hier in einer Würdigung der Kunsttheorie Paul Ernst mehr Raum gegönnt werden, als ihm als Dichter zukommt. Dieser V o r s p r u n g seiner K u n s t t h e o r i e v o r s e i n e r K u n s t l e i s t u n g beruht auf der Konsequenz seines klassizistischen Idealismus, der zum mindesten prinzipiell dem konsequenten Realismus (Naturalismus) als Gegenkraft durchaus gewachsen war. Er beruht aber auch — in der negativen Instanz — auf der Unzulänglichkeit seines Kunstschaffens. So kommt es, daß er nach dem „Weg zur Form" sich Gedanken macht über den „Zusammenbruch des Idealismus" (1918). Kein Wunder aber auch, wenn er in seiner Mustertragödie „Brunhild" (1909) den Zufall nicht entbehren kann (Entwendung des Gürtels durch Siegfried), während doch das absolut Notwendige des tragischen Schicksals über jeden Zufall erhaben sein müßte, oder daß er in der Theorie des Tragischen den bürgerlichen Schuldbegriff ablehnt, während im Verhältnis Brunhild-Gunther der Schuldbegriff unverkennbar eine entscheidende Geltung eingeräumt erhält. Bei solchen Widersprüchen und ideelichen Brüchen erinnert man sich nicht nur daran, daß der auch theoretisch anerkannte Vorbild-Poetiker Hebbel in der be-

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rühmten, keineswegs auf den Sondertypus des bürgerlichen Trauerspiels eingeschränkten Vorrede zu „Maria Magdalene" den Mangel an Geld als bewegende Kraft für das bürgerliche Trauerspiel ablehnt, in dem Drama der Tochter des Kleinbürgertums aber keineswegs ohne dieses Motiv auskommt (Gebhardts iooo Thaler), sondern auch daran, daß H. Ibsens „Gespenster" die schicksalhafte Schuld ebenso in die Vorfabel verlegen, wie es letztlich in P. Emsts „Brunhild" der Fall ist. Das bedeutet: man glaubt Sophokles zu folgen, den man propagiert, folgt aber in Wirklichkeit Ibsen, gegen den man protestiert. Und vor allem: indem P. Ernst das abstrakte Drama, im Endertrag das reine I d e e n d r a m a anstrebt, indem er die Exemplifizierung am Konkreten nicht nur des Milieu-Dramas, sondern auch des Charakterdramas verwirft, um die Typisierung am Ideelichen von jeder stofflichen Bindung und Verbindlichkeit möglichst frei zu halten, gerät er unversehens in bedenkliche Nähe des Diskussions- und Debatte-Dramas des von ihm so leidenschaftlich bekämpften Naturalismus. Die Extreme berühren sich auch hier. Er ist sich der Gefahr einer Entartung des dramatischen Dialogs zum weltanschaulichen Disput theoretisch durchaus bewußt (Vorwurf gegen das naturalistische Verfahren). Aber die Abwehr des Geschehens und die entsprechende Forderung einer Herausarbeitung des ideelichen, vom Geschehen abstrahierten Ertrages drängt ihn in der Praxis doch wieder zur prinzipiellen Erörterung schicksalhafter Fragen auf Grund der Darstellung und Bevorzugung schicksalhaltiger Situationen des reifen Zustandes. So verstanden, berühren sich das neuklassische Zustandsdrama und das naturalistische Zustandsdrama. Ebenso ersetzt P. Ernst nicht die Analyse der Naturalisten durch eine Synthese. Das geschah recht eigentlich erst durch H a n s F r a n c k (geb. 1879), der von der neuklassischen Gruppe um P. Ernst seinen programmatischen Anstoß erfuhr und den „Synthetismus" vertritt, indem er über Hebbel auf Kleist zurückgeht und den Primat der Idee (Sophokles) mit dem Primat der Realisierung und „Inkarnation" der latenten Idee (Shakespeare) zu verbinden anrät. So kann es nicht überraschen, wenn Hans Franck den anfangs von ihm empfohlenen Weg zur Form P. Emsts doch nur als einen „Seitenweg" gelten lassen will, der keine Allgemeingültigkeit beanspruchen dürfe, wenn anders das von Franck projektierte „Stildrama" sich als Aufgipfelungsform durchsetzen solle.

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Denn P. Ernst lehnte das „epische Drama" Shakespeares ab und ließ unter Teilzugeständnissen an Friedrich Schiller (bis zum „Don Carlos") und Friedrich Hebbel im wesentlichen nur die griechische Dramenform gelten, wobei Sophokles (bes. mit „ödipus" und „Antigone") die Vorbild-Poetik zu stellen hatte. Er blieb also auch bei der großen Analyse. Und wiederum ergibt sich, daß diese Sophokleische Analyse und die Ibsensche Analyse sich irgendwie und irgendwo berühren, wobei der Verlust der ausgleichenden Mitte in Kauf genommen wird. Auch berührt sich — streng geurteilt — P. Emsts Neuklassik in manchem Betracht eher mit dem Klassizismus Gottscheds als mit der Klassik Goethes. Ähnlich ist es mit der betonten A b w e h r der N e u r o m a n t i k bestellt. Denn bei allem Protest gegen den Psychologismus und Stimmungskult, bei aller Betonung eines Reduzierens der seelischen Motivierung und Differenzierung auf die großzügige, vereinfachende Linienführung des konzentrierten, oder wie P. Ernst mit Vorliebe sagt, des „ z u s a m m e n g e z o g e n e n Dramas", bleibt doch bei jener ideelichen Abstraktion des neuklassischen Musterdramas zugleich und zuletzt die vereinfachte und verschlichtete seelische Konstellation entscheidend. Neben dem geistigen Gehalt bleibt das seelischgemütliche Reagieren wesentlich für die Ablösung des AllgemeinMenschlichen vom Charaktermäßig-Verbesonderten. Nur daß keine Entwicklung aus der Verwicklung geboten werden soll, sondern eine Auseinanderfaltung der seelischen Enderträge, die nicht nur durch den Chor gleichsam auf einen Generalnenner gebracht werden, ohne vom Kausalnexus abhängig zu sein. Einer lyrischen Erweichung und stimmungsmäßigen Zersetzung des Dramas nach neuromantischer Art jedoch sucht P. Ernst entgegenzuwirken durch die säuberliche Absetzung des Lyrischen im antiken Chor oder durch kunsttechnische Mittel, die den Chor sinnvoll und zweckmäßig vertreten. Die B e i t r ä g e zur G a t t u n g s t h e o r i e erfassen besonders Drama und Novelle. Roman und Epos werden mehr am Wege mitgenommen, durchweg um durch Abhebung von den bevorzugten Gattungen deren Eigenwert klarer herauszuarbeiten. Aber weil sie deshalb leicht vernachlässigt werden, mögen sie hier voranstehen. Die Theorie des R o m a n s hat P. Ernst schon deshalb merklich zurücktreten lassen, weil ihm der Roman im wesentlichen noch immer als Halbkunst gilt: „Der Roman war von jeher nur Halbkunst". Und zwar aus verschiedenen Gründen: einmal diente er

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der Wissensvermittlung durch Exkurse und Gespräche (schon in früheren Epochen), zum anderen hatte er die Tendenz zur bloßen Unterhaltung, und endlich „wird er stets Halbkunst bleiben, weil ihm der Zwang zur Form fehlt". Der Roman also hat den Weg zur Form nicht gefunden und konnte ihn auch seiner ganzen Struktur nach nicht finden. Was die Vermittlung von Wissensstoff betrifft, so schien freilich manchen Anhängern des Naturalismus die „Tendenz zur Halbkunst" dadurch überwunden, daß Exkurse und Gespräche als Träger der Wissensvermittlung zurücktraten. In Wirklichkeit wurde nun jedoch der Roman als Ganzes in den Dienst der Wissensmehrung und Erkenntnisklärung gestellt, d. h. nach der Auffassung P. E m s t s das Übel nur noch größer. In gewissem Grade ahnt P.Ernst die Entwicklung des Romans (auch dort und gerade dort, wo dann das Stadium der Halbkunst überwunden werden sollte) zum Spezialistenroman (Th. Mann, H. Hesse, E . G. Kolbenheyer u. a.) und zum Essaysammlungs-Roman voraus. Nur daß bei der Romanform, die P. Ernst unter Kritik stellt, das Wissen vermittelt, beim neuesten Spezialistenroman aber vorausgesetzt wird. Dort brauchte nur der Romancier, hier muß auch sein Leser (die Auslese der Leser) wissenschaftlich bewandert sein. Der essayistische Roman verfährt etwas gelinder mit dem Inhalt, aber um so rücksichtsloser mit der Auflockerung (bis Auflösung) der Form. A n sich erkennt P. Ernst durchaus richtig, daß der Roman geeignet wäre, jene soziologischen Anliegen zu befriedigen, die man im Naturalismus zu Unrecht dem Drama aufgezwungen hat. Denn der Roman besitzt schon kraft seiner stofflichen Reichweite am ehesten noch das Vermögen, alle jene soziologischen Verflechtungen und sozialen Verpflichtungen mit der gebotenen Gründlichkeit zu entfalten und zu demonstrieren, die bei der Form des Dramas und dessen Verkürzungen erst durch die nachschaffende und ausbauende Phantasie des Zuschauers mit viel Wohlwollen hergestellt weiden müssen. Nun wird auch verständlich, wie P. Ernst dazu kommen konnte, „Das moderne Drama" (1898) mit dessen Bemühen, ein großes „Gesellschaftsbild" zu bieten, auf Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meister" zurückzuführen. Er folgert richtig, wenn er geltend macht, daß eigentlich der Roman (nicht das Drama) die bevorzugte Gattung der Naturalisten hätte hergeben müssen, weil dort die Hauptprinzipien Milieu und Vererbung am ehesten rein umfangmäßig zu bewältigen gewesen wären. Zum

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mindesten hinsichtlich der Darstellung der Umwelt hat er diese Erkenntnis eindeutig formuliert: „Der Roman ist die einzige Dichtungsform, welche breite Schilderungen geben kann und damit das Milieu darstellen, welche die feinen Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Umwelt aufzuweisen vermag durch Analyse des Autors". Außerdem bedürfe der Roman nicht (wie das Drama) der großen Konflikte und der überragenden Persönlichkeiten und käme daher der Vermittlung des „Alltäglichen" entgegen. So erkläre sich auch das nach P. Emsts Meinung arrogante Bestreben der Brüder Goncourt, den R o m a n a l s v e r m e i n t l i c h m o d e r n e A b l ö s u n g s f o r m des f r ü h e r e n D r a m a s in die erste Rangstelle unter den Gattungen aufrücken zu lassen. P. Ernst fehlt nicht das Verständnis für den Roman: er lobt z.B. manches bei Emile Zola, Leo Tolstoi und selbst Gontscharow; aber ihm scheint dort — etwa in Tolstois „Krieg und Frieden" — oft ein großer Aufwand an Kunstkönnen und Kunstwollen mehr oder minder nutzlos vertan. Es liegt das letztlich immer wieder daran, daß der Roman als solcher „am allerwenigsten Gesetzen unterliegt", daß ihm gattungstypologisch jener wünschenswerte „ Z w a n g z u r F o r m " fehlt, der allein das Kunstwerk zum Kunstwerk macht. Schon in dem Umstand, daß der Roman die Ablösungs- und Auflösungsform des alten Epos gewesen ist, also nur das Inhaltliche gleichsam retten wollte, liegt so etwas wie eine Art von künstlerischer Erbsünde, die der Roman ewig mit sich schleppt und von der es keine Erlösung gibt. Demnach hat für P. Ernst der Roman auf dem Wege zur Form nichts zu suchen, jedenfalls kann er auf ihm niemals Schrittmacher sein. Den Weg zur Neuklassik zu bahnen ist er schon deshalb nicht geeignet, weil die Antike keine wesentlichen und wertvollen Bestände an Romanen aufzuweisen hat. Auch dort, wo P. Ernst im ersten Bande von „Ein Credo" (1912) manches nachträgt und nachprüft, bleibt die M i ß a c h t u n g des R o m a n s aufrechterhalten: „In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beginnt bei uns die Fabrikation der dummen Romane". Im „Weg zur Form" (1906) hatte er wenigstens noch dem heroisch-galanten Roman einen künstlerischen Teilwert zuerkannt. Jeremias Gotthelf besteht noch in Ehren, wo P. Ernst über „Die Unterhaltungsliteratur und das Volk" handelt, merklich ohne B. Auerbachs Vorarbeit zu kennen. Und ebendort („Ein Credo") spricht er von der „formlosen Form des Romans", obwohl nun nicht mehr das Fehlen

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eines naturalistischen Romans in Deutschland wie seinerzeit im „Weg zur Form" betont, sondern Gerhart Hauptmanns „Der Narr in Christo Emanuel Quint" als besonders wertvoll anerkannt wird und daneben Roman-Dichter wie Meinhold („Bernsteinhexe") oder Heinrich Mann durchaus als Künstler bewertet werden. Am ehesten noch hält er die „Erzählung" für dem Geist seiner Zeit angemessen. Nirgends in der einschlägigen Sonder-Literatur begegnet man m. W. dem an sich naheliegenden Gedanken, daß P. Ernst nach alledem doch eigentlich das Epos im Rahmen der Neuklassik ganz groß hätte herausstellen und ihm eine eingehende Theorie hätte widmen müssen. Eine T h e o r i e des E p o s hat er n i c h t e n t w i c k e l t . Dieses Versäumnis ist um so bemerkenswerter, als P. Ernst im eigenen Kunstschaffen noch am ehesten durch sein Epos „ D a s K a i s e r b u c h " (1923—28) Dauergeltung erlangt hat. Man kann sich dem Eindruck nicht verschließen, als ob seine Theorie des Dramas und besonders der Tragödie manches von dem an sich gezogen und aufgesogen hat, was eigentlich einer Theorie des Epos zugekommen wäre (Albrecht Schaeffer stellt später beide zusammen). Überspitzt gesagt: das ganze theoretische und programmatische Bemühen um eine Neuklassik oder doch um eine n e u e „ K l a s s i z i t ä t " war von vornherein illusorisch und illusionistisch, weil — jedenfalls zur Zeit des aktuellen Einsatzes dieser Bestrebungen — das Kernstück des Epos herausgebrochen war aus der Angriffsfront gegen den Naturalismus und die Neuromantik. Auch die an sich anerkennenswerten Ansätze bei Samuel Lublinski ändern wenig daran. Die Renaissance-Poetik wußte, daß man den Rang des Epos nicht schmälern durfte. Und in der Klassik ließ W. v. Humboldt den ersten (und einzigen) seiner „Ästhetischen Versuche" über Goethes Epos „Hermann und Dorothea" handeln (vgl. Band III). Aber P. Ernst wird sich gar nicht bewußt, daß seine Vorliebe für eine Theorie der Novelle von einer neuen Klassik fortführen mußte, während eine eingehende Theorie des Epos zu ihr hätte hinführen können. Selbst dort, wo sich eine Klärung des Epos-Begriffs geradezu aufdrängte, wie etwa in dem Aufsatz „Die Nibelungen: Stoff, Epos und Drama" (in: ,.Weg zur Form") oder in dem Aufsatz „ V o n der Kälte des großen Kunstwerks" (in: „Ein Credo" I), wo das Eingehen auf die berichtende Objektivität und das Heroische erwartet werden könnte, weicht er einer präzisen Wesens-

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und Wirkungsbestimmung des Epos merklich aus. In solchen Fällen rächt sich ganz unverkennbar das einseitige (fast monomanische) Versammeln aller Größenwerte der Kunst und Kunsttechnik auf Drama und Novelle. Trotzdem muß es überraschen, daß Paul Ernst bei seiner starren Blickrichtung auf die Vorbild-Poetik der Antike das Epos derartig vernachlässigen konnte. Gewiß kann man von der kritischen Beanstandung der Prosaauflösung alter Epen (als unkünstlerisches Verfahren) mittelbar zurückschließen auf eine Hochschätzung des Epos, wie andererseits deutlich die Neigung besteht, das Epos irgendwie mit der Ballade in Fühlung zu bringen (genetische Wesensbestimmung). Aber zum mindesten das „mittelalterliche Epos" besitzt für P. Emst „eigentlich keine rechte Kunstform". Zu sehr überwiege darin die bloße Reihung von Abenteuern um einen Helden. Nur der Nibelungen-Dichter findet Gnade vor P. Ernst, der in ihm den „Konstrukteur" im Unterschied zum bloßen „Fabulierer" (W. v. Eschenbach) hervorhebt. An die Wirkungspoetik gewöhnt, läßt P. Ernst den Epiker „eine ruhige Wirkung erstreben". Homer wird anerkannt, aber als „Publikumsdichter" aufgefaßt gemäß dem Hinblick auf das ständige Wechselspiel von Kunstwerkschaffenden und Kunstwertaufnehmenden. Das mag genügen, um wenigstens andeutend die Stellung zum Epos zu umschreiben. Obwohl der Zusatztitel des „Weges zur Form" ausdrücklich die Novelle (neben der Tragödie) nennt, obwohl ein Sonderaufsatz „Zur Technik der Novelle" Stellung nimmt, obwohl dementsprechend in der Interpretation der Kunsttheorie P. Emsts die Novelle hervorgehoben zu werden pflegt, geht er mit seiner T h e o r i e der N o v e l l e kaum beträchtlich über das hinaus, was bis dahin über die Wirkungs- und Wesensform bereits von anderen, so von Goethe, Reinbeck, L. Tieck, W. H. Riehl, Paul Heyse, Th. Storm u. a. ausgesagt worden war. Was er z.B. in dem genannten, übrigens recht kurzen Aufsatz von 1901, damals an abseitiger Stelle (der „Lotse") erschienen, aber in den „Weg zur Form" aufgenommen, über jenen Novellentypus sagt, der von einem markanten Punkt aus das Schicksal und Wesen eines Charakters nach rückwärts und vorwärts beleuchtet und in dem dergestalt „ein ganzes Menschenschicksal, insofern es an Charakter und Umstände geknüpft ist", versammelt erscheint, stimmt weitgehend überein mit L. Tiecks Theorie vom „Wendepunkt". Als Paradigma für diesen

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Sondertypus greift P. Ernst — um Verwechslungen zu erleichtern ? — ausgerechnet ebenfalls wie P. Heyse auf eine italienische FalkenNovelle zurück. Aber es ist eine fast unbekannte Novelle von dem „alten Italiener" Giovanni Sercambi (14. Jahrhundert), nicht die bekannte von Boccaccio (P. Heyse). Dort will ein Ritter von dem „verlorenen Sohn" (des byzantinischen Kaisers), der im selbstverschuldeten Elend zerlumpt auftritt, einen Falken, den letzten wohlgepflegten Besitz des Verarmten, kaufen und schlägt dem verkannten und verelendeten Kaisersohn, als dieser im inneren Bewußtsein seines Standes dem Ritter als Geschenk das anbietet, was als Warenwert gefordert wird, den Falken ins Gesicht. Eben dadurch kommt der Kaisersohn zur Besinnung (Tiecks Wendepunkt), weiterhin aber auch durch die selbstkritische Prüfung als Nachfolger seines ausgesöhnt sterbenden Vaters. Auf den Kaiserthron erhoben, tritt er dem schicksalhaft ihm in seinem neuen Glanz begegnenden Ritter, der als Gesandter Genuas seinem Thron naht, nicht mit Rachegefühlen, sondern mit Dankbarkeit entgegen. Kurz, diese F a l k e n N o v e l l e des S e r c a m b i weicht wesentlich ab von der F a l k e n N o v e l l e des B o c c a c c i o , die Paul Heyse als Paradigma herangezogen hatte. Zunächst einmal deutet sie in der Tat mehr auf die Wendepunkttheorie von Tieck zurück als auf die Theorie P. Heyses von jenem „Spezifischen" der Novelle, das diesen einen Fall von vielen anderen abhebt und also zugleich das Eigentümliche als Merkmal der kunstgerechten Novelle erfüllt. Daß P. Ernst die Theorie, auch die sogenannte Falkentheorie von P. Heyse gekannt hat (im Gegensatz zu R. Musil), geht eindeutig hervor aus einem anderen Zeitungsaufsatz, dem „Schlußwort zur Judenbuche" (1904, ebenfalls aufgenommen in den „Weg zur Form" 1906). So ist es kein Wunder, wenn P. Ernst von seiner Falken-Novelle ebenfalls das Merkmal des Einzelfalles ableitet, der dennoch viele andere Möglichkeiten in sich birgt (novellistischer Einschlag im Verfremdungseffekt des epischen Theaters B. Brechts), also im Sinne Goethes das Allgemeine am Besonderen, das Abstrakte am Konkreten demonstriert und symbolisiert. Er benutzt aber die Gelegenheit aus seiner entwicklungsgeschichtlich veränderten Situation dazu, um gegen die bloße Häufung, die bloße Summierung von Einzelfällen des Naturalismus zu polemisieren. Vor allem jedoch und damit zusammenhängend leitet er von diesem Paradigma die N o t w e n d i g k e i t der A b s t r a k t i o n ab, die

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der Novelle ebenso eignet wie dem Hochstildrama der Tragödie. Und diese Abstraktion des Wesentlichen, des Typischen in der Zurückführung und Beschränkung der vielen Begleitmotive auf das eine Leitmotiv erfolgt sowohl hinsichtlich der Handlungsführung als der Personencharakteristik und ihrer Psychologie. Alles werde in der Novelle vereinfacht und vereinheitlicht und gleichsam auf einen Generalnenner gebracht. Das Vergleichsbild aus der Mathematik ist dabei nicht abseitig, weil P. Ernst auch in anderen Zusammenhängen das künstlerische Verfahren gern mit dem mathematischen Verfahren in Beziehung setzt. Er spricht in diesem Sinne nicht nur von einem „Vordergrundmotiv", sondern geradezu von einer künstlerischen oder doch kunsttechnischen „Stenographie". Das ist überhaupt und überall seiner Kunstweisheit letzter Schluß, daß die Aussparung des Konkreten in der Endkonsequenz zum Abstrakten führen muß. Es gilt dies vorzüglich von der Tragödie, aber auf etwas niedrigerer Stufe auch von der Novelle. Daß bei aller Annäherung von Tragödie und Novelle die Novelle dennoch als erzählende Form nicht gleichwertig ist, geht u. a. hervor aus der Vorrede zur zweiten Auflage des „Weges zur Form" von 1915, wo in den „Bemerkungen über mich selbst" (vgl. auch „Ein Credo") die Novelle wohl ebenso wie die „große" Tragödie „ z u r L e b e n s b e j a h u n g " h i n f ü h r e n soll, aber doch auf „andere Art und in einem niedrigen Gebiet der Seele". ZurZeit seines eigenen Novellenbandes „Die Prinzessin des Ostens" sei ihm das noch nicht klar gewesen. Dort wird der Wert der Novelle gemessen an ihrer Formgerechtigkeit: „Die Novelle gehört zur strengen Kunst und hat deshalb eine Form". Ebensogut könnte der Satz umgekehrt lauten; aber damit muß man sich bei dem unbeholfenen Stil, der P. Ernst eigen und z.T. von seiner Gewöhnung an die nationalökonomische Diktion abzuleiten ist, ein für allemal abfinden. Er sagt immer nur ungefähr das, was er eigentlich meint. Er schreibt den üblichen (bis aufregenden) Stil des „Ungefähren", der immer nur ungefähr das trifft, was er treffen will. Die Betonung der „Lebensbejahung" verrät wie andere Bekundungen, daß ihm die Novelle eines H. v. Kleist oder Fr. Hebbel nicht recht gemäß war. Kleist und dessen Nachfolger Hebbel, dem er im Drama und der Dramentheorie weitgehend verpflichtet bleibt, dürften ihm viel zu konkret erschienen sein, als daß er an ihnen seine These von der konzentrierenden Abstraktheit hätte dartun können. Denn er hält sich an den Leitsatz: „Wie das Drama

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eine abstrakte Kunstform ist, . . . so ist es auch die Novelle". Und wie beim Drama lagern sich auch bei der Novelle gewisse „Energien" um gewisse Zentren (..Punkte"), die anschaulich vergegenständlicht, aber eben doch auch abstrahierend und typisierend vergegenständlicht werden müssen, damit sich jene geballten Energien „lösen" können (Übertragung des neueren Katharsisbegriffs Bemays' auf die Novelle). Die Nähe zum Drama (Tragödie) wird weiterhin dadurch betont, daß die gegenseitige Bestimmtheit und Verknüpfung von Schicksal und Charakter beiden Dichtungsarten zugesprochen wird, wie denn endlich und vor allem die „klassische" Novelle ebenso wie die „klassische" Tragödie Weltanschauungsdichtung darbietet, während die Verwandtschaft der Novelle mit dem Roman als erzählende Dichtung nur als ein Zufälliges entwertet wird. Das Notwendige der „Notwendigkeit" haben nur Tragödie und Novelle gemein. Sieht man genauer zu, so rangiert die Novelle doch mehr in dem Gleis der „Zwitterform des Schauspiels", das als modernes Schauspiel Novellistisches dramatisiert (Shakespeare), Ansatz zur Bestimmung des „Schauspiels"), Selbst C.F. Meyers „Versuchung des Pescara" ist eben doch nicht mit Schillers „Wallenstein" gleichzusetzen. Wohl aber bestätigt die genannte Novelle C. F. Meyers (P. Ernst zieht übrigens Prosper M6rimee in Erwägung), die nur scheinbar romanhaft ausgeweitet wird, das „Charakteristische der Novelle als abstrahierende und konzentrierende Kunstform". Bei alledem manifestiert und konstituiert sich in diesem Novellentypus, der alles um die „entscheidende Schicksalsstunde" herumlagert (Schicksalsnovelle) und dergestalt aus der Besonderheit das Allgemeine entwickelt und in ihm widerspiegelt (vgl. Symbolbegriff Goethes, vgl. Band III), der Haupttypus und die „vornehmste" Art der Novelle schlechthin. Kritisch gesehen und gesagt, L. Tieck und P. Heyse werden kombiniert, um eine vermeintlich eigene Novellen-Definition darbieten zu können. Nur daß der Abstraktionsbegriff und die Schicksalsvorstellung von der Dramen-Theorie her den Eindruck eines Eigengepräges der Novellen-Theorie fördern müssen, um über die mehr genutzten als genannten Gewährsmänner notdürftig (bis dürftig) hinauszugelangen. Eine zweite Sonderform zweitrangiger Geltung stellt den Begriff der „Eigentümlicl keit" in Auswertung der Bezeichnung Novelle (das Neuartige, Sensationelle, Aufsehenerregende, Aparte usw.) heraus (Goethe, aber auch P. Heyse). In diesem Bezirk dole

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minieren für P. Ernst die Schwankmotive und Anekdotenmotive durchweg komischer Art, so daß er hier einen Bezug zum Lustspiel (wie dort zum Schauspiel) herstellen kann. Bei dieser Gelegenheit fällt über das rein Gattungstypologische hinaus die allgemeine Beobachtung ab, daß die „gesamte Komik leicht veraltet". Eine dritte Sonderform, die mehr als historisches Rudiment mitgenommen wird, glaubt P. Ernst vom Aphorismus und Epigramm oder, wie er selber es ausdrückt, von der „geistreichen Antwort" (vgl. Lessing) ableiten zu sollen, wobei die Novelle als leicht überschaubares und zu beherrschendes Entfaltungsfeld einer frühen Stilpflege gilt. Ähnlich wie Lessings Epigramm-Abhandlung von der „Aufschrift" ausgeht und wieder auf die überraschende und konzentrierende Aufschrift zugeht, berücksichtigt diese Seite der Novellen-Technik die sprachlich-stilistische Kernund Keimzelle des Ursprünglich- und Urtümlich-Novellistischen. Das neue Wort wird dabei vorformend und stellvertretend für das neue Motiv. In der zeitlichen Entwicklungsabfolge ergibt sich also eine umgekehrte Reihe wie in der Rangstufe: man ging zunächst von der sprachlichen Wendung aus, um schließlich zum weltanschaulichen Wendepunkt schicksalhaltiger Art zu gelangen, so daß die Wortdichtung zur „Weltanschauungsdichtung" werden konnte. Die Begegnung beider Extreme erfolgt auf der Mittelstufe des Neuartig-Eigentümlichen. Diese Deutung greift allerdings schon etwas über die Konzeption bei P. Ernst hinaus im Bemühen, sie fruchtbarer zu machen, als sie an sich ist. Aber entsprechende Ansätze sind fraglos gegeben, wie denn überhaupt die zwanglos verbundenen Aufsätze sowohl im „Weg zur Form" wie im „Credo" mehr anregend als abschließend wirken und wirken wollen. Immerhin bleibt anzuerkennen, daß P. Emst mannigfache Vorformen und Begleitformen der Novelle bemüht, wie etwa Anekdote, Märchen und Arabeske (deren Bedeutung für Goethe und die Romantik freilich P. Ernst nicht vertraut ist; vgl. Band III), um durch Zusammensetzung oder Entgegensetzung das Besondere der Novelle als solcher herauszuarbeiten. Im weiteren Umkreis wären heranzuziehen die Einzelaufsätze „Georg Rodenbach" (DeutschFranzose) und „Die Entwicklung eines Novellenmotivs" (1904) sowie das schon erwähnte „Schlußwort zur Judenbuche" (1904), sämtlich im „Weg zur Form") weiterhin der „Ibsen"-Aufsatz (Credo I), wo die Fabel der „Nora" als „novellistisch" bezeichnet

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und von dort aus verallgemeinernd für den Novellenstoff ein „irrationales Element" gefordert wird, eine „Überraschung" mit Steigerungsmöglichkeit zum „Märchenhaften". Bei dieser Gelegenheit wird die zeitweise doch merklich (und trotz aller Neuklassik) romantisch gesehene Novelle scharf abgehoben von der rational auf eine „eherne Notwendigkeit" eingestellte Dramatik, die sich dem „mathematischen Exempel" angleicht. Erinnert sei daran, daß P. Ernst im eigenen Kunstschaffen neben dem Drama vorzugsweise die Novelle in Pflege genommen hat, während die Lyrik in Theorie und Praxis völlig zurücktritt. Persönliche Bekundungen zu dieser eigenen Novellenproduktion bestätigen, daß ihm die Novelle als abgeschwächte Spielart, verglichen mit dem Drama, als „leichter" erschien gemäß ihrer geringeren Rangstufe, die aber auch in der Theorie dem Roman immer noch weit überlegen bleibt. Auffallen muß und Hervorhebung verdient, daß er, obwohl er den naturalistischen Umweltroman und dessen Möglichkeiten erstaunlich klar erkennt, dennoch nicht die naheliegende Folgerung zieht, daß der Roman vor allem Weltanschauungs- und Bildungsroman sein könne und müsse, sondern daß er aus seinem Vorurteil gegen den Roman als „Halbkunst" heraus die Ehrenbezeichnung „Weltanschauungsdichtung" ausschließlich der Tragödie (Hochform des Dramas) und der Novelle vorbehält. Das Wesentliche über die Theorie des neuklassischen Hochstildramas ist schon oben ausgeführt oder doch eingeflochten worden. Zudem besteht hierüber eine aufschlußreiche Sonderforschung, ganz abgesehen von den umfangreichen Darlegungen und Zitaten bei Albert Soergel, die jedermann leicht zugänglich sind. Manches konnte auch in die unten versuchte kritische Zusammenfassung einbezogen werden. Man kann nämlich nicht ohne Zwang und Pressung die neuklassische Dramentheorie von der allgemeinen Poetik der Neuklassik trennen, die gerade bei P.Ernst, weitgehend indessen auch bei W. v. Scholz, völlig um die Konzeption und Konstruktion des Tragisch-Heroischen kreist. Ebenso erfolgt die Ansicht und Sicht des Naturalismus ganz vom Blickwinkel einer heroischen Tragik und eines tragischen Heroismus aus. Das besagt: hinter der gesamten Kunsttheorie steht als organisierendes Prinzip und regulierendes Wertkriterium die Frage, ob noch eine heroische Tragödie möglich sei und wie sie nach Bejahung dieser Möglichkeit zu verwirklichen sei. Zugleich fällt sehr bald auf, was sich dann immer wiederholt, daß ie*

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selbst noch dieses höchste Ideal des Tragisch-Heroischen umschränkt bleibt, z.T. auch beengt erscheint von dem Typus der Wirkungspoetik. Menschen „wollen e r s c h ü t t e r t " werden, das ist der Ansatz, nicht der spontane Gestaltungsdrang des Tragikers. Im Grunde ist das nationalökonomisch überformt; die „menschliche Bedürftigkeit", von der so oft die Rede ist, hat Bedarf nach Erschütterungen und Entladungen von Spannungen (Einfluß Bernays'). Und diesen Bedarf, diese ästhetisch-ethische Nachfrage hat die Produktion von Tragödien zu befriedigen. Dabei ist die Leistung des Produzierenden für P. Ernst erstaunlich (bis erschreckend) beschränkt auf eine geschickte Stoffwahl und Motivauslese von gattungstypologischer Brauchbarkeit sowie auf das Beherrschen der Strukturgesetze und der Sittengesetze. Der Relativität der Moral (Naturalismus und z.T. Neuromantik) wird die absolute Gültigkeit der Sittlichkeit entgegengesetzt. Aber diese so verherrlichte „Sittlichkeit" ist merklich (bis merkwürdig) auf Herrenmenschen zugeschnitten. Der Held steht am Kreuzungspunkt zweier Schicksalsmächte, zweier sittlicher Forderungen. Er ist also nicht nur Träger eines Programms nach Art der einen sittlichen Forderung Henrik Ibsens, sondern E r t r a g e n d e r des K o n f l i k t s e b e n b ü r t i g e r W e r t e und Wertforderungen (Sophokles' „Antigone"). Die einzig kunstwertige und menschenwürdige, die schlechthin „vollkommene Fassung des tragischen Problems" liegt in der Form, „welche die Griechen gefunden haben", und zwar vor allem Sophokles, während bei Euripides Kompromisse mit dem sittlichen Relativismus als Eintrübungen der reinen Grundform zu bedauern sind. Aristoteles verfällt dann schon der untragischen Schuld-Sühne-Forderung. P. Ernst will also ebenso wie später Bertolt Brecht freikommen vom Aristotelischen Theater, nur in anderer Richtung, letztlich nicht in der Richtung von Karl Marx, von dem er zeitweise ausgegangen war, sondern in der Richtung von Fr. Nietzsche. Darüber kann auch der Hinweis auf den tiefer liegenden Konflikt von „Bedürftigkeit" und immer weiter vollzogener „Integration" nicht hinwegtäuschen, wie denn „Wirtschaft" als modernes Schicksal oder Naturgesetz (Vererbung, Milieu) als modernes Schicksal abgelehnt werden. Vielmehr kann das Schicksalhaltige nur im Allgemein-Menschlichen verborgen und verbürgt sein und daher auch nur an ihm offenbart werden, und dies wiederum auch nur dann, wenn das Rationale der konsequenten Notwendigkeit

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in der Tragödie in sich einen Bezug birgt und einen Hinweis bietet auf ein Irrationales. Gewisse Ideen Piatos scheinen sich mit religiösen Vorstellungen zu mischen, vielleicht unter mittelbaren Eindrücken der Lehre Fichtes oder Schellings. Jedenfalls spricht P. Ernst dort, wo er in letzter Verlegenheit ist um eine klare Definition und vertiefte Deutung gern vom „transcendenten Ich" (transzendentalen?). Es sei daran erinnert, daß P. Ernst in seiner Frühzeit den Neukantianismus durchlaufen hat. Der „Wille zur Integration" kann sozusagen nur dem Guten zugute kommen. Und indem die Tragödie andererseits dem „menschlichen Bedürfnis" zu Hilfe kommt oder doch Raum gibt, ist die Tragödie ihrem Inhalt und ihrer Funktion nach durchaus sittlich. Ja, sie stellt die höchste Fassung und Formung der Sittlichkeit dar, die in der Kunst überhaupt erreichbar ist. Daher ist die Aufnahmefunktion kein bloßes Genießen, sondern ein ernstes und anstrengendes Ringen. Es leuchtet ein, daß nicht ein Durchschnittsmensch zu solchen ästhetisch-ethischen Anstrengungen gewillt und zu derartigen Auftrieben und Aufschwüngen geeignet sein kann, wie denn der Durchschnittsmensch und vollends der verelendete Proletarier wohl als Zentralgestalt im hohen Drama gelegentlich geduldet werden darf, aber wenig erwünscht ist. P. Ernst kommt nicht auf die Formel Fr. Hölderlins, daß man nicht nur in die Tiefe fallen könne, sondern auch in die Höhe. Er bleibt vielmehr im ganzen stehen bei der Theorie von der „Fallhöhe" Schopenhauers, die entsprechend modifiziert bei Fr. Hebbel im Vorwort zur „Maria Magdalene" wiederkehrt. Kein Wunder, wenn er mit Fr. Nietzsche, den er spätestens seit 1900 eingehender kennt, gleichsam in die Höhe gefallen ist und den Boden unter den Füßen verloren hat. Er verwirft das naturwissenschaftliche Experiment, um bei dem „mathematischen Exempel" zu landen. Er verwirft für das Lichtvolle des Dramas das Geheimnisvolle des Romans, der dort mit Überraschung arbeiten dürfe, wo das hohe Drama auf zwingende Überzeugung abzielen muß. Das Hochstildrama ist auf die geradlinige Handlungsführung angewiesen und verschmäht den ausschmükkenden Schnörkel des Virtuosentums. Zeitweise möchte P. Ernst das Hochstildrama auf die Prävalenz der Handlung zurückführen. Aber ganz wohl fühlt er sich nicht bei dem Abschieben des Charakters in die Komödie. Dennoch ist für ihn nicht eine Konkurrenz der Zentralgestalten, also der Träger der Haupthandlung entscheidend für die „klassische" Tragödie, sondern die Konkurrenz

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der Pflichten und die Divergenz und Diskrepanz mehrerer (mindestens zweier) sittlicher Notwendigkeiten. So mancherlei er über die Notwendigkeit der Handlung auch ausführt, er kommt nicht auf den naheliegenden, freilich kaum jemals in der Dramentheorie ausgesprochenen Gedanken, daß im S c h i c k s a l h a f t e n (und seinen Symbolen: Orakel usw.) v o m k l a s s i s c h e n D r a m a der T y p u s der N o t w e n d i g k e i t e r s t r e b t w i r d im B e r e i c h der H a n d l u n g s s t r u k t u r , wie die R e d u z i e r u n g u n d K o n z e n t r i e r u n g auf die t y p i s c h e G e s t a l t e r s t r e b t w i r d im B e r e i c h der C h a r a k t e r z e i c h n u n g . Das bestätigt, daß P. Ernst bei aller Besessenheit von einer Idee den Gedanken nicht zu Ende zu denken vermag oder es doch scheut, ihn bis in die letzte Konsequenz hinein zu verfolgen. Freilich hatte auch die Kunsttheorie der Klassik für die dramatische Handlung nicht den Schluß gezogen, ebenfalls für die Handlung (und nicht nur für die Charaktere) die großlinige V e r e i n f a c h u n g auf d a s T y p i s c h e zu verlangen und von dieser Position aus etwa die Verwendung von Orakel, schicksalhaltigem Traum, Sternenglauben usw. zu rechtfertigen. Darauf konnte andernorts hingewiesen werden (Band III). Aber im 18. Jahrhundert ist dieses Versäumnis zu verstehen, weil damals alle Hoffnung der Vervollkommnung sich im wesentlichen auf die Charakter-Erziehung und Persönlichkeits-Ausbildung eingerichtet hatte. Zur Zeit P. Emsts darf jedoch beanstandet werden, daß er sich hinter den verblasenen und künstlerisch leicht irreführenden Begriff des „Abstrakten" flüchtet, statt für die Handlung ebensowohl wie für die Charakteristik das Typische anzusetzen und anzuempfehlen. In diesem Betracht hätte er vielleicht von Otto Ludwig mehr lernen können als von Friedrich Hebbel. Jetzt aber verrennt er sich in die Ausweglosigkeit des „Weges zur Form" und das Unglaubwürdige des „Credo", daß die Kausalität (des Naturalismus) überwunden werden könne von einer m o r a l i n f r e i e n M o r a l i t ä t , daß man in Dichtungsdingen more geometrico verfahren dürfe, daß sich Handlung und Held durch Abstraktion zur Konzentration bringen lassen und daß sich eine Reinkultur des Tragisch-Heroischen auf dem mageren Boden resoluter (bis robuster) Abstraktion entfalten ließe. So kann es kommen, daß die beiläufig berührte T h e o r i e der K o m ö d i e , weil sie entlasteter geblieben ist von der tragischheroischen Überanstrengung und weil sie die Diskrepanz von Kausalität und Moralität nicht polemisch ausscheidet, sondern

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produktiv einbezieht, mehr Fruchtbares bietet, als P. Ernst selber für sie beansprucht. Denn in diesem Bezirk verleitet das schöpferische Vorziehen (des Tragisch-Heroischen neuklassischer Prägung) nicht zu einem Verschmähen fördernder Anknüpfungsmöglichkeiten an die positiven Errungenschaften des Realismus und Naturalismus. Hier wird P. Emst eher seiner besonnenen Forderung gerecht: „Wir müssen über den Naturalismus hinaus, selbstverständlich so, daß wir seine Errungenschaften beibehalten". Zwar möchte er den Naturalismus am liebsten ganz auf das Lustspiel einschränken („Zwei Selbstanzeigen" im „Weg zur Form"), und damit dürfte es zusammenhängen, wenn er z.B. Ibsens Lustspiel „Der Bund der Jugend" einen längeren Dauerwert verheißt als dessen „Nora", weil Ibsen hier ganz in „der reinen Kunst lebt", oder wenn er eine Transponierung der „Wildente" in die Komödienform vorschlägt und davon die wahrhaft große Komödienform erwartet. Die bevorzugte Zeit für die Komödie ist die Gegenwart — das hatte schon W. H. Riehl erkannt —, das bevorzugte Lebensgebiet und Motiv ist das Konventionelle, das in seiner Art für die Gesellschaft ebenso unentbehrlich ist wie die hohe Sittlichkeit. P. Ernst berührt hier die Stufung Sitte—Sittlichkeit, ohne sich indessen recht klar darüber zu werden („Ibsen"-Aufsatz und Kritik über Ibsens „Komödie der Liebe" in „Ein Credo" I). Eine der Möglichkeiten für den wirksamen Einsatz der Komik sieht er etwa bei echten Philistern als Trägern des Konventionellen in der „Prätention höherer Menschlichkeit". Er kennt auch den Vorzug eines „tragischen Untertons" für das anspruchsvollere und wertvollere Lustspiel, den er freilich wohl aus Ibsens „Komödie der Liebe", die er an sich nicht sehr hoch stellt, seltsamerweise aber nicht aus Lessings „Minna von Barnhelm" heraushört, obwohl er darin mit echter Wärme das Meister- und Musterlustspiel verehrt. Nebenbei sei vermerkt: Lessing wird jetzt als Vorbildpoetik anerkannt, weil in „Minna" und „Emilia Galotti" die grundlegenden „Gesetze der dramatischen Form . . . mit unfehlbarer Sicherheit erfüllt sind". Insofern wäre also „Ein Credo" weniger eingeschränkt auf die Vorbilddramaturgie des Sophokles als der „Weg zur Form". Nun hatte jedoch P. Ernst im „Weg zur Form" aus größerer Zeitnähe des Naturalismus heraus eine Entwicklungsmöglichkeit der Komödie wohlwollend ins Auge gefaßt, die immerhin eine Erwähnung verdient, ohne sie bislang hinreichend gefunden zu haben. Dort geht er von der Einsicht aus, daß eine

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„große Komödie sehr wohl im niedrigen Stil möglich" sei, daß darin das „charakteristische Detail" nicht nur erlaubt, sondern erforderlich sei, um zu der Ansicht vorzustoßen, daß es gelingen müsse, gleichsam ein „wirklich p o s i t i v H ä ß l i c h e s zu schaffen", das durch den Konflikt mit der idealen „Gottähnlichkeit" die Voraussetzung für die „große Komödie" bieten könne. Der Naturalismus hätte dann und dergestalt wenigstens „auf Umwegen" das Verdienst, eine hochwertige Sonderform des Dramas herausgebildet zu haben. Hauptmanns „Biberpelz" wird indessen in diesem Zusammenhang noch nicht berücksichtigt, was sich aus der Entstehungszeit des betreffenden Aufsatzes (1898) nicht rechtfertigt. Auch die Rezension der „Minna" (Credo I) bezieht wohl Kleists „Zerbrochenen K r u g " und G. Freytags „Journalisten", nicht aber den „Biberpelz" ein, obwohl darin weitgehend jene Theorie inzwischen verwirklicht worden war. Woher kommt es, daß P. Ernst jeder sinnvollen Einordnung sich widersetzt ? Es ist einmal daraus zu erklären, daß er, von der Theologie ausgehend — wie vorauszusehen —, doch zuletzt wieder bei der Religion endet und daß er, von der Nationalökonomie einmal eingefangen, sich — wie ebenfalls vorauszusehen — von dem ökonomischen Denken und Deuten (Deuten auch der Dichtkunst) nicht wirksam zu lösen vermag. Dem schärferen Blick wird nirgends die A b h ä n g i g k e i t v o n d e r T h e o l o g i e e i n e r s e i t s u n d d e r N a t i o n a l ö k o n o m i e a n d e r e r s e i t s entgehen. Welche Mächte P. Ernst auf seinem (auch stilistisch) unförmlichen Weg zur (abstrakten bis abstrusen) Form auch immer zu Hilfe rufen mochte, er verfällt machtlos seinen alten Lieben, bis er im „Credo" einen Glaubensanspruch erhebt, den ihm niemand mehr glaubt. Nachdem er die Tragödie ganz ins Ethische verlagert zu haben scheint, freilich ins Jenseits von gut und böse, nachdem er den Übermenschen, antikisierender Form sich nähernd, zur Geltung gebracht hat in Abkehr von allen Bindungen an die Bedingtheit der Alltäglichkeit und von allen Verpflichtungen gegenüber den Allzuvielen, nachdem er den „hohen" Menschen über die Notdurft des Durchschnitts emporgesteigert hat, nachdem er immer erneut den „ K a m p f der Menschen mit dem Schicksal" als den „größten Vorwurf" (Sujet) für den dramatischen Tragiker hingestellt hat, überrascht plötzlich wieder im „Credo" (1,1912) das Ergebnis: „für das Drama der modernen Zivilisation muß im Vordergrund der Konflikt im Menschen zwischen seiner menschlichen Betätigung

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und seiner gesellschaftlichen Funktion stehen"; denn es sei schlechthin keine menschliche Betätigung denkbar, „die nicht auch gesellschaftliche Bedeutung hätte". Und nachdem er das Christentum mit Hilfe Nietzsches — denn allein fehlt ihm der Mut und die Macht — trotz oder wegen aller Nationalökonomie in Grund und Boden gewirtschaftet hat, nachdem er die vermeintliche Flaute im Schicksalssturm der Tragik auf die christliche Moralbindung zurückgeführt hat, nachdem er mit peinlich wohlwollender Schonung Schillers die Schuld- und Sühne-Konstellation und Kombination für alle untragischen Halbheiten des neueren Dramas verantwortlich gemacht hat, nachdem er z.B. im Sonderfall der Novelle den Einbruch der spanischen religiösen Moralknechtschaft für das Abgleiten der italienischen Novelle verantwortlich gemacht hat: nach alledem rettet er sich schließlich, merklich erschöpft von diesen Überanstrengungen, in den Trost (und die Binsenweisheit), daß Theologie eben doch nicht Religion sei und Religion doch wieder weit höher stehe als selbst die höchste Ethik des höchsten Menschen. Kurz, die religiöse Ausgangsstellung endet nach vielen Irrungen und Wirrungen, Keckheiten und Kühnheiten doch wieder bei der religiösen Auffangsstellung. Mit kargen Worten: nachdem P. Ernst sich (und uns) viel Mühe gemacht hat, mündet sein Weg zur Form doch wieder ein in den Weg zur Norm, zur politischen und kulturpolitischen Norm und zur religiösen Norm. Nach allen Einsichten und Aussichten endet er aber auch kunsttheoretisch beim Normenhaften, ohne das Typische zu erreichen, beim Kunsttechnischen, ohne sich das Wesen der Kunst zu gewinnen, beim Bewahren der als wesentlich erkannten Form ohne wirkliches Gewahrwerden der wesentlichen Form (Goethe), beim Klassizismus und nicht — wie er sich und andere glauben machen möchte — bei der echten „Klassizität". Er verfällt in das Paradoxe, weil er dem „Paradigma" zu willig vertraut, dem Paradigma, das er bei anderen Künstlern feststellen und im eigenen Kunstschaffen (Modelldichtung) herausstellen zu können glaubt. Und während er sich als verkanntes Schöpfer-Genie fühlt, verfällt er völlig einer bloßen Wirkungspoetik. Er ist schnell bei der Hand, dort von Dilettantismus zu sprechen (selbst bei Annette von Droste-Hülshoff, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Strassburg), wo der Wille zur konstruktiven Gestaltungsabsicht fehlt oder wo er ihn doch zu vermissen meint. Und er vergißt ganz,

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daß Goethe und Schiller das Hauptmerkmal des Dilettanten (im guten Sinne) darin gesehen hatten, daß der Schaffende ganz von der erlittenen (Vorbild-)Wirkung ausgeht und ganz auf eine bewußt erstrebte Wirkung zugeht. S e i n e „ N e u k l a s s i k " w a r g a n z e i n g e s t e l l t auf den W i l l e n z u r W i r k u n g , w ä h r e n d die K l a s s i k g a n z h i n g e r i c h t e t w a r auf den W i l l e n z u m W e r k (vgl. Band III). Der Kreis um Stefan George war darin, auch in seiner Theorie, weit neuklassischer. P. Ernst dilettierte praktisch und hausierte theoretisch mit „Klassizität", ohne darin zu leben. Er stellte das Konstruktive so hoch, weil er selber sich durch ein bloßes Rekonstruieren erhöhen wollte. Er erhob den Anspruch, die Klassik zu überbieten, und blieb doch bei einer bloßen Überholung und vermeintlichen Wiederholung stehen, bei einer Erneuerung, die kaum wirklich und wesentlich Neues zu bieten vermochte. Und so endete die klassische Erhebung zuletzt bei einer Überheblichkeit, die ζ. B. in der Vorrede zu der zweiten Auflage des „Weges zur Form" (1915) von der „sentimentalen Trivialität" Gerhart Hauptmanns oder dem „Gartenlaubendilettanten aus unverdauter Lektüre" Herbert Eulenberg sprechen zu dürfen glaubt. Wer so streng zu messen meint, muß sich ein strenges Maß gefallen lassen. Und zwar vor allem deshalb, weil sein Kunstwollen nicht rein ausgeprägt erscheint, sondern von vornherein eingetrübt wird durch sein Kunstkönnen. Man gev/;nnt nämlich den Eindruck, daß P. Ernst nur das nicht will, was er nicht kann. Er flieht das Konkrete, weil er auf das Abstrakte angewiesen bleibt. Er verwirft das Sinnenhafte, weil er es nicht zu gestalten vermag. Er baut vor und beugt vor, um als Künstler nicht zu versagen. Die Kunsttheorie wird zur Entschuldigung für ein unzulängliches Kunstvermögen. Oder wie schon R. Faesi es ausdrückt: „Emsts Theorien entspringen ebensosehr seinen Unfähigkeiten wie seinen Fähigkeiten; er macht häufig aus der Not eine Tugend". Er verwirft das Sinnenhaft-Gestalthafte, weil er fühlt, daß es ihm verschlossen ist. Seine Theorie versagt anderen das, was er selber nicht vermag. Seine Kunsttheorie ist dergestalt nichts weiter als eine Reduktion auf die Grenzen seiner eigenen Produktion. Er will nicht anders, weil er nicht anders kann. Kurz, sein Kunstwollen ist von vornherein zugeschnitten auf sein eigenes Kunstkönnen. Das aber bedeutet: sein Kunstkönnen sucht von vornherein Deckung hinter einem Kunstwollen, das eben das verneint, was ihm versagt ist.

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Das, was ihm nicht glückt im gestaltenden Gelingen, hat auch prinzipiell keine Geltung. So gesehen, mißbraucht er den Kredit des Kunstwollens, um für seine Kunstleistung Kapital zu schlagen aus persönlichen Schwächen, die er als prinzipielle Stärken ausgibt. Er kann nicht sinnenhaft formen: folglich ist das verboten. Er kann nicht phantasiereich ausschmücken: folglich ist das ein Mangel. Er kann nicht prägnant formulieren, folglich ist das eine poetische Schwäche. Er kann nicht das Gemüt ansprechen, folglich soll das Gemüt außer Rechnung stehen, um das Abstrakte dem Geist rein zu vermitteln usw. Während Paul Ernst bei allem Streben nach reiner Kunst niemals restlos von den Bindungen an die Theologie einerseits und die Nationalökonomie andererseits freikommt, kehrt W i l h e l m v o n S c h o l z (geb. 1874) immer wieder zum Wechselspiel von Philosophie und Mystizismus zurück. So bleibt sein auf der Bühne noch relativ lebendiges späteres Drama „Der Wettlauf mit dem Schatten" (1924) bei aller entwicklungsmäßig bedingten Abstufung dennoch im Kern verwandt mit seinem symbolistischen Erstlingsdrama „Der Gast" (1900), wie denn schon das zweite veröffentlichte Drama „Der Besiegte" Fragen des Okkultismus behandelte, die letztlich für W. v. Scholz weit charakteristischer bleiben sollten als seine vielberufene Anpassung an die neuklassischen Bestrebungen. Dagegen möchte er die „reine" Kunst freihalten von allen Bindungen an bloße Dogmen, ob es sich nun um ein kirchliches Dogma, ein politisches Dogma oder ein wissenschaftliches Dogma handeln mag. Dabei liegt der Akzent jedoch jedesmal auf dem „Dogma", nicht auf den wechselnden Attributen, nicht auf den jeweiligen weltanschaulichen Ausprägungsformen. Aber die reine Kunst verengt sich ihm auch nicht einfach zum l'art pour l'art-Standpunkt, wie er selber rückblickend in „Mein Leben" nicht ohne Genugtuung betont hat. Anfangs scheint er der Neuromantik sich zuzuwenden, jedenfalls dem Symbolismus (Einfluß Maeterlincks). Das lag nahe für einen Dichter, der fast ein Jahrzehnt jünger war als Paul Ernst. Damit hängt zusammen — was die Sonderforschung richtig erkannt hat —, daß seine Kunsttheorie weniger durchsetzt blieb von jener laufenden Polemik gegen den Naturalismus und dessen weltanschauliche Triebkräfte, wie das bei P. Ernst der Fall war. P. Ernst stieß mit seiner Opposition mitten in die erste Hauptwelle des Naturalismus hinein und bedurfte eines entsprechenden Kraftaufwandes. Als der junge

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W. v. Scholz im urteilsreifen oder doch für literarische und literaturprogrammatische Gedanken aufnahmefähigen Alter stand, war die erste Sturzwoge des konsequenten Realismus bereits im Abebben. Der Umstand, daß W. v. Scholz seine „Gedanken zum Drama" (als Buch 1905) bereits ein Jahr früher herausbrachte als P. Ernst den „Weg zur Form", darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einzelnen Aufsätze, die P. Ernst in jenem Bande vereinigte, bereits (etwa im Jahrzehnt vorher) in Sonderzeitschriften und Zeitungen erschienen waren, während bei dem weit jüngeren W. v. Scholz einige Einzelbeiträge wie „Neue Gedanken zum Drama" oder „Kunst und Notwendigkeit, vier Thesen" ebenfalls erst 1905 erschienen sind, also auch mit der ersten Einwirkung auf die kunsttheoretische Entwicklung anders als bei P. Ernst nicht zeitlich zurückreichen. P. Ernst hatte schon literaturprogrammatisch über ein Jahrzehnt lang eingewirkt, als W. v. Scholz zu wirken begann. Eine Fortsetzung erfuhr W. v. Scholz' kunsttheoretische Hauptschrift erst in den „Gedanken zum Drama, neue Folge" (1915). Für die Neuklassik blieb jedoch die Schrift von 1905 wesentlich. Ihr zeitlich benachbart steht keinesfalls zufällig eine „Hebbel"-Monographie Scholz' (1906) bzw. die Schrift „Hebbel, das Drama an der Wende derZeit" (1905). Zeitparallel liegen im dramatischen Kunstschaffen die Tragödien „Der Jude von Konstanz" (1905) und „Meroe" (1906) gleichsam als Paradigmen der Kunstforderung. Das gilt vor allem vom „Meroe"-Drama. Denn der „Jude von Konstanz" manifestiert erst einen Übergang zur gültigen Verwirklichung des Kunstwollens, ähnlich wie dies bei P. Ernst von dessen „Demetrios"-Drama (1905) gesagt werden kann, das übrigens ausdrücklich als Freundesgabe W. v. Scholz gewidmet worden war. Der zeitliche Vorsprung P. Emsts mußte hervorgehoben werden, weil W. v. Scholz an sich der begabtere Kunsttheoretiker sein dürfte und daher rein denkerisch sich eindrucksvoller durchsetzt und rein wertmäßig leicht das Übergewicht gewinnt. P. Ernst ist auf die Kunsterziehung gerichtet, W. v. Scholz auf die Kunsterkenntnis. P. Ernst geht von sozialen Kriterien aus, W. v. Scholz von ästhetischen und philosophischen Gesichtspunkten. P. Ernst hat den praktischen Zweck im Auge, W. v. Scholz den theoretischen Gewinn. P. Ernst stutzt die Dinge zurecht, W. v. Scholz denkt die Gedanken zu Ende, die P. Ernst dort abbiegt, wo er den praktischen Zweck anknüpfen kann. P. Ernst neigt zum Dogma,

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während W. v. Scholz es verwirft. W. v. Scholz ist im Grunde seines Wesens dem bohrenden Problematiker und „Gestaltdenker" Fr. Hebbel verwandter, als es P. Ernst je gewesen war. Das schließt keineswegs aus, daß W. v. Scholz ebenso über Fr. Hebbel hinauszugelangen trachtete wie P. Ernst, obwohl in anderer Sicht und Hinsicht. Für W. v. Scholz z.B. stellt das Drama nicht den „Lebensprozeß" dar, genauer: nicht nur (Hebbel), sondern letztlich den dialektisch gebundenen Denkprozeß des menschlichen Geistes überhaupt als ein an die Antithetik gebundenes und ihr gleichsam immer neu entwundenes „Urphänomen" (vgl. auch G. Hauptmann). Daher kann W. v. Scholz auch in seiner ausgesprochen neuklassischen Epoche das hohe Drama nicht so ausschließlich auf die Vorbild-Poetik der Antike verweisen, wie das P. Ernst getan hatte. Vielmehr macht er gegen dieses Axiom frühzeitig kritische Bedenken geltend, weil ihm das Tragische als überzeitlich nicht auf bestimmte Epochen beschränkt zu sein scheint. Entscheidend ist vielmehr die M a n i f e s t a t i o n u n d Demons t r a t i o n des Willens, der mit einem anderen Willen zusammenstößt. Wie der Wille ist auch sein Gegensatz als Widerwille dennoch auf den Kampf „Wille gegen Wille" eingestellt. Darin liegt zuletzt und zutiefst der Grund des Tragischen, daß der Wille immer seinen Wider-Willen mit sich führt und so den Zustand der Widerstände heraufbeschwört. Wille und Wider-Wille, Zustand und Widerstand sind Notwendigkeiten, die das vermeintlich „Zufällige" nicht ausschließen, sondern in sich einschließen. Auf das Notwendige ist das Denken und Deuten und Dichten bei W. v. Scholz noch weit intensiver und instruktiver gerichtet als bei P. Ernst. Und man dürfte schwerlich zu viel hineininterpretieren, wenn man diesen Primat des Willens auf Arthur Schopenhauers Konzeption des Urwillens zurückführt, so daß jenes „Urphänomen" der Denkart eng verbunden wäre mit dem „Urwillen" der Erlebnisweise. Es darf in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß sich W. v. Scholz gelegentlich ausdrücklich auf die „Parerga und Paralipomena" von Schopenhauer bezieht. Beide bergen im Grundsatz auch zugleich den prinzipiellen Gegensatz in sich, sind also dramatisch triebkräftig. Aber der dunkle und dumpfe Zwang des Urwillens Schopenhauers wird nun klassizistisch „aufgeklärt" zu einer bewußten Bejahung des „Zwanges" zur Notwendigkeit, der insofern „Freiheit" in sich enthält, als er eine Gegenwehr, ein „Sichwehren gegen das Willkürliche" bedeutet.

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DAS WEGSUCHEN ZWISCHEN NEUKLASSIK UND NEUROMANTIK

Willensfreiheit ist keine Willkürfreiheit. Denn der echte und rechte Wille wird das Notwendige wollen, nicht das nur Mögliche. W. v. Scholz rückt dergestalt das N o t w e n d i g e des Willens u n d dessen Z u s a m m e n p r a l l mit dem W i d e r - W i l l e n in die Zentralstellung des Tragisch-Dramatischen. Und „so ist der Wille das Thema des Dramas". Aber der Wille ist auch die beherrschende Kraft für den Zuschauer, gerade weil er als bloßer Zuschauer diesen Willen nicht aktivieren und in Tat umsetzen kann, sondern notgedrungen passiv betrachtend bleiben muß. Er „will" gleichsam „mit" und darf doch nicht mitmachen. Er darf wohl mitlieben und mithassen, aber nicht mithandeln. Daher befindet er sich in einem Zustand der Spannung (nicht nur hinsichtlich der Anteilnahme am Geschehen), die eine Entspannung, eine „Lösung der lagernden Spannung" fordert und „nach Auslösung" drängt. Es wird deutlich, daß W. v. Scholz also den Katharsisbegriff ganz ähnlich auffaßt wie P. Ernst, nämlich als Entladung, Entlastung und Entspannung von Leidenschaften. Er beachtet also ebenfalls die Wirkung und geht insoweit von der Wirkungspoetik aus. Aber anders als P. Ernst zielt er dabei und damit mehr auf den Willen als den Wert. Das Ästhetische ist jedenfalls für ihn nicht in dem Grade wie bei P. Ernst der Prävalenz des Ethischen unterworfen. Dagegen ist er mit P. Ernst der Meinung, daß nicht das Charakterdrama die höchste Rangstufe der Tragödie darstellt, sondern das Handlungsdrama oder genauer — und darin wird nun wieder eine Abstufung gegenüber P. Ernst spürbar — das Situationsdrama. Vereinfacht und vergröbert gesagt: W. v. Scholz möchte gleichsam an die Stelle des naturalistischen Zustandsdramas (und nicht ganz unbeeinflußt davon) das klassizistische Situationsdrama setzen, in dem sich aus einer zwangsläufigen Situation ein zwingendes Schicksal entwickelt dank dem Bedürfnis des Menschen (und also auch des Zuschauers) nach einem „Zwang" zum Willen und einem freiwilligen, spontanen „Willen zum Zwang". Denn W. v. Scholz' „Wille zum Zwang" enthüllt sich bei näherer Betrachtung doch als ein Zwang zum „Willen" gemäß der zentralen Bedeutung des „Willens" (Einfluß Schopenhauers). Vorerst ist das für ihn noch ein Zwang zum Inhalt und dessen situationsgemäßem Ansatz, noch nicht ein Zwang zur Form. Aber es wird in seiner Weise und nach seinem Willen doch auch ein Weg zur Form, obwohl gleichsam ein Umweg. Urwille und Urphänomen bringen es mit sich, daß der Konflikt a priori als ein „sich selbst

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setzender Konflikt" gegeben ist dank der schicksalhaltigen Situation. Und dieser „sich selbst setzende Konflikt", um den in der Dramaturgie W. v. Scholz' zuletzt alles kreist und in dem sich alles wesentlich und werthaft Dramatische versammelt und zusammentritt, führt dann zwangsläufig zu einer sich selber setzenden Form. Das aber besagt: aus einem andersartigen Ansatz gelangt W. v. Scholz zu einem ähnlichen Endertrag wie P. Ernst, wenigstens in seiner neuklassischen Zeit. Sein vermeintliches Muster- und Modelldrama „Meroe" erweckt freilich den Eindruck, daß sich W. v. Scholz überhebt im Ansetzen von Konflikten, anstatt daß sich ein einziger großer Konflikt „selbst setzt". Er kann sich offensichtlich nicht genugtun im Häufen der Konflikte und im Kombinieren der Gegensätze von Willen und Widerwillen, von Streben und Widerstreben, von Situation und Gesinnung. Und P. Ernst hat gar nicht einmal so unrecht, wenn er, freilich am starren Maßstab der bis ins Abstrakte vereinfachten Forderung einer großlinigen Haupthandlung messend und wertend, bei allem betonten Wohlwollen in seiner „Meroe"-Rezension (Credo 1,1912) den Einwand erhebt, daß die Verquickung des Gatten-Konflikts und Vater-Sohn-Konflikts mit dem „Kampf zwischen Priester und König", also dem Glaubenskonflikt, die einheitliche Gesamtwirkung eher abschwäche als verstärke. Schon bei der Exposition sei der Zuschauer unschlüssig, „auf welchen Konflikt er sich einstellen solle". Dadurch werde man ins Epische eines Familienkonflikts mit weltanschaulichem Hintergrund abgelenkt, statt auf die eine Handlung konzentriert zu werden. Aber dieses relative Versagen in der Praxis — und P. Ernst räumt der Charakteristik immerhin große, edle und schöne Linien ein — würde noch nicht besagen, daß W. v. Scholz in der Theorie unrecht hat. Sucht er doch sein Postulat der Notwendigkeit eines sich selber setzenden Konflikts weiterhin (und späterhin) zu sichern, indem er den „Zufall" mit der Notwendigkeit in ursächliche Beziehung zu setzen unternimmt. Das geschieht in dem Aufsatz „Der Zufall" (19x2), den er unter dem Stichwort „Der Zufall, ein Widerspruch?" in die „Neue Folge" der „Gedanken zum Drama" (1915) einbezogen hat. W. v. Scholz möchte sich darin merklich von einer Dogmatisierung und kanonhaften Mechanisierung des Schicksalsbegriffs bzw. der Forderung einer abstrakt verabsolutierten und von allen lebendigen Bezügen isolierten Dramatik bewahren dadurch, daß er dem Zufall einen freieren Spielraum gönnt,

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um ihn weiterhin geradezu als Vorstufe, als „Vorform des Schicksals" gelten zu lassen (vgl. auch noch die Ausgabe dieser Schrift von 1935). Aber damit vollzieht er schon eine deutliche Schwenkung seitab von der Richtlinie der neuklassischen Dramaturgie. Auf seiner n e u k l a s s i s c h e n Entwicklungsstufe muß der dramatische Konflikt mit Zwangsläufigkeit aus der schicksalhaltigen „Situation" herausgegeben sein. Diese Situation muß so gewählt sein, daß sie die Notwendigkeit des Geschehens glaubhaft macht, die unabwendbar und dramaturgisch unentbehrlich ist. Die „Willenswirklichkeit" enthält zugleich Schicksalhaftigkeit. Der Wille ist auch dort wirklich, wo er die Wirklichkeit überbietet; er ist in diesem Sinne „wirklicher" als die Wirklichkeit (Nachwirkung Schopenhauers). Er ist der Wille zur Macht und zur Kunstmächtigkeit (Einwirkung Nietzsches). Und er manifestiert sich im Willen zur Notwendigkeit als der ersten Vorbedingung zum Dramatischen. Über Schiller und Hebbel hinaus möchte W. v. Scholz das menschliche Streben nach Zwang als eine Auswirkung des Bemühens um „empfundene Notwendigkeit" hinstellen und darstellen. Vorerst gilt in der neuklassischen Epoche der Zufall noch als Sündenfall der Erkenntnis des Schicksalhaften und Schicksalhaltigen. Eine Erkenntnis des Schicksalhaften sei schwierig, wenn nicht schlechthin unmöglich. Aber ein Empfinden des Schicksalhaften sei möglich, erwünscht und zu verwirklichen in der Tragödie als der höchsten Form und Fassung des Dramatischen. So verstanden, macht die Tragödie „sichtbar", was an sich an unsichtbaren Mächten und Ubermächten durch den Schicksal gewordenen „Willen" hindurchgreift an konstituierenden und konstruktiven Gewalten und instruktiven Gestalten. Die Tragödie ist das Gewahrwerden der empfundenen Notwendigkeit, und zwar auch seitens des Zuschauers. Und diese in der Tragödie Gestalt gewordene Notwendigkeit beruht auf einer Art von Identität des vermeintlich Unvereinbaren, des Zusammenspiels und Zusammentretens der Widersprüchlichkeiten eines „sich selbst setzenden Konflikts". Ohne es klar auszusprechen, nähert sich nämlich der Neuklassiker W. v. Scholz unverkennbar gewissen Identitätsvorstellungen der Romantik. Und er ist insofern und nicht nur vor und nach seiner neuklassischen Episode weit mehr Neuromantiker, und zwar sowohl im Kunstschaffen als in der Dichtungsdeutung. Trotzdem hat die Sonderforschung (Α. M. Reis) nicht unrecht, die darauf hinweist, daß gemäß der bekannten Bestimmung Fritz Strichs

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die klassische Geisteshaltung gegenüber der romantischen die „Oberhand behalten" habe, indem das Dämonische eine Bändigung im Sinne klassischer Gelassenheit und Harmonie erfährt und der extreme Einzelfall sich beruhigt und beruhigend einordnet in größere kosmische Zusammenhänge und deren Gesetzmäßigkeit. Diese Gesetzmäßigkeit und das Streben nach ihr machte W. v. Scholz streckenweise zu einem Bundesgenossen von Paul Ernst und dessen Neuklassik. Das wurde erleichtert dadurch, daß W. v. Scholz zu einer gewissen, wenngleich in sich aufgelockerten Systematik neigte, obwohl die Interpretation seines Kunstwollens als geschlossenes Kunstsystem beträchtlich über das Ziel hinausschießt. Denn für den schärfer beobachtenden Blick bleibt es unverkennbar, daß W. v. Scholz nur vorübergehend von der neuromantisch-symbolistischen Linie nicht zuletzt seinem Weimarer Freunde P. Ernst zuliebe abschwenkt, die er an sich von vornherein aufgegriffen und auch späterhin wieder konsequent verfolgt hat. Aber bevor ihm Tragik als Mystik erscheint, versucht er sie neuklassisch als geistiges „Epigramm", als rationale Antithese der Lebenskräfte zu deuten, die aus einem Ursprung entspringen, aber doch nach verschiedenen Richtungen sich bewegen, die ursprungseins, aber wesensverschieden sind und sein müssen, um den dramatischen Konflikt zu ermöglichen. In diesem Sinne fordert der damalige W. v. Scholz, daß das „Drama dramatisch sei", indem es im doppelten Sinne des Wortes den sich selber setzenden Konflikt „aufhebt", also die Diskrepanz des Disharmonischen zu einer klassischen bzw. neuklassischen Harmonie vereinigt und versöhnt, nicht im geistreichen Paradoxon, sondern im „blutigen Kampf", der die Gegner gegeneinanderführt, um sie zusammenzuführen. Das aber ist nur möglich durch straffe Verknüpfung trotz aller Verwicklung. Die tragische Ironie steht nicht im Widerspruch zur tragischen Harmonie. Das Abstrakte (schon im Lokalkolorit etwa der „Meroe") steht nicht im Widerspruch zum Konkreten des Geschicks, das sich hier vollendet. Aber es bleibt eine Konstruktion des Kunstverstandes, die merklich dem „Demetrios" P. Emsts sich anzugleichen sucht, wobei der Primat der Situation die „Gewalt" der Charaktere überspielt. Die Theorie verleitet W. v. Scholz, merklich den Wert der schicksalhaltigen Situation zu überschätzen. Kurz, weder in der Theorie noch in der Praxis vermag sich W. v. Scholz als geborener Neuromantiker mit der Neuklassik zurechtzufinden. 20

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Vorerst freilich erweckt er den Eindruck, als ob er sich vorbehaltlos der Neuklassik verschreiben wollte. Der Aufsatz „Gedanken zum Drama", der titelgebend wird für eine Sammlung (1905), die nicht von ungefähr „andere Aufsätze über Bühne und Literatur" einschließt, geht aus von der Berücksichtigung des Zuschauers, aber nicht des „unbeteiligten Zuschauers", sondern des ernstlich und ehrlich Teilnehmenden an einem „außerordentlichen Ereignis" (Nähe zur Novelle). Dieser Zuschauer bleibt angewiesen auf den „betrachtenden Willen". Sowohl vom Dramatiker als auch vom Zuschauer bleibt der „Wille" das Kernstück des Dramas, das die „Darstellung eines Kampfes" darbietet. Aber die Voraussetzung dieses Kampfes liegt nicht sowohl im Charakter begründet als vielmehr in der „Situation"; denn „im A n f a n g ist die S i t u a t i o n " . Sie ist die unentbehrliche Voraussetzung für die Entfaltung und die „Willensbetätigung" der dramatischen Charaktere. Die Situation ist das Reagens, das die Charaktere zur Selbstenthüllung bringt und geradezu zwingt, das Gegebene, das erst das Aufgegebene der Charaktere in Funktion setzt. Denn die Situation ist der „Anlaß des Handelns". Nicht aus dem Charakter, aus der Situation entwickelt sich die Handlung des Dramas. Der Charakter ist nur „eines der Momente", die diese schicksalhaltige Situation in sich birgt. Und eine Tragödie entsteht, wenn der Charakter aus dieser Situation heraus anders handelt und handeln muß, als es seinem Wesen und Wollen eigentlich entspricht, also im „Gegensatz zu seinem bewußten Charakter". Von hier aus ergeben sich die Verbesonderungen als Tragödie und Komödie. Die Tragödie vertritt (und verträgt) die „eherne unverrückbare Notwendigkeit" und die Inkarnation des Willens, während die Komödie bestenfalls den „höchsten Intellekt" verkörpert. Nicht ganz klar erscheint, warum die Tragödie die dramatische Form zum „höchsten Formgehalt" steigern soll, während sich die Komödie mit einer, wenngleich „schöpferischen Widerspiegelung des Lebens" begnügen muß. Die Tragödie hat es mit Notwendigkeiten zu tun, die Komödie mit Möglichkeiten. Aber beiden eignet als Gemeinsames „ein Menschliches". Die Tragödie als „Potenzierang der dramatischen Form" hat eine Willensspannung zu erzeugen, die ein an sich Unwirkliches dennoch als innere Wirklichkeit und Wahrheit erscheinen läßt, indem sie ein „Gegenwärtiges, Seiendes" ergreift und eben damit und dadurch auch den Zuschauer „ergreift" bei Wahrung einer vollen Wirklich-

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keits-Illusion, wobei „Wirklichkeit" freilich in einem vertieften Sinne zu verstehen ist. Die „zufallsvolle Welt" tut dieser echten Wirklichkeit kein Genüge. Der Tragiker muß sich also eine Eigenwelt schaffen, die sich von der Alltagswelt entsprechend abhebt. Das geschieht, indem er den Willen zur Verwirklichung stärker ausprägt als die Wirklichkeit selbst. Die tragenden Grundmächte des Lebens, die das Gegensätzliche zur Einheit zwingen (Identitätsvorstellung), sind sowohl zeugend und fördernd als auch vernichtend; und nur in ihrem gespannten Kraftfeld wächst die wirkliche Tragödie, die dem Kampf jene „ewige Wirklichkeit" abzwingt oder aufzwingt, die das echte Drama kennzeichnet und auszeichnet, dessen Wallungen und Wollungen letztlich in einem „ethischen Wollen" wurzeln. Demgemäß geht es im Drama um den Kampf ebenbürtiger, gleichwertiger Gewalten und Gestalten. Nicht die Kämpfer werden vernichtet, sondern gleichsam das „Schlachtfeld", auf dem sie kämpfen. Erst im Kampf werden die lebenfördernden Mächte lebenzerstörend. Die Konsequenz fordert die Vernichtung des Konfliktträgers gemäß der „Unverletzbarkeit und Übergewalt" jener sowohl lebensteigernden als lebenvernichtenden Gewalten. Dieser Konfliktträger darf nicht alltäglicher Natur sein und nicht alltäglichen Gesetzen unterworfen sein (Abhebung vom Naturalismus), sondern so außergewöhnlich wie sein Schicksal. Er muß den Lebensmächten gewachsen sein, die ihn dennoch zuletzt überwachsen. Er muß groß sein, um das Größere an sich und durch sich zu demonstrieren und in der tragischen Erhebung zu manifestieren. Erst dann vermag sein notwendiger Untergang die „Erlösung unseres angespannten Gefühls", wie sie die Tragödie fordert, herbeizuführen. Die Situation, die zu diesem Ertrag führt, muß bereits die Zweiheit des Kampfes in sich einschließen, den „sichtbaren der Menschen und den unsichtbaren der lebenerhaltenden Mächte". In diesem Sinne fordert W. v. Scholz eine „kontrapunktische Komposition" des Dramas als neuklassischer Hochstiltragödie. Gerade dort und erst dort, wo Glück und Unglück, Jubel und Klage, Lust und Unlust aus ein und derselben Quelle entspringen, entsteht echte Tragik. Die tragische Ironie rückt die Tragödie irgendwie und irgendwo in die unmittelbare Nähe des Epigramms. Es entsteht im Sinne der neuklassischen Konzentration gleichsam ein „tragisches Epigramm", das die Identität von Unverletzlichkeit und Vernichtung hoher ethischer Werte und Forderungen 20·

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überragend steigert im Konflikt und überraschend löst im Tode des zugleich heroisch „Unsterblichen". Für derartige Steigerungen ist der Durchschnittsmensch von vornherein nicht geeignet, sondern nur der „hohe Mensch", wie P. Emst sagt, oder nur der „wertvolle Mensch", wie W. v. Scholz es ausdrückt. Denn in „wertvollen Menschen allein entstehen Konflikte großer Lebensmächte; sie beweisen eben dadurch, daß solche Mächte, daß hohe Werte in ihnen leben" (Abwehr des Naturalismus). Nur hochwertige Menschen erleiden außerordentliche Schicksale. Und das große Schicksal ist der Prüfstein für ihren überdurchschnittlichen Wert. Wo der Wille nicht Chaos bleibt, sondern wo er Gestalt und Persönlichkeit wird, erhebt sich das Drama zur Tragödie. Der neuklassische Held ist nicht nur wirklich ein Held; „er ist schlechthin das Schicksal". Die neuklassische Form fordert die drei Einheiten nicht wegen der Tradition, sondern wegen der Konzentration, weil durch sie ständig vor einer epischen Zerdehnung gewarnt wird. W. v. Scholz formuliert das so: „In den alten umstrittenen Einheiten kann ich nichts anderes sehen als ein Verlangen nach deutlich zusammenhängender Handlung ohne spannungzerreißende epische Unterbrechungen". Eben deshalb muß der Dramatiker alles Wesentliche in eine einzige Grundposition und Ausgangssituation versammeln und konzentrieren (vgl. P. Emst: Begriff des „zusammengezogenen" Dramas). Das neuklassische Drama fordert weiterhin ein Entrücktwerden des Ortes in eine entlegene oder „phantastische" Zeit, um von vornherein lästige Bezüge zu einer „kleinlichen Alltagsumgebung" auszuschließen (Abwehr des Naturalismus). Die Form bleibt dabei immer „bewegte" Form gemäß der dramatischen Dynamik, auf die W. v. Scholz fürsorglicher bedacht ist als P. Emst. Die Einfachheit der großen Linienführung auch in der Charakterzeichnung schließt eine komplizierte Psychologie aus. W. v. Scholz erkennt den Notausgang des Impressionismus (ins Seelische) in seiner damaligen neuklassischen Zeit nicht an, sondern fordert im Gegenteil eine „ E n t p s y c h o l o g i sierung", darin eines Sinnes mit Paul Emst. Später hat sich das beträchtlich geändert. Und W. v. Scholz kann sich später nicht genugtun im Aufspüren psychologischer Komplikationen und Sensationen (Okkultismus, Mystizismus usw.). Auf der Stufe der Neuklassik interessiert etwa noch die T h e o r i e der B a l l a d e , die W. v. Scholz besonders in dem Aufsatz „Bai-

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lade und Drama" entwickelt. Wie nämlich Paul Ernst neben dem Drama die Novelle als strengere Kunstform gelten läßt, so W. v. Scholz die Ballade. Ihrer genetischen Wesensbestimmung nach ist sie für ihn eine „Vorstufe des Dramas", die sich aus dramatisch bewegten und im Vortrag mimisch belebten sowie dialogisch aufgelockerten Episoden des Epos einerseits und dramatisch konzentrierten Partien des Volksliedes andererseits organisch herausbildet. Sie stellt wie das Drama eine dichterische Gestaltwerdung des Willens dar. Vorstufe des Dramas ist die Ballade hinsichtlich ihres „dichterischen Formwertes", der indessen entsprechend geringer bleibt. Sie duldet — anders als das hohe Drama — notfalls den „alltäglichen Menschen" als Helden, der in ihr eher als im Drama „tragisch" werden kann (H. Heines „Die schlesischen Weber", Chr. D. Schubarts „Der Bettelsoldat" wären wahrscheinlich für W. v. Scholz Beispiele für diese Lizenz). Die strophische Gliederung der Ballade fordert und fördert ihre „Prägnanz". Ohne um Übergänge allzu bekümmert zu sein (vgl. Herder „Sprünge und Würfe", andere Deutung bei L. Uhland), fügt sie in konzentrierender Form „wichtige Wendepunkte" aneinander. Der Kehrreim (Refrain) arbeitet gerade durch die Wiederholung des formal Gleichen den dramatischen Kontrast des inhaltlich Verschiedenen (Wandlung der „Situation" oder „Station") wirksam heraus. Er dient dergestalt zugleich einer in sich gespannten Geschlossenheit der Form. Überall in der Ballade sei der Grundtypus einer „szenischen Gestaltung" ganz unverkennbar. Trotzdem kann das Drama nicht aus der Ballade entstanden sein, weil sonst das Drama die Restbestände der Balladendichtung längst „aufgesogen" haben würde, während in Wirklichkeit die Kunstballade sich ständig erneuere. Wie auch in der Dramentheorie bleibt etwas unklar, was W. v. Scholz unter dem „betrachtenden Willen" versteht (ist das die Willensbeteiligung des Zuschauers?). Eine Vorahnung der Schwelltheorie A. Heuslers scheint hinsichtlich des Verhältnisses von Lied, Ballade und Epos spürbar zu werden. Doch vernachlässigt W. v. Scholz auch auf seiner neuklassischen Entwicklungsstufe ebenso wie Paul Ernst die Theorie des Epos, obwohl er sie im Balladen-Essay mehrfach berührt. Gerade für eine Neuklassik ist es erstaunlich, daß dem Epos gegenüber Drama und Ballade nur ein „geringerer Formwert" zugebilligt wird, da es angeblich keine „festen Gesetze" und also auch keine rein „künstlerische Wirkung" aufzuweisen habe.

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Nicht zuletzt dürfte es der Schicksalsbegriff gewesen sein, was W. v. Scholz zeitweise der Neuklassik angehörig und in gewissem Grade auch hörig werden ließ. Aber einmal aus der Umschränkung der Neuklassik entlassen, übertrug er sehr bald diese Schicksalsvorstellung auf neuromantisches Gebiet. Und so wird er geradezu ein Musterbeispiel für das Wechselspiel von Neuklassik und Neuromantik. Überspitzt gesagt: er gilt allenthalben als Neuklassizist und ist doch eigentlich Neuromantiker und Symbolist in seinem Anfang und seinem Ausgang. Einer näheren Überprüfung wird nicht entgehen, daß er selbst in seiner engen Verbundenheit mit P. Ernst sowohl im persönlichen als künstlerischen Bereich dennoch überall Vorbehalte einbaut, die sich, näher betrachtet, als Vorbereitungen zu einer ausgeprägten Neuromantik enthüllen. Die Art etwa, wie er bereits damals von den hintergründigen „unsichtbaren" Schicksalsmächten spricht, die im Individuellen und seiner vermeintlich so imposanten Willensbekundung nur äußerlich „sichtbar" in Erscheinung treten, bereitet schon vor auf die spätere Auslegung des Zufalls als Vorform des Schicksals, auf die Vorliebe für das Mystische und Okkulte. Auch der vielberufene Okkultismus, der seine spätere dichterische Produktion, vorab seine Epik, beherrscht, ob man nun denken mag an den Roman „Perpetua" oder Erzählungen und Novellen wie „Charlotte Done", „Der Auswanderer", „Die Warnung" u.a.m. oder an Dramen wie „Die gläserne Frau" und „Der Wettlauf mit dem Schatten", auch dieser Okkultismus, diese Parapsychologie (SchulzNotzing) kreist immer wieder um die Problematik des freien Willens einerseits und des unfreiwilligen Schicksals andererseits. Und angesichts des Fanatismus, mit dem W. v. Scholz darin Willensfragen und Schicksalsfragen erörtert, nimmt es kein Wunder, daß er zeitweise dem Schicksalsbegriff der Neuklassik verfallen konnte. Aber dieser neuklassische Schicksalsbegriff blieb in Wirklichkeit nur eine Lösungsmöglichkeit unter vielen anderen. Im „Wettlauf mit dem Schatten" begegnet späterhin die im Werk formulierte Poetik. Dort ist ein Dichter, ein Romanschriftsteller, die Zentralgestalt, die durchaus neuromantisch gesehen wird. Und zwar ist dieser Dichter nicht als Mensch die Zentralgestalt, sondern als Dichter. Ohne es zu wissen und zu wollen, bestimmt seine ahnungsvolle Phantasie das Geschick eines Fremden, der vergeblich den Wettlauf mit seinem Schatten (abstrakte Figur

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im werdenden Roman) aufzunehmen versucht und zuletzt doch als Selbstmörder auf der Strecke bleibt. Im K u n s t g e s p r ä c h dieses spannenden Dramas, das von aller Neuklassik weit entfernt ist, bezeichnet sich der Dichter als „Seismograph von Schicksalen". Demnach ist es Gabe und Aufgabe des Dichters, hellsichtig und hellhörig die verborgenen Schwingungen und Erschütterungen aufzufangen und aufzuzeichnen, die zwischen den Menschen und ihren Entscheidungen spürbar und wirksam werden. Nicht auf die Würde des Sehers läuft das hinaus, wie es in der Neuklassik oder im Stefan George-Kreis nahegelegen hätte, sondern auf die Intensität des Sehers, auf das Besessensein und zugleich Begnadetsein von einer Phantasiekraft, die sich stärker erweist als die vermeintlich von Willensfreiheit gelenkte Wirklichkeit. So gelangt W. v. Scholz von der neuklassischen „Situation" zur neuromantischen Suggestion als Merkmal echten Dichtertums. Gemeinsam aber bleibt beiden Verfahrensweisen das Hingerichtetsein auf Wille und Schicksal und die starke (bis starre) geistige Konzentration, die einerseits die Situation erfaßt und andererseits durch die Suggestion erfaßt. Und so sehr besonders der spätere W. v. Scholz die Bedeutung der Phantasie betont, es bleibt letzten Endes eine klug k o m b i n i e r e n d e P h a n t a s i e und wird keine rein schöpferische Phantasie. W. v. Scholz hat sich mehr und mehr der Magie ergeben; aber er hat deshalb die konstruktive Vernunft, den ordnenden Verstand und den anordnenden Kunstverstand keineswegs aufgegeben. Und wenn er Magie nicht von seinem Pfad entfernen will, so denkt er noch weniger daran, den scharfsinnigen Verstand als Begleiter auf diesem Wege aufzugeben und preiszugeben. Als engerer Generationsgenosse Paul Emsts teilt S a m u e l L u b l i n s k i (1868—1911) mit ihm die sozialliterarische Ausgangsposition, die bereits in seiner mehrbändigen Darstellung der „Literatur und Gesellschaft im ig. Jahrhundert" (1899/1900) sich Geltung verschafft. Und er bleibt dieser soziologischen Betrachtungsweise in seinem nicht allzu langen Leben relativ treuer als ihr P. Ernst geblieben war. Aber auch ihn beunruhigt das Problem, wie denn nun die bedeutende Persönlichkeit im Rahmen der bedürftigen Masse frei sich auswirken und als Einzelner auf die Vielen fördernd einwirken kann, ohne ihren berechtigten Interessen entgegenzuwirken. Daß ihm der soziale Naturalismus, von dem er an sich ausging, auf die Dauer kein Genüge tat. bekundet schon sein früher Anlauf zu

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einem„Hannibal"-Drama, hatte doch schon Chr. D. Grabbe einst das Scheitern des einsamen Großen an der Verständnislosigkeit der „gemeinsamen" Vielen (die Krämer in Karthago) als tragisch empfunden. Waren die Verhältnisse wirklich Verheißung oder nicht vielmehr Verhängnis für den Großen, der sie ergriff, aber nicht von ihnen erdrückt werden wollte ? Mehr und mehr gewinnt P. Ernst mit seinem Hinweis auf Größe und Monumentalität das Übergewicht, während — besonders im „Ausgang der Moderne" — der Glaube an die revolutionäre Sendung der Masse (ein Problem, das ebenfalls bereits von Grabbe mehrfach berührt worden war) und an die Schicksalhaltigkeit des Wirtschaftlichen entsprechend an Gewichtigkeit verliert. Trotz des verhältnismäßig geringen Zeitabstandes heben sich „Die Bilanz der Moderne" und „Der Ausgang der Moderne" deutlich, weltanschaulich z.T. schroff voneinander ab. Und mit der Weltanschauung hat auch die Kunstanschauung eine wesentliche Wandlung erfahren. Zwischen dem Weltanschaulichen und Kunstanschaulichen vermittelt das Kulturpolitische, das Samuel Lublinski merklich fesselt. Schon wo er kritisch „Die Bilanz der Moderne" (1904) zieht, will im Grunde die Rechnung zwischen dem Großen und der Gruppe nicht recht aufgehen. Denn erneut und verschärft erhebt sich nun die Frage, ob denn überhaupt innerhalb einer „sozialisierten Moderne" noch eine individualisierte Möglichkeit der überlebensgroßen Persönlichkeit vorhanden sei. Es ist letztlich derselbe Zweifel und derselbe Zwiespalt, den vor ihm Heinrich Heine und nach ihm Heinrich Mann durchlaufen und durchlitten haben. Mußte wirklich das Beglücken der Gruppe erkauft werden durch das Verunglücken der Größe, gab es keine Möglichkeit, das Gute zu bewirken, ohne das Geistige zu entwerten. Mußte, wer sich der Gruppe hingab, seine Größe aufgeben, oder vermochte er sich dank größerer Übersicht der „gemeinen" Ansicht wohlwollend-wirksam zu widersetzen. Das war auch noch die Leitidee in der historisch-politischen Tragödie „Peter von Rußland" (1906). Aber in der Einleitung zu diesem Drama bekannte sich Samuel Lublinski bereits eindeutig zu Paul Ernst und Wilhelm von Scholz. Hier kamen ihm Hilfen, auf die er kaum gehofft hatte, die aber für ihn, der in Weimar geboren worden war und in Weimar starb, auch rein lokal nahelagen. Denn man darf die Suggestivkraft des altklassischen Ortes für eine neuklassische Orientierung keineswegs unterschätzen. Weimar als Tradition war zugkräftig genug, um selbst noch den ethisch Be-

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sessenen zur ästhetischen Besinnung zu bringen und seiner vorherrschenden Kulturtheorie eine heilsame Kunsttheorie abzugewinnen. Kein Wunder, wenn sich selbst bei dem Fanatiker Lublinski die kulturelle Ehrlichkeit und politische oder doch kulturpolitische Emsigkeit am letztlich lokal bedingten künstlerischen Ehrgeiz brach. Und so wurde der Weltverbesserer unversehens zum Kunstverbesserer, der Kulturphilosoph zum Kunstphilosophen, der Begreifer der Gruppe zum Gestalter der Größe, in deren Hingabe kein Sich-Aufgeben liegt, wohl aber eine neue und nötige Aufgabe. Der Epigone der Neuklassik wurde dergestalt zum Epigrammatiker des Neuklassischen. Denn epigrammatisch knapp formuliert er den Gegensatz zu Naturalismus und Neuromantik, indem er beiden den Geist absprach, auf den jetzt alles ankam, wo es galt, irgendwie das Geniale mit dem Sozialen wertbewußt und wertsteigernd zu versöhnen. Die Weimarer Legislative mußte stärker bleiben als die „Jüngste Legende von Weimar" (innerhalb der Xenien 1909). Mochte der Naturalismus mehr die äußere, die Romantik als neuromantischer Impressionismus mehr die innere Natur herausstellen: beiden gemeinsam blieb das Verhältnis zum Naturhaften, ob nun dem Stationären des Milieus oder dem Stimmungshaften der Meditation nach. Neu war der Einspruch und Widerspruch, „daß der Geist stärker sei als die Natur". Mit dieser geistigen Macht vermag es weder das jeweils gültige Milieu als Bestimmung noch die jeweils geltende Meditation als Stimmung aufzunehmen, also weder der Naturalismus noch der neuromantische Impressionismus. Und erst diese Anwendung verbürgt die Wendung, daß nicht Trieb oder Stimmung entscheiden, nicht Milieuhaftes (Naturalismus) oder Meditationshaftes (Neuromantik), sondern Geistig-Gültiges im Spiegel des Geformt-Gegenständlichen; denn „das und nichts weiter ist neuklassisch". Nachdem er in der Einleitung zu „Peter von Rußland" auf die Neuklassik zugegangen war, konnte er im „Ausgang der Moderne" (1909), der sich nicht unberechtigt als „ B u c h der Opposition" bezeichnet, bereits von der Neuklassik ausgehen. Immer bleibt ihm das allgemeine Kulturproblem eingefangen im verbesonderten Kunstproblem. Der Kulturtheoretiker Lublinski bleibt immer angewiesen und hingewiesen auf den Kunsttheoretiker, der Demagoge fordert seinen Ausweis vom Dramaturgen. Und alle Dämonie des dichterischen Phänomens vermag nicht hinwegzutrösten über die

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Symmetrie des denkerischen Systems. Daß der Denker Lublinski sich (zusätzlich) für einen Dichter hielt, fordert Widerspruch hervor, aber auch Zuspruch heraus. Denn sein Gehalt gebietet dem Grandiosen, aber seine Gestalt gebiert das Groteske. Und der Griff nach dem Großen scheitert schämig (bis schändlich) am Begreifen und Einbegreifen des Kleinen. Nicht nur A. Stifter ist der Überzeugung, daß der das Kleine glücklich erlebt, wer sich des Großen gütig-demütig enthebt. Wer könnte als Persönlichkeit Position beziehen, ohne sich vorher dem Kollektiven der Opposition zu entziehen. Was das Verhältnis zu P. Ernst betrifft, so sei daran erinnert, daß S. Lublinski schon in seiner „Bilanz der Moderne", also schon vor dem „Weg zur Form" von P. Ernst, mit dem ihm eigenen kritisch erstaunlich sicheren Blick, der auch damals schon Stefan George und Hugo von Hofmannsthal in allen wesentlichen Zügen richtig erfaßt, gewisse Tendenzen zur Formstrenge undFormzucht durchaus erkennt und anerkennt. Damals ist es vor allem der Prosaepiker P. Ernst, der Verfasser der Novellensammlung „Die Prinzessin des Ostens" und des Romans „Der schmale Weg zum Glück", der S. Lublinski vorschwebt. Und er begrüßt an P. Ernst, der „eigentlich zum Novellisten geboren ist", mit vollem Recht das zähe und konsequente Bemühen um einen echten, kunstgerechten, um den „streng künstlerischen Erzählerton". Dabei sucht er vom Erzähler-Vorbild einige typische Merkmale der vollwertigen Erzählung abzulesen. Freilich arbeitet er dort vorerst noch fast ausschließlich mit negativen, also indirekten Bestimmungen: Vermeiden von Dialogen, von lyrischen Ergüssen, von bloßen Beschreibungen (vgl. Lessings „Laokoon") und von psychologischen Analysen. In größerem Zusammenhang gesehen, ist es nicht uninteressant, wie bei Verschärfung der Maßstäbe und Strenge der Forderungen sich auf einer höheren Wendung der Entwicklungsspirale scheinbar längst überholte Forderungen dennoch mit zwangsläufiger Gesetzlichkeit wieder einstellen. Nicht nur an den Rückgriff auf den „Laokoon" wird hierbei gedacht (Beschreibung), sondern darüber zurück an die These der frühen Romantheorie, daß Dialoge im Roman tunlichst zu vermeiden seien. Diese Forderung stellt etwa das Gegenstück zu der anderen, häufig in der Dramentheorie, begegnenden, daß ausführliche Metaphern und Vergleichsbilder in der Dialogsprache des Dramas tunlichst zu vermeiden seien.

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Weiterhin sei hervorgehoben, daß S. Lublinski schon zur Zeit der „Bilanz der Moderne" neben dem Begriff der „Neuromantik" der andere der „Neu-Klassik" durchaus vertraut ist. Und noch nicht gewöhnt (und verführt), aus größerem Zeitabstand alles vereinfachend zu stilisieren und zu etikettieren, vielmehr aus unmittelbarer Zeitnähe geneigt und genötigt, genauer die Merkzeichen der Orientierung zu beachten, ordnet er sowohl Stefan George als auch R. M. Rilke (obwohl nur in einer Anmerkung erfaßt) weit treffender ein als spätere Epochen- und Stilrichtungstheoretiker. Er sieht nämlich sowohl bei Stefan George als auch bei R. M. Rilke richtig den starken Zug zur Neu-Klassik. Er ist sich damals schon unschlüssig, ob er Rilke „zu den Neu-Romantikern oder Neu-Klassikern rechnen soll". Wir sind es im Grunde noch heute, oder sollten es doch sein. Und selbst bei H. v. Hofmannsthal kann er manches Merkmal zugunsten neuklassischer Bestrebungen geltend machen, das man auch heute noch wird anerkennen müssen: den „südländischen Formsinn, die regelmäßigen Versformen, den fünffüßigen Jambus (das Sonett, die Terzinen) und zuweilen sogar den Hexameter". Jedenfalls ist es recht instruktiv, wenn S. Lublinski in dem seine „Bilanz" abschließenden Kapitel „Allerlei Anfänge" auf Grund der „regelmäßigeren und ruhigeren Formen" H. v. Hofmannsthal nicht als Romantiker gelten lassen will, sondern in ihm den „frühen Vorboten einer neuklassischen Kunst" sehen möchte, wobei freilich sein eigener, damals von ihm selber noch nicht klar erkannter Hang zum Neuklassizismus unbewußt mit hineinspielen dürfte. Es muß einmal ausgesprochen werden, daß Samuel Lublinski, obwohl situationsgemäß zum Anhängsel der führenden Neuklassiker verurteilt, an scharfgeistiger Einsicht und kritischer Ansicht sowohl Paul Ernst als Wilhelm von Scholz eindeutig überlegen ist, auch an wissenschaftlicher Kenntnis wie soziologischer Erkenntnis. Er hat ganz einfach mehr Wissen und mehr Geist. Er besitzt auch ein klares Urteil im Abschätzen der Werte. Aber, abgesehen davon, daß der künstlerische Impuls bei ihm geringer ist, jene Vorzüge schützen ihn nicht davor, irgendwelchen Schlagwörtern zu verfallen, die er selber aufgebracht hat. Da ist z.B., zur Zeit der „Bilanz", um nur ein beherrschendes hervorzuheben, das Schlagwort von der „Gemütswucht". Wie kommt ausgerechnet der Neuklassizist Lublinski mit seiner kritisch kühlen Geistgestalt zur dumpfen „Gemütswucht" ? Er dürfte dazu gekommen sein dank

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des Gesetzes, daß Gegensätze sich anziehen. Er fühlte, was ihm fehlte und suchte eben dies gewaltsam an sich zu reißen. Was er selber nicht zu erfüllen vermochte, forderte er von den anderen. Denn die „Gemütswucht" wird ihm damals geradezu zum allein gültigen Wertmaß. Walt Whitman z.B. erträgt dieses Wertmaß, Richard Dehmel nur halbwegs. Zugleich wird deutlich, daß sich die Frage nach der „Gemütswucht" eigenartig verquickt mit dem Problem der „sozialen Frage", das bei Whitman kräftiger ausgeprägt erscheint als bei Richard Dehmel. Sieht man näher hin, so gewinnt man den Eindruck, daß S. Lublinski mit der „Gemütswucht" etwas in das Abstrakt-Formale hinüberretten möchte von den heroischen Leidenschaften. Die formale Würde bedurfte zur Belebung der vitalen Wucht. Der „Ausgang der Moderne" kommt zu dem kritischen Endertrag, daß man wieder an „menschliche Größe" glauben lernen müsse, wenn anders man aus der Ausweglosigkeit der „Moderne" herauskommen wolle. Denn diese angebliche Moderne sei in Wirklichkeit gar nicht mehr modern, vielmehr „in das Epigonentum zurückgesunken". Zwei Grundschwächen und Kinderkrankheiten haben, Lublinskis Meinung nach, die damalige Moderne zum Scheitern oder Verkümmern gebracht: einmal die leidige Verwechslung oder Vermischung von Kunst und Wissenschaft (vgl. aber wieder und später das „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters" bei Bertolt Brecht) und zum anderen die Überschätzung oder der „Anachronismus ihrer revolutionären Gesinnung". Wissenschaft und Politik sind also in ihre Grenzen zu verweisen, wenn die Kunst und überhaupt die Kultur gesunden soll. K u l t u r u n d „ K u l t u r s y n t h e s e " sind nämlich die neuen Zauberformeln, mit deren Hilfe Lublinski die drohende Gefahr eines völligen und endgültigen Versagens der Moderne bannen zu können glaubt. Irgendwie aber wirkt trotz der betonten Absage an die Lehre von Marx das Bemühen nach, etwas von der Dialektik zu retten, indem das Synthetische mit dem Dialektischen verschmolzen wird. Zwar Hegel, der zudem den wesentlichen Ansatz Kants Erkenntniskritik verdanke, steht nicht mehr hoch im Ansehen. Denn die Synthese aus den Gegensätzen darf nicht verdunkelt werden zu einer bloßen „Hegeischen Nacht der schwarzen Kühe". Die Kultursynthese, also die Kultur von „synthetischem Charakter", darf weder nur soziologisch (naturalistisch), noch nur „romantisch" (neuromantisch) sein. Vielmehr etwa wie das klassische Altertum

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oder auch das „große dreizehnte Jahrhundert" im Mittelalter gegensätzliche Kräfte fruchtbar zu bewältigen verstanden haben, so auch hat aus ihrer Situation und deren Spannungen heraus die echte „Moderne" zu verfahren. Wieder einmal meldet sich das Gefühl vom „Ende einer Kunstperiode" an, wie dann erneut beim Wegsuchen zwischen Neurealismus und Neusymbolismus. Aber auch: wieder einmal wird diesem Gefühl der Glaube an eine mögliche Zukunft der Kunst und Kultur abgerungen. Selbst in kühle Bereiche der Philosophie wagt sich — nicht überall restlos sicher im Schritt — Lublinski erkundend vor, um den bloßen Glauben durch Gründe der Vernunft zu sichern. Die Revolutionäre verbürgen diese Zukunft der großen Kunst nicht, auch nicht in Form einer großartigen Negation, „weil etwas wahrhaft Großes und Monumentales (zeitlich) nicht mehr zu zerstören ist". Lublinski meint mit diesem leicht mißverständlichen Satz, daß es nichts Bedeutendes mehr gibt, das zu zerstören sich lohnte und dessen Vernichtung eine gewisse negative Größe verbürge. Von hier aus fällt der Blick unwillkürlich auf den Nihilismus im Neusymbolismus, den man gern zu einem „produktiven Nihilismus" — einigermaßen widersprüchlich und merkwürdig „dialektisch" — machen möchte. An D i c h t u n g s g a t t u n g e n gelten als zukünftige Wirkungsformen die Tragödie innerhalb der Dramatik, das Epos innerhalb der Epik. Lublinski hat also immerhin den theoretischen Blick für die Bedeutung des Epos bei der Verwirklichung einer Neuklassik, die indessen in ihrem Kunstschaffen höchstens das „Kaiserbuch" von Paul Ernst ins Treffen zu führen hat. Er weiß, was konsequenterweise sein müßte, vermag es aber nicht selber zu leisten, und zwar weder in der Tragödie noch im Epos. Unsicher wird er auch theoretisch auf dem Gebiet der Lyrik, wo er nicht etwa die Elegie oder die Idylle fordert, sondern einigermaßen überraschend an erster Stelle die Ballade und erst an zweiter Stelle den der neuklassischen Motivwelt weit näher stehenden „Mythos". Ob er damit etwa die mythische Hymne oder Ode meint, bleibt unklar. Befragt man den Sonderabschnitt „Ein Wort über Lyrik", der allerdings mehr Literaturkritik als Literaturprogramm bringt, so erklärt sich wenigstens zum Teil jene eigenartige V o r l i e b e f ü r die B a l l a d e und Romanze. Schon bei Richard Dehmel, z.B. in dessen „Roman in Romanzen" (Haupttitel „Zwei Menschen") glaubt Lublinski keimhafte Ansätze zu einer modernen Romanze ent-

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decken zu können. Dasselbe gilt von Stefan George, der es freilich in seinen „embryonalen Balladen und Romanzen" immer und „eigentlich" nur zu einem Relief, nie aber zur „Rundplastik" bringe. Weiterhin glaubt Lublinski, daß in manchen damals modernen Dramatikern im Grunde Balladen- und Romanzendichter steckten, die sich gleichsam nur in die Dramatik verirrt hätten; so schon Maeterlinck, so Oscar Wilde, so Hugo von Hofmannsthal und so endlich auch Wilhelm von Scholz, der jedoch nach dieser Seite hin sein Talent ausbauen sollte. Der neue Typus der Ballade, und damit wechselt Lublinski von der Kunstkritik zur Kunsttheorie und Programmatik über, müßte aus dem modernen Lebensrhythmus entwickelt werden und etwa auf dem herben Edda-Stil fußen, indem er eine „geschlossene und heroische, knappe Wucht" (man wird an eine Variation der „Gemütswucht" erinnert) entfaltet und das Rhythmische mit dem Plastischen verbindet. Dieser Balladen-Typus der Zukunft hat zu berücksichtigen, daß durch den Naturalismus das exakte Reagieren auf die Ding-Wirklichkeit und durch die Neuromantik das sublime Reagieren auf die Stimmungs-Resonanz außerordentlich geschwächt worden ist. Hinsichtlich des ethischen Anteils könne sie von Schillers Ballade lernen. Nicht so sehr an die Volksballade denkt Lublinski, obwohl er einmal Gottfried August Bürger streift. Überhaupt scheint ihm das Volkslied nicht als Vorbild für eine Zukunftslyrik geeignet, wie denn ganz allgemein das Lied als Grundform der Lyrik nicht mehr gelten dürfe. Die l i e d h a f t e L y r i k bis hin zu Heinrich Heine und darüber hinaus kann n i c h t die W e g r i c h t u n g v o r z e i c h nen. Das Lied braucht ein „neues Tempo", und die Lyrik einen „neuen Rhythmus". Mit einem Wort: es muß gemäß der anzustrebenden Kultursynthes eseine „synthetischeLyrik"sein.Synthetische Edelsteine waren damals noch nicht erfunden worden, sonst hätte sich Lublinski auf Grund seiner Abwehr der Naturwissenschaft in Kunstdingen wohl etwas mehr vor dem Schlagwort „synthetisch" gehütet. (Und die „synthetische" Literaturgeschichte war auch noch nicht erfunden). Obwohl Lublinski im Lyrischen offensichtlich nicht die Urheimat des Dichterischen erblickt, gesteht er ihr doch den Vorsprung vor den anderen Gattungen im frühen Erfassen neuer Lebensgefühle und Zeitstimmungen zu. Die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methode mußte für die Lyrik besonders verhängnisvoll sich auswirken. Eine Lyrisie-

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rung der Technik gilt als verfehlt und als Verlegenheitslösung, irgendwie das Neue zu erfassen. Fast wie Otto zur Linde etwa gleichzeitig (etwas früher) vom „phonetischen Rhythmus" alles Heil erwartet, schwört Lublinski auf das Heilmittel eines „modernen Rhythmus", den er sich freilich weit weniger schlicht und urtümlich vorstellt wie Otto zur Linde, sondern letztlich höchst kompliziert. Und ganz unversehens, aber unverkennbar schließt er dabei einen inkonsequenten Kompromiß mit der Technik, indem er unbewußt die Rhythmik der Maschinentechnik auf die Kunsttechnik, und zwar auch die lyrische Kunsttechnik, ja schon auf die lyrische Konzeption überträgt. Er rühmt z.B. an Stefan George den „modernen Rhythmus hinsichtlich seiner strengen Konzentration und genauen Ökonomie, die mit der kleinsten Kraft die größten Wirkungen erzielen will und manchmal erzielt". Und mit einem Mal ist vom „Takt und Rhythmus der Maschinen" die Rede und vom „disziplinierten Schritt der Arbeiterbataillone und der Massenheere". Das aber besagt: Lublinski fällt nicht nur in die Vermischung von Kunst und Wissenschaft selber zurück, sondern auch in die nun doch von ihm prinzipiell verworfene Überschätzung des Politisch-Revolutionären, also in beide „Kinderkrankheiten", von denen er doch gerade den Verfall der „Moderne" ableitet. Dies zugleich ein Beispiel dafür, daß er keineswegs in dem Grade, wie er meint, seinen früheren Standpunkt überwunden hat. Es ist nur ein Beispiel für viele. Streckenweise gewinnt man sogar den Eindruck einer notdürftig durchgehaltenen Anpassung an Paul Ernst, ohne daß die früheren Sympathien wirklich entschlossen aufgegeben würden. Deshalb konnte einleitend von seiner relativen Treue zu seinen alten Idealen gesprochen werden. Die Lautstärke, mit der er das Programm der Neuklassik verkündet, kann nicht hinwegtäuschen über die Zähigkeit der stillen alten Liebe, deren heimliche Macht sich gerade darin bestätigt, daß er sie so betont verleugnet. Da ist ζ. B. der kurze Sonderabschnitt „Bedingungen einer klassischen Kunst", der keineswegs hält, was er verspricht. Es klingt dort zwar eingangs Programmatisches kurz auf. Die Abwehr des Naturalismus und der Neuromantik ist nur berechtigt „auf Grund eines Strebens nach klassischer Kunst". Noch könne man in Sorge sein „um das Schicksal einer modernen Klassizität" (das von seinen Lehrern bevorzugte Stich wort), wenn auch bereits verheißungsvoll ein Bemühen um „Präzision, Einfachheit und ge-

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schlossene Einheit" sich sichtbar ankündige. Aber dann gerät der Essay sogleich wieder in einen politischen und kulturpolitischen Exkurs hinein, bis erst am Schluß die Fühlung mit dem Thema merklich behelfsmäßig wiederhergestellt wird. Selbst in der Theorie des D r a m a s erfolgen trotz prinzipieller Abwehr des „Tendenz- und Thesenstücks", das „kunstfremden Handwerkern" in die Hände gefallen sei, immer wieder Rückfälle in die alte, angeblich überwundene politische Thematik oder doch Terminologie, und zwar wohl noch ausgiebiger als bei Paul Ernst. An sich wird die Dramentheorie am breitesten ausgeführt. Eine ganze Gruppe von Essays sind ihr gewidmet: „Das Drama und seine Führer", „Die Krisis im Drama", „Neue Wege". Sie mögen hier zusammengefaßt werden, um so mehr als die eigenen Erträge Lublinskis nur gering sind. Denn in diesem Bezirk folgt er weitgehend seinen „Führern". Ausdrücklich bekennt er sich zu ihnen. Der „neue Weg" sei von zwei Männern aufgezeigt worden: „Diese beiden Männer sind Paul Ernst und Wilhelm von Scholz". Eigentlich hätte er W. v. Scholz voranstellen müssen. Denn von ihm übernimmt er den Leitsatz und Grundbegriff des „sich selbst setzenden Konflikts", von dem durchgängig die Rede ist. Mit diesem Wertmaßstab mißt er auch in den mehr literaturhistorischen und literaturkritischen Partien, die an Umfang überwiegen, die Gültigkeit früherer und zeitgenössischer Dramatiker. Da sie auf diesen Maßstab nicht geaicht waren (und nicht gefaßt sein konnten), müssen alle versagen, selbst Hebbel und Kleist, obwohl nach W. v. Scholz es doch Hebbel gewesen sei, der den sich selbst setzenden Konflikt „entdeckt" habe. Hebbels Dramaturgie erzielt einen Achtungserfolg. Der Dramatiker Hebbel jedoch wird jetzt weit herber beurteilt als ein Jahrzehnt vorher. Wohl nicht ohne leisen Wettbewerb der Priorität mit Ernst und Scholz verweist eine Anmerkung darauf, daß Lublinski selber sehr frühzeitig die Hebbel-Renaissance mit „geschaffen" habe. Davon rückt er jetzt ab, während Hebbels „Begriff des Tragischen" immer noch als „sein höchstes Verdienst" gilt, das ihn wesentlich über Schiller hinausgehen ließ. Allerdings erfährt dieses Verdienst eine wesentliche Einschränkung dadurch, daß die Dialektik Hegels nicht nur in sein Kunstschaffen hineinrage, sondern auch Hebbels Theorie entscheidend beeinflußt habe. Die Hauptsätze W. v. Scholz', der ganz als „Erbe des Theoretikers Hebbel" hingestellt wird, werden von Lublinski ausdrücklich zitiert. Er versucht ein

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wenig über den Gewährsmann (Scholz) und damit auch über den Traditionsträger (Hebbel) hinauszugelangen, indem er dem letzten Satz aus jener Definition besonderes Gewicht beimißt. Dieser Satz lautet: „Dadurch sind die Antithesen mit einander verklammert, kein Zufall führt sie zum Kampf, sondern ihre Wesensnähe" (so Scholz). Lublinski sucht ihn, mit dem Scholz bereits über Hebbel hinausweise, seinerseits zu ergänzen. Und zwar macht er geltend, daß hinter der logischen Spannung eine p s y c h o l o g i s c h e Ans p a n n u n g stehe als eine „ U r t a t s a c h e u n s e r e s G e f ü h l s lebens", die von vornherein die „innere Einheit" verbürge. Aber diese innere Einheit, die zugleich als „tragische Spannung und Stimmung" fühlbar werde, sei nicht die „All-Einheit" der Romantiker. Und das bloße Herausarbeiten des Konflikts, der Widersprüchlichkeit dürfe auf der anderen Seite nicht den aufklärerischen Rationalisten überlassen werden. Beide Extreme führen vom zentralen Wesen des Tragischen fort. Weder darf die Einheit dem Mystiker noch die Zweiheit und Entzweitheit dem Skeptiker ausgeliefert werden. Im Einzelnen kann dieser Ergänzungsversuch nicht kritisch überprüft werden. Zudem verfällt Lublinski sehr bald wieder in eine Abschweifung politischer Art in Richtung des „latenten Konflikts" und der „geheimen Spannung" und der „labilen Synthese", die sich sämtlich am klarsten von den „ökonomisch-sozialen Fragen und Kämpfen" ableiten und daran demonstrieren ließen. Außerdem versucht er mit der Leitidee des „synthetischen" Kunstwerks auch dem Drama beizukommen. Das muß er schon deshalb, weil Theater und Drama als das ranghöchste „Kulturorgan" anzusehen ist, durch das allein die „Kultursynthese" sich im dichterischen Bezirk verwirklichen läßt, weil das Drama und vorab die Tragödie die „höchste Kraftoffenbarung einer Zeit und Kultur" darstellt. Der Eingangssatz zu dem Essay „Neue Wege" drückt diese Überzeugung so aus: „Das Drama ist im Ästhetischen (also nicht im Ethischen ?) der vollkommenste Ausdruck für die Kraft, den Willen, die Leidenschaft und Idealität einer Kultur". Diese Definition entspricht kaum der Forderung und Anforderung „strengster" Logik. Kraft schmeckt nach Kant, Wille nach Schopenhauer, Leidenschaft nach Nietzsche, Idealität nach Winckelmann und W. v. Humboldt; Leidenschaft tendiert nach Romantik, Idealität nach Klassik. Und das Ganze schmeckt trotz allen Wortaufwandes etwas fade nach Eklektizismus und mahnt an eben 21

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jenes Epigontentum innerhalb der „Moderne", das Lublinski so heftig zu bekämpfen vorgibt. Und was meint Lublinski z.B. mit der „Willensseele der Zeit" ? Oder was meint er damit, wenn er mit Bezug auf W. v. Scholz vom „Geheimnis des apriorisch-dramatischen Organismus" spricht ? Hat er das wirklich selber verstanden ? Das Vertrauen wird weiterhin eingeschränkt durch den Eindruck, daß alle frühere und zeitgenössische Dramatik samt den Dramen-Kritikern Alfred Kerr und Julius Bab in Mißkredit gebracht wird, damit der Weg frei ist für die Versuche im neuklassischen Drama. Dieser Eindruck erhöht sich, wenn Lublinski in dritter Person (es bedarf immerhin einer Anmerkung, um dieses Verfahren zu rechtfertigen) mit seinem „Gunther und Brunhild"Drama auf dem von allen Wettbewerbern weitgehend reingefegten Plan auftritt, einem Drama, das mit Recht ebenso vergessen ist wie die von ihm so wenig huldvoll behandelten dramatischen Versuche und Versager Julius Babs. Er argumentiert, daß es eigentlich gar keine T r a g i k o m ö d i e geben könne („Unbegriff des Tragikomischen"), jedenfalls nicht als berechtigte Sonderform. Denn die geistige Distanz vertiefe nur das Tragische durch intellektuelle Erhebung über das Schicksal, und auf der anderen Seite führe das Wagnis in der Komödie, auch „dunkle Gewalten" heraufzubeschwören und dennoch mit ihnen zu spielen, wohl zur „vollkommensten Komödie", aber ebenfalls nicht zur Tragikomödie. Damit wird eine der wertvollsten Sonderformen, die von der neueren Dramatik überhaupt herausgebildet worden sind, kurzerhand wegargumentiert. Gewisse Ansätze zum Lustspiel werden Bernard Shaw immerhin zugebilligt, der aber im Gesamt — anders und doch ähnlich wie Wedekind — bei der bloßen Karikatur stehen bleibe. Kurz, auch für das Lustspiel ist es der Neuklassik vorbehalten, werdende Werte zum mindesten anzudeuten. Der Ehrgeiz des Dichters erdrückt die Ehrlichkeit des Kritikers und trübt die Einsicht des Kunsttheoretikers. Aber auch bei Paul Ernst, der sein kunsttheoretisches Gewand auf eigene Paßform und Kleidsamkeit zuschnitt, war das nicht viel anders. Am sympathischsten wirkt in diesem Betracht noch W. v. Scholz. Unbelasteter von solchem persönlichen Ehrgeiz ist der Essay über die „Erzählung". Der etwas betont schlichte Titel könnte abhängig sein von Jakob Wassermanns kleiner Schrift über „Die Kunst der Erzählung", die damals bereits ein halbes Jahrzehnt

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vorlag, bei Lublinskis kritischem Eingehen auf die Prosaepik Wassermanns allerdings nicht berücksichtigt, jedenfalls nicht genannt wird. In Wirklichkeit beschränkt sich indessen dieser Sonderaufsatz keineswegs auf die Erzählung im prägnanten Sinne, was weit eher bei Jakob Wassermann der Fall war. Er meint ganz allgemein Epik und ist mehr kunstkritisch als kunsttheoretisch orientiert. Immerhin läßt es — im Rückblick auf Wassermanns Vorgängerschaft — aufmerken, daß gerade der Erzählung eine erstaunliche „Evolution" zugebilligt wird. Einigermaßen äußerlich wird als Merkmal der Erzählung bezeichnet, daß sie länger sei (immer?) als die Novelle und kürzer als der Roman. Die Erzählung im Rahmen der „Heimatkunst" wird als unzulänglich im Vorbeigehen abgetan. Gemessen am Wertkriterium der „synthetischen Kunst" muß die Erzählung versagen. Denn die Aufgabe der epischen Dichtung liegt darin, „die Breite des Lebens in der Einheit der dichterischen Idee zusammenzufassen". Diese Aufgabe kommt dem Epos und dem Roman zu. Der Erzählung fehlt die straffe Zucht der Novelle und die „Breite und Fülle des Romans". Neben den großen französischen und russischen Erzählern finden der Däne Jens Peter Jacobsen (zeitweise auch von anderen sehr hoch eingeschätzt) und die Schwedin Selma Lagerlöf ehrenvolle Erwähnung. Auf die Novelle, die als „moderne Novelle" einen „sehr strengen Stilcharakter" aufweisen oder herausbilden mußte, ist Lublinski nicht so eingeschworen wie P. Ernst, ganz einfach deshalb nicht, weil auch die Novelle dem „synthetischen Bedürfnis" kein Genüge tun könne. So fällt sein Blick, nachdem die impressionistische Skizze beiläufig ins Auge gefaßt worden ist (die übrigens bei den dichtenden Frauen der Heimatkunst recht beliebt war), auf den Roman und das Epos. Beim R o m a n kann er erneut der Verlokkung nicht widerstehen, die epischen Möglichkeiten der „Klassenverhältnisse", der Großstadtverhältnisse usw. auszubreiten. Es wird zunächst ein großer Vorteil für den modernen Romanschriftsteller darin gesehen, daß sozusagen von vornherein ein „epischer S o z i a l z u s t a n d " vorhanden sei, der rein motivlich dem Romancier weitgehend entgegenkomme. Leider aber hat die Angelegenheit eine Kehrseite. Und das ist der Mangel an Freiheit, die gerade der Epiker schlechthin nicht entbehren könne. Außerdem berge der Begriff „sozialer Roman" einen Widerspruch in sich selber, denn das sei ein „ E p o s der Maschinen", aber nicht der Menschen. Selbst Zola sei in einem „gigantisch-brutalen Impressionis21·

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mus" stecken geblieben. Thomas Manns „Buddenbrooks", die an sich nach wie vor (vgl. „Bilanz..") hoch eingeschätzt werden, demonstrieren keinen sozialen Roman, sondern einen psychologisch-individualistischen mit „typischen Zügen", manifestieren aber noch kein „typisches Epos". Der Austausch der Bezeichnungen Roman—Epos erinnert daran, daß offensichtlich der Roman als das moderne Epos betrachtet wird, wobei jedoch das eigentliche Epos als ranghöher den Maßstab zu stellen hat. Historischer Begriff und Wertbegriff geraten merklich durcheinander. Ebenso geraten ästhetische Voraussetzungen und politische Vorbedingungen für das Zustandekommen eines wertvollen Romans durcheinander. Nur so wird gerechtfertigt, daß Balzac und Dostojewski günstigere (politische) Bedingungen angetroffen haben als E. Zola oder Th. Mann. Aber diese Maßstäbe sind bedenklich leicht auswechselbar, und Lublinski jongliert denn auch mehr virtuos als gewissenhaft mit ihnen. Heinrich Mann z.B., der damals erst mit einem Ausschnitt seines Schaffens sichtbar war („Schlaraffenland, Professor Unrat, Herzogin von Assy"), verliert vor dem Maßstab, der den „klaren und sachlichen Blick des Epikers" fordert, gewinnt aber vor dem Maßstab der „epischen Synthese". Und da dieser Maßstab das Paradestück im kritischen Maßstabköcher darstellt, so schneidet er im ganzen recht gut ab, denn ihm wird die „ S e h n s u c h t nach e p i s c h e r S y n t h e s e " zugute gehalten. Natürlich wird Paul Ernst über Hermann Hesse gestellt, dem „geistige Bedeutung" abgeht, freilich ursprüngliche Poesie naiver Artung eigen ist. Lublinski spricht in diesem Zusammenhang vom „frisch-fröhlichen und herzlich harmlosen Hermann Hesse" („skandalös harmlos" nannte ihn A. Kerr). Das dürfte genügen — an Einzelbeispielen für den Roman. Nun fällt bei Erörterungen, ob und wieweit etwa eine Neubelebung des h i s t o r i s c h e n R o m a n s die neue „synthetische" und „typische" Epik bringen könnte, der Blick auf Ricarda Huch, und zwar recht wohlwollend. Hinsichtlich des Verhältnisses von Dichtung und Datentreue verteidigt Lublinski die dichterische Freiheit trotz des zunehmenden Drucks der Geschichtswissenschaft und der historischen Bildung moderner Leser (vgl. schon ein halbes Jahrhundert vorher W. H. Riehl). Der Dichter darf sich vom Historiker nicht einschüchtern und vom Urkundenmaterial nicht erdrücken lassen. Sonst bewegt sich seine Gestaltungskraft „in Fesseln und kann nur auf eine gleichsam illegitime Weise zur Gel-

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tung kommen". Ricarda ( = Huch; „Samuel" spricht z.T. von „Ricarda" wie manche von „Annette") sei da wohl zu ängstlich. Diese Freiheit fordert Lublinski wahrscheinlich nicht nur in Abwehr des Historizismus und des historischen Professorenromans, sondern auch und vor allem deshalb, weil ihm so etwas vorschwebt wie eine Spielart des historischen Romans, die zugleich Gegenwärtiges einzukörpern versteht. Und zwar nicht einmal so sehr (oder überhaupt nicht ?) im Sinne der Tendenz als vielmehr im Sinne einer „Offenbarung, Erhöhung, Ergänzung unseres eigenen Lebens" und nicht zuletzt einer „Erlösung unserer gebundenen (zeitgebundenen) Kräfte". Dabei geht Lublinski von der Ansicht und der Selbstbescheidung aus, daß seine Gegenwart und deren Motive „nicht unmittelbar" im synthetischen und typischen Roman neuen Gepräges verwendet und verwertet werden könnten. Er sucht also den Idealtypus auf einem Umweg zu erreichen. Das gilt zunächst einmal rein inhaltlich-stofflich, dann aber auch formal-gestaltungsmäßig. In diesem formungstechnischen Betracht faßt er den Umweg ü b e r den R h a p s o d e n ins Auge, den er sowohl bei Ricarda Huch (Roman) wie bei Carl Spitteier (Versepos) beschritten zu sehen glaubt. Carl Spitteier, der in seiner Art das Epos genau so fanatisch propagierte wie Wilhelm Jordan, aber immerhin über eine echtere dichterische Substanz verfügte, wird dabei etwas von oben herab als wackerer Schweizer mit didaktischem und allegorischem Einschlag abgetan, von G. Keller und C. F. Meyer getrennt und auf A. v. Haller, S. Geßner und J. J. Bodmer zurückverwiesen. Übrigens erinnert diese Darstellung Lublinskis daran, daß man zeitweise eine Abhängigkeit Nietzsches als „Zarathustra"-Dichter von Spittelers Epos „Prometheus und Epimetheus" angenommen hat. Die Dinge dürften etwa so liegen, daß zunächst ganz allgemein Spitteier von der Sprachgewalt Nietzsches beeindruckt war, daß dann freilich Nietzsche manches an Motiv usw. aus dem genannten Epos Spittelers an Anregung zugewachsen ist, wobei er dergestalt gleichsam eine Rückentlehnung eigenen Gutes vorgenommen hätte. Jedenfalls ließ der „Zarathustra" das äußere Modell weit hinter sich zurück. Rein dichterisch hatte vorübergehend C. Spitteier den Vorsprung gewonnen, aber seine Improvisation einer ahnungsvoll erkannten und vorausgesehenen Entwicklungsstufe wurde dann mühelos überholt vom Dichter-Denkertum Nietzsches, das gerade auf diesem Spezialgebiet gegenüber der Dichter-Dialektik

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Spittelers überlegen die Vollendung an die Stelle der Improvisation setzte. Es ist ungefähr so wie das Verhältnis von 0 . v. Gemmingens „Teutschem Hausvater" zu Schillers „Kabale und Liebe". Ungefähr so, denn dort fehlte die Vorstufe, deren Nachweisbarkeit hier zu der Bezeichnung Rückentlehnung (fast könnte man nämlich angesichts der Bedeutung der sprachlichen Prägung auch sagen: Rücklehnwort) weitgehend berechtigt. Lublinski geht auf die komplizierte Verflechtung und wechselseitige Verpflichtung Nietzsche — Spitteier — Nietzsche nicht näher ein. Aber auch hier kann sie nur vereinfacht und entsprechend vergröbert angedeutet werden. Lublinski kommt es viel mehr auf den Nachweis an, daß die von ihm vorausgesetzte oder vorausgesagte Sehnsucht nach einer „epischen Synthese" aus den von ihm behaupteten „epischen Elementen" des damals herrschenden Zeitgeistes bei ganz verschiedenen Dichternaturen wie Ricarda Huch und Carl Spitteier dennoch zu ähnlichen Ansätzen führen muß. Weder der soziale Roman noch der historische Roman noch der Zeitroman noch das mythische Epos scheint ihm eine volle Verwirklichung des ihm vorschwebenden Idealtypus der Epik zu verbürgen (höchstens ein Werden zu verheißen). Und so bleibt der kunsttheoretischen und der kunstkritischen Weisheit letzter Schluß der Ruf nach einer „besonderen Kunstform" innerhalb der „erzählenden Dichtung". Bei alledem ist zu berücksichtigen, daß jene Leitideen hier nur mittelbar von den literaturkritischen Beständen abgelesen worden sind (und werden konnten), ohne zu übersehen, daß im „Ausgang der Moderne" gemäß ihrem essayhaften Typus diese Leitideen umgebogen werden zugunsten des zu würdigenden Materials, das seinerseits wieder umgeknetet wird in Anpassung an jene Leitideen. Was mit „synthetisch" denn nun eigentlich gemeint ist, wird nämlich bei der Würdigung der epischen Neuerscheinungen ebenso wenig klar wie bei der kritischen Übersicht über die dramatischen und lyrischen Dichtungen jener „Gegenwart". Bemerkenswert ist der Umstand, d a ß L u b l i n s k i v e r s c h i e d e n t l i c h d a s W e r t a t t r i b u t „synt h e t i s c h " mit dem W e s e n s a t t r i b u t „ t y p i s c h " v e r b i n d e t , daß also das im Gehalt Synthetische offenbar das in der Gestalt Typische in sich einschließen oder zwangsläufig an sich heranziehen soll, um die Vollendungsform neuklassischen Kunstwollens zu umschreiben. Als drittes Wertungskriterium begegnet mehrfach der Begriff des S t i l b i l d e n d e n , des Kunststils neben dem Kulturstil. Es ist

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vom tragischen Stil die Rede und vom strengen Stil der Novelle, aber auch vom „Kulturstil" schlechtweg. Stil meint dabei weit überwiegend nicht Sprachstil, sondern Kompositionsstil, Maß und Zucht der Formung und den gestaltgewordenen „Willen zum Zwang" im Sinne W. v. Scholz'. Einmal definiert Lublinski im Essay über „Das Wesen des Naturalismus" diesen Stilbegriff folgendermaßen : „Stil bedeutet in Wahrheit nichts anderes als Vergeistigung des Stoffes, den wir nicht in seiner zufälligen Masse empfinden wollen, sondern in seiner inneren und zur Plastik gewordenen Logik". Das Moment der Abstraktion kommt dabei zur Geltung in der auch sonst mannigfach erhobenen Forderung der „Logik". Das Moment der gegenständlichen Einfühlung und Veranschaulichung kommt zur Geltung in der ebenfalls häufig aufgestellten Forderung nach „Plastik". Das Moment der Vergeistigung führt weiterhin zu einer hohen Bewertung eines „hochentwickelten Kunstverstandes", der (im Essay „Erzählung"), sowohl P. Ernst wie C. Spitteier zuerkannt wird. Und so tendiert die Neuklassik nicht in erster Linie zur lauten Größe wie die Geniezeit (als Vorklassik) und nicht zur stillen Größe wie die Klassik, sondern zur vergeistigten, abstrakten Größe. Es steckt aber in dieser abstrakten Größe weniger das Rein-Menschliche Goethes als das ÜberMenschliche Nietzsches. Und im Stilbegriff sank man unversehens und gewiß ungewollt zurück auf Vorformen wie Wielands „Classizität", ohne jene kraftvolle Gegenwehr aus dem Gefühl des Schöpferischen aufbringen zu können, die den jüngeren Schiller zunächst vor dem „Glanz der Klassizität" zurückscheuen ließ (Hamburger Theaterdichterplan Fr. L. Schröders). Man tröstete sich mit der „großen Seele", ohne zu bedenken, daß selbst für Wieland (etwa in der „Alceste") die große Seele erst aus der schönen Seele erwachsen war. Die „künstlerische Logik", die gegen die musikalische Lyrik der Neuromantik ausgespielt wurde, drückte die ganze neuklassische Bewegung auf einen aufklärerisch getönten Rationalismus und damit auf den Frühklassizismus zurück, nicht restlos, aber immerhin relativ, und zwar relativ weitgehend. Und so erstarrte der Stil zur Manier, die Zucht zum Zwang, wobei auch der „Wille zum Zwang" (Scholz) den „Weg zur Form" (P. Ernst) nicht als echten Weg nach Weimar (Fr. Lienhard, Höhenkunst) legitimieren konnte, während der Wille zur „Synthese" (S. Lublinski) wohl eine letzte Notlösung suchte, um das Widersprüchliche der Bestrebung als zukunfts-

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trächtig zu maskieren, aber eben dadurch auf einen Eklektizismus hinauslief. Kritisch gesehen und gesagt: Samuel Lublinski selber wurde zuletzt zu einem jener Epigonen innerhalb der „Moderne", die er so temperamentvoll und gewiß nicht ohne Geist bekämpfte. Er mußte es werden, weil er in der Kunsttheorie ein Epigone von Paul Ernst und Wilhelm von Scholz blieb.

Heimatkunst und mundartliche Dichtung Weltanschaulich und im Lebensgefühl kann die H e i m a t k u n s t b e w e g u n g (Ansatzjahr 1893, Durchbruchsjähr 1900, Prägung des Terminus 1898) als eine volkstümliche Sproßform der Neuromantik gelten, wobei sich neuklassische Tendenzen folgerichtig einmischen (Friedrich Lienhard: „Wege nach Weimar", Begriff einer „Höhenkunst" schon weit vorher). Kunstanschaulich wandelt sie die naturalistische Milieu-Theorie in eine gesundende Lehre und Liebe der ländlichen oder kleinstädtischen Umwelt ab und um, korrigiert den Pessimismus der naturalistischen Erblehren durch den überwiegenden Optimismus eines unverbrauchten ländlichen „Erbes", verlagert den neuromantischen Stimmungskult vorherrschenden Weltschmerzes auf die idyllische Schicht eines behaglichen Geborgenseins und den individualistisch-egozentrischen Zug zum neuromantischen und neuklassischen Übermenschentum durch ein altruistisches Angezogenwerden vom Dasein und Sosein des schlichten, aber in sich echten, des heimatlich wurzelechten Menschen. Kunsttechnisch verbindet sie in Motivwahl und Darstellungsart den Erfahrungszuwachs des poetischen Realismus (ζ. T. auch des konsequenten Realismus) mit Elementen eines vereinfachten Impressionismus und neuromantischer Stimmungsmalerei. Schon das mag andeuten, daß zwar mancherlei Merkmale des „literarischen Biedermeier" wieder ausgeprägt werden, daß aber die Heimatkunst nicht einfach als Wiederholung des Biedermeierlichen eingeschätzt und charakterisiert werden kann. Der nationale Impuls ζ. B. ist kraftvoller ausgeprägt. Auch ist der rein volkstümliche (bis mundartliche) Bestand weit stärker, als er damals gewesen war. Das Kunstschaffen zeigt bei alledem die breite Variationsstreuung der Einzelwerke und Einzelkünstler, hält sich aber im Gesamt der Erscheinungen an die Hauptrichtung des Kunstwollens auf Heimat und Volk. Dieser Kernbestand der Lehre war

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insofern nicht neu, als es schon längst eine betont heimatverbundene Kunst gegeben hatte. Ob man nun an Jeremias Gotthelf oder Annette von Droste-Hülshoff oder den Schwäbischen Dichterkreis oder das Wiener Vorstadtdrama Ferd. Raimunds oder B. Auerbach (forcierte Spielart) oder Adalbert Stifter oder Otto Ludwig denken mag, oder kleinere Begabungen wie Melchior Meyr, um nur einiges in Erinnerung zu bringen. Hinzu kam der Umstand, daß bei den großen Erzählern des poetischen Realismus wie G. Keller, Th. Storm, Th. Fontane u. a. aber auch in Hebbels Epos „Mutter und Kind" die heimatliche Umwelt, ihre Natur, ihre Menschen, ihre Eigenart, ihre Stimmung mindestens in wesentlichen Ausschnitten ihrer Werke und Wirkungen eindrucksvoll zur Geltung gelangt waren. Es konnte also an Traditionsträgern im Sinne der Vorbildpoetik nicht fehlen. Aber, um es vorwegzunehmen, die künstlerische Höhe dieser unmittelbaren Vorgänger ist kaum jemals von einem Vertreter der „Heimatkunst"-Bewegung erreicht worden. Insofern möchte man zuspitzen: das beste an dieser ganzen Bewegung waren ihre Traditionsträger, dergestalt daß jene „Heimatdichter" weit eher Künstler waren als die sogenannten „Heimatkünstler". Das gilt nicht zuletzt von der mundartlichen Dichtung, wo ζ. B. im niederdeutschen Raum Fritz Reuter und Klaus Groth, ja selbst John Brinckman schwer zu überbieten waren. Nicht zuletzt erklärt sich dieses Versagen der Heimatkünstler daraus, daß sie weder zum Realismus noch zur Romantik ein echtes Verhältnis gewinnen konnten. Bei ihrer Abwehr des Naturalismus streiften sie auch das Natürliche ab. Sie provozierten — ζ. T. wenigstens — „Natur" und produzierten sie nicht, letzten Endes, weil sie keine Künstlernatur hatten. Bei ihrem Vulgärmachen der Romantik gerieten sie in ein billiges Romantisieren, und selbst noch ihre „Herbheit" (ζ. B . bei Gustav Frenssen) wirkte mehr oder minder gestellt und gemacht. Es genügt eben nicht, geistig naiv zu sein, um künstlerisch das „Naive" zu gestalten; wie es nicht genügt, sentimental zu sein, um das „Sentimentalische" zu gestalten. Sie dachten und machten sich echte Heimatkunst durchweg viel zu leicht, indem sie den Akzent auf „Heimat" und nicht auf „Kunst" legten, ohne sich und den anderen diese Akzentverschiebung einzugestehen. Und letzten Endes hatte A. Bartels vergeblich in dem vor allem von ihm eingebürgerten Terminus die „Kunst" als Mahnung mit hineingenommen.

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So führte F r i e d r i c h L i e n h a r d (1865—1929) mit seiner Parole „ L o s v o n B e r l i n " und seinem Aufbegehren gegen die „VorHerrschaft Berlins" (1900) noch lange nicht auf „Wege nach Weimar" (1906—08) und zu seiner frühzeitig projektierten „Höhenkunst". Es fehlte der spontane Impuls und das unbewußte Getriebensein. Alles war viel zu organisiert und zu wenig organisch. Es war gleichsam eine Trotzliebe, von der man besessen war. Eine Trotzreaktion gegen die „Großstadt-Literatur" führte folgerichtig zu einer Kleinstadtliteratur (ζ. B. bei Helene Bühlau). Aber man floh aus der Großstadt nicht im faustischen Trieb „hinaus ins weite Land", sondern in die enge Landschaft (auch geistig, auch gemütlich). Lienhard, der von der Theologie her kam, hätte sich doch, als er an das Gemüt appellierte, der hohen Verpflichtung bewußt sein müssen, die darin lag, einen Wert, den die Romantik, besonders die jüngere Romantik, bis ins Mystische vertieft hatte (vgl. Bd. III), aufzugreifen und würdig zu verwalten. Aber seine „Höhenkunst" tendierte mehr zu einer Neuklassik als zu einer Neuromantik. Und A d o l f B a r t e l s (1862—1945), der trotz dramatischer Ambitionen mit Hebbel kaum mehr gemeinsam hat als den Geburtsort und die zähe Dithmarschenart, mit Hauptmann dagegen nur den Geburtstag (15. November 1862) teilt, hätte sich sagen müssen, daß die Steigerung des Schlichten zum Heroischen einmal schon von der Klassik vollendend (Einfalt/Größe) verwirklicht worden war und daß sie eine der schwierigsten künstlerischen Aufgaben überhaupt in sich birgt, was Paul Ernst bald deutlich zu spüren bekam. Mit Poetisieren, Heroisieren und teilweisem Dilettieren kann man einer solchen Aufgabe beim besten Willen — und den hatte Bartels gewiß, was die Heroisierung heimatlicher Geschichte anlangt („Dithmarscher"-Roman) — eine gültige Lösung nicht abringen. Vielleicht hätte er besser in die „neue Sachlichkeit" hineingepaßt als in eine romantisierende Heimatkunst, für die er im Grunde viel zu sachlich-nüchtern angelegt war. A. Bartels war bekanntlich Antisemit, auch als Literaturhistoriker und Kritiker. Die Frage der Heimatkunst betrifft das insofern, als er in ihr ein gesundes Mittel sah zur nationalen Regeneration von literatenhaften „Entartungserscheinungen" (Ansatzstelle für das nationalsozialistische Literaturprogramm; vgl. „Blut und Boden"). Nicht zuletzt hierin, in der Bekämpfung des Rationalismus und Intellektualismus, trifft er mit Lienhard zusammen in der Besorgnis um ein volkswürdiges Dichtertum.

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Es lag eine gewisse Stärke der Heimatkunsttheorie darin, die Kunst aus den exklusiven Kreisen zu befreien, und aus der „Salonsache" der „Neuigkeitsjäger" (Lienhard) eine Sache und ein Anliegen des Volkes zu machen, damit aus der „Berliner Spezialsache" eine deutsche Nationalsache, eine Nationalangelegenheit werden könnte. Zunächst jedenfalls wurde in der „Literaturjugend von heute", jener eifernden „Fastenpredigt" im Rahmen der Essay-Sammlung Lienhards „Neue Ideale" (1901), die Jugend vor die Alternative gestellt: „Volk oder Literatur", so daß von hier aus der Weg nicht weit war zu einer Volksliteratur oder richtiger Volksdichtung; denn der Terminus Literatur und vollends „Literat" war zeitweise (wie noch späterhin) verpönt, ja verfemt, während sich Hermann Sudermann noch 1902 beschwerte, daß am Wertwort „literarisch" alles von einer „verrohten Kritik" gemessen wurde. Schiller hatte angedeutet (G.A.Bürger-Rezension, vgl.Bandlll), wie schwer es sei, die Bildungskluft durch Kunst zu überbrücken. Daran hätte man anknüpfen können und vielleicht sollen. In gewissem Grade hatte es Gustav Frenssen bereits 1898 getan, als er in seinem Roman „Die drei Getreuen" durch den Mund einer Gestalt der Dichtung als erwünschtes Ziel aufstellte „so etwas für das ganze Volk, was der Gebildete gern liest und auch der einfache Mann". Wenn Frenssen bei dieser Gelegenheit Fritz Reuter als Gewährsmann ins Treffen führt, spielt er eindeutig auf die Heimatkunst an. Wenn er freilich auch Gustav Freytag als Vorbild ins Auge faßt, so wirkt seine Orientierung schon etwas unsicher. Aber er wollte jedenfalls, von seinem Kunstwollen her gesehen, etwas „so recht Deutsches und Einfaches", und es war zudem noch der vielbegehrte und vielgeehrte Verfasser des „Jörn Uhl"-Romans (1901), der dies schrieb. Immerhin hatte er jene These einige Jahre vor seinen großen Erfolgen, neben „Jörn Uhl" dann vor allem der „Hilligenlei"-Roman (1905), durchaus zielstrebig aufgestellt. Und weitergehend als seine Mitstrebenden hat G. Frenssen, abgesehen etwa von Clara Viebig, dieses Ziel wenigstens annäherungsweise erreicht. Es wird aber ratsam sein, den ersten programmatisch relativ geschlossenen Vorstoß (vereinzelte Vorstöße lagen schon früher) zu beobachten und auch seine Zielrichtung wenigstens annähernd zu bestimmen. Mit anderen Worten, es geht darum, die ersten Aufsätze in der „Heimat" nach ihren kunsttheoretischen und kunstpädagogischen Erträgen zu interpretieren.

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Die „Heimat", deren erstes Heft am i . Januar 1900 herauskam (Leipzig und Berlin), war verlagstechnisch keine Neugründung des Verlegers Georg Heinrich Meyer. Sie setzte unter neuem Titel eine Zeitschrift fort, die schon bestand, und trägt denn auch die Zusatzbezeichnung „Neue Folge des Boten für deutsche Literatur, Blätter für Literatur und Volkstum". Die allgemeine Marschrichtung lag also schon fest, wie nicht nur der Bezug auf das „Volkstum" ablesen läßt, sondern bei näherem Hinhören bereits anklingt in dem Merkwort „Bote" (vgl. „Wandsbecker Bote" usw.). Fr. Lienhard wollte den Titel „Hochland "durchsetzen (den dann ab 1903 eine katholische Zeitschrift wählte). Jetzt trug wenigstens sein erster Beitrag in der „Heimat" das symbolische Kennwort „Hochland". Und man erfährt bei dieser Gelegenheit zugleich, was denn nun mit der „Höhenkunst" gemeint war, wenigstens hinsichtlich der tragenden Strukturen dieser Konzeption und Perspektive Lienhards. Unter Aufgreifen und Einbegreifen des alten Stich worts der Zeitschrift vom „Volkstum" geht Lienkard aus von der Einheit in der Zweiheit Körper-Geist, um daraus die Einheit in der Zweihaftigkeit „Volkskörper-Volksgeist" abzuleiten. Zugleich aber meldet er von vornherein sein Anliegen an: der Pers ö n l i c h k e i t s w e r t ist zu b e w a h r e n auch im Rahmen und Raum der Volkstümlichkeit. Nicht wie im Naturalismus hat die Persönlichkeit aufzugehen in der Umwelt oder gar nur veranschlagt und dargestellt zu werden als Produkt dieser Umwelt, auch nicht der gesunderen ländlich-volksnahen Umwelt. Die Ausbildung der Persönlichkeit nimmt merklich den Bildungsidealismus klassischen Gepräges auf. Doch hat sich diese reife und runde Bildung zu vollziehen in ständiger, inniger Fühlung mit dem Volkstum. Der Mensch ist nicht zum naturalistischen „Bazillensuchen" auf diese im Ganzen doch schöne Gotteswelt gesetzt worden, sondern zu einem idealistischen „harmonischen Wachsen und Reifen unserer Persönlichkeit in und mit einem ebenso gesunden Volksganzen". Dabei darf nicht übersehen werden, daß das „Gesunde" schon in der Kunstanschauung des reifen Goethe eine wesentliche Bedeutung besessen hatte. Das schwingt bei Lienhard nach und nicht nur die Gesundheit des Landes und Volkes. Wohl aber benutzt er die Abwehr des Ungesunden zu polemischen Vorstößen gegen den Naturalismus, und zwar ausgiebig. Das sei eine Depressionskunst von Tiefstimmungen ohne jene erwähnte „Größe und Klarheit", eine „Poesie der Kümmer-

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lichkeit" und „Unkraft". Nicht ungeschickt hebt nun Lienhard seine Höhenkunst und „Hochland"-Kunst ab von dieser naturalistischen Niederungskunst, indem er das Leitmotiv der „Versunkenen Glocke" auftönen läßt: „Im Tale mag diese Poesie der Kümmerlichkeit klingen, auf den Höhen nicht". Hauptmanns Frühwerk wird also künstlerisch nicht unbedingt verworfen, aber die ganze Richtung paßt Lienhard nicht in sein Konzept. Und wie so viele andere um jene Zeit es taten, begrüßt er die neuromantische Wendung Hauptmanns, die vor allem im Märchendrama sich allen sichtbar vollzog. Das aber erinnert daran, daß Lienhard nicht etwa auf dem Boden der Heimatkunst einfach eine Art von Neuklassik aufnahm oder vorwegnahm. Vielmehr kam er ohne Romantik nicht aus, und zwar nicht zuletzt wegen der starken christlich-religiösen Impulse, die seine ganze Kunstanschauung durchregten und bewegten. Die Vermittlung hat — wie später auf höherer Ebene bei H. Hesse — Jean Paul zu bieten. Themagemäß greift Lienhard besonders auf die Vorrede zu „Quintus Fixlein" zurück, wo Jean Paul von den drei Wegen (Höhenweg, Talweg der Idylle, Mittelweg über Höhe und Tal) den dritten Weg für „den schwersten und klügsten" gehalten und eben deshalb ihn dem Dichter angeraten hatte. Diese Entscheidung Jean Pauls will sich nun freilich nicht so recht den Kunstabsichten Lienhards einfügen; denn der wollte durchaus auf die „Höhe des Hochlands" und der Höhenkunst. Aber sie half ihm einen Kompromiß finden, einen Kompromiß auch und nicht zuletzt, um sich einigermaßen aus dem Konflikt zwischen seinem eigenen Programm und dem des Verlegers G. H. Meyer und A. Bartels' herauszumanövrieren. Denn der erste Weg, der an sich auf das „Hochland" führen würde, ist noch nicht gangbar, so müsse man — aber das bleibt die Mindestforderung — unter den Wegen Jean Pauls abwechseln. Im Gesamt hält es Lienhard gegenüber der grauen Alltäglichkeit mit dem Sonntäglichen. Und in gewissem Grade ist schon bei ihm jenes Prinzip der „Festlichkeit", des „Festlichen" der Poesie vorgebildet, das dann späterhin vor allem von Albrecht Schaeffer voll ausgeprägt und in die Zentralstellung der Dichtungsdeutung und Kunstauffassung gerückt werden sollte. Den ganzen Aufsatz durchzieht ein fortgesetzter Abwehrkampf gegen den Rationalismus letztlich aufklärerischen Ursprungs mit allen seinen kulturhistorischen und denkgeschichtlichen Sproßund Spielformen. Die allein verläßliche Gegenkraft bietet die Ro-

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mantik und in ihr eingekörpert und bewahrt die Religion, die für Lienhard in Luther ihre repräsentative Gestalt gefunden hat. Es besteht geradezu eine Identität von Religion und Poesie: „Zwischen w a h r e r R e l i g i o s i t ä t u n d w a h r e r P o e s i e ist kein Unterschied". Zum mindesten aber besteht eine innige — oder wie Lienhards rhetorische Schwärmerei lieber sagt — eine „hehre Verwandtschaft" zwischen Religion und Kunst. Das erste Heft der „Heimat", das u. a. Beiträge von J. J. David über Ludwig Anzengruber, von Karl Stork über Bildende Kunst im Elsaß, neben einem Prosabeitrag Rudolf Huchs auch eine Selbstanzeige von dessen Schrift „Mehr Goethe" und niederdeutsche Gedichte von Max Dreyer aufwies, brachte betont an zweiter Stelle hinter dem gewürdigten Artikel Lienhards den grundlegenden Aufsatz von A d o l f B a r t e l s über „Heimatkunst". Bartels hat dann diesen Leit-Artikel mit seinen anderen Beiträgen zur „Heimat" zusammengefaßt in den sogenannten „Grünen Blättern für Kunst und Volkstum" (die ebenfalls bei G. H. Meyer erschienen) unter dem Titel „Heimatkunst, ein Wort der Verständigung" um damit alles Wesentliche konzentrieren. Trotzdem muß hier vor allem jener Einzelaufsatz in der „Heimat" interessieren, weil er zunächst einmal die programmatische Entwicklung förderte. In ihm greift Adolf Bartels die schon vorher gleichsam versuchsweise erprobte Bezeichnung „Heimatkunst" (1898) bewußt und programmatisch wieder auf und rechtfertigt ihre Wahl durch vergleichende Kritik an ähnlichen und doch andersartigen Bezeichnungen. „Heimatkunst" sei nämlich nicht nur „ein neues Wort für eine alte Sache". Die sogenannte „örtliche Kunst" sei noch lange keine Heimatkunst im prägnanten Sinne. Der „Volkskunst" hafte so etwas Peinliches an von einem wohlwollenden Sich-Herablassen zum Volke, das man damit zugleich „belehren" wolle. Das Heimatliche werde dabei nicht als Eigenwert ausgeprägt, sondern zum bloßen Mittel für einen (didaktischen, aufklärenden) Zweck herabgedrückt. Bei der etwa um 1840 entwickelten „Dorfgeschichte" sei das Mittel-ZweckVerhältnis beibehalten und nur vom Didaktischen zum „Ästhetischen" verlagert. Es fehle vielfach die Lebenswahrheit, so bei B. Auerbach, aber auch bei K. L. Immermanns Oberhofgeschichte, die erstaunlich scharf kritisiert wird. Sie sei nicht einmal eine echte Dorfgeschichte. Was die Vertreter des „poetischen Realismus" betrifft, so nennt Bartels als näher in Betracht kommend Otto Ludwig, Gottfried

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Keller, Klaus Groth, Fritz Reuter, Th. Storm, W. Raabe, L. Anzengruber, P. Rosegger. Aber er erhebt bei aller künstlerischen Anerkennung den Einwand, das sei „Stammeskunst", nicht Heimatkunst. Außerdem sei das Heimatliche nur Begleiterscheinung und Begleitmotiv, nicht Haupterscheinung und Leitmotiv. Und wieder überwiegen ästhetische, wohl auch psychologische Darstellungsabsichten, so etwa die an sich anerkannte „feinste Seelenmalerei" bei Otto Ludwig. Friedrich Hebbel wird in jener Reihe nicht genannt. Das ist beachtenswert; denn dem verehrten Landsmann wollte Bartels, der ebenfalls aus Wesselburen stammte, eine Sonderstellung zubilligen. Vorerst aber findet allein Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius) Gnade vor Bartels' gestrengen Kritikeraugen, die merklich sonst ganz geblendet sind von der Leuchtkraft des neuen Ideals. Gotthelf ist die große bewunderte Ausnahme. Er ist sie — und das ist sehr bemerkenswert — deshalb, weil in ihm zuerst der Naturalismus durchbricht in einem Grade, daß er sowohl als Vater „des deutschen Naturalismus" wie auch als Vater der Heimatkunst gelten könne. Es wird deutlich, Bartels' Stellung zum Naturalismus hebt sich — zum mindesten damals — beträchtlich ab von derjenigen Lienhards. Die Frage, ob Heimatkunst schon auf jenen erwähnten Vorstufen vorgelegen habe, wird überwiegend daran gemessen, ob die Darstellung konsequent realistisch ist. Auch der „poetische Realismus" insgesamt versagt vor diesem Kriterium. Aber es wird gleichzeitig oder sehr bald auch deutlich, daß Bartels unter einem „deutschen Naturalismus" etwas anderes verstanden wissen will als etwa eine Nachfolge E. Zolas, den er mit dem Prädikat „scheußlich" abfertigt. Er möchte nicht den Naturalismus schlechtweg verteidigen, aber der „deutsche intime Naturalismus", wie ihn Liliencron, Sudermann (Romane), Hauptmann und Max Halbe vertreten, biete einen vorteilhaften Ubergang zur Heimatkunst, ja sei recht eigentlich schon selber solch ein Übergang. Fast scheint es so, als ob Bartels schon damals die verfeinerte Spielform des Impressionismus vorgeschwebt habe. Trotz aller verdienstvollen Vorarbeit dieses intimen Naturalismus deutscher Prägung (impressionistischer Art) bleibt indessen ein entscheidender Unterschied im Verhältnis zur Heimatkunst bestehen. Man könnte etwa sagen: das Temperament, durch das der Naturalist, auch der wertvollere, das Stück Natur sieht, ist anders. Der Naturalist sieht es mit den kühlen Augen des Wissenschaftlers, der Heimatkünstler

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mit den warmen Augen der Liebe. Der Vertreter des Naturalismus ist ein verstandesmäßig Beobachtender, der Vertreter der Heimatkunst ein gefühlsmäßig Beteiligter. An dieser Stelle berührt sich Bartels wieder mit Lienhard, der in ähnlichem Sinne — entsprechend schwärmerischer — das Wort der Antigone zitiert hatte: „mitzulieben, nicht mitzuhassen bin ich da". Gegen beide aber liegt natürlich der Einwand nahe, ob denn die Naturalisten wie Hauptmann oder Halbe und Impressionisten wie Liliencron ihre Heimat nicht geliebt, sondern nur wissenschaftlich kühl beobachtet hätten. Als Vorläufer in dieser HeimatkunstBewegung nennt Bartels außer Lienhard Julius Langbehn (Kulturpolitik), Heinrich Sohnrey (Zeitschrift „Das Land") und Cäsar Flaischlen (Vorwort zu „Neuland" 1894). Die gewonnene Definition lautet: „Heimatkunst ist das von aller individuellen Willkür freie, hingebende treue Darstellen (Annäherung an den Naturalismus) und Schaffen aus heimischem Leben heraus, aber aus heimischem Leben in seiner Gesamtheit und unter dem Einfluß der Zeitbewegungen (Einbau der kulturpolitischen Bestrebungen), die örtlich abgetönt erscheinen; sie ist durchaus echte Kunst, sie wird große Kunst werden, sobald sie die Entwicklung großer Persönlichkeiten (Einbau des Persönlichkeitsideals) vom Heimatboden aus (Einbau des Verhältnisses Persönlichkeit — Volk) in Volk und Menschheit hinein (Ausweitung zur Weltkunst) darzustellen haben wird". Zugleich sieht Bartels in ihr ein nützliches Erziehungsmittel und ausgleichendes Regulativ sowohl für schwächere als auch für starke Talente. Denn sie gibt den Schwachen festen Halt (Heimatboden) im Strudel von genialer Scheinberufung (mit Hauptmann zu reden „im Wirbel der Berufung"),Tradition-Konvention und ästhetisierenden, kunsttechnischen Ambitionen. Dem Genialen aber gibt sie den festen Absprung in eine — und damit erhält Lienhard eine versöhnende Verbeugung — „Höhenkunst". Im Gegensatz etwa zum Charon-Kreis hält man sich den „Zeitbestrebungen" also nicht exklusiv fern. Bei Bartels versteht sich das von selber. Lienhard, der weltfremde Schwärmer, seufzt zwar über den „oft abirrenden Zeitgeist", möchte aber doch mit dieser Zeitschrift gern „modern" erscheinen, moderner sogar als „der modernste Bahr". Ahnte er am Ende schon damals, daß Hermann Bahr bei allen kommenden Richtungen bis hin zum Expressionismus immer der „modernste" bleiben würde 1 Uns aber steigt angesichts dieser Heimatkunst-Per-

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spektiven bis zur „Menschheitskunst" (so A. Bartels) der Seufzer am Wege auf: das Papier ist geduldig; aber der Pegasus ist bockig. Das gilt am Ende auch für den Charon-Kreis, der kunsttheoretisch ebenfalls interessanter wirkt als im Gesamt seiner Kunstleistung. Blättert man in Friedrich Lienhards „Thüringer Tagebuch" (1904), so trifft man in der Form auf Versuche, zwischen Reisebild und Essay, Predigt und Plauderei einen eigenen Skizzentyp zu entwickeln. Im Inhalt begegnen sich religiöser Sinn und nationaler Sinn mit idyllischer Besinnlichkeit und pädagogischer Absicht. Kunsttheoretisch am bemerkenswertesten ist unter diesen ζ. T. aphoristischen Stimmungsbildern wohl das „Nachtgespräch im Park von Weimar", sozusagen ein einseitiges Geister-Kunstgespräch, weil der Gesprächspartner Lienhards, der sich im Dunkel des Parks zu ihm gesellt, wohl den Geist Weimars (vielleicht Goethes ?) zu vertreten hat. Weit besser zu Lienhard gepaßt hätte allerdings der „Geist" Kosegartens, und zwar nicht nur wegen der idyllischpastörlichen Grundtönung! Stimmungsmäßige Ausgangsstellung: Lienhard fühlt sich „schroff andersgeartet als alle Schrift st ellerei der Umwelt", und so haßt er die „Literatur" und liebt doch die Dichtkunst. Ideenmäßige Auffangsstellung: geistig-gemütliche Heimkehr nach Weimar im Sinne eines echten Dichtertums. Die an sich achtbaren Errungenschaften der Neuzeit (Überlegenheit gegenüber Alt-Weimar) gewinnen erst Wert, wenn sie ergänzt werden durch kulturelle Verinnerlictiung (Unterlegenheit gegenüber Alt-Weimar). Um diese zu erreichen, gilt es nicht zuletzt, gegenüber der Hast der Großstädte die „rechte, freundliche Ruhe des Beschau ens" wieder hochschätzen zu lernen und der inneren Konzentration sowie der schöpferischen „Stille" ihr leider längst verlorenes Recht wieder einzuräumen. Der Einbruch des „Minderwertigen" und „Unnützen" (typisch schulmeisterlich ausgedrückt!) ist abzuwehren, weil angesichts der Überfülle von Eindrücken und Einflüssen ökonomisch in der geistigen Raum- und Rangverteilung zu verfahren ist. Ein kritischer Seitenblick fällt auf den Neuerwerb an Motiven im Naturalismus, wobei u. a. Maxim Gorkis „Nachtasyl" anklingt. Die kulturpolitischen Hintergründe der kurzlebigen Zeitschrift „Heimat" sind schon von anderer Seite (B. Huber) aufgedeckt worden. Es handelt sich vor allem um den Rembrandt-Deutschen Julius Langbehn mit seiner viel Aufsehen erregenden anonymen Schrift „Rembrandt als Erzieher, von einem Deutschen" (1890), 22

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deren Titelgebung merklich Nietzsches „Schopenhauer als Erzieher" in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen" (1873—75) beeinflußt hatte und die eine gründliche „Regeneration" der Kulturwerte und Kunstwerte propagierte. Und damit ist eigentlich schon der zweite kulturpolitische Gewährsmann ins Blickfeld der Betrachtung gerückt: Paul de Lagarde (1827—91), dessen „Deutsche Schriften" 1886 erschienen waren. Originalideen wurden also weder von Lienhard noch von Bartels auf die Bahn gebracht, ganz abgesehen davon, daß jener geistreich wendige Österreicher, der bis hin zum Expressionismus alle neuen Richtungen vorausgespürt und vorausannonciert hatte: Hermann Bahr auch in diesem Falle den unmittelbaren Vorsprung innehielt, indem er sich die „Entdeckung der Provinz" nicht hatte entgehen lassen. Man mag darüber leise lächeln, aber „irgendwie" gehörte doch auch eine selten so ausgeprägte Begabung dazu, das zu wittern, was jeweils in der Luft lag (vgl. den Hermann-Bahr Abschnitt). Es dürfte sich empfehlen, neben Friedrich Lienhard und Adolf Bartels jenen Begründer des Harzer Bergtheaters etwas stärker, als dies bisher geschehen ist, in das Zentrum der Bewertung und Beachtung zu stellen, und zwar auch mit Rücksicht auf den verhältnismäßig frühen Einsatz seiner Bestrebungen. Denn E r n s t W a c h l e r (1871 —1945) kann schon drei Jahre vor dem ersten Heft der „Heimat" eine kleine Sammlung von drei Essays vorlegen, die er unter dem programmatischen Titel „Läuterung deutscher Dichtkunst im Volksgeiste" (1897) herausgab. Er nennt diese Publikation selber „Eine Streitschrift" (Zusatztitel). Sie ist es im prägnanten Sinne kaum; denn sie verfällt immer wieder in mehr oder minder gelehrte kulturgeschichtliche Darlegungen. Wohl aber ist sie eine Programmschrift mit propagandistischer Tendenz. Schon die Einleitung, die gleichsam symbolisch oder doch symptomatisch auf das Jahr der ersten kräftigeren Vorwelle der Heimatkunstbewegung (1893) zurückgreift und eine in Amerika gehaltene nationalpolitische und heimattreue Rede des einstigen Kinkel-Befreiers Karl Schurz aus diesem Jahre als Anknüpfungsstelle benutzt, prägt die vorherrschenden Leitsätze klar aus: Propagierung einer Heimatkunst auf dem Traggrund einer neu zu begründenden Nationalliteratur, die ihrerseits fest nur auf einer in sich geschlossenen Nationalkültur gründen kann. Doch steht der Nationalkultur-Gedanke noch nicht im Vordergrund. Dagegen herrscht von vornherein eine gesteigerte nationale, ja streckenweise natio-

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nalistische Atmosphäre teutonisierender Prägung. Verworfen wird sowohl der „internationale" Naturalismus einerseits als auch die volksferne großstädtische „d6cadence-Literatur" andererseits (erneuter Ansatz für literarische Bestrebungen im Nationalsozialismus). Der erste der Einzelaufsätze trägt den kämpferischen Titel „Mangel und Notwendigkeit einer Nationalpoesie". Hier breitet der dreißigjährige Doktor noch merklich seine Kenntnisse aus. Man hört den Germanisten, wenn etwa Karl Goedeke (national) gegen Wilhelm Scherer (auslandshörig, daher „verderblich") ausgespielt wird. Sogar Goedekes „Grundriß" wird als Mahnmal mitten in der volkstümlichen Landschaft aufgebaut. W. H. Riehl gilt als Gewährsmann, und Wackernagels „Poetik" wird mehrfach um Rat befragt, natürlich nicht in Sachen der Poetik, sondern im Dienst der nationalen Kulturpolitik (Entfremdung von Literatur und Volk). Der schützende Schatten P. de Lagardes (mit seinen „Deutschen Schriften") taucht programmgemäß im Hintergrund auf. Fast hat man auch angesichts der gewählten Überschrift den Eindruck, als habe der Verfasser eine dunkle Erinnerung in sich getragen von Joh. Heinr. Mercks „Vom Mangel epischen Geistes in unserem lieben Vaterlande" (vgl. Band II). Denn nun bezweifelt er angesichts der mißlungenen Bemühungen Rückerts und Simrocks die Möglichkeit eines neuen nationalen Epos'. Aber hier steht er wieder unter dem Einfluß Wackemagels. Im Hinblick auf die spätere Vernachlässigung einer Theorie des Epos in der Neuklassik, die damals erst im Anmarsch begriffen war, sei immerhin der Satz vermerkt: „Alle Bedingungen fehlen für das Entstehen des Epos." Wachler will bewußt anknüpfen an die Tradition, „deren Erwecker Herder ist". Im Aufsatz „Volkstümliche Dramatik" bringt er einige Grundgedanken und Haupttendenzen. Der Weg zum Volksdrama führt fort von Weimar. Das „Los von Berlin I" wird geradezu ergänzt durch ein „Los von Weimar 1". Die Weimarer Klassiker hätten nämlich „ein humanistisches, dem Volksbewußtsein fremdes Theater der Bildung" geschaffen, eine Hinterlassenschaft, die für eine Entwicklung des spezifisch nationalen und volksnahen Dramas nur ablenkend und irreführend sein muß. Bei dem von ihm typographisch hervorgehobenem Terminus „Theater der Bildung" kommt Ernst Wachler gar nicht die Gefahr zum Bewußtsein, daß man womöglich den Gegen-Terminus „Theater der £2*

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Unbildung" anwenden und ausspielen könnte. Dazu ist er viel zu begeistert und zu überzeugt von seiner guten Sache. Demgemäß geht er recht summarisch mit dem deutschen Drama um und recht schneidig mit den bislang vorliegenden Beständen ins Gericht. Ein gewisser Realismus ist erwünscht, daher kommen Kleist, Grabbe und Hebbel recht gut weg. Sogar G. Büchner wird positiv verzeichnet, was damals noch keineswegs selbstverständlich war. Diese mehr oder minder realistische Richtung scheint ihm nämlich am ehesten geeignet, vom klassischen Drama Weimars fort und zum nationalen und volkstümlichen Drama hinzulenken. Goethe und Schiller kommen für eine „volkstümliche" Dramatik am ehesten noch mit ihren Jugenddramen in Betracht. Aber dieser angeratene und angestrebte Realismus ist doch, näher betrachtet, ein recht gezähmter und wohltemperierter Realismus. Letzten Endes möchte er eine Neuauflage des poetischen Realismus, der sich in der Tat fast zwangsläufig anbietet, wo man nach „Heimatkunst" Ausschau hält. Kein Wunder, daß besonders auch in der Theorie häufig R ü c k g r i f f e auf O t t o L u d w i g erfolgen (in allen drei Essays). Stofflich verweist Wachler auf den Motivschatz von Sage und Märchen, von nationaler Geschichte und Vorgeschichte, von Sitte und Brauchtum („Tun und Treiben des Volkes"). Bei dieser Gelegenheit erfolgt jener Aufruf aller Stämme und Landschaften zugunsten einer volkstümlichen Spielart des neuen und echten Nationaltheaters, den bereits A. Soergel zitiert hat. Formungstechnisch ist mit Lessing eine allzu edle Sprache zurückzudrängen, aber natürlich auch eine zu derb-brutale (Abwehr des konsequenten Realismus). Es läuft also wieder auf den Mittelweg des poetischen Realismus hinaus. Im Gegensatz zum Naturalismus wird der Monolog nicht nur geduldet, sondern empfohlen. Gewarnt aber wird vor einer bloßen Dialogisierung von Novellen, etwa nach Art der „Familie Selicke" von Holz und Schlaf. Gewarnt wird auch vor einer Anlehnung an die großen wissenschaftlichen Geschichtswerke, während die Chroniken als volksnäher empfohlen werden. Dabei wirkt sich der Einfluß W. H. Riehls aus. Gewarnt wird endlich vor einer Vernachlässigung der dramatischen Spannung durch zu starke Abgeschlossenheit der einzelnen Akte und Szenen. Kurz, es erfolgt eine ganze Reihe von kunsttechnischen Einzelwinken, um die „volkstümliche Dramatik" auch vom Dramaturgischen her zu sichern und anregend zu fördern. Bemerkenswert erscheint die Abwehr einer zu kleinlich-exakten

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Schilderung der Umwelt (Abwehr der naturalistischen MilieuLehre). Otto Ludwig muß aus der Verlegenheit helfen mit seinem Hinweis auf „eine ideale Behandlung" dieser Dinge. Denn allerdings befand sich an diesem Punkte — und nicht nur an ihm — die Heimatkunst oder doch ihre Theorie in einer gewissen Verlegenheit. Einerseits forderte sie treue Echtheit im landschaftlichen, dörflichen und städtischen Lebenskreis. Andererseits schreckte sie vor der Konsequenz naturalistischer Milieu-Schilderung zurück. Mit der Sprache war das nicht viel anders. Wachler tritt nämlich nicht für die mundartliche Lösung ein. Es käme vielmehr darauf an, irgendwie und irgendwodurch „den Ausdruck des schlichten Empfindens, den V o l k s t o n festzuhalten". Wie man das machen soll, wird nicht verraten. An dieser Stelle setzt später ergänzend und merklich erfahrener Timm Kröger mit seinen praktischen Winken ein. Die Hilfs- und Aushilfsformel Wachlers lautet „Frische". Und man spürt, daß er mehr das Angenehme und Annehmbare am Volkstümlichen ins Auge faßte, wenn er auch das „Groteske" und „Burleske" zuläßt. Es wurde schon angedeutet, daß R. Wagner als Wegbereiter in Anspruch genommen wird. Aber auch hier gerät man in Verlegenheit. Der romantisch-nationale Faktor in Wagner wird begrüßt. Aber — trotz der „Meistersinger" wird das volkstümliche Element vermißt, besonders in Wagners Kunsttheorie. Für Wachler stellt sich die Situation so dar: die Oper auch als Musikdrama kann nicht den Weg weisen zur „volkstümlichen Dramatik". Das steht im Hintergrund des dritten, zur wissenschaftlichen Abhandlung ausgeweiteten und mit Belegstellenangaben verzierten Beitrages „Die Grenzen der Ton- und Dichtkunst", die zugleich ein „Urteil über die Wagnerische Kunstform" (Titelzusatz) zu bieten verspricht. Da hätte man also endlich den oft geforderten „Laokoon" der Musik. Aber Ernst Wachler kann und will nicht darüber hinwegtäuschen, daß er dabei in der Fragestellung zurückgeht auf A u g u s t W i l h e l m A m b r o s : „Die Grenzen der Musik und Poesie, eine Studie zur Ästhetik der Tonkunst" (2. Aufl. 1872). Danach liegt das Gemeinsame im Erregen von Stimmungen. Die Musik kann durch Tonmalerei manches ausdrücken, was eigentlich schon dem poetischen Ausdrucksbereich angehört (Vogelstimmen, Gewitter, Elfenreigen usw.). Sie findet aber ihre Grenzen dort, wo exakt ein Gegenständliches oder eine in sich verbundene Be-

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gebenheit und ihr handlungsmäßiger Geschehensablauf ausdrucksmäßig zu bewältigen und eindrucksmäßig wirksam zu vermitteln ist. Ambros interessiert sich als Musikhistoriker vor allem für die Rückwirkungen dieser Einsichten auf das Fachgebiet der Musik und läßt die Poesie (vollends die Dramaturgie) zurücktreten. Hier setzt nun E. Wachler ein. E r argumentiert u. a. etwa so: das Beste im Drama ist für die Musik unbrauchbar. Wenn etwas im Drama für die Oper geeignet ist, so zeigt es eine Schwäche des Dramas an (opernhafte Züge). Wenig glücklich gewählt jedoch ist schon seine vermeintlich unangreifbare Definition: „Poesie ist wesentlich Gestaltung" (und Musik kann nicht eigentlich „gestalten"). Denn weit berechtigter könnte man sagen: Plastik (überhaupt die bildende Kunst) ist wesentlich Gestaltung, zum mindesten wäre sie mehr und im strengeren und engeren Sinne Gestaltung, als es die Poesie mit ihren Mitteln vermag. Die Schwäche dieser Position erklärt sich aus dem Bestreben Wachlers, die Poesie möglichst weit von der Musik fortzurücken. Bei diesem Unterfangen gerät er mit seiner dramatischen Poesie indessen bedenklich in das Herrschaftsgebiet der bildenden Kunst. Man darf nicht über dem Nachlaß zum „Laokoon" den „Laokoon" selber vergessen. In vielen Einzelinterpretationen sucht Wachler seine Ablehnung der Idee des Musikdramas und Gesamtkunstwerks der Zukunft näher zu erläutern, nachdem er sich vorher Zug um Zug mit den einschlägigen Anschauungen Wagners (vgl. Band IV, Wagner-Abschnitt) kritisch auseinandergesetzt hat. Es wäre reizvoll, darauf einzugehen; aber schon dieser Opern-Exkurs lenkt von der Ziellinie „Heimatkunst" beträchtlich ab. Da es jedoch um speziell kunsttheoretische und kunsttechnische Fragen geht, mag diese Abschweifung relativ gerechtfertigt sein. Wachlers Argumentation ist nun nicht ohne Tendenz. Es handelt sich nicht um zweckfreie Theorie. Er will beweisen, daß auch die Oper und selbst das Musikdrama Wagners, den er an sich verehrt, nicht als eine Art von Erfüllung des nationalen und volkstümlichen Dramas angesehen werden kann. Damit wäre der Anschluß an die Heimatkunst-Theorie wiederhergestellt. Ausdrücklich zieht Wachler den betonten Schluß, „dem Volksschauspiel müssen die Hauptmerkmale der Oper fehlen". Das wäre also eine negative Merkmalsbestimmung seiner Eigenart. Ebenso wie es nichts mit dem klassischen Hochstildrama zu schaffen hat. Es

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kann also weder von der Oper noch dem Musikdrama lernen. Die Kampftaktik E. Wachlers ist die schon oft beobachtete: man räumt alles bisherige beiseite, um völlig freien Raum für das angeblich erlösende „Neue" zu schaffen. Dort überall nur Nachteile. Hier dagegen: „Durch den volkstümlichen Stoff erlangt der Künstler Vorteile von höchstem Wert: Erdgeruch, Sinnlichkeit, Farbe und Stimmung". Das bleiben aber alles recht vage Merkmale. Und die sich anschließende Behauptung, ein weiterer Vorteil liege im gesteigerten Zuschauer-Interesse („lebhafte Teilnahme der Hörer"), ist mehr als fragwürdiger Natur und fordert die Gegenbehauptung heraus, daß gerade das Volk sehr viel Interesse für das Fremdartige besitzt, für alles das, was nicht ebenso ist, wie es selber ist. An dieser Stelle begegnen sich die Extreme: Naturalismus-Heimatkunst. Beide sind heimlich-unheimlich einig in dem Glauben, das Volk wolle sich im Theater vor allem selber zu Gesicht bekommen. Skeptische Kritiker freilich meinen, dieses Gesetz gelte bestenfalls für den Zuschauerraum, aber nicht für den Bühnenraum. Und selbst im Zuschauerraum will man gerne die Anderen, etwa die „Höheren", aus anderen Ständen sehen, beobachten und kritisieren, die „ohne Gage" mitspielen. Im größeren Zusammenhang gesehen, war die Heimatkunst ein P r o t e s t des G e m ü t s g e g e n den P r i m a t des I n t e l l e k t s , ein Glaube an die Regeneration durch Evolution jenseits der naturalistisch-sozialdemokratischen „Revolution" und dergestalt gleichsam eine „konservative Revolution" oder ein einigermaßen umständlicher Aufstand, eine „Revolte" der Konservativen. H e i m a t d i c h t u n g hatte es schon lange gegeben. Aber Heimatk u n s t verhieß etwas Neues, das an Altes sich anschloß und doch ein Neues aufschloß. Was schon längst unbewußt gewaltet hatte, wurde nun zur bewußten Wirklichkeit. Das Wesen war schon da, aber das erlösende Wort hatte noch gefehlt. Was es aussagte, wurde von Bartels mehr realistisch, von Lienhard mehr idealistisch gedeutet. Beiden aber fehlte die Fähigkeit, das Ausgesagte in einem künstlerisch Ausgeformten überzeugend von Deutung in Dichtung umzusetzen. In diesem Betracht waren ihnen Gustav Frenssen oder Clara Viebig oder selbst noch Emst Zahn weit überlegen. Denn sie vermochten das, was jene nur vermuteten. Und ihnen ist es zu verdanken, wenn das Richtungswort Heimatkunst wenigstens annähernd seine Richtigkeit bekam. Ein Paul Keller oder ein Cäsar Flaischlen hätten das nie vermocht.

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Aber sie halfen die Lücken füllen, die im Programm offen blieben. Und gerade die Heimatkunst bedurfte der Lückenfüller, wenn nicht gar der Lückenbüßer. Denn sie hatte allenthalben zu vermitteln zwischen „Höhenkunst" und Vokskunst, zwischen U n t e r h a l t u n g s l i t e r a t u r und G e s t a l t u n g s l i t e r a t u r . Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn sie — gattungstypologisch gesehen — den Roman bevorzugte. Um so mehr ist es anzuerkennen, wenn Ernst Wachler dem Drama sein Interesse zuwandte, und zwar schon im ersten Ansatzjahr der Heimatkunst, in dem er seinen Aufsatz über „Heimat- und Volksschauspiel" (1893, erneut 1904) zur Debatte stellte. Für ihn muß die Dichtung „von der Beschaffenheit der Gegend, des Volksschlages" ausgehen, wenn sie die Nation etwas angehen und ihr etwas anvertrauen will an unverlierbaren Werten des Nationalerbes und des Volksguts. Und neben Lienhard und Bartels sollte Wachler nie vergessen werden, wo es um Heimatkunst geht. Sein Harzer Bergtheater ist letzten Endes lebendiger geblieben als die problematischen Programmdichtungen Lienhards oder Bartels'. Und wenn H. Sohnrey „auf dem Lande" die neuen Künstler „für das Land" entwickeln wollte, so entwarf Wachler auf dem Lande und in der Landschaft das Theater, das aus dem Land hinauswirken sollte in die Nation. Ihm nämlich steht das Nationale näher als das Provinziale. Es entbehrt nicht einer kleinen Ironie des Schicksals, daß Lienhard wenigstens vorübergehend dahin geriet, wohin er gehörte. Im Grunde reichte seine schmächtige Teilbegabung auch für eine wirklich wertvolle Heimatkunst nicht aus. Das verhindert schon sein wahrhaft kindlicher Stil. Und auch Bartels' „große Kunst" blieb ein frommer Wunsch. Bartels gewinnt — relativ I — dadurch, daß er bei allem Enttäuschtsein doch im Gesamt nicht nur der Heimat, sondern auch der Heimatkunst die Treue hält. Lienhard verliert entsprechend, je mehr er „Höhenkunst" praktisch oder wenigstens theoretisch-programmatisch erzwingen will. Er gerät sehr bald ins Epigonentum, und seine Intention geht sehr bald auf in Konvention. Auch sein geistiges Neu-Weimar blieb ein verschwommenes und in den Konturen verrutschtes Abziehbild vom dichterischen Alt-Weimar. Der große Erfolg innerhalb der Heimatkunst blieb G u s t a v F r e n s s e n (1863—1945) vorbehalten. Symptomatisch ist schon sein Bekenntnis, daß das „Meiste" seiner Meditationen und Reflexionen, seiner „Grübeleien" (1919), deren neue Folge er freilich

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maniriert ,,Μδνβη und Mäuse" (1928) betitelt, „nicht weit vom Rand des Meeres" entstanden ist. Denn am Strand des weiten Meeres verspricht auch die Heimatkunst der Landschaft ihre trübselige (bis trostlose) Enge zu verlieren. Und warum sollte man dem Heimatdichter mit dem wahrhaft unheimlichen Erfolg nicht einige Augenblicke auch dort zuhören, wo er kunsttheoretisch formuliert ? Sehr viel später als die Hochflut der Heimatkunst erschienen diese Selbstbesinnungen. Was haben sie uns zu sagen ? Zunächst einmal: Gustav Frenssen macht sich keine Illusionen. Er weiß, daß mindestens die Hälfte des Volkes völlig kunstfremd ist. Was er bietet, soweit er von der Lebenslehre in die Kunstlehre übergreift, ist eine T h e o r i e der E r z ä h l u n g . Und die ist selten. Gustav Frenssen weiß theoretisch viel mehr über die Kunst des Erzählens, als diejenigen davon zu verstehen scheinen, die seiner „Erzählkunst" in so hoher Zahl allzu eifrig zuhören. Das bekunden diese Aphorismen ganz eindeutig. Er weiß mehr als er kann. Er weiß ζ. B., daß im Grunde alle große Kunst auch „irgendwie" Heimatkunst darbietet, daß andererseits manche Heimatkünstler gut täten, sich nur „Kleinkünstler oder Ortskünstler" zu nennen. Denn „alle große Kunst ist Heimatkunst", aber nicht alle Heimatkunst ist große Kunst, weil es auf die Echtheit und Ganzheit, auf die Größe der Persönlichkeit ankommt, um Heimatkunst zur Kunsti zu erheben. Denn „Poesie ist gehobene und geordnete Wirklichkeit". Er weiß, daß seine Dithmarschen als Gestalten der Drchtung nicht die Dithmarschen abkonterfeien, wie sie sind, sondern wie sie ihrem Wesen und Wert nach sein sollten. Aber auch in Hebbels Holofernes („Judith") steckte ein Dithmarscher, eben nur ein über sich selber hinausgehobener und emporgebildeter Dithmarscher. Kein Erzähler fängt bei sich selber an. Er bedarf der Vorbilder (Vorbildpoetik). Aber was ihm auf dieser Suche hilft, endlich selber zu finden und sich selbst zu finden, das ist die Heimat, die damit auch zum Heimatskern seines dichterischen Könnens wird. Erst wo der Dichter heimgefunden hat, da hat er auch sich selber gefunden, sich selber „gefangen" im Eigenbild jenseits aller auf ihn herabstürzenden Vorbilder. Das Prometheusfeuer kann sich immer nur entzünden am heimatlichen Herdfeuer. Selbst noch das Geniale senkt seine letzte, haltgebende Wurzel in das Provinziale als Wuchsgrund und Werdeheimat des Nationalen. Denn das Kunstwerk muß nicht nur wirkungsgerecht geformt, sondern auch wurzelecht geworden sein.

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Frenssen weiß, daß er ζ. B. vieles von Dickens gelernt hat (ebenso wie einst schon Fritz Reuter). Aber er ist überzeugt, daß das Letzte und Heilig-Heimlichste nur das Hold-Heimatliche lehren kann, daß der letzte Grund der „großen Kunst" (Bartels) und der „Höhenkunst" (Lienhard) immer im Gründen auf dem Heimatgefühl und Heimatbewußtsein liegt. Wie ein „Rutengänger" erkennt der echte Heimatkünstler den entscheidenden „Ausschlag", der zum untergründigen Lebensstrom des Heimatlichen weist, und zwar auch dort, wo dieser Strom tief verborgen sich auswirkt und doch das Kunstwerk keimend und gedeihend „ausschlagen läßt". In seine Vorbildpoetik reiht Frenssen neben Dickens ein: Gottfried Keller und Leo Tolstoi, aber auch Kleist, Strindberg, Dostojewski, Hamsun. Immer aber wird diese geistige Heimat überwunden oder doch überformt von der wirklichen Heimat. Daneben greift das Religiöse formaufwertend über, weil Heimatland immer auch Gottes Land wird und wirkt. Das Heimfinden zum Land der Heimat ist untrennbar vom Heimverlangen in das Reich Gottes (Lienhard). Die höchste Form der Genialität liegt im Bezirk der Religion und macht den Schöpfermenschen zum „Gottesmenschen". Die kraftvolle Sinnlichkeit im Gestalten widerspricht nicht dieser fast mystisch mächtigen und übermächtigen Denkform und Gefühlsweise. Der Erzähler Frenssen wehrt sich mit Nachdruck dagegen, „ein Romancier" zu sein wie ein „Südfranzose"; vielmehr: „ich bin ein deutscher Erzähler", dessen „seelische Einsicht" auf einer „Einsicht in Seelen" beruht und nicht nur auf einer Ansicht der Situation oder gar auf einer bloßen Sensation. Das Sensitive heißt er gut, das Sensationelle verneint er (zum mindesten theoretisch). Das Gewebe des Lebens ist nicht so einsträngig wie das Naturgesetz Darwins (Abwehr des robusten Naturalismus). Es gibt da ein „Sichkreuzen wie auf einem Webstuhl". Es gibt da ζ. B. den Wunsch nach Liebe und den Willen nach Aufopferung als ethische Setzungen neben den naturwissenschaftlichen Satzungen. Die Gemütswerte, vor allem auch die des Christentums, unterliegen nicht so ohne weiteres den Vernunftschlüssen der Naturwissenschaft. Jesus ist das Symbol einer geistigen Bewegung, die nicht einfach aufgesogen werden darf vom System der natürlichen Entwicklung. Die „Menschlichkeit" darf nicht verlorengehen über dem Tierischen, so sehr immer Frenssen bestrebt ist, das Urrecht des Sinnlichen anzumelden und zu verteidigen. Die „kosmische Ordnung" ist übergeordnet der bio-

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logischen Anordnung. Auch Rembrandts Halbdunkel (Anklang an den Rembrandt-Deutschen Langbehn ?) strömt aus der inneren Erleuchtung, aus der „Frömmigkeit seines Gemüts", ist also nicht nur ein Kunsttechnisches, sondern ein Gesinnungsmäßiges, wie jede Genialität zuletzt auf Gesinnung zurückgeht als auf ihr heimliches Gesetz, über das die „unheimliche" Gebärde des Genialen nicht hinweghelfen darf und soll. Nur vom bürgerlichen „Talent" her gesehen, wirkt das Genie unheimlich. Es kommt Frenssen darauf an, nicht für sich und für wenige „apart" zu sein, sondern „dem ganzen Volk seine eigenen Wunder" zu erzählen (Anklang an das Programm Lienhards, für das ganze Volk zu dichten und nicht nur für einige sensationshungrige Großstädter). Trotzdem steht Frenssen dem Terminus „Heimatkunst" skeptisch gegenüber, weil er etwas für sich enteignet, was letztlich aller Kunst eigen ist: „Alle Kunst ist Heimatkunst, denn alle Kunst hat Heimat". Das gelte auch von Großwerken wie Goethes „Werther" oder dem „DonQuijote" von Cervantes.Werke dagegen, die Heimat nur stofflich umgrenzen und nicht über diese notwendig engen Grenzen der „Heimat hinausdringen", bringen die Bezeichnung in Mißkredit. Und zwar tun sie das in einem Grade, der es fraglich erscheinen läßt, ob es überhaupt erwünscht ist, den Terminus zu verwenden und soviel Aufhebens von ihm zu machen. Das sei nur notwendig geworden, weil die (impressionistischen und neuromantischen) Dichter aus der „artistischen, schillernden, glaubenslosen Schicht des Volkes" soviel Wesens von sich gemacht hätten. Deshalb mußte die Wurzelschicht des Gesunden zu ihrem Recht kommen gegenüber der dekadent-ungesunden „Gärschicht". Wie damals unverhältnismäßig oft Böcklin als Muster für die Dichter begegnet, so ist auch Frenssen nicht frei von dem Wunsch, so zu erzählen, wie Böcklin gemalt hat. Böcklin spielt eine weit g r ö ß e r e Rolle in der W o r t k u n s t t h e o r i e der Zeit (bis hin zu Thomas Mann), als bislang v e r m u t e t w i r d . Und so ist es kein Wunder, wenn er hier selbst im Raum der Heimatkunst begegnet. Hübsch ist, daß der die Heimat Liebende einmal von der chronischen „Platzfurcht" (Platzangst) aller echten Künstler spricht, die eigentlich nirgends so recht zu Hause seien in ihrer gesellschaftlichen Vereinsamung. Was Frenssen an der landläufigen und nur landschaftlichen Heimatkunst beanstandet, ist vor allem die Vernachlässigung der Form gegenüber dem Glauben am allein seligmachenden Inhalt. In

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allen Künsten entscheidet die Form, nicht der Inhalt. Deshalb ist es abwegig, den (bildenden) Künstler vom (formenden) Dichter äußerlich zu unterscheiden, um so mehr als auch der Dichter seinen Rohstoff immer wieder umknetet und umformt, um ihm die gültige Gestalt zu geben. Ebenso ist es nicht gerechtfertigt, die Heimatkunst von der Kunst schlechtweg zu trennen. Deshalb verwahrt er sich dagegen, wenn man ihm — zudem von wohlwollender Seite — eine Art von „Provinzialismus" (das war H. Bahrs früher Terminus für die Heimatkunst) zuschreibt. Er kennt Fontanes mit Bezug auf Theodor Storm verwendeten Terminus von der „Husumerei" und verbittet sich in eigener Sache den Terminus „Schleswig-Holsteinerei". Das hindert ihn nicht, in einem anderen Aphorismus zu bekennen, daß er auch dann, wenn er Maler geworden wäre, vorab seine „Heimat Holstein" studiert und nicht unbedingt nach Italien, eher schon nach dem wesensverwandten Holland gereist wäre. Dabei hätte er sich von der Wirklichkeit wohl etwas weiter entfernt als Rembrandt, „aber nicht viel". Die Heimat soll dem Dichter Halt bieten in der großen Welt, aber nicht Halt gebieten vor dem Zugang zur großen Welt (Anklang an Lienhards und Bartels' These von der Heimatkunst als Durchgangsstufe zur „Höhenkunst" oder „großen Kunst"). Die Tatsache der Ubersetzung des „Jörn Uhl" in viele Sprachen gilt als Gegenbeweis gegen die angebliche rein lokale Gebundenheit. Der Dichter soll sich auf die Gattung beschränken, die ihm gemäß ist. Gustav Frenssen gesteht, einen „ganzen Winter" lang über das „Wesen des Dramas" nachgelesen und nachgedacht zu haben mit dem Ergebnis, daß ihm selber die Voraussetzung zum Dramatiker fehle, weil ihm nur der „Rhythmus des Epikers" zugänglich und zuträglich sei. Das besagt, daß Frenssen eher an die absolute Gattungsgebundenheit glaubt als an die absolute Heimatgebundenheit. Und er glaubt auch an die Verbundenheit mit dem eigenen Stil und an die Verbindlichkeit dieses eigenen Stils. Man hat ihm eine Stilsynthese aus G. Keller, Th. Storm und Liliencron nachgesagt. Er leugnet nicht die Fähigkeit des Dichters, sich in einen fremden Stil zu versetzen, wie er sich ja auch in eine fremde Gestalt versetzen müsse. Aber wer wollte — so fragt er — fremde Pferde reiten, wenn er ein eigenes im Stall hat ? Er weiß ganz genau, womit er sich durchgesetzt und was er in die Waagschale zu werfen hat. Daher tauchen „Jörn Uhl" einerseits und „Hilligenlei" andererseits immer wieder in diesen Aphorismen zur Kunstweisheit, die

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für ihn zugleich Aphorismen zur Lebensweisheit sind, auf. Er weiß aber auch, daß man den Mut haben muß, das allgemein Angegriffene zu verteidigen, um Vertrauen zur eigenen Urteilsbildung zu erwecken und zu erhalten. Deshalb macht er ζ. B. die allgemeine Verunglimpfung des Stiefelmalers (Krönung zu Versailles) Anton von Werner nicht mit, sondern stellt ihn als Formkünstler etwa auf eine Stufe mit Paul Heyse. Deshalb erklärt er auch die „l'art pour l'art" als bloßes Literatentum und als fremd und feindlich allem echten Volkstum, kurz, als „ganz und gar ungermanisch". Er wittert richtig den romanischen Hintergrund, verfällt aber wie so mancher der Heimatkünstler dem Phantom eines künstlerischen Pangermanismus. Hier werden auch für Frenssen die Vorurteile der Heimatkunst wirksam. Er will in die Welt und hält sich doch an die Heimat. Er sehnt sich nach dem weiten Schwung der Möwen. Aber er haftet doch am nahen Nagen der häuslichen Mäuse. Demnach war die Titelgebung „Möwen und Mäuse" für seine durchweg kunsttheoretischen Aphorismen kein Zufall und weder Verwegenheit (Möwen) noch Verlegenheit (Mäuse). Sie traf vielmehr genau den Widerspruch in seinem künstlerischen Wesen und seinem Kunst wollen. Aber daß dieser Widerspruch entwicklungsfähig war und produktiv werden konnte, bestätigt sein Welterfolg, der nicht nur über die Heimat zur Nation führte, sondern auch vom Volk zur Welt. Immer wieder fesselt ihn die Gestalt und Größe Bismarcks. Auch Lenbach oder Begas oder Lederer tun ihm darin kein Genüge. Wedekinds „Bismarck"Drama scheint er noch nicht zu kennen. Aber das Konservative der Heimatkunst schlägt an solchen Stellen unverkennbar durch. So weit reicht dieser Traditionssinn jedoch nicht, daß die alte Schweizer Tradition etwa in Carl Spitteier erkannt und anerkannt wird. Vielmehr wird Keller gegen Spitteier ausgespielt, der mehr als interessanter „Fall" von den Literaturhistorikern — Emil Ermatinger wird in diesem Zusammenhang bemüht — bevorzugt wird als vom „Volk". Spitteier gilt für Frenssen nur als ein „Beinahdichter", dem die letzte Erfüllung fehlt, weil ihm der Segen des Volkes fehlt. So mangelt C. Spitteier jener große Zug zur großen Kunst, der erforderlich ist, um die „germanische" Kunst der griechischen ebenbürtig und gleichwertig zu machen (vgl. auch A. Schaeffer). G. Frenssen ist überzeugt, daß der Künstler das „wirtschpftliche" Leben nicht gültig gestalten könne, weil es eine „ganz unkünstlerische Sache" darstelle. Denn er fordert von der Kunst

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allenthalben Erhöhung und Steigerung des Wirklichen. Und letzten Endes ist das Wirkliche der Kunst übergeordnet, wie das Volk der Kunst übergeordnet bleibt: „Zuerst kommt das Volk und seine innere und äußere Gesundheit". Das hätten die Griechen vergessen, die wohl die Kunst stark, aber das Volk schwach machten. Die Konservation des Volksmäßigen aber ist notwendiger als die Konstruktion des Kunstmäßigen. Mit kargen Worten, die Heimat wiegt schwerer als die Kunst, die Kultur schwerer als die Kunst, die Nation wiegt schwerer als die Nationalliteratur, selbst dann, wenn die Nationalliteratur — und das hat G. Frenssen immerhin in seinem Fall äußerlich erreicht — zur Weltliteratur sich ausweitet. Es ist weder möglich noch erforderlich, alle Aphorismen Frenssens für die Poetik und deren Entwicklung auszuwerten. Da die Aufzeichnungen von 1906—1920 reichen, kann es z . B . nicht überraschen, wenn jählings der Sprung von der Heimatkunst zum Expressionismus erfolgt, indem die Expression gegen die Impression ausgespielt wird. Das bleibt aber schon merklich anerlebt und ist nicht mehr miterlebt. Immerhin machen die herausgegriffenen, keineswegs erschöpfenden Proben deutlich, daß es nicht angeht, Gustav Frenssen als einen mehr oder minder ungebildeten Heimatkünstler ohne Perspektiven abzutun. Er hat ganz unverkennbar über das Werden, Wesen und Wirken der Dichtkunst weit gründlicher nachgedacht, als diejenigen wahrhaben möchten, die ihn als bloßen Unterhaltungsschriftsteller allzu vorschnell abtun zu müssen meinen. Zum mindesten aber wäre er ein Beispiel dafür, daß in einem kulturbewußten Deutschland selbst noch der gehobene Unterhaltungsschriftsteller es für nützlich und nötig befindet, sich mit den Grundbegriffen seiner Kunst vertraut zu machen. Das gilt umso mehr, als G. Frenssen keineswegs bei der üblichen Selbstrechtfertigung beharrt, sondern auch einen gesunden Sinn zeigt für Selbstkritik. Gcwiß reicht er nicht hinab in die letzten Gründe seiner Kunst. Aber ihre Hintergründe bleiben ihm nicht verborgen. Den späten Klaus Groth hat noch T i m m K r ö g e r (1844—1918) auch persönlich kennen und schätzen gelernt. Der kleine Gedenkaufsatz über „Klaus Groth" bietet eine liebevolle Plauderei, aber nichts kunsttheoretisch Belangreiches. Dagegen hat sich Timm Kröger in eigener Sache etwas eingehender geäußert zu der Frage „Plattdeutsch oder Hochdeutsch, wie lasse ich meine Bauern reden ?" (Vorbemerkung zu der Novelle „Des Reiches Kommen"), ein Auf-

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satz, den er immerhin für wichtig genug hielt, um ihn zu Eingang der Gesamtausgabe (1913) erneut abzudrucken. Es handelt sich dabei um Rechtfertigungspoetik, denn Timm Kröger hat bekanntlich nur geringfügige mundartliche Einsprengungen in sein Kunstschaffen aufgenommen. Gleichzeitig aber gibt der Aufsatz über diese Selbstrechtfertigung hinaus einige kunsttheoretische und kunsttechnische Winke auch für andere. Da sein Kunstschaffen im wesentlichen und wertvollen Bestand Heimatkunstschaffen war, so ergibt sich für den Holsteiner (aus Hale/Hademarschen) die Frage nach der sprachlichen Konsequenz. Er bleibt aber vorsorglich beim Sprachlichen und im übrigen bei der Gegenüberstellung Realismus-Idealisierung (bzw. Poetisierung) stehen. Hätte er nämlich die Frage nach der Echtheit im Ausdruck der Heimattreue gestellt, so hätte die Antwort eigentlich zugunsten des Niederdeutschen ausfallen müssen. Denn die heimatliche Mundart ist ein wesentlicher Teil der geistigen Heimatumwelt, des geistig-gemütsmäßigen Milieus. Der heimattreue Rechtsanwalt (vgl. Storm), der in den Motiven seiner Dichtungen nicht zufällig Rechtsfragen stark berücksichtigt, argumentiert geschickt an dieser Kernfrage vorbei, indem er die Aufmerksamkeit von vornherein ablenkt auf Formproblem (Stileinheit) und Wirkungsproblem (Verständlichkeit), vor allem aber auf die Hauptantithese: „Hie Realismus, hie Einheitlichkeit." Im Gesamt zieht er sich vom konsequenten Realismus auf den poetischen Realismus zurück. Er drückt das so aus, daß er zwar Realist, aber kein „Fanatiker dieser Richtung" sei und stellt die rhetorische Frage: „Muß denn alles durch Platte und Phonograph festgehalten werden?" Er übergeht dabei freilich den Umstand, daß sein verehrter Klaus Groth ja auch nicht und ebensowenig wie Fritz Reuter mit diesen Marterwerkzeugen so bedrohlich hantiert hat, sondern das Prinzip der unbedingten Echtheit und Unmittelbarkeit bevorzugte und also niederdeutsch schrieb. Schlüssiger wirkt das positive Kriterium: Aufrechterhaltung des Bewußtseins, eine poetische Fiktion vor sich zu haben, an Stelle einer restlosen Illusion: „Ich will mir bewußt bleiben, daß ich nicht die Dinge selbst sehe, sondern ihre Abbilder erblicke, wie sie sich in der Vision des Dichters darstellen." (Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 1957, müßte hier also sehr zufrieden sein . . .) Dabei mischen sich neben idealisierenden Momenten impressionistische Stimmungsfaktoren ein, wenn vom „wellentreibenden

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Duft" oder vom „zarten Blau der Ferne" die Rede ist. Die Bewertung erfolgt vom Blickwinkel der Wirkungspoetik aus, der „Genuß" und das „Gefallen" sind als erstrebte Wirkungen den Eintrübungen durch „dialektische" Schwierigkeiten zu entziehen. Von diesen kunsttheoretischen Prinzipien wird nun die kunsttechnische Entscheidung — die merklich Entschuldigung bleibt — abgeleitet; denn es geht mehr um Fragen der Kunsttechnik als der Kunstgesinnung. Schon der Ansatz wird so angelegt, daß das erwünschte Resultat herauskommen muß. Denn dieser Ansatz supponiert, daß hochdeutsche Rahmenteile und niederdeutsche Dialoge oder Monologe aufeinandertreffen und etwas Uneinheitliches, etwas „Gesprenkeltes" in der Darstellung ergeben müssen. Aber wer sagt denn, daß in einer niederdeutschen Heimatdichtung die Rahmenteile durchaus hochdeutsch sein müssen ? Auf Grund jenes Postulats gelangt Timm Kröger zu dem Resultat: die Personen sollen getrost hochdeutsch reden. Sie müssen es sogar, um den ungestörten „Genuß" und die ungebrochene Stileinheit nicht zu stören und „Ruhe und Behagen" beim Kunstwertaufnehmenden nicht zu beeinträchtigen. Trotz jenes zuversichtlichen Ansatzes bleibt sich Timm Kröger klar darüber, daß die „Rechnung" nicht restlos aufgeht. Und so schlägt er gewisse Zugeständnisse an die Mundart vor. Zunächst einmal scheint es ihm ratsam und wirksam, den „plattdeutschen Grundton" durch das Hochdeutsche hindurchklingen zu lassen dergestalt, daß ihn der Leser deutlich „heraushört". Die Syntax, die Gedankenverbindung und deren sprachliche Äußerungsform kann niederdeutsch sein selbst dann, wenn der Wortbestand nicht plattdeutsch ist. Was Timm Kröger hier formuliert, hat Fritz Reuter längst vorher demonstriert in der Mischform, die er „missingsch" nennt. Aber Reuters „Missingsch" (Kontamination von Hochdeutsch und plattdeutschen Wendungen) würde Timm Kröger wahrscheinlich schon zu weit gehen. Was er zugesteht und anregt, ist ein gelegentlicher „kurzer Trommelschlag" in mundartlichem Zungenschlag. Treffender ist vielleicht noch das zudem heimatlich anmutende Vergleichsbild von dem Sprung über Eisschollen, die vom Fuß des Springenden nur ganz flüchtig berührt werden und ihm dennoch hinreichend Schwung verleihen, um sehr bald wieder festen Boden (das Hochdeutsche) zu gewinnen: „Bevor dem Leser recht zum Bewußtsein kommt, daß der Dichter an dem Gesetz der Einheitlichkeit frevelt, hat er den Fuß

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schon wieder auf festem, schriftdeutschem Boden." Gleichsam nur für Sekunden geht das „Gesetz der Einheit" wie die Eisscholle „in die Brüche" (die Eisscholle übrigens konsequent realistisch: endgültig I). Ein weiterer Wink der Kunsttechnik schlägt das Verfahren der indirekten Rede vor, weil sie ungezwungener den plattdeutschen Untergrund hindurchscheinen lassen kann als die direkte Rede. Der „Anhauch von Unschuld" sei überdies sehr wirkungsvoll. Indessen, fragt man sich: warum denn alle diese gewiß sehr probaten Praktiken, die eben doch wie bloße Kunstgriffe, wie peinliche Tricks und wie Überlistungen des Lesers wirken? Die Antwort erspart sich Timm Kröger. Sie würde nämlich lauten: um ein breiteres Publikum zu gewinnen. Nur für die Komik empfiehlt er das Beibehalten der Mundart. Und gerade dieses vermeintlich großzügige Zugeständnis an die Mundart ist ihrer Eigengeltung sehr abträglich und daher grundsätzlich sehr bedenklich. Denn es unterstützt das alte Vorurteil, als ob nur komische Inhalte in mundartlicher Fassung möglich seien. So erscheint Timm Kröger in Theorie und Praxis, kritisch gesehen und streng beurteilt, als bloße Kompromißnatur, wenngleich nicht in dem Grade wie Gustav Frenssen. Wenn man der Heimat das ganze Herz schenkt, geht es nicht an, der heimatlichen Mundart nur einige knapp bemessene und gleichsam geizig zugeteilte, letztlich armselige Brocken zuzuwerfen. Bei alledem aber ist die von vornherein schiefe Situation des Heimatdichters in sprachlichen Dingen gebührend mit in Rechnung zu stellen, von der Timm Kröger ganz richtig fühlt, daß sie am Ende gar nicht „aufgehen" kann. Und so gesehen, bleibt es bei allen kritischen Bedenken dennoch ein Verdienst, wenn er diese Schäden notdürftig zu kurieren sucht. Wertvoller aber bleibt das unbefangene Aufdecken der Schwächen in der Heimatkunst-Bewegung überhaupt. Krögers Vorteil liegt in der Position dessen, der nicht erst das Programm und die Propaganda abzuwarten brauchte, um Heimatdichter zu werden. Er betont mit Recht: „Heimatkunst ist überhaupt eine alte Kunst, nichts Neues." Er nennt als Traditionsträger in dieser Reihenfolge Klaus Groth, Theodor Storm, Joh. Hinrich Fehrs (die SchleswigHolsteiner marschieren voran), Fritz Reuter, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller und Wilhelm Raabe, um hinzuzufügen: „Peter Rosegger rechne ich auch dazu." Er will der Heimatkunst den Weg zur Kunst schlechtweg offenhalten. Den Wegweiser stellt wiederum 23

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der poetische Realismus mit leichtem Richtungsausschlag zur Klassik. Denn es gilt auch für den Heimatdichter, die scharfgeschnittenen „Charakterköpfe" zugleich „ins Typische und Allgemeinmenschliche hinaufzuheben". Er vertritt ebenso wie die klassische Kunsttheorie das Prinzip der Autonomie: „Die Poesie verträgt keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck." Doch schließt das ästhetisch Autonome das ethisch Theonome keineswegs aus; denn auch der Heimatdichter „klopft an die Tore des Ewigen". Von hier aus erfolgt eine entschlossene Wendung gegen die politische Indienststellung der Heimatkunst. Es ist unter der Würde der Heimatkunst, „ein noch unausgegorenes Parteiverlangen" zum Inhalt ihrer „künstlerischen Darstellung" zu machen. Der Heimatdichter ist nicht berufen zum Kämpfer in den „Stürmen der Zeit". Heimatdichtung ist nicht Zeitdichtung, solange sie echt ist. Timm Kröger dreht den Spieß kurzerhand um. Nicht, wie die hochmütigen Gegner und Verächter der Heimatdichtung es hinstellen möchten, ist es; nicht so ist es in Wahrheit, daß die „Ideen ihrer Zeitdichtungen . . . für uns zu groß" sind, im Gegenteil erscheinen „sie uns zu klein". Zu klein nämlich, weil zu vergänglich und mit den Zeitläufen schwankend. Timm Kröger läßt hier keinen Geringeren als Goethe mit zwei einschlägigen Zitaten aufrücken, wonach das politische Gedicht nur „Organ" einer Nation, meistens sogar nur einer Partei sei und als bloßes Produkt eines gewissen „Zeitzustandes" mit diesem an Geltung verliert. Allerdings könnte Krögers Landsmann Gustav Frenssen ihn dahin belehren, daß es mit Goethezitaten als Beweisstücken seine eigene Bewandtnis habe: „Es ist eine bedenkliche Sache mit allem Zitieren Goethes", und zwar wegen der langen Dauer seines Lebens und der Vielseitigkeit seiner Blickpunkte (in: „Möwen und Mäuse"). Aber ganz abgesehen vom rein Politischen oder unrein Politischen, schon die kulturpolitische Propaganda mit Heimatkunst lehnt Timm Kröger ab, weil sie zu einer bloßen Mache „in Heimatkunst" führt und verführt. Hier grenzt er also seinen Standort deutlich ab gegen die Heimatkunst-„Bewegung". Und von hier aus ist auch sein nicht ohne berechtigten Stolz ausgesprochenes Selbstbekenntnis zu verstehen: „Ohne Absicht und Vorsatz mich treiben lassend, wohin der Strom meiner Sehnsucht wollte, bin ich Heimatdichter geworden. Den zumal früher gegen die Heimatdichtung ausgegossenen Spott habe

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ich leicht ertragen. Ich konnte es, ich befand mich in guter Gesellschaft." — Als Einzelheit sei erwähnt, daß ihm der Novellenbegriff seiner Gegenwart recht verschwommen oder — wie er es volkstümlich-anschaulich ausdrückt — recht „verwaschen" vorkommt, während etwa gleichzeitig Samuel Lublinski vom hohen kritischen Katheder gerade umgekehrt das Strafferwerden der Novellen-Vorstellung betonte. In diesem Falle dürfte Timm Kröger — ganz allgemein gesehen — recht haben, während Lublinskis Urteil zweckgebunden blieb, um die neuklassische Novellentheorie P. Emsts durchzusetzen. Hinsichtlich der kunsttechnischen Schwierigkeiten einer Kombination von verschiedenartigen Sprachbeständen sei erinnert an das weit früher versuchte Verfahren des zu seiner Zeit vielgelesenen Reiseschriftstellers C h a r l e s S e a l s f i e l d ( K a r l P o s t l , 1793 bis 1864). Doch handelt es sich bei dem europamüden Amerikafahrer, dessen „Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken" (1841) noch gern gelesen wird, nicht nur wie etwa bei dem „Missingsch" Reuters um Mischformen von Hochsprache und Mundart, sondern um die situationsbedingte Kontamination von verschiedenen Nationalsprachen, um ein „transatlantisches Kauderwelsch", das zunächst reizte, dann aber bald als zu beschwerlich für den Leser empfunden wurde. Gegenüber dem Ungarn Kertbeny soll sich Karl Postl, der u. a. das Vorbild für Friedrich Gerstäcker geworden ist, einmal so über diese bewußt geübte Methode ausgesprochen haben: „Ich machte daher nichts, als daß ich schrieb mit deutschen Worten englisch nach englischen Konstruktionsbedingungen und siehe da, das war denn (dann) deutscher als das latinisierte Gelehrtendeutsch."Als Schriftsteller der Ferne vertritt er gleichsam eine Heimatkunst mit umgekehrtem Vorzeichen. Kunsttechnisch verwandt aber blieb neben der Echtheit einer Nicht-Hochsprache die Erfassung lokaler Echtheit und Farbigkeit. Er wirkt realistischer als mancher der späteren Heimatkünstler. Außerdem kommt Postl für die R o m a n t h e o r i e in Betracht mit einigen in der dritten Person gehaltenen (weil als Material für das Konversationslexikon von F. A. Brockhaus bestimmten) Bemerkungen. Was ihm vorschwebt, klingt noch im Untertitel des „Kajütenbuchs" an. Es ging kompositionstechnisch darum, seine Genrebilder fast nach Art von Heines Reisebildern oder dem Verfahren von Justinus Kerners Reise- und Schattenbildern locker zu einem romanhaften Gebilde zu vereinigen. Übrigens ein frühes 23·

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Beispiel für die Tendenz des Romans zur Essaysammlung. Nur daß es sich bei Sealsfield—Postl gleichsam um ethnographische Essays handelte. Er wollte den seiner Meinung nach überholten Familienroman und historischen Roman ersetzen durch einen sozial-nationalen, ethnographischen „Volks-Roman". Auch weiterentwickelte Sproßformen des Schelmenromans hielt er als nicht zeit- und situationsgemäß ebensowenig für seine Darstellungsabsicht geeignet wie den Familienroman. Es kommt ihm vor allem darauf an, den in dem damaligen Amerika so instruktiv und demonstrativ sichtbar werdenden „Zivilisationsprozeß in Skizzen und Bildern darzustellen" und diese romanhaft („im Romangewande") zu umkleiden. Der Held dieses neuen Romantypus', der in gewisser Weise K. Gutzkows „Roman des Nebeneinander" entspricht, sollte „das ganze Volk" sein mit all seinen „materiellen, politischen, religiösen" Beständen und Bezügen, die an die Stelle der bloßen „Abenteuer" treten. Im ganzen gibt Postl also eine Art von Gegenstück zu dem „kulturhistorischen Roman" von W. H. Riehl. Die Ausführungen Timm Krögers über die Verwendung oder Nicht Verwendung der Mundart in Werken der Heimatkunst lassen nun den Blick aber auch kurz zurückschweifen auf die Bemühungen Groths, Reuters und Brinckmans um die Heranbildung einer vollwertigen Heimatdichtung in niederdeutscher Sprache. Es wird absichtlich von Heimatdichtung gesprochen, weil der Terminus Heimatkunst damals noch nicht geläufig war. Als J o h n B r i n c k m a n (1814—70), der mit „Kasper Ohm un ick" (1855) eine Art Gegenstück zu Reuters Unkel Bräsig vorweggenommen hat, an seiner Erzählung „Uns Herrgott up Reisen" arbeitet, da betont er noch kurz vor seinem Tode (1870) in einem Privatbrief, daß er ein „wirkliches Volksbuch" habe schaffen wollen. Er hofft, daß er im breiten Lokalkolorit „spezifisch niederdeutsch" verfahren habe. Im Gegensatz aber zum später von Timm Kröger aufgestellten Prinzip des Unpolitischen gibt er zu, in seinen Darstellungswillen das „politisch-soziale Gebiet" einbezogen zu haben. Bei alledem ist zu bedenken, daß sich die niederdeutsche Kunstprosa erst neu durchsetzen mußte. Vorerst versuchte man es nur mit Versdichtungen, sowohl Klaus Groth als auch Fritz Reuter. Noch 1855 äußert sich Brinckman: „Es ist nicht abzusehen, weshalb die plattdeutsche Sprache nicht auch im A l l t a g s k l e i d e der P r o s a Beachtung verdienen könne." Es ist also keineswegs

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selbstverständlich. Vor allem ist es dann F r i t z R e u t e r (1810—74) gewesen, der der niederdeutschen Prosa Geltung verschaffte. Rein zeitlich hat John Brinckman den Vorsprung mit dem Beitrag „Voss un Swinägel" (Fuchs und Igel, 1854), ein Jahr vor dem „Kasper Ohm". Klaus Groth hat den zeitlichen Vorsprung in der niederdeutschen Mundartpoesie, aber nicht in der Prosa, obwohl er später betont, schon frühzeitig (ebenfalls etwa um 1854) Versuche in dieser Richtung unternommen zu haben. Er sucht erneut die Verslyrik anzusiedeln im niederdeutschen Raum. Aber er fühlt selbst, wie ein Privatbrief (11. März 1867) seufzend bezeugt: „Auch muß sich das Wasser der p l a t t d e u t s c h e n P r o s a etwas wieder verlaufen haben, ehe man meine S t i m m e wieder hört." Gemeint war Reuter, damals wohl vor allem der Reuter der „Ollen Kamellen" (Alte Geschichten). Zug um Zug muß indessen Groth der Tendenz zur Prosa nachgeben, wie die späteren Bände seines „Quickborn" eindeutig erkennen lassen. Fritz Reuter hatte dergestalt John Brinckmans gelegentlich des „Kasper Ohm un ick" (1855) behutsam geäußerte Meinung „der plattdeutsche Roman gehört nicht zu den Unmöglichkeiten" in einem Grade bestätigt, an den selbst Brinckman nicht gedacht hatte. Vorerst aber vollzog K l a u s G r o t h (1819—99) den entscheidenden Durchbruch auf dem Gebiet der L y r i k mit seinem „Quickborn" (1852). Sein zum Teil an dem Alemannen J. P. Hebel geschultes Kunstwollen zielte vor allem darauf hin, der niederdeutschen Sprache neues Ansehen zu erobern. Ihm ging es darum, das Plattdeutsche in seiner alten Würde wiederherzustellen und planmäßig zu befestigen. Man kann bei Groth durchaus von einem Programm sprechen, während Reuter zunächst einmal der bloßen Lust am heimatlich-gemütlichen Fabulieren freie Bahn gelassen hatte. Fast auf das Jahr genau ist also der erste größere Vorstoß zugunsten der mundartlichen Heimatdichtung von Groth und Reuter und Brinckman geführt worden. Das war etwa ein halbes Jahrhundert vor dem Ansatz der „Heimatkunst"-Bewegung. Jener zeitparallele Vorstoß mußte bei divergierender Gesinnung jedoch zunächst einmal zu einem Zusammenstoß führen. Klaus Groth, mit ernstem Eifer die „heilige Sache" der Muttersprache verfechtend, ging in seinen „Briefen über Hochdeutsch und Plattdeutsch" (1858) zu einem massiven Angriff gegen den Verfasser der „Läuschen un Rimels" über. Da schien er geradewegs auf einen Mann zu stoßen, der ihm leichtfertig plaudernd sein würdiges Kon-

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zept verdarb, der durch seine ausgelassenen Possen das Plattdeutsche einer erneuten Mißachtung preisgab. Fritz Reuter blieb die Antwort — eine ebenso geschickte wie wirksame Antwort — nicht schuldig. Sie erfolgte als „Abweisung der ungerechten Angriffe und unwahren Behauptungen" (1858). Das Zerwürfnis schien unheilbar. Aber mit zwei wohlwollenden Rezensionen Reuterscher Werke im „Altonaer Mercur" (1859 u. i860) über Reuters „Franzosentid" und „Hanne N ü t e " lenkt Klaus Groth merklich ein. E r vergleicht Reuter mit Charles Dickens, begrüßt den Ernst, der als „Folie" hinter dem Humor spürbar bleibe usw. Dabei greift er andeutend auf seinen Angriff zurück, der erforderlich gewesen sei, um klarzustellen, „ d a ß man auf Kosten der Würde des Volks nicht lachen dürfe". Das Wertungskriterium bleibt also die Würde. Das gilt auch von der Rezension über „Hanne Nüte" (Dez. i860), die Reuter bestätigt, daß er nun „unser prächtiges norddeutsches Volk in seiner Würde" gezeigt habe und zu dem „Bewußtsein erwacht" sei, daß die niederdeutsche Sprache „in ihrer Würde zu erhalten" die vornehme Pflicht eines niederdeutschen Schriftstellers darstelle. Der Ton bleibt also überlegen leitend. Aber Reuter hatte genug Humorüberschuß ,um sich einem Mittelsmann gegenüber (Eduard Hobein, Schwerin) für ausgesöhnt zu erklären. Freilich entgeht ihm nicht die Neigung Groths, ganz allgemein (etwa auch J. Brinckman gegenüber) den Kieler Gottsched als Literaturpapst zu spielen: „Aber wenn sich jemand als Pabst auf den plattdeutschen Petrus Stuhl setzt, dann ist's vorbei" (Januar 1861). Groth seinerseits wittert in Reuter den „platten Naturalisten" (November i860). E s darf daran erinnert werden, daß damals der „Naturalismus" als Kunstrichtung in Deutschland noch nicht in Erscheinung getreten war. Aber schon Goethe kannte den Terminus. In der Tat berührte Groth damit die Wurzel des Konflikts. Er selber war idealistisch, Reuter realistisch eingestellt, jedenfalls dem vorherrschenden Typus nach. Es kündigt sich also schon in der heimatlichen Mundartdichtung derselbe Konflikt und dieselbe Spannung an, die in der späteren „Heimatkunst" ebenfalls zu beobachten sind. Eine Verbesonderung trat vor allem durch Probleme der mundartlichen Abstufung in der Rechtschreibung ein. Die Mundart ist für Groth, der nicht ohne Rückwirkung noch mit Jakob Grimm in Fühlung stand, „ein Stück Volksseele".

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Reuter würde sich kaum so idealistisch-pathetisch ausdrücken. Dabei fehlt Groth nicht ein kritischer Blick für kunsttechnische Erfordernisse. So legt er —• wenn man das Kritische in das Positive übersetzt — besonderen Wert auf das ausreichende Einführen der Personen, das er bei Reuter ζ. T. noch vermißt. Was Fritz Reuter betrifft, so hat er hinsichtlich der Verteilung von Hochdeutsch und Niederdeutsch bei seiner Prosa in den fünfziger Jahren noch vorwiegend mit hochdeutschem Rahmen (Erzählung des Geschehens, Schilderung der Situation) und niederdeutschen direkten Reden gearbeitet. Das gilt nicht nur von kleineren Prosastücken. Selbst die etwa 1848 anzusetzende Urform von „Ut mine Stromtid" (Aus meinen Wander- und Lehrjahren) soll nach mittelbaren Berichten etwa zu zwei Dritteln hochdeutsch abgefaßt gewesen sein. Man hätte also das umgekehrte Verfahren wie bei Jeremias Gotthelfs „Uli"-Romanen vor sich. Reuter hat sich jedenfalls in seiner Prosaepik erst Schritt für Schritt in die einheitlich plattdeutsche Sprachfassung mit großer Zähigkeit und Liebe hineingearbeitet. Es ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen, daß Klaus Groths kritische Schreckschüsse von 1858 mitgeholfen haben, sein sprachliches Verantwortungsgefühl zwar nicht erst zu wecken (wie Groth es hinstellt), wohl aber zu schärfen. Es ist nämlich unverkennbar, daß Reuters Prosadichtung etwa von diesem Jahr an einen starken Auftrieb erfahren hat. Die Mobilisierung seines Schriftstellerehrgeizes durch die Kampfansage ist unverkennbar, und zwar im guten Sinne. Was Groth retten will, ist künstlerisch gesehen der ganze „Ton der Volkssprache" (Groth sagt Volkssprache). Aber auch Reuter weiß, daß die ländliche Sprache sich „konkreter" und „malerischer" auszudrücken vermag. Überhaupt verbindet sich das Kunstwollen Reuters sehr bald mit dem Willen zur Gründlichkeit und Genauigkeit, nicht nur in sprachlichen Dingen. Groth versteift sich auf das Vornehmmachen des Plattdeutschen, ein wenig sogar neigt er zu einem literarisch Salonfähigmachen der niederdeutschen Dichtung: „Fürs Plattdeutsche handelt es sich zunächst darum, den A d e l der Sprache, die N o b l e s s e zu r e t t e n . . . Ich habe sogar deshalb meine Neigung zum Grobkomischen (dürfte fraglich sein) unterdrückt . . . " (Nov. i860). Fraglos traf hier Groth eine verwundbare Stelle des Mundartlichen überhaupt, die gewollte oder ungewollte Tendenz zum Komischen. Aber Reuter hätte sein Bestes nicht geben können, wenn er so behutsam die Würde gewahrt hätte.

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Die Frage (Timm Krögers), ob Mundart zulässig oder notwendig sei in echter Heimatdichtung, war also in der Praxis längst vor ihm schon einmal recht überzeugend zugunsten der Mundart beantwortet worden von Groth, Reuter und Brinckman. Was damals zur Debatte gestanden hatte, war schon die Spezialfrage gewesen, ob eine neue niederdeutsche Schriftsprache zu erstreben sei (Groth) oder ob man großzügig dem Druck der landschaftlichen und stämmischen Verbesonderung nachgeben solle (Reuter). Und von hier aus gesehen, gewinnt das Prinzip der Würde und des Ansehens als Kardinaltugend (Groth) eine mehr als persönliche Berechtigung. Groths Blick ging im sprachlichen Raum, und sein Wollen reichte im sprachlichen Vorhaben weiter als bei Reuter. Auf der anderen Seite war Groth sich noch nicht recht klar über den kritischen Maßstab, den plattdeutsche Dichtung wie überhaupt mundartliche Dichtung fordert. Mit Stolz verzeichnet er ζ. B . eine Anerkennung, die ihm von E . Geibel zuteil geworden ist. Geibel hätte froh sein können, wenn ihn Groth anerkannte. So sicher stand es also mit Würde und Selbstbewußtsein auch, bei Groth nicht. Ähnliche Erscheinungen wie im niederdeutschen Sprachraum lassen sich auch an der oberdeutschen Mundartdichtung ablesen. Um Österreich wenigstens randweise einzubeziehen — seine Bedeutung für die Heimatdichtung ist bekannt genug —, mögen Anzengruber und Rosegger zu Worte kommen, um so mehr als sie im Programm der Heimatkunst als Traditionsträger begegnen und bei ihnen mancherlei Berührungen von Hochsprache und Mundart (ζ. B. Roseggers „Stoansteirisch", 1885) zu beobachten sind. L u d w i g A n z e n g r u b e r (1839—1889), obgleich als Sohn eines kleinen Beamten in Wien geboren und sich als Großstädter fühlend und bekennend, hatte als junger Wanderkomödiant auf dem Lande das Bauerntum aus unmittelbarem Miterleben beobachten können. Zwar wenn B. Auerbach in „Schrift und Volk" (1846), der wohl umfassendsten Abhandlung eines Dichters des 19. Jahrhunderts über die „Grundzüge der volkstümlichen Literatur", gefordert hatte, daß der echte und rechte Volksschriftsteller „von Jugend auf" selber in das Dorfleben „versenkt" gewesen sein müsse, so traf das auf Anzengruber nicht zu, der denn auch gelegentlich bei dem echten Sohn des Dorfes, seinem Freunde Rosegger, Rat einholen mußte, wenn es ihm um die Echtheit gewisser Einzelzüge zu tun war.

H E I M A T K U N S T U N D M U N D A R T L I C H E DICHTUNG

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Jedenfalls hat Anzengruber der „ g u t e n Sache der Volksaufklärung" ganz bewußt dienen wollen. Das gilt sowohl von seinen Volksstücken, dem noch stärker als Tendenzdrama oder Thesenstück ausgeführten „ P f a r r e r v o n

Kirchfeld"

(1870) mit

stark

rührenden Einschlägen, der sich trotz einem gewissen Befangenbleiben in Schwarz-Weißtechnik künstlerisch bereits deutlich abhebt etwa v o n den Bauerndramen Mosenthals ( „ D e r Schulze von Altenbürn" 1867), v o n dem wesentlich tendenzfreieren „Meineidb a u e r " (1871), den stärker dem Komischen als dem Rührenden zugewandten „Kreuzelschreibern" (1872), dem „Gewissenswurm" (1874) und dem Possenhaftes nicht scheuenden

„Doppelselbst-

m o r d " (1875), als auch v o n dem in städtische Umwelt verpflanzten „ V i e r t e n G e b o t " (1877) und dem mehr das soziale Problem aufgreifenden hochdeutschen Schauspiel „ E i n Faustschlag" (1877). Jene gute Sache der Volksaufklärung sah nun Anzengruber dort ernstlich gefährdet und mißbraucht, w o man oft mit „krausester Tendenz v e r q u i c k t " dem Volke ein Unwahrscheinliches, ja „ U n wahres" vorsetzte. E r selber glaubt, daß ihn seine Lehrzeit als Schauspieler nicht allein mit der Bühne vertraut gemacht, sondern auch sein „stets auf Hören, Sehen und Beobachten angewiesenes W e s e n " entfaltet habe. A l s wesentliche Voraussetzung für sein Kunstwollen und seine Kunstleistung hebt er hervor den „treuen Glauben an die Menschheit im allgemeinen und an das V o l k insbesondere". I n einer solchen Wendung klingt vernehmlich etwas an v o m alten L e i t m o t i v

des Erziehungsoptimismus

der

Auf-

klärung. Der Glaube an das Gute im Menschen und besonders auch i m Menschen aus dem Volke ist Vorbedingung für den Glauben an die gute Sache der Volksaufklärung und der ihr dienenden Dichtung. Mehr als die „Plauderei die Vorrede

als Vorrede zum ersten Bändchen"

zum zweiten Band der „Dorfgänge"

(1879).

bietet Anzen-

gruber geht aus von dem Dichtertypus idealisierender A r t , dem er den „ R e a l i s t i k e r " gegenüberstellt. E r ist sich klar darüber, daß neben dem Idealisten auch der T y p u s des Idyllikers und des Romantikers (im landläufigen Sinne) das Publikum leichter anspricht und befriedigt. Doch schon hier wird der A n t e i l an sozialkritischer oder doch allgemein menschlicher Anklage erkennbar. So etwa dort, wo Anzengruber v o n dem „wilden W e h " und dem „stöhnenden Aufschrei" spricht, dem man schon i m Leben gern A u g e und Ohr verschließe und dem man, höchstens an „sanfte

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DAS WEGSUCHEN ZWISCHEN NEUKLASSIK UND NEUROMANTIK

Schmerzen und milde Tränen" gewöhnt, vollends in den „Büchern" aus dem Wege gehe. Die Folgerung, die er zieht, lautet: „Für die Verklärung des Lebens spricht alles und dagegen nur eines — die Wahrheit." Das klingt ein wenig pathetisch-theatralisch wie manches andere in diesen Ausführungen. Und es ist nicht ganz klar, ob Anzengruber mit den „gruslichst veranlagten Bildern dieser Manier" vorsorglich doch wieder etwas vom konsequenten Realismus abrückt; denn er betont dies „der letzteren (also der Wahrheit) zur Steuer". Aber dann schwenkt er doch recht entschlossen auf die Realistik ein. Der „Realistiker" verflüchtigt nicht das Stoffliche und flüchtet nicht vor dem Stofflichen. Er dient mit seiner ganzen Gestaltungskraft dem „Kleinen und Kleinlichen", immer sich bewußt haltend, „daß selbst die schmutzige Scholle ein Stück der Allnährerin Erde" darstelle, immer sich klar darüber bleibend, daß er nicht alles hineinlegen, sondern „herausarbeiten" müsse. Denn auch, was in ihm lebt an „hirn- und herzbewegenden Gedanken", betrachtet er nicht als ein intuitiv Gegebenes, sondern als ein empirisch Erfahrenes, „durch Welt und Zeit, Sonne und Wetter aus ihm herausgereift". Wenn man alles ganz wörtlich nehmen wollte, was Anzengruber vom getreulichen Aufzeichnen jeder „Wahrnehmung" aussagt, alles dessen, was der Schriftsteller zu hören und zu sehen bekommt, so könnte man zu dem sensationellen Schluß gelangen, daß er „eigentlich" schon der Reportage das Wort rede oder doch einer Annäherung von Poesie und Reportage. Und wer vom Geschmacklichen her, etwa an Anzengrubers rein hochdeutsche Versuche denkend, kritisch zuspitzen wollte, könnte hinzufügen, daß die Reportage gelegentlich die Gefahrengrenze zur Kolportage nicnt recht innezuhalten wisse. Aber so wörtlich ist das alles kaum gemeint, wenn der „Stein des Anstoßes", der nicht gescheut werden soll, eben doch als solch, er empfunden wird und wenn der Dichter die an sich unvermeidliche Begegnung mit dem Häßlichen möglichst in der Darstellung „abkürzen" soll, freilich erst, „nachdem ihr aber doch den Eindruck einmal weghabt", wie Anzengruber es volkstümlich umschreibt. Modern möchte er offensichtlich sein, wie schon das (reichlich) technische Vergleichsbild bekundet, der Realistiker glaube, „daß von Menschenbrust zu Menschenbrust ein elektrischer Draht läuft, an dessen Ende, unbekümmert darum, ob er unter

HEIMATKUNST

U N D M U N D A R T L I C H E DICHTUNG

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Kloaken, Gefängniszellen und Bordellen hinzieht, die Botschaft des Geistes sich in Lettern fertig stellt". Die Telegraphie wird in jenen Jahren — etwa auch bei W. H. Riehl oder H. Laube — gern ausgespielt. Das beste wird an Stellen ausgesagt, wo Anzengruber weniger bewußt „poetische" Prosa schreibt, die ihm ohne mundartlichen Einschlag nicht recht gelingen will, also wo er nicht pathetisch übersteigernd sich äußert. Und wenn er formuliert, der Realistiker „will das Leben in die Bücher bringen, nachdem man es lange genug nach Büchern lebte", so kennzeichnet diese Form des besonnenen Realismus eher seine wirkliche Position als jene betonte Drastik und Kühnheit. Immerhin spricht er auch vom Revolutionären, das in einer derartigen volkstümlichen Unbekümmertheit enthalten sei und manchen zaghaften Leser wohl abschrecken könne. Aber die Art, wie es geschieht, klingt doch wieder recht traulich-bürgerlich, so kühn es ihm selber damals erscheinen mochte. Zwar bleibt die Rücksicht auf die Zensur in Rechnung zu stellen, wenn Anzengruber durch die Blume, und zwar eine wahrlich volkstümliche Stilblume fast Hebelscher Art, sich über den gar so kühnen und umkämpften „Realistiker" so ausläßt: „Aber indem er auf solche Weise in die unbefangensten Gemüter den Keim der Unzufriedenheit mit aller himmlischen und irdischen Straßenpolizei streut, erscheint er auch revolutionär; und das ist ein Grund mehr, vor ihm zurückzuschrecken." Es sei erinnert, daß wir zeitlich vor dem deutschen Naturalismus stehen. Vieles bleibt indessen in der Hauptlinie einer „Aufklärung des Volkes" befangen, fast ein wenig der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Und wenn Anzengruber in der Kunsttheorie von den „sanften Schmerzen und milden Tränen" abrückt, so hat er sie im Kunstschaffen doch weit weniger gemieden und oft merklich bevorzugt. Das aber ist eine echte Aufklärungsrührung, die den gemütsmäßigen Boden auflockern soll, damit die Keime der „guten Sache der Aufklärung" Wurzeln schlagen; es sind die „sanftenTränen" Gellerts, die, „einem sanften Regen gleich", die Erde zugleich fruchtbar machen und nicht nur erquicken sollten. Ja man könnte wahrscheinlich ohne Bruchstelle folgende Bemerkung in Anzengrubers Vorrede einbauen, die nicht von ihm stammt: „Die liebevolle Versenkung in die Natur wie die sinnende Betrachtung des waltenden Schicksals in der Menschenwelt, die jubelnde Freude am Dasein und das schmerzliche Mitgefühl des

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Jammers der Kreatur — eins wie das andere kann fromm sein und kann hindurchklingen auch durch das, was man profane Dichtung n e n n t . . ." Diese Bemerkung findet sich bei K a r l G e r o k (1815 bis 1890), und zwar in seinem etwa ein Jahrzehnt nach Anzengrubers „Dorfgängen" für die „Deutsche Revue" (1888) verfaßten Aufsatz „Poesie und Religion". Im „Eingang" zu den „Wald- und Dorfgeschichten: Die Älpler" (verfaßt 1871), einer vorredenartigen Betrachtung über die Sonderart des Bauern, besonders des Gebirgsbauern, bemüht sich P e t e r R o s e g g e r (1843—1918) um den „Volksbegriff" und seine Klärung, gestützt auf Ausführungen von Bogumil Goltz. Es ist hier nur das Landvolk, dem er sich zuwendet als dem reinen, nicht durch Stadtnähe verfälschten Landvolk. Nicht allein die gerechte und auch nur „richtige Beurteilung des Volkes, besonders der bäuerlichen Charaktere", wie sie sich etwa in einsamen Gebirgstälern entfalten, sei außerordentlich schwierig, sondern vor allem auch die Darstellung, das gestaltende Erfassen des Volkes an sich. Denn „Volk ist wie der Urwald; man kann Büsche und Bäume zeichnen, aber nicht den Urwald; das Volk ist wie das Meer; man kann Quellen und Bäche und Seen bezwingen, aber nicht das Meer". Reine Realistik ist nicht sein Darstellungsziel; vielmehr ein poetischer Realismus, zum Teil noch mit biedermeierlichem Einschlag. Wie denn Rosegger gesteht, „oft ist mir zur Rechten die Poesie und zur Linken die Schalkheit gestanden; doch wird leicht zu erkennen sein, was Dichtung ist und was Wirklichkeit". Ein späterer Zusatz faßt knapp das Wirkungsziel seines Kunstwollens so zusammen: „Volkstradition, die durch ein Poetenherz ging." Das könnte rein formal fast anklingen an Emile Zolas „Stück Natur, gesehen durch ein Temperament". Aber nicht nur die weichere Tönung des Ausdrucks „Poetenherz" bestätigt den Grundtypus des Roseggerschen Kunstwollens als leicht erbaulich gefärbten poetischen Realismus mit nachbiedermeierlichem Einschlag. Im Sonderfalle des Erbaulichen erfährt das „religiöse Moment" Hervorhebung, das neben dem Sinn für das „Herkömmliche" verstärkte Beachtung „in einer Charakteristik des Volks" fordern dürfe und finden müsse. Recht weitherzig jedoch wird der Aberglaube mit einbezogen, da in ländlichen Vorstellungswelten und volkstümlichen Erlebnisformen Glaube und Aberglaube vielfach ineinanderspielen. Ein nacherlebendes Kennenlernen echter Volkstypen sei immer noch nötig, da die Devise: „Alles durch das Volk

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und für das Volk!" nicht einmal mit Bezug auf eine achtungsvolle und verständnisvolle Würdigung des Bauerntums und Bauerntypus' befolgt werde bzw. verwirklicht sei. Es liegt nahe, daß die „Persönlichen Erinnerungen an Robert Hamerling", die Rosegger 1891 veröffentlichte, zunächst einmal der Kennzeichnung des verehrten älteren Freundes und kritischen Beraters dienen, ganz abgesehen vom Typus der freundschaftlich gefärbten Plauderei, die nicht gerade in Tiefen kunsttheoretischer Wesenserfassung der Dichtung strebt. Aber gelegentlich hat die etwa eineinhalb Jahrzehnte (seit 1868) währende enge Berührung der beiden so verschieden gearteten Menschen und Dichter in Graz doch auch zu weltanschaulich und kunstanschaulich vertieften oder doch programmatisch und kritisch bemerkenswerten Gesprächen geführt. Wenn R o b e r t H a m e r l i n g (1830—1889) die Vorrede-„Plauderei" zu den „Handwerkergeschichten" in einem Brief vom Mai 1880 als Muster einer liebenswürdigen Auseinandersetzung mit Publikum und Kritik und als in ihrer ganzen Art „herzig und sinnig und treffend" rühmt, so hat er mit diesem Dreiklang: herzig, sinnig, treffend recht knapp umschrieben und doch vollgültig eingefangen, was an Kunstwollen und Kunstvermögen in Rosegger wirkte. Wenn er jedoch bei dieser Gelegenheit wohlwollend vermerkt, daß Rosegger durch diese Eingangsplauderei „das Buch gleich anfangs in ein höheres Bereich" hebe, so hat mehr der Freund das Wort, der die Sehnsucht Roseggers nach dem „höheren geistigen Niveau" sehr wohl kannte. Jedenfalls spürt man noch aus Roseggers Hamerling-Erinnerungen die warme, fast rührende Genugtuung darüber mitschwingen, daß Hamerling, nachdem ihn Rosegger „mit einiger Beklommenheit" auf seine „enge Begrenzung im Volkstümlichen" hingewiesen hat, diese Selbstkritik freundschaftlich zurückwies und ihr die These gegenüberstellte: „Meister ist jeder und gleich ein jeder den Größten und Besten, wenn er das Eigenste gibt, was er wie Keiner vermag", durch den Hamerling recht eigentlich doch wiederum seinerseits eine Umgrenzung des Kerngebietes der Begabung vornahm. Damit mündete das Gespräch und seine Ergänzung eben nur wieder ein in den Beginn, an dem ein impulsiver Ausruf Hamerlings angesichts einer der Dorfgeschichten Roseggers gestanden hatte: „Rosegger, das schreibt Ihnen Keiner nach!" Angesichts der umfassenden Büchersammlung Hamerlings bekennt Rosegger, daß es ihm stets schwer gefallen sei, aus Büchern,

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besonders aus Lehrbüchern zu lernen. Hamerling verweist tröstend auf Th. Storms ähnliches Geständnis. Aber Rosegger ist so leicht nicht zu beruhigen; ihn beunruhigt offenbar ernstlich die Unfähigkeit oder doch Unzulänglichkeit, rein gedächtnismäßig aus Büchern Wissen zu schöpfen. Das mündliche Wort haftet schon besser; am besten das Eigenerleben und die Erfahrung. „Das Wenige, was ich bin und weiß und kann, ich habe es nicht aus Büchern, ich habe es vom Leben." Aber wenn der Künstler in ihm auch ein wenig übertreibt, es ist schon so, wie er es im Vorwort zu seinen „Neuen Waldgeschichten" (1883) so lebendig schildert. Im Weben und Leben der Natur, „von den Baumrunen gleichsam und den bemoosten Steinen las ich sonnengoldige Jugend, und kleine Geschichten der Vergangenheit flatterten heran wie Schmetterlinge und Libellen und neckten mich . . . da schössen mir die Waldgeschichten auf wie Pilze. Und in ihrer ganzen Wildheit, wie sie mich gleich Brombeerlaub umrankten, habe ich sie abgeschrieben." Rosegger besaß nicht die naive Kraft der Gestaltungsweise Jeremias Gotthelfs. Er war gewiß naiv im landläufigen Sinne; aber im Sinne von Schillers Gegensatztypen war er vielleicht eher sentimentalisch. Zum mindesten drängt sein Kunstwollen verschiedentlich in die sentimentalische Richtung, während sein eigenes Kunstvermögen im Naiven sein Eigenstes zu bieten vermochte, allerdings kaum zur Veredelung des landläufig Naiven zum „Naiven" im kunsttheoretischen Sinne gelangte. Vielleicht ist sein eigenstes Gebiet doch die Heimatskizze, die Kurzform des Genrebildes, wie er denn etwa in der Sammlung „Die Älpler" weniger das bietet, was der Untertitel „in ihren Wald- und Dorfgeschichten" verheißt, sondern mehr ein Mosaik von sittenbildhaften Momentaufnahmen, ohne zum Erzählen eines Geschehens fortzuschreiten. Zum mindesten dürften in dieser Technik die Kern- und Keimzellen, aber auch die ewig frischen Kraftquellen seiner Erzählungskunst, soweit sie Kunst war, zu suchen sein.

III. Das Wegsuchen zwischen Impressionismus und Expressionismus Eine Gegenüberstellung von Impressionismus und Expressionismus ist in der Kunsttheorie dadurch erschwert, daß es für den literarischen Impressionismus an Material empfindlich fehlt, jedenfalls verglichen mit dem Expressionismus. Das ist bedauerlich. Denn an sich mußte es naheliegen, beide Richtungen einmal grundsätzlich auch von der Kunsttheorie her gegenüberzustellen, wobei neben der Abhebung auch die teilweise (durchweg uneingestandene) Berührung zu berücksichtigen gewesen wäre. Jedenfalls ist über den bildkünstlerischen Impressionismus von der Sonderforschung immer noch mehr zu erfahren als über den wortkünstlerischen Impressionismus. Noch 1907 kann R i c h a r d H a m a n n (1879—1961) in seiner Schrift „Der Impressionismus in Leben und Kunst", betonen: „Der Name Impressionismus ist vorwiegend für Erzeugnisse der bildenden Kunst in Gebrauch". Erfreulicherweise richtet er den Vergleichsblick mehrfach auch auf die Dichtkunst, wenngleich in einer zeitbedingt noch recht beengten Weise. Deshalb bleibt man für den dichterischen Impressionismus in einem stärkeren Grade als für den Expressionismus auf die werkimmanente Poetik angewiesen. Letzten Endes erklärt sich jener Mangel daraus, daß man im Bereich der Dichtkunst zunächst einmal (daher der relative Mangel an ausgesprochenen Programmschriften), aber auch späterhin (daher der relative Mangel an Sekundärliteratur) nicht sowohl eine ausgeprägte Sonderrichtung des dichterischen Kunstwollens begriff, als vielmehr eine stark vom Sprachstil her und an der impressionistischen Malerei (bes. der Pleinairkunst) orientierte Zusammenfassung, die sowohl die Neuromantik als den verfeinerten oder „intimen Naturalismus" wie auch die Verbesonderungen des Symbolismus oder Psychologismus mit umspannte. Dort wo F e r d i n a n d J o s e f S c h n e i d e r (1879—1954) verhältnismäßig aus Zeitnähe heraus in seiner Schrift über die Lyrik des Expressionismus („Der expressive Mensch und die deutsche Lyrik der Gegenwart", 192y) erfreulicherweise einen kleinen Abschnitt

3 6 8 WEGSUCHEN ZWISCHEN IMPRESSIONISMUS UND EXPRESSIONISMUS

über „Impressionistische und expressionistische Dichtung" einflicht und durch vergleichende Gedichtinterpretation Klarheit der Unterscheidungsmerkmale zu gewinnen versucht, spricht er mit Bezug auf ein bekanntes Gedicht R. M. Rilkes („Der Panther") unbefangen und durchaus zutreffend von der „neuromantischen Eindruckskunst". Und wenn er noch feinstufender sich berichtigt „neuromantische Dekadenz", so wird eben damit nur das Fließende der Grenzziehung sichtbar. Aber aus demselben Bedürfnis heraus, aus dem er jenen Abschnitt eingeflochten hat, nämlich doch irgendwie annähernd Klarheit zu bringen in die gewiß dichterisch höchst fruchtbare wildwüchsige Wirrnis der Verflochtenheiten, so auch sei es hier versucht, das Eigengepräge des Impressionismus von dem des Expressionismus abzuheben. Ob überhaupt die Benennungen und ihre Übersetzungen: Eindruckskunst—Ausdruckskunst besonders glücklich sind, bleibe dahingestellt. Kunstphilosophisch und psychologisch dürften sie — streng genommen — kaum haltbar und „beweisbar" sein. Denn der Ausdruckskünstler geht, wenn auch auf Umwegen, ebenso von Eindrücken aus, wie umgekehrt die Eindruckskunst auf den, wenngleich reduzierten und konzentrierten „Ausdruck" zugeht. Es steht mit den Stilrichtungen, so verstanden, ähnlich wie mit den sogenannten dichterischen Typenbildungen: naiv-sentimentalisch usw. (vgl. Band III). Nicht nur Schiller war sich klar darüber, daß erst über den naiven und sentimentalischen Typus hinaus der vollendete Typus anzustreben ist. F. J . Schneider spricht in der genannten Schrift betont in der Titelgebung vom „expressiven Menschen", also von einem anlagemäßigen Grundtypus, dem man natürlich den Gegentypus des „impressiven Menschen" entgegensetzen könnte. Der vollendete Typus wird gleichsam durch beide Verhaltensweisen hindurch- und zugleich über sie hinausgehen. An sich allerdings kann es nicht als besonders glücklich gelten, von einem „expressiven" oder „barocken" oder „romantischen" Menschen zu sprechen, wie es zeitweise üblich war. Um es schon an dieser Stelle anzudeuten: über alle Verbesonderungen wie „Neue Sachlichkeit", „Surrealismus", „dichterischer Existenzialismus" oder „produktiver Nihilismus" und „Neurealismus" oder „Neusymbolismus" und alle die „Neos" hinaus und (hoffentlich) empor wird die Zukunftsentwicklung immer irgendwie auf das schon von Kleist vorgeahnte grundlegende Eindrucks— Ausdrucksverhältnis angewiesen bleiben, also in gewissem Sinne

WEGSUCHEN ZWISCHEN IMPRESSIONISMUS UND EXPRESSIONISMUS

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auf eine Synthese von Eindruckskunst und Ausdruckskunst. Wobei es dem Deutschen eigentlich zugute kommen müßte, daß er über Jahrhunderte hinweg in seiner Kunsttheorie und seiner besten Kunstleistung stets erneut einem ideellen oder idealen Realismus zustrebt, der aber immer die romantische Vertiefung in Bereitschaft hält als letzte Reserve gleichsam, ohne die er keine entscheidenden Siege zu erkämpfen vermag. Was den Impressionismus betrifft, der bei zeitgenössischen Kritikern wie ζ. B. Samuel Lublinski häufig schlecht abschneidet, so darf nicht vergessen werden, daß seine Vorformen schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begegnen, ob man nun an Heinrich Heine oder Annette von Droste-Hülshoff („Im Moose", „Die Mergelgrube" u. a.) oder weiterhin an Adalbert Stifter denken mag. Sowohl der Frührealismus als auch der poetische Realismus versuchten sich in impressionistischen Verfeinerungen, längst bevor das Fachwort Impressionismus bekannt war. Innerhalb des Naturalismus war ζ. B. ein Gedicht wie „Der Viererzug" (sommerliche Wagenfahrt) von Detlev von Liliencron, der nicht umsonst die Kunst der Annette von Droste-Hülshoff verehrte (begeistertes Gedenkwort), dem ganzen Kunstwollen nach durchaus impressionistisch eingestellt, ebenso sein Gedicht „Auf dem Deiche". Ein kurzer Rückgriff auf D e t l e v von L i l i e n c r o n (1844 bis 1909) mag die Keimkraft des Naturalismus für den Impressionismus andeuten, zugleich aber das Hinüberspielen des naturalistischen Impressionismus in einen neuromantischen Impressionismus sichtbar machen. Die eine Seite wird besonders deutlich in den genannten Gedichten, etwas vergröbert etwa auch in dem damals vielzitierten „Die Musik kommt". Die andere Seite tritt greifbarer zutage in dem „Poggfred"-Epos. Aber in Wirklichkeit spielen von vornherein beide Strömungen untrennbar ineinander, auch in Einzelgedichten wie „Heimgang in der Frühe". Man wird in dem Soldaten und Jäger Liliencron nie den Anteil an Romantik über dem Hervorkehren des „naturalistischen" Beobachters und Berichters übersehen dürfen und bei näherem Hinschauen auch gar nicht übersehen können. Ebensowenig wie man über der betont männlichen Derbheit die ritterliche Grazie als Verfeinerungstrieb außeracht lassen oder über dem lauten Lebensjubel den stilleren Lebensschmerz überhören sollte. Hinter dem Burschikosen des Naturburschen steht verdeckter oft, aber auch ver24

M a r k w a r d t , Poetik V

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tiefender ein langjähriges, durchaus echtes religiöses Ringen. Beides gehört zu dem „Vollmenschen", der — ähnlich wie bei seinem langjährigen jüngeren Freunde Richard Dehmel — weit mehr das Ideal war als der „Übermensch" Nietzsches. Es darf aber in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß seine erste Sammlung „Adjutantenritte und andere Gedichte" (1883) in demselben Jahr herauskam wie der erste Teil des „Zarathustra" und daß Elisabeth Förster-Nietzsche es später war, die mit anderen Helfern dem Freiherrn von Liliencron, der eigentlich niemals (oder doch erst sehr spät) aus der leidigen Geldverlegenheit herauskam, für Jahre die Miete vorstreckte, damit er wenigstens endlich mit seiner dritten Frau in Ruhe zusammen wohnen und leben konnte. Etwa eineinhalb Jahrzehnt vor den „Adjutantenritten" tauchen zwischen zwei Kriegen, die er mitmachte, erste Andeutungen über ein werdendes Dichtertum in seinen Briefen auf, noch verschämt-ironisierend, aber doch unverkennbar. Und als wollte der eigenwillige Liliencron den Verfechtern des Primats des Kunstschaffens vor der Kunsttheorie eines seiner so beliebten Schnippchen schlagen, läßt er dabei die Theorie um eine Nasenlänge der Praxis vorausgehen. Denn seinem damals engsten Freunde Ernst von Seckendorff berichtet er (am 14. Dez. 1869) von seiner Lektüre: „Ich lese jetzt viel über Ästhetik; und lese kulturhistorische Studien. Beides sehr interessant und lehrreich." Und erst einen (!) Tag später (15. Dez.) bekennt er, daß er sich jetzt auch „etwas der göttlichen Muse Dichtkunst in die Arme geworfen habe". Die vorangesetzten Verse, so unzulänglich sie sein mögen, gehen bereits vom Eindruck einer Naturstimmung (Sturm und Regen) aus und auf eine innere Stimmung zu. Ohne Hurra geht es schon damals nicht ab: „Also hurrah, die poetische Ader ist geöffnet, und ich hoffe, daß sie weiter strömen wird." So ernst zu nehmen ist also die verschämt burschikose Einschränkung nicht, daß der obenstehende Vers der „erste und letzte sein wird". So ernst ist aber natürlich auch nicht das oben beanspruchte Vorangehen der „Ästhetik" gemeint. Immerhin ist die Gründlichkeit des Leichtfußes und des „Bruder Liederlich" (Gedichttitel), sich auch theoretische Klarheit zu verschaffen, nicht zu unterschätzen. Sowohl auf dem Gebiet des Sprachlichen (er hält sich noch an Wustmann) wie des Metrischen tritt diese gewissenhafte Bemühung in zahlreichen Bekundungen und Beispielen der Briefe

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immer erneut zutage. Aber bleibt man zuerst bei jenen frühen Spuren: schon ein halbes Jahr nach jenen beiden Briefen findet sich in einem Brief an denselben Vertrauten jener Jahre noch ungeklärten Werdens eine durchaus nicht naturalistische Eindruckswiedergabe der Berge bei Baden-Baden: „Die entfernteren hegen da, als wenn sie grünschattierte Sammetjacken anhätten; die ganz fernen in jenem blauen Dunst, den kein Maler wiedergeben kann." (Juni 1870.) Eben jenes Kunstwollen, das hier umschrieben wird, nämlich das Atmosphärische, das Fluidum über und zwischen den Dingen darstellerisch einzufangen, beherrschte dann die impressionistische Malerei. Aus einer Depressionsstimmung der Jahre in Kellinghusen hat Liliencron zwar einmal ausgerufen: „Ich bin der krasseste Naturalist 1" Aber gemeint ist hier eindeutig das Weltanschauliche, das verzweifelt Materialistische und „Realistische", das dem neuen Magazingewehr den Vorrang einräumt gegenüber der Dichtkunst. Ganz entsprechend dieser Sinngebung bringt derselbe Brief den Satz: „Bismarck ist Realist und Naturalist, da ist seine Äußerung erklärlich." Und was den Naturalismus als Dichtung betrifft, so macht Liliencron geltend, daß dort „alles noch Anfänge" seien und der einzige Gewinn — das einzige „kleine Verdienst" — bislang in der Verdrängung der „Butzenscheibenlyrik" zu erkennen und anzuerkennen sei (29. Oktober 1888). Weit eher trifft seinen Sonderweg das frühere Richtungswort, das zudem ausdrücklich das Kunstwollen näher bestimmt: „Ich möchte wahr dichten: so, wie uns Menschen ums Herz ist, wenn wir kein Fischblut haben. Ich hüte mich, naturalistisch zu werden; aber einen stark realistischen Zug kann ich nicht verbergen" (April 1883). Das war die Position zur Zeit der „Adjutantenritte". Damals wies ihn Th. Storm in dem Dankesbrief für die Übersendung des Erstlingswerks auf Lessings „Laokoon"-Gesetz hin mit der Mahnung: „Man soll den Lessingschen Satz: die Malerei ist die Kunst des Nebeneinander, die Poesie die des Nacheinander doch stets im Bewußtsein behalten" (vgl. Bd. II u. IV). Ihm schien noch manches bei dem frühen Liliencron in Einzelausdrücke „auseinander zu bröckeln" (30. Nov. 1883). So tritt die Kunsttheorie ζ. T. durch Vermittlung Dritter an ihn heran. Fast ahnungsvoll aber hatte Storm eingeräumt, „verboten" sei es zwar nur dem, „der es nicht kann". Er selber hatte dem Impressionismus vorgearbeitet. Die Position Liliencrons ein Jahr24·

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zehnt später beim Gedicht „Krischan Schmeer" aber wird bereits gekennzeichnet durch die Leitthese der Ausdruckssynthese: „Phantastik und Realismus durcheinander" (Mai 1893). Das ist im Grunde auch der Leitsatz für das „kunterbunte" PoggfredEpos, das Liliencron nicht zuletzt deshalb so lieb war, weil er jederzeit die jeweils vorherrschende Impression darin festhalten konnte. Nur bleibt, kritisch gesehen, die Frage, ob jenes „Durcheinander" nicht beim bloßen Nebeneinander der dynamischen Stimmungs-Spannungen stehen geblieben ist, ohne eine wirkliche Synthese zu erreichen. Stellt man jedoch die Vorfrage nach dem zugrunde liegenden Kunstwollen (und das sollte man gerechterweise stets tun), so wäre nicht so ohne weiteres ein Auseinandertreten und Einander-Widerstreiten von Kunstwollen und Kunstkönnen zu behaupten. Vielmehr bewährt sich durchaus jenes in einem Brief an Otto Julius Bierbaum, der selber in seiner Art den Naturalismus bereits impressionistisch umzubilden begann, enthaltene „Phantastik und Realismus durcheinander". Dabei kann das Phantastische zwanglos in die Sonderform des Visionären übergehen, wie das in ausgeprägter Weise das eingangs erwähnte Gedicht „Auf dem Deiche" erkennen läßt. Denn dem Impressionisten war die Vision als geistige Schau keineswegs untersagt. Er pflegte sie nur anders zu gestalten als der Expressionist, genau so wie die Barockzeit die Antithese anders verwandte als etwa die Aufklärung. Auch in der visionären Schau nämlich blieb er seinem Glauben an die Wirkungskraft erlebter Eindrücke treu (Hauptmann „Hanneies Himmelfahrt"). Das gilt ganz ähnlich von Arno Holz und seinem „Großstadtmorgen", wo im rückgreifenden Erinnerungserleben die visionäre Überblendung dennoch in sich impressionistisch getönt und auch kunsttechnisch „gemacht" wird. Es kommt nämlich für das Kunstwollen nicht in erstem Betracht darauf an, ob eine Kunstrichtimg die Vision (oder den Traum) anwendet, sondern w i e sie sie anwendet und gestalterisch zur Wirkung bringt. Die Vision und ihr Vorkommen als solches ist nicht entscheidend. Auch recht verschiedenartige Dichter wie Jakob Wassermann oder Rainer M. Rilke haben sich sogar in ihrer formulierten Poetik auf die Vision nachdrücklich berufen, ebenso im Lager der Heimatkunst etwa Timm Kröger. Es kommt vielmehr darauf an, wie der Darstellungs- und Ausdruckswille, wie das Kunstwollen geartet und gerichtet ist, in dessen D i e n s t die Vision jeweils gestellt wird. Es gibt viele Versionen der Visionen.

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Und der Expressionismus hat die Vision nicht gepachtet. Wohl aber hat er sie zum Selbstzweck erhoben und nicht nur als Mittel zum Zweck verwendet, ganz abgesehen vom andersartigen Typus der expressionistischen Vision. Ein Impressionismus neuromantischer Art herrschte, so konnte erkannt werden, als erstrebenswertes Ziel und als Wesens- und Wertbestimmung des Dichtertums vor in Hugo von Hofmannsthals denkwürdigem — wenn auch schwerlich scharf durchdachtem — Vortrag über den „Dichter und diese Zeit". Dort dominierte in der Wesensbestimmung echten Dichtertums durchaus das leidend-genießende Empfangen einer Fülle und Überfülle von Zeiteindrücken, aber auch von Vergangenheits-Impressionen. Dort wurde der Dichter verglichen mit einem „Seismographen, den jedes Beben und wäre es auf Tausende von Meilen, in Vibrationen versetzt". Dort galt als das „einzige Gesetz" das willig hingebende Offensein für alle Impressionen und Sensationen (sensitive Sensationen) und das Gebot, „keinem Ding den Eintritt in seine Seele zu wehren". Denn der rechte und echte Dichter „kennt nur Erscheinungen, die vor ihm auftauchen und an denen er leidet und leidend sich beglückt". Und dort war auch die Vision aus dem Rausch der Eindrucksfülle und Eindrucksvielfalt der Erscheinungen erwachsen und ganz oder doch vorwiegend von hier aus gesehen und gedeutet. Die Gabe und Aufgabe des „Dichters und dieser Zeit", die entscheidende Voraussetzung und das künstlerische Verfahren, die Mission und Funktion des Dichterberufs und der Dichterberufung, die „eine Sache" (vgl. das „einzige Gesetz"), auf die der Dichter in dieser Welt gestellt ist, wird zusammengefaßt in dem Auftrag: „die Unendlichkeit der Erscheinungen leidend zu genießen und aus leidendem (passivem) Genießen heraus die Vision zu schaffen". Das ist gleichsam der ästhetische Imperativ des Impressionismus in seiner neuromantischen Ausprägungsform. Aber selbst bei Hofmannsthal bleibt auch der naturalistisch getönte Impressionismus keineswegs so völlig außer Betracht, wie man zunächst wohl annehmen möchte. Da soll ζ. B. der Dichter allen Eindrücken, allen Stoffen, allen Ständen nachgehen, auch „dem Armen um seiner Armut willen. Jeder Stand wünscht seinen Pindar, aber er hat ihn auch". Immerhin läßt aufhorchen, daß ein Pindar bemüht wird und nicht ein Zola. Aber ebenso läßt aufmerken, daß dem Dichter ein Einblick in die Vorgänge des Handwerks empfohlen wird. Und wenn dabei auch der „Fleisch-

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hauer" erwähnt wird, so könnte doch ein wenig Zola vorgeschwebt haben. Jedenfalls ist bemerkenswert, daß Jakob Wassermann seine ursprüngliche Polemik gegen Zolas Breite im detaillierten Schildern in seiner „Kunst der Erzählung" durch eine später hinzugefügte Anmerkung wieder zurücknimmt oder doch einschränkt. Die Einräumung Hofmannsthals freilich gegenüber von ihm vernommenen Klagen, daß manche Motive, die des „Schilderns wert" seien, wie ζ. B. „die Inhalte mancher Industrien oder dergleichen", wirkt etwas gezwungen und weicht neuromantisch aus in die „unendliche Symbolhaftigkeit der Materie", wobei im übrigen die Bedingung gestellt wird, daß jene Erscheinungen immer Träger eines besonderen Lebensrhythmus und einer Stimmung, einer Seelenlage („Isoliertsein der Menschen") sein müßten, um poesiefähig zu werden. Vorbeisehen und vorbeigehen an den Motiveroberungen des naturalistischen Impressionismus aber kann auch ein ausgeprägt neuromantischer Impressionist wie Hofmannsthal nicht mehr. Und so muß er den modernen Dichtern zugestehen, daß sie nicht mehr angewiesen sind auf Motive historischer Größe wie Alexander (Wassermann ?) oder Cäsar (Shakespeare) und auf psychologische Sondersituationen wie in der Neuen Heloise (Rousseau) oder im Werther (Goethe). Vielmehr als den „Schattenbeschwörern ohne Maß" wird auch „das unscheinbarste Dasein, die dürftigste Situation ihren immer schärferen Sinnen seelenhaft". Dieses SeelenhaftWerden entspricht indessen wiederum der psychologischen Verfeinerung des Impressionismus gegenüber dem bloßen Naturalismus. Und trotz Vorklängen expressiver Art überwiegt durchaus das Vertrauen auf die Umsetzung des konsequenten Realismus in Psychologismus und Symbolismus impressiver Haltung und Gestaltung. Es ist ja auch keineswegs so, daß alles an Kunsteinsicht impressionistischer Art erfüllt und alles an Anregung seitens des Impressionismus später durch den Expressionismus endgültig in unwiederbringlichen Verlust geraten wäre. Es wurde deshalb zu bedenken gegeben, ob nicht ein ideeller, ein vergeistigter Realismus mit romantischer Vertiefung die weiterführende Lösung bringen könnte. Macht man gleichsam probeweise einmal einen weiten Sprung (kunsttheoretisch) in den Bereich des Wegsuch ens zwischen Neurealismus· und Neusymbolismus, und befragt man einen zugleich kritisch und kunsttheoretisch eingestellten Dichter wie W i l h e l m L e h m a n n (geb. 1882) nach seiner etwa ein halbes Jahr-

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hundert später bekundeten Meinung, so stößt man in seiner Essay-Sammlung „Dichtung als Dasein" (1956), und zwar in dem Essay „Die gejährliche Kunst" auf die schlichte Frage: „Woher kommen reine Gedichte?" und auf die ebenso schlichte und besonnene Antwort: „Oft aus dem Stoß (Anstoß) eines Eindrucks...". Das Wissen um die alte Weisheit ist also nicht tot, nicht niedergetreten vom Triumphzug des Expressionismus. Es hat sich hoffend und helfend wieder aufgerichtet. Und es lenkt auch den kritischen Kunstverstand, der keineswegs verachtet, sondern gegen anmaßende Arroganz einer vermeintlichen Genialität verteidigt wird, wenn sich in einem Essay über Theodor Storm, der weitgehend dem Impressionismus vorgearbeitet hat, der verstehende Blick nun auch auf impressionistische Feinheiten wie etwa Storms sensible Schilderung der Frauenhände richtet. Man hat wieder gelernt, das „Klischee" von der Köstlichkeit des treffenden Blicks sorgsam säuberlich zu unterscheiden. Was hier bewundert oder doch anerkennend am vermeintlich längst verstaubten Storm bemerkt wird, ist zugleich eine spürsame psychologische Einfühlung in einen Eindruck, der schon in demselben Augenblick zum Ausdruck wird. Aber zurück in den vorerst betretenen und auszumessenden Berichtsraum! Man könnte einwenden, daß sowohl die verfeinerte Form des Naturalismus den Impressionismus in sich einschließe, wie andererseits der Symbolismus innerhalb des Impressionismus den Expressionismus weitgehend vorbereitet habe. Soviel ist jedenfalls zuzugestehen, daß das Wegsuchen zwischen Impressionismus und Expressionismus sich mannigfach und nicht zuletzt zeitlich in der Entwicklungsabfolge überschneidet mit dem Wegsuchen zwischen Neuromantik und Neuklassik. Denn der Impressionismus in der Poesie wurde zunächst einmal empfunden und erfahren als Psychologismus, als Verinnerlichung und Verfeinerung der äußeren Wirklichkeit der Wahrnehmungen in eine innere geistig-seelische Wirklichkeit der psychologischen Reaktionen und Sensationen. Die zeitliche Überschneidung wird bereits gekennzeichnet durch die in Plauderei aufgelockerten und aufgelösten Darlegungen Hermann B a h r s (1863—1934) in der Essaysammlung „Die Überwindung des Naturalismus", die als zweite Reihe von „Zur Kritik der Moderne" (1891) herauskam. Denn an sich waren die zähen Angriffe Paul Emsts im Rahmen der Neuklassik weit eher berufen, eine Überwindung des Naturalismus zu erzwingen als die stim-

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mungsvollen Plaudereien H. Bahrs, denen ein Bonmot wertvoller war als eine Programmthese. Hermann Bahr bekennt nicht umsonst, daß man von ihm keinerlei „Vorschriften" verlangen dürfe, wie die alte Literatur zu überwinden und die neue zu gewinnen sei, dieweil er letztlich „überall nur so herum probiere" (in: „Die Alten u. d. Jungen"). Obwohl er merklich mit dieser Selbstbescheidung kokettiert, indem er reichlich oft seine eigene Nicht-Kompetenz unterstreicht, um letztlich doch nur seine Vorurteilslosigkeit und geistige Überlegenheit herauszustreichen, bleibt doch das Gefühl des Wegsuchens unverfälscht. Der bürgerliche Idealismus der Epigonen gefällt ihm nicht mehr, der aus Skandinavien kommende Vorschlag (von Arne Garborg), einen „Neu-Idealismus" auf die Bahn zu bringen und gegen den Naturalismus auszuspielen, scheint ihm von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Aber soviel ist ihm klar oder gilt ihm als einigermaßen erklärbar, daß zunächst einmal die Außenwelt des Naturalismus transponiert werden muß auf die Innenwelt des Psychologismus. Und in diesem Augenblick, mit dieser Wendung vollzieht er die S c h w e n k u n g z u m I m p r e s s i o n i s m u s , den er in der Theorie propagiert und in der Praxis seines Kunstschaffens demonstriert, nicht so eindeutig zwar wie Arthur Schnitzler, aber doch unverkennbar, in der Theorie sogar folgerichtiger und zielbewußter und vor allem auch wesentlich früher, nämlich mitten in der ersten Hauptwelle des Naturalismus, den er freilich schon damals vorschnell für „überwunden" hielt. Und wiederum doch nicht ganz für überwunden; denn dort, wo er von der „Krisis des Naturalismus" handelt in einem Sonder-Essay, der neben dem der ganzen Aufsatzsammlung den Titel gebenden Aufsatz „Die Überwindung des Naturalismus" vorerst besonders in Betracht kommt, kann er sich keine fruchtbare Weiterentwicklung vorstellen, ohne die Teilverdienste des Naturalismus auszuwerten und in die Zukunftsrechnung einzukalkulieren. Die angestrebte Verfeinerung der Psychologie verspricht nur Erfolg, wenn die Erfahrungen und Verfahrensweisen des Naturalismus einbezogen werden. Das habe der Franzose Paul Bourget versäumt, dessen Gegenüberstellung mit Emile Zola vor allem dieser Artikel gewidmet ist. Es genüge nicht, den Sachbestand durch den Seelenzustand zu ersetzen. Die Psychologie, die den Naturalismus überwindet, könne doch den Erfahrungszuwachs des Naturalismus nicht entbehren, son-

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dem müsse ihn besser zu verwerten verstehen, als dies Paul Bourget vermocht habe. Denn die „vornaturalistische" Psychologie kann dem modernen Leser kein Genüge mehr tun. Es gehe schlechthin nicht an, eine „übernaturalistische Revolution innerhalb der vornaturalistischen Tradition" vollziehen zu wollen. Durch den Naturalismus geschult, verlangt der Leser den Wirklichkeitsbericht und läßt sich nicht mehr abspeisen mit der mageren Kost kluger Betrachtungen von Seelenlagen und mittelbaren Erörterungen von Seelenfragen. Man will beteiligt sein und nicht nur belehrt, man will anschauliche Beispiele und nicht nur abstrakt-blasse Belege, man will Beobachtung der Sinne und nicht nur Beweise der Vernunft. Vorerst gelte es also, aus der Antithese von „Bourgetismus" (abgeleitet von P. Bourget) und Naturalismus eine Synthese zu gewinnen und sie künstlerisch gültig zu gestalten. Das bedeutet: der Aufsatz handelt in Wirklichkeit ebensosehr von der Krise des Bourgetismus wie des Naturalismus. Aber schon hier wird die „fin de siecle"-Situation erkannt und den „Dekadents" die Funktion einer impressionistischen Verfeinerung der naturalistischen Psychologie zuerkannt, so etwa Huysmans u. a. Die „private Diskussion" der Stimmungsvirtuosen in der „dekadenten" Boheme muß aktiviert und für die Kunst produktiv gemacht werden. Daß Hermann Bahr schon damals auch programmatisch auf dem Wege zum I m p r e s s i o n i s m u s war, bestätigt ζ. B. der Aufsatz „Die neue Psychologie", der vom Dichter vor allem eine Berücksichtigung der vorbewußten Seelenzustände verlangt, also das Vorbewußte und Unterbewußte zur Geltung und Gestaltung bringen möchte und nach einer künstlerisch brauchbaren „Methode" Ausschau hält, um die Werte der an sich „noch nicht wirksamen Impressionen", die aber für den Dichter auswertbar und auswertungswürdig sind, mit behutsam sich vortastender Griffsicherheit zu erfassen. Schon in diesem Aufsatz klingt das Motiv von der zu verfeinernden Reaktionsfähigkeit der „Nerven" und dem dichterisch noch weitgehend brachliegenden Feld des „Nervösen" an, das dann geradezu zum Leitmotiv erhoben wird in dem SonderArtikel „Die Überwindung des Naturalismus". Im Gesamt hält dieser der ganzen Sammlung das Kennwort gebende Titel nicht, was er verspricht, wohl aber hält er es wieder ganz und gar mit einer anzustrebenden „Nerven"-Kunst. Denn das ist der Weisheit letzter Schluß und — der Kunst neuer Anfang, daß der Dichter nicht mehr oder doch nicht nur die Sinne befragen muß (Abwehr

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des Naturalismus), sondern vor allem die Nerven beschäftigen soll, die eigenen Nerven und die des Kunstwertaufnehmenden. Der neue Dichter, wenn er und weil er über den Naturalismus hinausgelangen will, muß zu einem „Virtuosen im Nervösen" werden. Dabei ist die Wortbedeutung des „Nervösen" natürlich anders zu interpretieren als die heute geläufige. Nervös bedeutete nicht das nervenmäßig Gereizte oder gar Überreizte im negativen Sinne, sondern das nervenmäßig Reizbare, feinnervig Reaktionsfähige und eindrucksmäßig (impressionistisch) Rezeptionsfähige, aber auch das Reduktionsfähige. Es sei in diesem Zusammenhange daran erinnert, daß Richard Hamann sich 1907 auf den Historiker Karl Lamprecht beruft, wenn er d a s K e n n w o r t „ R e i z s a m k e i t " f ü r „ I m p r e s s i o n i s m u s " in Vorschlag bringt, und zwar in einem durchaus positiven Sinne. Das zielt ebenfalls auf die „nervöse" Steigerung des Reagierens auf Reize. Diese Fähigkeit zur subtilen Impression wird geradezu idealisiert und nun trotz der oben erwähnten Abwehr des Richtungswortes Neu-Idealismus als der „neue Idealismus" bezeichnet und angepriesen. Denn dieser neue Idealismus hebt sich vom alten (Epigonentum) dadurch ab, daß er „das Wirkliche" zu beherrschen versteht, aber seinerseits dem „Befehl der Nerven" untersteht. Denn die neuen M e n s c h e n sind nicht vorab Vernunft oder Gefühl, sondern „sie sind N e r v e n " . In diesem Zusammenhang erscheint wiederum „die Decadence" als Retterin aus der Notdurft des Naturalismus, aber auch aus der Notlage der Kunst überhaupt. Die Bezeichnung „Dekadenz" ist damals für Hermann Bahr ein Ehrenname, kein Schimpfwort. Und er stellt allen Ernstes den Satz auf: „Wenn erst das Nervöse völlig entbunden (entfesselt) und der Mensch, aber besonders der Künstler, ganz an die Nerven hingegeben sein wird, ohne vernünftige (alter Idealismus) und sinnliche (Naturalismus) Rücksicht, dann kehrt die verlorene Freude in die Kunst (und an der Kunst) zurück". Die Kunst, die dann entsteht, die Kunst der Zukunft, wird „etwas Lachendes, Eilendes, Leichtfüßiges (Neu-Rokoko!) sein". Sie wird nicht mehr bedrückt sein von der „logischen Last" (alter Idealismus) und vom „schweren Gram der Sinne" (Naturalismus). Zugleich wird die Okkupation des Impressionismus durch die Neuromantik an Wendungen wie „erdenbefreites Steigen und Schweben" (der romantische Begriff des „Schwebenden", vgl. Bd. III) unmittelbar verbildlicht. Aber Voraussetzung bleibt nicht das Traumhafte der alten Romantik, das Träumen der Phantasie als

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geistiger Potenz, sondern der Zustand, „wenn die entzügelten Nerven träumen". Und gewiß nicht von ungefähr fällt am Ende dieses Aufsatzes der Name M a u r i c e M a e t e r l i n c k . Aber es bleibt doch unverkennbar, daß Hermann Bahr auf den Impressionismus hinauswill und den Symbolismus nur als Gelegenheitsmacher betrachtet und bewertet. Auch in einem Sonderartikel, der „Maurice Maeterlinck" gewidmet ist, bedeutet nicht der „Symbolismus" das Haupt verdienst Maeterlincks, sondern die Erfassung und Erläuterung jener Nerven-Reflexe, die nur „unter der Schwelle des Bewußtseins" aufgespürt werden wollen und als „Nervenstände" (übersetzt aus de l'etats d'äme) sehr schwer zu erhäschen sind, weil sie dort leben und weben, „wohin der Geist nicht dringt". Diese Eroberung einer psychologischen Motivwelt vorbewußter und unterbewußter Art, „das ist der große Fund Maurice Maeterlincks". Kurz, Hermann Bahr erkennt die durch mehrere Sonderstile hindurchgreifende Funktion und die neue Kunst verheißende Mission des Impressionismus. Deshalb war es vielleicht berechtigt, seine an sich recht früh liegenden kunsttheoretischen Bekundungen erst an dieser Stelle auszuwerten, wo es auf eine Gegenüberstellung von Impressionismus und Expressionismus ankommt. Zudem laufen seine in Kritiken eingeflochtenen Bemerkungen grundsätzlicher oder vorsätzlicher Art bekanntlich über die Dekadenz und die Neuromantik hinweg unmittelbar bis zu den Anfängen des Expressionismus (vgl. den Beitrag „Expressionismus", 19x4), den er, ewig „modern bleibend", ebenso begrüßt wie alle früher von ihm gewitterten und miterlebten Anfänge. Daher konnte von Bemerkungen vorsätzlicher Art gesprochen werden. Denn das „Neue", jeweils Aktuelle hat er immer sogleich als Kritiker seinen Lesern vorgesetzt (vgl. seine umfänglichen Sammlungen von Kritiken) und sich selber als Künstler „vorgesetzt", und zwar handelte er in beiden Fällen durchaus unbefangen „vorsätzlich", so sehr er theoretisch das Überwundenwerden aller Theorien durch den spontanen Impuls des Schaffenden hervorzuheben sich immer wieder berufen fühlt. Aber er verfügt über einen erstaunlichen Spürsinn und eine „nervöse" Auffangsfähigkeit in der Luft liegender Stimmungen und Sehnsüchte, fast noch bevor sie als Bestrebungen wenigstens andeutungsweise sichtbar und greifbar geworden sind. Mochte ihm auch sein Pariser Aufenthalt zur Zeit der hier vorerst gewürdigten Kritikensammlung das Gewinnen eines Vor-

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sprunges erleichtern hellen, es bleibt doch erstaunlich, wie klar er in dem Essay „Naturalismus und Naturalismus" schon 1891 die Richtlinien skizziert: „Die neue Psychologie, die neue Romantik, der neue Idealismus — der tastenden Worte sind viele, aber keines nennt die Sache recht, die noch nirgends ist als nur erst in unserer bangen, schwülen Sehnsucht — dieses allein sind jetzt ihre (der Kultur und Kunst) Fragen" (a. a. 0., S. 50). Und wenn Hermann Bahr auch kein genialer Anreger war wie G. Herder, so wuchsen ihm doch aus den bewußt anregend gehaltenen Plaudereien über Kunstfragen mancherlei Anregungen zu, die über den Tag hinausweisen, und zwar durchweg nach vorwärts in die kommende Entwicklung. Er forderte das Neue nicht in Programmen unmittelbar, aber er förderte es durch Prognosen mittelbar. Und wenn man seine immerhin entwicklungsgeschichtlich belangreichen, obwohl oft im einzelnen recht belanglosen Kritikensammlungen, die über mehr als zwei Jahrzehnte hinwegreichen, als „Werke" bezeichnen will — und sie sind es vielleicht bei allen offen zutage liegenden Schwächen mehr als seine Dramen —, so kann man von einer werkimmanenten Poetik nicht zuletzt auch bei Hermann Bahr sprechen. Freilich steht er zur Poetik nicht im Liebes-Verhältnis, sondern im Liebeshaß-Verhältnis. Besonders in jüngeren Jahren sieht er in der Verachtung der Kunsttheorie geradezu eine Bürgschaft für echte (oder vermeintliche) Genialität. Aber um so bemerkenswerter demonstriert er die Sehnsucht nach theoretischen Einsichten und Ansichten. Und seine zahllosen Essays wären kaum noch mehr als Zeitdokumente, wenn er nicht immer erneut in ihnen Ausschau gehalten hätte nach Gesetzen, die er freilich sofort verleugnet, sobald sie Geltung gewinnen. Denn jedes neue Gesetz mußte vor ihm „alt" erscheinen, damit er selber immer „modern" erscheinen konnte. Versucht man jedoch alle die von ihm geleugneten und dennoch heimlich geliebten Setzungen und Satzungen auf einen Generalnenner zu bringen, so laufen sie zuletzt auf einen ζ. T. naturalistisch gestimmten, bestimmten und immer wieder umgestimmten Impressionismus hinaus. Dieser Gesamteindruck wird verstärkt von seinem eigenen Kunstschaffen. Sein berühmt oder doch bekannt gebliebenes Theaterstück ist die Komödie „Das Konzert", das im Grundtypus einen neuromantisch und psychologistisch getönten Impressionismus vertritt. Aber schon in dem zuletzt herangezogenen Essay über die beiden Hauptspielarten des Natu-

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ralismus auf der Bühne („Bühnennaturalismus") nähert er sich ganz unverkennbar dem Impressionismus, indem er unter den beiden Spielarten von Naturalismus denjenigen bevorzugt, bei dem das persönliche Temperament des Künstlers den objektiven (deutschen) Bühnennaturalismus zum subjektiv-individualistischen (französischen) Bühnennaturalismus verfeinert. Denn „es entscheiden nicht die Programme, sondern die Temperamente der Künstler". H. Bahr hat bewußt oder unbewußt übersehen, daß ja schon Emile Zola in der Theorie das Künstler-Temperament als den Form modifizierenden, den Kunstwert garantierenden Faktor deutlich genug eingeschaltet hatte; denn er behauptet, in der Theorie und dem Programm gingen die französischen und deutschen Naturalisten durchaus konform. Das ist indessen nicht der Fall. Im einzelnen vergleicht H. Bahr die „Familie Selicke" von Holz und Schlaf mit den „Chapons" von Lucien Descares und George Darien oder auch das „Friedensfest" G. Hauptmanns mit „Monsieur Betsy" von Metenier und Alexis, um den Kontrast näher zu illustrieren. Der deutsche Bühnennaturalismus sei monoton, der französische immerhin abwechslungsreicher dank der Differenzierung durch die verschiedenen Künstler-Temperamente, die dieselbe Wirklichkeit verschieden sehen und schildern. Je prinzipientreuer der deutsche Naturalismus sich objektiviere, desto kunstfremder müsse er notwendig werden, während die subjektivistische, individualistische Spielart der Franzosen dem Künstlerischen immerhin einen gewissen Spielraum zur Entfaltung gestatte. Die „Entdeckung des vierten Standes für die Literatur" reicht nicht aus, um zur Entwicklung einer Kunst ersten Ranges zu führen. Von diesem Gedanken geht der Essay „Der Naturalismus im Frack" aus, der die Verpflanzung des Naturalismus von der „Gosse" in den „Salon", sowohl was das Milieu im Kunstwerk wie die Atmosphäre unter den Kunstwertaufnehmenden betrifft, als Merkmal einer Selbsthilfe der Kunst einerseits und einer Hilflosigkeit des „reinen" Naturalismus andererseits ansieht. Der Naturalismus habe bald nicht mehr das Milieu zur Erklärung der Gestalten benutzt, sondern umgekehrt die Gestalten zu bloßen Reflexträgern des mehr und mehr dominierenden Milieus erniedrigt. In Anpassung an die französische Terminologie („6tats des choses", „6tats de l'äme") spricht Hermann Bahr gern und durchweg von „Sachenständen" (Sachbeständen) und „Seelenständen" (seelischen Zuständen, psychologischen Verfassungen und Stimmungen).

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Als problematischer Retter erscheint schamvoll-schäbig genug, aber als das kleinere von zwei Übeln die „Decadence", als deren Herold Maurice Barres („Homme libre") mit schnell bereiter Begeisterung von H. Bahr gefeiert wird. Vorerst sieht und setzt er noch das Heil aus der heillosen Wirrnis in einer Synthese von „altem" Naturalismus und „neuer" Psychologie. Aber soviel ist klar, daß dieser bedingt propagierte Naturalismus im Frack für feinstufige Impressionen zugänglicher war als der landläufige Naturalismus im Arbeiterkittel, der übrigens, genau genommen, auch im Naturalismus seltener ist, als man vielfach meint. Träger des Impressionismus ist vorerst noch die Dekadenz mit ihrer „Prädisposition" und „Empfänglichkeit" für verfeinerte Eindrücke und verwickelte Seelenlagen (Essay „Buddhismus"). Dem entspricht es, wenn eben dieser Essay das Neue sieht in der Schwenkung zu „dem Schmachtenden, Zärtlichen und Schmerzlichen . . . in sanften, verwischten, erblassenden Tönen", zu dem „Intimen, Delikaten und Leisen" (vgl. Hofmannsthals Prolog zu A. Schnitzlers „Anatol"). Nicht zufällig fallen in diesem Zusammenhange, der auf die Neuromantik hinwirkt, Namen wie Verlaine einerseits und Nietzsche andererseits. Und der B u d d h i s m u s wird g e r a d e z u zur „Religion der D 6 c a d e n c e " . . . erh o b e n , weil er für eine „Religion der N e r v e n " gleichsam prädestiniert sei, womit nun wieder Fühlung gesucht wird mit dem Impressionismus, jedoch weniger als Lebensstimmung denn als Kunstform. Hinsichtlich des Kunststils nämlich kommt der Essay „Vom Stils" zu dem Ergebnis, daß es ein „objektives Ideal von Stil" schlechthin nicht geben könne, sondern immer nur subjektive Formen und Fassungen, die jene aus Eindrücken gewonnenen „Seelenstände" umsetzen in seelische Wirkungen und Einwirkungen, die also vom Eindruck ausgehen und auf ein künstlerisches Beeindrucken „ausgehen" und zugehen. Dabei und daran ist wiederum das subjektive Temperament des Künstlers und die „Natur des Schriftstellers" wesentlich und entscheidend beteiligt. Ebensowenig gibt es eine objektive Wahrheit, sondern immer nur eine subjektive Wahrheit, wie der Essay „Wahrheit, Wahrheit/" näher und für Bahrs zwanglose Plaudererhaltung überraschend systematisch erläutert. Überraschend wirkt weiterhin, daß H. Bahr in diesem Ruf nach Wahrheit nicht nur einen Protest gegen die Schönfärberei des Epigonentums, sondern auch gegen das „auf-

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spielerische Übermenschentum" der Nietzsche-Epigonen erhebt, zu denen er mit seiner Einleitung „Die Moderne" im lyrisierten Pathos des Nietzsche-Zarathustra-Tons freilich selber ein wenig tendiert. Wesentlich aber bleibt, daß auch die Wahrheit an den subjektiven und individuellen Eindruck gebunden ist, ohne jemals wirklich objektiv entbunden werden zu können. Selbst wenn man von der verstaubten und verstauchten „Gartenlaubenwahrheit" absieht und das anschließende „große Wahrheitssuchen" anerkennt, bleibt doch die Relativität und Subjektivität aller Wahrheit und Wirklichkeit bestehen. Ein wenig muß hier Schopenhauer Hilfestellung leisten, freilich ohne genannt zu werden, um die Welt als Vorstellung oder die „Wirklichkeit im Bewußtsein" dem primitiven Zugriff der Wahrheits- und Wirklichkeitsfanatiker zu entrücken. Immerhin wird die Philosophie mehrfach ins Gefecht geführt, wobei Ed. v. Hartmann mit seiner „Kritischen Grundlegung des transzendentalen Realismus" zur Rückendeckung dient. Gerade der echte Künstler wird seinen Eindruck vom Wirklichen durchsetzen gegenüber allem vermeintlich verbindlichen Beobachtungsmaterial; denn mit der „toten und kalten Abstraktion" kann er als gegenstandsfroher Künstler schlechterdings nichts anfangen. Letztlich ist er auf eindrucksmäßige „Sensationen" angewiesen ebenso wie der Maler auf „lauter Farbenflecken" (Impressionismus, Pointellismus) angewiesen bleibt. Das ist eine Notlösung, die aber wenigstens aus der Not eine Tugend macht. Unter seinen Essays bringt H. Bahr auch einen, und zwar einen für 1891 vorerst letzten, der sich mit der (62.) „Berliner Kunstausstellung" befaßt, wobei die Ausstellung als solche verdonnert, der bildenden Kunst aber der Vorrang vor der Dichtkunst eingeräumt wird. Offenbar denkt H. Bahr dabei an den Impressionismus, der die „Analyse des Koloristischen" verwirklicht hat, längst bevor sich die Dichtkunst an eine „Analyse des Nervösen" (M. Barres, August Strindberg, 0. Hansson) heranwagte; denn die bildende Kunst ist in Form und steht in Front, während die Poesie bedachtsam-bedenklich „nachhinkt". Freilich hat die Sonderforschung (Georg Marzynski) geltend gemacht, daß die Produktionen der impressionistischen Malerei weitgehend auf b l o ß e „ R e d u k t i o n e n " h i n a u s l a u f e n . Und zwar werde im malerischen Impressionismus die dreidimensionale Sicht nicht nur auf die zweidimensionale An-Sicht „reduziert", sondern es werde auch in dem, was H. Bahr noch recht Zuversicht-

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lieh die „Analyse des Koloristischen" nannte, die sogenannte „Gedächtnisfarbe" (weißes Papier, weißer Schnee) reduziert auf ihre Problematik, da entsprechende Reflexe den weißen Schnee etwa auch violett erscheinen lassen können. Denn nicht das Gedächtnis und die Erfahrung, daß Papier oder Schnee eigentlich weiß sei (wenn nämlich eine normale Belichtung statthat und alle Reflexe ausgeschaltet sind), ist für den Impressionisten entscheidend, sondern der jedesmalige Eindruck in seiner reflexgebundenen Variation des vermeintlich Normalen. Die Ausscheidung der „Gedächtnisfarben" aber, die erst im Impressionismus konsequent vollzogen wurde, stellt eine Reduktion dar. „Die impressionistische Methode" der Malerei reduziert weiterhin die Gegenstandsfarben weitgehend auf die „Flächenfarben". Eine Flächenfarbe ist ζ. B. das Blau des Himmels oder das Grau der sogenannten „Augenfarbe". Experimentell löst ζ. B. das Sehen durch die punktartige Öffnung eines Schirmes die Farbe vom Gegenstand, vom Körper los und „reduziert" sie auf ihren Charakter als Flächenfarbe, wobei zugleich die Lokalisierung im Raum aufgegeben wird. Diese vorherrschende R e d u k t i o n der K ö r p e r f a r b e n auf die Flächenfarben ist ein wesentliches Merkmal der impressionistischen Malweise. Das Nacheinandersehen wird zurückgeführt (reduziert) auf ein Nebeneinandersehen, das als ein S i m u l t a n - S e h e n bezeichnet werden kann. Damit aber berühren sich die Extreme, denn dieses Simultane des Impressionismus ist irgendwie benachbart und verwandt mit dem Primitiven des Expressionismus. Der Impressionist starrt nicht intensiv auf den Gegenstand, sondern er erfaßt gerade mit Hilfe eines gleichsam „flüchtigen" Hinsehens das Typische der F a r b i g k e i t . Und zwar auch der Farbigkeit im gegenstandslosen Raum, der zunächst als der „leere" Raum, aber keineswegs als ein farbloser Raum erscheint. Dieses „Farbigwerden der Luft" ist aber für die impressionistische Malerei sehr wesentlich, d. h. die angedeuteten „Reduktionen" schließen in ihren Nebenwirkungen keineswegs bereichernde und zusätzliche Farbwirkungen aus. Und vor allem kommt die Reduktion auf die Flächenfarben der malerischen Situation einer notwendigen Beschränkung auf die Farbenflächen auch kunsttechnisch entgegen. Das Verhältnis von Pigmentfarben und Flächenfarben spielt dabei eine wesentliche Rolle. Der „schimmernde farbige Dunst" der Malerei entspräche dabei etwa der Stimmungsatmosphäre der impressionistischen Poesie,

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jenem Schweben über und zwischen den Dingen, mit deren „getreuer" Wiedergabe sich der Naturalismus begnügt hatte. In G e r h a r t H a u p t m a n n s „Einsamen Menschen" sieht Anna Mahr nicht von ungefähr das Wesentliche in dem Duft, der über den Dingen schwebt, wie denn überhaupt G. Hauptmann von vornherein von dem starren Naturalismus Erholung und Verfeinerung sucht im Impressionismus. Auch sein „Milieu" ist weitgehend auf das Atmosphärische der Stimmung eingestellt, ob es sich nun um die Stimmung einer psychologischen Umwelt handeln mag wie etwa im „Friedensfest" oder einer traumhaften Umwelt wie bei „Hanneies Himmelfahrt", ganz abgesehen von seinen neuromantischen Dramen. Schon in seiner Frühzeit tut ihm das Nachmalen der Wirklichkeit kein Genüge; er bedarf des stimmungsgesättigten Ausmalens der umgebenden Lebensstimmung. Er reduziert die Gegenstandsfärbung auf die „Flächenfarben", weil sie freier im Raum leben und weben und nicht an die bloße Körperlichkeit gebunden sind. Er war Impressionist, wo er Naturalist zu sein schien. Kein Wunder, wenn Hermann Bahr „Vor Sonnenaufgang" noch als Kombination älterer Stilformen auffaßt. Dort nämlich wich Gerhart Hauptmann gleichsam streckenweise noch nach rückwärts aus (Thesenstück). Als er sich gefunden hatte, drängte er vom Naturalismus zum Impressionismus. Seine bildkünstlerische Grundeinstellung ist eigentlich immer dem Impressionismus treu geblieben, über seine naturalistisch-impressionistischen Anfänge hinaus und seine neuromantisch-impressionistischen Übergänge hindurch bis hin zu seinen gleichsam „neuklassisch"-impressionistischen Enderträgen (Atriden-Tetralogie). Abweichungen in den Irrealismus mögen später noch angedeutet werden. Die Oberfläche wechselte, der Traggrund blieb gleich. Nur daß der frühere Bildhauer jenseits des Malerischen stets das Plastische im Auge und in der formenden Gewalt behielt. Selbst sein streckenweise spürbarer Mystizismus sucht Veranschaulichung im Impressionismus, den es zum Symbolismus zog, der aber zugleich diesen Symbolismus an sich zog und in sich aufsog. Aber weil bei Gerhart Hauptmann neben der Stimmung und beherrschend über ihr immer die ethische (oder soziale) Bestimmung steht, tritt die Stimmung als solche greifbarer zutage etwa bei A r t h u r S c h n i t z l e r (1862—1931), dessen Impressionen weit freier bleiben von Visionen. Seine Menschen sind Stimmungsmenschen, und sein Milieu ist Stimmungsmilieu. Selbst seine histo25

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risierenden Dramen wie der „Grüne Kakadu" oder „Der Schleier der Beatrice" sind Transformationen der Wiener NeurokokoAtmosphäre in eine „verfremdete" Umwelt. Kein Wunder, wenn man ihn als den „reinsten" Impressionisten unter den Dramatikern bezeichnet hat (W. Mahrholz). Sein Kunstwollen ist ohne Impressionismus schlechthin undenkbar und undeutbar. Die „Nerven"Kunst, die Hermann Bahr anregt, ist von ihm verwirklicht worden, nicht im Sinne einer müden, überreizten Dekadenz, sondern im Sinne einer graziösen Sublimierung und psychologisierenden Differenzierung. Motivlich Psychologist, bleibt Arthur Schnitzler formungstechnisch immer Impressionist. Und es heißt seinem Kunstwollen Gewalt antun, wenn man ihn zu einem Naturalisten einerseits und zu einem Neuromantiker andererseits oder gar als Dekadenten abstempeln möchte. Nicht nur äußere Requisiten wie die grün-rote Ampel im „Anatol" markieren sichtbar die Prävalenz stimmungsmäßiger Impressionen. Auch im „Grünen Kakadu" ist alles eingestellt auf die Stimmung der morbiden Aristokraten vor dem Hintergrund des Bastillesturms, wie im „Schleier der Beatrice" alles eingestellt ist auf die Stimmung vor der Eroberung Bolognas durch Cesare Borgia. Selbst erotische Sensationen — wie im „Reigen" — äußern sich immer als stimmungsgesättigte Impressionen. Und wo Schnitzler Problemdramen zu schreiben meint, wie etwa dort, wo ihn das Problem und die Problematik des Duells zu binden scheint, so im tragischen Reflex von „Liebelei" oder im komischen Reflex von „Fink und Fliederbusch", bleibt er auf die künstlerischen Darstellungsmittel des dichterischen Impressionismus angewiesen, die er sogar in dem Ansatz zum Ideendrama weltanschaulicher Art (Konflikt von ärztlicher Betreuung und religiöser Tröstung) „Professor Bemhardi" merklich nicht entbehren kann. Arthur Schnitzler sieht seine Gegenwartswelt sowohl wie die historische Welt nicht als naturalistischer Wirklichkeitsmaler, sondern durchweg und durchaus als impressionistischer Stimmungsmaler, also eindeutig „durch ein Temperament". Gegenüber der Ausmalung des Naturalismus bevorzugt er die Skizzentechnik des Impressionismus. Und so ist es nur folgerichtig, daß er Reihungen von Stimmungsskizzen bevorzugt, nicht nur in den Einzelsituationen des ,,Anatol" und des „Reigen", sondern etwa auch in dem Zyklus „Lebendige Stunden" (1900/01), dessen einzelne Glieder geradezu suggestiv Stimmungen einfangen, ob es sich nun um

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die Stimmung zwischen Traum und Wachen, Gegenwart und Vergangenheit („Die Frau mit dem Dolche") oder zwischen Leben und Tod, Vergeltung und Vergeben („Die letzten Masken") und zwischen Trug und Wahrheit, Echtheit und Literatur („Literatur") handeln mag. Fast wie die Pointellisten setzt Schnitzler die einzelnen Elemente der psychologischen Studien eindrucksvoll nebeneinander im Bewußtsein, daß aus der Mannigfaltigkeit der Einzelzüge dennoch ein Gesamtbild von überzeugender, ja oft überraschender Prägnanz entsteht. Aber es ist nicht der Minutenstil des konsequent naturalistischen Mosaiks, sondern der zeitlos graziöse Stil der subtilen und minutiösen impressionistischen Seelen- und Stimmungsmalerei. Es ist nicht das naturkundliche Experiment, sondern das seelenkundliche Experiment. Das gilt auch noch dort, wo an sich halbwegs medizinische Experimente zur Exemplifikation der Seelenlage und Charakteranlage verwertet werden wie etwa in dem Einakter nur scheinbar historischen Gepräges „Paracelsus" (1897), wo mit Traumsuggestion geradezu auf offener Szene experimentiert wird, um die verborgenen Seelenregungen in der schönen Gattin des dünkelhaft dummen Waffenschmieds und früheren Geliebten des Paracelsus (Justina) zu enthüllen. Unverkennbar spielt die Psychoanalyse von Sigmund Freud ebenso hinein wie in das Renaissance-Drama „Der Schleier der Beatrice". Und in der stoffverwandten dramatischen Skizze „Die Frau mit dem Dolche" dient das Wechselspiel von Wachträumen und Wirklichkeit ebenso der psychologischen Analyse. Seelenzustände, oder wie Hermann Bahr mit einem Gallizismus es umschrieb: Seelenstände, sollen ebenso grausam und doch liebevoll gründlich bloßgelegt werden, wie im Naturalismus die Wirklichkeits-Zustände analysiert worden waren. Denn gem e i n s a m b l e i b t dem N a t u r a l i s m u s u n d I m p r e s s i o n i s m u s der H a n g u n d Z w a n g z u r A n a l y s e . Aber sowohl die Sach-Analyse des Naturalismus wie die Seelen-Analyse des Impressionismus führt dort, wo sie von echten Künstlern vorgenommen wird, zwangsläufig zu dem Bedürfnis, über die Nacktheit der Enthüllung einen schonenden Schleier der Stimmung zu breiten, der wiederum verhüllt. Und nicht von ungefähr läßt auch A. Schnitzler einmal im Einakter „Die Gefährtin" (1898) nach aller kritischen Seelenanalyse, die der Professor Robert Pilgram an seiner gerade verstorbenen, an sich um zwei Jahrzehnte jüngeren Frau Evelin übt, die ihm wohl für kurze Zeit Geliebte, aber nicht 25·

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für die Dauer Gefährtin sein konnte, dennoch erkennen und anerkennen, daß sie wie ein „Duft" in sein Leben hineinströmte. Sie sei keineswegs der Inhalt seines Lebens gewesen; jedoch: „In einem gewissen Sinne war sie mehr als der Inhalt — der Duft", also letztlich Trägerin der Stimmung, der nervenmäßigen Impression, der stimmungsmäßigen Illusion, der ganzen Atmosphäre, malerisch umschrieben: die farbige Luft, der Schimmer im Lebensraum. Ihr mit seinem Assistenten begangener Treubruch, den Briefe nach ihrem Tode enthüllen, trifft ihn (im Gegensatz zu dem Instetten in Th. Fontanes „Effi Briest") weniger schwer als der Verlust jener Stimmungs-Impression. Aber zugleich wird deutlich, jener „Duft über den Dingen", von dem Anna Mahr (Hauptmann) sprach, war dort nicht in dem Maße zentrales Element wie bei dem Impressionisten Arthur Schnitzler. Für Schnitzler ist die „Nuance" nicht nur eine Neigung aus Begabung, sondern geradezu eine Nötigung, eine Notwendigkeit aus künstlerischer Begnadung, dergestalt, daß Nuance fast zur Notwendigkeit wird, und zwar auch in dem Sinne, daß die liebenswürdige Nuance, die leichte Nuance die lebensleere Not zu wenden vermag. Nuance ist nicht nur ästhetisches Geschick, sondern auch ethisches Schicksal. Der Arzt Arthur Schnitzler überwindet immer wieder den Berater und Betreuer des Leibes mit dem Berater und Betreuer der Seele. Und der mild-müde Verzicht auf eine endgültige Lösung der Lebensprobleme schließt den geistreichgemütvollen Anspruch auf ein Betreutwerden in all der Trostlosigkeit oder doch Trostbedürftigkeit des Lebens nicht aus. In seiner Art hat schon der Impressionist Arthur Schnitzler und nicht erst der Expressionist Franz Werfel das Angewiesensein des auf „Einander" (Titel einer Lyriksammlung Werfeis) gelehrt. So unendlich einsam der einzelne immer erscheinen mag, er verlangt dennoch nach dem Du, strebt dennoch und eben deshalb nach der Gemeinsamkeit aus der Einsamkeit heraus. Nicht nur das Judentum ist es — aber es ist doch stark beteiligt —, wenn der Impressionist Schnitzler und der Expressionist Werfel einander so überraschend nahe kommen, obgleich der religiöse Impuls Werfeis bei Schnitzler weitgehend fehlt. Aber auch Schnitzler weiß neben der lässig-traurigen Lebenslust des „Anatol" und gleichzeitig mit ihm von der erhabenen Notwendigkeit des „Sterbens" (Novelle). Und er kennt als Arzt die letzte Konzentration der Seele vor der letzten Auflösung des Leibes.

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Seine Charakternovelle wie etwa „Lieutenant Gustl" bleibt immer zugleich impressionistisch getönte Stimmungsnovelle, wobei Stimmung und Bestimmung ständig ineinander übergehen gemäß der künstlerisch demonstrierten Uberzeugung, daß das einzig Bestimmbare im Seelenleben zuletzt immer die jeweils vorherrschende Stimmung bleibt. Und der „Weg ins Freie" (1908) geht nicht nur von dem Juden aus und von seiner Bestimmung, sondern auch vom Menschen und dessen Stimmung und Einstimmung auf eine von gewisser Seite überbetonte Disharmonie, die sich gut, gütig und gern zur Harmonie auflösen und erlösen möchte. Es ist rührend (bis erschütternd) zu beobachten, wie A. Schnitzler, darin Heinrich Heine, Jakob Wassermann, Franz Kafka, Franz Werfel und vielen anderen verwandt, das Jüdische in das Deutsche nicht nur, sondern auch in das schlechthin Menschliche hinüber- und emporbilden möchte. Diesen Eindruck hervorzurufen, ist er nicht zuletzt der große Eindruckskünstler, der sein Judentum nicht verleugnet, um sein Deutschtum und sein Menschentum um so überzeugender aufleuchten zu lassen. Vielleicht aber übertrifft ihn, zum mindesten im Bereich der Prosa, als geborener Impressionist P e t e r A l t e n b e r g (1859—1919), der Wiener Cafehausliterat, der in dem Grade, wie er nicht Dichter sein wollte, dennoch Dichter war oder zum mindesten ein Dichterisches würdig-unwürdig vertrat, jenes Dichterische nämlich, das nicht im Dünkel, sondern in der Demut seine Wurzel hat. Peter Altenberg bekannte sich von vornherein zu jener Kürze des Köstlichen, in der die Würze und Weihe allen echten Impressionismus' liegt. Jenseits aller weitläufigen Ausdeutung hielt er es mit der vielfarbigen und vielfältigen Andeutung, in der Einfalt und Vielfalt sonderbar und sonderlich, wunderbar und wunderlich zusammenfallen. Eben weil er kein Dichter sein wollte, war er es in einem höheren Grade als manche, die Maske und Mantel anlegten, aber nicht das Herz bewegten. Er ist ein Impresario der Impression. Ihm eignet die kurzfristige Konzentration aller echten Impressionisten. Er sieht die ganze Welt wirklich durch ein Temperament, und zwar durch sein Temperament. Und wenn der Expressionist Franz Werfel im „Versagen" ein Unzulängliches der dichterischen Aussage erkannte und beklagte gemäß dem Mißtrauen der Ausdruckskunst gegenüber der Ausdrucksmöglichkeit des Wortes, so waren für Peter Altenberg die „Versagungen" die Bestätigungen dafür, daß die „Gewährungen" noch lange keine künstlerischen

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Erfüllungen darstellten. Das Gewahrwerden der wesentlichen Form war für ihn noch lange kein Wesentlichwerden der wahren Form. Bei aller Ironisierung eines gütigen Geistes, der nicht gern enttäuscht werden und ebenso wenig selber enttäuschen möchte, wahrt er dennoch die Idealisierung einer stillen, aber stetigen Begeisterung für eine Schönheit als subjektive Freiheit in der impressionistischen Erscheinung. Und seine leise skeptische Weltbetrachtung bewahrt ihn dank einer letztlich tapferen Lebensliebe vor einer nihilistischen Welt Verachtung. E r begnügt sich wohlwollend-weislich mit „Studien", weil ein ernstes Studium des Lebens und der Liebe, der er sehr geöffnet ist (ohne Werfeis Pathos aufzubringen und sich aufzuzwingen), allzuleicht zu Rückschlägen führen könnte. Die Halbentschlossenheit der Halbtöne bevorzugt er, um nicht der vollen Verdrossenheit ausgesetzt zu sein. E r sucht nicht wie ein Expressionist das Extrem, sondern den Extrakt. Seine „kleinen Sachen" wollen immerhin „ E x t r a k t e " sein, wenn schon nicht extensive Dichtungen, so doch intensive Deutungen. Er weiß, daß er im Moment und vor der Ewigkeit klein ist. Er weiß um die Weisheit des Verschweigens und um die künstlerische Weisheit des sparsamen Reichtums: „ W a s man weise verschweigt, ist künstlerischer, als was man geschwätzig ausspricht". Der breite Berichtstil des Naturalismus wird ersetzt und ergänzt vom knappen Telegrammstil des Impressionismus, der mit kurzen Einfühlungen mehr erreicht als mit langen Ausführungen. Die These Zolas „gesehen durch ein Temperament" klingt nicht zufällig an in Peter Altenbergs Titelgebung „Wie ich es sehe" (1896). Und das impressionistisch „Zuträgliche" klingt nicht zufällig an in der Titelgebung „Was der Tag mir zuträgt" (1900). Es hieße aber den Impressionismus zu sehr einengen, wenn man nicht daran erinnern würde, daß fern von der Wiener Stimmungskunst auch unter herberem Himmelsstrich die „Buddenbrooks" Thomas Manns ihre letzte Stileinheit dem impressionistischen Sehen und Gestalten verdanken. Denn die notdürftige Zuordnung zum Naturalismus verkennt alle jene Werte, die bereits über den Naturalismus weit hinauswollen. Aber selbst schon dort, wo man siel; wie Th. Fontane dem Naturalismus erst anzunähern scheint, kann man dem Impressionismus wirksam vorarbeiten. Denn nicht von ungefähr vermag man plaudernd den Reiz der Impression plausibel zu machen. Und vielfach plaudert der Impressionist, wo

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der Expressionist predigt. Zum mindesten gerät der Impressionist ebenso leicht ins Plaudern wie der Expressionist (ζ. B. Werfel) ins Predigen. Die „Buddenbrooks" betrachtete man anfangs als eine Art von Heimatkunst. Aber schon etwa ein Jahrzehnt nach der programmatischen Proklamierung der „Heimatkunst" konnte ein umsichtiger Kunsthistoriker die Opposition der Heimatkunst gegen den Impressionismus verzeichnen, wobei er von einer Richtung spricht, „die unter dem Namen Heimatkunst (der Name wurde also noch als neu empfunden) gegen den Impressionismus opponiert und in Gefahr ist, eine Schule der Talentlosigkeit zu werden". Richtig wird dabei erkannt, daß man um jeden Preis opponiert, wenn man eine neue „Schule" durchsetzen will, ohne künstlerisch dazu berufen zu sein. In Wirklichkeit schlägt man auf den nächsten Nachbarn immer am leidenschaftlichsten ein. Denn zum mindesten dem Kunstwollen nach strebten die besten Vertreter der Heimatkunst weniger einem konsequenten Realismus als einem „verfeinerten" und „intimen" und damit dem Impressionismus zu, nur daß das Kunstkönnen meistens nicht ausreichte. Es ist aufschlußreich, wen R. Hamann, denn um ihn handelt es sich, gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts dem dichterischen Impressionismus zuordnet. Er nennt u. a. H. Ibsen, A. Schnitzler, Ο. E. Hartleben, Wedekind, als den Vertreter des „intimen Theaters" den späteren Joh. Schlaf, als Vertreter des lyrischen Dramas impressionistischer Prägung G. Hauptmann (Hannele, Versunkene Glocke), H. v. Hofmannsthal, und als „reine Lyriker" Holz und Schlaf, R. Dehmel, Liliencron, Peter Hille, Mombert (I), Stefan George, vom Ausland Verlaine und Baudelaire, als geistreichen Dialogisten 0. Wilde. Weit überwiegend trifft er also bereits die Richtigen. A. Mombert und F. Wedekind sieht man freilich wesentlich anders an, zum mindesten als sich nicht in der Eindruckskunst der „Reizsamkeit" erschöpfend, sondern in Vielem schon auf den Expressionismus vorausweisend. Auch Nietzsche und Przybyszewski werden bereits ins Auge gefaßt, wie überhaupt die Symbolisten, Psychologisten und Neuromantiker sowie „Dekadenten" unter dem Oberbegriff des Impressionismus zusammengefaßt erscheinen. Der Impressionismus gilt als „Endstil von Kultur", und auch von „Rokoko" ist die Rede. Es gibt Einzelgestalten, die im Gesamt ihrer Erscheinung und im Besten ihrer Leistung dem Impressionismus treu bleiben,

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obwohl sie zunächst als „expressive Menschen" wirken. Das gilt nicht zuletzt von H e r b e r t E u l e n b e r g (1876—1949). Fast wie ein ins Geniezeitgemäße und „renaissancehaft" Romantische transponierter Wedekind beginnt er mit stark erotisch aufgewühlten Dramen, die eigentlich alle den Titel des einen: „Leidenschaft" tragen könnten. Man könnte meinen, daß eine solche Natur zur gegebenen Zeit in den Expressionismus umbrechen würde, und das mit Vehemenz. Aber das geschieht keineswegs. Eher verstärken sich die romantischen Züge. Und was von ihm bleiben wird, sind wahrscheinlich die mit impressionistischer Technik wirkungssicher arbeitenden Essays, weniger wohl die turbulente SchillerRede (1911) und der kunsttheoretisch beachtenswerte Vortrag über „Die Kunst in unserer Zeit" (1910) — der Reichsdeutsche sagt „unserer Zeit", nicht „dieser Zeit" wie die Österreicher Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil —, er zugleich das kulturpolitische Anteilnehmen Eulenbergs bestätigt. Der Impressionist und Psychologe bewährt sich vor allem in einer ganzen Reihe von Momentbildern, die den Moment überdauert haben und die er bald bedeutenden Kulturträgern allgemein, bald speziell den „Leuten vom Bau", den Männern der Theaterwelt gewidmet hat: „Schattenbilder" (1910; Fortsetzungen: „Neue Bilder" 1912, „Letzte Bilder" 1915 usw.), „Mein Leben für die Bühne" (1919), „Der Guckkasten" (1921) und „Erscheinungen" (1922). Die Kunst der Silhouette, eine von vornherein impressionistische Kunst, beherrscht er mit wahrer Meisterschaft. Es sind darin zugleich expressive Ansätze zur Wesensschau im engsten und besten Sinne des Wortes unverkennbar. Aber die Gesamtlage und die Gesamtwirkung bleiben eindeutig bestimmt von einem ausgeprägt impressionistischen Kunstwollen und Kunstvermögen. Die Übersättigung mit dem naturalistischen und neuromantischen Impressionismus, wie er dergestalt aus der Zeitnähe gesehen und propagiert wird, mußte eine Gegenkraft herbeirufen, die auch über den Symbolismus hinweg nicht mehr fragte nach erlittenem und genossenem Eindruck und nach nervenmäßiger Reizsamkeit, sondern nach dem erlebten und gedeuteten Ausdruck und dessen geistig-seelischer Wesenshaltigkeit. Die Überkultur der Nervenund Nuancen-Kunst des Impressionismus rief die „Primitivität" und „Naivität" der A u s d r u c k s k u n s t zwangsläufig herbei. Müde der Vielfalt, verlangte man nach der Einfalt. Müde der Konzeption, forderte man die Intuition. Müde der rezeptiven Passivität,

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verlangte man die produktive Aktivität. Das Gewahrwerden der wesentlichen Form forderte die unmittelbare Aussage der Wesensschau heraus. Das Kunstwollen fand kein Genüge mehr an der instruktiven Stufung, sondern verlangte die intuitive Berufung. Es wollte nicht nur der „Dinge" Formel finden als dichterisches Gleichnis, sondern es wollte den Dingen die Deutung abgewinnen als einmaliges künstlerisches Ereignis. Es wollte nicht am Alten anschließen, sondern ein Neues aufschließen. Es wollte nicht auf die Dinge kommen, sondern hinter die Dinge kommen. Es wollte nicht entwerfen, sondern enthüllen. Es wollte nicht den Eindruck empfangen, sondern zum Ausdruck gelangen. Es ging ihm nicht darum, Empfangenes zu bewähren, sondern Empfangenes zu gebären. Und wertvoller als Eindrücke zu sammeln, schien es ihm, Ausdrücke zu stammeln. Wenn schon für die neuromantischen Impressionisten (Hofmannsthal, Rilke u. a.) das „Unsägliche" so oft für ein schlechthin Unsagbares einspringen mußte, so suchte man jetzt, dieses Unsagbare als solches aus der passiven Position herauszulösen und in eine aktive Funktion des Unaussprechlichen zu transponieren. Der Sündenfall der Erkenntnis fiel dergestalt zusammen mit einem Sündenfall des wissenden Wortes. Das Wahre deckte sich mit dem Unbewußten. Und das Wunder der Wirklichkeit rief allenthalben die Wirklichkeit des Wunders herbei. Das Begreifenkönnen trat zurück hinter dem Ergriffensein. Das Abgeleitete entwertete sich zum Abgelebten. Das Außergewöhnliche blieb nicht nur eine ästhetische Kategorie, sondern wurde zu einer unabdingbaren Vorbedingung für jedes künstlerische Schaffen. Das impressive Erspüren wich dem expressiven Erschüttern, das impressive Beeindrucktsein dem expressiven Besessensein, das impressive Aufgeschlossensein dem expressiven Aufgewühltsein, das impressive Detail der expressiven Totalität. Gegenüber dem neuromantischen Impressionismus mit neuklassischen Einschlägen (George, Hofmannsthal, Rilke), der das Geschmackvolle, Erlesene, Nicht-Alltägliche, Ausgewählte und Auserwählte bevorzugte, forderte die schonungslose Offenbarungshaltung der expressiven Aussage, die eigentlich mehr ein Ausbrechen als ein Aussagen war, die rücksichtslose und schonungslose Einbeziehung des Widrigen, Widerlichen, Abscheuerregenden, Ekelerregenden, der Gebresthaftigkeit und Gebrechlichkeit der Welt Wirklichkeit. Armut, Not und Tod, der Jammer der Kreatur und das Elend des Menschen, Bedürftig-

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keit, Krankheit, Verkrüppelung des Leibes und der Seele, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung: alles das galt nicht als ein der Kunst Fernzuhaltendes oder doch nur zur Kontrastwirkung Verwertbares (Neuromantik), sondern als Urerscheinung eines ewigen Ausgeliefertseins, eines Bedrohtseins, Bedrängtseins und Bedrücktseins alles Natürlichen und Kreatürlichen von dunklen und dämonischen Mächten (existenzialphilosophischer Einfluß, Ansatz für den metaphysischen Neusymbolismus). Rein motivlich griff man insofern über den neuromantischen Impressionismus auf den naturalistischen Impressionismus zurück. Aber den k o n s e q u e n t e n R e a l i s m u s versuchte man umzubilden, j a schroff umzubrechen in einen k ο η s e q u e η t e η I r r e a 1 i s m u s . Immerhin wird an solchen Stellen der letztlich g e m e i n s a m e Traggrund von Expressionismus und Surrealismus sichtbar. Nur daß der Surrealismus innerhalb der Schicht der einmal postulierten und aufgesuchten Unwahrscheinlichkeit wiederum mit gleichsam kausal-realistischer Folgerichtigkeit zu verfahren pflegte, während der Expressionismus jederzeit bereit war, ruckhaft visionär und mit betonter Willkür zwischen den Schichten der inneren Wirklichkeit und der äußeren Wirklichkeit hin- und herzuspringen. Und äußere Kausalität kannte er eigentlich nur als Mittel, um die schneidende Diskrepanz von Kausalität und Moralität zu enthüllen. Freilich kennt auch der Surrealismus jenes Hin und Her des Getriebenseins, wie es im teilweise surrealistischen Neusymbolismus (Kafka, H . H . JahnnBrochu. a.; Prototyp: James Joyce) greifbar zutage trat, und zwar zeitparallel mit dem Expressionismus, ja mit dem Frühexpressionismus. Über diese Verflechtung einerseits und die Abhebung oder doch Abstufung andererseits wird indessen späterhin noch einiges zu sagen sein. Bemerkenswert ist bei alledem die Zählebigkeit, mit der sich der Naturalismus in der Erinnerung behauptet. Nicht allein Neuromantik und Neuklassik oder Charon-Kreis und Heimatkunst orientieren ihre Position an der Opposition gegen ihn. In gewissem Grade geschieht das auch beim Expressionismus, dessen motivliche Wiederanknüpfung an den konsequenten Realismus schon erwähnt werden konnte. Noch zur Zeit des Umbrechens des expressionistischen Stils in modische Manier hält es ζ. B . K u r t P i n t h u s (geb. 1886) als einer der Programmatiker des Expressionismus in dem kunsttheoretisch belangreichen Vorwort „Zuvor" zu seiner lyrischen Anthologie ,,Menschheitsdämmerung" (1920J für erforderlich

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hervorzuheben: „So wird auch das Soziale nicht als realistisches Detail, objektiv etwa als Elendsmalerei dargestellt (wie von der Kunst um 1890), sondern es wird stets ganz ins Allgemeine, in die großen Menschheitsideen hingeführt. Und selbst der Krieg, der viele dieser Dichter zerschmetterte, wird nicht sachlich realistisch erzählt; — er ist stets als Vision da (und zwar lange vor seinem Beginn) . . . " Derartige Bemerkungen fordern zu dem Einwurf heraus, daß gerade diese Wendung, diese also ganz bewußte Wendung „ins Allgemeine" sich bedenklich einer Flucht (und Zuflucht) in utopische Ideen nähert, die das Ferne anpries, wo der Naturalismus das Nahe tapfer anpackte. Und die von Pinthus auch in der bildenden Kunst bewunderte und daher befürwortete „Konsequenz völliger Auflösung der Realität" — und deshalb konnte oben von einem k o n s e q u e n t e n I r r e a l i s m u s gesprochen werden in Abhebung vom k o n s e q u e n t e n R e a l i s m u s (Naturalismus)—ergänzt eben nur für die Form das, was vom Inhalt gesagt werden konnte: das Ausweichen vor allem Greifbaren in die UnVerbindlichkeit des Nicht-Greifbaren und zuletzt religiös gestimmten Unbegreifbaren. Kritisch gesehen, war diese „Menschheitsdämmerung" eine Art von Götzendämmerung; denn es fand eine wahrhafte Vergötzung der „Menschheits"-Vorstellung statt. Das sinn- und stimmungtragende Leitwort dieser ganzen Vorrede lautet „Mensch" und „Menschheit". Und Kurt Pinthus möchte gewiß mit ehrlicher Überzeugung gern glauben und glauben machen, daß diese Dämmerung den anbrechenden Tag verkünde (war das in Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang" viel anders gewesen ?), daß der Blick in die noch nebelhafte Ferne etwa dem erhabenen Ausblick in Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts" gleiche. Aber womit er sich selber am Schluß bescheiden muß, ist der „Glaube an die Utopie". Die O p p o s i t i o n d e s k o n s e q u e n t e n I r r e a l i s m u s g e g e n d e n k o n s e q u e n t e n R e a l i s m u s schlägt ebenfalls durch in der an sich brauchbaren Antithese von „ U m - W i r k l i c h k e i t " (Umwelt, Milieu) und „ U n - W i r k l i c h k e i t " . Der Mensch kann nur durch den Menschen, nicht durch die Umwelt „gerettet" werden. Solange nicht der Mensch geändert wird, kann eine Veränderung der äußeren Verhältnisse („Einrichtungen, Erfindungen, abgeleitete Gesetze") keine Lösung und Erlösung bringen. Daher bleibt alles auf den Menschen bezogen und auf den Gott, der sich zum Menschen wandelt. Kein Wunder, daß auch in dieser Anthologie Wertworte dominieren: „ M e n s c h , W e l t , B r u d e r , G o t t " .

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Neben dem konsequenten Realismus wird an sich durchaus folgerichtig auch der Impressionismus als unbefriedigend abgelehnt. Denn nicht nur die realistische Umweltschilderung gilt als unzeitgemäß, sondern auch das bloße „Auffangen der vorüberjagenden Impressionen". Daher dürfe es nicht befremden, wenn in den vorgelegten Gedichten die Naturschilderung und Landschaftsschilderung weitgehend zurücktrete: „Die Landschaft wird niemals hingemalt, geschildert, besungen; sondern sie ist ganz vermenscht"; sie ist — symbolisch umgesetzt — nur Mittel zum Zweck von bildhaft vorgetriebenen Expressionen und Visionen. Kritisch betrachtet, ergibt sich freilich, daß sie wiederum Stimmungsträgerin ist wie im Impressionismus; nur handelt es sich durchweg um düstere, dämonische Stimmungen („Grauen, Melancholie, Verwirrung des Chaos"). Aber diese Nähe spürt Kurt Pinthus nicht heraus, da es ihm um die möglichst weite Entfernung vom Impressionismus geht und programmgemäß gehen muß. Ganz entsprechend erfolgt ein betontes Abrücken vom „L'art pour l'artPrinzip" des George-Kreises. Und George persönlich dürfte ihm vorgeschwebt haben, wenn er von den jüngsten expressionistischen Dichtern rühmt „keiner wirft sich den Triumphmantel mit distanzierend heroischer Gebärde um". Wesentlich anders klang das noch in dem manifestartig-pathetischen Gedicht „An meine Freunde" (1913), wo zwar auch bereits das Aktivistisch-Expressive, Empörerhafte zur Geltung drängte, wo aber zugleich gewisse Rücksicherungen bei der Neuromantik aufrechterhalten bleiben („Wir: Kenner seltner Weine, Früchte, Geflügel, sanfter Pasteten"), wo selbst romanische Lektüre nicht geleugnet und vollends nicht verleugnet wird („Wir lesen nachts vergessene romanische Schriften und mystische Bücher"). Und was jenes spätere Abrücken vom Trug-Ideal der Neuromantik und des George-Kreises betrifft, so hatte schon Jakob Wassermann in seiner „Kunst der Erzählung", die eineinhalb Jahrzehnte vor jener Kritik durch Kurt Pinthus und etwa ein Jahrzehnt vor dessen programmatisch-manifestartigem Gedicht in der von Heinrich Lautensack herausgegebenen „Bücherei Maiandros" (4. u. 5. Buch „Der Mistral") lag, die Mahnung ausgesprochen: „Die Auserlesenheit der Wendungen tut es nicht, Geschmack und Formensinn allein sind ebenfalls nicht zeugungskräftig". Überhaupt dürfte es von der Geschichte der Poetik aus nicht schwer fallen, fast jeden Satz dieses scheinbar so ganz neu-

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artigen Beitrags von Pinthus mit früheren Parallelen zu belegen. Wohl aber bezieht sich manches doch wieder spezifisch auf den Expressionismus und seine entwicklungsgeschichtliche Sondersituation, wobei das Augenmerk nicht zufällig auf den Nachweis gerichtet ist, daß nicht erst der Weltkrieg den Expressionismus hervorgerufen habe: „Das Chaotische der Zeit, das Zerbrechen der alten Gemeinschaftsformen, Verzweiflung und Sehnsucht, gierig fanatisches Suchen nach neuen Möglichkeiten des Menschheitslebens offenbart sich in der Dichtung dieser Generation mit gleichem Getöse und gleicher Wildheit wie in der Realität. . . aber wohlgemerkt : nicht als Folge des Weltkrieges, sondern bereits vor seinem Beginn und immer heftiger (also doch!) während seines Verlaufs." Den „neuen Möglichkeiten des Menschheitslebens" fast mehr als den neuen Möglichkeiten des Kunstlebens und Kunststrebens sind jene ζ. T. manifestartigen Essays auf der Spur, die dem zweiten Buche der von A l f r e d W o l f e n s t e i n (1888—1945) herausgegebenen zweiten bedeutsamen Anthologie expressionistischer Dichtungen „Die Erhebung, Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung" (1920) angehängt worden sind. Dabei zeigen mehrere Beiträge eine so ausgesprochene Verschmelzung von sozialen, ja sozialistischen Wertsetzungen mit urchristlichen Vorstellungen, daß man diese Übereinstimmung kaum als Zufall oder Merkmal der Zeit, vielmehr als bewußte einheitliche Tendenz ansprechen und einschätzen möchte. Überhaupt darf bei dieser Gelegenheit gesagt und anerkannt werden, daß jene beiden Hauptsammlungen („Menschheitsdämmerung" und „Erhebung") in vollem Gegensatz zur Verworrenheit der expressionistischen Dichtung geradezu als Muster klarer Linienführung und als ebenso umsichtige wie einsichtige Herausgeberarbeiten gelten können. Es gibt zahlreiche Kunstrichtungen, die nicht entfernt so geschickte Zusammenstellungen charakteristischer Proben aufzuweisen haben wie der vermeintlich so chaotische Expressionismus. Was die kunsttheoretischen Bekundungen betrifft, so sind sie bei der „Menschheitsdämmerung" in der Einleitung des Herausgebers zusammengefaßt, während eine solche Einleitung bei der „Erhebung" fehlt, die aber in einer ganzen Reihe von Essays verschiedener Verfasser eine vielfarbige und doch wieder ganzheitliche Auffächerung der Meinungen bringt. Gemäß ihrem Titel und Zusatztitel, der nicht nur von neuer Dichtung, sondern auch von neuer Wertung spricht, während es

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der „Menschheitsdämmerung" vorab auf eine „Symphonie jüngster Dichtung" ankam, vertreten diese angehängten Aufsätze zugleich kulturpolitische und politische Tendenzen der schon angedeuteten Art. Auf eine „Demokratisierung des Genies" hat es A d r i e n T u r e l in seinem Essay „Jedermanns Recht auf Genialität" abgesehen. Ausgehend von einem Erziehungsoptimismus, der jedem Aufklärer Ehre gemacht hätte, und von einem Entwicklungsfanatismus, der ihn gleichsam zu einem expressionistischen Darwin macht, glaubt er allen Ernstes an die unbegrenzte Erziehungsmöglichkeit und Entwicklungsmöglichkeit der Menschen, und zwar auch auf schöpferischem Gebiet: „Potenz zur Entwicklung, das ist das Glück. Das ist auch das Einzige, was wir als Genialität anerkennen". Dabei schlägt der Genie-Kultus, der teils bekämpft, teils bejaht wird, einerseits intellektuell um in einen „Hirn"-Kultus. Nicht der Geist ist der Widersacher der Seele (Ludwig Klages), sondern die Hand ist die Gegenspielerin des Gehirns. Denn wo die Hand „redet" — und allzu oft auch dort, wo sie handelt (Streit, Kampf, Krieg) —, da pflegt der Geist zu schweigen. Das Hirn, nicht das Herz ist Träger der Genialität. Die „Kopfpotenz" garantiert allein auch das Schöpferische. Irgendwie fühlt man sich in der Atmosphäre E . Husserls, aber auch des „Denkspielers" — Georg Kaiser oder des Malers Kandinsky. Es ist viel von Kausalität die Rede und vom „inneren Mechanismus des Lebensprozesses"; aber auch viel von Biologie, an der ja nicht zuletzt die Lebensphilosophie orientiert war. Sogar das biogenetische Grundgesetz klingt mehrfach an. Und die Wahrheit des Werdens rangiert höher als die Wahrheit des Seins. Eine Fülle von großen Namen und Trägern der Genialität werden versammelt: Luther, Goethe, Schiller, Hobbes, K a n t , Danton, Dostojewski u. a. Aber auch Kopernikus und Marx sind vertreten. Und vor allem hat es ihm das Dreigestirn Nietzsche, Strindberg, S. Freud angetan, das mehrfach ergänzt wird durch den neuen (freilich schon zwei Jahrzehnte zuvor durch Selbstmord geendeten) Stem Weininger („Geschlecht und Charakter"). Das Geschlechtliche geht Turel insofern an, als es das Gehirnliche ablenkend stört. E r gehört also der seit Paul Scheerbarts Vorgängerschaft verstärkten „antierotischen" Tendenz des Expressionismus an, und er ist weit entfernt von jener Ineinssetzung von Eros und Schöpfung, wie sie ζ. B. in Gerhart Hauptmanns formschöner Erzählung „Der Ketzer von Soana" (1918) anklingt, ja zum Leitmotiv er-

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hoben wird. Der „Himmel der Hirnfunktionen" wird schroff von der „minderwertigen Hölle des Geschlechtlichen" abgehoben und erlösend befreit. Askese freilich ist nicht erwünscht, weil sich verdrängte Komplexe ergeben, die der ungehinderten Hirnfunktion nicht zuträglich sind. Gegen Schluß des Aufsatzes verstärkt sich merklich jenes sonderbare Gemisch von sozialistischen und christlichen Vorstellungen und Wertungen. Christus — so liest man leise erschreckt — habe leider noch nicht über eine „exakte Biologie und Psychologie" verfügt. Aber auch mit dem Sozialismus ist Turel noch nicht restlos zufrieden; denn „wo der Sozialismus uns noch bretterne, endgültige Dogmen gibt, ist er auch noch Scholastik" (das Brett gilt als Symbol des Toten, Erstarrten gegenüber dem lebendigen Baum). Immerhin wird die Behauptung aufgestellt, daß die „Ahnung, die Intuition, der lebensorganisierende Künstlergeist" schon immer und allenthalben im Grunde „sozialistisch" gearbeitet habe. Selbst Goethe mit dem lyrischen Epigramm vom Schuldigwerden des ins Leben hineingestoßenen „ A r m e n " wird als freilich nicht konsequenter Gewährsmann bemüht. Jedenfalls berechtigt die „völlige Gleichartigkeit der geistigen Struktur" zu dem Anspruch, den der Titel des Essays herausstellt. Nur die Frau kommt bei der Gleichberechtigung reichlich schlecht weg. Hinsichtlich der Formfrage wird im wesentlichen nur die „lebensgestaltende Kraft des Gleichnisses" betont. Der Geniebegriff aber bleibt rationalistisch: „Das Genie ist der Mensch, der zum Hirne empordrängt." Demgegenüber wird das Formproblem in die Zentralstellung gerückt in dem von W i l h e l m M i c h e l (1878—1942) verfaßten Essay mit dem programmatisch aktivistischen Titel „Tathafte Form". Aber auch in ihm schlägt der kulturpolitische Tenor vernehmlich durch, so etwa in dem Postulat, das als Primat sich gibt, „daß Form nur dann wahre mythologische Tat ist" — man erinnert sich an das Schlagwort von der Poesie myth enbildender K r a f t —, „wenn sie allen sittlichen Stoff der Zeit enträtselnd zusammenfaßt". Auch schlägt wiederum Rationalistisches durch, indem der Rationalismus als eine „gute Waffe des Menschen gegen metaphysische Falschmünzerei" bewertet wird. D a aber A. Soergel den nur kurzen Essay fast restlos abdruckt (S. 378—382), so ist er leicht zugänglich und kann hier mit wenigen Hinweisen einbezogen werden. W . Michel stellt, darin K . Pinthus verwandt, mehrfach die Tatsache in helle Belichtung, daß der Expressionismus die kommende Katastrophe

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des ersten Weltkrieges schon mit künstlerischer Intuition und Vision vorausgeahnt habe. Er vergleicht deshalb, darin dem Impressionisten Hugo von Hofmannsthal verwandt („Der Dichter und diese Zeit"), den Künstler mit einem Seismographen, der nicht nur raumferne, sondern auch zeitferne Erschütterungen mit unheimlicher und untrüglicher Sicherheit aufzeichne. Doch sei in diesem Zusammenhange kritisch erinnert an die seinerzeit großartig aufgemachte Sensation, alsobGerhart Hauptmann mit seinem „Atlantis"Roman ( a b i 6 . i . i 9 i 2 ) den im „Berliner Tageblatt" Untergang der „Titanic" (15.4.1912) vorausgeahnt habe, während in Wirklichkeit Rückerinnerungen an seine eigene stürmische Seereise nach Amerika (1894) vorlagen. Die Frühexpressionisten haben eher die Revolution angebahnt als den Krieg vorgeahnt. Der Krieg kam ihnen sogar sehr „dazwischen". Oder sollten dabei auch Rückerinnerungen (statt Vorahnungen) mit am Werke gewesen sein, etwa an die deutschenglische Spannung um 1905, die Hofmannsthal veranlaßte, einen Friedensappell geistig Führender zu unterzeichnen und Stefan George (vergeblich übrigens) dazu einzuladen? George begründete seine Ablehnung gewiß nicht von ungefähr mit dem bitteren Hinweis darauf, daß längst bestehende Gärungen nicht jäh zum Stillstand zu bringen seien. Und wenn selbst der stark isolierte George das beobachten konnte, warum sollten das nicht auch andere Dichter sehen, ohne „voraussehen" zu müssen? Nachher sagt man gern, daß man „es" schon vorher geahnt und vorausgesehen habe. Und wer sagte das nach Ende des Krieges um 1920 herum denn schließlich nicht, auch wenn er kein Dichter war? Deshalb sollte die Literaturwissenschaft derartigen Bekundungen post festum etwas reservierter gegenüberstehen. Der Dichter als „Seher" braucht nicht zur Sensation veräußerlicht zu werden. Die Gabe einer feinnervigen Empfänglichkeit für Zeitströmungen wird dadurch nicht beeinträchtigt, daß man sie der bloßen „Angabe" schonend entzieht. Das soll nicht W. Michel treffen, der sich mit seinem Manifest um eine Mahnung zur Form mitten im Chaos tapfer bemüht hat. Fast ist es so, als ob er — wenn auch nur stichworthaft — Paul Ernst und dessen neuklassischem „Weg zur Form" einen expressionistischen Weg zur Form nachfolgen lassen wollte, wie er denn einmal ausdrücklich von „Wegen zu (sie!) Form" spricht und nach ihnen Ausschau hält. Dabei fällt ihm die imposante Dichtergestalt Hölderlins ins Auge. So fern scheint er also dem Neuklassischen gar

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nicht einmal zu stehen. Aber es ist nicht das Klassische so sehr, als vielmehr der Primat des Mythischen (vgl. Band III) und der Mut zum Wirken auf die Gemeinschaft, was ihn an Hölderlin anzieht. Und es ist die Hymne an die Dichter, die Gottes Blitz, „ins Lied gehüllt", dem Volke „reichen"; und es ist zum anderen der aufrührerische Prometheusgeist der Hymne „Die Titanen", was sein Anteilnehmen auf sich lenkt. Doch immer sei der Welt verlauf, auch der mythisch verbildlichte, angewiesen und hingerichtet auf „Überführung des Chaotischen in Form". Form ist „Waffe", und Form ist „mythologische T a t " . Und fast scheint es, als ob ihm, dem späteren Biographen Hölderlins („Das Leben Friedrich Hölderlins", 1941), an dieser Stelle auch der „Empedokles" Hölderlins gegenwärtig gewesen sei, wenn er von dem Bannen des Dunklen durch die Wortgestalt spricht. Aber er sieht im Wort nicht die Bedrohung, sondern geradezu die Befreiung und Rettung, die Rettung nämlich vor dem Fluten und Gären des Numinosen, vor dem Schauder des Unsagbaren und der Nähe des „Nichts". Gerade turbulente Epochen, die das Formgesetz zu überrennen lieben, weil sie fanatisch vom Inhaltlich-Ideelichen erfaßt und gebannt sind, bedürfen doppelt einer Rückbesinnung auf den Wert der Form und einer Rücklenkung oder richtiger einer vorausstrebenden Hinlenkung auf den Weg zur Form, wenn zunächst auch nur auf den williger beschrittenen Weg zur W i r k u n g s f o r m . Das wird zwar nicht akzentuiert ausgesprochen, klingt aber allenthalben mit, auch dort, wo das Verhältnis von politischer Revolution und Formrevolution gestreift wird. Revolutionen nämlich zeigen „fast immer die Neigung, Form fälschlich zu subordinieren". Angesichts dieser bedenklichen und billigen „Mißachtung der Formleistung" erinnert der Schlußakzent des Aufsatzes daran, daß von allen Taten der Vergangenheit immer nur die „tathafte Form" Dauerwert bewährt und bewahrt habe, ob sie nun von Grünewald, Goethe oder Beethoven künstlerisch verwirklicht und verwesentlicht worden sei. Nebenbei tritt auch in solchen Einzelheiten die Tendenz der Zusammenfassung der Künste (bildende Kunst, Poesie, Musik), der Zusammenschau aus Wesensschau sichtbar zutage. Aber Form bedeutet nicht nur ein Bleibendes, sondern deutet „verdichtet auf Kommendes". Nicht zufällig hätten sich schon in Vorahnung des Krieges die Linien von der runden Ruhe fortbewegt und sich „gezackt" nach den „Formen des Blitzes" (Entsprechung im Hölderlin-Zitat). Auch das Orna26

M a r k w a r d t . Poetik V

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mentale, das also W. Michel schon kennt (und 1920 kennen konnte und mußte), bevorzuge die Keil- und Lanzenform. Für die Dichtung wird der Einbruch „erregter Syntax" aus Aufruf („Ruf") und Manifest beobachtet sowie die Prävalenz eines verbalen Stils. Es mag in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß der Maler (und Philosoph) F r a n z Marc (1880—1916), um den gleichsam K. Breysigs Darstellung von „Eindruckskunst und Ausdruckskunst" (1927) im guten Sinne herumgeschrieben worden ist, in seiner Theorie der metamorphen Formen, mit denen er hinter den Sinnenschein auf das wahre innere Sein und Wesen zu dringen versucht, es für an der Zeit hält, nachdem der Naturalismus das Objekt, nachdem der Kubismus das Subjekt (etwas bestreitbare These) bevorzugt habe, endlich auch das „Prädikat" zur künstlerischen Geltung zu bringen. Manet mochte Rosen überzeugend malen; aber wer wagt sich daran, das Blühen der Rose, das Duften, gleichsam die prädikative Funktion des Rose-Seins suggestiv und explifikativ,also letztlich expressiv zu machen ? Und auf der anderen Seite sei in Erwägung gestellt, ob nicht Wilhelm Michel zuletzt seinen Essay ähnlich in eine Forderung nach der dauerwertigen Form ausklingen läßt (bei allem Verständnis für die Dynamik der Formrevolution), wie K. Pinthus jene Einleitung zur „Menschheitsdämmerung" zeitparallel in eine Forderung nach lebensfroheren Motiven (bei allem Verständnis für die zeitweise Vorherrschaft des Düster-Dämonischen) ausklingen läßt. Schönere Formen dort, „freudenvollere" Inhalte hier: beide bezeichnen eine kritische Besinnung und Beruhigung um 1920 herum. Die Frage, wie sich ausgeprägte Impressionisten wie H e r m a n n B a h r auf den Expressionismus „umzustellen" versuchten, ist recht instruktiv für die Macht, die der Expressionismus zeitweise zu erringen vermochte. Hermann Bahr bekennt nämlich in der tagebuchartigen Kritiken- und literarischen Impressionen-Sammlung vielfach aphoristischer Art mit religiös-konfessionell betontem Einschlag, in der sich Natureindrücke und literarische Einsichten mit politischen Ansichten eigenartig genug und wirkungsmäßig wohldosiert mischen, unter dem Sammeltitel „Kritik der Gegenwart" (1922), daß er sich in seiner früheren Sammlung „Inventur" (1912) bereits „Schritt für Schritt aus einem geborenen und erzogenen Impressionisten zum Expressionisten — der Entschließung freilich nur, nicht oder noch nicht der Begabung — emporgewunden" habe, bis er durch die kleine Schrift über den

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Expressionismus sich die „Freiheit zum Glauben" errang. Dieses Bekenntnis findet sich als längere Klammer-Parenthese in einem Essay über den Grafen Hermann Keyserling und dessen Konzeption einer „Weisheitsschule". Daher auch die Wendung von der „Entschließung"; denn nach Keyserling lag es am einzelnen, die Entschließung zur Verinnerlichung an sich und in sich zu vollziehen. In einem anderen Essay oder Tagebuchblatt (28. Februar) dieser Sammlung ist Bahr über Dante geraten, der nun jählings als Traditionsträger für den dichterischen Expressionismus in Anspruch genommen wird. Denn wenn „man grad aus expressionistischen Gedichten kommt", dränge sich der Eindruck auf, daß es sich letztlich bei Dante um „genau" dasselbe gehandelt habe, nämlich um den „inneren Gehalt des Erlebten", um das innere „Eigentum" und die innere „Gestalt". Gemeinsam sei zunächst das Schwerverständliche, ja Unverständliche sowie weiterhin das „dunkle Gefühl einer gewaltigen, aber chiffrierten Schönheit". Immerhin habe Dante den Vorzug, daß er seinem Leser zugleich den Schlüssel zur Dechiffrierung in die Hand gebe durch Vorbemerkungen über die Entstehung und Absicht des Gedichts und den nachfolgenden ,,Selbstkommentar ". Es dürfte aber kaum den Intentionen und Ambitionen expressionistischer Dichter entsprochen haben, wenn nun Hermann Bahr die Konsequenz zieht und als erwünschte Forderung zur Förderung des Verstehens expressionistischer Dichtungen aufstellt, daß auch sie ihren Gedichten so etwas wie einen erläuternden Kommentar oder doch wenigstens deren „lebendige Vorgeschichte" mit auf den Weg geben sollten, damit der Expressionismus aufhöre, „in der Rätselecke der Literatur zu stehen". Der Impressionist Hermann Bahr gesteht damit, daß ihm im Grunde das expressionistische Dichtwerk ein wenngleich reizvolles Rätsel bleibt, das zu lösen auch nicht durch den Enthusiasmus erleichtert wird, mit dem er, stets anpassungswillig, das expressionistische Kunstwollen bejaht. Denn er gefällt sich nun in der Apotheose jener Überfälle aus der Überfülle, die dem Expressionismus eignen. Aber er fragt doch, wie es möglich sein soll, aus der expressiven „Antwort" des Expressionisten die Frage herauszulesen und herauszulösen, die als „Voraussetzung" vor dieser Antwort stehen müßte, wie es möglich sein soll, ohne sinnvoll greifbare Erscheinung den Sinn zu ermitteln, bevor dieser Sinn durch die anschauliche Ge26·

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staltung überzeugend vermittelt worden ist: „das expressionistische Gedicht ist immer ein Schlußwort, es setzt den Anfang voraus". Es hält das letzte und jüngste Gericht, ohne den Gerichteten vorher auch nur zu befragen, ohne die Richtung der Sinngebung und Sinngeltung nachzuprüfen. Der Geheimspruch des expressionistischen Gedichts bedeutet dergestalt immer einen überrumpelnden „Schiedsspruch", ohne die Freiheit der Vor-Entscheidung zu ermöglichen und in sich einzuschließen. H. Bahr stellt es gern so hin, als ob der Kunstwertaufnehmende von der wild ekstatischen Wirkung, von der überwältigenden Suggestivkraft derartig zugedeckt werde, daß ihm zum Entdecken der Sinn-Zusammenhänge ganz einfach die Zeit und der Atem fehle. Kein Wunder, wenn er in einem anderen dieser literarischen Tagebuchblätter (vom i . Sept.) angesichts des Bildners Kokoschka drastisch eingesteht, „besoffen zu sein von einer Kunst", die sich als Rauschkunst eben nicht und notwendig nicht durch den nüchternen Kunstverstand sinnvoll deuten lasse. Man werde gar nicht erst gefragt, ob man eindrucksmäßig mitwolle oder mitkönne, man müsse ganz einfach mit, „so stark schlagen sie zu". Es ist aber ganz unverkennbar, daß der geborene, obzwar ungetreue Impressionist H. Bahr „erschlagen" ist wiederum v o m E i n d r u c k des Ausdrucks und nicht von der Ausdruckskraft des Ausdrucks, so gern er sich selber und uns das glauben machen möchte. Die Untreue gegenüber dem Impressionismus wird um so greifbarer, je unbegreifbarer ihm der Expressionismus vorkommt. Jetzt nämlich scheint es der Impressionist „leicht" zu haben, indem sein Gedicht „nichts als Echo" ist, bei dem „das Erlebnis selber" nur zurückhalle, während der Expressionist tiefer bohre, um gleichsam zu Gericht zu sitzen über das eindrucksvolle Ich. Im Hintergrunde aber taucht hinter derartigen Interpretationen des impressionistisch eingestellten und eingespielten Deuters des Expressionismus Bahr das Wort Ibsens auf vom Gerichtstaghalten über das eigene Ich. Und was er in diesem Zusammenhange kompromißfreudig umschreibt als „ungewohnten Naturalismus", bei dem gleichsam auf die „Natur der Natur" zurückgegriffen werde und auf die innere Schau oder die „ungeheure Intensität seines inneren Blicks" sowie auf das „Auge der Seele", das tiefer dringt als das Auge des Leibes: alles das, was er nun (1922) auf die Dichtkunst zu übertragen versucht, hatte er schon etwa ein Jahrzehnt vorher über die bildende Kunst vorgetragen.

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Das war geschehen in der Schrift „Expressionismus" (1914; zitiert nach der Auflage von 1920). In ihr tritt die Poesie fast völlig hinter die bildende Kunst, besonders die expressionistische Malerei, zurück, wie schon an den beigefügten Reproduktionen von Bildkunstwerken erkennbar wird. Trotzdem interessiert diese Publikation schon wegen ihres zeitlich relativ frühen Eingreifens in die Entwicklung. Sie bestätigt aber zugleich, daß die Kunstdeutung der Künstler seit der Romantik und dem Aufkommen der Kunstwissenschaft mehr und mehr in Abhängigkeit gerät von der einschlägigen Fachwissenschaft. So beruft sich H. Bahr in dieser Schrift ζ. B. auf Francis Galton (Eugenik), Wilhelm Worringer (Bildkunsttheorie), Alois Riegl (Kunstgeschichte) u. a. m., ganz abgesehen davon, daß er immer wieder auf Goethes Farbenlehre und naturwissenschaftliche Studien zurückgreift. Die Lehre Alois Riegls imponiert ihm merklich durch das Eingehen auf das aller Kunst und aller Kunstleistung immanente „Kunstwollen". Was Goethe betrifft, so wird jenes innere Schauen, also das, was später Wilhelm Pinder auch für den bildenden Künstler Goethe als das „innere Auge" umschrieb (vgl. Band III), für die Erläuterung der Eigenart des Expressionismus weit ausgiebiger herangezogen als dies heute üblich sein würde. Es kommt Hermann Bahr merklich noch darauf an, zunächst einmal das andersartige „Sehen" des expressionistischen Künstlers seinen Lesern verständlich zu machen. Unverkennbar steht diese Schrift in der Frühzeit des Expressionismus. Daher ist H. Bahr genötigt, die einfachsten Voraussetzungen zu schaffen und zu sichern. So glaubt er ζ. B. ausführlich darlegen zu müssen, daß die Sehweise des expressionistischen Künstlers eine Art von „Tastsehen" (as a kind of touchsight) darstelle, wobei dann etwa alle vier Seiten eines Würfels oder die ganze Kugel „auf einen Blick" sichtbar gemacht würden, die sonst nur nacheinander sichtbar oder nebenräumlich ertastbar seien. Der skizzenhafte Charakter, den man den Impressionisten zum Vorwurf gemacht habe, gehe in diesem Sinne nicht nur zurück auf ihr unvollständiges Sehen der BildVorlagen. Der Impressionist geht vielmehr auf den ersten Eindruck zurück, bei dem die Erfahrung und ihr Wissen um die Dinge und damit die vernunftgemäße Kombination als nachträgliche Hilfsfunktion zur Erfassung und Erkenntnis der Wirklichkeit noch ausgeschaltet bleibt: „er will den (Sinnen-)Reiz bei seinem Eintritt in uns erhäschen". Der Expressionist fängt unbewußt erst dort an,

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wo der Impressionist bewußt aufhört. Und vor allem: der Impressionist bietet die Skizze der ersten Anschauung; der Expressionist bietet die Ekstase der inneren Schau. Aber das geht über die damalige Konzeption H. Bahrs schon hinaus; denn von Ekstase ist in jener Schrift (von 1914) noch kaum die Rede. Vielmehr bemüht sich H. Bahr in ihr noch durchaus und durchweg, das Unbekannte durch ein Bekanntes, das Unverständliche durch ein Verständliches zu umschreiben. So versucht er zunächst ein wenig überraschend dem Expressionismus bzw. dessen Erläuterung mit Hilfe — Goethes beizukommen, und zwar sowohl des jungen als auch des reifen Goethe. Das aber muß hier herangezogen werden, weil er mit diesem Bezug die vorherrschend bildkünstlerische Einstellung dieser relativ umfangreichen Schrift verläßt zugunsten der Wortkunst und der Problematik des Wortes bzw. der Kritik der Sprache im Sinne Fritz Mauthners. Es handelt sich dabei um die Ausdrucksfähigkeit der Sprache schlechthin als Voraussetzung der Ausdruckskunst. In „Wilhelm Meisters Wanderjahren" werde sich Wilhelm Meister im Briefwechsel mit Natalie der Grenzen der Sinngebung durch die Sprache bewußt, als es für ihn gilt, der Geliebten den Berufswechsel und dessen Ursachen klarzumachen. Dabei stoße Wilhelm Meister und durch ihn und mit ihm Goethe auf die Grenzen der Aussagefähigkeit des nur schwer Auszudrückenden. Aber auch der junge Goethe habe bereits gemäß eines Briefentwurfs Kestners (18. November 1772) erkannt, daß sich das Wesentliche durch das Wort immer nur „uneigentlich" sagen lasse. Nicht nur der Ausdruck des Gedankens bleibe „uneigentlich", sondern auch schon der Gedanke als solcher. Sogar den Kirchenvater Augustinus bemüht Hermann Bahr, um die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks anzudeuten, indem vor der letzten Wahrheit und Wirklichkeit „jede Sprache und jedes Zeichen" versagen müsse. Eigenartig genug verquickt nun Bahr die expressionistische „Genialität" mit der Unmittelbarkeit des „Geschmacks". Und neben Augustinus taucht nun recht überrumpelnd — Fr. Nietzsche auf, der gesagt hat, daß es besser sei, überhaupt Geschmack zu haben als gar keinen, selbst wenn es ein schlechter Geschmack sei. Und Bahr definiert, ohne zu ahnen, daß er damit die Weisheit von Joh. Ulrich König von 1728 (vgl. Band II) fast wörtlich aufgreift: „Geschmack hat, wer unmittelbar ja oder nein sagt, bevor er noch selber weiß, warum." Was besagt das mehr, als weiland schon

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Joh. Ulrich König in der Frühzeit der Aufklärung (!) ausgesagt hatte von der Schnelligkeit des Geschmacks gegenüber der langsameren Bestätigung durch die gründlicher überprüfende „Urteilskraft" der (ästhetischen) Vernunft, also des Kunstverstandes. Und wenn dort und damals, fast zwei Jahrhunderte vor Hermann Bahrs Schrift über den „Expressionismus" der Geschmack als Keimzelle des Geniebegriffs in Anspruch genommen werden konnte, so sieht sich auch Hermann Bahr, ohne sich bei aller merklich betonten literaturhistorischen Unterbauung jener Zusammenhänge auch nur im entferntesten bewußt zu werden, dennoch zwangsläufig genötigt, auf den Geschmacksbegriff zurückzugreifen, um einigermaßen das Spontane und die genialische Schnelligkeit der Intuition expressionistischer Konzeption verständlich und nacherlebbar zu machen. Ein Beispiel mehr dafür, wie kunsttheoretische Notwendigkeiten über die Jahrhunderte hinweggreifen. Zugleich erscheint schon 1914 m der Schrift über „Expressionismus" vorgeformt oder doch vorbereitet, was dann 1922 in der „Kritik der Gegenwart" ausgesprochen wird, daß nämlich eine Entscheidung des ästhetischen Urteils oder doch Reagierens fällt, bevor noch gefragt wird, ob jemand das auch kunstverstandesmäßig einsieht, was auf ihn künstlerisch zwingend und daher bezwingend einwirkt. Der Geschmacksbegriff wird dergestalt wiederum zur Keimzelle des Geniebegriffs, weil in ihm jenes Unaussprechliche und Unerklärbare schlummert, was letztlich zum Genialen führt. Hinsichtlich der Bezeichnung „Expressionismus" ist bemerkenswert, daß Hermann Bahr sich gleichsam noch entschuldigen zu müssen meint, wenn er für alle die Verbesonderungen das gemeinsame Kunstwort „Expressionismus" verwendet. Er zieht sich dabei auf die Bildkunst zurück, indem er das Kunstwollen der Bildwerke, ob sie nun von Matisse oder Picasso, Pechstein oder Kokoschka, Kandinsky oder Marc herrühren mögen, unter einen Generalnenner bringt: „weshalb ich auch alle zusammen Expressionisten nenne, wenn das auch zunächst nur der Name der einen Sekte (!) ist, und die anderen dagegen protestieren werden". Was das Verhältnis Impressionismus-Expressionismus betrifft, so wird schon damals die Wesensart und Sonderart des Impressionismus vereinfacht und vergröbert dahin, daß der Impressionismus „immer ein Stück der Wirklichkeit vortäuschen" und also „auf Illusion hinwirken will", während der Expressionismus diese Möglichkeit der Kunstgestaltung aus einem anders gearteten Kunstwollen her-

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aus von vornherein „verschmähen" müsse. Kurz, der Impressionist Hermann Bahr vermag dem Expressionismus nur dadurch gerecht zu werden, daß er dem einst in Kunstwollen und Kunstleistung von ihm gerechtfertigten Impressionismus Unrecht tut. Einen einigermaßen gangbaren Ausweg aus diesem Dilemma sucht und findet er in der Essay- und Aphorismensammlung „Kritik der Gegenwart" (1922) dadurch, daß er — gemäß zunehmender religiös-konfessioneller Einstellung — den Expressionismus nicht mehr wie in jener Schrift über den „Expressionismus" (1914) auf die ihm von Wilhelm Worringer nahegebrachte Gotik („Formprobleme der Gotik"), sondern auf den G e i s t und die G e s i n n u n g des B a r o c k z u r ü c k f ü h r t , wie er denn mehrfach bekennt, „barock" zu empfinden. Das Kunstwollen der Barockzeit muß ihm das Kunstwollen seiner Gegenwart zugänglich und verständlich machen. Die ewige Wiederkehr in der Weltdeutung Friedrich Nietzsches scheint ihm hinsichtlich der Kunstdeutung eine Wiederkehr des Barocken im Expressionistischen erleichtert zu haben. Denn „ganz Europa ringt gerade jetzt nach einem neuen Stil, der im Grunde nichts als unser altes Barock ist !" Und im Eifer dieses Nachweises eines Rückgriffes Expressionismus-Barock will ihm scheinen, als ob selbst die „höchste Kunstform" Goethes (Pandora, Faust II, Maskenzüge), als ob Nietzsches Konzeption einer „dionysischen" Spielart antikisierender Kunst nicht sowohl als Rückversicherung beim Gotischen als vielmehr beim Barocken zu verstehen sei. Dies alles, ebenso wie der „tiefste Drang der Expressionisten" sei letzten Endes ein unbewußtes, aber unwiderstehliches Heimverlangen und also „nur Heimweh nach dem vergessenen Barock" (Essay vom 22. August). Während er hinsichtlich des Geniebegriffs den Fortschritt des Sturmes und Dranges über den Standpunkt der Aufklärung, daß es nämlich auf das Geniesein ankomme und nicht nur auf das Geniehaben, merklich ohne Kenntnis jener Bemühungen (vgl. Band II) rückgängig macht, indem er behauptet : „Genie scheint mir gar nicht etwas, was irgendein Mensch ist, sondern etwas, was der Mensch hat" (Notiz vom 14. September), geht er hinsichtlich des Eingebungsbegriffs aus göttlicher Inspiration und genialer Intuition, aus Vision und rauschhafter Steigerung noch über die Aufklärung auf die Barockzeit zurück. Dieses Erkennen und Ertasten früher Wurzelschichten des Expressionismus wurde ihm nicht nur erleichtert und ermöglicht durch die zählebige N a c h w i r k u n g des B a r o c k e n im ö s t e r -

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r e i c h i s c h e n R a u m , auf den sich der späte Hermann Bahr trotz gelegentlicher und angelegentlicher Verteidigung Berlins mehr und mehr als auf seine äußere und innere Heimat zurückzieht, sondern auch durch das Bewußtsein vom letztlich religiösen Untergrund und Hintergrund des Expressionismus sowie durch das Gefühl für das Verwandte der bis ins Rauschhafte emporgetriebenen Steigerungsformen beider, zeitlich weit voneinander getrennter Kunstrichtungen. Und wenn man zunächst den Eindruck gewinnen könnte, als ob es nur die „Drehbühne im Busen" gewesen sei, die Bahr die Schwenkung vom Impressionismus zum Expressionismus vollziehen ließ, so lernt man doch seiner Verteidigung solcher zunächst problematisch erscheinenden Wandlung und Wandlungsfähigkeit glauben, daß es auch bei der „Drehbühne" nicht allein auf das Drehen, sondern auch auf die feste und stabile Grundlage ankomme, um die sich die Drehung vollzieht. Wenn man gebührend in Rechnung stellt, daß die weltanschauliche Grundposition, um die sich alles „dreht", der Glaube an das Unausgesprochene und Unaussprechliche bleibt, das auf eine Transponierung und Transfiguration des dichterisch-göttlichen Menschenwortes in das Wort Gottes hinausläuft. Kein Wunder, daß der späte Hermann Bahr es nicht mit dem Anspruch der Geniezeit hält, der das Genie geradezu vergottet, sondern mit der stolzen Demut Lavaters, die nur etwas weiß und wissen will von einem Genie, das sich der Eingebung eines „unsichtbaren Wesens höherer Art" willig öffnet und aufnahmefähig aufschließt, um künstlerisch-schöpferisch fruchtbar werden und wirken zu können. Letzten Endes ist es der Katholik in Bahr, der über dem Barocken einen vertieften Zugang zum Expressionistischen zu finden hofft. Insofern entsprach der Impressionismus zwar seinem künstlerischen Vermögen, der Expressionismus aber kam seiner zuletzt doch wieder Macht und Übermacht gewinnenden Sehnsucht religiöser Art weitgehend und willig entgegen. Bahrs Verhältnis zum Expressionismus beginnt mit psychologischen, ja physiologischen Erklärungen und endet mit religiös-metaphysischen Verklärungen. Das wird schon in der Schrift von 1914 spürbar. In einer kurzen Notiz (5. September) berichtet Hermann Bahr von Lektüreeindrücken, die den Expressionismus betreffen. Neben der Erwähnung einer Umschreibung des Karikaturisten George Grosz durch Klabund als „Daumier von Plötzensee" interessiert ihn besonders eine begeisterte Würdigung des Romans

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„Die achatenen Kugeln" von Kasimir Edschmid durch Theodor Hausbach, der darin den „expressionistischen Roman" schlechthin und eine „repräsentative Verdichtung" der literarischen Zeitbewegung sieht und preist. Bei dieser Gelegenheit definiert Th. Hausbach recht brauchbar das Wesen des Expressionismus als eine „Durchstoßung des Gegenständlichen und die Erfassung des die Gegenstände bildenden Kräftekomplexes" (in der „Neuen Bücherschau"). Hermann Bahr zitiert seinerseits diese Definition, vergißt aber in seiner schnell enthusiasmierten Art, daß es damals nicht mehr allzu schwierig war, derartige Formulierungen zu finden. Ebenso greift Th. Hausbach nur ein längst in der expressionistischen Programmatik geläufiges Schlagwort auf, wenn er Edschmids Roman ein „unerhörtes Ausmaß an Intensität" zuerkennt. Im allgemeinen hat man freilich die P r o g r a m m t h e s e der „ I n t e n s i t ä t " (neben Vision, Ekstase usw.) über Gebühr vernachlässigt. Jene Definition aber hätte Th. Hausbach ganz ähnlich schon Jahre vorher in einer Programmschrift eben des Dichters antreffen können, dessen „Achatene Kugeln" er als große Sensation heraushebt. Richtig war hier jedoch erkannt, daß es für das Ansehen (und die geglaubte Berechtigung) einer Kunstrichtung wesentlich ist, wenn sie auch die großen Gattungen stilgerecht und also für sie gültig durchzusetzen und durchzuhalten versteht. Jenes Programm-Manifest des Romanciers K a s i m i r E d s c h m i d (geb. 1890), das freilich hervorhebt, kein „Programm" zu manifestieren und zu „postulieren", wurde als „Rede über den dichterischen Expressionismus" (1917) gehalten in einer Form, die den Zarathustraton Nietzsches (Hermann Bahr) vermeidet, aber doch dem dichterischen Impuls folgt, ohne die entwicklungsgeschichtliche Abfolge der Richtungen zu vernachlässigen. Denn bei aller Inspiration und Vision bleibt es erstaunlich, wie Kasimir Edschmid den Expressionismus abhebt vom Naturalismus und der Neuromantik und insbesondere vom Impressionismus nicht nur, sondern auch und nicht zuletzt vom Psychologismus, der weitgehend mit dem Impressionismus parallelgesetzt wird. Denn nicht der konsequente Realismus (Naturalismus), sondern der Impressionismus gilt als das Mosaik von augenblicklichen Eindrücken, die in der Zeit bestehen oder auch mit der Zeit vergehen. Obwohl Edschmid das Neue herausstellt, arbeitet er doch immer wieder mit der Abhebung vom Überkommenen.

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Zwangsläufig stellt sich die Gegenstellung des Impressionismus ein. Denn der Naturalismus habe sich nur mit den „Tatsachen" befaßt, der Impressionismus aber habe bereits eine Synthese von Tatsache und Stimmung ersehnt und erstrebt. „Mit nervöser Zärtlichkeit behandelte man die Objekte". Aber man begnügte sich im Impressionismus mit der stückweisen Aneinanderreihung, ohne das „Eigentliche" als Ganzheit zu erfassen. Das „kurz Herausgebrochene" des Eindrucks galt dabei bereits als Kunstschönheit. Nicht dem konsequenten Realismus also schrieb man (aus größerer Zeitnähe heraus, so auch bei Hermann Bahr) den Minuten- und Sekundenstil zu, sondern dem Impressionismus. Nicht dem Naturalismus warf man den Mosaik-Stil vor, sondern dem Impressionismus. Die Neuromantik und die „Decadence" ließ man zur Not und als zeitgemäßen Notbehelf noch gelten (obwohl der „Decadencerummel" entwertet wird), nicht aber den Impressionismus als individualistische und letztlich verbürgerlichte Sonderform des Naturalismus. Darin nämlich liegt das Eigene jener Konzeption des Expressionismus, daß sie die Neuromantik duldet, die Neuklassik ignoriert, aber sich vom Impressionismus bewußt und betont abhebt. In dem Moment, wo sich der Expressionismus auf sich selber besann, distanzierte er sich folgerichtig vom Impressionismus, der immer nur eine Stimmungsskizze bot, wo der Expressionismus die Vision des Wesentlichen anstrebte. Dieses „Wesentliche" umschrieb der frühe Expressionismus vorzugsweise mit dem Kenn- und Merkwort des „Eigentlichen". Es kam ihm nicht auf das Eigentümliche an, sondern auf das „Eigentliche". Sowohl in der substantivierten Form und Fassung (das „Eigentliche") wie auch als Attribut und Adverb („eigentlich") begegnet immer wieder, und zwar an entscheidenden Stellen dieses „Eigentliche", das sich sowohl abhebt vom Besonderen und Charakteristischen als auch vom Typischen und Allgemeinen. Schon der Impressionismus habe an das „Eigentliche" näher herangeführt, aber immer nur von Fall zu Fall, von Stimmung zu Stimmung. Der Naturalismus habe wohl die „Tatsache" geboten, aber nichts „vom Wesen eines Dings", also nichts „Eigentliches". Und auch der Impressionismus vermochte nicht das „Eigentliche" als letzten Sinn der Objekte zu erfassen, sondern ergriff immer nur den geahnten Umriß, nicht aber den „eigentlichsten Kern". Selbst bei der künstlerischen Darstellung einer Dirne muß ihr „eigentliches Wesen" herauskommen, denn durch ihre bloße

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Abschilderung ist „ihr eigentliches Wesen" keineswegs erschöpft. Der „zerstückelte Raum", den die „Impression" vermittelte, war nicht „einfach" und nicht „eigentlich", wobei Kasimir Edschmid das „einfach" zwar sperrt, aber merklich dennoch das „eigentlich", das nicht von ungefähr daneben steht, meint. Selbst der Naturalismus wird mit seinen sozialen Motiven nur insofern gewertet, als er uns „das Eigentliche damit näher" gebracht habe (also immerhin 1). Denn die echte Kunst, „die das Eigentliche nur will", scheidet das Uneigentliche und daher Nebensächliche aus, sie sucht den Kern „in seinem eigentlichsten Wesen" usw. Dieses immer wieder befragte und gefragte „Eigentliche", das K. Edschmid wohl auch als d a s „ D i r e k t e " umschreibt, nähert sich bedeutsam, freilich von einer ganz anderen Seite her dem Gewahrwerden der wesentlichen Form (Goethes Stilbegriff). Denn dieses Eigentliche geht unversehens und zwangsläufig über in das „Wesentliche". Neben dem Suggestivwort vom „Eigentlichen" gewinnen die L e i t w ö r t e r „ I d e e " e i n e r s e i t s u n d „ K r a f t " and e r e r s e i t s eine merklich bevorzugte Geltung, wobei die „Idee" das Intellektuell-Visionäre, die „Kraft" dagegen das Vital-Visionäre vertritt. Die Diskrepanz des Expressionismus im Verhältnis und Verhalten von Geistigkeit und Gefühls-Erleben tritt dabei gleichsam als autonom gewordene Antinomie überall greifbar zutage. Man empfindet und erklärt mit dem Lebensphilosophen Ludwig Klages den Geist zwar als Widersacher der Seele, aber man möchte ihn doch merklich nicht missen. Kasimir Edschmid hebt sich bewußt und betont von den Konventionellen und literarisch Professionellen ab, wenn er für die Expressionisten deklariert: „Ihnen entfaltete das Gefühl sich maßlos. Sie sahen nicht. Sie schauten. Sie photographierten nicht. Sie hatten Gesichte" und weiterhin: „Sie reflektierten n i c h t . . . Sie erleben direkt". Die neue Kunst ist „positiv" insofern, als sie „intuitiv" ist. Sie vermag die letzte „Spitze des Gefühls" zu erreichen und zu erzwingen „mit unerhörter Ekstase des Geistes". Wieder also begegnet das Eingeständnis, daß der Expressionist sich nicht zutraute, dem Gefühl ohne Brücken des Geistes beizukommen. Nur durch Geistesmacht hofft er des Gemüts und Gefühls mächtig zu werden, so daß man dem L o s u n g s w o r t u n d L o c k w o r t „ I n b r u n s t " , das mehrfach bei Edschmid begegnet, nur mit entsprechenden Vorbehalten Glauben zu schenken vermag. Berücksichtigt man jedoch den manifest-

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artigen, poetisch gesteigerten Darstellungstypus dieser Bekundungen, ja Verkündigungen „Über den dichterischen Expressionismus", so bleibt erstaunlich die Beherrschtheit, mit der Edschmid die Teilverdienste des Naturalismus, Impressionismus, der Dekadenz und der Neuromantik anerkennt. Geht er doch ζ. B. hinsichtlich des Expressionismus so weit, daß er freimütig einräumt: „Ein guter Impressionist ist größerer Künstler und bleibt für die Ewigkeit aufbewahrter als die mittelmäßige Schöpfung des Expressionisten, der nach Unsterblichkeit schaut." Überhaupt distanziert sich Kasimir Edschmid mehrfach von dem Modisch-Sensationellen der neuen Kunstrichtung, von dem „Irritierenden und Modegeilen". Nur dort und dann, wo und wann alle Dinge „zurückgestaut" werden „auf ihr eigentliches Wesen", wo ohne psychologische Analyse die visionäre Wesensschau Kraft und Gestalt gewinnt, wo eine „ungeheure Macht der Seele" Gewalt gewinnt, um das „Unerhörte hinauszuschreien", ist der Expressionismus wertvoll und wertbeständig, soweit das „Primitive" mit dem Echten und Ehrlichen („Ehrlichkeit") sich willig und wirksam verbindet. Kausalität, Logik und Moral bleiben für den Expressionisten „dem ungeheueren Gradmesser seines Gefühls" unterworfen. Der echte Expressionist ist „keine blonde Bestie" (Teilabwehr Nietzsches), kein „ruchloser Primitiver", sondern — wie Edschmid propagandistisch beruhigt — der „einfache, schlichte Mensch". Dieser Mensch, der ganz Mensch ist, bleibt zugleich verflochten in das Kosmische: „Er ist verstrickt in den Kosmos, aber mit kosmischem Empfinden." Diesen auf d a s K o s m i s c h e b e z o g e n e n M e n s c h e n hat der Dichter im Wesenskern des „Eigentlichen" aufzuspüren, wie er die innere Welt und ihre Werte neu entdecken oder doch enthüllen soll. Denn die äußere Welt hat bislang viel zu stark die dichterischen Kräfte gebunden: „Die Welt ist da. Es wäre sinnlos, sie zu wiederholen." (Abwehr des Naturalismus). Neben dieser Rede „Über den dichterischen Expressionismus", die mehr Programm-Schrift war, als sie es in genialischer Abkehr von „Rezepten" sein wollte, steht eine ebenfalls von lapidarer Gebärde begleitete Rede „Über die dichterische deutsche Jugend" (1918), die Kasimir Edschmid in Schweden hielt und die er mit jenem „Expressionismus"-Aufsatz zusammenfaßte in der von ihm selber herausgegebenen Schriftenreihe „Tribüne der Kunst und Zeit" unter dem gemeinsamen Titel „Über den Expressionismus in der Literatur und die neue Dichtung". Dieser Sammeltitel war offensichtlich auf

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eine breitere Öffentlichkeit zugeschnitten, denn an sich setzt Edschmid die Dichtung mehrfach schroff ab von der bloßen „Literatur". Er bringt aus der deutschen Situation heraus seinen schwedischen Zuhörern den Anruf und Aufruf einer halb verzweifelten und dennoch hoffnungsvollen deutschen dichterischen Jugend, der nichts geblieben ist als der Glaube an sich selber und an ihre kulturelle Mission. Das ist der Tenor der flammend begeisterten Rede. Ihr Thema aber ragt mannigfach ins Literaturphilosophische und Literaturprogrammatische hinüber. Die Haltung ist nicht im ersten Betracht patriotisch, sondern kulturpatriotisch. Über Nationen und Religionen hinweg ist jedoch der Zugang zur Menschheit zu erzwingen. Und die Dichtung darf und muß Wegbahner und kämpferischer Wegbrecher sein auf diesem beschwerlichen Wege in eine erhoffte Zukunft. Der „große Geist" August Strindberg wird heraufbeschworen, um den Glauben an das Neue zu ermutigen. Strindberg ist also auch (und schon) für Edschmid ein Kronzeuge für den Expressionismus, während Frank Wedekind noch nicht genannt wird. Überhaupt fällt auf, daß damals bekannte deutsche Dichternamen merklich ausgespart bleiben. Genannt wird — soviel ich sehe — von der „dichterischen Jugend" niemand. Dagegen greift der Rückbezug auf frühere Literaturepochen weiter zurück als im „Expressionismus"-Essay. Die Mystik, die Barockzeit, die Geniezeit, die Romantik werden kurz, aber eindrucksvoll und siimmungsstark als Traditionsträger sichtbar, mehr visionär als historisch. Der Passionsweg verkannter und in Wahnsinn verkommener, verelendeter und „verreckter" Dichter zeichnet sich gespenstisch ab als anklagende Geisterrevue der Hölderlin, Georg Büchner, Grabbe, Kleist und (bedingt zutreffend) auch Hebbel. Und während Edschmid im „Expressionismus"-Essay gerade die „blonde Bestie" Nietzsches erledigt hatte, glaubt er nun das Tragischste und „Panische" besonders wirksam zu beschwören, „wenn ich Nietzsches heiligen Namen nenne". Noch tastend greift er nach ausländischen Gewährsmännern, besonders den Franzosen: Alfred de Musset, Victor Hugo, Theophile Gautier. Die Kulturmission Frankreichs erfährt in unmittelbarer Nähe des ersten Weltkrieges ritterlich gedachte Hervorhebung durch Namen wie Voltaire, Pascal, Rabelais, Rousseau und Balzac neben deutschen Kulturträgern wie Luther, Jean Paul, Hölderlin und Goethe. Von großen Russen begegnen: Tolstoi, Gogol, Pusch-

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kin, Dostojewski. Mit der Reihenfolge hält es die pathetische Hervorsprudelung des Redestroms allenthalben nicht so genau. Etwas wahllos schwärmt er mehrfach für Bettina von Arnim, die kaum geahnt haben dürfte, noch einmal als Gewährsmännin (oder doch schmückende Randgarnitur) des Expressionismus bemüht zu werden, nachdem einst Christian Dietrich Grabbe ihrem GoetheBriefwechsel so arg mitgespielt hatte. Weit eher wäre man auf Klopstock als Traditionsträger in diesem Zusammenhang gefaßt gewesen. Aber gewisse Wendungen Klopstocks haften ihm im Ohr und werden im Sinne des Menschheitsglaubens entsprechend variiert. So sieht Edschmid die „dichterische deutsche Jugend, große Gedanken der Menschheit wieder denkend". Überhaupt wird „Menschheit"zum sinntragenden und mehr noch zum stimmungtragenden L e i t w o r t . Der „Glaube an die Menschheit" wird in die Zentralstellung gerückt. Das neue Weltbild muß visionäre Züge tragen, wenn es die Jugend dem echten, verinnerlichten und vergeistigten Menschentum zutragen und ihr göttlichen Prophetenruhm eintragen soll. „Größer entfachtes Weltgefühl schafft die Kunst zur Vision". Der Geist soll endlich regieren, auch in der Kunst. Der Geist darf nicht „vergeistigt" und ästhetisierend verflüchtigt oder moralisierend verpflichtet und gebunden werden. Der neue Mensch hat „ohne Vorurteil, ohne Hemmung, ohne gezüchtete Moral" zu sein, wenn er würdiger Gegenstand oder Träger dichterischer Schöpfung sein und werden will. „Ohnmächtige Auflehnung gegen den Geist, der treibt und schafft", darf dessen zukunftgreifendes Ausschreiten nicht hemmen. Und selbst nicht seine gelegentlichen Ausschreitungen, die eben doch nur befruchtend eindringen wollen in die Welt Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist nicht zu entbehren, um ein Sterilwerden des Geistes zu verhindern; aber: „ W i r wollen den N a t u r a l i s m u s a u f p e i t s c h e n zu f a n a t i s c h e r Vision. Das Ding vergewaltigen im Geist . . . !" Das Wichtige ist streng zu scheiden vom Nichtigen, das sich mit bloßen „Fassaden" und „Kulissen" begnügt. Es muß möglich werden, die Dinge zu durchdringen; denn „jedes Ding, angegriffen, bestürmt, entschält sich. Voll Ehrfurcht nähert Dichtung sich dem nur Wichtigen, dem K e r n des Dinges". Diese Lehre und Forderung wird also geradezu systematisch eingehämmert, wobei der Rausch der Rede über grelle Gegensätze wie Vergewaltigung einerseits und Ehrfurcht andererseits hinweghelfen muß. Ebenso widersprechen sich der starke religiöse Zug, der auch

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den „Expressionismus"-Essay durchregt, einerseits und die Heiligsprechung Nietzsches andererseits, der „Wille zur Steigerung und Hebung der Menschen" einerseits und die betonte Verschlichtung des Menschseins andererseits. Vielfach und durchweg läßt sich Edschmid durch derartige Widersprüche so wenig stören, daß man fast den Eindruck gewinnt, er wolle durch ihre Grellheit den schlafenden Bürger bewußt aufstören. Revolutionäre Klänge werden gern eingemischt, um den Bürger zu schrecken: „Kellers große Tradition versumpfte in bourgeoiser Niederung" usw. Aber gelegentlich gelingt es, Ausgleiche zu finden. So etwa hinsichtlich der seit der Barock-Poetik kaum jemals ganz zum Schweigen gebrachten Frage, wie denn nun der göttliche Schöpfungsanspruch mit dem dichterischen Schöpfertum notdürftig und ohne Profanierung in Einklang zu bringen sei. Edschmid prägt die Formel „demütige Höhe", die freilich schon von J. M. R. Lenz (Schöpferdemut) vorgeformt bereitlag. Und immer wieder rettet sich das „neue Pathos" in den Fanfarenton (um nicht zu sagen Posaunenstoß) der dichterischen Verkündigung, „vom dunklen Drang des Ethos angedonnert", als eine unüberhörbare „Melodie der Schöpfung aus dichterischem Ruf". Vieles erinnert lebhaft an die „Zentnerworte" der Geniezeit. Anderes verweist zurück auf die Romantik, so etwa der Begriff des „Schweifens", der dem romantischen Terminus vom „Schweben" irgendwie verwandt erscheint: „Großen Gefühlen Untertan, auf ihnen schweifend". Und zum mindesten der Literaturphilosophie der Frühromantik entspricht der Primat des Geistigen für eine „Kunst, die aus dem Geist kommt", wobei freilich das Geistige ins Kosmische tendiert. Derartige Bezüge, etwa auf Heinrich von Kleist (daß das Einfachste zugleich das Schwerste sei), ließen sich vermehren. Und Edschmids offenbar ehrliche Begeisterung und seine tapfere Gegenwehr gegen die Verzweiflungsstimmung der Nachkriegszeit löschen das leise Lächeln aus, das aufsteigen möchte angesichts der wahrhaft beneidenswerten Zuversicht, mit der behauptet (und geglaubt) wird: „Hier liegt das Neue und Unerhörte gegen die Epochen vorher". Das haben schon manche einst junge Generationen geglaubt, und zwar mit kaum geringerer Inbrunst und relativ größerer Berechtigung. „Neu" aber wäre zum mindesten der philosophische Hintergrund, wenn sich etwa nachweisen ließe, daß nicht nur — wie von Kasimir Edschmid zugestanden, ja stolz verkündet wird — die

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Dichter-Philosophie Friedrich Nietzsches, sondern darüber hinaus schon die Denker-Philosophie Edmund Husserls hinter manchen der kühnen kunsttheoretischen Konzeptionen dieser Manifeste von 1917/18 steht. Leider versagt in diesem und manchem ähnlichen Falle die Sonderforschung, und zwar auch diejenige, die den Expressionismus „im Lichte der Philosophie der Gegenwart" ausdrücklich zu betrachten verspricht. Sie schafft nicht nähmlich Klarheit über die Chronologie und Datierung von philosophischen oder kunstphilosophischen oder literaturprogrammatischen Bekundungen. Das „Licht" bleibt trübe, wenn man nicht einmal erfährt, woher es leuchtet, ob von der Philosophie oder der Poesie. Und es wirkt wenig tröstlich, wenn man der Frage nach der Priorität durch den Hinweis auf die Parallelität ausweicht. Hinzu kommt, daß man alle Hände voll zu tun hat (oder doch zu haben meint), um einigermaßen den Bezug zur Dichtung selber herzustellen. Die Dichtungsdeutung und die Produktions-Programmatik werden vorsichtig-fürsorglich von vornherein ausgeschieden, obwohl man andererseits zugeben muß, daß die Kunsttheorie des Expressionismus (ähnlich wie die der Neuklassik) weit bedeutender war als die Kunstpraxis. So sei hier wenigstens verraten, daß Edmund Husserl seine „Philosophie als strenge Wissenschaft" bereits 1910/11 herausgebracht hat, also gerade an der Einsatzstelle des Frühexpressionismus. Darauf aufmerksam zu machen, liegt in diesem Zusammenhang Anlaß vor, weil manche Begriffe, und zwar gerade die in Edschmids „phänomenalen" Manifesten hervorgehobenen, eine auffallende Ähnlichkeit aufweisen mit den Grundbegriffen der Phänomenologie des Philosophen E d m u n d H u s s e r l (1859—1941). Denn was Edschmid vom „eigentlichen Wesen", was er vom spontanen „Schauen", was er vom Wesens-Kern der Dinge und Phänomene, was er vom „Direkten", vom unmittelbaren Erfassen aussagt: alles das grenzt sehr nah an die Phänomenologie Husserls. Ob es sich dabei um ein Hineinströmen der geistig gültigen Zeitatmosphäre in Philosophie dort oder in Kunstphilosophie hier handelte oder um unmittelbare oder mittelbare Einflüsse, soll und kann hier nicht entschieden werden. Die Parallelität des Aspektes, die Gleichzeitigkeit des Unzeitgemäßen, der „Unzeitgemäßen Betrachtungen" (Nietzsches) und der zeitgemäßen Erscheinungen und „Phänomene" (Husserls) aber bleibt ganz unverkennbar. Demgegenüber ist weniger relevant, wenn Henri Bergson mit dem 27

M a r k w a r d t , Poetik V

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Lebensschwung des elan vital und der immanenten Dynamik und Kontinuität der „duree" allenthalben hindurchgreift und hindurchleuchtet. Die Relation des Raums und der Zeit steht nicht nur als Relativität, sondern auch als Kategorie hinter allen Allegorien und Arabesken des Expressionismus, der nicht von ungefähr und nicht ohne künstlerische Gefährdung der Form an die Stelle der dekadentneuromantischen Agonien (Hofmannsthal) die geistig deduktivexpressiven Kosmogonien (von Mombert bis Werfel) setzte. Das kosmische Ethos und Pathos (Alfred Mombert) zeigte sich mannigfach verbunden und verschränkt mit dem kosmogenischen Eros (Ludwig Klages). Und das Rauschhaft-Dionysische der Antike war jederzeit bereit, in das Rhythmisch-Dynamische der „Moderne" überzugehen und umzuspringen, ganz ähnlich wie das impressionistisch Neu-Rokokohafte der Neuromantik in das expressionistisch Neu-Barocke des Expressionismus überging und oft ruckhaft umsprang. Das Dekorative des Barock oder Neu-Barock im Expressionismus entsprach dem Dekadenten des Rokoko oder NeuRokoko im neuromantischen Impressionismus. Mochte dabei die Reihenfolge von Barock und Rokoko aufgehoben sein, die Wechselwirkung und Wesensverwandtschaft von Neu-Rokoko (Impressionismus) und Neu-Barock (Expressionismus) war ganz unverkennbar. Und die zeitliche Reihenfolge war schon im Verhältnis Neuromantik -Neuklassik aufgehoben worden. Das Neu-Rokoko folgte in diesem Sinne nicht dem Neu-Barock, sondern ging ihm voraus. Und es dürfte schwerfallen, im Einzelnen nachzuweisen, ob die Neuromantik enger verschwistert ist mit dem Neu-Rokoko als der Expressionismus mit dem Neu-Barock. Die zarten Pastellfarben des Neu-Rokoko entsprechen den subtilen Reiz-Reaktionen des Impressionismus, die heroisch-herben Al-Fresko-Farben des Neu-Barock entsprechen den suggestiven Rausch-Visionen des Expressionismus. Die Feinheit dort weicht der Fülle hier. Die feingestufte Instrumentation der Tönungen dort weicht der stufenüberspringenden Inspiration hier. Der Sucht nach Impression folgt die Sehnsucht nach Vision. Der Explikation des Einzelfalls und aparten Sonderfalls folgt die Expression und Manifestation des Allgemeingültigen und des absoluten Falles an sich. Ohne das Wirkliche wahrzunehmen, nimmt man das Unwirkliche oder Überwirkliche für wahr. Die Bemühungen von Expressionismus und Surrealismus werden dergestalt erneut sichtbar und im Sinne der Wesensschau anschau-

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bar und damit auch künstlerisch gestaltbar. Und wenn E. Husserl mitten im kältesten Licht der Logik dennoch erleuchtet blieb von der „freiesten Fiktion der gestaltenden Phantasie" und überzeugt war, daß sie mehr an Wesensschau zu vermitteln vermochte als die genaueste und begriffsgerechteste Theorie, war es dann ein Wunder, wenn man in Analogie zu der Setzung das Nicht-Ich durch das — freilich nicht empirisch gemeinte — Ich bei dem Philosophen der Romantik Fichte vermutete, daß jene freie Fiktion auch der freien Vision weiten und willigen Raum und phantasiemäßig wertvollen Traum einräumte und eingab? Denn was war f ü r die D i c h t e r die freie Setzung des Ichs Fichtes viel anderes als die „freie Fiktion" Husserls ? Das aber besagt und bedeutet, daß weltanschaulich und philosophisch die Kunstphilosophie der „absoluten" Neuromantik der Kunsttheorie des Expressionismus sehr nahe kam, zum mindesten so nahe kam, wie sich Extreme immer nur nahekommen können, aber auch nahekommen müssen. Nicht dieses Verhältnis von phantasiemäßiger Freiheit der Intuition und ideelicher Gesetzlichkeit der Vision entschied über das künstlerische Schicksal des Expressionismus, sondern das Verhältnis von gefühlsmäßiger Inspiration und verstandesmäßiger Konstruktion. Denn daran mußte der Expressionismus zuletzt scheitern, daß er die Inspiration nicht in Einklang zu bringen vermochte mit der Konstruktion, daß der induktiv-intuitive Expressionismus kein bleibendes Bündnis einzugehen vermochte mit dem deduktiv-konstruktiven (abstrakten) Expressionismus, daß das Absolute des Gefühls nicht einzugehen und aufzugehen vermochte in das Abstrakte des Begriffs, daß die Vielfalt des Seins nicht aufgefangen und eingefangen werden konnte von der Einfalt des Wesens. Im Verlauf dieser Darstellung war mehrfach Gelegenheit, auf eine Erscheinung hinzuweisen, die sich kaum aus sich selber, wohl aber aus dem größeren Entwicklungszusammenhang erklären läßt. Gemeint ist der gewaltige Kraftaufwand ζ. B. des Sturmes und Dranges, um die Schöpfungspoetik gegen die Anweisungs- und Wirkungspoetik durchzusetzen. Und es konnte gesagt werden, daß aus der bloßen Opposition gegen die Poetik der Aufklärung eine derartige Kraftdemonstration kaum verständlich sei, um so weniger, als die Entwicklungszwischenform der Auflockerergruppe innerhalb der Hochaufklärung bereits rein kunsttheoretisch wesentliche Vorarbeit geleistet hatte. Aber es ging um die Wendung zur Erlebnisdichtung und damit um eine Überwindung der Kunsttheorie meh27·

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rerer Jahrhunderte (Band II, S. 295/96). Ähnlich stand es mit dem Prinzip der Autonomie, der Eigengesetzlichkeit und Zweckfreiheit der Kunst in der Klassik (Band III, S. 51) oder auch mit Kernbegriffen der Romantik. Die Programmatik des Expressionismus will ebenfalls weit mehr als die vorausgegangene Kunstrichtung überwinden. Sie will völlig neu anfangen, auch gemessen an weiter zurückliegenden Epochen und Jahrhunderten. Sie will nicht nur im relativen, vielmehr im absoluten Bezug „Die neue Kunst" (Titel eines Programms Lothar Schreyers) sein. Es soll geradezu eine künstlerische „Weltwende" sein. Nicht nur Arno Holz, jeder frühere Künstler, jede frühere Kunstrichtung, jedes frühere Jahrhundert und schlechthin jede frühere Theorie ist auf dem Holzwege gewesen, auf einem Abwege, Irrwege und mindestens einem Umwege. Bringt man das Propaganda-Getöse der modernen Programmatik (verstärkt durch die Aufschwellung von Zeitschrift und Zeitung) gebührend in Abzug — und eben deshalb wurde despektierlich vom Holzweg gesprochen —, so bleibt immer noch ein guter und fester Kern echter Überzeugung. Die große Kulturkrise der zivilisierten Menschheit (Technik, Weltkrieg und dessen Vorahnung) führt zum spontanen Gefühl einer Kunstkrise, die ausweglos erschien, wenn man nicht den Mut zum völligen, unbefangenen und unbelasteten Neubeginn fand und den Glauben, einen völligen und nun endlich unfehlbaren Neu-Ansatz für eine fruchtbare Weiterentwicklung und echte Vervollkommnung entdeckt zu haben. Der Unterschied gegenüber jenen früheren großen Entwicklungswenden in der Kunstauffassung liegt nun aber darin, daß etwa der Sturm und Drang gar nicht wußte, was er eigentlich leistete. Der Kraftaufwand erfolgte dort spontan, unbewußt. Beim Expressionismus dagegen ist die Absicht des Neuanfangs nicht nur, sondern auch der Anspruch, Jahrhunderte zu berichtigen, nur allzu bewußt. Und gerade diese Richtung betonte das Spontane, Unwillkürliche. Sieht man sich jedoch einmal eine führende Persönlichkeit im „Sturm" wie Herwarth Waiden etwas näher an, der Goethe als Dichter kritisiert, daß es nur so eine Art (oder Unart) hat, so möchte man ihn am ehesten noch an Friedrich Schlegel heranrücken, der auch trotz aller Beteuerung des Gefühlsechten recht geneigt ist, geradezu eine „neue Mythologie" künstlich zu erfinden und eine Schule zu gründen, so wie H. Waiden sogar eine Dichter-Hochschule für „Sturm"-Künstler

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auf die Beine stellte. Und Lothar Schreyer würde dann — um im Vergleichsbilde zu bleiben — etwa August Wilhelm Schlegel ähneln, der auch die Konzeptionen stark nach der sprachlichstilistischen Seite hin ausbaute. Schreyer hat wohl am einläßlichsten das sprachliche Darstellungsmittel berücksichtigt und in einer eigenen expressionistischen Stillehre erstaunlich weitgehend entwickelt, bewußt als „Wortkunst". Die Theoretiker und Programmatiker des Expressionismus, ob nun Herwarth Waiden oder Lothar Schreyer, Kasimir Edschmid oder Rudolf Blümner, erheben den Anspruch und die Forderung, ein absolut „Neues" zu verkünden, sozusagen das Neue des Absoluten. Die unbedingte Forderung wird zur Forderung des Unbedingten und NichtBedingten. Das Unbedingte verwirklicht sich und verwesentlicht sich im Zwang der Bannung innerer Gesichte, Offenbarungen, Erleuchtungen. Nicht der „Zwang zur Form", von dem Paul Ernst und Wilhelm von Scholz sprechen, macht die inneren Kunstwerte frei, sondern geradezu ein Zwang zur Unform. Denn erst im Zerbrechen des Zwanges zur Form (etwa der Versform oder der Satzform, aber auch der Gattungsform) befreit sich die Unmittelbarkeit und Spontaneität des Unbedingten und Bedingungslosen. Zugleich gilt das Zerbrechen der Formgesetze und Gestaltungsgesetze als eine (merklich sehr erwünschte) Bürgschaft für die Echtheit und die Kraft der unmittelbaren dichterischen Aussage. Die innere Wahrheit ist wichtiger als die äußere Wahrscheinlichkeit. Der innere Rhythmus ist wesentlicher als das zudem erstarrte äußere Metrum, das die Leistung der Stimmungsassoziationen und Gefühlssuggestionen gleichsam auf die nachschaffende Phantasie des Kunstwertaufnehmenden überträgt, während jene grundlegende Leistung vom Dichter selber vollbracht werden müßte. Die innere Schau ist wertvoller als die sinnenhafte Veranschaulichung. Auch die Reduzierung auf die Grundformen der Eindrücke nach Art der Skizzierung und Beschränkung auf das Wesentliche der Eindrücke genügt nicht (Abwehr des Impressionismus). Sie gibt dem Wesenhaften, das mehr ist als das Wesentliche, noch nicht hinreichende Freiheit zur Entfaltung. Außerdem lenkt sie die Aufmerksamkeit und Kraft des Dichters ab in ein vermeintlich Wichtiges — eben das Suggestivmachen des gehabten Eindrucks —, das sich am Wertmaß der echten Ausdruckskunst und der Ausdruckskunst des Echten letztlich als

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bloße Nichtigkeit enthüllt. Das innere Meinen ist entscheidender als der äußere Sinn. Dieses Gemeinte ist stets ein Gemußtes, das seinen tieferen Sinn in sich selber trägt und im Kunstwert schöpferisch austrägt, nicht aber nur ausformt und nicht dem Kunstwertaufnehmenden zuträgt als eine bloße logische, psychologische oder weltanschauliche „Meinung". Es geht, soweit der offenbarte Ausdruck überhaupt sinnhaltig ist und zu sein braucht, immer um ein „Gemeintes", nicht um eine „Meinung". Es geht, soweit der Dichter zugleich Deuter ist, immer vorab um eine Andeutung, nicht um eine Bedeutung. Jedenfalls nicht um das „Bedeutende" einer Sinngebung, sondern um das „Bedeutende" einer Sinnbildgebung (Einmündung des Symbolismus in den Expressionismus). Und es geht vor allem nicht um das Bildende, weder im pädagogischen noch gestaltenden Betracht (Abwehr der Klassik). Wahrheit ist weit unentbehrlicher als Klarheit. Dämonie steht weit höher als Harmonie. Es kommt nicht an auf Berichte über die äußere Wirklichkeit, sondern auf Bekundungen über die innere „Wirklichkeit" (Abwehr des Naturalismus). Es geht um die Konzentration auf das Wesenhafte, um den Mut zur Einfachheit der „Sache" (Ansatzstelle für die „Neue Sachlichkeit"), nicht aber um ein „poetisches" Ausmalen und Ausschmücken, auch nicht um das „Poetische" jenseits der Dichtkunst (Abwehr der Romantik, besonders der Trivialromantik). Auf der Wegsuche nach dem Echten und Wahrhaftigen im Jenseits von Schön und Häßlich mußte die Literaturprogrammatik des Expressionismus folgerichtig auf die Kunst des Primitiven und „der Primitiven" stoßen. Schien dort doch das Unbedingte offen zutage zu treten und dem Zugriff bereitzuliegen. Die Kunst der Primitiven war nicht bedingt von Wissen und Bildung, Philosophie oder Ästhetik, Logik oder Psychologik. Sie war also frei von der Last des geistigen Erbes und ganz unverbildet. Jedenfalls wollte es den Expressionisten so vorkommen. Und sie barg auf der anderen Seite als positives Wertmerkmal eine starke Tendenz zum Symbolischen, auch zum Mythischen und Mystischen in sich: alles Keimkräfte, die der Expressionismus (ζ. T. uneingestanden) sehr gut zur Weiterentwicklung gebrauchen konnte. Freilich hatte es darin die Bildkunst wesentlich leichter als die Wortkunst, die an eine Nationalsprache als Darstellungsmittel gebunden blieb. Die Wortkunst tat aber alles nur irgend Mögliche, um die allzu kompliziert gewordene Sprache zu ver-

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einfachen und auf die primitiven Notwendigkeiten zurückzubilden. Lothar Schreyer empfahl u. a. die Auslassung der Konjunktionen, der Kopula, der Präpositionen, der Artikel, um nur noch den nackten gleichsam unbekleideten Wortleib und die von keiner Logik und keinen syntaktischen Gesetzen beeinträchtigte Wortseele würdig und wirksam zur Geltung zu bringen. Vor allem schienen die Kopula und die Artikel für die reine Ausdruckssprache entbehrlich zu sein. Denn sie suchten noch das Unverbindliche zu verbinden und das schlechthin Unbestimmte zu bestimmen. Bewußt oder unbewußt an den Traditionsträger Klopstock Schloß er sich an, indem er den transitiven Gebrauch an sich intransitiver Verben zuließ. Bei näherem Zusehen nämlich ergibt sich, daß das vermeintlich Neue und Nochniedagewesene in Wirklichkeit doch längst dagewesen war, zum mindesten in einem Grade, den die Expressionisten entweder nicht erkennen konnten oder nicht anerkennen wollten. Aber eben wegen dieser vermeintlichen Originalität ist es berechtigt, daran zu erinnern, wie vieles längst vorgefordert oder vorgeformt war. Das Urtümliche und Unmittelbare der Spontaneität war längst vorgebildet im Sturm und Drang. Das Wesenhafte, das Gewahrwerden der „wesentlichen" Form war längst vorgebildet in der Kunsttheorie der Klassik und neuerlich der Neu-Klassik. Die religiöse Auffangsstellung war längst vorher aufgesucht in der Literaturphilosophie der Romantik einschließlich der Mystik, die sogar jetzt als Vulgär-Mystik ζ. T. recht veroberflächlicht erscheint. Der zudem höchst bestreitbare Dienst am „Sachlichen" war längst vertraut im Realismus. Die Umsetzung der Realität in das Symbol war unmittelbar vorher im Symbolismus vollzogen worden. Die Frage nach dem modernen Rhythmus hatte schon der Charon-Kreis um Otto zur Linde aufgeworfen. Das aber besagt, die absolut „neue" Kunst knüpfte in Wirklichkeit allenthalben an das „Alte" an. Sie wagte sich nur so kühn vor ins „Neue", weil sie das „Alte" so sicher hinter sich fühlte. Sie schuf sich eine Illusion des „Neuen", um der Tradition des „Alten" notdürftig zu entgehen. Aber es dauerte gar nicht einmal allzu lange, bis sie selber Neigung und Nötigung verspürte, jene kecke Illusion durch solide Tradition zu sichern. Nicht nur der in den Expressionismus verirrte Impressionist H. Bahr, der nur mitlief, weil er immer auf dem Laufenden bleiben wollte, sprach vom Barock; auch

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Kasimir Edschmid tat es in der Wendung „zu phantastischem Barock" und mit dem Ausruhen „in barocker Geistigkeit". Ebensowenig fehlt die Berufung auf die Geniezeit und die Romantik oder den Frührealismus um Georg Büchner. Nur das scheint man nicht recht einzusehen, daß die großartige Programmthese vom „Wesenhaften" der Kunstanschauung der Klassik verpflichtet war. Das dürfte indessen damit zusammenhängen, daß die NeuKlassik zu unmittelbar in Zeitnähe und als billiges Angriffsziel vor dem Expressionismus lag. Und auch diese Neuklassik hatte immer wieder auf das „Wesen" hingewiesen, wie sie ebenso die letzte Konzentration auf das Wesentliche zum mindesten für das Drama verlangt hatte. Eben deshalb scheute man in der Theorie wohl auch das Zugeständnis an das „Abstrakte", obwohl man es im Kunstschaffen jederzeit zu machen nur allzu bereit war. Denn Paul Ernst hatte dieses Abstrakte nicht nur geduldet, sondern auch gefordert. Und diese problematische Verwandtschaft konnte man nicht gut anerkennen, wie denn überhaupt das zeitlich Naheliegende leidenschaftlicher bekämpft zu werden pflegt als das zeitlich weiter Entrückte. Zuletzt (oder doch nicht zuletzt) aus dem einfachen Grunde des geistigen Lebenskampfes. Denn das weiter Zurückliegende kann man notfalls als Traditionsträget, der die eigene Geltung stärkt, ganz gut gebrauchen. Das zeitlich Nahe aber bedrängt den eigenen Lebensraum und kritisiert gleichsam durch sein bloßes Dasein, sein Noch-Dasein und Auch-Dasein den durchweg zunächst überhöhten Geltungsansprüch im Kampf ums geistige Dasein und Allein-Dasein. Das gilt natürlich nicht nur für den Expressionismus, sondern ist eine allgemein zu beobachtende Erscheinung im Ablösungsvorgang der verschiedenen (und oft nur vermeintlich so sehr verschiedenen und unterschiedenen) Epochen. Aber es tritt beim Expressionismus besonders instruktiv und ζ. T. recht grell zutage. Und eben deshalb mag bei dieser Gelegenheit wieder einmal daran erinnert werden, daß in der Geschichte der Poetik die zunächst bewußt herausgestellten und daher auch dem Betrachter in die Augen springenden E n t g e g e n s e t z u n g e n sich bei näherem Zusehen vielfach als F o r t s e t z u n g e n d u r c h U m s e t z u n g e n darbieten und enthüllen. Darin mag für schneidige Programmatiker etwas Betrübliches liegen; für den unvoreingenommenen Betrachter liegt darin ein irgendwie Tröstliches, nämlich die Kontinuität der großen Gesamtentwicklung.

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Einzelansätze für das Kunstwollen des Expressionismus innerhalb der unmittelbar vorausgehenden Literaturepochen und Stilrichtungen hat Albert Soergel mit großem Eifer und schöner Umsicht reichlich zusammengetragen in seinem umfangreichen Bande „ I m Banne des Expressionismus". Daher können diese theoretischen Erkundungen, die dem Hochexpressionismus ζ. T. um etwa zwei Jahrzehnte vorausliegen, hier weitgehend entbehrt werden. Immerhin sei an Einiges erinnert. Bereits zur Durchbruchszeit des Naturalismus hält J u l i u s H a r t erstaunlich weitsichtig Ausschau nach einer neuartigen Kunst der „Ekstasen und Visionen" aus unmittelbarem „Gefühl" heraus. Es geschieht das in Form der Selbstrechtfertigungspoetik im halb literaturgeschichtlich, halb literaturtheoretisch angelegten Nachwort zu seinen „Stimmen in der Nacht" (1898). Und es handelt sich dabei nicht sowohl um eine „ K r i t i k des reinen Gefühls" wie einst bei Heinrich von Kleist, obwohl das Triebhafte und künstlerisch Triebkräftige des dunklen Gefühlsgrundes in Kleists Kunstauffassung weitgehend vorgebildet war wie auch das Eindrucks-Ausdrucksverhältnis (vgl. Band III). Vielmehr kommt es Julius Hart vor allem darauf an, nachdem im literaturhistorischen Ablauf das Interesse für das Geschehen durch das Interesse für den Charakter mehr und mehr verdrängt worden sei, den letztlich dämonisch bestimmten Traggrund des Charakters bloßzulegen im komplizierten Kräftespiel gefühlsmäßiger und schicksalsmächtiger Gewalten. Das aber wird nicht durch Kunsttechnik erreicht, sondern durch ein Zurückgehen im dichterischen Schaffensvorgang auf dessen erste „ekstatisch-visionäre" Grunderlebnisse der ins Unbewußte reichenden Frühkonzeption. Die dichterische Schau ist wesentlicher als die dichterische Anschauung. Zugleich fordert J. Hart freilich für die formungskünstlerische Verwirklichung einen gewissen überlegenen Abstand, der aus der Gefühlsgärung zur Gestaltklärung gelangt. Dabei verwendet er das Vergleichsbild vom „Schweben" über den Erregungswellen der ekstatischvisionären Urkonzeption („und schwebt doch über ihnen"), ohne sich gewiß bewußt zu sein, daß er damit an die Vorstellung vom „Schwebezustand" innerhalb der Literaturphilosophie der Romantik anknüpft oder doch hätte anknüpfen können. Die Frage bleibt nur, ob nicht J. Hart bei alledem und trotz der Abwehr eines Primats der Charakteristik dennoch seinerseits bei einem Psychologismus stehenbleibt, nur eben bei einem das Dunkle,

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Dumpfe, Untergründige und Hintergründige hervorkehrenden Psychologismus. Das Ganze erinnert so doch wieder an das Experiment-Verfahren des konsequenten Realismus. Etwa ein halbes Jahrzehnt später betonte J a k o b W a s s e r m a n n in einem Kunstgespräch über „Die Kunst der Erzählung" (1904) neben kunsttechnischen Einzelheiten und Wesentlichkeiten der Erzählkunst die Bedeutung des Visionären. Und wieder um wenige Jahre später stellte H u g o v o n H o f m a n n s t h a l in seinem manifestartig gestimmten und zum Essay ausgeweiteten Vortrag „Der Dichter und diese Zeit" (1907) die Urmacht des Visionären beim dichterischen Konzeptionsvorgang nachdrücklich heraus. Darüber konnte im einzelnen schon berichtet werden. Und so mag hier die Andeutung genügen, daß in der Kunsttheorie schon vor den ersten Einsätzen des Frühexpressionismus im Kunstschaffen, besonders im lyrischen Kunstschaffen (etwa 1910), Erkundungen teils noch tastender, teils bereits erstaunlich griffsicherer Art in einer Richtung erfolgten, die später für etwa ein bis eineinhalb Jahrzehnt (1910—1920 bzw. 1925) zur allgemeinen Marschrichtung werden sollten. Dennoch ist unverkennbar, daß es mehr die impressionistisch empfangene und gestaltungsmäßig ausgetragene Vision war, die damals vorschwebte, als die ekstatische Vision vom expressionistischen Typus. Aber auch dabei handelt es sich durchweg um eine relative „Neuheit". Letzten Endes nämlich beruht das Neue nicht auf einem Wesenhaften, sondern auf einem Graduellen. Das Drängen zum Wesenhaften, Eigentlichen war in der Kunsttheorie der Neuklassik schon weitgehend vorgebildet. Und die Extreme berühren sich dergestalt auch hier. Aber das Extreme war neu: die rücksichtslose und rückhaltlose Lust und Leidenschaft zur letzten Steigerung und Übersteigerung. Und durch dieses Prinzip der Steigerung und Übersteigerung erhielt nun auch manches ein neues Ansehen, was an sich als nicht neu bezeichnet werden konnte: das Kosmische wurde übersteigert und verabsolutiert, das Visionäre wurde übersteigert und verabsolutiert, das Pathos wurde extrem überhöht usw. Kurz, was sonst Begleitmotiv gewesen war, wurde nun zum Leitmotiv, was sonst eine Möglichkeit gewesen war, wurde nun eine Notwendigkeit, was sonst ein Einschließliches gewesen war, wurde nun zu einer Ausschließlichkeit, was sonst eine Anregung gewesen war, wurde nun zu einer Aufregung. Der Expressionist glaubte alles Bisherige überwinden zu können,

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indem er es überbot. Die brutale Wahrheit des Naturalismus sollte noch überboten werden durch Steigerung des Elenden zum Ekelhaften, des Natürlichen zum dämonisch Triebhaften, der Menschennot zum Jammer der ganzen Menschheit. Der Traum der Neuromantiker wurde zum quälenden Alptraum und zu „Traumlawinen" (Wilhelm Klemm), der Rausch der Neuromantik zu einer kosmischen Trunkenheit, aber auch zu einem fiebrigen (bis torkelnden) Delirium, wobei man gern und mehr vom Häßlichen und Grauenhaften berauscht war als vom Schönen. Man schrie (denn im Expressionismus rief man nicht) nach Gesundung und überbot die Dekadenz, indem man das „Wesende" dem Verwesenden abzugewinnen trachtete (vgl. Neusymbolismus). Und während man die Menschheit vom Chaos frei kämpfen wollte, erwies man sich selber dem Chaotischen ausgeliefert und verfallen. Selbst wenn man einwendet, daß der Feind sich immer nur mit den gleichen Waffen wirksam bekämpfen läßt, haftet doch dem Verfahren, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, immer etwas Groteskes an, bestenfalls etwas Grandios-Groteskes. Und für ein homöopathisches Heilverfahren, das mit kleinster Dosis zu arbeiten pflegt, waren die Expressionisten mit ihren extremen Gewaltkuren so ungeeignet wie möglich. Sie besaßen mit ihrer rasenden Unrast auch gar nicht die Geduld, helfend zu heilen und heilsam zu helfen. Die Künstler im „Sturm" waren trotz aller Theorie des Primitiven vom wirklichen Volke kaum weniger weit entfernt als die Jünger im exklusiven Kreise um Stefan George, schon einfach deshalb, weil sie sich das „Volk" viel zu primitiv vorstellten und selber viel zu intellektuell und abstrakt waren. Eben in dieser Gebrochenheit von Gefühlseruption und Verstandesreflexion, von dumpfem Dämmer der Seele und überwacher Grellheit des Geistes liegt eine weitere Gefahr. Denn hinter dem Expressionismus stand nicht die Identitätsphilosophie der deutschen Romantik (vgl. Band III), sondern weit eher die Lebensphilosophie Ludwig Klages', wonach von Rechts wegen der Geist der Widersacher der Seele, und also auch eine überhöhte Vergeistigung eine Widersacherin einer vertieften Beseelung sein (und als solche erkannt werden) mußte. Die Existenzialphilosophie aber verstärkte mit ihren Lehren von Lebensangst, der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit des „Geworfenseins" eher diesen Zwiespalt als daß sie ihn zu mildern vermochte. Das lag auch gar nicht in ihrem Wesen und in ihrem Wollen.

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Berührt das mehr die Haltung, so erwuchs für die Gestaltung gerade aus der vermeintlichen Stärke der absoluten Steigerung eine entscheidende Schwäche. Und vielleicht war es die Schwäche, an der die künstlerische Wirkung und damit auch der dauernde Wert des Expressionismus vor allem gescheitert ist. Denn den expressionistischen Impulsen und Intuitionen gemäß erfolgte diese Steigerung und jeweils höchste Aufgipfelung ruckhaft und unvermittelt, überraschend und unvorbereitet. Man bewegt sich fortgesetzt in höchsten Graden und auf höchsten Graten. Was fehlt, ist die Möglichkeit zum Anstieg, das stufenweise Emporgeführtwerden, mag es sich dabei auch um steile Stufen handeln, die ein Mitgerissenwerden und Emporgehobenwerden durch künstlerische Mittel überwinden helfen kann. Aber selbst, wenn man eine willige Hingabe beim Kunstwertaufnehmenden voraussetzt (und gerade der Expressionist fordert sie), der Sprung von Gipfel zu Gipfel fordert nicht nur eine nie ermüdende Schwungkraft, sondern ist auch abhängig vom Glauben an ein ansteigendes Bergmassiv, das vom jeweiligen Gipfel gekrönt wird. Trennt der Künstler jedoch den Gipfel vom Berg (und auch vom Tal), schneidet er ihn gleichsam ab, i s o l i e r t er ihn, dann werden aus den stolzen Gipfeln eine Reihe von ganz gewöhnlichen Maulwurfshügeln im geistig-seelischen Flachland. Niemand kann Hochspannungen auf die Dauer durchhalten; niemand kann in lauter Ekstasen schwelgen oder in lauter Visionen leben. Letzte Ergriffenheit führt schnell zu letzter Erschöpftheit, wenn die Raststellen fehlen oder viel zu selten begegnen. Der Kunstwertaufnehmende fühlt sehr bald, daß er einfach nicht mehr mitgehen kann, wenn anders er sich nicht ein Ergriffensein und Erleuchtetsein vortäuschen will. Und man kann es ihm kaum verdenken, wenn von dieser Selbstbeobachtung sein kritischer Blick nun auch mißtrauend auf den Kunstschaffenden fällt, wenn der Verdacht zunächst leise, dann vernehmlicher sich einstellt, ob nicht am Ende auch der Künstler derartige Dauerzustände letzter und höchster Steigerung gar nicht ehrlich und echt durchhalten und sie also nur vortäuschen kann. Lessing hat — gewiß mit Unterschätzung der nachschaffenden Phantasie — davor gewarnt, dem Kunstwertaufnehmenden zu viele Einzelheiten der Schilderung in der Poesie zuzumuten. Dabei ging es letztlich um Impressionen. Wohl noch anstrengender und ermüdender aber ist die Zumutung, einer widen Flut von Ex-

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pressionen standzuhalten. Kurt Pinthus ist auch gegen Schilderungen, weil sie zu „hingemalt" seien; möglich immerhin, daß er dabei an Lessing dachte. Aber ihm kommt nicht der Einfall, daß lauter Visionen noch weit bedenklicher sind. Vom Gattungstypologischen bestätigt sich dieser Einwand insofern, als im allgemeinen lyrische Gedichte, also Kurzformen, am ehesten noch durchführbar und echt wirken, während ein expressionistischer Roman, also eine Großform, mit allerlei Aushilfen arbeiten muß, um sich nur einigermaßen als Kunstwerk behaupten zu können. Das expressionistische Drama hat es insofern leichter, als das Drama an sich auf starke Ballungen und Steigerungen, auch jäher, abrupter Art, eingestellt ist. Zudem wird hier dem Kunstwertaufnehmenden die Hauptlast der nachschaffenden Phantasie von Regisseur, Schauspieler und Bühnenbildner abgenommen. Wenn trotzdem das expressionistische Drama sich nur mühsam und vereinzelt auf der Bühne halten kann, so u. a. deshalb, weil das Chaotische des Expressionismus dem stark Konstruktiven des Dramas weitgehend widerstreitet. Die Grundkonzeption einer Rauschkunst aus Intuition und Vision, aus einer von Konventionen und Traditionen unverbildeten und unverdorbenen Ursprünglichkeit, Urtümlichkeit, Urwüchsigkeit, kurz der Aufbruch der Seele und der Ausbruch des Herzens: diese Grundkonzeption wurde durchkreuzt von dem Einbruch und Anspruch des Geistes, der Macht gewinnen wollte und sollte über den Geist und Ungeist der Zeit. Aber auch dieses Geistige wurde gesteigert und emporgetrieben in das „Abstrakte" der „abstrakten" Kunst. Dabei meinte dieses isoliert Abstrakte nicht nur eine Abstraktion vom Sinnlichen, anschaulich Darstellbaren, dinghaft Gegenständlichen, sondern auch — was leicht vergessen wird — ein Abstrahieren von gedanklicher Sinngebung. Vom Kunstwollen aus ging es dabei nicht um ein Versagen, sondern um ein bewußtes Verschmähen, um einen Verzicht auf Werte, die sonst als unentbehrlich angesehen worden waren. Das nur „Sinngemäße" ist dem Hochexpressionismus nicht gemäß. Es wird u. a. von H e r w a r t h W a i d e n (1878—1942) ausdrücklich verworfen, der zugleich skeptisch dem vermeintlichen Kunstsinn der Deutschen gegenübersteht: „Das deutsche Volk hält alles für Kunst, wobei es sich etwas denken kann". Die künstlerische Logik ist scharf zu unterscheiden von der philosophischen Logik. Es ist nicht die Aufgabe der Kunst, Denkvorgänge zu vergegen-

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ständlichen. Soweit mag man der Grenzziehung zustimmen, und es wird darüber noch einiges zu sagen sein. Hier kommt es darauf an, die absolute Forderung nach Abstraktheit der „abstrakten" und „absoluten" Kunst zu erkennen und die darin liegende Gefahr als weiteres Beispiel für die Fragwürdigkei 4 und Haltbarkeit der theoretischen Kernpositionen und Hauptkonstruktionen zu ermessen. Denn wieder schlug man in den Radikalismus des Extrems um, indem man nun vorzüglich das für echte Kunst hielt und ausgab, wobei man sich nichts denken kann. Man erreichte aber keine Erlösung vom Druck des Gedankens. Und Waiden unterschätzt zum mindesten die Gründlichkeit der Deutschen, die j e t z t erst r e c h t d a h i n t e r k o m m e n w o l l t e , w a s denn nun e i g e n t l i c h „ g e m e i n t " sei. Aber gerade auch unter den Kunstbeflissenen war des Denkens und Deutens angesichts dieser rätselreichen Gebilde kein Ende. Irgendein Sinn, so vermutete man, mußte doch selbst noch und vielleicht gerade in diesem „genialen Halbunsinn" (das kritische Wort des alten Goethe über „Des Wanderers Sturmlied" des jungen Goethe) zu entdecken sein. Und es ist schwerlich zu leugnen, daß zum mindesten viele Mitläufer und Popularisierer des Expressionismus absichtlich diesen Denk- und Deutungsreiz hervorriefen, um eine, wenngleich höchst problemreiche und problematische Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und so mittelbar die Anteilnahme an sich zu binden. Den „Entfesselungs"-Künstlern entsprachen nämlich die „Verhüllungs"-Dichter, die damit nun ihrerseits die Enthüllungs-Kritiker herbeiriefen. Ermöglicht wurde dieses Wechselspiel von Abwehr der Sinnhaftigkeit und Abkehr von der Sinnhaltigkeit durch das Gefühl für den richtigen Ansatz, der zweifellos darin lag, daß Dichtung mehr auf ein Erahnen zielt als auf ein Erkennen, mehr auf ein Deuten als auf ein Denken. Und kaum war es eine bloße Schwäche Jakob Wassermanns, des Dichters des „Gänsemännchens", des „Christian Wahnschaffe", des in sich wiederum reich gegliederten „Wendekreises", wenn er das Ahnenlassen höher stellte als das Erkennenkönnen. Und das geschah nicht etwa nur im Vorraum des Expressionismus, sondern zeitparallel mit der vollen Entfaltung des Hochexpressionismus. Der „Wendekreis" umschließt im Gesamt etwa die Jahre 1920—24. Das „Gänsemännchen" liegt 1915, also zur Zeit etwa, wo Herwarth Waiden im „Sturm" den für die Entwicklung des

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Expressionismus bedeutsamen Essay „Einblick in Kunst" herausbrachte (1916). Die These Ahnung und Gegenwart aber war seit Eichendorffs Romantitel immer neu ventiliert und variiert worden, wobei die Ahnung (und Vorahnung) der Gegenwart und die Gegenwärtigkeit der Ahnung mannigfach die Rollen vertauscht und deren Deutung vertieft hatten, bis man auf die Untiefe stieß, daß Ahnung eigentlich der Zukunft und nicht der Gegenwart zugeordnet werden und zugekehrt sein sollte. In dem Augenblick aber, wo die Ahnung zur Mahnung wurde, vollzog sich die Wandlung des passiven Impressionismus zum aktiven Expressionismus, indem man etwas nicht nur erlitt, sondern auch und darüber hinaus erstritt. Wenn man auf den letzten Spitzen und Gipfeln nicht göttergleich ausruhen konnte, wie Alfred Mombert gemeint hatte („Hier ist ein Gipfel"), wenn weder die kosmische Phantastik Paul Scheerbarts, der dem „Sturm"-Kreis nahestand, das Paradies der grenzenlosen Phantasie und unbegrenzten Phantastik als „Heimat der Kunst" endgültig und vollgültig proklamieren und reklamieren konnte, wenn weder Momberts kosmischer Mythos — und auch Jakob Wassermann hatte den „Mythos" angepriesen — dem Ausdrucksdrang voll Genüge tun konnte, noch Else LaskerSchülers leicht nur gelockerte Rilkenachfolge im sanften Beschwören des Allgottes und des göttlichen Alls befriedigen konnte, so blieb nur die Flucht in die grelle Begrifflichkeit einerseits und die dämmrige Mystik andererseits. Und so war es nur folgerichtig oder angesichts des andauernden Aufsuchens und Ausspielens der Extreme im Expressionismus doch zwangsläufig, wenn ζ. B. Herwarth Waiden dekretierte: „Der Dichter begreift das Sinnliche unsinnlich, und zwar mit Hilfe des Begrifflichen". Und wenn andererseits in demselben „Sturm"-Kreise Lothar Schreyer, dessen Dramen längst vergessen sind und dessen Lyrik nur noch historisch bzw. literaturhistorisch lebt, sich zwar 1919 „Zur neuen Kunst" äußert, aber seit etwa 1925 sein Hauptinteresse der deutschen Mystik und besonders der Lehre Jakob Böhmes zuwendet. Der absolute Begriff und das Begreifen des Absoluten spielen dergestalt wunderbar und wunderlich ineinander über. Und die höchste Vernunft ist jederzeit bereit, in den tiefsten Glauben umzuschlagen. Man weist Hilfen an, um die Not zu wenden, ob nun beim göttlichen Begreifen oder beim von Gott Ergriffensein. Aber

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man ist hilflos, wo das Begreifenwollen und das Ergreifenkönnen versagen. Man flüchtet vom Inhalt zur Form, vom „Inhaltismus" (denkwürdige und dankenswerte Prägung Herbert Jherings) zum „Formalismus" (ζ. T. mißbraucht als Schlagwort und Schlagtotwort der Kunstfremdheit). „Infolgedessen sprechen ζ. B. die Sturmkünstler mehr von der Form als von Inhalt." Aber zugleich wird zum mindesten die überkommene Form als lästiger Zwang empfunden. Ernst Stadler klagt in dem Gedicht „Form ist Wollust", um eruptive und rebellierende Formsprengung bemüht, „Form will mich verschnüren und verengen" und will die „klare Härte ohn' Erbarmen", als die er die verbindliche Form empfindet, nicht demütig dulden. Franz Werfel, wohl am besten berufen, Geist und Gemüt zu versöhnen, Begriffenes und Besessenes zu verschmelzen, fällt mit dem Gedicht „Veni creator spiritus" recht eigentlich zurück auf den „Esprit createur" der Aufklärung. Aber sein Stichwort von der „Anmut des Menschlichen" im „Lebenslied" verharrt nicht im Spiel des Rokoko, und sein „Maß der Dinge" verweilt nicht im Maß des Klassischen, sondern treibt empor zum „Übermaß". Das aber besagt, daß die Übermacht der Form dennoch nicht der Formung um ihrer selbst willen froh und ihres dichterisch deutenden Auftrags ledig werden kann. Denn letzten Endes wird die Form nur als Formlosigkeit geduldet, als Formsprengung, die erst im Sprengen das Aufspringen des dichterisch fruchtbaren Keims ermöglicht und erzwingt. Kurz, die Form als Gestalt weicht der Formlosigkeit als expressiver Gewalt (August Stramm). Und die expressionistischen Theoreme widersprachen sich sowohl in der Inhaltsbewertung oder Inhaltsentwertung wie in der Formbewertung oder Formentwertung. Und daß man neben dem Formenmaß auch das Versmaß sprengte, war nur eine Folgerung aus der Relativierung aller Formen. Aber die Unsicherheit und Unselbständigkeit wird auch in diesem Sektor sichtbar, wenn man beobachtet, wie selbst die stürmischsten „Sturm"-Leute unbedenklich an die metrisch-rhythmischen Errungenschaften von Arno Holz in dessen „Phantasus" anknüpften, und zwar selbst Herwarth Waiden, dem sonst alles Verstehen und Geltenlassen vorgefundener Formen oder Formlockerungen fernliegt. Das V e r h ä l t n i s des E x p r e s s i o n i s m u s zur Z e i t p h i l o sophie wird noch vielfach unterschätzt, obwohl es von der Sonderforschung eingehend klargelegt und auch in zusammen-

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fassenden Darstellungen berücksichtigt worden ist. Deshalb sind auch hier einige, wenngleich verkürzte und vereinfachte Hinweise unentbehrlich. Mit dem Abdrängen des Expressionismus auf die „Lebensphilosophie" und auf das Antirealistische und Irreale (Emil Utitz) ist es eben doch nicht getan. Es bleibt immer mißlich, die ganze Richtung zu verneinen, um einzelne Ausnahmen zu bejahen. Denn woher konnten solche Bewährungen kommen, wenn im Wuchsgrund der Gesamtbewegung neben vielem Mürben nicht auch ein Mögliches bereitlag, das an sich und aus sich fruchtbar war und schöpferisch zeugend wie künstlerisch überzeugend werden konnte. Der konsequente Irrealismus hat wie der konsequente Realismus zum mindesten den Willen zur letzten Konsequenz für sich. Aber hinter ihm stehen auch Philosophen wie Henri Bergson, Karl Jaspers, Martin Heidegger, Ludwig Klages, Edmund Husserl und Sprachphilosophen wie ζ. B. Ernst Cassirer mit seiner Philosophie der symbolischen Formen. Hinzu treten Psychoanalytiker wie Sigmund Freud, Alfred Adler und (für den Spät- und Nach-Expressionismus) Carl Gustav Jung. Kurz, von der Phänomenologie über die Existenzialphilosophie bis hin zur Psychoanalyse reicht die philosophische Konzeption in die dichterische Produktion hinein. Die Sonderforschung hat ζ. B. mancherlei Bezüge herstellen können zwischen der Existenzialphilosophie Heideggers und der Dichtung Ernst Barlachs oder auch Franz Kafkas, zwischen Henri Bergsons intuitivem Vitalismus und den Gedichten Wilhelm Klemms oder August Stramms, wobei die Überforderung und Überanstrengung der inneren Bildhaftigkeit und deren Diskrepanz mit dem anschaubaren Darstellungsbild sowohl dem Denker wie dem Dichter eigen ist und gefährlich wird. Der Botaniker Sack fühlt sich von der letztlich biologischen Grundströmung der Naturphilosophie Bergsons merklich angezogen, zugleich ein Beispiel mehr dafür, wie bei den Expressionisten vielfach die philosophische Logik nicht nur ersetzt wird durch eine „künstlerische Logik", sondern geradezu durch eine Art von Bio-Logik im Rahmen einer symbolisch und mythisch transponierten Biologie. Bei Gottfried Benn (Arzt wie Klemm und Döblin) scheinen sich Einwirkungen Bergsons mit Nachwirkungen Nietzsches zu überschneiden, was weniger überrascht, wenn man bedenkt, daß zwischen Nietzsches Wertphilosophie und Bergsons Naturphilosophie mancherlei Berührungen bestehen. In der Dichtung Gottfried Benns werden zu28

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gleich Anregungen der Lebensphilosophie von Ludwig Klages fruchtbar, der auch unverkennbar auf die recht komplizierte Rhythmuslehre der „Sturm"-Künstler und „Sturm"-Theoretiker (bes. Lothar Schreyers) eingewirkt hat, hat doch Klages sein Hauptwerk dem Verhältnis von „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" gewidmet. Dieses grundlegende Werk trug nicht von ungefähr den Untertitel „Grundlegung einer Wissenschaft vom Ausdruck" (3/4. Auflage 1923). Die Tendenz zum Mythos und zur Metaphysik half immer wieder die Brücke schlagen. Neben der metaphysischen These steht die neurotische Hypothese, die den psychologischen und biologischen Untergrund des Expressionismus aufzuspüren trachtet (Kurt Pfister 1920). Damit wird der Expressionismus und sein poetisch-ethisches Pathos in das nur Pathologische abgedrängt. Und viel eher als das Neurotische wird die Lehre vom „Erotischen", die Lehre „Vom kosmogonischen Eros", wie sie Ludwig Klages entwickelt, dem Wesen und Wollen des Expressionismus gerecht, und zwar nicht zuletzt dadurch, daß dieser Eros sich vom engen Kontakt der Geschlechter ausweitet nicht nur im Sinne der Antike, sondern in der Richtung des Kosmischen. Es ist das letztlich nur ein Kapitel aus dem großen Buch der „Sympathie"-Vorstellungen, die weit über das soziale Mitleid hinaus sowohl die Zeitphilosophie wie den Expressionismus immer wieder so angelegentlich beschäftigen. Die „sympathetischen Gefühle", Stimmungen und Bestimmungen der Geniezeit, etwa beim jungen Schiller (vgl. Band II) nahmen manches vorweg, was nun breit ausgebaut und umständlich begründet wird. In beiden Fällen und Formen stand ein Irrationales dahinter. Für Henri Bergson steht die Sympathie nahe bei dem Instinkt. Man sympathisiert nicht aus Werturteil, überhaupt nicht aus Urteil, sondern aus Urtrieb. Man reagiert dabei mehr ästhetisch als ethisch, mehr spontan verbunden als sozial verpflichtet. Es gibt nämlich neben einer rauschhaft-erotischen Ekstase für Klages durchaus eine sympathetische Ekstase, die weit über das Geschlechtliche ins Menschliche und ins Kosmische hinausweist. Dem entspricht es, wenn im Expressionismus die Liebe zum Du überwunden und überwältigt wird durch die Liebe zum All. Die Sehnsucht nach dem Weib wird immer wieder abgelöst und erlöst von der Sehnsucht zur „Welt" und zum Weltall. Und oft ist die Geschlechterliebe nur ein Symbol für die Menschheitsliebe. Gemeinsam ist beiden das Urphänomen der Sympathie, der anthropozentrischen

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Sympathie und der übermenschlichen Sympathie. Max Scheler kann bereits eine ganze „Phänomenologie der Sympathiegefühle" entwickeln, bevor er über „Wesen und Formen der Sympathie" handelt. Aber das geschah nicht vor dem Expressionismus, sondern eigentlich schon nach dem Expressionismus, das regte nicht an, sondern war selber angeregt. Und kaum wird sich jemand finden, der etwa ernstlich behaupten wollte, daß Max Schelers bedenklich kompromiß- (und kommiß-) freudige Darlegung „Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg" (1915) — die Sympathiegefühle kamen Scheler erst sehr viel später! — die Einstellung der Expressionisten zum ersten Weltkriege beeinflußt hätte. Deshalb ist es durchaus zu begrüßen, wenn die Sonderforschung hervorhebt, daß sich Schelers phänomenologische Untersuchungen über die Sympathiegefühle keineswegs decken mit der expressionistischen Ethik. Was will es demgegenüber schon viel besagen, wenn Scheler wie der Expressionismus die Unableitbarkeit der Affekte herausarbeitet. Denn die Affekte waren für den Expressionismus gleichsam „Urphänomene". Und schon Edmund Husserl hatte für diese Urphänomene das Charakteristikum des nicht mehr Zuriickführbaren in Anspruch genommen. Ohne Urphänomene kam die Phänomenologie nicht aus. Max Scheler war wie Moritz Geiger von Edmund Husserl ausgegangen. Die „Urphänomene" Husserls sind begrifflicher als die Urbilder Ludwig Klages'. Das liegt nahe bei dem Verfasser von streng „Logischen Untersuchungen". Und insofern tendiert der abstrakte Expressionismus mehr auf Husserl als auf Klages, der weit mehr dem dynamischen, gefühlstrunkenen Expressionismus entgegen kam, obwohl Klages schon als George-Schüler dem Expressionismus, besonders in dessen extremen Ausprägungen, ablehnend gegenüberstand. Was Edmund Husserl trotz aller philosophischen Logik in Abhebung von der „künstlerischen Logik" dem Expressionismus nahebrachte, war sein Zurückgehen auf die reine „Wesensschau", sein Zurückgreifen über die Wirklichkeit auf die Wesenheit. Der impressionistischen „Reduktion" entsprach insofern eine expressionistische Reduktion, dem Willen zur Vereinfachung der Wunsch nach Vereinheitlichung, dem impressionistischen relativen Einzeldasein das expressionistische absolute „Eigensein", das die Voraussetzung ersetzte und ergänzte durch die Vereinheitlichung. Edmund Husserl legt Wert auf die „Philosophie als strenge Wissenschaft". Aber er vermag ohne Anregungen der Kunst dennoch nicht

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auszukommen. Er betont zwar den Primat des reinen Bewußtseins, in das er auch Erlebnishaftes hineinnimmt, während Ludwig Klages es abhebt. Eben deshalb mochte die abstrakte Richtung des Expressionismus in ihrer Suche und Sucht nach dem ins Bewußtsein gehobenen „Gesetz" die Denkhaltung Husserls als verwandt empfinden. Und wenn ζ. B. Adrien Turel in seinem „Genialitäts"-Essay („Die Erhebung", 2. Buch, 3. Teil) manifestiert: „Unerbittliche Mathematik der Bewußtseinsfunktionen, das ist die Parole", so war diese Parole philosophisch von E. Husserl ausgegeben worden, den die abstrakten „Gesetzes"-Verfechter des Expressionismus jedenfalls so verstehen zu dürfen glaubten. Schien doch er vor allem mit der „Wesensschau" des Logikers und Metaphysikers zugleich den „Primat des Hirns" eindrucksvoll zu reklamieren und zu personifizieren (Kaiser, Benn/Sternheim). Und die gemeinsame Orientierung an der Mathematik pflegt man wie die Bewertung der inneren Vorstellungen gegenüber den Gegebenheiten der Wirklichkeit auch dort als Wechselbezüge oder Husserlsche Einwirkungen bestehen zu lassen, wo man von der Philosophie her kritische Bedenken gegen eine allzu vorschnelle Gleichstellung betreffs der „Wesensschau" anmeldet. Dagegen dürfte die Bemerkung Wilhelm Michels in dem Essay „Tathafte Form" von den mythologischen „Flüchtungen der dem Begriff unzugänglichen Wahrheit ins Bild", also ins Bildhafte und Gleichnisfreudige eher als Anklang an Ludwig Klages zu deuten sein. Die These der Entmaterialisierung und des geistigen Triumphes der geformten und formenden Idee teilt Michel jedenfalls mit den Philosophen seiner Zeit. Und wenn für ihn die „Geschichte nur Phänomenales" kennt, so liegt darin doch wohl mehr als nur ein terminologischer Anklang an die Phänomenologie. Im Nebenbei wird aber auch Vaihingers Philosophie des „Als-Ob" gestreift. Und die These vom „übermenschlichen Bewußtsein" grenzt zum mindesten so an E. Husserls Ausweitung des „Bewußtseins", wie Extreme aneinander zu grenzen pflegen; denn Michels „Bewußtsein" ist dichterisch-seherhaft ausgeweitet, während E. Husserls Ausweitung des Bewußtseins letztlich doch streng philosophisch determiniert bleibt. Mit Recht ist von der Sonderforschung darauf hingewiesen worden, daß erst die Husserl-Schüler eine Auflockerung der Strenge des Meisters gebracht haben, bei denen denn auch eine „ Ä s t h e t i s i e r u n g " der W e s e n s s c h a u zu beobachten sei. Was den Hang zum Mystizismus (oft nur einem recht vulgären Mystizis-

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mus) im Expressionismus betrifft, so ist von fachkundiger Seite (Emil Utitz) angesichts der modischen Berufungen auf E. Husserl mit gebotenem Nachdruck auf die Warnung des Philosophen vor den U n t i e f e n des T i e f s i n n s hingewiesen worden. Denn unüberhörbar ist Husserls Mahnwort: „Tiefsinn ist ein Anzeichen des Chaos" sowie seine Forderung an den Philosophen, aus dem Chaos einen in sich geordneten, begrifflich klaren Kosmos zu machen. „Tiefsinn" gehört bestenfalls in die Lebensweisheitslehre, nicht in die reine verantwortungsbewußte Philosophie. Es war letzten Endes nur folgerichtig, wenn die Lebensphilosophie einen Kompromiß anstrebte zwischen Wahrheit und Weisheit, zwischen Erkennen und Erahnen. Aber schon mit dem Postulat seiner Urphänomene und dem Verfahren der Wesensschau hatte Husserl ungewollt einen derartigen Kompromiß vorbereitet, der nun von vornherein den Vorteil versprach, nicht nur ein Kompromiß zu sein, sondern eine Komprimierung, eine „Verdichtung" von Wahrheit und Weisheit. Man scheute von der Philosophie her vor allem die krankhaft-krampfhaften Äußerungsweisen und Erscheinungsformen des Expressionismus. Selbst wenn Jaspers in seinem Beitrag über „Strindberg und van Gogh", kennzeichnenderweise im Rahmen von Beiträgen zur angewandten Psychiatrie (Jaspers kommt von der Medizin her!), den Expressionismus in die Nachbarschaft mit der Schizophrenie rückt, so geschieht das zwar nicht ohne jenen Vorbehalt eines fruchtbaren Kontakts zwischen Künstlersein und Kranksein (vgl. von anderer Seite her Thomas Manns „Doktor Faustus") und also nicht aus der entschlossenen Angriffsposition der „Überwindung des Expressionismus" von Emil Utitz, aber doch im merklichen Bemühen um Wahrung der philosophischen Würde und Distanz. Man verleugnete hier doch wohl ein wenig diejenigen, denen man — auch als Existenzphilosoph — manches zu danken hatte, oder man bagatellisierte doch wohl ein wenig geflissentlich die zweifellos von dorther empfangenen Anregungen. War man doch letztlich auch geneigt und genötigt, jene Grenzfälle zwischen Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, zwischen Seins-Immanenz und Seins-Transzendenz vorzüglich auszusuchen, die von der expressionistischen Dichtung bevorzugt worden waren. Und wenn Martin Heidegger in seinem Hölderlin-Aufsatz das wahre So-sein und Da-sein des Dichters, den geistigen Ort des Dichtertums ansiedelt und ansetzt in einem Zwischenreich zwischen den Göttern und den Menschen oder genauer zwischen den

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verlorenen Göttern (Hölderlins) und dem erst noch und neu zu gewinnenden Gott (des Christentums), so hat auch die Existenzialphilosophie weit mehr von diesem „Zwischen", als sie selber einsehen und zugestehen möchte. Daseinsdeutung und D i c h tungsdeutung stehen nämlich gerade in jener Kultursituation nicht im Ausschluß voneinander, sondern im Austausch miteinander. Nicht nur Lebensphilosophie und Literaturphilosophie nähern sich nach Art der Romantik weitgehend einander — weitgehender als es die zünftige Philosophie sich eingestehen und wahrhaben möchte —, sondern auch Phänomenologie und L i t e r a turphilosophie und damit auch Existenzialphilosophie (als freilich sehr entwicklungsfreudige Sproßform der Phänomenologie) und Literaturphilosophie, ja Kunstphilosophie überhaupt, erscheinen schier unentwirrbar und in den Kernkräften schlechthin untrennbar (oder doch nur recht künstlich trennbar und unterscheidbar) verflochten. Der enttäuschte Überdruß an Rationalismus, Positivismus, billigem und als vorweggenommen empfundenem Optimismus nährte sie aus letztlich denselben Quellen. Dem Dünkel des Autonomen wurde eine neue Demut des Theonomen entgegengestellt. Und nicht zufällig ergeben sich von dieser Spannung des Bewußten und Unbewußten gewisse Parallelerscheinungen mit der Gotik, dem Barock und der Romantik. Nur war die Spannung noch gewachsen durch die Berührung der Phänomenologie mit der Ontologie und durch den hohen philosophischen Anspruch auf eine Problembewältigung, welche die Künstler instinktnäher auf ihre Art in Angriff genommen hatten. Verweilt man vorerst noch ein wenig bei dem V e r h ä l t n i s zur Philosophie, so ist es nicht immer leicht, eindeutig zu entscheiden, was denn nun wirklich die Philosophie dem Expressionismus und was womöglich bereits der Expressionismus seinerseits der Philosophie gegeben oder zum mindesten zurückgegeben hat. Denn manchmal (vielleicht sogar recht oft) liegen die Dinge m. E. ähnlich wie seinerzeit in der Romantik, wo nicht nur die Dichtung einen Zuwachs aus der Philosophie gewann, sondern auch umgekehrt die Philosophie manche Ermutigung und Ermächtigung zu kühnen Kombinationen und Ideen-Konstruktionen aus der Dichtung und durch das Dichterische im Denken erfuhr. So dürfte ζ. B. der Philosoph Max Scheler, den man mit Theodor Däubler in Bezug gesetzt hat, wobei Däubler in manchem Betracht weiter vorgedrungen sei als Scheler, manches übernommen haben vom Expressionismus,

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nicht nur hinsichtlich der „Stellung des Menschen im Kosmos". Vollends beimVerhältnis der Existenzialphilosophie zum Expressionismus scheint die Frage der Priorität häufiger, als vielfach noch angenommen, zugunsten der Dichtung entschieden werden zu müssen. Darüber kann nicht der Umstand hinwegtäuschen, daß die Hauptvertreter der Existenzialphilosophie (Karl Jaspers, Martin Heidegger) sich nicht immer gerade dankbar vom Hochexpressionismus distanzieren zu müssen meinten. Schon von anderer Seite ist ζ. B. die Frage aufgeworfen worden, ob nicht der Aufsatz über „Tathafte Form" von Wilhelm Michel in der „Erhebung" 1920 mit seinem Anknüpfen an Hölderlin und seiner These von der Notwendigkeit eines Erlebt- und Erlittenhabens des bedrohenden „Nichts" anregend, ja grundlegend gewesen sei für Heideggers späteren Beitrag über „Hölderlin und das Wesen der Dichtung" (!937)·

Wer kann so genau und verläßlich oder gar apodiktisch entscheiden, ob das sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus nicht ebenso stark das Gepräge Hölderlins als das Hegels oder Schellings aufweist ? Und wer könnte so genau unterscheiden, ob das frühzeitig sich ankündigende Lebensgefühl des Expressionismus das Primäre gewesen ist oder die Konzeption der Lebensphilosophie. Freilich sichert Nietzsche der Philosophie den Vorsprung. Aber war nicht auch sie die Philosophie eines „verirrten" Künstlers ? Und ist es nur Zufall, daß Ludwig Klages aus dem Kreise um Stefan George, also aus einem Dichterkreise kommt, und daß einer der frühesten Interpreten, der Impressionismus und Expressionismus zusammen zu stellen unternahm und über den Expressionismus in der bildenden Kunst manches Aufschlußreiche zu bieten wußte, Kurt Breysig („Eindruckskunst und Ausdruckskunst", Berlin 1927), ebenfalls aus diesem doch so ganz auf den Primat der reinen Kunst eingestellten und bewußtselbstbewußt eingeschränkten Dichterkreise um Stefan George kam? W i l h e l m K l e m m (geb. 1881) wirft in einer der typischen expressionistischen Ideendichtungen, die er „Die Philosophie" nennt, die Frage auf, ob uns die Philosophie wirklich Erkenntnis, Erkenntnis des Wesentlichen und Lebenswichtigen, der Weltansicht und Lebenseinsicht gebracht habe. Und er verneint sie schmerzlich, nicht anmaßend. In seinem verzweifelt ringenden Zeitgedicht „Meine Zeit" erklärt und beklagt er seine Zeitgenossen als

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„daseinsarm im Wissen". Das wirkt wie eine Verwarnung und Vermahnung des Dünkels der Naturwissenschaften, aber darüber hinaus fast wie eine Vorahnung der Existenzialphilosophie. Die vielberufene „Symbiose von Philosophie und Dichtung" entbehrt also nicht der kämpferischen Spannungen und Anspannungen. Und derartige schmerzliche Absagen sollten davor warnen, sich das Verhältnis Philosophie — Dichtkunst allzu herzlich und einträchtig vorzustellen. Die Dichtkunst und mehr und berechtigter wohl noch die Theorie der Dichtkunst war sich in jenen ebenso turbulenten wie hellsichtigen Jahren durchaus bewußt, im Verhältnis zur Philosophie nicht immer nur der nehmende Teil zu sein. Fühlte doch die geistig wache Philosophie selber am besten, daß sie ohne das Verfahren der Kunst, ohne das Ahnen der Kunst, ohne den Lebensimpuls der Kunst, ohne die Intuition der Kunst nicht recht weiter konnte. Und es war nur eine kecke Konsequenz, aber auch eine kühne Konstruktion, wenn gegen Ausklang und Ausgang des Expressionismus ein eigenwegig und eigenwillig strebender, denkender und deutender Kunstwissenschaftler wie W i l h e l m W o r r i n g e r (geb. 1881), dessen „Abstraktion und Einfühlung" (1919) manches formulierte, was die Expressionisten erstrebt hatten, in einem Münchener Vortrag vor der Goethegesellschaft über „Künstlerische Zeitfragen" (1921) für die Kunstdeutung in Anspruch nahm, was die Kunstübung schlechterdings nicht zu leisten vermochte. Denn ihm erschien das Unterfangen des Expressionismus, einen primitiven und intuitiven Typus zu rekonstruieren und zu rehabilitieren, schlechterdings unmöglich und bestenfalls vertretbar im Sinne von Vaihingers Philosophie des „Als-Ob". Die Expressionisten taten so, „als ob" mitten im sentimentalischen Zeitalter noch ein naiver Mensch' möglich, „als ob" mitten im Komplizierten noch ein Kompressiertes, mitten im Problematischen noch ein Primitives möglich sei. Aber ihre Fiktion erwies sich als Illusion, ihre Theorie als Utopie. Dem Kunstdeuter gebührt jene begriffliche Dichte, die sie für Dichtung hielten. Das erinnert freilich etwas bedenklich an die Literaturgeschichte ohne Verfassernamen, die zeitweise propagiert wurde und sehr an das Ausspielen der Konzeption des Regisseurs gegen die Produktion des Dramatikers. Schon der Umstand, daß Kunsthistoriker und Kunstkritiker wie W. Worringer oder auch P a u l F e c h t e r (1880—1958) so Beachtliches über den Expressionismus auszusagen vermochten, er-

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innert daran, daß eine weitgehende G r e n z ü b e r s c h r e i t u n g der N a c h b a r k ü n s t e im Expressionismus erfolgte. Irgendwie schwebte ihnen, entfernt von R. Wagners „Gesamtkunstwerk" und dennoch ihm „entfernf" verwandt, so etwas vor wie eine Indienststellung aller Künste unter demselben Prinzip (vgl. Band II). Ein mehr äußerliches Merkmal für eine derartige Synthese ist die Doppelbegabung und Doppelbetätigung mancher expressionistischen Künstler. Besonders eng war die Verbindung zwischen bildender Kunst und Dichtkunst. Ernst Barlach, Oskar Kokoschka sind Bildner und Dichter zugleich. Aber auch die ausgeprägten Maler Kandinsky und Meidner dichten zugleich, wie Franz Marc künstlerisch beachtliche Aphorismen verfaßt, und andererseits versuchen sich die Dichter Theodor Däubler und Else Lasker-Schüler in der bildenden Kunst. Das ist gar nicht so verwunderlich. Denn die Darstellungsmittel besagten wenig, wo der künstlerische Ausdruckswille dominierte. Merkwürdiger und eigenartiger erscheint schon, daß jede Kunst zu glauben scheint, die Schwesterkunst könnte das besser aussagen und fruchtbarer austragen, was ihr selber versagt schien oder doch viel Schwierigkeiten vom Material her bereitete. Die bildende Kunst nämlich versuchte von der Poesie zu profitieren im Bewältigen des Geistig-Abstrakten. Und nicht zufällig hat man von „ihren fast literarisch ausdrucksmäßig angespannten (d. h. überspannten) Mitteln" gesprochen (Fritz Martini). Die Wortkunst ihrerseits versuchte durch Anlehnungen und Anleihen bildkünstlerischer Art, den Sinn in das Symbol und selbst in die Allegorie hineinzuformen. Zudem schien in der bildenden Kunst der Unterschied von innerer Wesensschau und äußerer DingAnschauung viel prägnanter und verblüffender zur Wirkung zu kommen als im geistigen Medium der Sprache. Der Dichter beneidete damals gleichsam den bildenden Künstler um dessen Sprachlosigkeit, weil in ihr weniger Gelegenheit und Verführung zum gefürchteten und auch kunsttheoretisch verfemten Sündenfall der Erkenntnis durch Wortwerdung und damit Bewußtwerdung lag. Und der bildendete Künstler beneidet seinerseits den Dichter um dessen größere geistig-deutende Abstraktionsfähigkeit und begriffliche Prägnanz und Präzision. Der Dichter umhüllte sich mit oft wild umhergewirbelten Bildfetzen, er „bilderte", symbolisierte, allegorisierte. Der bildende Künstler dagegen suchte geistig zu illuminieren und bedeutsam zu illustrieren. Er illu-

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strierte gleichsam seine inneren Gedichte, während der Dichter seine inneren Gesichte irgendwie zur Schau zu stellen versuchte. Jeder brach dem anderen ins Gehege ohne jede Rücksicht auf die Darstellungsmittel und Darstellungsgrenzen seiner Sonderkunst. Der „Laokoon" war weit entrückt. Wer wollte von Grenzen reden, da alles Entgrenzung und Verbrüderung pries! Und wenn die Grenzen zwischen Kunst und Philosophie sich auflösten, wieviel leichter schien es, die Grenzen zwischen den Sonderkünsten zu entbehren. Die Dynamik selbst einer rasenden Bewegung und Rhythmik, also den „dynamischen Expressionismus", den man wohl zu unterscheiden versucht hat vom „abstrakten Expressionismus", nahm die Bildkunst ebensogut für sich in Anspruch wie die Wortkunst. Aber sie glaubte auch nicht Verzicht leisten zu dürfen auf die Ausdrucksmöglichkeiten des Abstrakten, wie es besonders im Kubismus vorherrscht. Rilke hatte sich im Raum des neuromantischen Impressionismus bereits von der plastischen Kunst Rodins und der malerischen Kunst C6zannes mannigfach anregen lassen. Er bewunderte die Beherrschung der kunsthandwerklichen Technik. Aber er war sich noch klar darüber gewesen, daß der Materialstil der Schwesterkunst sich nicht einfach übernehmen ließe, daß er vielmehr sein eigenes, dichterisches Handwerkszeug ebenso beherrschen lernen müsse. Schon im Worpsweder Malerkreis hatte er eine Vorstufe dieser Kunsterkenntnis erreicht. Dabei sei nicht verkannt, daß er sich in der künstlerischen Intensität mancher Dinggedichte, aber auch in manchem Gedicht vom Typus des Seelisch-Intuitiven (religiöse Lyrik, kosmische Lyrik) grenzweise dem Expressionismus annäherte. Jedenfalls haben auch von ihm und nicht zuletzt von ihm besonders die Frühexpressionisten gelernt (Georg Heym). Und was das Vorbild Cezanne betrifft, so pflegt man ihn in der Kunstgeschichte als Übergangserscheinung zwischen Impressionismus und Expressionismus zu interpretieren. Aber die Macht über das eigenkünstlerische Darstellungsmittel, um die Rilke rang, wich nun mehr und mehr einem berückenden und berauschenden Gefühl der Allmacht über alle künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und den (uneingestandenen kunsttechnischen) Darstellungsmöglichkeiten. Die Berechtigung zur Grenzüberschreitung leitete man relativ überzeugend ab von dem neu entdeckten Bewußtsein, daß die Urformen der Konzeption und Vision bei allen Künsten gleich seien. Und auf das Erfassen und

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Freilegen dieser unter Traditionen und Konventionen verschütteten Urformen und deren möglichst unmittelbaren Ausdruck kam es vor allem an. Wo sich die Wege der Künste trennten, waren es im Sinne des strengen, konsequenten Expressionismus eigentlich immer schon Abwege und Umwege. Wie die Nationen in der Menschheit, so sollten die Künste in der Kunst schlechtweg aufgehoben sein. Und der kosmischen Entgrenzung entsprach die künstlerische Entgrenzung. Über alles Begrenzte und Umschränkte vorzustoßen mit der Lebensschwungkraft gefühlsstarker Dynamik oder vorzudringen mit der geistigen Weite des Begrifflich-Abstrakten in das Unumschränkte und Grenzenlose galt als Funktion und Mission, aber auch im Doppelsinne des Wortes als Passion der „absoluten" Kunst. Unerheblich mußte diesem alles verbindenden und allverbindlichen (auch „All*'-verbindlichen) Impuls gegenüber bleiben, von welcher Kunst jeweils die Erkundung ausging. Ob der einzelne Künstler nun Julien-Auguste Herve hieß, der jedenfalls einen eigenen Bilderzyklus schon 1901 unter dem Kennwort „Expressionisme" zusammengefaßt hat oder Henri Matisse oder Gino Severini oder Pablo Picasso oder Kandinsky, Max Pechstein, Max Beckmann, Ludwig Meidner, Alexander Archipenko usw.; und auf der anderen Seite, ob es sich um Georg Heym oder Georg Trakl oder Gottfried Benn und Franz Werfel handelte oder um Kasimir Edschmid, Georg Kaiser, Fritz von Unruh, Walter Hasenclever u. a. m.: entscheidend war jenes Ergreifen der Urerlebnisse, der inneren Bildnisse, war die Wesensschau jenseits und vor aller nachträglichen Formung, die sich am besten beschränkte auf eine unverfälschte und unverbildete Aufzeichnung der inneren „Vorschrift". Die einzelnen abgestuften Darstellungsmittel und Formungstechniken der Einzelkünste kamen gleichsam gar nicht erst zum Tragen. Das schöpferische Produzieren ging eruptiv, expressiv vor sich, nicht pflegsam betreut von dem Verfeinerungsvorgang der jeweiligen Kunstmittel. War doch Kunst nicht wie einst für die Klassik der Karl Philipp Moritz, Winckelmann, Goethe ein „In sich selbst Vollendetes" (ohne irgendeinen ironischen Nebenton). Gewisse Berührungen mit der Literaturphilosophie der Romantik (vgl. Band III) sind jedoch unverkennbar: so etwa die Andeutung eines Unendlichen in einem Endlichen (Kunstwerk) und die Hindeutung wiederum dieses Endlichen auf das Unendliche, die Hochschätzung der Skizze, des

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Fragmentarischen und Aphoristischen, die streckenweise Ü b e r l e g e n h e i t der K u n s t t h e o r i e im V e r g l e i c h mit dem K u n s t s c h a f f e n , der V o r r a n g der D i c h t u n g s d e u t u n g v o r der D i c h t u n g s ü b u n g und nicht zuletzt die Tendenz zur Entgrenzung, zur Synästhesie nicht nur, sondern auch zur Verschmelzung der Künste wie der Kunstgattungen. Unter ihnen darf die M u s i k a l s S o n d e r k u n s t nicht übersehen werden, galt sie der expressionistischen Kunsttheorie doch geradezu als Ausgangs- und Ursprungskunst gemäß ihrer Überlegenheit in der Unmittelbarkeit des Ausdrucks. Auch in diesem Zug zum Musikalischen bestätigt sich eine gewisse Verwandtschaft mit der Romantik. Im Rahmen der „Sturm"-Lehre, die mit ihrer besonders von Lothar Schreyer reich ausgebildeten Lehre vom Rhythmus von vornherein von der Musik lernt, erklärt ζ. B. Rudolf Blümner kurz und bündig: „Was wir heute Dichtkunst nennen, gehört vom Ur-Beginn zur Kunst der Töne" (in „Die absolute Schauspielkunst" 1926). Erinnert sei an die Konzeption Heinrich von Kleist, aus dem „Generalbaß" wie von der Musik überhaupt Gesetze für die Poesie abzuleiten. Es ist nun nicht so, daß etwa nur die „dynamische" gefühlsbetonte Richtung Antriebe bei der Musik suchte. Vielmehr griff auch die abstrakte Dichtung der strengen „Gesetze" auf die Musik zurück, und zwar auf deren abstrakt faßbare Zahlenverhältnisse. Und eine gewisse Zahlenmystik, noch spürbar im „Glasperlenspiel" Hermann Hesses, mußte die Brücke zwischen beiden Richtungen schlagen helfen. Von der werkimmanenten Poetik aus gesehen, ergibt sich sogar der Gesamteindruck (bei dem naturgemäß individuelle musikalische Anlagen zu kurz kommen müssen), daß im Expressionismus dieses abstrakte Verhältnis zur Musik und deren Zahlengesetz überwiegt, während im neuromantischen Impressionismus im Gesamt des Kunstwollens und der Kunstwirkung die Musikalität mit ihrer genießenden, fließenden Klangfreude (bis hin zur bloßen Wortmusik) unverkennbar überwog. Das erhellt schon daraus, daß die stimmungszarte lyrische Meditation der Neuromantik im expressionistischen Kunstschaffen weitgehend abgewehrt und abgewertet wurde. Aber in der Theorie bezog man die Musik durchaus als wesentlich und als wesensverwandt ein in den K o s m o s der K ü n s t e , den man zur All-Kunst auszuweiten hoffte. Und unter den theoretischen Aufsätzen, die Alfred Wolfensteins Dich-

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ter-Jahrbuch „Die Erhebung" (1920) angefügt worden waren, fehlt denn auch nicht ein Sonder-Essay von H e r m a n n S c h e r c h e n (geb. 1891) über „Das neue Führertum in der Musik", der hier, wie überhaupt in seinem Wirken als Dirigent, merklich die Vorurteile gegen Mahler, Bruckner und Schönberg bekämpfen und den Weg zu ihrer gerechten Würdigung freibrechen helfen soll. Unter ihnen sei Gustav Mahler der Zeitnahe und Volksnahe, der seine achte Symphonie nicht zufällig der „deutschen Nation" gewidmet und der ein Aufgreifen von volkstümlichen Wanderlied-, Marsch- und Tanzrhythmen, selbst vermeintliche „Trivialitäten" um der schlichten Echtheit willen nicht gescheut habe, während seine angeblichen „Verschrobenheiten" doch zugleich seine Eigenwegigkeit und Eigenwilligkeit andeuten. Der im besten Sinne „einfältige Gottsucher" Anton Bruckner habe die großen „mystischen Erschütterungen" gewagt; er sei aber eigentlich „unserer Zeit" fremd, weil er das schlechthin Zeitlose, die absolute „Zeitlosigkeit" anstrebe. Arnold Schönberg endlich verfüge über wirklich „neue Formen", wie er denn überhaupt weniger die zeitlichen Notwendigkeiten als die zukünftigen Möglichkeiten verwirklicht oder doch vorausgeahnt habe. Ihm vorzüglich und vorab eignet die visionäre Haltung und Gestaltung als dem „visionären Gestalter zart verborgenster Sehnsüchte". Leider hält sich dieser pathetische Essay bei seinen musiktheoretischen Paraphrasen nicht frei von geschwollenen Phrasen, und die massige Begeisterung muß für den mangelnden Geist künstlich-kärglich schadlos halten. Es gelingt nicht, dieses „neue Führertum" in der Musik wirklich in das Kunstwollen des Expressionismus hinüber zu „führen". Im Grunde mochte das nicht zuletzt daran liegen, weil der Ausdruck des Unmittelbaren, die Spontaneität des Gefühlsausbruchs, die Unbefangenheit eines ganz Gefangenseins in der ahnungsvollen Aussage eines „Unsäglichen", eines Unsagbaren v o n a l t e r s h e r der M u s i k e i g e n war und nicht erst neu erworben oder gar neutönig im Sinne eines „absoluten" Neutönertums erzwungen oder krampfigkrampfhaft erpreßt und eruptiv emporgepreßt werden mußte. Die Musik brauchte sich, so verstanden, nur auf ihr altes Erbe zu besinnen, um den Wortexpressionismus zur Besinnung zu bringen, daß er letztlich nahe daran war, ein Erbschleicher zu werden. Aber diesen Vorwurf kann man gegen die musikalischen Ambitionen und Annexionen der Neuromantik mindestens mit

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demselben Recht erheben wie gegen den dichterischen Expressionismus, der der Musik mehr im allgemeinen nacheiferte, während die Neuromantik und der neuromantische Impressionismus sie bis ins Detail nachzuahmen und nachzubilden versuchte. Alles das oder doch das meiste von dem, was die expressionistische Dichtung zu leisten vorhatte oder vorgab, kam den Darstellungsmöglichkeiten und den Darstellungsmitteln nach recht eigentlich der Musik zu. Denn nur sie ging wirklich aus vom Intuitiven und Primitiven, vom Unbewußten und Spontanen. Und wenn kluge Kritiker (wie ζ. B. Julius Bab) im Expressionismus ein Neuaufleben des lyrischen Dramas (und das bedeutete einst im 18. Jahrhundert ein ernstes Singspiel) verzeichneten, indem so manches expressionistische Drama ihnen letzten Endes wie „angeschwollene Lyrik" erschien (J. Bab: „Chronik des deutschen Dramas"), so bestätigt das nur vom Gattungstypologischen aus jene allgemeine Tendenz eines hoffnungslosen Wettbewerbs der Poesie mit der Musik. Denn die Musik hatte nicht nur den entwicklungsgeschichtlichen Vorsprung, sondern auch den darstellungsmäßigen und ausdrucksmäßigen Vorteil durchaus eindeutig für sich. Es ist in diesem Sinne keineswegs launige Lässigkeit, wenn die Sekundärliteratur über den Expressionismus so sichtbar dessen Lyrik bevorzugt. Denn sie hatte am meisten Aussicht, es mit der von vornherein überlegenen Musik wenigstens einigermaßen aufnehmen zu können. Der Expressionismus gebärdete sich in der Wortkunst und Bildkunst nur so verwegen, weil er heimlich (bis unheimlich) die Musik als überlegen vor sich und über sich spürte. Denn der unmittelbare, unintellektuelle Ausdruck ist Gabe und Aufgabe der Musik, nicht aber der Wortkunst und Bildkunst, Eben deshalb erstrebte der „abstrakte" Expressionismus als „absolute" Kunst ein geistiges Reservat für sich, das für die Musik nicht relevant sein konnte. Das dämonische Dunkel der Musik entzog sich von vornherein weitgehend der rein geistigen Deutung. Ihre holde Erhebung bedurfte nicht der brutalen Erhellung. In ihrem Bereich wurde das Abstrakte sehr bald zum Abstrusen. Und sie unterschied das ihr Zuträgliche weit unbeirrter von dem ihr nur zeitgemäß Zugetragenen als die Wortkunst und die Bildkunst. Sie war an den „Ausdruck" des Unmittelbaren viel zu gewöhnt, als daß ihr die Ausdruckskunst als gar so neuartig erscheinen konnte. Sie gab dem Abstrakten und Absoluten wohl ein wenig nach, aber ohne sich selber aufzugeben

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und aufzuheben. Ihr hatte das „Vermächtnis des dichterischen Expressionismus" (Κ. H. Bühner, in „Die Literatur", Jg. 31, 1928/29) nichts an echter Bereicherung zu „vermachen". Eben darin lag ihre Größe; aber auch ihre wohlerwogene Grenze gegenüber dem dichterischen und bildkünstlerischen Expressionismus. Ihr war die „Logik des Rhythmus" nichts weniger als neu, die für die Wortkunst besonders Lothar Schreyer als ein Wesentliches für „Die neue K u n s t " heraustüftelte und anpreisend herausstellte. Das bedeutet nicht, daß sie von der neuen Strömung unbeeinflußt und unberührt geblieben wäre. Aber so überrascht und überrannt wie die Dichtkunst konnte sie von ihr nicht werden. Und die „Schöpfung im Rhythmus des neuen Europa" vom Arbeiterdichter Gerrit Engelke (1891 —1918; erschien postum 1921) konnte für sie keine „absolute" Neuschöpfung darstellen. Auch die T a n z k u n s t war längst, soweit sie nicht konventionell erstarrt war, auf den Ausdruck eingestellt. Schon H. v . Kleist hatte das in seiner denkwürdigen Abhandlung „Über das Marionettentheater" erkannt oder doch berührt. Der Kultus und die Kultur der „Ausdrucksbewegung" in der Epoche des Expressionismus mußte aber der Kunst der rhythmischen Körperbewegung neuen Auftrieb verleihen. Wenn für die Kunsttheorie der „Sturm"Theoretiker der Rhythmus das „allen Künsten Gemeinsame" darstellte, so konnte billigerweise der Tanz nicht außer Betracht und ohne Bewertung bleiben. War doch das „rhythmische Gesetz", das man in diesem Kreise für die Wortkunst in Anspruch nahm, viel wesenseigener dem Tanz eingekörpert. Und wenn auch die gelegentlich vertretene Meinung, daß es eigentlich die Tanzkunst gewesen sei, die dem Expressionismus am meisten zu danken habe, als einseitig und übertrieben abgewehrt werden muß, wenn auch Ludwig Klages mit seiner „Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft" keineswegs vor allem auf den Tanz abzielte, so ist dennoch das Tänzerische, ganz abgesehen von Nietzsches Konzeption und Vision des tänzerischen Propheten, sowohl im Eigenbezirk als beim Übergreifen auf die Dichtkunst (ζ. B . in Arnolt Bronnens dramatisch-musikalischem Szenarium „Die Geburt der Jugend", abgedruckt in der ,.Erhebung" 1920) wesentlich am Kunstwollen des Expressionismus beteiligt. Und wie der Tanz neben der Musik steht die A r c h i t e k t u r neben der Malerei und Plastik. Kein Wunder, wenn ihr unter den Anhangs-Essays der „Erhebung" B r u n o T a u t einen eigenen

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Essay über die „Architektur neuer Gemeinschaft" widmet, wobei die Architektur als „Kristallisation des Gemeinschaftsgefühls" aufgefaßt wird. Er hat sogar ein Architekturschauspiel (er selber nennt es so) verfaßt unter dem pompös pathetischen Titel „Der Weltbaumeister". Begreifbar, wenn er in holder Eintracht mit der absoluten Kunst allen Ernstes den „absoluten Phantasten" als idealen Architekten empfiehlt und wenn er in Verfolg der offenbar vom Herausgeber angeregten Leit-These einer Verschmelzung von Sozialismus und Christentum noch über jedem „Stall" den Stern von Bethlehem leuchten sieht, wenn er irgendwie eine „Himmelsleiter" erbauen möchte, um die Sehnsucht nach einer „Gestalt des Glaubens" zu befriedigen. Zweckform und „Spielform" müssen eine höhere Synthese eingehen, um in dem neuen Kunstwollen wirksam aufzugehen. Der Bauwille des einzelnen, der an sich „erfühlt" werden will, muß sich dem Kunstwollen der Gemeinschaft unterordnen. Erheblicher für das Wechselspiel der Künste und deren geduldete, ja herausgeforderte Grenzüberschreitungen ist der Hinweis auf Mozart (I) und die Musik. Das Wort von der Architektur als einer „gefrorenen Musik", das eigentlich fällig wäre, fällt zwar nicht, aber es wird zu bedenken gegeben, daß „Rhythmus" wohl periodischer Gleichklang sei, aber noch „nicht Musik". Der absolute Phantast Paul Scheerbart, der in diesem Zusammenhange nicht ohne Berechtigung auftritt, muß zu dem Zitat verhelfen: „Im Stil ist das Spiel das Ziel — Im Spiel ist das Ziel der Stil — Am Ziel ist der Stil das Spiel". Ornament, Hieroglyphe, Arabeske finden Gnade, „Formprobleme" aber werden ungnädig abgetan. Worauf es hier ankam, war der Nachweis einer wechselseitigen „Erhebung" mehr als Erhellung der einzelnen Künste gemäß den entsprechenden Darlegungen in L. Sabanejews Essay „Prometheus von Skrjabin" (in „Der blaue Reiter", München 1914) mit Bezug auf ein bereits frühexpressionistisch gefärbtes „Prometheus"Mysterium des Russen Skrjabin. Im religiösen Kultus nämlich habe sich die „Idee der Vereinbarung (wahrscheinlich Vereinigung) der Künste" noch greifbar und begreifbar behauptet. Das Grenzenlose der Vision und Ekstase duldet schlechtweg keine Grenzen. Die Stellung des Expressionismus zur N a t u r w i s s e n s c h a f t ist zwiespältig. Seine Stellung zur experimentellen Psychologie sogar durchweg ablehnend. Wesentlich anders steht es mit seinem Verhältnis zur P s y c h o a n a l y s e . Denn sie versprach ein

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Durchdringen des Scheins und ein Vordringen zum „Eigentlichen", Wesentlichen, Triebhaft-Primitiven, Unbewußten nun auch im Raum der seelischen Kräfte und Funktionen. Deshalb mag es relativ gerechtfertigt sein, wenn erst hier eine Skizze der Anregungen eingebaut wird, die von S i g m u n d F r e u d (1856—1939) ausgingen, obwohl sie fraglos schon vor dem vollen Einsetzen des Expressionismus wirksam gewesen sind. Aber jetzt beschäftigt man sich von dichterischer Seite auch theoretisch mit seiner lebhaft diskutierten und umstrittenen Lehre, so ζ. B. Ludwig Rubiner in der „Aktion" Franz Pfemferts durch Beiträge wie „Erwähnung zur Psychoanalyse" oder „Uff — die Psychoanalyse" (1913). Und in demselben Jahrgang fanden sich Artikel von Otto Groß „Die Psychoanalyse oder Wir Kliniker" und polemisch „Ludwig Rubiners Psychoanalyse". Arnolt Bronnens Drama „Vatermord" (geschrieben ebenfalls 1913) oder Franz Werfeis Novelle „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig" wären ohne Freuds Einflüsse kaum in dieser Motivkonstellation entstanden. Auch bot der expressionistische Hang zur Metaphysik mancherlei Anknüpfungsmöglichkeiten für das, was Freud in bewußter Analogiebildung „Metapsychologie" nannte, woraus dann durch eine Art von Ironie und tieferer Bedeutung am Ende die Tiefen-Psychologie wurde. Wer die Einwirkung der Psychoanalyse auf die Dichtkunst befragt, also von der Poetik her gesehen: die Einwirkung der von S. Freud erschlossenen seelischen Welt mit ihrem Zweipolprinzip: Eros und Destruktionstrieb, ihrem Ödipuskomplex, ihren TraumaKomplexen, Verdrängungen, Minderwertigkeitsgefühlen, Kompensationen, Uberkompensationen, Abreaktionen usw., der wird sich bald klar werden, daß nicht allein Freud eingewirkt hat. Denn obwohl sein inneres Verhältnis zur und sein tieferes Verständnis für die Literatur nach allen bislang zugänglichen Zeugnissen (viele wurden von S. Freud planvoll abgedrosselt, weil ihm das Analysieren wesentlich lieber war als das Analysiertwerden) einigermaßen unzulänglich gewesen zu sein scheint, jedenfalls nicht überschätzt werden sollte, lag es doch für ihn nahe, auf der Beleg- und Beweissuche für seine Konzeption auch an der Literatur nicht ganz vorüberzugehen. Aber ihn interessierte demgemäß der Inhalt, der Stoff, das Motiv, nicht vorab die künstlerische Formung. Das war bei einem Mediziner letztlich nur in Ordnung. Kein Wunder, daß seine eingehendste Studie in literarischer Richtung einem recht mittelmäßigen Novellisten gilt, der eigent29

M a r k w a r d t , Poetik V

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W E G S U C H E N ZWISCHEN IMPRESSIONISMUS UND EXPRESSIONISMUS

lieh nur noch bekannt geblieben ist, weil er wohl der engste Freund Wilhelm Raabes war, Wilhelm Jensen, der nun wiederum durch eben diese Berücksichtigung seitens Freuds noch einige Zeit vor dem völligen Vergessensein bewahrt bleiben dürfte. Es handelt sich um eine recht mittelmäßige Novelle, die Freud selber als solche erkennt und benennt, freilich mehr in Übernahme der üblichen Urteile als aus eigenem ästhetischem Urteilsvermögen. Der Titel klärt von vornherein, was S. Freud zu dieser Publikation veranlaßte: er lautet „Der Wahn und die Träume in W. Jensens 3°5» 3 I 5. 351» 368, 374, 384/85. 399. 4°°. 402, 417, 418 (Bezug auf das Volk), (Rodin), 475 (Abwehr des industriellen Fortschritts), 486 (Stellung z. Wissensch.) u. ö. S. 199. S o n d e r u n t e r s u c h u n g . — H a n s D a h m e n : Lehren über Kunst und Weltanschauung im Kreise um Stefan George, Marburg 1920. Rückgriff auf G. H. Schubert im „Anhang" S. 55 f. Was G. H. Schubert mit Stefan George zu schaffen hat, wird nicht deutlich. H. Dahmen hält sich vor allem an Fr. Gundolf, Wolters u. a. Demgegenüber kommen die „Blätter

für die Kunst"

n u r unzulänglich u n d

George

selber kaum zu Wort. Leider hat die anspruchsvolle Titelgebung offenbar andere Interpreten davor zurückschrecken lassen, das Thema gründlich und einläßlich zu behandeln. Im einzelnen weist H. D. hin auf die Abwehr des Naturalismus wie der demokratisch-sozialen Bestrebungen überhaupt, wobei der Einfluß Nietzsches stark beteiligt ist. Die vielen Nebenzüge (Naturalismus) dürfen den „großen Zug" des großen Kunstwerkes nicht überdecken und unterdrücken. Maßgebend sind die „großen Menschen". Nicht erst die Lehre, schon das bloße Sein dieser „großen Menschen" wirkt Vorbildliches und Urbildliches zugleich. Weiterhin: Abhebung des Dichters vom Denker (Seher und Erkenner), die priesterliche und prophetische Funktion und Mission des Dichters. Neben dem Priester und Propheten steht der Held und „Herrscher" (Einfluß: Nietzsche). Stefan George vereinigt in sich beide Werte, verwirklicht beide Möglichkeiten. In diesem Sinne gibt es keine „Zufallsgeschöpfe . . . wirtschaftlicher Vorgänge"

III. A N M E R K U N G E N

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(Abwehr der damaligen Sozialdemokratie). Bedenken gegen diesen Persönlichkeitskultus werden von H. Dahmen nicht geltend gemacht. Auch der Hinweis auf Th. Manns „Tonio Kröger" ändert daran nichts (Antithese: KünstlerBürger). Ähnlich dieser Abschweifung ist die auf E. R. J a e n s c h : Jugendpsychologie und Kulturaufgaben der Gegenwart, in: Pädagogische Warte 1924. George bringe eine Synthese („Den leib vergottet und den gott verleibt"). D i e Ä u ß e r u n g e n E d i t h L a n d m a n n s („Georgica") dürften etwas überschätzt worden sein, weil „Kosmogonie" nicht so ohne weiteres hinweghelfen kann über ungeklärte Kunsttheorie. Und wenn Rodin bemüht wird, denkt man eher an Rilke als an George. Kurz, man vermißt die klare Entscheidung, ob denn nun beim Wegsuchen zwischen Neuromantik und Neuklassik Stefan George mehr zur Neuklassik oder zur Neuromantik tendiert. Es wird nicht erkannt, daß Stefan George im Kern seines Kunstwollens mehr einer Neuklassik zustrebt als einer Neuromantik, gleichsam einer Neuklassik der Lyrik, nicht einer Neuklassik des Dramas (und der Novelle) wie Paul Ernst oder Wilhelm von Scholz. S. 199. N e u a r t i g e W o r t b i l d u n g . — Zu welcher Groteske diese Manie führte, enthüllt der Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal, hrsg. v. R o b e r t B o e h r i n g e r , Berlin J· (1938). Dort beruhigt der „Meister" George seinen einzigen dichterisch befähigten Mitarbeiter H. v. Hofmannsthal, als sich dieser über einen Druckfehler „sangen" statt „saugen" beschwert, mit dem grandiosen Trost: „Den einen fehler sangen st. saugen brauchen Sie nicht zu bedauern, denn er verschlimmert nichts (!). es paßt(!) auch sehr gut." Der Setzer darf also ruhig ein wenig das „Aparte" verstärken helfen; Hauptsache: es klingt nicht alltäglich (Brief v. Okt. 1892, a. a. 0., S. 43). Derartige Praktiken lähmen notwendig das Vertrauen zu jener Verantwortung gegenüber dem Dichterwort, von der Stefan George sonst soviel Wesens macht. Man nimmt eifrig das Aparte, schwer Verständliche, irgendwie Verdunkelte, woher man's nur immer bekommen kann. Wenn nicht anders, so auch vom (unbewußt mitdichtenden oder mitverdunkelnden) Setzer. S. 200. D i c h t e r - D e n k e r N i e t z s c h e . — Im mündlichen Gespräch mit E. R. Curtius soll sich Stefan George (1911)

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EXKURSE UND

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einmal so geäußert haben, wobei zugleich das allgemeine dichterische Kunstwollen eingangs anklingt: „Alle Dichter haben das Menschliche erhöhen wollen. Nietzsche spricht schön darüber. Seine Tragik war, daß er zu früh kam. Er hat ungeheure Intentionen gehabt. Gleich der Ursprung der Tragödie! Ermißt man, was das heißt: ein Bild des Griechentums geben, nicht durch Sammeln von Einzelheiten, sondern aus einer Vision heraus, exemplifizierend auf eine lebendige Gegenwart (Wagner) ? Mag diese auch ein Fehlgriff gewesen sein!" — vgl. E r n s t R o b e r t C u r t i u s : Stefan George im Gespräch (1950); der interessante Essay, der auch persönliche Begegnungen Georges mit Georg Simmel und Wilhelm Dilthey andeutet, ist abgedruckt in dem Sammelband „Kritische Essays zur europäischen Literatur" (2. erw. Aufl. 1954); Zitat: S. 113. Zu den obigen Bemerkungen über die Stellung zum Drama (S. 200, 201) sei aus diesen Curtius-Erinnerungen ergänzend die Bemerkung Georges verzeichnet: „Vor Algabal habe ich ein fünfaktiges Drama gemacht. Da standen alle diese Dinge schon drin. Ich erkannte aber, daß das Drama nicht der richtige Weg ist", a. a. 0., S. 113. Ein Beispiel zugleich für den Vorgang der Wahl einer Dichtungsgattung durch den Kunstwertschaffenden und — im Sonderfall — für die selbstkritische Korrektur eines Fehlgriffs in der Wahl der gemäßen Dichtungsgattung. Zu dem „Führer"-Ehrgeiz des kulturpolitischen Wirkens: „Manche meinen, in meinen ersten Büchern sei nur Künstlerisches enthalten, nicht der Wille zum neuen Menschlichen (Bildungswille). Ganz falsch! Algabal ist ein revolutionäres Buch. Hören Sie diesen Satz von Plato: Die musischen Ordnungen ändern sich nur mit den staatlichen. Algabal und der .Siebente Ring' — das ist dieselbe Substanz, nur auf eine geringere Fläche verbreitet" (S. 112/13). S. 202. „ N e u e T e c h n i k " . — H. v. Hofmannsthal war um so mehr berechtigt, das Kind beim rechten Namen zu nennen, weil die „Blätter" herb-handwerklich gern von der „Mache" sprachen. Wollte man doch ausdrücklich im George-Kreise eine „geistige Kunst auf Grund einer neuen Fühlweise und Mache". Bevor noch B. Brecht vom „Spaß" sprach, gefiel man sich dort in der „Mache", also im künstlich und kunsthandwerklich „Gemachten" an Stelle des künstlerisch spontan Gewordenen und organisch Gewachsenen.

I I I . ANMERKUNGEN

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In beiden Fällen, so entfernt sie voneinander sind, galt es dergestalt, den kunstkundigen Bürger zunächst einmal beträchtlich in Schrecken zu setzen und in Verwirrung zu bringen. Das geistig Spröde galt mehr als das gestalterisch Spontane. Aber die Extreme berührten sich: der Künstler und der Handwerker, der allerdings einst auch über den Gruß verfügte: „Gott grüß' die Kunst!". Für die Lyrik betonte weit später Gottfried Benn in dem Vortrag „Probleme der Lyrik" (1951) das Grundlegende des „Machens". Aber während bei Stefan George das Kunsthandwerk bzw. das Kunstgewerbe im Hintergrund steht, ist es bei Gottfried Benn die letztlich industrielle Technik. Bei Benn „macht" der Lyriker nicht nur sein Gedicht, er „montiert" es geradezu. Wie denn der ζ. Z. modische Terminus „Montage" ständig an den Wettbewerb zwischen Technik der Kunst und Kunst der (industriellen) Technik erinnert und sich bewußt und betont dazu bekennt. So „weit" war Stefan George immerhin noch nicht. S. 207. F e r d i n a n d J o s e f S c h n e i d e r : Max Dauthendey und der moderne Panpsychismus, in: Z. f. Ästh. 23 (1929), S. 326 f. Panpsychismus meint Allbeseelung der Natur und der Dinge. F. J . Schneider sieht darin einen Hauptzug des Expressionismus u. sucht dieses Element auch schon im neuromant. Impressionismus nachzuweisen, so im Sondcrfall bei Max Dauthendey. Auch auf Rilkes „Ring" greift es als vorexpress. zurück. Doch habe bei Rilke das „Ding" eine Sonderstellung, da nicht am Sündenfall des Menschen beteiligt. Dabei stützt sich Schneider auf eine Sonderarbeit von E. G a s s e r : Grundzüge der Lebensanschauung R. M. Rilkes, Bern 1925, S. 21 (S. 326). G u s t a v F e c h n e r mit seiner philos. Lehre von der Allbeseelung habe eingewirkt. Josef Nadler habe das am Beispiel Bruno Willes nachgewiesen. Daher Panpsychismus als Ablösung u. Gegenmacht gegen die „materialistisch-mechanische Weltauffassung", die nach F. J . Schneider damit erledigt (!) sei (S. 327). G. Fechner wie Lotze vermittelten zwischen indirekt-empirisch, naturwissenschaftlich u. metaphysisch, damals noch mehr von Metaphysik u. Idealismus aus, um 1900 mehr vom Empirismus aus; aber Bedürfnis nach Synthese bestand nach wie vor. Eine etwas phantastische „Atom"-Vorstellung (beseelte Atome) verbindet sich mit dem Begriff der Schöpferkraft (S. 330/31). Dazu eine Art von Seelenwanderung. Der 40

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Mensch geht nach dem Tod in Natur oder Dinge oder Geschöpfe über. Eine wesentliche Rolle für die Kunstauffassung bildet das Prinzip der „Festlichkeit" (vgl. A. Schaeffer) S. 334. Bei Ibsen ζ. B. sei dieses „Festliche" verloren gegangen. S. 208. A u t o n o m i e g e d a n k e , k l a s s i s c h e s G e p r ä g e . — Den Blick gerichtet zu haben auf den K o n t a k t m i t der A n t i k e , darin liegt nicht das letzte Verdienst der knappen, aber konzentrierten George-Würdigung von J o h a n n e s K l e i n : Stefan George, in: Dt. Literatur im X X . Jh., Heidelberg 1954, S. 62—85. Sowohl aus dem Bildungserleben wie aus dem Landschaftserleben wird dieser antike Kontakt abgeleitet (S. 65, 67, 75). Klein beschäftigt das „Willens-Moment" weit mehr (S. 74) als das Moment des Kunstwollens. Geschickt und einsichtig, auch ästhetisch einfühlsam werden nun die einzelnen Gedichtsammlungen gewürdigt und gedeutet (bes. „Algabal", 1892). Auch der Einfluß des französischen Symbolismus (S. 65, 75) wird gebührend berücksichtigt. Aber das Verhältnis von Theorie und Praxis wird nicht wirksam erörtert. Dankenswert erscheint u. a. der Hinweis auf die historischen Einschläge (S. 76). Einige Beachtung verdient für unsere Zwecke ferner das Eingehen auf das „Vorspiel" zum „Teppich des Lebens" (1900; S. 79). Dann wird Maximin ausführlich behandelt (S. 80—82). Mehr und mehr verfällt J. Klein der Verpflichtung, den gesamten George auf engem Raum bewältigen zu müssen, so daß für die Kunstanschauung fast nichts mehr übrig bleibt. Im Gesamt wird mehr die Bedeutung des späten George herausgearbeitet. Die Parole „Die Kunst für die Kunst" habe „nur vorübergehend für ihn gegolten" (S. 64). Aber für die Entwicklung der Kunsttheorie muß man nach wie vor darin den entscheidenden Beitrag Georges sehen. In einem George-Abschnitt zieht A u g u s t Closs: Die neuere deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart, in: Deutsche Philologie im Aufriß (hrsg. v. Wollgang Stammler), Bd. II, 2. Aufl. (1954) das Kenn- und Merkwort vom „dritten Humanismus" heran: „George schuf nun an einem Weltbild, welches verallgemeinernd als der .dritte Humanismus' bezeichnet wird" (Sp. 313). Ebenso wird auf das Verhältnis von „Freiheit und Gesetz in der deutschen Klassik" bedeutsam Bezug genommen

III. ANMERKUNGEN

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(Sp. 314). Sehr feinsinnig wird zugleich beobachtet, daß bei George der „naturgewachsene Ausgleich" im Sinne der Klassik vermißt werde. Manches wirke bei George „fast römisch hart". Manches wiederum sei „vom antiken Geiste erfüllt". August Closs weist in diesem Zusammenhange nicht nur auf Winckelmann hin, sondern in dankenswerter Weise auch zurück auf Dufresnoys „maiestas gravis et requies decora". So habe George das Griechenbild Goethes merklich „vereinfacht". Durchgängig verfolgt so der George-Abschnitt sehr wachsam Annäherung und Abweichung im Verhältnis George/Antike einerseits und George/deutsche Klassik und Humanität bzw. Humanismus andererseits, so daß auf verhältnismäßig engem Raum ein sehr eindrucksvolles Bild entsteht. S. 215.

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Otto zur Linde. — A u f den E x p r e s s i o n i s m u s vora u s w e i s e n . — Unter dem Eindruck von Albert Soergels sprechendem, recht betontem Hinweis hat man neuerdings das Vorläufertum des C h a r o n - K r e i s e s und besonders das Otto zur Lindes herausgestellt. So faßt im Sammelband „Expressionismus" (1956) ein SonderAufsatz von B e r n h a r d R a n g : Vorläufer des Expressionismus (a. a. 0. S. 27—54) Otto zur Linde im wesentlichen als Vorläufer auf. B. Rang stellt ihn jedoch nicht mit den Charontikern im engeren Sinn zusammen, sondern mit Alfred Mombert und Theodor Däubler. Die Deutung Momberts als Vorläufer wirkt bedenklicher als die Otto zur Lindes. Immerhin sollen die drei Genannten nur bedingt („wenn auch in einem etwas ungenauen Sinn") als „Wegbereiter des Expressionismus" gelten. Diese Vorsicht ist angebracht. Und es ist zu begrüßen, daß B. Rang nicht mehr mit dem Elan der ersten Finderfreude A. Soergels verfährt. So wird wenigstens in einer Parenthese eingeräumt: „ — Otto zur Linde steht mehr für sich allein — " . Und der Otto zur Linde-Abschnitt (S. 48—54) beginnt wiederum mit einer Einräumung: „Mit Otto zur Linde betreten wir eine völlig andere Sprachlandschaft . . . Das eigentlich Expressionistische scheint hier zu fehlen". Doch meint B. Rang, daß gewisse Wortballungen dem Expressionismus entsprächen, ebenso die Fähigkeit oder doch der Wille, einen bildhaften Niederschlag der Abstraktion zu finden. Die Fähigkeit nämlich wird nicht eindeutig anerkannt. Ferner wird auf die Gefahr der bloßen „Denkgedichte" aufmerksam

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gemacht. Warum mit einer „gesteigerten Anspannung" schon „der Schritt zur Expression getan" sein soll (S. 52), will nicht recht einleuchten. Kurz, die expressionistischen Merkmale sind nicht sehr deutlich, wie denn auch gelegentlich (und mit gutem Grund) nur von einem „sogenannten Expressionismus" die Rede ist. Die von B. Rang versuchte Einzelinterpretation führt notgedrungen zu einem zwiespältigen Werturteil und läßt die Vielfalt der Anregungen und Anlehnungen (Barock, Mystik, Volkslied, Romantik, Jugendbewegung) bei dem vermeintlich so Eigenwegigen zutagetreten, dessen Gedichte sehr ungleich in Wert und Wirkung erscheinen. Das „nordische" Element und das „Germanische" des „harten Westfalen" werden allzu nachdrücklich herausgestellt. Was das beanstandete „banale Bild" (S. 50) betrifft, so ist dabei die Verwandtschaft mit barocken Metaphern übersehen worden. Aber an sich läßt sich in der Tat unter den spröden Herbheiten und Vereinfachungen Otto zur Lindes mühelos eine ganze Kollektion von geschmacklosen und trivialen Wendungen nachweisen. Es fragt sich nur, ob diese nicht-ästhetischen Einschläge nicht dem Kunstwollen entsprechen. Auf das Ametrische geht B. Rang selber kurz ein, ohne die Theorie vom phonetischen Rhythmus zu erörtern. Die Anregung, die er hinsichtlich des Verhältnisses zu Arno Holz gibt (S. 54), ist offenbar ebenfalls von A.Soergel her nur weitergegeben worden, der in diesen Dingen schon weit aufschlußreicher wirkt. Das Gedicht „Großer Sorgen Traglast", das A. Soergel alsBeispiel für eine gewisse Vorwegnahme expressionistischer Lyrik bietet (S. 252/53), steht in der Tat dem Expressionismus näher als sämtliche von B. Rang interpretierten Gedichte. Aber offenbar ist es auch gar nicht das Hauptanliegen Rangs, das irgendwie oder irgendwo „Expressionistische" unbedingt zur Geltung zu bringen. Er möchte vielmehr auf knappem Raum einen Gesamteindruck vermitteln, ohne Otto zur Linde als Lyriker zu überschätzen. Kunsttheoretisch dankenswert ist die Einsicht, daß man das Verhältnis von Theorie und Praxis etwa an dem Ausspruch orientieren könne: „Wie über deiner Sprache steht auch über deinen Gedanken kein Regelmeister, sondern das Erleben, die Dinge, Du und euer Ineinanderranken" (S. 50). Es ist allerdings fraglich, ob Otto zur Linde im Sinne der nachträglichen Selbstrechtfertigungspoetik nicht ähnlich verfahren hat wie

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Paul Ernst: Abwertung alles dessen, was ihm nicht gegeben war, Forderung alles dessen, dem er mit seinem Können gewachsen zu sein glaubte. In diesem Sinne erklärt er gleichsam den Prosaismus für schlechthin dichterisch. S. 217. G e d i c h t e O t t o zur Lindes. — In den Jahren 19x0—25 erschienen im Charonverlag 10 Bände. — Otto zur Linde, Charon, Auswahl aus seinen Gedichten mit einer E i n f ü h r u n g von H a n s H e n n e c k e , München 1952. — H. Hennecke vermerkt, daß neben A. Soergel eigentlich nur J. Nadler etwas näher auf 0. zur Linde eingegangen sei. Ihm sind die starken Schwankungen zwischen „Genialität und Dilettantismus" durchaus aufgefallen, ebenso der Mangel an „Talent" und „Routine" (S. 13). Hinsichtlich der Wortbehandlung spricht er unter Verweis auf Klopstock geradezu von einer „Magie des Etymologischen". Er bezieht sich dabei auf die Charakteristik des Sprachverfahrens bei Otto zur Linde durch Rudolf Pannwitz: „die Wörter mit der Wurzel auszuziehen", und er verweist auf das Gedicht „Fischpredigt" (Problem des stummen Fisches; unter jedem Wort drohe diese Stummheit; Problematik der Ausdrucksmöglichkeit), in dem Otto zur Linde selber diese Problematik aufrührt (wie übrigens häufiger von ihm die Grenzen der Sprache berührt werden). Nicht mit Unrecht wendet B. R a n g a. a. O. (1956), S. 53 ein, daß diese Sprachmethode sich für das dichterische Gebilde nicht überall vorteilhaft auswirke. Übrigens erinnert manche Wortakrobatik ein wenig an das Verfahren Fischarts. Dankenswert ist der Hinweis H. Henneckes auf den Bezug Otto zur Linde/ Karl Philipp Moritz (Otto zur Linde gab die „Reisen eines Deutschen" in den „Literaturdenkmalen des 18. u. 19. Jh.s" heraus), wobei allerdings nicht die Bedeutung K. Ph. Moritz' für die Kunsttheorie (vgl. Band III) erkannt wird. Das Gedicht „Dämmerspuk" ähnelt nicht nur dem Frühimpressionismus der Annette von DrosteHülshoff, sondern dürfte ihr bewußt nachgebildet worden sein. Eben deshalb — aber nicht nur deshalb — vermag man nicht in Henneckes Lobpreisen der „beispiellosen Selbständigkeit" einzustimmen. Auch will nicht recht einleuchten, warum vom Sprachtheoretischen aus sogleich eine modernisierende Parallele zu Martin Heidegger und dessen „Befragen der deutschen Sprache im Dienste

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eines neuen Erkenntniswillens" (S. 18) gezogen werden muß. Überhaupt wird die Neigung spürbar, Otto zur Linde durch vielfache Bezüge, besonders auch zu Ausländern, wieder interessant zu machen. Dahin gehören die Verweise auf den Naturphilosophen A. N. Whitehead, auf Ezra Pound und D. H. Lawrence („Imaginismus"), auf T. S. Eliot, Υ . A. Richards (betr. Poetik und Ästhetik) und der sensationelle Rückblick auf G. M. Hopkins (sog. „Sprungvers"). Ähnlich wie bei Gerald Manley Hopkins (1844—89) sei bei Otto zur Linde die Poetik eine Art von psycho-physiologischer Grundlegung der Dichtkunst (S. 27/28). Naturgemäß wird hier begrüßt, daß H. Hennecke die Vernachlässigung der Poetik überhaupt und der von Otto zur Linde vertretenen insbesondere bedauert. Nur H e r m a n n P o n g s bilde eine erfreuliche Ausnahme (S. 37). Immerhin hat sich Albert Soergel schon redliche Mühe gegeben, die teilweise recht verworrenen Lehren zu erläutern. Allerdings das Hauptargument, der Hinweis auf den „phonetischen Rhythmus" findet keine Anerkennung bei H. Hennecke, weil — die anglo-amerikanische Literaturtheorie damit (EindruckAusdruck-Verhältnis) nicht einverstanden ist („the fallacy of expressive form"). Demgegenüber stellt m. E. diese Theorie Otto zur Lindes ein wesentliches Glied in die Entwicklungsreihe der Lehren und Theorien vom Rhythmus, wie immer man dazu auch im einzelnen eingestellt sein mag. S. 221.

„ I m B a n n e des E x p r e s s i o n i s m u s " . — A l b e r t S o e r g e l : Dichtung und Dichter der Zeit, Neue Folge 1925 arbeitet, dem Untertitel entsprechend, das Vorwegnehmen expressionistischer Erscheinungen und Merkmale heraus, indem er Beobachtungen an Einzelgedichten wenig kritisch verallgemeinert. „Er (Otto zur Linde) und seine Fahrtgenossen haben zuerst bewußt (!) in .expressionistischer' Weise geschaffen, sind zuerst über den Expressionismus hinausgekommen" (S. 249). Auf diese Stelle dürfte die Bemerkung in der bereits besprochenen „Einführung" H. H e n n e c k e s zur Gedicht-Auswahl (1952) zurückgehen, Otto zur Linde sei ein „Anbahner und.Überwinder des Expressionismus" gewesen, a. a. O. (1952) S. 28. Was A. S o e r g e l betrifft, so verfolgt er jenen Gedanken durchgängig in seinem längeren Abschnitt, so etwa S. 251, 253 (angebliche Überwindung des

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Expressionismus) u. ö. Im Gesamt ist es ihm vor allem um Propaganda für Otto zur Linde zu tun. S. 227.

Rudolf Paulsen. — Als Sohn des Philosophen Friedrich Paulsen wird ihm der Zugang zum philosophischen Anliegen des Charon-Kreises gleichsam mitgegeben. Aber, wie er selber in dem Gedicht „Mutter" andeutet, fürchtet er auch, daß von väterlicher Seite her die „Unmusik", das „Unmelodische" die weichere, zu zarte Stimme des mütterlichen Anteils „überdröhne". E r aber ersehnt das „Melos". Ein weiterer Zwiespalt ist gegeben durch die Gegenpole Philosophie (besonders auch Nietzsche) und Religion, die leicht ins Mythische ausweicht. Denn hier soll offenbar der Mythus den Ausgleich erzwingen. Aus solchen Zwiespältigkeiten und inneren Brechungen heraus ist R. Paulsen eigentlich niemals völlig zu einer künstlerischen Einheit und Ganzheit gelangt. Trotz seiner Betonung, ja zuweilen Überbetonung des Echten und Eigenen wirkt er im Gesamt seiner Erscheinung wie ein Epigone nicht nur im engeren Verhältnis zu Otto zur Linde, sondern etwa auch im weiteren Verhältnis zu den Lyrikern der Romantik und Nachromantik. Uber dieses unverkennbare romantische Erbe können auch seine in der Theorie ζ. T. recht betonten naturwissenschaftlichen Ambitionen, zu denen letztlich auch seine Theorie vom „physiologischen Rhythmus" gehört, nicht hinwegtäuschen. In seinem „ O t t o z u r L i n d e B u c h " , das er im Untertitel „Ein Kapitel aus dem deutschen Schrifttum der Gegenwart" nennt, ist viel Propagandistisches, aber auch manches Kunsttheoretische enthalten. Er erwartet einerseits eine Vereinfachung (im positiven Sinne) und Annäherung an die Natur durch eine Rückwirkung der Naturwissenschaft auf die Geisteswissenschaft. Wieder sucht er die Synthese der Gegenkräfte Naturwissenschaft/Geisteswissenschaft in einer beide aufnehmenden allgemeinen „umfassenden Wissenschaft" (S. 31). Dem entspricht es, wenn er das Gedicht, wie es Otto zur Linde herauszubilden versucht und seiner Meinung nach mustersetzend herausgebildet hat, geradezu als „Physis" bezeichnet und die Einheit von „Geist und Natur" in ihm hervorhebt (das erinnert fast an Lessing). Dann wieder hebt er die „organischen Formen" hervor (das klingt nach Herder). Gelegentlich spricht er auch wohl von einer „physiologischen Dichtung" überhaupt

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E X K U R S E UND ANMERKUNGEN

(das weist auf den Naturalismus). Einerseits betont er sehr das Individualistische, andererseits das Volkstümlich· Gemeinsame und Nationale. Der „physiologische Rhythmus" sei kein bloßer Import aus Belgien, sondern im Kern „deutsch". Die romantisierende Überformung des Naturwissenschaftlichen wird spürbar, wenn er fordert, daß wir „unbefangen und fromm und gut uns unseres Pflanzendaseins (das Vegetative) erinnern" (S. 8). Damit hängt in gewisser Weise zusammen, daß gerade von der deutschen Dichtung „das Ursprüngliche, Urmenschlich-Göttliche" verlangt wird (S. 28). Stellt man dazu die Wendung vom „seelischen Ausdruck" im durchglühten Menschen (S. 30), so liegt ein Hinblicken auf den Expressionismus nahe genug. Was die eigenen Dichtungen Paulsens betrifft, so liegen sie wesentlich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Daran gemessen, kann R. Paulsen nicht als ausgesprochener Expressionist gelten. Wenn in der Theorie einiges näher anklingt, so liegt das an deren eklektischem Grundzug. Sie war nicht nur (und vielleicht nicht einmal in erster Linie) eklektisch aus Mangel, sondern aus Absicht. Aus der Absicht nämlich, möglichst vielen möglich viel zu bringen und auf diese Weise für den Charon-Kreis zu werben. Das praktische Ergebnis dieses Verfahrens ist jedoch, daß man so ziemlich sämtliche Kunststile und Kunstrichtungen mit Charon-Zitaten „belegen" könnte, ohne daß es dabei zu fruchtbaren Erträgen käme: die Kehrseite jeder zweckgebundenen Theorie, die nicht etwas erklären, sondern vor allem etwas erreichen will. S. 229.

Hugo von Hofmannsthal. — Neuere Arbeiten: C a r l J. B u r c k h a r d t : Erinnerungen an Hofmannsthal und Briefe des Dichters, Basel 1944. — P a u l R e q u a d t : H. v. Hofmannsthal, in: Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert, Heidelberg 1954, S. 3Öff. — E l s b e t h P u l v e r : Hofmannsthals Schriften zur Literatur, in: Sprache und Dichtung, Neue Folge 1, Bern 1956. — H e r m a n n K u n i s c h : Begegnung mit Hugo von Hofmannsthal.in: Borcherdt-Festschrift (1962). — D o r o t h e a S c h ä f e r : Der Leserkontakt in den Erzählungen Hugo von Hofmannsthals, 1962 ( = Palaestra Nr. 233). — R a l p h R a i n e r W u t h e n o w : Hugo von Hofmannsthal und die Konservative Revolution, in: Goethe-Jahrbuch (Tokyo) I I I (1961/62). — - I n g e S c h i l l e r : Art und Bedeutung des

III. ANMERKUNGEN

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Religiösen im Prosawerk Hugo von Hofmannsthals, Diss. Würzburg 1962. — P a u l G e r h a r d K l u s s m a n n : Hugo von Hofmannsthals „Lebenslied", in: ZfdPh. L X X X I I , 2 (1963). — E w a l d R ö s c h : Komödien Hofmannsthals, die Entfaltung ihrer Sinnstruktur aus dem Thema der Daseinsstufen, 1963 ( = Marburger Beiträge zur Germanistik I; Parallele mit H.v. Kleist unhistorisch und wenig überzeugend).— Hofmannsthal/Schnitzler, Briefwechsel, hrsg. von Heinrich Schnitzler und Theresa Nicki, 1964. S. 230. D a s I n t u i t i v e u n d I n s t r u k t i v e . — Durchgängig als Wechselwirkung ablesbar an H. v. Hofmannsthal: „Die prosaischen Schriften gesammelt", Bd. I, Berlin 1907, der u. a. den grundlegenden Aufsatz „Der Dichter und diese Zeit" enthält. S. 230. D a s V e r s ä u m t e u n d V e r t r ä u m t e . — Sowohl in der Dichtungsdeutung wie in der Kunstübung, sowohl im Kunstwollen wie in der Kunstleistung tröstet das Verträumte über das Versäumte teils beruhigend, teils berauschend hinweg. Die wache Wirklichkeit des Naturalismus wird abgelöst vom Wachtraum des neuromantischen Impressionismus. Der Anteil von bloßer „Bildungspoesie" (W. Mahrholz), der im österreichischen Raum noch stärker vertreten ist durch R. von Schaukai, wird aufgewertet durch den Anteil an lyrisch-meditativer Gestaltungspoesie, indem das musische Vermögen im musikalischen Vermächtnis werbende Macht und kunstwürdige Gestalt gewinnt. S. 232. A b r ü c k e n v o n der W o r t k u n s t in H o f m a n n s t h a l s S p ä t z e i t . — Das Sprachtheoretische wie ζ. T. auch das Kunsttheoretische bezieht erfreulicherweise in das knappe Gesamtbild des Dichters ein P a u l R e q u a d t : H. v. Hofmannsthal, in: Deutsche Lit. im 20. Jahrhundert, Heidelberg 1954, S. 36—61. Hofmannsthals Stellung zu Sprache und Wort wird berührt S. (40/41), 42, 50, 53, 54 („In der langen Zusammenarbeit mit R. Strauß löst die Musik das Wort ab"), 57, 58,61; im über mehrere Jahrzehnte hinweg entstandenen Trauerspiel „Der Turm" (abgeschlossen 1925 bzw. 1927 als zweite Fassung) begegnet das tiefsinnige Wort: „Das, was du nicht sagen kannst, das allein frage ich dich". An kunsttheoretischen Problemen werden berücksichtigt: Vielfalt der Gattungen und Arten in der werkimmanenten Poetik, auch Pantomime und Ballett

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(S. 36); Abhebung des eigenen Kunstwollens von dem Georges in der formulierten Poetik (S. 37/38); ShakespeareRede und Rede über das „Schrifttum als geistiger Raum der Nation"·, erster D'Annunzio-Essay (1893); Vortrag „Der Dichter und, diese Zeit"', „Briefe des Zurückgekehrten"; Balzac-Essay (1908) u. a. (S. 39—42); Beleg für die Kenntnis Kierkegaards (S. 46); das Distichon „Dichtkunst" (S. 50); hohe Bewertung des „Gestalt"-Begriffs in „Neuen deutschen Beiträgen" 1922 (S. 50/51); der sogen. „Chandos"-Brief, Eingehen auf H. Brochs Interpretation dieses zugleich sprachtheoretisch beachtenswerten Schreibens, dessen fingierter Empfänger Bacon mit George gleichzusetzen wäre; Abwehr der Deutung als eines „Bruchs mit dem Ästhetizismus", da dieser in Wirklichkeit von Hofmannsthal schon vorher vollzogen worden sei (S. 53/54); Hinweis auf eine einschlägige, den Schaffensvorgang betreffende Stelle aus dem Tagebuch von 1906 und Bezugnahme auf das Novaliswort: „Nach einem unglücklichen Krieg müssen Komödien geschrieben werden" in dem Essay „Die Ironie der Dinge" (S. 55); Komödien-Deutung in „Ad me ipsum" (S. 57); Ansatz zur werkimmanenten Poetik bei der Interpretation des „Turms" (S. 60/61). — Wenn auch manches nur stichworthaft am Wege mitgenommen werden kann, so ist man doch erfreut, daß hier ein Forscher nicht nur der eigenen Konstruktion vertraut, sondern ernsthaft und gründlich fragt, was denn der Dichter selber dazu gemeint und was er „gewollt" hat. Einmal begegnet sogar die Wendung „ . . . entspricht so ganz seinem (Hs.) Kunstwillen" (S. 55). Als Ganzes allerdings ist die Abhandlung, die andere Ziele verfolgt, nicht auf das Wechselverhältnis von Kunstwollen und Kunstschaffen eingestellt. Vielmehr geht P. Requadt von einigen Grundthesen aus, mit deren Hilfe er, weitgehend überzeugend, die Kontinuität in der Gesamtentwicklung Hofmannsthals nachzuweisen versucht. Als derartige Thesen bieten sich ihm an: das „Gestaltungsprinzip der Variation" und die Polarität des „Wanderer"-Symbols (abgeleitet von Goethe) und des Motivs der Idyüik (Beharren, Verweilen). Das Prinzip der Variation ist jedoch kaum etwas spezifisch Hofmannsthal Eigentümliches (J. Kunz ζ. B. beansprucht es in demselben Sammelbande für Thomas Mann). Und Termini wie ζ. B. „Daseinsantinomie" gehören zum weit-

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anschaulichen Allgemeinbestand dieser Sammlung. Es ist jedoch sehr anzuerkennen, daß Hofmannsthal nicht einfach auf Kierkegaard oder Existenzphilosophie „gepreßt" wird; denn angesichts der Kierkegaard-Parallele meldet Requadt unüberhörbare kritische Bedenken an (S. 45—47); aber in Angriff genommen wird diese auch sonst beliebte Parallele dennoch (indessen nur probeweise). Insgesamt eine ebenso kenntnisreiche wie klar durchdachte Abhandlung, die in konzentrierter Darstellung Wesentliches sicher zu erfassen versteht. S. 233. T e x t d i c h t e r der „ E l e k t r a " . — Es ist auffallend, mit welcher Schärfe gerade von Dichtern die „Elektra" abgelehnt wird. Bereits aus unmittelbarer Zeitnähe verurteilt S. L u b l i n s k i in seiner „Bilanz der Moderne" (1904), S. 349, das krampfhafte Sich-Aufrecken einer „malerischen Empfindung" zu einem dramatischen „Bühnenbild". Dieses „bisher letzte Werk" greife zu einer „wüst physiologischen" (pathologischen) und trotzdem „kleinlichen Romantik und Psychologie"; kein Wort sei „scharf genug", dieses „mißlungene Werk" gebührend anzuprangern, das die „schlimmsten Leistungen" J. Wassermanns noch überbiete. Dabei ist zu berücksichtigen, daß S. Lublinski im ganzen wohlwollend über H. v. Hofmannsthal urteilt. — Im Rahmen seiner Essaysammlung „Vom unsichtbaren Königreich, Versuche" (1910) spielt der Österreicher R. v. S c h a u k a i in einem kurzen Essay „Zur Elektra" den Komponisten R. Strauß gegen den Dichter H. v. Hofmannsthal aus, der wohl „ahnungsvolle Momente" in seiner Tragödie aufweise, aber doch eine „peinliche" literarische Grundlage für die Oper dargeboten und dadurch R. Strauß zu „Verirrungen" verleitet habe. Dennoch sei es der Genialität des Komponisten gelungen, „aus dem von seinem Umdichter (H. v. Hofmannsthal) mißhandelten Stoff" erstaunliche Wirkungen herauszuholen. Im Gesamt erscheint ihm die „Elektra" wie ein „glitzerndes Eisfeld totgeborener Worte", a. a. 0. S. 167—70. — Relativ günstig urteilt A l b r e c h t S c h a e f f e r i n seiner Essaysammlung „Dichter und Dichtung, kritische Versuche" (1923), und zwar in der Abhandlung „Über Tragödie und Epos", weil ihm der von Hofmannsthal eingefügte Triumphtanz der Elektra für den Nachweis des Opfergedankens erwünscht ist, a. a. 0. S. 200. Was A. Schaeffer anzieht, ist offenbar nicht das Neuromantische, sondern das Neu-

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klassische. G. Hauptmanns „Elektra" bot damals noch keine Vergleichsmöglichkeit. S. 233.

„ F i l m b u c h f ü r den R o s e n c a v a l i e r " . — Briefanhang zu C a r l J. B u r c k h a r d t : Erinnerungen an Hofmannsthal und Briefe des Dichters, Basel 1944, S. 65. — H. v. Hofmannsthal klagt dort einerseits, daß er „eine rechte corvee auf mir" habe, gesteht aber zu, „daß diesen Roman in Bildern mich anzufertigen amüsiert", weil die Film-„Bildchen" gewissermaßen doch „im Bereich der sinnlichen Phantasie" bleiben und man bei ihnen „ausruhen" könne. Freilich scheinen ihn mehr die vielfältigen Äußerlichkeiten der Verfilmung „amüsiert" zu haben, etwa daß eine Szene auf einem von Fischer v. Erlach erbauten Schloß gedreht wird usw.

S. 233.

„ D e r D i c h t e r u n d diese Z e i t " . — Zitiert nach „Die prosaischen Schriften, gesammelt", Bd. I, Berlin 1907. — Es sei daran erinnert, daß auch R o b e r t Musil einen 1936/37 gehaltenen Vortrag (gedruckt 1955) mit dem Titel „Der Dichter und diese Zeit" versehen hat, ob in bewußter Wiederaufnahme des Vortrags-Titels Hofmannsthals, bleibe dahingestellt. Im ganzen Tenor wirkt Musils Vortrag politischer. Auffallen muß dem Deutschen im engeren Sinne die ihm steif erscheinende Formulierung „und diese Zeit"; er würde etwa statt dessen setzen „und die Gegenwart" oder und „unsere Zeit". Zum mindesten klingt das ungewohnt und abseitig wie manches im österreichischen Deutsch, das auch in den Stil der Schriftsprache als Dichtersprache unbefangen übernommen wird, so bei Musil, bei Kafka u. a. (er ist gestanden, sie wohnte am Schloß usw.).

S. 233.

F o r m des K u n s t g e s p r ä c h s . — Die Haltung des geselligen Gesprächs auch außerhalb der ausgesprochenen Form des Kunstgesprächs hebt hervor die Sonderuntersuchung von E l s b e t h P u l v e r : Hofmannsthals Schriften zur Literatur, in: Sprache und Dichtung, Neue Folge 1, Bern 1956. Es handelt sich in Wirklichkeit um eine Darstellung des Literaturkritikers Hofmannsthal, die wesentlich vom Erlebnisbegriff Wilhelm Diltheys ausgeht, genauer·: um eine Bemühung, die in Hofmannsthal den Typus der „verstehenden" Kritik (Grundform :Herder) vom Typus der „wertenden Kritik" (Grundform: Lessing)

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abheben möchte. Trotz Neigung zum Kompromiß mit der Existenzphilosophie, die gleichsam um Nachsicht gebeten wird wegen gewisser Bezüge Hofmannsthals „zur klassisch humanistischen Kunsttheorie" (S. 42) und vermeintlicher Abhebung von Diltheys Begriff des „Verstehens" fällt E. Pulver doch immer,wieder auf die Position (besonders im Erlebnisbegriff) Diltheys zurück. Die Kunsttheorie als solche wird in hohem Grade vernachlässigt. Selbst dort, wo Elsbeth Pulver über „Maßstäbe" der Kritik zu berichten versucht (S. 34ff.), liegt ihr der Gedanke völlig fern, etwa zunächst einmal von den kunsttheoretischen Meinungen auszugehen, um relativ festen Boden in all dem Schwebenden und Schwankenden zu gewinnen. Es werden ζ. B. in einem Abschnitt „Schauspieler und Theater" an sich erfreulich die Essays „Die Duse im Jahre 1903" und „Die Bühne als Traumbild" erwähnt, im Abschnitt vorher (warum nicht hier?) der Gesprächsaufsatz „Das Theater des Neuen"·, aber von einer wissenschaftlichen Auswertung kann keine Rede sein. Ganz ähnlich steht es mit anderen Essays. Es ist jedoch dankenswert, wenn im Kurzabschnitt „Die Aufgabe des Kritikers", der themagemäß ein Zentralstück sein müßte, aber auf einer Seite abgehandelt wird (S. 72/ 73), der bekannte Brief an Hermann Bahr mit der Bemerkung über den englischen Kritiker Walter Pater verwertet wird. Obwohl der Publizist das Thema ist, beschränkt sich die Verfasserin häufig auf den Dichter. Und obwohl sie seine publizistische Tendenz kennt und seine journalistisch-publizistischen Beiträge einmal aufzählt (S. 73), rückt ihre Untersuchung von vornherein von der — offenbar nicht genügend literarischen — Zeitungskunde ab: „Demnach berührt sich unsere Arbeit in keiner Weise (1) mit der Zeitungskunde" (S. 8). Sollte hier nicht ein Vorurteil mitspielen ? Es haben sehr bedeutende Dichter an Zeitungen und Zeitschriften mitgearbeitet.Verf. setzt sich kritisch auseinander mit W o l f g a n g S t e n d e l : Hofmannsthal und Grillparzer, Würzburg 1935 (Anmerkung S. 126). Die Kritik des frühen Loris-Hofmannsthal an Grillparzer wird im ganzen wohl zutreffend als vorbeugende Selbstbewahrung gegen ähnliche eigene Schwächen gedeutet. In solchen Fällen bewährt sich die Einfühlungsgabe E. Pulvers wie etwa auch bei der Einschätzung des Erzieherischen, das bei Hofmannsthal nicht übertrieben werden darf (Abhebung von A. Stif-

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ter). Selbst die „Ahnfrau" verfällt bei ihm keiner abwertenden Kritik. Unter den Österreichern (die er wohl nicht ganz objektiv beurteilt) erfreut sich Ferdinand Raimund besonderer Anerkennung. An Hölderlin schätzt er besonders die „kristallklare Vision". Lessing, Schiller und Hebbel sind ihm wesensfremder; er bemüht sich jedoch, sie rangmäßig gebührend einzustufen. Überhaupt hält Hofmannsthal trotz seines Prinzips des „Verstehens" merklich an einer Rangstufung fest. Verf. rechnet das „Rangsystem" (S. 43—45) zu den kritischen „Maßstäben" Hofmannsthals. Das würde freilich eine Art von Bindung des Urteils an überkommene Urteile bedeuten. Jedenfalls kann ein „Rangsystem" logisch nicht gut als „Maßstab" gelten. Das kritische Urteil soll den Rang selber festlegen, gegebenenfalls neu bestimmen, kann also nicht vom „Rang" als Wertmaß ausgehen, auch nicht bei einer „verstehenden" Kritik. Aber vielleicht hat hier Emst Robert Curtius eingewirkt, der ebenfalls die Rangordnung etwas überschätzen dürfte. Kunsttheoretisch dankenswert sind gelegentliche Einzelhinweise, so etwa auf „Der Dichter und diese Zeit" (S. 16, 30, 46, 65, 76 u. ö.). Ergänzend sei ein Aphorismus aus dem „Buch der Freunde" (S. 57) verzeichnet: „Ein Kunstwerk ist eine umständliche und ausgebreitete Handlung, durch die ein Charakter erkennbar wird" (S. 23). Eine Anmerkung verweist zugleich auf den Programmentwurf zu einer Zeitschrift vom 24. Oktober 1904, vgl. Corona IV, S. 705. Weitere Hinweise auf die Vorrede zu den „Deutschen Erzählern" (1912), S. 37, auf den Vortrag „Blick auf den geistigen Zustand Europas" (Spätzeit, Vergleich Goethe/Dostojewski), S. 38, 43 (Vorrang Goethes, aber Verständnis für Dostojewski, religiöser Impuls, Nähe der „Turm"-Dichtung, Zugang zum „Reich der Transzendenz"), S. 67 (religiöse „Faszination" Dostojewskis, besonders für die Jugend), auf die Entwurf-Notizen zu einem 1904 geplanten Essay „Der Leser (Winterphantasie)", S. 74 (Verhältnis Poesie/Kunstwertaufnehmender). Es ist zu bedauern, daß Elsbeth Pulver derartige Ansätze nicht ausgebaut und dann zur Grundlage für die Charakteristik des Literaturkritikers, wenn auch des „verstehenden" Literaturkritikers Hofmannsthal zusammengezogen hat. Zum mindesten hätte sich dann ein haltbietender Orientierungspunkt ergeben, während jetzt die Linien bedauerlicherweise etwas verschwimmen.

III. ANMERKUNGEN

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S. 233.

„ E r s c h e i n u n g " . — Ein Zurückgreifen in der angedeuteten Weise ist jedenfalls wahrscheinlicher als ein Vorgriff auf die bald darauf voll entfaltete Phänomenologie.

S. 236.

F e m i n i n e r G r u n d z u g . — Der ewig Jünglingshafte schwärmt ζ. B. im vertraulichen Briefwechsel eben wegen dieses femininen Zuges von „dem zauberisch Reizvollen der innigen Lebensverbindung zwischen Männern" (Brief aus dem Jahre 1927, also aus der Spätzeit), vgl. C. J. B u r c k h a r d t a. a. 0. (1944), S. 80, vgl. auch den Beginn des Briefwechsels mit Stefan George (1938) S. 9—17. Eine homoerotische Komponente ist unverkennbar, aber H. v. Hofmannsthal behält sich — ähnlich wie seinerzeit Platen — weit mehr in der Hand als Stefan George. Das gedämpft Homoerotische spielt eigenartig und reich gestuft ins Feminine hinüber.

S. 237.

„ W e r t u n d E h r e d e u t s c h e r S p r a c h e " — „ I n Zeugnissen herausgegeben von Hugo von Hofmannsthal", Untertitel: „Gedanken einiger deutscher Männer über die deutsche Sprache". Die Vorrede bewegt sich, ohne sich dessen klar bewußt zu werden, zwischen Individualstil und Nationalstil und beklagt letztlich den Verlust der Mitte, der Bindung zwischen der Höhe der poetischen und der tragenden Grundschicht der volkstümlich prosaischen Sprache. Wir besitzen nur ein „Conglomerat von Individualsprachen", weil sich Individualstil und Nationalstil nicht zusammenfinden können. Die „mittlere Sprache" fehlt. Das ist kein Wunder, weil Hofmannsthal zwar neben dem zu Worte kommenden Dutzend (Schottel, Leibniz, Justus Moser, Wieland, Herder, Goethe, Jean Paul, Wilhelm von Humboldt, Fichte, Adam Müller, Ernst Moritz Arndt, Jacob Grimm) zwar wenigstens im Vorwort noch Schiller, Hamann und Schopenhauer ins Auge faßt, nichts aber zu vermelden weiß von Thomasius oder Lessing bis hin zu Nietzsche und darüber hinaus. Auch Heinrich Heine wird übergangen. Das wirkt um so befremdlicher, da Adam Müller vertreten ist. Wo von Wert und Ehre der deutschen Sprache zu handeln ist, dürften sie nicht fehlen (eher schon A. Müller und Fichte). Denn nicht der, wer etwas ausgesagt hat, sondern der, wer etwas ausgeprägt hat, ist für Wert und Ehre der deutschen Sprache bedeutend. Und wer Thomasius

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und Chr. Wolf neben Leibniz, Lessing neben Herder übergeht und Heine neben J. Grimm übersieht, dem fehlen Übersicht und Einsicht. Oder aber — er folgt einer Tendenz. Man freut sich zwar über Hofmannsthals Sinn für die Wirkung des Sprachstils, ist aber erschrocken über die mangelnde Einsicht hinsichtlich des Werdens des Sprachstils. So einfach liegen diese Dinge denn doch nicht. Erneut tritt die Frage auf: warum bleiben die Dichter nicht bei der Dichtung? (vgl. auch Thomas Mann und viele andere). H. v. Hofmannsthal vermißt schließlich die Erörterungs- und Abhandlungsprosa, die Kampfprosa und die publizistische Prosa. Er mußte sie ganz einfach deshalb vermissen, weil er sie verschmähte, weil er sie nicht kannte und also verkannte. Was vermöchte auch ein ausgesprochener Lyriker Verbindliches auszusagen über die Prosa des Prosaischen, ζ. B. über die Abhandlungs- und Erörterungsprosa oder über die Kampfprosa ? Was er vermißt, ist eben das, was er nicht vermag: Programme deutlich zu prägen und Begriffe klar begreifbar zu machen. Die Auffangstellung für eine entsprechende Verlegenheit muß die „magische Eigenkraft" des Wortes hergeben, wie für H. Hesse die „Magie des Buches" auf Grund der Sprachmagie. Zugleich wird neben der Geburt der Sprach-Germanistik der Romantik wiederum das Gegenständliche der Neuklassik spürbar; denn: „Hier wird jenes .Griechische' der deutschen Sprache wirksam, jenes Äußerste an freier Schönheit". Also auch in diesem Sektor ist das Neuromantische stets bereit, in ein Neuklassisches umzubrechen. Der L y r i k e r Hofmannsthal bevorzugt Goethe, Milton und Hölderlin oder Novalis, die ihm verwandt erscheinen mit bildlichen oder musikalischen Werten und Wirkungen bei Rembrandt einerseits und Beethoven andererseits. Selbst Kierkegaard wird herangezogen, um aus der Einsamkeit zur Gemeinsamkeit zu gelangen. S. 253. Rainer Maria Rilke. — Aus der Fülle der Literatur seien erwähnt R o b e r t F a e s i : R. M. Rilke, Zürich 1920 (dort frühere R.-Lit.). — R. H. H e y g r o t h : Die Lyrik R. M. Rilkes, Versuch einer Entwicklungsgeschichte, Diss. Freiburg, Schweiz 1921 (also ohne die späte Lyrik; rein stofflich knüpft dort H. Kunisch an, s. u.). — G e r t B u c h h e i t : R. M. Rilke,Zürich,Lpz. 1928. — L o u A n d r e a s - S a l o m e : R. M. Rilke, Leipzig 1929. — P a u l Z e c h : R. M. Rilke, der

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Mensch und das Werk, Dresden 1930. —Gert Buchheit: (Herausgeber) R. M. Rilke, Stimmen der Freunde, Freiburg-Schweiz, 1931. — Marcel Pobe: R. M. Rilke, Wandel in seiner Geisteshaltung, Freiburg-Schweiz 1933. — F r i t z Dehn: R. M. Rilke und sein Werk, Leipzig 1934. — K a t h . Kippenberg: R. M. Rilke, Leipzig 1935 (2. Aufl. 1938). — J . Rudolf Salis: R. M. Rilkes Schweizerjahre, Leipzig 1936. — Hermann Kunisch: R. M. Rilke, Dasein und Dichtung, Berlin 1944 (kunsttheoretisch erheblich). — Walther Rehm: Orpheus, der Dichter und die Toten (Novalis, Hölderlin, Rilke), Düsseldorf 1950. — Else Buddeberg: R. M. Rilke, eine innere Biographie, Stuttg. 1955. — Hans Berendt: R. M. Rilkes „Neue Gedichte", Versuch einer Deutung, Bonn 1955 (bes. d. 1. Abschnitt), Ludwin Langenfeld: Rainer M. Rilke, in: Dt. Literatur im 20. Jh. 1954, S. 86ff. August Closs: Die neuere deutsche Lyrik, in: Dt. Philologie im Aufriß II (1954) S. 300 f. F r i t z Strich: R. M. Rilke, ZfDk. Jg. 1926. — Hermann Pongs: Rilke, Euph. 32 (1931, Rilkeheft). — Rudolf Alexander Schröder: Erinnerungen an Rilke (1927, wiederholt in Reden und Aufsätze, Berlin 1939).— Robert Musil: Rilke-Gedenkrede und Nachwort dazu (1927, gedruckt in: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden 1955, S. 885f.). — Maurice Colleville: Rilkes Auffassung von der Dichtung, in: Literaturwiss. Jb. NF. II (1961), S. 135f. Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke, ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts, 1961 (von „Poetik" kann indessen nur im Sinne von werkimmanenter Poetik die Rede sein). — Dieter Bassermann: Der andere Rilke (Aufsätze B.'s über Rilke, postum hrsg. von H. Mörchen), 1961. — Robert V. Andelson: The concept of creativity in the thought of Rilke and Berdyaev, in: The Personalist XLIII, 2 (1962). — Paul Böckmann: Der Strukturwandel der modernen Lyrik in Rilkes „Neuen Gedichten", in: Wirkendes Wort Jg. X I I (1962), S. 336 ff. — Michael Hamburger: An anatomy of Orpheus, Rilke among the critics, in: Encounter XVIII, 4 (1962). — J a c o b Steiner: Die Thematik des Worts im dichterischen Werk Rilkes, in: Neophilologus XLVI, 4 (1962). — J a c o b Steiner: Rilkes Duineser Elegien, 1962 (mit Kommentar). — Th. C. van Stockum: Der gedankliche Hintergrund von Rilkes Duineser Elegien, in Stockum: 50

Markwardt,

Poetik V

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EXKURSE UND ANMERKUNGEN

Von Fr. Nicolai bis Th. Mann, Aufsätze zur deutschen und vergleichenden Lit.-Gesch., 1962 (darin auch über Th. Mann und H. Mann, Hauptmann u. a.). — Nancy Margaret W i l l a r d : An experiment in objectivity: the poetic theory and practice of W. C. Wilhams and Rainer Maria Rilke, Diss. Ann Arbor (Univ. of Michigan), 1963. — H e r m a n Meyer: Zarte Empirie, Studien zur Literaturgeschichte, 1963 (darin zwei Aufsätze über Rilkes Verhältnis zur bildenden Kunst). — H e r m a n n Weigand: Zu Rilkes Verskunst, in: Neophilologus XLVIII, 1 (1964). Beda Allemann: Rilke und Mallarme, Entwicklung einer Grundfrage der symbolistischen Poetik ( = Deutschkundliche Reihe, Bd. II Wort und Gestalt, in: Das Bildungsgut der Höheren Schule) — K a r i n Langenheim: Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder, Entstehung und Deutung, Diss. Kiel 1962 (Masch.-Expl.). — H e l l m u t h Himmel: Rilke und Sappho, in ZfdPh LXXXI, 4 (1962), S. 472—96. — H a n s - H e n r i k K r u m m a c h e r : Rilkes „Stunden-Buch", Religiöse Aussage oder Stadium der dichterischen Entwicklung ? in: Fr.-Wilhelm Krummacher-Festschr. 1961, S. 171 ff. — Charles Dedeyan: Rilke et la Frange, Tome II (1961/2). S. 255. Neigung zum P a n t h e i s m u s . — H e i n r i c h Scholz: R. M. Rilke, ein Beitrag zur Erkenntnis und Würdigung des dichterischen Pantheismus der Gegenwart, Alois Riehl-Festschrift 1914. — Emil Gasser: Grundzüge der Lebensanschauung R. M. Rilkes, Bern 1925. — Daseinsv e r g o t t u n g , Sein, D a s e i n . — E b e r h a r d K r e t s c h m a r : R. M. Rilke als Dichter des Seins, Diss. Dresden 1934. — R. G u a r d i n i : Zu R. M. Rilkes Deutung des Daseins (Duineser Elegien), Schriften für die geistige Uberlieferung Nr. 4, Berlin 1941. — Hermann K u n i s c h : R. M. Rilke, Dasein und Dichtung, Berlin 1944, Kap. Gesang ist Dasein, a. a. 0., S. 55 f. S. 257. Bezirk der b i l d e n d e n K u n s t . — Auf derartige Motivbezüge legt besonderen Wert die Sonderuntersuchung von E. B e r e n d t a. a. 0. (1957), S. 2: „Als eine Nebenfrucht (!) der Untersuchung ergeben (!) sich eine Anzahl bisher nicht erkannter Beziehungen zwischen einzelnen Gedichten und Werken der bildenden Kunst". S. 257. V o r f o r m e n von D i n g g e d i c h t e n . — K u r t O p p e r t : Das Dinggedicht, D.Vjschr., Jg. 1925, greift auf Goethe und Mörike zurück.

III. A N M E R K U N G E N

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S. 258. L y r i s c h e r S y m b o l i s m u s . — E u d o C. Mason: Lebenshaltung und Symbolik bei R. M. Rilke, Weimar 1939 sieht im Symbolisieren kritisch ein Ausweichen vor bindenden Entscheidungen. — S. 258. R e l i g i ö s e A u f t r i e b s k r ä f t e . — E l l e n K e y : R. M. Rilke der Gottsucher, in: Seelen und Werk, Berlin 1911. — E v a W e r n i c k e : Die Religiosität des „Stundenbuches" von R. M. Rilke, 1900. — G e r t r u d B ä u m e r : „Ich kreise um Gott"; der Beter R. M. Rilke, 1935. — J ü r g e n P e t e r s e n : Das Todesproblem bei R. M. Rilke, Diss. Frankf. 1935. — F r i t z N o l t e : Der Todesbegriff bei R. M. Rilke, H. v. Hofmannsthal und Th. Mann, Diss. Heidelberg 1934. — E r n a K ü l l m e r : Auffassung und Bedeutung des Todes im Werk R. M. Rilkes, Diss. Münster 1936. — A l f r e d S c h ü t z e : Ein Wissender des Herzens, Stuttg. 1938. — P e t e r P a u l P a u q u e t : Schöpferische Angst, Versuch einer Angst-Kosmologie bei R. M. Rilke, Diss. Bonn 1939. — Wohl am stärksten verneint wird das Gottesbewußtsein Rilkes, von spezialchristlichen Gesichtspunkten aus gesehen, durch E u d o C. Mason: Lebenshaltung und Symbolik bei R. M. Rilke, Weimar 1939; von den Gegenpolen „Genie" und „Heiliger" stehe Rilke beim Genie (etwa im Sinne Nietzsches). Weniger grell, aber dennoch deutlich belichtet H. K u n i s c h a. a. 0. (1944) die Schwäche und Fragwürdigkeit des Gottesglaubens Rilkes. Im allgemeinen schwanken die Deutungen zwischen den Wertmaßen strengen Kinderglaubens, Existenzialphilosophie und Pantheismus; aber auch die Anthroposophie R u d o l f S t e i n e r s ist mehrfach für die Interpretation herangezogen worden, so besonders von A r n o l d T r a p p : R. M. Rilkes Duineser Elegien, Diss. Gießen 1936, aber auch von A. Schütze (1938, s. 0.). S. 259. A n n ä h e r u n g an die M y s t i k . — H a n s R u d o l f M ü l l e r : R. M. Rilke als Mystiker, Berlin 1935. — A u g u s t F a u s t : Der Dichter, Ausdruck mystischer Religiosität bei R. M. Rilke, in: Logos 2, 1922/23. — Geradezu als den „Idealtypus" bezeichnet H . W . H a g e n : Rilkes Umarbeitungen, Leipzig 1931 die Gestalt des „immanenten Mystikers", die allenthalben durch Rilke als Mensch und Dichter hindurchwirke: „So ist Rilkes Erlebnishaltung immer durch seine mystische Weltanschauung bedingt.. ." 50*

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(S. 84). Das wirkt überspitzt, und es überrascht, daß zum Beleg das bekannte „Ich finde dich in allen diesen Dingen, denen ich gut und wie ein Bruder bin" herangezogen wird, das weit eher auf Pantheismus als Mystik hinweist. S. 271. W e s e n der D i c h t u n g , A u f g a b e des D i c h t e r s . — Aus dem Keim eines Vortrags über „Wesen und Aufgabe des Dichters und der Dichtung bei R. M. Rilke" (1938) erwuchs die knapp zusammenfassende Darstellung Herm a n n K u n i s c h s : R. M. Rilke, Dasein und Dichtung, Berlin 1944 als einer der wesentlichsten Beiträge zur Rilke-Deutung. Der Kembestand ist kunsttheoretisch, die Tendenz weist zur Existenzialphilosophie, die Bewertung entspricht dem „Schwanken zwischen Angezogensein und Abgestoßenwerden" (Vorwort), der Hauptakzent liegt auf der Spätzeit, das Hauptmaterial stellen die Briefbände. Hinter der „Abwehr "und durch sie hindurch wirkt mehr das Religionsphilosophische als das Kunstphilosophische. Als Einzelheit sei die Abhebung Hölderlin-Rilke hervorgehoben, die zugleich auf Martin Heidegger Bezug nimmt. Im allgemeinen aber steht die im Kunstwerk formulierte Poetik sowie die werkimmanente Poetik zurück hinter einer Auswertung der außerhalb der Gedichte formulierten Poetik (besonders Briefe, auch die von 1914—21; vgl. H. Kunischs Anzeige in der Dt. Lit.-Ztg., Jg. 1939). Ein vergleichender Blick fällt auf Hans Carossa, der abweichend von Rilke das ethische Wirken und Bewirken der Poesie hervorhebt. Die Auffassung vom Angewiesensein und Bezogensein auf ein Du, auf ein Gegenüber (von Rilke weitgehend geleugnet) stützt sich u. a. auf H e r m a n H e f e l e : Das Wesen der Dichtung, Stuttgart 1923, wobei zugleich Brücken zur Existenzialphilosophie und deren Voraussetzung geschlagen werden ( G u a r d i n i über Sören Kierkegaard). Hermann Kunisch sieht die tiefere Wurzel jener Abwehr Rilkes in „dem tragischen Gehemmtsein im Bereich des personalen Lebens" und setzt sich von hier aus mit E. C. Mason (1939), dem er sonst in manchem beipflichtet, kritisch auseinander (S. 110). Nicht nur das III. Kap. behandelt „Die Wandlung der künstlerischen Aufgabe zur menschlichen"; vielmehr klingt damit der Tenor der ganzen Rilke-Deutung an, wie auch die eindrucksvolle und eindringliche Darstellung mündet in die Frage nach der Schicksalsfähigkeit oder Schicksalswillig-

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keit Rilkes: „Mein Schicksal ist, kein Schicksal haben."

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S. 271. „ M a l t e L a u r i d s B r i g g e " — D i e Bekanntschaft mit den vielgelesenen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910, zitiert nach der Ausgabe von 1922) wurde vorausgesetzt. Es sei daran erinnert, daß besonders gemessen an den starken autobiographischen Bezügen, die darin enthaltenen Beiträge zur formulierten (also im Kunstwerk formulierten) Poetik schwerlich so reich sind, wie manche Rilke-Forschung es andeutend durchscheinen lassen möchte. Die tagebuchartigen, gelegentlich durch Briefform aufgelockerten Aufzeichnungen — die sich über Eindrucksskizzen, Meditationen, Reflexionen und Assoziationen durchweg subtil-sensibler, psychologisierender Art mehrfach zu kleinen Kurzgeschichten meist düsteren oder numinosen Gepräges ausweiten — greifen mit Vorliebe auf Erinnerungen zurück. Kein Wunder, wenn die umfangreichste Äußerung zur Kunsttheorie im Ersten Buch (S. 24—25) als wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen wertvoller Gedichte den Schatz an „Erinnerungen" und „Erfahrungen" merklich betont herausstellt. Das Moment der „Erinnerung" als wirklichkeitdämpfendes Darstellungsmittel hatte schon im poetischen und ideellen Realismus, vor allem in der Kunstauffassung Otto Ludwigs, Aufmerksamkeit gefordert (vgl. Bd. IV). Das relativ Neue, das schon beim damaligen Rilke hinzukommt, liegt darin, daß solche Erinnerungen gleichsam bereits eine Auslese erfahren haben müssen. Denn nur die Erinnerungen und „Erfahrungen" (im prägnanten Sinne), die das Sieb des Vergessenkönnens durchlaufen haben, sind künstlerisch fruchtbar. Es genügt nämlich noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können und geduldig warten, bis sie sich spontan aus dem Vergessensein heraus aufs neue erheben und wieder beleben („wiederkommen" lautet der schlichte Terminus). Erinnerungen als solche sind noch nicht triebkräftig und vollwertig: „Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde (stets bei Rilke betont) das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht" (S. 26). Also nicht allein darauf kommt es an, daß das einst

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„Reale" durch den zeitlichen Schleier „poetisch" wird („poetischer Realismus"), sondern darauf, daß die Erinnerung und Erfahrung ihren Dauerwert durchsetzt, eine Integrität mit dem „lyrischen Ich" darstellt und eine Ineinsbildung (nicht nur eine Nachbildung) erlitten — oder richtiger: erzwungen — hat. Ein ausgeprägtes Kunstgespräch bringen die Aufzeichnungen indessen nicht. An Einzelproblemen werden berührt: das Problem des Unbehausten und der Einsamkeit (S. 58—60 der „Preis des Alleinseins" muß gezahlt werden), die Abwehr des Dichters, der allzu leicht die Unbefangenheit und Echtheit gefährdet, zugunsten eines von innen her gottbegnadeten Dichtertums („damit Gott dich berufen kann in der Nacht", S. 17/18) und unmittelbar darauf die hohe Bewertung der Unabwägbarkeiten, der feinen Abstufungen und unmerklichen „Ubergänge". Der Dichter müsse immer wieder „unter dem Sichtbaren nach Äquivalenten" suchen „für das innen Gesehene" (S. 121). Aus dem Zweiten Buch sei hervorgehoben die Abwehr des nur „Ungefähren", nicht Genauen: „Er war ein Dichter und haßte das Ungefähre", und zwar stehe nicht Pedanterie dahinter, sondern der Wille zur „Wahrheit" (II, 54). Von hier aus wäre leicht ein Anschluß an das Dinggedicht herzustellen. Verschiedentlich läßt sich beobachten, wie die Unzulänglichkeit einer vorgefundenen Dichtung zum eigenen, wenn auch nur improvisierten Entwurf anregt. „Dies scheint mir, wäre zu erzählen gewesen", meint Rilke unter dem Eindruck einer Zarengeschichte, die aus ihrem fruchtbaren Motiv nichts Rechtes zu machen gewußt hatte (11,85). Schon vorher begegnet der kritische Hinweis auf die leider verlorengegangene spontane Erzählfreude und Erzählfähigkeit: „Daß man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor meiner Zeit gewesen sein". Zwar nicht Rilke selber, aber eine seiner Gestalten spricht das aus. Ebenso beachtet Rilke mehrfach die Funktion des Kunstwertaufnehmenden. Was dagegen das „Ungefähre" betrifft, so hat die Sonderforschung (auch die neueste) wohl auf diesen, zudem beiläufig eingestreuten Hinweis einen zu starken Wertakzent gelegt. Die werkimmanente Poetik läßt vielfach gerade das theoretisch verschmähte „Ungefähre" als hohen Wirkungswert in der Praxis dominieren. Die Bevorzugung von Zwischenzuständen und Grenzsituationen in der lyrischen Thematik brachte

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das ohne weiteres mit sich. Aber auch Malte Laurids Brigge bewegt sich in derartigen Zwischenstationen. Es handelte sich in Wirklichkeit um eine Art von Liebeshaß: theoretisches Abwehren und praktisches Hingezogenwerden. D e r n u m i n o s - a s s o z i a t i v e T y p u s der L y r i k (ein sehr modern gewordener Typus, etwa auch im metaphysischen Neusymbolismus) ist bei Rilke nicht „von ungefähr" so fühlbar ausgeprägt, obgleich nicht in dem Grade wie bei Hofmannsthal. Die Briefe Rilkes sind stilistisch nicht selten Glanzstücke in der Technik des „Ungefähren". Aber Rilke will gleichsam auch dieses Ungefähre mit Genauigkeit treffen. Diese Treffsicherheit darstellerischer Art, diese Genauigkeit auch noch im „Treffen" ferner, scheinbar verschwimmender Assoziationen ist gemeint, schwerlich jedoch das „Ungefähre" im landläufigen Sinne. Es handelt sich bei jenem Anekdotensplitter ja auch nicht um einen Begriff, sondern kennzeichnenderweise um ein Wort. Im „Wörtlichen" haßt der Dichter das Ungefähre, nicht jedoch im Begrifflichen, wo es gerade bei Rilke häufig ist. Das Unbewußt-Irrationale wird übrigens auch theoretisch häufiger herausgestellt. So heißt es ζ. B. von der Darstellung des Weinens durch einen Maler (nachdem von klagenden Gedichten die Rede gewesen war) etwas kritisch im Sonderfalle: „ . . . das dem Maler gelang, weil er nicht wußte, was es war" (LB II, 6). Das Unsagbare, das „Unsägliche" weist in ähnliche Richtung: „Es ist, als hätten sie im voraus die Worte vernichtet, mit denen man sie fassen könnte". Klaren Entscheidungen und robusten Bestimmungen wird immer wieder und mit erstaunlichem Geschick, ausgewichen. Aber als Dichter, als Herrscher der Wortwelt, hat Rilke mit dem „Einzelnen" tapfer und zäh gerungen: „Es ist alles aus so viel einzigen Einzelheiten zusammengesetzt, die sich nicht absehen lassen. Im Einbilden geht man über sie weg und merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist. Die Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich (prägnanter Sinn) ausführlich" (II, 39/40). Zugleich erfolgt die Gegenwehr gegen das naturalistische Verfahren: „Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den Straßen liegt und in den Häusern; nur daß mehr davon dort (im Bühnenwerk) zusammenkommt als sonst in einen Abend (vgl. Theaterabend) geht" (II, 148). Bei dieser Gelegenheit fallen einige Bemerkungen über das Tragische, das innerlich Tragische

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im Verhältnis zum veräußerlicht Tragischen, das der Neugier des Publikums preisgegeben bleibt („ausgestellter Schmerz — eilige Neugier"). Aber Andeutungen müssen hier genügen. — Noch sei kurz, aber nachdrücklich vermerkt, und zwar im V o r a u s b l i c k e n auf den metap h y s i s c h e n N e u s y m b o l i s m u s der derzeitigen Gegenwart, daß die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge den Motivkreis der sogenannten „seltsamen, sonderbaren Geschichte" eindeutig bevorzugen, soweit sie über das Tagebuchartige hinausstreben. Übrigens wird auch theoretisch der Wert der „wunderlichen Geschichten" als Ausdruck und Betätigung echter Erzählkunst unterstrichen (II, 30). Der moderne Bezug des n u m i n o s - a s s o z i a t i v e n T y p u s innerhalb der Lyrik wurde bereits hergestellt. Die Kernbestände der Lyrik Rilkes dürften jedoch im medit a t i v - k o n t e m p l a t i v e n T y p u s zu suchen sein. S. 273. „ M i t t e des e i g e n e n W e s e n s " . — In diese Mitte zwischen den starken Spannungen sucht einzudringen W i l l e m L a u r e n s G r a f f : Rilkes lyrische Summen, Berlin i960 (deutsche Ubersetzung von Rilke Creative Anguish of α Modern Poet, Princeton, University Press 1956). Die Originalfassung betont also die „schöpferische Angst", jene Beklommenheit aus starken, übermächtigen Spannungen heraus. Die Suche nach der Mitte klingt an in dem Rilke-Zitat: „Kunst kann nur aus rein anonymer Mitte hervorgehen" (a. a. 0., S. 195). Die deutsche Übersetzung (von Elisabeth Killy) stützt ihre Titelwahl u. a. wohl auf die Bemerkung des „Vorspiels", der zufolge Rilkes „poetische Symbole . . . Endergebnisse einer langsamen und sich wesentlich im Unterbewußtsein vollziehenden Verarbeitung ursprünglich wirklicher, sinnlicher Erfahrungen" darstellen. Rilke selber habe sie als „lyrische Summen" bezeichnet, deren einzelne Teilbestände und Wertglieder nicht mehr nachträglich zu ermitteln und zu rekonstruieren seien. Die „Summe" in diesem zugleich leicht religiös getönten Sinne bedeutet dabei ein Mehr gegenüber einer bloßen Addition der Einzelposten (S. 2). Die „schöpferische Angst" würde ζ. B. schon in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" anklingen, wo einerseits das dumpfe Getriebensein durchschlägt, andererseits aber das Kunstbewußtsein das nur „Ungefähre" ferngehalten wissen möchte (S. 107/09). Dies deutet zugleich jene erwähnte Spannung an, die

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überall bei Rilke nachweisbar ist. Unter fortlaufender Berücksichtigung der persönlichen Erlebnisgrundlagen, der Selbstzeugnisse, der Sekundärliteratur usw. wird ein umfassendes Gesamtbild entwickelt, das Rilke vor allem unter dem Blickwinkel des Symbolischen (Gestalt) und Religiösen (Gehalt) betrachtet und bewertet. Nach unserer Terminologie würde er, so gesehen, bereits eine Art von Vorarbeit für den metaphysischen Neusymbolismus geleistet oder doch begonnen haben. Demgegenüber kommt der von uns herausgestellte Zug zu einer lyrischen Neuklassik kaum hinreichend zur Geltung. Kunsttheoretisches wird erfreulich oft berücksichtigt, und zwar besonders in den Abschnitten Überwindung durch die Kunst, bzw. Kunst und Heiligkeit (S. 190ff.). Aber auch ein früherer Abschnitt wie Auf der Suche nach dem Bilde (S. 105ff.) bezieht die Kunstauffassung ein. Die Puppen- und Marionetten-Symbolik Rilkes (S. 312 ff) wird von Kleist wesentlich abgehoben (S. 315). Dennoch überwiegt im Gesamten der eindringlichen Darstellung das Weltanschauliche gegenüber dem Kunstanschaulichen. Der Titel des Originals würde an sich mehr auf Schaffenspoetik hinweisen. Ebenso betont er das „Moderne" (modern poet) in Rilkes Haltung, was unseren Hinweis auf die Linie des metaphysischen Neusymbolismus bestätigen würde. Ob jedoch diese Modernisierung dem Spezifischen in Rilkes Kunstauffassung voll gerecht wird, kann hier nicht beiläufig entschieden werden. Vielfach erfolgt eine Berufung auf Rudolf Kaßner (vgl. auch R. Kaßner-Festschrift, Winterthur 1953). Die reiche Bibliographie orientiert besonders über mehrere neu herausgekommene Briefwechsel Rilkes und nennt u. a. E l s e B u d d e b e r g : Kunst und Existenz im Spätwerk Rilkes, eine Darstellung nach seinen Briefen. Karlsruhe 1948. — N o r a W y d e n b r u c k : Rilke, Man and Poet (stark biographisch), London 1949. — E r n s t Z i n n : R. Μ. Rilke und die Antike, in: Antike und Abendland III, 201—52, Hamburg 1948 (von W. L. Graff also nicht übersehen). — A n d r e S i l v a i r e u n d C l a u d e V i g e e (Herausgeber): R.M. Rilke, Translations and Essays, Paris 1952. — P e t e r D e m e t z : Rene Rilkes Prager Jahre, Düsseldorf 1953 (Rene war der amtliche Vorname. Rainer wurde auf Vorschlag von Lou AndreasSalome erst später an dessen Stelle gesetzt; daher ist für jene Epoche Rene berechtigt). — H e r b e r t W. Bei-

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m o r e : Rilkes Craftsmanship, Style, Oxford 1954.

An Analysis

of His

Poetic

S. 274. D i e n s t a m D i n g . — Ins Weltanschauliche übertragen und als Schlußertrag herausgestellt von E . K ü l l m e r : Auffassung und Bedeutung des Todes im Werk R. M. Rilkes, Diss. Münster 1936, zwar nicht in dieser Fassung, aber dem Sinne nach. Während Rilke am Schluß des „Malte Laurids Brigge" das Verhältnis zu Gott im Symbol des „Geliebten" erfaßt, meint eines seiner „Letzten Gedichte" mit diesem Terminus den Geliebten der Dinge (Dingvergottung): „Geliebter, der ich wurde; an mir ruht/der Schöpfung Bild und weint sich aus" (Geliebter nicht Gottes, aber der Dinge im „Weltinnenraum"). — Hinsichtlich des Todesproblems (Heroismus geistiger Zucht oder „Haushalten eines zum Widerstand Unfähigen") setzt sich E. Küllmer kritisch auseinander mit J ü r g e n P e t e r s e n : Das Todesproblem bei R. M. Rilke, Würzburg 1935 unter Abhebung Rilkes von Hölderlin und Nietzsche. Im existenzialphilosophischen Sinne knüpft daran an P e t e r P a u l P a u q u e t : Schöpferische Angst, Versuch einer Angst-Kosmologie bei R. M. Rilke, Diss. Bonn 1939. A u g u s t C l o s s : a. a. 0. (1947) berücksichtigt außer seinem Zentralproblem des freien Rhythmus (Duineser Elegien) auch das Ding-Problem mehrfach (S. 173/74). Dankenswert ist der Hinweis auf die Anregung von Picassos „Les Sattinbanquos" betreffs der 5. Elegie (S. 176). S. 274. K u n s t t e c h n i k d e s W o r t e s . — Vgl. A n n e m a r i e W a g n e r : Unbedeutende ReimWörter und Enjambement bei Rilke und in der neueren deutschen Lyrik, Diss. Bonn 1930. Albert Soergel vertritt gegenüber anderen Auffassungen die Meinung, daß jene unbetonten Reimwörter eben doch Zeichen einer unzulänglichen Durchformung seien, wie sie sich vorzugsweise in auch sonst schwachen Gedichten finden. — F r i t z K a u f m a n n : Sprache als Schöpfung, Zur absoluten Kunst im Hinblick auf Rilke, Z. f. Aesth., Jg. 28 (1934). — H e r m a n n K u n i s c h a. a. 0. (1944) bringt einen Exkurs über einige Sonderformen (S. 103/04) und verweist zugleich auf Sonderarbeiten über die Duineser Elegien (H. Cämmerer 1937) oder die Sonette an Orpheus (Η. E. Holthusen, Masch.-Expl. 1937). A u g u s t C l o s s : Die freien Rhythmen in der deutschen

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Lyrik, Bern 1947 bekundet in seinem Rilke-Abschnitt (S. 172 ff.) neben feingestufter Einführung in rhythmische Wirkungswerte auch kritischen Blick für sprachliche Besonderheiten (S. 178). Außer den „Duineser Elegien" zieht Closs auch die „Fünf Gesänge" (1914) heran. S. 275. W ö r t e r b ü c h e r . — H. W i l h e l m H a g e n : Rilkes Umarbeitungen, zur Psychologie seines dichterischen Schaffens in: Form und Geist 24 (1931, Diss. Greifswald) bringt ausführliche Belege für Rilkes Bemühung um die handwerklichen Grundlagen und belegt auch das Beispiel, das Jens Peter Jacobsen durch eine Auswertung von Wörterbüchern gegeben hatte, a. a. 0., S. 6. Bis in Einzelheiten des Arbeitsverfahrens lernt also Rilke von J. P. Jacobsen. — H. W. Hagen sieht etwas einseitig in Rilke vor allem den „immanenten Mystiker". Er gebraucht damit einen Terminus, der mehr verschleiert als enthüllt. S. 275. R i n g e n R o d i n s , T e r m i n u s „ M o d e l e " . — Auf eine Wandlung und Erweiterung des Begriffs „Modele" bei Rilke, verglichen mit dem mehr kunsttechnischen ArbeitsLeitwort „le modele" bei Rodin, geht erfreulicherweise etwas näher ein H a n s B e r e n d t : R. M. Rilkes „Neue Gedichte", Versuch einer Deutung, Bonn 1957. Vom Verfahren (Rodin) drängt R. M. Rilke das Fachwort merklich in ein Verwesentlichen hinüber. Fast wird aus der Methode eine Metaphysik. Rodin wollte unter „modele" in Abhebung von „Kontur" die Gesetzlichkeit der Flächen und deren Anordnung und Zuordnung verstanden wissen (Komposition der Flächen im Raum und Rahmen des Konturs). R. M. Rilke greift das zunächst auf, bemüht sich jedoch bald um eine Übertragung auf die Wortkunst als eine mehr geistige Kunst, indem er — kennzeichnend für seinen Hang zum Symbolisieren — jene zweite Teilbedeutung der Zuordnung auf ein Zuordnen von Anschauungsschicht und Sinnbildschicht transponiert. Rilke bezeichnet brieflich jenes Fach- und Schlagwort Rodins geradezu als „ein neues Grundelement". Aber er erkennt bei allem Beeindrucktsein immerhin die Notwendigkeit einer Modifikation für die Wortkunsttheorie. In Betracht kommen vor allem die Briefe an Clara Rilke (März und Mai 1907). Mit Recht bemerkt H a n s B e r e n d t : „Was für Rodin im Grunde die entscheidende formale, hand-

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werkliche Erkenntnis war, wandelt sich bei Rilke in eine kunsttheoretische und schließlich in eine metaphysische Deutung" (S. 28). Dennoch hätte H. Berendt, der selber neben dem „Symbol" das „Wesen" (als abgewandelte Deckbegriffe) heranzieht, m. E. noch einen Schritt weiter gehen können, nämlich vom Symbolischen zum Typischen. Dieses Typische (modele als Wesensgesetz von typushafter Geltung) würde zugleich den Hinweis bringen auf die Neigung Rilkes zum Abstrakten im Symbolischen (bis Allegorischen). Charakteristisch bleibt der erneute Nachweis, daß Rilke schon damals vom „Gesetzlichen" angerührt und angezogen wurde; dankenswert ist das feinsinnige Aufspüren eines kunsttheoretischen Begriffs gerade innerhalb einer Arbeit, die an sich andere Ziele (Verstehen durch Interpretation der Gedichte) verfolgt. Über die „Modell"-Vorstellung vgl. a. a. 0., S. 25—29. Den vielerörterten Einfluß von Sören Kierkegaard dagegen schränkt H. Berendt gegenüber Bollnow u. a. beträchtlich ein, obwohl ihm mancherlei Anklänge an Kierkegaard nicht entgehen. Wenn auch Rilke nicht so überzeugend wie Henrik Ibsen das „Modele" Kierkegaard ableugnen kann, so setzt doch dieser Zustrom aus der „geistigen Umwelt" erst etwa 1910 ein. Die Spannung zwischen dem Sinnlichen und Abstrakten, zwischen Plastik und Musik freilich deutet mehr auf Kierkegaard als auf Rodin. So finden sich wiederum das Bildende und das Bedeutende, das Typische (der Klassik) und das Symbolische (der Romantik) bei Rilke im Neben- und Miteinander, gemäß seiner Zwischenstellung zwischen Neuklassik und Neuromantik. Hinsichtlich der Beziehung zur Klassik vgl. auch E r n s t Z i n n : R. M. Rilke und die Antike, in: Antike und Abendland, Hamburg 1948, Bd. III. Ganz allgemein kann gesagt werden, daß der ausgeprägten Aufnahmewilligkeit und fast femininen Anpassungsfähigkeit Rilkes manches von außen her angeflogen ist, was er sich keineswegs innerlich und gründlich erarbeitet hat. Denn nicht überall wird seine „geistige Umwelt" zu einer tiefer gründenden Innenwelt. Und nicht jede schnell bereite Aneignung ist eine echte geistige Besitzergreifung. Rilke als Lyriker ist leicht ergriffen, begreift aber im Grunde recht schwer, besonders dort, wo es nicht nur um Kunsttheorie, sondern anspruchsvoller bereits um Kunstphilosophie geht.

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S. 280. Paul Ernst.— N o v e l l e n , S o n d e r u n t e r s u c h u n g . — M a r i e F l o r i n : Paul Ernst als Novellist, Diss. Münster 1926; nicht bedeutend, aber redlich. — H e l l m u t h H i m m e l : Geschichte der deutschen Novelle, 1963 (dort Novellenbegriff und Definition der Novelle). S. 280. M u s t e r t r a g ö d i e „ B r u n h i l d " . — A l s das eigentliche Paradigma im Kunstschaffen sowohl von R o b e r t F a e s i a. a. 0., S. 64f. angesetzt, der den theoretisierenden Aufsatz „Die Nibelungen·. Stoff, Epos und Drama" zur Interpretation heranzieht, wie es noch betonter bei Herbert Georg Göpfert a. a. 0., S. 128ff. geschieht. Schon R. Faesi hebt die neue Sicht ab von der älteren im Epos und bei Hebbel. Die stärkere Konzentration gegenüber der Fassung von Friedrich Hebbel wird anerkannt, und zwar schon im zeitlich-räumlichen Betracht: die Ermordung Siegfrieds durch Hagen und der Freitod Brunhilds sind nahe aneinandergerückt, wobei zugleich die „Vasallentragik" Hagens im Gegensatz zum theoretischen Kalkül zu ihrem vollen Recht kommt in der praktischen Durchführung. Krimhild und Gunther erscheinen so als Durchschnittsmenschen, während Brunhild und Siegfried nach dem Muster des Herrenmenschen angelegt werden, Siegfried freilich als in sich gebrochener Herrenmensch (Nietzsche). Sowohl R. Faesi als H. G. Göpfert berufen sich in diesem Zusammenhange auf den Essay „Das Weib und die Tragödie" aus der Essaysammlung „Der Weg zur Form" (vgl. Faesi S. 71 und Göpfert S. 130), wobei Faesi den betreffenden Artikel richtiger zitiert als Göpfert. Und obwohl Göpfert der Analyse mehr Raum und Wert zuweist, übersieht er stärker als Faesi das Befangenbleiben P. E m s t s in einer bloßen formulierenden, allzu bewußt formulierenden Charakteristik, wo man gestaltende Charakteristik erwartet. Göpfert neigt etwas dazu, das Willensdrama in ein Seelendrama umzudeuten. Dagegen stellt er klarer heraus, daß P. Ernst nicht eine Siegfriedtragödie, sondern eine Brunhildtragödie habe schaffen wollen (S. 141). Trotzdem führt er nur das näher aus, was Faesi schon knapper vermerkt hatte, so etwa die Verwendung Hagens in Theorie und Praxis (vgl. Faesi S. 67 mit Göpfert S. 141). S. 281. S c h i c k s a l s h a l t i g e S i t u a t i o n e n . — Betreffs des „Demetrios"-Dramas, das ein ähnliches Motiv aus der

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russisch-polnischen Umwelt (Schillers Demetriusfragment, vgl. auch F. Hebbel, Albrecht Schaeffer u. a.) in eine griechisch-spartanische Umwelt verlagert, vgl. R. F a e s i a. a. Ο. (1913), S. 55: „Die Situation ist das Primäre, aus ihr ergeben sich die Charaktere " . H. G. G ö p f e r t beruft sich a. a. 0 . (1932), S. 52/53 unter Rückgriff auf W a l t e r F l e x : Die Entwicklung des tragischen Problems in den deutschen Demetriusdramen, Diss. Erlangen 1912 auf R. Faesi. Es darf in diesem Zusammenhange daran erinnert werden, daß P. Ernst in seiner Novellentheorie nicht sowohl von der „Situation" spricht als vielmehr von der jeweiligen „Station", in der jedoch Charakter und Schicksal letztlich ganz ähnlich zusammentreten und zusammentreffen wie im Drama. S. 281. H a n s F r a n c k . — E i n i g e s über ihn bringt H e r b e r t G e o r g G ö p f e r t : Paul Ernst und die Tragödie, in: Form und Geist 29 (1932), S. 179 f. Das Schlußkapitel (VI „Die Mitstrebenden", S. 143ff.) stellt eine Bereicherung der Kenntnis neuklassischer Bestrebungen dar, während Paul Ernst selber zu sehr nach H. G. Göpfert umgedeutet wird. Darauf soll später näher eingegangen werden. Die Gruppe der Nachstrebenden jedoch kommt plastischer heraus, als dies bei R. F a e s i a. a. 0 . (1912) der Fall war. S. 285. T h e o r i e d e s E p o s . — E r g ä n z e n d e s könnte aus späteren Publikationen beigebracht werden, die jedoch nicht mehr im theoretischen Entfaltungsraum der Neuklassik liegen. In der Essay-Sammlung „Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus" (zitiert nach der um einige Aufsätze erweiterten Auflage von 1931) findet sich die wertende Bemerkung: „Die Tragödie steht auf einer seelisch höheren Ebene wie das Epos". Erläutert wird das an dem Umstand, daß im an sich wertvollen Epos ein Held (Achill) aus persönlicher Mißstimmung (Agamemnon gegenüber) dem Kampf fernbleiben dürfe. Der dramatische Held jedoch handle nicht aus „selbstsüchtigen Beweggründen", sondern „er folgt einer Idee" (Beharren bei der früheren Grundthese). Diese Bemerkung findet sich als eine der beliebten Abschweifungen im „Don Carlos"Aufsatz. Gestreift wird die Sonderform des Epos in dem längeren Aufsatz „Zur Shakespeare-Frage", und zwar in dem (merklich von Schillers und Goethes Versuch „Über

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epische und dramatische Dichtung" beeinflußten) Unterabschnitt „Episch und dramatisch". Bekanntlich zielt Paul Ernst darauf hin, Shakespeare als nur „epischen Dramatiker" rangmäßig tiefer zu stellen als die Tragödie der Antike. Was das Epos betrifft, so sei es handlungsmäßig auf „Widerstände" und deren Uberwindung durch den Helden angewiesen: „Odysseus ist eine durchaus handelnde Natur, im Epos aber erscheint er immer als der Dulder, wirkt er leidend". Charakter und Wirkung auf den Kunstwertaufnehmenden fallen dergestalt auseinander; dies aber „ergibt sich aus den handwerklichen Bedürfnissen des Epos". Man dürfe bei der Rezeption einer Dichtung nicht immer von den Charakteren ausgehen, das sei ein falsch gewählter Ansatzpunkt (Beharren bei einer weiteren früheren Grundthese). Vielmehr sollte man wie der Dichter selber von der Handlung ausgehen, aus der sich erst die Charaktere „ergeben". Jetzt endlich kann Paul Ernst mit der ihm eigenen Selbstsicherheit erklären: „Beim Epos ist nun die Handlung so beschaffen, daß ein Ziel feststeht, der Inhalt des Epos aber die Widerstände sind. Dadurch wirkt der Charakter des epischen Helden stets (!) als leidend; er hat keine andere Aufgabe (?) als Widerstände zu bekämpfen; das Handelnde sind die Widerstände" (S. 198/99). Der letzte Satz bestätigt zugleich das abstrakte Denken und Darstellen, das dennoch nicht begrifflich klar zu formulieren versteht. Die ganze Darlegung geht von einer Fabel bei Saxo Grammaticus aus und auf den Nachweis zu, der ,,Hamlet"-Stoff sei eigentlich geeigneter für ein Epos. Schließlich sei, ohne Vollständigkeit zu beabsichtigen oder gar zu beanspruchen, hingewiesen auf eine Umschreibung in dem Schluß-Aufsatz „Was nun?", der wieder mehr Rücksicht nimmt auf den Gesamttitel der Sammlung. Die Stelle sei ausführlich herangezogen, weil sie zugleich auf die anderen Gattungen und Arten eingeht: „Das Epos rollt ein großes, umfassendes Weltbild auf, hinter welchem eine besondere Art von religiösem Glauben, Weltauffassung und Weltanschauung steht. Das Drama stellt die Verbindung von Persönlichkeit und Schicksal dar und hat eine andere Art(!) von religiösem Glauben zur Voraussetzung. Die Lyrik gestaltet die dunkel quellenden Urkräfte des Lebens zu klingendem und bildmäßigem Wortausdruck. Die Novelle ist imstande, Schicksalszusammenhänge darzustellen, welche das Drama nicht

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mehr gestalten kann, und der Roman kann ein Weltbild geben, das sich in die Form des Epos nicht mehr fügt" (S. 471). Dem Dichter Paul Ernst, der hier literaturhistorische Ambitionen aufweist, schwebt anscheinend etwas in der Art einer Problem- und Ideengeschichte einerseits und einer Gattungsgeschichte andererseits vor. Zu der letzteren Perspektive hat ihn E. Ermatingers Lyrik-Geschichte ermutigt. Wir stehen beim späteren Paul Ernst also bereits an einer der (später an Fülle zunehmenden) Berührungsstellen von Dichter-Poetik und fachwissenschaftlicher Poetik. S. 291. W e l t a n s c h a u u n g s - u n d B i l d u n g s r o m a n . — Wie schon die erwähnte Zurückführung des naturalistischen Dramas auf Goethes Bildungsroman (S. 641) andeutet, scheint Paul Ernst vom Bildungsroman im engeren Sinne nur wenig zu halten. Das bestätigt eine spätere Nebenbemerkung in dem Aufsatz über Kleists „Prinz von Homburg". Aus Anlaß der „Homburg"-Deutung durch Friedrich Hebbel wendet Paul Ernst ein, daß ein Werdevorgang nicht Gegenstand eines echten Dramas sein könne, um fortzufahren: „Wir haben die etwas bedenkliche Form des Bildungsromans dafür". Dort gehe es um die Befriedigung unseres Interesses am „Werden eines bedeutenden Menschen", das man sonst aus Brief- und Tagebuchlektüre ablesen könne. (Zusammenbruch des Idealismus S. 313). Was den Weltanschauungsroman betrifft, so gesteht ihm der Artikel „Was nun?" die Fähigkeit zu, ein umfassenderes „Weltbild" als etwa die Novelle zu vermitteln (vgl. die Anmerkung über Theorie des Epos.). S. 291

Aufschlußreiche Sonderforschung. — R o b e r t Faesi: P. Ernst und die neuklassischen Bestrebungen im Drama, Leipzig 1913 behandelt vorwiegend das Kunstschaffen (S. 10—92) unter Einbeziehung der Novellen und Romane und erhebt in einem späteren Sonderabschnitt kritische Einwände gegen Emsts Dichtungen (S.113—119); die „Theoretischen Schriften" kommen mit ihren Haupterträgen zur Geltung, wobei die Skizze über die damals gerade erst erschienene Sammlung „Ein Credo" während der Drucklegung hineinverarbeitet werden mußte (S. 92—113). Ein Schlußteil (S. 120 ff.) ist den „neuklassischen Bestrebungen" der Gruppe (Scholz, Lublinski, E. v. Bodmann, Wilhelm Schmidtbonn, Leo Greiner) gewidmet. — R. Faesi,

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der selber als Schriftsteller hervorgetreten war (Tragödie „Odysseus und Nausikaa", Komödie „Die offenen Türen"), geht in freierer Darstellung unter Einflechtung eigener Gedanken an sein Thema heran. Durchweg sind es kluge Gedanken und treffsichere kritische Bemerkungen; aber gerade bei der Darlegung der theoretischen Ansichten P. Emsts kann der nicht genau bewanderte Leser eben deshalb leicht den Überblick verlieren über das, was von P. Ernst und was von R. Faesi stammt. Das spezifisch Neuklassische wird nicht besonders nachdrücklich herausgearbeitet; das ist weit eher bei der Skizze des Gruppenbildes (S. 120 ff.) der Fall. So kommt es, daß hinsichtlich der Theorie weder bei Faesi noch bei Göpfert das eigentlich Neuklassische den Akzent trägt. Der Titelzusatz bei Faesi ist nämlich historisch, nicht prinzipiell gemeint. R. Faesi hat die Würdigung der Werke verschiedentlich mit Bemerkungen über die zugeordnete Theorie angereichert, so daß für das Verhältnis von Theorie und Praxis manches Fruchtbare herausspringt. Sogar Novalis'TraumTheorie wird gestreift (S. 16), um den Übergang der naturalistischen Frühwerke zum Impressionismus, gemäß der damaligen Wandlung bei Arno Holz (vgl. Emsts „Polymeter"), zu erläutern, wobei leicht schon die Neuromantik mit hineinspielt. Ebenso wird F. M a u t h n e r mit seiner „Kritik der Sprache·" befragt, um Äußerungen in der sehr frühen naturalistischen dramatischen Skizze „Wenn die Blätter fallen" (im Werk formulierte Poetik bzw. Sprachtheorie) zu deuten usw. Während im Hauptabschnitt über die „Theoretischen Schriften" die Novellentheorie, gemäß der Beschränkung des Titels („im Drama"), ausgespart bleibt, wird sie wenigstens bei der Analyse der Novellen berührt (S. 19/20), wird ferner auf das Kunstgespräch in der Einleitung zur Herausgeber- und Ubersetzerarbeit „Altitalienischer Novellen" hingewiesen. Bei der Analyse der Romane („Der schmale Weg zum Glück" und „Die selige Insel") sind zwar Bezüge auf den Entwicklungs- oder Bildungsroman wie G. Kellers „Grünem Heinrich" einerseits oder Carl Spittelers „Imago" andererseits bemerkenswert; aber die Möglichkeit, auf eine Theorie des Romans zurückzugehen, fehlt, weil die Roman-Theorie von P. Ernst kaum ausgebildet worden ist. Ähnlich steht es mit der Würdigung der Lustspiele („Eine Nacht in Florenz", „Hulla" und „Lanval" bzw. „Über alle Narrheit Liebe" und „Der hei51

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lige Crispin"), weil keine ausgeprägte Lustspiel-Theorie vorliegt. Und man kann R. Faesis zusammenfassendem Urteil, das offener ist als das bei H. G. Göpfert, nur zustimmen: „Mit Gewalt, Fleiß und guten Rezepten schreibt man keine frischen Komödien" (S. 48). Dagegen ruft die Analyse der Tragödien sogleich die parallele bzw. vorausgegangene Theorie herbei, so etwa hinsichtlich des „ D e m e t r i o s " (S. 49/50). Wenn schon eine bürgerliche Tragödie fragwürdig erscheint (Hebbel-Schopenhauer), wieviel mehr eine proletarische, da der „Stier vor dem Pflug" wohl Mitleid, aber kaum Erhebung hervorrufen kann. Im allgemeinen neigt R. Faesi dazu, den „Demetrios", der Schillers bekanntes Dramenmotiv in die Antike transponiert, schon als vollgültiges Paradigma für die neuklassische Dramatik gelten zu lassen, während Göpfert daran zweifelt und erst dem „Brunhild"-Drama diese Beispielgeltung einräumt. Faesi glaubt schon dem „Demetrios" jene freudige Schicksalsbejahung zusprechen zu dürfen, die P. Ernst auch theoretisch vertritt (S. 53). Gerade in der äußeren Vernichtung empfinde man besonders stark und lebhaft die innere Verdichtung (beliebtes Beispiel: der heroisch-optimistische Tod der alten Wikinger). Eigenartig, aber unverkennbar berührt sich dabei die „Intensität" der Erlebnissteigerung der Neuklassik mit der „Intensität" der Ausdruckssteigerung des Expressionismus (von R. Faesi und H. G. Göpfert übersehen), eben nach dem Gesetz, daß sich die Extreme berühren (R. Faesi hegt freilich schon I9I3)· An sich erkennt R. Faesi durchaus, daß P. Ernst seinem ganzen willensstarken Typus nach, der ihn mehr zum Führer einer Kunstrichtung als zum Bewährer und Bewältiger eines Kunstwollens geeignet erscheinen läßt, stets zu Extremen geneigt ist, und zwar sowohl in seiner naturalistischen als auch in seiner neuklassischen Epoche. Und es scheint ihm verdächtig, daß der Theoretiker ebendieselben Merkmale des Kunstwerks (Sinnenhaftigkeit, spontane Phantasiefreudigkeit, sprachliche Unmittelbarkeit, politische Anschaulichkeit usw.) ablehnt, über die er als schaffender Dichter in seiner Kunstleistung nicht verfügt. Entsprechend ist die Theorie zugeschnitten nach dem Maße, das den eigenen Mangel verdeckt. Paul Ernst verwirft das, was er nicht hat, und verlangt das, was er zu haben meint. Demgemäß erstarrt er in der Leitidee, ohne sie lebensvoll gestalten zu können. Er denkt zu forciert, um

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als Dichter wirksam deuten zu können. Die Idee wirkt mehr konstruiert und instruktiv als konstruktiv und intuitiv. Sie bleibt mehr logisches Glanzlicht als psychologische Erleuchtung. Zur aufschlußreichen Sonderforschung kann weiterhin gerechnet werden H. G. G ö p f e r t : Paul Ernst und die Tragödie (1932), mit ihren Kapiteln II „Die Form des Dramas" und I V „Tragödie und Weltanschauung". Anders als Faesi verfährt Göpfert bewußt unkritisch, was sich besonders in seinem I. Kapitel „ D e r Weg zur Tragödie" (S. 8 ff.) nachteilig auswirkt. Denn im Gegensatz zu Faesi nimmt er alles hin, was P. Ernst biographisch berichtet, ohne zu bemerken, daß Ernst dort unverkennbar jene Tugenden (Anschauung, Lebensnähe, Gefühlswärme) hervorkehrt, die er nicht oder doch nur in recht geringem Grade besitzt. Es fällt ihm auch nicht der Widerspruch auf, in dem diese menschlichen Ansprüche zu den kunsttheoretischen stehen. Ihn fesselt vor allem „der tief religiöse Sinn". Dankenswert ist der Hinweis, daß der frühe Paul Ernst als erstes philosophisches Werk Eduard von Hartmanns „Philosophie des Unbewußten" studiert hat. Ebenso der Hinweis auf die Einwirkung Bruno Willes in der naturalistischen Periode (dem übrigens auch Gerhart Hauptmann vielleicht ebensoviel zu verdanken hat, wie er Arno Holz verdankt). Aber es fällt Göpfert nicht auf, daß Paul Ernst einerseits im frühen Aufsatz über „Tolstoi und den slawischen Roman" als vom Dichter zu erstrebende Wirkung „das Anschauen des Gedichteten" fordert, andererseits aber später in seiner neuklassischen Theorie möglichst weitgehend vom Anschaulich-Sinnenhaften und Konkreten zu abstrahieren empfiehlt. Hinsichtlich des Ubergangs von der Prosa zum Vers kann Verf. eine persönliche Bekundung von Paul Ernst ihm gegenüber mitteilen: „Und nur der Vers hat die nötige Schlagkraft, die das Drama erfordert" (S. 52). Ebenso verdient der Rückbezug der Typenbildung bei Paul Ernst auf die Urbilder bei Plato Beachtung. Erinnert man sich an das erwähnte Interesse für die „Philosophie des Unbewußten" (E. v. Hartmann), so möchte man fast auf die Archetypen-Lehre von C. G. Jung vorausweisen. Aber von Psychologie hielt Paul Ernst wenig, weil sie ihm zu sehr vom Ideellen des reinen, vermeintlich „klassischen" Ideendramas abzulenken schien. Richtig wird erkannt, daß Paul Ernst sehr stark auf das Kunsttechnische zielt. Nicht gesehen wird da-

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gegen, daß er letztlich völlig in einer Wirkungspoetik befangen bleibt, obwohl ihm sehr viel an dem Erschaffen einer klassischen Tragödie für „unsere" Zeit und vermeintlich für alle Zeiten liegt und er — auch in Anpassung an die Klassik — ganz auf den Schaffensvorgang und die Bildungspoetik hinarbeiten müßte. Gerade hier wird vielleicht der (den Mißerfolg) entscheidende innere Bruch in den Forderungen und „Gesetzen" sichtbar. Paul Ernst glaubte, „bilden" zu wollen, aber er wollte vor allem „wirken". Er glaubte auch deshalb „wirken" zu müssen, weil er ein widerstrebendes Publikum kraft der Kunsttechnik bezwingen wollte. — Aber zurück zu Göpfert. Er zitiert aus dem „Credo" (I, S. 166) die Stelle, wo Paul Ernst das Zurücknehmen des Lyrischen, überhaupt alles Ablenkenden, ja die Entfernung vom Leben fordert, um „störende Assoziationen" beim Zuschauer zu vermeiden, und nur soviel konkreten Kontakt duldet, als erforderlich ist, um trotz der „höchsten" Abstraktion gewisse Restbestände an Sympathiereaktionen beim Zuschauer zu sichern (S. 66). Aber er erkennt nicht und nutzt daher auch nicht die große Chance, den Typusbegriff bei Paul Ernst mit dessen Notwendigkeitsbegriff und Schicksalsbegriff organisch zu verbinden in der (im darstellenden Text) angedeuteten Weise. Paul Ernst versäumte die letzte Folgerung, nämlich das Schicksal zu deuten und dramaturgisch zu rechtfertigen, analog dem Typus der dramatischen Gestalt (Reduktion der Charakterzeichnung auf das unbedingt Notwendige). Aber er stand nah vor diesem letzten Schritt. Ein so wohlwollender Interpret wie H. G. Göpfert hätte ihm hier weiterhelfen müssen, besonders da er prinzipiell betont, in manchem über Paul Ernst hinausgehen zu wollen. S. 292

I b s e n s „ N o r a " . — Diese Abwertung von Ibsens „ P u p penheim"-Drama hat aber nicht ausgeschlossen, daß der Dichter von „Ariadne auf Naxos" bewußt oder unbewußt von diesem verleugneten Vorbild gelernt hat. Parallelen sind zu auffallend, um zufällig zu sein. Paul Ernst wollte offenbar eine antikische „ N o r a " schreiben und damit ein klassisches Gegenstück schaffen. Das Hauptproblem ist lediglich ins Antik-Klassische transponiert worden. Ariadne erlebt an Theseus dieselbe charakterliche Enttäuschung wie Nora an Helmer. Theseus rückt von der ungesetzlichen, aber aus Liebe vollbrachten Opfertat Ariadnes

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ebenso verständnislos und egozentrisch ab wie Helmer von der ebenfalls ungesetzlichen, ebenfalls ausLiebe vollbrachten Opfertat Noras. Das erwartete „ W u n d e r " der verstehenden Gegenliebe bleibt in beiden Fällen aus. Nur daß die T a t Ariadnes (Vatermord) der höheren religiösen „Versöhnung" bedarf. Parallel läuft auch die Abhängigkeit des männlichen Liebespartners von dem Urteil der öffentlichen Meinung. Zieht man die auf das Werden der eigenen Produktion zielende Bemerkung aus dem „Vorwort" zum ,,Credo" (I. Teil) mit heran, wonach „ D e r heilige Crispin" eine höhere „Spielart" von Hjalmar Ekdal (Wildente) sei (Paul Ernst drückt das freilich weniger direkt aus, a. a. 0., S. VII), so verstärkt sich die Vermutung, daß Paul Ernst manchen Erfolg Ibsens in andere Prägung umzusetzen versucht hat. In der Einleitung zum „Zusammenbruch des Idealismus" erinnert sich Paul Ernst zurückschauend vermeintlich bei Alfieri Anschluß gesucht zu haben, um dann klarzustellen: „Tatsächlich habe ich mich wahrscheinlich von Ibsen aus weitergebildet" (S. 8). Aber hier meint er offenbar nur seine naturalistischen Anfänge. E s kam darauf an, einmal zu fragen, ob a u c h d e r s p ä t e r e P a u l Ernst nicht manche Ermutigung von Henrik Ibs e n e r f a h r e n h a b e . Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß auch sein „Demetrios" ein bereits mehrfach vorgeformtes Motiv ins Antikische transponiert. Man braucht nur seinen „Don Carlos"-Essay zu lesen, um zu erkennen, wie er gern aus fremden (vermeintlichen) Fehlern etwas Besseres herausbilden möchte. Eine gewisse Verwandtschaft mit dem großen Dramentheoretiker Otto Ludwig wird in einem bewußten Wettbewerb mit fremden Mustern und Modellen spürbar. S. 299. B i n d u n g e n a n d i e T h e o l o g i e . — Fast über Gebühr arbeitet diese Seite heraus H e r b e r t G e o r g G ö p f e r t : a. a. 0. (1932). Die Darstellung des Hauptthemas verrät wohl ästhetische Feinsinnigkeit, läßt jedoch begriffliche Klarheit vermissen. Das weltanschaulich-religiöse Interesse und das ästhetische Reagieren sind stärker ausgeprägt als das kunstphilosophische und kunsttheoretische Erfassen und Erklären. Die religiöse Grundeinstellung tritt hervor, wenn ein Kapitel wie „Gnadendrama und Schauspiel" dem Hauptkapitel (IV) über „Tragödie und Weltanschauung" einführend vorangestellt wird, obwohl die be-

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treffenden Bestände zeitlich später liegen. Außerdem ist es ein wenig gelungenes Wagnis, auf die „Ariadne auf Naxos" den aus Barock und Romantik abgeleiteten Terminus „ E r lösungs- oder Gnadendrama" (S. 72) bedenkenlos zu übertragen. Im übrigen heißt hier der Gott Dionysos und nicht Christus. Man müßte denn schon auf Versuche einer Synthese (etwa beim späten Gerhart Hauptmann) vorausweisen und die Konzeption Paul E m s t s in seiner „Ariadne auf N a x o s " als bemerkenswerten Ansatz dazu deuten. Aber das geschieht bei H. Göpfert nicht, konnte auch 1932 kaum erwartet werden. Nun ist gerechterweise zu berücksichtigen, daß es für Göpfert nahe lag, zunächst die Materialbestände betont auszuwerten, die der Arbeit R. Faesis noch nicht oder doch nur im letzten Augenblick zur Verfügung standen. Dadurch mußte sich schon vom Material her der religiöse Tenor des Ganzen entsprechend verstärken. Aber es wirkt dennoch wenig überzeugend, wenn „der sechzigjährige Dichter" durch einen Zusatz(!) in einer dritten Auflage(!) erst nachträglich „unsere Auslegung" (d. h. die Göpferts) bestätigen oder „bezeugen" muß (S. 44), zumal bei den „Weltanschaulichen Grundlagen"! Worauf es hier ankommt : als Programmatiker der Neuklassik war Paul Ernst noch nicht von Vorstellungen des,, Erlösungs-und Gnadendramas" oder überhaupt von christlich-religiösen Vorstellungen beherrscht, wie das Göpferts Rückprojektion späterer Überzeugungen glauben machen möchte. Aber ihn interessiert nicht (wie er selber betont) die Neuklassik, sondern „das Erlebnis des Tragischen bei Paul Ernst" (S. 184). Überdies hat er sich vorbehalten, Paul Ernst nur zum Anlaß zu nehmen, um über ihn hinaus eigene Betrachtungen anzustellen. Aber die zeitweise durch den Einfluß Marx' und dann Nietzsches aufgehobene oder doch sehr aufgelockerte Abhängigkeit P. E m s t s von der Theologie hat Göpfert richtig herausgespürt. An den betreffenden Stellen, wo vom Religiösen deutlich abgewichen wird, steht denn auch mehrfach der Name Nietzsche bedeutsam in Klammem und dennoch mit Ausrufezeichen versehen (S. 63, 66).

S. 299. Wilhelm von Scholz: Mein Theater, 1964 (theatergeschichtlich relevanter als literaturgeschichtlich, höchstens die Inszenierung von Hölderlins Empedokles-Drama käme neben dem Rückgriff auf seine eigene Entwicklung

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als Dramatiker für den hier gewürdigten Zeitabschnitt in Betracht). S. 299. W e c h s e l s p i e l : P h i l o s o p h i e / M y s t i z i s m u s . — Diese Seite interessiert besonders A. M a t h i a s R e i s : Wilhelm v. Scholz, Studien zu seiner Weltanschauung, Diss. Bonn 1938, wobei zugleich die „Frage nach der Stellung des Dichters gegenüber der christlichen Kirche" aufgeworfen wird (S. 8). Neben der Weltanschauung wird in einem Schlußabschnitt die Kunstanschauung skizziert („Die Kunst, mit besonderer Berücksichtigung der Dichtkunst", S. 83—92). Auf ein Herausarbeiten der spezifisch neuklassischen Theorie legt Α. M. Reis, dem Thema und der Tendenz seiner Dissertation gemäß, keinen Wert, auch nicht in diesem Abschnitt. Vielmehr geht er sogleich von Bekundungen in W. v. Scholz' „Deutsche Mystiker" (1908) aus sowie von den „Zauberkräften", betont das Abrücken von der „Wirklichkeit" ersten Grades ( = äußere Erscheinung) (S. 85) usw. Für die Kunsttheorie bemerkenswert ist die Erörterung über den zweifachen Phantasie-Begriff auf Grund der Essay-Sammlung „Der Dichter" (1917): Phantasie als Bewirkerin eines bloßen Gedächtnisbildes (Schriftsteller) oder als gestaltende Funktion, die das Typische aus vielen Erfahrungen sammelt und weit über die Wirklichkeit hinaus bildend wirkt (Dichter). Überhaupt bietet W . v. Scholz einen Beitrag zur Unterscheidung von Dichter und Schriftsteller, von Künstler und Wissenschaftler. Für die Gattungstheorie: Betonung der Wirkung des Romans als Erlebnisersatz und Erlebnisbereicherung einerseits und Ausbreitung der „Lebensganzheit" andererseits. Allerdings hat dieser Abschnitt den vielfach in Sonderuntersuchungen zu beobachtenden Mangel, daß Material aus früheren und späteren Entwicklungsstadien unkritisch zusammengezogen wird, so etwa „Das unterhaltsame Tagebuch" (1928) u. a. S. 300. „ D e r J u d e v o n K o n s t a n z " . — Eindeutig ist die Abkehr vom naturalistischen Gegenwartsdrama in diesem historischen, ja kulturhistorischen Trauerspiel sowie die Hinwendung zum shakespeareschen Historiendrama, wobei die Anlage als Fünfakter auf die Klassik verweisen mag, sonst aber das ganze Problemdrama in seiner humanitären Tendenz eher auf die Humanität des „ N a t h a n " als auf die der „Iphigenie" zurückgeht. Motivlich eingeordnet in die

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Reihe: Nathan, Uriel Acosta (Gutzkow), Prof. Bernhardt (Α. Schnitzler), Prof. Mamlock (F.Wolf), entfaltet die Tragödie ihre Tragik aus der inneren Situation des Juden zwischen den Religionen. Denn der zum Christentum übergetretene jüdische Arzt Nasson vertritt im Grunde keine Religion, sondern die Humanität. Und als er im fanatischen Wirrwarr des 14. Jahrhunderts erkennen muß, daß er weder als Jude noch als Christ wirklich Mensch sein darf, als er den menschlichen Halt durch den Tod seiner jüdischen Geliebten (Bellet) verloren hat, da verschmäht er die Hilfe des judenfreundlichen Bischofs, dem er als Arzt das schon aufgegebene Leben zu erhalten und wiederzugewinnen vermochte, und geht freiwillig den Gang zur Richtstätte. Daß W. v. Scholz diesen Gang merklich dem Leidensweg Christi angleicht, wirkt peinlich. Dem schärferen Blick wird nicht entgehen, daß schon hier mit starker Spannung gearbeitet wird wie später im „Wettlauf mit dem Schatten". Von vornherein lastet die Stimmung der drohenden Judenverfolgung über der Szene, und W. v. Scholz weiß sie bis zum Schluß aufrechtzuerhalten, ohne freilich immer besonders wählerisch zu sein in der Verwendung kunsttechnischer Mittel. Die Episodenhandlung ζ. B. um den heroischen Juden Samlai wirkt ziemlich grell und fast wie eine Anleihe bei 0. Ludwigs „Mutter der Makkabäer" (Juda), besitzt aber eine starke dynamische Kraft für ein Vorantreiben des Konflikts. Nicht ohne Geschick verbindet W. v. Scholz die Idee des sinnvollen beruflichen Wirkenwollens (um dessentwillen Nasson Christ wurde) mit der Idee der Sehnsucht nach Seßhaftigkeit im eigenen Heim (die bei jenem Entschluß wesentlich mitwirkte). Aber alles dies wird in Gesprächen bis zur Uberdeutlichkeit erläutert. Kurz, die Aufklärung (mehr als die Klassik) ist hier ein eigenartiges Bündnis eingegangen mit der Romantik bzw. Neuromantik. Und der Gesamteindruck des künstlerischen Eklektizismus verstärkt sich weiterhin dadurch, daß auch die Wirkungsweisen des Symbolismus ausgenutzt werden. Die kühle Leidenschaft kann die noch kühlere Berechnung kaum verbergen, so daß mehr eine Summierung als eine Synthese zustande kommt. Der getaufte jüdische Arzt Nasson, der nur helfender Mensch sein möchte, besitzt doch als Mann und „Mensch" zu wenig Substanz, so daß er wie ein ideelles Substrat und erzieherisches Postulat wirkt: er ist letztlich ein abstrakter Ideenträger und warnendes oder

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wegweisendes Exempel. Eben deshalb kommt er gar nicht auf den Gedanken, etwa auf den heldischen Juden-Jüngling Samlai eifersüchtig zu werden. Er ist auch für das Heimatprinzip so sehr Ideenträger, daß er trotz der Gegenwirkung der geliebten Bellet sein kaum erworbenes Haus dem eigentlichen Besitzer, dem läppisch, ja rührselig wirkenden alten Hägeli auszuliefern bereit ist. Kurz, er ist geneigt, sich zu dem zu bekennen, von dem er sich doch gerade trennen wollte: dem Ahasverschicksal. Nur daß ihm der nähere Gang zum Scheiterhaufen eine schnellere NotLösung zu versprechen scheint als der ewige Umweg des ewig Unbehausten. Die werkimmanente Poetik deutet nach alledem mehr auf die Aufklärung Lessingscher Prägung (der Idee und der Haltung nach) als auf die Klassik. Und sie verweist (der Gestaltung nach) mehr auf eine shakespearesche Nach- bzw. Neu-Romantik. S. 301. S c h o l z v e r w i r f t d a s D o g m a . — Ganz konsequent ist die Stellung zum Dogmatischen jedoch nicht. Zum mindesten für das Tragische drängt W. v. Scholz selber zu einem ästhetischen Dogma. Das tritt ζ. B. dort in Erscheinung, wo er sich mit der fachwissenschaftlichen Ästhetik auseinandersetzt, besonders in der Rezension über die „Ästhetik des Tragischen" von J o h a n n e s V o l k e l t . Hier ergibt sich die paradoxe Situation, daß der Fachmann dem Dichter im Grunde nicht dogmatisch genug erscheint. Der bekannte Leipziger Philosoph habe den Begriff des Tragischen viel zu weit ausgedehnt (außerhalb der Kunst und des Dramas) und so eigentlich mehr eine „Naturgeschichte des Tragischen" geschrieben. Vor lauter Objektivität sei das klare Herausstellen des Kernbegriffs (das Tragische im Drama) verloren gegangen. Er führt gegen Volkelt seinen neuklassischen „Helden" ins Treffen als „Träger der Idee" und „geistigen Schwerpunkt". Die vielen feinen Abstufungen bei Volkelt scheinen ihm eher Verwirrung als konzentrierte Klärung des „zentralen" Erlebnisses des Tragischen zu bringen. Im Eifer des Gefechts vergißt er seine prinzipielle Dogmenfeindschaft in einem Grade, der ihn (am Schluß der Kritik) zu der Meinung drängt: nur dort, wo man von der Tragödie als Inkarnation des Tragischen ausgehe und an diesem Maßstab die anderen auch-tragischen Erscheinungen messe, „kann man zu einer dogmatischen und ganz wesentlichen Ästhetik des Tragischen gelangen", vgl. „Geianken

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zum Drama, Neue Folge" (1915), Abteilung: Rezensionen (S. 312—£4). Die kurze, aber heftige Diskussion ist lehrreich: W. v. Scholz übersieht völlig, daß für den philosophischen Fachästhetiker die Dichtkunst nur Gelegenheit bietet, allgemeine Begriffe zu erläutern. Und dabei war J . Volkelt weit kunstverständiger als manche Systemphilosophen. Er enthüllt, ungewollt, eine allgemeine Schwäche der „reinen" Kunstwissenschaft, die der Wissenschaft zuviel und der Kunst zu wenig traut. Scholz enthüllt aber gleichzeitig die Blöße des temperamentvollen Künstlers, der überall Dogmen sieht und bekämpft — nur bei sich selber nicht. Übrigens findet sich unter den „Aphorismen eines Dramatikers" ein einschlägiger über die „Aufgabe der dramatischen Ästhetik", der so lautet: „Es ist die vornehmste Aufgabe aller Ästhetik des Dramas, die Vorbestimmung ( = Eignung, Prädestination) der dramatischen Form zur Aufnahme des Tragischen zu erweisen", a. a. 0., S. 220. Ein weiterer Aphorismus würdigt „Das Tragische in Kleist" (aber mehr im Menschen als im Dichter), a. a. 0., S. 235/36. S. 302. Der K o n f l i k t a priori. — Unter den „Aphorismen eines Dramatikers" trägt einer das Merk- und Kennwort „Konflikt". Dort will es W. v. Scholz scheinen, als ob nicht in erster Linie die Tiefe und Unüberbrückbarkeit, vielmehr die Wucht in der Summe der Gegensätze entscheidend sei. Jedenfalls hält er an der Meinung fest: „Man kann geradhin von Konfliktsbelastung als dem wichtigsten Moment des Dramas sprechen", in: „Gedanken zum Drama, Neue Folge" (1915) S. 225. Kunsttheoretisch beachtenswert sind in diesen „Aphorismen . . . " noch folgende Faktoren: „Bewußtheit" und planende Besonnenheit des Dichters ist keine Schwäche, sondern eine Stärke; denn die „höchsten Aufgaben" fordern die „genaueste Rechenschaft" gerade in der Gegenwart: „Das bewußteste Kunstwerk ist jetzt vielleicht die von der Zeit geforderte Phase in der jahrhundertelangen Entwicklung." Jahrzehnte später glaubte G. Benn, einen Aspekt für die Lyrik gewonnen zu haben und weitergeben zu können, indem er diese These von höchster „Bewußtheit" über die Neue Sachlichkeit hinweg noch um die Jahrhundertmitte als neu· herausstellte und der jüngsten lyrischen Jugend als gepriesene „letzte" Eroberung der Kunsterkenntnis zuversichtlich und erstaunlich erfolgreich anbot. Die

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Unterscheidung von Formwille und Form: gegenüber der romanischen Form ringt der germanische Formwille mit „weltumfassenden" Ideen, bringt es aber eben deshalb seltener zur Vollendung der Form im Einzelkunstwerk. — Die Anerkennung einer immanenten Gesetzlichkeit im Kunstwerk selber, die der Künstler nicht mit seinem eigenen Kunstwollen überrennen und der er sich nicht entziehen darf (vgl. hierzu Bemerkungen L. Tolstois bei der Entstehung der „Macht der Finsternis"). — Das Aufrechterhalten des Willens-Kriteriums; so etwa sollen auch die Nebenfiguren den „Willen der Hauptfiguren" im „Widerstand" (als „Wider-Wille") reflektieren, oder in der Leidenschaft, die zum schicksalhaften Handeln treibt, wird „der Wille . . . ein dahingerissenes Geschehen". — Zur „Vorbereitung" im Drama (im Sinne einer Förderung der Eindrucksbereitschaft beim Kunstwertaufnehmenden) gehört die vorbereitende „Einreihung" und „Anpassung" der Gestalten. Auch für die Theorie des Theaters wird einiges wichtig, etwa der Hinweis auf die veredelnde, erziehende Funktion des Theaters in Form von „Persönlichkeitsanregungen". Einzelnes, ζ. T . auch etwas Abseitiges a. a. O., S. 207—242. S. 303. „ N e u e F o l g e " d e r „ G e d a n k e n z u m D r a m a " . — Unter den dort zusammengefaßten „Rezensionen" begegnen folgende kunsttheoretisch belangreiche Gedanken: Aristophanes läßt sich nicht ohne weiteres ins Moderne übertragen, auch nicht unter Einsatz des vermeintlich alles eindeutschenden Knittelverses, wie es Dr. Owlglass — als Lyriker beachtlich — versucht hat (S. 245f.). — Christopher Marlowe darf nicht zu nahe an Shakespeare herangerückt werden trotz der an sich fruchtbaren Hinweise Hugo v. Hofmannsthals auf das Wesensund Wirkungsverwandte; gemäß der hohen Bewertung der „Situation" durch W. v. Scholz (vgl. darstellenden Text) schneidet Marlowe weniger günstig ab als Shakespeare. Auch Marlowes „szenische Kargheit" wird kritisiert. — Das Künstlerdrama, erläutert an Friedrich Hebbels Lustspiel „Michel Angelo", wobei wiederum das Wechselspiel von Neuklassik und Neuromantik in Funktion tritt (Michelangelos Kritiker rühmen ein Bildwerk, das angeblich von einem antiken Künstler, in Wirklichkeit jedoch von Michelangelo selber stammt, also einer neuromantisch gesehenen Neurenaissance angehört), wird als

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„psychologisches Gemälde" an Holger Drachmanns „Tintoretto" kritisiert. Und zwar deshalb, weil H. Drachmann, der dänische Dichter, über dem Psychologisch-Pathologischen das Dramatisch-Pathetische versäumt habe. W . v. Scholz zieht sich auch hier auf die Entscheidung P. E m s t s zurück, derzufolge derjenige Dramatiker „schlecht komponiert" habe, „der zum Pathologischen seine Zuflucht nehmen m u ß " (S. 292); vgl. P. E m s t s „Sophokles". Bemerkenswert ist weiterhin die Rezension über das „Fiorenza"-Drama von Thomas Mann, die das Meisterhafte im Sprachlich-Stilistischen gelten läßt, aber das Ü b e r w i e g e n d e s k u l t u r h i s t o r i s c h e n W i s s e n s (Spezialisten-Drama in Entsprechung zum Spezialisten-Roman) gegenüber dem wünschenswerten Hinstreben auf ein „Gefühlsziel" bedauert. Auch W . v. Scholz vermißt bei Thomas Mann die „Gefühlsnähe", spürt also die ernüchternde Gefühlskälte (selbst im Ansatz zum „leidenschaftlichen" Renaissance-Drama). W. v. Scholz geht dabei von seiner durchgängig vertretenen Anschauung aus, daß die H i s t o r i e für den echten Dichter immer n u r M i t t e l z u m „ A u s d r u c k " , niemals aber Selbstzweck werden dürfe. — Interessant und instruktiv erscheint das auch kunsttheoretische Abrücken des Neuklassizisten v. Scholz von dem Neuklassizisten Samuel Lublinski gelegentlich der Kritik an Lublinskis „Peter von Rußland"-Drama, wobei Lublinskis einführender Essay (der jenem Drama voranstand) „Der Weg zur Tragödie" (merkliche Analogiebildung zu P. Emsts „Der Weg zur Form") in diese Kritik einbezogen wird, a. a. O., S. 300 f. Für W . v. Scholz bedeutet hier die „objektive Wirklichkeit" nur eine Einkleidung, nur ein „Gewand" für das letztlich subjektive (Umschlagen ins Neuromantische) „Urphänomen" des wahrhaft Tragischen, das Lublinski im Zwiespalt von gesellschaftlicher Funktion und „persönlicher Freiheit" (S. 301) erblickte. Lublinski verlagere das Tragische zu sehr in den Inhalt der tragischen Fabel, während W . v. Scholz es erst in der Formsetzung (Anlehnung an Paul Ernst) vollendet herausgebildet sieht. Neuklassisches schlägt durch, wenn in einer Rezension über W a l t e r L o h m e y e r : „Dramaturgie der Massen" die „edleren Wirkungen der Einzelszenen" und des Einzelhelden gegenüber den Gruppen- und Massenszenen, die durch Max Reinhardt einen nicht unbedenklichen Auftrieb erfahren haben, geltend gemacht

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wird, oder wenn in einer Rezension über J. S a v i t s : Von der Absicht des Dramas (besonders über die Shakespeare-Bühne in München) die klassische Akteinteilung verteidigt wird gegenüber der zerfetzenden Auflösung in eine Aneinanderreihung von bloßen Bühnenbildern. Dagegen stimmt W . v. Scholz den Beobachtungen Friedrich Kayßlers in dessen „Schauspielernotizen" nachdrücklich zu; vgl. dazu die Sonderforschung von K u r t W i t t e über F . Kayßlers Schauspieltheorie, Diss. Greifswald 1940 (vom Verf. betreut). S. 305. K o n s t r u k t i o n a l s g e s c h l o s s e n e s Kunstsystem (H. Merk). — Die Hauptschwäche der Konstruktion im Artikel von H e i n r i c h M e r k : W . v. Scholz als Theoretiker des Dramas, in: Zeitschr. f. Ästhetik u. allgem. Kunstwissenschaft (hrsg. v. M. Dessoir), Bd. IV, S.69—89 liegt in der überwiegenden Orientierung an der erweiterten „Neuen Folge" zu den „Gedanken zum Drama" von 1915. Denn dadurch werden Erkenntnisse beansprucht, die erst später gewonnen wurden und die also eigentlich nicht unmittelbar in die Entwicklung einer neuklassischen Kunsttheorie eingreifen konnten. H. Merk zitiert mit Vorliebe diese „Neue Folge", die eben nicht zur Programmbildung der Theorie der Neuklassik beitragen konnte. So bleiben für die Neuklassik letztlich nur brauchbar die Bezugnahmen auf die Urfassung der „Gedanken zum Drama", so etwa der „Wille" als Kernstück, der sich nur an „Widerständen" demonstrieren läßt, wobei diese Widerstände ihrerseits wiederum willenshaltig sein müssen, wie denn der Zuschauer dem Primat einer Willens-Beteiligung unterworfen bleibt, so weiterhin die „Relativität der Wirklichkeit" (Abwehr des Naturalismus), indem der Willenskampf auf der Bühne im „Sinne der Alltagswirklichkeit unwirklich" bleiben muß (S. 75), so die Aufteilung des Dramas in Tragödie und Komödie, wobei die Komödie am ehesten noch der „Widerspiegelung des Lebens" dienen kann (Zugeständnis an den Naturaüsmus, deutlicher ausgeprägt bei P. Ernst), aber letzten Endes nur dadurch, daß der Wille in „Willkür" umschlägt. Der Wille in der Komödie kann gleichsam wählen (Willkür), der Wille in der Tragödie dagegen ist wahllos an die Notwendigkeit (und nicht an die alltägliche Notdurft) gebunden. Insofern vermag die Komödie nach W. v. Scholz „zur Freiheit im Geiste" zu führen. Diese

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geistige Freiheit muß die Tragödie der N o t w e n d i g k e i t um j e d e n P r e i s aufopfern. Sowohl Tragödie als auch Komödie und damit das Drama schlechthin verbürgt keine naturgerechte Wirklichkeit, sondern immer nur eine „ u n w i r k l i c h e W i r k l i c h k e i t " (Abwehr des Naturalismus), eine eben deshalb höhere Wirklichkeit über die Naturechtheit und die Naturnähe hinaus. Der Illusionsbegriff hat einem Streben nach innerer Wirklichkeit, die äußere Wahrheit hat der inneren, vergeistigten und beseelten Wahrhaftigkeit zu weichen. Selbst die komödienhafte Willkür bleibt jedoch dem alles Dramatische beherrschenden „Willen zum Zwang" als dem höchsten dramatischen Gesetz unterworfen. Die Gegenwärtigkeit der Komödie gestattet ein Ausruhen in der „Situation" (Grundbegriff der Dramaturgie W. v. Scholz') und damit auch im Monolog. Die Komödie erfaßt vorab die Möglichkeiten und selbst noch die „Unmöglichkeiten", während die Tragödie auf die Notwendigkeiten angewiesen und entsprechend eingeschränkt bleibt. S. 306. „ A n d e r e A u f s ä t z e ü b e r B ü h n e u n d L i t e r a t u r " . — Der längere Essay „Das Fünfkönigsdrama und seine Uraufführung" (1905) meint die engere Gruppe von fünf (von den acht) Königsdramen Shakespeares, um deren Bühnenbearbeitung sich F r a n z D i n g e l s t e d t i n Weimar bemüht hatte. Bereits zum Shakespeare-Gedenkjahr 1864 hatte F. Dingelstedt eine zyklische Aufführung vorbereitet. Seine Weimarer Bühnenbearbeitung kam dann 1867 heraus, eingeleitet von einem Rechtfertigungsaufsatz. Diesen Aufsatz bezieht Wilhelm v. Scholz in seinen Essay ein; ebenso setzt er sich mehrfach mit der ShakespeareInterpretation von Georg Brandes („William Shakespeare") kritisch auseinander. Themagemäß wird das Bühnenproblem erörtert. Zusätze vom Bearbeiter, wie sie Dingelstedt gewagt hatte, scheinen v. Scholz bedenklich. Bei dieser Gelegenheit ergibt sich für die Dramentheorie das negative Wertungskriterium: „Hier liegt das Kennzeichen für den guten Bau eines Dramas überhaupt; es darf keiner äußeren Zutaten benötigen, es darf aber auch nicht die mindeste Zutat vertragen, wenn es auf die Bühne gestellt wird" (S. 64). Bühnenbearbeitung und Regieführung werden berücksichtigt (S. 61/62). An allgemeiner Kunsttheorie werden eingeflochten eine Unterscheidung von Genie und Talent (S. 44), der Schaffens-

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Vorgang (S. 45) und vor allem Fragen der Komposition, was nahelag, weil sowohl die Komposition im Einzeldrama wie im Dramenzyklus besondere Aufmerksamkeit forderte. Shakespeare zwingt zu der Einräumung, und Dingelstedts auf Bühneneffekt hinarbeitendes Verfahren erleichtert das Zugeständnis, daß die höchste Erfüllung des Dramas nicht einfach in der äußeren Handlung gesucht werden darf und daß nicht nur die Willensdynamik des Helden entscheide. Vielmehr sind neben der dramatischen „Handlung" auch epische „Geschehnisse" unentbehrlich. Bemerkenswert erscheint für das Wechselspiel von Neuklassik und Neuromantik, daß W . v. Scholz gerade an dieser Stelle (S. 56/57) Maeterlinck und dessen „Technik" ins Gefecht führt, wenn Maeterlinck auch als extremer Gegentypus gilt. W . v. Scholz geht hier so weit, daß er das bloße „Handlungs"-Drama für „langweilig" erklärt.— Als junger Dozent polemisierte ich, ohne damals von W . v. Scholz das Einschlägige hinreichend zu kennen, hinsichtlich des dramatischen Aufbau-Schemas gegen Gustav Freytags „Technik des Dramas", nicht zum wenigsten mit dem Hinweis darauf, daß nicht die steigende bzw. fallende „Handlung" wesentlich sei, sondern das Aufleuchtenlassen bzw. Entziehen der Sicht des Ziels. W . v. Scholz entscheidet ganz ähnlich. „Maeterlincks Technik" scheint ihm zu bestätigen, daß eben dasjenige, was uns immer wieder entzogen und nur plötzlich, nur für Augenblicke sichtbar wird, am eindrucksvollsten ist. Sowohl für die progressiv-synthetische Ziel-Handlung wie für die regressiv-analytische Folge-Handlung des Enthüllungsdramas ist das Wechselspiel von Enthüllung und Verhüllung entscheidend, nicht jedoch der Umstand, ob es mit dem Helden bergauf (steigende „Handlung") oder bergab geht (fallende „Handlung"). Übrigens nimmt W . v. Scholz in dem Essay „Der Meister von Palmyra und Ahasver", der im wesentlichen Adolf Wilbrandts verwandtes Motiv mit früheren Lösungsversuchen, etwa durch Julius Mosen (R. Hamerling entgeht ihm), vergleicht, ausdrücklich Bezug auf G. Freytags „Technik des Dramas" (a. a. O., S. 103). Der „Jude von Konstanz" steht im Hintergrunde, die Problematik der Todessehnsucht im Vordergrunde. Das Rein-Menschliche wird stärker betont als das Rassische. Insofern wird die Nähe der Neuklassik spürbar. Ebenso wenn bei aller Teilanerkennung des „geistigen Niveaus" Wilbrandts der

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„eigene große Stil" vermißt wird (S. 107). Kurz, Adolf Wilbrandt verharrt bei der „Nachklassik" der „Epigonenzeit", ohne die „Neuklassik" zu erreichen. Nietzsches Idee der ewigen Wiederkehr sei nicht organisch verbunden mit der Idee des Todes. Bei alledem wahrt sich W. v. Scholz das neuromantische Reservat, ζ. B. im MaeterlinckEssay, während sein Christian Günther-Essay stark zum Biographischen tendiert und die unmittelbare Einwirkung Günthers auf Goethes Lyrik merklich überschätzt, ohne zum Prinzipiellen des Lyrischen vorzustoßen. Der Essay über „Zola als Kritiker" gelangt kennzeichnenderweise über eine bloße Miszelle nicht hinaus, enthält aber einiges über die Sonderbegabung und den Sondertypus des Kritikers (Hebbel-Zola). Zola gilt als „Kampfkritiker" (S. 173) und als „Prophet des Kommenden", dessen Zukunft-,, Witterung" immerhin höher eingestuft wird als der „Saison"-Geschmack der anpassungswilligen und entsprechend wendigen Tageskritiker der jeweiligen Gegenwart. S. 310.

WechselspielvonNeuklassikundNeuromantik.— Kennzeichnend dafür ist Scholz' Bühnenbearbeitung des „Empedokles" von Hölderlin. Im Rahmen der „Geianken zum Drama, Neue Folge" (1915) bringt Wilhelm v. Scholz einen Essay von 1910 „Hölderlins Tod des Empedokles als Bühnenstück, zu meiner Bearbeitung des Werkes" a. a. O., S. 155—63. Darin geht er aus von der Auffassung, daß die zwei Akte Hölderlins, obwohl keineswegs „handlungsarm", dennoch vor allem erfüllt seien von der ganzen in sich gesättigten „Schönheit antiker Tragödienchöre" (S. 158) des Lyrisch-Hymnisch-Erhabenen. Der Komposition und Struktur nach faßt er sie auf als die „beiden letzten Akte einer Tragödie" (S. 160), denen eine „steigende irdische Handlung vorangegangen sein" müsse. Das ewige Wechselspiel von Neuklassik und Neuromantik bei W. v. Scholz bestätigt auch in diesem Falle, der an sich ganz einer Neuklassik zugekehrt scheinen könnte, die Kennzeichnung des „Empedokles" Hölderlins als „griechisch(-klassisch)-romantisches gedichtetes Dionysosspiel" (S. 160). Das Typische der „antiken Plastik" müsse sich dabei von der bildenden Kunst aus verbinden mit dem Subjektiven der Musik; freilich einer entsprechend „feierlichen Musik" (S. 163). Die Brücke schlägt die „pathetische Hochgestimmtheit des Hölderlinschen Verses" (S. 162). Das stän-

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dige Nahe-Beieinander und In-Einander von Neuklassik und Neuromantik tritt selten prägnanter und instruktiver zutage als in dieser Auslegung und Ausgestaltung des „Empedokles"-Fragments (bzw. der „Empedokles"-Fragmente) von Hölderlin. Das ist konsequent; denn Hölderlin steht ähnlich zwischen Klassik und Romantik. Dabei überwiegt für W. v. Scholz das Neuklassische insofern, als die „Gewalt der Persönlichkeit" überwiegt und der Eindruck der „Willenshärte" gefordert wird. S. 3 1 1 / Samuel Lublinski. — „ B i l a n z der Moderne". — Nach 312. dem Eingangskap. über die „Geistige Struktur um 1890" entwickelt Lublinski in recht kritischem Überblick das Wollen und die Kunstleistung des „Naturalismus", wobei jedoch die Theorie von Arno Holz recht eingehend behandelt und durchaus positiv bewertet wird. Die Verbindung von Theorie und Praxis im Zusammenwirken mit Johannes Schlaf findet Zustimmung und die Sammlung der „Neuen Gleise" als das „dokumentarische Zeugnis einer ganzen Literaturperiode" (noch Werner Mahrholz nennt es „repräsentativ") warme Anerkennung. Sowohl die „naturalistische Novelle" wie das naturalistische Drama („Familie Selicke") habe hier ihre „klassische" Ausprägung gefunden. Die „Neuen Gleise" gelten geradezu als das „typische und klassische Buch des Naturalismus" (S. 78) und werden (noch ein Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen) als von dauerndem Wert für jede Bibliothek empfohlen. In der Tat sind derartige Muster- und Modellbücher in der Geschichte der Stilrichtungen (nicht nur in Deutschland) recht selten. Bemerkenswert ist, daß Lublinski diese Technik sogleich mit der impressionistischen Malerei vergleicht (S. 79), obgleich erst seine nächsten beiden Kapitel vom Impressionismus handeln. Im dramatischen Felde gilt neben „Familie Selicke" vor allem der „Meister Oelze" von Johannes Schlaf als wertvolles Beispiel. Da Johannes Schlaf (späterhin) auch die fast allein bewältigte Hauptleistung an der „Familie Selicke" für sich in Anspruch genommen hat, würde also in der „Bilanz der Moderne" Johannes Schlaf vorerst am höchsten im Kurse stehen. Nicht nur als Kuriosum sei verzeichnet, daß Lublinski die Gestalt des zähen Willensmenschen Oelze als „einen Übermenschen aus dem Kleinbürgertum" auffaßt, was (ohne Hinweis auf Lublinski) W. Mahrholz (1931) mit wörtlichem Anklang 52 M a r k w a r d t , Poetik V

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aufgreift (S. 79). Selbst Gerhart Hauptmann, so urteilt Lublinski, habe zum mindesten den letzten Akt des „Meister Oelze" bisher (1904) nicht übertroffen und die „Familie Selicke" erst mit den „Webern". Heldentum sei nur in dieser passiven Form des leidenden Durchhaltens im Naturalismus möglich. Als Einzelheit sei angesichts der Technik im Verhältnis zur Poesie angemerkt, daß die Anläufe des frühen Arno Holz im „Buch der Zeit" (wie etwa „Galvanis Draht und Voltas Säule" oder „ . . . und pfeift als Dampfschiff um die Welt") auf die entsprechenden Ansätze in der Lyrik des Vormärz bei Karl Beck zurückverwiesen werden (S. 62). Verhältnismäßig hoch wird die Dichtung Hermann Conradis gestellt. Nach einer längeren Darstellung der Kulturpolitik des Impressionismus und der Neuromantik, in die Nietzsche einbezogen wird, arbeitet Lublinski die impressionistische Verwandlung des Milieus zur „Atmosphäre" heraus: „Das Milieu wurde allgemach zur atmosphärischen Stimmung" (S. 179). Der Däne J. P. Jacobsen habe in seinem Roman „Niels Lyhne" ein klassisches Paradigma dafür geschaffen. Soweit zurück reicht also das von L. Beriger für die literarische Wertung berücksichtigte Kriterium „Atmosphäre". Als Randbemerkung sei erwähnt, daß Lublinski in diesem Berichtsraum bereits Else Lasker-Schüler begegnet und ihre Kunst verteidigt gegen die Favoritin von Leo Berg, die damals beliebte Marie Madeleine. Er bringt sogar zwei Gedichte von ihr als Anmerkung(!) zum Abdruck (S. 168). Es war freilich noch nicht die expressionistische Else Lasker-Schüler. Aber der kritische Blick bleibt doch anerkennenswert (1904!), umso mehr als Lublinski wegen seiner „Wertschätzung von Else LaskerSchüler mehrfach angegriffen" worden war. Er versucht anerkennenswerterweise etwas in der Art eines literarischen Impressionismus zusammenzubringen, wenn auch nur in enger Verbindung mit der Neuromantik (impressionistische Neuromantik und „Symbolismus"). Allerdings hebt er bald schon am Naturalismus impressionistische Züge hervor, während er andererseits die Neuromantik vom Naturalismus durch ihre impressionistische Darstellungsweise abhebt. Aber dieser Widerspruch liegt mehr im Begrifflichen (und Terminologischen) als in einer Fehldeutung der dichterischen Bestände. Dagegen wirkt mehr zeitgebunden das merkliche, durchgängig verfolgbare Bestreben, den neuromantischen Impressionismus un-

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mittelbar aus dem Naturalismus zu entwickeln und zu erklären, ihn also nicht als Ablösung durch Kontrast aufzufassen. Die Weiterführung durch Umsetzung wird dabei gleichsam vorweggenommen unter Umgehung der Entgegensetzung als Zwischenstufe. Das Umgehen oder Übergehen der Zwischenstufe wird dadurch ermöglicht oder doch erleichtert, daß Lublinski ζ. B. die „Buddenbrooks" von Thomas Mann betont und mehrfach als den einzigen naturalistischen Roman bezeichnet (S. 226: „dieser erste und einzige naturalistische Roman"; 227). Kunsttheoretisch bzw. gattungstheoretisch bemerkenswert ist der Hinweis darauf, daß die Anlage im „Chronikstil" ein Gegengewicht schaffe gegen den Mangel an straffer Komposition. Diese Anlage ermögliche „eine innerliche Gebundenheit, die der Romanform sonst nicht beschieden scheint". Es sei ergänzend darauf vorausgewiesen, daß noch Oskar Loerke trotz aller Wertschätzung Thomas Manns ebenfalls gewisse Längen — auch schon an den „Buddenbrooks" — bedauerte. S. 315. „ G e m ü t s w u c h t " . — Zur Umschreibung dieses hohen Wertes, den er an der „Moderne" noch vermißt, aber für ihre Weiter- und Höherbildung für erforderlich hält, zieht er einmal eine Gegenüberstellung von Nietzsche und Luther heran. Nietzsche verfüge über einen gewissen Heroismus, ihm fehle aber echte „Gemütswucht", die Luther durchaus eigen sei: „der alte Reformator hatte Gemütswucht, Nietzsche noch nicht" (in: „Bilanz . . . " S. 336). Dieses zunächst etwas unklare „noch" bezieht sich wahrscheinlich auf den Wunsch, die „Moderne" möge sich diesen vermißten Wirkungswert „noch" erwerben, obwohl ihn selbst Nietzsche „noch" nicht erreicht habe. S. 324. B l i c k auf R i c a r d a H u c h . — D a s Bild, das Lublinski 1904 von Ricarda Huch entworfen hatte, wobei bereits ihr Bekenntnis „zu ihrer Weibpersönlichkeit" gerühmt wird, ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, weil es hinter dem neuromantischen Vordergrund eine „klassische" Perspektive andeutet, und zwar in mehrfachen Wendungen: „Sie ist eigentlich mehr eine klassische als eine romantische Natur". Nicht zufällig habe sie zunächst bei C. F. Meyer Halt gesucht. Und nur gewisse Merkmale (und natürlich auch ihr Romantikwerk) zwingen dazu, 52·

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„diese durchaus klassische Natur dennoch in die NeuRomantik zu verweisen" (vgl. „Bilanz der Moderne", S. 229). Das nicht ganz „Moderne" im Gesamteindruck erklärt Lublinski vor allem aus dem Umstand, daß Ricarda Huch als Romandichterin den Naturalismus nicht durchlaufen habe. S. 328. Heimatkunst. — M u n d a r t l i c h e r B e s t a n d . — Man müßte schon Fritz Reuter, Klaus Groth, John Brinckman u. a. in Bausch und Bogen dem „Biedermeier" zuordnen wollen, was sich nur bei einer Veroberflächlichung der Merkmale „ermöglichen" ließe. — An mundartlichen Dichtern zur Zeit der „Heimatkunst" seien aus dem niederdeutschen Raum erwähnt: Hinrich Fehrs (1838 bis 1916) mit seinem „Maren"-Roman (u. a.) und Fritz Stavenhagen (1876—1916) mit seinen Dramen „Mudder Mews", „ D e düdsche Michel" und „Bahnmester Dod", der freilich schon Strindberg-Ambitionen bekundet; vgl. Lotte F o e r s t e : Idee als Gestalt in Fehrsscher Kunst (FehrsGilde 1962). S. 330. Friedrich Lienhard. — Es ist heute kaum noch vorstellbar, daß seinerzeit seine „Gesammelten Werke in drei Reihen" erscheinen konnten. Darunter bringt die Dritte Reihe (6 Bde) die sogenannten „Gedanklichen Werke", Stuttgart 1926. Band I enthält u. a. die Beiträge: Heimatkunst (1900), Literaturjugend von heute (1900). Die Vorherrschaft Berlins (1900), Sommerspiele (1900) sowie Teile aus der Streitschrift „Oberflächenkultur" (1903/04), darunter die Lobpreisung von H. v. Steins „Ästhetik der Klassik". Band II enthält die Beiträge zu der Zeitschrift „ D e r Türmer" (1898—1922), Band I I I die „Wege nach Weimar". Hervorgehoben sei eine Würdigung Emersons. S. 330. Adolf Bartels, A n t i s e m i t . — D e r Antisemitismus Adolf Bartels' ist zur Genüge bekannt; erinnert sei u. a. an seine Darstellung „Lessing und die Juden". Ebenso sind seine Beiträge zur Literaturgeschichte überall durchsetzt mit Judenfeindschaft und zersetzt vom Rassenhaß. Aber es sei darauf aufmerksam gemacht, daß auch F. Lienhard keineswegs von Rassevorurteilen frei war. „ D e r Kern der Rassenfrage" beschäftigt ihn lebhaft. Damit verbindet sich die Abwehr der Masse, denn „kein Adel des Geistes oder Herzens und kein Adel der Rasse ist möglich ohne

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Trennung" von der bloßen „Menschenmenge". So erfährt auch bei ihm das Persönlichkeitsideal eine bedenkliche Verengung und der Begriff „Volk" verschwimmt ins Phantastische und Mythisch-Mystische. Auch darin werden Vorformen des nationalromantischen Mystizismus und biologischen Utopismus (Nationalsozialismus, Nazi-Faschismus) deutlich erkennbar. Die entsprechenden Linien führen letztlich von A. Bartels zu H. F. Blunck einerseits und von F. Lienhard zu Will Vesper andererseits. Die weitgehende Ausschaltung Auerbachs aus der Reihe der Traditionsträger der Heimatkunst durch A. Bartels sowie vor allem die Vernachlässigung der eingehenden Theorie Auerbachs (vgl. Band IV) erklärt sich daraus, daß B. Auerbach Jude war. Also auch das gemeinsame Interesse an Volkskunst vermochte über die von Rassenfeindschaft offen gehaltene Kluft nicht hinwegzuhelfen. Gelegentlich der Erwähnung Auerbachs sei vermerkt, daß in den neunziger Jahren auch Hermine Villinger „Schwarzwaldgeschichten" (1892) herausgebracht hatte. S. 331. D i e e r s t e n A u f s ä t z e der „ H e i m a t " . — F . L i e n h a r d s Aufsatz „Hochland" findet sich im ersten Heft der „Heimat" S. 4—10, A. Bartels'Aufsatz „Heimatkunst" ebendort S. 10—19; zitiert wird nach der Zeitschrift selber, die selten geworden ist und von I. Schwelgengräber eingesehen wurde. S. 334. „ W a h r e R e l i g i o s i t ä t " . — Die erwähnten christlichreligiösen Impulse lassen sich überall nachweisen, so etwa (außerhalb jenes Aufsatzes) in der Betrachtung „ C h r i s t e n t u m u n d M o d e r n e " bei der Polemik Lienhards gegen Herbert Eulenbergs Vorstoß gegen das Christentum im Münchner „Kulturspiegel", wobei er „Golgatha und Akropolis in neuen Formen vereinigen" möchte. Weiterhin im Bezugnehmen auf die „Weltseele", die als Gottesvorstellung bei Emerson aufgefaßt wird („Weltseele, wie der Amerikaner Emerson seinen Gottesbegriff formuliert"). Merklich fühlt sich Lienhard von dieser Konzeption Emersons, die doch wohl mehr ins Pantheistische weist, angezogen. Er spürt die religiöse Tönung der Naturliebe Emersons heraus und macht sie sich weitgehend zu eigen unter Verstärkung des religiöschristlichen Tenors. Die „himmelentfallene Kunst" darf nie ihren Ursprung vergessen. Der Dichter steht neben

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dem Priester und Philosophen und wirkt nur mit anderen Mitteln. Auch für das „Sommertheater" (Freilichtbühne) gilt als Voraussetzung und tragende Gefühlsschicht: „Gemüt und Phantasie des Dichters müssen endlich wieder religiös-dichterisch belebt sein" im Gegensatz zum skeptischen Materialismus des Stadt-Literatentums. Bei aller „Modernität" darf das lautere „ E w i g e " nicht verlorengehen. Das innere Bedürfnis nach „Harmonie" kann nur befriedigt werden auf der Höhenschicht der „ I d e e " und des „Glaubens". Überhaupt trägt die durchgehende Forderung nach Verinnerlichung auch auf ästhetischem Gebiet ausgeprägt religiöse Züge. Die Auffassung des Idealismus bringt die Humanität mit dem Bewahren der „unsterblichen Seele" in innigen Kontakt. Dort, wo Lienhard ein Merkmal-Schema von Idealismus einerseits und Materialismus andererseits aufstellt, begegnet, wie zu erwarten war, unter den idealistischen Merkmalen der Glaube, unter den materialistischen dagegen die Naturwissenschaft. Poesie jedoch ist nicht mit Wissenschaft, sondern mit „der religiösen Stimmung verschwistert", denn die echte Poesie „ist etwas Transzendentes". Die Belege ließen sich wesentlich vermehren: so etwa ist für das geplante Sommertheater die Umgebung der Wartburg vorgesehen usw. Unklar bleibt nur, wie sich das Rassenideal und die Mißachtung der „Menschenmenge" mit dem religiösen Ideal bruchlos verbinden ließ. S. 337· G e i s t W e i m a r s , G o e t h e . — Auf eine Rundfrage von 1903, wie Weimar zu einer neuen literarischen Blüte gelangen könne, an deren Beantwortung sich Ernst von Wildenbruch, Ernst Wachler, Hans v. Wolzogen u. a. beteiligten, antwortete Lienhard mit dem Kunstgespräch bzw. kulturpolitischen Gespräch „Neu-Weimar" in dem Sinne, daß es nicht auf den geographischen Ort, sondern auf den geistigen Ort Weimar ankomme. Im Hintergrunde stand die von dem Geschichtsschreiber der Ästhetik Heinrich von Stein (von Lienhard an sich hoch geschätzt und mehrfach gewürdigt) vertretene These, die Orte Weimar und Bayreuth (Richard Wagner) zu Ausgangspunkten einer künstlerischen Erneuerung zu machen. Zugleich zeichnet sich die Neuklassik im Hintergrunde ab. — Daß Goethes Geist beschworen wurde, dürfte unmittelbar zusammenhängen mit der Schrift „Mehr Goethe" (1899) von Rudolf Huch (geb. 1862). also einem Genera-

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tionsgenossen G. Hauptmanns, mit dem er jedoch ebenso wie auch mit E. Zola oder F. Nietzsche ganz und gar nicht einverstanden war. Zeitparallel mit dem „Thüringer Tagebuch" Lienhards erschien Huchs Beitrag „Eine Krisis, Betrachtungen über die gegenwärtige Lage der Literatur" (ebenfalls gleichzeitig mit Lublinskis „Bilanz der Moderne"), in dem Huch aber schon abrückte vom allzu Derb-Gesunden. Er ist kein ausgesprochener Vertreter der Heimatkunstbewegung, kann aber in seinen Anfängen als ihr Anreger gelten. Diese Anfänge zeigen ihn kennzeichnenderweise mit demselben Verleger (Georg H. Meyer) verbunden, mit dem damals Lienhard und Bartels zusammenarbeiteten. S. 337. „ K u l t u r p o l i t i s c h e H i n t e r g r ü n d e " . — Sie bleiben bestehen, besonders für A. Bartels. Dagegen hat die Sonderforschung (B. Huber) schon recht früh und überzeugend nachgewiesen, daß Bartels zunächst nicht unter dem Einfluß von Julius Langbehn gestanden haben kann, da er erst etwa 1901 mit Langbehns Schrift bekannt geworden ist, während er schon 1898 den Terminus „Heimatkunst" eingebürgert hat. Aber sein Rassenfanatismus fand hier entsprechende Rückendeckung. S. 338. Ernst Wachler, H a r z e r B e r g t h e a t e r . — Uberprüft man den Spielplan der ersten Jahre (1903—1905), so gewinnt man allerdings kaum den Eindruck eines spezifisch Volkstümlichen. Vielmehr wurden offenbar Werke ausgewählt, die sich für die Freilichtbühne (bei Thale) eigneten, so ζ. B. der „Sommernachtstraum", „Wallensteins Lager", die Rütliszene aus dem „Teil", Goethes Jugendschäferspiel „Die Laune des Verliebten". Auch Hebbels „Moloch"-Fragment, Karl Immermanns recht belanglose „Nachbarn" (Immermann galt wenigsten durch die sog. „Oberhof'-Geschichte als volkstümlich) und natürlich Lienhard mit seinem „Wieland der Schmied" (Vorahnung Hans F. Bluncks?) waren vertreten. Übrigens hatte Lienhard bereits vor dieser Theatergründung (1903) in einem Aufsatz ein „Sommertheater" vorgeschlagen, wobei die „Sommerspiele", die einen eigenen Dichtertyp erfordern, als „Ergänzung der städtischen Bühne" gedacht sind. Es erfolgte ein Hinweis auf Oberammergau hinsichtlich der technischen Einrichtung. S· 339· „ V o l k s t ü m l i c h e D r a m a t i k " . — Der Artikel war in etwas abweichender Fassung schon einige Jahre vorher

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(1894) im „Kunstwart" veröffentlicht worden. Bereits ein Jahr vorher hatte E. Wachler ein Heft herausgebracht über die Art „Wie die deutschen Theater die Kunst fördern" (1893), besonders auf die Spielplangestaltung bezogen. Jene „Streitschrift" war also nicht sein erster Ansatz, sondern konnte manches Vorausgehende zusammenfassen. S. 342. O p e r n - E x k u r s . — Erinnert wird daran, daß schon F. Hebbel in einigen Briefen (August 1858, Januar 1859), zwar mit Rücksicht auf R. Wagner das „poetische Drama" vom „musikalischen Drama" unterschieden, aber die künstlerische Möglichkeit und Berechtigung des „musikalischen Dramas" angezweifelt hatte. Gegenüber der „Totalität" der Poesie gilt ihm die Musik vor allem auf das „Gemütsleben" eingeschränkt, in welchem sie die Poesie übertrifft. Kennzeichnend sei, daß der Komponist, weil er das Einfachere gebrauche, Shakespeares Dramen wieder vereinfachend auf die novellistische Grundform zurückbilden müsse, um sie musikalisch transponieren zu können. Auch die scharfe Ablehnung bei A. W. Schlegel wird nicht vergessen: „Die Anarchie der Künste, da Musik, Tanz und Dekoration sich gegenseitig zu überbieten suchen, ist das eigentliche Wesen der Oper." Bei E. Wachler überschneiden sich paradoxerweise WagnerBegeisterung einerseits und Opern-Abwehr aus dramaturgischen Gründen andererseits. S. 344. T e i l b e g a b u n g . — Kennzeichnend für das schwankende Urteil selbst im weltanschaulich benachbarten Bezirk ist eine Diskussion über „Wollen, Können und Kritik, in Sachen Fritz (Schriftstellername) Lienhards" in der Rubrik „Sprechsaal" (Aussprache) der Zeitschrift „Der Kunstwart", Jg. 17 (1903/04), S. 77—85. Ausgehend von der Diskussionsgrundlage, die vor allem von L. Weber gegeben worden war und die rein künstlerische Fähigkeit Lienhards in Frage stellte, gibt A. Bartels zwar etwas nach, sucht jedoch den Mitbegründer der Heimatkunstbewegung zu verteidigen, teilweise unter Hinweis auf eine angebliche „Größe der Intention", was mehr auf die „Höhenkunst" zielte. Avenarius dagegen, an sich ebensowenig begabt wie Lienhard, verschärft, durch dessen Angriff gereizt, die Kritik Webers wesentlich, indem er u. a. von „Höhendunst" statt „Höhenkunst" spricht und zudem die Echtheit der ganzen „Höhenkunst"-Konzeption bezweifelt.

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S. 358. E d u a r d H o b e i n . — Briefe von Fritz Reuter, Klaus Groth und Brinckman an E. Hobein, hrsg. und erläutert von W i l h e l m M e y e r , Berlin 1909. — Meyer geht besonders auf den Groth-Reuter-Konflikt und dessen Beilegung ein (S. 4L) Das geschieht in scharfer Polemik gegen G a e d e r t z und dessen „Reuter-Studien". Gaedertz habe, verärgert infolge der Ablehnung eigener Dichtungen durch Klaus Groth, bewußt Groth ins Unrecht gesetzt, indem er den Anschein einer ewigen Verfeindung Groth/ Reuter dadurch verstärkte, daß er die versöhnende Briefstelle Reuters absichtlich beim Abdruck des betreffenden Reuter-Briefes fortgelassen habe, obwohl ihm der ganze Brief vorlag. W. Meyers kleine Publikation ist erfreulich reich an Einzeldaten, bringt ζ. B. auch Hinweise auf die niederdeutsche Lyrikerin Alwine Wuthenow (Annmariek Schulten) und im Nachtrag den Abdruck der Rezension Groths über Reuter (S. 62f.). Während Gaedertz einseitig für Reuter Partei ergreift, sucht W. Meyer auch Klaus Groth gerecht zu werden, überschätzt aber ein wenig den Grad der Versöhnung. Ein enger persönlicher Kontakt hat sich zwischen Groth und Reuter bedauerlicherweise doch nicht ergeben. Auch hing die Versöhnungsbereitschaft merklich mit einem von E. Hobein vorbereiteten niederdeutschen Dichtertreffen in Schwerin zusammen, das jedoch nicht zustandekam. S. 367. Impressionismus/Expressionismus. — R i c h a r d B r i n k m a n n : Expressionismus, Forschungsprobleme 1952—60, 1961; Sonderdruck aus D V L G . — K u r t M a u t z : Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus: Die Dichtung Georg Heyms 1961. — E r w i n L o e w e n s o n : Georg Heym oder Vom Geist des Schicksals, 1962 (Hinweis auf vorexpression. Gruppe „Neopathetisches Cabaret", S. 60f.). — Υ ν a η G ο 11, Jean sans terre, A critical edition with analytical notes b y Francis J. Carmody, 1962. — A l b e r t E h r e n s t e i n : Ausgewählte Aufsätze, hrsg. von Μ. Y . Ben-gavriel, 1961. — A l b e r t E h r e n s t e i n : Gedichte und Prosa, hrsg. von Karl Otten, 1961 (Einleitung). — C a r l E i n s t e i n : Gesammelte Werke hrsg. von Ernst Nef, 1962. — E r n ö Z e l t n e r : Die expressionistischen Dramen Walter Hasenclevers, Diss. Wien 1961 (Masch. Expl.). •— M a r t i n A r n o l d : Lyrisches Dasein und Erfahrung der Zeit im Frühwerk Franz Werfeis, Diss. Freiburg 1961. — J a n Brockmann: Untersuchungen zur Lyrik Wilhelm Klemms, ein Beitrag zur Expressionismus-Forschung,

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Diss. Kiel 1961 (Masch.-Expl.). — K l a u s S i m o n : Traum u. Orpheus, eine Studie zu Georg Trakls Dichtungen, 1955. — W a l t e r R i t z e r : Trakl-Bibliographie 1956. — H e i n r i c h G o l d m a n n : Katabasis, tiefenpsychol. Studie zur Symbolik der Dichtungen Georg Trakls, 1957. — L u d w i g D i e t z : Die lyrische Form Georg Trakls, 1959 (Rhythmus-Problem). — M a r g a r e t e U r a n k a r : Die Bildsprache Georg Trakls, die Ambivalenz in der Dichtung, Diss. Graz 1962 (Masch.-Expl.). — A l f r e d F o c k e : Kafka und Trakl, in: Stüdes Germaniques X V I I , 4 (1962). — W a l t e r K i l l y : Die Entstehung von Trakls „Melancholie", in: Werke und Jahre, 1962. — K a i B r a a k : Zur Dramaturgie Ernst Barlachs, Diss. Heidelberg 1961 (Masch.-Expl.). — E d s o n M. C h i c k : Ernst Barlachs „Der arme Vetter", in: The Modern Language Review, LVII, 3 (1962). — Zugang zu Ernst Barlach, in: Evangelisches Forum I (1961). — H e r b e r t Meier: Der verborgene Gott, Studien zu den Dramen Ernst Barlachs, 1963. — A l f r e d D ö b l i n : Die Zeitlupe. Kleine Prosa, aus dem Nachlaß hrsg. von Walter Muschg, 1962 (DöblinPublizistik, bes. aus d. zwanziger Jahren). — G e o r g S c h w a r z : Georg Heym. Genius der Deutschen, 1963. — W i l h e l m D u w e : Deutsche Dichtung des 20. Jahrhunderts vom Naturalismus zum Surrealismus, Bd. I/II, 1962 (nach Dichtungsgattungen gegliedert). — F r i t z v o n U n r u h , Dramen (mit Nachwort über das dramatische Werk Fritz von Unruhs von G. G. Wieszner), 1963. — Schrei und Bekenntnis, Expressionistisches Theater, hrsg. von Karl Otten (2. Aufl.) 1962, (1. Aufl. 1959). — H a n s S c h w e r t e: Anfang des expressionistischen Dramas, Oskar Kokoschka, in: ZfdPh. L X X X I I I , 2 (1964). — H e l m u t G r u b e r : The politics of German literature 19x4—1933; a study of the expressionist and objektivist movements, Diss. New York (Columbia-Univ.) 1962 (Masch.-Expl., sucht Expressionismus von neuer Sachlichkeit im polit. Reflex abzuheben). — ( G u s t a v S a c k : Prosa/B riefe/Verse 1962, auch bisher ungedruckte Briefe und Tagebücher). — H a n s G e r d R ö t z e r : Reinhard Johannes Sorge, Theorie und Dichtung, Diss. Erlangen-Nürnberg 1961, (Nachlaß ausgewertet). — E r i k a R u n g e : Vom Wesen des Expressionismus im Drama und auf der Bühne, Diss. München 1963 (vgl. auch E. Lämmert in der B. von Wiese-Festschrift 1963 mit Akzent auf dem Verkündigungsdrama). -— E l i s a b e t h

III. ANMERKUNGEN

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B o i s e : Espressionismus als literarischer Periodenbegriff, Diss. New York 1963 (Masch.-Expl.). — H e r b e r t W. R e i c h e r t : Nietzsche and Georg Kaiser, in: Studies in Philology L X I , 1 (1964), S. 85—108. — Ä k o s K o z o g h : Az expresozionismus, Budapest 1964 (Einleitung, Expressionismus-Begriff). — Carl Sternheim, Das Gesamtwerk, hrsg. von Wilhelm Emrich, 1963f., Bd. 4/5 (Prosa I/II), 1964. — P a u l R a a b e : Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus (1910—1921), 1964. — Ego und Eros, Meistererzählungen des Expressionismus, hrsg. von Karl Otten (Nachwort von Hein Schöffler), 1963 ( = Neue Bibliothek der Weltliteratur; die Einbeziehung Franz Kafkas und R. Musils ist nur recht bedingt berechtigt). — K a r l L u d w i g S c h n e i d e r : Expressionismus in Dichtung und Malerei, in: Chr. WegnerFestschrift (1963), S. 226—243. — Anthology of German expressionist drama, a prelude to the absurd, hrsg. von Walter H. Sokel, 1963 (beachtenswerte Einleitung). — H e d w i g B i e b e r : P a u l Zech-Bibliographie, in: Paul Zech, 1961. — I l s e Τ. M. de B r u g g e r : Theatro alemdn expressionista, 1959. — P a o l o C h i a r i n i : II teatro tedesco expressionista, 1959. — E u g e n e E g e r t : The disassociated man in Büchners „Woyzeck" and Toller's „Hinkemann", Diss. Vancouver 1961 (Masch.-Expl.) — H e l m u t L i e de: Stiltendenzen expressionistischer Prosa. Untersuchungen zu Novellen von Alfred Döblin, Carl Sternheim, Kasimir Edschmid, Georg Heym und Gottfried Benn, Diss. Freiburg i. Br. i960, (Masch.-Expl.). — A n t o n R e g e n b e r g : Die Dichtung Georg Heyms und ihr Verhältnis zur Lyrik Diss. München 1961. — P a u l R a a b e : Express.-Bibliographie, in: DU X V I , 2 (1964). S. 367. G e g e n ü b e r s t e l l u n g v o n I m p r e s s i o n i s m u s und E x p r e s s i o n i s m u s . — Recht verheißungsvoll nennt sich eine Sonderarbeit von K u r t B r e y s i g : Eindruckskunst und Ausdruckskunst, Berlin 1927. Sie verharrt aber im historischen Ablauf des Nacheinander, wo sie ein prinzipielles Gegeneinander zu versprechen scheint. Sie erörtert Erscheinungen der bildenden Kunst, nicht der Dichtkunst, die nur gelegentlich und dann mißverständlich (Würdigung G. Hauptmanns) gestreift wird. Kurt Breysig ist zugestandenermaßen ganz auf Franz Marc eingestellt (Vorwort) und im Dichterischen ganz auf Stefan George, der für ihn von „Jahrhundert"-Wirkung ist und „unerreichbar hoch" steht (S. 17). Das Buch ist denn auch im Verlag

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(Bondi) der „Blätter für die Kunst" erschienen. Es ist immer wieder vom „Herrscherrecht" oder „Königsrecht" der künstlerischen Individualität die Rede, das auch Kunstgesetze brechen und sich nicht unter die Stilgesetze einer Richtung beugen darf (warum aber dann der auf Stilrichtung bezogene Titel?) Gewidmet ist das Buch Emil Nolde. Kein Wunder, daß — die „Eindruckskunst" betreffend — nur ein knappes Drittel dem bildkünstlerischen (besonders französischen) „Naturalismus" gewidmet ist, während der Löwenanteil dem Expressionismus zugewiesen wird. Es dürfte auch schwierig, wenn nicht unmöglich sein, von einer derartigen Position aus der Eindruckskunst oder Ausdruckskunst gerecht zu werden. Bei der Ausdruckskunst hilft die Begeisterung für Marc und Nolde über diesen Mangel hinweg. Der Naturalismus jedoch erhält keine Unterstützung dieser Art. Es ist nämlich in jenem ersten Drittel durchweg von „Naturalismus" die Rede, nicht von Impressionismus. Erst im Hauptteil über den Expressionismus wird plötzlich vom Impressionismus als Gegentypus gesprochen. Das ist geeignet, weitere Verwirrungen zu stiften. Hinzu tritt ein bedenklicher Superlativismus, der das Vertrauen zu den Werturteilen untergräbt. Von Stefan George heißt es einmal, daß dessen „Stimme nicht über ein Jahrhundert nur, nein, über ein Jahrtausend hin gehallt hat" (S. 141). Von August Stramms Einwortgedicht „Die Menschheit" heißt es, es sei eines der „gewaltigsten Gedichte des Künstlers" (S. 135). Von Franz Werfeis (schon 1927 ziemlich abgenutztem) Gedicht „Lächeln Atmen Schreiten" heißt es: „Gäbe es einen Kanon der sechs höchsten Gedichte deutscher Zunge, dieses wäre ihm einverleibt für ewig" (S. 142) usw. Dieses Eingehen auf Poesie erklärt sich aus der Einfügung eines Sonderabschnitts mit der lapidaren Uberschrift „Die Dichter" (S. 134—52). Bemerkenswert daraus ist vielleicht der Versuch, gewisse Parallelen zur bildenden Kunst (Kubismus) bei August Stramm herzustellen: Zerbrechung der Form, Verdichtung auf das unbedingt Notwendige, Verwandtschaft mit Franz Marc (Breysigs erklärtem Liebling) durch das Fortlassen und Vereinfachen. Eine.Gegenüberstellung jedoch mit dem Impressionismus erfolgt nicht. Vielmehr wird Propaganda gemacht für einige Repräsentanten der expressionistischen Dichtung, während im NaturalismusKapitel Gerhart Hauptmann recht knapp abgetan und mißliebig gemacht wird (S. 72 f.) trotz einiger notgedrun-

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gener Anerkennungen, die sich Breysig merklich abzwingt. Richard Dehmel wird mit dem Schlagwort „Ungeschmack" (aus dem George-Kreis) beiläufig erledigt. Dankenswert ist es für die Kunsttheorie, daß in einer Anmerkung (S. 187) auf die Unterscheidung von „Form" und „Gestalt" durch C a r l H a u p t m a n n hingewiesen wird (Quelle: Gespräch mit C. Hauptmann 1919). Danach war „Form" Produkt aus bewußtem, spontanem Kunsttrieb. Carl Hauptmann stellte die aus dem Unbewußten gewachsene „Gestalt" wertmäßig höher. Von dem französischen Naturalisten Courbet (Ansatz um 1850) meint Kurt Breysig, daß dieser „mit der Posaunenstimme seiner machtvollen Persönlichkeit" eine Botschaft als „Feldgeschrei" in die Welt hinausgerufen habe. Dabei wird völlig übersehen, daß Courbet gelehrt hat: schön ist nicht wahr, aber wahr ist schön. Immerhin wird vernehmbar, daß auch oder schon beim Naturalismus der bildenden Kunst die Theorie der Praxis, die „denkmäßige Losung" der künstlerischen Lösung in der Leistung vorausgegangen sei (S. 49). Erwähnenswert ist weiterhin, daß Breysig Kandinsky mehr auf Abstraktion, Marc mehr auf Intuition festlegt (S. 206). Aber sonst gilt das „Gesetzgebungsrecht des Künstlers", der (wie George) mit der „strengen Gebärde der Herrscherlichkeit" ausgestattet sein sollte (S. 191). Im übrigen hätte Kurt Breysig von Richard Hamann lernen können, daß nicht einfach das herrscherliche Ich die „Richtung" bestimmt. Er selber gerät in Widersprüche zwischen Persönlichkeitsstil und Zeitstil oder auch Ewigkeitsstil: „Millet der Naturalist opferte einen Teil seiner Sendung Millet dem Meister überzeitlicher Kunst" (S. 42). Man gewinnt den Eindruck, daß Breysig ohne kulturgeschichtliche Ambitionen (er ist Verfasser einer Kulturgeschichte der Neuzeit ähnlich wie Emil Utitz) wesentlich Wertvolleres durch Einzelporträts von bildenden Künstlern hätte bieten können. S. 367. V e r g l e i c h s b l i c k auf die D i c h t k u n s t u n d a l l g e m e i n e r L i t e r a t u r - Ü b e r b l i c k . — Benutzt wurde die zweite Auflage, Marburg 1923, ein „nur wenig veränderter Abdruck der ersten". Dort findet sich das Zitat auf S. 2. Der starke Einfluß Nietzsches auf die damalige Literatur und Kultur wird hervorgehoben (S. 8), aber auch seine Gegenkräfte (S. 10). Es wird bedauert, „daß das literarische Schaffen fast ganz in Lyrik aufgeht" (S. 14; vgl.

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impressionistische Neuromantik), die Dauergeltung Frank Wedekinds wird angezweifelt (S. 15). Doch es ist hier nicht möglich, alle Einzelhinweise zu registrieren (Inhaltsangabe und Register fehlen dem immerhin etwa 250 S. starken Buch). Aber ein eigenes Kapitel IV ist dem „Impressionismus in der Dichtung" gewidmet (S. 56—84). R i c h a r d H a m a n n tastet hier noch merklich (Stichjahr 1907). Aber es ist erstaunlich, wie vieles er schon richtig sieht, wobei ihm teils das fachliche und methodische Können als Kunsthistoriker, teils die Neigung zur Kunstphilosophie Hilfestellung leistete. Als Merkmale werden erkannt: Stimmungs-Primat, Reihung von Einzeleindrücken, Variationsverfahren (Thematik) beim Motiv (Jens Peter Jacobsen „Niels Lyhne", „Frau Marie Grubbe", Wedekinds „Erdgeist", Schnitzlers „Reigen"), Enthüllungs- und Auswickelungstechnik, die „Stimmung chromatischer Fortschreitungen" und ständig wiederholter unaufgelöster Dissonanzen (Ibsen, der Zyklus „Die Blinden" besonders „Der Eindringling"), Bevorzugung des Intimen (Intimes Theater, Johannes Schlaf; Strindberg wird hier nicht berücksichtigt), Primat des Lyrischen (auch im Drama), Umsetzung von Werken der bildenden Kunst in die Wortkunst. Als Beispiel dient Max Dauthendey mit dem Gedicht in Prosa „Wintersonne" aus der kennzeichnenderweise nach einer Farbe betitelten Gruppe „Ultraviolett". Es konnte die Anregung durch ein Bild von Hans Olde nachgewiesen werden. In anderen Fällen wird die Bildvorlage vom Dichter selber klargestellt in der Titelgebung, etwa Böcklins „Pietä" oder „Nach radierten Skizzen von Max Klinger" usw. „Im Impressionismus hat eben naturgemäß die bildende Kunst die Führung" (S.75). Alfred Mombert wird natürlich noch nicht als „Vorläufer" für den Expressionismus beansprucht, sondern ebenso wie Richard Dehmel, dem er in der Tat menschlich und künstlerisch nahesteht, für den Impressionismus. Immerhin wird für diese Sonderausprägung die Nähe des Barocken herausgefühlt. Interessant ist die Beobachtung, daß R. Hamann in die Sonderrichtung eines „Neoimpressionismus" hineinflüchtete, wo seine Bestimmungen nicht ausreichen wollen. Johannes Schlaf mit seinem „Frühling" wird als Positivum für den Impressionismus verzeichnet, während Arno Holz wesentlich unvorteilhafter abschneidet. Im ganzen ist der Verf. überzeugt, daß die Poesie als „sprachliche Kunst kein geeignetes Mittel" darstelle oder zur Ver-

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fügung habe, um „reinste impressionistische Kunst" wirksam durchzusetzen. Doch wird anerkannt, daß die „Behandlung dieses der Impression nicht geneigten SprachMaterials" dennoch vielfach oder doch mehrfach als eine „eminent kunstvolle" gelten könne (S. 65/66). Zu den relativen Verwirklichungen rechnen auch die Werke Peter Altenbergs. Die zahlreichen ζ. T. längeren Probestücke, die R. Hamann vermittelt, sind noch immer recht instruktiv für die Sonderform eines literarischen Impressionismus. Nur die häufige Einbeziehung Georges und der Theoreme seines Kreises verrät jenes erwähnte Tasten nach Deutungsmöglichkeiten. Doch wird der Anteil des Kunsthandwerklichen durchweg nicht übersehen. Die „impressionistische Kling-Klang- und Dideldum-Lyrik" Otto Julius Bierbaums dürfte zu herbe abgefertigt und Liliencrons Paradigma „Die Musik kommt" zu nahe an die schwachen „Spiel"-Arten eines dichterischen Impressionismus herangerückt worden sein (S. 74). Dagegen ist das Hinüberblicken auf die Kleinkunst des Kabaretts und auf Tanz bzw. Tanz-Pantomime relativ berechtigt. Fragen der Poetik werden verschiedentlich gestreift, so die „Poetik" des Dramas (S. 56). Ungewollt und unbewußt berührt R. Hamann gelegentlich Ansätze zum Expressionismus innerhalb des Impressionismus. Daß dies möglich ist, bestätigt unsere allgemeine These, daß der scheinbar schroffe Gegensatz in der Ablösung der Stilrichtungen bei näherem Zusehen sich vielfach (ja durchweg) als eine Fortführung durch Umsetzung enthüllt. Die Dialektik wäre dann nur Mittel zum Zweck der Entwicklung. Und wohl nicht zufällig klingt R. Hamanns Buch aus mit der Forderung: „Mehr Hegel" (S. 257). Ebenso bestätigt sich unsere Meinung, daß geist- und kenntnisreiche Sonderforschungen keineswegs schnell veralten. Trotz zeitbedingter Unzulänglichkeiten nämlich ist das Bild, das hier (1907!) vom Impressionismus gegeben wurde, immer noch weit brauchbarer als die Zerrbilder vom Impressionismus, die notwendig entstehen müssen, wenn man unbedingt für den Expressionismus die Bahn — und sei es auch gewaltsam — frei machen will. Das gilt bis hin zu der A u f s a t z s a m m l u n g v o n 1956 (ein halbes Jahrhundert später!) über „Expressionismus" (hrsg. v. H. F r i e d m a n n und O. Mann), die noch mehrfach heranzuziehen sein wird. Dort wird der Impressionismus entweder als Sonderrichtung ganz ausgeklam-

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mert oder kurzerhand mit dem Naturalismus zusammengeworfen. Oder er wird merklich desavouiert. Und es bleibt schon anzuerkennen, wenn etwa einmal zugestanden wird, daß sich ζ. B. Paul Zech im gesamt mehr im „impressionistischen Gelände" als im spezifisch „expressiven" bewege (a. a. 0., S. 66); oder ein anderer Essayverfasser (noch 1956) zugestehen muß: „Noch sind die Verbindungen zwischen impressionistischer Lyrik und den Gedichten des frühen Expressionismus nicht hinreichend untersucht" (S. 85). Hätte es bei einem einigermaßen planvollen Vorgehen nicht nahegelegen, zunächst einmal in einem einführenden Artikel diese Fronten wenigstens annähernd zu klären, und zwar sowohl prinzipiell als auch historisch ? Nun sehen einige Einzel-Artikel sich gezwungen, in einem mehr oder minder lässigen Nebenbei das Versäumte „nachzuholen". Der eine sagt ζ. B. mit Bezug auf Oskar Loerke: „Das könnte fast das Bekenntnis eines Impressionisten sein" (S. 155). Der andere spricht von einer „surrealistischen Impression" (S. 178) und blickt dabei schon voraus und nicht zurück. Wieder ein anderer verfährt wenigstens insofern geschickt, als er die Perspektive auf den Impressionismus vom Blickwinkel eines Expressionisten aus umschreibt: „ . . . d e r Impressionismus erschien ihm als Sinnenkitzel nicht sehr verantwortungsbewußter Detailkünstler" (S. 280). Am beachtenswertesten erscheint für unsere Zwecke die einschlägige Bemerkung Ferdinand Lions in seinem ReneSchickele-Aufsatz: „Der Dichter-Journalist bewegt sich stilistisch auf einer Grenzlinie zwischen Impressionismus und Expressionismus, wie überhaupt jeder neue Stil sich vom vorhergehenden antithetisch abtrennt und zugleich danach trachtet, Elemente des Gegners an sich zu reißen" (S. 208). Ein Rückgriff auf das oben näher gewürdigte Kapitel IV bei R. Hamann hätte mehrfach Material für diesen Vorgang bieten können. Bereits im George-Kreis forderte man Aussparung bloßer Binde- und Hilfswörter, Konzentration auf das Wesentliche. Aber schon der darstellende Text dieses Bandes (V) berührt mehrfach die Problematik des vermeintlich ganz „Neuen" und völlig „Eigenen", wie sie sich in der emstzunehmenden Sekundärliteratur etwa dort spiegelt, wo K u r t B r e y s i g : Eindruckskunst und Ausdruckskunst (1927) von den Werken des Malers Emil Nolde betont, sie wirkten so „stark" (sein überall eingesetztes Bewertungswort), weil sie „mit den

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Mitteln ihrer ganz neuen, ganz eigenen Ausdruckskunst" arbeiteten (a. a. 0., S. i n ) . S. 367. Ferdinand Josef Schneidet. — Der expressive Mensch und die deutsche Lyrik der Gegenwart, Stuttgart 1927. Obwohl der Literaturhistoriker mit der Reserviertheit des Gelehrten an eine damals besonders unreservierte Lyrik herantritt, dringt seine Wesensdeutung und Wirkungskritik wesentlich tiefer als mancher billig begeisterte oder unbillig ablehnende Zeit-Essay. E r erkennt den Wertabstand, der im Expressionismus zwischen Dichtungsdeutung und Dichtungsübung, zwischen Theoretisieren und Produzieren besteht. Die großartigen Planungen scheinen ihm nur sehr unzulänglich den oft enttäuschenden, weil unzureichenden Verwirklichungen zu entsprechen. So versucht er vor allem von der Gedichtinterpretation, also von der werkimmanenten Poetik her „einen Grundriß der expressionistischen Poetik" (S. 7) zu gewinnen, der freilich nur auf die Grundlage der Lyrik projiziert bleibt. Aber daß er den damals noch etwas verpönten Terminus Poetik in einem Atem zu nennen wagte mit jener kühnen Richtung, die sich von allen Konventionen befreite, verrät sowohl die Unbefangenheit gegenüber dem vermeintlich Veralteten wie die Aufgeschlossenheit gegenüber einem „absolut" Neuen der neuen absoluten Kunst. Dieses absolut Neue schränkt er sogleich ein, nicht nur im Zurückblicken auf die Neuromantik und den Symbolismus, sondern auch im weiter reichenden Rückbück auf die Geniezeit und vor allem auf die Barockzeit. Denn er weist nicht allein an einem Lyriker wie Georg Heym, der seinem Verständnis besonders zugänglich zu sein scheint, mannigfache Uberschneidungen von neuromantischem Impressionismus, ja selbst impressionistischem „Naturalismus" und Expressionismus nach. Vielmehr hebt er in einem Sonderkapitel die moderne „barocke Ausdruckslyrik" (S. 62 ff.) ab von der „absoluten lyrischen Wortkunst", wobei das BarockKapitel das „absolute" nicht zufällig um etwa das Vierfache des Umfangs übertrifft. Das abschließende Kapitel über die „politisch-soziale Tendenz" hat etwa den halben Umfang des Barockkapitels, das also eindeutig vorherrscht. Innerhalb jenes Barock-Kapitels verdient die Berücksichtigung der Allegorie besondere Hervorhebung, aber auch das Moment der Dynamik und gesteigerten Bewegung. Der Stil des „Werdens" wird, gestützt auf L u d 53

M a r k w a r d t , Poetik V

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w i g C o e l l e n : Der Stil in der bildenden Kunst (1921), sowohl auf Gotik wie auf Barock bezogen. Wenn in den vorangestellten Abschnitten zu den „Zwei Bahnbrechern" neben Alfred Mombert auch Else Lasker-Schüler gerechnet wird, so erhebt sich der Einwand, daß die behutsam verhaltene Art der Else Lasker-Schüler nichts Bahnbrechendes an sich hat. Sie gleitet vielmehr durch ihr warmherziges Ausdrucksbedürfnis (das schon S. Lublinski geschätzt hatte) auf diese Bahn, ohne daß sie sie gebrochen hätte. Vielleicht liegt ein Hauptverdienst der anregungsreichen Schrift F. J. Schneiders mehr im Aufspüren der Ubergänge von Impressionismus und Expressionismus als in der Herausarbeitung des Hochexpressionismus, der ein wenig zu einseitig auf das Barocke zurückinterpretiert worden sein dürfte. Wesentliche Einsichten sind besonders aus den Kapiteln „Zwischen alter und neuer Kunst" (S. 29 f.) sowie „Impressionistische und Expressionistische Dichtung" (S. 40 f.) zu gewinnen. Doch werden auf Einzelheiten noch die Einzelanmerkungen eingehen. Nur soviel sei schon hier erwähnt, daß die Kehrseite des Barocken etwa als „barocker Sprachbombast" oder als Annäherung Johannes R. Bechers an „extravagante Persönlichkeiten" wie Quirinus Kuhlmann, das Hyperbolische und dem „Gallimathias" sich nähernde Prunkbild nicht übersehen wird. J. R. Becher als Expressionist sei einerseits dem Th. Däubler-Epigonentum, andererseits „ganz dem metaphorischen Bombast des 17. Jhs. verfallen". Immerhin wird J. R. Becher eine „ganz ansehnliche Begabung" zugesprochen (S. 111/12). Hinsichtlich der sehr beliebten MohnMetapher kann auf Andreas Gryphius verwiesen werden (S. 74, Anm.). Dem Barock nähert sich Schneider also nicht allzu verständnisvoll. Hinsichtlich der sozialen Tendenz gibt F. J. Schneider zu bedenken, daß der politisch-soziale Anspruch über die Forderung des „Verstehens" um jeden Preis streckenweise zurückfalle in den sittlichen Relativismus des Impressionismus und der impressionistischen Neuromantik. In diesem Betracht hält er es für übertrieben, wenn Hans Naumann (Die deutsche Dichtung der Gegenwart, 1923) allzu betont das Moment der sittlichen „Entscheidung" herausarbeitet. Aber W. S t u y v e r folgt darin mehr Naumann, um den Bezug auf die Existenzialphilosophie verstärken zu können. „Destruktive Tendenzen" in metrischer Hinsicht scheinen sich u. a. anzukündigen in der zwanglosen

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Langzeile von Franz Werfeis „Der Weltfreund", wobei Jean Pauls Polymeter und Walt Whitmans freie Rhythmen als Vorformen gelten, wodurch die Grenze von Versdiktion und Prosadiktion mehr und mehr verwischt wird (vgl. Ivan Göll mit seinen „Dithyramben" usw.). Übrigens hätte auch an Arno Holz und seine „Phantasus"-Experimente erinnert werden können. Eine kleine persönliche Neigung zeigt sich wohl in dem Herausstellen Victor Hadwigers als eines vermeintlichen Vorahners und Vorarbeiters des Expressionismus (schon etwa 1903!). Mehr aus betrachtender Rückschau als aus miterlebendem Einblick gibt F r i t z M a r t i n i : Was war Expressionismus? dem Zusatztitel gemäß eine „Deutung und Auswahl", Urach 1948. — Mehr als die Hälfte des Buches, das vor allem der expressionistischen Lyrik gewidmet ist, bringt Deutungen, der kleinere Teil Proben aus der Dichtung selber, und zwar aus der lyrischen Dichtung: fraglos ein wertvoller und instruktiver Beitrag zur Wesens- und Wertbestimmung expressionistischer Lyrik. Eine Konzentration und zugleich Ergänzung bringt F r i t z M a r t i n i s Expressionismus-Beitrag in dem Sammelband: Deutsche Literatur im X X . Jh. (1954) S. 107—135. Vorerst interessiert jedoch jene längere Fassung von 1948. Nach einer Einleitung über den Expressionismus als „dichterische Bewegung" (S. 9—65) wird dankenswerterweise ein Kapitel der „lyrischen Sprache" des Expressionismus gewidmet (S. 66—92) bevor die Sonderwürdigungen der einzelnen Lyriker (Alfred Mombert, Theodor Däubler, Else LaskerSchüler, Georg Trakl, Georg Heym, Ernst Stadler, Franz Werfel, August Stramm, Paul Zech, Alfred Wolfenstein, Wilhelm Klemm, Oskar Loerke, K. Heynicke) folgen (S. 93—174). Daran schließen sich die Proben expressionistischer Lyrik (S. 175—241). Um es vorwegzunehmen: man gewinnt den Eindruck, daß F. Martini — vermutlich absichtlich — aus der Lyrik des Expressionismus das auswählt, was zusagen und anziehen könnte, das jedoch ausschließt, was abstoßen könnte. Er will merklich dem „modernen" Leser nicht zuviel zumuten, um nicht von vornherein zu entmutigen oder gar mißzustimmen. F. Martini glaubt den Expressionismus als „wesenhaft deutsche Erscheinung" in Anspruch nehmen zu dürfen (S. 10), und zwar in dem Grade, wie Deutschland in der Mitte der abendländischen Katastrophe stand, die sich schon im ersten Weltkrieg abzeichnete. Auch die Theorie

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vom „rücksichtslosen Subjektivismus" innerhalb des Expressionismus bedarf der Einschränkung und der kritischen Reserve. Ebenso die These vom Radikalismus des Gefühls, weil der Radikalismus des Gedankens nicht unterschätzt werden sollte. Aber F. Martini erkennt genau, daß die bildenden Künste zum Teil ihre Ausdrucksmittel überforderten und letztlich aus einer gewissen Verlegenheit heraus in das Literarische verlegten (S. 27). Daß die „Negation der (äußeren) Wirklichkeit" wesentlich dazu beitrug, die Position der inneren Wirklichkeit zu gewinnen, ist ihm durchaus geläufig. Dem Positivismus des Naturalismus und dem (passiven) Relativismus des Impressionismus wird der gefühlsmäßige und begriffliche Absolutismus innerhalb des Expressionismus fordernd und fördernd zugleich entgegengestellt. Die reale Wirklichkeit wird aufgehoben von der und in der irrealen „Wirklichkeit". Die pathetische Hochform des Expressionismus wird dabei personifiziert in Franz Werfel (den andere Literaturhistoriker schon abrücken vom „reinen" Expressionismus), während als Repräsentanten der deklamatorischen Spätform Johannes R. Becher, Walter Hasenclever u. a. gelten. Die „Neue Sachlichkeit" wird mit den Attributen des Resignierten, Idyllischen und selbst des verzichtend Zynischen versehen (S. 65). Die Einzeldeutungen der Lyriker greifen bereits von der formulierten Poetik über in die werkimmanente Poetik. Dagegen wird im Abschnitt über die „Lyrische Sprache" noch einiges Wichtige für die Kunsttheorie im engeren Sinne gesagt. Die Totalität des Ausdrucks kontrastiert berechtigt mit dem Detail des Eindrucks, das Intensive der Expression mit dem Extensiven der impressionistischen Schilderung, die innere Ausdeutung mit der äußeren Andeutung, die Wesensschau mit der Wirklichkeitsschilderung, ob nun naturalistischer Robustheit oder impressionistischer Raffinesse. Der schon erwähnte E x p r e s s i o n i s m u s - A u f s a t z von 1954 hat stärker die Entwicklungslinien nach rückwärts und vorwärts herausgearbeitet, bezieht die anderen Gattungen ein, berührt auch deutlicher das Wechselspiel zur Philosophie (S. 109) und bringt u. a. die Formel, „vieldeutige Verbindung von nihilistischem Pessimismus und idealistischem Utopismus" (S. 114). Als expressionistisch stärker beeinflußt werden genannt Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Günter Eich, Alfred Döblin, Hans Henny Jahnn, Elisabeth Langgässer, Hermann Broch und Arno

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Schmidt. Kunsttheoretisches wird mehrfach ausgewertet, besonders bei Alfred Wolfenstein. Doch kommt auch Ernst Barlach zu Wort. Dankenswert ist vor allem der Hinweis auf Oskar Loerkes Tagebuch von 19x2 (S. 125); es wird mit Recht davor gewarnt, Loerke zu nah an den Expressionismus heranzurücken. Mit Georg Lukacs erfolgt eine kurze Auseinandersetzung (S. 116). S. 369. Detlev von Liliencron. — A. S o e r g e l bewertet ihn neben und vor Richard Dehmel als den bedeutendsten L y riker jener Epoche (Liliencron-Abschnitt a. a. 0.). So wird es auch verständlich, daß eine sehr umfassende Monographie vorgelegt wurde von H e i n r i c h S p i e r 0 : Detlev v. Liliencron, sein Leben und seine Werke, BerlinLeipzig 1913, daß H e r m a n n H e i b e r g begeistert die „Vermählung von Wahrheit und Schönheit" anerkannte und ausrief: „ D a s ist goldene Poesie! Wo graben Sie in der Welt die Worte aus ? Das ist so kühn, so packend, daß man ganz verblüfft ist". Nicht unbeeinflußt von H. Heiberg kündigte E d u a r d E n g e l schon sehr früh die kommende Größe an, und zwar in dem damals von ihm geleiteten „Magazin für die Literatur des In- u. Auslandes" (Jg. 1882) mit prophetischen Worten: „ I c h rede mir ein, einen Dichter entdeckt zu haben. Er heißt Detlev Frhr. von Liliencron, und ich bitte, sich diesen sehr schön klingenden, alten Namen (das traf nur recht bedingt zu) einzuprägen, denn über kurz oder lang steht er doch in den Literaturgeschichten, natürlich unter den .Epigonen'". Trotzdem war Liliencrons Weg zur Geltung sehr langwierig und schwierig. Davon zeugen besonders seine Briefe, vor allem die Briefe an seinen ersten Verleger Wilhelm Friedrich, die H. Spiero herausgab unter dem Titel „Neue Kunde von Liliencron", Leipzig 1912; aber auch die umfassendere Briefsammlung: D. v. Liliencron, Ausgewählte Briefe, 2 Bde, Berlin 1910, die der jüngere Dichterfreund R i c h a r d D e h m e l herausgegeben und mit einem längeren Vorwort begleitet hat. — In seiner umfassenden Zusammenschau in historischem Längsschnitt „Die neuere deutsche L y r i k " (Barock bis Gegenwart) hebt A u g u s t C l o s s den Impressionismus Liliencrons als „physiologische Eindruckskunst" klärend ab von der „psychologischen Nervenkunst" eines Hofmannsthal; vgl. Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. v. W . Stammler Bd. II, S. 292—95.

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S. 370. G e b i e t des S p r a c h l i c h e n u n d M e t r i s c h e n . — Fast gleichzeitig mit dem ersten Keimen des dichterischen Bewußtseins läßt sich Stilkritik in den Briefen beobachten. Da hat Liliencron von liebebedürftigen Gedanken gesprochen, um sogleich in Klammern die Parenthese hinzuzufügen „(das letzte Wort paßt nicht zu .Gedanken', aber Du verstehst mich)", Juni 1870. Bald schon geht es um dichterische Gestaltung und metrische Fragen. So bittet er mit Bezug auf das Gedicht „Verbannt" um Entschuldigung für ein unzulängliches und „mangelhaftes Enjambement" (Oktober 1877). Daß man den Sprachstil einer seiner Novellen getadelt hat als „zu trivial, platt und plump", ist ihm „fast fataler als Mangel an Talent" (September 1878). Angesichts der Zusammensetzung „menschendaseinswürdig" ruft wieder eine Klammer-Parenthese zur kritischen Besinnung: „(entschuldige das monströse Wort)", (November 1878). Zeitweise fürchtet er, daß sein dichterisches Bemühen überhaupt an sprachlicher Unzulänglichkeit scheitern werde. So bekennt er dem dichtenden Prinzen Emil v. Schönaich-Carolath zwar einerseits: „Ich habe nur ein einziges Talent, und das ist, daß ich instinktiv sofort herausfinde, was schön ist", aber andererseits gesteht er: „Ich weiß es, daß ich kein Dichter bin, daß ich nur schöne Gedanken habe, die aber keinen Ausdruck finden; mir fehlt das ,Wort', die Sprache" (November 1879). Daneben geht die Selbstkorrektur in Form von stilkritischen Einschüben weiter (ζ. B. Februar 1882, Mai und Juli 1891, Oktober 1892, Mai 1893, April 1895 u. a.). In einem Brief an Otto Julius Bierbaum (Oktober 1889) äußert er stilkritische Bedenken gegen einen unbedacht gewählten, zu unbeabsichtigten Assoziationen führenden Ausdruck. Richard Dehmel scheint ihm in seinem Gedicht „Venus bestia" die Modulationsfähigkeit des Knittelverses nicht ausgewertet, sondern alles zu sehr in „skandierte Prosa" abgedrängt zu haben, so daß der Eindruck von „gereimten freien Rhythmen" überwiege (Februar 1893). An sich hält er viel vom Knittelvers. Besonders bemerkenswert ist die eingehende und nachdrückliche Ermahnung zum selbstkritischen Feilen und zur kunsttechnischen Vervollkommnung, die Liliencron an den von ihm liebevoll anspornend betreuten Lyriker ebenfalls impressionistischer Prägung (in der Nachfolge Theodor Storms) Gustav Falke richtet: „Und nun fangen Sie an, bei Ihren Sachen, bei entstehenden und entstan-

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denen, zu a r b e i t e n . Der Begriff der Arbeit, des Durch(Nach-)denkens, der Feile, lag Ihnen bisher ganz fern". Liüencron greift das „alte richtige Wort" bewußt auf, daß Genie „Arbeit, harte mitleidslose Arbeit" sei. Durch den von Liliencron anerkannten „Reichtum des Reims" vor allem und die frei strömende „Phantasie" habe sich Falke verleiten lassen, regulierende Kräfte wie „Eindämmung, Selbstkritik, Sorgfalt, Arbeit" abzuwehren und zu vernachlässigen: „Aber d a v o n hängt Ihre Zukunft ab" (16. Juni 1893). Bis in Einzelheiten verfolgt er die Gefahren von willkürlichen Änderungen; so erscheint ihm „ L i e b " ' (statt „Sturm") schauderhaft: „Lieb' (also apostrophiert) ist ein scheußliches Eunuchenwort", und Gustav Falke habe sich mit Recht geärgert über das leidige „Dichter-e" (ζ. B. gequälet statt gequält). Bei dieser Gelegenheit zieht er gegen die Musikdramatiker vom Leder: „So schrieben und schreiben .Gedichte' Richard Wagner und Richard Strauß, .welcher letztere' (Ironie unter Wustmanns Einfluß) auch nicht einen Schimmer von wirklicher Poesie hat" (September 1895). Nicht ganz klar ist er sich merklich über die metrische Theorie von Arno Holz. Als Freund des Verses stellt er einigermaßen beklommen fest („dieser Brief fällt mir recht eigentlich schwer"), daß der Arno Holz des „Phantasus" eine „Art (in der Form wenigstens) neuer Metrik" begründen wolle: „Sie verwerfen also gänzlich (für die .kommende' Poesie) den Reim und wohl auch den Rhythmus, wenngleich in Ihrem neuen Phantasus doch ein klarer, ausgesprochener Rhythmus ist" (an Arno Holz, 19. Mai 1898). Der latente kritische Einwand bewegt sich in ähnlicher Richtung wie der in dem oben zitierten Brief an R. Dehmel. Verwandt mit der Mahnung an G.Falke wirkt die an Rudolf Presber, dessen Gedicht ihm zu flüchtig („zu sehr im Husch, Husch, Husch") hingeschrieben vorkommt: „Die Feile hätte es zu einem entzückenden machen können" (Dezember 1902). Auch in eigener Sache wird das Feilen groß geschrieben (23. Juli 1905). — Mitte April 1905, also wenige Jahre vor seinem Tode, läßt er es sich drei Briefe kosten, um eine stilistische Feinheit im „Poggfred"-Epos auszufeilen („geduldige Klage" zu „gleichmütige" oder „gelassene" unter Ubergreifen der Korrektur auf das Stilmilieu). A u g u s t C l o s s a. a. 0. (1954) S. 292 spricht mit Recht von der „straffen Disziplin" in der Ausdruckswahl, die sich eigenartig abhebe von der „sonst lockeren Nuancierung des Eindrucksbildes".

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S. 371. S t e l l u n g z u m N a t u r a l i s m u s . — Vorübergehend hat sich Liliencron als Naturalist gefühlt. Aber frühzeitig macht er Einschränkungen. Er vermißt bei den Jüngsten u. a. den Humor und die „Künstlerhand". Anknüpfend an den Aufsatz von A l f r e d B i e s e : „Th. Storm und der moderne Realismus" spricht sich Liliencron so aus: „ I c h selbst als Kritzelmeier (Schriftsteller) bin mit Begeisterung .Naturalist', um das verpönte Wort zu gebrauchen. Vor allem zog es mich dahin, weil ich den Mut dieser Jüngsten (es ist j a unbestreitbar viel Widerwärtiges und Unfertiges von diesen geschrieben, aber es wird sich klären), den M u t bewunderte: einmal Front zu machen gegen diesen ganzen ekelhaften Wischwasch, der sich zur Zeit deutsche Literatur nennt" (24. November 1888). Nicht zuletzt ist es also das Draufgängertum, das den Draufgänger Liliencron als verwandt anzieht. Naturburschenhaft unbekümmert stellt er kurz und bündig (aber angesichts des Objekts — Richard Dehmels Drama „Der Mitmensch" — kaum zutreffend) heraus: „ D a s Drama ist ein Stück wirklichsten Lebens selbst. Und damit B a s t a . . . Was also, Symbolik, Allegorie, philos. Doktorthese! Mir vollkommen Wurst" (an R. Dehmel, April 1895). Immerhin ist ihm das Zuviel an „Philosophie" in Dehmels Dialogen nicht entgangen. Er möchte merklich mit Gegengift heilen (wie er es überhaupt Dehmel gegenüber mehrfach versucht). Besonnener hatte er sich schon einige Jahre vorher gegenüber Gustav Falke prinzipiell so ausgesprochen: „Der Naturalismus, der so gefürchtet wird von den Deutschen, ist notwendig gewesen, um das fließende Wasser wieder herzustellen, das versandet und versumpft war. Aber dieser .Naturalismus' ist nun überwunden — und klar und heilig fließt wie früher der alte deutsche Strom der Dichtung . . . " (Mai 1893). In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß der Terminus „impressionistisch" bereits noch früher in anerkennendem Sinne gebraucht wird. An Timm Kröger, dessen Dorfgeschichten er weit über die Auerbachs stellt, schreibt Liliencron: „Ich las gestern in stiller Mitternacht — draußen ein tolles Wetter — Ihre wundervolle i m p r e s s i o n i s t i s c h e Skizze ,1m Moore'. . . " (27. Januar 1890). In entsprechender Richtung liegt das warme Eintreten Liliencrons für Peter Hille, mit dem er persönlich bekannt wurde. S. 386. Arthur Schnitzler. — D e r „ r e i n s t e " I m p r e s s i o n i s t . — W e r n e r M a h r h o l z : Deutsche Literatur der Gegenwart,

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1931 (ergänzt v. M. Wieser) S. 79: „ . . . der reinste Vertreter des deutschen Impressionismus", schon vorher zu Beginn des Schnitzler-Abschnittes: „ . . . der eigentliche Impressionist aus Weltanschauung und innerem Stil" (S. 76). Vielleicht wäre Peter Altenberg noch „reiner" und „eigentlicher", aber ihm fehlt die umfassende Kunstleistung. Als Lyriker kämen schon frühzeitig Liliencron und Gustav Falke in Betracht. Sieht Werner Mahrholz in Arthur Schnitzler den reinsten Impressionisten, so sieht H e i n r i c h Mann in ihm gleichsam den reinsten unpolitischen Dichter. (Augenscheinlich wird dabei „Professor Bernhardi" übersehen.) In „Ein Zeitalter wird besichtigt" (1947), S. 228: „Der einzige Dichter von Rang und Urteil, der seine Nichtachtung der öffentlichen Dinge für selbstverständlich nahm . . . , war Arthur Schnitzler". Natürlich kann Heinrich Mann das, trotz aller persönlichen Sympathie, nicht gutheißen und sieht darin den wesentlichen Grund für das Vergessenwerden oder doch Vernachlässigtwerden Schnitzlers schon bei Lebzeiten. Schnitzler hätten nur die allgemeinmenschlichen Probleme: „Liebe und Tod" gefesselt. Unbewußt berührt Heinrich Mann dabei die Nähe zu Sigmund Freud, dem „Eros und Destruktionstrieb (Todestrieb)" bekanntlich als beherrschende Grundkräfte des Seelischen gelten. Um auf den „reinsten" Impressionisten zurückzukommen, Paul Fechter: „Dichtung und Journalismus" (1924) hat in diesem wegen seiner größeren Zeitnähe aufschlußreichen Essay die Frage nach dem ausgeprägtesten impressionistischen Literatur- bzw. Kunstkritiker aufgeworfen. Er zieht Theodor Fontane in Erwägung, den er jedoch vom Impressionismus abhebt, sieht in Alfred Kerr (trotz dessen Protest) die „Wesenszüge" des Impressionismus „sehr rein sichtbar werden" und in Kerrs Forderung, die Kritik als Kunstwerk zu betrachten, einen Ausdruck impressionistischer Gesinnung. Jedoch „die reinsten Beispiele der impressionistischen Haltung innerhalb der Kritik' 'glaubt er bei dem weniger bekanntenRezensenten und Kunstreferenten Oscar Bie anzutreffen, der nicht zufällig von der bildenden Kunst zum Journalismus hinübergewechselt sei: „Er arbeitet fast malerisch, setzt Worte, kurze Sätze wie Farbflecken hin . . . und konstatiert sein Erlebnis", in: „Weltliteratur der Gegenwart", a. a. 0., S. 251. S. 387. P s y c h o a n a l y s e . — Zu den persönlichen Beziehungen Schnitzler/Freud bringt neues Material L u d w i g M a r c u s e :

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Sigmund Freud, sein Bild vom Menschen, Hamburg 1956, S. 88/89. Er geht hier nicht auf die Einschläge von Psychoanalyse in Schnitzlers Dramen ein, sondern sucht nur, von Freud her sehend, zu erklären, warum dieser die Werke Schnitzlers so selten (bzw. überhaupt kaum) berücksichtigt habe. Sigmund Freud selber erklärte die Distanz mit „einer Art von Doppelgängersehen". Schnitzler war ja ebenfalls Arzt und an subtilen Vorgängen des Unbewußten interessiert. Wahrscheinlich jedoch hat Freud m. E. die moderneren Dichter nicht als Motiv-Belege verwertet (auch Thomas Mann nicht), weil diese bereits von seiner Lehre beeinflußt waren, also nicht gut als Belege benutzt werden konnten. L. Marcuse stützt sich bereits auf Freuds Briefe an Schnitzler, in: Die Neue Rundschau, Frankfurt a. M. 1955. S. 390. N i h i l i s t i s c h e W e l t v e r a c h t u n g . — D i e s e leise, liebenswürdige Skepsis der Weltbetrachtung hebt sich besonders deutlich ab, wenn man dem Impressionisten Peter Altenberg das Extrem nihilistischer Weltverachtung gegenüberstellt, wie sie uns etwa in C a r l S t e r n h e i m (1878—1942) als Vertreter der intellektualistischen Richtung des Expressionismus entgegentritt. Sternheims satirischer Dramenzyklus „Aus dem bürgerlichen Heldenleben" (1910!), die einzelnen L u s t s p i e l e der U n l u s t , um sie kurz einmal so zu charakterisieren, wie ζ. B. „Die Hose" (1910), „Der Snob" (1910), „Die Kassette" (1911), „Bürger Schippel" (1912), aber auch das Schauspiel „1913" (1913, ein ins Zynische geratenes gesellschaftskritisches Gegenstück zu Hauptmanns mehr politisch-kritischem „Festspiel 1913") machen mehr oder minder bereits „Tabula rasa" (Schauspiel 19x6). Wenn sich CarlSternheim als „Arzt am Leibe seiner Zeit" gefühlt und mit einem gewissen Recht so bezeichnet hat, so war er ein recht liebloser und reichlich robuster Arzt. An sich wirkt er mehr wie ein verbittert-verbissener Jurist (er hatte u. a. Jurisprudenz studiert), an den auch sein bewußt latinisierter — oder doch romanisierter — Prosastil, dessen eigenwilliges Gepräge nicht verkannt sei, lebhaft erinnert. Aus der Geschichte der neueren deutschen Komödie ist er nicht wegzudenken. Er brauchte nicht wie Gottfried Benn Angst vor Gemütseinbrüchen zu haben (denn Benns Ablehnung des „Gemüts" wirkt wie eine heimliche Selbstbewahrung); und die Tendenz zur Gemütskrankheit

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(1928—1930) vermag rein vom Medizinischen her die Wesenskälte als Charaktermerkmal einigermaßen zu rechtfertigen. Aber Sternheim war vorzüglich geeignet, Morsches abzubrechen. Auch die Kunsttheoretisches wenigstens berührende Publikation „Tasso oder Kunst des Juste Milieu" (1921 in unmittelbarem Gefolge von „Berlin oder Juste Milieu", 1920) leistet vor allem kritische Abbrucharbeiten. Etwa nach früherer (Junges Deutschland) und späterer Methode (Friedrich Wolf) kulturpolitischer und speziell politisch eingestellter Schriftsteller erfolgt eine mehr kunstrichterliche als kunstphilosophische Literaturschau. Dieses Mal geschieht das nicht, um nachzuweisen, daß alle Kunst Tendenzkunst gewesen sei, sondern um den Bürgerschreck nun auch auf die „bürgerliche" Literatur und ihre Hauptstützen loszulassen. Für ihn, der „Geist" gleich „Freiheit" gesetzt hatte, konnte ein Tasso in Goethes Sicht nur als Karikatur des von Sitte und Geschmack Gezähmten erscheinen, dem letztlich der persönliche Mut des geistig freien Künstlers fehlte. Es geht Sternheim um die triumphierende Entlarvung des heimlichen Zweckdienstes der bürgerlichen Kunst, um den Nachweis, daß hinter der idealen Unverbindlichkeit eine höchst reale Verbundenheit mit den gemeinsamen Machtinteressen steht. Destruktive Kritik beherrscht das literarische Schlachtfeld. Positive Wertsetzungen werden höchstens in nebelhaften Umrissen durch indirekte Beweisführung notdürftig erkennbar, ζ. T. auch nur vermutbar. Denn Carl Sternheim möchte wohl die alte Zweckknechtschaft brechen, aber letztlich nur auf die Gefahr hin, sich in einen neuen, unverhüllteren Zweckdienst zu begeben. Immerhin ist zuzugestehen, daß die Wahl des Warnungswortes „Tasso" nichts weniger als ungeschickt war. Im Grunde mochte sich Stemheim in seiner Gefährdung durch Nervenkrankheit verwandt fühlen mit Tasso und seinem Schicksal. Eben deshalb reizte ihn das ethische Erzogenwerden doppelt. Aber geschieht seiner Oscar Wilde-Gestalt im gleichnamigen Drama in Wirklichkeit etwas davon sehr Verschiedenes ? Auch das Genie muß sich einfügen in den Rahmen sittlicher Gesetze. Man könnte geltend machen: Abbrucharbeiten als Dichter und Kritiker mit dem Ausgleichswert von „Rettungen", ein Produktivmachen der Negation — also ein

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neuer Lessing ? Ganz abgesehen von der geistigen Größe, fehlte ihm dazu das Wertvollste, Lessings Glaube an eine Erziehung des Menschengeschlechts. Die Entwicklung seiner Lustspieldichtung blieb gleichsam beim „Jungen Gelehrten" stehen und konnte nicht zu einer „Minna von Barnhelm" hinaufgelangen. Doch ist die Tapferkeit im kämpferischen Bekennen Sternheim zuzusprechen. Er besaß — jedenfalls als Schriftsteller — jenen Mut zu sich selber, den er beim Bürger und beim spezifisch „bürgerlich" eingestellten Künstler, dem längst vorher herangezüchteten Künstler des , J u s t e Milieu" vermißte. Im Verhältnis Ethik/Ästhetik kann eine wahre Ästhetik nicht gedeihen innerhalb der Atmosphäre einer unwahren „Sittlichkeit". Die Autonomie des Schönheitsprimats ist nur eine billige Ablenkung vom klaren, unbestechlichen Blick für die Korruption sittlicher Zustände im saturierten „bourgeoisen Großbürgertum", die das Kleinbürgertum angesteckt hat. Der verlogenen Freiheitsthese entspringt und entspricht eine verbogene Schönheitstheorie. Kurz, die Aktien des Bürgertums stehen für Sternheim (der Bankierssohn und im Privatleben nicht ohne Geschäftssinn und Komfortbedürfnis war) durchaus „lustlos". Daher kann man zum mindesten in diesem Sinne den Typus seines Lustspiels ein L u s t s p i e l d e r U n l u s t nennen, sowohl psychologisch wie politisch. Es entsprach das Erregen von politischer Unlust durch ästhetische Lust durchaus seinem Kunstwollen. Insofern stimmen Theorie und Praxis überein. E s fragt sich nur, ob die Dosierung jener Unlustquanten eine ästhetische Lust überhaupt noch aufkommen läßt, weil irgendwo der Spaß aufhört, jener „ S p a ß " , auf den streckenweise auch B . Brecht zielt. Dem intellektuellen Lustgefühl an erkältendem „Geist" folgt leicht eine ästhetisch-ethische Unterkühlung. S. 392. Herbert Eulenberg. — Auf das Bühnenspiel „Die Insel" und das impressionistisch Spielerische der Prägung H. Eulenbergs „Leicht ist jedes Erdenleben, wenn man es in Verse zieht" weist hin 0. W a l z e l : Gehalt und Gestalt (1923) S. 60. Es geht um das Verhältnis Erlebnis/Dichtung. S. 408. G e s i n n u n g d e s B a r o c k . — O h n e von Hermann Bahrs Vorgängerschaft Notiz zu nehmen, wiederholt O t t o M a n n etwa ein Menschenalter später in der „Einleitung" zu dem von ihm mitherausgegebenen Sammelband von

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Einzelaufsätzen und ζ. T. stark journalistisch getönten Essays unter dem lapidaren, aber wenig präzisen Titel „Expressionismus", Heidelberg 1956, die sogar s c h o n v o r H. Bahr erkannte Beziehung Expressionismus/Barock. Im Gegensatz zu F. J. Schneider bedeutet für 0. Mann das Barocke (gemäß der Aufwertung durch die BarockForschung) etwas durchaus Positives. Er bildet sogar ein neues Verbum „barockisieren", um dieser Neubelebung barocker Dynamik Nachdruck zu verleihen. Auch der an sich nicht ganz abseitige Terminus „Neubarock" fällt in diesem Zusammenhange (a. a. O., S. 22). Das bedeutet jedoch nicht, daß Otto Mann mit der religiösen Haltung des Expressionismus zufrieden wäre, die ihm allzu verschwommen-unverbindlich erscheint (S. 24). Die Beziehung Arno Holz' („Daphnis") zum 17. Jahrhundert wirkt etwas zu gezwungen „vertieft". Und wenn man selbst eine gewisse „Barockisierung" in Arno Holz' Spätstil anerkennen wollte, fällt es schwer, ohne weiteres an eine enge Anknüpfung August Stramms zu glauben, ohne daß gewisse Anregungen oder doch ihre Möglichkeit prinzipiell abzulehnen wären. Das starre religiöse Prinzip hat darin offensichtlich das „Poetische Prinzip" (Joh. R. Becher) etwas robust überwältigt, um nicht zu sagen vergewaltigt. Man spricht von Dichtung und man meint Religion, wie man andererseits von Dichtung spricht und Politik meint. Der Poesie ist aber im Extremfall schlecht damit gedient, Tendenzen, gleich welcher Art, dienen zu müssen. S. 409. R e l i g i ö s - m e t a p h y s i s c h e V e r k l ä r u n g e n . — Die oben erwähnte „Einleitung" zu „Expressionismus" (1956) von O t t o Mann macht indessen von kirchlichem Wertungsprinzip aus ernste Bedenken gegen die Brauchbarkeit des religiösen Traggrundes geltend: „Es fehlen die sachliche, greifbare Offenbartheit des Göttlichen im Raum der positiven Religion . . . " (S. 24). Dem entspricht es, wenn er in derselben Aufsatz-Sammlung in seinem Sonderbeitrag „Ernst Barlach" beanstandet: „ E r (Barlach) verweist den Menschen auf seine, auf die Barlachsche Erlösung, die nicht mehr die Erlösung im Räume der geschichtlichen Religion ist. Das religiöse Wahre wird nur noch Stoff der subjektiven poetischen Phantasie" (S. 313). Besonders diese letzte Wendung erinnert an jene Beanstandungen, denen von protestantisch-orthodoxer Seite einst Klopstocks „Messias"-Epos wegen der

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Phantasie entsprungenen dichterischen Freiheiten ausgesetzt gewesen war (oder in England vorher Milton). Was Ernst Barlach betrifft, so hätte er — nach Otto Mann —besser daran getan, seine Gabe für „Wirklichkeitsdarstellung" auszubauen, statt sich zu einem vermeintlich „erhellenden religiösen Führer" aufzuwerfen. Sollte man nicht eigentlich dankbar sein, wenn sich künstlerisch ernst zu nehmende Dichter überhaupt noch so ernsthaft wie Barlach mit Problemen des Christentums befassen? In der von 0. Mann mitherausgegebenen Aufsatz-Sammlung „Christliche Dichter der Gegenwart" (1955) wäre man auf eine derartige Unduldsamkeit gefaßt, jedenfalls eher als in einer Sammlung, die sich wesentlich „literarischer" mit dem Richtungswort „Expressionismus" geschmückt hat. Etwa dreißig Jahre vorher hat sich W o l f g a n g P a u l s e n : Expressionismus und Aktivismus (1934) weit wohlwollender und duldsamer über den religiösen Impuls und das Verhältnis zum Christentum geäußert. Er bringt Beispiele, wo das Göttliche ausdrücklich „mit dem Namen Gottes belegt" sei und überhaupt das Religiöse durchaus greifbar wird, so etwa bei Ernst Wilhelm Lötz, Else Lasker-Schüler, Paul Zech, Ernst Stadler, Wilhelm Klemm, Franz Werfel u. a. Besonders hebt er in diesem Betracht Reinhard Johannes Sorge hervor, der von Nietzsche herkommt und die Rückwendung zu Christus vollzieht („Der Sieg des Christos"), indem er Katholik wird (vgl. a. a. 0., S. 26f.). Allerdings betont W. Paulsen „Die Inbrunst der neuen Religiosität schmilzt alle Grenzen der Konfession" (S. 105). Auch neigt er dazu, den Expressionismus zu ernsthaft auf die historische, echte Mystik zurückzubeziehen. Außerdem und vor allem dient ihm die Herausstellung des Religiösen dazu, durch den religiösen Zug den Expressionismus vom politischen Aktivismus abzuheben. S. 413. T e i l v e r d i e n s t e des I m p r e s s i o n i s m u s . — Kasimir Edschmid ist in dieser Anerkennung weit großzügiger als etwa mancher „Sturm"-Anhänger. Dort sprach man dem Impressionismus das Wertkriterium der „Offenbarung" ζ. T. völlig ab: „Es fehlt also das entscheidende Moment der Kunst: die Offenbarung". Im Eifer des Gefechts kommt man zu Parolen wie etwa: „Expressionismus oder Impressionismus . . . Kunst oder Nichtkunst. So groß ist der Gegensatz der beiden Begriffe"; vgl. hierzu W.

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R i t t i c h : Kunsttheorie . . . im „Sturm", Diss. Greifswald 1933, S. 11. S. 418. Alfred Mombert (1872—1942). — Mombert ist ähnlich wie Richard Dehmel, mit dem er eng befreundet war und dem er den Zyklus „ D e r Glühende" (1896) widmete, eigentlich nie ganz vom Dichter-Denker Friedrich Nietzsche freigekommen. Worte wie etwa: „Glaubt einer, die Glücke der Zeiten würden milder? Wer Milde sucht, der s c h e i d e sich von mir: u m mich tobt die e w i g e Schlacht" könnten ohne weiteres von Nietzsche stammen. Die Beispiele ließen sich häufen. Selbst modernen Neudeutungsversuchen, die Mombert mit den Archetypen der Tiefenpsychologie Jungs beizukommen versuchen (wie B . Rang: Vorläufer des Expressionismus, in „ E x pressionismus" 1956), ist die Nähe der „Sfaira"-Fragen: „ W a s ist's mit dem Menschen?/Hat er ein Ziel?/ Soll ich an ihm weiterschaffen auf diesem S t e r n ? " zu den entsprechenden Zarathustra-Fragen aufgefallen. Trotzdem überbetont man (seit A. Soergel) immer noch die Funktion, die seine kosmische Visionsdichtung teils mythischen, teils mystischen Gepräges und stark hymnischen Tons für die Entwicklung und Wegbahnung des Expressionismus ausgeübt hat. Sein dithyrambischer Rhythmus steht in Wirklichkeit näher bei dem „notwendigen Rhythmus" von Arno Holz, dessen Theorie er in der Praxis ζ. T. vorwegnimmt, und dem „phonetischen Rhythmus" von Otto zur Linde als bei dem Uber-Rhythmus jäher Enthemmung und stoßhafter Drosselung im Expressionismus. Wenn man so lebhaft und häufig die „Ur-Konzeption" bei Alfred Mombert hervorhebt, so könnte man das auch leicht — und vielleicht berechtigter — ins Kritische wenden. Mombert, der nicht zufällig eine frühe Gedichtssammlung „Die Schöpfung" (1897) benannt hat, ist als Dichter kaum jemals aus dem S t a d i u m d e r K o n z e p t i o n herausgekommen. Er erschöpft sich gleichsam in der Schöpfung. Er kann und mag sich nicht trennen vom Steigerungserleben der Empfängnis, die ihm schon ausgetragene Schöpfung zu sein scheint. Und der große Mythus des letztlich mehr pantheistisch als mystisch gesehenen Schöpfungsvorganges ist gleichsam nur die bildliche Projektion jener Konzeption ins Universale hinein. Von hier aus würde verständlich, warum er seiner Schöpfergabe so frühzeitig gewiß ist, warum er ohne

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Überheblichkeit sagen kann: „Ich brauche mich nicht erst um Kunst zu plagen", warum er nicht etwa wie Rilke die Notwendigkeit des Kunstgesetzlichen, Formgesetzlichen und Handwerklich-Kunsttechnischen erarbeiten zu müssen meint, warum er — besonders nach dem Wirklichkeitserleben einer echten Vision als junger Student der Jurisprudenz zu Berlin (Januar 1894) — ausrufen darf, es gebe nach solcher Stunde der Erleuchtung des schöpferischen Aufglühens keine kunsttechnischen Probleme mehr, „keine Hemmnisse der Formung mehr. Keine Poetik und Ästhetik mehr. Keine Leser und Kritiker mehr. Incipit creatio — die Schöpfung beginnt". Es ist gewiß herrlich, wenn sie so beginnt. Aber es ist auch gefährlich, wenn sie so endet. Mombert erlebt damals den „furchtbar heraufmachtenden Schöpfungswillen". Aber er setzt nun dieses übermächtige, überwältigende Kunstwollen vorschnell gleich mit der ausformenden Kunstleistung. Und der an sich gleichzeitig erfahrene„furchtbar heraufstrahlende Durchleuchtungswille" bricht und befriedigt sich sogleich an und in dem Sinnbildlichen der ersten Sicht, die er schon für erhellende geistige Einsicht nimmt. Dem Juristen Mombert hat jene Vision sehr gut getan; aber für den Dichter Mombert war sie ein gefährliches Geschenk. Friedrich Hebbel hat einmal in übertriebener Selbstkritik geklagt: „Die Hölle gab mir meine halben Talente" und gemeint, der Himmel schenke ein ganzes Talent oder gar keins. Aber wenn das Geschenk so vom Himmel „direkt" in den Schoß fällt, wie Alfred Mombert es schildert, kann es wohl geschehen, daß man sich als „Himmlischer Zecher" nicht vom Rausch des Kosmischen zu ernster, harter Arbeit am Kunstwerk zu lösen vermag. Vielleicht liegt darin einer der Gründe, denen vergeblich nachzugrübeln Richard Benz (Mombert-Aufsatz in: Deutsche Literatur im zwanzigsten Jahrhundert, 1954, S. 146 f.) gesteht, wenn er, wohl auch ein wenig bewußt wohlwollend anregend, sich schmerzlich über die mangelnde Nachwirkung der Dichtungen Momberts beklagt, dem doch noch in hohem Lebensalter das Gefangenenlager nicht erspart geblieben sei und der schon deshalb (als Dichter?) Anteilnahme verdiene. Ein weiterer Grund dürfte in der Uberbürdung des Kun'stwertaufnehmenden durch die Fülle, ja Überfülle der großartigen Prunk- und Pracht-Bilder liegen. Mag das nun barock oder gotisch sein (B. Rang plädiert für „go-

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tisch"): es ist zu viel, es ist zu gehäuft. Mombert unterschätzt die Gefahr in der Konkurrenz gesteigerter Darstellungswerte. Diese Gefahr ist besonders groß, wo — wie bei Mombert — der Darstellungsdrang mindestens ebensosehr dem Erhabenen wie dem Schönen zustrebt. Da sind die Sonne, das Meer, der Mond, die Erde, die kreisenden Welten, die wandelnden Völker, die Sterne usw. Da drängen sich die Gipfel so eng, daß der Leser die ewige Höhenlage zuletzt als geruhsame Ebene (wenngleich als Hochebene) empfindet und darauf einschläft. Es wird fast allzuoft das erhabene Mombertwort (das wieder nach Nietzsche klingt) zitiert: „Hier ist ein Gipfel, um darauf einzuschlafen". Daran wurde hier etwas despektierlich angeknüpft. Übrigens würde, stilkritisch betrachtet, „um darauf zu schlafen" zum mindesten besser klingen (dann hätte man auch nicht so leicht variieren und parodieren können). Eduard Mörike hingegen liegt bescheiden auf einem Frühlingshügel, der aber noch heute weit über das lyrische Land ragt. Im Ernst: Es liegt weit mehr an diesem rastlosen Uberranntwerden mit schwersten Wirkungsmitteln erhabener Größenordnung als an der UnVerständlichkeit und Sinndunkelheit, die man vielfach (besonders für den jüngeren Mombert) für die Zurückhaltung der Leser verantwortlich gemacht hat. Rilkes „Duineser Elegien" ζ. B. sind viel rätselreicher und dennoch wirksamer. Und diese Unkenntnis des sparsamen Reichtums, diese Mißachtung der Ermüdung (auch durch ewige Wiederkehr des Ähnlichen), diese mangelnde Besorgnis in der Betreuung stilistischer Einzelheiten u. a. m. gehen wiederum zurück auf das Sich-Ausleben und Sich-Ausgeben im KonzeptionsZustand. Vor l a u t e r S c h ö p f u n g ist Mombert gleichsam nicht zum S c h a f f e n gekommen. Die „Blüte des Chaos" (1905) hat keine Frucht angesetzt. „Der Sonne-Geist" (1905) hat wohl aufgeleuchtet, aber nicht nachhaltig erwärmt. Und „Aeon der Welt-Gesuchte" (1907) zeugte mehr von der Tendenz zur Selbstvergottung als vom pantheistischen Gottsuchertum. Fast gewinnt man den Eindruck, daß Mombert sich den fremden Göttern so stürmisch und fast wahllos in die Arme wirft, weil er auf der Flucht ist vor dem Gott seiner Väter, dem er sich erst im Spätwerk „Sfaira" wieder zuwendet mit dem gewiß bitteren: „Tröstet, tröstet mein Volk!" (Jesaja). Manchmal möchte man angesichts einfacher Gedichte mit 54

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schlichter, besinnlicher Aussage eines Individualerlebens fast meinen, Alfred Mombert hätte eine wesentliche und vielleicht die wertvollste Möglichkeit seiner Lyrik verfehlt : den lyrischen Typus erlebter Meditation, stimmungsvoller Betrachtung. Dann also hätte bei ihm das nachnietzschesche Philosophentum (vgl. auch „Der Denker" 1901) als Spezialistentum zeitbedingter Art ähnlich ein Eigentliches verdrängt wie etwa bei Georg Herwegh das vormärzliche Politikertum. Beide überschätzten die lyrische Möglichkeit des Rhetorisch-Pathetischen, und auch Herwegh gab vielleicht sein künstlerisch Reifstes in der lyrischen Meditation. Aber Mombert wollte ja gar nicht Lyriker sein. Er hat sich eindeutig in diesem Sinne geäußert in Bezug auf sein persönliches Kunstwollen (und weniger auf die Kunst Wirkung). Die Schöpfungspoetik bindet ihn relativ weit mehr als die Wirkungspoetik, aber leider auch als die Gestaltungs- und „Bildungs"-Ästhetik. Indem er jedoch letztlich von aller Hemmnis der Formung, von aller Poetik und Ästhetik sich lossagte, wenn vorerst auch nur im jugendlichen Uberschwang, fielen für ihn auch die Gattungsgrenzen und Gattungsgesetze. Das war wie so manches (und eigentlich das meiste) bei ihm ein unverkennbar neuromantischer Zug. Er fühlte eine Tendenz zum Epos, weniger zum Versepos, mehr zum Rhythmen-Epos. Und er glaubte auch eine Nötigung zum Drama zu fühlen („Aeon", eine „dramatische Trilogie", 1907—1911; „Aiglas Herabkunft" und „Aiglas Tempel", 1929, 1931). Aber es handelte sich nicht um theatralischdramatische Bühnenwerke im üblichen Sinne, sondern als Sonderformen des lyrischen Dramas neuromantischer Prägung um symbolisch-mythische Ideen-Gedichte teils symphonischer, teils oratorienhafter Art unter gelegentlicher Einbeziehung der Tanzpantomime, vereinfacht gesagt: um pantheistische Kantaten und mythischmystische Oratorien. Dem ersten der „Aeon"-Dramen („Aeon der Weltgesuchte") hat Mombert selber die Artbezeichnung „Sinfonisches Drama" mit auf den Weg gegeben. Viel zitiert ist seine ausdrückliche Bekundung, daß nicht das Einzelgedicht als solches wirken solle und wolle, sondern eben das „Sinfonische" im Gesamtzyklus sowie die Folgerung: „Man hält mich für einen Lyriker(?), während ich durchaus S i n f o n i k e r bin (also mindestens soviel Epiker wie Lyriker)". Mit anderen Worten, Mombert

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ist wie ein echter Romantiker (Neuromantiker mit Nietzsche-Einschlag) unversehens zwischen die vermeintlich überwundenen Dichtungsgattungen geraten und so in das poetische Niemandsland zwischen den Grenzen und Fronten. A u c h zwischen den weltanschaulichen Fronten siedelt er seine kosmische Großraum-Dichtung an: der pantheistischen mythischen, mystischen, j a gnostischen Religiosität (die doch wieder keine Religion ist) und der mythologisiert-metaphysischen Philosophie, zu der er Nietzsches Lehre umbilden möchte. Der ihm befreundete Schriftsteller F r i e d r i c h K u r t B e n n d o r f hat, gestützt auf Gespräche mit Mombert (der freilich nur weniges deutend preisgab), über Jahrzehnte hinweg (1910, 1917, 1932) Dichter und W e r k (besonders den ,,Aeon"-Zyklus) zu interpretieren und zu kommentieren versucht. U n d ζ. T . davon ausgehend, fühlte man sich angeregt, Mombert in die Existenzphilosophie hinüberzudeuten (Richard B e n z a. a. 0 . , 1954, S. 152), wobei in kühner Wendung Heidegger als Nicht-Systematiker erstaunlich weit Nietzsche als Dichter-Denker angenähert wird. A b e r derartige Bemühungen hängen letztlich mit der erwähnten allgemeinen Tendenz zusammen, Mombert doch wohl über Gebühr weit an den Expressionismus heranzurücken (noch stärker bei Bernhard R a n g a. a. 0 . , 1956). Man steht dabei (unbewußt?) unter dem E i n f l u ß von „ I m Banne des Expressionismus" (A. Soergel 1925!). Unter welchem Zwange diese Angleichung teilweise vollzogen werden muß, verrät etwa die Eingangsbemerkung B . Rangs, derzufolge die drei von ihm gewürdigten „ V o r läufer des Expressionismus" (Mombert, Däubler, zur Linde) das Soziale (wie das Psychologische usw.) „ f a s t völlig" ausgeklammert haben (was relativ zutrifft) und in der nun jedoch fraglos nicht zutreffend behauptet wird: „ S c h o n darin drückt sich ein Wesenszug aus, der auch den Expressionismus kennzeichnet". Allerdings räumt B . R a n g erfreulicherweise ein, daß jene Dichter nur „ i n einem etwas ungenauen Sinne" als expressionistische Wegbahner gelten könnten (a. a. 0 . , S. 27). A b e r genug der Einzelpolemik. E s wäre m. E . viel richtiger, Alfred Mombert hinter Nietzsche und Dehmel einzuordnen. S. 420. Herwarth Waiden, „Sturm". — W e r n e r R i t t i c h : K u n s t theorie, Wortkunsttheorie und lyrische Wortkunst im „ S t u r m " , Diss. Greifswald 1933. Die Untersuchung ist reich

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an schwer zugänglichem Material und um geduldige Einfühlung ζ. T. erfolgreich bemüht. Sie zeigt aber Spuren des ursprünglichen Fehlansatzes auf rein sprachliche Erscheinungen (vgl. Vorwort). Die Umschaltung auf Wortkunsttheorie dürfte unter meinem (zwar nicht eingestandenen) Einfluß erfolgt sein. Damals verwandte ich diesen Terminus, um eine leichte Abhebbarkeit von der Theorie der bildenden Kunst usw. zu ermöglichen. Die Darstellung leidet unter verwirrender Materialstauung auf engem Raum. Richtig ist der Hinweis darauf, daß erst die Kenntnis der Theorie ein relatives Verständnis des Kunstschaffens ermöglicht, daß auch das expressionistische Einzelgedicht erst vom Titel her notdürftig deutbar wird (S. 89 und 93). Recht anregend ist der Hinweis (S. 53) auf die Methoden Herwarth Waldens, die hergebrachten Kriterien Stimmungseinheit, Gedankenfolge, Erlebnisgrundlage usw. als unzuverlässig zu entlarven, indem er Gedichte künstlich zusammenbaute, deren einzelne Strophen von verschiedenen Lyrikern stammten (etwa Goethe, Mörike, Heine; aber auch Eichendorff, Wilhelm Müller, Mörike, Geibel, Heine). Der unbefangene (wohl auch stilkritisch ungeschulte) Leser hatte trotz der listigen Kombination und Kontamination der Wirkung nach einen geschlossenen Eindruck. Die schallanalytische Methode von Sievers und Rutz hatte sich offensichtlich noch nicht durchgesetzt. Von hier aus hätte der Verfasser einen guten (leider versäumten) Ansatz gehabt zu der Erkenntnis, daß die vermeintlich so neuschöpferische „Sturm"-Lehre in Wirklichkeit erstaunlich weitgehend zur Wirkungspoetik tendiert. Um das wenigstens hier ergänzend anzudeuten: dieses Abgedrängtwerden in eine unverkennbare Wirkungspoetik hing letztlich zwangsläufig zusammen mit dem scheinschöpferischen Ausgangspunkt. Man porträtierte nicht einen Menschen oder eine Stadt oder einen Gegenstand, sondern die von dort ausstrahlenden Wirkungen, die man empfunden hatte. Und man gestaltet gleichsam auch die Wirkungen, die man hervorrufen will. Eine Stadt soll z . B . verlassen w i r k e n , ein Diamant soll strahlend w i r k e n , eine Venus soll lockend w i r k e n . Das bedeutet, kritisch gesehen, daß man das vermeintlich tiefste Wesen ganz einfach und „primitiv" von der Wirkung ablas. Dort, wo W. Rittich „Bildparallelen zu den Wortkunstklassen" zieht, wenn auch nur stichworthaft (S. 90/91),

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wird das besser hervorgehoben, während die eigentliche Darstellung der Wortkunsttheorie und -Praxis die Chance einer kritisch wertenden Stellungnahme nicht zu nutzen weiß. Richtig aber erkennt der Verfasser im Schlußwort die Diskrepanz der Wirkungen von Kunsttheorie einerseits und Kunstschaffen andererseits. Das Werk wirkt erst so, wie es soll, wenn man die Theorie danebenhält. Das heißt, das Kunstwollen wird nicht von der werkimmanenten Poetik enthüllt, sondern nur von der außerhalb des Werkes formulierten Theorie. Insofern aber ist die von Rittich betonte Erfüllung und Deckung von Theorie und Praxis, näher betrachtet, recht problematisch. Denn es liegt zuletzt doch ein Versagen darin, wenn es dem Künstler nicht ohne Kommentar gelingt, die erfahrenen Wirkungen ohne weiteres im Kunstwertaufnehmenden hervorzurufen und kraft seiner Gestaltung zu erzwingen. Als Einzelheit sei erwähnt, daß die sogenannte „Einwortlyrik", die bei August Stramm begegnet, u. a. von Reinhard Goering, dem Verfasser der „Seeschlacht", weitergeführt worden ist, daß Lothar Schreyer ζ. T. auf die Mystik zurückgreift und später in der Schrift „Die bildende Kunst der Deutschen" (1931) die religiöse Komponente mit der national-volkstumhaften verbindet. Daß die „Sturm"-Theorie streckenweise mitten in den Impressionismus hineingerät (Wirkungen von Eindrücken entscheiden), ist dem unkritischen Sinn Rittichs entgangen. S. 428. D i e R a s t s t e l l e n f e h l e n . — Sie fehlen ζ. T. auch in der Prosaepik (Roman und Novelle). Es entsprach das jedoch dem Kunstwollen, wie sich an der werkimmanenten Poetik leicht ablesen läßt. Sogar die formulierte Poetik verwirft das ausruhende Verweilen, und zwar selbst im Roman. Sehr frühzeitig meldet C a r l E i n s t e i n in einem „Brief über den Roman" (im „Pan" 1912, später aufgenommen in seine „Anmerkungen" 1916 unter dem etwas provozierenden Titel „Didaktisches für Zurückgebliebene") Bedenken an gegen die epische Breite, etwa nach Art von Goethes „Wilhelm Meister" oder Jean Pauls Romanen. Eine äußerste Konzentration und Vermeidung aller Ablenkung wird gefordert. Der Mensch und sein Schicksal sind gleichsam isoliert, aber eben deshalb konzentriert in die Zentralstellung zu rücken. Schilderungen sind verdächtig, Pausen unerwünscht. Es sei ein Laster gerade der deutschen Romanciers, alles erschöpfend

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darstellen zu wollen. Dabei berührt Carl Einstein (ohne sich dessen deutlich bewußt zu werden) die Gefahren des Bildungsromans überhaupt, genauer: nicht so sehr des Bildungsromans (im Sinne von Erziehungsroman) als vielmehr des Romans der Bildung, der BildungsWissensvermittlung (Richtung Spezialistenroman mit breit eingelagerten Bildungsessays). Er denkt dabei (1912) noch nicht an Thomas Mann, sondern greift polemisch auf Goethe zurück: „Goethe ist in seinen Epen (offenbar Romane) eher ein Verbreiter von Bildung und Einsicht, als von Kunst." Bei alledem ist zu berücksichtigen, daß Carl Einstein der Zeitschrift „Aktion" von Franz Pfemfert nahestand, wie denn auch jene „Anmerkungen" von 1916 im „Aktions"-Verlag herauskamen. Ebenso ist aber zu berücksichtigen, daß er andererseits darin einen Essay „Über Paul Claudel" unterbrachte. Bei solchen Gelegenheiten berühren sich Expressionismus und metaphysischer (bzw. religiöser) Neusymbolismus. S. 429. E x p r e s s i o n i s t i s c h e r R o m a n . — An sich schon leicht als contradictio in adiecto erscheinend, wenn anders das Expressionistische nicht überwiegend auf die sprachlichstilistische Formung bezogen und entsprechend beschränkt bleiben soll. In der Tat behilft sich auch die Sekundärliteratur, soweit sie den Roman überhaupt erfaßt oder auch nur am Rande berührt, durchweg mit stilistischen und sprachästhetischen Merkmalen als expressionistischen Formungskriterien. Zum Teil gibt es auch keine andere Möglichkeit. Man muß in der einschlägigen Literatur bewußt weiter zurückgreifen, um eine etwas eingehendere Betrachtung (aus relativ größerer Zeitnähe heraus) zu finden. Auch dann ergibt sich, daß Novelle und „Erzählung" noch eher die expressionistische Synthese von ständiger Steigerung und dichterischer Konzentration ermöglichen als der Roman, der im Entfaltungsraum frei „wachsen" und mit seinem Wurzelgeflecht unbehindert um sich greifen muß. Es darf daran erinnert werden, daß der beste Sturm- und Drang-Roman, Goethes „Werther", der Novelle sehr nahe bleibt. Es scheint also werkimmanente und gattungstypologische Gesetze zu geben. Trotzdem bleibt es ein Mangel im Rahmen immerhin noch übrigbleibender Möglichkeiten, daß kaum ein spezifisch expressionistischer Roman nachweisbar sein dürfte, der die wesentliche Zielthese der Heranbildung des „neuen

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Menschen", die doch gerade den besten Expressionisten so sehr am Herzen lag, wirklich überzeugend und mit expressionistischen Mitteln in Sprache und Komposition (oder notfalls auch Dekomposition) zur Geltung und zur gültigen künstlerischen und kunsttechnischen Lösung gebracht hätte. Ein begeisterter, konsequenter Expressionist könnte zwar einwenden: Eben weil der Roman irgendwie immer bloße Halbkunst bleibt, konnte die expressionistische Vollkunst ihn nicht verwirklichen. Aber indirekten Beweisen pflegt die letzte Schlagkraft zu fehlen. Zudem wurden beachtenswerte Anläufe unternommen wie ζ. B. „Die achatenen Kugeln" von Kasimir Edschmid, die Romane Franz Kafkas (mit Tendenz zum Surrealismus), „Der Kopf" von Heinrich Mann, „Benkai der Frauentröster" von Rene Schickele, den Ernst Stadler (mehrfach auch als Literaturkritiker hervorgetreten) in der „Aktion" als ausgeprägt expressionistisch zu rechtfertigen suchte. Selbst der Roman „Tycho Brahes Weg zu Gott" von Max Brod wurde damals (von Rudolf Fuchs im Essay „Max Brod, Tycho Brahes Weg zu Gott", in der „Aktion" 1916) als eine typisch expressionistische Sonderform des „historischen Romans" für den Expressionismus in Anspruch genommen. Aber die Verlegenheit der wissenschaftlichen Berichterstatter, die ζ. T. weit Entlegenes heranziehen müssen, um den Bestand an vermeintlich expressionistischen Romanen aufzubessern, wird manchmal doch deutlich spürbar. So etwa, wenn W o l f g a n g P a u l s e n : Expressionismus und Aktivismus, eine typologische Untersuchung, Diss. Bern 1934, an den oben gedacht wurde, als von zurückliegender aufschlußreicher Sonderforschung die Rede war, nun auch den „Demian" von Hermann Hesse einbeziehen möchte. Trotzdem ist sehr anerkennenswert, daß W. Paulsen, obwohl sein weniger glücklich gewähltes Hauptthema es nicht unbedingt erforderte, ein aufschlußreiches Schlußkapitel der „Prosa" (=Prosaepik), S. 200— 219 gewidmet hat. Im Gesamt bestätigt sich, daß die Novelle und „Erzählung" (in Anführungsstrichen, weil der Expressionist eigentlich nie „erzählte") wirksamer und richtungsgerechter vertreten ist als der Roman. Kasimir Edschmid überzeugt mit der Novellengruppe „Die sechs Mündungen" weit mehr als Carl Einstein (obwohl Romantheoretiker) mit seinem Roman „Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders". Im Besonderen

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wären hervorzuheben an novellistischen Ausprägungen: Kasimir Edschmid mit „Der Ermordete, nicht der Mörder ist schuldig", mit „Der Lazo" oder auch „Der aussätzige Wald" (gleichsam eine expressionistische Künstlernovelle). Was oben (im darstellenden Text S. 8) über den Sprung von Gipfel zu Gipfel allgemein bemerkt wurde, spiegelt sich außerhalb der Lyrik und Dramatik selbst in der Prosaepik. Auch Karl Otten mit „Der Sprung aus dem Fenster" oder Alfred Wolfenstein und Franz Kafka wären in diesem Zusammenhang zu erwähnen, obwohl Kafka bereits zur expressionistischen Sproßform des Surrealismus tendiert. Dagegen ist W. Paulsen zuzustimmen, wenn er geltend macht, daß Carl Sternheims „Busekow"-Erzählung vielfach in den Realismus, j a Naturalismus zurückgreift. Im allgemeinen nämlich ergeben sich demgegenüber in der „rein" expressionistischen Prosaepik als Merkmale und Tendenzen: Steigerung, Ballung, Elisieren und Aussparen, ja Ausklammern der meditierenden und reflektierenden Raststellen (vgl. Carl Einsteins Romantheorie), Intensität und Konzentration, Dynamik um jeden Preis ohne Rücksicht auf Komposition, Zurückdrängen der psychologischen Feinheiten, überhaupt Brechung des Primats der Psychologie (abgesehen von der Psychoanalyse als einer komprimierenden Tiefenform der Psychologie), Abwehr des realistischen Details und der impressionistischen Atmosphäre u. a. m. Bei alledem sind die allgemeinen stilistisch-sprachlichen Merkmale auch für die expressionistische Prosaepik kennzeichnend, wenn hier auch Extravaganzen wie das „Einwortgedicht" schlechthin nicht durchzusetzen und vor allem angesichts des epischen Umfangs nicht durchzuhalten sind. Daß dem expressionistischen Roman vielfach die Fähigkeit zum vorbereitenden, entwickelnden Entfalten, zur Ableitung des Wesens aus dem Werden fehlte, hat im Einzelfall schon Ernst Stadler als Kritiker herausgefühlt. Ihm will scheinen, als ob der genannte Roman Rene Schickeies ganz aus der lyrischen Konzeption komme und deshalb von vornherein „unfähig" sei, „eine Gefühlsspannung genetisch herauswachsen zu lassen". Statt Synthese gebe er „Symptome". Vor allem fehle dieser Epik „die Härte und Distanz". Trotzdem findet Rene Schickele im ganzen Anerkennung. Es ist nicht uninteressant, noch um ein weiteres Jahrzehnt (über W. Paulsen hinaus) zurückzugreifen. Dann

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trifft man auf den längeren Essay von M a x K r e l l : Expressionismus der Prosa, in: Weltliteratur der Gegenwart, Deutschland II, S. 3—59. Der Titel dürfte auf die KapitelÜberschrift bei W. Paulsen eingewirkt haben (Prosa, nicht Epik). In merklicher Verlegenheit weicht der Verfasser zunächst einmal in allgemeine Probleme des Prosastils aus. Mit dieser Verlegenheit dürfte auch die vorerst recht kühne Deutung des Verhältnisses Impressionismus/Expressionismus zusammenhängen. M. Krell lehnt nämlich eine Gegenpoligkeit beider Richtungen ab. Der Expressionismus sei nicht „Pendant und Widerspiel" des Impressionismus: „ich behaupte vielmehr, daß er dessen notwendige Steigerung war". Näher begründet und ausgeführt wird diese zunächst überraschende Auffassung nicht. Sie ist vielleicht nicht allzu abseitig, wenn man unsere These: scheinbare Entgegensetzung als Fortsetzung durch Umsetzung gebührend als Voraussetzung einbeziehen würde. Aber M. Krell gelangt offenbar notgedrungen dazu, so daß es als bloße Notlösung erscheint. Es fällt schwer, Romane und Novellen überzeugend expressionistischen Gepräges überhaupt zu finden. Und so behilft er sich mit — impressionistischen Beständen, die angeblich schon jene Steigerung enthalten. Für den heutigen Leser widersprechen sich Uberschrift und Inhalt jenes Essays durchaus. Als Repräsentanten werden nämlich in Sonderabschnitten herausgestellt: Heinrich Mann (jedoch mit nicht-expressionistischen Beispielen), Carl Sternheim (mehr als Stilist, im übrigen mit der romanhaft ausgeweiteten Erzählung „Europa"), Wilhelm Lehmann (doch wohl mehr Impressionist), Gustav Meyrink, Otto Flake (!, mit dem Roman „Ruland") und Josef Ponten(!). Der Lehmann-Abschnitt beginnt dementsprechend mit dem Satz: „Ich sprach von einem gesteigerten Naturalismus (sprich: Impressionismus, s. o.), der sich im Expressionismus ausspreche" (S. 35). Es sei jedoch daran erinnert, daß Kasimir Edschmids Programmschrift noch den Naturalismus zu höherer, gesteigerter Leistung „aufpeitschen" wollte; das mag hier nachwirken. Wie der Impressionismus ein verfeinerter Naturalismus, so wäre der Expressionismus ein „gesteigerter" Naturalismus. Es war vorerst wirklich vielfach noch ein Wegsuchen zwischen Impressionismus und Expressionismus, besonders auch in der Prosaepik von Roman und Novelle. An repräsentativeren Erscheinungen begegnen bei M. Krell immerhin: Rene Schickele, Kasimir Edschmid, Alfred Döblin, Klabund

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(Alfred Henschke) und — alarmierend — als Vertreter des Dadaismus Richard Hülsenbeck (mit „Doktor Billig am Ende", aber mehr satirisch-karikaturistisch als spezifisch dadaistisch, Richtung: Surrealismus). Selbst A. Soergelweiß nicht allzuvieles zusammenzustellen. Die mehrfach herangezogene Aufsatzsammlung „Expressionismus" (1956) jedoch zieht sich dadurch aus der Affäre, daß sie nur zwei Hauptteile betreut, nämlich Lyrik und Drama, Roman und Novelle (Epik) dagegen von vornherein ausklammert. In der Aufsatzsammlung derselben Herausgeber „Deutsche Literatur im X X . Jahrhundert" (1954) streift B e r n h a r d R a n g : Die Wandlungen des Epischen (S. 189 ff.) die expressionistische Epik nur flüchtig. S. 432. V e r h ä l t n i s z u r Z e i t p h i l o s o p h i e . — N i c h t sowohl Hingabe als wechselseitiges Geben und Nehmen spiegelt in einer gründlichen und einsichtsvollen Sonderforschung die umfangreiche Untersuchung von W i l h e l m i n a S t u y v e r : Deutsche expressionistische Dichtung im Lichte der Philo' sophie der Gegenwart, Amsterdam 1939, wobei freilich die Berücksichtigung der Philosophie die der Poesie merklich überwiegt und daher das Geben seitens der Philosophie den Hauptakzent trägt. Nur im Ausland war damals eine so unbefangene Würdigung des Expressionismus und seiner philosophischen Wurzeln möglich. Die oben versuchte Darstellung jener Bezüge hat dieser Sonderforschung neben den einschlägigen Bemerkungen, die bei J. F. Schneider und E. Utitz begegnen, sehr vieles zu danken. Im tapferen Angreifen jener längst fälligen Aufgabe hat hier eine Frau das geleistet, was man sonst nur Männern vorbehalten zu müssen meint. Und es war wiederum eine Frau, die ihr in einem wichtigen Sonderbezirk (Einschätzung des Verhältnisses von E. Husserl u. L. Klages) durch tüchtige Vorarbeit vorangegangen war, nämlich G e r d a W a l t h e r : L. Klages und sein Kampf gegen den Geist, in: Philosophischer Anzeiger III, Bonn 1929 (vgl. W. Stuyver, a. a. O., S. 134/35, 140). W. Stuyver dankt außerdem nicht nur ihrem Lehrer Jan Hendrik Schölte manches Wertvolle, sondern auch A. Soergel, W. Mahrholz, J. F. Schneider, E. Utitz u. a. Aber sie weiß derartige Anregungen auch einsichtig und umsichtig zu nutzen. Deshalb darf auf ihre Sonderarbeit zur weiteren Orientierung mit gebührendem Nachdruck empfehlend hingewiesen werden.

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Leider erschwert das Fehlen von Registern — sogar ein Namensregister fehlt—die handliche Benutzung und praktische Auswertung der hier verborgenen Reichtümer an Wissen und Deutung. Um aber wenigstens einiges anzudeuten von dem, was an expressionistischen Dichtungen einbezogen wurde: es finden Erwähnung besonders das „Nordlicht" und der „Sternhelle Weg" von Theodor Däubler (S. 45,79,141,153—55,160 u. a.), die Frühexpressionisten und Vor-Expressionisten Rainer Maria Rilke. Carl Spitteier, Alfred Mombert, Georg Heym und Else Lasker-Schüler, die, ein wenig gewagt, „die Bettina Brentano des Expressionismus" genannt wird (S. 73), wobei aber die Verwandtschaft des Expressionismus mit der Romantik immerhin gewisse Ansätze für derartige Parallelen bietet. Mit dem Naturphilosophen Moritz Schlick, an dem schon Emil Utitz das freilich etwas zusammenhanglos in seiner Philosophie stehende Trostwort von der „Bereicherung des Lebens" aufgefallen war (E. Utitz, a. a. 0., S.27), wird die relative Lebensidyllik einer Gruppe weniger dämonisch zerwühlter Expressionisten in Beziehung gesetzt, die W. Stuyver vor allem vertreten zu sein scheint durch Dichter wie Else Lasker-Schüler, Georg Trakl, Ernst Stadler und Kurt Heynicke (S. 214/15). Franz Werfel, dessen religiöser Zug erkannt und betont wird, dient einerseits mit seinen mystisch-allegorischen Dramen „Der Bockgesang" und „Spiegelmensch" als Beleg für die Gefahr einer letztlich unkünstlerischen „Systematik eines Denkgebildes" (S. 42), wobei in den Extremen also eine Berührung mit Georg Kaisers „Denkdramaturgie und Denkspiel" erfolgen würde (S. 69). Im Kernbezirk aber wird Franz Werfel näher an die Existenzphilosophie herangerückt, während seine späteren Entwicklungen vom Expressionismus fortstreben. Daher zweifelt W. Stuyver zeitweise, ob man Werfel ohne Einschränkung auf den Expressionismus festlegen dürfe. Unter Bezug auf Georg Simmeis Ausführungen über den Typus des Abenteurers (in: „Philos. Kultur", 3. Aufl. 1923) wird Kasimir Edschmid besonders als Dichter des Abenteurertums hingestellt (S. 121), ohne daß Fühlung gesucht würde mit dem Hochstaplertum in den Motivwelten Frank Wedekinds, Thomas Manns usw. Immerhin wird vermerkt, daß das Leitwort vom Geist als Widersacher der Seele bei Ludwig Klages auch außerhalb des Expressionismus deutliche Spuren hinterlassen habe

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etwa bei Thomas Mann, Stefan George und Ernst Wiechert (S. 130). Begrüßenswert wäre es freilich gewesen, wenn die Vertreter der Dichtung weniger willkürlich mit Vertretern der Philosophie vermischt worden wären, sondern jeweils dieser Darstellung der Zeitphilosophie eine zugeordnete Darstellung der Zeitdichtung gefolgt wäre (oder umgekehrt). Was hat endlich der Kokainrausch, den W. Stuyver in Motiven bei Franz Werfel („Barbara oder die Frömmigkeit") oder bei Hermann Hesse („Der Steppenwolf") oder bei Max Pulver („Die Himmelpfortgasse") beobachtet (S. 156), mit dem Rauschhaften expressionistischer Steigerung zu tun ? Erinnert die dahinterstehende Tendenz nicht bedenklich an das Schlagwort von der „entarteten Kunst" ? S. 433. S p r a c h p h i l o s o p h e n . — Auch H e n r i B e r g s o n käme in Betracht. An nicht erwarteter und deshalb in diesem Zusammenhang wenig beachteter Stelle hat schon A r n o S c h i r o k a u e r : Expressionismus der Lyrik (1924) auf einigen Eingangsseiten die Beziehung zu Bergson hergestellt (in: Weltliteratur der Gegenwart, Deutschland II, S. 63f.). Es geht um das Verhältnis Wortkunst/Expressionismus und um das Wort als zeitliches Zeichen. Er, Schirokauer möchte mit Hilfe der sprachphilosophischen Ansätze H. Bergsons und dessen Kritik an Kants Zeitbegriff den Expressionismus (im Gegensatz zum Impressionismus) mehr von der bildenden Kunst abrücken und den Begriff der Unendlichkeit weniger für den Raum als für die Zeit in Anspruch nehmen. Ebenso bemüht er sich, die expressionistische Zentralforderung nach Intensität von der Zeitvorstellung abzuleiten. Intensität soll, so verstanden, geradezu eine „Qualität der Zeit" sein. Anschließend bringt er eine Reihe von „Zeit"-Wörtern, „Zeit"-Angaben in expressionistischer Lyrik. Was aber die Sprachtheorie im engeren Sinne betrifft, so erinnert Schirokauers Abhandlung daran, daß Gottfried Benn seinen Arzt Rönne in der Novelle „Die Insel" an einer neuen Syntax sich versuchen läßt, daß die Novelle „Querschnitt" das Verhältnis von Sinn und Wort berührt und auch die Szenenfolge „Karandasch" wesentlich die Problematik der Ausdrucksfähigkeit des Wortes und der Sprache behandelt. Es wäre erwünscht gewesen und hätte bei den betreffenden Erörterungen Schirokauers nahe genug gelegen, etwa auf die „Zeichenlehre" des 18. Jhs. (vgl. Band II) zurückzugreifen, um sie

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mit dieser neuen Zeichentheorie vergleichend zu konfrontieren. Die Extreme berühren sich hier unverkennbar (und bislang noch nicht erkannt): Das Wort als im Nacheinander der Zeit wirkendes Zeichen. Aber diese Erkenntnis war damals (1924) noch nicht zu verlangen. Während jedoch Schirokauer wenigstens einige sprachphilosophische Bezüge herstellt, vermißt man in der Aufsatzsammlung „Expressionismus" (1956) eine derartige Untergründung. E d g a r L o h n e r : Die Lyrik des Expressionismus nennt zwar Schirokauer als einen wertvollen Vorarbeiter (a. a. 0., S. 63), geht aber nicht auf die sprachphilosophischen Ansätze ein und baut sie nicht aus. Die „Zeichenlehre" liegt offenbar vollends außerhalb dieses Gesichtskreises. Das ist wieder ein Beispiel dafür, daß ältere Sekundärliteratur sehr häufig schlechthin nicht zu entbehren und keineswegs in allen (oft wichtigen) Punkten von der neueren oder jeweils „neuesten" überholt wird. Für das hier befragte Problem jedenfalls sagt der Aufsatz von 1924 mehr aus als der Aufsatz von 1956. Die ZeitTheorie an sich, wie sie sich etwa in dem Satz S c h i r o k a u e r s ausspricht: „Die Zeit ist das Maß ihrer Lebensintensität", dürfte dagegen überspitzt sein, obwohl man auch davon hätte lernen können. Die Projektion des Expressionismus auf den Zeitbegriff oder die Zeitvorstellung durchzieht den ganzen — recht umfangreichen — Aufsatz. Und diese Projektion oder Reduktion geht mit sprachphilosophischen Vorstellungen Hand in Hand, die sich vorzugsweise auf Henri Bergson beziehen (S. 115, 118). Damit hängt zusammen, daß in der Syntax der übliche Satz als „apperzeptioneller Satz", der ausgeprägt expressionistische dagegen als „assoziativer Satz" bestimmt wird. Von Bergson wird offensichtlich das Bedauern übernommen, daß die Sprache unter Kants Einfluß in Begriffe abgegrenzt und erstarrt sei. Eine weitere Verräumlichung und Schematisierung sei durch den überindividuellen kollektiv-sozialen Sprachbetrieb hervorgerufen worden. Seelenausdruck aber ist auf Verschmelzung, Assoziationen, fließende, nicht räumlich fest begrenzte Übergänge angewiesen. Erneut kommt Bergson zu Wort mit dem (übersetzten) Zitat: „ D a die seelischen Zustände und ihre Elemente sich nicht räumlich aufreihen, sondern in irrationaler Konfusion sich gegenseitig durchdringen, lassen sie sich weder zählen, noch in irgendein anderes mathematisch präzisiertes Verhältnis bringen". Es leuchtet ein, daß ein

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Expressionist bei derartigen Leitsätzen aufhorchen mußte. Auch Schirokauers Aufsatz von 1924 ist ja im Grunde selber noch ein Stück expressionistischer Kunsttheorie und nicht im strengen Sinne Sekundärliteratur. Eben deshalb ist er für unsere Zwecke wichtiger als manche „neueste" Darlegung. Das hängt auch damit zusammen, daß man damals noch philosophisch interessiert war, während neuerdings das philosophische Interesse stark vom religiösen oder politischen Interesse verdrängt wurde. S. 433. E x i s t e n z i a l p h i l o s o p h i e . — W i l h e l m i n a S t u y v e r a. a. 0. (1939) stützt sich bei ihren Darlegungen über „ E x istenzphilosophie und Ausdruckskunst" (S. 182—208) besonders auf G e o r g M i s c h : Lebensphilosophie und Phänomenologie, in: Philos. Anzeiger IV (1929/30). S. 434. H e n r i B e r g s o n . — G r a n d j e a n : Une Evolution dans la philosophie, Paris 1913 — W a l t e r M e c k a u e r : Der Intuitionismus und seine Elemente bei H. Bergson, Leipzig 1917 — M a x M i l l e r : Die französische Philosophie der Gegenwart, 1926 — A l b e r t S o e r g e l a. a. 0. (1925) S. 392 bis 94 u. ö. — F e r d i n a n d J o s e f S c h n e i d e r a. a. 0. (1927) S. 13 (Gegenüberstellung Bergson — Husserl), 58/59 (über die „duree" und den „elan vital" im Verhältnis zur expressionistischen Dichtung), 76/77 (Freiheitsbegriff, Hinweis auf das Gedicht „Glück der Äußerung" A. Wolfensteins), 80 (Instinkt und Intuition) — E m i l U t i t z a.a. 0. (1927) läßt H. Bergson zurücktreten, dagegen wird L. Klages berücksichtigt. — W i l h e l m i n a S t u y v e r a. a. 0. (1939) handelt themagemäß eingehend über H. Bergson, dem ein Sonderkapitel (V) gewidmet wird (S. 106 ff.) . — Die Berücksichtigung Bergsons im Expressionismus-Aufsatz (1924) von A r n o S c h i r o k a u e r wurde bereits angemerkt. S. 437. „ U b e r w i n d u n g des E x p r e s s i o n i s m u s " . — E m i l U t i t z : Die Uberwindung des Expressionismus, charakterologische Studien zur Kulur der Gegenwart, Stuttgart 1927. Emil Utitz geht nicht vom Kunstwollen aus, sondern von einer Soll-Ästhetik, die ihren Maßstab von der bildenden Kunst der Antike bezieht. Er würde sich wohl kaum mit dem Expressionismus befaßt haben, wenn ihn nicht seine Forschungen über die Kultur der Gegenwart in diese Bereiche geführt hätten. In diesem Sonderfalle läßt

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der Kulturphilosoph den Kunstphilosophen nicht recht zur Entfaltung kommen. Aber auch dieser auf Klassik antikisierender Art eingestellte Kunsttheoretiker konnte von vornherein nur mit großem Aufwand an Objektivität (die er betont und um die er sich bemüht) zu einem verstehenden und verbindlichen Urteil über den Expressionismus gelangen. Hinzu kam, daß er an anderer Stelle über „Kunst und Geisteskrankheit" (in: Der Künstler 1925) gehandelt hatte. So rücken denn diese Arbeit und Schriften wie die von H a n s P r i n z h o r n : Bildnerei der Geisteskranken (1922) oder von A l f r e d S t o r c h : Das archaischprimitive Erleben und Denken der Schizophrenen (1922) in bedenkliche Nähe des Expressionismus. Für Emil Utitz erscheint von diesem Blickwinkel aus der Impressionismus als eine Art von „Hysterie" und der Expressionismus als eine Spielart der „Schizophrenie". Zu solchen falschen Einschätzungen kann der Kritiker gelangen, wenn er — w i e E. Utitz — vor dem maßgebenden Schönheitsgesetz der Antike eine „erschauernde Bewunderung" fordert. Es ist schwer, dort zu verstehen, wo man im Grunde verachtet. Bei allem Bemühen um „Objektivität" läuft Utitz' „Überwindung" doch schließlich auf schroffe Ablehnung des letztlich unverstandenen Expressionismus hinaus. Der Hochexpressionismus stellt sich ihm dar als eine „Romantisierung der Schizophrenie". So begrüßt er das „Abklingen" des romantisch-schizophrenen Expressionismus und erhofft manches von der N e u e n S a c h l i c h k e i t , für deren Deutung — oder doch die Anfänge einer Deutung — er einige sehr wesentliche und wertvolle Strukturen recht frühzeitig entwirft. Er selber spricht lieber von einer „Neuen Wirklichkeit". Freilich geraten ihm dabei, gemäß seiner auf die Antike zurückgreifenden Grundposition, Neue Sachlichkeit bzw. Neue Wirklichkeit und Neuklassik etwas zu nahe aneinander. Und es wird deutlich, daß er die Neue Wirklichkeit nur deshalb begrüßt, weil diese Neue Sachlichkeit ihm einige Übereinstimmung mit Klassik und Antike (Gegenständlichkeit) zu versprechen scheint. Er glaubt zu beobachten, daß „Antike und Klassik "mit ihrer „Nüchternheit, Ruhe und Klarheit" nun wieder ein gewichtiges Wort in der Dichtkunst mitzureden haben. Interessant ist der Hinweis, daß der Kubismus zwar auch nur eine „Romantik der abstrakten Formel" (Ornament und Arabeske) bedeute, aber doch in seiner Weise auf ein „sachliches We-

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sensgesetz" ziele und insofern kein schlechter Ansatz für die „Neue Sachlichkeit" sei (S. 140). Allerdings bedauert Utitz das Verdrängtwerden des wesentlich tiefer greifenden Symbols. S. 440. Paul Fechter. — P a u l F e c h t e r : Der Expressionismus München 1920 charakterisiert damals noch (bei dem später vorherrschenden Literaturkritiker überraschend) ausschließlich den bildkünstlerischen Expressionismus. Von der „impressionistischen Situation" aus gewinnt er den Zugang zu Expressionismus, Kubismus und Futurismus, die gesondert betrachtet werden. Es ist kennzeichnend, daß diese m. W . erste zusammenfassende, obwohl nur knappe Wesensdeutung und erläuternde Darstellung über die bildende Kunst etwa gleichzeitig erfolgt mit Parallelerscheinungen auf dem Gebiet der Wortkunst wie etwa der „Menschheitsdämmerung" von Kurt Pinthus oder der „Erhebung" von Alfred Wolfenstein (beide 1920), wo ebenfalls neben Interpretationen vor allem auch Proben des „neuen" Kunststils geboten werden (insofern den „Neuen Gleisen" im Naturalismus verwandt). Immerhin handelt es sich hier um eine zusammenhängende Darstellung, während dort nur mit vorgesetzter Einleitung oder angehängten Essays gearbeitet worden war. Einige Hauptgedanken seien herausgestellt. Im Impressionismus — und P. Fechter kennt ähnlich wie E. Utitz schon einen „Neoimpressionismus" (Ansatz zur Neuen Sachlichkeit?) — überwiegen die „Analyse des Augenerlebnisses", die Passivität der Haltung und die Technik der Darstellung. Hinter ihm steht etwa Ernst Mach — über den Robert Musils Dissertation handelte — mit seiner „Analyse der Empfindungen". Während „Schein"-Impressionisten wie Courbet (Frankreich) und Wilhelm Leibi (Deutschland) mehr einen „tonigen Naturalismus" vertreten, etwa in malerischer Parallele zur Konzeption von „ K r a f t und Stoff" durch Ludwig Büchner, bringen van Gogh und Cezanne mit der Vollendung des Impressionismus schon eine Uberwindung und bieten so reiche Ansätze für anti-impressionistische Gegenströmungen. Im ganzen wird der Impressionismus merklich abschußreif aufgebaut, damit der Expressionismus die Visierlinie auf das Irrationale, Antimaterialistische, Aktivistische, Absolute usw. frei hat. Dieselbe Tendenz wird an dem einleitenden kunstgeschichtlichen Rückblick, der themagemäß nur sehr sum-

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marisch erfolgen kann, erkennbar. Denn seit dem „Versinken der Gotik" und mit einigen Ausnahmen in der Romantik (wie Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge oder die „religiöse Sehnsucht der Nazarener") habe bei schwacher Gegenwehr akademisch-klassizistischer Strömungen in der Gesamtentwicklung der Zug zum impressionistischen Dienst an der Umwelt vorgeherrscht: eine offenbar sehr vereinfachende und vergröbernde Sicht. Das „ganz" Neue soll auf diese Weise eindrucksvoll heraus-„entwickelt" werden. Diese Methode wirkt noch weit grobschlächtiger als die an sich verwandte in Kasimir Edschmids um ein halbes Jahrzehnt früher liegendem Expressionismus-Manifest. Es wird so der Anschein erleichtert, als ob das expressionistische Kunstwollen die Ergebnisse der Entwicklung ganzer Jahrhunderte jählings umgestürzt habe. Durch diese List (oder — grob gesprochen — Geschichtsfälschung) hat P. Fechter an Kredit beim kritischen Leser von vornherein verloren. Das hinderte nicht, daß breite Schichten damals bei ihm die erste Orientierung suchten. Eben deshalb muß er hier etwas eingehender berücksichtigt werden. Denn er vor allem half das Bild entwerfen, daß man sich in jenen Jahren von der „neuen" expressionistischen Bildkunst machte. Daß ihm das gelang, dankt er nicht zuletzt einem unverkennbaren Geschick, wesentliche Kristallisationsstellen und Entwicklungsanstöße betont herauszustellen, so etwa den Kreis um Paul Gauguin, dessen „Synthese der farbigen Flächen" freilich noch keine echte Synthese im Sinne des konsequenten Expressionismus gewesen sei, so die rückgreifende Verbundenheit und vorgreifende Entbundenheit bei dem Holländer van Gogh und dem Franzosen Cezanne (Kulminations- und Wendepunkte zugleich), so der wache Blick für die Einschaltung des Kunstgewerblichen (die man in der Wortkunsttheorie schon beim Impressionismus etwa bei George, H. v. Hofmannsthal und R. M. Rilke wahrhaft sträflich vernachlässigt hat), so die These, daß einem „Los von der Natur!" ergänzend und befruchtend ein „Zurück zum Gefühl!" folgen müßte, so das Wort von einer Unterordnung des Erscheinungseindrucks unter den Ausdruckswillen, so die Beobachtung des Willens (ja Wagemuts) zum Abstrakten bei Hans von Maree, so die Unterscheidung von extensivem (Max Pechstein) und intensivem Expressionismus (Wassily Kandinsky), um hier nur 55

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einiges Wesentliche in Erinnerung zu bringen. Begrüßenswert erscheint, daß P. Fechter überall das „Kunstwollen" im Auge behält, obwohl er bedauerlicherweise die reine Kunsttheorie als formulierte Bildkunsttheorie merklich übergeht. Das werkimmanente Kunstwollen kommt erfreulich zur Geltung, freilich ohne willige Fühlung mit dem Kunstwollen der Dichtkunst, das völlig außer acht gelassen wird. Erst im „Schlußwort" fällt ein Seitenblick auf das „Versinken" Henrik Ibsens und (reichlich verfrüht) auch Gerhart Hauptmanns zugunsten eines Aufstiegs Frank Wedekinds (S. 58) und auf das Fortbilden der Georgeschen Lyrik (wobei die Schreibung von „Stefan" als „Stephan" die Fremdheit auch äußerlich belegt). Hier wird ferner einiges nachgetragen von dem Zusammenspiel der Schwesterkünste im Expressionismus, von den Einwirkungen Rudolf Steiners u. a., die schon vor dem vollen Einsatz des Expressiomismus (etwa 1910) sich angemeldet hatten. S. 443. Franz Wetfel — W e r f e l a l s E x p r e s s i o n i s t . — Die dich(w. P.) terische Qualität Franz Werfeis als Expressionist bezweifelt R o t r a u t S t r a u b e - M a n n : Franz Werfel, in: Expressionismus (1956), S. 129—39. Sie geht von der Ansicht aus, daß der spätere Romanschriftsteller Werfel weit Wertvolleres geschaffen habe als der Expressionist Werfel. Diese Ansicht dürfte ebenso (oder noch stärker) zeitgebunden sein wie die (im Gesamt zutreffendere) ältere, die im Expressionismus seine Hauptleistung sah. Wenn der spätere Werfel vom Expressionismus abgerückt ist, so kann man darauf keine wissenschaftliche Entwertung seiner spezifisch expressionistischen Epoche gründen lassen. Einem älteren Dichter scheint Zurückliegendes leicht überholt. Die Wissenschaft hat nicht nach Sympathien zu fragen und zu bewerten, sondern nach der geistigen Situation der Zeit und nach dem Kunstwollen, die hinter einem Kunstwerk stehen und in ihm wirken. In Franz Werfeis expressionistischer „Stilprägung", über die an sich das Beste in dieser Skizze eines Werfel-Bildes ausgesagt wird, findet Rotraut Straube-Mann etwas „Schockierendes". Besonders schockiert ist sie u. a. von manchen derb-drastischen Wendungen. Mit einem derartigen Wertungskriterium kann man aber dem Expressionismus ebenso wenig beikommen wie etwa dem konsequenten Realismus (Naturalismus). Der gerechte Maßstab wäre vielmehr der Stilwille der zu beurteilenden Kunstrichtung.

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Verf. dagegen möchte das Individuelle möglichst vom Zeitlichen trennen, wobei eine Befangenheit gegenüber der Epoche fühlbar wird: „Hierbei nötigt die expressionistische Dichtungsweise zwischen den Zügen zu unterscheiden, durch die Werfel sich als Expressionist, und denen, durch die er sich als Dichter ausweist. . . Heute fragt man nicht mehr nach dem Expressionismus. . ." (S. 133). Damit wird die Möglichkeit, als Expressionist zugleich Dichter sein zu können, verneint oder doch von vornherein angezweifelt. Gerade in einer Aufsatzsammlung, die den Titel „Expressionismus" trägt, müßte man eine verständnisvollere Einfühlung erwarten. So gilt Werfel in seiner expressionistischen Zeit nicht als „Dichter", sondern als gewandter „Literat", ähnlich wie Ludwig Tieck in der Romantik. Damals sei er nur ein „Uterarischer Anzeiger". Der Variationsreichtum der Versformen wird hervorgehoben und mit einigen Beispielen belegt. Erfreulich ist ein kurzer Rückbezug auf die Theorie von Arno Holz, soweit Sprachliches in Frage kommt. Aber es wird nicht erkannt, daß ein zitiertes Gedicht Franz Werfeis wie „Bessere Menschen" eine gewisse Nachwirkung des „Phantasus"-Rhythmus ablesen läßt (S. 137). Das heißt, die andere wesentliche Seite, die Lehre vom Rhythmus, die bei Arno Holz weiterweist, wird nicht einkalkuliert. Dagegen wird der Anteil des Schauspielerischen und Theatralischen in Werfeis Wesen richtig beobachtet. Zu Beginn des Essays begegnet die reichlich rätselvolle, aber selbstsicher hingesetzte Behauptung: „Im 19. Jahrhundert war eine Lyrik ausgebildet worden, in der man das persönliche Ich (und was wäre das unpersönliche Ich ? Etwa S. Freuds „Uber-Ich" ?) immer mehr hatte zurücktreten lassen" (S. 129). Warum der Impressionist nur „veräußerlicht", kann man auch nicht so ohne weiteres einsehen. — Η. A. L e x : The unwordly character in the works of Frz. Werfel, Diss. Philadelphia, 1962. S. 626. „ B a r b a r a . . ."; R o m a n , N o v e l l e . — Uber die Prosaepik (w. P.) liegt eine zusammenfassende Untersuchung vor von F r a n z B r u n n e r : Franz Werfel als Erzähler, Diss. Zürich 1955. Diese Sonderarbeit urteilt wesentlich anders als der soeben gewürdigte Essay von R. Straube-Mann von 1956, der jene Erträge wohl noch nicht berücksichtigen konnte. Denn nach eingehenden Einzelanalysen, die allerdings allzu stark am Inhaltlichen haften, gelangt Frz. 55·

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Brunner keineswegs zu besonders positiven Urteilen über die Novellen- und Romankunst Werfeis aus der späteren Zeit. Er kommt vielmehr zu der abschließenden Wertbestimmung, daß „zumal das epische Werk vom ästhetischen Standpunkt aus immer wieder in Frage gestellt wird" (S. 150). Dabei betrachtet Frz. Brunner an sich ebenfalls vom christlich-religiösen Wertungswinkel die epische Kunstleistung auch des späteren Werfel. Aber er vermißt bei dem „homo religiosus" Franz Werfel nicht nur eine einheitlich durchgreifende religiöse Thematik, sondern auch bei dem Prosa-Epiker einen gepflegten Stil, epische Distanz, durchgeformte Charaktere, psychologische Motivierung u. a. m. Was die gewiß ausgeprägte religiöse Komponente betrifft, so scheint es ihm kennzeichnend zu sein, daß sie dort am deutlichsten hervortritt, wo die Zentralgestalten an sich keinen greifbaren Bezug auf den Dichter selber aufweisen. Es sind überdies überwiegend Frauengestalten, die also nur mittelbar erfühlt werden können, wie Barbara („Barbara oder die Frömmigkeit", 1929) oder wie ihr kritischer gezeichnetes Gegenbild einer berechnenden Frömmigkeit in Teta („Der veruntreute Himmel", 1939) oder Bernadette, die Heiliggesprochene von Lourdes („Das Lied von Bernadette", 1941). Und selbst der Jeremias in „Höret die Stimme" (1937) gilt Brunner nicht als eng persönlich bezogen. Allerdings, den letzten großen Nachlaßroman Werfeis, den „Stern der Ungeborenen" (entstanden 1943—1945) hat die Züricher Diss, nicht mit einbezogen, weil dieses in einer Freiburger („Fribourg") Diss, geschehen sei (die nicht mehr von mir eingesehen werden konnte). Das religiöse Problem bei Werfel behandelt u. a. A. D. K l a r m a n n : Franz Werfeis Eschatologie und Kosmogonie, in: Modern Language Quarterly, Dez. 1946. Schon vorher hatte Klarmann die Gottesidee und das Erlösungsproblem des jungen Werfel gewürdigt, in: The Germanic Review X I V (1939), während seine Dissertation sich für die Musikalität bei Werfel (Philadelphia, 1931) interessiert hatte. Als besonders wertvoll bezeichnet Frz. B r u n n e r a. a. 0. (S. 45) die Novelle „Der Tod des Kleinbürgers" (1927), die ein gewisses Gegenstück zu L. Tolstois „Der Tod des Iwan Iljitsch" darstellt. Aber da der Kleinbürger, der aus Sorge um seine Familie den Tod so tapfer hinausschiebt, eine Art von passivem Heroismus vertritt, so hätte jenseits der Gat-

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tungen vielleicht ein Hinweis auf den „Meister Oelze" von Johannes Schlaf näher gelegen. Einst sprach S. Lublinski in der „Bilanz der Moderne" etwas sensationell von Oelze als „Übermenschen aus dem Kleinbürgertum". Von Werfeis Wiener Magazinaufseher Fiala könnte man etwas Ähnliches sagen. Irgendwie paßt diese Novelle zu Werfeis Kampfschrift „Realismus und Innerlichkeit" (1931), die zugleich bemerkenswert (nicht nur zeitlich) einschneidet in das Kapitel „Überwirklichkeit und innere Wirklichkeit" des Schluß- und Ergänzungsbandes dieser PoetikDarstellung. Zug und Gegenzug zur Neuen Sachlichkeit und zum „Realismus" werden in ihr gleichermaßen spürbar. Frz. Brunner überschätzt m. E. den umfangreichen Armenierverfolgungsroman zur Zeit des ersten Weltkrieges. „Die vierzig Tage des Musa Dagh" (1933). Dieser Reportageroman verweist trotz aller religiösen Tendenz merklich auf den Typus des sensationellen, künstlerisch etwas gehobenen Unterhaltungsromans. Er erinnert darin ein wenig an G. Hauptmanns „Atlantis"Roman. — Überhaupt dürfte das derzeitige positive Urteil über Werfeis spätere Romane stärker mit weltanschaulichen Maßen als mit ästhetischen Kriterien allzu wohlwollend operieren. Teilweise möchte man freilich auch einen gerechten Ausgleich schaffen helfen. Denn von der Gegenseite (Faschismus) hatte man sehr robust geurteilt, wenn damals die „Zeitbedingte und artfremde Romankunst (immerhin!) Franz Werfeis" zum Gegenstand einer hochnotpeinlichen Untersuchung gemacht worden war (A. Rheinländer-Möhl, Diss. Münster 1936). Es wäre an der Zeit, die Prosaepik Werfeis jenseits des Expressionismus einmal objektiver und rein literaturkritisch zu interpretieren. Franz Brunner bietet dazu einen recht brauchbaren Ansatz, soweit er ästhetisch urteilt. Aber er hat noch zu viel Material zu vermitteln im Sinne der ersten Bestandsaufnahme. Man braucht indessen über schwache Romane nicht unbedingt breiter zu berichten als über künstlerisch stärkere Novellen. Franz Werfel dürfte nämlich in Wirklichkeit, soweit er überhaupt begabungsmäßig über das Rüstzeug eines Epikers verfügt, weit eher zum Novellisten als zum Romancier berufen sein. Seiner flackernden Unrast fehlte die Ruhe epischer Sammlung und Besonnenheit. Seine Schnellfertigkeit im Produzieren fehlte die Geduld epischer Durchgestaltung und liebevoller Ausgestaltung für die Großform des Romans. In den

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Novellen sind diese Schwächen nicht so auffällig, weil ihm (darin H. Heine verwandt) eine kurzfristige Konzentration eher zu Gebote steht als eine langfristige. Er drängt nicht zufällig noch über die Novelle zurück gleichsam zur Novellenskizze oder Novellette. Außerdem liegt ihm merklich jenes „Spezifische", das Paul Heyse von der Novelle forderte, der einmalige, ganz außerordentliche Fall und die extraordinäre, ja extravagante Situation („Geheimnis eines Menschen"; „Die Hoteltreppe"; „Das Trauerhaus" u. a.). Nur bindet er das „Spezifische" nicht im Sinne der Falkentheorie P. Heyses an ein gegenständliches Symbol oder schicksalhaftes Requisit, sondern vielmehr an eine ungewöhnliche psychische Situation. Ganz allgemein geht er wieder mehr (ähnlich wie einst G. Reinbeck, vgl. Band IV) auf „Situationen" als Sondertypus von Erzählungen zurück, gleichgültig, ob man das nun als Novellen gelten lassen will. Der Umstand, daß Werfel in späteren Jahren nur noch eine einzige Novelle („Eine blaßblaue Frauenschrift", 1941) geschaffen hat, die an den frühen „Abituriententag" erinnert, beweist nichts gegen seine novellistischen Möglichkeiten (wirtschaftliche Nöte können da mitspielen). Außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, daß manche Erscheinungen, Merkmale und auch Schwächen im späteren epischen Schaffen Werfeis in Wirklichkeit zurückzuführen sind auf frühere Gewöhnungen und Gebräuche in dem von ihm durchschrittenen Expressionismus. Da wäre etwa zu denken an die typisierende, marionettenhaft wirkende Charakteristik durch schlaglichtartige, gespenstisch huschende Reflexe, an das Abwehren, ja die programmatische Ablehnung psychologischer Feinarbeit und Kleinarbeit (der Details), an den weitgehenden Verzicht auf eine hinreichende Motivierung, aber auch an die unpflegsame Willkür in der Sprachbehandlung. Alle diese Merkmale sind gleichsam Muttermale des Expressionisten, die als Schönheitsfehler stehen bleiben und erst voll sichtbar werden, sobald er die expressionistische Kriegsbemalung abgewaschen hat. Aber der Vergleich hinkt. Für Franz Werfel war der Expressionismus keine bloße Bemalung. Der Expressionismus brachte ihm die große Chance. Und umgekehrt brachte Werfel so ziemlich alles mit, was der Expressionismus gebrauchen konnte. Deshalb blieb er dem Expressionismus unbewußt länger verbunden, als er es bewußt wahrhaben wollte. Mir scheint der Weg Franz Werfeis nach vorübergehenden Annähe-

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rungsversuchen an die Neue Sachlichkeit schließlich mehr und mehr in den metaphysischen Neusymbolismus einzumünden, der auch jenseits der Welt Werfeis mancherlei Rückbezüge auf den Expressionismus aufweist. Manche zunächst scheinbar unsinnige Situation und Aktion (ζ. B. in „Die Hoteltreppe") erhält erst durch die Herstellung des religiösen Bezuges den beabsichtigten symbolischen Geltungswert. Franz Brunner spürt das mehrfach richtig heraus, ohne es in den größeren Zusammenhang der Wandlungen der Kunstrichtungen einzubauen. Die realen Vorgänge werden für Werfel, obwohl er Symbole als solche nur in begrenztem Grade herausbildet, dennoch zu Gelegenheitsmachern für latent symbolische Hinweise auf die Transzendenz. Die sogenannten „Profanen Nachträge" für die „Theologumena" (1944) stellen immerhin ein Ideal auf, das deutlich genug in diese Richtung weist: „Höchst mögliche Form moderner Epik: die mystischen Grundtatsachen des Geisterreiches (Weltschöpfung, Sündenfall, Inkarnation, Auferstehung usw.) dargestellt mittels des verschlagen^)— bescheidensten Realismus in unauffälligen Geschehnissen und Figuren des gegenwärtigen Alltags". Das liegt ganz im Rahmen von „Realismus und Innerlichkeit", hat aber eine deutlichere Ausrichtung auf den metaphysischen Neusymbolismus erfahren (vgl. den Schlußband dieser Darstellung). S. 444. „ D i c h t k u n s t . . . K u n s t der T ö n e " . — Das Extreme der „Sturm"-Lehre tritt in der Praxis in noch greifbareren, grotesken Formen zutage bei den Lustspielen des Dadaismus. Hier nämlich geht man, wie sonst z.T. vom Wort zum Buchstaben (Sonderform des Lettrismus), vom Tonklang auf den Laut und gern auch auf den Urlaut zurück. Trotzdem ist es bemerkenswert, daß Kurt Schwitters eines seiner kurios-kapriziösen Gebilde „Tonsonate" genannt hat. M a x D e s s o i r , freilich nicht zum Verstehen des dadaistischen „Kunst"-Wollens (und Verblüffen-Wollens) besonders berufen und geneigt, bezeugt, daß Kurt Schwitters beim Sprechen seiner „Tonsonate" gar nicht seine Theorie von einer Reduktion des Gedichts auf Buchstaben und Buchstabengruppen zur Geltung gebracht habe, sondern „aus Urlauten eine halb musikalische Folge von konsonantischen und vokalischen Tönen verschiedener Höhenlage und Stärke". (Bericht vom 2. Kongreß für Ästhetik 1925; Zs. f. Ästh. X I X S. 119). Auch Hans Arp wird von

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Dessoir recht heftig kritisiert. Ruhiger urteilte in jener Diskussion, die sich an einen Vortrag von G. Joh. v o n A l l e s c h über „Die Grundkräfte des Expressionismus" anschloß, W i l h e l m W a e t z o l t , der als Grundkräfte hervorhob: Pathetik (Superlativismus der Kunstmittel), Irrationalität, Drang zur Elementarität. Aber auch er spricht bereits vom „frischen Grabhügel des Expressionistischen Stils", auf dem v. Allesch einen „vollen Aphorismenkranz" niedergelegt habe. Er selber legt einen Dankeskranz dazu, der daran erinnert, daß vom Expressionismus eine wertvolle Auflockerungsarbeit geleistet worden sei. Bezüglich des Dadaismus und dessen überlauter Laut-Propaganda (im „Sturm" vorbereitet) hatte G. J. v. Allesch vom Prinzip des Phonetischen gesprochen ( „ . . . der sich auf das rein Phonetische zurückzog.. ."). An diese weit zurückliegende (aber dem Expressionismus zeitnahe) Kongreßdiskussion der Kunstwissenschaftler wird hier bewußt erinnert, weil selbst der Hauptreferent (Allesch) sicher nicht vermutet hat, daß der Expressionismus nach dem zweiten Weltkrieg, also etwa zwei Jahrzehnte später, eine erstaunliche Nachblüte, ja eine ζ. T. ganz bewußte Neubelebung erfahren sollte. Selbst eine so extreme Sonderrichtung wie der Dadaismus läßt es den Herausgebern der Aufsatzsammlung „Expressionismus" (1956) ratsam erscheinen, ihr wenigstens im — freilich vorsorglich abgehobenen — „Anhang" erneut Raum zu bieten für einen recht geschickten und konzentrierten Aufsatz von F r i t z U s i n g e r : Der Dadaismus, a. a. 0. (1956) S. 341—50. Und während dort Max Dessoir reichlich herablassend H. Arp verurteilte, heißt es hier nun von den Einzelvertretern (Kurt Schwitters, Ferdinand Hardekopf u. a.): „Aus ihnen allen hebt sich heute (also 1956!) Hans Arp heraus, weil er der einzige ist, der die Idee der dadaistischen Dichtung ein Leben lang weitergeführt und fortentwickelt hat. Er war auch von Anfang an die stärkste dichterische Begabung" (S. 350). S. 609. D a s D r a m a des E x p r e s s i o n i s m u s . — Die Aufsatz(w. P.) Sammlung „Expressionismus" (1956) würdigt einzelne Dramatiker und zwar Georg Kaiser (Otto Mann), Hans Henny Jahnn (Edgar Lohner), dazu Frank Wedekind als Vorläufer (Robert Faesi). Außerdem schreibt O t t o Mann eine allgemeine „Einleitung" (S. 213—40). Darüber wird noch an anderer Stelle zu sprechen sein. — Aus der frühe-

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ren Literatur seien gegenübergestellt der Aufsatz von L u d w i g M a r c u s e : Das expressionistische Drama (1924, in: Weltliteratur der Gegenwart) und das Buch von B e r n h a r d D i e b o l d : Anarchie im Drama, Kritik und Darstellung der modernen Dramatik (4. erweiterte Aufl. 1928). Marcuse geht es mehr um die Herausarbeitung des Typischen und das Prinzipielle der Richtungsmerkmale, Diebold mehr um die eingehende und vor allem die kritische Einzelanalyse von Dramen und Dramatikern. Marcuse ist im ganzen positiv eingestellt, Diebold negativ. Dementsprechend leugnet Marcuse zunächst die Dauergeltung verbindlicher dramatischer Gesetze, um dem neuen Wollen möglichst freien Spielraum zu verschaffen, Diebold dagegen hält an den dramatischen Grundforderungen fest und gelangt so zu einer entsprechend scharfen Kritik. Auch Otto Mann mißt dramatisches Gesetz und dramatischen Bestand aneinander, aber er wägt weit behutsamer ab, indem er dramatische Begabungen, unabhängig von den Stilrichtungen, anerkennt und demgemäß verständnisvoller würdigt. Marcuse lehnt die Verbindlichkeit des Handlungsbegriffs und der Deutung des Dramas als „Kampf" ab, um entscheidenden kritischen Einwänden gegen das expressionistische Drama von vornherein die Spitze abzubrechen, versucht also die Vorfrage des „dramaturgischen Maßstabes" zu klären. Er hätte es sich einfacher machen können, wenn er eindeutiger vom andersartigen Kunstwollen ausgegangen wäre. Nun muß er das Dramatische schlechtweg und das Theatralische schlechtweg völlig ableugnen ; aber das ist wenig überzeugend. Diebold vertritt das entgegengesetzte Extrem, indem er alte Maßstäbe starr auf Neues überträgt. Das mag prinzipiell gerechtfertigt sein; aber ist es auch historisch gerecht? Bei Marcuse gewinnt man den Eindruck, daß er der Einzelanalyse spezifisch expressionistischer Dramen bewußt oder unbewußt ausweicht. Er hält sich sehr lange (etwa ein Drittel des Aufsatzes) bei Büchner, Strindberg und Wedekind auf, wo er breiter interpretiert. Beim expressionistischen Drama dagegen arbeitet er einige nicht uninteressante Merkmale heraus unter dem Leitbegriff „Ethos und Metaphysik". Carl Sternheim gilt nicht völlig als Expressionist. Das erkennt Marcuse. Aber er möchte augenscheinlich eine betont vertiefte Sternheim-Deutung geben, die etwas forciert wirkt. Sternheim wird m. E. zu sehr vom Satiriker zum „Pathetiker" umgedeutet: er

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wolle nicht entlarven, das Philistertum diene ihm nur zur Folie für seine Monologe, das „Bürgerliche Heldenleben" sei nicht vorwiegend ironisch akzentuiert, sondern in gewisser Weise seien diese Bürger „Helden". Ein Körnchen Wahrheit dürfte darin sein; aber manches wirkt gesucht „ a p a r t " und „originell". Der Begriff „Überbürger" meint vielleicht etwas Richtiges, klingt jedoch zu sehr an den „Ubermenschen" an. Unter den Merkmalen des expressionistischen Dramas werden die religiösen, metaphysischen, kosmischen Züge, u. a. gestützt auf den Essay von Paul Kornfeld „Der beseelte und der psychologische Mensch", einerseits hervorgehoben, andererseits wieder eingeschränkt: „ein religiöses Drama ohne Religion (hier berührt sich L. Marcuse mit Otto Manns Kritik), ein metaphysisches Drama ohne Metaphysik, ein Weltanschauungs-Drama ohne Weltanschauung". Denn überall liege immer nur ein Ringen, ein Streben, eine Sehnsucht vor. Marcuse steht also nicht kritiklos dem expressionistischen Drama gegenüber. Wenn er den Vater-Sohn-Konflikt u. a. daraus ableitete, daß viele Dramatiker noch Jünglinge seien, so ahnte er offenbar noch nicht, daß er Jahrzehnte später eine Sonderschrift über — Sigmund Freud verfassen würde. Während Schirokauer der Zeit einen so hohen Funktionswert im Expressionismus zuweist, behauptet Marcuse: „Die Zeit steht still im expressionistischen Drama". Schon damals waren die kritischen Stimmen sich nicht einig. Metaphysik im Drama hier (Marcuse), Anarchie im Drama dort (Diebold). Der eine meint mehr den Gehalt, der andere die Gestalt und die Struktur. Diebold betont den „ K a m p f - C h a r a k t e r des Dramas, den Marcuse als unverbindlich erklärt hatte. Diebold definiert: „Die Tragödie ist das Spiel vom menschlichen Willen und dem (er sagt „ d e n " : meint er es auch?) außer ihm und in ihm, von seinem Hochmut gegen die Mächte" (S. 16). Dagegen sei die „Passion" kein Drama. Damit wären also die „Düsseldorfer Passion" oder die „Deutsche Passion" in der nationalsozialistischen Literatur abgetan. Nach solchen Ansätzen — und Bernhard Diebold theoretisiert und definiert noch, wie Lessing sagen würde, eine gute Ecke ins Feld hinein — kann das expressionistische Drama nur recht schlecht abschneiden. Zwar räumt er — jedoch anscheinend recht widerwillig — ein: „Die jüngste Kunst, die man Expressionismus nennt, hat nun die Seele zur Herrscherin

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über Geist und Leib gesetzt". Wieder ist er merklich an Wedekind interessiert. Die Würdigung Carl Sternheims bringt schon die leicht kritische Leitthese „Sternheim der Grandseigneur" (S. 77 f.). Von Georg Kaiser heißt es, er habe „als Psychoanalytiker ihr (der Komödiengestalten) Seelenleben bei solchen Extratouren kontrolliert". Diebold gefällt sich in Spezial- und Spielformen. Da gibt es ζ. B. Traumspiel-Poesie beim „Nervenspieler" Strindberg (Georg Kaiser ist natürlich der „Denkspieler"), Ich-Dramen bei J. R. Sorge, Schrei-Dramen innerhalb der BilderSerien und Passionen — extremes Beispiel: „Geschehen" von August Stramm, aber auch Oskar Kokoschka mit ,,Mörder, Hoffnung der Frauen" u. a. Bernhard Diebold verkennt nicht völlig das andersartige Kunstwollen, aber es erscheint ihm fremdartig, und so verneint er es trotz einiger Zugeständnisse. Das Titelwort „Anarchie" läßt leicht eine schärfere Polemik vermuten als in Wirklichkeit vorliegt. Bei der Betrachtung des Dramas „Menschen" von Hasenclever („Hasenclevers Weg zum Kino") und in einigen anderen Fällen (Piscator-Polemik) wird er zwar recht agressiv. Aber im allgemeinen versucht er nicht nur zu kritisieren, sondern auch „irgendwie" zu interpretieren. Viel Mühe gibt er sich ζ. B. mit Paul Kornfeld („Die Verführung" 1913, „Himmel und Hölle" 1919 und Komödien), merkliche Sympathie bringt er Fritz von Unruh entgegen, dem man im „Expressionismus"-Band von 1956 nicht einmal einen Sonderessay gewidmet hat, obwohl er der stärkste Tragiker unter den Expressionisten gewesen sein dürfte. S. 609. Z u s a m m e n f a s s e n d e G r u p p e n c h a r a k t e r i s t i k . — (w. P.) Nachdem dieses Kapitel niedergeschrieben worden war, schien die schon häufig erwähnte Sammlung von Abhandlungen und Essays über „Expressionismus", hrsg. von Hermann Friedmann und Otto Mann, Heidelberg 1956 die obige Argumentation zu widerlegen — aber doch nur scheinbar. Denn in Wirklichkeit war es offenbar der Erfolg der vorausgegangenen Kollektiv-Publikationen derselben Herausgeber „Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert" (1954) und „Christliche Dichter der Gegenwart" (1955), die den Anreiz zu diesem dritten, merklich etwas hastig durchgeführten Unternehmen gegeben hat. Das wissenschaftliche Gesamtniveau der Einzelbeiträge entspricht jedenfalls nicht dem der genannten Publikation von 1954. Die reinen Fachwissenschaftler sind hinter die Publizisten

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zurückgetreten. Auch müssen einzelne Verfasser eine ganze Reihe von Themen gleichzeitig betreuen. So etwa handelt der Mitherausgeber 0 . Mann neben der Gesamteinleitung das Drama des Expressionismus und in Sonderartikeln Georg Kaiser und Ernst Barlach ab. Besonders viele Beiträge muß Helmut Uhlig liefern: Vom Ästhetizismus zum Expressionismus (Stadler, Heym, Trakl), Gottfried Benn, Johannes R. Becher, Ivan Göll. Auch Frauen treten nun in Erscheinung, so Thea Pokowietz (August Stramm), so Rotraut Straube-Mann (Franz Werfel). Der Lektor vom S. Fischer-Verlag Oscar Loerke soll nachträglich zum bedeutenden Dichter „im Sinne des Expressionismus" erhoben werden (von Karlheinz Deschner), obwohl er zum mindesten zum Expressionismus wenig Beziehung hatte. Auch die Zugehörigkeit von Hans Henny Jahnn zum Expressionismus darf eingeschränkt werden (Edgar Lohner), obwohl er eine Ehrenrettung als Künstler an sich verdient (Emil Utitz rechnete ihn aus damaliger Zeitnähe noch zur Neuen Sachlichkeit). Natürlich wird auch Carl Sternheim als expressionistischer Dramatiker gewürdigt (von Carol Petersen), wie denn schon Otto Mann ihn neben Georg Kaiser als den echten Dramatiker der Richtung hervorhebt. Wenn man schon „wieder einmal" über längst hinreichend gewürdigte expressionistische Dichter handelt, so sollte man wenigstens hier und da von einem neuen Blickwinkel aus beobachten und bewerten. Vielfach geht man einfach auf die Zuordnungen Albert Soergels („Im Banne des Expressionismus") zurück (ζ. B. mit Bezug auf Otto zur Linde), ohne zu bedenken, daß damals letztlich fast alles für expressionistisch erklärt wurde, um die derzeitigen Gegenwartsdichter „zugkräftig" einzuordnen. Carl Sternheim kann nur sehr bedingt als Expressionist gelten. Er vertritt als Dramatiker nur eine Nebenströmung betont intellektualistischer Art (ähnlich wie Gottfried Benn in der Lyrik). Jedenfalls dürfte dann eine Sonderwürdigung Fritz von Unruhs nicht fehlen, die überdies dem jetzt leicht entstehenden Eindruck hätte entgegenwirken können, als ob der Expressionismus mit seinen Hauptvertretern eine letztlich „jüdische" Angelegenheit gewesen sei. Allgemein wird zu viel Längstbekanntes noch einmal, und zwar zum Teil mit der Gebärde neuer Verkündung, ausgesprochen und Längstverbreitetes noch einmal breit ausgewalzt. Nietzsches „ewige Wiederkunft" war jedenfalls nicht als

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Freibrief für ein derartiges Verfahren gedacht. Dasselbe gilt von der brauchmäßig zur Manier erstarrten Diktion. Alle haben Anliegen, Aspekte, Seins- und Daseinskomplexe; alle erfahren oder machen transparent, glauben an „schöpferischen Nihilismus" (mit geringen Einschränkungen), jonglieren mit Antinomien und verfallen selber einer „Vokabulatur", während sie sich von ihr zu distanzieren meinen. Gewiß kann man derartige Wörter einmal gebrauchen; aber man sollte sie nicht als „gültige" Marken der hohen Geistigkeit und des ästhetischen „Sinns" bis zur Abgegriffenheit immer noch einmal in Kurs bringen. Der Stil erstarrt sonst zur Manier, die Fachsprache wird zum Fachj argon. Man bekämpft nicht mehr die Schablone, sondern das „Klischee", zum mindesten in der Dichtung, aber was hat sich geändert, wenn man das Klischee in der Sprache der Dichtungsdeutung nicht erkennt? S. 613. D e u t u n g der L y r i k . — Der Beitrag von E d g a r (w. P.) L o h n e r : Die Lyrik des Expressionismus, in: Expressionismus, hrsg v. H. Friedmann und 0. Mann (1956) S. 57—83 steuert zunächst mehr auf den „Modernismus" als den Expressionismus zu. So greift er in Frankreich zurück auf Lautreamont und Gerard de Nerval, in Spanien auf Ruben Dario, im angloamerikanischen Bereich auf Ezra Pound, Η. Doolittle, T . S . E l i o t und W. C. Williams. Recht selbstgewiss erklärt E. Lohner: „Modernismus ist keine Lehre . . . Er ist das Notwendige". Sollte am Ende „Modernismus" manchen nicht immer als das „Notwendige" erscheinen ? Auch wagt man (trotz Zitierung Benns) zu bezweifeln, daß etwas in der Art einer Sprachentwicklung „plötzlich zu Ende" sein soll. Ebenso zweifelt man, daß E. Lohner sich ohne Einschränkung auf den bekannten, kunsttheoretisch einflußreichen Romanisten Ernst Robert Curtius berufen kann, wenn er behauptet: „Bis zu den Expressionisten hatte die Lyrik nur die Hochebene in Anbau genommen: hohe Gedanken, edle Gefühle, reine Leidenschaften." Das ist mehr Feuilleton als Literaturgeschichte. Ebenso wenn von den „ausgefahrenen Gleisen der traditionellen deutschen Verskunst" die Rede ist. Das Alte muß möglichst alt geschminkt werden, damit das „Neue" möglichst neu erscheint. Dieses „Neuartige, das Bleibende und Gültige" mit der weitesten Annäherung an das „absolute Gedicht" sieht

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Lohner vor allem verwirklicht bei Georg Trakl, Georg Heym, August Stramm, Ivan Göll und Gottfried Benn (S. 83, vgl. S. 79). Nun hat aber dieser Aufsatz den Vorzug, stärker als mancher andere dieser Sammlung Sekundärliteratur heranzuziehen, so etwa vor allem A r n o S c h i r o k a u e r : Expressionismus in der Lyrik (Weltliteratur, hrsg. v. L. Marcuse 1924), W o l f g a n g P a u l s e n : E x pressionismus und Aktivismus (1935), sowie B e r n h a r d B l u m e s einschlägige Bemühungen, daneben auch Sonderarbeiten wie K a r l L u d w i g S c h n e i d e r : Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Georg Heyms, Georg Trakls und Ernst Stadlers (1954) sowie K l a u s S i m o n s und T h e o d o r S p o e r r i s Studien über G. Trakl (1954 bzw. 1955). Außerdem muß hier das Einbeziehen kunsttheoretischer Bekundungen bemerkt und begrüßt werden, das über das übliche Maß beträchtlich hinausgeht. So sind dankenswert die Hinweise auf Beiträge in der expressionistischen Zeitschrift „Die Aktion", etwa von Paul Zech (Pseudonym Paul Robert) vom November 1913 über das Sonett und von Franz Werfel über „Substantiv und Verbum, Notizen zu einer Poetik" vom Januar 1917. Dagegen gehören Auswertungen von Bekundungen kunsttheoretischer Art bei Benn und Göll (um 1950, Göll etwas früher, Benn etwas später) nur sehr bedingt zur Programmatik des Expressionismus. Indem man (wie vielfach, ja fast grundsätzlich Brauch ist) die letzten Variationen (die oft ein Menschenalter später liegen) mit den ursprünglichen Konzeptionen und Intentionen des Expressionismus kombiniert oder kontaminiert, erreicht man eher Verwirrung als Klärung der historischen Situation. Aber E. Lohner steht, wie angedeutet, mit diesem methodisch fragwürdigen, obgleich aus der Situation heraus verständlichen Verfahren nicht allein. Daß man Gottfried Benns „Probleme der Lyrik" von 1951 nicht uneingeschränkt mit dem Expressionismus zusammenwerfen darf, leuchtet ein. Ähnliches gilt aber auch von I v a n G ö l l und seinen in französischer Sprache dargelegten Umschreibungen eines „ R e i s m e " (Reismus), die erst kurz vor seinem Tode (1950) anzusetzen sind. Diese Spätvariante (etwa 30—40 Jahre nach den ersten Programm-Manifesten), als „Reisme'' in Kurs gebracht, kann nämlich ebensogut wie ein Nachläufer des Expressionismus auch ein Gegenläufer des Neurealismus sein oder doch so aufgefaßt werden. Ivan

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Göll will freilich auf das „Ding an sich" zurück, auf jene Blüte, die gleichsam unmittelbar aus der Wurzel sprießt: „Cette racine est Res et non realitas." Die Transformation des Dinges in das Wort gehört aber letzten Endes, ohne daß sich I. Göll dessen bewußt geworden sein dürfte, zu dem alten Thema der Barockpoetiken von den res et verba, wenn auch als vertiefte Spielform. Immerhin sollte man die Spannweite des „res"-Begriffs im Barock-Raum nicht unterschätzen. Die Reihenfolge res et verba wird bei Göll sehr betont. Das Wort ist etwas Spätes. Außerdem münden der (unklare) Integrier-Begriff und die Inkarnations-Vorstellung ein in diesen Reismus, der als Gegenspieler gegen den Realismus aufgestellt wird und dennoch oder eben deshalb eine gewisse Angleichung in sich birgt. Einige wesentliche Zitate bringt E. Lohner (S. 79/80). Wo über das Wegsuchen zwischen Neurealismus und Neusymbolismus etwas zu bemerken ist, wird diese Frage noch einmal kurz aufzuwerfen sein. Einige schroffe Urteüe stehen merklich unter politischem Einfluß („ausschließlich Phrase und leerer Lärm", S. 69/70), der bei anderen so leidenschaftlich bekämpft wird. Hier fehlt die wissenschaftliche Freiheit der Distanz. Aber das betrifft mehr die Kunstkritik als die Kunsttheorie. Der kurze Essay von H e l m u t U h l i g über Ivan Göll (in derselben Sammlung 1956, S. 192—203) geht auf jenes Projekt eines Reismus nicht ein, gibt vielmehr eine Skizze vom Gesamtschaffen (unter Einbeziehung des Nachlaßbandes „Abendgesang", 1954) und verwischt so notgedrungen wieder die eigentlich expressionistische Linie. S. 614. E x p r e s s i o n i s t i s c h e D r a m a t i k . — In dem Sammel(w. P.) band „Expressionismus "(1956) behandelt der Mitherausgeber O t t o Mann „Das Drama des Expressionismus", a. a. 0., S. 213—240. Bei dieser Gelegenheit fallen einige kunsttheoretisch aufschlußreiche Bemerkungen über das Verhältnis von Gattungsgesetz (Drama) und Richtungsprogramm (Expressionismus). 0. Mann unterscheidet Dramendichter, die in erster Linie Dramatiker (G. Kaiser, C. Sternheim) und solche, die vor allem Expressionisten waren. Hierzu gehören die meisten expressionistischen Dramendichter. Fritz von Unruh wird der Ansatz zur Erneuerung der Tragödie eingeräumt, der jedoch nicht gelungen sei. Glücklich ist die Formulierung von „Lage

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und Anlage" als Voraussetzung für den tragischen Helden und sein Schicksal. Aber etwas spezifisch Expressionistisches erfaßt und sieht 0. Mann in diesem schicksalhaften Zusammenwirken von tragischer Lebens-,.Lage" und charaktermäßiger „Anlage" nicht. Das liege vielmehr in der Spannung „Menschliches/Nichtmenschliches'', wobei ζ. B. der Staat ein Nichtmenschliches vertrete, weithin aber auch der „Bürger", besonders als Staatsbürger. Ein Tragisches im strengeren Sinne sei dem Expressionisten kaum gemäß gewesen: „So steht das Tragische letztlich dem Programm des Expressionismus entgegen" (S. 220). In Abhebung vom Naturalismus — und Otto Mann greift häufig auf ihn zurück — , wo das Leben recht behalte gegenüber dem „Ideologen" (Ibsen, Hauptmann), werde er im expressionistischen Drama selber vom Schicksal mit betroffen. Insofern erfolge eine Verlagerung der „Wirklichkeits- und Wertakzente" (S. 224). Beim expressionistischen Drama habe der Held eigentlich immer „Recht" und behalte es auch (wenigstens ideell) in Auswirkung des Primats des idealistisch „Unbedingten". Das äußere Scheitern nämlich schließt den inneren Sieg ein. Aber ist das nicht bei sehr vielen Anklagedramen der Fall, ob nun aktiven (Gryphius' „Papinian", Schillers „Räuber", „Kabale und Liebe", „Don Carlos" usw. bis hin zu Friedrich Wolfs „Thomas Münzer") oder latent passiven (Lessings „Emilia Galotti" ff.), und verwechselt O. Mann also nicht einen dramatischen Sondertypus mit einem literarischen Richtungsmerkmal? Weil der Expressionist vielfach Anklagedramen schrieb, kam er zu dieser „Lösung". Etwas ausschließlich „Expressionistisches" dürfte kaum oder doch nur insoweit darin liegen, als der innere Glaube an den neuen Menschen triumphiert. Aber nimmt der sozialistische Realismus nicht eben dasselbe für sich in Anspruch ? Ist das nicht vielmehr eine allgemeine Erscheinung vorherrschender Ideologie ? Weiter hilft m. E. der Hinweis darauf, daß besonders Fritz von Unruh nicht im Zusammenwirken von Lage und Anlage das Tragische sieht, „sondern im Inneren dieses Helden selbst, in dessen eigener tragisch expressiver Energie" (S. 227), so daß das Drama „Gefäß für den Ausdruck des Menschen" wird. Aber das läuft letzten Endes wieder auf einen Dramentypus hinaus, der ebenso wie das Anklagedrama gleichfalls längst vorher da war (zuletzt in der Neuromantik), nämlich das lyrische Drama. Dahin

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gehört auch die Umschreibung des expressionistischen Dramas: es wolle vor allem „im Drama den Menschen zum Schausprechen bringen". Hinsichtlich der Psychologie wird mit Recht das subtile Charakterisieren des Naturalismus und Impressionismus abgehoben von dem Festlegen des „Inneren" des Helden auf vorherrschende „expressive Tendenzen". Ebenso ist beachtenswert der Hinweis auf die Bildungsvorgänge (Prävalenz des jungen Menschen) durch das „Leben". An abseitigeren Werken werden herangezogen „Die Gewaltlosen" von Rubiner, „Die Verführung" von Kornfeld, „Der junge Mensch" von Hanns Johst, „Mörder, Hoffnung der Frauen" und „Hiob" von Kokoschka u. a. Gern schweift der Verfasser vom expressionistischen Drama ab durch fortgesetzte Exkurse oder doch Ausblicke in bzw. auf die Antike, die Klassik, den Sturm und Drang, den Naturalismus usw. Gewiß sind mit diesem blickausweitenden Verfahren auch Vorzüge verbunden. Aber in einer relativ kurzen Abhandlung, wo man vor allem eine Konzentration auf das Drama des Expressionismus erwartet, wirken sie doch leicht als unliebsame Ablenkung. S. 622. Georg Kaiser, „ D e n k s p i e l e r " . — Der kurze Aufsatz (w. P.) von O t t o M a n n : Georg Kaiser, in: Expressionismus (1956), S. 264—279 scheint die frühere Kaiser-Literatur kaum ernstlich zu verwerten, sondern sie zugunsten einer neuen „Interpretation" zu verschmähen, die jedoch ζ. T. das schon Bekannte wiedergibt. Die religiöse „Faszination" fiel (anders als beim E. Barlach-Essay) weitgehend fort, jedoch glaubt man auch hier nicht ohne Martin Heidegger auskommen zu können: „Aus dieser Schicht müsse der Mensch wieder zu sich vorstoßen, sagt Heidegger" (S. 273). Immerhin erscheint ihm der Kontakt Martin Heidegger/Georg Kaiser doch zweifelhaft. Und er entscheidet: „Für Kaiser kann der Mensch solche vernichtende Wahrheit nicht festhalten." Einige wesentliche und wertvolle Deutungen kommen weniger aus der Interpretation als aus der geistigen Konstruktion, weniger aus der ästhetischen Betrachtung als aus der begrifflichen Bestimmung. Denn daß die szenischen Anmerkungen expressionistisch stilisiert und formuliert sind (aber doch mit- „dichten", prinzipiell ähnlich wie beim Naturalismus), daß Linien zu Wedekind und Sternheim führen, daß eine „Bilderfolge" die dramatische Struktur 56

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verdrängt usw., das alles erscheint abgegriffen, wenn man nicht gerade der Jugend den „Expressionismus" interpretieren will. Aber die These des „Unbedingten", vor allem der Hinweis auf die Wahrung der Illusion selbst auf Kosten des Lebens (als dramatischer Motor und Motiv der dramatischen Gestalt) öffnet fruchtbare Perspektiven. Beispiele für diese illusionäre Auffangstellung und das verzweifelt-gefährliche Sich-Klammern an die (an sich als solche erkannte) Illusion bieten „König Hahnrei" (TristanMotiv) , „Der Brand im Opernhaus'' und „Zweimal Olivier''. Fraglich ist nur, ob diese Dramen Georg Kaisers noch im expressionistischen Entfaltungsraum stehen und ob „Die Bürger von Calais" schon in ihm stehen. Kritische Bedenken sind um so angebrachter, als nachdrücklich behauptet wird: „Die »Bürger von Calais« sind das erste Drama, mit dem der Expressionismus auf der Bühne nicht nur Aufsehen erregt, sondern einen durchschlagenden Sieg erringt" (S. 268). Ähnlich wie in der Abhandlung über das expressionistische Drama begegnet selbst in dieserKurzform der Hang zur Abschweifung oder zur Herstellung etwas forcierter Bezüge. So muß ζ. B . die Expositionsszene von Kaisers „ V o n Morgens bis Mitternacht" Anlaß geben zu einem Rückblick auf die Exposition von Shakespeares „Macbeth" (S. 270). Auch Lessing, Schiller, Hebbel, Hauptmann werden bemüht. Nicht herangezogen wird jedoch das Kunstwollen oder die Kunstanschauung Georg Kaisers. Das Ansetzen eines „ersten" oder „frühesten" expressionistischen Dramas ist übrigens je nach dem Blickwinkel beträchtlichen Schwankungen unterworfen. So ζ. B . vertritt B e r n h a r d D i e b o l d : Anarchie im Drama (1928) S. 235 die Ansicht, daß man Reinhard J. Sorges „Der Bettler" (entstanden 1910) „als das früheste expressionistische (Drama) in Deutschland bezeichnen" könne, (indessen: viel Neuromantisch = Lyrisches!) S. 448. Sigmund F r e u d . — V e r h ä l t n i s z u r P s y c h o a n a l y s e . — Schon in seiner Antrittsvorlesung zu Zürich bemerkte W a l t e r M u s c h g : Psychoanalyse und Literaturwissenschaft (1930): „Der Kenner des deutschen Expressionismus weiß, daß diese Uterarische Epoche ohne Freud nicht denkbar ist" (S. 9). E r nennt in diesem Zusammenhang Franz K a f k a und Alfred Döblin, der, „selber Nervenarzt, mit ehrfurchtsvollen Worten für Freud eingetreten" sei. Außerhalb des Expressionismus erinnert W. Muschg daran,

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daß auch Albrecht Schaeffers „Helianth" psychoanalytische Züge aufweise und Schaeffer überdies eine Schrift über R. M. Rilke (Privatdruck im Insel-Verlag) Sigmund Freud gewidmet habe. Ebenso werden Thomas Mann und Hermann Hesse genannt. Themagemäß geht es in dieser Habilitationsvorlesung (erschienen bei Junker/Dünnhaupt, Berlin 1930) mehr um das methodische Verhältnis Psychoanalyse/Literaturwissenschaft ganz allgemein und prinzipiell als um den Nachweis von Einwirkungen in Einzelfällen, die deshalb zurücktreten. Wenn auch mit jugendlichem Schneid die Psychoanalyse einmal als „Gottesgericht" bezeichnet wird, das über die beschaulichen Literaturhistoriker jählings hereingebrochen sei, so überwiegt doch im Gesamt ein kritisches Abwägen des Brauchbaren und Nichtbrauchbaren. Der Mißbrauch der damals grassierenden Methode wird erkannt und bekämpft (J. Sadger mit modisch-sensationellen Machwerken über Kleist, Hebbel, C.F. Meyer wird entsprechend angeprangert S. 13). Der Freud-Schüler Wilhelm Stekel („Die Träume der Dichter", 1912) wird achtungsvoll, aber nicht unkritisch betrachtet. Die auf S. 10 zitierte Äußerung Alfred Döblins bekundet merklich den Willen zur Unabhängigkeit des Dichterischen schlechtweg, indem nicht etwa „Tiefendichter" durch „Tiefenpsychologie" hervorzubringen seien. Auch W. Muschg selber legt Wert auf die „integrale schöpferische Persönlichkeit" und vermißt vielfach die Berücksichtigung der „aus einmaligem Antrieb schaffenden Dichterpersönlichkeit" (S. 22). Außerdem kritisiert er das psychoanalytische Verfahren, „das lediglich von den immanenten Konflikten des Kunstwerks und nichts von ihrer Überwindung in der Form wissen will" (S. 15). Für die Zwecke der Psychoanalytiker sei das Fragment oder auch das künstlerisch fragwürdige Literaturgebilde notwendig interessanter als das formvollendete Kunstwerk, das jene stofflichen Spannungen durch die Kraft der Gestaltung überwunden habe. Ebenso steht er der „radikalen Psychologisierung der dichterischen Phänomene" (S. 18) recht skeptisch gegenüber. Übrigens scheint er schon damals C. G. Jung, der neben Alfred Adler häufiger erwähnt wird, fast stärker einzubeziehen als S. Freud selber, wie denn auch schon vom „kollektiv" Unbewußten die Rede ist. Das Positive liege etwa in der Klärung oder doch Bereicherung des „Phantasie"-Begriffes, ähnlich stehe es mit dem „Symbol"-Begriff sowie mit der Vorstellung

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des Mythischen und vor allem mit dem „dichterischen Prozeß" (Schaffensvorgang), besonders auf den unbewußten Frühstufen der Konzeption. Insofern bringe die psychoanalytische Methode doch wesentlich mehr als etwa nur eine Neuauflage der alten Stoff- und Motivgeschichte. S. 449. A n r e g u n g e n v o r dem E x p r e s s i o n i s m u s . — Als besonders markantes Beispiel sei eine Briefnotiz von Hugo von Hofmannsthal herausgegriffen, weil sie eine Zeit betrifft, in der Sigmund Freud seine Lehre noch nicht einmal selbständig und voll ausgebildet hatte. Schon im Jahre 1904 schreibt H. v. Hofmannsthal an Hermann Bahr: „Können Sie mir eventuell für einige Tage das Buch von Freud und Breuer über Heilung der Hysterie durch Freimachen einer unterdrückten Erinnerung leihen ?'' Von hier aus würde vielleicht auf den Erinnerungsbegriff in R. M. Rilkes „Malte Laurids Brigge" ein neues Licht fallen. Hofmannsthal begnügte sich schon 1904 nicht mit dem bloßen Hörensagen; und auch Hermann Bahr, stets dem Neuen zugeneigt, hatte sich offensichtlich nach der Quelle umgesehen. Wenn dieses Interesse auch rein lokal (Wien) leicht erklärlich ist, so bleibt der frühe Einsatz doch bemerkenswert. Man hat das damalige Interesse mit der Entstehung der „Elektra" in Zusammenhang gebracht, zugleich aber auf ein späteres Abrücken Hofmannsthals von der Psychoanalyse hingewiesen. „Es ist die Schwäche der jungen Menschen, daß sie symbolische Situationen analytisch behandeln und dadurch das Zauberische auflösen"; zitiert nach C u r t H o h o f f : Hofmannsthals Lustspiele, in „Akzente", Jg. 1955, S. 371. — Bei dieser Gelegenheit sei daran erinnert, daß Dichter selber sich der Heilung durch Psychoanalyse anvertrauten; so spielt ζ. B. eine zeitlang Rainer Maria Rilke mit dem Gedanken, und zwar unter dem Einfluß von Lou AndreasSalome (vgl. W. L. Graff: Rilkes lyrische Summen: deutsche Übersetzung, Berlin i960). Hermann Hesse scheint sich vorübergehend bei einem Schüler C. G. Jungs Rat geholt zu haben. S. 450. L e i c h t e m p f ä n g l i c h e K ü n s t l e r . — Zu ihnen zählt in gewisser Weise auch S t e f a n Z w e i g : Die Heilung durch den Geist, Mesmer—Mary Baker-Eddy—Freud, Insel-Verlag, Leipzig 1931. Hier liegt keine rein wissen-

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schaftliche Sekundärliteratur vor. Aber diese sehr umfangreiche Freud-Darstellung durch einen Dichter ist für unsere Zwecke aufschlußreicher als manche wissenschaftliche Sonderuntersuchung. Zugleich tritt das Wechselspiel Medizin-Dichtung in einen neuen Blickwinkel, weil hier nicht eine Umsetzung in Dichtung vorliegt, wohl aber eine dichterische Interpretation bei allem Bemühen um Sachlichkeit unverkennbar bleibt. Denn Stefan Zweig (übrigens m. W. nicht mit Arnold Zweig verwandt) fühlt sich im Grunde als Dichter von so problematischen Gestalten wie Franz Anton Mesmer oder Mary Baker-Eddy, der zwiespältig belichteten Begründerin der Christian Science, angezogen. Daher wird ihm kaum bewußt, daß es für Sigmund Freud nicht gerade vorteilhaft ist, wenn er ihn unbekümmert in diese Reihe stellt. Das Gemeinsame liegt für St. Zweig darin, daß die Heilung nicht durch Instrumente und Medikamente, sondern allein „durch den Geist" erfolgt (daher der Titel), anfangs freilich auch wohl durch hypnotische Willensübertragung. Das Wesentliche glaubt Stefan Zweig darin zu erkennen, daß in einer Epoche der Mechanisierung und Uniformierung der Persönlichkeitswert, die Geltung des Individuellen einen neuen Auftrieb mit Hilfe der Psychoanalyse erfahren habe. Die Aufwertung des Unbewußten muß von einem Dichter von der Art Stefan Zweigs natürlich besonders hoch eingeschätzt werden. Die Grenzen der Psychoanalyse liegen für ihn in der Isolierung des Menschen und einer gewissen Skepsis hinsichtlich eines Sieges der Vernunft, den S. Freud nur als möglich andeutet. Einen gewissen Widerspruch sieht er darin, daß die Psychoanalyse einerseits die Herrschaft des Bewußten über das Unbewußte, der Vernunft über den Trieb leugnet, andererseits jedoch die Vernunft zum Mittel der Heilung macht. Dieser Zwiespalt werde nun in der angedeuteten Weise besonders relevant im weiteren Bereich kulturphilosophischer Fragestellungen. Das merkliche (und verständliche) Ausweichen vor den zentralen sexuellen Postulaten und Surrogaten (Ersatzhandlungen), also vor der Kernposition Freuds führt notwendig zu etwas blassen Allgemeinheiten und dünnen Andeutungen, die nur durch die Sprachkunst des Dichters konkret angereichert erscheinen. Auch hebt sich so S. Freud nicht deutlich von C. G. Jung ab. Was das Hineindeuten des s p e z i f i s c h D i c h t e r i schen betrifft, so erinnert Stefan Zweig zwar an die

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Ersatzhandlung und das Abreagieren in Goethes Werther (Todestrieb-Verlagerung auf die dichterische Gestalt). Dadurch erfolge das künstlerische Gestalten psychologisch in Form eines „Von-Sich-Weggestaltens". Im übrigen gelte allgemein wie für Traum, Wachtraum und Phantasieren, „also auch für Dichtung und Mythos" eine entlastende Verlagerung in das Unverbindliche einer heilsamen, reinigenden Nichtwirklichkeit (S. 387). Zudem ist von einer Ähnlichkeit der psychoanalytischen Technik mit dem Verfahren des Literaturhistorikers die Rede, da in beiden Fällen die „Zutat" von dem „Erlebnismotiv" gesondert werden müsse. Außerdem müsse sich der Psychoanalytiker „der dichterischen Substanz jedes Menschen" (die also vorausgesetzt wird) bemächtigen und bedienen, um das Aufdecken des Traumas zu erleichtern (S. 384). Denn es gehe um ein Aufdecken des moralisch Fragwürdigen, nicht um das bürgerliche Zudecken. Man vermißt in diesem Zusammenhange einen an sich naheliegenden Hinweis auf Frank Wedekind, gerade dort, wo so betont von der kulturellen Funktion der Psychoanalyse gesprochen wird, die zunächst unmoralisch wirkte, aber das Gewissen schärfte. Insgesamt dürfte Stefan Zweig an solchen Stellen beträchtlich über Freuds strengere Linie hinausgehen. Kennzeichnend dafür ist etwa die auf Freud (nicht aber aus Freud) bezogene Wendung: „Er hat zum erstenmal das Dramatische im Persönlichkeitsaufbau jedes Menschen beinahe dichterisch groß entwickelt" (S. 443). Dieses „Dichterische", das Stefan Zweig hineinliest, lag S. Freud durchaus fern, entsprach jedenfalls keineswegs seiner Absicht, so daß er das als Anerkennung Gemeinte wahrscheinlich als abwertend empfunden hätte. Auch bemerkt man Widersprüche, so ζ. B. wird Freud als „konstruktiver" (nicht intuitiver) Typus gedeutet, dann jedoch wird wiederum seine geniale Intuition gerühmt. S. 452. L. Marcuse. — Mehr populärwissenschaftlich, aber umsichtig und anregend wirkt die Darstellung von Ludwig Marcuse: Sigmund Freud, sein Bild vom Menschen, in: Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Bd. 14, Hamburg 1956, S. 88. Dort dankenswerte Literaturhinweise, besonders auch auf Auslandsliteratur S. 138 f. S. 452. K a t h a r s i s b e g r i f f . — Das gilt ebenso wie für die Version „Reinigung" (Lessing u. a.) und die Version „Ausglei-

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chung" (Goethe) vor allem auch für die relativ jüngere Interpretation „Entladung", die bereits vom Medizinischen abgeleitet worden war (Bernays, vgl. Band IV). Es sei daran erinnert, daß zur Zeit der Zusammenarbeit S. Freuds mit seinem älteren Kollegen und Anreger Josef Breuer, also zur Zeit der gemeinsam verfaßten Beiträge „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene" (1893) und „Studien über dieHysterie" (1895) die beiden Ärzte ihr Verfahren mit Bezug auf Aristoteles' Katharsisbegriff ausdrücklich die „ k a t h a r t i s c h e " Methode nannten. S. 452. A u s l ä u f e r d e s H i s t o r i s m u s . — Gleichfalls kurz berührt bei L u d w i g M a r c u s e a. a. 0 . (1956), S. 18; aber eigentlich „zeitgenössisch" war dieser Historismus kaum noch, daher wird hier nur von Ausläufern gesprochen. Marcuse greift auch das Wort vom „ furor biographicus" auf. Die einleitende Parallele Heine/Freud wirkt etwas forciert, ist jedoch nicht uninteressant. Das „Talent für Interpretation" wird hervorgehoben (S. 34). Ein kleiner Exkurs behandelt S. Freuds Verhältnis zu den deutschen Dichtern (S. 81—90). Rein persönlich habe Freud die wertmäßig gesicherte Literatur bevorzugt, so Lessing, so Goethe, so Schiller. Gelegentlich der Verleihung des Frankfurter Goethepreises (1930) ließ Freud von seiner Tochter Anna eine Rede verlesen über „Goethes Beziehungen zur Psychoanalyse", in der er zu dem Schluß kommt, daß Goethe nicht allein ein „großer Bekenner", sondern auch „trotz der Fülle autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer Verhüller" gewesen sei. Bereits das Interesse am Stofflich-Motivlichen ist beteiligt, wenn Hebbels „Judith"-Drama in dem Aufsatz „Das Tabu der Virginität" analysiert wird. Ähnlich dürfte es mit Freuds Vorliebe für C. F. Meyer bestellt sein, dessen Spätentwicklung letztlich auch biologisch und psychisch bedingt war. Heine tritt merklich zurück (vgl. aber die „ W i t z " - A b handlung). Gegenwartsliteratur scheint Freud wenig vertraut gewesen zu sein. Als Einzelheit: Wilhelm Jensen, dem die längste der literaturbezogenen Abhandlungen gewidmet war, hat seinerseits die Psychoanalyse als unkünstlerisch und auch eine persönliche Annäherung Freuds abgelehnt; ebenso Carl Spitteier, obwohl nach seiner Dichtung die Zeitschrift „ I m a g o " (hrsg. von Otto Rank u. Hanns Sachs) benannt worden war und Freud

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ihn als den „Imago"-Dichter mehrfach zitiert hatte. Sigmund Freud ist 1939 im E x i l (England), das er als Österreicher erst 1938 aufzusuchen brauchte, gestorben. S. 453. S o n d e r f o r s c h u n g . — Verhältnismäßig frühzeitig registriert O s k a r W a l z e l : Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters (1923), S. 104f. die Rückwirkung der Psychoanalyse auf die Literaturwissenschaft. Er berücksichtigt O t t o R a n k : Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage (1912) und R. Meyers Kritik in der Deutschen Literaturzeitung (1913). Aber es geht dabei eben nicht um Einflüsse Freuds auf die Literatur, sondern um eine Sichtung der Literatur unter dem Aspekt von Freuds Lehre. Das gilt ζ. B. auch von T h e o d o r R e i k : Flaubert und seine „Versuchung des heiligen Antonius" (1912). Der Freudschüler Th. Reik befaßte sich in ähnlicher Weise mit den Dramatikern Richard Beer-Hofmann und Arthur Schnitzler (durchweg also Impressionisten): Arthur Schnitzler als Psycholog (1913). Oskar Walzel verweist noch auf den (im Übergang zum Expressionismus stehenden) Roman „Der Zwanzigjährige" (1918) von Heinrich Eduard Jacob sowie auf Einschläge bei Josef Ponten „Der Knabe Vieln a m " (Erzählung „Die erste Rheinreise, auch Erziehung zum Manne", 1921). S. 467. Frank Wedekind.— I l s e Τ. M. de B r u g g e r : Teatro alemän del siglo X X , Buenos Aires 1961 ( = Colleccion Ensayos); Wedekind im Übergang zum expressionistischen Drama. — Deutsches Theater des Expressionismus: Wedekind/Lasker-Schüler/Barlach/Kaiser/Goering/Jahnn (Einzeldramen, hrsg. von Joachim Schondorff, Vorwort von Paul Pörtner), 1962 (Wedekind könnte nur als Vorläufer einbezogen werden). — F e r d i n a n d L i o n : Wedekind redivivus ?, in: Merkur X V I , 11 (1962, nur mittelbarer Bezug). — A r t u r Kutscher: Wedekind; bearb. u. hrsg. von Karl Ude, 1964. F r i e d r i c h G u n d o l f : Frank Wedekind, München 1954 (aus dem Nachlaß, verkürzter Sonderdruck eines Aufsatzes im „ T r i v i u m " 1948, Zürich) erhebt Wedekind „zu einem der ganz wenigen ursprünglichen Dramatiker Deutschlands". Obwohl er die Büchner-Tradition erkennt, drängt er streckenweise Wedekind zu sehr auf die Seite des Naturalismus hinüber. Jedenfalls macht er für die mono-

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manische Verengung des Blickfeldes bei Wedekind auch im erotischen Spezialgebiet (Lulu in Abhebung von Shakespeares Kleopatra) die Gewöhnung des Naturalismus an die Nahsicht, die von der „Freiheit des Weltblicks" entwöhnt hatte, verantwortlich: „Das liegt zum Teil an den Verranntheiten des Naturalismus, der mit der Opposition gegen das Schönsehen, mit der krassen Echtheit nach unten schon viel getan glaubte und statt der Tugendschemen Lasterknollen (!) erst zeigte, dann pries" (S.63). Gundolf verweilt allerdings vor allem bei „Frühlingserwachen" und der sogenannten Lulu-Doppeltragödie („Erdgeist", „Büchse der Pandora"); zu der angekündigten „Franziska"-Würdigung kommt er nicht mehr. Bei dem Goethe-Deuter Gundolf wäre die Wertung der Paraphrase des „Faust"-Themas ins Weibliche nicht uninteressant, wenngleich notwendigerweise recht schwierig gewesen. Auf der anderen Seite wiederum sieht man in Wedekind vorwiegend den „Vorläufer" des Expressionismus, so auch wieder R o b e r t F a e s i (im Sammelband „ E x pressionismus", Heidelberg 1956). Man erinnert sich, daß auch Georg Büchner als Traditionsträger vom Naturalismus sowohl wie vom Expressionismus beansprucht wurde. Hingewiesen sei darauf, daß Wedekind in gewissem Grade auf der W e g s u c h e z w i s c h e n I m p r e s s i o n i s m u s u n d E x p r e s s i o n i s m u s anzutreffen ist. Neben naturalistischen Kraßheiten und Grellheiten sollten die starken Wirkungsmittel des Atmosphärisch-Raumfarbigen nach Art des Impressionismus nicht unterschätzt werden. Aber das Charakteristische Wedekinds liegt gerade darin, sich nicht richtungsmäßig festlegen zu lassen. Leicht wird auch übersehen oder übergangen, daß Wedekind z e i t l i c h d u r c h a u s G e l e g e n h e i t g e h a b t hätte, den Expressionismus voll und als Vollender (und nicht nur als Vorläufer) zu „vertreten". Das hat er jedoch verschmäht, um der eigenwillige Einzelgänger bleiben zu können. Aber indem er den Experimentalisten entlarvte und bloßstellte (wenn nicht anders, dann in sich und durch sich selber), half er den Expressionisten entwickeln. Indem er den Impressionismus ins Extrem trieb, bereitete er den Umschlag in den Expressionismus wirksam vor. Indem er sich vom „alten" Menschen (zum mindesten im moralisch-satirischen Bezirk) entschieden absetzte, half er den „neuen" Menschen freisetzen, der dann vom Expressionismus propagiert wurde. Frank Wedekind förderte den Expressionismus,

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bevor dieser begann, von sich aus Forderungen zu stellen. Die Anregung war ihm reizvoller als der Anschluß. S. 467. F r ü h e n a t u r a l i s t i s c h e A n s ä t z e . — Mehr als ein echtes Kunstwollen stand freilich noch der Drang zu wirken dahinter, als er die frühe Dichtung „Der Schnellmaler" (1889) für die Bühne als realistisch anpries, um die modernen „Erwartungen" des Publikums nicht zu enttäuschen. Mit Naturalismus hatte das wenig zu tun. Die Freundschaft mit Karl Henckell bringt Wedekind den „Modernen" etwas näher, während die Bekanntschaft mit M. G. Conrad nicht zur Mitarbeit an der Münchener „Gesellschaft" geführt hat. Bei den kritisch ablehnenden brieflichen Äußerungen an den Vater über den Zola-Nachahmer Conrad ist jedoch Briefanpassung zu berücksichtigen, da der Vater ein Gegner der Naturalisten war und ζ. B. die „Modernen Dichtercharaktere" als „Sudelpoesie" ablehnte. In der Vorstudie zu „Frühlings Erwachen", dem Fragment „Elins Erweckung" könnten Einzelszenen (um den Medizinstudenten Oskar oder die heiratswillige Zimmerwirtin Nettchen) naturalistisch wirken. Es überwiegt aber merklich die VorbildPoetik Grabbe/Büchner. In „Frühlings Erwachen" selber verstärken sich einerseits die naturalistischen Ansätze, andererseits sollte man hinsichtlich der SchulmeisterKarikaturen Grabbes „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung" nicht ganz außer acht lassen. Die Wesensverwandtschaft mit Georg Büchners „Woyzeck"-Fragment dagegen ist allgemein anerkannt worden. Heinrich Mann formuliert in „Ein Zeitalter wird besichtigt" (1947) kurz so: „Der revolutionäre Dramatiker Georg Büchner wurde wiederentdeckt und fortgesetzt von Frank Wedekind" (S. 204). In der Komödie „Die junge Welt" polemisiert Wedekind im Rahmen der im Kunstwerk formulierten Poetik eindeutig gegen den Naturalismus, indem er den „Dichter" vor lauter Beobachtungsnotizen nicht zum unbefangenen eigenen Erleben kommen läßt. Die Geliebte des naturalistischen Dichters Franz Ludwig Meier klagt: „Wenn er mir einen Kuß gab, hatte er immer das Notizbuch in der einen Hand, und mit der anderen schrieb er hinein, was ich für ein Gesicht dazu machte."Die durch die Begegnung mit Gerhart Hauptmann erlebte persönliche Enttäuschung („Friedensfest") wird noch kurz zu erwähnen sein. Teilweise hat man versucht (so

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R. Faesi, 1956), Wedekind hinsichtlich seiner Sonderposition zum Naturalismus an Richard Dehmel heranzurücken ohne das gleichzeitige Sich-Distanzieren zu übersehen. Aber Dehmel blieb viel zu nah bei Nietzsche, auch zu befangen im Pathos, um den Gegenzug der Parodie durchzuhalten. S. 471. „ G l o s s a r i u m " , S c h a u s p i e l k u n s t . — D a s „Glossarium" erlebte in demselben Jahre (1910) eine 2. Auflage. Aufsätze von W . v. Scholz, Fr. Freksa, 0 . Falkenberg über Theaterprobleme boten Anregungsquellen; darauf weist hin A r t u r K u t s c h e r : Frank Wedekind, sein Leben und seine Werke I — I I I , (1922—31), und zwar in Bd. III, S. 33. Sonst verwendet A. Kutscher an gegebenen Stellen Material aus dem „Glossarium", so II, S. 193f., wo er ein Sonderkapitel Wedekinds eigener „Schauspielkunst" (S. 183 ff.) widmet (mit interessanten Einzelheiten). Mehr dem Dichter als dem Schauspieler Wedekind galt der berühmte Postkartengruß Friedrich Kayßlers anläßlich der Berliner „Erdgeist"-Aufführung, der zugleich die Entwicklung über den Naturalismus hinaus bestätigt: „Wissen Sie, was Sie heute getan haben? Sie haben die naturalistische Bestie (Anspielung auf den Prolog) der Wahrscheinlichkeit erwürgt und das spielerische Element (das Theatralische im Sinne des Mimushaften) auf die Bühne gebracht. Sie sollen leben!" (zitiert nach Kutscher II, 119). Thomas Mann bekennt in einem Privatbrief (Juni 1910), daß er das „Glossarium" Wedekinds „mit ungeheurem Vergnügen, unter stürmischem inneren Beifall gelesen" habe. Der einschlägige Abschnitt bei P a u l F e c h t e r Frank Wedekind (1920), S. 161 bis 165 geht sehr bald zur Charakteristik Wedekinds als Spieler seiner eigenen Rollen über. Er sucht das Expressionistische, das damals modern war, zu betonen, indem er Wedekind neben Fritz Kortner in den Bereich der Entwicklung stellt. S. 471. T h e a t e r k r i t i k . — Neben dem „Glossarium" kommen auch die Vorworte von Dramen, ζ. B. zu „ O a h a " und dem „Stein der Weisen" in Betracht, außerdem briefliche Äußerungen usw. — Die Eigenwegigkeit und Eigenwilligkeit Wedekinds brachten es (ganz abgesehen von den moralischen, unmoralisch wirkenden Wagnissen) mit sich, daß ihm lange die Bühne verschlossen blieb und er vielfach mit der Theaterkritik und Theaterzensur zu kämpfen hatte.

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Es ist aber kennzeichnend, daß gerade die Theaterkritiker, gegen die Sudermann mit der „Verrohung in der Theaterkritik" vor allem Front machte: Alfred Kerr und Maximilian Harden, noch am ehesten Verständnis für das Neue und Kühne in Wedekinds Kunstwollen und Kunstschaffen aufbrachten. So rühmt Wedekind, daß Kerr immer vorzüglich das Werk und dessen Zukunftswert im Auge habe und weniger den Dramatiker und dessen Person: „Kerr kennt keine Persönlichkeiten, er kennt nur Werke". Den Kritiker Maximilian Harden scheint Wedekind sogar zu überschätzen; ihn beeindruckt vor allem die unerschrockene, kampfbereite „Überzeugungstreue" (die freilich auch als verblüffende Wirkungswaffe verwendet wurde). Neben Siegfried Jacobsohn ist der österreichische Kritiker und Herausgeber der „Fackel" K a r l K r a u s für Wedekind eingetreten. Einer der verständnislosesten Gegner war der naturalistische Kritiker Julius Hart. Zur Förderung noch unbekannter Dramatiker gab Wedekind u. a. die Anregung, daß die Theaterkritik die Buchfassung eines Dramas vor und damit unabhängig von einer Aufführung und deren Eindruck würdigen solle (Ausweitung des Bereichs der Theaterkritik in Richtung Literaturkritik). Wedekind hat also nicht nur blindlings der Bühnenwirkung vertraut. S. 473. G e g e n G. H a u p t m a n n s „ F r i e d e n s f e s t " . — Es sei daran erinnert, daß diese betont ablehnende Haltung persönliche Hintergründe hatte. Frank (eigentlich Franklin, staatsrechtlich Amerikaner; nach Abstammung, Geburtsort und Umwelt der Jugendzeit Deutscher bzw. DeutschSchweizer) mußte sein Vaterhaus nach einer turbulenten Familienszene (tätliche Zurechtweisung des charakterlich problematischen Vaters zur Verteidigung der weit jüngeren Mutter) verlassen, also aus demselben Grunde wie der junge Wilhelm Scholz im „Friedensfest". Eben wegen jenes Familienauftritts war Wedekind nach Zürich gegangen, wo er mit Gerhart Hauptmann bekannt wurde und sich diese innere Last von der Seele redete. Hauptmann nutzte den explosiven menschlichen Bericht als produktives künstlerisches Motiv für sein psychologisches Problemdrama einer Familienkatastrophe „Friedensfest" bis in Einzelheiten hinein. Daraufhin hat Wedekind seinerseits, nachdem ihm das „Friedensfest" zugänglich wurde (1890), das Manuskript seiner Komödie „Die junge Welt" (gedruckt 1897) wahrscheinlich erst nachträglich mit Ver-

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Stärkungen in Richtung auf eine Karikatur des detektivhaft die Wirklichkeit ausforschenden und naturalistisch herzlos beobachtenden jüngeren Gerhart Hauptmann (als Modell für den dichtenden Meier) versehen. Die anti-naturalistische Tendenz wäre also durch jene unliebsame Indiskretion zwar nicht bewirkt, wohl aber verstärkt worden (beruflos gewordene naturalistische Dichter schlagen am besten die Detektivlaufbahn ein; man kann nicht echt erleben, weil man pflichtgemäß beobachtet usw.). Einzelheiten bei A. K u t s c h e r a. a. 0., Bd. I (1922), S. 144. Knappe Zusammenfassung des Tatbestandes bei R o b e r t F a e s i : Ein Vorläufer: Frank Wedekind, in dem Sammelband „Expressionismus, Gestalten einer literarischen Bewegung", Heidelberg 1956, S. 242/43. Als Vorläufer des Expressionismus wird Wedekind kurz vorher schon aufgefaßt von H a n s L u d w i g S c h u l t e : Die Struktur der Dramatik Frank Wedekinds, Diss. Göttingen 1954, S. 135 f., der die Notlösung „naturalistischer Expressionismus" jedoch nur bedingt aufgreift. Über diese Arbeit wird noch zu berichten sein. Was Hauptmann betrifft, so weist sie im Rahmen der Kennzeichnung des Dialogs des Aneinandervorbeiredens auf die verdeckte Polemik im Gespräch Alwa/Schigolch („Pandora") hin (S. 89/90). Doch bezieht sich diese Anspielung Alwas auf das Verhältnis Hauptmann/ Wedekind nicht unmittelbar auf die Entstehung des „Friedensfestes", sondern auf das ständische Herkommen und die Zusammenarbeit (in Zürich). Immerhin sind in dieser Weise biographische Elemente mit einbezogen worden. S. 630. E n t w i c k l u n g d e s N e u e n a u s d e m „ N a i v e n " u n d (w. P.) „ P r i m i t i v e n " . — T h o m a s Mann hat in jenem erwähnten Brief über Wedekinds „Glossarium" vom 21. 6 . 1 9 1 0 mit knappen, sicheren Strichen eine Wesensskizze bemerkenswerter Art gegeben: „Sie sind ganz darin (im „Glossarium") gegenwärtig mit Ihrem hohen Ernst, Ihrem verbissenen Humor, Ihrer bis zur Wildheit gehenden Leidenschaft, Ihrer drastischen, seltsam tragfähigen Rhetorik, Ihrer glühenden Naivität. Wollen Sie diese letzte Wendung nicht mißverstehen! Sie schließt das nicht aus, was man .Verschlagenheit aus Tiefe' nennen könnte". Wie hier die relative Naivität, wird von F r i e d r i c h G u n d o l f in seinem Wedekind-Essay (1948 bzw. 1954) etwas allzu stark das „Primitive" und Urtümliche hervorgehoben. Dazu bietet ihm einen günstigen Ansatzpunkt die Schwabinger

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Anekdote, daß der junge Kunsthistoriker W i l h e l m W o r r i n g e r den damaligen Wedekind halb im Scherz, halb im Ernst gedeutet habe „als einen Gorilla, der sich in die Zivilisation verirrt habe und darin verlegen umherstapfe". Diese Drastik paßt zum Tierbändiger-Prolog des „Erdgeistes". Jedenfalls verfolgt Gundolf sein Stichwort von der fast „tierischen Ursprünglichkeit" mit Zähigkeit, keineswegs um Wedekind zu desavouieren, sondern um ihn möglichst treffend zu charakterisieren. Es reizte ihn offensichtlich, auch ein schroffes Gegenbild zum Goethebild bannkräftig beschwören zu können (Zwischenstufe, an die er anknüpft: seine Kleist-Darstellung; Uberbriickung: Shakespeare-Darstellung). Etwas stark betont er den, .nackten Naturalismus", räumt aber (gebotenerweise abhebend) ein, daß der „literarische Naturalismus" (abgesehen von einigen Werken G. Hauptmanns) „nicht wie der Wedekinds aus einer Herrschaft (!) und Fülle" gekommen sei „ . . . nicht aus Vision, wie die meisten Dramen Wedekinds, mag einem der Inhalt der Visionlieb oderwidrig sein" (S.27). Der Horizont Wedekinds, überhaupt sein geistiges Niveau wird nicht hoch eingeschätzt („Rütteln an den Gittern seines beschränkten Geistes mit den Kräften seiner genialen Natur", S. 35). Was aber W i l h e l m W o r r i n g e r betrifft, so sei nicht nur zu seiner kaum erforderlichen Entlastung wegen des Gorilla-Vergleichs, sondern wegen des klaren Blicks für das „Neue" sowohl in Haltung wie Gestaltung Wedekinds ein sogar gedrucktes Zeugnis (Münchener Almanach 1905) beigefügt: „Ich schätze Wedekind als den größten und stärksten Künstler unserer Zeit, nicht nur in Deutschland vielleicht. Der Einzige, der etwas wirklich Neues zu sagen hat und dies auf eine neue Art sagt" (vgl. A. Kutscher III, 12). Nicht zuletzt dürfte der entwicklungsmäßige Einfluß Wedekinds darauf zurückgehen, daß er, aus welchen Quellen auch immer genährt, ein als n e u a r t i g E m p f u n d e n e s z u g l e i c h in eine n e u a r t i g e F a s s u n g zu bringen verstand, wenn auch gelegentlich etwas gewaltsam. Insofern dürfte er auf der Bühne erst wieder von Bertolt Brecht erreicht und zeitgemäß überholt worden sein. P a u l F e c h t e r : Frank Wedekind, der Mensch und das Werk, Jena 1920, dessen Darstellung zwischen Literaturwissenschaft und Publizistik schwankt, glaubt noch das Neue in der Form zurückstellen zu können (S. 27), wenn er sich auch bei den Einzelinterpretationen genötigt sieht, die

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lockere Form der Szenenfolge („Frühlings Erwachen") als damals neuartig anzuerkennen (S. 42), letztlich in Widerspruch zu der allgemeinen Entscheidung (S. 27). Sein Hinweis auf die Parallele Frank Wedekind/Juüus Bahnsen (ästhetische Theorie) ist an sich dankenswert, bleibt jedoch zu flüchtig (S. 19). Bemerkenswert ist dabei der Ansatz zum Gedanken einer werkimmanenten Poetik: „Man könnte aus dieser Antithetik der Wedekindschen Stellung zur Welt eine ganze Ästhetik seines Dramas ableiten, die der Julius Bahnsens nahe kommen würde, nur daß die versöhnende Synthese im Humor (also doch das Wesentliche) ausbliebe". Allerdings geht dieser Ansatz mehr vom Weltbild und Lebensgefühl als vom Kunstwerk aus, stellt also nicht das Werkimmanente in den Vordergrund. P. Fechter übersieht, daß für Wedekind jene Synthese letztlich im Tragikomischen liegt. Denn daß man Wedekind nicht mit dem früheren Tragikbegriff beikommen kann, ist schon seit A. Kutscher allgemein bekannt. Ähnlich ist der Hinweis auf das frühe Tagebuchfragment von 1883 (gedruckt im Novellenband „Fürstin Russalka") unter dem kennzeichnenden Titel „Ich langweile mich" im Grunde begrüßenswert. Aber wieder bleibt er isoliert und unausgewertet für den größeren Zusammenhang. Von hier aus hätten sich instruktive Perspektiven in die „Langeweile" der sog. „Zerrissenen" im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts (darunter auch Georg Büchners) eröffnen lassen. Im weiteren Verlauf reiht Fechter im wesentlichen die Einzelanalysen der Dramen aneinander, ohne die angedeuteten Leitgedanken der einleitenden Teile weiter zu verfolgen. S. 632. O f f e n h e i t der A u s s a g e . — Auf eine gewisse Verwandt(w. P.) schaft Wedekind/Jahnn verweist, besonders auch nach der thematischen Seite hin, E d g a r L o h n e r : Hans Henny Jahnn, in: Expressionismus, Gestalten einer literarischen Bewegung, Heidelberg 1956, S. 323. Dieser Bezug hätte etwas mehr ausgebaut werden können (er liegt nicht nur „thematisch" vor); auch verwirrt der gleichgerichtete Hinweis auf Fritz von Unruh die Klarheit des Bezuges. Gemeinsam wäre ζ. B. die hohe Bewertung der Erstmaligkeit der Aussage (Η. H. Jahnn: „aus erster Hand") und die quälende Dämonie. Abweichend dagegen wäre der latent religiöse Einschlag bei Η. H. Jahnn und dessenTiersymbolik, die sich ja keineswegs auf die wilde Bestie beschränkt.

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S. 632. D i a l o g des A n e i n a n d e r v o r b e i - R e d e n s . — Darauf (w. P.) geht im Rahmen der stilistischen Partien seiner Untersuchung ein H a n s L u d w i g S c h u l t e : Die Struktur der Dramatik Frank Wedekinds, Diss. Göttingen 1954 (Maschinenschrift-Expl.), S. 41 f., 89/90. H. L. Schulte folgt der Interpretationsmethode und beschränkt sich im wesentlichen auf den „Erdgeist" und „Die Büchse der Pandora". Doch werden auch die übrigen Dramen vergleichend herangezogen (S. 151 ff.). In der Beobachtung stilistischer Eigenheiten und ihrer Kombination mit den Struktur-Merkmalen liegt nicht zuletzt der Wert dieser Bemühungen. Denn das Prinzip der „Reihung" der Akte (und deren teilweiser Austauschbarkeit) wie auch das Unterbrechen der Steigerung im Geschehensrhythmus durch Umbrüche desillusionierender Art (vielfach von groteskkomischem Gepräge) war schon vorher bekannt, so daß hier nur feinere Abstufungen übrig bleiben. Wichtig ist der Hinweis darauf, daß diese Umbrüche ins Komische das Tragische an sich nicht völlig aufheben, sondern es gleichsam nur unterbrechen, um so den kritischen Abstand des Zuschauers zu fördern. Sie sollen mehr den Zuschauer aufrütteln als das Tragische zerstören. Von hier aus und von jener „Reihung" aus ist der Weg nicht weit zu der „Verfremdung" und zum „epischen Drama" Bertolt Brechts. Schulte hält sich, soweit er überhaupt Theorien heranzieht, vorwiegend an Emil Staiger, Wolfgang Kayser und (sehr betont) an Thomas Stearns Eliot (Selected Essays 1932, The use of poetry and the use criticism 1933, Poetry and drama 1951). Mehrfach wird die Möglichkeit erwogen, Wedekind vom Surrealismus aus zu verstehen (S. 48—53, 60, 94, 113 Georg Kaiser, 136 u. ö.). Doch wird der Begriff „desillusionistisch" gegenüber „surrealistisch" bevorzugt (S. 61), weil er genauer verbesondere und feiner abstufe. Schulte übersieht dabei jedoch, daß Wedekind so in den Desillusionismus der Neuromantik bzw. der Dekadenz gerät (vgl. A. Schnitzlers „Anatol" usw.), also in der „Desillusionistik" (so Schulte!) kein spezifisches Merkmal vorliegt. Er übersieht auch, wenn er Grabbe als unmittelbaren Vorläufer und Brecht als unmittelbaren Nachfolger Wedekinds bezeichnet (S. 60), daß erstens neben Grabbe auch Büchner zu erwähnen wäre und daß zweitens das zeitliche Verhältnis Wedekind/Brecht kein klares Nacheinander darstellt. Der frühe Wedekind konnte als

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Theater-Hilfsregisseur in Kiel bereits auf die ersten Dramen Bertolt Brechts zurückgreifen. Es wäre nicht einmal abwegig, gewisse Wechselbezüge ins Auge zu fassen (Wedekind kam mit seinen Dramen erst sehr s p ä t an die Öffentlichkeit). Dagegen ist die Nachfolgelinie Wedekind/Sternheim eindeutig. Die Linie zu Hans Henny Jahnn berücksichtigt Schulte nicht. Hinsichtlich des Verhältnisses zum Naturalismus rächt es sich, daß die Enge der Interpretationsmethode „nur" aus dem Dichtungswerk den Verfasser nicht auf den Gedanken kommen läßt, Wedekinds eigene theoretisch-kritische Äußerungen auszuwerten. Wenn man T. S. Eliot befragt (wie das ζ. Z. modisch ist), warum dann nicht zunächst einmal Wedekind selber ? Da die Arbeit schwer zugänglich ist, seien einige Einzelerträge vermittelt: in der „Pandora" spielt neben dem Lusterwerb auch der Gelderwerb eine größere Rolle, die lockere Reihung und der Kunstgriff der Wiederholung (von Strukturgliedern, aber auch von Stilformen) ist weniger stark ausgeprägt als im „Erdgeist". Daß jedoch das Stilniveau sich weiter dem „Slang" und „Klischee", überhaupt dem Vulgären nähert, entspricht einfach dem Abstieg in Geschehen und Milieu. Uberhaupt liegt die Problematik des Stils Wedekinds nicht nur im Einbeziehen der Alltagssprache. Das wäre Naturalismus. Das Spezifische, Komplizierte liegt vielmehr im Reportagehaften und ζ. T. bewußt Kolportagehaften und der Art seiner Verwendung. Aber das geht bereits über H. L. Schulte hinaus. S. 638. D e r s t ä r k s t e T r u m p f . — In einem Briefentwurf, der für (w. P.) Georg Brandes bestimmt war (Berlin, Ende 1908 bzw. Anfang 1909) dankt Wedekind dem bedeutenden Kritiker für dessen Essay im „Pester Lloyd". Es ist fast rührend, wie der nicht verwöhnte Dramatiker das Positive herausfindet. Er fühlt aber natürlich auch die Abwehr der „auffallendsten Seite meiner Produktion" durch Brandes. In dem Zugeständnis liegt zugleich ein gewisser Stolz: „Ich gebe auch ohne weiteres zu, daß ich dieser einen Absonderlichkeit alles übrige verdanke". Freimütiger als sonst und wohl etwas selbstkritischer, als er eigentlich empfinden mochte, gesteht er hier die Fragwürdigkeit seines stärksten Trumpfes, den er als solchen jedoch deutlich erkannt hat; vgl. Frank Wedekind: Selbstdarstellung aus Briefen und anderen persönlichen Dokumenten, München 1954, S. 76. — An sich ist Frank Wedekind nicht entfernt in dem Maße 57

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wie etwa Thomas Mann zu einer Selbstdarstellung und vor allem zu einer eingehenden und umfassenden Selbstdeutung seines Kunstschaffens geneigt. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhange besonders die Absage an den Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift „Aktion" Franz Pfemfert, der ihn zu einem Vortrag für die „Aktion"-Leser eingeladen hatte. Wedekind begründet seine Absage so: er habe „das Beste, was ich zu finden imstande war", dargestellt, so daß ein deutender, also selbstdeutender Vortrag nur eine Abschwächung bewirken könne, und zwar „inhaltlich sowohl wie künstlerisch". Dramen müßten zudem von der Bühne aus wirken, um „wirklich zur Geltung" zu gelangen (Januar 1912), a. a. 0., S. 80. Hinsichtlich des Dramas scheint er (etwa ein Jahrzehnt vorher) vor allem die geeignete Handlungsfabel zu schätzen: „Wenn ein Drama richtig gedacht ist, sei es noch so stümperhaft ausgeführt, dann läßt sich immer noch was daraus machen. Ist es aber von vornherein falsch gedacht, beruht es auf falschen Voraussetzungen, dann läßt sich nie und nirgends was daraus machen". Allerdings ist diese Bemerkung nur in persönliche Bekenntnisse (Liebeskonflikt) eingeflochten (an Beate Heine, August 1898), a. a. 0., S. 38. Jedenfalls liegt der Akzent mehr auf dem Finden eines echten dramatischen Konflikts als auf der Ausgestaltung. S. 639. S p e z i a l i s t e n d r a m a , S t o f f e r w e i t e r u n g . — Im Zu(w. P.) sammenhang mit dem parodistischen Drama „Musik" berührt Wedekind das Verhältnis von Stoff und Gattung bzw. gattungsmäßiger Sonderform und zugleich seine Vorliebe für stimmungsmäßige Grenzgebiete. Der vorgefundene Stoff scheint ihm nicht zu einer schicksalhaften Tragödie oder auch nur zum ernsten Drama geeignet zu sein, aber andererseits doch mehr zu enthalten als den Kern zu einer bloßen „Biertischzote". Er entschließt sich also zur parodistischen Umwertung: „Die künstlerisch einzig gerechtfertigte Form schien mir die Parodie zu sein". Wenn Offenbach eine künstlerisch „hochstehende parodistische Musik" geschaffen habe, „warum", so fragt Wedekind, „sollte nicht auch ein künstlerisch achtbares parodistisches Drama möglich sein?" (Briefentwurf 1908/09) a. a. 0., S. 75. Uberhaupt nähert sich das für Sexualprobleme zuständige Spezialdrama Wedekinds weitgehend der Parodie. Von einer ganz anderen Seite wie der Roman-

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cier Thomas Mann gelangt also auch der Dramatiker Frank Wedekind zur Notlösung des Parodistischen. — Mehr auf das Gebiet der Schauspielkunst verweist die Anekdote aus dem Tagebuch (etwa 1908/09) gelegentlich des „Zensur"-Einakters, die eingeleitet wird durch die Beobachtung, daß der Schauspie 1 sr im Versdrama das akzentierte Wort leichter trifft 487 u. ö. V o l k s t u m und das V o l k s t ü m l i c h e S. 48, 72, 76, 149, 150, 1 5 1 , 197, 206, 216 (T), 328, 332 (T), 334, 339 (T), 340, 341, 344 (T), 820, 823 (T), 825.

„ V o l k s g e i s t " und „ V o l k s s e e l e " S. 149,150,151,332,338 (T). Geschichte und Dichtkunst

Allgemeines S. 17 (T), 71, 77, (88), (94), 95, 98, 114, 159, 199, 266, 386, 682, 855,

312, 324, 325, 326, 330, (338), 340, (356), 374, (378), 387, (452, 453), (466), 486, (526), 579, 636, 669, 681, 687, 7 1 3 , 714, 723/4, 724, 728, 730, 748, 802, 807, 812, (887), 902, 911, (927), 947.

Abwehr der H i s t o r i e und B e d e n k e n gegenüber h i s t o r i schen Motiven und P e r s o n e n S. 17 (T), 38, 39, 71,

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

94/95. ("4). 159. *99. 266 (T), (325), 340,356,374, (385/86), 452 . . . ,586, 723, 728. D i c h t u n g und Datentreue, K u n s t w a h r h e i t und Ges c h i c h t s w i r k l i c h k e i t S. (29/30), 71, 77, 324, 340, 636, 724, 911.

H i s t o r i s c h e M o t i v e u n d C h a r a k t e r e (in D r a m a , R o m a n u s w . ) S. 17 (T), 29, 71, 77, 88, 95, 98, 312, 324, 325, 330, 340, 374. 386, 387. 466, 486, 571. 572, 579. 681, 682, 728, 730. S t e l l u n g z u m H i s t o r i s m u s S. 71, 325 („Historizismus"), 340, 452, (453), 812, 887. „ N a t u r a l i s t i s c h e r H i s t o r i s m u s " S. 587, 724. H i n e i n v e r a r b e i t u n g v o n G e g e n w a r t s i n t e r e s s e n in h i s t o r i s c h e D i c h t u n g e n (Verhältnis von Geschehenszeit und Entstehungszeit) S. 29, 49, 95, 325, (387), 486, 902, 947. B e v o r z u g u n g des R e i n m e n s c h l i c h e n gegenüber dem s p e z i f i s c h H i s t o r i s c h e n (Vermenschlichung des Historischen) S. 723, 724, 911/12. S t e l l u n g z u m M i t t e l a l t e r S. 31, 94, 317, 556, 673. D i e C h r o n i k ( a l s d i c h t e r i s c h a u s w e r t b a r ) S. 340, 724. K u l t u r g e s c h i c h t e S. 338, 651, 669, 672, 724, 755, 759,829,911, 915. 963· L i t e r a t u r g e s c h i c h t e S. 15, 23, 88, 97, 142, 158, 195 (T), 318, 320, 413 (T), 652, 673 (T), 675, 680 (T), 681, 683,684,698, 709, 717, 742, 874, 877, 883, 886, 887, 888, 889, 930. Politik und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 1 (T), 2 (T), 5, 6, 7, 1 3 , 1 7 , 22, 24, 25, 28, 33, 34, 35, 3 6 - 39. 4 ° . 41. 42. 44. 45. 4 6 · 49. 52, 54, 55. 56, 59- 6o > 65, 66, 68 (T), 69, 70, 71, 73, 74. 76, 78, 80, 82 (T), 87, 88, 92, 94, 98, 100, 108, 109, 115, 117, 118/19, i2i, 123, 125, 140, 146, 155, 173, 176, 180, 181, 184, 205, 208, 215, 216, 218, 223, (228/29, T), 234, 235, 237, (272), 277, 283, 292, 293, 296, 297, 299, 300, 311 (T), 312, 313, 316, 319, 320, 3 2 3 . 324. (325), 326, 330, 332, 334, 336, 337. 33®. 339. 344. 354, 356, 361, (374, 385), 389 (T), (390), 393, 395, 397, 398, 399, 400, 401, 402, 4x2, 414, 415, 434, 435, 453, 454, 455. (459), 464, 466, 467, 470, 472, 475, 476, 480, 481 (T), 482 (T), 485, 487, 500, 507, 508, 5 1 1 (T), 514, 519 (T), 520, 521, 522, 524, 525. 531. 532, 533 (T). 534. 535 (T)> 53^ (T), 537. 538, 539, 540, 541, 542, 543, 544, (550, 554), 562, 563, 5^4, 565, 566, 567, 568, 569, (572), 573, 575, 578, 579—81, 583, 584, 585 (T), 586, (600), 602, (603), 606, 611, 615, 619, 620, 621,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

977

624, 634, 635, 636, (643), 644, 647, 648, 649, 652 (T), 658, 660 (T), 662, 663, 664, 714, 716, 719, 721, 745, 748, 749, 754, 766, 767, 768, 802, (805), 806, 812, 816, 818, 820/21, 822, 823, 833, 834, 835, 841, 842, 843, 844, 850, 851, 862, 879, 880, 890, 894, 915/16, 917, 923/24, 925 (T), 929, 931, 932> 936, 937. 945. 947/48. 951. 952, 953. 954. 955. 957V e r h ä l t n i s v o n ' P o l i t i k u n d P o e s i e (allgemeine Problemstellung; besonders Zwiespalt und Diskrepanz) S. 32/33, (74), 155, 205, 215, 218, 223, 234, (272), 313, 320, 325, 326, 33°. 336. 354. 356, 399. 401. 476, (536), 5 6 8 . 582 766, (77o). (850), 947· P o e s i e im D i e n s t e d e r P o l i t i k (Primat oder Prävalenz der Politik) S. 32/33, 115, 157, 181, (184), 296/97, (330), 337— 39. 464. 535. 562, 619, 721, 842—44, 850, 947, 9 5 1 .

P o e s i e im B ü n d n i s m i t d e r P o l i t i k (und Bejahung der weltanschaulichen Tendenz) S. 79, 83 (T), 99, 115, 121, 125, 208, 277, 296/97, (320), 356, 399, (455), 466, 533, 537, 538, 539. 562, 568, 582, 923. P o e s i e in A b w e h r s t e l l u n g z u r P o l i t i k (und Verneinung der weltanschaulichen Tendenz) S. (18,) 32, 59, 60, (62), 65, (79), 83, 98, (121, 123), 149, 155, 157, (176), 205, 208, 218, 223, 234. 320, 354, 356, 361. · · · 766, 767. 802, 925 (T). T e n d e n z u n d W i d e r s t r e i t v o n T h e o r i e u n d P r a x i s in der T e n d e n z - F r a g e S. 32, 59, 60, 125, 176, 361, 721, 748, 749, 754, 843, 845, 951, 952. K u l t u r p o l i t i s c h e s I n t e r e s s e (durchweg allgemeiner Art) S. 5. 59. I 55. 181. 228/29, 235, 297. 3 " . 313, 320, 336, 337/38. 339. 354. 398, 399. 4Σ4. (48i), 500, 535. 7 6 8 . 818 820/21, 822, 823, 835, 843, 929, 931. S o z i o l o g i e u n d P o e s i e (durchweg allgemein) S. 22, 24, 40, 42, 46, 82, 87, 140, 173, 283, 3 1 1 , 397, 454, 480/81, 535, 564. 5 6 7. 573. 575. 843, 9 ^ . 9 l 6 . 9*7. 936. D a s S o z i a l e (im engeren Sinne, einschließlich Sozialismus u. Ansätze) S. 7, 13, 17, (18), 25, 28, 32, 35, 36, 39, 42, 52, 54. 5 6 - 59. 63, 68, 69, 70, 74, 78, 80, 87, 92, 94, 98 (Terminus), 108, (109), 121, 155, (173), 176, 180, 181, 184, (205), 215 (Terminus), 216, 218, 277, 283, 297, 300, 311 (T), 313, 323. 324. 326, (339). 356. 361, (393). 395. 397. 399. 401. 412, (434), 448, 453, 454, 464, 476, 480, (481), 482, 485, 487. (5o8), 533f., 541. 542. 562, 565. 566, 567, 569. (572), 579, 581, 583, 584, 585 (T), 615, 621, 624, 644, 647, 648, 652, 657, 658, 659 (T), 660, 714, 748, 833, 834, 851, 902, (912), 924, 960. 62

M a r k w a r d t , Poetik V

978

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

G e s e l l s c h a f t u n d G e s e l l s c h a f t s k r i t i k (auch als dichterisches Motiv) S. ι (T), 2, 3, 7, io, 19, 26/27, 27/28, 29, 3 4 , 36, 39, 40, 42, 46, 54, 5 6 , 57, 5 9 , 66, 76, 87, 113, 155, 180, 205, (239), 283, 2 9 7 , 453 (T), 519 (T), 5 2 0 , 5 2 1 , 531, 5 3 2 , 5 3 5 CT). 5 3 7 . 5 4 ° . 5 4 2 , 5 4 4 . 5 6 3 . 5 6 4 , 5 8 2 ( T ) , 601, 644, 715, 716, 719, 728 (T), 812, 8 4 2 , 8 4 3 , 882, 890 (T), 9 1 4 — 1 6 ,

923, 929, 930, 931, 935, 936, 937, 9 5 1 ,

952.

P r o b l e m a t i k d e s v i e r t e n S t a n d e s (auch als dichterisches Motiv) S. 7, 1 7 , (47), 56, 57, 1 1 7 , 118/19, 120, 1 2 1 , 467, 567, . . . 7 5 0 , 8 0 2 . A r b e i t e r f r a g e u n d A r b e i t a l s d i c h t e r i s c h e s M o t i v (vorwiegend Handarbeit) S. 7, 9, 17, 21, 2 3 , 28,62,100 . . . , 293, 480, 4 8 8 , 544, 5 6 7 , 569, 5 8 1 (T), 582, 620, 749, 750. Ö k o n o m i e u n d P o e s i e (Wirtschaftsproblem auch als dichterisches Motiv) S. 12, 70, 1 0 8 , 109, X 2 i , 1 5 5 , 180, (205), 292, 2 9 6 , 297, 299, 312, 319, 321, 3 4 9 , (356), 472, 534, (562), 567. 579. 582, 584, 590, 602, 606,634 · · · > 766, (844), 915, 923,

932.

B e w e r t u n g und E n t w e r t u n g von „ Z e i t g e i s t " und „ G e g e n w a r t " (Zeitbestrebungen, durchweg politischer Akzent) S. 1, 2 , 17, 2 0 , (23), 2 9 , 3 1 , (38), 5 2 , 59, (71), 72, 74, 8 3 , 88 (T), 92, 99, (113/14). J 5 5 . J 7 6 . l 8 o , 181, 234, 235, 237. (249). 2 7 3 . 3 2 5 . 326, 336, (337). 3 5 4 . 3 5 6 , 3 7 3 (T),

397.

399. 402 (T), 413 (T), 507, 5 3 5 , 586, 6 2 0 , 6 2 1 , 8 1 6 , (829), 869, 890 (T), 894, 912, 947, 952. B e w e r t u n g d e s B ü r g e r l i c h e n S. 10, 16, 3 5 , 59, 463, 4 6 4 , 543, 868/69, (874), 882 (T), 934, 935. 937· E n t w e r t u n g d e s B ü r g e r l i c h e n (auch als dichterisches Motiv) S· 1. (35). 54. 416, (463), 470, 543. 842 (T), 8 4 3 , 8 4 4 , (874), 890, 9 3 2 , 935. F o r t s c h r i t t l i c h k e i t u n d T r a d i t i o n s g e b u n d e n h e i t (das Revolutionär-Progressive und ,,Reaktionär"-Konservative) S. 5 , 6 , 15, 16, 17, 42, 49, 52, (71), 73, 74, 94, 9 8 , 100, 1 4 6 , 152, 155, (173, 297), 317, 3 4 3 , (397, T), 415/16, 466, 485. 581/82, 584, (636), 729 (T), 733, 746, 766, (768), 890, 894. 9°2, 916, 934/35. 937.

954·

Verhältnis bzw. Konflikt: Idealismus/Materialismus (bzw. „Realismus", auch als dichterisches Motiv) S. 2, 1 0 , n / 1 2 , 1 2 , 16, 21, 24, 3 7 , (51), 55, (66), 68,70,73,86 (T), 87, 88,95, 101, 114, 2x5, 296,297,312,332, (337). 399.459.563, (682), (711), 749, 761 (philosophisch), 7 6 9 , 8 2 2 , 8 6 4 , 9 1 2 . Verhältnis bzw. Konflikt: Großstadt/Land bzw. Kleins t a d t (und das Großstadtmotiv als Träger weltanschau-

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND KENNWÖRTER

979

licher Tendenzen) S. n , (30), 41, 43, 217, 323, 330, 334, 336 (T), 337, 338, 339, 344, 364, 820, (821), 822, (840). B e w e r t u n g u n d E n t w e r t u n g d e r „ M a s s e " (Stellung zum „Durchschnitt" und „Volk") S. 31, 138, 141, 150/51, 154, 159, (198), 205, 216, 219, 261, 296, 308, 311, 312, 313, 3J9> 332, 336. (465).

619/20, 7 1 6 ,

802, (812, T ) , 820/21,

822, (897), 902, (912). E m a n z i p a t i o n d e r F r a u (auch als dichterisches Motiv) S. 25, 27. 28, 31, 32, 35, (54), 56, 59, 60, 65, 70, 71, 399, 566, 567, 568, 569, 619, (635). K r i t i k an den „ Z u s t ä n d e n " u n d den „ V e r h ä l t n i s s e n " (Milieu-Kritik als Spielform der Gesellschaftskritik; auch als dichterisches Motiv) S. 26, 27, 41, 42, 76, 87, 155, 180, (218), 312, 323, 354, 541, 565, u. ö. S t e l l u n g z u r D e m o k r a t i e (Bewertung und Entwertung) S. 78, 154, 205, (216/17), 311, 323, (338, 361), 364/65, 398> 501, 533, 57 8 , 6 6 7 , 698, 7 00 < 902, 947/4», 95*- 954·

Religion und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 5, 7, 8, (10, 11), 13, 19, 30, 31, 33, 41, 42. 44, 45- 46, 47, 4 8 , 5*. 52> 53 (T), 5970, 84, 99, 101, 135, 140, 152, 157, 158, 161, 173, 174, 181, 193, 194, 195, 197, 199, 200,

36, 37, 40 (T), 60, 61, 62, 63, 162, 163, 164, 215, 216, 217,

2 1 8 , 219, 222, 223, 228, 229, 230, 232, 236/37, 242, 244, 245, 246, 247, 255, 256, 258, 259, 260, 265, 267, 279, 293,

296, 297, 299, 330, (332), 333, 334, 346, 347, 354, 364 (T), 370, 386, 388, 393, 395, 397, 399, 402, 408, 414, 415, 416, 423, 431, 437, (442), 448, 453, 455, 466, 471, 475, 481, 482, 487 (T), 489, 519, 522, 550, 554, 567, 575, 576, 5 8 4 (T), 594 (T). 600, 603, (606), 614, 617, (621), 622, 623, 624, 625, 626 (T), 627, 628, 635, (637). 645, 648, (654), 664, 665, 669, 671, 698, 699,

356, 4°9> 470, 563, 615, 636, 700,

701, 7 1 5 , 7 1 9 , 725, 726/27, 7 3 6 , 7 3 9 , 740, 744, 745 (T), 748,

757, 758, 759, 762, 763, 769, 775, 777, 778, 779, 782, 783, 787, 790, 793, 794, 799, 803, 805/06, 808, 8 1 9 , 821 (T), 822, 845/46 (T), 849, 851, 853, 855 (T), 860 (T), 862, 865, 868, 869, 871 (T), 874, 875 (T), 881, 885 (T), 902, 9 0 3 - 0 8 ,

(922), (948), 959, (960), 961. R a n g s t u f e u n d B e w e r t u n g d e r R e l i g i o n S. 30, 48, 96, 200, 219, 220, 222, 244, 246, 255, 297, 333, 346, 624 700, 740, 745, 757, (762), 822. P o e s i e i m B ü n d n i s m i t d e r R e l i g i o n S. 41, 45/46, 193, 214, 217, 219, 232, 244, 334, 346, 354, 364, 409, 62·

193, 347, (96), 431,

980

VERZEICHNIS D E R B E G R I F F E , MERK- UND KENNWÖRTER

563, 594. (600), 614, (623), 628, 665, (669, 698), 700, 725, 757. 9°3> 904· R e l i g i ö s e T r a g s c h i c h t u n d A u f f a n g s s t e l l u n g (Religion als letzte Instanz) S. 19, 36, 37, 42, 45, 51, 6 0 , 1 0 1 , 1 8 1 , 1 9 3 , 244, 246/47, 279, 296, 409, 423, 567 614, 622, 624, (673), 700, 701, 725, 756. R e l i g i ö s e M o t i v e i n d e r D i c h t u n g (und Dichter religiöser Haltung) S. 7, 22, 36, 37, 40 (T), 41, 46, 47, 51, (140), 193» ( I 95). (200), 219, 221, 229, 230, 232, (235), 236/37, 247 ( T ). 255> 2 56 (T), 257 (T), 259, 260, (264), 265, 279, 299. (332), 333. 346. 354. 356 (T), 370, (386), 388, 393, 394, 395. 414/15. 442. 455. 475 (T), 487 (T). 547 f ·. 55*. 576. 584 (T), 594 (T), 6oo, (606), 614, 617, 622 (T), 623, 625 (T), 626 (T), 627, 635 (T), 645, 664f., 669, 700, 719, 723, 725, 739. 740. 741. 745 (T), 756/57. 759- 761—63. 777. 778, 779. 783, 787. 805, 806, 808, 819, 821, 822, (829), 834, 835, 836, 845, 846, 849, (850), 853, 854, 855, 860, 868, 870, 871, (880), 882, 902, 903, 904, (905), 928, 958f., (962). E r b a u u n g s d i c h t u n g (und Übergänge) S. 36, 37, 40 (T), 42, 44, 46, 51 256 563, 594, 600, 623, 745 (T). S t e l l u n g z u r M y s t i k (und das „Mystische", zum Teil säkularisiert) S. 52, 61, 63, 214, 217, 220, 227, 238, 242, 244, 254. 255. 259. (260), 261, (321), 330, 414, (422), 423, 431, (436), 554. (615). 787. 795. 807 (T), 821, 846, 847, 849, 850, 853, 859, 871, 902, 903, 908. V e r h ä l t n i s v o n e c h t e r M y s t i k u n d V u l g ä r - M y s t i k S. 181, 259, 299, 308, 310, 311, 423, 436/37. 614, 621. Religion im V e r h ä l t n i s zum Mythischen und zur Myt h o l o g i e (Verbindung oder Verquickung) S. 217, 221, 223, 229, (242), 244, 267, (401), 434, 614, 615, 622, 636, 902. Religion im V e r h ä l t n i s zum M e t a p h y s i s c h e n und zur M e t a p h y s i k (religiöser Bezug) S. 48, 181, 399, 434, 449, 726, 795, 796, 845, 873. 874· M e t a p h y s i s c h e r , r e l i g i ö s e r N e u s y m b o l i s m u s (vgl. Epochen, Vorgriffe). R e l i g i o n i m V e r h ä l t n i s z u m S y m b o l i s c h e n (und religiöse Symbolik) S. 61, 84, 244, 257 (T), 259, (293, T), (374), 466, 594, 603, 604, 614, 622, 699, 744, 871. R e l i g i o n im V e r h ä l t n i s z u m T r a n s z e n d e n t e n und zur T r a n s z e n d e n z S. 8, 52, 96, 97, 437, 563, 575, 822, 871. V e r h ä l t n i s d e s R e l i g i ö s e n z u m S o z i a l e n S. (7), 42, 44, 45, 46, (216), 228, 279, 397, 399, 448, 481, 584, 615, 624, (745). 748.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

981

V e r h ä l t n i s des R e l i g i ö s e n zum N a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n S. 8, 84, 99, 1 0 1 , 1 7 3 , 346, 399, 563, 575, (727). V e r h ä l t n i s v o n R e l i g i o n u n d K u n s t (auch jenseits der Poesie, allgemein) S. 30, 44 (T), 45, 5 1 , 52, ι ο ί , 164, 1 7 3 , 193. 242, 334. 364 (T), 448. 470, 471. 475- 489. 519. 55°. 563. 575. 600, 603, 665, 757, 758, 874, 903—08, 922, 963. K ü n s t l e r i s c h e s S c h ö p f e r t u m (religiös gedeutet, z. Teil säkularisiert) S. 6, (13), 37, 85, 96, 219, 409, 416, 628, 665, 740, 745· T r a n s p o n i e r e n d e r T r a n s z e n d e n z (Säkularisation religiöser Vorstellungen u. Termini, Umsetzung religiöser in poetische Vorstellungen u. umgekehrt). S. 5, 6, 8, (11), 1 3 , (26, 27), 6o, 149, 158, 1 6 1 , 162, 163, 1 7 4 , 198, 200, 2 i o , 229, (293, T), 401, 4 1 2 , 416, 475, 489, 5 1 9 , 522, 552, 554, 556, 758, 767, 874 (obere „Mächte"), 903, 904, 918. D a s „ G ö t t l i c h e " u n d „ H e i l i g e " u n d „ E w i g e " (der Gott u. „die Götter", Verhältnis: Religiosität/Humanität) S. 5, 8, 37, 9 6 , 1 7 4 , 2 1 0 , 222, 223, 259, 354, 4 1 3 , 4 1 4 (Profanierung), 557. 603, 628, 776, 787, 793, 903 („Gott" u. „Götter"), 922. . . P r o p h e t e n t u m " u n d „ P r i e s t e r t u m " d e s D i c h t e r s (die „gottbegnadete" Sendung) S. 10, 96, 193, 194, (198), 2 1 5 , 218, 222, 223, (255), 267, 401, 408, 409, 447, (627), 790, 821. Innerlichkeit, Verinnerlichung, innere Wirklichkeit (religiöser Akzent) S. 37, 42, (48, 50), I8I, 1 9 3 (T), 2 1 5 , 245. 394. 422, 5 5 1 . 745. 757. 789. 79°. 822, 869 (T), (937)· P r o f a n e s R e l i g i o n s s t i f t e r t u m S. 37, 40, 135, 1 5 2 , 1 5 7 , 220, 466, (614/15), 752, 846. P r o b l e m a t i k der spezifisch c h r i s t l i c h e n E i n s t e l l u n g (Ausschnitt) S. 787, 788, 821, (847!), 874, 902, 903, 904—08, 918. K r i t i s c h e S t e l l u n g z u r R e l i g i o n S. 5, 30, 31, 59, 84, (97), 99, 1 3 5 , 164, 1 7 3 , 174, 297, (321, 386), 455, 470, 4 7 1 , 8 2 1 , (874), 915, (960). P r o b l e m a t i k d e r „ V e r g o t t u n g " u n d , , V e r g ö t z u n g " (Ausschnitt) S. 603, 605, 645, 767, 849, 905, 918. D i c h t e r i s c h e G o t t e s v o r s t e l l u n g und „ G o t t s u c h e r t u m " S. 222, 259, 260, 346, 395, 438, 550, (726/27), 762, 794, 849, 850, 855, 902f., 918. V e r h ä l t n i s von Theologie und Religion, K i r c h e und G l a u b e n (und kirchenpolitische Faktoren) S. 5, 30, 36, 44, 140, 193, 215, 222, 223, 207, 299, (399, 402), 448,

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

453. 475. 48i. 550, 552, (554). 584. (615). 664, 669, 715, 915, 960, 963. I n n e r e B i n d u n g b e i ä u ß e r e r L o s l ö s u n g (Kontrast: „Liebeshaß"/Indifferenz) S. 162, 297, 466, 481, 645. Religiöse Ausgangsstellung und deren N a c h w i r k u n g (auch sprachlich: Bibelsprache; Ausschnitt) S. 63, 140, (162), 279, 296, 664, 739. D i e W e i t e des W u n d e r s u n d die W i r k l i c h k e i t des W u n d e r s (Ausschnitt) S. 70, 197, 199, 236, 244, 393, 617, 642, 647 u. ö. D a s W u n d e r b a r e (religiöser Akzent) S. 70, 244, (481). D a s I r r a t i o n a l e (religiöser Akzent) S. 96, 181,214, (307), (434), 625. Diesseits/Jenseits-Spannung

S. 163, 165, 193, 437, 615,

758/59M o n o t h e i s m u s S. 259. P a n t h e i s m u s S. 36, 98, 245, 255, 259, 260, 431, 475, 786, 787, 821, 847, 849, 851 u. ö. P i e t i s m u s S. 7, 36, (42), 47, u. ö. B u d d h i s m u s S. 61, (62), (163), 164, 382 (T), (466), 622, (664, 665), 922. A t h e i s m u s S. 60, 98, 162, 164. Philosophie und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 11, 13 (T), 22—24, 52, 62, 73, 76, 79, 82, 86, 91, 97, 99, 100, 106 (T), 110, 135, 137, 139, 156, 161, 162, 167, 168, 181, 195, 198, 199, (200), 224, 228, 233, 236, 243, 246, 247, 275, 293, 299, 301, 302, 304, 313, 316, 320, 321, 338, 383- 394, 398- (402), 403. 412, 416, 417, 418, 419, 427, 429, 432f., 435 (T), 436, 439 (T), 440, 451, (466—68), 477, 479, 509, 519, 528, 531, 552, 554, (563), 575, 579, (581, 595), 596, 604, (619), 622, 643, 644, 645, 659, 660, 669, 670, 671, 673. 675, 684, 720, 721, 726, 736, (740), 742, 757, 768, 769. 774. 775. 780, 781, 783, 787, 788, 794, 796, 803 (T), 806, 807, 809, 810, 820, 821, 834, 840, 850, 851, 858—62, 866, 881, 901, 902, 903, 918, 936, 942, 949 (T), 962. P o e s i e i m B ü n d n i s m i t d e r P h i l o s o p h i e (bzw. Psychoanalyse) S. 135, (162), τβηϊ., 2i6, 226 (T), 228, 320, 383, 398, 414, 416/17, 417, 433, 437, 438, 439, 440, 451, 453, 454, 455. (456), 519. 529. 531. 552, 554, 627, 724, (736), 769, 783, 847, 850, 858—62, (905), (952), 964. P o e s i e i m W i d e r s t r e i t m i t d e r P h i l o s o p h i e (und Abwehr der Philosophie) S. 84, 97, 99/100, (106, 107), 108,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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(137/38), 139. r 5 6 . J 57(Kleist), 160, 161, (162), 163, 164, 165, 168, 169, 170, 171, 172, 175, 199/200, 217. 228, (299), 316, 383, 398 (Umkehrung), 41a, 419, 427, 429, 439 (T), 440, (554), 643, 644, 659, 840, 962. E i n f l ü s s e der P h i l o s o p h i e auf D i c h t e r und D i c h t u n g (und Einflüsse der Poesie auf die Philosophie) S. 1, 4, (7, 11), 21, 22—24, 30, 34» 36, 44. 45. 5, 52, (55). 62, 7 6 . 82, 83, 86, 87, 91, 102, 106, 107, 110, i n , 135, 136, 137, 139. 150/51. 153. I 54. 159. iöo, 165, 167/68, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 176, 177, 180, 185, 200, 206, 207, 218, 228, 233. 293, 30X, 302, (304), 320, 321, 325, (338), 383, 394, 398, 416, 417, 433, 434, 435, 436, 438, 439, 440, 519, 528, (531). 552, (575). 579. (596), 622, 643/44, 660, 716, 742, 747. 75 8 - 759. 803, 809, 820, 821, 834, 847^, 866, 901, 902 (problematisch), (918, 949). N a c h h a l t i g k e i t der E i n w i r k u n g F r i e d r i c h N i e t z s c h e s (besonders als Philosoph) S. 50, 82, (111, Motto), (112), 168, ι γ ι ί . (R. Dehmel), 175, (180), 185, (212), 220, 228, 229, 261, 266, 304, (325), 327, (406), 408, 414, 4x6 (Expressionismus), 433 (G. Benn), 439, 502, 504 (Th. Mann), 5 I 3 . 579. 614, 627 (Frz. Werfel), 660 (Th. Mann), 720 (Dostojewski, vgl. S. 50), 747, 758/59 (Leo Berg), 768 (Stefan George), 775 (R. Paulsen), 806 (Paul Ernst), 829, 847, 850/51 (Alfred Mombert), (905, 952), 961 (H. Hesse). — (Vgl. Verzeichnis der Namen). Ä s t h e t i k (und das Ästhetische) S. 3 (T), 14 (T), 22 (T), 30, 44 (T), 59. 73 (T), 84, 99, (106), 108, 141, 146, 152, 153, 159, 162, iÖ3f., 166, 167, 168, 210, 213, 216, 227, 239, 240, 255, 268, 272, 285 (T), 313, 321, 334, (335), 341, 370, 407, 422, 427, 455, 456, 468, 469 (T), 477, 501, 519, 520, 526, 562, 565, 568, 574 (T), 628, 636, 646, 654, 670 (T), 679, 680, 689, 701, 715, 716, 717 (T), 718, 720, 721 (T), 726/27, 732, 740 (T), 746, 748, 753, 755, 756, 757, 758 (T), 764. 774. (778). 788, 796, 809 (T), 810, 820 (T), 822, 844, 850, 862, 863, 895, 925, 937, 949, 956. K u n s t p h i l o s o p h i e (allgemein; enger als „Ästhetik") S. 4, 137, 141, 152, 159, i63f., 166, 167, 236 (Terminus: „Philosophie der Kunst"), 239, 313, 414, 419, (Neuromantik/Expressionismus), 438, 519, 520, 721, (vgl. Nachbarkünste u. Dichtkunst: Kunst, allgemein). K u n s t a n s c h a u u n g (durchgängig verfolgt). K u n s t w o l l e n (durchgängig verfolgt). D a s S c h ö n e , d i e S c h ö n h e i t S. 37, 45, 50, 51, 106, 147 (D), 155. 159. l 6 z . 164, 168 (T), 187, 197, 201, 203, 230, 244,

9 8 4

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

260, 427, 479, 488, 499, 500, 592, (593). 600, 603, 604, 635 (T), 643, 654, 717, 721, 726/27, 753, 829 (D, Verhältnis: Schönheit/Wahrheit), 837. D a s H ä ß l i c h e S. 73 (T), 84, 114, 139, 164, 165, 210, 362, 393, 427, 603, 604, 643, u. ö. D a s E r h a b e n e (tritt als Begriff zurück) S. 137, 155, 160, 307, 308, (327), 717 (T), 849. V e r h ä l t n i s : Ä s t h e t i k / E t h i k S. 28, 29, 30, 37, (55), 59, 167, 173 (D), 184, 194, 198, 255, 292, 302, 312/13,

296, 234, 165, 321,

354. 388, 434. 465. 488, 489. 499. 519, 537- 550, 551. 552>

600, 643, 646, 680, 715, 716, 844, 908, 925, 936, 956. E t h i k (und das Ethische) S. 10, 29, (56), 79, 87, (90), 96, 138/39 (Nietzsches „Umwertung"), 140, 141 (Umwertung) 155, 159, (Sitte/Sittlichkeit) 165, 166 (Sitte/Sittlichkeit), 173, 230, 239, 292, 293, 295, 296, 297, 302, (303, 304) 312/13, 321, 385, 388, 399, 416, 434, 435, 452, 464, 468, 470, 471, 493, 600, 621, 627, 628, 640, 641, 642, 643, 644, 645, 715, 716, 717, 723, 724, 745, 748, 756, 758, 788, 834, 836, 843, 873, 925, 928, 951. M o r a l (Sitte, zum Teil auch Sittlichkeit) S. 7, 35, 45, 46, 75, 79, 87, 89, 114, 141, 159 (T), 161, 166, 173, 195 (T), 239, 292, 294, 297, 394, 415, 463, 465, 470, 471, (521), 537, 540, 541, 542, 627, 631, 634, 638, 660, 687, 709, 716, 724, 747, 7 5 5 , 7 5 6 , 842/43. 844, 889, 8 9 1 , 925, 928.

B e t o n u n g d e r V e r a n t w o r t l i c h k e i t (ethisch/ästhetisch) S. 5. 33 (T), 35, 45. (46), 50. 55- 57, 61, 62, 219, 292/93, 307/08, 464, 478, 481, 530, 531, 534, 537, 659, 715, 745, 748. W e l t a n s c h a u u n g (allgemein) S. 2, 6, 41, 60, 120, (122), 176 (unverbindlich, bloßes Motiv), 200, 205, 209, 228, 229, 279 (T), 289, 299, 312, 319, 455, 478, 482, 539, 562, 578, 599, 607, 612, 650, 652, 656, 663, 664, 665, 682, 689, 690, 693, 696, 722, 755 (T), 758, 760, 787, 803, 805, 806, 807, 820/ 21, 841, 895, 905, 912, 929, 936, 940. M e t a p h y s i k (und das Metaphysische) S. 11, 48, 71, 96, 97, 99, 102, (106), 163, 181, 434, 449, (453, 459), 666, 720, 761, 769, 795, 796, 845, 873, 901 (T). I d e a l i s m u s S. 2. 10, 11, 37, 51, 68, 70, 73, 83, 86, 87, 88, 95, 115, 142, (146), 186, 233, (transzendentaler), 240, 280 (T), 378, 419 (transzendentaler), 427 (transzendentaler), 439 (transzendentaler), 685, 710, 711, 721, 749, (760/61), 761, 769, 805 (T), 822 u. ö. M a t e r i a l i s m u s (zum Teil politisch) S. 2, 10, 11, 12, 101, 682, 711, (761), 769, 822, 864, u. ö.

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND KENNWÖRTER

985

D e t e r m i n i s m u s S. 7, 12, 33, 55, 99, 102, 103, 564, 567, 725. P o s i t i v i s m u s S. 12, 30, 66, 107, (181), 190, 193, 438, 588, 671, 710, 711, 836 u. ö. N i h i l i s m u s S. 33, 62, 164, 317 („produktiver"), 836, 842/43. R a t i o n a l i s m u s (das Rationale) S. 7, 171, 190, 193, 321, 327, 330, 333. 399. 438, 464. 465. 477. 479- 498. 625/26. 636, 638, 647, 666, 906, 924/25.

I r r a t i o n a l i s m u s (und das Irrationale) S. 96, 97, 129, 156, 214, 434. 479. 493. 5*3. 5*4, 527, 611, 625, 703, 738, 791, 803 (T), 861, 864, 906, 907, 913, 918, 919, 925. E m p i r i s m u s S. 12. 107. 110. m . 171, 671, 769. P h ä n o m e n o l o g i e (und Wesensschau) S. 164,165, 200, 392, 393, 401, 402, 403, 404, 405, 411, 412, 413, 415, 417, 418, 435 (T), 436, 437, 438, 443, 622, 633, 783, 836. E x i s t e n z i a l p h i l o s o p h i e S. 368, 394, 427, 433,437,438, 439, 440, 622, 628, 787, 788, 794, 834, 851, 859, 862, 881, 901, 902, 903, 904. E r k e n n t n i s k r i t i k (Erkenntnistheorie) S. 316, 671, 674, 697. L o g i k (auch „künstlerische Logik") S. (12), 419, 429, 433, 435 (T), 436, 692 (T), 729, 803, 942. O n t o l o g i e S. 438, 729. L e b e n s p h i l o s o p h i e S. 153, 165, 181, 3 9 8 , 4 0 3 , 4 1 2 , 4 2 7 , 4 3 3 , 434. 437. 438. 439. 6 2 2 . 670, 671, 672, 673, 674, 676, 680, 755· K u l t u r p h i l o s o p h i e S. 139, 141, 148, 150, 152, 157, 159, 166, 167, 173, 181 (D), 313, 316, („Kultursynthese"), 318, 321, 326, 726, 753, 755, 863, 885, 905, 962. O p t i m i s m u s (und Erziehungsoptimismus) S. 152,191, 193, 288, 328, 361, 398, 438, 661, 641, 642, 666, 722. P e s s i m i s m u s S. 76, 102, 138, 162, 164, 328, 836. E u d ä m o n i s m u s (Ausschnitt) S. 34, 101, 102, 103, u. ö. P h i l o s o p h i e d e s A l s - O b S. 436, 440. I d e n t i t ä t s v o r s t e l l u n g S. (117), 216, 218, 222, 304, 307, 427, 509· D a s i n t e r e s s e l o s e W o h l g e f a l l e n (Bewertung u. Entwertung) S. 153, 160, 168, 240, 268, 272, 628, 662, 680. V e r n u n f t (und das „Vernünftige") S. 7, 8, 33, 36, 113, 158 (T), 311, 317, 407, 670, 885, 915, 925, 951/52. V e r s t a n d , D e n k e n , G e d a n k e S. 129, 264, 311, 430, 469, 495, 530, 652, 684, 685, 690, 859, 877, 881, 960. Dialektik (und das Dialektische) S. 145 (Nietzsche), 162 (Hegel), 232, 301, 316 (Marx), 320 (Hegel), 325, 334, (599), 623, 961.

986

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND KENNWÖRTER

K u n s t v e r s t a n d (durchweg auf Dichter bezogen) S. 238, 2 7 9 , 3 1 1 , 327 („hochentwickelter"), 3 7 5 , 4 0 4 , 4 0 7 , 530, 8 1 0 , 9 2 5 . „ I d e e " (im philosophischen u. popularphilosophischen Sinne) S. 11, 7 4 , 100, 1 4 7 , 174. 179. 2 2 6 , 2 2 8 , 2 S l > 293> 312, 3 2 1 , 4 1 2 , 4 9 5 , 5 1 9 , 5 9 9 , 681, 6 8 4 , 6 8 6 , 687, 6 8 9 , 690, 6 9 6 , 7 0 0 , 701, 703, 704, 7 6 2 , 7 9 8 , 8 0 3 , 808, 809, ( 9 3 4 ) , 9 5 5 . I d e a l i t ä t (und das Idealische) S. 2 , 5 1 , 8 9 , 9 0 , 1 8 1 , 2 1 1 , 321, 6 2 9 , 915. „ I d e e n g e f ü h l " (Maler Müller) „Gedankengefühl" (Hofmannsthal) S. 2 3 3 , 4 7 7 , 5 9 7 , 9 1 6 . D i c h t e r - D e n k e r (Ausschnitt) S. 1 3 5 f f . , 5 2 9 , 6 6 6 , 6 7 5 , 677, 767, 847, 851. I d e e n d i c h t u n g (Ideengedicht, Ideendrama usw.) S. 7 4 , 1 3 6 , 226, 2 2 8 , 2 5 5 , 281, 3 8 6 , 439 ( T ) , 5 8 1 , . . . 6 2 4 , 6 2 5 f . , 6 7 4 , 8 5 0 , (vgl. auch: Einflüsse der Philosophie auf Dichtung und Dichter; u. Poesie im Bündnis mit der Philosophie). Natur und Dichtkunst (auch Landschaft) A l l g e m e i n e s (u. Gesamtbestand) S. 6, 8, 1 0 , 12, 13 (T), 18, 22, 2 3 , 4 0 , 4 8 , 62, 6 3 , 6 5 , 68, 70, 7 1 , 79, 8 1 , 8 3 , 8 4 , 8 5 , 8 7 , 9 5 , 9 6 , 99 (T), 100, 1 0 1 , 1 0 3 , 107, 108, 1 0 9 , 1 1 0 , 1 1 2 , 1 1 3 , 1 1 4 , 1 2 2 , 1 4 6 , 1 4 8 , ( 1 5 8 ) , 170 ( T ) , 1 7 3 , 1 7 8 / 7 9 , 1 7 9 , 1 9 0 , 1 9 2 , 2 1 3 , 2 2 6 , 2 2 7 , 2 3 1 , 2 3 6 , 264, 274, 2 9 3 , 3 1 3 , 3 2 8 , 3 2 9 , 330, 3 3 2 , 335. 3 3 6 ( T ) , 3 4 1 , 3 4 3 , 344, 3 4 7 , (363), 364, 3 9 6 , 3 9 8 / 9 9 („Natur der Natur"), 404, 4 0 5 , 4 3 3 , 4 3 4 , 4 4 0 , 4 4 8 , 4 5 0 , 4 5 3 . 4 6 5 . 4 7 5 . 4 8 0 , 5 2 9 . 5 8 6 - 629- 6 3 1 , 6 4 2 , 6 6 7 , 6 6 9 , 6 9 9 , 727< 733/34, 736, 742, 743, 744, 7 4 7 , 748, 7 5 8 (T), 7 6 0 , 7 6 9 , 775, 9X3> ( 9 1 4 ) , 9 3 6 , 9 4 0 , ( 9 4 1 ) , 9 6 0 , (964). N a t u r g e s e t z S. 6, 8 , 1 2 , 1 8 , 4 0 , 4 8 , 6 3 , 8 5 , 9 6 , 2 9 2 , 3 4 6 , 564, u. ö. N a t u r n a c h a h m u n g s t h e o r i e (und Wahrscheinlichkeitsprinzip) S. 8 , 6 3 , 6 8 , 7 0 , 7 9 , 81, 83, 84, (durchgängig im Naturalismus), 107, 109, i n , 122, 1 2 3 , 170, 1 7 3 , 3 3 5 / 3 6 , 3 5 1 , 476, 6 2 9 , 6 9 9 , 7 2 7 , 7 3 8 , 742, 743, 9 1 3 , 9 5 1 . N a c h a h m u n g der N a t u r w i s s e n s c h a f t (nicht der Natur; Naturalismus) S. 6 , 9, 1 0 , (11), 14/15, ( 1 7 ) , 39/40, 63, 6 6 , 7 0 , 84, (87), 100, 1 0 7 , 1 1 3 , u. ö. N a t u r p h i l o s o p h i e S. 1 4 8 , 4 3 3 , (669), 7 3 3 , 7 3 6 , 7 7 4 , 8 5 9 . N a t u r w i s s e n s c h a f t (vgl. Wesen der Dichtkunst: Poesie u. Naturwissenschaft). Sprache und Dichtkunst (einschließlich Stil) A l l g e m e i n e s (und Gesamtbestand) S. 11, 12, 3 3 , (94), 1 4 8 , 1 9 7 , 1 9 9 / 2 0 0 , 202 ( T ) , (209), 2 1 0 , 2 1 1 , 2 1 4 , 2 2 4 , 2 2 6 , 2 3 2 , 237

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, M E R K - UND KENNWÖRTER

(T), 276. 372, 4°7, 512, 553. 650, 7 2 4. 779. 831, 856, 926,

987

241, 242, 243, 244, 246, 257, 260, 268, 273, 274, 275, 325. 341. 348, 351, 352, 353, 355, 359, 360, 370, (375), 382 (T), (387), 389, 390, 393, 396, 401, 402, 406, 409, 4 2 I > 422, 423. 441, 445. 448, 465. 4 7 1 . 5oo, 501, 513, 516, 524, 525, 528, 550, 551, 552, (Natursprache), 589. 599. 603, 612, 613, 623, 625, 629, 630, 637, 649, 651, 658, 659, 679, 690 (T), 692, 693, 697, 698, 705, 725, 730, (733). 739. 741. 748. 762, 767. 7 7 1 . 772. 773. 7 8 3 ( T ). 784. 79 1 . 794. 795. 801 (T), 802, 812, 829, 830, 832, 834, 835, 836, 837, 838, 839, 841, 842, 845, 854, 857, 866, 867, 868, 870, 871, 877, 879, 897, 9x1, 925, 943, 944, 950, 952, 955, 962/63, 964.

G r e n z e d e s s p r a c h l i c h e n A u s d r u c k s v e r m ö g e n s (Ausschnitt) S. 389, 393, 773, 791, 860, (vgl. Wesen . . . der Dichtkunst: Poesie als „Wortkunst" u. „Sprachkunst"). V e r h ä l t n i s v o n S p r a c h e u n d S p r a c h s t i l S. 11, 12, 21, 33, 123, (197), 199/200, 202, 232, 241, 242, 243, 274, 275, 290, (296), 325, 341, 348, 352, (355), 359, 387, 402, 421, 423, 465, 513, 516, (518), 528, 583, 585, 589, 597, (598), 602, 606, (612), 620, 625, 629, 630, 637, 650/51, 658, 659, 690 (T), 692, 783, 842, 897,

(693). 705. 724. 725. 730. 739. 741. 748. (773). 779. 784, 830/31, 832, 834, 835, 836, 837, 838, 839, 841, (852), 854, 856, (857), 866, 868, (870, 871, 877), 896, 911, (925), 926, 943, 944, 962/63, 964.

M u n d a r t u n d M u n d a r t l i c h e s S. 40, 66, 67, 123, 277, 328, 329, 334, 341, 350 (T), 351, 352. 353. 355. 35 6 . 357 (T), 358, 359. 360, 363. S p r a c h t h e o r i e , S p r a c h p h i l o s o p h i e S. 148, 243, 246, 275, 433. 528, 552. 553. 692, 693, 705, 773, 777, 791, 801, 860, 861, 878/79, 964.

Metrik, Rhythmik und Dichtkunst (vgl. auch Lyrische Gattung) S. 21, 33, (88), 105, 106, 172, 178, 179, 184, 187, 211, 223, 224 (T), 225, 226, 227, 228, 268, 315, 318, (325). 370. 421, 432, 434. 444. 447 (T), 483. 486 491, 492, 585, 586, 587, 588, 589, 590, 595, 597, (606), 632, 633, 652, 670, (691), 694, 695, 704/05, 733,

212, 319, (T), 598, 734,

735. 737. 738, 739. 740/41, 744. 758. 767. 772. 774. 776, 794, 801, 803, 811, 816, 834, 835, 838, 839, 844, 847, 850, 867, 868, 877, 899.

988

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

Nachbarkünste und Dichtkunst Die K u n s t (allgemein, häufig wenig prägnanter Terminus) S. 22 (Τ), 44 (Ό, 45. 69, 83 (T), 85 (D). 87 (T), (97), 103, 104 (T), 106 (T), 107, 108, 109, i n (T), 1 1 5 (T), 134 (T), 138 ( D ) , 156, 159 ( D ) , 162, 163, 164, 166/67, 1 6 8 ( T ) , 170 ( T ) ,

173 (D), 1 7 6 (D), 187, 193 (T), 197 (T), 201 (T), (T), 213 (T), 236 (T), 238 (T), 253 (D), 260, 261 (D), 262, 300 (T), 347, 374 (T), 375 (T), 378 (D), 381 (D), 390, 392 (T), 4 1 3 (T), 420 (T), 429 ( D ). 435. 440 (T), 463, 464, 468, 470. 471. 475 (Ό, 476 (D), 477 (T). 488, 489 (D), 501, 503 (D), 519 (T), 5 3 1 (D), 533, 535. 551. 595 (T), 604 (T), 170

(D),

204, 209

665, 666, 669, 684, 685, 721

(T), 722, 732 (T),

732-38,

742, 744, 746, 747, 748, 749, 750, 758 (T), 762, 766 (T), 770. 824 (T), 828 (T), 829, 831, 833, 843 (T), 846, 854, 903,

904. 9°5. 9° 8 . 9°9R a n g s t u f e der K ü n s t e S. (43), 44, 45, 110, 152, 183, 383, 471, 498, 502, 507, 824.

Bildende K u n s t S.

43, 44, 68, 70, 85, 89, (105), 146, 147, 153,

183, 193, 195, 257, 260, 262, 267, 277, 342, 347, 348, 367 (T), 3 8 3 . 3 8 5 . (401), 4 0 2 , 4 0 4 . 4 0 5 . 4 0 7 . 4 2 2 , 4 4 1 . 4 4 2 . 4 4 6 , 447, 491, 526, 602, 610, 6 1 1 , 612, 615, 718, 736, 737, 743, (757). 760, 766, 767, 786, 7 9 1 , 794, 795, 8 1 1 , 816, 827, 828, 831, 834 (T), 836, 852, 853 (T), (863), 864—66, 912, 921.

P l a s t i k (u. das Plastische) S. 43, 44, 68, 70, 89, 153, 183, 265, 269, 342, 385, 447, 704, 718, 737, 796, 816, 912, 921.

A r c h i t e k t u r S. 183, 257, (258), 447/8 (T), 726, (756, 7 6 1 , 762), 930. Malerei S. 43. 58, (89), 183, 251, 253, 262/63, 265, (269), 347, 348, 349. 37 1 . 383/84. 385. 402. 404. 405, 407. 409. 441. 442, 443, 447, 476 (T), 481, 488, 489, 491, 506, 581, 584, 598 (T), 610, 612, 633, 662, 718, 737, 743, 756, (759), 760, (761, 762), (779), 7 9 1 , 794, 8 1 1 , 817, (841), 8 2 7 — 2 9 , 830, 832, 836, 863, 8 6 4 - 6 6 , (863), 890 (T), 910, (948, T ) , (953), 961, (964).

Kunstgewerbe (Ausschnitt) S.

591, 597, (599), 602, 606, 768,

769, 865.

Musik S. 57, 105, 106, 138 (T), 143 (T), 144, 147, 149, 160, 161, 166, 183, 195 (T), 201, 231, 233, 251, (256), 266, 267, 268, 269, 270, 341 (T), 342, 343, (401), 444, 445 (T), 446, 447, 448, 474, (488, 490), 491, 5 1 7 (T), 524, 525, 526, 536, (542), 5 4 5 . 5 5 3 , 5 5 4 . 5 5 5 . 5 6 2 , 597/9 8 , 5 9 9 . (604), 620, 633, 639, 669, 737. (738,

739). 754. 755. 775. 777. 779. Ί Φ ·

831 (T), 839, 850, (868), 898 (T), (948, T), 954.

8i6

.

(903), 930, 941,

82

4.

942,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

989

O p e r , M u s i k d r a m a u n d S i n g s p i e l (vgl.: Dichtungsgattungen, dramatische Gattung). T a n z k u n s t S. (445), 447, 491, 492, (620), 631, 637, 777, 824, 831, 850, 851. P a n t o m i m e (u. Tanzpantomime) S. 468, 620, 635, 637, 639, 759. 777. 850. T h e a t e r u n d S c h a u s p i e l k u n s t S. 1 (T), 17, 20, 30 (T), 33, 58, 59 (T), 61 (T), 64, 65, 76. 77. 78. 81, 98 (T), xi6 (T), 121 f., I27f., 128, 131 (T), 153, 185, 193, 202, 230 (T), 245 (T), 246, 267, 268, 287, (322, 327), 338, 339, 344, 361, 381, 391. 392, 429. 444. 447 (T), 460, 467, 471 (T), 472, (473). 49°. 492. 494. 49 6 . 497 (Τ), 5 ° 2 (Τ), 5°3. 5°4 (T), (505). 5° 6 . (Terminus), 507, 508, (511), 517, (536), 537, 542. 543. 546. 550 (T), 554. 555. 572. 580, 584. 598 (T), 599, 614 (T), 620/21, 623, 624, 633, 635, (639, 641), 662, (666), 691 (T), 713, 716, 722, 729, 730, 731, 750, 758, 781 (T), 791, 806, 811, 812, 813 (T), 814, 816, 821, 822, 823, 830, (870, 873), 882, 891, 892 (T), 898, 899, 904, 910, 916, 917, 921, 922, 933, 953, 955, (956), 957. K a b a r e t t S. 536, 543, 629, 630, 633, 639, 640, 713, 831. F i l m k u n s t S. 233, 506, 507, 545, 546, 547, 548, 875. Z i r k u s k u n s t S. 468, 630, 631, 633, 635, 637, 639. Äußere und innere Bezogenheit von Bildkunst/Tonkunst/Wortkunst D a r s t e l l u n g s m i t t e l u n d D a r s t e l l u n g s m ö g l i c h k e i t (Forderung u. Überforderung, Begrenzung u. Entgrenzung) S. 105, 108, 109, 110, 153, 231, 341, 367, 383, 406, 442, 444, 445, 446, 448, 704, 737/38, 791. 830/31. »3 6 . 964· U n m i t t e l b a r e und m i t t e l b a r e B e z u g n a h m e auf den „ L a o k o o n " d e r B i l d k u n s t u n d T o n k u n s t (Bewertung u. Entwertung) S. 1 1 1 , (127), 195, 240, (241), 262, 265, 267, 275, 314, 341, 342, 348, 371, 442, 526, 736, 737, 754· B i l d k ü n s t l e r i s c h e M o t i v e u n d A n r e g u n g e n (Werke der Bildenden Kunst als dichterische Impulse, Anlaß u. Anregung) S. 58, 257, 347, 442, 491, 584, 794, 830, 910 u. ö. Ü b e r t r a g u n g der b i l d k ü n s t l e r i s c h e n V e r f a h r e n s w e i s e (u. Problematik der Übertragbarkeit) S. 43/44, 251, 253, 262, 265, 277, 383, 481, (498), 610, (633), 718, 736/37. 791, 817, 828, 830, 836 (umgekehrter Übertragungsvorgang), 841, 863/64, 865, 964 u. ö. M a l e r - D i c h t e r (bzw. Bildhauer-Dichter) S. 44, 253, (348), 385, 441, 476, 491, 498, (581), 612, 662, (759/6O). 9 6 i > 964·

990

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND KENNWÖRTER

M u s i k u n d M u s i k e r i m R e f l e x d e r D i c h t u n g S. 369, 517, 524, 552, 633, (639), 669, 831, 898, 930, 941 u. ö. Übertragung der tonkünstlerischen Verfahrensweise (u. Problematik der Übertragbarkeit) S. 5, 57/58, 231, 251, 269, 444. 446, 474, 5*7. 526, (545), 553. 597, 59 8 , (777). 850, 898, 930, 941. M u s i k i m V e r h ä l t n i s z u T r a g ö d i e u n d D r a m a S. 138 (T), 149, (161, T), 231, 233, 269, 341, 342, 599, 620, (633), 639, (754). 755 (T), 777. 779. 816, 824, 839, 898, (954). M u s i k a l i t ä t i m S p r a c h k u n s t w e r k S. 106, 256, 266, 267, 341 (T), 444, 445, 446, 597, 598, 775. Wesen, Wert und Wirkung der Dichtkunst (als Sonderkunst) D i c h t k u n s t i m V e r h ä l t n i s z u d e n a n d e r e n K ü n s t e n S. 105, 106, 108, 110, 152, 183, 195, 231, 233, 237, 251, 253, 269, 341 (T), 342, 347, 348, 371, 383, 385, 401, 405, 409/10, 441, 442, 443, 444, 446, 448, 4 7 1 , 474, 489/9°, 498, 502,

507, 669, 746, 850,

526, 685, 753. 866,

(536, 702, 754. 891,

543), 554, 610, 611/12, 619, 633, (656), (713), 718, 736, 737, (738), 739, 743, 755 (T), 759. 795. 824, 828. 830, 831, 910, 912, 921, 922, 930, 934,941, 942,

668, 744, 839, 948,

(954)· E i n l a g e r u n g d e r P o e s i e i n a n d e r e W e r t b e z i r k e (Nation, Religion, Philosophie, Politik, Gesellschaft, Ethik, Humanität) S. 162, 163, 164, 173, 183, 193, 195, 328, 331/32, 334. 338 (T), 339ί· ( Ό , 344 (T), 346. 349, 394 (T), 395, 397. 409, 416. 423, 427. 432, 433, 440, 463. 464, 466, (475), 481, 482 (T), 487, 603, 604/05, 618, 622, 658f., 664f., 6 7 1 , 672f., 675, 679, 680, 682, 690, 698, 699, 700, 709, 710,

715, 719, 720, 721 (T), 723, 724, 725, 727, 728/29, 730, 734. 736. 745, 747. 748, 749. 75°, 753, 757, 75« (T), 759, 761, 762/63, 769, 822, 834, 842, 843, 844, 849, 868 (T), 886, 889, 903—08, 917, 918, 925, 928, 929, 933, 935, 950/51, (953), 954· V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e u n d W i s s e n s c h a f t S. 8, 10, 12, 16, 17, 99, 114, 143, 156, 158, 160, 214, 299, 340, 477, 478, 553, 554, 635, 669, 684, 712, 736, 766, 767, 909, (923), 939. 962· V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e u n d N a t u r w i s s e n s c h a f t (besonders Biologie) S. 1 (T), 6, 7, 8, 9, 1 1 , 12, 13 (T), 14 (T), 18, 22, 23, 24, 40, 41, 42, 65, 68, 70, 71, 83, 84, 95, 96, 99 (T), 100, 101, 103, 107, 113, 140, 148, 157, (158), 160, 173, 178/79, 179, 190, 225, 227, 293, 346, 398/99, 405, 433, 434,

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND KENNWÖRTER

991

437, 440, 448, 449, 450, 453, 480, 563, 564, 574, 576, 629, 660, 670 (T), 672, 709, 710 (T), 712, 733, 736, 759, 762, 769. 775- 776, 864, 885, 887, (890), 903, 906, 910, (913, 949). V e r h ä l t n i s v o n P o e s i e u n d T e c h n i k (und Erwähnung der Technik) S. 186, 187, 224, 225, 323, 362, 363, 374, 420, 662, 733, 738, 750, 766, 769, 818, 885, 887. W e s e n s b e s t i m m u n g d e r P o e s i e (Definitionen und andeutende Umschreibungen) S. 2, 5, 6, 10, 1 1 , 16, 28, 29, 34, 62, 96, 100, 102, 106, 108, 148, 155, (159), 170, 173, 176, 179, 181, 183, 209, 2 1 1 , 219, 221, 222, 223, 225, 233, 234, 236, 237, 243, 244, 245, 257, 261, 268, 271, 299, 311, 342, 345, 347. (350), 351, 354, 373 CO, 375, (T) 37 8 . (389), 397 (T), (400), 404, 410 (T), 413 (T), 415, 416, 431, 439 (T), 444, 475, 484 (T), 485, (489), 494, 495, 5*3, 5 > 518, 519, (529). 531, (534), 536/37, 562, 582, 632, 642, 675, 676, 678, 698, 699, 701, 702, 705, 762, 770, 775, 782, 788 (T), 792, 807, 822, 839, 842, 859, 867, 904, 908, 909, 912, 931, 936, 953· S e l b s t p o r t r ä t d e s D i c h t e r s (Selbstdeutung, Selbstverständigung, Selbstzeugnisse; vgl. auch: Der Dichter als Träger des Schaffensvorganges; Schaffensvorgang) S. 48, 56, 60, 171, 173, 175, 236, 238, 243, 261, 265, 270, 271, 288 (T), (311), 354/55, 355, 366, 403, 474, 479, 484, 4»6, 657, 6 7 7 (T), 7 0 I > 7*5> 7 i 6 > 717, 7 i 8 > 7 i 9> 7 20 > 7 2 1 — 2 4 , 723/24, 725, 726, 734, 764, 838, 839, 848, 850, 897, 904, 908, 913, 916, 917, 928, 931, 933, 959, 960. D a s „ D i c h t e r i s c h e " S. 91, 97, 99, 237, 238, 389, 513, 514, 515, 518, 527, 559, 589, 597, 612, 686, 698, 705, 756, 845 (T), 885, 886. B e w e r t u n g u n d R a n g s t u f e d e r P o e s i e (Rangstreit der Künste tritt zurück) S. 110, 205, 211, 383, 558, 669, (675), 676, 680, 686, 700, 745, 766, 767, 782, 962. W e i h e u n d W ü r d e d e r P o e s i e S. 10, 197, 198, 311, 400, 477, 519, 601, 602, 607, 667, 766, 787, 788, 793, 822, 824, 849. Z w e c k f r e i h e i t u n d Z w e c k b i n d u n g d e r P o e s i e (Autonomiegedanke und Einstellung zur Zweckbindung) S. 45, 50, 141, 153, 168, 187, 197, 204, 208, 211, 240, 268, 272, 273, 354, 420, 443, 59°, 5 9 1 , 6 2 8 , 721, 732, 733, 768, 770, 788. P o e s i e a l s S e l b s t v e r s t ä n d i g u n g („monologische" Kunst, besonders in der Lyrik) S. 204, 205, 209, (234/35), 249, 261, 272, 273, 605, 962. P o e s i e a l s „ W o r t k u n s t " u n d „ S p r a c h k u n s t " (und deren Problematik) S. (195), 232, 257, 260, 268, 273, 274, 276, l 6

9 9 2

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

3 8 9- 393. 401, 406, 407. 409. 421. 445. 537. 599.

602, 625,

669, 697, 698, 705, 773, 791, 831, 849.

D a r s t e l l u n g s m i t t e l d e r P o e s i e (allgemein) S. 107, 109, 110, 274. 275, 694, 695, 702, 736, 737, 745, 746, 950, 962.

D a r s t e l l u n g s w e i s e d e r P o e s i e (allgemein) S. 42, 100, 102, (103), 105, n o , 673, 691, 692, 693, 694, 695, 704/05, 756, 761, 762, 778, 818, 831, 849, 863, 897, 921, 931, 955.

Poesie als B e w a h r u n g u n d B e w ä h r u n g des Menschent u m s (Menschheit u. Menschlichkeit) S. 12, 28, 31, (33), 35. 37. 48, 62, 102, 169 (T), 199, 234 (Rückführung des Dichtertums auf das Menschentum), 238. 239, 268 („Menschendrama*'), 304, 346, 394 (T), 395, (396), 397, 413, 414, 415, 416, 427, 434, 443, 458, 460 (T), 463, 464, 484, 486, 4 8 7 . 5 1 5 ( T ) , 5 3 4 . 5 4 1 . 603, 604/05, 618, 641, 642, 644, 649. 723. 725. 807, 808, 822, 864 (T), 903 (T), 904, 908,

915, 918, 924, 928, 935, 943, 951, 962, (vgl. Einzelbegriffe: Humanität) Poesie als B e w a h r u n g u n d B e w ä h r u n g des G e f ü h l s (Bewertung des Gefühls) S. 7, 10, 28, 45, 54, 55, (57), 62, 63. 145. 318, 321, 480, 481, 842, 856,

233. 238, 241, 244, 245, 247, 254, 255, 276, 403, 412, 413, 415, 416, 419, 420, 425, 445, 469, 485, 509, 527, 608, 648, 757, 762, 812, 819, 836, 865, 877, 925, 939, 941.

Poesie als B e w a h r u n g u n d B e w ä h r u n g des G e m ü t s (Gemüts-Wert u. Gemüts-Vorstellung) S. 90, 230, 241, 245, 299. 315. 3 l 6 · 318, 330, 343. 346, 347. 4!2, 464. 509. 608, 666, 678, (760), 819, 822, 824, 842, 939.

Poesie als B e w a h r u n g u n d B e w ä h r u n g des Geistes (Bewertung des Geistigen u. der Idee) S. 2, 5, 6, 13 (T), 17, 23, 69, 138 (T), 145, 194, 197 (T), 230, 238, 312, 313, 324, 327, 412, 415, 416, 419, 427, 467, 468, 481 (T), 493, 506, 507, 509. 510, 511, 512, 514, 515, 517, 519, 522, 533,

534. 535 (T), 536, 539 (T). 542, 546, 549, 550, 55i, 552, 553, 642, 644, 648, 649, 650, 684, 685, 690, 742, 761, 762, 763, 768, 820, 843, 844, 849 (T), 859, 885, 904, 925, 933,

93 6 - 951, 952. Einstellung zum Intellektuellen und zum „Intellekt u a l i s m u s " S. 306, 322, 343, 412, 436, 446, 686, 842f., 876, 933, 937, 962.

D a s B e m ü h e n d e r P o e s i e u m d a s „ W a h r e " (Wahrheit u. Wahrhaftigkeit, vielfach schwankender Begriff u. überhöhter Anspruch) S. 16, 17, 21, (24), 27, 33, 34, 35, 36/37, 38, 39, 40, (45), 46, 49, 51, 68, 74, 79, 84, 87, 90, 93, 98, (106), 114, 123, 141, 230, 371, 382 (T), 383, 393, 421, 427,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

993

476, 477. 47 8 . 479- 488. 5 1 4 (T), 519. 534. 538, 627, 727, 736, 790, 829, 837, 908, 909, 917. D a s B e m ü h e n d e r P o e s i e u m d a s „ E c h t e " (hoher Wertbegriff, aber dem subjektiven Anspruch ausgesetzt) S. 19, 29. (45). 9°. 92> l 6 ° . l 6 2 · 218, 219, 222, 4 1 3 , 4 1 5 , 420, 421, 445, 488, 489, 627, 628, (630), 747, 756, 762, 775, 790, 824, 889, 946 (vgl. auch der „echte" Dichter; Schaffensvorgang). Das B e m ü h e n der Poesie um das „ L e b e n d i g e " und L e b e n s h a l t i g e (hoher Wertbegriff, vielfach jedoch als Suggestiv-Vorstellung begegnend) S. 2, 28, 33, 34, 35, 36, 37. 48. 55. 6°. 62, 83 (T), 88, 89, 90, 93, 94, (97, 126), 1 3 7 , 138, 145, 146, 147, 163, 174 (T), 175, 178, 205, 206, 2 3 1 , 237, 244, 246, 247/48, 3 0 1 , 306, 323, 325, 346, 3 6 1 , 362, 33. 3 6 6, 369. 386 (T), 388, 390, 402, 433, 439, 440, 499, 587, 591 (T), 595, 601/02, 602, 603, 608, 634, 639, 641, 646, 660, 662, 665, 670, 671, 674, 675, 676, 685, 687 (T), 689, 691, 697, 721, 725, 727, 733, 734, 745, 746, 804, 807, 8 1 3 , 840, 841, 859, 861, 880, 881, 882, 913, 916, 933, 935, 9 5 1 , 955, 959, 960, 961, (vgl. auch „Erlebnis" u. „ E r l e b e n " : Schaf fensvorgang). B e w a h r u n g und B e w ä l t i g u n g der äußeren und inneren W i r k l i c h k e i t d u r c h d i e P o e s i e (starke Verlagerungen der Wirklichkeitsvorstellung) S. 18, 20, 32, 33, 37, 42, 43, (58), 68, 70, 73, 79, 83, 84, 85, 88, 89, 90, 9 1 , 93, 98, 107, 108, 1 2 1 , 155, 177, 1 8 1 , 204, 2 1 4 , 215, 226, 228, 2 3 1 , 236, 244, 246, 263, 306/07, 364, 375, 3 8 1 , 383, 385, 393, 394, 395. 407. 415. 418, 436, 476, 480, 488, 503. 595. 617. 621, 642, 647, 675, 7 2 1 (T), 791, 792, 807, 812, 813, 814, 836, 846, 863, 869, 930, 951. W i r k l i c h k e i t s i l l u s i o n (Bewertung u. Entwertung, poetische Funktion der Illusionierung u. Desillusionierung) S. 8, 40, 51, 58, 64, 1 3 7 , 188, 246, 307, 3 5 1 , 388, 407, 4 1 1 , 458, 476, . 479. 494. 495. 591. 641, 7 1 7 . 724. 757 (T), 814, 882, 896. P o e s i e als B e w a h r e r i n und B i l d n e r i n des M y t h i s c h e n (Poesie und Mythologie, das Mythologische) S. 7 1 , 84, 144, 149, 200, 214, 2 1 5 , 217, 219, 220, 221, 227, 228, 242, 255. 336, 401. 420, 422, 431, 466, 492. (563). 6 1 3 , 614, 636, 639, 641, 677, 775, 821, 846, 847, 850, 902, 908. P o e s i e a l s B i l d n e r i n d e s K o s m i s c h e n S. 1 7 7 , 220, (270), 413, 416, 418, 426, 427, 434, 437, 439, 442, (616), 619, . 745 (T), (767). P o e s i e als B e w a h r e r i n und B e w ä h r e r i n des Mitleidh a b e n s u n d d e s V e r s t e h e n s (human, religiös, sozial) S. 9, 28, 45, 47, 54, 87, 102, 136, 1 3 7 , 175, 186, 434, 6 4 7 — 4 9 .

67I, 672, 673, 674, 675, 923. P o e s i e als B i l d n e r i n und E r z i e h e r i n des Menscheng e s c h l e c h t s (erzieherische Funktion; Bewertung u. Entwertung des Pädagogischen) S. 7, 27, 28, 30, 33, 34, 35, (39). 46, 53. 57. 78. 99. 102. 136, (137). 144. 145. 157. 160, 166, 262, 521, 631, 755,

209, 213, 214, (226), 227, 228 (T), 229, 230, (255), (283), 300, 325, 334, 336, 337 (T), 361, 398, 422, (520), 538, 541, 546, 549, 566, 571, (581), 594, 596, 599, 600, (635). 641. 642. 646, 649, 661, 663, 666, 667, 7 1 5 , 722, 781, 808, 8x1, 842, 843, 844, 853 (T), 854, 881, 928,

929. 937. 951. 9 6o > 9 6 i < 9 6 4 ·

P o e s i e und P s y c h o l o g i e (das Psychologische; Bewertung u. Entwertung, einschließlich „Psychologismus") S. 25, 31, 32, 46, 48, 56, 62, 87 (T), 99, h i (T), 139, 141, 209 242 (T), 308, 310, 335, 346, 374, 376, 377 (T), 378, 381, 386, 387, 391, 399, 409, 410, 422, 425, 426 467 (631), 642, 653, 670, 671, 672 (T), 678f., 683, 684, 720, 740, 747, 803, 851, 856, 883, 892, 905, 919, 933,

(T), 379, (T), 713, 944,

(948). P o e s i e und P s y c h o a n a l y s e (Tiefenpsychologie; Bewertung u. Entwertung) S. 25, 246, 387, 398, 433, 448, 449 (T), 449—57, 449 („Metapsychologie") 458, 628, 653, 671, 677, 683, 701, 803, 841/42, 847, 856, 874, 875, 882—88, 887, 907, 908, (949), 956, 964.

D a s S c h a f f e n s g e s e t z der D i c h t k u n s t und K u n s t g e s e t z * ) a l l g e m e i n (Bewertung u. Entwertung) S. 6, 9, 50, 63, 69, 79, 99, 100, 103, 104 (T), 107, 108, 109, 110, i n , 115, 126, 159, 284, 525. 848,

164, 170, 173, 176, 178, 204, (209), 240, 251, 252/53, 292, 373, (378), 380, 467, (480, 489), 494, 497, 524, 587, 597. 603, 732 ( X ) — 38, 736, 742, 744, 828, 829, 873.

*) Vielfach meinen Schriftsteller ihre S o n d e r k u n s t , wo sie an sich allgemein von „Kunst" und „Kunstgesetz" sprechen. Der dichterische Schaffensvorgang

(Voraussetzungen, Merkmale, Begleiterscheinungen). A l l g e m e i n e s S. 42/3, 44, 50 (T), 60, 84, 108, 126, 261, 263, 265, 267, 489, 606, 702, 738,

271, 274, 276, 348, 392, 393, 425, 426, 492f., 497, 501, 512, 518, 523, 524/25, 620, 644, 677, 678, 680, 687, 695, 697, 705, 716, 719, 719/20, 721/22, 723/24, 739. 743, 747, 753, 760, 769, 773, 778,

474, 525. 698, 725, 788,

475, 530, 700, 730, 789,

488, 602, 701, 735, 791,

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND K E N N W Ö R T E R

995

792, 796, 811, 815, 8 2 4 , 8 3 8 , 8 4 7 / 4 8 , 8 4 8 , 849, 8 7 0 , 8 7 2 , 884, 890, 892/93, 900, 909, 9 1 3 , 9 1 9 , 927, 932, 9 3 3 , (948— 50), 954. 960. D e r ä u ß e r e S c h a f f e n s v o r g a n g (Situation, Umweltbedingungen, Anregemittel usw.) S. 43, 48, 2 4 8 , 262, 2 7 1 , 2 7 2 , (276), 462, 463, 489, 493, 495, 523, 524, 525, 6 0 2 , 605, 6 2 0 , 790, 9 x 9 , 9 2 0 , 921. D e r i n n e r e S c h a f f e n s v o r g a n g S. 83, 1 0 0 , . . . 2 4 8 , 258, 263, 265, 266, 2 7 6 , 3 9 2 , 3 9 3 , 474, 489, 4 9 4 , 526, 530, (602), 6 0 6 , 6 8 9 , 9 6 0 , 6 9 1 , 699, 700, 702, 705, 7 1 6 , 788, 7 8 9 , 7 9 2 , 811, 920, 9 3 3 , 9 6 0 . F r ü h s t u f e d e s S c h a f f e n s v o r g a n g e s (Anlaß u. Konzeption) S. 2 9 / 3 0 , 43, 9 6 , 2 6 3 f . , 276, 319, 3 7 5 , 4 2 5 , 426, 442, 525, 5 2 9 , 5 3 0 , 6 7 7 , 678, 7 1 6 , 735, 754, 7 8 9 , 792, 847, 8 4 9 , 856, 884, (890), 892, 913, 920, 9 4 4 , (949). B e g a b u n g u n d A n l a g e (Talent) S. 22, 23, 29, 9 5 , 161, 3 4 8 , 402, 408, 409, 474, 486, 4 8 8 , 4 8 9 , 492 (T), 4 9 3 , 4 9 4 , 518, 576, 5 7 7 . 592, 605, (633), 638, 641 (T), 649, 654, 6 7 6 , 6 8 1 , 682, 6 8 6 , 6 8 8 , 7 0 0 , 7 0 1 , 704, 7 3 0 , 738, 760, 7 7 3 , 8 0 2 / 0 3 , 8 2 4 , 8 3 8 , 8 4 8 , 869, 8 7 0 , 8 7 2 , 873, 894, 900, 910, 911, 9 3 3 , 954. 960. P h a n t a s i e , „ E i n b i l d u n g s k r a f t " (Erfindung, Einfall) S. 1 6 , 20, 87, 95, 9 9 , 100, 1 0 7 , 148, 230, 2 4 6 , 263, 3 1 1 , 418, 419, 428, 431, 474, 553, 5 5 7 , 6 7 0 ( T ) , 6 7 2 , 6 7 6 , 6 7 7 , 6 7 8 ( T ) , 6 7 9 , 6 8 4 , (693), 729, 731, 757, 780, 802, 8 0 7 , 8 2 2 , 845, 846, 883, 886, 914. G e n i e (Genialität und Geniebegriff) S. 1, 2 , 3 , 6 , 11, 35, 49, 1 0 1 , 157, 158, 159, 161, 164, 167, 174, 179, 192, 2 3 6 , 3 9 8 ( T ) , 3 9 9 , 406, 4 0 7 , 4 0 8 , 489, 650, 660, 676, 681, 6 8 8 , 689, 7 5 7 773. 787. 839· G e s c h m a c k S. 4, 21, 64, 87, 129, 163, 164, 1 9 2 (T), 194, 197, 201, 2 0 3 , 2 0 6 , 393, 396, 4 0 6 , 4 0 7 , 467, 4 6 9 , 546, 577, 580, 59 1 . 59 2 .593.594. 59 6 . 6 o 2 . 6 49. 6 5 ° . 6 5 * . 7 6 3 . 7 7 2 . 829, 950. I n t u i t i o n u n d I n s p i r a t i o n (das Intuitive) S. 8, 230, 238, 276, 392. 399. 400, 407. 408, 419. 421, 442, 446> 4 6 5. 493. 6 6 6 . 667, 777, 790, 803, 829. D a s S c h ö p f e r i s c h e S. 2, (11), 85, 9 4 , 9 5 , 9 9 , 1 9 6 , 211 (T), 2 7 6 , (327). 398. 416,475,493, 510 („schöpferisches Bewußtsein"), 536. 550, 557. (644). 67 6 . 6 8 5 . 697, 698, 769, 7 9 2 , 883, 901. D a s U n b e w u ß t e (z. Teil auch psychoanalytisch) S. 47, 129, 156, 2 1 8 , 247, 379, 393, 438, 446, 449, 452, 455, 456 (T), 457. 509. 510, 511, 514, 515, 520, 671, 7 0 1 , 762, 7 6 4 , 803 (T), 829, 8 4 2 , 883, 8 8 5 , (949, 950). 63·

996

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND KENNWÖRTER

D a s „ T e m p e r a m e n t " (besonders im Naturalismus) S. 2,10,11, 1 7 . 3 4 . 7 9 . 85/86, 106, 1 0 8 , 1 1 0 , 335, 7 4 1 , 7 4 2 , 7 4 4 , 7 4 5 .

D a s „ R a u s c h h a f t e " (als Konzeptionsstimmung, besonders im Expressionismus) S. 136, 137, 144, 145, 146,147, 153,167, 174, 188, 404, 409, 418, 434, 556, 752, 753.

D a s E k s t a t i s c h e (besonders im Expressionismus) S. 406, 410, 412, 425, 426, 428, 434, 448 u. ö. „ E r l e b n i s " u n d „ E r l e b e n " (Erlebnisgrundlagen, aber auch Begriff) S. 38/39, 41, 42, 43, 52, 72, 96, 103, 242, (355, 369). 370, 37 2 · 39°. 4J9> 425, 478, 497. 67°. 6 7i> 672, 673 ( T ) , 674, 6 7 7 , 679/80, 684 ( T ) , 6 8 6 , 6 8 7 , 6 9 0 , 694, 697, 698,

699, 701, (702), 734, 747, 780, 781, 793, 807, 886, 908—10,

914, 925 (Entwertung), 927 (vgl. auch Wesen der Dichtkunst: das „Lebendige" u. Lebenshaltige). D a s O r i g i n a l e u n d U r s p r ü n g l i c h e S. 2, 23, 95, 96, 171, 423, 776, 895, 897.

V i s i o n u n d d a s V i s i o n ä r e S. 4, 237, 238, 253, 265, 351, 372> 373. 385. 395. 39 6 . 4o. 4™> 4 « . 4 " . 4^3. 4*5. 4 i 8 > 419, 421, 425, 426, 428, 442, 445, 448, 493, 495, (545), 620, 625, 6 2 7 , 6 2 9 , 6 3 2 , 7 6 8 , 7 8 2 , 7 9 0 , 8 4 7 , 8 9 4 , 918/19, 9 2 0 .

B e o b a c h t u n g S. 11 12, 15, 16, 18, 20, 39, 59, 71, 336, 361, 369, 377, 465, 466, 585, 629, 663, 890, 893, 913.

D a s P r o b l e m der „ M e t h o d e " (zum Teil Überbewertung der Verfahrensweise) S. 11, 15, 16, 17, 32, 43, 71, 79, 80, 103, 105, ( h i ) , 263, 264, 287, 288, 289, 294, (356), 377, (384), 518, 521, 587, 588, 769, 795.

V o r s t u d i e n , A r b e i t s l e i s t u n g , „ F e i l e n " (Fleiß, Bewertung u. Entwertung) S. 71, 100, 101, 211, 274, 276, 488, 489, 496· 530, 586, 838, 839, 840, 848, 849, 870, (890), 933, 953.

B e s o n n e n h e i t S. 44, 99, 136, 146, 147, 152, 158, 596, 810, 811, (863), 869.

D a s M o m e n t der „ E r i n n e r u n g " (auch im vertieften Sinne) S. 96, 230, 628, 676, 677, 693, 789, 884, 960. D a s E i n d r u c k / A u s d r u c k - V e r h ä l t n i s S. 368, 402 (T), 405/06, 407, 411/12, 413, 418, (425), 426, 675, 774, 836, 852, 865.

K u n s t t e c h n i k S. 3 (T), 4, 24, 39, 43. 54. 7°. 80, 81/82, 86, 105, 120, 276, 442, 592,

121 (T), 122, 123, 126, 202, 225, 232, 279, 319. 352. 353. 355. 359. 3&I. 443, 458, 476, 490, 498, 516, 526, 564, 606, 620, 623, 629, (633), 660, 679 (T), 728, 733, 738, 741. 759. 761, 7 6 9. 794. 795. 278,

855. 897. 906, 930, 933. 938, 942, 964·

262, 366, 565, 698, 830,

274, 275, 386, 425. 585, 586,

699, 727, 838, 848,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

W e r k w e r d e n und W e r k w a n d l u n g ; der Wille zum

997 Werk

S. 43/44, 209, 2 1 1 , 298, 530, 5 3 1 , 595, 596, 601, 606, 7 1 6 , 724, 725, 735, 743, 754, 869, 890, 892/93, 921, 924, 9 2 7 ,

934. 944. 945· D a s V e r w e r t e n e i n e s M o d e l l s , M o d e l l d i c h t u n g (genauer: P o r t r ä t d i c h t u n g , T y p u s : Th. Mann, G. Hauptmann) S. 20, 28, 42, 43, 48, 117, 297, 325, 489, 498, 5 1 1 , 512, 526, 529, 626, 718, 719, 890, 892/93, 909, 933, 945/46 (Selbst-

porträt). D a s A u f s t e l l e n e i n e s M o d e l l - M u s t e r s (mehrfach als Anlaß zur Produktion, genauer: P a r a d i g m a - D i c h t u n g , T y p u s : H. Ibsen, Arno Holz, B . Brecht) S. 26, (35), 39, 59, 61, 66, 239, 297, 300, 303, (322), 356, 716, 775, 802, 804, 805, 818 (neues Genre). D a s V e r h ä l t n i s : D i c h t e r / S c h r i f t s t e l l e r (bzw. „ L i t e r a t " ) S. 47 (T), 128, 194 (T), 237, 242, 349, 387 (T), 498, 509, 5x0, 5 1 1 , 512, 513, 514, 515/16. 5 22 > 527. 529. 541. 572, 599, (649), 651, 652, 684/85, 686, 688, 807, (812), 867, 919. 934. 937. 938· D a s M o m e n t d e r „ S t i m m u n g " S. 20, 94, 185, 188, 189, 256, 268, 269, 279, 3 1 3 , 328, 341, 385—89, 396, 4 1 1 , 602, 606, 694. 695, 716, 725, 818, 830, 941, 942.

Reduktionsverfahren

(besonders im Impressionismus) S. 58,

378, 383/84, 385, 435 u. ö.

D a s M o m e n t d e r K o n z e n t r a t i o n S. (68), 123, 129, 178, 289, 294, 308, 389, 526, 530, 604, 638, 797, 828. A s s o z i a t i o n s v e r f a h r e n S. 263, 264, 791, 804, 861 u. ö. N a c h e i f e r n e i n e s l i t e r a r i s c h e n V o r b i l d e s (Vorbild-Poetik u. Abwehr) S. 2, 26, 29, 30, 36, 41, 47, 65, 66, 71, 94, 103, 1 1 6 , 125, i69f., 203, 209, 269, 279, 280, 282, 288, 295, 301,

329. 331, 335. 345. 346. 373, 476, 483/84, 580, 581, 585, 590, 627, 710, 7 1 1 , 716, 804/05, 807, 808, 815, 819, 835, 852/53, 888, 890, 896, 913, 925, 929, 930, 944, 952.

Das

Verhältnis von Produzieren und Theoretisieren (bzw. Kunstwollen u. Kunstschaffen) S. 1 1 , 13, 18, 19 (Prinzipielles), 20, 27, 28, 29, 32, 33, 34/5, 36, (38), 39, 43, 44, 47, 53, 62, 65, 78, (84), 85/6, 87, 90, (91), 94, 103, 105, 106, 115, (119), 121, 122, 123, 126/27, 20I > · · · 2 3 ° . 2 3 2 > 239 (Bevorzugung des Einzelhinweises), 262, 278, 298, 300, 304, 305. 310, (316), 337, 343, 349, 370, 371, 372, 376, 380, 417, 444, 470, 475, 484, 485, 500, 585, 587, 596, 597, 631, 663, 670, 682, 7 1 6 , 717, 719/20, 723/24, 724, 726, 729,

73°, 73*. 735. 74*. 7 7 ° , 772, 777. 778. 79°; 801, 802, 804, 817. 833, 844, 853, 892, 910, 934.

998

VERZEICHNIS D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

Widerstreiten (Gegensatz) v o n K u n s t w o l l e n u n d K u n s t l e i s t u n g (Widerspruch: Theorie/Praxis) S. n , (16), 18, 19, (20), 31 (Artbezeichnung), 35, (39), 59, 60, (62, 63, 68), 70, 71, 8i, 117, 118, 119, 120, 121, 122/23, i7 6 /77. 227, (232, 241), 280, 303, 343, 344, 349, (372), 376, 379, (380), 470, 599, 663, 713, 724, 730, 739, 741, 749, 750, 790, 791, 803, 833, 839, 853. D e r D i c h t e r a l s T r ä g e r d e s S c h a f f e n s v o r g a n g e s (der Dichtertypus, der „echte Dichter" und der „wahre Künstler") S. 1 (T), 10, 11, 16, 17, 93, 96 (D), 97 (T), 100, 102 (D), 103 (T), 147/48, 148, 155, 160 (Entwertung), (197, 198), 225, 226/27, 233 (T), 234 (T), 236, 237, 239, 242, 243, 256 (T), (257, 258), 260, 274 (T), 311, 373 (T), 375 (T), 378. 3 8 i , 389. 400, 456, 463, 474. 475- 484 (T), 485, 495- 5*3 Ρ ) . 518, (529, 530), 531. 543 (T), (545), 57*. 600, 601, 602, 603, 606, 607, 636, 637, 641, 642, 644, 655, 666, 670 (T), 673, 676, 677, 678, 680, 682, 686, 688, 689, 697. 7 ° ° . 7 0 I > 705 (T), 711, 717. 726, 735, 748, 756/57, 759, 760, 762, 764, 766, 767, 783, 789, 790, 791, 792, 796, 807, 812, 822, 823, 839, 843, 847/48, 888/89, 893, 897, 919, 924, 964. D i c h t e r i s c h e s S c h a f f e n (Bezug auf Einzelwerke der Dichtkunst) S. 1, (2), 4, 5, 7, 8, Ii, 15, 16, 19, 20, 21, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 3 1 , 32, 3 3 , 34, 35, 38, 39, 40—43, 4 6 , 4 7 , 49,

50, 51, 53, 54, 55, u. ö. 58, 59, 60, 61, 77, 79, 81, 94, 98, 1 1 5 , 117—20, 1 2 8 , 1 3 0 , 1 3 5 , 1 3 6 , 1 7 0 , 1 7 2 , 174, 1 7 5 ,

176, 177, 185, 190, 194, 195, 203, 204, 207, 217, (218), 219, 221, (223), 224, 226, 229, 230, 231, 232, (233), 234, 238, 239, 243, 244, 245, 246, 247, 249, 250, 251, 253, 255, 256, 257, 258, 259, 263, 266, 267, 268, 269, 270, 272, 273, 274, 277, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 287, 295, 296, 299, 300, 309, 310/11, 312, 317, 324, 325, 326, 327, 329, 330, 331, 333, 334, 340, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 355, 356, 357, 358, 359, 361, 369. 37°- 3 7 1 , 37 2 · 374, 381, (382), 385, 386/87, 388, 389, 39°, 39 1 - 400, u. ö. 450, 451, 452, 454/55- 458, 459, 460, . . . 467, 468, 470, 473, 474, 475, 476, 478, 4 7 9 , 484, 485, 486, 487, 489—93f., 498, 5 0 1 , 503,

506, 507, 5°8, 511, (512), 516, 517, 519, 522, 523, 5 2 4f-, 530, 537, 538, 540, 541, 543, 545, 546, 547, 550, 551 f., 561—€70, (werkimmanente Poetik), 689, 695, 703, 715, 716, 718, 719, 720, 721, 722, 723, 724, 725, 726, 729, 730, 731- 735, 736, 739, 740, 741- 743, 745, 747- 748, 749, 758, 759, 762, 767, 768, 770, 772, 773, 775, 778, 779, 780, 782, 789, 792, 794, 795, 797, 800, 801, 802, 804, 805 (T), 806,

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND KENNWÖRTER

807, 823, 847, 870, 915,

808, 811, 812, 814, 815, 816, 817, 818, 819, 820, 830, 831, 835, 838, 839, 840, 841, 842, 844, 845, 848, 849, 850, 853, 854, 855, 856, 857, 858, 859, 880, 88i, 882, 902, 903, 904, 906, 909, 911, 916, 917, 921, 923, 930, 931, 932, 934, 935,

999 821, 846, 860, 912, 936,

938, 939. 940, 941· Verhältnis von Kunstwert-Schaffendem und Kunstw e r t - A u f n e h m e n d e m (Berücksichtigung bzw. Nichtberücksichtigung des Kunstwert-Aufnehmenden u. dessen Reagieren; Rezeption) S. 4, 9, (24), 27, (30), 31, 32, 42, 45, 51, 54, 71/72, 83, 101, 110, 123, 125, 148, 149, 168, 178 (T), 192, 200, 216, 235, 237, 238, 252, 260, 261, 272, 273, 274, 279, 297, 283, 286, 301, 306, 343, 352, 353, 361, 365, 378, 381. 404. 421, 422, 428, 429. 465. 494. 520, 522, 525, 541 (T), 561, 591, 648, 653, 680, 693, 702, 723, 731, 754. 769. 782, 788, 790, 804, 813, 848, 853, 890, 896, (899), 911, 936. F u n k t i o n der n a c h s c h a f f e n d e n P h a n t a s i e des K u n s t w e r t a u f n e h m e n d e n S. 71, 83, 110, 125, 283, 421, 428, 693· Kritik, Publizistik und Dichtkunst (und Selbstkritik) A l l g e m e i n e s (und Bestände) S. 1 (T), 8, 10, (13, T), 15, 19, 23, 24, 25, 30, 67 (T), 68, 72/73, (74), 77 (T), 85, 98, 127, 128, 129, 133, 136, 179, 180, 193, 194, 203, 216, 223, 227, 234. 235. 249. 3 I 4, 315. 316, 317, 320, 322, 323, 324—27, 338 (T), 341, 342, 348, 349, 350, 357, 358, 360, 365, 375 (T), 376, 379. 402, 413 (T), 414, 430, 512, 513, 515, 516, 5i8, 532, 539. 6 5 i . 652, 656, 680 (T), 681, 682, 691 (T), 712 (T), 717, 719, 729, 736, (744, T), 748, 750, 756 (T), 758, 768, 780—82, 790, 792, 816 (T), 818, 824 (T), 840, 841, 854. 855, 856, 888, 891, 892, 893, 894, 897, 908, 911, 929. 933. 934. 93 8 . 942. 944. 952. K r i t i k u n d K r i t i k e r t u m S. 11, (12), 23, 24, 30, 179, 180, 216, 314, 315, 3 1 7 1 , 320, 322, 375 (T), 379, 402 (T), 430, 472, 483, 780f., 816 (T), 841, 892. K u n s t k r i t i k u n d k r i t i s c h e K u n s t (Wesen, Wert, Wirkung) S. 24, 73, 128, 129, 130, 132, (180), 216, 227, 314, 315, 341, 430, 780f., 816, 841, 892. K r i t i k a l s W a f f e (Kritik u. Tendenz) S. 30, 72/3, 320, 3 2 3. 324, 325, 33 8 . 339. 342 349. 816, („Kampfkritiker"). T h e a t e r k r i t i k S. 1 (T), 30, 76, 77, 98 (T), 121, 122 (T), 126, i28f„ 131 (T), 322, 471, 472, 495, 505, 511, 691 (T), 692, 822 (Ausweitung zur Literaturkritik), 952, 955.

1000

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

T h e a t e r k r i t i k a l s „ D i c h t u n g s g a t t u n g " S. 127, 128, 129, 133, 227 (Kunstkritik), 841. V e r h ä l t n i s z u r S e l b s t k r i t i k (Selbstkritik u. Mangel an Selbstkritik) S. 19, 61, 314, 322, 348, 350, 359, (430), 472, 474. (5i8), 523. 526, 529, 639, 657, 719, 720, 721, 738, (759/6o), 768, 838, 897, (911), 933, 944. D e r D i c h t e r a l s K r i t i k e r S. 8, 10, (11), 36, 45, 50, 64, 127, 129, 131, 132, 133, 149, 179, 249, 314, (317), 322, 348, 349, 357 (T), 376, 414. 472> 483. 5 I2 > 51 6 . 532, (539). 748. 764, 780f., 790, 816, 825, 838/39, 840, 841, 855, 856, 892, 893. 894, 942· D e r K u n s t w e r t a u f n e h m e n d e a l s K r i t i k e r S. 216, 686, 694, 702/03, 716, 722, 723, 724, (790), 799, 804, 848, 853. 890, (91X), 936. K r i t i k d e r K r i t i k (Anti-Kritik) S. 4, 8, 32, 129, 131 (T), 132, 133, 223, 227, 322, 348, 358 (T), 365, 472, (483), 512, 515, 516,816,(825). V e r h ä l t n i s v o n K r i t i k u n d P o e t i k (Kunstkritik/Kunsttheorie, Wertkriterien der Urteilsbildung, Gesetze der Kritik) S. (4), 10, 125, 126, 133, 216, 223, 227, 314, 315, 316, 318, 319, 320, (321), 322, 323, 324, 326/27, 338 (T), 339. 344. 348, 349, 358, 360, 365, 377/78, 379, 513, 516, 518, 680 (T), 681, 682, 683, 687, 690, 691, 692, 694, 695, 700, 717, (Theoretiker/Kritiker/Dichter-Verhältnis), 780, 782, (Widerspruch: Rangsystem/verstehende Kritik), 792, 802, 818, 839, (841), 850, 856, (862/63), (869), 888, 891, 892, 908, (911), 933. P u b l i z i s t i k (Wesen, Wert, Wirkung) S. 1, 2, 5, 11, 52, 194 (T), 203, 234, 235, 249, 513, 652, (781), 901, 950. P u b l i z i s t i s c h e r S i n n (Neigung, Anlage, Talent) S. 203, 234, (249), 314, 781, 816, 841. D e r D i c h t e r a l s P u b l i z i s t (bzw. Journalist; Wert- u. Wirkungsverhältnis von Poesie u. Publizistik) S. 10, 21, 22, 23. 52, 203, 234, (322), 375 f., 781, 816, 832, 841 (T). B e w e r t u n g u n d E n t w e r t u n g d e s „ L i t e r a t e n " S. 74, 112, 194 (T), 195 (T), 196, 203, 242 (T), 331, 337, 349, 387 (T), 389, (413, T), 414, u. ö. T y p u s , A n l a g e , T e n o r , S t i l u n d S o n d e r f o r m e n d e r Kritik S. 4, 10, 124, 126, 129/30, 131, (192), 203, 227, 235, 320, 322, 325, 326, (328), 338 (T), 340, 341, 375, 376, 379, 402, 532, 652, 653, 780, 781, 782, 816, 841. D e r E s s a y als k r i t i s c h e s Genre u n d G r e n z f o r m der P o e s i e (Essay u. das Essayistische im Roman) S. 283,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

1001

KENNWÖRTER

326, 854, 900, 934, 938 (Basis der Produktion), 944, (945), 946, 947, 950.

Gehalt und Gestalt (Haltung und Gestaltung) A l l g e m e i n e s (und Gesamtbestand) S. 11, 12, 14, 20, 21, 25, 26, 67, 70, 7 1 ,

80, 8 5 , 8 9 , 91/92, 9 3 , 9 9 , 1 0 0 ,

101,

102,

107,

145, 1 5 3 (T), 178, 185 (T), 186, 187, 189, 191, 197, 199, 200, 202, 209, 218, 229, 232, 238, 240, 241, 242,

126, 198,

243, 244, 249, 252/53, 2 5 4 , 2 5 6 ,

258, 259,

274, 275, 2 7 7 (T), 279, 283, 284, 286, 297. 299, 302, 303, 3 1 4 , 3 1 5 , 319, 325,

288, 327,

260, 265,

271,

289, 290, 292, 328, 337, 340,

341. 343- 347/48, 351. 355. 372, 382 (T), 388, 392, 393, 396, 468, 650, 702,

408 (T), 412, 4 2 1 , 432, 439 (T), 449, 465, 513, 5 1 8 , 528, 536, 552, 594, 595, 608, 630, 651, 682, 684, 685, 689, 690, 691, 962, 693, 699, 700, 7 0 3 (T), 705 (T), 7 2 2 , 735, 747, 778, 779, 797 (T), 799,

803,

4 0 1 , 402,

500, 5 1 2 ,

811,

8 1 2 / 1 3 , 828,

829.

850,

883, 884, 887,

894,

929,

930, 955· B e w e r t u n g d e r F o r m (Prävalenz der Form und Entwertung) S . 1 1 , 12, 2 1 , (32), 80, 91/92, 9 3 , 1 4 5 , 153 ( T ) , 178, 1 8 5 186,

187, 191, 197,

198,

200, 241, 242, 244,

249,

(T),

260, 274,

275, 277 CT), 283, 284, 286, 288, 290, 297, (298), (305, 309), 3 1 4 , 3 1 5 , 3 1 9 , 3 2 5 , 3 2 7 , 3 4 1 , 347/48, 3 5 1 , 3 5 5 , 3 7 2 , 3 8 2 ( T ) , 388, 390, 392, 393, 396, 401, 402, 408 (T), 412, 4 2 1 , 423, 432, 439 (T), 448, 449, 463, 465, 4 6 8, 5°°, 501, 5 " , 513, 5 1 8 , 521, 528, 530, 536, 552, 594, 595, 607, 608, 626, 630, 5of., 6 8 2 , 6 8 4 , 6 8 5 , 689, 690, 693, 7 0 0 , 7 0 2 , 7 0 3 , 7 0 5

(T),

722, 735, (754), 778, 797 (T), 803, 811, 812, 813, 828, 829, 848, 850, 870, 883, 898, 929, 930, 955. B e w e r t u n g d e s I n h a l t s (Prävalenz des Inhalts und Entwertung) 401,

S. (5), 2 1 , 69, 91, 92, 100, 2 4 1 , 277, 284, 347/48, 432,

694, 700,

500, 701,

518,

521,

684,

6 8 5 , 6 8 6 , 687/88, 6 8 9 , 6 9 0 ,

702, 703, 723, 747,

812,

868,

898.

S t o f f / I n h a l t (Stoff als solcher und Stoffwahl usw.) S. 40, 69, 70, 85, 89, 99, 100, 101, 102, 107, 1 2 6 , 208, 209, 210, 241, 242, 2 7 7 ,

2 8 3 , 2 8 4 , 2 8 6 , 292, 3 2 5 , 3 2 7 , 3 4 0 ,

343,

347/48,

373- 4 4 9 , 4 5 ° , 45 6 > 4 9 9 , 5 o o , 5 1 8 , 5 2 1 , 5 2 3 , 5 5 2 , 5 7 8 ,

694, 699, 700, 799, 884, 887.

701, 702,

584,

703, 716, 722, 723, 730, 797 (T),

A u s g l e i c h u n d F o r m / I n h a l t - G a n z h e i t (Einheit von Stoff und Form) S. 69, 70, 91/92, 252/53, 500, 525, 528, 699, 702, 7 0 3 , 704, 7 3 3 , 894.

1002

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

„ I n n e r e F o r m " (problematischer Begriff; Verhältnis zur „äusseren Form") S. 224, 265, 266, 327, 401, 405, 475, 483, 484, 689, 690, 691, 699, 700, 702, 705, u. ö. V e r h ä l t n i s v o n I n h a l t u n d G e s t a l t u n g (Stoff-Form-Verhältnis) S. 12, 2 i , 66, 67, 69, 70, 89, 91, 99, ioo, 123, 240, 241,

242,

252/53,

302,

5®3. 5 8 9. 593, 599-

6

327,

5°.

6

499,

500,

518,

528,

582,

5 i . 7°3, 7°4. 7 2 2 · 73*. 733.

768, 779, 799, 808, 811, 894, 897, 898, 933.

V e r h ä l t n i s v o n M o t i v u n d F o r m (besonders M o t i v u. Stoff) S. 14 (T), 20, 25, 26, 42, 46, 53, 56, 70, 71, 81, 85, 89, 99, 100, 189, 218, 229, 232, 238, 240, 257, 258, 259, 279, 288, 290 (T), 292, 303, 325, 328, 337, 340, 351, 374, 379, 402, 412, 426, 449, 450, 453, 454, 455, 463, 482, 483, 500, 5o8, 509. (517). 5i8, 526, (529), 565, 566, 567, 568, 570, 571, 574, 576, 578, 580, 581, 614/15, 616, 617, 618, 619, 622, 626, 631, 635, 636, 641, 648, 649, 650, 653, 654, 658, 664, 665, 681, 687, 689, 694, 703, 714, 748, 778, 790, 797, 805, 807, 815, 830, 842, 859, 882, 884, 887, 889, 892, 907, 909, 927, 929, 930, 9 3 1 , 934, 935, 936, 940, 941/42, 943,

945- (949). 963. 9 6 4. 9 6 5· A l l g e m e i n e r S t i l b e g r i f f S. 178, 185, (291), 323, 326, 327, (382, T), 385, 387, 390, 411, 448, 462, (463), (586), 704, 776, 834 (T), 841. K o m p o s i t i o n u n d S t r u k t u r (vorwiegend allgemein) S. 26, 178 (T), 209, 282, 355, 598, 599, 632, 633, 679, 680, 690, 6 9 1 , 696, 704/05, 714, 728.

K u n s t t e c h n i k (vgl. Der dichterische Schaffensvorgang). G e g e n s t ä n d l i c h e u n d a n s c h a u l i c h e D a r s t e l l u n g (Gegenständlichkeit u. Anschaulichkeit) S. 68, 70, 89, 155, 186, 197, 239, 240, 241, 258, 265, 271, 279, 289, 314, 421, 494, 671, 675, 676, 677, 699, (701), 702, 704, 727, 795, 796, 836, 863, 870, 906, 942. T y p i s c h e D a r s t e l l u n g (und das Typische) S. 68, 69, 103, 294, 326, 354. 384. 411. 476. 477. 540, 553. 594. 620, 663, 673, 675. 699. 727. 745. 796, 816, 873. S y m b o l i s c h e D a r s t e l l u n g (Symbol u. das Symbolische) S. 46, 81, 230, 243, 244, 254, 256, 258, 263, 264, 265, 271, 289,

299. 374. 399. 441. 5°4. 5«5, 536. 537. 594. 597. 6 n ,

613, 614, 621, 622, 642, 675, 689, 697, 699, (701), 745, 758 (T), 840, 864, 870, 883 (D), 884, 906, 912, 942. A l l e g o r i s c h e D a r s t e l l u n g (Allegorie u. das Allegorische) S. 183, 243, 265, 325, 441, 479, 530, 594, 597, 614, 622, 699, 759. 79 6 . 8 33. 840, 859, 906, 942.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

1003

R e a l i s t i s c h e D a r s t e l l u n g (und das Realistische; Bewertung, Entwertung) S. 23, 46, 47, 64, 66, 82 (T), 84 (T), 87, 89, 90, 100, 113, 114, 115, 121 (T), 122 (durchgängig im Naturalismus), 177, 181, 329, 340, 351, 353, 359, 362, 363. 364. 371. 383 (T), 601, (629), 670 (T), 673, 679, 718, 721, 731, 747, 749, (761), 866, 889, 931,941,942, 951. A b s t r a k t e D a r s t e l l u n g (das Abstrakte u. die Abstraktion, auch als Forderung) S. 41, 230, 259, 260, 263, 281, 282, 287, 288, 289, 294, 296, 298, 299, 303, 305, 316, 327, 383. 397. 424. 429/3°. 431. 436. 440 (T), 441, 443, 444. 446, 469, 479, 481 (T), 532, 680, 757, 759, 796, 803, 804, 808, 863, 865, 912, 941, 942. I r o n i s c h e u n d s a t i r i s c h e D a r s t e l l u n g (auch Satire als Genre) S. 66, 100, 113, 190, 252, 464, 469, 470, 483, 516, 518, 519, 520, 524, 538, 623, 633, 635, 647, 649, 651, (654), 659, 665, 666, 778 (T), 842, 858, 873, 889, 890 (T), 925—28, 930, 931, 933/34. 937. 942, 952, 960-

I n d i v i d u e l l e H a l t u n g u n d G e s t a l t u n g (Individualismus und das Individuelle) S. 2, 3, 31, 34, 85, 86, 103, 110, 188, 215, 216, 219, 221, 225, 381, 466, 635, 638, 661, 663, 685, 686, 687, 688, 699, 702, 742, 744, 745, 828, 866, 867, 885, 915, 917, 946, 959, 960. H e r o i s c h e H a l t u n g u n d G e s t a l t u n g (und das Heroische) S. 96, 139, 157, 158, 159, 161, 164, 165, 166, 167, 174, 285, 291, 295, 766, 802, 808, 809, 819. D a s M o n u m e n t a l e (Ausschnitt) S. 756, 761, 762. P a r o d i e r e n d e D a r s t e l l u n g (Parodie u. das Parodistische) S. 503, 530, 601, 630, 891, 898, 899, 929, 930, 931 (D). D a s R h e t o r i s c h e S. 16, 172, 177, 179, 850, 893, 950. D a s P a t h e t i s c h e (im weiteren Sinne) S. 2, 74, 142 (Terminus) 172,, 177, 178, 390, 416, 426, 4 3 4 . 4 5 2 (Terminus), 629,630, 640, 641, 643, 647, . . . 812, 816, 836, 850, 891, 950. D a s A u s e r l e s e n e , A p a r t e , S e l t e n e , V o r n e h m e (u. Entwertung) S. 4, 6, 214, 257, 289, 291, 393, 767, 897. D a s P a t h o l o g i s c h e in H a l t u n g u n d G e s t a l t u n g S. 98, 251, 434. 452, 482, 483, 488, 508, 523, 573, 641, 642, 643, 647, 678, 748, u. ö. D a s G r o t e s k e u n d P h a n t a s t i s c h e (Haltung/Gestaltung) S. 47, 84, 153, (155), 156, 264, 372, 448, 633, 634, 635, 637, 638, 646, 906, 928. D a s N a i v e u n d S e n t i m e n t a l i s c h e (tritt in der Theorie zurück) S. (121), 144, 145. 329. 440, 49 1 . 501. 614, (931)· D a s D i o n y s i s c h e u n d A p o l l i n i s c h e S. 112, 142, 143, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, (152), 153, 154, (156, 161),

1004

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND K E N N W Ö R T E R

165,

166,

167,

169,

174, 408, 593, 613, 641, 649,752,

753, 754. 755 (T), U . ö. D a s V i s i o n ä r e (vgl. Dichterischer Schaffensvorgang). D a s O r p h i s c h e S. 146, 156. Subjektivität (Subjektivismus, das Subjektive) S. (214), 381, 382, 691, 701, 705, 742, 744, 812, 836, 956, 959, 964. O b j e k t i v i t ä t (und das Objektive) S. 75, 87, (214), 240, 283, 285, 381, 382, 582, 585, 691, 701, 705, 742, 744, 747, 812, 956, 960, 964. D a s P l a s t i s c h e als F o r m p r i n z i p und a l l g e m e i n e r S t i l w e r t S. 68, (70), 89, (153), 704, 911. H u m o r u n d K o m i k (Haltung/Gestaltung) S. 8, 74, 75, 78, 290, 293, 295, 296, 353, 359, 361, 454, 456, 457, 458, 459, 469, 634, 637, 680, 689, 700, 701, 717 (T), 840, 893, 895, 896, 926, (949, T). D a s K a r i k a t u r i s t i s c h e S. 74, 322, 409, 469, 530, 540, 632, 661, 663, 858, 890, 893. D a s T r a g i k o m i s c h e (vgl. Dramatische Gattung). D a s O r n a m e n t a l e S. 401/02, 756, 761, 762, 863, 950. D a s M o m e n t des D i f f e r e n z i e r e n s S. 148, 369, 374, 375, 376, 377. 38i, 382, 385, 386, 391, 443, 499, 523 u. ö. D i e N u a n c e S. 125, 189, 229, 244/45, 388, 389, 390, 392, 593, 839· D a s D e t a i l (Mosaik, Minutenstil) S. 61, ior, 124, 227, 296, 374, 375, 387, 393, 395, 4 " , 428, 477, 561, 562, 585 (Terminus), 588, 733, 746, 761, 766, 832, 856, 870. D a s M a g i s c h e u n d N u m i n o s e S. 235, 237, 243, 244, 247 (T), 252, 401, 403, 404, 406, 407, 425/26, 429/30, 477, 479, 480,

552, 553, 554, 623, 666, 667 (T), 668, 762, 789, 870, 906, 920, 963. D a s T r a u m h a f t e S. 62, 100, 144, 145, 147, 153, 201, 242, 246, 251, 378, 385, 427, 450, 456/57, 503, 597, 615, 621 (T), 623 (T), 647, 677, 752, 753, 781 (T), 801, 886, D a s P r i m i t i v e (durchweg als positiver Wert) S. 145, 213, 413, 422, 427, 440, 446, 449, 629, 630, 631, 639, 893. D a s V i t a l e S. 147, 433, 499, 634, 639, 660.

903, 243, 620, 919.

214,

Dichtungsgattungen (Sonderformen und Arten) A l l g e m e i n e s S. 5, 6, 15, 31/32, 42, 43, 59, 60, 78, 80, 81, 93, 201, 202, 233, 251, 318, 348, 410, 421, 429, 444, 498 (T), 505, 5°7> 539- 540, 541, 546, 5 6 i > 5 ß2 > 563, 576> 577, 57 8 , 581, 582, 585, 609, 645, 674, 679, 686, 688, 689, 690. 6 9 1 — 96, 704, 768, 777, 799/800, 836, 880, 918, 938, 954.

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND K E N N W Ö R T E R

Gattungsgesetz, S . 60,

78,

Gattungsbegriff, 80,

81,

93,

309,

318,

1005

Gattungsgliederung 561/62, 850, 854, 8 7 3 ,

918. A n s e t z e n o d e r V o r s c h l a g e n e i n e r n e u e n G a t t u n g (bzw. eines neuen Genres) S. 39, 66, 127, 128, 129, 281, 356, 722, 850, 898, 918. R a n g s t u f e n u n d R a n g s t r e i t d e r G a t t u n g e n (und Genres) S. 78, 94, 154, 178, 282, 284, 291, 321, 324, 498, 500, 501, 502, 505, 507, 539, 540, 547, (562), 604, 650, 693, 798, 934. 953· P r o b l e m d e r G a t t u n g s a b g r e n z u n g (bzw. Art-Unterscheidung) S. 6, 31/32, 43, 60, 78, 80, 152, 251, 282, 340, 348, 356, 421, 498, 505, 507, 850, 851. Annäherung von Gattungen und Arten untereinander (Wechselbezug, Ablösung, Austausch u. Mischung) S. 6, 15, 59. 6 ° . 61, 80, 169, 185, 200, 201, 202, 233, 251, 284, 285, 295, 340, 484, 500/01, 561, 562, 564, 576, 577, 578, 581, 582, 585, 603, 604, 605, 606, 609, 613, 645, 654, 655, 692, 724, 725, 728, 731, 768, 945. V e r h ä l t n i s v o n B e g a b u n g u n d G a t t u n g (Eignung für Gattung und Genre) S. 185, 251, 291, 348, 576, 577, 585, (606), 623, 624, 654, 688, 768, 873. V e r h ä l t n i s : M o t i v / G a t t u n g (Motivübertragung, gattungstypologisch) S. 42, 59, 233, 289, 295, 340, 578, 688, 689, 6 94/95. 723/24. 7 6 8. 898. 944, 945· Verhältnis und Mißverhältnis von D i c h t u n g s g a t t u n g u n d K u n s t r i c h t u n g (Eignung einer Gattung für die Zielsetzung einer Kunstrichtung; Bevorzugung bzw. Vernachlässigung von Gattungen oder Genres) S. 6, 15, 16, 93,

94, 113, 1 2 0 , 1 7 8 , 185, 1 9 6 , 200, 2 0 1 , 202, 232/33, 2 5 8 , 278, 282/83, 2 δ 5 . 2 8 6 - 2 9 5 . 309. 3*7- 3 1 8 , 3 2 2 , 339- 3 8 6 ,

429, 446, 459, 561, 562, (577), 609, 613, 618, 625, (627), 728, 731, (778), 791, 792, (798/99). 816, 819, 824, 840, 850, 854/55. 856, 873, 874. B e s t i m m u n g der P o e t i k v o n einer einzelnen G a t t u n g a u s (Prävalenz der Einzelgattung) S. 291. Dramatische Gattung (Theorie des Dramas) A l l g e m e i n e s (und Gesamtbestand) S. 3 (T), 6, 7, 8, 15, 17 (T), 18, 19, 20, 21, 25 (T), 26, 27, 31, 33, 34, 35, 36, 43, 45, 51, 56, 57. 59. *>. (62), 65 (T), 71, 75 (T), 76, 77 (T), 88, 94, 115, 117, 121 (T), 122 (T), 123, 124, 126, 138 (T), 143, 146, 147, 149, 151, 153, 168 (T), 169, 178 (T), 185, 200, 201 (T),

1006

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

202, 212 (T), 230, 232, 246, 248, 250, 251, 253, 254, 255, 258, 259, 268, 269, 278, 279 (T), 280, 281, 299, 300 (T), 301, 309 (T), 310, 317, 320 (T), 321 (D), 322, 340, 341, 342, 344 (T), 348, 361, 424, 429, (431), 446 (T), 471, 473, 474 (T), 475- 482, 483, 492f., 497, 498, 502, 507, 508, . . . 564f., 569, 574, 576, 597, 598 (T), 600, 601, 603, 604, 605, 609, 614, 615, 6i6f., 626, Ö28f., 632, 633, 648, 655, 656, 674, 679 (T), 680, 681, 686, 689, 690f., 694, 696, 714, 7 1 7 1 , 721, 722, 723/24, 725/26, 728, 729—32, 733, (734), 755. 7 66 > 767. 7 6 8. 797 ( T ). 79^. 799. 8 o ° . 8 o 1 . S o 3 f · . 810 (T), 811 (T), 814 (T), 815 (T), 817, 840 (D), 842, 850, 858, 872—75, 876, 879—81, 888f., 925, 933, 947, 954. R a n g s t u f e , B e w e r t u n g d e s D r a m a s S. 59, 78, 123, 154, 169, (200), 291, 293, 302, 321, 474, 475, 498, 502, 507, 508, (562,) 656, 798, 953, 954. W e s e n u n d W i r k u n g d e s D r a m a s S. 27, 59, 99, 153, 185, 200, 232/33, 241, 249/50, 291, 292, 293, 294, 296/97, 301, 302, 305, 321, (348), 474, 475, 477, 478, 479, 482, 483, 508, 696, 802, 873, 874, 898, (901), 922. S c h i c k s a l s b e g r i f f und S c h u l d b e g r i f f des D r a m a s (Notw e n d i g k e i t im Drama) S. 7, 41, 42, 56, 57, (201), 280, 281, 289, 291, 292, 294, 296, 297, 301, 302, 303, 304, 308, 310, 484, 563, 566/67, (573), 574, 622, 804, 813, 814, 902. G e s c h e h e n i m D r a m a (dramatische Fabel) S. (7), 8, 26, 28, 36, 41, 44, 56/57, 80, 123 (Vorfabel), 153, (201), 250, (282), 304, 342, 617, 648, 655/56, 804/05, 808/09, 811, 874, 882, 892, 897, 898. Handlungsstruktur, Handlungsbegriff, Aufbautechnik (auch allgemeine Komposition) S. 3 (T), 26, 27, 80, 81, 117, 121 (T), (123) 124, 153, (201), 250, 251, 269, 280/81, 282, 293, 302, 303, 305, 306, 307, 308, 340, 458, 473, 474, 483, 564, 565, 566, 569. 574. 576. 632, 633, 634, 655/56, 682, 696, 714, 721, 728, 730/31, 814, 815, 816, 873, 874, 875, 882, 896, 897, 922, 953. D i e d r a m a t i s c h e n E i n h e i t e n S. 6, 123, 308 (D), 729, 730 u. ö. D r a m a t i s c h e s M o t i v (auch Motiv u. Idee im Drama) S. 20, 25, 26, 27/28, 28, 38, 42, 56, 57, (62), (238), 280, 281, 303, (337). 340, 343. 616, 617, 618, 622, 682, 688, 689, 719, 723, 728, 797, 805, 807, 815. D a s B o t e n m o t i v i m D r a m a (der Bote aus der Fremde) S. 26, 27, 120, 564, 565, 566, 567, 568, 571, 576, 580, 714. D r a m a t i s c h e K o n z e n t r a t i o n u n d S p a n n u n g (bzw. dramatische Gespanntheit, Dynamik) S. 126,178, (200), 201, (251),

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

1007

282, 301, 302, 303, 305, 306, 307, 308, 321, 340, 424, 5 6 1 , 694, 698, 7 9 7 , 808. P e r s o n e n u n d C h a r a k t e r e (und Art der Charakteristik) S. 7, 8, 16, 1 7 , 35, (38), 41/42. 47, 54, 55, 56> 57. 6o> 6 5, 80, 1 x 5 , 1 1 6 , 1 2 3 , 124, 250 (T), 251, (281), 282, 293, 294, 303, 305, 306 (Lage: „Situation" u. Anlage: „Charakter"), 3 8 1 , 382, 4 7 8 , 4 7 9 . 482, 483. 504. 5 6 3 , 5 6 4 , 566, 616, 6 1 7 , 6 i 8 f . , 633, 634, 635, 648, 682, 6 9 6 , 7 1 3 , 723/24, 725, 728, 7 3 0 , 750, 797, 8 0 4 , 808/09, 8 x 7 , 8 4 3 , 8 5 9 , 8 8 0 , 8 8 2 , 8 8 9 , 8 9 0 , 8 9 2 , 902, 904, 9 1 6 , 923, 924.

P e r s ö n l i c h k e i t s w e r t u n d G r u p p e n w e r t (auch Personengruppierung) S. 33, 34, 200, 284, 293, 296, 307, 308, 312, 619, 620, 7 4 9 , 7 5 0 , 8 1 1 , 8 1 2 , 8 1 3 . D e r H e l d im D r a m a (Held im prägnanten Sinne; aktiver, passiver Held; Märtyrer usw.) S. 1 1 7 , 118, 119, 292, 293, 2 9 6 (der „hohe" Mensch), 306, 307, 308 (D), (309), 483, 563, 564, 575, 618, 7 9 8 (Ideenträger), 803, 808, 809, 8 1 8 , 874, 880, 8 8 1 . S p r a c h g e s t a l t u n g u n d R e d e w e i s e im D r a m a S. 4, 21, 2 7 , 33, 57, I 2 3 , (178). 340, 341, 620, 724, 7 3 0 , 731, 7 3 3 , 803, 9 1 1 , 9 5 3 u. ö. D i a l o g f o r m u n d R e d e v e r t e i l u n g im D r a m a S. 27, 3 2 , 5 1 , 57, 58. 231, 232, 2 4 1 , 2 7 9 , 2 8 1 , (340), 458, 483, 562, 5 6 3 , 632, 633, 636, 694, 808, 840, 893, 896, 897, 953. D e r K o n f l i k t im D r a m a S. 34, 2 0 1 , 250, 2 5 1 , 284, 292, 293/94, 296, 301, 302, 303, 304, 305, 307, 308, 320, 386, 617, 6 2 1 , 656, 682, (723), 725, 808, 810, 8 1 2 , 874, 898. V o r f a b e l u n d E x p o s i t i o n im D r a m a S. 8 1 , 82, 9 9 , 123, 124, 2 8 1 , 5 6 1 , 5 7 2 , 580, 882. D a s S c h i c k s a l h a f t e im D r a m a als d e r T y p u s d e r N o t w e n d i g k e i t (Parallelerscheinung in der dramatischen Handlungsstruktur zur „typischen Gestalt" in der dramatischen Charakteristik) S. 288, 294, 3 0 1 , 304, 305 (schicksalshaltige Situation), 306, 3 0 7 , 308 (Identität von Lage u. Anlage; Zurückführung von „Handlungstypus" auf „Charaktertypus"; Versuch einer Synthese), 326, 804, 902. P r o b l e m a t i k des Z u f a l l s im D r a m a S. 1 2 3 , 1 2 6 , 280, 3 0 1 , 303 (T), 304, 307, 310, 3 2 1 . K a t h a r s i s b e g r i f f S. 289 (Novelle), 292, 302, 4 5 2 , 640, 886/87. D i e T r a g ö d i e S. 1 3 8 (T), 1 4 3 (T), 1 4 6 , 1 4 9 , 1 5 1 , 285, 288, 291, 293, 296, 300, 304, 306, 307, 3 1 2 , 3 1 7 , 320, 3 2 1 , 452, 478 (D), 483, 484 (T), 498, 5 7 9 , 629, 634, 648, 6 9 1 , 696, 7 0 4 , 7 2 1 , 7 5 3 , 7 5 5 ( Ό , 7 6 8 (T), 7 7 9 , 7 9 7 (T), 798, (801), 802,

1008

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

803, 804, 805, 809 (T), 812 (T), 813, 814, 874 (D), 879, 886/87, 898. T r a g i s c h e I r o n i e S. 305, 307, 470, 483, 645. D e r C h o r i m D r a m a (Tragödienchor u. modernere Ablösungsformen) S. 150, 282, 620, 704 (T), 816. D e r M o n o l o g i m D r a m a S. 19, 20, 58, 122, 123, 124/25, 340, 632, 713» 7^9l20> 8i4. 874. A k t g l i e d e r u n g u n d B e d e u t u n g d e r S z e n e (Aktzahl, A k t schluß, Einzelszene, szenische Anmerkung usw.) S. 6, 8, (41). 44. 59. 65 (T), 81, 185, 632, 633, 634, 721, 807, 813, 881, 890, 896, 899. D a s D r a m a t i s c h e u n d d a s T r a g i s c h e S. 8, 117, 150, 168 (T), 169, 201, 249, 250, 251, 291, 292, 294, 295, 297. 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 318, 321, 322, 475, 478, 483, 484, 485, 492, 494, 504, 507, 518, 634, 635, 636, 637, 638, 641, 648, 680, 681, 688, 689, 690 (T), 692, 694. 695, 696, 721, 722, 723, 725/26, 755, 791/92, 797, 806, 808, 809 ( T ) , 8 1 0 , 812, 8 7 3 , 880, 886, 896, 901/02, 9 1 5 , 9 2 2 ,

937 (T). D a s T h e a t r a l i s c h e (auch außerhalb des Dramas) S. 132, 172, 177, 201, 202, 249, (250), 492, 493 (T), 504, 508 (T), 569, (572), 573. 577. 578, 579. 5 8 °. 641 «· ö. D e r R a u m a l s „ M i t s p i e l e r " i m D r a m a (Raumsymboük, Raumrhythmik usw.) S. 619, 620, 621, 632, 633. D r a m a t u r g i e S. 57 (T), 61 (T), 63, 249/50, 251, 812 (T), (824), 8 59. 873, 901. B ü h n e u n d D r a m a (Rückwirkung der Bühnenerfordernisse usw.) S. 15 (T), 17, 31, 64, 81, 153, 202, 306 (T), 321, 339, 361, 381, 392, 429, 494, 495, 497, 502, 508, 542, 543, 580, 584, 623, 624, 633, 639, 696, 811, 812, 813, 814, 822, 882, 898, 955. D a s L y r i s c h e o d e r E p i s c h e i m D r a m a (als Einschlag oder vorherrschendes Element) S. 185, 201, 232/33, 246, 248, 249, 250, 255, 259, 268, 269, 282 (Terminus), 303, 446, 5 6 1 , 5 6 2 , 5 9 7 , 598, 600, 6 0 1 , 6 9 2 , 7 2 8 , 730/31, 815.

V e r h ä l t n i s d e s D r a m a s z u a n d e r e n G e n r e s (Novelle, Ballade, Roman, Epos) S. 59, 60, 99, 123, 153, 154, 169, 278,

280, 282,

283, 284, 285, 287/88, 288,/89 2 9 1 , 297,

306, 309, 317, 318, 327, 340, 655/56 (häufig als Wechsel des Genres). D i e T r a g i k o m ö d i e (und das Tragikomische) S. 117, 169, 322, 455, 458, 634, 635, 636, 637, 638, 895. K o m ö d i e u n d L u s t s p i e l S. 118, 280, 293, 294, 295 (T), 296, 306, 322, 380, 454, 458, 467, 542, 571, 578, 579, 629, 633,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

1009

634, 635, 637, 691, 716, 718, 778, 801, 802, 811, 813 (D), 814, 842, 844, 871, 875, 890, 892. Z u s t a n d s - u n d M i l i e u d r a m a S. 7, 21, 23, 26, 281, 302, 563, 564, 565, 566, 569, 570, 580, (vgl. Einzelbegriffe: Milieu). T h e s e n d r a m a (Thesenstück) S. 27, 28, 31, 32, (33), 41, 57, 65, 115, 320, 361, 385, 573, 578, 636. V e r m i t t l u n g s a r t d e r T h e s e i m T h e s e n s t ü c k (These, an Zentralgestalt demonstriert und von Nebengestalt formuliert) S. 27, 117, 553 (Roman), 573, 636. P s y c h o l o g i s c h e s P r o b l e m d r a m a S. 25, 31, 56, 386, 487, 631, 807, 892, 922. D a s s o z i a l e D r a m a (Standeskriterium) S. 1 7 , 35, 94, 116—18, 1 1 9 , 120, i 2 i , 293, 467, 482, 567—69, 750.

B ü r g e r l i c h e s T r a u e r s p i e l S. 35, 119, 281, 802. E n t h ü l l u n g s d r a m a (Folgehandlung) S. 26, 566, 567, u. ö. D a s h i s t o r i s c h e D r a m a (vgl. Geschichte und Dichtkunst) S. 71, 6 8 1 , 682, 723/24, 728, 730, 807, 8 1 2 , 911.

I d e e n d r a m a S. 29, 51, 281, 386, 581 u. ö. K ü n s t l e r d r a m a S. 268, 648, 749, 750 u. ö. — M ä r c h e n d r a m a S. 333. L e h r s t ü c k S. 42, 722. — M i m u s S. 492, 639, 641, 916. E i n a k t e r S. 56, 58 (T), 59, 62, 65 (T), 387, 721, 899. — D i s k u s s i o n s d r a m a S. 27, (57), 125, 281. L y r i s c h e s D r a m a S. 201, 232/33, 246, 248, 250, 255, 259, 268, 269, (282), 391, 446, 597, 598, 600, 601, 850. M u s i k d r a m a S. 201, 341, 342, 343, 517, 523, 754, 755 (T), 824 (T), 839, 954. O p e r S. 45, 231, 233, 341, 342, 343, 523, 599, 620, 779, 824. F e s t s p i e l , W e i h e s p i e l S. 486 (T), 506, 507, 508. S i n g s p i e l S. 233, 542. — S c h ä f e r s p i e l S. 823. Epische Gattung (Roman, Novelle, Erzählung, Epos usw.). A l l g e m e i n e s (und Gesamtbestand) S. 1 (T), 6, 11 (T), 12, 14 (T), 15 (T), 18, (21), 38, 39, 40,43, 45, 46 (Experimentairoman), 49 (T), 51. (57). 59. 60. 6 i , 74. 75 (T), 78, (80, T), 88, 94, 95, 98, 105, 107, 113 (T), 120, 123, (138,174, T), 178, (186), (203), 221, 238 (T)—242, 250 (T), 251, 273, 279 (T), 282, 283, 284, 289, 291, 293, 310, 314, 317 (T, bezogen auf Romanzen), 322 (T), 323, 324, 325, 326, 329, 330, 331, 335, 344—5°. 355. 356, 357. 390/91, 400, (406), 409, 410, 414/15, 416, 426 (T), 429, 430/31, 437, (453), 464. (475). 481. 482, (491), 4921,496, 498 (T), 499, 500,506,507,508,510,519, 524 („Roman eines Romans", Th. Mann), 535, 537, 541, 548/49. 554. 562, 576, 577, 578, (580), 581, 645, 649, 653/54, 64 Markwardt, Poetik V

1010

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

6 5 5 . 656, 6 5 7 , 6 7 4 , 691 (T), 692, 693, 694, 6 9 5 , 7 1 8 , 7 2 4 / 2 5 , 7 2 8 , 7 8 0 , 800 (D), 8 0 1 , 803 (T), 807, 8 x 8 , 8 1 9 , 853 (T), 854—58, 8 6 7 — 7 1 , 9 1 0 , 925, 9 3 4 , 9 3 9 , 9 5 4 , 960f.

D a s E p i s c h e (und Epik) S. 6 , 4 3 , 60, 78, 80 (T), 88, 93, 94, 1 2 9 , ( 1 4 7 ) . 1 5 3 . 1 7 8 , ( 1 8 5 ) , 2 3 9 , 240, 2 4 1 , ( 2 5 1 ) , 303, 3 2 3 , 324, 326, 3 3 9 ( T ) , 3 4 8 , 3 6 6 , 498, 499, 605, 606, 6 0 7 , 609, 682, 6 9 1 , 692, 6 9 5 , 7 2 4 / 2 5 , 7 2 8 , 8 5 3 , 8 5 5 , 8 5 6 , 8 5 8 , 867—71, 9 3 6 .

V e r h ä l t n i s : R o m a n / E p o s S. 38, 74, 284, 3 2 4 , 499, 500, 501, 674. Wesen und W i r k u n g d e s R o m a n s (und Bestände) S. 12, ( 3 8 — 4 0 , 5 1 ) , 2 3 9 f . , 283, 284, 323, 3 3 1 , 500, 508, 5 2 2 , 5 4 1 , 5 8 4 , 649, 6 5 7 , 679, 6 8 7 , 6 9 1 , 693, (728), 7 3 2 , 7 4 5 , (758), 7 6 2 , 7 6 4 , 953, 954. R a n g s t u f e , B e w e r t u n g d e s R o m a n s S. 4 9 , 94, ( 1 1 3 ) , 1 2 3 , 178, (239), 282, 283, 284, (285, 289), 2 9 1 , 500, 501, 502, 5 ° 4 . 5 0 7 , 5 1 0 , 5 3 9 , 540, 5 4 7 , (562, 5 8 2 ) , 5 8 5 , 650, 693, 8 5 5 , 934· 953» (Roman als „Gesamtkunstwerk", Heinrich Mann). G e s c h e h e n im R o m a n (Inhalt, Stoff, Motiv, Idee) S. 12, 3 8 , 3 9 . 40, 4 7 . 48. 49/5°. (57). 74. 24°, 2 5 1 , 283, 284, 2 9 1 (310), 323, 324, 3 2 5 , 3 3 0 , 346, 3 4 9 , 3 5 6 , 400, (406), 4 2 6 , (433), 4 6 5 , 4 6 6 , (481), 4 9 2 (T), 496, 499, 500, 508, 526 (Motiv/ Modell), 527, 5 2 9 , 5 3 9 , 553. 554/55, 556, 5 7 6 , 5 7 8 , 5 8 1 , 5 8 2 , 584, 5 8 5 , 7 1 9 , 7 6 4 , 8 5 3 , 934, 935, 9 5 7 . P e r s o n e n im R o m a n (und Charakteristik) S. 3 9 , 4 3 , (46), 50, 5 1 , 7 4 , 240, 251, 2 5 2 , 284, 3 4 5 , 356, 5 1 1 , 512, 5 1 6 , 517, 526, 529, 537, 540, 5 5 0 , 5 5 8 , 5 8 1 ( T ) , 5 8 2 ( T ) , 859, 930, 9 3 2 , 934, 935, 940, 941, 943. 957, 958. K o m p o s i t i o n u n d S t r u k t u r im R o m a n S. 3 9 , 8 0 (T), 9 9 , 123, 1 7 4 (T, „Roman in Romanzen", Dehmel), 2 3 9 , 240, 2 5 1 , 283, 284, 2 8 5 , 3 2 3 , 336, 3 5 3 , 3 5 9 , (410), 429, 4 3 0 , 4 6 5 , 4 9 6 , 5 1 6 , 5 2 5 , 525/26, 530/31 (Konzentration), 5 3 7 , 5 5 3 , 5 5 9 , 5 8 3 , 692, 6 9 3 , 819, 853, 8 5 6 , 9 3 0 , 9 3 1 , 9 4 1 , 964. D a r s t e l l u n g s w e i s e des R o m a n s (und Sprachstil) S. 11, 12, 3 8 , 4 3 , 4 6 , 49/50, 7 4 , 1 0 5 ,

1 2 3 , 239, 242, 2 5 1 ,

(252,

277),

283, 284, 293, 314, 3 2 3 , 3 2 5 , (329), 3 3 5 , 352, 3 5 5 , 3 5 6 , 357, 359- 3 6 0 , (362), 3 6 6 , 410, 4 2 9 , 4 6 4 , 465, 500, 501, 512, 5 1 6 , 5 1 7 , 526, 527, 5 2 8 , 5 3 7 , 540, 5 5 1 , 5 5 6 , 5 5 9 , 581, 582, 583, 5 8 4 , 6 9 2 , 6 9 3 , 7 2 5 , 729, 731, 8 5 3 , 8 5 4 , 930, 9 3 1 , 9 4 4 . O b j e k t i v i t ä t im R o m a n S. 38, 7 5 , 240, 285 (Epos), 5 8 2 , 5 8 5 , 960, 9 6 4 . Z e i t g e b u n d e n h e i t u n d G e g e n w a r t s n ä h e des R o m a n s (Zeitroman, Gegenwartsroman) S. 78, 94, 95, (123), 192 (Abwehr), (239), 323, 325, 326, 346, 354 (Abwehr), 400,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

1011

(410), 501, 504 (Roman als modernstes Genre), 532, 535, 536, 538. 542, 550 (Abwehr), 578, 581, 582, 583, 764. E s s a y r o m a n (Roman als Groß-Essay oder Essay-Reihe) S. 283, 336. 854, 934, 944, 946.

Der B e r i c h t als epische G r u n d s t r u k t u r S. 6, 12, 38, 239, 241/42, 377, 422, 484, 585, 684, 691, 692, (718), 747.

D a s „ R o m a n h a f t e " (ζ. T. mit Bezug auf das Drama, durchweg abwertend; Ausschnitt) S. 577, 578, 579, 580, 581, 582, 583. V o r b i l d p o e t i k in der R o m a n t h e o r i e (Muster und Meister) S. 13, 14, (38), 44. 51. 65, 94. (279). 335. 345. 34$, 347, 34» (Abwehr), 353, 493, 501, 522, (528), 537, 556, 558, 581, (582), 657, 658, 853, 930, 952.

L e i t m o t i v u n d B e g l e i t m o t i v im R o m a n S. 62, 247, 288, 426, 463, 517, 658, 930, 931, 941/42·

V e r h ä l t n i s : R o m a n / D r a m a S. 15, 43, 59, 60, 75 (T), (78, 80), 99, 284, 314, 540, 541, 554, 576, 577, 578, (581, Epos), 582, 692, 725, 728, 7 3 1 , 896.

V e r h ä l t n i s : R o m a n / F i l m S. 544—49, 957, 958. E n t w i c k l u n g s r o m a n , E r z i e h u n g s r o m a n (Bildungsroman) S. 39, 800, 801, (807), 854, 939, 961, 964.

Sozialer R o m a n S. 13, (40), 74, 94, 98, (283), 323, 324, 326, 356, 539. 540. 542, (544). 5®1· 582, 583. 584· E x p e r i m e n t a i r o m a n (le roman experimental, Zola) S. 1 (T), 11, 14, 18, (21), 46, 107, 1 1 3 , 120, u. ö. S p e z i a l i s t e n r o m a n (setzt Spezialkenntnis bei Autor u. Leser voraus) S. 283, 524, 525, 526, (528), 649, 812, 854, 934, 939· H i s t o r i s c h e r R o m a n S. 88, 95, 324, 325, 326, 356, 855. R o m a n des „ N e b e n e i n a n d e r " (Terminus: Karl Gutzkow) s. 39.356. U n t e r h a l t u n g s r o m a n S. 283, 284 (T), 350, 582, 869. Novelle (Allgemeines u. Gesamtbestand). S. (3. 4). 37. (39. 40), 53 (T). 6 ° . 6 l . 62, 66, 80, (91), 9 4 , 1 1 9 , 1 6 9 , 1 8 6 , 1 9 0 , 238, 250, 253, 263, 278, 280, 282, 285, 286 (T), 287, 288, 289 (D), 291, 297, 310, 314, 323, 355, 388, 389, 398, 449. 450, 453. (491). 57 8 - 581. 645, 649, 653/54, 655, 656, 687, 693/94, 767, 797, 798, 799 (D), 800, 801 (T), 817, 824, 853, 854, 855, 856, 858, 867—71, 924, 927, 941, 942.

Das N o v e l l i s t i s c h e S. 263, (287), 289, 290, 824. R a n g s t u f e der Novelle S. 94, 169, (186, 280), 288, 289—91, (297), 355. (450). Wesen u n d W i r k u n g der Novelle S. 286, 287, 288, 289. 64·

1012

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

G e s c h e h e n u n d P e r s o n e n in d e r N o v e l l e (Inhalt, Fabel, Motiv, „Situation", „Station") S. 37 (T), 39, 61, 62, 80, 119 (T), 238 (T), 240, 242, 251, (T, Zahlenmystik der Personenzahl), 263, 286, 287, 288, 289, 290 (T), 291, 297, (310), 314, 449, 453, 491, (581), 687, 688, 868, 870, 871. K o m p o s i t i o n , S t r u k t u r der N o v e l l e (Novellentechnik) S. (60, 61), 253, 263, 278, 286 (T), 286—88, 289, 294, (323), 355 u. ö. D a r s t e l l u n g s w e i s e d e r N o v e l l e (und Stil) S. 53, 61, 66, 240, 253, 288, 290, (296), 323, 398, 868, 870. D i e „ F a l k e n " - T h e o r i e d e r N o v e l l e (u. „Wendepunkt") S. 286, 287, 870. S o n d e r a r t e n d e r N o v e l l e (Spielformen) S. 61/62, 286, 289 (Katharsis; Schicksalsnovelle), (310), 389, 578, 856, 870. V e r h ä l t n i s : N o v e l l e / S o n a t e (Nachwirkungen: W. H. Riehl) S. 190. V e r h ä l t n i s : N o v e l l e / R o m a n S. 289, 291, 323, 945. V e r h ä l t n i s : N o v e l l e / D r a m a (vgl. Dramatische Gattung). N o v e l l e a l s A b l ö s u n g s f o r m d e s D r a m a s S. 655/56, 824. E r z ä h l u n g u n d E r z ä h l u n g s k u n s t (Theorie der Erzählung bei J. Wassermann u. S. Lublinski; trotzdem Genre unklar abgegrenzt) S. (39), 40, 80 (T), 238 (T), 240 (D), 241, 285, 314 (Darstellungsweise u. negative Kriterien), 322, 327 (T), 345 f-, 374, 396, 426, 440, 517 (Τ), 5 1 » (D). 681, 682, 686, 689, 692, 693/94, 782 (T), 790, 792, 821, 840, 854, 855, 856, 857, 944, 964. D o r f g e s c h i c h t e S. 334, (361), 364, 365, 366, 681, 821, 840. A n e k d o t e S. 290, 469, 691. D a s E p o s (Allgemeines und Gesamtbestand) S. 5, 38, 74, (78, 80), 93 (D), 146, 147, 153,154, 178, 228, 229, 278, 282, 284, 285 (T), 286, 309, 317, 323, 324, 325, 326, 339, 369, 372, 484 (T), 498, 499, 500, 501, 581, 604, (606), 674, 688, 691, 693. 797 (T). 798, 799 (D). 800, 845, 850. V e r h ä l t n i s : E p o s / R o m a n (vgl. Roman). V e r h ä l t n i s : E p o s / D r a m a S. 146, 147, 153, 154, 285 (T), 309, 484 (T), 581, (604). V e r h ä l t n i s : E p o s / B a l l a d e S. 309. R a n g s t u f e u n d B e w e r t u n g d e s E p o s S. 38, 154, (278), 284, 285. 309. 317. 324, 3 2 5- 326, 498, 499, 500, 501, 798. W e s e n u n d W i r k u n g d e s E p o s S. 93 (D), 178, 309, 323, 693. M o t i v , I n h a l t u n d P e r s o n e n i m E p o s S. 74, 228, 229, 323 („Epos der Maschinen"), 325, 326, 339, 501, (682), 798, 799. K o m p o s i t i o n u n d D a r s t e l l u n g s w e i s e (einschließlich Stil) S. 74, 93, 146, 178, 309, (325), 369, 372, 604, 693.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

1013

Lyrische Gattung (und Sonderformen der Lyrik).

A l l g e m e i n e s (und Gesamtbestand) S. ι (T), 2, 5, 78, 80 (T), 88, 92, 93 (D), 94, 97 (T), 106, 109 (T), 1 3 5 (T), 150, 168, 172, 227, 254, 308, 372, 459,

178, 230, 255, 309 374, 460

184, 1 9 6 , 200, 201, 202, a n , 2 1 2 , 220, 224, 225, 2 3 1 , 243 (T), 244, 245, 247, 248, 249, 250, 253, 256, 258, 259, 262, 263f., 267, 268, 269, 270, 282, (T), 3 1 7 , 318, 319, 3 5 7 , 367 (T), 369/70, 3 7 1 , 396, 400, 401, 404, 4 2 1 , (426), 429, 432, 442, 446, (T), (461), 462, 5 1 2 , 5 4 7 , 562, 585 (T), 586 (T),

593. 595. 5 0 . 597f·.

6 o ° , 6o3> 6 o 4 . 6 o 5 . 6 o 9 . 6 i 3 . 6 i 4>

624,

638, 667, 674, 677 (T), 686, 691, 692, 693, 694, 695, 704,

726, 733. 734. 7 3 5 . 7 3 7 . 738 (T), 7 5 4 , 7 6 7 , 7 6 9 f., 799 (D), 804, 810, 818, 825, 828, 829, 830, 831, 832, 833, 834, 835, 836, 837 f., 8 4 7 - 5 1 , 852, 856, 858, 860, 866, 867, 877—79, 878 (T), 925, 936, 939. Das Lyrische

(und „Lyrismus", auch jenseits der Lyrik) S.

88, 106, 150, 201, 230, 232/33, 249, 250, 255, 263, 267, 282, 3 1 8 , 327, 562, 6 1 3 , 632, 688, 690 (T), 692, 694, 695, 704, 804, 816, 830, 850, 852.

Wesen

und W i r k u n g

der L y r i k

(und Merkmale) S. 93,

(94), 225, 244/45, 2 47> 2 5 4 . 2 5 6 , 373, 4 0 4 . 5 1 2 ( „ E r k e n n t n i s -

Lyriker" Nietzsche), 586,667,692,693, 695, 789/90, 799 (D). R a n g s t u f e und B e w e r t u n g der L y r i k S. 5, 93, 94, (178), 200, 202, 318, 562, 600, 607, 829.

G e h a l t der L y r i k (Bereiche, Motive usw.) S. 78, 92, 93, 97 (T), 172/73, 201, 208, 2 1 6 , 220, 225, 227, 230, 237, 243, 244, 245, 247 (T), 249, 250, 254, 2 5 7 , 258, 263/64, 369, (370), 3 7 4 . 3 9 6 , (427). 432. 562, 5 9 8 . 603, 666, 692, 694, 695, 704, 768, 7 9 3 , 818, 847, 849, 8 5 1 , 877.

G e s t a l t der L y r i k (Darstellungsart, Stil, Versform) S. 80 (T), 88, 92, 93, 94, 172, (184), 202, 203, 208, 211, 225, 226, 245, 249, (256), 257, 258, 259, 273, 276/77, 309, 3 1 8 , 319, (357),

369. 370, 371, 372. 396, 400, 401, 421, 586 („lyrischer Telegrammstil"), 593, 594, 595, 597, 598, 599, 602, 606, 608, 652, 666, 6 7 7 , 694, 695, 704, (735), 738, 739, 741, 7 6 7 , 768, 769. 793, 794. 795, 8 1 6 , 828, 830, 832, 834, 835, 836, 837, 848, 850, 852.

D e r R h y t h mus in der L y r i k S. 106, (178), 212, 224, 226, 227, 268, 318, 319, 4 2 1 , 432, 434, 444, 447 (T), 585, 586, 587, 588, 589, 590, 595, 597, 598, 670, 691, 695, 733, 734, 7 3 5 , 737- 7 3 8 — 4 i , 744, 7 7 2 , 774, 7 7 5 , 776, 795, 839, 847, 850.

V o r b i l d p o e t i k in der L y r i k (Muster und Meister, Einflüsse) S . 2, 88, 92, 93, (135), 168, 203, 220, 228/28, 255, 256, 270,

1014

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND KENNWÖRTER

272, 460, 695, 739, 74Ο, 766, 77Ο, 771, 8l6, 828, 835,

847, 849, 851. B i l d w e r t e in der L y r i k (und Einfluß der bildenden Kunst) S. 210 (T), 2 i i , 243, 244, 254, (257, T), 258, 259, 263, 264, 265, 266, 270, 276, 277, 771, 772, (793), 799, (833), 830, 834, 848.

K l a n g w e r t e in der L y r i k (Musikalität, Melos; vgl. auch Rhythmus) S. 203, 224, 225, 231, 248, 256, 265, 266, 267, 270, 276, 598, 599, 601, 695, 738, 739, 775, 799, 871.

D a s V e r h ä l t n i s : L y r i k / M u s i k S. 150, 248, 266, 267, 268, 269, (416), 444, 597, 598, 599, 666 (T), (669), 695, 737,

738> 739- 775· D a s V e r h ä l t n i s : L y r i k / D r a m a S. 150, 168, 200, 201, (248), 249, 250, 254, 269, 282, 309, 318, 446, (585), 600, 604, 605, 606, 632, 692, 816, 830, 850.

Das Verhältnis: Lyrik/Epik

(besonders Versepik) S. 94,

168, 226, 309, 318, 604, 606, 657, 692, 850.

Z e i t g e b u n d e n h e i t / G e g e n w a r t s n ä h e (Bewertung u. Entwertung) S. 1 (T), 78, 80 (T), 88, 92, 93, 109 (T), 203, 205, 209, 215, 234, 235, 237, 261, 262, (272), 273, (367, T),

373. (397), 401, (585, T), 586 u. ö. G a n z h e i t l i c h k e i t im l y r i s c h e n G e d i c h t (Gehalt/Gestalt-Relation; Konstanz der Stimmungslage) S. 254, 270, 601, 604. Gefühls-Ausdruckslyrik

S. 93, 265, 318, 371, (375), 593/94.

607. 695. (704). 741. 744. 833. (852). Lied u n d l i e d h a f t e L y r i k (einschließlich Volkslied) S. 94, 135 (T), 150, 225, 255, 259, (263), 265, 267 (T), 309, 318, 401, 593 (T), 598 (T), 604, 613, 624 (T), 691, 694, 695, 741 (T), (745. T), 772.

B a l l a d e (auch Volksballade) S. . . . 269, 286, 308, 309 (T), 317, 318 (D), 618, 625 (T), 626 (T), 630, 640, 688, 691, 694, 695, 700. R o m a n z e S. 178 (T), 269, 3 1 7 (T), 318, (598), 688, 694/95, 758.

H y m n e u n d h y m n i s c h e L y r i k (das Hymnische) S. 135, 196, (200), 201, 317, 401, (598), 612, 619, 627, 691, 739, 766, 816, 936. Ode S. 317, 691, 771.

Dithyrambe

und

f r e i r h y t h m i s c h e L y r i k S. 135, 168,

172, 225, 226, 740/41, 847.

Elegie S. (201), 272 (T), 273 (T), 278, 317, 603 (T), 849 (T). S o n e t t S. 315, 604 (T), 878. T e r z i n e S. 247 (T), 315. L y r i s c h e T y p e n b i l d u n g (Ausschnitt) S. 265, 597, 791, 792, 828, 850, 877.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

1015

M e d i t a t i v e L y r i k (Typus der erlebten Meditation) S. 135, 248, 265, 268/69, 270, 547, 594, 600, 627, 657, 777, 850. V i s i o n ä r e L y r i k (Typus der geistigen oder mythischen Vision) S. 265, 3 7 2 , 373, 847—51.

D i n g g e d i c h t (Dingbegriff bei Rilke) S. 200, 230, 257, 270, 271, 442, 786, 790; (Dingbegriff: 769, 788, 794). I d e e n g e d i c h t (Ideenlyrik) S. 135, 226, 624, 625L, 771, 849, 850, (vgl. auch Ideendichtung; Philosophie u. Dichtkunst). L e h r g e d i c h t S. 226, 228, 255, 674. R e f l e x i o n s l y r i k S. 594, 597 u. ö. F i g u r e n g e d i c h t S. 739. — L y r i s c h e s E p i g r a m m S. 593. — R o l l e n l y r i k S. 694. — P r o s a g e d i c h t S. 830, 835. — E i n - W o r t - G e d i c h t S. 828, 853, 856. — „ S t r u k t u r " G e d i c h t S. 460. — „ E r k e n n t n i s " - L y r i k S. 512 (Thomas Mann mit B e z u g auf Nietzsche). — D a s „ a b s o l u t e G e d i c h t " S. 877. Einzelbegriffe Das

D y n a m i s c h e (Dynamik) S. 172, 179, 442, 492, 565, 626, 670, 684, 687, 689, 690, 705, 737, 754, 808, 833, 856. D a s D ä m o n i s c h e S. 46, 47 (T), (60, T), 95, 96, 144, 145, 166. 313. 394. 5 " , 613, 614, 632, 633, 643, 895, 902. E r f a h r u n g S. 9, 1 1 , 12, 13, 15, 18, 42, 59, (nicht verfolgt) 671, 675, 687, 789, 792, 807. Das Emotionale (u. Emotionstheorie) S. 172, 464, 465, 477» 479, 498, 629, 666, 695, 757, 924. I n t e n s i t ä t (Schaffensvorgang) S. 404, 410, 695, 836, 856, 860. E p i g o n e n t u m (ζ. T . literaturgeschichtlich) S. 2, 4, 5, (11), 84, 219, 316, 322, 328, 344, 376, (378), 382, 710, 837, 913, 914. D i l e t t a n t e n t u m (u. Dilettantismus) S. 73, 273 (T), 297, 298, 330, 471, 472, 773, 855 (T), 956. V i r t u o s e n t u m S. 199/200, 276, 293, 499, 599 u. ö. F r e i h e i t (politisch oder ästhetisch) S. 15, 27, 34, (101), 170, 173, 206, 247, 261, 301, 323, 389 (T), 390, 404, 648, 725 746, 763, 843, 846, 917. V e r f r e m d u n g (Verfremdungseffekt u. Abwehr) S. 64, 254, 287, 565. 630. U t o p i e (das Utopische) S. 44, 62, 68, (440), 466, 553, 559, 836. D a s „ E i g e n t l i c h e " (besonders im Expressionismus) S. 411, 412, 413, 426, 449 u. ö. Das Kontemplative (Kontemplation) S. 144, 145, (150), 153, 162, 240, 242, 519, 556, 557, 666, 668. „ D i n g " - B e g r i f f S. (149), 200, (257), 258, 259, 263, 267, 270, (271), 415, (442), 601, 603, 675, 7x5, 794.

1016

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND

KENNWÖRTER

A b s t r a k t e S y m b o l g e s t a l t e n (zum Teil allegorisch, besonders im Drama) S. (16), 53, 65, 614, 622. D a s D a s e i n , S e i n (und „Da-Sein", R. M. Rilke) S. 7, 13, 97 (Τ), 148, I62, (163), 221, 268, 274, 375 (Τ), 402, 438, 625, 754, 755· O k k u l t i s m u s S. 99, 299, 308, 310. D a s C h a o t i s c h e (Chaos) S. 112, 146, 154, 308. 401, 437, 641, 627, 849 (T). P a r a b e l , d a s P a r a b e l h a f t e S. 28, 530,599,614, 626, 666, (722). D a s K o n k r e t e S. 28, 230, 287, 288, 298, 305, 532, 702, 703, 804. P e r s ö n l i c h k e i t S. 3, 5, 31, 33, 34, 139, 260, 262, 312, 487, 527, 535, 659, 661, 687, 717, 767, 811, 817, 829, 885, 886. A l k o h o l i s m u s S. 9, 42, 70, 71, 115, 121, 640, 646. V e r e r b u n g s t h e o r i e S. . . . 70, 71, 99, 101, 114, 121, (158, 160), 283, 292, 328, . . . 561, 563, 565, 566, 567, 568, 573, 574, 576, 7 " · M i l i e u S. 17, 21, 22, 102, 107, 116, 120, 292, 381, 385 (geistige Umwelt), 395 („Um-Wirklichkeit"), 480, 493, 561, 563, 564, 565< 566, 569. 570, 573, 584, 675, 686, 713, 714, 725, 744, 745, 796 (geistige Umwelt), 798, 892, 897, 909, (917), 933- 935· E x p e r i m e n t (naturwissenschaftlich) S. 18, 54, 59, 63, 66, 100, 107, 113 (T), 181, 387, 426, 465, 466, 564 (Experimentaldrama: Gegenstück zum „roman experimental"), 565, 576, (588), 608, 713, 714, 715, 735, 739. B i o l o g i e (allgemein) S. 24, 40, 41, 42, 82, 87,140, 157, 173, (179), 214, 433, 434, 475, 480, 563, 564, 567, 573, 574, 575, 660, 670, 821, 887. F o r m a l i s m u s S. 1, 12, (21), 91, 93, 94, 186, . . . 528, 703, (705), 929. „ I n h a l t i s m u s " (Uberbewertung des Inhaltlichen) S. (12), 93, 94, 528, 703, 929. S c h ö n e S e e l e S. 139, 154, 155, 159, 327, 600. W e l t s c h m e r z S. 96, 184, 189, 328. G e s a m t k u n s t w e r k S. 152, 166/67, 44 1 , 662. D a s O r i g i n a l e (Originalitätsgedanke) S. 2, 23, 95, 96, 171, 776, 895, 897. E p i s o d e S. 123, (308), 634, 693, 808. M a r i o n e t t e S. 614 (T), 636, 793, 870. A r a b e s k e S. 290, 448, 863. M i n u t e n s t i l / S e k u n d e n s t i l S. 387, (390), 585, (586), 588, 746.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

1017

D a s „ S c h w e b e n d e , S c h w e i f e n d e " (zum Teil im Sinne der Romantik) S. 231, (235), 245, 252, 378, 416, 425. I d y l l e , das I d y l l i s c h e S. 188, 189, 317, 333, 598 (T), 632, 663, 664, 778, 836, 859, 9 3 1 .

G e n r e b i l d , G e n r e m a l e r e i S. 89, 355, 366. R e p o r t a g e (und das Reportagehafte) S. 71, 362, 869, 897. D a s E r o t i s c h e (besonders Eros als schöpferische Kraft) S. 88 (T), 642, 644, 647, 649, 653, 657, 658, 659, 660, 724, 759, 841, (885), 889, 909, 9 1 7 , 918, (919), 935.

K u b i s m u s S. 402, 405, 442, 619. „Witz"-Begriff

S. 456/57, 469 (T), 470, 7 0 1

(T), 887 (T).

Z a h l e n m y s t i k S. 251/52, 444. E n t w i c k l u n g s g e d a n k e S. 5, 7, 14 (T), 23, 95, 96, 100, 102, 109, 156, 453, (728), 735, 740, 745, 746, 748, 753.

E v o l u t i o n (Ausschnitt) S. 738, 740, 746, 748, (753), 761. D a s G e s u n d e (körperlich, geistig, allgemein) S. 57, 76, 101, 102, 103, 1 7 9 , 2 1 2 , 328, 330, 332, 347, 350, 427, 482, 483, 488, 496, 508/09, 641, 650, 653, 748, 823.

D a s G r a u s a m e (und Grausige) S. 41, 42, 55, 138, 141, 483, 484, 485. 6 43. (753)· D a s I n t e r e s s a n t e , I n t e r e s s i e r e n d e S. 465, 499, 500, 518, 521.

D i e „ M o d e r n e " und das „Moderne" S. 1 (T), 5 (T), 11, 25, 3 5 . 72. 73. 87 (T), 88, 89, i n (T), 1 1 2 , 1 1 3 , (115), 120 (T), 1 5 5 , 220, 279 (T), 283, 284, 3 1 2 (T), 3 1 3 (T), 316, 3 1 7 , 3 1 8 , 3 1 9 . 336. 375 (T), 379- 380, 383. 5 8 6 . 587. 652, 678, 722, 736, 747 u. ö.

A t m o s p h ä r e (das „Atmosphärische")

S. 233, 371, 384, 385,

388, 689, 705, 818, 889.

D e k a d e n z (zum Teil literaturgeschichtlich) S. 48, 54, 59, 185, 189, 194, 210 („Dekadentismus"), 245, 257, 339, 368, 377. 378, 3 8 2 . 386, 4 1 1 , 4 1 3 , 418, 427, 463, 935 „ R e i z " - B e g r i f f („Reizsamkeit") S. 37, 48, 53, (148), 170,

180, 347, u. ö. 214,

37®. 3 9 1 . 392, 405, 418, 505/06, 570, 933.

„ N e r v e n " - K u n s t (besonders: Impressionismus) S. 16, 20 („ecrivains des nerfs"), 377/78, 379, 382, 386, 388, 392, 837, 875 („Nervenspieler"). S p i e l - B e g r i f f (künstlerischer Spieltrieb) S. 650, 657, 665 677. 955. 956, 963· S p i e g e l s y m b o l und „ W i d e r s p i e g e l u n g " (mehrfach bloße Metapher) S. 88, (93), 211, 256 (T), 306, 529 (T), 530, 537, 538, 623, 736. P u p p e n t h e a t e r S. 230, 245 (T), 246, 598.

1018

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND KENNWÖRTER

V e r l a g e r u n g d e s R e a l i s t i s c h e n i n d a s K o m i s c h e S. 8, 75, 78, 113, 295, 296 u. ö. H u m a n i t ä t S. 9, 37, 139, 209, 463, 464, 476, 480, 482 (T), 520, 521, 641, 644, (646), 649, 653, 655, 663, 664,723, 724, 962. Gestaltende Charakteristik/formulierende Charakter i s t i k S. 123, 124, 797. I n n e r e W i r k l i c h k e i t S. 37, 42, 70, (121), 181, 183, 204, 214, 228, 236, 246, 265, 306, 307, 375, (393), 394, (395), 403, 404, 441, 480, 488, 790, 814, 836, 869 (T), 88i, 906. E r h ö h t e , v e r k l ä r t e u n d g e s t e i g e r t e W i r k l i c h k e i t (Bewertung u. Entwertung) S. 20, 38, 47, (50), 67, 73, (81), 83, 88, 89, 90, 91, 93,170, 173,178, 181, 183, 184, 190, 240, 241, 341, 345, 362, 364, 372, 374, 375 u. ö. B e v o r z u g u n g von Grenzfällen und Übergangssituation e n S. 188, 189, 232, 244, (245), 246, 465. K r a n k h e i t s m o t i v u n d d a s K r a n k e S. 70, 102, 112 (T), 114, 115, 191, 508, 509, 523, 641. T r a d i t i o n u n d K o n v e n t i o n (Bewertung u. Entwertung) S. 11, 12, 192, 208, 2io, 273, 277, (286), 292, 308, 328, 343, (344), 353. 364, 466, 733, 755, 888, 889. D a s R e v o l u t i o n ä r e (politisch oder ästhetisch) S. 29, 46, 49, 76 (T), 88 (T), 109 (T), 146, 180, 312, 343, 401, 416, 466, 746. R ü c k w i r k u n g d e r Z e n s u r S. 44, 52, 54, 55, 467 (T), 470, 891, 892 (T), 899 (T).

Verzeichnis der Namen (Namen moderner Forscher sind nur dann einbezogen worden, wenn sie mit der fachwissenschaftlichen Poetik in Zusammenhang stehen. Exkurse und Anmerkungen werden mit erfaßt. Vornamen wurden nur in Zweifelsfällen angedeutet). Adamov, A. 458 Adler, Alfred 433, 883 Adorno 524, 525 Adrian, L. 207 Aeschylos 232 Aesop 666 Agrippa von Nettesheim 528 Alberti, Konrad 84, 85 Alexis 381 Alflen 805 Altenberg, Peter 389, 390, 532, 831, 841, 842 Ambros, A. W. 341, 342 Andersen, H. Chr. 502 Andersen Nexö 39 Andreas-Salomö, Lou 793, 884 Angelus Silesius (Joh. Scheffler) 259 Annunzio, d" 203, 778 Anzengruber, L. 1 3 1 , 334, 335, 360— 63. 364. 578 Archilochos 754 Archipenko, Alex. 443 Arent, Wilh. 98 Ariost 673, 700 Aristophanes 8 1 1 Aristoteles 17, 107, 1 1 8 , 170, 292, 678, 737 Arndt, Ε . M. 180, 783 Arnim, Bettina v. 415 Arp, Hans 871, 872 Arrange, Adolph L ' 78 Auden W. H. 460 Auerbach, Berth. 90, 216, 284, 329, 335. 353. 359. 366, 501, 821 Auerbach, Felix 179 Augier, Emile 15, 30 Augustinus 406, 699 Avenarius 595, 824

Bab, Julius 167, 170, 178, 179, 322, 446. 691, 757. 758, 759 Bacon 673 Bahnsen, Julius 895 Bahr, Herrn. 1 1 5 , 193, 336, 338, 348, 37$—83, 385, 386, 387. 402—10, 411, 423, 586, 735, 781, 844, 845, 884 Baker-Eddy, Mary 885 Balzac, H. de 15, 16, 20, 243, 251, 324, 414, 501, 521, 537, 538, 540, 714. 778, 932 Bardack, Emilie 718 Barlach, Ernst 433, 441, 455, 609, 612, 614, 6x5, 617, 621, 622, 837, 84$, 846, 876, 881 Barres, Η. M. 382, 383 Bartels, A. 329, 330, 333, 334—36. 337. 338, 343. 344. 346, 348. 820, 821, 823, 824 Barth, K . 52 Bartsch, H. R . 190 Batteux 107, i n , 737 Baudelaire 391 Baumgarten, G. A. 44, 701 Beaumarchais 59, 954 Bebel, Aug. 76 Becher, Joh. Rob. 142, 609, 834, 836, 876 Beck, Karl 818 Beckett, Samuel 458 Beckmann, Max 443 Becque, Henri 15, 18, 19, 20, 59, 7 1 3 Beer-Hofmann 268 Beethoven 401, 488, 784 Begas 349 Belinski 721 Bender, Hans 460

1020

VERZEICHNIS DER NMAEN

Bengel, Joh. Albrecht 963 Benn 80, 156, 175, 22$, 433, 443. 461, 462, 509. 5 3 1 . 532. 540, 605, 609, 617, 623, 637, 769, 810, 836, 842, 860, 876, 878, 920, 936, 939 Benndorf, Fr. Kurt 851 Benz, R . 848 Benzmann, Hans 1 7 1 Berg, Leo 23, 24, 25, 86, 87,

436, 534. 698, 877,

111,

746—49, 818 Bergengruen 962 Bergson, Henri 417, 433, 434, 628, 860, 861/62 Beriger, Leonh. 681 Bernard, Claude 14, 18 Bernay 289, 292, 887 Bernstein, Else (vgl. Rosmer, Ernst) Beyl, Fritz 612 Bie, Oskar 841 Bierbaum, O. J . 190, 372, 586, 831, 838 Bilse 5 1 2 (T) Bismarck, O. v. 349 (T), 371, 636 (T), 682 Björnson, B . 29, 59, 76, 715, 716, 717 Blankenburg, Fr. v. 505 Blavet, Emile 58 Bleibtreu, K . 1, j , 22, 24, 68, 76, 81, 82, 84, 88—99, 100, 103, 105, 1 1 2 , 277, 581, 676, 710, 7 1 1 , 712, 728, 729, 730, 738 Blücher 486, 549 Blumenthal, O. 1 3 1 Blümner, R . 421, 444 Blunck, H. Fr. 821, 823 Boccaccio 287, 700 Böcklin 347, 830 Bodenstedt 77 Bodmann, E. v. 800 Bodmer, J . J . 325 Böhlau, Helene 330 Böhme, Jakob 52, 431, 905 Bölsche, Wilh. 3, 14, 44, 68, 88, 95, 99—103, 107, 482, 574, 670, 709, 710, 7 1 1 , 712, 760 Bouhours 21 Bourget, Paul 376, 377, 537 Brahm, Otto 40, 78, 133, 503

Brandes, G. 24, 30, 717, 718, 814, 897 Bräuer, Albr. 489 Brecht, Bertolt 42, 64, 1 1 8 , 156, 287, 292, 316, 455, 458, 4J9, 462, 4 6 3. 465. 466. 494. 5°4. 528, 554. 555. 59°. 59*. 620, 621, 640, 661, 722, 768, 836, 844, 894, 896/97, 922, 939, 948, 958 Brentano, Bett. v. 859 Breuer, Jos. 884, 887 Brinckman, John 329, 356, 357, 358, 360, 820 Broch, Herrn. 221, 222, 394, 459, 462, 465, 528, 547, 615, 622, 778, 836, 963. Brod, Max 624, 855 Bronnen, Arnolt 447, 449, 451, 454, 455, 616, 617, 620, 633 Bruckner, Anton 445 Buber, M. 228 Büchner, Georg 70, 1 2 1 , 162, 340, 414, 424, 459, 473, 527, 604, 632, 635, 638, 686, 724, 873, 888, 889, 890, 895, 921 Büchner, Ludwig 13, 76, 864 Burckhardt, J . 527, 752, 963/64 Bürger, G . A u g . 256, 318, 331 (T), 508, 523 Burke, Edmund 521 Busch, W. 593 Byron 49, 95, 96, 103, (184), 239

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