Handbuch der Geschichte der deutschen National-Literatur für Gymnasien und höhere Bildungsanstalten: Band 2 9783111450803, 9783111083537


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German Pages 847 [848] Year 1848

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Inhalt
Die neuere Zeit. Vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
Erste Periode. Vom Anfang des 17. bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts
Einleitung
Erstes Capitel. Die Poesie
Zweites Capitel. Die Zeit der jugendlichen Blüthe unserer Nationalliteratur. Sturm-und Drangperiode
Zweiter Abschnitt. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart
Einleitung
Erstes Capitel. Die poetische Literatur
Zweites Capitel. Die Prosa-Literatur
Chronologische Uebersicht der deutschen Nationalliteratur
Anmerkungen
Namen-Register
Sach- Register
Berichtigungen und Zusätze
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Handbuch der Geschichte der deutschen National-Literatur für Gymnasien und höhere Bildungsanstalten: Band 2
 9783111450803, 9783111083537

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Handbuch der

Geschichte der deutschen

National -Literatur für

Gymnasien und höhere Bildungsanstalten von

Franz Biese, Professor und erstem Oberlehrer am Königs. Pädagogium zu PutbuS.

Zweiter Theil.

Berlin. Dtiutf und Verlag von G. Reimer.

1848.

Inhalt. Die neuere Zeit. Bom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Erste Periode. Vom Anfang des 17. bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Einleitung. Seite 1. Die politische Lage und der Culturzustand Deutschlands ... 1 2. Die Sprache und Derskunst............................................ 7 3. Die Dichter und die Dichtungsarten nebst der Prosa .... 14 Erstes Capitel.

Die Poesie. I. Uebergang aus dem früheren Zeitraum oder die Anfänge der Ge­ lehrtenpoesie ................... 20

II. Die erste Schlesische Schule. 1. Opitzens Wirksamkeit............................................................ 23 2. Einfluß der neuen Kunstpoesie auf die einzelnen Dichtungsarten 32 a. Epische Poesie............................................................ 32 b. Lprische Poesie Die weltlich lyrischen Dichtungen....................... ♦ ♦ 33 Die geistlich lyrischen Dichtungen.................................... 42

yi

Inhalt. Seite

Zweites Capitel. Die Zeit der jugendlichen Blüthe unserer Nationalliteratur. Sturm­ und Drangperiode..................................................................................... 272 1. Hamann und Herder............................................................................... 274

2. Der geniale, stürmische Aufschwung der Kritik und Poesie

.

.

287

3. Göthe.

a. Göthe's Jugend .....................................................................................297 b.

-------- erste Dichterperiode

c.

-------- zweite Dichterperiode............................................................. 303

d.

-------- dritte Dichterpenode.............................................................311

............................................................. 299

4. Schiller.

Schillert Jugend und erste Dichterperiode.........................................315 5. Der Göttinger Dichterbund................................................

... 332

6. Die Gestaltungen auf dem Gebiete des Dramas und des Ro­ mans.

a. DaS Drama.........................................................................................348

b. Der Roman........................................................................................ 356 7. Die Bewegungen auf dem Gebiet der didaktischen und philosophi­ schen, der oratorischen und historischen Prosa.

a. Die didaktische und philosophische Prosa..........................................389 b. Die oratorische und historische Prosa............................................... 400

Zweiter Abschnitt. Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. Die Zeit der männlichen Reife der neueren Literatur, und die Roman­ tik als Reaction gegen die Verflachung und Erschlaffung der literarischen Bestrebungen.

Einleitung.

1. Die politische Lage und der Culturzustand Deutschlands .

.

.

411

2. Die Dichter und die Dichtungsarten nebst der Sprache und Ver skunst......................................................................................................... 424

Erstes Capitel. Die poetische Literatur. I.

Die Göthe-Schillersche Zeit. 1. Göthe und Schiller.

a. Göthe'S vierte Dichterperiode

........................................................... 432

vil

Inhalt.

b. Göthe's fünfte Dichterperiode

.

Seite .............................................. 441

c. Schiller's geschichtliche und philosophische Studien; die Periode

der wissenschaftlichen Selbstverständigung........................................454

d. Schiller's dritter Lebensabschnitt; die Periode der gereiften Kunstpoesie, von der Herausgabe der Horen 1794 bis zu sei­ nem Tode 1805 .............................................................................. 459 e. Göthe's letzte Lebensperiode (1806 — 1832)

482

...........................

2. Tie gleichzeitigen Bestrebungen der Poesie, in denen mehr oder neniger die früheren Richtungen weiter fortgesetzt wurden . . 489

II.

Die Romantik als Reaction gegen die Verflachung und Erschlaffurg der literarischen Bestrebungen....................................................506 Die kritische Seite der Romantik..........................................

A.

510

B. Die productive Seite der Romantik.

1. Tie neue romantische Dichterschule nach ihren Hauptrichtungen

517

a. Die religiös-mystische Richtung................................................... 524 b. Die fatalistische Richtung.................................................................. 530 —

—.................................................................. 533

d. Die phantastische —

—...................................................................549

c. Die patriotische

2. Tie an die romantischen Tendenzen sich mehr oder weniger anfchließmden Dichter.........................................................................................555 III.

De Uebergänge zurneuesten Zeit.

1. Mmzel, Börne, Heine

..........................................................................567

2. Rickert, Platen........................................................................................573

IV.

Dis junge Deutschland mit seinen vorherrschend kritischen Bestrebrngen und die eigentlichen Dichter der Gegenwart.

A.

Das junge Deutschland.....................................................................583

B.

Oie Dichter der Gegenwart.............................................................. 592

1. Dr Lyrik nebst den epischen und lyrisch-epischen Dichtungen .

2. Nwelle und Roman.....................................................................

.

593

. 613

a. Oie historische Novellistik.....................................................................614

b. Oer Gefühls- und Gesellschaftsroman.......................................... 630 3. Dnma.....................................................................................................632

Zweites Capitel.

Die Prosa - Literatur. 1.

£>i; Bewegungen auf dem Gebiete der Philosophie und der besoweren Wissenschaften nebst ihrem Einfluß auf den Lehrstil . 644

VIII

Inhalt. Seite

S. Die Bewegungen auf dem Gebiete des nationalen und politischen Lebens nebst ihrem Einfluß auf die Geschichtschreibung und auf die historische Prosa...................................................... 668 3. Die oratorische Prosa. a. Die geistliche Beredsamkeit................................ . . 691 b. Die weltliche Beredsamkeit............................................... 706

Chronologische Ueberficht derdeutschen Nationalliteratur................... 711 Anmerkungen.......................................................................... 744 Namen-Register...................................................................... 829

Sach - Register.......................................................................... 837

Die neuere Zeit. Vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Erste Periode. Vom Anfang des 17. bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Einleitung. 1.

Die politische Lage und der Culturzustand Deutschlands.

Als Karl V. nach dem vergeblichen Versuche auf dem

Trienter

Concilium (1545), die streitenden Religionsparteien auSzusöhnen,

zu dem Entschluß gekommen war, die Gewalt der Waffen zur Rich­ terin zu machen und die Regung der Geister durch die Macht des Schwertes zu hemmen, da begann mit dem Schmalkaldischen Kriege (1546 — 47) der große Religionskampf, und seit dem Anfang des­ selben bis zum Westphalischen Frieden, trat für die meisten euro­ päischen Staaten die durch die Reformation herbeigeführte Glaubens­ verbesserung in den Mittelpunkt

Der erste Kampf

aller bedeutenden Ereignisse [»].

in Deutschland

hatte mit einem

nachgebenden

Frieden zu Augsburg (1555) geendet, in welchem den Protestanten Religionsfreiheit zugestanden wurde.

Jetzt erst nachdem die Tren­

nung zwischen Katholiken und Protestanten gesetzlich geworden war, wurde Deutschland in zwei politische Parteien zerrissen, die mit ängstlicher Besorgniß und mit Mißtrauen einander beobachteten. Ferdinand!. (1556 — 64) hatte durch das Beispiel seines Bruders

Mäßigung gelernt und suchte unablässig durch Milde und Nach­

giebigkeit die aufgeregten Gemüther zu beschwichtigen.

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

1

Auch sein

2

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Sohn Maximilian II. (1564 — 76), obgleich mit ganzer Seele dem katholischen Glauben ergeben, war milde gesinnt, indem er gewarnt

wurde durch die Empörung der Niederländer gegen den streng ka­ tholischen Philipp und durch die verheerenden Religionskriege in

Frankreich.

Rudolph II. (1576— 1612) mit gelehrten Forschungen

beschäftigt, überließ die Regierung den Jesuiten, welcher Orden in

seinen

raschen

Fortschritten

eine geschlossene Phalanx

gegen

die

Es entstanden

in Deutschland wieder zwei große bewaffnete Parteien: Churfürst Friedrich V. von der Pfalz, neue Lehre

bildete.

Haupt der Protestanten, errichtete die Union (1608), Maximilian I. von Baiern die Ligue (1609), den Bund der Katholiken.

Eine

dumpfe Gahrung herrschte fortan unter den beiden Parteien; immer

dunkler und dunkler zog sich der Himmel über Deutschland zusam­

men und drohte eine furchtbare Entladung.

Vermehrt wurde die

innere Spaltung Deutschland's durch die Uneinigkeit der Protestan­ ten selbst: zunächst gab es Lutheraner und Resormirte, die sich auf

das bitterste haßten und verfolgten; dann zerfielen die Lutheraner selbst wieder in zwei Parteien, die gemäßigtere folgte den Grund­

sätzen Melanchthon's, die andere dagegen verfocht mit blindem Ei­ fer jeden Buchstaben von Luther'» Schriftauslegung und legte ihr dieselbe Autorität und Untrüglichkeit bei, wie die Katholiken dem

Pabst.

Von katholischer Seite wurde diese unselige Trennung be­

nutzt, das Mißtrauen zwischen den einzelnen Parteien rege zu er­

halten und jeder Verständigung entgcgenzuwirken.

Es war daher

das deutsche Reich vielfach zerspalten; überall herrschte Mißtrauen; „jedes rauschende Blatt gab zum Verdachte Anlaß." Nachdem nun Protestanten und Katholiken sich lange in gegenseitiger Spannung gegenübergestanden hatten und die gegenseitige Erbitterung sich täg­ lich steigerte,

da

kam endlich

unter Matthias (1612—19) der

furchtbare Kampf zum Ausbruch. Ferdinand II. (1619—37) streng katholisch und unduldsam hielt sich zum Kämpfer für die alleinselig­

machende Kirche berufen und zum Wiederhersteller ihres alten Glanzes von Gott bestimmt. Ein 30jähriger verheerender Krieg (1618—48) wüthete im Innern Deutschlands.

Die Protestanten

unter sich nicht einig genug mußten sich nach fremder Hülfe umse­ hen, und gerade die Kirchen-Trennung war es, welche entlegene

Staaten zu einer engeren Vereinigung führte, indem die Sache der Religion die Scheidewand zwischen verschiedenen Nationen nieder­ riß.

Zuerst übernahm es Dänemark, dann Schweden die prote­

stantische Freiheit in Deutschland zu verfechten.

In Folge von

3

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Frankreich's Politik, die damals mit gewaltiger Hand von Riche­

lieu geleitet wurde und auf die Schwächung der habsburg-österrei­

chischen Uebermacht gerichtet war, trat Gustav Adolph an die Spitze der Protestanten in Deutschland. Auf der anderen Seite verstärkte der Kaiser seine Heere, besonders aus Spanien.

überschwemmten daher die deutschen Provinzen.

Fremde Heere Der Schluß des

Kriegs war eine vollkommene Ermattung beider Parteien, welche

sie lehrte sich einander zu dulden.

Der Westphälische Friede räumte

den Lutheranern und Reformirtcn gleiche Rechte mit den Katholi­ ken ein, zugleich aber wurde durch den Einfluß der Franzosen das Uebergcwicht Oesterreich's vernichtet und ihr eigenes darauf gegrün­

det. Deutschland verlor das ganze Elsaß an Frankreich; es wurde hierdurch seiner Vormauer im S.W. beraubt und erkannte die Un­ abhängigkeit der Schweiz und der Niederlande an, und damit die Einheit Deutschland's noch mehr zerriffcn werde, erhielten die ein­

zelnen Fürsten die schon längst geübte Landeshoheit gesetzlich zuge­ sichert.

In Folge dieses blutigen Religionskrieges waren ganze Ge­

genden, einstige Sitze des regsten und fröhlichsten Lebens, in eine menschenleere Wüste verwandelt; tausende von Flecken, Dörfern und Städten lagen nieder in Schutt und Asche; fast die Hälfte der Ein­ wohner Deutschland's war untergegangcn, und Noth, Elend und Jammer hatten die Herzen der Menschen verwildert. Doch das Schlimmste von Allem war die Gesunkenhcit des deutschen Natio­

nalsinns, der Verlust des nationalen Selbstgefühls, wodurch Geist und Sitte auf lange Zeit dem Auslande dienstbar ward. Frank­ reich's Streben nach dem Uebcrgewichte in Europa war von den

glücklichsten Folgen begleitet.

Ludwig XIV. (1643—1'715) schloß

mit den protestantischen und katholischen Reichssürsten den rheini­

schen Bund, wobei sein Ziel war, den Rhein zur Grenze von Frank­ reich zu machen. Durch den Frieden zu Nimwegen (16’78), durch

den Waffenstillstand zu Regensburg (1684) und durch den Frieden zu Ryswick (1697) gingen die deutschen Länder am linken Rhein­

ufer verloren. Außerdem wußte Ludwig XIV. die Türken zu An­ griffen auf das deutsche Reich aufzureizen. Wien ward 1683 von den Türken hart bedrängt; ein fremder Fürst, Johann Sobiesky eilte zur Hülfe herbei.

Es waren jetzt größtentheills ausländische

Feldherrn, welche die einzelnen Siege über die Franzosen erfochten, während deutsche Reichssürsten auf Seiten des Feindes kämpften. Der einzige Reichsfürst, welcher Frankreichs Politik durchschaute und die Würde des deutschen Reichs zu vertreten suchte, war Friedrich

1 *

4

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Wilhelm, der große Churfürst (1649 — 88), der durch entschiede­

nes Handeln und durch weise Verwaltung den brandenbur­ gisch-preußischen Staat zur europäischen Macht erhob. Treu an Oesterreich angeschlossen widerstand er Ludwig's XIV. stolzen An­ maßungen und wollte nichts der Würde deutscher Nation vergeben.

Doch er stand in seinen nationalen Bestrebungen zu isolirt da, in­ dem das deutsche Reich in Ermattung und Schlaffheit versunken war. Ludwig XIV., welcher in seinem Glücke keine Grenzen mehr

kannte und sich immer mehr zum Uebermuthe und zur Tyrannei

fortreißen ließ, schmeichelte sich nach dem Tode Karl's II. mit der Aussicht auf die Erwerbung der ganzen spanischen Monarchie; dies führte den spanischen Erbfolgekricg (1701 —1714) herbei, während welchem der stolze, hochfahrende Sinn des Franzosenkönigs durch

die tapferen Feldherrn Eugen und Marlborough gedehmütigt wurde. Seit dem Jahr 1714 trat im Allgemeinen Waffenruhe ein, und

während derselben bildete sich, da aus Ludwigs XIV. Streben nach Frankreich's Uebermacht die blutigsten Kriege entstanden waren, das

System des politischen Gleichgewichts, an dessen Spitze Oesterreich und England traten. Das in sich zerstückelte deutsche Reich hatte, während Dänen

und Schweden, Franzosen und Spanier von allen Seiten eindran­ gen, den sicheren Haltpunkt in sich selbst verloren.

Das deutsche

Volk, welches während der vorigen Periode in dem kräftig aufblü­ henden Bürgerstand der Vertreter einer neuer Zeitrichtung geworden

war, sank nach und nach von der Höhe seiner Macht herab, die es

durch seine Betriebsamkeit und Tüchtigkeit, durch seine Ehrenhaftig­

keit und Festigkeit ausgeübt hatte.

Es drangen im Verlauf der

Zeit Unsittlichkeit und Selbstsucht in die Zünfte ein, die den Mittelpunkt der Gewerbthätigkeit bildeten; sie mißbrauchten sowol

ihre erlangten Rechte zur Uebcrvortheilung des Publikums, als sie auch Schwelgerei und Sittenlosigkeit in ihrem Schooße nährten, und es fanden um so mehr die geistlichen und weltlichen Herren, welche die politische Macht der Zünfte fürchteten, Vorwand gegen sie einzuschreiten und ihnen ihre wichtige und bedeutende Stellung, in den Städten zu entziehen. Der Bürgerstand verlor daher an Be­

deutsamkeit, seitdem er in seinen Zünften ganz selbstsüchtigen, eigen­ nützigen Bestrebungen sich hingab.

Immer mehr mußte aber das

freudige Volksgefühl dahinschwinden mit dem Sinken der

lichen Freiheit, des Glücks und Reichthums der Städte.

bürger­

Zn Folge

des 30jährigen Krieges hatten sich nur in wenigen Städten Fabri-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

5

ken und Manufakturen erhalten, und der Handel lag fast ganz da­

nieder.

Der alte Hansebund war vernichtet und seine Geschäfte

hatten die Hollander, Engländer »nd Schweden an sich gerissen.

Im Osten wurde der Handel der deutschen Städte durch die Herr­

schaft der Türken erschüttert, und seit der Entdeckung von Amerika und dem aufgefundenen Seewege um das Kap nach Ostindien ging er an die westlichen Staaten Europa's über. Es hatte sich mit dem Bürgerthum die Entwickelung des Mittelalters in sich selbst voll­ endet; nach und nach war bisher die Geistlichkeit, dann der Rit­

ter- und endlich der Bürgerstand in den Mittelpunkt der geistigen Bewegung getreten, und die Poesie war das abgegrenzte Besitzthum

geschloffener Körperschaften gewesen.

Sie wurde zwar im Volks­

lied ein freies Eigenthum der gesummten Nation, doch auch die alte Kraft und Fülle des Volksliedes schwand dahin und die Hegemo­ nie der Volksdichtung erreichte ihr Ende.

Seitdem mit der Refor­

mation die Sache der Religion eine gemeinsame Angelegenheit ge­

worden war, trat die allgemeine Triebkraft der geistigen Fortent­

wickelung in den Stand der Gelehrten; denn um das Verständniß der heiligen Schriften auf gründliche Weise zu vermitteln, bedurfte es des Studiums der klassischen und morgenländischen Sprachen. Es bildete daher der Gclehrtcnstand die Grundlage für die geistige Bewegung der Zeit, und somit ging auch auf ihn nach und nach die Poesie über. Dieser allmahlige Uebergang aus der volksthüm-

lichen Manier in eine gelehrte gab sich in den verschiedenen Dich­ tungsarten zu erkennen, zuerst in der geistlichen, welche man, je betrachtender und didaktischer sie ward, den Gelehrten überließ; dann

drang auch in das Drama und die Fabeldichtung immer mehr das

gelehrte Element ein, und zuletzt beherrschten die Gelehrten die Dichtung vollständig. Das Ansehen und der Stil der Volksdich­ tung wurde gestürzt, und dies that um so mehr Noth, um die

Poesie aus ihrer Gesunkcnheit in Form und Stoff zu retten. Durch die Meistcrsänger war die Form entartet und in Geschmacklosigkeit

erstarrt; der Volksgesang

war gemein

und

pöbelhaft geworden,

und Formlosigkeit war zugleich ihm eigenthümlich.

In der Sprache

hatten die unglücklichen Verhältnisse und Ereignisse die Mischung der verschiedenartigsten Elemente hervorgebracht, und vor Allem war eine Regeneration der Form und der Sprache Bedürfniß.

Alle

Bestrebungen für die Literatur gingen daher zunächst auf das For­ melle und auf die Reinigung der Sprache von fremdartigen Be­ standtheilen.

Es wurden die alten Wege, auf welchen sich die Poe-

6

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

sie unseres Volks Jahrhunderte lang gestaltet hatte, gänzlich virlas­ sen, und man brach mit der alten Zeit vollständig, so daß !aum noch eine historische Kenntniß derselben übrig blieb. Rücksiytlich des Formellen bedurfte es des Studiums der klassischen Kunst- und Schriftwerke, welchen die schöne Form eigenthümlich ist, urd zu demselben Ziel führte auch das Studium der Schriften und ooetischen Werke der romanischen Völker, bei welchen sich der Inhalt der Poesie an den klassischen Vorbildern schon veredelt hatte. Dies konnte wiederum nur Sache der Gelehrten sein, und da die Auf­ fassung des Formellen vermittelt war durch die Reflexion der VerftandcSthätigkeit, so lag der innerste Kern für, die literarischen Bestrebungen in dem Gelehrten, Verstandesmäßigen und Ausländi­ schen. Somit ging die Dichtung, während sie seit dem 13. Jahr­ hundert von dem Adel durch die Gelehrten auf das Volk herabge­ gangen war, jetzt auf die Gelehrten zurück, und lange Zeit dauerte es, bis nach vielen Reibungen und Gegensätzen das Höfische und Bäurische, Gelehrte undVolksthümliche sich ausglich, und eineDichtung entstand, welche das subjeclive Pathos und den rein mensch­ lichen Gehalt der Poesie mit der schönen Form verband, und dann nicht mehr weder Adels- noch Gelehrten- noch Pöbelpoesie war, sondern Volksdichtung im wahren Sinne des Worts, wie sie sich in ihrer höchsten Blüthezeit im 18. Jahrh, gestaltete. Das Ge­ lehrte suchte sich zunächst nicht als Mittel, sondern für sich selbst geltend zu machen, und drängte sich überall ein in Religion, Poesie und Leben, und zeigte sich besonders in einer breiten, pedantischen Lehrhaftigkeit. Das Verstandesmäßige verdrängte die wahre, na­ türliche Empfindung und Wärme des Gemüths und machte das Formelle bei der rein äußerlichen Auffaffungswcise zu einem Con­ ventionellen. Das Aufnehmen des Ausländischen führte bei dem gänzlichen Verlust des nationalen Bewußtseins zu einem vollstän­ digen Verleugnen alles Volksmäßigen in Sprache, Sitten, Moden, Kleidung. Hatte nun die Italienische Literatur schon im 14. und 15. Jahrh., die Spanische im 16. Jahrh, ihre Blüthe gehabt [21, so drängte sich doch vor Allem die Französische Literatur, welche unter Ludwig XIV. ihr goldenes Zeitalter feierte, als Musterbild auf, und dies um so mehr, als Frankreich sein politisches Uebergewicht überall wußte geltend zu machen. Von allen Seiten dran­ gen französische Sitten, Moden und Trachten ein, und es machte sich hiermit das Gezierte und Steife, das Glatte und Unfreie gel­ tend; es trat die Zeit der Allongenperücken und Stahldegen, der

Lis zum eisten Viertel des 18. Jahrhunderts.

7

Manschetten und Fontangen ein, die Zeit der Ceremonien, der Eti­

kette und Heuchelei, kurz die Zeit der galanten Unsittlichkcit und

der vollkommenen Vertreibung aller Natur [$J. 2.

Die Sprache und Verstaust.

Luther hatte in seiner Bibelübersetzung der deutschen Sprache eine neue Würde ertheilt; diese behauptete sie aber nur in der geist­ lichen Dichtung und in allem, was mit der Kanzelberedsamkeit

zusammenhing.

Man strebte freilich danach, auch in weltlichen Din­

gen die Sprache des Vaterlands zu vernehmen; Fischart und Möl­ lenhagen waren die beredten Fürsprecher für ihre Aufnahme, Aus­ bildung und Pflege.

Doch die Gesunkenheit, in der diese Sprache

im Allgemeinen auch nach Luther blieb, zeigt sich abgesehen von der Rohheit der grobianischen Literatur auch in der Mischsprache der

Kanzleien.

Die deutsche Kanzleisprache, welche sich unter Karl V.

in patriotischer Reaction gegen fremden Einfluß zu behaupten suchte, war dem lateinischen Satz- und Periodenbau nachgebildet und mit

Latinismen angefüllt; sie wurde später auch gegen Jtalianismen und Gallicismen nachgiebig, als seit Karl V. an den Hof und in die Verwaltungsgeschäftc so viele Fremdlinge cindrangen, und das Ita­ lienische und Französische abwechselnd zu diplomatischen Unterhand­

lungen benutzt wurde. Diese Kanzleisprache drang selbst in die Dichtung ein, namentlich wo sie politische Interessen behandelte, und deutschgesinnte Manner, wie Rollenhagen und Moscherosch, kön­

nen sich fremder Ausdrücke nicht enthalten.

Außerdem zeigte sich die

deutsche Sprache, so ausgebildet sie zur Bezeichnung alles Sinnli­ chen war, doch arm in Ausdrücken für das Uebersinnliche und für die allgemeinen Bestimmungen der Logik und Metaphysik, weil für die wissenschaftliche Darstellung die Gelehrten sich des Lateini­

schen bedienten, und daher konnte sich auch JacobBöhme, dieser

philosophus teutonicus, der als Schuster deutsch schrieb, sich bei seiner sonstigen Abneigung gegen gelehrte Schriften nicht enthalten,

fremde Ausdrücke aufzunehmen, die er freilich in seinem nach Form ringenden Geiste zu einer eigenen Bedeutsamkeit umbildcte, indem ihm die lateinischen Wörter, die er nicht verstand, zu geheimnißvol­ len Symbolen wurden, in die er die Wunder und Visionen seiner -Begriffe kleidete [■*]. Doch vor Allem wurde die Nationalität der deutschen Sprache untergraben, als sich die Fremden im 30jährigen Krieg eindrängten und die Sprachmengcrei herbeiführten, wodurch

das Hochdeutsche gänzlich verderbt wurde.

Dies Einmischen von

8

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

fremdartigen Elementen machte sich um so mehr geltend, als in der

schroffen Trennung der Stände das gemeinsame geistige Band der

Sprache in den Hintergrund trat. So wie jeder Stand seine Vorrechte hatte, so machte er auch für den sprachlichen Ausdruck

auf eine Bevorzugung Anspruch [*].

Der Adel sprach französisch

und das geschmeidige Idiom der Franzosen durchdrang als diplo­

matische Unterhandlungssprache immer ausschließender die höheren

Klaffen der deutschen Gesellschaft.

Das Lateinische dagegen war

die Sprache der Gelehrten und das eigentliche Organ für die Wis­ senschaft. Außerdem fanden die feiner gebildeten Männer in der ein­

fachen, schönen Darstellung der klassischen Dichter eine Befriedigung, welche die rohe deutsche Dichtung nicht gewähren konnte, und die klassi­

schen Dichtungen dienten zugleich als Muster für die eigenen poetischen

Produktionen, da die bereits fest ausgeprägten Formen in der antiken Poesie die poetische Gestaltung erleichterten.

Die lateinische Poesie,

welche schon unter den Ottonen einen bedeutenden Aufschwung er­ halten hatte und nur während der höfischen Kunstpoesie in den Hintergrund getreten war, erhielt nach der Wiedergeburt der klassi­

schen Studien, wie in Italien und Frankreich, so auch in Deutsch­

land, ein neues Leben und gelangte hier während des 16. Jahrh, zu einer solchen Bedeutung, daß an sie die Ertheilung der Dichlerkrone geknüpft war.

Kirchensprache

war,

Die Lateinische Sprache, wie sie früher

wurde

jetzt Dichtersprache in der gelehrten

In einzelnen Dichtern, wie in Jacob Balde, Jesuit und Hofprediger zu München (t 1668), gewann sie eine lebensfrische Welt.

Gestaltung zum Ausdruck der innersten Empfindungen und Gefühle

des Herzens [•], und die deutschen Gedichte desselben Mannes ge­ ben bei ihrer großen Nüchternheit und Armseligkeit lehrreichen Auf­ schluß über die Ausartung der deutschen Sprache im Süden. Der

verdienstliche Einfluß, den die lateinische Poesie ausübte, bestand darin, daß man gegenüber der stoffartigen mittelaltrigen Thätigkeit

der Kunst einen Begriff von poetischer Form bekam, wobei aber

das Extrem eintrat, daß wie man früher mit der Materie so jetzt mit der Form Alles zu haben glaubte. Während nun unter den Gelehrten das Lateinische vorherrschte, wie unter den Adligen das Französische, vernahm man dagegen aus dem Munde des Bürger­ und Handwerkerstandes das Deutsche in seiner Ausdrucksfähigkeit für die Anschauungen des bürgerlichen und gewerblichen Lebens. Im Umgangsleben aber berührten und durchdrangen sich die ver­

schiedenen Sprachlaute auf wunderliche Weise, und es ging einer-

9

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

seitS ein verdorbenes latinisirtes Deutsch von den Gelehrten aus,

so wie andererseits ein französirtes Deutsch von denjenigen Bürgern, welche über ihren Stand hinaus wollten und sich in der Umgangs­

sprache mit französischen Brocken schmückten. Hieraus entstand jene

Sprachmengerei und Sprachverwirrung [’], in deren Folge das Deutsche völlig entartete; immer weiter ging die Abschwächung kräf­ tiger Endungen, welche in die stumme Ablautung der französischen

Sylben verhallten. Zum wahren Heil gereichte es der deutschen Sprache und Poesie, als gegen Ende des 16. Jahrh, unsere latei­ nischen Dichter sich der vaterländischen Sprache zuwendeten.

Bei

ihrer vielfachen Verbindung mit dem Auslande mußten sie es wahr­ nehmen, wie in Italien, Frankreich und Holland

Gelehrte und

Philologen mit den antiken Dichtungsweisen in ihrer eigenen Volks­ sprache wetteiferten und sich um so mehr allgemeinen Ruhm erwar­ ben, als sie in ihrer Muttersprache dichteten.

Hierdurch erwachte

auch in unseren gelehrt-gebildeten Dichtern ein ähnliches Streben,

ihre eigene Volkssprache für die Dichtung anzuwenden und sich der formlosen volksmäßigen Poesie entgegenzusetzen.

Es traten daher

jetzt deutsche Dichter mit gelehrter Bildung auf, welche Ruhm und Ehre an weltliche Poesie und an den Gebrauch der deutschen Sprache knüpften. Dies wurde auch bald von patriotisch gesinnten Män­ nern des Fürsten- und Adelstandes anerkannt, so daß die Dichter­ krone auch an weltliche deutsche Dichter verliehen wurde. Eine allgemeinere Theilnahme gewannen diese anfangs nur vereinzelten Be­

strebungen, als 1617 der Palmenorden oder die fruchtbrin­ gende G esellschaft [8] im Herzen von Deutschland gestiftet wurde. Die Anregung hierzu ging vom Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen

aus und hing, wie überhaupt die literarische Bildung der damali­ gen Zeit mit dem Protestantismus und dessen Aufnahme zusammen.

Sachsen, Anhalt, die kleinen Herzogthümer nebst der Lausitz legten den Grund zu den formalen Bestrebungen in der Poesie.

Fürst

Ludwig hatte der damaligen Sitte gemäß weite Reisen gemacht,

hatte Italien gesehen und sich mit dessen Literatur bekannt gemacht. So sehr man nun auch die Kraft und den Wortreichthum der deutschen Sprache anerkannte, so beklagte man doch ihr Verderbniß

durch Einmischung fremder Ausdrücke, und um diesem Uebel ent­ gegenzuwirken, dachte man daran nach italienischer Sitte eigene Akademien zu stiften, welche auf Reinheit der Sprache, Begünsti­ gung deutscher Schriftsteller und Veredelung der Sitten ihr Augen­ merk richten sollten. Auf den Vorschlag Kaspar's v. Teutleben,

10

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

des Hofmeisters der Weimarischen Prinzen, wurde die Einrichtung einer solchen Gesellschaft getroffen; Fürst Ludwig ward Oberhaupt

des Ordens und der Sitz der Versammlungen nach^ Köthen ver­ legt. Nach dem Tode des Fürsten Ludwig (1650) zog sich der Mittelpunkt des Ordens nach Weimar, so daß wir, wie in der hö­

fischen Dichtungsperiode unter Landgraf Herrmann, so auch im 17.

Jahrh. Thüringen als einen Sammelpunkt deutscher Bildung ken­

nen lernen Wenn nun auch in der Nachahmung eines fremden Vor­ bildes, der Academia della crusca, sich die Vorliebe des Zeitalters für das Fremde zeigte, und die Bestrebungen der Mitglieder sich in manchen Spielereien mit geschmacklosen Emblemen und Beinamen

verloren [8 b], so war doch der Einfluß des Ordens von großer Bedeutung. Seinen äußeren Glanz erhielt er durch die große An­

zahl von fürstlichen Mitgliedern, an welche sich Grafen, Freiherrn und Adlige anschloffen. Dieser Orden, gestiftet gerade ein Jahr vor dem 30jährigen Kriege, durch welchen derZwiespaltDeutschland's so sehr vergrößert und das nationale Bewußtseyn erschüttert wurde,

bildete einen Mittelpunkt für alle poetische Talente und deutsch­

redende Schriftsteller und weckte

unter den vielen einflußreichen

Gliedern ein patriotisches Gemeingefühl, indem der Zweck war die edle Muttersprache zu erhalten und in ihrer Reinheit herzustellen.

Das Wirken für deutsche Sprache ging von der fruchtbringenden Gesellschaft aus, welche der ungeheuren Fremden- und Modesucht Widerstand leistete. Die Poesie war gleichsam blos Dienerinn die­

ser Bestrebungen für die Sprache, und eben hieraus erklärt sich wie gerade die Poesie des 17. Jahrh, sich so rein deutsch behaup­ tete, während die Prosa von einer wunderlichen Sprachmengerei

entstellt war. Die Dichter waren alle Patrioten, welche das Un­ wesen der Sprachverwirrung tief empfanden und mitten in dem

aufgelösten Reich das Gefühl für Vaterland und für dessen Sprache und Sitten

lebendig

erhielten.

Die

fruchtbringende Gesellschaft

lenkte das Interesse des Adels und der Höfe auf deutsche Bildung, Sprache und Sitte; dem Rittergeschlecht ward eine neue Aufgabe gestellt, die seiner alten beschirmenden Thätigkeit entsprach. Die Schriften der Dichter wurden durch die Gesellschaft leicht verbreitet

und bekannt, und die Dichter gelangten zu Ehren und Ansehen,

indem sie nicht nur Aemter, sondern auch durch Vermittelung der fürstlichen Mitglieder Dichterkronen und pfalzgräfliche Ehren vom

Kaiser erhielten. Es führte freilich das Protectionswesen zu Krie­ cherei und Schmeichelei; außerdem erlaubte man sich zu gegenseiti-

11

bis zum ersten Viertel deS 18. Jahrhunderts.

ger Unterstützung die größten Lobhudeleien und von eigentlicher Kri­

tik war gar nicht die Rede; endlich wurde durch Uebersetzungen, in

welchen sich der Mangel an Produktivität darstellte, die literarische Beschäftigung gleich maffenweise auf das Ausländische hingeführt. Der Orden bestand bis 1680 und veranlaßte mehrere andere Gesell­ schaften, die mehr den Charakter von Privatgesellschaften hatten ohne den Glanz von fürstlichen Mitgliedern. Harsdörfer und Klai stifteten in Nürnberg 1644 bei Gelegenheit einer Hochzeit den Or­

den derPegnitschäfer oder den gekrönten Blumenorden [*],

welcher durch das Schäferliche der Jtalienisch-Marinoschen Richtung

dazu beitrug, den Geschmack der Deutschen zu verbilden.

Ferner

wurde durch Philipp v. Zesen 1646 zu Hamburg die deutsch­

gesinnte Genossenschaft gestiftet [,0], welche ans Reinigung der Sprache von Fremdwörtern und auf Verbesserung der Orthographie drang. Endlich stiftete Joh. Rist 1656 den Schwanenorden an der Elbe ['*], welcher nach einer Vermittelung strebte zwi­ schen dem Trocknen, Verstandesmäßigen und dem Phantasiereichen, Schwülstigen, zuletzt sich aber einer affectirten, hochverstiegenen Re­ deweise zuwandte. Durch die mannigfachen Bestrebungen in Sachsen und Thü­

ringen für die deutsche Gelehrtenpoesie,

wie sie

namentlich

fruchtbringende Gesellschaft begünstigte, ward die Opitzens (aus Bunzlau 1597—1639) vorbereitet.

die

Wirksamkeit Er war es,

der wie Luther in der vorigen Periode durch Verdrängung der Dialekte eine Nationalprosa geschaffen hatte, so auch aus der Poesie die Mundarten verdrängte und Luther's immer mehr gereinigte und veredelte Sprache zu der allein herrschenden Dichtersprache machte. Durch ihn wurde die deutsche Poesie vollständig in die Kreise ein­ geführt, wo bisher die lateinische Sprache gegolten hatte. Er war

bemüht, die Sprache reiner, korrekter und würdiger, den Ausdruck geschmeidiger und zierlicher zu gestalten, damit das Deutsche hinter

dem Lateinischen nicht zu weit zurückbleibe. Er arbeitete der Ver­ gröberung der Sprachlaute und der Abschwächung der Endsyl­ ben entgegen,

beseitigte

die breiten

Umschreibungen

mit thun

und eine Menge von Zusammenziehungen und Auslassungen, die sich früher die Dichter erlaubten; hierdurch beförderte er das grammatische Studium und das Streben nach Reinigung der Sprache von allem Fremdartigen. Vorzüglich wichtig war das Ge­

Opitz für die Sylbenmessung einführte, nachdem das Sprachbewußtseyn über die alte Form der kurzen Reimpaare,

setz, welches

12

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

welche ursprünglich nur nach der Zahl der Hebungen gemessen wa­

ren, sich ganz verloren hatte.

Im 16. Jahrh, maß man diese Verse

nach der Zahl der Sylben ohne Rücksicht auf Hebung und Sen­

kung der einzelnen Sylben, und es entstanden hieraus wunderliche

Verse.

Man fühlte diesen Uebelstand, doch erst Opitz war es, der

mit richtigen Takte darauf drang, daß nicht wie bei den romani­ schen Völkern bloß die Sylben gezählt, sondern nach dem Accent darin Länge und Kürze unterschieden und erkannt werde.

Nicht

wollte er lateinische Quantität auf die deutsche Sprache angewen­ det wissen, sondern er blieb bei der Thatsache der Betonung stehen,

nach welcher aus dem Accent und dem Ton das Maaß der Syl­ ben bestimmt wird; er lehrte jambische und trochäische Verse un­

terscheiden und brachte Ordnung in die Verwirrung der Prosodie und Metrik.

Er faßte auf diese Weise die vereinzelten Bestrebun­

gen seiner Zeit zusammen und ward als Repräsentant derselben der

Liebling und das Vorbild seiner Zeitgenossen.

Er wurde zu Kö­

then feierlich in den Palmenvrden unter dem Namen des Gekrönten ausgenommen; sein Ruf erscholl durch ganz Deutschland, und er ward überall als der Vater und Schöpfer der neuerwachten Poesie

begrüßt.

Seine neue, durchgreifende Theorie des Versbaues gab

er in der Abhandlung von der deutschen Poeterey 1621 her­ aus, und dies Büchlein hatte die ausgedehntesten Wirkungen.

Die

Quelle für diese Abhandlung war die lateinische Poetik des Julius Cäsar Scaliger (1561), welche sich auf den antiken Poesien auf­ baute und in Frankreich wie in Holland für di« Poesie vielfach

gesetzgebend war.

Opitz weit entfernt zu glauben,

daß Regeln

und Gesetze den Poeten mache, setzte das Wesen der Poesie au­ ßer dem Verse in kühne und scharfsinnige Gedanken und in rhe­ torischen Ausdruck [•1 b].

Den Inhalt der

Dichtung adelte er

in den Augen der strengen Moralisten durch seine Forderung, daß die Poesie wie die Philosophie lehren und nützen solle, nur mit dem Unterschiede, daß sie lehre und nütze indem sie ergötze [l2];

hierdurch wurde das didaktische Element der Dichtung obenan ge­ stellt und beherrschte ein Jahrhundert lang die Poesie. Opitzens Hauptbestreben war darauf gerichtet, die deutsche Poesie der fran­

zösischen und italienischen an die Seite stellen zu können, und er

bemeisterte sich daher derjenigen Formen, welche in der italienischen und französischen Poesie die elegantesten und üblichsten waren und

wirkte für Einführung und Ausbildung des Sonnets, der Ode, Ekloge, des Epigramms [**] u. dgl. m. Vorzüglich

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts. wurde

durch

ihn der

Alexandriner

ein

Lieblingsvers,

13 eine

Versart, welche durch ihre rythmische Cäsur eine streng symmetrische Eintheilung herbeiführt und zu Antithesen,

Parallelismen, über­

haupt zum Rhetorischen Veranlassung giebt und daher die formale,

konventionelle Poesie des 17. Jahrh, am meisten charakterisirt.

Zu

seinen formalen Bestrebungen wurde Opitz besonders durch die Hol­

ländische Poesie angeregt, für welche schon seit dem 15. Jahrhundert durch die Bemühungen der Rederyker (Rhetoriker) ['*] die antike Dichtung das Vorbild geworden war. Eigenthümlich ist der Nie­ derländischen Poesie die Vorliebe für die Beschränkung und für das

Glück der Empfindung, in ihr verweilen zu können, und nichts wi­

derstrebt ihr so sehr als das Maaßlose, was dem Sinn der Hol­

In gingen die Holländer gleichen

länder für Sauberkeit und Symmetrie ganz entsprechend ist.

der antikisirenden weltlichen Lyrik

Schritt mit den Franzosen; durch die Ausbildung einer regelrechten

poetischen Form empfahlen sie sich den Deutschen vorzüglich zur Nachahmung; sie waren gesinnungsvoller und protestantisch-geistli­

cher; ihreSprache, Vcrsmaaß, Reim und Melodie lag den Deut­

schen näher, und wie die niederländische Poesie eine Tochter der

französischen geworden war, so ward die neue deutsche ein Kind der niederländischen [* 5J. Opitz suchte sich durch Uebersetzungen an den Holländern zu bilden, und nannte die Poesie des Daniel Heinsius (aus Gent f 1655), der als Philologe berühmt auch manche poe­

tische Versuche in der Volkssprache mit Glück gemacht hatte, die Mutter der {einigen [*•].

So wurde von den Niederlanden aus,

welche das ganze Mittelalter hindurch ein Vermittelungsglied bilde­

ten zwischen französischer und deutscher Poesie, von Neuem eine von

der Fremde abhängige Dichtungsperiode angeregt.

Vor den Ge­

lehrten wußte Opitz die neue Dichtungsweise dadurch zu rechtferti­ gen und zu heben, daß er den Dichtern die Grundlage der huma­

nen Studien, die Nachahmung der Alten zur Hauptbedingung machte. Diese Ansicht wurde von ihm und der ganzen Zeit prak­ tisch durchgeführt; man übersetzte nicht nur fleißig, sondern nahm auch Ideen, Gedanken, Wendungen von den lateinischen Poeten,

und dann auch von den Franzosen, Italienern, Spaniern. An die Stelle der früheren Meistersängerschulen traten von jetzt an die Or­

den gekrönter Dichter unter dem Schutze fürstlicher Häupter, und an die Stelle der Tabulaturen der Meistersänger Opitzens Poetik, welche besonders das Formale für die neue Dichtungsweise feststellte.

14

Erste Periode.

3.

Bom Anfang des 17.

Die Dichter nnd die DichtungSarte» nebst der Prosa.

Da die literarischen Bestrebungen in diesem Zeitraum vorzüg­ lich auf die Regeneration der Sprache und der Form gerichtet wa­

ren, und die Praxis der Poesie, wie ihre Theorie sich an die klas­ sische Bildung und die Kenntniß der Alten knüpfte, so konnten die

poetischen Erzeugnisse nur von dem besonderen Stande der Gelehr­ ten ausgehen, und diese waren vorzugsweise Theologen, weil sie besonders im Gegensatz der Fachgelehrten aus den anderen Fa-

cultäten alles auf allgemeine Wissenschaftlichkeit und Geistesbildung Da ferner von dem Protestantis­

Bezügliche in sich vereinigten. mus die geistige

Bewegung ausging,

und

dieser

hauptsächlich

der nördlichen Hälfte Deutschlands angehörte, so waren es pro­ testantische

Theologen,

und es ging Norden über.

die

sich

literarisch

wirksam

zeigten,

die poetische Literatur aus dem Süden in den Dem Norden fehlt aber die schöpferische Dichtung

der Phantasie, und es herrscht hier das Verstandesmäßige vor dem Phantasiereichen mnd Gemüthlichen.

Es sind daher auch die litera­

rischen Erzeugnisse in diesem Zeitraume durch Verstandesthätigkeit

und Gelehrsamkeit vermittelt.

Schlesien [M] bildet die Brücke

zu dem Uebergang der poetischen Literatur aus dem Süden in den

Norden.

Hier trat, seitdem die Schlesier unter deutsche Regenten

kamen und der deutschen Reformation Eingang gestatteten, all der wissenschaftliche Eifer und die geistige Erregtheit hervor, wie sie in

den sächsischen Landen durch die Reformation erzeugt war, und es bildete sich hier bald ein Gelehrtenstand, durch welchen sich diese in Deutschland einreihte. Durch Opitz ward nun der gelehrte und dichterische Ruf derselben vorzüg­

Provinz unter die gebildetsten

lich gehoben, so daß sie der ersten Zeit der neuern deutschen Dich­

tung den Namen gab, obgleich außer Preußen und dem nördlichen

Deutschland besonders auch Sachsen den neuen Aufschwung theilte. Opitz war es auch, welcher Poesie und Poeten wieder zu Ansehen und Würde brachte, die sie gänzlich verloren hatten; denn seitdem

die Poesie zur Meistersängerei und handwerksmäßigen Gelegenheits­ dichtung herabgesunken war, galt Poet und Gratulant, Bänkelsän­ ger und Bettler für einerlei.

Opitz schob eine Kluft zwischen sich

und die Bettelpoeten des Volks und hob die zwischen den deut­ schen und lateinischen gelehrten Dichtern auf. Die Persönlichkeit der Dichter erhielt wieder eine größere Bedeutung, nachdem die Posie

15

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

zu den Höfen der Fürsten und überhaupt zu den Reichen, Angese­ henen und Mächtigen in nähere Beziehung gebracht war. Bei der vorherrschenden Richtung der Dichter auf das Gelehrte

und Ausländische konnte sich keine volkSthümliche Literatur bilden, die in verschiedenen Abstufungen der ganzen Nation angehört hätte.

Die neue Poesie war nur für den Adel und die vornehmen Bür­ gerlichen da; das Volk hatte außer der religiösen Liederpoesie nichts

als die verunstalteten Ucberbleibsel von den Dichtungen des Mittel­ alters.

Es entstand jene Kluft zwischen den Gelehrten, die hinter

ihren Büchern dem Leben entfremdet wurden, und dem Volke, wel­

ches nicht allein gleichgültig blieb gegen alles, was in das Leben der Gelehrten und Großen gehörte, sondern auch mistrauisch war,

was von da ausging. Der volksmäßige Geschmack zeigte sich nur von

Zeit zu Zeit wirksam in der Reaction gegen das Gelehrte und Hof­

mäßige, und fand seine Vertreter an einzelnen Dichtern, die sich ebenso dem Volke zuwandten, wie die gelehrten Dichter den höhe­

ren Ständen.

Von den gelehrten Poeten wurden die einzelnen

Dichtungsformen als fertige äußerlich ausgenommen; diese bildeten

den Ausgangspunkt, nicht der lebendige Gefühlsinhalt, der poetische Gedanke, welcher die Form organisch aus sich erzeugt.

In der

Nachbildung des klassischen Alterthums ging man nicht zu den rech­ ten Quellen zurück, sondern wetteiferte mit den Franzosen und Hol­ ländern, deren Literatur in dem Ruf stand sorgfältig nach dem Mu­ ster der Antike gebildet zu seyn und einen überwiegenden Einfluß

gewann; nicht schöpfte man aus den klassischen Werken des Alter­

thums selbst den inneren poetischen Gehalt, sondern man begnügte sich bei einer gewissen, äußeren, formellen Regelmäßigkeit, wie sie sich in den poetischen Erzeugnissen der Franzosen, Holländer und der späteren Italiener ausgebildet hatte. Es konnte daher nur cineRe-

flerionspoesie entstehen, in welcher der Mangel an innerem poe­ tischen Gehalt nicht durch eine gebildete Sprache und durch eine gewisse Regelmäßigkeit in den äußeren Formen der Poesie zu ersetzen

war. Eine Zeit, in welcher alle Eigenthümlichkeit, alles Selbst­ gefühl und die schöpferische Kraft geschwunden zu seyn schien, konnte

nichts Originales und allgemein Ergreifendes hervorbringen; die poetische Bildung bestand in einem Aufnehmen früherer Poesie durch Verstand und reproductive Phantasie.

Man zergliederte die Mu-

sterwerke und suchte sich ihrer verstandesmäßig zu bemächtigen, ohne sie in ihrer Totalität auf das Gefühl wirken zu lassen.

Die Dicht­

kunst selbst wirkte rhetorisch, wie alle Hervorbringungen, welche die

16

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Mittel und Vortheile der Poesie äußerlich anwenden, ohne silbst

dem Boden der Poesie entwachsen zu seyn.

Für die poetische Be­

handlung bildeten sich bestimmte Formen und Wendungen: nan

zog die antike Mythologie herein, suchte nach gelehrten Anspielun­ gen, antikisirte Personen, Freundschaften, ja auch Liebschaften; das

Conventionelle war das Vorherrschende und das wirkliche Pathos, die Stimme der Natur fehlte da ganz [,8J. An die Stelle der Phantasie trat der Verstand, an die Stelle der Bilder Antithesen

und Sentenzen, an die Stelle der Erfindung bloße Nachahmung. Es war nicht ächte wahre Poesie, sondern Schilderei, Maherei, Beschreibung, Bilderprunk galten als nothwendige Elemente für ein

Gedicht. Für die beiden Hauptgattungen der Poesie, für Epos und Drama, war wenig zu hoffen in einer Zeit, die weder für alte Hel­

densagen noch für historische Größe Sinn hatte; für das Lyrische und Didaktische gab Frankreich

und Holland den Ton an; für

Reimspiel und lyrisches Getändel Italien, wo Marino (f 1625) durch witzelnde und phantastische Geschmacklosigkeit den Verfall der

Poesie beschleunigte.

Bei dem Mangel an eigener Produktionskraft

und schaffender Fülle der Phantasie mußte ein Schwanken nach den verschiedensten Seiten hin eintreten, um sich einen Anhalt zu

verschaffen. Die epische Poesie, welche während der vorigen Pe­ riode in den Roman und in die Novelle übergegangen war und im Schwank und in der Anekdote ihre Endschaft erreicht hatte, konnte in dieser Zeit um so weniger neu belebt werden, als das

nationale Selbstgefühl erschüttert war und die lebendige Triebkraft

des Volksgeistes fehlte, welche nur bei der Einheit, in der sich der .Einzelne mit den nationalen Großthaten der Gesammtheit weiß, das Epos aus sich zu erzeugen vermag. Es erklärte daher auch

Opitz in seiner Poetik, daß das Epos derzeit eine Unmöglichkeit

sey.

Außerdem hatten die gelehrten Poeten nicht wie die Humani­

sten des Reformationszeitalters zugleich mit der formalen und ge­

lehrten Erbschaft des Alterthums die große Gesinnung der antiken Welt überkommen. Sie stehen den großartigen Bewegungen des

Lebens ferne, leben nur ihren Büchern und sehnen sich nach fried­ lichen, idyllischen Zuständen, womit sich der Hang zur Reflexion verbindet, welche leidenschaftslos ist und hinführt zur Didaktik und Beschreibung.

Die Süßigkeit des Landlebens wird besungen gegen­

über den Stürmen des 30jährigen Kriegs, dessen viele und blutige

Schlachten beseufzt werden; die Unruhe des Kampfs, welche die stille Zurückgezogenheit stört, empfindet man, ohne die großen Mo-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

17

live desselben zu erkennen [*•]; überhaupt ist eine senitmentale, elegische Stimmung, eine trübe Lebensansicht Grundzug des gan­ zen Zeitalters, die in den Trübsalen der Zeit ihre Erklärung findet. Werden Zeitereignisse in den Kreis der Poesie gezogen, so geschieht es aus epischem Gebiet in der Form der panegyrischen Lebensgeschichtc eines Fürsten oder irgend eines bedeutenden Man­ nes in rein beschreibender Weise; die Darstellung ist ohne poetische Auffassung, sie wird nur äußerlich gehoben durch mythologischen Prunk und durch den Schmuck rhetorischer Diktion, und zeigt wie schwer es den gelehrten Dichtern wird, sich der Geschichte und ih­ rer Helden auf poetische Weise zu bemächtigen. Die Dichtkunst wird, wie überall, wo sie nicht Selbstzweck ist, eine blos lyrische, theils musikalischer Art in der geistlichen Herzens- und Gemüths­ poesie, theils didaktischer Art in dem weltlichen Gedicht. Es un­ terscheidet sich in der lyrischen Poesie des 17. Jahrh, bestimmt das geistliche und weltliche Gedicht; in jenem herrscht lebendi­ ges Gefühl, und das Lied wird der Ausdruck der religiösen Stim­ mung, der Erhebung des Gemüths zu dem Göttlichen, Ewigen; das weltliche Gedicht dagegen ist nicht der Ausdruck rein menschlich­ individueller Empfindung und entfaltet sich nicht aus den Stim­ mungen des innersten Gemüthslebens, sondern neigt sich bei der vorherrschenden Verstandesreflexion zur didaktischen und beschreiben­ den Gattung; daher auch Opitz erklärte, daß die sapphische Ode d. h. die lyrische Dichtung, weil Gesang dazu gehöre, derzeit eine Un­ möglichkeit sei. Daß der Dichter wirklich etwas erlebt hätte und in sein eigenes Herz greife, ward nicht für nöthig erachtet; daher auch das eigentliche weltliche Lied sich noch gar nicht gestaltete, sondern nur eine Gelegenheitsdichterei [10]. Es entstand jene unwahre auf willkürlicher Fiction beruhende Poesie, in welcher die meisten Gefühle erheuchelt sind; das bestellte Gelegenheitsgedicht, einem Anderen zu Ehren gemacht, eines Anderen Schmerz, Freude, Lust ausmalend, in eines Anderen Namen geschrieben, erstickte im Ursprung jede eigene Betheiligung, jedes subjektive Pathos. Eine Erweiterung erhielt die lyrische Poesie durch die Aufnahme von fremden lyrischen Formen, zu denen außer dem Sonett, Triolett, der Sextine, Oktave, welche sich zunächst blos formal durch Reim­ stellung, Verszeilen unterscheiden, namentlich die Elegie und Ode gehören. Diese Formen der lyrischen Poesie erscheinen mehr als Frucht und Folge gelehrter, philologischer Bemühungen. — Die dra­ matische Poesie, welche im vorigen Zeitraume aus den Händen Biese deutsche Literaturgeschichte. II. 2

18

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

des Volks in die der Gelehrten übergegangen war, sich dann aber wieder dem Bolksmäßigen zugewandt hatte, erlitt durch den ZOjäh-

rigen Krieg eine Unterbrechung, indem dieser an allen Orten die

Volksbelustigungen und den heiteren Sinn des 16. Jahrh, unter­ drückte.

Die Gelehrten suchten eine höhere Kunstform des Drama's

zu begründen, ohne daß sie jedoch dasselbe wahrhaft national zu

gestalten vermochten. Es entstanden zunächst Festspiele, welche als dramatische Gelegenheitsgedichte die Festlichkeiten an den Höfen verherrlichten. Dann bildeten sich in Nürnberg die Schäferspiele

und Singspiele, welche das nationale Drama vollends von der Bühne verdrängten. Die gelehrte dramatische Reform gestaltete sich

in Schlesien durch Andreas Gryphius und Lohenstein; doch

das

gelehrte

rhetorische Trauerspiel

stand

dem

Volksgeschmacke

ferne. Nach den Schrecken des 30jährigen Kriegs erwachte im Volke von Neuem die alte Theaterlust, und es wurden die englischen Ko­ mödien mit ihren Hanswurstiaden und Pickelhäringsspäßen wieder

hervorgesucht, und das volksmäßige Possenspiel erhielt eine wei­

tere Ausbildung.

An die Stelle des Trauerspiels traten die soge­

nannten Haupt- und Staatsactionen, welche, eine Art ernst­ haft feierlicher Schauspiele, die welthistorischen Vorgänge oder das

Leben der Großen darstellen sollten. Am meisten Beifall aber fand die aus allegorischen Sing- und Festspielen entstandene Oper, um deren willen in Nürnberg und Augsburg die ersten Schauspielhäuser erbaut wurden. — Die didaktische Poesie mußte in diesem Zeit­ raum, wo man hauptsächlich aus das Verstandesmäßige, das Lehr­

hafte und Beschreibende gerichtet war, das Uebergewicht erhalten, und daher kam es auch, daß die einzelnen Dichtungsarten eine

Wendung zum Didaktischen bekamen. Die Formen, in. welcher die Didaktik erscheint, sind die Parabel, das Epigramm, die Satire und das Lehrgedicht im engeren Sinn, welches zugleich beschreibend

ist.

Eine dieser Zeit ganz eigenthümliche Dichtung war die Schä­

ferpoesie, in welcher sich besonders kund giebt das sich Zurück­ ziehen aus allen größeren nationalen Weltverhältnissen in die ein­

fachen Zustände der Natur.

Das Schäserliche

des Hirtenlebens

ward eine eigene Art poetischer Einkleidung und Anschauung; man

gebrauchte es allegorisch, indem man wirklich Erlebtes und Em­ pfundenes erst unter dieser Form in das poetische Gebiet zu erheben suchte, und vorzüglich die idealisirte geschlechtliche Liebe unter der

Maske eines Schäfers darstellte.

der Einkleidung,

Es war dies eine so beliebte Weise

daß sie in den verschiedenartigsten Formen der

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts. Dichtung wiederkehrtc;

cs gab

19

Schäfersonette und Schäferlieder

Schäferepen, Schäferromane, Schäferopern, Schäferdramen. Da die deutsche Sprache nur für die Poesie erobert war, so

standen sich Poesie und Prosa in diesem Zeitraum am getrenntesten gegenüber [S1J.

Während man in der Poesie auf Correctheit und

Reinheit des Ausdrucks hielt, lag die Prosa in der Sprachverwir­

rung des Jahrhunderts tief vergraben; hier übte die mit Fremd­ wörtern vermengte Geschäfts- und Conversationssprache einen Ein­

fluß aus, dem sich nur wenige Schriftsteller zu entziehen vermogten. Sie war abhängig von den geschmacklosen und schwerfälligen Lebens­

formen des 17. Jahrh, und hatte ihre Grundlage in dem ceremoniellen Canzleistil.

Die Durchdringung mit dichterischen Elementen,

welche die Prosa schon durch Luther erfahren hatte, ging ihr in die­ sem Jahrhundert wieder verloren; nur in Lohenstein's Heldenro­

man zeigte sich zum ersten Mal wieder eine Vereinigung von red­

nerischen und dichterischen Mitteln auf eine effektvolle Weise, und dies steigerte sich

Gongorismus.

in den Geschichtsromanen zu einem wahren

Dem Heldenroman gegenüber trat derBagabun-

den-Roman und die Prosa-Satire mit volksthümlichcr Reac­

tion gegen gelehrten Pedantismus, gegen fremde Sitte und höfische Verbildung. Endlich erhielt noch bei der gelehrten Thätigkeit der Deutschen in dieser Periode, in welcher selbst während des 30jäh-

rigen Kriegs mehrere Universitäten errichtet wurden (in Rinteln,

Straßburg, Salzburg, Bamberg), die historische und didakti­

sche Prosa vielfache Erweiterung. Doch war das Ziel der wissen­ schaftlichen Studien mehr ein polyhistorisches Wissen ohne Kritik

und Methode, und vorherrschend blieb ein gelehrter Pedantismus; es fehlte philosophische Durchdringung und eigentliche Wissenschaft. Das religiöse Leben verknöcherte in scholastischer Dogmatik und dies

zeigte sich auch in der Predigt. gewinnt die Philosophie eine

Erst gegen Ende dieses Zeitraums freiere Bewegung

durch Leibnitz

(1646 — 1714), welcher den größten Einfluß auf die ganze wissen­ schaftliche Bildung der Deutschen ausübte, und mit Christian

Thomasius (1665 —1723) und Christian Wolff (1679 —

1754) beginnt die Philosophie eine nationale Form anzunehmen und auf die Nation zu wirken. Die Universität Halle, welche

1694 gestiftet wurde, trat in den Mittelpunkt der geistigen Be­

wegung. Für die nähere Behandlung der literarischen Erzeugnisse bilden auch in dieser Periode Poesie und Prosa die beiden Hauptab-

2*

20

Erste Periode.

Born Anfang des 17.

schnitte; doch der Entwickelungsgang der Poesie wird anschaulicher, wenn er nicht bloß nach ihren Gattungsunterschieden verfolgt wird, sondern vielmehr nach der vierfachen Gestaltung, in welcher sich die

Dichtkunst in diesem Zeitraum darstellt, nämlich als Uebergang aus

dem srüheren Zeitraum, als erste und als zweite schlesische Schule und als Uebergang in den kommenden Zeitraum.

Erstes Capitel. Die Poesie. I.

Uebergang aus dem früheren Zeitraum oder die Anfänge der Gelehrtenpoesie. An der südwestlichen Grenz« Deutschlands treffen wir, nament­

lich in Straßburg und Heidelberg, auf einen Kreis von gelehrten

Männern, welche bei ihrer Neigung zur Poesie statt der lateinischen Sprache die deutsche wählen, gereizt durch das Muster der französchen Poesie, um der rohen Manier der Volksdichtung entgegenzu­ wirken. Zu diesen Männern gehörten Paul Melissus, Peter

Danaisius, I. W. Zinkgref und Georg. Rud. Weckherlin.

Es drängte sich ihnen die Ueberzeugung auf, daß die Dich­

tung aus dem weiteren Kreise des Volks in eine engere, reinere

Gesellschaft zurücktreten und nach dem Beifall der Gebildeten und Verständigen streben müsse. Hieraus ging eine weltliche Dichtung hervor, die vertreten ward von Mänern der weltlichen Wissenschaft und der Weltbildung, und ihre Pflege erhielt auf Universitäten.

Bei jenen gelehrten Dichtern aus den oberrheinischen Gegenden fin­ den wir die Eigenthümlichkeiten der damaligen neulateinischen Poe­ sie, sowol in Bezug auf die antikisirende Bildersprache, auf mytho­ logische Anspielungen und epigrammatischen Witz, als auch in Bezug auf die Gattungen der lateinischen Modedichtung, auf Lobgesänge,

die an große Herren gerichtet waren, auf Trauergedichte über To­ desfälle, auf Gelegenheitsgedichte für allerlei Festlichkeiten.

Außer­

dem werden von Italienern und Franzosen die neueren Formen der Lyrik ausgenommen, Sonetten, Villanetten, Sextinen, Erlogen, Oden

und Epigramme; jedoch vermögen diese Dichter sich innerhalb der neuen Formen noch nicht, wie Opitz, von der Volksmanier loszu­

machen, welche sich im Süden von Deutschland bei dem regeren Volksleben in der Dichtung erhielt. So sehr sie aber auch in Rein­ heit der Sprache und Kunst der Sylbrnmeffung hinter Opitz zurück-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

21

stehen, so tritt doch in ihren Gedichten neben den Anklangen an das Volkslied eine frische Fülle der Empfindung hervor, die von

der Gelehrsamkeit noch nicht niedergehalten wird.

Joh. Valent.

Andrea [**], Weckherlin's Landsmann, gelehrter Theolog und ei­ ner der geistvollsten Schriftsteller seiner Zeit (er starb als Abt von

Adelsberg 1654 zu Stuttgart), spottete des mühseligen Fleißes der gelehrten Dichter und blieb in seinen geistlichen Liedern der alten

Volksmanier getreu.

Seine Gedichte, in denen die Muttersprache

noch sehr vernachlässigt erscheint, zeichnen sich aus durch Erfindung und Einbildungskraft, und zeugen von Wärme des Gefühls und

Tüchtigkeit der Gesinnung.

PaulMelissus oder Schede, aus Franken gebürtig (1539) und schon in seinem 22. Jahre seiner lateinischen Gedichte wegen in

Wien gekrönt, bildete seinen Geist aus auf Reisen, die er nach Un­ garn, Frankreich, Italien, England unternahm und starb als Bi­

bliothekar zu Heidelberg (1602).

Bon seinen weltlichen Liedern sind

nur wenige übrig geblieben; unter denselben befindet sich ein So­ nett in Alexandrinern, das älteste Deutsche, das man kennt [1S]. Er übersetzte im Auftrage des Churfürsten Friedrich 3. von der Pfalz

die Psalmen [14], von welchen fünfzig im I. 1572 erschienen; dir Nachbildung des 37. Psalms enthält das älteste Beispiel von deut­

schen Terzinen. Die Psalmenparaphrase bildet, wie die Lobwaffersche am Ende des 16. Jahrhunderts den Uebergang von der Einfachheit des Lutherischen Kirchenliedes in die Phantasie- und bil­ derreichere Sprache der Hymnendichtung, welche, später von Opitz

weiter ausgebildet, sich immer mehr von dem Andachts- und Kirchenliede entfernte. Peter Danaisius, geb. 1561 zu Straßburg, war gelehrter Jurist, machte in Pfälzischen Diensten Reisen nach Polen und Eng­

land, und starb 1610 zu Heidelberg. Wir haben von ihm nur noch ein Hochzeitsgedicht, welches neben der anmuthigen Bildersprache des Volkliedes den Schmuck mythologischer Anspielungen nicht ver­ schmäht [ls]. Georg Rud.Weckherlin, geb. zu Stuttgart 1584, studierte zu Tübingen die Rechte und bereiste nach vollendeten Studien Frank­ reich und England, wo er eine nähere Bekanntschaft mit der Lite­ ratur beider Länder machte [2,J.

In seinem 25. Jahr erhielt er

die Stelle eines Sekretärs in der herzoglichen Canzlei und versah

zugleich das Geschäft eines Hofpoeten.

In dieser Zeit gab er ei­

nen Theil seiner Gedichte heraus (Oden und Gesänge; erstes Buch

22

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

1618; das ander Buch 1619); in welchen die Tendenz vorherrscht, die deutsche Poesie nach fremden, besonders antiken und französischen Mustern umzubilden.

Nach der Flucht des churpfälzischen Hauses

begab er sich 1620 nach London als Sccretair bei der deutschen

Canzlei, die dort nach dem Ausbruch des 30jährigen Krieges er­ richtet war, um die Correspondenz zwischen England und dem pro­ testantischen Deutschland zu unterhalten. Er blieb hier bis an seinen

Tod (1651).

Auch in der Ferne nahm er lebhaft Theil an den

Schicksalen seines Vaterlands; er ermahnt in seinen Liedern zur

Tapferkeit, zur Einigkeit, zum Schutz der Freiheit, zum Widerstand

bei Unterdrückung und Tyrannei; er verherrlicht in mehreren Oden und Sonetten die Helden des Protestantismus, und sein Preisge­

sang auf Gustav Adolf erweitert sich zur epischen Fülle, wird aber in seiner Breite ermüdend und zeichnet sich nur durch einzelne Schilderungen (Lützener Schlacht) aus.

Außerdem feiert er in ero­

tischen Gedichten und Trinkliedern die Liebe und den heiteren Lebens­ genuß, und erinnert an Anakreon und Horaz, er tändelt in italieni­ schen Villanellen und Schäferliedern, doch verschmäht er andererseits

auch nicht den Ton der Volkspoesie, die er allmählig zu höheren Formen überzuführen bemüht war.

Als Volksdichter zeigte er sich

oft in den Beschreibungen der Hoffeste,

und führte in geschickter

poetischer Einkleidung kleiner Gelegenheitsgedichte über das Meister-

sängerliche hinaus.

Er versuchte sich auch in geistlichen Liedern, aus

denen ein warmes religiöses Gefühl spricht, und beschrieb somit den

Kreis der Poesie, in welchem die Schlesier sich bewegten [*’].

Er

besaß Tiefe des Gefühls und Reichthum der Phantasie; seine Sprache ist kraft- und gedankenvoll, und dem Trivialen des Volksgedichts gegenüber strebt er nach einer Fülle von Gedanken, nach Steige­

rung des Ausdrucks und Adel des Vortrags [2 •], und gab auch in

tändelnden Wort- und Gedankenspielen, in epigrammatischem Witz dem Zeitgeschmack an den italienischen concelli nach, die außer dem Gemüth auch für den Kopf sorgen sollten.

Die Ode, das Sonett,

die Ecloge, das Epigramm hat er bestimmter ausgebildet und bei uns eingeführt; seine Oden sind nach Art der Pindarischen in Stro­

phen, Antistrophen und Epoden gegliedert. Er achtet auf Sprache und Stil, und verläßt die Elisionen der Volkssprache und bemüht sich auch nicht mehr nur um den Tact der Volksdichter, den deut­

schen Accent, sondern zählt nach Art der Franzosen bloß vie Sylben

unbekümmert um Längen und Kürzen.

Er kennt zwar die Regeln

der Betonung, wie sie „von den Oberhäuptern der Poesie, die Ge-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

23

setzgeber und Richter seyn wollten" gegeben wurden, doch hält er

es nicht für nöthig auf ihre Vorwürfe zu antworten, „weil er ih­ rem Befehl und ihren Satzungen in seinen Gedichten nicht gehorche

und nachkomme [le]."

Er wurde aber deshalb von seinen Zeitge­

nossen, zumal nachdem Opitz zur Herrschaft gelangt war, wenig beachtet, und seine Gedichte geriethen in Vergessenheit; dazu trugen auch manche schwäbische Provinzialismen und viele Anglicismen bei,

die in seine Wortformen übergingen. Julius Will). Zinkgrcf, geb. zu Heidelberg, ein Jugend­

freund Opitzcns, mit welchem er 1619 zu Heidelberg zusammen­ lebte; getrennt wurden beide durch die Kriegsstürme, während wel­ cher Zinkgraf in den Rheingegenden hin und hergetrieben wurde,

bis er 1635 in St. Goar an der Pest starb.

Obgleich Zinkgrcf

Opitzen bewunderte, so blieb er doch bei der volksmäßigen Art sei­

nes Freundes Weckherlin; sein Soldaten lob, eine treffliche Nach­ ahmung der Kriegsgesänge des Tyrtäus, ist durchaus volksthümlich gehalten und voll frischer Lebendigkeit [so].

Endlich ist hier noch zu nennen Friedrich v. Spee, geb. 1595 zu Langenfeld bei Kaiserswerth am Rhein, der als Jesuit zu Eöln lebte und 1635 in Trier starb [*']. In der Vorrede zu sei­ ner Gedichtsammlung „Trutznachtigall" giebt er seine Theorie von Jamben und Trochäen und spricht sich über die Quantität der Syl­

ben aus.

Er gelangte auf eigenem Wege zu ähnlichen metrischen

Regeln, wie Opitz, und spricht so von sich, als habe er die Bahn

zu einer recht lieblichen neuen Poctica gezeigt. auf die geistliche Liederdichtung s. unten.

Ueber seinen Einfluß

II. Die erste Schlesische Schule. 1. OpitzenS Wirksamkeit. Nachdem die neue Richtung der Poesie bei ihrem Uebergang aus der Volksdichtung von verschiedenen Seiten her durch die Ge­ lehrten war angeregt worden , so bemächtigte sich Opitz, durch ein ungewöhnlich formales Talent und durch gründliches Studium

der Griechen und Römer, und vorzüglich der Franzosen ausgezeich­ net, dieser neuen literarischen Bewegung und stellte, da die bisheri­

gen Formen der Poesie sich ausgelebt hatten, die Schriftwerke des Alterthums und der gebildeten Nachbarvölker als Muster hin, be­ lebte den Sinn für die Form, welche Noth that, und suchte eine

neue Würde und elegante Klarheit des Ausdrucks zu Stande zu bringen. Er wurde der Begründer der modernen Poesie, welche erst

24

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

eine langwierige Schulzeit durchmachen sollte, um den Gipfel ihrer

Vollendung nach manchem Ringen und Kämpfen zu erreiche».

Martin Opitz [34J wurde 1597 zu Bunzlau amBobrr ge­ boren, weshalb er von seinen Zeitgenossen der Bvberschwan ge­ nannt wurde, und später, als der Kaiser ihn in den Adelstand er­ hob, den Beinamen v. Boberfeld erhielt.

Auf den lateinischen

Schulen zu Bunzlau, Breslau und Beuchen legte er den Grund

zu seiner Gelehrsamkeit und wurde vertraut mit der Philosophie und

Beredsamkeit der Alten.

Schon auf der Schule beschäftigte tr sich

mit lateinischer Dichtkunst und gab 1616, wo er von Breslau auf

das Gymnasium zu Beuthen ging, eine Sammlung lateinischer Ge­

dichte heraus, die er Strenae nannte, d. h. des Omens wegen ge­

gebene Neujahrsgeschenke.

Noch bestimmter kündigte sich seine spä­

tere Richtung, ein neues Zeitalter der deutschen Poesie zu begründen, in einer Abhandlung an „Aristarchus seu de contemptu linguae

teutonicae,” die er 1618 als zwanzigjähriger Jüngling auf dem

Gymnasium zu Beuthen schrieb.

In demselben Jahr ging er auf

die Universität zu Frankfurt, um Nechtsgelehrsamkeit zu studiren, doch bald gab er dies Studium auf; er nannte sich selbst Kandidat

der Poesie und Philosophie und machte seine ersten Versuche in deutschen Versen. Im Jahr 1619 begab er sich nach Heidelberg, wo er vom Geheimen Rath Lingelsheim, dessen Söhne er unterrich­

tete, in die Kreise des Hofs eingeführt wurde, und unter dem gro­ ßen Gelehrten Janus Gruter seine Lieblingsstudien fortsetzte. Au­ ßerdem wurde er hier bekannt mit den Bestrebungen der neuen Gelehrtenpoesie, schloß freundschaftliche Verbindungen mit Zinkgref und dem Dänen Hamilton, ging darauf nach Straßburg, Tübingen,

knüpfte neue Bekanntschaften an, und vom Glück begünstigt, fand

er überall Gönner und Verehrer, und erwarb sich durch seine Ge­

dichte einen großen Ruhm, so daß man in ihm einen zweiten Vir­ gil prophezeite. Sein Leben war von jetzt an ein durchaus unstätes; er war immer, auch zu Hause, wie er selbst sagt, unterwegs.

Bei der Schmiegsamkeit seines Charakters war er überall wohl ge­

litten, und erwarb sich neue Bekanntschaften und neue Empfehlun­ gen.

Um den Kriegsunruhen zu entgehen, reiste er 1620 mit Ha­

milton in die Niederlande, und wußte durch Uebersetzung der Gedichte

des Daniel Heinsius sich die Gunst dieses berühmten Gelehrten zu erwerben.

Durch denselben erhielt sein poetisches Talent die ent­

schiedene Richtung auf die correcte Dichtungsweise der Holländer,

wie sie sich nach dem Muster französischer Dichter gebildet hatte,

25

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

und fein ganzes Streben ging dahin, ein würdiger Schüler dieser

schulgerechten, rhetorischen Kunstpoesie zu werden.

Vor Allem be­

wunderte er des Heinsius Lobgesang Jesu Christi, von dem er sagte, daß es für ihn die höchste Poesie gewesen sey, woran er die Zeit seines Lebens sein äußerstes Genüge gehabt habe [S3j.

Von den

Niederlanden begab er sich auf die Einladung seines Freundes Ha­

milton nach dessen Gütern in Holstein, wo er sieben Monat lang 1621 in stiller Zurückgezogenheit lebte.

gedicht in Widerwärtigkeit

Hier schrieb er sein Trost­

des Kriegs, worin sich

Standhaftigkeit einer männlichen Gesinnung ausspricht.

die

Er kehrte

darauf nach Schlesien zurück, und lebte eine kurze Zeit am Hofe des Herzogs v. Liegnitz.

Bald erhielt aber er einen Ruf von dem

Fürsten Bethlen Gabor an das neuerrichtete Gymnasium zu Weißen­ burg,

unb diesem Fürsten wußte er sich

dadurch verbindlich

zu

machen, -aß er mit großem Fleiß ein gelehrtes Werk über die Al­ terthümer Daciens

zu

bearbeiten

ansing.

Sehnsucht nach dem

Vaterland, welche sich in dem Lehrgedicht Zlatna (so benannt nach einem Flecken unweit Weißenburg) oder von der Ruhe des Ge­ müths ausspricht, führte ihn schon 1623 nachBunzlau zurück und

an den Hof des Herzogs von Liegnitz. Im Jahr 1624 erschien die erste von Zinkgref besorgte Ausgabe seiner Gedichte und das Büchlein von der deutschen Poeterei. Jetzt begann die Zeit

des Ruhns und der Ehren, und er machte eine wahre Triumph­ reise durchs Reich.

In Wittenberg schloß er mit Buchner, dem

größten Senner der Dichtkunst, einen Frenudschaftsbund, und kam an dm Aahaltschen Hof und wurde hier in den Palmenorden aus­

genommen, wodurch er dem ganzen Adelstände und der Fürstenschaft Deutschlaids empfohlen war. Noch größere Ehre widerfuhr ihm, als er in Geschäften des Herzogs v. Liegnitz 1625 nach Wien reiste, wo er sih durch ein Trauergedicht auf den Tod des Erzherzogs

Karl dem Kaiser Ferdinand II. so sehr empfahl, daß ihm, dem Pro­ testanten, der Kaiser mit eigener Hand den Lorbeerkranz aufsetzte. Bon jetzt an konnte er den Lockungen der Hofgunst nicht mehr wi­ derstehen; aus dem Gelehrten wurde ein nach Gunst und Auszeich­

nung jageider Weltmann, welcher die männlichen Gesinnungen frü­ herer Jahre mit gleißenden Schmeichelkünsten vertauschte. Es entstand en gewisses Mißverhältniß zwischen seinen moralischen Ge­

sinnungen die er ausspricht, und seinem Thun und Leben, und dies würd die Ursache einer Unbefriedigung, welche seiner späteren Dichtung etwas Elegisches giebt.

Opitz wußte in den stürmischen

26

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Zeiten, wo man des Schutzes eines hohen Gönners bedurfte, sich nicht seine Freiheit und Selbstständigkeit zu bewahren, und strebte nur zu sehr nach der Gunst großer Herren.

Er trat 1626 in den

Dienst des gelehrten Burggrafen Karl Hannibal zu Dohna, eines eifrigen Unterdrückers der protestantischen Glaubensgenossen und feierte in mehreren Preisgcsängen das Haus Oesterreich, deutsche Glaubensfreiheit zu vernichten bemüht war [34J.

welches Wäh­

rend er früher „den Lauf der großen Helden, die sich vor dieser

Zeit den Römern widersetzt und in dem stolzen Blut ihr scharfes Schwerd gewetzt" hatte besingen wollen, hielt er sich jetzt fern von dem geschichtlichen Leben seines Volkes, arbeitete an den Dacischen Alterthümern, übersetzte die Klagelieder Jeremiä und das Hohe Lied, ferner Barklay's Argenis, übertrug Riuccini's schäferliches Singspiel

Daphne,

spottete

nach Horazens Beispiel über seine

kurze kriegerische Laufbahn, die wenig rühmlich für ihn war, in sei­ nem Lobe des Kricgsgottes. Im Jahr 1628 ward er von dem Kaiser in den Adelsstand erhoben unter dem Namen von Bober­

feld.

Er dichtete seine Schäferei oder Nymphe Hercynia, worin

mit lyrischen Gedichten abwechselte. Im Jahr 1630 reiste er in Geschäften seines Burggrafen nach Pa­

eine elegante poetische Prosa

ris und zeigte hier die Gewandtheit eines Diplomaten, und ward durch Hugo Grotius, den .er schon in den Niederlanden kennen ge­ lernt hatte, bei den berühmtesten Gelehrten eingeführt.

Bald nach

seiner Rückkehr starb 1633 sein Burggraf, und Opitz ging im Ge­ folge des Herzogs von Brieg 1634 nach Thorn, wählte aber bald

seinen Aufenthalt in Danzig, wo ihn der Theolog Nigrinus dem Minister Dönhof empfahl, dem er die Uebersetzung der Anti­

gone dediciren mußte, so wie der Gattin desselben sein hohes Lied. Lobgesänge als Zuschriften an große Herren verschafften ihm hohe Gönner.

Er wußte sich auch dem Könige v. Polen Wladislav IV.

durch ein Lobgedicht zu nähern, und erwarb sich dessen Gunst in so hohem Grade, daß er zum Königlich Polnischen Secretair und

Historiographen ernannt wurde.

Von Danzig aus besuchte er Kö­

nigsberg, wo er von dem dortigen Dichtcrkreis, an dessen Spitze

Simon Dach stand, mit Musik und Gesang empfangen wurde. Ueberall ward er geehrt und gefeiert: man nannte ihn den Besie­ ger des Maro, er habe gemacht, daß die Franzosen der Deutschen

nicht mehr lachten, daß Petrarca verstumme, Ronsard [35j ihm den Lorbeer reiche.

In seinen Schriften sey Alles zu finden, was Rom

und Athen hinterlasse, die sich jetzt meistern lassen müßten.

Man

nannte ihn den Boberschwan, den deutschen Orpheus und Apoll, und die deutsche Muse die Opitzinne. Auf der Höhe seines Ruhms raffte ihn nach zweitägigem Krankenlager zu Danzig 1639 die Pest hin [36]. Opitz gehört nicht zu den höheren poetischen Naturen, die in ihren Dichtungen eine ganz neue Welt aufschließen, und durch Tiefe des Inhalts, der Weltanschauung und Gesinnung mit sich sortreißen, sondern er reiht sich den kunstfertigen, geübten Talenten an, die jedem Stoff eine faßliche, ansprechende Form zu geben wissen, und mehr rhetorisch als poetisch wirken. Sein Verdienst beschränkt sich besonders nur auf das Formale sowol in Bezug auf Wortbildungen und Wortfügungen der Sprache als auch in Bezug auf Prosodie, Metrik und Verskunst. Im Lyrischen zeigt Opitz seine reinste und schönste Seite, namentlich in seinen Jugendgedichten, welche in Hei­ delberg entstanden; hier bindet ihn noch nicht die Regel der hol­ ländischen und französischen Schule, sondern das eigene Herz spricht sein Sehnen und Ahnen, sein Hasten und sein Lieben mit frischer Jugendlichkeit der Empfindung aus. Die meisten übrigen weltlich­ lyrischen Gedichte in den vier Büchern poetischer Wälder gehören einer äußerlichen Gelegenheitspoesie an. In seinen geistlichen lyri­ schen Gedichten ist es nicht ein tiefes religiöses Gefühl, was ihn zu diesen Dichtungen hinführte [37J. In seiner Psalmenübersetzung strebte er zunächst nach Gelehrsamkeit und Treue der Uebertragung; die Sprache ist correct und abgemessen, und entfernt sich von dem einfältigen Ton der Bibel und von allem musicalischen Sinn. Die­ sem Beispiele folgten zahlreiche Pfalmenübersetzungen in Alexandri­ nern, welche immer weiter abgingen von der bisherigen Tendenz der geistlichen Poesie. Ferner zog Opitzen die Bearbeitung des Hohen Liedes an, weil er hier modern Schäferliches mit Geistlichem ver­ mischen konnte; denn das Hohe Lied erschien ihm als eine Ekloge, die ihn an Virgil erinnerte; Hirten seyen da die Personen, die Liebe wäre der Gegenstand und die Vergleichungen seyen vom Felde her­ genommen. Er ward durch diese Behandlungsweise der Begründer der geistlichen Ekloge. Von nun an setzten sich die unprotestan­ tischen und zärtlichen Bilder und Vorstellungen von dem Bräutigam Christi und der verliebten Seele im Kirchenliede fest, und auch an­ dere allegorische Vorstellungen des A. und N. Testaments drangen in die geistliche Poesie ein. Immer weiter noch entfernte sich Opitz von dem gesungenen geistlichen Liede in seinem Jeremias (1626), der in Alexandrinern verfaßt ist, und in der Umdichtung des Jonas

28

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

(1628), die zur Grundlage die lateinische Paraphrase des Hugo Grotius

Indem mythologische

hat.

Schmuck verwandt wurden,

ergab

Gestalten

sich

und Bilder zum

hieraus eine Verbindung

freierer poetischer Vorstellungen mit der geistlichen Poesie.

In dem Lobgesang auf die Geburt Christi (1622) ahmte Opitz des

Heinsius Lobgesang auf Christum nach, den er schon 1619 übersetzt

hatte.

Er begründete auf

diese

Weise

die

geistliche Kunst­

poesie, welche den Weg zu Klopstock's Messias bereitete, und es ward ihm wegen der Vermischung des Geistlichen und Weltlichen,

des Christlichen und Heidnischen in seinen geistlichen Poesieen Welt­ sinn zum Vorwurf gemacht.

Es gingen von jetzt an außer dem

Bilderprunk die Elemente der weltlichen profanen Dichtung in die geistliche Poesie ein, und es entstand eine selbstständigere geistliche

Dichtung,

welche in einer

freieren Bewegung der Phantasie zu

Hymnen über religiöse Gegenstände fortschritt und sich dem An-

dachts- und Kirchenliede gegenüberstellte. —

Für das Drama

wirkte Opitz nur anregend durch Uebersetzungen [36J, und gab in

den Trojanerinnen des Seneca (1625) und der Antigone des So­

phokles (1636), so wie in der Oper Daphne (1627) und dem geistlichen Singspiel Judith (1635) die ersten Muster sowol für das gelehrte Drama als auch für die Oper.

In dem Lehrge­

dicht, welches er seiner Disinition von der Dichtkunst gemäß am

meisten bevorzugte, tritt die Eigenthümlichkeit der Reflexionspoesie am klarsten hervor, nemlich eine rhetorisch-gehobene Sprache, einge­ flochtene Episoden, Bilder, Gleichnisse, Ausmalen einzelner Gegen­

stände, wodurch zwar an einzelnen Stellen der Ernst und die Trok» kenheit des Lehrtons beseitigt wird, ohne daß aber das Ganze auf

poetischer Anschauung beruht. dichtungen

das

Oben an steht unter Opitzens Lehr­

Trostgedicht

in

Widerwärtigkeiten

des

Kriegs (1621), welches reich ist an lebendigen Schilderungen,

wozu er die Farben aus der nahen Wirklichkeit entlehnte.

Das

Gedicht der Vesuv!us (1633) enthält eine physicalisch-philoso­ phische Beschreibung von den Ursachen vulkanischer Ausbrüche; die einzelnen Episoden und Schilderungen beleben das Ganze und zu­ letzt wird der Jammer des Kriegs als die Erfüllung angesehen, welche der Ausbruch des Vesuvs habe ankündigen wollen.

dies ganz räth.

das erste beschreibende Gedicht der Deutschen,

in

die

nüchternste

Die beiden

wissenschaftliche

Es ist

welches aber

Beschreibung

hineinge-

andern Lehrgedichte Zlatna und Vielguet

(1623) handeln vom höchsten Gut; das erstere, aus 533 Versen

29

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

bestehend, giebt eine Schilderung der Gegend von Zlatna- tadelt die Unzufriedenen, welche immer nach fremdem Glücke jagen, stellt das Streben nach Hofgunst als verächtlich dar, und es geben sich

kund die Gesinnungen eines kühnen Muths und gefaßten Gemüths,

der Kraft und Standhaftigkeit, der Wahrheitsliebe und der Liebe

für Freiheit, Vaterland und geistiges Seelenleben; in der letzten Hälfte wird in dem Lobe des Landlebens das Horazische beatus ille behandelt, und zuletzt spricht sich die Sehnsucht nach dem Va­

terlande aus.

Das Gedicht Vielguet, benannt nach einem Lust-

schloffe des Herzogs Heinrich Wenzel v. Münsterberg, knüpft an

den Namen des Gedichts an und will zeigen, daß das höchste Gut nicht in Gold, Würden, Adel, Schönheit oder Sinnenlust, sondern nur in der Tugend bestehe.

Die verschiedenen Lobgesänge

des

Feldlebens (1623), des Kriegsgotts Martis (1628), des Neides (zuerst gedruckt 1641 in der Danziger Ausgabe), sind in der cor-

recten, rhetorischen Manier der Hollander.

Vor Allem zeigt das

Lobgedicht „an die König!. Majestät zu Polen und Schweden" (1636) eine forcirte Rhetorik, die mit allen Fehlern einer unwah­ ren Gelegenheitspoesie verbunden ist.

Endlich gab Opitz für die

Schäferpoesie in seiner „Schäfferey, von der Nimfen Her­

ein ie" (1630) diesem Gedicht,

das Vorbild [*•]. Das Schäferliche dient in welches der Diana des spanischen Dichters

Montemayor nachgebildet ist [40], als poetische Einkleidung zur

Verherrlichung des Hauses Schafgotsch.

Der Dichter führt seine

Freunde Nüßler, Venator, Buchner und sich selbst als Hirten ein, die sich von der Liebe und anderen Dingen unterhalten, bis ihnen

die Nymphe Hercinie erscheint, welche ihnen die Schönheiten des Thales und die Tugenden des Hauses Schafgotsch beschreibt.

Diese

Art der Einkleidung empfahl sich um so mehr, als hier der Hang

zu lehrhaften Betrachtungen und zu Schildereien reichliche Befrie­ digung fand. Opitz hat die Poesie der Form begründet und die Kunstdich­ tung in Deutschland geschaffen, welche auf bewußte Weise bestimm­

ten Gesetzen und Regeln folgt.

Es waren die Muster und Vor­

bilder aufgestellt, denen man nachkommen sollte, und es entstand

eine

Verstandespoesie,

welche

das Antithetische,

Epigram­

matische, Witzige als Hebel für das poetische Interesse benutzte, wo

Natur und Empfindung fehlen, dagegen Nachahmung, Ver­ ständlichkeit und Correctheit vorherrschend sind. Mit Eifer wur­ den in Schlesien und Sachsen, und dann weiter im nördlichen

30

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Deutschland die neuen Formen der Kunstpoesie ergriffen, und es

trat durch Opitz der ganze Norden Deutschland's in den Vorder­

grund der Dichtung, wohin auch schon Luther die geistliche Poesie, die Poesie der Empfindung gezogen hatte. psindungspoesie die

unmittelbaren

die

Opitz stellte der Em-

Verstandespoesie gegenüber,

Inhalt

dichterische Auffassung ansah,

so

und da

er den

Unwesentliche

für

entfernte er auch aus

der

des Gemüths als

das

Lyrik das eigentliche Musicalische, den Gesang, indem er sich mit dem Rhythmus, mit der Scansion nach dem Accent in der Sprache und im Verse begnügte.

In dieser Trennung der Musik von der

lyrischen Poesie folgten ihm aber seine Zeitgenossen nicht, sondern

die geistlichen und weltlichen Dichter setzten ihre Lieder entweder selbst in Musik, oder standen mit einem Musiker in Verbindung [**].

Der Mangel an musikalischem Sinn nimmt Opitzens kleineren Ge­

dichten alle Farbe und Haltung der Lyrik, so wie andererseits auch

seine didaktischen Dichtungen oft platt und prosaisch werden, weil sie das Gemüth nicht beschäftigen. Dennoch wurde Opitz für seine Zeit das

bewunderte Muster

der Eleganz

und Correctheit.

In

Schlesien schloß sich unter den vielen gelehrten Dichtern Andreas Tscherning (1611 — 1659) am engsten an Opitz; er ging später (1644) als Professor der Dichtkunst an die Universität Rostock [4 2J.

Ferner zeichnete sich in Schlesien der Epigrammatiker Friedrich v. Logau (1604—1655) aus; doch der größte unter den Schle­ sischen Dichtern war Andreas Gryphius (1616 —1664).

Eine

Reihe junger Schlesischer Poeten aus Opitzens Schule verbreiteten

sich als Professoren oder Schüler der Poesie über die deutschen Uni­

versitäten.

Da in Schlesien keine Universität war, so strömten die

jungen Studenten nach Wittenberg zu AugustBuchner (1591 — 1661), welcher die Neuerungen seines dichtenden Freundes Opitz in eine Art von Theorie brachte und die deutsche Poesie im Collegium betrieb, wie man auf Schulen die Aufsätze machen läßt. Er schrieb einen Wegweiser zur deutschen Dichtkunst (herausg. Jena 1663),

als systematische Ausführung des Opitzschen Bruchstücks über Poe­ tik.

Ferner wurde von Opitz

in Sachsen Paul Flemming

(1609—1640) auf deutsches Dichten hingelenkt; dieser wurde aber mehr ein Bewunderer als eigentlicher Nachahmer von Opitz.

Sach­

sen ist eng mit Schlesien in jener Zeit verbunden, und es war dort

die Masse der Dichtenden vielleicht noch größer als selbst in Schle­

sien.

Die neue Kunst fand sowol unter Gelehrten und auf Schu­

len großen Anklang, als auch wurde die kirchliche Lyrik von den

31

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Geistlichen lebhaft betrieben.

Außerdem erhielt sich auch noch die

alte volksmäßige Manier unter den Laien, namentlich im Bürger­

stande [4Sa].

Nach Preußen verpflanzte Opitz selbst seine Dich­

tung, und es bildeten sich in Thorn, Danzig, Königsberg und an­ deren Städten Dichterkreise, unter welchen der Königsberger Kreis sich

am

meisten

auszeichnete;

in

diesem war Simon

Dach

(1605 — 1659) der belebende Mittelpunkt, welcher als Schüler zu

Wittenberg und Magdeburg mit der neuen Kunstpoesie bekannt ge­ worden war und sie nach Preußen gebracht hatte. Er stiftete mit Robert Roberthin und Heinrich Albert ein durch Musik und Dichskunst vermitteltes Freundschaftsbündniß, in welchem eine

elegische, sentimentale Stimmung vorherrschend war, und es wurde

hier ebenso Opitz verehrt, wie später von dem Göttinger Dichter­ kreise Klopstock.

In Mecklenburg

war während

des ganzen

17. Jahrh, das Interesse an deutscher Dichtung lebendig; in Rostock war seit Opitzens Auftreten Peter Lauremberg als Professor der

Dichtkunst angestellt. An ihn hatte Opitz seinen Schüler Andreas

Tscherning empfohlen, welcher Lauremberg's Nachfolger in der Professur wurde. Unter ihm bildeten sich Rachel, Rist und An­ dere, und hier im Lande der derberen Natur und Sitte gestaltete sich die poetische Satire im Volkston durch Johann Wilhelm

Lauremberg (1591 — 1659), den jüngeren Bruder des Obenge­

nannten. Joachim Rachel (1617—69), welcher zuletzt Schul­ direktor in Schleswig war, führt nach Schleswig-Holste in über. Er wandte zur Satire das Opitzische Hochdeutsch an und bildet in

der correcten, regelrechten Manier einen Gegensatz zu der volksmä­ ßigen Satire Lauremberg's (f. unten).

Johann Rist endlich, aus

Pinneberg in Schleswig-Holstein, geboren 1607, in Rostock gebil­ det, und als Pfarrer und Kirchenrath zu Wedel 1667 gestorben, ist der ergebenste und fruchtbarste aller Schüler Opitzens; er hieß

der Elbschwan, der zweite Opitz, und wurde mit poetischen Ehren und Lobgedichten überschüttet. Er verstand die Kunst der Gunstbe­ werbung noch besser als Opitz; mit allen bedeutenden Städten und Männern setzte er sich in Beziehung, und wurde gekrönter Dich­

ter und kaiserlicher Pfalzgraf.

Indem er der Correctheit Opitzens

nacheifert, sucht er zugleich das Kalte und Trockne der Verstan­ despoesie durch ein angenommenes, moralisches Pathos zu beleben; doch seine breiten Reimereien werden um so ungenießbarer, je erha­

bener er schreiben will, und er begründet recht eigentlich die Mit­ telmäßigkeit und Wässrigkeit der Poesie. Daher Zesen seinen Namen

32

Erste Periode.

Bom Anfang des 17.

Joannes Rist anagrammasirte:

ger

Mittelpunkt für

die

es rinnt ja so.

Dichtung

ward

endlich

Ein wichti­

noch

Ham­

burg, wohin bei Versetzung der Poesie in den Norden die Bedeu­ tung

von Straßburg und Nürnberg

überging.

Bei dem regen

Leben, welches hier durch den Welthandel und den reichsstädtischen

Republicanismus hervorgerufen wurde, sanden Poesie und Musik

Belohnung und Aufmunterung, Gelehrsamkeit erhielt Anerkennung, und während der Stürme des 30jährigen Kriegs wurde vielen Flüch­

tigen und manchem bedeutenden Talente eine sichere Stelle bereitet. Es bildete sich bei der Wohlhabenheit der Einwohner, die den Luxus und materielle Genüsse begünstigte, im Gegensatz der steifen Gelchrtenpoesie eine leichtere sinnliche Gattung der Lyrik, das ero­

tische Lied, worin sich das weltmännische Leben der großen Han­ delsstadt abspiegelte.

Die drei Männer, welche diese Gattung der

Lyrik vertreten, sind Georg Grefflinger (t 1677),

Jakob

Schwieger und Philipp von Zesen (1619 — 1689); es sind weltlich gesinnte Männer, welche das Leben theils auf Reisen, theils im Kriege haben kennen gelernt und die strenge Ehrbarkeit einer düstern Moral, wie sie in der damaligen Zeit vorherrschend

war, abgelegt hatten. Durch sie erhielt daher die Dichtkunst eine neue Wendung. In Dresden und Leipzig tritt gleichfalls das moderne weltliche Moment für die Dichtung hervor und zeigt «ine

Verwandtschaft mit der Hamburger weltlichen Lyrik, doch mit vor­ wiegender Neigung zu den Pegnitzschäfern in Nürnberg. Da­ vid Schirmer,

Christoph Homburg,

Joh. Franke

sind

zwar Opitzianer, doch führen sie mehr zu den Pegnitzern hin. 2.

Einfluß der neuen Kunstpoesie auf die einzelnen Dichtungsarten,

a. Epische Poesie.

Das Princip für die Veränderung, welche das Epos bei sei­

nem Uebergang in den Roman, in die Novelle und das Volksbuch erfuhr, lag in dem allmähligen Herabschreiten von dem Objectiven zum Subjectiven, von der unmittelbaren Erzählung des Stoffes zu der durch die Empfindung und Lebensanschauung des Subjectes ver­ mittelten.

Für die moderne Poesie tritt die subjective Auffassung

in den Vordergrund und auf diesem Boden ist das Epos erst wie­

der zu gewinnen, wenn bei nationalem Selbstgefühl der Einzelne in lebendigem Zusammenhang steht mit den großen Begebenheiten

und Ereignissen seines Volks, wodurch das Bewußtsein über die gemeine Wirklichkeit erhoben und empfänglich gemacht wird für

bis zum ersten Mertel des 18. Jahrhunderts.

33

höhere ideelle Zwecke, welche von dem gesammten Volke verfolgt werden. Da nun im 17. Jahrh, das Selbstgefühl aus der Nation geschwunden und die subjective Reflexion das Vorherrschende war, so stellte sich das Epos, wie Opitz erklärte, dermalen als eine Un­ möglichkeit dar. Nachdem sich gegen die romantische Ueberschwänglichkeit und das phantastische Gewebe von Abenteuern der alten Ritterromane sich der komische Roman negativ verhalten hatte; so kam man jetzt zunächst nur auf formelle Nachahmung antiker Epen [4$b], wie Weckherlin das Urtheil des Paris bearbei­ tete, oder man übersetzte moderne Epopöen des Auslandes, um die alten romantischen Sagen wieder zu beleben, wie Dietrich von dem Werder (1584—1657) Laffo's befreites Jerusalem (Franks, a. M. 1626 und 1656) und die ersten dreißig Gesänge von Ariost's rasendem Roland (Leipzig 1632— 36) übersetzte. Endlich gerieth man auch auf das Allegorisiren der wirklichen Geschichte und verfiel auf das Schäferwesen, welches bald alle Gattungen der Poesie be­ herrschte. Allegorisirte Geschichte galt als Heldengedicht, wo das in Versen zusammengereimt ist, was sonst in Prosa dargestellt wurde. Seb. Wieland besang den „Held von Mitternacht" d.i. Gustav Adolf (1633); der berühmte Philologe Johann Freins­ heim (f 1660 als Professor zu Heidelberg) feierte in dem „Teut­ schen Tugendspiegel oder Gesang von den Thaten und Stammdes alten und neuenHercules" (1639) den Herzog Bernhard von Weimar. Ferner wird von Wolf Helmhard v. Hohenberg in dem Habsburgischen Ottobert (1664) Ru­ dolf von Habsburg verherrlicht. Georg Grefflinger endlich brachte unter dem Namen,des Seladon von der Donau sogar den Verlauf des dreißigjährigen Krieges in Reime (1657). b. Lyrische Poesie.

Der Zeitrichtung gemäß wurde unter allen Gattungen der Poesie in dieser Periode die lyrische am meisten gepflegt; sie ist theils weltliche, theils geistliche. Diese beiden Richtungen der Lyrik wurden von den Dichtern jener Zeit meist streng auseinander gehalten, obgleich die meisten unter ihnen sich nach beiden Seiten hin versuchten. In den weltlichen lyrischen Dichtungen tritt der didactische und reflectirende Charakter hervor, wie ihn Opitz ausgeprägt hatte, ferner Nachahmung des Auslandes und das Ueberhandnehmen der Gelegenheitsdichterei. Nur einzelne Dichter bilden eine AusBiese deutsche Literaturgeschichte. II. 3

34

Erste Periode.

nähme, indem sie nicht

sprechen,

Bom Anfang de- 17.

erkünstelte,

erlernte Empfindungen aus-

sondern persönliche Erlebnisse und

mungen. Paul

eigene Gemüthsstim­

glemming [44] war 1609 zu Hartenstein an der

Mulde geboren, wo sein Vater Prediger war; seine Schulbildung erhielt er auf der Fürstenschule zu Meißen, wo seine Neigung zur lateinischen Poesie erwachte.

Im Jahr 1628 ging er nach Leipzig,

um Medicin zu studiren; hier bildete sich um ihn ein Kreis junger Talente, die sich in lateinischer und deutscher Poesie übten.

Das

erste, was Flemming öffentlich bekannt machte, waren lateinische Lie­

besgedichte

Rubella seu suaviorum über (Leipz. 1631).

Opitz erst wurde er auf deutsches Dichten hingeführt.

Durch

Im Jahr

1633 verließ er Sachsen; wahrscheinlich störten ihn die Unruhen des

Kriegs in seiner akademischen Laufbahn.

Der reiselustige Jüngling schloß sich mit seinem Freunde Adam Olearius einer Gesandtschaft

an, welche Herzog Friedrich von Holstein-Gottorp nach Rußland

und Persien sandte, und Flemming war fast sechs Jahre fern von Zu seiner großen Reise bereitete er sich durch das schöne Lied: „In allen meinen Thaten." In Polen und Esth­

seinem Vaterlande.

land fand er den Ruhm der neuen deutschen Poesie schon verbrei­

tet, und wie sehr er selbst Opitzen bewunderte, geht aus mehreren die in Rußland entstanden [4$], Auf seiner Rückreise erfuhr er Opitzens Tod und betrauerte seinen Verlust in mehreren Sonetten. Seine Rückkehr ins Vaterland (1639) über­ Gedichten hervor,

lebte er nicht lange; er begab sich nach Hamburg, wo er sich als

praktischer Arzt niederlassen wollte. Er starb 1640 im ein und dreißigsten Jahre seines Lebens; die großen Anstrengungen seiner Reise hatten wahrscheinlich den Keim eines frühen Todes in ihn gelegt. Flemming war

ein wahrhaftes Dichtergemüth

und

erlernte

nicht erst, wie Opitz, „den rechten Griff" von den Alten, sondern

sang aus voller Seele. Seine Poesie war sein Leben, in welcher er sein wahres Selbst giebt. In seinen Liedern, Oden betitelt, in seinen Sonetten und individuellen Gelegenheitsgedichten besingt er

Leben, Liebe, Freundschaft, Heimath; seine persönlichen Beziehungen sind in seine Gedichte verwebt, und es ist hier nichts Erkünsteltes,

nichts Erlerntes.

Die Abenteuer seiner Reise, die Freuden seiner

Jugend, Liebschaften, Verluste und Klagen klingen in seinen Liedern wieder. Nicht Schwulst, keine erborgten Phrasen, keine schwerfällige Gelehrsamkeit überdeckt seine Empfindung.

Nur wo er Opitzens

35

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Manier nachahmt, verfällt er in den Pedantismus und die Ge­

schmacklosigkeit seiner Zeit; es zeigt sich dann ein gewisses Prunken mit klassischer Gelehrsamkeit, ein übertriebenes Aufträgen von Glanz und Farben, ein übermäßiges Versinnlichen in vergleichenden Dar­

stellungen. Die größte Anmuth entfaltet er in seinen erotischen Ge­ dichten; alles ist hier individualisirt und tritt in plastischer Objekti­ vität hervor. Dies vorwiegend weltliche Element der Lyrik fand in Hamburg einen günstigen Boden, das hier fortwährend von

einer Reihe von Dichtern gepflegt wurde.

Auch die Freundes­

liebe gab besonders manch tief empfundenes Lied unserem Dichter ein [46j.

Das Freundschaftsbedürfniß

ist ein

Charakterzug

der

Zeit, und durch denselben zieht sich ein gewisser sentimentaler, ele­

gischer Ton, welcher um so lebhafter in Flemming anklingt, als er

sich in seiner Dichtung nicht Genüge that und zugleich fühlte, daß ihm seine Jugend in ihrer Blüthe hinsterbe.

In dem Sonett, das

er auf seinem Todbette verfaßte, spricht sich eine Lebensmüdigkeit aus in einem Alter, das noch so viel Anspruch hatte auf Lebensge­

nuß und Thätigkeit. Der Ausdruck in Flemming's Gedichten ist lebendig, reich und wahrhaft poetisch, doch die äußere grammatische Form ist öfter unbeholfen und incorrect; es kommen Wortformen und

Wortfügungen vor, die ganz undeutsch sind. Dies störte zum Theil seinen Einfluß auf seine Zeit, die ihn nicht besonders anerkannte,

wozu noch kam, daß er sich nicht, wie Andere, auf Gönner und

namentlich nicht auf den Palmenorden stützte, ferner daß er in der Zeit seiner schönsten Dichterblüthe vom Vaterland entfernt war, und endlich daß er zu früh starb, um mit Erfolg gegen Opitz eine Re­ action durchzuführen.

Der selbstständigste und vielseitigste aller Dichter in dieser pro­ saischen Zeit, der den Ruhm Schlesiens, welcher von Opitz ausging,

weit erhöht hat, ist Andreas Gryphius [*’]; durch Fülle und Reichthum des Geistes und durch wahrhaft poetisches Talent ragte er über alle Dichter des 17. Jahrhunderts hervor und beherrschte neben Opitz den Geschmack seiner Zeit.

Er hatte eine Ahnung von poetischem Geist und weist vorwärts deutend über die Opitzianer hinweg auf eine neue Richtung der Poesie. Gryphius war 1616

zu Großglogau geboren, wo sein Vater Archidiaconus war.

Sein

lunges Leben begann mit den herbsten Erfahrungen: er verlor im fünften Jahr seinen Vater, wahrscheinlich in Folge einer Vergiftung; im zwölften Jahre seine Mutter, und war nach ihrem Tode ohne

Mittel, Trost, Rath und Beistand.

Er verdankte Unterricht und 3*

36

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Alles sich selbst; von 1631 an besuchte er die Schule zu Görlitz,

von wo ihn der Krieg vertrieb, dann die Schule zu Glogau, wo

er durch eine große Feuersbrunst in eine traurige Lage kam. Hier­ auf wurde er von seinem Stiefvater auf die Schule zu Fraustad

gebracht, wo er den Grund zu einer ausgebreiteten gelehrten Bil­ dung legte; doch wurde er auch von hier durch eine Pest vertrie­ ben.

Es nahm später sich der kaiserliche Pfalzgraf in Schlesien,

Georg v. Schönborn seiner an, der ihn zum Aufseher seiner Kin­

der machte, und ihm die Dichterkrone und den Adelsbrief verlieh. Schon 163'7 starb aber sein Gönner, und Gryphius sah sich durch Verfolgungen, die wahrscheinlich von schlesischen Katholiken ausgin­

gen, genöthigt, das geliebte Vaterland zu verlassen.

Er ging 1639

nach Leiden und betrat dort seine akademische Laufbahn.

Schon im folgenden Jahr hielt er selbst Vorlesungen über die verschieden­

sten Fächer des menschlichen Wissens, die mit großem Beifall gehört wurden.

In demselben Jahr starb ihm Bruder und Schwester,

und dieser Verlust, der ihm eine langwierige schmerzliche Krankheit zuzog, ließ in ihm einen Stachel zurück, der ihn schwermüthig er­ hielt, obgleich sich sein Leben später freundlicher gestaltete; nicht Reisen, Ruhm und Kenntnisse konnten ihn dem schweren Tiefsinn

entziehen.

Als Reisegesellschafter des Kaufmanns Wilh. Schlegel

durchreiste er 1644—46 Frankreich und Italien, verweilte 1647 in den Rheingegenden, kehrte nach Fraustadt zurück, und wurde 1650 von den Landständen des Fürstenthums Glogau zum Landsyndicus erwählt, und dieses Amt bekleidete er, seine Freistunden

den Musen widmend, mit Ehren bis zu seinem Tode (1664).

Gryphius hat sich fast in allen Gattungen der Poesie versucht; sein hoher Sinn für das Große und Schöne setzte ihn über das äußerliche Spiel der Poesie mit Bildern» Reimen und Phrasen leicht hinweg, und die Selbstständigkeit seines Charakters bewahrte ihm seine Freiheit und Unabhängigkeit in einer Zeit, wo es Poeten­

sitte war, der Gunst großer Herren nachzujagen.

Seine weltli­

chen lyrischen Dichtungen sind der Ausdruck seines bewegten Le­ bens und knüpfen sich besonders an die traurigen Erlebnisse seiner Jugend, und an die späteren frohen Ereignisse im Schooße seiner

Familie.

Es sind Sonetten, welche zu den besten seiner Zeit gehö­

ren; in ihnen zeigt sich auch sein aufgeschlossener Sinn für alles Große und Schöne, das er auf seinen Reisen gesehen.

In seinen

Oden spricht er sich aus über das, was ihn das Leben gelehrt hatte,

nemlich die Eitelkeit menschlicher Dinge. An Schwung, Feuer, In-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

37

nigkeit und Tiefe des Gefühls übertrifft er alle Dichter des Jahr­

hunderts; er hat unverfälschte Empfindungen, kühne Gedanken, leben­ dige Anschauungen, doch wurzelt dies alles meistens auf einer trüb­

sinnigen Reflexion, der er sich so gerne hingiebt, und er geräth in ein überspanntes Pathos und in eine finstere Schwermuth, die ein­

tönig und ermüdend wird. Andreas Tscherning [48], 1611 zu Bunzlau geboren, hatte mit manchen Beschwerden und Bekümmernissen des Lebens in Folge der Kriegsdrangsale zu kämpfen, bis er endlich 1644 nach Lauremberg's Tod in Rostock ordentlicher Professor der Dichtkunst wurde.

Er ist der Repräsentant der eigentlichen schlesischen Nach­

ahmer Opitzens und der Dichterprofessoren jener Zeit.

Der größte

Theil seiner Poesieen sind Gelegenheitsgedichte, und diese mußte er oft im Auftrag und zu einer bestimmten Zeit fertig machen, worüber

er selber klagt.

Außerdem wirkte nachtheilig auf sein Dichten eine

hypochondrische Stimmung, aus der er sich nicht zur Freiheit auf­

zuraffen wußte. Simon Dach [49J, geb. zu Memel 1605, ward 1632 Pro­ fessor der Poesie in Königsberg, wo er 1659 starb.

Er pries sein

Königsberg als der Musen Wohnhaus, da sie in Deutschland vom Kriege verjagt waren, und sich selbst rühmt er als den, welcher die

alte Kunst, die „ohne Geschick und Zier" war, in Preußen zuerst abgestellt habe. Er stiftete mit Robert Roberthin und Hein­ rich Albert einen Dichterverein, dem sich noch Andere anschlossen, die in regelmäßigen Zusammenkünften lasen, dichteten und ernste

Gegenstände besprachen.

Der Musiker Heinrich Albert componirte

die eigenen und die Lieder seiner Freunde.

Ein gewisser Hang

nach idyllischer Zurückgezogenheit gab diesem Dichterkreise eine Vor­ liebe für das Schäferliche; die Freunde führten Schäfernamen oder

stellten die eigenen anagrammatisch um. Hiermit verband sich eine weiche, elegische Stimmung, die sich zur Melancholie und Schwer­

muth steigerte, so daß die Dichter sich unter einander noch bei Leb­

zeiten Grabeslieder machten. Es haben daher die Lieder dieses einen düsteren Anstrich. Das Leben ist ihnen ein

Dichterkreises

Haus der Plage, ein Schatten, Rauch und Dunst, und es preist

Dach seine gestorbene Schwester glücklich, ohne menschlich zu klagen.

Das Motiv zum Genuß der Freuden des Lebens liegt für ihn in der Unvollkommenheit und Vergänglichkeit desselben; doch kommt es nur zu einer Heiterkeit voll Thränen; der Dichter muß erst die Schwermuth wegscheuchen, und kann keine durchbrechende Fröhlich-

38

Erste Periode.

Bom Anfang des 17.

In solcher Stimmung mußte ihm das

keit an deren Stelle setzen.

weltliche Lied weniger gelingen, als das geistliche; es konnte bei diesem trüben Lebensernste die Empfindung sich nicht frei und un­

gestört entäußern.

Hierzu kam noch, daß man bei dem moralischen

Standpunkte, den man für die Poesie geltend machte, das Lied,

welches der Liebe oder dem Wein gewidmet war, verdächtigte, als wäre es von unreiner Gesinnung eingegeben. Die Naturlieder von Dach nähern sich in Innigkeit und Wahrheit der Empfindung den Flemmingschen, und auch in andern Liedern kommt er durch ein­

fache Diction, sanfte Empfindung und musikalischen Wohllaut dem

Eon des wahren Volksliedes nahe, was namentlich sein im preu­ ßischen Niederdeutsch gedichtetes „Ancke von Tharaw" (Aennchen Es giebt auch von Dach Lob- und Preisge­ dichte auf höchste und allerhöchste Personen, (wie Kurb randenburgische Rose, Adler, Löw' und Zepter); er nennt sie heroische von Tharau) bezeugt.

und sie sind nicht frei von einer steifen, geschmacklosen Manier. Ei­

nem Bewillkommnungsgedichte auf den

Churfürsten Georg Wil­

helm, bei dessen Einzug in Königsberg, verdankte er seine Professur.

Auch stand er bei dem großen Churfürsten Friedrich Wilhelm in

hohen Gnaden, von welchem er zum Lohn für seine dichterische Lei­ stungen ein Landgut bekam.

Die weltliche Lyrik

und besonders das Liebeslied

ward in

Hamburg gepflegt von drei Dichtern, von Georg Grefflinger, Jacob Schwieger und Philipp v. Zesen. Grefflinger aus Regensburg ward Notar in Hamburg, wo er 1677 starb. nau.

Er führte den Namen Seladon von der Do­

Auf verschiedenen Gebieten hat er schriftstellerisch sich versucht

sowol in Dichtung als in Uebersetzungen. Er hatte eine besondere Vorliebe für die Holländer und unter diesen für Jacob Cats, dessen Trauring er übersetzte.

In seinen ,/weltlichen Liedern" (1651), und

in einer anderen Sammlung: „poetische Rosen und Dörner,

Hülsen und Körner" zeigt sich die erotische Tendenz und die

leichtere Denkweise,

welche einen Gegensatz bildet zu der herge­

brachten Ehrbarkeit; es spricht aus ihnen Weltlust und Uebermuth.

Sie sind oft derb, und, fern von allem schäferlichen Wesen, bewah­ ren sie Anklänge an das Volkslied.

Ihre burleske Manier beweist,

wie die sinnliche Wahrheit und das sinnliche Pathos sich noch nicht Mit der Idee der Schönheit zu verbinden vermag.

Schwieger [so] aus Altona, hielt sich lange in Hamburg und in der Umgegend auf, bis er um 1665 an den Hof von Ru-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts. dolstadt kam.

39

In Zesen's Orden heißt er der Flüchtige, in Rist's

Schwanenorden Felidor der Dorferer. Er dichtete meist ero­ tische Lieder, und da er sie zum Theil als Militair im Kriege schrieb, so traf er mehr den Ton des Volksliedes.

Die hauptsäch­

lichsten Sammlungen sind „die Liebesgrillen" (1654) und „an die geharnischte Venus (1660). Es herrscht in diesen Liedern soviel Natürlichkeit und Anspruchlosigkeit, sie haben zugleich soviel

Musikalisches, daß sie zu den besten Liebesliedern der damaligen Zeit

gehören.

Später gerieth Schwieger

mehr in

die Zierereien des

Schäfergeschmacks.

Phil. v. Zesen war 1619 in einem Dorfe bei Bitterfeld in Chur­

sachsen gebürtig, wo sein Vater Prediger war. Er studirte in Witten­ berg und Leipzig vorzüglich Philologie, Poesie und deutsche Sprache, machte darauf Reisen nach Frankreich und Holland und erfreute sich der Empfehlungen des Grotius und Vossius. Vom König v. Däne­ mark wurde er beschenkt, vom Kaiser erhielt er den Adel und den Titel eines kaiserlichen Pfalzgrafen und gekrönten Dichters. Nach

einem unruhigen Leben ließ er sich in Hamburg nieder, wo er 1689 im ein und siebzigsten Lebensjahre starb.

Zesen gehört zu

den merkwürdigsten Erscheinungen in der Literatur des 17. Jahr­

hunderts. Er kann als Vertreter der Neigungen des ganzen Jahr­ hunderts gelten, indem er alle literarischen Tendenzen der Zeit auf­ nahm und übertrieb [Sl].

Man verlangte von dem Dichter, daß er in allen Künsten und Wissenschaften bewandert sey; Zesen trieb alles Mögliche, selbst die geheimen Wissenschaften; er war ein Po­

lyhistor.

Man setzte ferner die Poesie besonders in die Form; Ze­

sen zeigte, wie man hier das Künstlichste und Schwierigste leisten könnte. Madrigale, von Zesen Schattenliedlein genannt, Rondeaux und andere gekünstelte Versarten der Italiener und Fran­

zosen wurden in zierlichen Dattelversen (Dactylen) von ihm eifrigst gepflegt. Wegen der Sprachmengerei, über die man Klage führte,

wollte Zesen alles Fremdartige ausgestoßen wissen, und bei dem all­ gemeinen Streben, die deutsche Sprache in Aufnahme zu bringen,

forderte er, daß alles deutsch geschrieben würde, auch wissenschaft­

liche Werke, und er suchte eine Menge längst eingebürgerter Fremd­ wörter auf die wunderlichste Weise verdeutscht einznführen. Das grammatische Studium der Muttersprache, welches damals mit Ei­ fer betrieben wurde, veranlaßte ihn, auf die Wurzeln der Sprache zurückzugehen, die Natur der Laute zu untersuchen und eine ganz

neue,Rechtschreibung aufzustellen [52J.

Rücksichtlich des Rhetorischen

40

Erste Periode.

Boni Anfang des 17.

endlich, welches man für die poetische Sprache verlangte, übertraf Zesen im epigrammatischen Witz und im Antithetischen alles bisher Geleistete.

Schon in seinem 24. Jahr stiftete er die deutschgesinnte

Genossenschaft, und diese Gesellschaft wurde nächst dem Palmenorden die verbreitetste.

Er öffnete auch den Frauen Zutritt zu seiner Ge­

nossenschaft und veranlaßte hierdurch die fruchtbringende Gesellschaft zur Nachahmung, und bald begrüßte die allgemeine Stimme der Zeit die Frauen als die verkörpert erscheinenden Musen, und beson­

ders hob Zesen das Poetische und Reizende in dieser Theilnahme

des weiblichen Geschlechts hervor [**].

Sein frühes Glück zog ihm

Neid und Mißgunst zu; er ward von Rist und Harsdörfer, den

Stiftern deutscher Gesellschaften, verleumdet, wodurch zum ersten Mal Anfeindungen in dem bisherigen friedlichen Zustand der deut­

schen Literatur hervorgerufen wurden [$4J. Bei seinen vielen Ue­ bertreibungen boten sich Blößen genug dar, derentwegen man ihn

anfeindete und verleumdete.

Es ward ihm auch noch zur Sünde

angerechnet, daß er mit unter den ersten die Romane der Scudery übersetzte und seine eigene, die adriatische Rosamunde (schon 1645), hinzufügte, worin er indeß bald die ausgebreitetste Nachahmung fand

(s. unten).

Es war in Zesen ein gewisser Geniedrang, welcher seinen

Bestrebungen etwas Abenteuerliches gab; viele von seinen Uebertrei­

bungen gehören seinen jungem Jahren an.

Seine erotischen Lieder

haben den leichten Ton von Schwieger und Flemming, sie sind meistens anmuthig und leicht hingeworfen.

Die Hauptsammlung

ist das dichterische Rosen- und Lilienthal (1670). Zesen war einer der allerfruchtbarsten Dichter seiner Zeit; er begann seine

dichterische Laufbahn schon in seinem achtzehnten Jahre gleichzeitig

mit Opitz, und dichtete noch im siebenzigsten, als von allen Trägern der ersten Schlesischen Schule längst kein einziger mehr übrig war. Er machte auch lateinische, französische und holländi­ sche Gedichte, ja er schrieb ganze holländische Werke, und stellt den

engen Verband der damaligen deutschen Literatur mit der nieder­ In seinen eigenen Liedern zeigt er Selbst­ ständigkeit und richtiges Verständniß der fremden Vorbilder. Die ländischen am besten dar.

elegische Stimmung, welche in diesem Hamburger Dichterkreise in Liebessehnsucht übergeht, nimmt bei Zesen einen mystischen schwär­

merischen Zug an, der in seinen geistlichen Dichtungen noch mehr hervortritt [5SJ. In Ober-Sachsen treffen wir in den weltlichen Liedern auf Spuren derber Volksmäßigkeit [*•] auch in dem eigentlich moder-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

41

nen Dichterkreise, der in einem lockeren Verbände sich in Leipzig

und Dresden bildete.

Georg Finckelthaus, Stadtrichter in Leip­

zig, der mit Flemming eng verbunden war, dichtete Martinsgans-, Sauf- und Bauernlieder, wie Opitz sie nicht würde geduldet haben.

Mit Finckelthaus hängt Christian Brehme, Bürgermeister in Leipzig, zusammen, in dessen Gedichten (1637) das Bauern-, Sol­ daten- und Studentenmäßige erscheint; doch in seiner neuen Hirten­

lust (1647) neigt er schon zu den Nürnbergern.

Der eigentlichen

Opitzianer trifft man in Sachsen um die Mitte des 17. Jahrh, nur wenige an; man wandte sich dem Italienischen Geschmack zu und suchte das Wesen der Poesie in Reimspielereien und in dem Zier­ werk des Schäferwesens.

Christoph Homburg [$,J in Naum­

burg (1605 — 81) ist Opitzianer; er ist ein emsiger Nachahmer der Holländer und Franzosen, jedoch von geringer Bedeutung, etwa wie

Tscherning.

Er gab 1638 eine Reihe von weltlichen Gedichten

„schimpf- und ernsthafte Clio" heraus, die er später, als er seine geistlichen Gedichte schrieb, wie ein guter Opitzianer bereute.

Da­

vid Schirmer [S8J aus Freiberg, Bibliothekar und Hofpoet in Dresden, kommt in seinen Hirtenstücken auf das Reimgeklingel der Nürnberger, und schwankt in seinen lyrischen Gedichten unselbststän­

dig zwischen den einzelnen Mustern, die er gerade copirte.

Er gab

„poetische Rosengebüsche," Dresden 1653 u. 57 heraus, und „Rau­ tengebüsche," Dresd. 1663, welche Liebeslieder, Elegien und Hir­ tengedichte enthalten. Die Schäferscntimentalität ist hier gewürzt theils mit einem burlesken Anstrich, theils mit verstiegenem Schwulst. Georg Neumark [*•] aus Mühlhausen in Thüringen (1621—

81), Archivsekretär und Bibliothekar in Weimar, der sich eine Zeit lang in Hamburg aufgehalten, gab in seinem poetisch- musikalischen Lustwäldchen (Hamb. 1651) Lieder heraus, die ohne Schwulst, stel­ lenweise zart und sanft sind, und in Bezug auf Heiterkeit sich an Grefflinger und Schwieger anschließen. Doch auch er wendet sich völlig den Nürnbergern zu und verleugnet die schlichte einfache Na­

tur, die in seinen ersten weltlichen Liedern vorherrschend war. J o h. Franck, Bürgermeister in Guben (1618—77), zeigt deutlich, wel­ chen gesunden Einfluß die Bibel und die lutherische Sprache auf ihn und andere ähnliche Dichter ausübte; denn während er im Kir­

chenliede die alte edle Einfalt zu bewahren strebte (s. unten), ist er in seinem weltlichen Helicon ganz Opitzianer, und mit gelehrten, mythologischen Anspielungen und in erborgten Phrasen bewegt er sich auf dem Cothurn des Opitzschen heroischen Gelegenheitshymnus;

42

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

in seinen onomatopoetischen Neigungen, in der Nachahmung der sonoren Verse der Alten überbietet er sogar die Pegnitzer.

In al­

len diesen einzelnen Erscheinungen sehen wir die weltliche Lyrik hin­

getrieben zu der Nürnberger Schäferpoesie.

Die geistliche lyrische Poesie.

Opitz hatte für die geist­

liche Poesie das Vorbild gegeben, theils zu planer Verständlichkeit, theils zu poetischem Schmuck- und Zierwerk. Man übersetzte zu­ nächst in stets erneuerten Versuchen die Psalmen, ohne daß diese jetzt noch dieselbe Bedeutung hatten, wie früher als sie noch den

Mangel an neuen Liedern ersetzen mußten, und es drangen die neuen „geputzteren Reime" in die Kirchendichtung ein. Viele Geistliche der damaligen Zeit und Dichter der älteren Art widerstrebten der

neuen, überschwänglichen, unlutherischen, fremdartigen Sprache für

die Kirchendichtung, da göttliche Sachen mit hohen Worten aufzuthürmen in der Kirche nicht hergebracht sey. Nachdem die Psal­ men vielfach bearbeitet waren, suchte man innerhalb der Bibel fort­ während nach neuen Stoffen und strebte nach Opitzens Vorgang

besonders die übrigen zur lyrischen Behandlung geeigneten Theile

der Schrift in Lieder zu bringen: man bearbeitete den Jesaias, Jesus Sirach u. a., vor Allem aber wählte man das hohe Lied, weil man dort einen geistlichen Gegenstand im weltlichen Gewände vorgetragen fand.

Finckelthaus, Joh. GeorgAlbinus, Pa­

stor in Naumburg, Zesen u. a., behandelten dasselbe theils in Lie­ dern, theils in Alexandrinern, theils in Gesprächspielen. Vorzüglich

führte die Neigung zur Schäferpoesie auf diesen Gegenstand hin. Endlich hatte Opitz durch seine Uebersetzung des Heinfischen Lob­

gesangs auf Christum eine ganze Reihe von Hymnen in Alexan­ drinern hervorgerufen, die in reflectirender Weise entweder die Ge­ burt oder die Passion oder den Tod Christi zu ihrem Gegenstand

haben; in diese den Alten nachgebildete Hymnendichtung zog die ganze heidnische Mythologie

ein.

Flemming,

Tscherning,

Rist u. a. haben dergleichen Hymnen gedichtet in der planen, ge­ lehrten, und bei aller erstrebten Erhabenheit trockenen Manier Opitzens. Man ließ indeß allmählig das Antike fallen, und suchte dafür al­ lerhand christliches Schmuckwerk auf [e0J.

Caspar Ziegler aus

Leipzig (f 1657) schrieb zwanzig Elegien über das Leben Christi,

die einen kleinen Cyklus von epischen Hymnen bilden und als rhap­

sodische Vorläufer des christlichen Epos könnnen angesehen werden. Den Dichter beschäftigt bei der Betrachtung des Erlösungswerkes

besonders die Erniedrigung des Gottessohnes in Knechtsgestalt um

43

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts. der Sünde der Menschen willen.

Joh. Georg Albinus dichtete

eine ganze Reihe von Hymnen, die sich auf die Passion des Hei­

landes

beziehen.

Er bindet einen Cypressenkranz

aus

den fünf

In steter Ertase werden aus geschmacklose Weise Bilder auf Bilder, Wunden Jesu (1650) aus Ergriffenheit über Christi Tod.

Vergleichungen auf Vergleichungen gehäuft, schmückende Beiwörter

werden aneinander gereiht, und wir erhalten ein Gemisch von hoch­ fliegender Exclamation und gemeiner Plattheit. Dagegen gab es andere Dichter, in welchen ein wahrhaft poetisches Element das Ge­ staltende für ihre religiösen Productionen war; dichterischer Beruf,

nicht bloß religiöser Herzensdrang führte sie der religiösen Dichtung zu.

Hierdurch kam in ihre geistlichen Poesien gleichfalls ein küh­

nerer Zug und eine sinnlichere Farbe, ohne daß sie jedoch ins Leere

und Platte hinabsanken, welches durch Bilder, Antithesen und bom­ bastischen Prunk wäre zu verdecken gewesen. Hierher gehören Hein­ rich Buchholz und Andreas Gryphius [•']. Buchholz war seit 1641 Professor in Helmstädt, und 1663 Superintendent und

Hofprediger in Braunschweig und starb 1671. In seinen geist­ lichen Poematen (1651) und in seinem betrübten Sion, einem strophischen Gedicht, ist er lyrischer Kunstdichtcr voll Wärme

und Phantasie. Dagegen nähert er sich in seinen Hausandach­ ten (1663) der möglichsten Einfalt; es ist ein Erbauungsbuch mit eingestreuten Gesängen, welche für die Lectüre zu Hause bestimmt absichtlich etwas lang gemacht sind. Sie enthalten nicht directe Lehre,

sondern die Lehre knüpft sich an Sachen und die Beobachtung an

Anschauung; sie sind im Ganzen plan gehalten und bewegen sich meistens in der hergebrachten lutherischen Weise. Uebrigens verthei­

digte Buchholz den Gebrauch geschmückter Rede in der kirchlichen Poesie, und noch entschiedener vertheidigte sie Andreas Gryphius in der Vorrede zu seinen „Thränen über das Leiden des Herrn" (1652); „er sei," sagt er, „der Meinung, gar nicht zu­

gethan, die alle Blumen der Wohlredenheit und Schmuck der Dicht­ kunst aus Gottes Kirche bannt, da die Psalmen oft mit der schön­

sten Art zu reden die himmlischen Geheimnisse ausdrücken."

Die

Thränen über das Leiden des Herrn sind Passionslieder, die be­

trachtend und abschweifend die Leidensgeschichte erzählen, ganz schlicht, in Luther's einfachem Ton. Auch in seinen sonstigen geistlichen Lie­ dern bemüht er sich, den einfachen protestantischen Ton festzuhalten; doch bricht öfter seine finstere Stimmung hervor, und andererseits

kann er den poetischen Farbenglanz, der ihm natürlich war, nicht

44 verleugnen.

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Er beneidet Joh. Heermann (f. unten) um die See­

lenruhe, die er nicht habe.

Er mußte in der Flucht irrend das su­

chen, was jener besaß, und kann nur von dem schönen Besitze sin­

gen, nicht sich seiner erfreuen.

Geist zu schätzen)."

(S. sein Lied: „Wie selig ist der

Einem Manne wie Gryphius, lag Würde und

Erhabenheit näher als schlichte Einfalt.

In seinen geistlichen

Oden (1643) und seinen Kirchhofsgedanken (1656) herrscht

eine Fülle von Bildern und Gedanken ohne leeren Schwulst und

tändelnde Spielereien; freilich geht in den Kirchhofsgedanken alles auf das Erschütternde, und in der düsteren Schilderung der Ver­ wesung häuft die Phantasie alles Abschreckende zusammen und zer­

gliedert es. Seine Oden entziehen sich der herkömmlichen andächti­

gen, beschaulichen oder

betenden Art,

voll Leben und Bewegung.

es

sind

Phantasiegebilde

Das eigentlich gestaltende, poetische

Element macht sich überall bei Gryphius geltend und verbindet sich mit einem tiefen und protestantischem Geiste. So wie Buchholz seine geistlichen Kunstdichtungen früher ver­ faßte, als seine einfacheren Hausandachten, so hat auch Gryphius seine Kunstoden eher gemacht, als seine einfacheren Lieder, und es

geht hieraus hervor, daß sich gegen die Zeiten Paul Gerhard's hin eine, wenn auch mehr unbewußte, Reaction gegen jene Neue­

rungen der Kunst, so wie überhaupt gegen die poetischen Schul­ künste der Gelehrtenpoesie geltend machte. Das Bedürfniß des al­ ten protestantischen Kirchenliedes, welches für den Gesang in der

Gemeinde bestimmt bei der einfachen Bibelsprache blieb, und den lutherischen Sinn bewahrte, war zu groß, als daß es durch die Theorie und Praxis der neuen weltlichen Dichtung hätte verdrängt

werden können.

Es widerstrebte den Besseren der weltliche Schmuck

für die geistliche Dichtung, und wenn Einzelne auch für ihre welt­ liche Poesien den rhetorischen Glanz annahmen, so widerstanden sie doch in ihren geistlichen Liedern dieser Versuchung.

Man behielt

daher das Wesen des Kirchenliedes im Auge, welches in Kraft und Einfalt besteht, die Sprache der Bibel zu seiner Grundlage hat und als Volkslied wirksam seyn soll. Man blieb auch bei der alt­ hergebrachten, volksmäßigen Form; namentlich zeigen sich die kur­ zen Reimpaare, die aus der weltlichen Poesie völlig verdrängt wa­

ren, noch in der kirchlichen Dichtkunst. Da der religiöse Herzens­ drang das geistliche Lied hervorrief, so hatte die Wahrheit des Gefühls auch eine ungekünstelte, herzliche Sprache zu ihrem Ausdruck. Es waren daher nicht die gelehrten Kunstdichter, bei welchen das Kir-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

45

chenlied Pflege fand, sondern bei denjenigen, welche abgesehen von dichterischem Beruf durch die inneren Stimmungen des Gemüths angeregt, im Liede ihre Herzen zu Gott erhoben und dort Trost und Zuflucht suchten. Während in der früheren, ersten Periode des evangelischen Kirchenliedes vorzugsweise das allgemeine evangelische

Bewußtseyn, das Bekenntniß, zur Darstellung kommt, wird in dieser die Wirksamkeit des evangelischen Glaubens in den besonde­

ren Lebensverhältniffen dargestellt,

und es spricht sich eine alle

Stände und Bildungsstufen, jedes Lebensalter und jede Lebens­

richtung in gleicher Weise ansprechende Weisheit aus, die ein Zeug­

niß ist von dem

evangelischen Bewußtseyn in den

verschiedenen

Lebenslagen. Vorzüglich prägte sich jetzt in den Kirchenliedern die elegische Stimmung einer trüben Lebensansicht aus, welche durch

die Drangsale

der Zeit hervorgerufen wurde

und die sich

auf gleiche Weise in den weltlichen Dichtungen in mannigfaltiger Gestalt abspiegelte.

Es fehlte die alte lutherische Glaubensfreudig­

keit, die nur in Paul Gerhard, der aus Sachsen stammte, mit aller

Frische und Kraft wieder hervortritt; mit ihm gewann das Kirchen­

lied des 17. Jahrhunderts seine schönste Blüthe. Sachsen behaup­ tete noch den lutherischen Protestantismus als die innerste Sache des Kopfes und des Herzens. Nach Schlesien zunächst

führt

uns der

Kirchenliederdichter

Joh. Heermann [61], welcher 1585 im FürstenthumWohlau ge­

boren wurde. Er stammte von armen Eltern ab und hatte in seiner Jugend mit Krankheit und Noth zu kämpfen; 1604 besuchte er das

Gymnasium zu Brieg, und zeichnete sich hier schon als Dichter so rühmlich aus, daß er auf Befehl des Kaisers Rudolf II. zum Dichter

gekrönt wurde. Im Jahr 1611 erhielt er ein Pfarramt, doch wurde er vielfach vom Unglücke in seinem häuslichen Leben und von den Wechselfällen des Kriegs heimgesucht, und nach manchen schweren Prüfungen starb er 1647 im zwei und sechzigsten Lebensjahre. Herz­ lichkeit und Innigkeit spricht aus seinen Liedern, die während seiner

schwergeprüften Lebenszeit entstanden.

Von ihm sind die Lieder:

„Herzliebster Jesu," (in der damals üblichen Form der sapphischen Ode), „Jesu deine tiefen Wunden," „Wo soll ich fliehen hin,"

„O Gott du frommer Gott," (in Alexandrinern), „O Jesu, Jesu Gottes Sohn." — Er gab schon 1612 Sonette und Festtagsevan­

gelien in deutschen Reimen heraus und traf mit vielem Tact den musicalischen Tonfall, den accentuirten Rythmus, den nachher Opitz

nach der Regel einführte.

In der Ausgabe seiner geistlichen Lieder:

46

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

devoti musica cordis, Haus- und Hertz-Musica vom Jahr 1636 ging er ganz auf die reinere Art Opitzens ein; er beobachtete die

correctere Sprache und die neue Verskunst, ohne von dem alten Geiste der Frömmigkeit zu verlieren. Als Eigenthümlichkeit giebt sich sowol bei Heermann, als auch sonst bei allen Kirchenliederdich­

tern zu erkennen, wie sie bei Mangel an eigener Selbstständigkeit nach Stoffen suchen, an die sie sich anlehnen, und da die Psalmen und die Schrift schon vielfach benutzt waren, sich zu den Predigten und Erbauungsschriften der neueren Theologen wenden und zurück-

gehen auf Lauler, ja auf St. Bernhard, Augustin, auf alle Kirchen­ vater. Hierdurch entstand einerseits eine gewisse Breite und ein rednerischer Predigerton in den Liedern, und andererseits drängten sich fremdartige, unprotestantische Vorstellungen ein.

der

vertrauungSvollen Zuversicht und Freudigkeit

An die Stelle des Glaubens

tritt Zerknirschung, Angstgeschrei um Trost und Hülfe, Selbstent­ würdigung und Selbstquälerei, und dies um so mehr, als das ganze Zeitalter zu einer finsteren Lebensansicht hinneigte; diese finstere,

trübe Richtung tritt bei Heermann in seinen späteren Liedern im­ mer mehr hervor, und es verbindet sich hiermit auch eine gewisse Neigung zu tändelnden Spielereien, wie sie durch Spee's Manier

(s. unten) im geistlichen Liede üblich wurden.

Unter den vielen

Kirchenliederdichtern Schlesiens ist besonders noch David von

Schweinitz (1600 — 1667) hervorzuheben [, „Liebe, die du mich zumBilde" u. s. w. „die SeeleChristi heilige mich" u. s. w., „Ich will dich lieben meine Stärke" u. s. w. Das eigenthümlichste Werk Scheffler's ist aber sein Cherubini­ scher Wandersmann (1657), eine Sammlung mystischer Sinn­ gedichte, die zur göttlichen Beschaulichkeit antreiben sollen [**]. Sie führen zurück auf die Mystiker des Mittelalters, doch faßt sich hier das Tiefsinnige des mystischen Gedanken in die prägnanteste Form von Gegensätzen zusammen und entfaltet sich nach mannigfaltigen Seiten, um sich dem Geheimniß von der Vereinigung der Seele mit Gott zu nähern und die Lehre von der Ruhe und dem gedul­ digen Erleiden Gottes begreiflich zu machen. Scheffler's Manier ging auch auf andere Schlesische Dichter über. Christian Knorr v. Rosenroth (1636 — 1680), aus dem Städtchen Räuden im Fürstenthum Wohlau, wo sein Vater Pastor war, wendet sich in seinen geistlichen Dichtungen der Mystik zu. Er besaß vielseitige Kenntnisse in der Medicin, Chemie, Theologie, Philosophie, machte sich vertraut mit der Alchymie, die ihn zu mystischen Naturforschungen führte. Er wurde 1668 Geheimerath und Canzleidirector bei dem Pfalzgrafen Christian August zu Sulzbach und starb daselbst 5*

68

Erste Periode. Bom Anfang de- 17. In seinen geistlichen Liedern wird Einsamkeit, Abgeschieden­

1689.

heit von der Welt als der Weg zur Gemüthsruhe und wahren Se­ ligkeit bezeichnet; sie sind größtentheils fromm, herzlich und erbau­ lich und leiten von Scheffler zu den pietistischen Liedern über.

(„Morgenglanz der Ewigkeit," „Jesu Kraft der blöden Herzen,"

„Der Gnadenbrunn fleußt noch)." In Phil. Jac. Spener (1635—1705) machte sich gleichfalls das Bedürfniß geltend im

Gegensatz der protestantischen Scholastik ein im Herzen lebendiges, biblisch praktisches Christenthum herzustellen.

Durch sein für die

praktische Belebung des Christenthums begeistertes Streben wurde der Pietismus hervorgerufen, der namentlich in Halle seinen Sitz

hatte.

Von Spener, Joachim Neander (1610—1680) und Au­

gust Hermann Francke (1663 —1727) ging eine Reihe geistli­ cher Lieder aus, die sich durch einfachen Ausdruck des Gefühls dem

älteren protestantischen Kirchenliede zu nahem suchten.

Vorzüglich

zeichnen sich die Lieder von Neander durch Tiefe und Innerlichkeit

des Gefühls aus („Meine Hoffnung stehet," „Lobe den Herren, den mächtigen," „Jehova ist mein Licht," „Wie fleucht dahin der Men­ schen Zeit"). Neander hatte schon in seiner Vaterstadt Bremen durch einen frommen Prediger tiefe religiöse Eindrücke in seiner Jugend

erhalten.

Später lernte er in Frankfurt a. M. Spenern kennen,

an den er sich aufs Innigste anschloß.

Er war der erste berühmte

Liederdichter der deutsch-reformirten Kirche; er starb 1680 als Pre­ diger in Bremen. Jos. Casp. Schade, Diakonus in Berlin,

t 1698 gab mehrere geistliche Lieder heraus, die mit zu den ersten

der pietistischen Richtung gehören; in ihnen tritt schon die spielende Manier hervor, die später in dieser Richtung vorherrschend wird.

Gottfried Arnold (1665 -1714), Professor der Geschichte in

Gießen, dann 1700 Prediger an verschiedenen Orten, zuletzt in Per­ leberg, schrieb geistliche Lieder voll innigen, gläubigen Gefühls und von poetischer Wirksamkeit; vorherrschend ist bei ihm die Neigung zur Mystik.

Auf diese Weise machten sich in der geistlichen Lieder­

dichtung die mystischen und pietistischen Bestrebungen gegenüber ei­

ner schulmäßigen, auf Verstandesbegriffe zurückgeführten Theologie

geltend, und gingen aus einer gefühlsmäßigeren, phantasievolleren Auffassung des Religiösen hervor. Dramatische Poesie.

Das Drama hatte durch den drei­

ßigjährigen Krieg eine bedeutende Erschütterung erlitten, indem der­ selbe die regelmäßigen Aufführungen störte und den heiteren Sinn,

der sie früher gepflegt hatte.

Klaj galt daher in Nürnberg nicht

69

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

bloß als Erneuerer und.Wiederhersteller des Drama's, sondern auch als Urheber einer neuen dramatischen Epoche [elJ. Er ging auf die alten Mysterien zurück und schrieb geistliche Dramen, wie die Auferstehung Jesu Christi, die Höllen- und Himmelfahrt Jesu Christi (beide im Jahr 1644), ferner Herodes der Kindermörder,

und der leidende Christus (beide im Jahr 1645).

Diese Dramen

sind mehr den Oratorien ähnlich und schloffen sich an den kirchli­

chen Gottesdienst.

Angeregt wurde Klaj zu solchen Aufführungen

durch die in den Niederlanden herrschende Sitte, sonntäglich geist­ liche Scenen, aufTableaux gemalt, aufzustellen, und diese von Schau­

spielerinnen durch Rede und Gesang erklären zu lassen.

Die geist­

lichen Aufführungen in Nürnberg leitete Klaj selbst; eröffnet wurde die nachkirchliche poetische Feier durch Instrumentalmusik, dann lei­

tete der Dichter selbst redend in Prosa oder Vers seinen Gegenstand ein, bis er an die Stelle kam, wo die handelnden Personen eintra­

ten. Die darzustellenden Personen wurden, da die Tableaur in der Kirche fehlten, durch den lebendigen Vortrag des recitirenden Dich­

ters der Anschauung näher gebracht.

Die Kunst der poetischen Ma­

lerei, das Emblematische, mußte sich hier wirksam zeigen, um durch

Anwendung aller metrischen und onomatopöischer Mittel der Sprache das für das Ohr zu ersetzen, was dem Auge mangelte. Lieder und Chöre unterbrachen den declamatorischen Vortrag und wurden von Anderen gesungen.

ES fand hier also eine eigenthümliche Verbin­

dung verschiedener Kunstelemente statt und Harsdörfer nebst den Pegnitzer Genossen begrüßten

freudig diesen Anfang der höchsten

Kunstgattung und priesen den „wolkenansegelnden Flug des Dich­

ters." Harsdörfer machte auch aufmerksam auf die verschiedene Wirkung der einzelnen Vers- und Reimarten und wies darauf hin,

wie „die kurzlangen (jambische) Reimarten zu den Erzählungen, die langkurzen (trochäische) zu Bewegung der Gemüther, und die

langgekürzten oder daktylischen

seyen.

zu freudigen Sachen bequemlich"

In diesen dramatischen Sprachgemälden kann von eigentli­

cher Handlung nicht die Rede seyn; die Chöre und die lyrischen

Partien sind noch das Erträglichste in diesen rohen Stücken.

Et­

was mehr Handlung findet sich in Herodes dem Kinder­ mörder und in dem Engel- und Drachenstreit; das erstere bearbeitete Klaj

nach

dem Niederländischen des Heinsius.

Es

wurden die Passions- und Auferstehungsstücke auch in der Ma­ nier der mystischen Tendenzen behandelt. Knorr von Rosen-

70

Erste Periode.

Vom Anfang de» 17,

roth schrieb ein allegorisches Lustspiel von der Vermählung Christi mit der Seele, welches den Calderonischen Autos amnächsten steht.

Derselbe schrieb, von seinen alchymistischen Bestrebungen geleitet, ein chymisches Prachtspiel conjugium Phoebi et Palladis (1677),

welches eine Vorstellung geben soll

von der Unmöglichkeit,

daß

aus unedlen Metallen edle sollten gewonnen werden [eib], Ver­ drängt wurden Klaj's geistliche Aufführungen seit dem westphalischen Frieden von den großen prächtigen Darstellungen, welche durch die

Friedensfeste in Nürnberg veranlaßt wurden.

Diese sogenannten

Aufzüge waren im Gegensatz der geistlichen Dramen ganz weltlich,

ganz Action und Pantomime, ganz für's Auge berechnet. Klaj ver­ faßte selbst ein Festspiel: Irene, d. i. vollständige Ausbildung des zu Nürnberg geschlossenen Friedens (1650) und „Geburtstag des Friedens, wie der Kriegs- und Siegsfürst Mars aus Deutschland

seinen Abzug genommen mit Trummeten u. s. w., und die Irene

oder Friedensgöttin» mit Zinken u. s. w. wieder eingeholt und an­ genommen worden" (1650).

In diesen Stücken fand der Sinn der

Nürnberger für allerlei Allegorien und Sinnbildereien, für phanta­ stische Pracht und überladene Sinnenreize reiche Nahrung, und be­ sonders war Birken (s. oben) thätig für solche allegorisch-pantomi­

mische Darstellungen, die den hohen Abgeordneten in Nürnberg zu Ehren gegeben wurden [•*]. Solche Aufzüge fanden auch an den Höfen großen Anklang. Schottel, ein treuer Anhänger der

Pegnitzer, ließ zu Wolfenbüttel ähnliche Allegorien, Pantomimen und Ballette ausführen; auch an den kleinen Höfen in Sachsen und Thüringen waren solche Darstellungen beliebt.

An den Aufführun­

gen nahmen sogar die jungen Prinzen Theil und mischten sich un­ ter Bürgersöhne und Adlige.

Die didaktische Poesie der Pegnitzschäfer wird

vorzüglich

vertreten durch Harsdörfer'sNathan, Jotham undSimson [,4J, so wie die Schäferpoesie durch das Pegnesische Schäfergedicht

in den berinorgischen Gefilden, an welchem Klaj, Harsdörfrr und Birken Antheil hatten (s. oben). Das erstere Gedicht enthält drei­

hundert Fabeln, dreihundert geistliche Erdichtungen und zweihundert Räthsel. Wir erhalten hier eine große Sammlung von moralischen

Allegorien und Parabeln; denn Parabeln, nicht Fabeln sind diese Erfindungen. Die Nürnberger Schäferpoesie, welche aus dem Streben hervorging, die Nüchternheit und trockne Lehrhaftigkeit der ersten Schlefischen Schule durch phantasievollere, sinnlichere Darstellungen zu

71

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

überwinden, bereitete die sogenannte zweite Schlesische Schule vor, in welcher die Poesie zum Prunkenden und Urppigen ausartete.

III. 1.

Die zweite Schlesische Schule.

DaS Eigenthümliche dieser Dichtcrschule.

Nachdem das Bedürfniß einer frischeren, kräftigeren Auffassung der Sinnenwelt für die Poesie sich lebendig aufgedrängt hatte, ge­

langte jetzt das zur völligen Ausbildung, was theilweise schon von

einzelnen mit

reicher Phantasie begabten Dichtern angeregt, na­ Es entstand eine

mentlich von den Pegnitzschäfern erstrebt war.

Schwelgerei in sinnlichen Bildern, ein Streben nach Effect und Wirkung, ein Haschen nach blendenden Farben, überraschenden Bil­ dern, frappanten Wendungen.

Vorstellungen und Empfindungen er­

hielten einen gewaltsamen Aufschwung, der in leeren Prunk und geschmacklosen Schwulst ausartete.

Die in Nürnberg begonnene

Reaction gegen die Opitz'sche Schule sollte in Schlesien selbst weiter geführt werden, und gelangte hier endlich zu einem solchen Ansehen, daß Opitz zuletzt darüber in Vergessenheit gerieth.

Diese in Schle­

sien sich bildende Opposition ging aus von

Christian Hoffmann v. Hoffmannswaldau [**], wel­ cher 1618 zu Breslau geboren war, wo sein Vater als kaiserlicher Kammerrath lebte. Seine Schulbildung erhielt er zuerst in Bres­ lau und später in Danzig, wo er wegen seiner dichterischen Anla­

gen Opitzens Aufmerksamkeit auf sich zog, der auch sein erstes Mu­ ster wurde und in dessen Haus er aus- und einging. Er studirte

in Leiden, weil der Krieg die deutschen Universitäten unsicher machte. Nach Beendigung seiner Studien ging er auf Reisen durch die Nie­

derlande, England, Frankreich, Italien und kehrte über Wien nach

Breslau zurück, wo ihm sein Vater eine Rathsherrnstelle auswirkte. In diesem Amt erwarb er sich Ansehen und allgemeine Achtung. In Angelegenheiten seiner Vaterstadt wurde er öfter an den kaiser­

lichen Hof nach Wien geschickt; er erhielt die Würde eines kaiser­ lichen Raths und ward nachher auch Vorsteher des Rathscollegiums zu Breslau, wo er 1679 starb.

Angeregt von Andreas Gryphius verließ Hoffmannswaldau die von den Opitzianern eingeschlagene Richtung; er erklärte sich,

wie dieser, gegen die Uebersetzerei als eine undankbare, abhängige

Arbeit und strebte nach einer selbstständigen Dichtung.

Mit Gry-

phiur setzte er das Wesen des Dichters in neue Erfindungen, und wandte sich, wie dieser, entschieden von den Spielereien des Schä-

72 ferwesens ab.

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

In seinen Lebensansichten bildete er aber gegen Gry-

phius den vollkommsten Gegensatz

Stoicismus.

des

Epicureismus gegen

den

Nicht wollte er der Dichter des Grabes und der Welt­

verachtung seyn, sondern der Liebe; denn gerade im Lande der Liebe schiene ihm die Poesie einzig zu Hause zu seyn. Aus der elegi­ schen Stimmung seines Zeitalters sich rettend, wendet er sich den

weltlichen Freuden zu, und bekennt frei und offen von sich, daß er kein Engel und kein Stein sey, daß er sich nicht entmenschen, sich

nicht von Leib und Blut scheiden wolle [••].

Nicht Taci tus

war sein Liebling, sondern Ovid, und für die Darstellung wurde

nicht Seneca sein Muster, sondern der Italiener Marino; diesen

hatten auch schon die Nürnberger nachgeahmt, doch bei ihrer sittli­ chen Strenge das Unzüchtige und Schwelgerische vermieden.

Hoff-

mannswaldau erkannte aber die Italiener vorzüglich deshalb als

seine Meister an, weil er von ihnen erst gelernt habe „erfinden," was der Seele Dichtung sey.

Ihre sinnreichen Erfindungen, ihre

durchdringenden Beiwörter, ihre artigen Beschreibungen und Ver­ knüpfungen suchte er für die deutsche Dichtung nachzubilden; er

stimmte einen lieblichen, reizenden Ton an, gab der Sprache und dem Versbau Leichtigkeit und Rundung. Colorit und Vortrag wurde belebt, farbenreich und glänzend; der Kreis der Vorstellun­

gen wurde erweitert, eine Fülle neuer Beiwörter geschaffen, eine Menge neuer, kühner Zusammenstellungen gerechtfertigt, kurz die Eleganz der Diktion und die dichterische Darstellung wurde vielfach

gefördert, daher der ungemeffene Beifall, den diese neue Richtuug bei den Zeitgenossen fand [”].

Wenn Harsdörfer behauptete, das

Gedicht solle ein redendes Gemälde seyn, und wenn er, um den

Inhalt seiner Gedichte für die Anschauung noch lebendiger zu ge­

stalten, Zeichnungen hinzufügte, so malte Hoffmannswaldau wirk­ lich und zwar in den schillerndsten und glänzendsten Farben und

machte die Ansicht geltend, daß die Wahl sinnlicher, treffender Bei­ wörter zum Wesen der Poesie gehöre. Wenn nun auch hierdurch die Rechte der Sinnlichkeit geltend gemacht wurden, so fehlte es doch an einem von innen heraus lebendig wirksamen Pathos, an

individuellem Leben und Wahrheit des Gefühls.

Der Aufschwung

ist ein gezwungener und die Lebendigkeit der Darstellung wird nur

in der Pracht und

dem Sinnenkitzel der Beschreibungen gesucht.

Hoffmannswaldau macht Sachen des Gefühls und der Empfindung zu bloßen Spielereien des Gedankens und Scharfsinns, und treibt

ein üppiges Spiel mit Bildern, hascht nach den unerhörtesten Ver-

73

bi- zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

knüpfungen und fernliegendsten Gleichnissen.

Es ist hier keine poe­

tische Eingebung, keine Natur, sondern nur etwas Gemachtes, und es entstand hieraus eine neue Art des Conventionellen. Die äu­ ßere Verbindung von Witz und Gefühl führte zu dem Spielenden

der Gegensätze in Gedanken und Bildern, zu den brillanten Anti­ thesen, den sogenannten concetti, in welchen das Gesuchte und Ge­

künstelte der Reflexion liegt. Die Figuren des Witzes und der Vergleichung werden hier ebenso eigenthümlich, wie bei den Nürn­ bergern

das Emblematische und Onomatopöische, und

außerdem

führte die heitere Sinnlichkeit des Gedankens zu dem Frivolen, Las-

civen und Obscönen. Nur ein Gedankenspiel war es, was Hoffmannswaldau mit der Poesie trieb; er sah das Dichten als eine

Kurzweil in Nebenstunden an, in welchen er sich einer ungebunde­ nen Laune überließ.

Er vergnügte sich mit dem Aufschreiben von

Zusammenstellungen von Scherzen, Einfällen, Gleichnissen, Concep­

ten und seine poetischen Erzeugnisse entstanden, indem er die gele­

Auf den Effect bedacht wählte er solche Stoffe, die an und für sich schon gentlich ausgezeichneten Einfälle zu einem Gedichte vereinigte.

einen Sinnenkitzel enthielten, und gerieth hierdurch in schlüpfrige

Zweideutigkeiten.' Wie sehr er die Poesie nur als ein angenehmes Spiel des Geistes für die Stunden der Muße ansah, geht daraus

hervor, daß er kein großes Gewicht auf seine Dichtungen legte, son­ dern sie gerne zurückbehalten hätte, wenn sie ihm nicht zum Druck abgedrungen und gleichsam geraubt wären (seine Werke erschienen

zuerst Breslau 1673).

Am bezeichnendsten für seine Dichtungsweise

sind die erotischen Heldenbriefe, die Heroiden [••], die er für die Oeffentlichkeit bestimmte und nach Ovid's Vorbild zuerst in die

deutsche Poesie einführte. Er denkt sich in die Erregtheit und die Empörung leidenschaftlicher Gemüther hinein, und es entsteht hier­ aus eine besondere Art schildernder Poesie voll Rhetorik und Dekla­

mation. Antithesen, Epigramme, Concepte sind auch hier die Seele der Darstellung und lassen das Ganze als eine kalte Kopfarbeit er­ scheinen, wobei das Herz nicht weiter betheiligt ist.

Vorauf geht

den Epistelpaaren eine kurze Liebesgeschichte in Prosa, auf die sich die Briefe der Liebenden beziehen. Es fehlt nicht an schlüpfri­ gen Zweideutigkeiten und an Obscönitätcn, doch die wirkliche Ge­

sinnung

des Dichters

hatte dabei

keinen Antheil;

Dichten und

Leben erscheinen hier ganz getrennt und es galt der Spruch pa-

gina lasciva, vita proba est. Caspar von Lohenstein [••], der Freund und Amtsgenosse

74

Erste Periode.

Bom Anfang des 17.

von Hoffmannswaldau, setzte die neue Richtung der Poesie fort, welche durch ihn daS Extrem der Unnatur erreichte.

Er war 1635

„unter den größten Kriegsflammen Schlesiens" zu Nimptsch iwFür-

stenthum Brieg auf dem damals fürstlichen Schlosse geboren. Sein Vater war Rathmann und

kaiserlicher Einnehmer

zu Nirrptsch,

welcher die Schulbildung seines Sohnes auf dem Magdalenen-Iym-

nasium in Breslau vollenden ließ.

Dieser widmete, sich schon als

Schüler angeregt von den Dramen des Gryphius der tragischen Poesie. In seinem 16. Jahr ging er zur Universität ab und zwar

nach Leipzig, um die Rechte zu studiren.

Nachdem er in Tübin­

gen seine Studien beendigt hatte, machte er eine Reise durch Drutsch-

land, durch die Schweiz und die Niederlande, und hielt sich längere Zeit in Leiden und Utrecht auf. Frankreich wurde

Pest abgehalten.

Von einer Reise nach Italien und

er durch eine damals in Oesterreich herrschend« Er kam später als kaiserlicher Rath und erster

Syndikus nach Breslau, in welchem Amte er 1683, erst 48 Jahr alt, plötzlich am Schlagflusse starb. In Lohenstein gelangte bei der Frühreife seines Geistes, bei

der vorzeitigen Ueberfüllung mit massenhafter Bücherweisheit, mit sprachlichem und geschichtlichem Wissen die innere Gefühlswelt nicht zu rechter Entwickelung. Er war Gelehrter und Verstandesmensch, und dabei war ihm ein Zug zum Ernsten und Erhabenen eigen­

thümlich. Hieraus erzeugte sich bei dem Mangel an poetischer Auf­ fassung das Rhetorische, und bei dem Mißverhältniß zwischen der

Armuth des Gedankens und dem Prunke der Darstellung das Schwülstige; denn überall geräth die Prosa, wenn sie sich zur Poe­ sie zwingt, in Ueberladung.

Lohenstein legte das Interesse in da-

Ueberstiegene der Darstellung und das Ungeheure des Stoffs.

Es

fehlte ihm an Originalität, und er war daher von fremden Mustern

abhängig.

Lobend läßt er sich über Opitz aus und bildete sich in

der dramatischen Kunst nach Gryphius [l00]; Tacitus und Seneca

waren auch für ihn Lieblingsschriftsteller, nach welchen er sein« Prosa bildete.

Für die rhetorische Durchbildung der deutschen Sprache

war er nicht ohne Bedeutung, und er übte hierdurch später noch

auf die der Gottschedschen Schule entgegentretenden Dichter, wie

Drollinger, Haller anregenden Einfluß aus.

In seinen lyrischen

Gedichten schloß er sich vorzüglich an Hoffmannswaldau; er hat sie

unter der Aufschrift „Blumen" zusammengestellt: die „Rosen" ent­ halten die Liebesgedichte, Heroiden und Hochzeitsgedichte; unter dem Namen „Hyacinthen" hat er der Sammlung Leichengedichtr und

75

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

poetische Ehrenreden beigefügt; „die Himmelsschlüffel" sind geistliche Hymnen, zu welchen noch die „Thränen" und die elegischen „Re­

den unter dem Kreuz des Herrn" kommen.

Vorherrschend ist hier

das Rhetorische ohne innere Tiefe und Wahrheit.

Wie sehr Lohen­

stein zu gräßlichen und eklen Gegenständen hinneigt, was besonders in seinen Dramen hervortritt, zeigt die seinen Heroiden angehängte poetische Rede der Maria Cornelia, die sich ihrer Keuschheit halber mit einem nimmt.

brennenden

auf widerliche Weise das

Scheit

Leben

Auch spielt Lohenstein's Phantasie in Hoffmannscher Ma­

nier mit dem Lasciven und verliert sich in Ausmahlung schlüpfriger,

obscöner Gegenstände.

Seine Liebesgedichte schildern nicht eine

selbsterlebte tiefere Empfindung, sondern ergehen sich in Reflexionen, mythologischen Bildern und Anspielungen auf die Geschichte; au­ ßerdem bewegen sich seine lyrischen Gedichte, wie bei Hoffmanns-

waldau, in Antithesen, Wortspielen, prunkhaften Gleichnissen und

in geheimnißvollen Allegorien.

Er legte indeß auf diese Dichtungen

nicht großen Werth; seinen Ruhm suchte er in seinen Dramen und die Fülle seines Wissens concentrirte er in seinem Heldenroman Armenius und Thusnelda (s. unten). Seine sämmtlichen geist- und weltlichen Gedichte erschienen nach seinem Tode Leipzig 1733.

Der Weg der Natur war jetzt vollständig verlassen und an deren Stelle das rein Conventionelle getreten. Rhetorische Decla-

mation und bilderreiche Sprache galt für Poesie, Gelehrsamkeit für Geist, allegorische Einkleidung für künstlerische Darstellung. Daß sich eine solche Unnatur ein halbes Jahrhundert erhalten konnte,

zeugt von der Gesunkenheit des Zeitalters.

In allen Verhältnissen

war in Kirche und Staat, im öffentlichen und geselligen Leben eine allgemeine Stockung eingetreten.

Hierzu kam, daß in Dichterge-

noffenschaften die Verirrungen des Geschmacks zu Grundsätzen aus­ gebildet und sanctionirt wurden, daß die Einzelnen hier ihr Talent von Formen und Theorien abhängig machten und durch gegenseitige Lobpreisungen sich einander täuschten.

Während die Pegnitzschäfer

ihre unnatürlichen Spielereien und Tändeleien fortsetzten, und we­ nigstens sich zu Gefallen sangen, als man ansing sie zu vergessen;

erhielt die

zweite Schlesische Schule zahlreiche Anhänger, welche

Hoffmannswaldau's Bilderprunk und Lohenstein's Pathos Überbo­ ten, ohne daß sie das Talent derselben hatten, und das Gute, was etwa in dieser neuen Manier enthalten war, gänzlich aufhoben.

76

Erste Periode.

S.

Vom Anfang des 17.

Einfluß der zweiten Schlesischen Schule auf die einzelnen Dichtungsarten.

Epische Poesie.

Es ist oben schon näher nachgewiesen, wie

das Epos in den Roman überging.

Bei der Unbestimmtheit, mit

welcher der Unterschied zwischen Epos und Roman aufgefaßt wurde, war die Vermischung dieser beiden Gattungen ganz allgemein.

Die

Romanschreiber benutzten Homer und Virgil, und den Ehrenpreis

von Fürstenhäusern, den man gewöhnlich in Schäfergeschichten und Romanen behandelte, brachte man auch in gereimte Epen, wie z.B.

Freinsheim (s. oben).

Der Telemach des Fenelon, welcher einen

Mittelpunkt in den politisch- didaktischen Staats- und Historien-

Romanen bildet, wurde von den Franzosen für ein förmliches Epos

erklärt, und

Neukirch

bearbeitete ihn

in Alexandrinern.

Der

Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, der sich mit re­

gem Eifer der vaterländischen Literatur annahm

und

im Allge­

Geschmacke der zweiten Schlesischen Schule hul­ digte, hatte sich entschieden den Geschichtsromanen zugewandt, die er den „Amadisschen Fabelbruten und Mißgeburten" gegenüber meinen

dem

setzte. Er schrieb dieOctavia, römische Geschichte (in 6Thl. 1685—1707), in deren vierten Theil er die Geschichte des Königs David vonJuda, in Alexandrinern episch behandelt, einschaltet«. Entschieden gewann Postel, indem er die Opern- und Romandich­

tung aufgab, die Richtung auf das Epos. in Hamburg, wo er 1705 starb.

Er lebte als Advocat

Hier fand die Schlesische Schule

ihre letzten Anhänger, Hunold, Bohse, Barthold Feind und Andere. Postel war vorzüglich ein Verehrer Lohensteins, schätzte die Italie­

ner als Muster in der Poesie und empfahl auch das Studium der Spanischen Literatur. Als er sich dem Epos zuwandte, war er lebhaft durchdrungen von der Vortrefflichkeit Homer's und erkannte

mit Anderen den Vorzug seiner Nacheiferer, den Virgil, Tasso und Milton, vor der Masse der lyrischen Poeten an. Frei bearbeitete er das 14.Buch der Ilias in seiner listigen Juno (1760) und spricht in der Vorrede von dem „großen und unsterblichen Homer,

von welchem mit Recht die Gelehrten aller Zeiten schon gehalten, daß der Schatz aller Weisheit und menschlicher Wissenschaft in ihm verborgen liege."

Ferner behandelte er episch den großenWilte-

kind, welches Gedicht er nur bis zum zehnten Buche brachte, und das nach seinem Tode von Weichmann 1724 herausgegeben ist.

Wie Lohenstein in seinem Armin, so

kam Postel mit rich-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

tigern Takte auf eine Heroenzeit.

77

Er benutzte einen Roman über

Wittekind von Happel und nahm außerdem vieles aus deutschen

und

französischen Romanen

in sein Epos auf.

Wie Lohenstein

im Armin legt Postel auch seinen altsächsischen Helden Gelehrsam­ keit in den Mund, und führt außerdem den Lohensteinschen Ton

des pathetischen Schauspiels in die Epopöe ein.

Die beschreibende

Poesie hat er noch ost mit der epischen verwechselt; sie war ihm durch englische Literatur geläufig geworden.

Poetische Bilder, Be­

schreibungen, malerische Stellen sind in seinem Wittekind am mei­ sten hervortretend.

Haller u. A.

Er wurde hierdurch Borgänger von Brockes,

Er regte das heroische Epos an, und seit dieser Zeit

wurde die Romanliteratur

von

den

neuen Versuchen des Epos

durchkreuzt [l01]. Weltlich lyrische Poesie.

In Schlesien erhielt sich noch bis zum Anfang des 18. Jahrh, namentlich für die lyrische Dich­

tung eine lebendige Thätigkeit.

Wie Opitz seine unmittelbare Nach­

folger hatte, so auch die zweite Schlesische Schule.

Von Hoffmanns-

witzige Antithesenspiel und die galante Sprache nach, und von Lohenstein den rhetorischen Prunk; das

waldau ahmte man das

kecke Spiel aber mit der Sinnlichkeit der Liebe, wie es bei Hoff-

mannswaldau hervortritt, widerstrebte dem sittlichen Sinn der Meisten. Heinrich v. Mühlpfort (1639 — 83), Registrator in

Breslau [*•*], steht etwa in demselben Verhältnisse zu Hoffmanns-

waldau, wie Tscherning zu Opitz. Er schrieb meist Gelegenheits­ gedichte, Glückwünschungs-, Hochzeits- und Leichengedichte, und be­ trieb die Poesie als einen aufheiternden Genuß, als angenehmes

Spiel der Phantasie in den Mußestunden. Er bestimmte seine Ge­ dichte nicht für den Druck, sondern sie wurden erst nach seinem Tode herausgegeben. Die Sprache ist leicht und gewandt, und das Sinnreiche in Gedanken und Bildern läßt die italienische Schule erkennen.

Man kann indeß an den einzelnen Dichtern, welche im

Lyrischen die Richtung der zweiten Schlesischen Schule verfolgten, wahrnehmen, wie der Ueberreizung die Ermattung folgte. Man gab das Unnatürliche und Ueberstiegene nach und nach auf und

näherte sich der Opitzschen Manier; man schlug einen Mittelweg ein zwischen der correct verständigen Darstellungsweise Opitzens und dem Prunk und Schwulst der jüngeren Schule. Aus Schlesien ge­ hören hierher die Lyriker Hans von Assig (1650— 94), Hans

Aßmann Freiherr v. Abschatz (1646 — 1699) und Christian Gryphius. Die beiden ersteren haben mitHoffmannswaldau die

78

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

italienische Schule und Manier gemeinsam; beide hatten ihre Ge­

dichte nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt, sondern behandelten die Gelegenheitspoesie als ein Nebcnwerk.

Assigs gesammelte Schrif­

ten erschienen erst nach seinem Tode (1719).

Abschatz hatte in sei­

nen Lebensschicksalen viel Aehnlichkeit mit Andreas Gryphius [10S]; er machte viele Reisen in Frankreich, den Niederlanden und Ita­ lien, und ging später auf seine Güter. Als aber der junge hoff­ nungsvolle Georg

Wilhelm, Herzog von Brieg, Wohlau und

und

die drei Herzogthümer als offene Lehen vom

Liegnitz

starb

Kaiser Leopold eingezogen wurden, da ward Abschatz, indem man

bedacht war auf die Erhaltung der alten Schlesischen Rechte und Freiheiten, aus seiner ländlichen Zurückgezogenheit hervorgerufen

und als Abgeordneter bei den Breslauer Fürstentagen und am Wie­ ner Hofe an die Spitze der öffentlichen Geschäfte gestellt.

Doch

blieb der Sinn für das häusliche Leben und für ländliche Beschäf­ tigung

in

ihm lebendig, und

gerne zog er

ßeren Verhältnissen der Politik in rück.

sich

den Kreis

aus

den

grö­

seiner Familie zu­

In seinen Gedichten zeigt sich, wie bei Gryphius, eine ernste,

finstere Stimmung, und er sucht öfter das Rührende und Schwer-

müthige; doch erscheint dies alles in der glatteren Form der neue»

Schlesischen Schule milder und abgeschwächter.

Wenn seine Ge­

dichte auch nicht immer frei sind von Pomp und Schwulst,

so

sprechen sie doch oft wahre Empfindung aus, und zeugen von der gebildeten Phantasie des Verfassers. In Sprache und Gedanke

hält sich der Dichter in der Mitte zwischen Opitz und Hoffmannswaldau, mit dem er die Vorliebe für die Italiener theilte.

Er

übersetzte Guarini's Pastor fido und Tasso's Aminta.

Christian Gryphius, Sohn des Andreas, war Professor

und zuletzt Rector des Gymnasiums zu Breslau, wo er eine segens­ reiche Wirksamkeit hatte.

In seinen Jugendgedichten geht er na­

mentlich in den Liedern von geistlicher Farbe auf das Starke, Ge­ waltige und Erschütternde seines Vaters, geräth aber dabei öfter ins Geschmacklose und Platte.

Er ist ein Bewunderer von Hoff-

mannswaldau und setzt ihn über Opitz, doch

eifert er gegen die

Nachahmer der Italiener und Spanier und weist auf die französische Schule der Italiener des 17. Jahrhunderts.

Er führt auch auf

Opitz zurück und hält es für eine goldene Regel, die gebundene Rede nicht gezwungener als die prosaische zu machen, worin er die

Richtung der Sächsischen Dichter auf das Ungezwungene und Na­

turelle theilt, das an die Stelle des Uebertriebenen und Pathe-

79

-is zum ersten Viertel des 18* Jahrhunderts. tischen gesetzt wurde.

Noch längere Zeit erhielt sich bei den Schle­

siern das Galante in Liebesliedern und Gelegenheitsgedichten.

Uebergang von Hoffmannswaldau zu

den

Den

französischen Dichtern

stellt vorzüglich Benjamin Neukirch in seinen lyrischen Gedich­

ten dar.

Er war 1665 im Glogauschen geboren [*04]; von einem

Breslauer Gymnasium ging er auf die Universität nach Frankfurt,

um die Rechte zu studiren.

Er setzte seine Studien in Halle fort,

und ging später nach Leipzig, wo er als Verehrer Lohenstein's 1689 die erste Ausgabe des Arminius besorgte. Von 1696—1713 hielt er sich in Berlin auf, wo er anfangs als Sachwalter thätig

war;

doch im Vertrauen aus seine dichterische Gaben verließ er

seine juristisch« Laufbahn und wandte sich gänzlich der Poesie zu. Doch" sah er sich in seinen Erwartungen getäuscht, als Hofpoet sein

Glück in Berlin zu machen (f. unten), und gerieth in eine drükkende Lage. Endlich erhielt er eine Anstellung an der damals neu errichteten Ritterakademie zu Berlin, doch mit so kärglicher Besol­ dung, daß seine äußere Noth dadurch nicht gehoben wurde. Durch seine Verbindung mit dem Berliner Hof gelangte er zuletzt zu einer

Prinzen-Erzieherstelle am Anspachschen Hofe; er gab hier seine Sa­ tiren und Episteln heraus (1727), und übersetzte Fenelon's Tele­ mach in Alexandrinern. Er starb im I. 1729. Neukirch dichtete

anfangs in Hoffmannswaldau's Manier; seine Lieder erschienen in einer von ihm besorgten Sammlung von Gedichten: „des Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Deutschen auserlesene und bis­

her ungedruckte Gedichte," Leipz. 1695 — 97. Diese Sammlung ist als der erste deutsche Musenalmanach anzusehen, dem der Name

Hoffmannswaldau zur größeren Empfehlung dienen

sollte; unter

deffen Namen wurde vieles ausgenommen, anderes in seiner Ma­ nier gedichtet.

Es zeigt diese Sammlung die völlige Nüchternheit

der Poesie in dieser Zeit und schließt gewissermaßen die Schlesische

Dichlerzeit ab.

Von Werth ist die Vorrede, welche Neukirch dem

ersten Theil der Sammlung beigefügt hat, indem er in derselben

ein richtiges Bewußtseyn über die Poesie der damaligen Zeit aus­

spricht. Er bemerkt, daß mit der bloßen Gelegenheitsdichterei, wo­ mit sich alle Knaben in der Schule quälten, noch nichts ausgerich­ tet sei, und es entstände hieraus nur die Einbildung, als brauche

man zum Dichten weiter nichts als Verse machen, und doch wären die wahren Dichter wie die Paradiesvögel, die sich alle tausend Jahr kaum einmal sehen ließen.

Es gebe freilich fast keine Provinz, die

nicht elliche Helden oder Gelehrte aufzuweisen habe, aber der ganze

80

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Erdkreis der Welt rühme sich kaum etlicher wahrhaft großer Dich­ ter.

Um zu zeigen, wie weit die deutsche Poesie gestiegen sei, kommt

er auf die namhaftesten Dichter.

Er erkennt die Verdienste Opitzens

an, welcher die Bahn gebrochen habe.

Er nennt seine Nachfolger

und Nachahmer; doch seyen diese alle durch Gryphius, Hoffmanns-

waldau und Lohenstein übertroffen; er kommt auf die Anhänger

der zweiten Schlesischen Schule, und klagt über die große Masse

der Poeten. Das Schnattern der Gänse sey so groß, daß man die

Schwäne davor nicht hören könne.

Wenn doch nur Jeder sich prü­

fen wollte, ob er einen natürlichen Trieb zur Poesie habe oder nur

ein gemachtes Verlangen; im letzteren Fall müsse er das Dichten

ganz bleiben lassen, und im ersteren Falle erforschen, wie weit die Begierde gehe: ob man ein bloßer Versmacher oder ein galanter

Dichter oder in der Poesie groß zu werden gedenke.

Indem er den

größten Dichtern gegenübergestellt die Versmacher und Gelegenheits­ dichter, die besser gar nicht existirten, empfiehlt er dem Haufen der

Poeten die mittlere Sphäre, die Klasse der sogenannten galanten Dichter, für welche Ovid, Martial, Ausonius [l0S] Muster seyen,

feurige, aufgeweckte Gemüther, im Erfinden kurz, im Ausführen hurtig, in Gedanken seltsam; sie rcpräsentire in Deutschland Hoff-

mannswaldau als Muster, der unser Ovid geworden, der zuerst die liebliche Schreibart eingeführt, an Tragödien und Epopöen aber sich nicht gewagt habe. Wir sehen hier schon den allmähligen Ueber» gang Neukirch's vom den concetli der Italiener zu dem espril der Franzosen; statt seltsamer Bilder und Gleichnisse werden seltsame, überraschende Gedanken gefordert.

In seinen lyrischen Gedichten

trifft er den eleganten Ton Hoffmannswaldau mehr als irgend ein

Anderer, er führte die Maaße und Strophen, und den espril und die bon-mots der neueren französischen Lyriker zuerst nicht ohne

Gewandtheit ein.

Im Verlauf seiner weitern Ausbildung sagte er

sich von den schlesischen Vorbildern los, die von Nieder- und Ober­ sachsen angefochten wurden, und als er nach Berlin kam und von Canitz auf Boileau und auf französische Dichtung hingewiesen wurde, so ward er ein empfänglicher, treuer Schüler derselben, und versuchte sich in poetischen Satiren und Episteln nach den berühm­ ten französischen Mustern.

Für die lyrische Poesie bezeichnete er den

Weg, auf welchem später durch Hagedorn nach französischen Mu­ stern (Chaulieu) [loe] eine andere Lyrik an die Stelle der schlesi­

schen trat. Geistliche lyrische Poesie [l0,J;

auch

in

diese drang

81

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

Bilderprunk und Schwulst der zweiten Schlesischen Schule; das Unwahre der Empfindung giebt sich kund in dem gekünstelten An­ tithesenspiel und in unsauberen Gleichnissen. Hoffmannswaldau

begann mit geistlichen Poesien und schloß mit weltlichen.

Außer

geistlichen Oden schrieb er poetische Geschichtsreden: die erleuch­ tete Maria Magdalena; die Thränen der Tochter Jephthä; die Thränen Johannis unter dem Kreuze; Klage Hiob's aus dem

dritten Capitel.

Lohen stein's geistliche Gedichte sind schon oben

bezeichnet; sie leiden ebenso sehr an den widrigsten Ueberladungen

und nassesten Bildern, als gläubige Tiefe und Innigkeit ihnen fehlt. Ab sch atz schrieb geistliche Poesien, wie Lohenstein, unter dem Titel: „Himmelschlüssel;" doch steht er durch seine Lebensschicksale

zu Andreas Gryphius in einer näheren Beziehung, und es tritt bei

ihm eine Vereinigung von religiösen und moralischen Betrachtungen hervor, die sich an die Natur anknüpfen, wie sie den Hamburger

und Schweizer Dichtern eigenthümlich ist.

ChristianGryphius

folgte gleichfalls in seinen geistlichen Gedichten vorzüglich dem Vor­

bilde seines Vaters.

Es blieb die Hoffmannswaldau-Lohensteini-

sche Dichtungsweise auch nicht ohne Einfluß auf die geistliche Lie­

derdichtung der Pietisten. So lange ächt religiöse Begeisterung im Pietismus lebendig war, gingen aus ihm Lieder hervor voll religiö­ sen Schwungs, die sich den psalmistischen, hymnolvgischen Dichtun­ Wolfgang Christoph

gen der früheren Jahrzehnte näherten.

Deßler (Conrektor in Nürnberg f 1722) bicfytete geistliche Lieder,

welche an den Schmuck der Lohensteinschen Schule erinnern; doch sind sie bei ihrem Bilderreichthum nicht ohne Lebendigkeit und Innigkeit des Gefühls, und zeugen von dem wahrhaft dichterischen Sinn des

Verfassers.

Als die Anhänger des Pietismus sich immer mehr nach

außen hin abschloffen und sich für die Allein-Christlichen hielten, als der Separatismus zur Intoleranz und Sectirerei führte, da hörte die freie geistige Bewegung auf, die vom Pietismus ausge­

gangen war.

Der Herrnhutismus, vom Grafen von Zinzen-

dorff (1700—1760) gestiftet,

Pietismus.

bezeichnet diese Einseitigkeit

des

Es entstanden Sammlungen geistlicher Lieder und Ge­

sangbücher wurden herausgegeben, wie von Anastasius Frey­ ling Hausen (1670 — 1713), dem Schwiegersöhne Francke's, und von I. Jak. Rambach (1693 —1735), Professor der Theologie

in Gießen.

Eine große Anzahl von Jesusliedern wurde gedichtet,

die voll sind von affectirter Tändelei, sich in Gleichnissen er­ schöpfen und in dunkeln Vorstellungen von der Einheit der Seele

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

6

82

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

mit Gott. Die nur geringe geistige Auffassung von dem Versöh­ nungstode Christi und von seiner Liebe führte zu einem antitheti­ schen Spiele mit den Leiden und den Wunden Jesu und mit der Liebschaft der Seele zu demselben. Man kam zurück auf Scheffler's Dichtungen mit ihren katholisirenden Bildern; die Phantasie verlor sich endlich in den sinnlichsten, gröbsten Ausschweifungen, und die Poesie wurde in ein Gebiet versetzt, wo sie den frivolsten Gedichten von Hoffmannswaldau begegnete. In Hamburg arbeitete Hunold dieser sinnlichen Ueppigkeit und Ausschweifung der Pietistcnschule entgegen, doch zuletzt bekehrte er sich und verließ zugleich die un­ christliche Operndichtung. DramatischePoesie. Lohenstein setzte das heroische Trauer­ spiel nach dem Vorbild des Gryphius fort. Während bei diesem schon die Handlung zurücktritt und sie nur die Trägerin ist von Reden, Sentenzen und Schilderungen, wird dies alles noch von Lohenstein überboten in Antithesen, in gezwungenen Metaphern, in pomphaftem Schwulst, welcher jede Empfindung übertäubt. Hier­ zu kommt noch, daß der Dichter alle Arten von Torturen und Hinrichtungen auf die Bühne bringt [l08J. Sein erstes Stück ist Ibrahim Bassa, den er in seinem 15. Jahre 1651 verfaßte; es gehört noch zu seinen besten, insofern die späteren in Bezug auf An­ lage und hinsichtlich der Anwendung des Schrecklichen immer schlech­ ter wurden. Zehn Jahre später schrieb er die Cleopatra, die sehr wenig Handlung hat, und voller Intriguen ist, welche die Hauptpersonen gegen einander spielen. Es kommen hier politische Berathungen, parlamentarische Unterhandlungen vor, und das Ganze giebt ein Beispiel von den sogenannten Haupt- und Staatsactio­ nen [108b], wie sie nach Lohenstein häufiger wurden, die das Le­

ben und Treiben der Großen der Welt veranschaulichen sollen. Im Jahre 1665 erschienen Agrippina und Epicharis; in der erste­ ren zeigt sich Lohenstein's Hang zu Gräuelscenen und zur Darstel­ lung unsittlicher Rohheiten, und seine Epicharis wird widerwärtig durch die vielen Foltern und Hinrichtungen. Die Sophonisbe, 1666 geschrieben, ist der Form nach reiner, und hat mehr Hand­ lung und Zusammenhang, doch ist der Charakter der Sophonisbe ganz verfehlt. Das letzte Stück, Ibrahim Sultan, schrieb Lohenstein zur Vermählungsfeier Kaiser Leopold's I. (1673); hier kommen gräuelhafte türkische Sultansgeschichten vor, in denen Unzucht und Barbarei herrscht. Solche Stücke gewähren eine Anschauung, wie groß die geistige Abspannung der Deutschen nüch dem dreißigjähri-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

83

gen Kriege war, da so heftige, gewaltsame Reizmittel nothwendig

wurden, und wie alle rein menschlichen, sanfteren Empfindungen unterdrückt waren. (Lohenstein's Trauer- und Lustgedichte erschienen Breslau 1680). Es leiten die Lohensteinschen Dramen zu den Ayrerschen Spectakelstücken zurück, nur daß sie Gelehrsamkeit, pomp­ hafte Verse und Marinische Witzspiele voraus haben. Nachfolger der Lohensteinischen Manier waren Joh. Christian Hallmann (t 1716) aus Schlesien [,oe] und A. v. Haugwitz aus der Lausitz [l10]; doch führen sie beide allmählig von dem heroischen Trauerspiel theils zu dem Volksmäßigen, theils zu dem Hofschau­ spiel, dem Ballett und der Oper. Hallmann unterscheidet zwar zwischen der gelehrten und der charlatanischen Bühne; doch dichtete er schon Pastorelle und Singspiele, in welchen komische Figuren improvisiren und die Harlekinsspäße im Volksdialekt wiederkehren. Haugwitz schrieb, wie Hallmann Dramen in Lohe'nstein's Manier; als er aber für die Dresdner Bühne beschäftigt wurde, richtete er Pariser Ballette ein und leitet aus Schlesien nach Sachsen hin­ über, wo die Reaction gegen das Gelehrte, Heroische und Bomba­ stische sich Geltung verschaffte, und das volksmäßige Element ent­ schieden hervordrang. Indeß waren außerhalb Schlesiens wenig poetische Talente für das Drama thätig, weil das Singspiel und die Oper an den Höfen und in den bedeutendsten Reichsstädten das Uebergewicht bekamen. Die Oper bildete gleichsam den Gipfelpunkt, wohin das Schaufpielwesen des 17. Jahrh, hinstrebte [«“]. Die Musik war schon auf vielfache Weise in eine innere Beziehung zur Poesie getreten, und namentlich wurde ihre Wirksamkeit für das Drama benutzt. Schon ganz früh wurden in die ältesten Schau­ spiele Kirchenlieder und Choräle eingeflochten. Ayrer wandte die Musik noch häufiger in seinen Stücken an, und die gelehrten Dra­ men von Gryphius an hatten sämmtlich am Schluffe jedes Actes Reyhen (Chöre). Ferner waren Klay's Aufführungen eine Art von Cantaten oder Oratorien und endlich galt Opitzens Daphne bei Vie­ len als die erste Oper. Der Componist Giac. Peri, welcher Rinuccini's Daphne in Musik setzte, kam bei der Untersuchung über die antike Deklamation auf das Recitativ, und es bildete sich bald die Ansicht bestimmter aus, daß die Arie als Erklärung des Recitativs das Zierlichste und Köstlichste der Poesie und die eigentliche Seele der Oper sey. Indeß blieb man bei dieser einfachen Gestaltung nicht stehen, sondern die Oper erschien bald als diejenige Gattung, in der alles herangezogen werden könne, was das Aug' und Ohr 6 *

84

Erste Periode.

Bom Anfang des 17.

ergötze. Alle Kunst, Musik, Malerei, Architectur und Poesie sollten in ihr zusammenwirken, Sinnenreize aller Art sollten angewandt werden, Maschinenkunst, Feuerwerk, Tanz, Geisterscheinungen, Tur­ niere, Schlachten. Es wurden die ungeheuersten Anstrengungen ge­ macht und die Schaulust steigerte sich zu einer Art von Wuth. Um 1700 kamen im Durchschnitte wol 15 Opern auf Ein Schauspiel. In Dresden, welches ein Mittelpunkt des gesammten Bühnenwe­ sens in Deutschland war, blühte die Oper rasch empor, für welche außer vielen Andern vorzüglich Schirmer und Christian De­ dekind die Texte verfertigten. Doch den höchstenFlor gewann sie zu Hamburg, wo 1678 der vielgereiste Rechtsgelehrte Gerhard Schott das Opernhaus gründete. Es war hier bald eine große An­ zahl von Dichtern für Operntexte thätig, und unter diesen zeichne­ ten sich am meisten Postel, Hunold und Barthold Feind aus. Unter vielen Componisten arbeitete besonders Kayser aus Sachsen für die Oper, und auch Händel hielt sich von 1700 — 1709 in Hamburg auf und wetteiferte in seinen ersten Opern mit Kayser. Hamburg hatte das größte Opernhaus, von welchem ge­ rühmt wurde, daß die Seitenscenen 39 mal, die Mittelscene wol etliche 100 mal verändert werden könnten. Da nun aber für die Oper alles Schaugepränge aufgewandt wurde, was nur irgend die Sinne reizen konnte, so trug sie den Keim des Verfalls und der Ausartung in sich; ihre Blüthe war eine verfrühte, und Barthold Feind selbst spricht es aus, daß wir bei dem großen Reichthum an Opern arm seyen und nennt die Zeit das sterbende Säculum des Poeten. Hierzu kam, daß, wie das Trauerspiel allmählig von dem volksmäßigen Lustspiel verdrängt wurde, so auch an die Steve der heroischen Oper die komische trat, und diese wurde eine Hauptursache des Verfalls der Tonkunst. In Hamburg war bald ein heftiger Streit durch die Theologen über die Zulässigkeit der Oper hervor­ gerufen. Anton Reiser schrieb 1681 eine Theatromania, und da­ gegen erschien eine Theatrophania von Christoph Rauch. Die an­ gesehensten Dichter selbst, der Uebertreibungen und Geschmacklosig­ keiten überdrüssig, verließen die Oper, Hunold reuig und aus moralischen Scrupeln, Postel nach dem Tode Gerhard Schott's. Hunold erklärte es seitdem für die edelste Beschäftigung seine Poe­ sie dem Himmel zu weihen; Postel dagegen wandte sich zum Epos, welches den Gang des Dramas unterbrach. Dies epische Element giebt sich in den geistlichen Oratorien zu erkennen, die als Gegensatz zu den Opern von Bach und Handel begünstigt wurden,

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

85

und hierin liegen zugleich die für die Erscheinung des Klopstockschen

Epos vorbereitende Entwickelungspunkte. Didaktische Poesie.

Das Lehrgedicht wurde von Bart­

hald Feind behandelt, der als Licentiat der Rechte in Hamburg lebte, später in schwedische Dienste trat und zuletzt im dänischen Ge­

fängnisse in Rendsburg starb (1721).

Seine satirische Polemik zog

ihm den Ruf eines Pasquillanten zu und er wurde deshalb ver­ folgt; seine Papiere sollen zweimal vom Henker verbrannt worden seyn. Feind hatte auf seinen vielen Reisen sich eine weltmännische

Bildung angeeignet und war vertraut mit den fremden Literaturen, und kannte vornehmlich die französische Poesie des Corneille und Racine, die Philosophie des Descartes und die Kritik des Boileau. In seinen Lehrgedichten: „die vornehmsten Weisen; die Fortpflan­

zung der menschlichen Seelen; die Unsterblichkeit der Seelen" zeigt sich seine philosophische Bildung, deren Ergebnisse er poetisch behan­ delte und so zuerst Philosophie und Dichtung in engere Verbindung brachte.

Eine Sammlung

seiner Gedichte erschien 1708.

Von

Werth ist ein Aufsatz von dem Temperamente der Poeten, der vor seinen Gedichten steht t11*].

Die Satire ward vonNeukirch weiter ausgebildet, indem er nach Boileau's Vorbilde sie benutzt, um eine Kunstkritik auszu­ üben [MSJ. Er läßt seinen Haß gegen die elenden Dichter aus

und preist die großen Muster an; er kämpft gegen die Marinisten und zeigt auf die alten Klassiker hin.

Außerdem schließt er sich an

Juvenal, wenn er seine Geißel über die herrschenden Uebelstände der

Zeit schwingt.

In der ersten Satire „von der Wollust" spricht er

von der Cultur mit ihren üblen Einflüssen und führt mitten in die wirklichen Zustände Berlins ein, und hier find es nicht die unte­ ren Stände, in welchen sich, wie bei Lauremberg oder Rachel, die vom Ausland kommende Cultur durch die Modenarren und Repu­ tationshelden als caricaturartige Zerrbilder darstellen, sondern wir

werden in die höhere Gesellschaft geführt.

Eben dies zeigt sich auch

in der zweiten Satire, wo Neukirch von der falschen Ehrsucht spricht; die Reputationssucht dringt in feinere Verhältnisse und befleckt auf heimlichere, gleißendere Weise die Charaktere. Die vierte Satire „wider die heutige Erziehung der Jugend" "ist gegen die bereits

überall herrschende fremde Cultur gerichtet.

Von besonderem Inte­

resse ist die sechste Satire „wider unwissende Richter," welche Neu-

kirchs poetisches Glaubensbekenntniß enthält.

Hier wird die ächte

Kritik als in Deutschland fehlend vermißt oder ersehnt, und das

86

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

Förderliche der Kunstkritik in Aussicht gestellt [,14J.

Die Satiren

und Episteln Neukirch's erschienen zuerst 1727 mit G. B. Hankes Gedichten.

Neukirch bezeichnet bei seinem sich Abwenden von der Schlesi­ schen Schule den Uebergang ebensowohl zu dem volksmäßig Natür­

lichen der Sächsischen Dichter als auch zu dem französischen Ge­

schmack der Hofpoeten. 3. Reaction gegen die zweite Schlesische Schule. a. Die volksmäßig natürliche und hofmäßig galante Dichtungsweise. Schon unter den Anhängern von Hoffmannswaldau und Lo­

henstein zeigte sich die Neigung aus der unnatürlichen Höhe herab­ zusteigen und sich der Opitz'schen Manier zu nähern.

Bestimmt

trat in Christian Gryphius die Richtung auf das Natürliche her­ vor, indem er die gebundene Rede nicht gezwungener als die pro­ saische haben wollte. Wie nun Neukirch dem Haufen der Poeten die mittlere Sphäre zwischen den größten Dichtern und den bloßen

Versmachern anwies, so hatte Christian Weise [,,s] die Mit­ telmäßigkeit zum Princip erhoben und die Natürlichkeit zum Weise war 1642 in Zittau ge­ boren ; sein Vater war früher protestantischer Prediger in Böhmen

Wahlspruch seiner Poesie gemacht.

gewesen, hatte aber um der Religion willen fein Vaterland verlas­ sen müssen und in Zittau Zuflucht gefunden, wo er als Lehrer an der Schule angestellt wurde. Nachdem sein Sohn eine sorgfältige

und vielseitige Ausbildung erhalten hatte, bezog derselbe 1660 die Universität Leipzig und studirte hier mit regem, rastlosem Eifer Phi­ losophie und Theologie, Rechtswissenschaft und Arzneikunde.

Im

Jahr 1663 trat er selbst mit großem Beifall als Lehrer der Poe­ tik, Rhetorik und Moralphilosophie auf, wurde aber in dieser Wirk­

samkeit gestört, indem er dem Rufe des Grafen von Leiningen-

Westerburg folgte, um als Secretär in dessen Dienste zu treten. Dies für ihn angenehme Verhältniß wurde aber aufgelöst, als der

Graf Kriegsdienste nahm, worauf Weise nach Helmstädt ging, und

hier vom Professor Conring dem Grafen Schulenburg zum Erzieher seiner Mündel empfohlen wurde.

Er lebte nun als Hauslehrer bis

1670 auf dem Lande zu Amfurth, und erhielt darauf einen Ruf

als Professor der Politik und Beredsamkeit an das damals blühende

Augusteum zu Weißenfels, und hier wirkte er bei seinen reichen, viel umfassenden Kenntnissen und bei einem seltenen praktischen Blick mit solchem Eifer und solchem Gedeihes, daß die Zöglinge aus der

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

87

Nähe und Feme dem Augusteum zuströmten. Mit seiner amtlichen Wirksamkeit verband er eine unermüdete literarische Thätigkeit, die sich besonders aus diejenigen Fächer bezog, welche er lehrte. Im Jahr 1670 ward er in seine Vaterstadt zurückgerufen, um dort das Rektorat des Gymnasiums zu übernehmen. Diese Anstalt blühte in den 30 Jahren, während welcher er sie leitete, zu einer der geachtetsten und besuchtesten des Landes auf. Seine amtliche und li­ terarische Thätigkeit war jetzt ausschließlich der Jugend gewidmet, er suchte mit Klarheit und auf eine anziehende Weise das für das Leben Brauchbare aus der Fülle seines Wissens mitzutheilen. Auch die Poesie mußte von jetzt an seinen pädagogischen Zwecken dienen. Im Jahr 1700 fühlte er die ^Abnahme seiner Kräfte und mußte sein Amt niederlegen; er versammelte noch einige Male seine Schü­ ler um sein Lager und starb den 21. Oktober desselben Jahrs. In seinen theoretischen Schriften über Poesie und Beredsamkeit führte Weise bei seinem entschiedenen Kampf gegen das Uebertriebene und Pathetische, gegen alles Heroische und Erhabene zu dem Ungezwun­ genen und Natürlichen, und näherte sich somit auch wieder dem Volksmäßigen. Obgleich er urtheilte, daß die Poesie seit Opitz deshalb nicht weiter gekommen sey, weil sie nur als Nebenwerk be­ handelt werde, und er den Begriff von einer höheren Poesie hatte und die ächten Muster kannte, so lenkte er doch selbst von diesen ab und trug zu der Mittelmäßigkeit unserer Poesie mit bei. In seinen „Curieusen Gedanken von deutschen Versen" (Leipzig 1691) un­ terscheidet er zwischen einem Poeten und einem Professor der Poe­ sie, und bemerkt, daß eigentliche Poeten, wie Virgil und Homer, jetzt nicht mehr möglich wären, denn diese hätten, wie es der Dich­ ter sollte, alle göttliche und menschliche Weisheit in ihren Gedich­ ten dargestellt, die wir Christen aber anderswo, nicht in der Poesie suchten. Das hundertste Ingenium sey nicht zu großen Dichter­ werken fähig und Opitz habe in seinem Herd- und heimathlosen Le­ ben gezeigt, wie wenig es wünschenswerth sey, ein bloßer Dichter zu seyn. Die Poesie gelte jetzt nichts mehr als eine Dienerinn der Redekunst und sie könne als ein manierliches Nebenwerk betrieben werden, und hierfür könne man Regeln entwerfen. In seiner Schrift „der grünen Jugend nothwendige Gedanken" (Leipz. 1675) sagt er: „Allein dieses sind meine Gedanken; sofern ein junger Mensch zu etwas Rechtschaffenes will angewiesen werden, daß er hernach mit Ehren sich in der Welt kann sehen lassen, der muß etliche Ne­ benstunden mit Bersschreiben zubringen." Er legte daher die Re-

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Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

geln der Dichtung für den Schulgebrauch an, um darnach Exereitien machen zu lassen, erkennt aber gleichwohl an, daß alles Regel­

wesen nichts helfe, da es die Realien nicht lehre, die der geputzten

Kutsche erst einen Gast gaben, der

den Schmuck auch verdiene.

Solche Ansichten riefen zwar manche Opposition hervor^, dennoch wurde jetzt dem Planen und Wässrigen überall in der Poesie Eingang gestattet. Namentlich folgten die Polyhistoren, Pastoren und Schulmeister, die

in Nebenstunden zu

poetisiren ansingen,

sich mit Bestimmtheit

dagegen aussprachen, daß die Poesie Lebensaufgabe seyn dürfe, und nur neben solideren Studien sie betrieben wissen wollten; hieraus

entstanden den."

die

weit

verbreiteten

„poetischen

Erquickstun­

Weise hatte sich bei seiner Vielschreiberei nach verschiedenen

Seiten hin versucht, doch am meisten zeichnete er sich in seinen

Prosa-Satiren, in seinen Romanen und Schauspielen aus, in denen er überall auf das Bolksmäßige zurückleitete. Für die lyrischen Ge­ dichte dringt er auf die Verbindung mit der Musik; hierdurch kam ein ebener Fluß in die Perioden, in die einzelnen Strophen ein gleicher Satzbau und gleichzeitige Abschlüsse des Sinnes, damit die Musik auf jede einzelne Strophe paffe. In seinen Liedern ist der populäre

Ton vorherrschend und sie verhalten sich gegen die gespreizten Schä­ ferlieder der Zeit, wie Nitharts Bauernlied gegen das Minnelied.

Auch in seinen Kirchenliedern strebte er nach alter Einfalt. Unter den vielen Anhängern Weise's können vorzüglich Daniel Georg Morhof (1639—91)[l,e] und Erdmann Neumeister(1671—

1756) namhaft gemacht werden. Jener aus Wismar gebürtig, wurde Professor der Dichtkunst zuerst in Rostock und zuletzt in Kiel. Er hatte sich durch

das Studium der Schriften Weise's und Flem-

ming's, welchen er entschieden über Opitz emporhebt, für seine Ge­ legenheitsgedichte den heiteren, humoristischen Ton angeeignet. Sein

Hauptwerk ist sein „Unterricht von der teutschen Sprache und Poe­

sie" (Kiel 1682), dem seine Gedichte angehängt sind.

Erdmann

Neumeister war aus der Nähe von Weißenfels, wurde an meh­

reren Orten als Prediger angestellt, zuletzt in Hamburg; er hat sich vorzugsweise in geistlichen Poesien versucht.

Endlich ist noch Burk­

hardt Mencke (1675 —1732), Professor der Geschichte in Leip­ zig, zu nennen, der von der Hoffmannswaldauschen Manier zu der Weiseschen überging er schrieb vermischte ernsthafte und scherz­ hafte Gedichte, welche nichts als platte Gelegenheitspoesie ist, worin

sich die Vorliebe für die kleinen, engen Haus- und Provinzialverhältniffe zu erkennen giebt. Er schrieb auch Satiren, für die

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bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

er sich Boileau zum Vorbilde nahm, und den Grundsatz befolgte,

Personen von hohem Stande, Ansehen und Vermögen, deren Laster und Schwächen der Satiriker straft, nicht bei Namen zu nennen, dagegen Personen, wobei man keine Gefahr laufe und die ohnehin verhaßt und infam genug seyen, illuslrationis causa namhaft zu ma­

chen.

Auch hierbei stützte er sich auf das Beispiel Boileau's, wel­

cher sich durch seine Satiren die Pension eines Historiographen ver­

diente, dafür aber auch den König nie getadelt hatte. Indem Mencke die französische und englische Literatur studirte und durch Uebersetzun-

gen auf sie hinwies, entfernte er sich immer mehr von Weise, der ein durchaus deutsch gesinnter Mann war, und indem er durch fran­

zösische Dichter zu dem Begriff einer Hofpoesie gelangte, tritt er aus der Reihe der schulmeisterlichen Gelehrten heraus in eine andere der Hofgelehrten. Es trat jetzt der Richtung, welche die Poesie zu bloßem Zeit­ vertreib herabzog und dadurch die Mittelmäßigkeit in derselben be­ gründete, Kritik und Polemik entgegen, wie sie bisher noch nicht

in Deutschland statt gefunden hatte, indem gelehrte Zeitschriften und

Gesellschaften gestiftet wurden, die außer wissenschaftlichen Schrif­ ten auch die Werke der Poesie zum Gegenstände der Kritik mach­ ten.

Frankreich, wo das moderne Hofleben sich am glänzendsten

entwickelte, war das Mutterland der höfischen Akademien und So­ cietäten; Ludwig XIV. war der Erste, welcher in den glänzenden

Apparat seiner Hofhaltung auch die Gelehrten, die Dichter und Künstler einreihte. Nach dem Vorbild des Journal des savans ent­

standen 1682 in Leipzig die acta eruditorum [‘ *•].

An die Spitze

der Gesellschaft trat Otto Mencke, Burkhardt's Vater, welcher

die ganze Unternehmung stiftete und leitete; nach seinem Tod trat

sein Sohn an seine Stelle, der hier seine hauptsächliche Wirksam­

keit entwickelte, während er als Dichter unbedeutend war.

Wie

man nun in dem Journalwesen mit den Franzosen zu wetteifern anfing, ebenso zogen die glänzenden und geschmackvollen Dichter

des französischen Hofes die Aufmerksamkeit in Deutschland auf sich und fanden vorzüglich an deutschen Höfen Anklang.

Diese Rich­

tung ward noch mehr begünstigt durch emigrirte Protestanten, die sich an deutschen Höfen niederließen und namentlich in Hannover

und Berlin französische Bildung verbreiteten. Durch die Königinn Sophie Charlotte in Preußen, eine hannoversche Prinzessin, kam

diese Bildung nach Berlin, wo Leibnitz (1700) nach dem Muster der französischen Akademie die dortige einrichtete.

Auf diese Weise

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

-rang die ftanzöflsche Literatur mit neuer Gewalt in Deutschland ein und ihre Einwirkungen wurden dies Mal um so bedertender

und nachhaltiger, als das Zeitalter Racine's gegen das des Ron­ sard, drr Opitzens Vorbild gewesen, glänzender und gediegener war,

und das politische Uebergewicht Frankreichs der Verbreitung ftanzöMit Eifer betrieb man die Grün­

sischer Literatur zu Hülfe kam.

dung neuer Zeitschriften und Gesellschaften, welche schnell dieTheilnahme an Sachen der Literatur ausbreiteten und befestigten. In Hamburg entstanden die novae literariae Germaniae durch Fabricius, Richey u. a., und es gab Thomasius 1688 das erste deutsche Jour­

nal heraus „Freimüthige Gedanken."

Zu dem überall auftauchen­

den Journalwesen kam das Gesellschaftswesen, indem man nach dem Untergange der alten Sprach- und Poesiegesellschaften neue Vereine

zu gründen bestrebt war. Es wurden neue Entwürfe zu neuen gemacht und vorzüglich war Leibnitz hierfür

Sprachgesellschaften

thätig und hatte dabei die schimmernde Wirksamkeit der französischen

Akademie im Auge. Es blieb indeß bei den Entwürfen; nur zu Leipzig entstand 1697 die görlitzische poetische Gesellschaft, von der Burkhard Menck« zum Präses erwählt wurde.

Aus dieser ging

unter seiner Leitung 1722 die deutschübende und 1727 die deutsche Gesellschaft s"') hervor, welche später durch Gottsched gehobenwurde. In Hamburg entstand 1715 gleichfalls eine deutschübende Gesell­ schaft. Durch das Journalwesen kam erst Verbindung in die bis­ her vereinzelten Bestrebungen der Gelehrten; es wurden Reibungen zwischen entfernt liegenden Orten möglich, wie zwischen Hamburg

und Wien, zwischen Königsberg und Zürich, und es bildete sich eine Kritik und Polemik, welche besonders für die ersten Decennien des

Sobald nun erst eine all­ gemeinere Theilnahme an der Literatur angeregt war, und die folgenden Zeitraums charakteristisch ist.

Schriften nicht mehr als Eigenthum abgeschlossener Zirkel, die sich

nur einander Schmeicheleien sagten, konnten angesehen werden, da traten auch die Werke der grundsätzlichen Mittelmäßigkeit aus den

poetischen Erquickstunden in den Hintergrund, und dies um so mehr als man an den französischen Dichtern neue Muster gewann so-

wol für die productiven als kritischen Bestrebungen.

Eine neue Poetik trat an die Stelle der bisherigen Prosodielehren, Boileau

verdrängte die Theoretiker der Opitz'schen Zeit und wies auf Horazens Dichtkunst hin, welche die des Scaliger beseitigte.

Es war

hierdurch im Gegensatz theils zu dem geschmacklosen Prunk, theils zu der farblosen Mittelmäßigkeit der damaligen deutschen Dichter

91

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

viel gewonnen, wenn auch Hofconvenienz und falsches Verständniß der Muster und Vorschriften des klassischen Alterthums die Porste

in neue Schranken einengte, die erst später durch Lessing gesprengt werden sollten. Hatten früher Opitz und seine Anhänger die Pro­

tection des Adels gesucht und waren mehrere Dichter selbst in den Adelstand hinaufgerückt, so trennten sich dagegen später die Gelehrten

von dem bisherigen Bunde mit Hof und Adel, und es bildete sich ein Kreis von schulmeisterlichen und polyhistorischen Gelehrten, die unabhängig und selbstständig für sich ihre Bestrebungen verfolgten.

An ihrer Spitze standen Weise und Morhof, und man suchte sich wieder der alten Volkspoesie zu nähern. Auf der anderen Seite wußten aber der Hof und der Adel die Poesie dadurch in ihren Kreis zu ziehen, daß sie der französischen Literatur ihre Theilnahme zu­

wandten, und es mußten die Dichter, die den Höfen durch Aemter

nahe standen oder durch ihre Productionen sich denselben empfehlen wollten, sich für ihre Dichtungen den französischen Hofgeschmack anzueignen suchen; hieraus bildete

sich eine neue Art von Hof­

poeten und Hofpoesie nach dem Muster der Pariser, und trat der schulmeisterlichen Dichtungsweise gegenüber [ll0J. Drei Höfe waren es vorzüglich im Osten von Deutschland, die zu einem erneuten oder neuen Glanze gelangten und an denen die Poesie sich unter französischen Einflüssen umgestaltete. In Wien erschien Karl VI. durch die Siege Eugen's in einer Glorie, wodurch

mannigfaltige Preisgedichte auf die kaiserliche Familie

veranlaßt

wurden. In Sachsen hatte Friedrich August 1697 die Krone von Polen gewonnen, und es herrschte Pracht und Luxus an dem neuen Königshofe. In Preußen setzte sich der Churfürst Friedrich III. die Königskrone auf und die gesammte Hofhaltung in Berlin erhielt dadurch einen neuen Glanz.

Hier führte der Freiherr Friedrich

Rudolf Ludwig v. Canitz [l21J den französischen Hofgeschmack in unsere Literatur ein. Canitz war 1654 in Berlin geboren, und

erhielt eine gründliche Bildung; schon in seinem 17. Lebensjahr be­

zog er die Universität, ging 1672 nach Leipzig, und unternahm nach beengten Universitätsstudien eine große Reise durch Deutschland, Italien, Frankreich, England und Holland. Nach seiner Rückkehr trat

er alsKammerjunker in die Dienste Friedr. Wilhelms und wurde später zum His- und Legativnsrath ernannt. In Gesandschaftsdiensten hielt er sich 1689 längere Zeit in Hamburg auf, und lernte neben Leip­ zig auch diese zweite Hauptstätte deutscher Bildung kennen.

In

Staatszcschäften thätig war er der geistreiche Diplomat, der in Ber-

92

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

litt am Hofe gern gesehen wurde. Auf einer Gesandtschaft in den Haag erkrankte er an einem gefährlichen Brustgeschwür; er nahm seine Entlassung und starb im 45. Jahre seines Alters 1699.

Ca­

nitz hatte sowol in Leipzig als auch in Hamburg Gelegenheit ge­

habt, den Zustand der deutschen Literatur kennen zu lernen, und

dieser mußte ihm als einem feinen, kenntnißreichen Weltmann ge­ ring erscheinen gegen die französische Literatur, wie sie sich in Pa­

ris gestaltet hatte; daher er sich für seine poetischen Produktionen ganz den französischen Mustern zuwandte.

Er besaß Klarheit und

Beurtheilungskraft genug, um das Schöne in den besseren Mustern zu erkennen, und ein gebildetes Sprach- und Kunstgefühl, um mit

einer gewissen Leichtigkeit und Anmuth zu dichten. Hierzu kam sein

edles, rechtschaffenes Herz, seine uneigennützige Freigebigkeit; daher er ebenso sehr durch seine Persönlichkeit imponirte als durch die schöne würdige Haltung seiner Dichtungen. Obgleich er nach der Richtung der damaligen Zeit die Beschäftigung mit der Dichtkunst als ein Nebenwerk ansah, so betrieb er doch dieselbe auf eine wür­

digere, geistigere Weise, und begründete namentlich eine Poesie des Anstandes und Geschmackes.

Er hat sich in verschiedenen Gattun­

gen der Poesie versucht, unter denen ihm aber das lyrische Gedicht und die Ode am wenigsten gelang, weil es ihm bei seiner vorherr­ schenden Berstandesrichtung an Tiefe des Gefühls und an Kraft

und Fülle der Phantasie fehlte. (Vergl. die Klagode über den Tod seiner ersten Gemahlinn). Die Wahrheit der Empfindung kann vor der Zudringlichkeit der Reflexion nicht zu ihrem Rechte kommen, und es spricht sich mehr eine verständige, welterfahrene Denkungs­ art in seinen Gedichten aus. Da er vorzüglich Boileau sich zum Muster nahm, so kam er auf die Satire, die ihm noch am besten

gelang. Es tritt hier, wie in seinem Verbilde, eine Polemik her­ vor, die sich an den damaligen Zustand der Literatur anschließt. Canitz richtet sich vornehmlich gegen die Pedanterie der Schulgelehrten und gegen die Romanschreiberei.

Er hält sich meistentheils im

Allgemeinen, um nicht durch Jndividualisirung persönlich zu wer­ den; er spottet mit lachender Miene der Fehler, nie der Menschen. Die vorzüglichsten Charakterschilderungen finden sich in der ersten

Satire „der Geizige" und in der zweiten „der zerstreute Poet." In der dritten Satire „von der Poesie" wendet er sich ebenso sehr

gegen die Dichter, welche die Natur überfliegen wollen, als gegen die Gelegenheitspoeten; er sagt dort:

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

93

„Durch Opitz stillen Bach gehn wir mit trocknen Füßen, Wo steht man Hoffmann's Brunn und Lohenstein'S Ströme stießen? Und nehm ich Bessern aus, wem ist's wohl mehr vergönnt, Daß er den wahren Quell der Hypocrene kennt?"

Die erste Sammlung der Gedichte v. Canitz besorgte I. Lange: Ne­ benstunden unterschiedener Gedichte, Berlin 1700, ohne Nennung

des Berfassers. Johann v. Besser (aus Kurland, 1654—1727) [114J war anfangs in der Hoffmannswaldauschen Manier befangen, doch durch Canitz wurde er in Berlin der französischen Literatur zugeführt.

Er

erhielt am dortigen Hof unter Friedrich I. eine Anstellung als Ceremonienmeister und Hofdichter, rückte in den Adelstand auf und

bildete die Ceremonienkunst förmlich aus.

In ihm schien der gol­

dene Lag der Poesie angebrochen zu seyn, da er für seine Lob- und

Ehrengedichte ungeheure Summen geschenkt erhielt.

Die Dichtkunst

galt ihm nicht mehr als eine Nebensache, sondern ward für ihn eine dienstliche Angelegenheit,

und seine Poesie producirte sich je nach

der Veranlassung, welche das Hofleben darbot, theils in lyrischer und dramatischer, theils in epischer Form.

Es entstand daher auch

eine gewisse Rivalität gegen andere Hofpoeten, und Beffer's Scheel­

sucht war nach Gottsched's Aeußerungen Schuld daran, daß Neukirch in Berlin unbeachtet blieb und fast im Elende verschmachtete. Nach Friedrich's I. Tode (1713) ward Besser entlassen, weil Frie­

drich Wilhelm I. solche Musenkünste nicht liebte und alle unnütze

Hofbedienungen abschaffte.

Durch ein Gedicht auf Eugen wollte

sich Besser in Wien empfehlen, doch seine Bemühungen blieben ohne

Erfolg. Durch den sächsischen Feldmarschall von Flemming gelang es ihm, in den Dienst des sächsischen Hofes zu kommen, wo er Ge­ legenheit genug fand, ein Gegenstand der Bewunderung zu werden

durch seine Ceremonienpoesie, die nach allen feinsten Regeln der Etikette ausgeklügelt war. Er trat hier in nähere Verbindung mit

Johann Ulrich König, der als junger Dichter von schönen Ga­ ben 1719 nach Dresden kam und dem alten Meister gefährlich zu werden drohte; doch König, weit entfernt, Besser's Nebenbuhler werden zu wollen, begehrte nur sein Schüler zu seyn, und war voll der

aufmerksamsten Rücksichten gegen den reizbaren, eitlen, aufbrausen­

den Alten, wofür dieser ihn mit den kostbarsten Schätzen seiner Cärimonialwiffenschaft bekannt machte. Er wurde Besser's Beigeord­ neter in Cärimonialsachen und dessen kritischer Gehülfe; doch die

Kritik, welche sich hier bildete, konnte nur auf Arußerlichkeiten

94

Erste Periode.

Dom Anfang des 17.

sich beziehen, es waren Kritteleien in Bezug auf Worte und Silben.

König gab später (1732) Besser s Schriften heraus, und diesi kön­

nen als Quelle zur Kenntniß des damaligen Hoflebens diener, da der Cäremoniendichter die Festzuge, Spiele und sogenannten Hof­ wirthschaften anordnete und die Werfe dazu reimte.

Johanr Ul­

rich v. König wurde Besser's Nachfolger im Amte.

Er war

1688 in Eßlingen geboren; er hielt sich eine Zeit lang in Hanburg

auf, wo er sich nach den dortigen Dichtern bildete, und vorzüglich

Opern schrieb.

In Dresden wandte er sich ganz derHospoefe zu,

und erregte große Bewunderung durch sein episches Gedicht „Au­ gust im Lager," wozu die Zusammenkunft der Könige von Polen

und Preußen im Lager bei Mühlberg den Stoff darbot.

erste Gesang „die Einholung" wurde 1735 vollendet.

Nrr der

Da in Dres­

den das Amt des Pritschmeisters, das sich hier vom 16. Zahrh. an ununterbrochen erhalten hatte, seit längerer Zeit unbesetzt zeblieben war, so ließ Friedrich August dem Dichter König das Amt in

der alten Art und mit dem bisherigen Namen antragen; dieser nahm es auch an, doch in ganz veränderter Gestalt. Dec alte Namen eines Pritschmeisters fiel weg, die vorige Kleidung desselben

wurde in die ordentliche eines alten römischen Herolds verwmdelt, und ihm selbst der Charakter eines Königl. Geheim -Secretärs und

Hofpoeten beigelegt. Es steckt aber in dem Heroldsrock noch immer

der alte Pritschmeister, welcher früher in seinen Festgedichten nur eine ins Einzelne gehende, prosaische Beschreibung von dem ganze» Wer­

laus eines Armbrustschießens und anderer Festlichkeiten lieferte. Auch

König stellt nicht Gemüthsbewegung und Handlung dar, sondern beschreibt in aller Breite Gegenstände aus der materiellen Welt, Körperstellungen, Cäremonien, Kleidung und Aufzüge.

Am Wie­

ner Hofe hatte bei Karl VI. eine ähnliche Stellung Karl Gustav

Heräus (aus Stockholm, 1671 —1730).

Außer seinen amtsmä­

ßigen, beschreibenden Hofpoesien lieferte er vorzüglich Preisgrdichte

auf die kaiserliche Familie, und unter diesen ist ein Gratulations­ gedicht auf Karl VI. in gereimten antiken Distichen [1,SJ.

In

Königsberg stimmte den Ton der Hofpoesie Joh. Val. Pietsch (1690—1733) an,

obgleich er nicht an einem Hofe lebte.

Er

besang sein königliches Fürstenhaus und die Siege Eugen's, und verschaffte sich dadurch die Professur der Dichtkunst. Er ist bekannt als Lehrer Gottsched's und bildete in seinen Vorträgen die Hof­

poesie theoretisch aus.

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

,b.

95

Einfluß der Reaction gegen die zweite Eihlesisihc Schule auf die einzelnen

Dichtungsarten.

Epische Poesie.

Die eigentliche Bedeutung der epischen

Poesie wurde während dieser ganzen Periode verkannt; wie man

EpoS und Roman mit einander vermischte, so galten die Preis­

gedichte der Hofpoesie für heroische. Man meinte, daß Besser in sei­

nem Heldengedichte aus Friedrich Wilhelm das Epos wieder erweckt

habe, und König's Gedicht „August im Lager" erregte gleichfalls alS ein heroisches große Bewunderung. Es ist in den Hospoeten das Streben da, mit feurigem, neuem, kühnem, männlichem, run­ dem Munde schwungreich zu singen, sie wollen sich in ihren Heroi-

cis über das Alltägliche empor schwingen, doch bleiben sie am Bo­

den kleben. Lyrische Poesie.

Das Gelegenheitsgedicht ist durchaus vor­

herrschend ohne die wahre Betheiligung des eigenen Herzens theils

in der trockenen, platten Art des Weiseschen Geschmacks, theils in

der glatteren, feineren Form der französischen Hofpoeten. Im geist­ lichen Liede strebte Weise nach der alten Einfalt zurück, er spricht in seinen „curiösen Gedanken" über die alte deutsche Volks- und Kirchenpoesie vor Opitz, und bemerkt, wie er oft versucht habe, die Alten in ihrer Simplicität zu imitiren, und sey dabei viel Dings

gewahr Horden, welches manchen in seinem Lorbeerkranze verborgen sey. Er dichtete einige fromme, einfache geistliche Lieder, denen aber

die Poesie der begeisterten Andacht älterer Liederdichter abgeht.

Es

folgtiH dieser Richtung viele, die ganz gewöhnliche und prosaische

Gedarrten in matten geistlichen Liedern zusammenreimten. Die Nach­ wirkungen des Pietismus stellen sich in Erdmann Neumeister (s. oben) und in Benjamin Schmolck (1672—1737) aus dem ^iestnitzschen dar, welche auf eine äußerliche Weise die pietistische Er­

regung des Gefühls in Verbindung bringen mis allen Vorfällen

und Berhaltniffen des Lebens, ohne daß diese als nothwendige Un­ terlage fjr die Gestaltung des inneren Menschen aufgefaßt werden. Beide dichteten zahllose Lieder in Rist's Manier, daher Schmolck

der Schlesische Rist genannt wurde. Neu meister lieferte auch mehrer« Oratorien und Cantatendichtungen über die Evange­ lien;

solche

Dichtungen waren für die musikalische Composition Empfindung und Beschreibung wechseln hier mit

bestimmt [l,4J.

einander ab, daher-auch die Verszeilen und Sylbenmaaße sich ver-

schiedmartig gestalten.

Es trug daher diese Dichtungsweise dazu

96

Erste Periode.

Bom Anfang des 17.

bei, die Sprache musikalischer zu gestalten und vor Allem die Herr­ schaft des Alexandriners zu erschüttern, der in seiner streng sym­

metrischen Bewegung die freie Sprache des Herzens und der Ein­ bildungskraft lange genug gehemmt hatte.

Was die geistliche Lie­

derdichtung Schmolck's anbetrifft, so zeigt sich

in derselben ein

geschmackloses Anhäufen von Bildern und Vergleichungen, die in

verschiedenen Liedern

häufig

mit denselben Morten wiederkehren.

Charakteristisch sind die Titel seiner Liedersammlungen: „Geistlicher Pestweihrauch," „Freudenöl in Traurigkeit," „Geistlicher Wander­

stab des sionitischen Pilgrims," „Eines andächtigen Herzens Schmuck

und Ansehn" [llsJ. Canitz wirkte in seinen geistlichen Gedichten auf die Erweckung eines reineren und edleren Geschmacks; seine Lie­

der stellen fromme Gefühle in reiner Sprache dar, obgleich sie ferne stehen von der Idee des ächten Kirchenliedes. DramatischePoesie. Da die dramatische Poesie ihre Wirk­ samkeit erst durch die Aufführung erhält, wodurch der Dichter in

Beziehung zu seinem Publicum, dem Volke tritt, so kann sie sich weniger als andere Gattungen in abgeschlossene Kreise zurückziehen.

Sowie das gelehrt-rhetorische Trauerspiel dem Volksgeschmack fern stand, ebenso wenig gewann die Manier des französischen Dramas jetzt schon Einfluß.

Es

drängten sich im Gegentheil die volks­

mäßigen Possenspiele mit ihren Hanswurstiaden wieder hervor. Jo­ hann GeorgSchoch, welcher als Jurist in Naumburg lebte und durch Schäfergedichte sich bekannt machte, schrieb in Prosa seine

„Comödia vom Studentenleben" (Leipzig 1657), welche ein lebendiges Sittengemälde der Zeit enthält.

Am entschiedensten aber

führte zu dem volksmäßigen Poffenspiel Christian Weise zurück, der aus innerer Ueberzeugung ebenso sehr dem erzwungenen Pathos

des gelehrten Trauerspiels als der Unnatur geistlicher und weltlicher Schäferstücke opponirte. Er wollte „bei seiner Freiheit bleiben und an der Einfalt seine Lust haben, die der Natur am nächsten kom­

me." Sein Studium ist das gemeine Leben, nicht das Buch; er will nichts von antiken Vorbildern und Regeln wissen, und giebt selbst an, daß er oft Unterredungen von Wäscherinnen, Wirthinnen,

Köchinnen

und Holzschlägern

belauscht und ausgeschrieben

habe.

Seine Richtung auf eine plane, naturelle Dichtungsart war beson­ ders für das Lustspiel geeignet, wo der ungezwungene Ausdruck am Orte ist und der Gegensatz gegen die hochtrabende Poesie die Wirk­ samkeit des Komischen hebt.

Weise entfaltet daher in seinen Lust­

spielen die ihm eigenthümliche Richtung auf Einfachheit und Natür-

97

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

lichkeit am erfreulichsten, und mit keckem Witze laßt er den gesun­

den, derben Volkshumor über die Thorheit und Verschrobenheit sei­ ner Zeit herfallen, sey es nun daß er die Mvdenarrheiten oder den Weisheits- und Poetendünkel oder die Reputationssucht und andere ähnliche Gebrechen angreift. Er läßt jede Person nach ihrem Na­ turell reden und gestaltet die Handlung den Charakter« gemäß. Handelnde Personen führt er uns vor und hält sich ferne von den langweiligen Reden und Predigten der Tragiker und steht immer

auf der Seite guter Natur und Einfalt.

Eins seiner muntersten

Stücke ist der bäurische Machiavellus [ll6J (Zittau 1679).

Er versuchte sich auch in ernsten biblischen Stücken und in Trauer­

spielen, die er aber mit wenig Glück cultivirte, da sie außerhalb der Sphäre seiner natürlichen Anlagen liegen; erträglicher ist er noch in

seinen Sing- und Satyrspielen.

Dem Zeitgeschmäcke gemäß dichtete

er auch allegorische Stücke, wie j. B. das Lustspiel vom dreifa­

chen Glück, wo er durch Personificationen von Handel, Wissen­ schaft und Religion das Wachsthum von Leipzig darstellt.

Nicht

ohne Glück machte er auch endlich Intriguen- und Novellenstücke,

z. B. die beschützte Unschuld, und vorzüglich die triumphi-

rende Keuschheit. Weise fand namentlich in der leichteren und natürlicheren Manier des Poffenspiels ein« große Zahl von Nach­ ahmern, durch welche aber das Lustspiel in die roheste Bolksposse herabsank, und die plumpste und zweckloseste Gemeinheit vorherr­

schend wrrde.

Prügel sind die komischen Situationen, Schimpf­

worte die Würz«, Zoten die Witze; die improvisirten Poffenreißereien rvhkl Schauspielerbanden, die Marionettentheater und Puppenspiele auf den Jahrmärkten trugen das ihrige bei zu dem ordinären Ton

des Poffmspiels, und doch fand dieses seine Vertheidiger, wie an Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, der Oberpostcomm ssär und Kriegssteuereinnehmer in Leipzig war. Bon ihm erschienen drei Lustspiele: der akademische Schlendrian, eine dramatische Satire auf die adligen Studenten in Leipzig, wozu

später Zahariä's Renommist das Gegenstück ist; ferner der Erzsäuser md die Weiberprobe. Auch in diesen Stücken fehlen die gemeinen Pickelhäringsspäße nicht. DidaktischePoesie.

Die poetische Epistel, in welcher schon

von Opitz an sich Flemming, Tscherning, Hoffmannswaldau, Gry-

phius verücht hatten, fand namentlich jetzt neben der Satire nach dem Borlild von Boileau in Canitz und Neukirch ihre Bearbei­ ter [**’]. DieFabelpoesie, welche im 17. Jahrh, ganz gefehlt

Biese beitsch« Literaturgeschichte. II.

7

98

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

hatte, ward jetzt wieder angeregt; Hunold beschäftigte sich mit ei­

ner Üebersetzung der Lafvntaineschen Fabeln. Ferner versuchten sich Canitz, König, Mencke an einzelnen Stücken der Fabeln des Aesop und des Phädrus; doch von größerer Bedeutung wurde die Ueber« setzung der Fabeln Aesops von I. Fr. Niederer in deutschen Rei­ men (1717), bis endlich durch die französischen Muster des La Motte

und Lafontaine in

der

folgenden Periode

Lieblingsgattung der Dichter wurde.

die

Fabelpoesie eine

Das Epigramm, welches

bei den Dichtern dieses Jahrhunderts sehr beliebt war, wurde jetzt eine Waffe für beginnende Kritik und Polemik, namentlich in den

Händen von Christian Wernicke (1660 — 1710); dieser war von Geburt ein Preuße [lie], studirte seit 1685 in Kiel unter Morhof, der den Scharfsinn und den Witz des jungen Mannes be­ merkend ihn aufmunterte zu Bersuchen in Epigrammen.

Nach be­

endigten Universitätsjahren hatte Wernicke vergebens sein Glück an einem deutschen Hofe gesucht; er gewann sich aber die Gunst einer

geistreichen Frau (in seinen Gedichten Amaryllis genannt), auf de­

ren Landsitze er sich drei Jahre lang aufhielt.

Darauf machte er

eine Reise durch Holland und Frankreich, und blieb längere Zeit in England als Sekretär bei einer Gesandtschaft. Als er nach Deutsch­

land zurückgekehrt war, hielt er sich eine Zeit lang in Hamburg auf. Durch seine Bekanntschaft mit der ausländischen Literatur war seine frühere Anhänglichkeit an die Schlesischen Dichter immer mehr geschwunden, und er richtete sich in seinen Epigrammen eben sowol gegen die Lohensteiner wie gegen die schulmeisterlichen Poe­ ten.

Durch die Sticheleien auf Lohenstein's Anhänger reizte er Po­

stel, der auf jene Angriffe durch ein Sonett antwortete, worin «

Wernicke mit einem Hasen verglich, der auf dem todten Löwen (Hoffmannswaldau) herumspringt.

Wernicke schrieb darauf (1703)

sein „Heldengedicht Hans Sachs," worin Stelpo (Postel) gekrönt wird zum Nachfolger Hans Sachsens, der damals nur als geschmack­ loser Versmacher genannt wurde.

Postel schwieg;

für ihn aber

trat Hunold in die Schranken, und schrieb einige satirisch« Briefe

und nachher eine satirische Komödie „der thörigte Pritschmeister oder schwärmende Poet" (1704), worin Wernicke, der hier Wecknarr heißt, die Rolle des Harlekins oder Pritschmeisters spielt. Wernicke in denen er

rächte sich durch einige Sinngedichte gegen Mävius,

zugleich ein satirisches Epigramm Hunold's auf Karl H. beim fran­

zösischen und spanischen Gesandten denuncirte,

Hamburger Rath Genugthuung verlangten.

die deshalb beim Obgleich der ganze

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

99

Streit ein geringfügiger war, so weckte er doch zuerst eine Kritik

der Poesie und erschütterte Hoffmannswaldau's Ansehen.

und Lohenstein's

Wernicke führte in den Kreis der Hamburger Dichter die

französisch« Poesie ein, und kam später als Königl. dänischer Staats­ rath und Resident an den französischen Hof nach Paris.

Er gab

zuerst in seinen eigenen poetischen Productionen ein Beispiel von Selbstkritik und Selbstbildung, und wandte sich

seinen Epi­

in

grammen mit Entschiedenheit gegen die Einseitigkeiten der Dichter des 17. Jahrh. Die Kritik stellt sich bei ihm in ihrem Anfänge noch als eine persönliche und leidenschaftliche dar, indem das Subjective mit dem Gegenstände und dem Zweck vermischt wird.

Sie trifft in

ihrem negativen Theile die wunden Stellen der damaligen Poesie; doch das Positive, worauf als das Wahre und Rechte hingewiesen wird, ist in der trockenen, verständigen Manier des französischen Geschmacks enthalten und fand seinen Ausdruck in dem Epigramm,

dieser Gattung des Witzes und Scharfsinnes, welches Wernicke schär­

fer, feiner und klassischer nach Martial ausbildete.

Er bemerkt,

daß nicht, wie Logau meinte, Kürze die Seele des Epigramms sey,

sondern Witz. Kürze sey nur sein Leib, und verwirft Logau's Benennung Sinngedicht und wählt dafür den Ausdruck Ueberschrjft.

Bei seiner vorwiegenden Verstandesthätigkeit fehlte ihm

der Sinn für alles, was mit Gemüth und Phantasie erfaßt seyn will, und feine weltmännische Bildung in den Hofzirkeln von Pa­ ris führte zu Einseitigkeiten in seinen Maximen und kritischen Urcheilen. Doch bleibt ihm das unbestreitbare Verdienst, die falsche Richtung der Poesie namentlich an der zweiten Schlesischen Schule aufgedeckt und zugleich, trotz seines Anschließens an französische Mu­

ster, fast eifersüchtig den Fremden gegenüber auf deutsche Gesinnung und deutschen Ausdruck gedrungen zu haben. Die mit ihm begin­ nende Kritik und Polemik schließt charakteristisch die einseitigen Rich­ tungen ab, welche bisher in der Poesie versucht waren, und ist zu­ gleich bezeichnend für die literarischen Bestrebungen des 18. Jahrh.,

in welchem deutsch« Kritik mit entschiedenem Ernste sich durch die fremden Hemmnisse und durch die Wirrungen der mit einander strei­ tenden Geschmacksrichtungen hindurchkämpfte und dem poetischen Schaffen erst den Weg bereitete. Die innere Betheiligung an der Idee des Wahren förderte und steigerte die kritischen Bestrebungen;

sie führte vom Aeußeren zum Inneren, von der Form zum Inhalt,

so daß auch in den poetischen Productionen der volle Gemüthsan­ theil hervvrtritt, das subjective Pathos, in welchem der Einzelne 7*

100

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

die völlige Betheiligung seines ganzen Lebens und Gemüths seinen

Poesien aufdrückt. Dies giebt sich am Schluffe der gegenwärtigen Periode schon an zwei Dichtern zu erkennnen, an Günther und Brockes, in welchen sich mitten aus der konventionellen Erstar­

rung gleichsam die ersten Blüthenaugen einer natürlicheren, durch

Gefühl und Gemüth vermittelten Poesie ansetzen. IV.

Uedergang in den kommenden Zeitraum.

Während Abschatz und Christian Gryphius den überspannten Ton der zweiten Schlesischen Schule

schon herabgestimmt hatten

und zu der Sächsischen Poesie hinüberführten, und Neukirch hinwies auf die Eleganz der französischen Poesie, trat in Schlesien ein Dich­

ter auf, welcher sein individuelles Leben mit der ganzen Gewalt sei­

ner Persönlichkeit in seinen Gedichten ausprägte, und indem er den Weg deutscher Empsindungspoesie betrat, die bisherige konventionelle Dichtungsweise zu erschüttern sich bestrebte. Dieser Dichter «ar

Christian Günther [,le],

welcher 1695 in dem

schlesischen

Städtchen Striegau geboren, Sohn des dortigen Stadtphysikus und praktischen Arztes war, und ausgestattet mit den glücklichsten Anla­

gen zur Dichtkunst schon als Knabe ansing, Verse zu

machen.

Der Vater erzog den Sohn mit aller Sorgfalt und unterrichtete ihn in allen Gegenständen, die ihn zu dem Eintritt in eine ge­

lehrte Schule vorbereiteten. Daneben wurde der Religion und Mo­ ral ein besonders eifriger Unterricht gewidmet und das Vorbild des im Glauben, wie im Leben christlich strengen Vaters weckte in dem Herzen des Sohnes die Gefühle des Religiösen und des Sittlichen.

Doch sträubte sich schon früh der Sinn des Knaben gegen den her­ kömmlichen Zwang des Lernens; er strebte nach einer selbstständigen, selbstgewählten Beschäftigung um so mehr, als er sich zu poetischen

Versuchen angetrieben fühlte. Der Vater aber verkannte diese Be­ schäftigungen des Sohnes, verwies und wehrte sie ihm, indem er

immer nur den Broderwerb als das Ziel aller vernünftigen Bestre­ bungen hervorhob.

Doch wie sehr auch der Vater ihn auf andere

Wege lenkte, als worauf ihn eigene Bestrebungen und Neigungen Hinwiesen, die Natur ging über den Zwang, und der Sohn dich­

tete im Holz, im Winkel, im Garten versteckt, und ihm mußte bald das väterliche Haus als ein Kerker, das Leben als ein Kampf er­

scheinen. Je mehr in ihm das Selbstgefühl erwachte und er in sich den Beruf zu etwas Außerordentlichem fühlte, um so schmerzlicher

mußte er es empfinden, daß ihm alle Mittel entzogen seyen, um

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

101

auf einer öffentlichen Schule und im Umgänge mit Anderen sich wissenschaftlich zu fördern.

Seine Lage war eine verzweifelte, und

in derselben fand ihn einmal seine Mutter auf einer wüsten Stelle hinter dem Hause knieend, indem er zu Gott flehte, daß er doch

Mittel und Wege schicken wolle, bei dem Studiren fortzukommen. Die Unterstützung eines Dr. Thiem aus Schweidnitz verschaffte dem vierzehnjährigen Knaben die Möglichkeit, seine weitere Ausbildung auf dem Gymnasium zu Schweidnitz zu erhalten. Der junge Gün­

ther zeichnete sich hier durch unermüdlichen Fleiß und durch ein sittlich gutes Betragen aus, und er machte die erfreulichsten Fort­ schritte. Doch seine Neigung zur Poesie, welche durch die größere Freiheit in seinen Studien genährt wurde, drängte sich immer ent­

schiedener hervor und der Beifall, welcher seinen Gelegenheitsgedich­ ten zu Theil ward, flößte ihm eine gewisse Selbstgefälligkeit ein. Mit seinem zwanzigsten Jahr bezog er 1715 die- Universität Wit­

tenberg, um Medicin zu studiren.

Anfangs widmete er sich dieser

Wissenschaft mit Eifer; doch bald gewann die Liebe zur Poesie so

sehr die Oberhand in ihm, daß er die Stille des Studirzimmers mit einem freien Dichterleben vertauschte. Sein Herz bedurfte der Liebe, aber fand sie nicht dort, wo er sie suchte, und endlich seinen

Jugendidealen entsagend, verleitete ihn seine kräftige Sinnlichkeit zu Verirrungen, die ihn ins tiefste Elend stürzten.

Sein Vater, der

schon vorher mit den Bestrebungen seines Sohnes unzufrieden war,

zog seine Hand von ihm, wodurch sein sittliches Verderben vollends beschleunigt wurde. Die Folgen eines wilden Studentenlebens, dem er sich mit aller Zügellosigkeit ergab,

gestürzt, die ihn ins Gefängniß führten.

hatten ihn in Schulden Als er seiner Haft ent­

lassen war, begab er sich nach Leipzig, wo sich Burkhard Mencke seiner annahm und den reich begabten Jüngling auf eine würdigere

Bahn zu leiten suchte.

Das Brandunglück in seiner Vaterstadt,

welches auch seinem Vater das letzte Vermögen raubte, schien mit­

zuwirken, die besseren Vorsätze in Günther zu befestigen.

Mencke

forderte ihn auf, den Frieden zwischen Kaiser Karl VI. und der Pforte zu besingen, und diese Ode gelang dem Dichter so wohl,

daß er sich einen großen Namen verschaffte und Mencke ihn nach Dresden zum Hofpoeten empfahl; doch da er hier in einer Audienz bei dem Könige in trunkenem Zustande erschien, so gerieth er in Un­

gnade.

Nach Leipzig mogte Günther jetzt nicht wieder zurückkeh­

ren, theils aus Scham vor Mencke, theils auch aus Widerwillen gegen die Stadt, in welcher er unter drückenden Verhältnissen ein

102

Erste Periode.

Born Anfang des 17.

kümmerliches Leben geführt hatte. Es trieb ihn außer der Noth auch ein inneres Bedürfniß nach seiner Vaterstadt, um flch mit sei­ nem Vater persönlich zu verständigen und auszusöhnen. Doch alle Bitten von Freunden, von Mutter und Schwester, um das Herz des alten Mannes dem Sohne wieder zuzuwenden, blieben vergeb­ lich. Der Vater ließ ihn nicht vor, und der arme Reuige mußte mit Wehmuth abziehen, ungehört und ungetröstet. In vielen herz­ zerreißenden Gedichten hat er den Vater um Versöhnung gebeten, dessen harter Starrsinn aber nicht zu erweichen war. Der Fluch des väterlichen Haffes brach den Stab über dem Haupte des unglück­ lichen Jünglings. Unflat und hülflos irrte er in seinem Vaterlande umher und mußte sich mit seinen Gedichten einen kärglichen Unter­ halt erbetteln. Seine besseren Vorsätze scheiterten immer wieder an den Ausbrüchen seiner unbesiegbaren Sinnlichkeit, und nach mehre­ ren Leidensjahren, in welchen er oft mit dem bittersten Mangel kämpfte, oft im Taumel wilder Lust sich selbst und seine Noth zu vergessen strebte, erlag endlich seine Lebenskraft und er sank kurz vor dem Schluffe seines acht und zwanzigsten Jahrs 1623 zu Jena ins Grab. In Günther ward die Gluth der Sinnlichkeit, welche bei Hoffmannswaldau nur in Phantasiegebilden ausschwrifte>, «äh­ rend eines wilden Lebens zur That. Ein frisches volles Pathos ließ seine Poesie aus der Tiefe des Gemüths hervorgehen, die alleabspiegelte, was dieses bewegte, und indem sie sich lossagte von allem Conventionellen, nur wirklich erlebte Seelenzustände darstellte [*,0]. Das innere Leben Günther's bietet freilich nicht den erfreulichsten Anblick dar, da Leichtsinn und Reue, Schuld und Buße stets ab­ wechseln. Bei der Maaßlosigkeit seiner Subjectivität fehlte die zü­ gelnde Grazie, die eine höhere Poesie erst zur Reife gedeihen läßt. Göthe sagt [IS1J: „Günther darf ein Poet im vollen Sinne des Worts genannt werden. Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinn­ lichkeit, Einbildungskraft, Gedächtniß, Gabe des Fassens und Ver­ gegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet, genug er besaß Al­ les, was dazu gehört, im Leben ein zweites Leben durch Poesie her­ vorzubringen, und zwar in dem gemeinen wirklichen Leben . . . . Er wußte sich aber nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten." Lebendig war in Günther der Drang, aus der Steifheit des deutschen Lebens und Wissens sich herauszuringen; und er ahnete, daß neue Bahnen gebrochen werden müßten, und wirs seine jüngeren Freunde auf Leibnitz und Wolf. Sein ungebunde-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

103

nes Studentenleben rief in ihm den Hang zur Satire hervor; die

ganze Welt erschien ihm als ein Philisterpack, das er nicht schonen konnte und wollte. Viele von seinen Gelegenheitsgedichten, welche an Freunde gerichtet sind, werden fast sämmtlich zu Satiren aus

den Zustand der Welt, und wir erhalten in Günthern ein Vorspiel jener Poesie- und thatenglühenden Jünglinge aus der späteren Zeit

der Originalgenies.

Das Streben die Schranken der Convention

zu durchbrechen und der sich hierauf gründende Drang nach sub-

jectiver Freiheit machte sich jetzt zuerst unter den Studenten geltend und war hier mit aller Rohheit und Zügellosigkeit verbunden. Die Poesie, welche im 17. Jahrh, auf den Universitäten von den Leh­ rern ausgeübt war, ging in die Hände der Studenten über, und

diese Studentenpoesie in ihrem wüsten, rohen Ton stellt Daniel Stoppe (1697 —1742) dar: Studentenkatechismen, Sauflieder,

Burschenpoefle, Bierspäße und Tabacksanen machen den Ton des damaligen akademischen Lebens höchst anschaulich.

Alle Rohheiten

des Volkstons, von welchen Opitz entschieden sich abwandte, tes­ Stoppe legte später das rohere Jugendwesen ab

ten hier wieder.

und wandte sich der Fabeldichtung zu, in welcher er der Studenten­ sitten spottete. Das Eigenthümliche der Schlesischen Dichtungs­ weise hatte sich ausgelebt, und andere Provinzen traten in den Vordergrund der Literatur, namentlich Ober- und Niedersachsen, und hier besonders die Städte Hamburg, Leipzig, Halle. Hamburg haben wir oben schon als eine Freistätte für ver­ schiedenartige geistige Richtungen kennen gelernt: hier bildete sich

eine weltliche Lyrik, hierher zog sich die Satire, das Eigenthum Nieder - Deutschland's, hier endlich gewann das Drama, die Oper

und auch der Roman einen Hauptsitz.

In Hamburg fanden sich

alle Richtungen der deutschen Poesie: sowol die Lohensteinsche Parthei war hier vertreten von Postel, als auch die Hoffmannswaldausche von Christoph Woltereck, ebenso die Weisesche von Hübner, und die französische Schule des Boileau von Feind und

Wernicke. Wie zahlreich der Kreis der damaligen Dichter in Ham­

burg war, beweist die von Weichmann veranstaltete Sammlung

derPoesie der Niedersachsen (Hamburg 1721—38), die gleich­ sam eine Ehrenrettung der Niedersachsen gegen die Obersachsen seyn sollte. Hamburg war der Mittelpunkt einer poetischen Thätigkeit, welche Neues vorbereitete, während die Schlesier das Alte abschlos­ sen.

Unter den vielen Dichtern Hamburg's treten vorzüglich zwei

heraus [’»>],

nemlich

Michael Richey (1678 — 1761)

und

104

Erste Periode.

Vom Anfang de- 17.

Barthold H. Brockes (1680—1747).

Jener war Professor zu

Hamburg und suchte den Anstrich des gelehrten Sonderlings und

Pedanten von sich abzuschütteln, welches Streben sich auch in den

Humoristen und Satirikern dieser Jahrzehnte zu erkennen

giebt.

In seinen leicht fließenden Gelegenheitsgedichten bewegt er sich mit

dem ungezwungenen Ton des Humors, und überall schiebt er lau­

nige Erzählungen ein, so daß er auf gleiche Weise, sowol auf Ha­

gedorn als auf Gellert hinführt.

In seinen Lobliedern ist er eben-

sofern von der steifen Form der Gratulationspoeten als von den maaßlosen Schmeicheleien. Er hat es nicht mit Königen und hoch­ gestellten Kunstgönnern zu thun, sondern mit seinen Mitbürgern,

und eben diese bürgerliche Sphäre begünstigt den Ton eines leich­ ten Humors und einer launigen Neckerei. Unbekümmert um die Re­

geln der Poesie, welche seit Opitz das innere Leben der Dichtung nur gestört hätten, hält Richey sich, die Kritiker verschmähend, in sei­ nen Ansichten und Empfindungen selbstständig zwischen den entge­

gengesetzten Richtungen und verfolgt mitten zwischen den Extremen seinen eigenen Weg. Einen noch tiefer greifenden Einfluß übte Brockes auf die kommende Zeit aus.

Er war 1680 zu Hamburg

geboren, der Sohn eines begüterten Kaufmanns, und wurde von der Mutter mit großer Sorgfalt erzogen. Seine wissenschaftliche Ausbildung erhielt er auf dem Johanneum, und hier trieb er neben allgemeinen Studien mit besonderer Vorliebe das Zeichnen; er studirte es in Kupferwerken und verband damit das Studium der Dichter, der Mythologie und Geschichte.

Auch die Musik gehörte zu seinen

Lieblingsneigungen, und außerdem trieb er mit großem Fleiß die

neueren Sprachen, so daß er später, außer dem Französischen, das Italienische, Spanische, Englische und Holländische verstand.

Um Rechtsgelehrsamkeit zu studiren, begab er sich 1700 auf die Univer­

sität Halle.

Nachdem er seine Studien beendigt hatte, ging er auf

Reisen. Er kam nach Italien, wo er in dem reichen Anschauen der Kunst und Natur seinen Schönheitssinn ausbildete. Wegen

der Kriegsunruhen begab er sich von Italien nach der Schweiz, wo er sich längere Zeit in Gens und Lausanne aufhielt. Darauf reiste er nach Holland, und machte hier nähere Bekanntschaft mit den ausgezeichnetsten Malern, namentlich mit Mieris, und dies blieb nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung seiner Dichtungsweise.

Der

Tod seiner Schwester und der Wunsch seiner Mutter hinderte ihn nach England zu gehen.

Er kehrte, nachdem er durch eine Dispu­

tation über das Wechselrecht in Leiden die Würde eines Licentiaten

105

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

der Rechte erlangt hatte, 1'704 in seine Vaterstadt zurück.

Hier

widmete er sich, fern von öffentlichen Geschäften, nur der Dichtkunst

Im Jahr 1720 ward er Raths­ herr in seiner Vaterstadt, wo er geachtet und als Dichter hochver­ und den schönen Wissenschaften.

ehrt im Jahr 1747 starb.

Brockes ließ sich durch die Verstandes­

poesie der Franzosen nicht irren, sondern beharrte auf den Italie­ nern und wies auf die Engländer Thomson und Milton hin.

Mit

den Pegnitzern theilte er die Ansicht, daß die Poesie malen sollte, machte aber diese Ansicht auf eine tiefergreifende Weise geltend.

Er

wollte das äußere Ohr und das innere Auge, das Herz und den Verstand vergnügen, und somit Poesie und Wissenschaft, Naturbe­

trachtung und Religion verknüpfen. Künste und Wissenschaften sollte die

In der Verschmelzung aller größte Wirksamkeit erreicht

werden, und als die Oper, welche für eint solche Spitze der Poesie gehalten wurde, sich in Hamburg auflöste, da ersetzte Brockes ihre auf alle Sinne gleichmäßig berechnete Eigenschaft durch seine lyri­ schen Gedichte, von denen man es rühmte, daß sie die schwester­

lichen Künste der Malerei, Poesie und Musik verbände.

Brockes

wollte, daß die Sprache musikalisch wirke und dem Gange der ver­ änderten Stimmung folge. Die Eintönigkeit des Alexandriners

konnte ihm daher bei dieser musikalischen Behandlung der Sprache nicht genügen, und er erschütterte das Ansehen dieses Versmaaßes, welches bald noch entschiedener verdrängt werden sollte.

So sehr

nun auch Brockes eine Menge von Alliterationen, Stimmreimen und charakteristischen Lautverbindungen anzubringen sucht, so hält er sich doch frei von den Spielereien derPegnitzschäfer [l$sJ. Wie

das Gedicht musikalisch wirken sollte, so sollte es auch ein redendes Gemälde seyn, so daß man zu sehen glaube, was man lese, und hier zeigt sich bei Brockes in seiner, in das kleinste Detail eingehen­ den Naturschilderung der Einfluß seiner Bekanntschaft mit der Nie­ derländischen Malerei. Mit dem Auge des Malers faßt er die

subtilsten Gegenstände auf, und betrachtet und schildert, wie beim Hervorsprossen des frischen Frühlingsgrüns und des zarten Laubs ein grüner Flor die Wipfeln umgiebt und ein grüner Staub die Bäume umschwebt. Ja selbst der Geruchssinn darf nicht unbefrie­

digt bleiben; er schließt vor seinen Blumen die Augen, um mit Aufmerksamkeit den Duft zu genießen.

Indem er die Natur auf

alle Sinne wirken läßt und einführt in die Sinnlichkeit der umge­

benden Welt, will er mit seinen Betrachtungen und Schilderungen

nicht bloß lehren, er richtet sich nicht an den Verstand wie Opitz

106

Erste Periode.

Vom Anfang des 17.

und die übrigen Lehrdichter, sondern er wendet sich an das Herz; dieses will er lebendig erregen zur Verehrung Gottes in der Natur,

und eben diese religiöse Erhebung des Gemüths ist es, wodurch er die Sinne, ohne welche es keine Einbildungskraft und keine Dich­ tung giebt, auf eine tiefere Weise emancipirt, als es in der zwei­

ten Schlefischen Schule geschehen konnte.

Lebendig fühlte er es,

daß die Natur nicht allein zum Himmel weise, sondern auch in sich selbst ein „Freudenlicht und einen Anmuthsschein hege."

Fern

ist er von dem geistlichen Hochmuth, der uns blind macht gegen

die faßliche Welt.

Nicht bloß im Künftigen will er fröhlich seyn,

das hieße Sterben vor dem Tode; weiser gilt es ihm, in allen Schöpfungen Gottes dessen Weisheit aufzusuchen, und so führt er hinaus aus der Schulstube in die freie Natur, nicht um den Kopf

zu beschäftigen und ihm einen Zuwachs von Kenntnissen zu ver­ schaffen, sondern um alle Sinne hinzurichten auf das vor uns aus­ gebreitete Buch voll göttlicher Geheimnisse, das den Menschen zu öffnen eine Herzensangelegenheit für ihn ist. Aus jeder Blüthe wächst ihm die Frucht der Andacht; jedes Blättchen ist ihm beschrie­ ben; jedes Maiglöckchen ist ihm eine mahnende Betglocke; jeder

Frosch schreit ihm sein Merks! Merks! zu, und dieser kommt ihm

wie der wahre Philosoph vor; jede Wasserblase spiegelt ihm die Ei, telkeit der Welt ab; alles offenbart ihm den Schöpfer der Welt

und lehrt ihn die Thorheit der Atheisten.

Gesammelt wurden seine

Gedichte unter dem Titel: „Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physikalisch - und Moralischen Gedichten." (Hamburg 1721 ff. S Bände) und wurden mit großem Enthusiasmus ausgenommen [>,4]. In seinen Gedichten „Irdisches Vergnügen" verbreitet er sich über alle Gegenstände der Natur, wodurch die Sinne des Menschen be­

rührt werden.

Den Ausgangspunkt der einzelnen Gedichte bilden

gewöhnlich Beschreibungen und Schilderungen, welche der Dichter

mit empsindungsvollen Betrachtungen unterbricht zum Lobe und Preise Gottes, dessen Güte, Weisheit und Allmacht er überall er­ blicken läßt.

Dem verschiedenen Gange des Inhalts entspricht die

Die Beschreibungen, welche gleichsam recitativisch sind, wechseln mit eingelegten Arien; oft schreitet aber auch die Darstel­ äußere Form.

lung ohne solche Unterbrechungen fort, so daß nur die langen und

kurzen Verse oder die sorgsame Wahl der Worte und Ausdrücke, der

Klang der Sylben, die Reime den Wechsel der Scenen und Stimmun­ gen bezeichnen. Brockes sprach die unverfälschten, reinen Anschau­ ungen der Natur aus, und wenn auch die Poesie eigentlich mensch-

bis zum ersten Viertel deS 18. Jahrhunderts.

107

liche Zustände und Handlungen darstellen soll, so führte doch Brokkes wieder die Stimme des Herzens in die Dichtung ein, und es beginnt mit ihm eine Regeneration deutscher Poesie. Naturschilde­ rungen gelingen immer zuerst der jungen Kunst, indem die sich gleich­ bleibende, einfache Natur einen bequemeren, sicheren Stoff darbietet; die verwickelten, oft so verworrenen Zustände des Menschenlebens künstlerisch zu gestalten, ist eine schwierigere, höhere Aufgabe, die von der deutschen Poesie später erst gelöst werden sollte. Brockes wurde von einem richtigen Gefühl darauf hingeleitet, wie wenig die Poesie jetzt schon fähig sey, den Menschen mit seinen schaffenden Kräften zum Mittelpunkt der Dichtung zu machen; namentlich ei­ fert er gegen alle heroische und epische Poesie. Das idyllische Le­ ben in der Natur stimmt ibn feindlich gegen das hastige Treiben der Menschenwelt; durch die empfindungsvolle und religiöse Theil­ nahme an der immer wahren und treuen Natu? bereitete er die Weichheit der Gemüthsstimmungen, der Sentimentalität vor, welche auf die Gestaltung unserer Literatur bald einen großen Einfluß ge­ winnen sollte [***]. Es stellt Brockes, indem er die bisherigen Bestrebungen der Poesie in sich aufnimmt, den Charakter einer ver­ schwindenden Zeit dar, deutet aber zugleich auf eine werdende Epoche hin. Als beschreibender und lehrender Dichter führt er auf Opitz zurück, und insofern er Bilder, Metaphern und Gleichnisse liebt, erinnert er an die Pegnitzer und an die zweite Schlesische Schule; insofern aber seine malerischen Schilderungen mit ihren musikalischen Wirkungen das Herz treffen und rühren sollen, weist er auf eine neue Zeit. Der lebendige Pulsschlag seines von der Religion tief durchdrungenen Herzens überwindet die Opitzsche Reflexion mit ihrer Nüchternheit, und zügelt und veredelt die Hoffmannswaldausche Description mit ihrem Bombast. Es liegt freilich in dem We­ sen der Naturpoesie, daß sie bei ihrem gänzlichen Mangel an leben­ diger, thatkräftiger Handlung zuletzt ermüdend und erschlaffend wirkt, und dies gilt auch von Brockes Poesie, zumal da in seinem bis zu neun Bänden sich ausdehnenden Werke zuletzt das Lyrische von moralischen Reflexionen überwogen wird. In seinen älteren Jahren wandte er sich fast ausschließlich dem Wissenschaftlichen zu; schon lange hatte er über ein großes physikalisches Lehrgedicht nach­ gedacht, in welchem er nächst der Betrachtung Gottes aus der Na­ tur auch die Elemente und Sinne, die drei Reiche der Natur be­ handeln wollte. Die Beschaffenheit dieses Gedichts lernt man näher aus dem 9. Bande des irdischen Vergnügens in Gott kennen. In

108

Erste Periode.

Dom Anfang ve- 17.

dieser didaktischen Richtung zeigt Brockes seinen Anknüpfungspunkt

an die englische Poesie, welche damals vorzüglich das beschreibende und religiöse Lehrgedicht behandeltes"*).

Von ihm wurden Thom­

son, Pope und Poung zuerst in Deutschland eingeführt; von den ersteren übersetzte er die Jahrszeiten (1745) und den Versuch über

die Menschen (1740), und hierdurch gab er den Impuls zu den in

Deutschland bald nachfolgenden Lehrgedichten.

Die lebendige Theil­

nahme an der Natur weckte auch wieder das Interesse für dir Fa­

bel, und Brockes bearbeitete mehrere von La Motte's Fabeln, und es wurden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschreibende

Dichtung, Fabel und moralisch-religiöses Lehrgedicht vorherrschend. Die Fabel führte zur einfachen Erzählung zurück und forderte Ein­

bildungskraft und Erfindungsgabe; sie steht in der Mitte zwischen didaktischer

und epischer Poesie.

Da Brockes

auch Marino'S

Bethlehemitischen Kindermord übersetzte (1735),

welches

Gedicht ein Bindungsglied ist zwischen Dante und Milton, den

später Bodmer übersetzte, so leitete er auch auf Klopstock hin, wel­ cher in seiner geistlichen epischen Poesie den Schlußstein der reli­ giösen Dichtung bildet.

Zweites

Capitel.

Die Prosa.

Während in der vorhergegangenen Periode sich noch ein un­ mittelbarer Zusammenhang zwischen Poesie und Prosa zu erkennen

gab, indem diejenigen Prosawerke, in welchen die poetische Vorstel­

lung das gestaltende Moment war, ihre nähere Bestimmung dar­ nach erhielten, je nachdem sie mit dem größeren Epos oder mit der legendenartigen, romantischen und volksmäßigen Novelle zusammen­

hingen, tritt in dieser Periode eine bestimmtere Trennung zwischen Poesie und Prosa insofern hervor, als man die früher poetisch be­ handelten Stoffe aufgab, und sowol das Geschichtliche als auch das

Lehrhafte zu Romanen umbildete. Die Poesie hatte sich während des ganzen 17. Jahrh, mehr in bestimmten, abgeschlossenen Kreisen bewegt, ohne daß sie in alle Stände des Volks einzudringen fähig gewesen war.

Die bestimmtere Ausbildung der Prosa war daher

für die Einwirkung auf die größeren und weiteren Kreise des Volks

von großer Bedeutung.

Je mehr nun die Zeit dem Erfahrungs-

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

109

mäßigen und der Weltkenntniß zugewandt war, um so mehr wurde das Phantastische und Abenteuerliche der Ritterromane verschmäht. Als die äußerste Grenze des Ritterromans ist schon (Bd. I. S. 204) der Amadis bezeichnet worden. Diesen lobte anfangs noch Opitz in seinem Aristarch, seinem Jugendwerke; später spottete er aber über die Amadisleser, und diese Opposition theilten nachher mehrere Schriftsteller, welche gegen die in diesen Romanen herrschende Un­ sittlichkeit des Liebeswesens eiferten, das alle Einfalt und Keuschheit untergrabe, und die Liebhaber der Ritterbücher Amadisschützen nannten. Namentlich erklärt sich der Romanschreiber A. H. Buch­ holz sehr bestimmt gegen die alten Ritterromane als gegen Bü­ cher, welche „die freche Liebe" und „den Zauberglauben" beförder­ ten. Außerdem richtete sich die Opposition auch gegen das Unwirkliche und die reine Erdichtung, und hierin zeigt sich die Stimme der verständigen, phantasielosen Zeit, welche Erdichtung und Lüge für gleichbedeutend nahm. Wenn auch nicht alles, was erzählt wird, geschehen sey , so müßte es doch haben geschehen können. Das Wahrscheinliche, nicht mehr das Wunderbare sollte die Seele des Romans seyn. Das Erfahrungsmäßige als die Quelle aller Lehre und Weisheit ging von nun an in den Roman ein; das Wunderbare wurde etwa nur noch in der schäferlichen Einkleidung gestattet, welche man als Allegorie anwandte. Dieser Uebergang von den Ritterromanen zu den Geschichtsromanen erzeugte sich aber nicht aus der lebendigen Gegenwart des nationalen Lebens, son­ dern war durch die romanischen Literaturen vermittelt und beruhte namentlich auf dem französischen Geschmack von Scudery und Calprvnede [*•’]. Die Trennung zwischen Poesie und Prosa zeigte sich noch von einer anderen Seite auch darin, daß, während man in der Poesie auf Correctheit und Reinheit hielt, die Prosa sich von der Mischsprache nicht zu befreien verinochte, und alle geschmacklo­ sen, schwerfälligen Lebensformen des Jahrhunderts in sich aufnahm. Hierzu kam noch, daß die Prosa in den Romanen alle schwanken­ den Geschmacksrichtungen theilte, und bald einer süßlichen, tändeln­ den, bald einer hohlen, schwülstigen Schreibart folgte, bald zu einer faden, geistlosen Geschwätzigkeit herabsank. In den wissenschaftlichen Darstellungen dagegen war ein steifer, schleppender Canzleistil vor­ herrschend und entsprach dem gelehrten Pedantismus, der diesem Zeitraum eigenthümlich ist. In den Romanen stellt sich ein ähnlicher Gegensatz dar, wie zwischen der gelehrten Lyrik und dem Volksliede, zwischen dem ge-

110

Erste Periode.

Bom Anfa«g des 17.

lehrten, höfischen Drama und dem Possenspiel.

Dem Helden- und

Geschichtsromane trat gegenüber der volksmaßige Schelmenroman

im picarischen Geschmacke (picaro bedeutet einen Straßenbuben) s> "s, der

auf Beobachtung

der

Zeitsitte,

des

Lebens

und Treibens

des Volkes beruhend sich gegen gelehrten Pedantismus, gegen fremde Sitte und höfische Bildung richtete. Alles dies drängte sich zusam­ men in der Prosa-Satire, welche aus der oppositionellen Stellung zu den Zeitverhältniffen hervorging.

Die Anregungen aber sowol

zu dem Geschichtsromane als auch zu dem volksmäßigen Auffassen

der Zeitzustände

gingen

vom

Auslande

aus.

Obgleich

unter

den romanischen Völkern das Ritterthum, das sich dort zuerst ausgebildet hatte, noch am längsten sich erhielt, so kam man doch im Verlauf der fortschreitenden Bildung auf ein Negiren des Rit­ terromans, der innerlich immer hohler wurde, und hob dagegen das natürlich Volksmäßige hervor. Diese Opposition ging frei­

lich bei den romanischen Völkern nicht von einem mächtig werden­ den Bürgerstande aus, sondern von einer höhere«, geistigeren Auffas­

sung des Lebens.

Es drängten sich zunächst schäferliche und doctri-

nelle Elemente in den Ritterroman, wodurch man mit allmähliger

Beseitigung des Ritterlichen den Uebergang zu dem geschichtliche« und politischen Roman machte, und endlich, je mehr sich der Adel

selbst bei all seinem Rangstolze in seinen Sitten unter das gemeine Volk herabstellte, wurde in den sogenannten Schelmenromanen, die sich vorzüglich in Spanien ausbildeten, zur lebendigen Anschauung

gebracht, wie der Edelmann herab und der Vagabund empor kommt, indem dieser, ein von,dem höheren Leben und dem Glück ausgesto-

ßenes Kind, sich durch Witz, Gewandtheit und kluge Schelmen­ streich« bis zu den höchsten Stufen des Glücks und der Gesellschaft erhebt. i.

Die Romane und die Prosa-Satire.

1.

Der Helden- und Geschichtsroman.

Wie die Anregung zur Roman-Literatur von den romanische« Völkern ausging, sieht mau aus dem Uebersetzungseifer, durch wel­ chen die fremden Muster nach Deutschland verpflanzt wurden. Maa war übersättigt an den alten in Prosa aufgelöste« Ritterepeu,

Volkssagen und Legenden des Mittelalters, und fühlte das Bedürf­

niß nach

einer neuen Unterhaltungslectüre.

Opitz übersetzte schon

1626 Barclap's Ärgerns [1S6], welches ein politischer Roman war, der ein Sittenspiegel für die Fürsten und ihre Diener seyn sollte.

111

bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts.

ES folgte eine Reihe von Uebersetzungen sowol spanischer alS eng­ Diesen

lischer Schäferromane.

Romanen lagen

sowol

bei den

Spaniern als auch Engländern, bei den Portugiesen und Ztalienem wirkliche Begebenheiten zu Grunde in allegorischer Einkleidung

und bilden den Uebergang zu dem Geschichtsromane [l40]. ähnlicher Uebergang

Ein

von den Schäfergedichten zu den Geschicht-

Gedichten oder Gedichtgeschichten (s. oben) zeigt sich bei Sigmund

v. Birken.

Einer der ersten, welcher sich in Deutschland selbster­

findend an dem geschichtlichen Roman versuchte, war der schon oben genannte Dietrich v. dem Werder. Er schrieb 1644 eine Diana, in welcher er episodisch die Geschichte des 30jährigenKriegs einfügte.

Er sagt selbst, daß sein Werk das erste Mal der Fabel

wegen, das zweite und dritte Mal der Reden und Sachen wegen, das vierte Mal der politischen Weisheit und verdeckten Geschichte wegen gelesen werden müßte [l41].

Den Helden- und Geschichts­

roman der Franzosen führte vornehmlich Philipp von Zesen tn schönsten Flötm hergäben, so auch die elenden Schriften Veranlas-

rechtfertigt bh schlechten Skribenten.

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

11

162

Zweite Periode.

Bon dem erste» Viertel

sung würden zu sinnreichen Widerlegungen und Spottgeschichten.

Im Jahr 1740 erhielt er bei dem Preußischen Gesandten in Han­ nover die Stelle eines Legationssecretairs, nnd ging darauf al- sol­

cher mit dem Grafen von Danckelmann nach Mainz; doch eine

Unannehmlichkeit mit diesem Grasen, der seinem Secretair den schul­ digen Gehalt vorenthielt, bestimmte Liscow, nachdem er sich auf

eine freimüthige und überzeugende Weise bei dem Ministerium in Berlin gerechtfertigt hatte, aus den Preußischen Diensten zu treten.

Schon

secretair

im Juli des Jahrs 1741 war er in Dresden Privatbei dem Sächsischen Minister Grafen von Brühl,

und wurde noch in demselben Jahr zum Königlichen Secretair er­ in welchem Amte er bis 1749 verblieb. Seine amtliche

nannt,

Stellung verlor er in Folge eines Eriminalprocesses, in den er ver­

wickelt wurde.

Er mußte Dresden verlassen und begab sich nach

Eilenburg auf das Gut seiner Frau, wo er 1760 starb. Die Sa­ tire Liscow's erhielt dadurch eine solche Frische und Lebendigkeit, daß er die verkehrten Richtungen an persönlichen Repräsentanten

lebendig zu individualisiren verstand, und wenn er auch nur mei­ stens einige armselige Schriftsteller, wie Sievers und Philippi, „Zwerge, nicht Riesen" bekämpfte, so hatte er eS doch auf das „Un­ geziefer" der Schriftsteller überhaupt abgesehen, und hielt eS für

seine Pflicht „das Unkraut auf dem Parnaß auszugäten und die Fliegen und Mücken, so die Einwohner desselben beunruhigen, rveg-

zufangen." Er vertheidigte die ungewohnte Freiheit seiner persön­ lichen Satire als ein allgemeines Menschenrecht, und übte schonungs­ los sein Amt in einer lebendigen, klaren, correcten und nachdrück­ lichen Sprache. Sein Kampf für Aufklärung wurde später von hervorragenden Männern mit größerem Erfolg fortgesetzt, und sein« Verdienste geriethen darüber in Vergessenheit.

Wenn er sich auch

an der Poesie als solcher nicht betheiligte, so blieb doch die Rich­ tung seiner Kritik nicht ohne Einfluß auf die

kritische Polemik,

sich bald darauf entspann zwischen den Leipzigern und Schweizern. Er war zwar Mitglied der deutschen Gesellschaft in welche

Jena, allein er bewies für dieselbe kein Interesse, ja reizte sogar durch die Spöttereien auf die kleinen Geister ihren Unwillen [*eoJ.

Seine Kritik trifft Gottsched mehr als den anmaßenden Geschmacks­ richter denn als den schalen Dichter; in der Vorrede zur zweiten

Auflage der Heineckischen Uebersetzung des Longin (Dresden 1742)

tritt er entschieden auf die Seite der Schweizer gegen Gottscheds

und dessen Genossen Anmaßungen.

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

163

Die beiden Hauptrichtungen, welche die Reaction gegen die Geschmacklosigkeit der Literatur genommen hatte, theils von einer auf Correctheit dringenden Verständigkeit, theils von der inneren Lebendigkeit und Frische des Gefühls aus, fanden zuletzt ihre Ver­ tretung in zwei literarischen Gesellschaften, in der sogenannten Leip­ ziger- undSchweizerschule, an deren Spitze dort Gottsched, hier Bodmer stand. Joh. Christoph Gottsched wurde 1700 zu Judithenkirch unweit Königsberg geboren, wo sein Vater Prediger war und den Sohn bis zur Universirät selbst unterrichtete. Dieser bezog schon in seinem 14. Jahr die Universität, wo er außer Theologie Sprachen und schöne Wissenschaften studirte. In derDichtkunst wurde Pietsch sein Lehrer. Wegen seines großen, schönen Körperwuchses fürchtete er, von Friedrich Wilhelm I. der Potsdamer Garde ein­ verleibt zu werden, und nahm daher, um sich dem Militärdienste zu entziehen, 1724 seine Zuflucht nach Leipzig, wo er in Mencke's Hause freundliche Aufnahme sand. Schon im folgenden Jahr be­ gann er mit der Zeitschrift „die vernünftige Tadlerin" die Reihe seiner Wochenschriften und kritischen Journale. Im Jahr 1726

wurde er Senior der deutschübenden poetischen Gesellschaft in Leip­ zig; er gab derselben eine neue Einrichtung und nannte sie: Leip­ ziger deutsche Gesellschaft. Nachdem er schon längere Zeit als Privatdocent in Leipzig ästhetische Vorlesungen gehalten hatte, wurde er 1730 außerordentlicher Professor der Philosophie und Dichtkunst und 1734 ordentlicher Professor der Logik und Meta­ physik. Im Jahr 1735 verheirathete er sich mit Louise Adel­ gunde Victorie Culmus (geb. zu Danzig 1713), einer Frau von umfassender Bildung, die nicht nur selbst als Schriftstellerin auftrat, sondern auch ihren Gatten in seinen literarischen Arbeiten unterstützte und ihm an Geist weit überlegen war. Die dreißiger Jahre des Jahrhunderts waren die Blüthezeit Gottscheds, in denen er als eine Art Dictator den deutschen Geschmack von Leipzig aus beherrschte. Im Jahr 1740 entspann sich der Kampf mit Bodmer, der bis zu Gottsched's Tod (1766) mit der größten Erbitterung fortgeführt wurde. Joh. Jak. Bodmer, der Sohn eines Predigers zu Greifen­ see bei Zürich, wurde 1698 geboren. Seine Schulbildung erhielt er zu Zürich. Da er zum geistlichen Stande keine Neigung hatte, so sollte er Kaufmann werden. Er wurde deshalb nach Italien ge­ schickt; doch sprach ihn diese Beschäftigung nicht an, und er ging

11*

164

Zweite Periode.

Von dem ersten Vierte!

1720 nach Zürich und studirte dort die Geschichte und die Richte seines Vaterlandes.

Im Jahr 1721 stiftete er im Verein mit dem

gelehrten Theologen und Philologen Joh. Jak. Breitinger (geb. 1701 zu Zürich, starb daselbst 1776) eine gelehrte Gesellschaft, aus welcher die Wochenschrift „die Discurse der Maler" hervorging.

Bodmer wurde 1725 zum Professor der helvetischen Geschichte und der Politik in Zürich ernannt, und 1737 zum Mitglied des großen Raths.

Frühzeitig verlor er seine Gattin und seine Kinder; er

lebte daher nur seinem Amte, welches er 1775 niederlegte, und

den Musen in stiller Abgeschiedenheit, junge aufblühende Talente begünstigend und aufmunternd. Bei einer dauerhaften ungetrübten Gesundheit erreichte er das 85. Lebensjahr und starb am 2.

Jan. 1782. Die beiden literarischen Parteien mit ihren Führern an der Spitze wirkten längere Zeit friedlich neben einander, obgleich ihre

Principien

entgegengesetzt waren, indem Gottsched

das Opitzsche

Princip der verständigen Regelrechtigkeit nach 100 Jahren erneuerte und das formell Abgeschlossene des französischen Geschmacks festhielt, Bodmer dagegen nebst Breitinger die Natürlichkeit der Empfindung, den Reichthum der Phantasie und das Volksmäßige in der engli­ schen und alttestamentlichen Dichtung geltend machte. Beide stimm­ ten zunächst überein in der Reaction gegen die frühere Dichtungs­

weise und in dem Streben nach wahrhafter Förderung der deutfchen

Literatur, sowie auch in ihrer Verehrung für Opitz.

Gottsched

wußte nach verschiedenen Seiten hin seinen Ansichten Geltung zu verschaffen. Bei den Gelehrten gewann er Einfluß als Wvlsianer und er konnte es nicht oft genug wiederholen, daß seine kritische Dichtkunst (Leipz. 1730) im Wölfischen Systeme die Lücke der

Poetik ausfülle. Zu den Theologen erhielt er dadurch ein näheres Verhältniß, daß er überall in Opposition gegen die Freigeisterei

trat.

Dem Hof und dem Adel machte er sich als Grlegenheitsdich-

1er verbindlich, und seine Frau brachte ihn in eine günstige Stel­ lung zu dem schönen Geschlecht.

Vor Allem aber verstand er durch seine Schulbücher (seine ausführliche Redekunst 1728, 1759, seine deutsche Sprachkunst 1748) und durch Artigkeiten, die er den Schul­ männern sagte, sich Eingang in die Schulen zu verschaffen, und er

gewann auf diese Weise allmählich eine literarische Alleinherrschaft, die er über 30 Jahre ausübte, namentlich in den drei nordöstlichen

Provinzen: in Preußen, von wo er ausgegangen, in Sachsen, wo er jetzt ansäßig war und in Schlesien durch das Lob, welches er

165

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Opitzen ertheilte.

Er erwarb sich den Ruhm eines Dichters mit

dem des Kritikers, und indem er sein Hauptaugenmerk auf das Drama richtete, wurde er wegen seines „sterbenden Kato" (1732),

welches Drama er dem Kato des englischen Dichters Addison nach­ bildete, als Wiederhersteller der deutschen Bühne verehrt, und er

schien die Würde des Theaters um so mehr wieder gehoben zu ha­ ben, als es ihm in Verbindung mit der Schauspielerinn N euber,

der Directrice des Leipziger Theaters, gelang (1737), den Hanswurst förmlich und feierlich von der Bühne zu verbannen [l80b]. Je höher nun Gottsched's Ansehen stieg, um so reizbarer und empfind­

licher wurde er, wenn ein Widerspruch sich gegen seine Ansichten hervorthat, und indem er sich in seinen literarischen Leistungen über­ schätzte, suchte er in beschränkter Ausschließlichkeit sich gegen die li­ terarischen Fortstrebungen

der Zeit zu behaupten.

Bodmer war

nun weit entfernt von der pedantischen Schulgelehrsamkeit Gott­ sched's; er war ein Enthusiast und betheiligte sich an mannigfalti­ gen literarischen Versuchen ohne tiefer eingehende Gründlichkeit. Ihm

zur Seite stand der besonnene und gelehrte Breitinger, welcher durch seine Kritik die eigentliche Stütze der Schweizerschule war, ohne daß er sich bei seiner Bescheidenheit in den Vordergrund drängte. Von beiden wurden in den Discursen der Maler und deren Fort­ setzung „der Maler der Sitten" mehrere Punkte aus der Theorie der Poesie besprochen, und es bildeten sich bei ihrem Studium al­

ter und neuerer Literatur immer bestimmter ihre Principien aus. Ein tieferes poetisches Gefühl gab ihrem Geschmack mehr die Rich­ tung aus das Innere der Dichtung und leitete sie auch auf die

englische Literatur hin, der sie den Vorzug vor der französischen zu­

erkannten.

Mit schwärmerischem Eifer hing vorzüglich Bodmer an

Milton und hatte schon 1720 den Anfang zu einem Gedichte von

der Schöpfung und den Plan zu seiner Noachide gemacht.

Im

Jahr 1727 schrieb er seine Abhandlung von dem Einfluß und Ge­ brauch der Einbildungskraft zur Ausbesserung des Geschmacks. Der Gegensatz zwischen Gottsched's und Bodmer's Principien trat im­

mer entschiedener hervor, und als letzterer 1732 seine Uebersetzung von Milton's verlornem Paradiese herausgab, da kam zuletzt der Zwiespalt zu offenem Durchbruch [*”]. Gottsched spottete über die reimlosen Verse und über den wunderlichen Gegenstand, über

den Satan als Helden und den Fall des Menschengeschlechts, und während Bodmer dies Gedicht als ein ächtes Vorbild für das Epos

hinstrllte, verkündigte Gottsched mit Zuversicht, daß der Miltonsche

166

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Geist sich nie in Deutschland ausbreiten werde.

Als nun Breitin-

ger 1'740 seine kritische Dichtkunst herausgab und 1741 Bod-

mer's Abhandlung über das Wunderbare erschien, da begann der literarische Kampf. Gottsched war schon ungehalten über den Ti­ tel von Breitinger's Buch, das er durch seine eigene kritische Dicht­ kunst glaubte überflüssig gemacht zu haben, aber noch mehr ent­

brannte sein Unwille über die ganz neuen Ansichten und Grundsätze, die dort verkündigt wurden. Er ging wie die ganze Opitzische

Schule von der Ueberzeugung aus, daß die Poesie Sache des Ver­ standes, der ruhigen Ueberlegung, nicht aber Sache der Phantasie sey, denn diese zeige sich nur als die Mutter aller Unregelmäßig­ keiten, Abenteuerlichkeiten und Tollheiten; zuerst habe man die Re­ geln der Poesie und dann die Poesie selbst gehabt, und es komme

daher für die Wiedererzeugung poetischer Productionen in Deutsch­ land „auf die Wissenschaft der Regeln" an.

Gottsched giebt daher

von allem Formellen der Poesie, von Reim, Vers, Bild, Sprache einen historischen Ueberblick, er setzt auseinander, was zum Wesen

einer jeden Gattung gehöre, und ohne sich auf die Erforschung von

dem Begriff des Schönen einzulassen, spricht er über das zu einem Dichter Erforderliche.

Menschliche Dinge nachzuahmen sey die Auf­

gabe des Poeten, und die poetische Thätigkeit des Geistes bestehe in der Fähigkeit, vieles an einem Dinge wahrzunehmen, welches

einem Anderen, der

mit stumpfen Sinnen und blödem Verstand

ausgerüstet sey, zu entgehen pflege.

Menschliche Handlungen, die

ihren Ursprung in Gemüthsneigungen und Affecten haben, seyen eine vorzügliche Aufgabe für den Dichter.

Ahmten daher Tasso und

Milton Engel und Teufel nach, so hieße dies aus der poetischen Sphäre schweifen, denn wie könne eine Abschilderung gelingen, de­ ren Originale man wenig oder gar nicht kenne?

Wie die Wolfia-

ner alles demonstriren wollten, so wollte dies Gottsched auch in der Poesie angewandt wissen, und man spottete daher über ihn,

daß er eine Dichterzange habe, die so oder so gestellt ein Helden­ Während

gedicht, eine Ode, ein Drama zu produciren fähig sey.

er nun so auf seinem abstrahirten Regelwesen beharrte, und die Regel vor der Anlage achtete, seinen Kunstbüchern größeren Werth zusprach, als der Natur, suchten die Schweizer tiefer in die ur­ sprünglichen Quellen und das innerste Wesen der Dichtkunst ein;

zudringen; sie strebten mehr nach einer Poesie des Herzens als des Verstandes, sie hatten eine Ahnung von der unmittelbaren Bethei­

ligung des ganzen Menschen durch's Gemüth und kamen auf die

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

167

totale Erregung der geistigen Kräfte, durch welche die Einbildungs­

kraft zur Erfindung gereizt werde.

Breitinger's kritische Dicht­

kunst wird eben hierdurch von so großer Bedeutung, weil es das erste Buch war, das näher einging auf das Wesen der Poesie und

auf den Ursprung des Interesses an derselben.

Er geht aus von

der Vergleichung der Malerei mit der Poesie und versteht unter poetischer Malerei allgemein die Dichtung, und zielt bei seiner Ver­ gleichung beider Künste besonders auf die Phantasie ab. Die Gegenstände der Natur beziehen sich entweder auf unseren Verstand

oder auf unser Gemüth, sie sind entweder lehrreich oder rührend; die letzteren sind von sicherer Wirkung. Das Gemüth wird aber mehr von etwas Ungewohntem gerührt; der Dichter soll daher das Neue suchen, dessen höchste Potenz das Wund er bare ist, und dies

findet sich in zwei Erdichtungen, in der Allegorie und in der Fabel, wenn der Dichter durch die Kraft seiner Phantasie ganz neue Wesen schafft oder wirkliche Wesen zur Würde einer höheren Natur erhebt [,82J.

In der Fabel findet sich das Wahre mit dem

Wunderbaren, das utile dulci, sie hat daher die höchste Kraft der Schönheit, und ist die höchste Gattung als Erfindung oder Erzäh­

lung einer Begebenheit (fabula von fari), und das Epos selbst ist nur eine ausführliche Fabel, wie die Fabel im engeren Sinn ein

kleines episches Gedicht. Doch Hauptgegenstand der Dichtung bleiben immer Handlungen, und sollen Begriffe poetisch gestaltet werden, so muß die bildliche Einkleidung ihnen anschauliche Wirksamkeit ge­ ben. Wie Gottsched bei seiner Theorie das Drama im Auge hatte, das ihm als die höchste Gattung gilt und als dessen Repräsentan­

ten er die Franzosen hinstellt, so faßte Breitinger das Epos ins

Auge, wie es sich bei den Italienern und Engländern gebildet hatte, und zeigte auch auf Homer hin, von welchem Bodmer einzelne

Bruchstücke übersetzte.

Während sich nun in den Schweizern das

Princip des Fortschrittes regte, blieben die Gottschedianer der Sta­ bilität und der verständigen Formalität befreundet, und dies um so mehr, als Gottsched die armseligsten Talente begünstigte und die

schlechtesten Reimer als unvergleichliche Dichter pries und bei die­ ser Protection des Mittelmäßigen alles Treffliche herabwürdigte und

bei seiner immer starrer werdenden Formalität gegen die lebendige Gewalt der neu sich gestaltenden geistigen Formen reagirte.

Wie ihm, der sich immer mehr in seiner Boileau-Französischen Abstraction verfestete, Milton in innerster Seele zuwider war, so galten ihm auch Shakespeare's Werke als Barbareien, und Klopstock's Mes-

168

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

stas stand ihm so ziemlich auf gleicher Stufe; die Erhabenheit die­ ses Gedichts galt ihm für nahe an Thorheit und Wahnsinn. Er nannte Klopstock nie anders als Klopfstock und entdeckte schon in dessen Namen einen Sprachfehler und sprach von ihm als den sehraffischen Dichter mit mizraimischen Gedanken. Auf welche Seite sich der Sieg in dem Streite zwischen den Leipzigern und Schweizern neigen sollte, konnte nicht lange unentschieden blei­ ben, da Gottsched's Sache eine bereits schon im Geiste überwundene war; daher er auch nicht sowol den Schweizern, als dem fortge­ schrittenen Geiste der Zeit erlag, und es schlossen sich bald alle großen Männer der nächsten Zeit in ihrer Jugend auf das Innigste an die Schweizer an. Innerhalb zehn bis fünfzehn Jahren sah Gottsched sich nach und nach aus den Punkten herausgeschlagen, in denen er sich bisher festgesetzt hatte, und es folgte für ihn eine Demüthigung nach der anderen. Er überwarf sich mit der Neuber, die sich seiner Bevormundung entziehen wollte; wegen seiner Angriffe brachte sie ihn in einem Vorspiel auf das Theater zum allgemeinen Ergötzen des Publikums. Ein junger Dichter Rost, früher Gottsched's Schüler, besang diesen Vorfall in einer an Witz sehr reichen komischen Epopöe „das Vorspiel in fünf Gesängen" und die Schweizer beeiferten sich dasselbe sogleich durch zwei neue Ab­ drücke zu verbreiten. Außerdem hatte Rost es zu veranstalten ge­ wußt, daß eine von ihm, verfaßte Epistel des Teufels an Gottsched diesem auf einer Reise bei jeder Station, wo er verweilte, überreicht wurde. Auf diese Weise rächte sich an ihm die bisher geübte Schuldespotie, und es wurde durch die Berufungen an die öffent­ liche Meinung die Literaturangelegenheit mehr und mehr Sache des Volks, indem auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft eine freiere republikanische Bewegung eintrat. Die Wechselwirkung zwischen den Leipzigern und Schweizern diente dazu, sich einander mehr und mehr zu nähern. Nord- und Süddeutschland, Niedersachsen, Ober­ sachsen und Schlesien begegneten sich und glichen sich allmählig aus. Wie sehr nun auch Gottsched den lebendigen Fortschritt unse­ rer Literatur hemmte, indem er als Repräsentant der Alltagspoesie in den niederen Schichten der sogenannten gebildeten Gesellschaft fortwirkte, so ist doch sein Verdienst als eines wirklich vaterländi­ schen Mitarbeiters an dem Werke der Wiedergeburt deutscher Na­ tionalliteratur nicht zu übersehen. Vor Allem suchte er durch Wort und Schrift die Liebe zur Muttersprache zu beleben, und bewahrte

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

169

sich eine deutsche Gesinnung, wie sehr er auch durch französische Muster gebildet war und diese selbst anempfahl; er wurde auf diese nur geführt durch seine einseitigen Begriffe von der Natürlichkeit,

Faßlichkeit und Klarheit, die er für die Poesie forderte und in den französischen Vorbildern antraf.

Bei seinem Streben, auf Natio­

nalität hinzuarbeiten, scheute er sich nicht mit gleicher Freimüthigkeit gegen die französische Akademie, wie gegen die lateinische Schul­

poesie zu Felde zu ziehen, wie auch gegen die Jesuiten, welche die

Sprachmengerei fortsetzten. Hierin lag sein Hauptverdienst, obgleich

er von diesem weit seltener spricht, Verdiensten geringerer Art.

als von seinen eingebildeten

Herder nennt ihn in seinen Fragmen­

ten der deutschen Literatur den Goldfinder, der den Stall des Augias mit herculischer Hand gereinigt habe, wenn er auch durch

denselben nur das Wasser einer in vielen Krümmungen schleichen­ den Weitschweifigkeit hindurchleitete und fränkische, welsche, lateini­

sche Phrasen wegschwemmte. Man nannte ihn mit spöttischen Sei­ tenblicken auf seine deutschthümelnden Bestrebungen „den großen Teutobach" auch wohl „Teutobock." Es waren aber seine Zwecke ebenso deutsch, wie die des Thomasius, und er wirkte für diese durch seine vielen deutschen Schulbücher, und beschränkte außerdem die ausschließliche Geltung der französischen Poesie, besonders auf der Bühne, zu Gunsten der deutschen Dichtung, und wurde Be­ gründer des deutschen Theaters [l88j. Gottsched fand eine entar­

tete Oper und ein gemeines Poffenspiel vor [184], und im Verein mit der Neuberin kämpfte er erfolgreich zuerst gegen die dramati­ schen Staatsactionen und Harlekinaden.

Er übersetzte nebst seiner

Frau französische Stücke und producirte selbst ein Originaldrama

„der sterbende Cato." Als es ihm gelungen war, die Burleske und endlich auch die Oper von der Bühne zu verdrängen, sah er sich als den Richter des Geschmacks für das deutsche Theater an.

Im Jahr 1740 begann er die Herausgabe der „deutschen Schau­ bühne," in welcher außer den Uebersetzungen die deutschen Ori­ ginalstücke verzeichnet wurden, an die er die Hoffnung knüpfte, daß

wir den Franzosen nicht lange mehr den Vorzug würden zugesteydn dürfen.

Nachdem die Zoten und Gemeinheiten der Burlesken

und der Oper beseitigt waren, sah er auch die Vorwürfe entkräftet, die das Theater von Seiten der Geistlichkeit erfahren hatte, und es wurde auf diese Weise durch seinen moralischen Eifer dem Schau­ spiel wieder Würde und Ansehen gegeben, so daß auch der Adel

und die Gebildeten sich für dasselbe interessiren konnten.

Leipzig

170

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

wurde eine Art Mittelpunkt der deutschen Bühne, und alle dieje­ nigen, welche sich in sonstigen Sachen des Geschmacks von Gott­ sched abwandten und sich an die Schweizer anschloffen, arbeiteten für das Theater in seiner Manier und im französischen Geschmeck; alles was bis um 1750 hin einigen Namen unter den Bühnendich­ tern hatte, war von Leipzig ausgegangen und gehörte zu Gottsched'Schule. Was die literarhistorischen Verdienste Gottsched's «»be­ trifft, so treten sie vorzüglich hervor in seinen „Beiträgen zur kri­ tischen Historie der deutschen Sprache" und hauptsächlich in seinem „Röthigen Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst" (1765) und gewähren Anregung und Stoff zum Forschen. Er ging auch auf die alldeutsche Literatur zurück und beschäftigte sich mit einer Bearbeitung des Reineke Fuchs; in die­ sen Bestrebungen traf er mit Bodmer zusammen, der aber tiefer hineingriff in die Blüthenzeit der mittelhochdeutschen Dichtung, mehrere Nibelungenfragmente bekannt machte, und die Herausgabe des jParcival vorbereitete, außerdem die Maneffesche Sammlung der Minnesänger und die Bonerschen Fabeln herausgab. Wenn auch Bodmer ebenso wenig ein Dichter war wie Gottsched, und seine poetischen Produktionen seinen Ruhm am wenigsten för­ derten, so erkannte er doch tiefer und bestimmter, wo ächte Poesie sich finde und folgte den Regungen des Zeitgeistes [ieeJ. In einem seiner Gedichte „Charakter der deutschen Gedichte" charakterisirt er treffend die Dichter des 17. Jahrhunderts und zeigte, wie er über jede Art von konventioneller Poesie hinwegstrebte; doch verfiel auch er, wie Gottsched, später auf ein gemachtes Formklwtr sen und glaubte die Literatur machen zu können. Er überlebte bei dem hohen Alter, daS er erreichte, sich und sein Ansehen und konnte dem Lächerlichen ebensowenig entgehen, als Gottsched. Unter den vielen Gottschedianern, einem Triller, Schwaben, m.a. soll hier nur Christoph Otto Freiherr von Schönaich her­ vorgehoben werden, da in ihm Gottsched glaubte diejenige Pro­ duktivität wahrzunehmen, die ihm selbst fehlte, um seine Theorie durch die Praxis zu bethätigen. Er machte ihn zum Epiker, zum Satiriker, zum Dramatiker. Damit er eine Heldendichtung nach seinen Principien und seinem Geschmack gewinne, bestimmte er Schönaich das Heldengedicht „Hermann oder das befreite Deutsch­ land" zu schreiben (1751); es erregte aber dies Gedicht ungeachtet des nationalen Stoffes keine Theilnahme, und diese Unwirksamkeit kam ebensowol von der breiten, matten, schleppenden Darstellungs-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

171

weife, als auch von der geringeren Geltung, welche damals noch das nationale Element hatte. Die religiöse Sphäre war vielmehr

diejenige, welche das Zeitbewußtseyn am tiefsten und lebendigsten bewegte, und Klopstock's Genius traf daher die zeitgemäße Wahl des Stoffs. Schönaich ließ sich auch von Gottsched bestimmen, als Satiriker gegen Klopstock und Bodmer aufzutreten, und schrieb „die ganze Aesthetik in einer Nuß oder Neologisches Wörterbuch" u. s. w.

(1754).

Es sollte hierdurch namentlich Klopstocks Sprache, die er

in der Messiade führt, lächerlich gemacht werden; doch diente diese

Satire nur dazu, Gottsched nebst seinem Schönaich in völlige Ver­ achtung zu bringen, während die verspottete mizraimische Dichtung sich unaufhaltsam Bahn machte. 3.

Die Leipziger Dichtergruppe.

Gottsched sollte in seiner nächsten Umgebung die ersten Wirkun­

gen der Züricher Kritik erfahren, indem seine Freunde und Lands­ leute sich nach und nach in großer Anzahl von ihm abwandten. Sein ergebenster Anhänger, Schwabe, hatte seit 1741 eine Zeitschrift herausgegeben unter dem Namen: Belustigungen des Ver­ standes und des Witzes (bis 1745 auf 8 Bände). In diesen Belustigungen wurde der Streit zwischen den Leipzigern und Schwei­ zern fortgesetzt. mische Epopöe

Gottsched ließ in das erste Heft derselben eine ko­ „der deutsche Dichterkriegin Prosa, einrücken.

Mehrere strebende Jünglinge, die damals in Leipzig studirten und

deren Talente von Gottsched zur poetischen Thätigkeit angeregt wurden, lieferten zu der Zeitschrift Beiträge: Gellert's erste Fabeln

und ein Lustspiel von ihm, Rabener's erste Satiren, Zachariä's Renomist u. s. w. erschienen in dieser Zeitschrift. Bald wurden aber mehrere unter den jungen Männern der Schuldespotie Gottsched's überdrüssig, der neben ihnen die elendesten Reimer begünstigte. Sie zogen sich daher von der Zeitschrift zurück

und traten zu einem

neuen Vereine zusammen mit dem Bestreben, hinzuwirkcn auf die Geschmacksläuterung der deutschen. Literatur. Selbstkritik ihrer Ar­

beiten bildete den Gegenstand ihrer wöchentlichen Zusammenkünfte; nach Außen hin nahmen sie eine friedfertige Stellung ein in der Ueberzeugung, daß jetzt nicht die Zeit zur polemischen Kritik, son­

dern zum Schaffen

sey.

Der eigentliche Stifter dieses Vereins

war Earl Christian Gärtner aus Freiburg in Sachsen (1712 — 91) und neben ihm standen Andreas Cramer (1723 — 95) und

AdolfSchlegel (1721 — 93).

Es wurde eine eigene literarische

172

Lwrite Periode. Bon dem ersten Viertel

Zeitschrift gestiftet unter dem Titel: „Neue Beiträge zum Vergnü­

gen des Witzes und des Verstandes," die nach dem Druckort Bre­ men die Bremer Beiträge heißen [*••].

Bald gesellter sich

zu ihnen Gottlieb Wilhelm Rabener (1'714—71), Arnold

Schmid (1716—89),

Arnold Ebert (1723 — 95), Elias

Schlegel (1718—49), Fr. Wilh. Zachariä (1725—77), spä­ ter folgten Christian Fürchtegott Gellert (1715 — 69), und

Nicolaus Giseke (1724 —77); auch Hagedorn, Glein uud zuletzt Klopstock betbeiligten sich bei dieser neuen Zeitschrift. Es war eine auf Freundschaft und Liebe gegründete Vereinigurg, in

welcher eine freiere, heitere Lebensstimmung im Gegensatz vonGott-

sched's steifer Gelehrtensttte hervortrat, daher auch Hagedorn mit

dem geselligen Ton seiner Poelie das verehrte Vorbild wurde. Man wollte die Liebe zur Dichtung und Beredsamkeit ausbreiten, sich über das Mittelmäßige erheben und nahm auch ausdmcklich

Rücksicht auf einen Leserkreis von Frauen. Es sollte in Witz und Spott, in Ernst und Satire Belehrung gewährt werden, uni man ging wie Hagedorn auf die neuen englischen Muster und als das Vorbild Horazens ein. Diese Dichter bildeten daher eine Vermit­ telung zwischen der leipzig-sächsischen und schweizerischen Schrle. so wie sie auch die Nieder- und Obersachsen einander näher rückten.

Die Elemente der Hagedornschen Poesie, das heitere Lied, das Epi­ sche und Didaktische in Fabel und Erzählung, »ertheilten sch an

Einzelne: das Didaktische nahm Rabener in der prosaischer Sa­ tire, das Epische in Verbindung mit der Satire Zacharir, die

Fabel Gellert, das heitere Lied Ebert, und Giseke ward Brr« treter der Lyrik in dem empfindsam sentimentalen Ton, der später vorherrschend wurde.

Gärtner, der mehr ein verständig-kütissches

als productives Talent hatte, war der Redacteur des zum Druck

bestimmten Materials und übte die Kritik aus.

Die Empsndmng

der Freundschaft war es besonders, die sich in diesem Kreie aus­ sprach, wie sie sich überhaupt damals im ganzen Geschlecht« regte. Nachdem Brockes für die Reize der Natur gestimmt uw .Ha­ gedorn für die Grazien des geselligen Umgangs, ward jitzt die Freundschaft die Muse, welche das tiefere Glück derselben oerikün-

dete. Die poetischen Productionen selbst hielten sich mehr in der Sphäre der mittleren Poesie; sie geben weder eine kräftige Gestal­ tung des äußeren Menschenlebens noch eine klare Wiederspirgellung

des inneren Menschen. Anstatt wirklich epischer Dichtung irhcalten wir die Fabel und die moralische Erzählung, anstatt des ArsdiruckS

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

173

lyrischer Empfindung und Leidenschaft eine Aufmunterung. LU fro­

hem oder würdigem Lebensgenüsse, anstatt tüchtiger Charakterfchilderung moralische und satirische Schildereien.

Der Hauptzweck ist

das Praktische der Belehrung, und in dem sprachlichen Ausdruck geht das Streben auf Reinheit und Correetheit, auf Faßlichkeit und Klarheit. Nicht eine gewaltsame Aufregung war das Ziel; diese widerstrebte der vorherrschenden Friedlichkeit und der Abneigung der

jungen Dichter von allen literarischen Streitigkeiten; es sollte nur allmählig erst das Bessere vorbereitet werden. Ihre Moralpoefle erhielt durch das Einstehen für christliche Tugend und durch die

Bekämpfung der Freigeistcrei eine bestimmtere Färbung.

Es war

indeß dieser Verein der Leipziger Freunde ein vorübergehender; der Zufall hatte sie wahrend ihrer Universitätsjahre zusammengeführt,

und es wandelte sich das selige Gefühl der Freundschaft um zu dem der Wehmuth des Scheidens und der Trennung. Hierzu kamen trübe Lebenserfahrungen, welche die Stimmung einzelner Freunde

verdunkelten, woraus Klagen für den ganzen Freundeskreis ent­ standen. Ein elegischer Ton der Wehmuth und der sentimentalen Trauer ließ daher die sittliche Stimmung hinter der religiösen zu­ rücktreten, und es hatten zuletzt die geistlichen Gedichte vor den

weltlichen das Uebergewicht, wodurch immer mehr eine tiefere Ver­ einigung des Religiösen und Aesthetischen herbeigeführt wurde, wie sie namentlich Klopstock anstrebte. Dieser war der Her­

vorragendste in dem Kreise der Leipziger Freunde und berufen, das Höchste zu leisten, indem er die ausschließlich religiöse Er­ hebung abschloß und vollendete, und das religiöse Element mit dem poetischen, mit den Gesetzen der Schönheit und Kunst versöhnte. Von ihm haben wir die poetische Schilderung des Zusammenlebens der weichen und sanften Freude in der Ode „Wingolf," so wie er auch die Wehmuth wegen der Trennung der geliebten Freunde am schärfsten in der schwermüthigen Ode „an Ebert" gezeichnet hat.

Es wurden die Leipziger Freunde nach verschiedenen Richtun­ gen hin zerstreut; sie wanderten nach Nieder- und Norddeutschland, Und dies ist bezeichnend für die allmählige Verödung der sächsischen Literatur: El. Schlegel, Cramer und Klopstock kamen nach Kopen­

hagen; Ebert, Schmid und Zachariä

nach Braunschweig; Giseke

und Ad. Schlegel nach dem Hannöverschen. Es blieb nur Gellert in Leipzig und Rabener wenigstens in Sachsen, und beide wurden Lieblingsschriftsteller ihrer Zeit und Vertreter der bürgerlich gesinn­

ten Mittelklasse des Volks.

174

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

Christinn Fürchtegott Gellert wurde 1715 zuHaymchen nicht weit von Freiberg geboren, wo sein Vater Prediger war. Er zeigte früh Anlage zur Dichtkunst und erhielt seine geistige Ausbil­ dung auf der Fürstenschule zu Meißen, wo er mit Gärtner und Rabener vertraute Freundschaft schloß. Hier war er fünf Jahre von 1729—34, und ging dann nach Leipzig, um Philosophie, Theologie und Literatur zu studiren. Eine ihm angeborene Schüch­ ternheit hielt ihn aber von dem geistlichen Stande ab, obgleich er schon öfter mit Beifall gepredigt hatte. Er wurde Hauslehrer und ging 1741 wieder nach Leipzig, wo er zuerst an Schwabe's Zeit­ schrift Theil nahm, dann aber sich an die Bremer Beiträge anschloß, nachdem er mit El. Schlegel, Gärtner und Cramer einen innigen Freundschaftsbund gestiftet hatte. Er wurde 1744 Magister, und las über Moral, Poesie und Beredsamkeit; er schrieb mehrere Schrif­ ten und gab 1746 und 48 den ersten und zweiten Theil seiner Fa­ beln und Erzählungen heraus, und 1747 und 48 den ersten und zweiten Theil der schwedischen Gräfinn, und außerdem die Trost­ gründe wider ein sieches Leben. Im Jahr 1751 erhielt er eine außerordentliche Professur und schrieb zu seiner Antrittsrede als Professor das Programm de comoedia commovente [l87]. Er litt schon jetzt viel an Hypochondrie und bestand bis 1757 dreimal tödtliche Krankheiten. Es erschienen bis 1754 von ihm die Lust­ spiele, Briefe und Lehrgedichte, 1756 die Sammlung vermischter Schriften, und 1757 die geistlichen Lieder. Je inniger er an sei­ nen Freunden hing, um so schmerzlicher war es ihm, als er sich allmählig von allen verlassen sah. Zunehmende Körperleiden quäl­ ten ihn bis an sein Ende; doch er ertrug alle Schmerzen mit einer ihn beseligenden Stille des Herzens, und er starb, wie er gelebt, fromm und sanft den 13. December 1769, überall im ganzen deut­ schen Lande nur mit Liebe und Ehrfurcht genannt [* 88J. Gellert war der erste populäre Dichter Deutschlands, der tief einwirkte auf das Leben der Nation. Seine Wirkung war weniger unmittelbar eingreifend in die Literatur, weniger eine gelehrte oder künstlerische, als eine sittliche, bei welcher das Gemüth betheiligt war, und so war auch die weitverbreitete Liebe zu Gellert eine gemüthliche. Der Ton, den er anschlug, zog vorzüglich die mittleren Stände an, und hierzu trug die anschauliche Deutlichkeit bei. Diese geht freilich öfter in Redseligkeit und Breite über, bleibt aber bei Gel­ lert immer liebenswürdig, weil sich in seiner Darstellung die fromme Seele, das liebevolle Gemüth, die kindliche Gutmüthigkeit und das

de- 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

175

für jeden Unglücklichen schlagende Herz abspiegelt. Sowol seine poetischen als auch prosaischen Schriften sind durchaus für die mittlere Sphäre des bürgerlichen Lebens bestimmt und bereiteten allmählig in diesen unteren Schichten des Volks die Empfänglich­ keit für das Bessere vor. Außerdem wirkten sie auch der Form nach wohlthätg ein als Muster der Correctheit und Sprachreinheit. Gel­ lert war der erste Schriftsteller, der allgemeinen Eingang auch im katholischen Deutschland fand und somit der neuhochdeutschen Sprache größere Anerkennung verschaffte. In Bezug auf die metrische Form führte er in vielen seiner Erzählungrn und Fabeln die freien Verse ein, in welchen nur die jambische Bewegung das einzig Gleichmä­ ßige ist, während die Verszeilen bald länger bald kürzer sind und die Reime willkürlich aufeinander folgen. Diese freiere Bewegung des Versmaßes trug dazu bei, die Herrschaft des Alexandriners im­ mer mehr zu verdrängen. Wenn nun auch Gellert's poetische Pro­ duktionen nicht frei sind von einem trockenen Hausverstande und die Spuren Gottschedscher Poesie an sich tragen, indem sie sich auf die Stufe gewöhnlicher menschlich-bürgerlicher Lebensauffassung beschränken, so bezeichnen sie doch den Anfang des Besseren und gewährten dem Geschmacke der ganzen Nation eine neue Hülfe. Am weitesten verbreitet wurden seine Fabeln und Erzählungen, in denen er daö Gute in Exempeln und nicht in Regeln eindringlich und das Schlechte verächtlich machte; der Sinn und Inhalt ist so­ gleich einleuchtend und wird einem Jeden, wenn er auch kein gro­ ßer Beobachter ist, durch die eigene Erfahrung gerechtfertigt [*••]. Wie Hagedorn schloß sich Gellert an französische Vorbilder, nament­ lich an Lafontaine, gerieth aber oft in eine weitschweifige Ge­ schwätzigkeit, die namentlich in den moralischen Epilogen am störendsten wird. Seine Lustspiele behandeln zum Theil Gegen­ stände seiner poetischen Erzählungen, wie die Betschwester und die kranke Frau; sie sind int Gottschedschen Geschmack und zeich­ nen sich nur stellenweise durch eine größere Beweglichkeit des Dia­ logs aus, der sich aber gewöhnlich in einer ermüdenden Breite be­ wegt. Sie geben wahre Familiengemälde mit ächt deutschen Zü­ gen, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner eignen Verwandtschaft darin zu erkennen Von einer komischen Wir­ kung kann bei Gellert nicht die Rede seyn, der lieber mitleidige Thränen, als freudiges Gelächter erregen mochte, daher auch das rührende Lustspiel seiner Gemüthsart am meisten entsprach,

176

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

das er mit seinen „zärtlichen Schwestern" bei uns einführte [l61].

Für den Roman nahm er sich Richardson zum Muster, dessen tu­ gendvolle Romane aus dem

einfachen Kreise des Familienlebens

seit 1740 durch deutsche Ucbersetzungen und Nachahmungen bekannt

wurden.

Gellert's „Leben der schwedischen Gräfinn von G." (1747)

war einer der ersten

für jene Zeit

gelungenen Versuche.

Seine

geistlichen Lieder entstanden erst in späteren Jahren und unter diesen sind die moralisircnden die zahlreicheren.

Es machte sich auch

im Kirchenliede in der damaligen Zeit der docirende, zurechtweisende

Lehrton geltend, und man sieht es den Liedern an, daß sie die Frei­ geister überzeugen sollen.

Gellert unterscheidet zwischen Liedern, die

vorzugsweise entweder für den Gesang oder für den Lehrvortrag be­ stimmt sind. Jene sind wahre Andachtslieder, in welchen der fromm ergebene Sinn sich lebendig ausspricht und die Kälte der moralisirenden

Betrachtung überwindet. Gellert hat mehrere solcher Lieder gedichtet,

die in alle Gesangbücher übergegangen sind; sie entbehren freilich der Stärke der religiösen Empfindung, welche das protestantische Kirchenlied auszeichnet, das durch die Freudigkeit und die gesunde

Kraft des Glaubens genährt wurde [l82j. Gottlieb Wilhelm Rabener wurde 1714 in Wachau bei Leipzig geboren, wo sein Vater Rittergutsbesitzer war. Auf der Fürstenschule zu Meißen (1728 — 34) und auf der Universität zu

Leipzig erhielt er seine Bildung.

Er studirte Rechtsgelehrsamkeit,

betheiligte sich aber lebendig auch an schönwissenschaftlichen Gegen­

ständen. Er war Mitarbeiter an Schwabe's Zeitschrift und theilte in derselben unter andern sein scherzhaftes Gedicht mit: „Beweis,

daß die Reime in der deutschen Sprache unentbehrlich sind."

Im

Jahr 1741 erhielt er das beschwerliche Amt eines Steuerrevisors des Leipziger Kreises und war ein gewissenhafter Geschäftsmann.

Seine satirischen Arbeiten dienten zu seiner Erholung; 1753 wurde er als Obersteuersecretär nach Dresden berufen; 1760 brannte er bei dem Bombardement Dresdens ab; 1763 wurde er Steuerrath und starb 1771. Sein literarischer Ruhm gründet sich auf seine Prosa-

Satiren P93], die eine volkstümliche Beliebtheit gewannen, weil sie sich an die beschränkteren Kreise des Lebens hielten.

Sie rich­

ten sich gegen die ärmlichen Provinzialsitten der Landpfarrer und Landjunker, gegen Geizhälse und eingebildete Halbgelehrte, gegen die Eigenheiten und Kleinlichkeiten der Alltagswelt, ohne daß sie wie Liscow's Satire die größeren Uebel, die den Entwickelungsgang der Zeit hemmten, insAuge faßten. Es fehlte bei Rabener die höhere, ideelle

177

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Auffassung

des Lebens,

Darstellungsweise,

wie

auch eine phantasievolle,

originelle

sonst würde er an dem damaligen Kampfe der

Dichterschulen, ferner an dem Kampfe des nationalen Lebens mit

der herrschenden französischen Cultur, an den Lastern, die aus die­ ser in den höheren Ständen hervorgingen, einen reicheren Stoff für

die Satire gefunden haben, als an den Verkehrtheiten, die zu je­ der Zeit unter wenig ^veränderter Gestalt wiederkehren. In die

höheren Regionen des Lebens verstieg er sich aber nicht, und in den Kreisen, in denen er sich bewegte, konnte sich jeder Leser leicht zu recht finden, und seine Satire wurde mit ihrem spießbürgerlichen Witze auch dem einfachsten Verstände faßlich. Die persönliche Satire ließ er nicht zu, und cs fehlt die eigentlich poetische Wirkung der­

selben, welche entsteht, wenn in dem Einzelnen das Allgemeine zur Anschauung gebracht wird, indem uns in bestimmt ausgeprägten

Individuen entgegentreten die Zeitthorheiten, die ein ganzes Ge­ schlecht ergriffen haben, und an denen selbst die Besten der Nation Antheil hatten.

Erst durch diesen Contrast zwischen der allgemei­

nen menschlichen Verkehrtheit und der Bestimmung des Menschen wird die Satire wirksam [**4]. Die übrigen Freunde des Leipziger Vereins wurden, meist als

Lehrer in fruchtbare Wirkungskreise versetzt, fördernde Pfleger einer Heranwachsenden neuen literarischen Generation. In der damaligen Zeit, wo ein lebendiger Eifer für Kunst und Wissenschaft erwacht war, drang diese Bewegung auch an die kleinen deutschen Höfe,

und an vielen Orten zugleich regte sich das Bedürfniß und der Wunsch, an dem Aufschwünge der deutschen Literatur Antheil zu haben. Unter diesen Orten nahm während der Borbereitungszeit un­

serer Nationalliteratur bis in die 80erJahre Braunschweig eine

der ersten Stellen ein ['•*]. Hier war 1745 das Collegium Ca­ rolinum gegründet worden, an welchem durch eine gründliche Pflege des classischen Studiums und besonders auch der deutschen Sprach­

forschung eine harmonische Ausbildung des ganzen Menschen erstrebt

und die Pedanterie der Wissenschaft in ihrer scholastischen Form bekämpft wurde. Es ward daherBraunschweig ein literarischer Mittelpunkt, und es bildete sich hier ein reges Geistestreiben, für welches die vielen Insti­ tute für Kunst und Wissenschaft in der Residenz von großer Förderung waren, namentlich aber auch die Bibliothek zu Wolfenbüttel. Gärt­ ner kam als Professor der Beredsamkeit und Sittenlehre 1748 an das Collegium Carolinum, und suchte auch hier gleichstrebende Freunde,

Zachariä, Ebert, Schmid, durch eine gesicherte öffentliche Stellung Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

12

178

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

für die in Leipzig begonnen« gute Sache zu erhalten, so daß der Kreis der Leipziger Freunde mit ihren Bestrebungen für die Lite­ ratur in Braunschweig einen festeren Sitz gewann, indem Gärtner die früher von ihm 'geprüften Kräfte zusammenhielt. Er gab auch als Lebenszeichen von dem Fortbestand« der früheren literarischen Thätigkeit die „Sammlung vermischter Schriften von den Verfas­ sern der Bremer neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes

und des Witzes" heraus (Leipzig 1748—52 in 3 Bdn). Wie daher von ihm der Impuls des neuen Geistesaufschwunges ausge­ gangen war, so suchte er auch denselben zu erhalten und sortzupflanzrn, und Klopstock hat ihm in dem Odenkranze „Wingolf" (Nr. 54 bis 59) ein schönes Blatt der Erinnerung gewidmet. Justus Friedrich Wilhelm Zachariä 1726 zu Franken­ hausen im Thüringschen geboren, erhielt den ersten Unterricht auf der fürstlichen Landschule seiner Vaterstadt und zeichnete sich schon als Knabe durch Munterkeit des Geistes und eine lebhafte Phan­ tasie aus. Er war ein frühreifes Dichteringenium und wurde in Leipzig, wo er seit 1743 außer der Rechtswissenschaft vorzüglich auch schöne Literatur und Dichtkunst ftudirte, von Gottsched begün­ stigt, und schon 1744 erschien sein Renomist in den Schwabeschen Belustigungen des Verstandes und des Witzes; doch wurde er bald durch Gärtner für die neuen Bestrebungen der Leipziger Freunde gewonnen. Im Jahr 1747 privatisirte er in Göttingen, und auch hier war es die Poesie, welche ihn mit dem Freiherr» von Gemmingen zur innigsten Freundschaft verband. Im Jahr 1748 kam er als Herzog!. Hofmeister an das Collegium Carolinum in Braunschweig, wo seine erfolgreichste Wirksamkeit beginnt, indem er bedeutende Männer, wie den Freiherrn von Zedlitz, zu seinen Schülern zählte. Im Jahr 1754 erschienen seine scherzhaften epi­ schen Poesien nebst einigen Oden und Liedern. Als er 1761 zum ordentlichen Professor befördert war, trug er die Theorie der schö­ nen Wissenschaften nach Batteaur vor und stellte mit talentvollen Zöglingen praktische, poetische Uebungen an. Unter seinen mancher­ lei literarischen Unternehmungen war die verdienstlichste die Samm­ lung „Auserlesener Stücke der besten deutschen Dichter von Martin Opitz bis auf gegenwärtige Zeit" (Brnschw. 1766 —71, 2 Bde.). Beim Studium der älteren Dichter für diese Sammlung kam Za­ chariä auch auf Burkard Waldis und dadurch auf den Gedan­ ken „Fabeln und Erzählungen in Burkard Waldis Manier" (1771) zu dichten. Er suchte durch Hinweisung auf die älteren, geschicht-

179

de- 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

liehen Ueberreste für unsere Literatur eine feste nationale, historische

Basis zu gewinnen.

Mit Gärtner übersetzte

er gemeinschaftlich

Linguet's Beiträge zum spanischen Theater. (Braunschw. 1770

und 71), wodurch zuerst auf die spanische Literatur hingewiesen wurde. Nach einer regsamen, vielseitigen Thätigkeit starb Zachariä im Jahre 1777.

Bei seiner lebhaften Phantasie sah er mehr auf

Leichtigkeit des poetischen Schaffens, als auf Vollendung des Geschaffenen, daher er auch auf die Gelegenheitspoesien einen beson­ deren Werth

legte.

Die ihm eigenthümliche Dichtungsart war

die komische Epopöe, in welcher sich für unsere Literatur die

Erweiterung des epischen Bestrebens zu

erkennen giebt und das

poetische Ersindungsvermögrn immer bestimmter hervortritt.

Dies

äußerte sich zunächst bei Brockes als bloße Nachahmungsgabe im Abschildern und Malen; Rabener's Charakteristiken führten in die kleinlichen Zustände der Menschenwelt ein und zeichneten diese mit

Witz und Laune; die Fabeln forderten schon eigentliche Composi-

tion; die komische Epopöe führte zur Darstellung ausgedehnterer Verhältnisse und verlangte Erfindung, fortschreitende Entwickelung der Begebenheiten und deren allmählige Auflösung. Es bilden hier aber nur einzelne kleine Begebenheiten aus untergeordneten Lebens­ sphären den Gegenstand; der weitere Fortschritt führte zu bedeuten­

deren Handlungen, zum Epos. Während die Idylle die Naturzu­ stände unschuldiger Menschen schildert, bewegt sich die komische Epopöe in den Zuständen einer schon entarteten Gesellschaft, und das Ko­

mische liegt in dem Kontrast, daß ein kleiner Gegenstand in dem

großen Stil drö ernsten Epos behandelt wird.

Eigentlich ist hier

nur die komische Erzählung durch parodirende Anwendung der epi­ schen Maschinerie erweitert. Pope's Lockenraub, von Louise Adel­ gunde Gottsched übersetzt, und Boileau's Chorpult, schon von Drvllinger übertragen, waren die Muster.

Der Renommist von

Zachariä erwarb sich allgemeinen Beifall durch die treue, wahre

Schilderung der studentischen Rauflust; der Gegenstand war frisch quS dem Leben und der Gegenwart genommen, und wirksam ist

hier der Gegensatz zwischen Rohheit (Renommist) und Mode (Stutzer), zwischen den zwanglos rohen Sitten des Jenenser Raufbolds und

den galanten modischen des Leipziger Galans['•*]. Wir erhalten eine lebendige Zeit- und Sittenschilderung, nur fehlt es der Hand­ lung an einem ununterbrochenen Fortgang, und die epische Entwikkelung ist dürftig. Unter den übrigen komischen Epopöen Zachariä's ist „das Schnupftuch" eine freiere Nachahmung von Pope's

12 *

180

Zweite Periode.

Bo» dem ersten Mertel

Lockenraub. Im „Phaeton" und im „Murner in der Hölle" wählte der Dichter statt des Alexandriners den Hexameter. Der Phaeton ist am selbstständigsten behandelt und spiegelt die Eigenthümlichkeit

Zacharia's am treusten ab [*”]. Joh. Arnold Ebert war 1723 zu Hamburg geboren und erhielt seine Schulbildung auf dem dortigen Johanneum, wo Ba­

sedow sein Mitschüler und vertrauter Schulfreund war.

Der Um­

gang mit dem alten Hagedorn führte ihn in die englische Literatur

ein, durch ihn wurde er auch angeregt zu seinen ersten poetischen Versuchen, in welchen er den freieren Ton des geselligen Liedes an­

stimmte [*••].

Er ging 1743 nach Leipzig, um Theologie zu stu-

diren, ward aber von derselben abgeschreckt,

als er sich wegen

eines Hochzeitsgedichts „das Vergnügen" von der Hamburger Geist­ lichkeit verketzert sah. Er wandte sich von nun an gänzlich der schönen Literatur zu und wurde Mitarbeiter an den Bremer Bei­ trägen.

Er kam 1748 als Hofmeister an das Carolinum nach

Braunschweig, wurde 1753 als Professor englischen Literatur ange­ stellt, und starb daselbst als Canonicus und Hofrath im Jahr 1695. Als Dichter vertritt Ebert mehr das epistolographische und lyrische Element der Hagedornschen Poesie, wodurch er in einer näheren

Beziehung zu den Halberstädter Dichtern steht. Er war indeß mehr Gelehrter als Dichter, und stand in den ausgebreitetsten literarischen Verbindungen; oft eilte er nach Hamburg zu seinem Busenfreund Klopstock, und mit Lessing stand er in lebhaftem brieflichem Ver­ kehre [*••]. Seine Uebersetzung von Yvung's Nachtgedanken

(Braunschweig 1760 — 69 ,

4 Bände) erwarb ihm den größten

Ruhm P00], und er kam durch dieselbe der damals in Deutsch­

land herrschend werdenden sentimentalen Stimmung entgegen; doch ihm selbst verdarb die schwermuthsvolle Weisheit Ioung's nicht sein fröhliches Herz, sondern als lebhafter Verehrer der Tafelfreuden wußte er diese durch Heiterkeit zu würzen P° *]. Konrad ArnoldSchmid wurde 1716 in Lüneburg geboren,

wo sein Vater Rector der Johannisschule war, auf welcher er auch

den Grund seiner klassischen und gelehrten Kenntnisse legte.

Er

studirte Theologie in Kiel, Göttingen und Leipzig, wurde 1746

nach dem Tode seines Vaters zum Nachfolger in dessen Amt er­

wählt, und erhielt 1760 den Ruf als Professor der Theologie und lateinischen Literatur an das Carolinum zu Braunschweig.

Er

wurde 1777 Canonicus und erhielt 1786 den Titel eines Consiisto-

xialraths, und starb im 74. Lebensjahr 1789.

Durch seinen reichen

181

de- IS. Jahrhundert- bis zur Gegenwart.

Schatz von Gelehrsamkeit, durch seinen Fleiß, durch seine Dienst­

willigkeit und treffliche Lehrgabe wirkte Schmid nach den verschie­ densten Seiten hin anregend [101J.

Während seines Rektorats in

Lüneburg gab er die von ihm für besondere kirchliche Gelegenheiten verfaßten Weihnachts-Cantilenen heraus unter dem Titel: „Lieder

auf die Geburt des Erlösers" (Lüneb. 1760). Er hatte sich Klopstvck als Muster genommen, durch den ein höherer Schwung in die geistliche Dichtung kam.

Er dichtete auch ein komisches Epos

in

gereimten Jamben „des heil. Blasius Jugendgeschichte und Visio­ nen," das

von

reicher Phantasie zeugt.

Es

entstand in

der

Zeit, als Gärtner Canonicus am St. Blasiusstifte zu Braunschweig

wurde, und enthält manche Beziehungen auf die dortigen und da­ maligen Verhältnisse, die uns zum Theil unbekannt sind. In näherer Verbindung standen mit den Leipziger Freunden,

die sich in Braunschweig zusammen fanden, D. Giseke und Ad. Schlegel. Nicolaus Dietrich Giseke war 1724 zu Günz in Ungarn geboren; er verlor früh seinen Vater, der lutherischer Prediger der

Gespannschaft Eisenburg war, und ging mit seiner Mutter zu ihren Er hatte aber auch bald den Tod seiner Mutter zu beweinen; doch nahmen sich des Verlassenen treue Verwandten nach Hamburg.

Freunde an, und durch seinen liebenswürdigen Charakter erwarb er sich die Zuneigung von Brockes und Hagedorn. Mit einer gu­ ten Ausbildung in Sprachen, Künsten und Wissenschaften bezog er 1745 die Universität Leipzig, wo er sich mit allem Eifer auf die

theologischen Wissenschaften legte.

Seine Nebenstunden gehörten

aber der Dichtkunst und dem Freundeskreise an.

Klopstock hat sein

Andenken durch die schöne „Ode an Giseke" geehrt. Nach vollen­ deten Universitätsstudien privatisirte er abwechselnd in Hannover

und Braunschweig, in letzterem Orte als Erzieher des Sohnes vom Abt Jerusalem.

einzigen

Durch Jerusalem's Vermittelung er­

hielt er 1753 die Pfarrstelle im Braunschweigschen Dorfe Trauten­ stein, und kam von dort nach einem Jahre an I. A. Cramer's Stelle nach Quedlinburg und wurde endlich 1760 vom Fürsten Christian Günther von Schwarzburg Sondershausen, der ein Zög­ ling des Braunschweiger Carolinum war, als Superintendent und

Consistorial-Affessor nach Sondershausen berufen, wo er 1765 schon in seinem 40. Lebensalter seiner Gemeinde entrissen wurde [10SJ. Er verfolgte die erzählende, didaktische Dichtungsweise der Leipziger Freunde, und in seiner Lyrik bricht besonders der empfindsame Ton

182

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

gesteigerter Lugend und Freundschaft hervor.

Durch Hagedorn kam

er auf die Wirksamkeit des durch die Empfindung vermittelten richtigen Tacts, welcher mit dem Ausdruck Geschmack, später durch

den Namen der Grazien bezeichnet ward. Er eifert, wie Brockes und Hagedorn, gegen Schulpedanterie, und erklärt, daß der Ge­ schmack der Pansophus galant mache und ohne denselben der Staats­

mann selbst ein Pedant sey; der Geschmack gebe selbst der Tugend etwas, das ihr fehle; die Freundschaft empfange von ihm Le­

bensanmuth; er treffe überall das Richtige und verbinde damit das Anmuthige und Wohlgefällige. Vor Allem wurde Giseke zur Dich­ tung begeistert durch die Liebe, wie sie die Freundschaft einflößte;

die Frauenliebe dagegen, so sehr sie auch seine ganze Seele durch­ drang, wollte er einem Größeren zu besingen überlassen. Erst Klopstock war es, der sich getraute, seine Liebe der Welt zu eröff­

nen.

Von dem Triebe freundschaftlicher Liebe sagt Giseke,

daß

Gott denselben ihm ins Herz gelegt und diesen Trieb zum Herrn der übrigen gesetzt habe. Freundschaft lehre ihn singen, und der Freunde Beifall sey ihm lieber als der einer Welt. Als ihm der Himmel seine Freunde raubte, war es für ihn Freude, seine quä­ lende Schwermuth in Klagen zu ergießen, und er labte sich dann an dem schmerzlichen Rückblick aus die schöne Zeit in Leipzig [i04]. Joh. Adolf Schlegel war 1721 in Meißen geboren, wo

sein Vater Chursächsischer Apellationsrath und Stiftssyndikus war. Er erhielt seine Gymnasialbildung in Schulpforta. Seit 1741 studirte er in Leipzig Theologie und schloß sich an Gellert, Cra­ mer, Rabener und an die übrigen Freunde, die für die Bremer

Beiträge arbeiteten.

Im Jahr 1751 wurde er Lehrer und Diaco­

nus an der Schulpforte,

1754 Pastor und Professor zu Zerbst.

Seine feurige Kanzelberedsamkeit verschaffte ihm 1759 den Ruf als

Pastor nach Hannover, wo er 1775 Consistorialrath und Superin­ tendent wurde und im Jahre 1787 bei der 50jährigen Jubelfeier der Universität Göttingen die theologische Doctorwürde erhielt.

starb 1793.

Er

Als Dichter schrieb er Fabeln und Erzählungen in

der Gellertschen Manier; er wandte sich aber später entschieden der geistlichen Dichtung zu und folgte dem Zuge der Leipziger Freunde von dem Weltlichen nach dem Religiösen. Er billigte Gellert's Un­ terscheidung zwischen Liedern des Affects und der Lehre; et: hält

die letzteren von gleichem Werth wie die ersteren, und

bezeichnet

die Lehrlieder als das Lehrbuch des gemeinen Mannes. In sei­ nen geistlichen (1765 — 72) und seinen andächtigen Liedern, die in

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

183

seine vermischten Gedichte (1782) ausgenommen sind, schließt er sich

näher an Cramer und Klopstock an. Er ist bestrebt, sich von der Herrschaft des Verstandes los zu machen und von den längeren Pe­ rioden, weil nach seiner Ansicht weder die wahre Empfindung, die dem Liede eigenthümlich ist, noch der gemeine Mann, für den das

Lied seyn soll, fich periodisch ausdrücke [,04]. In weite Entfernung von dem Kreise der Freunde kamen I.

'Andr. Cramer und Joh. Elias Schlegel. Cramer, 1723 zu Jöstädt im Erzgebirge geboren, wo sein Vater Prediger war, erhielt seine Schulbildung in Grimma, stu-

dirte seit 1742 in Leipzig Theologie und ward zugleich ein Haupt­

mitarbeiter an den Bremer Beiträgen.

Er kam 1748 als Prediger

nach Crellwitz, wo er in Gemeinschaft mit Joh. A. Schlegel an der Weltgeschichte des Boffuet und der Uebersetzung des Chrysvstomus

arbeitete.

Im Jahr 1750 wurde er Oberhofprediger in Quedlin­

burg, kam aber im folgenden Jahr aufKlopstock's Empfehlung als

Hofprediger nach Kopenhagen, wo sich durch Elias Schlegel schon eine Pflanzstätte deutscher Literatur gebildet hatte. Seit 1765 be­ kleidete er auch die theologische Professur an der dortigen Universi­ tät und erhielt als Anerkennung seiner ausgezeichneten Leistungen

die theologische Doctorwürde. Nach dem Tode des Königs Fried­ rich V. sah er sich unter dem neuen Cabinetsminister Struensee

genöthigt, Dänemark zu verlassen. Er wurde 1771 Superintendent in Lübeck, und nach dem Sturze Struensees kam er 1772 als Pro­ kanzler und erster Professor der Theologie nach Kiel, wurde 1784

Canzler und starb 1788.

Von ihm ging besonders eine neue Ge­

staltung der geistlichen Dichtung aus; in seinen einzelnen Hymnen, die in den Bremer Beiträgen erschienen, herrscht, schon ehe Klop­ stock auftrat, der von dem Odenpathos ausgehende Schwung, durch den die religiöse Erhebung des Herzens gewirkt werden sollte. Er führte später das am entschiedensten aus, was Klopstock für geistliche Dichtung angeregt hatte, und setzte sich bestimmt gegen

Gottesdienstliche Lieder haben nach ihm ihre Bestimmung darin, daß sie gesungen werden, das ist ihreNatur; die Musik aber ist eine Tochter der Empfindung, und sie kann nichts anders Gellert.

ausdrücken als was Empfindung ist.

Die Lieder müssen von Al­

len gesungen werden, und wozu sollten sie lehren und unterrichten, da. dies die Predigt und die Catechisation thue? Ihre Bestimmung

lügt daher darin, zu erbauen; hierzu reicht der Unterricht nicht aus. Man ist noch nicht erbaut, weil der Verstand erleuchtet ist. Lieder,

184

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

worin Empfindung und Affekt vorherrschen, werden mehr erbauen, als Lehrlieder. Es zog nun der poetische Schmuck, der Glanz der Farben, die überraschenden Bilder in die geistliche Dichtung ein,

und es ist zugleich auch die angestrengtere Erhebung nicht zu ver­ kennen.

Die Begeisterung und die Starke der Empfindung stellt

flch nicht mehr, wie bei Luther's Zeitgenossen, ungerufen ein.

Cra-

mer's Lieder find voll feierlicher hohenpriesterlicher Salbung und werden deklamatorisch.

Er ist eine völlig nordische Natur, und den

Mangel an Porste soll Rhetorik ersetzen. Man erkennt in seinen Liedern den Canzelredner und seine geistlichen Oden lan Luther,

Melanchthon) find voll von Ausrufungen, Fragen, Sprüngen und jauchzenden Tönen. Er schraubte Sprache und Stoff, wodurch

spater eine Reaktion hervorgerufen wurde, wie fie sich in den Ber­ liner Literaturbriefen darstellt, in denen der Kampf der Nüchternheit mit der Verstiegenheit beginnt [10,J.

Joh. Elias Schlegel wurde 1718 zu Meißen geboren und erhielt seine Gymnasial-Bildung auf der Schulpforte (von 1734— 39), wo er sich sowol durch seine Kenntnisse als auch durch sein Betragen unter seinen Mitschülern auszeichnete. Die Anregungen, welche von Gottsched für die Wiederherstellung des Dramas aus­ gingen, belebten schon die Jugend für das Theater. Es wetteifer­ ten die Schüler in Pforte in Entwürfen von Schauspielen.

Sie

lasen den Euripides und Gottsched'S kritische Dichtkunst daneben, und so entstanden Schlegels Hecuba und die Geschwister in Taurien, die er spater als Trojanerinnen und als Orest und Pylades umarbeitete. Diese Stücke wurden von den Schülern

heimlich aufgeführt, bald auch auf Gottscheds Betrieb in Leipzig

durch die Nruberinn 1739 aufs Theater gebracht.

Nicht lange

darauf ging Schlegel, welcher noch die Di do geschrieben hatte, nach Leipzig, um dort Rechtsgelehrsamkeit und Redekunst zu studiren.

Gottsched suchte auf alle mögliche Weise den jungen Schlegel an sich zu ziehen, um durch dessen dramatische Stücke sein Repertoir zu verjüngen, und selbst als er merkte, daß Schlegel sich den Schwei­ zern zunrigte, hörte er nicht auf seine Arbeiten zu loben und als

Muster hinzustellen.

Schlegel versuchte sich auch an vaterländischen

Stoffen und dichtete 1743 einen „Hermann." In demselben Jahre nahm ihn ein Verwandter, welcher sächsischer Gesandte am dänischen

Hofe war, als Privatserretair mit sich nach Kopenhagen. Unter­ dessen waren in Leipzig die Bremer Beitrage ins Leben gerufen

und Schlegel wurde zur Mitgliedschaft des Vereins eingeladen. Er

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

185

sandte von Kopenhagen mehrere Gedichte und Abhandlungen für die neue Zeitschrift ein, und gab selbst in Dänemark eine Wochen­ schrift „der Fremde" heraus (1745, 46), in der er sich um die

Aufnahme des dänischen Theaters bemühte und, den volksthümlichen Dramen Holbergs sich entgegenstellend, allmählig auf die regelmä­

Im Jahr 1746 dich­ tete er seinen „Canut," und wurde 1748 als Professor der Ge­ ßigen französischen Stücke überzuleiten suchte.

schichte an der neu errichteten Ritterakademie zu Soroe angestellt; doch erlag er bald seinen angestrengten Arbeiten und starb schon

1749, überreizt durch frühzeitig geistige Anstrengungen und gewalt­ sames Produciren [loeb]. Schlegel kann unter den dramatischen

Dichtern als der ausgezeichnetste Repräsentant der Gottschedschrn Schule gelten, deren Theorieen für das Drama bis zu Lessing's Zei­ ten die herrschenden blieben, obgleich in anderen Gattungen der

Poesie Gottsched's Ansehen schon erschüttert war.

Schlegel, bekannt

mit der französischen und griechischen Tragödie, war sorgfältig in

Anlegung des Planes und der Durchführung der Charaktere; es

fehlt aber in seinen Stücken an lebendigem Fortschritt der Hand­

lung, und der Ueberfluß an Reden erzeugt ermüdende Breite.

Er

wagte sich auch an nationale Stoffe, weil er aus Erfahrung wußte, daß die fremdartigen Stoffe kalt ließen. Obgleich er nun in seinem Hermann und Canut rücksichtlich der Charaktere der beiden Haupt­

helden unabhängiger von französischen Vorbildern erscheint, so wird doch, trotz des Patriotismus, in der Durchführung alle Eigenthüm­ lichkeit und das deutsche Gepräge vermißt. Dasselbe gilt auch von seinen Lustspielen „die stumme Schönheit" und „der Triumph der

guten Frauen" p07], in denen er deutsche Sitten darzustellen sucht. Manche Vorurtheile mußten in Bezug auf das Drama noch erst erschüttert werden, ehe sich eine erfolgreichere Entwicklung dessel­

ben erwarten ließ [,oeJ. 4.

Die Preußische Dichtergruppe.

Zur Zeit der sogenannten Hofpoesie gegen Ende deS 17. und

zu Anfang des 18. Jahrhunderts war Berlin und besonders Kö­ nigsberg ein Mittelpunkt der poetischen Literatur; es blieb aber die

Preußische Dichtung, wie sie bisher von Schlesien, so von Sachsen abhängig, und Gottsched führte noch von Leipzig aus das Protekto­ rat.

Während nun von der Schweiz her der Kampf gegen Gott­

sched geführt wurde, mus

begann auch in Halle, wo schon der Pietis­

dem Leipziger Rationalismus gegenüber getreten war,

die

186

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

Reaction gegen den Gottschedschen Schuldespotismus.

Diese Re, action eröffnete unabhängig von Bodmer Jak. Immanuel Pyra

(geb. 1715 zu Cotbus, t als Conrektor zu Berlin 1744), der mit

Samuel Gotthold Lange (geb. 1711 zu Halle, 1737 Predi­ ger zu Laublingen bei Halle, t 1781) im Jahr 1735 in Halle, wo beide studirten, sich zu gemeinsamen poetischen Bestrebungen

verband. Beide suchten nichtbloß negativ ge gen Gottsched zu wir­

ken, sondern auch positiv, indem sie, damit dem sinnlich formellen Elemente des Reimes gegenüber der Sinn und Gedanke mehr zu

Ehren komme, bestrebt waren den Reim zu verdrängen, der oft

genug den Mangel alles Gehalts und jede andere poetische Form

ersetzen mußte. Sie nahmen daher die antiken Dichter anstatt der französischen zum Muster; von den Römern den Horaz, von den Griechen zunächst den einfachsten und schlichtesten, den Anakreon.

Nach Pyra's To.de gab Bodmer,, der in den reimlosen Versen ein großes Verdienst sah, die Erstlingspoesien beider Freunde heraus (Zürich 1745) [20gJ. An die Stelle des Reims wurde die alte Mythologie gesetzt, und wir haben hier den Gegensatz zu den Leip­ zigern, die sich der Fassungskraft der mittleren Stände näherten. Neben dieser Dichtung bildete sich auch eine Critik in Halle, die

auf die Wölfische Philosophie zurückging. Alex. Gottl. Baum­ garten stellte eine philosophische Theorie der Kunst auf, die er Aeslhelica nannte. Bevor er selbst diese herausgab (1750), wur­ den seine Borlräge von seinem Schüler G.Fr.Meier benutzt, der

„Anfangsgründe der schönen Wissenschaften" bekannt machte (1740). Diese Schrift war der Sache der Schweizer von nicht geringem Nutzen, da das in derselben aufgestellte Princip von der sinnli­

chen Vollkommenheit des Ausdrucks mit dem Standpunkte

der Züricher näher als mit dem der Leipziger zusammentraf. Halle studirten 1739 drei Jünglinge,

In

Gleim aus dem Halber­

städtischen, Götz aus Worms und Uz aus Ansbach, und ergaben sich mit Pyra und Lange der Dichtkunst. Unter ihnen wußte sich Gleim

durch

die Leichtigkeit

seiner

Productionsgabe bald

Gel­

und er wurde der belebende Mittelpunkt in dem Kreise der Hallischen Freunde. Diese fanden ihren An­ tung zu verschaffen,

knüpfungspunkt an das heitere, sinnliche Moment der Hagedorn, sch en Lyrik, das mit der Beimischung des Sittlichen als Poesie

der Anmuth und Leichtigkeit aufgetreten war, in dem Kreise der Leipziger Freunde aber eine weichere, wehmüthige und in Klopstock

eine entschieden

religiöse und sentimentale Färbung

angenommen

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

hatte.

187

Das heitere Moment von Hagedorn's Lyrik sand nun in

Halle seine reinere und freiere Fortbildung.

Horaz und Agakreon neben Petrarca waren die Vorbilder auch rücksichtlich der reimlosen

Form.

Frühling und Wein, Liebe und Freundschaft, Genuß des

Landlebens und Zufriedenheit mit Wenigem, das werden die Haupt­

gegenstände für diese Dichter, deren Ideal Lebensgenuß ist verbun­ den mit Sittlichkeit, Anmuth vereint mit Weisheit; dies hieß ih­ nen: den Musen und den Grazien opfern, und ihreLebens-

wekheit nannten sie die sokratische, wie sie auch die Horazische

hieß.

Die leichtere Lyrik gewann in diesem Kreise schon einen fe­

sten Boden, ehe Klopstock die Stimmung in Deutschland veränderte, und es war ein festes Gegengewicht gewonnen, eine ungestörte Hei­

terkeit dem neuen andächtigen Ernste gegenüber. Es sollte unserer Sprache auch von Seiten der Gefälligkeit und Anmuth aufgeholfen

werden, nicht bloß von Seiten des Ernstes und der Gedrungenheit. Nach Gleim's Ansicht helfe uns eher Bachus und Amor, als Mo­ ses und David.

Tanz, Wein und Liebe wurde in Trinkliedchen

und Amorettenliedchen besungen; mit Zwang wurde ein leichtferti­

ger Ton angestimmt und ironisch unmoralische Vorschriften verkün­

det. Wir haben hier nicht den lebensfrischeu Ausdruck von Froh­ sinn und Heiterkeit, sondern tändelnde Spiele des WitzeS; viel Gemachtes und Falsches drängt sich ein, und es kommen die Ana­ kreontiker und Petrarchisten über das Conveytionelle nicht hinaus. Wie die Leipziger Freunde sich ins Wehmüthige,. Elegische und Re­ ligiöse verloren, so geriethen die Hallenser nach der anderen Seite ins Tändelnde, Süßliche und Inhaltsleere, namentlich seit der Zeit

als Gleim in Halberstadt einen festen Sitz gewann (1747). Selbst der Freundschaftsenthusiasmus hat in diesem Dichterkreise etwas Gemachtes, und die freundschaftlichen Briefe in Prosa und Versen

wurden eine Hauptgattung, Gleim vor Allen stimmte den Ton der literarischen Freundschafteleien an. Es hatte auch die Lyrik der Grazien sogleich Anfechtungen von Seiten der Moral und der Reli­

gion zu leihen, und sie wären leicht aus ihrem Gebiet« herausge­ drängt worden, hätten sie sich nicht auf eine andere Autorität ge­

stützt, die sie auf das Gebiet der Moral und Philosophie hinüber­ leitete, nemlich auf Horaz.

Durch diesen Dichter gewannen sie das

Gefühl der Sicherheit, indem seine Weisheit von ebensoviel Freiheit

gehoben, seine Freiheit von ebensoviel Anstand und Grazie gemil­ dert war, als die strenge Zucht in Deutschland suchte und verlangt«. Rücksichtlich des nationalen Gehalts war es aber vornehmlich Frie-

188

Zweite Periodx.

Don dem ersten Viertel

drich II. an welchem die poetische Begeisterung sich entzündete, die in mannigfaltigen Liedern dem Preußischen Patriotismus Ausdruck verlieh. Gleim ging hierin mit seinem Beispiel voran, und ist überhaupt als der Stifter der sogenannten Preußischen Dich­ terschule zu bezeichnen. Er war unermüdlich anzuregen, Talente aufzuspüren, zu unterstützen und an sich heranzuziehen. Vorzüglich wurden Kleist und Rammler durch ihn für die Dichtung gewonnen. Er wurde bei seiner unermüdlichen Thätigkeit der Hauptträger der poetischen Bestrebungen, deren Richtungen sich in dem Hallischen und in dem Halberstädter Dichterkreise zu erkennen geben. a.

Der Hallische Dichterkreis.

Johann Wilhelm Ludwig Gleim war 1719 zu Ermsleben im damaligen Fürstenthum Halberstadt geboren; früh verlor er seinen Vater und wuchs in dürftigen Verhältnissen auf. Er studirte 1738—40 in Halle die Rechte und wurde hier mit Uz und Götz befreundet; gemeinschaftlich lasen diese jungen Freunde den Anakreon und wurden hierdurch zu ähnlichen scherzhaften Ge­ dichten angeregt. Nach Pyra's und Lange's Vorgänge schlossen sie sich auch an die Opposition gegen Gottsched, hielten sich aber'grund­ sätzlich von literarischen Kämpfen und Fehden ferne. Durch Lange wurden sie auf Horaz hingewiesen, und es bildete sich die oben be­ zeichnete Poesie der Heiterkeit und des Frohsinns. Nach beendigten Universitätsjahren wurde Gleim Hauslehrer beim Obersten Schulze in Potsdam; hier lernte er Kleist kennen (1743), der in einem Duell verwundet war und krank lag. Es wird erzählt, daß Gleim mit der Vorlesung eines seiner scherzhaften Lieder zu der Heilung des Kriegsmannes beitrug und ihn bestimmte, sich noch entschiede­ ner als zuvor der Dichtung zu widmen. Gleim kam auch mit Rammler zusammen, der sich damals in Berlin aufhielt, und schloß mit ihm, wie mit Kleist, einen innigen Freundschaftsbund. Spä­ ter kam er als Staatssekretair in die Dienste des Prinzen Wilhelm von Schwedt, und als dieser 1744 bei Prag fiel, wurde Gleim Privatsekretair des Fürsten Leopold von Dessau. Nach dessen Tode hielt er sich kurze Zeit in Magdeburg und Berlin auf, und wurde 1747 Sekretair des Domkapitels zu Halberstadt und später auch Kanonicus. Diese Aemter gewährten ihm Muße genug, um der Dichtkunst zu leben, und er ward hier der Mittelpunkt der ausgebreitetsten Freundesverbindung. Bei seiner leichten Erregbarkeit konnte er bald gewonnen werden, und indem er hiermit die größte

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

189

Uneigennützigkeit verband, wurde er zu einer Art Protektor der deut­ schen Dichterjugend, und es gab nur wenige bedeutende Männer in der damaligen Zeit, denen er nicht befreundet wurde, wenige die er nicht unterstützte, wenn ihre äußeren Verhältnisse sich ungün­ stig gestalteten. Er besaß dabei eine persönliche Anziehungskraft, wodurch er die verschiedensten Charaktere für sich gewann, mit de­ nen er den eifrigsten Briefwechsel unterhielt. Ein Zimmer in sei­ ner Wohnung, das er seinen Musen- und Freundschaststempel nannte, war mit 118 Bildern seiner Verwandten, Wohlthäter und Freunde geschmückt [210J, Er bewahrte sich außerdem eine unge­ schwächte Empfänglichkeit für alles Schöne und Gute, so daß er bis in sein spätestes Alter die Bestrebungen der jüngeren Dichter anerkannte und noch in seinem achtzigsten Jahre Göthe's Meister­ werke mit derselben jugendlichen Begeisterung aufnahm, mit wel­ cher er in seinem dreißigsten Klopstock's Messias bewundert hatte. Ueber fünfzig Jahre lebte er in Halberstadt und hieß „der alte Va­ ter Gleim," und nachdem dem Greise auch das Licht der Augen schon erloschen war, starb er am 18. Februar 1803, bald 84 Jahr alt. Gleim besaß den lebendigsten Eifer für die deutsche Poesie, der aus reinem Patriotismus entsprang, und es galt ihm jeder will­ kommen, der auf den Parnaß zusteuerte. Er kam mit Rath und Unterstützung entgegen, wo es Noth war, pränumerirte auf alles Neue, sammelte Subskribenten und Pränumeranten. Bei der poe­ tischen Begeisterung, in der er alles gut und schön fand, gab er sich selbst den verschiedenartigsten Stoffen hin, und wie er stets dar­ auf dachte, Andere zu Produktionen zu veranlassen, besaß er selbst einen unbegrenzten Trieb zu produciren. Er hätte, sagt Göthe von ihm, ebensowohl des Athemholens entbehrt, als des Dichtens und Schenkens [21 *]. In den verschiedensten Dichtungsarten hat er sich versucht: in scherzhaften Liedern [2l2J, in Schäfergedichten, tändelnden Minneliedern, in Romanzen, Fabeln, in Kriegsliedern, Volksliedern und im ernsten Lehrgedichte. Die anakreontischen Oden versuchte er oft und erreichte sie am besten in den tändelnden Amo­ rettenepigrammen „Amor und Psyche." In den Schäsergedichten (1745) befolgte er den altherkömmlichen Ton der Franzosen. Im I. 1756 gab er das erste Buch seiner Fabeln und Romanzen heraus. In Bezug aus die Fabel unterscheidet er so: Aesops Fabel ging schlecht und recht, Phädrus nett und ohne Pracht, Lafontaines als eine Hofdame. Bei Gleim macht sich in-der Fabel der heitere, scherz­ hafte, epigrammatische Ton vor dem moralisirenden geltend. Seine

190

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Thiere sind, wie Johannes v. Müller sagt, Epigrammatisten, wie Gellerts Professoren der Moral. In den Romanzen stimmt Gleim den Bankelsängerton an [41S] und verhält sich zu der Unmittel­ barkeit des Volksthümlichen nur spottend. Am eigenthümlichsten ist er in den Kriegsliedern aus den Feldzügen von 1756 und 57, di« er einem Grenadier in den Mund legt [414]. Sie sind nicht in dem Dienste des tändelnden Freundeskreises geschrieben, sondern sie sind aus seinem innigsten Herzensgefühl entsprungen. Seine Begeisterung für Friedrich II. war sein wahres Leben, und was hieraus sich bei ihm poetisch gestaltete ist wirklich lebendige Poesie. Er erhielt den Beinamen des deutschen Tyrtäus, wie er früher der deutsche Anakreon hieß. Doch fallt er häufig in den Kriegsliedern aus dem Charakter des Volksthümlichen heraus; die langen Schil­ derungen, die bildlichen Redensarten nebst mythologischen Anspie­ lungen, die rhetorischen Erclamationen widerstreben dem Wesen des Volksliedes. Im Jahr 1772 erschienen seine Volkslieder, in denen er sich zu dem Stande»der Bauern und Bürger, des Gärtners und Hirten herabläßt, ohne sich aber in die Anschauungsweise des Volks versetzen zu können. Bei seiner Betheiligung an dem Ver­ schiedenartigsten ging er von dem Scherzhaftesten zu dem Patheti­ schen über, und der Anakreontiker, der Grenadier und Bänkelsänger erhebt sich in seinem Halladat (1775. 81, 3 Theile) in höhere Sphären, wo er seinem Freunde Klopstock folgte. Dies Lehrgedicht enthält praktische Lehren und fromme Empfindungen in einer Reihe poetischer Selbstgespräche eines weisen Derwisch aus dem Morgen­ lande; es entstand aus Gleim's Theilnahme an den Beschäfti­

gungen seines Freundes Boysen, Predigers in Magdeburg, der den Koran übersetzte und seine Uebersetzung an Gleim zur Durchsicht schickte. Die Neigung Gleim's sich allem hinzugeben ward nicht in gleicher Weise unterstützt von einer genialen Auffassungsweise, die in Verbindung mit einer idealen Begeisterung erst allen Productionen das Gepräge der Wahrheit und einer lebendigen Unmittelbar­ keit zu geben vermag. Das Farblose einer conventionellen Poesie zieht sich durch seine meisten Gedichte hindurch. Es gährt in ihm der Kampf der ganzen Zeit zwischen Altem und Neuem, und wie seine Gedichte getheilt sind zwischen das alte hohle Formenwesen und die neue Natürlichkeit, so vereinigen sich in ihm selbst Züge von Philisterei und freier Genialität. Misanthropische Laune und hypochondrische Stimmung über Zeitereignisse [21 *], über französische Revolution, über kantische Philosophie, über Chikane der Kritik con-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

191

trastiren mit seiner heiteren Laune, und nachdem er in seinen viel­ fachen Bestrebungen an manche Klippen geworfen war, kehrte der Greis im Hüttchen zu sich selbst zurück und lehrte Freude und Zu­ friedenheit in dem Kreise fröhlicher Armuth ■ [■**•]. Johann Nikolas Götz wurde 1721 zu Worms geboren, wo sein Water Prediger war. Im Jahr 1739 ging er nach Halle, um Theologie zu studirrn, wurde 1742 Hauslehrer beim Preußi­ schen Obersten und Commandanten von Emden, Freiherrn v. Kalk­ reuter; 1744 kam er als Hofmeister der Enkel des Grafen von Strahlenheim und als Schloßprediger nach Forbach in Lothringen, und in dieser Stellung lernte er auch den französischen Hof in Metz kennen, wo er Theilnehmer der großen Feste wurde, die zur Feier der Genesung Ludwigs XV. gefeiert wurden. Im Jahr 1746 be­ gleitete er seine Zöglinge auf die Ritterakademie zu Lüneville und lernte hier Voltaire kennen; 1747 wurde er Feldpredigcr bei einem französischen Regiment. Während seines längeren Aufenthaltes in Frankreich lernte er die französische Literatur kennen und liebgewin­ nen. Nach seiner Rückkehr ins Vaterland erhielt er verschiedene Pfarreien und starb 1761 als Badenscher Superintendent in Win­ terburg. Götz ist der eigentliche Repräsentant der anakreontischen, tändelnden Dichter, weil er beinahe alle seine Gedichte in dieser Weise geschrieben und in dieser leichteren Manier die größte Vir­ tuosität gewonnen hat. Da es hier nicht so sehr auf eigentliche tiefere Empfindung ankömmt, so wird die poetische Wirkung im geistreichen Spiele des Witzes gesucht, und wir erhalten die französirenden Madrigalen, Rondeaur und Trioletten. Götz zeigt sich als gewandter Nachahmer der französischen Lyriker; Gefälligkeit und Eleganz ist seinen Liedern eigen, an denen jedoch Rammler's Feile thätig gewesen ist. Seine Elegie „die Mädcheninsel" gewann selbst Friedrichs II. Beifall [tIT]. Joh. Peter Uz,war 1720 zu Anspach geboren, der Sohn eines Uhrmachers. Er erhielt auf dem Gymnasium seiner Vater­ stadt eine gründliche Ausbildung; 1739 ging er nach Halle, um die Rechte zu studiren und lebte hier zugleich der Dichtkunst in dem Kreise gleichgesinnter Freunde. Im Jahr 1748 wurde er Secretär beim Landgericht in Anspach, 1763 Rath, dann Director des Land­ gerichts und Cvnsistoriums; auf seinem Sterbebett erhielt er 1796 seine Ernennung zum wirklichen Königl. Preußischen Justizrathe und Landrichter zu Ansbach. Seine poetische Laufbahn eröffnete er mit der leichten, tändelnden Dichtungsweise, worin er an lebend!-

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

192

gern Fluß und natürlicher Beweglichkeit seine Freunde übertraf. Er

wandte sich, wie auch Götz, von Anakreons Formen zum Reime zu­ rück, und drang darauf, daß man entweder den Reim wählen oder den reinen Versbau der Alten annehmen müsse. Er dichtete 1741

seine Ode, „der Frühling," die ohne Reime ist, und in welcher die Hexameter alle eine Vorschlagssylbe haben, eine Form, Kleist und andere Dichter nachahmten.

die spater

Sein ernster Sinn führte

ihn schon früh zu dem höheren Schwünge der Ode, in welcher sich

sein nach Wahrheit und hoher Sittlichkeit strebender Geist ausge.

prägt hat.

Ueberall zeigt sich die Größe einer männlich festen Ge­

sinnung und edle Begeisterung für die höheren Richtungen des Le­ bens.

Nicht betheiligt er sich an dem Preußischen Patriotismus, son­

dern faßt sein deutsches Vaterland als solches ins Auge, und ihn be­

schäftigt die Zwietracht, die Deutsche gegen Deutsche zum Kampfe führt.

Auf eigenthümliche Weise hat sich in ihm die Horazische Ode

individualisirt; er giebt, wie Horaz, das zu empfinden, was die Philosophie mühsam lehrt, und traf den Ton, in welchem die Leh­ ren Jedem verständlich, in kräftigeren oder sanfteren Sylbenmaßen

unser Gemüth durchdringen [**•]. Durch die strophische Bewegung seiner Oden brachte er größere Abwechselung in dieselben, behielt aber

den Reim stets bei, der dem eigentlichen Odenartigen, der stärkeren Bewegung des Gemüths, dem Reichthum von Bildern und Gedan­ ken widerstrebt; denn der Reim nimmt in seinem musikalischen Ele­ mente das Gefühl in Anspruch, und erscheint bei dem phantasierei­ chen Schwünge der Oden von Uz, die sich durch Klarheit, Größe

und Lebendigkeit der Bilder auszeichnen, als hemmendes Beiwerk; es werden die schwachen Gleichklänge von dem bedeutsamen Einzel­

nen überwirkt [lie].

Uz versuchte sich auch im Lehrgedicht: seine

„Theodicee" ist aus einer begeisterten Auffassung der Leibnitzschen

Religionsphilosophie hervorgcgangen und der Dichter sucht die ihn bewegenden Ideen durch den höchsten Schwung der Sprache und

durch poetische Einkleidung aus dem Bereiche der Didaktik zu ent­ fernen; es bleibt aber dem gewählten Thema gemäß die Reflexion vorherrschend [120].

In seiner „Kunst fröhlich zu seyn" in vier

Briefen (1760) trägt er die Horazische Lebensphilophie in einem innerlich verbundenen Gedankenzusammenhange vor: das Wesen der Glückseligkeit ist die Lust, um aber die Summe des Vergnügens

zu vermehren, strebe nach Weisheit und Tugend, und forsche der Wahrheit nach! Die Freuden, die sich die Seele denkend schafft, sind die Grazien, die dem Weisen allein lachen^ seine Einsamkeit

193

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart schmücken, seine Muse adeln.

Der uns die Sinne gab, will nicht

mürrisch die Menschheit zerstören; doch muß man die Lust der Sinne mit Geschmack genießen und mit Fassung entbehren lernen. Das gegenwärtige Leben gewährt freilich kein dauerhaftes Vergnügen,

allein die Offenbarung zeigt uns ein besseres Leben und dies setzt uns in den Stand, Leiden und Verluste zu tragen und den Tod

nicht zu fürchten, sondern darauf uns zu freuen, also immer fröh­

lich zu seyn. In Uzens geistlichen Liedern ist der höhere Schwung der Öde vorherrschend und es spricht sich in ihnen die Zuversicht auf die göttliche Güte, das Vertrauen auf Gottes unmittelbare Lei­ tung der Menschenschicksale aus [***]. Ewald v. Kleist wurde 1715 zuZeblin bei Köslin geboren,

studirte 1731 die Rechte in Königsberg, ward 1736 dänischer Of-

ficier; 1738 lernte er aus einer Werbung in Danzig Wilhelmine von

Golz kennen. Er trat in den Civilstand zurück; es gelang ihm aber nicht, eine Anstellung zu gewinnen, und ohne Hoffnung, seine Liebe zu Wilhelminen gekrönt zu sehen, ging er mit Widerwillen in dänische Dienste zurück.

Doch 1740 wurde er als Pommerscher

Landjunker von Friedrich II. aus dänischen Diensten zurückgefordert

und ging als Preußischer Lieutenant nach Potsdam, wo er durch

Gleim zu dichterischen Produktionen angeregt wurde. Er sang hei­ tere Lieder, doch die Nachricht, daß seine Wilhelmine zu einer vortheilhafteren Heirath sich habe gezwungen gesehen, stimmte ihn zur

Wehmuth, die fortan aus seinen Liedern tönt.

In den Jahren

1744 und 45 machte er den Feldzug in Böhmen mit, in Folge

dessen seine Gesundheit erschüttert wurde. Körperlich geschwächt und zur Hypochondrie geneigt kehrte er 1746 nach Potsdam zurück. Er arbeitete jetzt an einem größeren Gedicht „die Landlust," von wel­ chem nur „der Frühling" erschien (1749).

Im Jahr 1752 wurde

er auf Werbung nach der Schweiz geschickt und lernte in Zürich Bodmer und Wieland kennen. Im I. 1757 war er als Major

beim Haui'enschen Regiment in Leipzig und verkehrte mit Lessing und Weiße; 1758 kämpfte er bei Dresden und wurde 1759 in der Schlacht bei Kunersdorf tödtlich verwundet. Jahr den 24. August in Frankfurt a. d. O.

Er starb in demselben

Die trüben Lebens­

erfahrungen, welche Kleistens Gemüth tief bewegten, der Nachhall einer unglücklichen Liebe, eine krankhafte Körperconstitution, die sei­ nen freien, kühn aufstrebenden Geist lähmte, die Unzufriedenheit mit seiner äußeren Stellung, der unbefriedigte Trieb nach Kampf, Sieg und Ruhm; dies alles erfüllte ihn mit einer tiefen und aufrichti-

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

13

194

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

gen Schwermuth.

In seinem Gedicht „der gelähmte Kranich" ist

er selbst dieser einsame Wandervogel, der die Heimath nicht erreichen kann.

„Die Sehnsucht nach Ruhe" war bei ihm ein Zug des

Herzens, und es wurde ihm Bedürfniß, sich aus einer verkünstelten Cultur in die Einsamkeit eines idyllischen Landlebens zurück zu

ziehen, um dort sich selbst und dem ungestörten Spiele seiner Em­ pfindungen zu leben.

Ihm ist daher die Natur nicht etwas Aeußer-

liches und Unbelebtes, sondern sie wird der Reflex seiner Gemüths­

stimmungen.

Aus den innerlichsten Motiven ist sein „Frühling"

entsprungen p11], und wir erhalten hier nicht bloße Naturschilde­ rungen, sondern das Ganze ist von dem Lebenshauche persönlicher, gemüthlicher Stimmungen durchwärmt, und daher fand dies Gedicht bei der sentimentalen Jugend einen enthusiastischen Beifall. Die thatenkräftige Natur Kleistens und seine patriotische Erregtheit läßt

aber auch wieder die idyllische Sentimentalität in den Hintergrund

Seine Begeisterung für Friedrich war keine müßige Ver­ ehrung, sondern er bewährte diese in frischer, männlicher That. treten.

Seine Ode „An die Preußische Armee" spricht dies lebendig aus. Er verfaßte auch ein episches Gedicht „Cissides und Paches" in fünffüßigen Jamben, welches die Kriegslust, und nicht mehr die

Landlust eingab [11$].

In den erhebenden ahnungsvollen Schluß­

worten dieses Gedichts spricht der Dichter den Tod für's Vaterland als das Ziel seiner Wünsche und seines Lebens aus [114J. Karl

Wilhelm

Ramler,

war der Sohn eines Acciseinspectors.

1725 zu Colberg geboren, Seine Schulbildung erhielt

er in Stettin und im Halleschen Waisenhause.

Er studirte in Hallt

und wandte sich mit besonderem Eifer den classischen Schriftstellern zu, namentlich dem Horaz.

Schon früh hatte er Neigung zur

Dichtkunst gezeigt; doch verbarg er seine ersten dichterischen Versuche sorgfältig, und seine Gedichte erschienen in Zeitschriften ohne Namen.

Er kam 1746 nach Berlin und wurde mit den bedeutendsten Män­

nern jener Zeit bekannt, mit Gleim, Kleist, Lessing, Sulzer u. a. m. Mit eindringendem Fleiße gab er sich ganz dem Studium der Ge­ schichte und der schönen Literatur hin, und wurde 1748 Professor

der Logik und der schönen Wissenschaften am Kadettencorps, wo er bei den Preußischen Militairs Trieb zur Poesie und Sinn für Li­

teratur erweckte.

Er beschäftigte sich mit Sammeln von Blumen­

lesen, mit Kritik der Gedichte seiner Freunde, und gab eine Uebersetzung des Batteur heraus (Paris 1755), wodurch die Theorie von der Nachahmung als Princip der Kunst von den Franzosen zu

195

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

uns herüberkam. Ramler wählte die Beispiele zu seiner Uebersetzung

aus deutschen Schriftstellern und fand hier vieles zu verbessern, um vollkommnere Muster zu gewinnen.

der ihn weder ehrte noch kannte.

In Oden besang er Friedrich II.,

Erst nach Friedrich's Tod ward

er Mitglied der Akademie und erhielt 1787 in Gemeinschaft mit Engel die Direktion des Berliner Nationalthcaters; 1789 legte er

die Professur und 1796 die Direktion nieder und starb 11. April 1798.

Ramler theilt in seinen poetischen Produktionen mit Gleim

die Begeisterung für den großen König, für die Siege und den

Ruhm Preußen's; dies ist sein wahrhaftes Pathos, aber dieser le­ bendige Inhalt gewinnt in der Ramlerschen Ode nicht den entspre­ chenden Ausdruck. Es war damals zur Zeit unserer sich erst an klassischen Mustern heranbildenden Literatnr die Verehrung des Al­

terthums noch zu groß und das Gefühl für die lebendig aus dem Inhalt sich selbst gestaltende Form minder ausgebildet. Der Name Horazisch kommt der Ode Ramlers zu, hauptsächlich wegen der An­

ordnung des Ganzen;

die

geistreiche Eomposition,

die poetische

Schönheit der Ausführung mit ihren wirksamen Bildern, ihren fei­

nen Wendungen und mit der überlegten Wahl des Ausdrucks hat Ramler mit Horaz gemeinsam [12$]. Das Conventionelle liegt aber darin, daß fast alle seine Oden nach irgend einer Horazischen gedichtet sind, und das Aeußerliche des Formellen wird noch fühl­

barer durch die Einkleidung in Mythologie und Allegorie. Der Dichter ist befangen in der konventionellen Technik der franzö­ sischen Aestthetik und hat darüber noch kein bestimmtes Bewußt­

seyn gewonnen, daß die wahrhaft poetische Form nicht ein so allge­

meines Schema ist, das man nur herüberzunehmen brauche. Es lassen daher Ramler's Oden kalt, indem der Klang der lebendigen

Empfindung aus dem Mechanismus der Form und der Leere der Abstraktion nur selten hervordringt. Sein Hauptverdienst ist, das Gefühl für die richtige und strenge Form geweckt zu haben, und er bildete daher bald einen Mittelpunkt für die Kritik. Seine Freunde übergaben ihm ihre Werke unbedingt zum Nachbeffern, und bei dem rhythmischen Feingefühl verstand er die altmodischen Unebenheiten

auf glückliche Weise zu tilgen.

Er besaß auch eine unermüdliche

Geduld, ja eine wahre Begier und Leidenschaft zu bessern und zu

feilen; nur wurde er stets anmaßender und seine Kritik intoleran­

ter, indem er bei dem Streben nach dem Schicklichen, Wohllauten­

den und Gerundeten zu wenig Achtung für die Eigenthümlichkeiten

13*

196

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

des Dichters selbst hatte, und zuletzt das Feilen und Ausputzen handwerksmäßig betrieb. Er zog sich daher je länger je mehr Geg­ ner zu; ja selbst Gleim zerfiel mit ihm, indem er die scharfen und spitzen Ausstellungen nicht mehr ertragen mochte. Ramler nahm als Lehrer der Poetik und Stilistik in Berlin eine ähnliche Stellung

wie Gottsched in Leipzig ein; auch er behandelte eifrig die von Gottsched geschätzte Poetik des Batteur, und was Opitz früher in der deutschen Rhythmik begonnen hatte, dem gab er eine bestimm­ tere Basis und wirkte hierdurch in formaler Beziehung erfolgreich

auf die nächste Dichtergeneration ein [lleJ.

Gleim's und Namler's preußischer Patriotismus riefauch in ande­

ren Kreisen patriotische Lieder hervor, und welche Regsamkeit die da­ maligen Kriegszeiten und die glänzenden Siege Friedrichs erzeugten, sieht man an derAnnaLouiseKarsch (1722—91), welche sich aus ihren alltäglichen Lebensverhältniffen in dieser enthusiastisch beweg­ ten Zeit emporarbeitete.

Sie war die Tochter eines Schenkwirths

Dürbach, der auf einer Meierei bei Schwiebus lebte.

Schon in

ihrem sechsten Jahr verlor sie den Vater und brachte in den be­ schränktesten Verhältnissen ihre Kindheit zu, während welcher sich

ihr poetisches Talent zu zeigen begann.

an

einen geizigen Weber Hirsekorn

Unglücklich verheirathet

hatte sie die größten Miß­

handlungen zu erleiden, und nachdem sie von diesem geschieden war,

lebte sie nicht glücklicher in einer zweiten Ehe mit dem Schneider Karsch, der stets betrunken war und zuletzt verarmte. In dieser

Noth und Dürftigkeit büßte sie die poetische Kraft ihrer Jugend nicht ein und erregte durch ihre unglückliche Lebensgeschichte die all­ gemeinste Theinahme.

Der Enthusiasmus für den großen König

regte sie an, seine Thaten zu besingen, und aus ihrer drückenden Lage wurde sie endlich durch den Baron v. Kottwitz befreit, der sie aus ihre Bitte nach Berlin brachte.

Hier begann für sie eine glück­

lichere Zeit, sie wurde in die bedeutendsten Gesellschaften gezogen und reich beschenkt. Ihre besten Gedichte stammen aus diesen Zei­ ten, wo ihr bis dahin gelähmter Geist sich frei und freudig bewe­

gen konnte.

Sowie in Berlin Ramler und Sulzer sich ihrer an­

nahm, so war vor allen Gleim thätig, dies neue Dichtertalrirt zu fördern. Er machte sie mit Horaz und Sappho bekannt, doch wurde

sie durch solche Unterweisungen, die sie zur Kunstdichtung heranbil­ den sollten, nur verwirrt und sank zu bedeutungslosen Reimereien

herab.

Diejenigen Gedichte, in denen sie ihrer poetischen Naturan-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

197

läge folgt, zeichnen sich durch Kraft des Gefühls und Schwung der Phantasie aus b.

Der Halberftädtische Dichterkreis.

Seitdem Gleim nach Halberstadt gekommen war, beschäftigte

ihn lebhaft der Gedanke, hier eine poetische Akademie zu gründen. Die Nähe von Quedlinburg, wo Klopstock's Eltern und Cramer

lebten,

von Braunschweig,

wo

ein

regsames

herrschte, regte ihn noch mehr dazu an [128J.

literarisches

Leben

Alle poetische Ta­

lente in und um Halberstadt suchte er an sich zu ziehen und aus­ wärtige Dichter rief er herbei, indem er ihnen entweder sein gast­ freies Haus öffnete oder ihnen eine Stelle am Domstifte verschaffte.

Es

bildete sich

hier

ein

Dichterkrcis,

wo das

Spielende

und

Tändelnde der Gclegenheitspoesie und der Freundschaftsenthusias­

mus in zärtlichen Briefen recht zu Hause war.

Die bekanntesten

Dichter aus diesem Kreise sind Johann Benjamin Michaelis,

Johann Georg Jakobi und Klamer Eberhard Schmidt. Auch hatte sich seit 1749 der Fabeldichter Lichtwer in Halberstadt niedergelassen.

Michaelis war 1746 in Zittau geboren, ging 1765 nach Leipzig, zog sich aber 1768 in Folge großer Anstrengungen eine gefährliche Nervenkrankheit zu.

Im Jahr 1770 ging er nach Ham­

burg und ward Redacteur des Hamburger Correspondenten. Er gerieth aber in eine dürftige Lage, aus der ihn Lessing zu befreien

suchte, indem er ihn als Theaterdichter der Seylerschen Gesellschaft empfahl.

Als diese in Verfall gerieth, so nahm sich Gleim seiner

an und Michaelis kam 1771 nach Halberstadt, starb aber schon im

folgenden Jahr. Er hatte keine eigentliche innere Beziehung zu der Halberstädter Dichtungsweise. Seine ersten poetischen Versuche, die Fabeln, Lieder und Satiren (1768) bezeichnen sein näheres Ver­ hältniß zu den Bremer Beiträgen. Er hatte wahrhaft dichterisches

Talent, daS wegen seines frühzeitigen Todes nicht zur gehörigen Reife gelangte. Die poetische Epistel ist es, durch die er in einem näheren Zusammenhänge mit den Halberstädtern steht.

In seinen

Satiren und Episteln ist der Ton lebendig, kräftig und feurig.

Er

hatte auch Neigung zum Burlesken, und würde, wenn er länger gelebt hätte, in der Dichtung die ihm gemäße Sphäre besonders

in der Satire gefunden

haben.

Gleim,

der seine Freunde auf

dem Parnaß gerne mit großen Titeln begabte, nannte ihn Juve-

nal [»»»].

198

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel Johann Georg Jacobi war 1'740 in Düsseldorf geboren,

der Sohn eines reichen Kaufmanns. Er studirte von 1'758 — 65 in Göttingen, Helmstädt und Halle, zuerst Theologie, dann die Rechte, und zuletzt vorzugsweise Sprachen und Literatur. Auf Klotzen's Anrathen, den er schon in Göttingen hatte kennen gelernt, wollte er sich ganz der Kunstkritik widmen. Klotz verschaffte ihm 1765 eine

außerordentliche Halle.

Professur

der Philosophie

und Beredsamkeit

in

Hier wurde er mit Gleim bekannt, der ihn auf sein Dich­

tertalent hinwies und ihn für die Poesie erhielt; er wurde durch Gleim 1769 Canonicus in Halberstadt. Diese Zeit war die Periode

von Jacobi's süßlicher,

tändelnder Amorettenpoesie, die sich in sei­

ner jugendlichen Phantasie auf die äußerste Spitze trieb. Er kam später von diesem gehaltlosen Spielen mit dem Gefühl zurück und

schloß sich zunächst an die französische Darstellungsweise. Er strebte, wie Götz, nach einer leichten, gefälligen Anmuth, nach unerwarte­ ter, geistreicher Wendung.

Eine zweite Periode in Jacobis Leben

begann seit seiner Bekanntschaft mit Wieland [2 30J; er machte in Folge derselben den Uebergang von der Freundschaftständelci zur

Frauenliebe und ahmte Wieland nach, wie in dem „Schmetterling,

und Charmides und Theone." Er schrieb 1'772 sein Gedicht „ die Dichter, eine Oper, gespielt in der Unterwelt," welches seine An­ sicht über die verschiedenen Richtungen der deutschen Dichtung aus­

spricht [231].

In dieser Zeit hielt er sich öfter in Pempelfort bei

Bonn auf, wo sein Vater eine Fabrik errichtet hatte. Da er sich nach einer bestimmten Beschäftigung sehnte, so nahm er gerne 1784 den Ruf an zum ordentlichen Professor der schönen Wissenschaften an der Universität Freiburg. Hier hielt er Vorlesungen über die

klassischen Schriftsteller des Alterthums und über Aesthetik, und es

beginnt eine dritte Periode für seine Dichtungsweise.

Es entstand

eine Reihe von Gedichten, die bei der anmuthigen Beweglichkeit, der wohllautenden, gefälligen Darstellung einen ernsten, gehaltvollen Charakter haben. Ein reines, kindliches Gemüth vereinigt sich bei ihm mit einer sanften Phantasie, welche das, was das Gefühl be­ wegt und den Gedanken beschäftigt, klar zu gestalten weiß. Eine wehmüthige, elegische Stimmung, die aber von gesuchter Empsinde-

lei entfernt ist,

herrscht mehr oder weniger in den Gedichten dieser

letzten Periode. Gern verweilt Jacobi bei der Betrachtung der Vergänglichkeit und des Wechsels der Dinge, wodurch die Sehn­ sucht nach dem Höheren geweckt wird.

Das Sehnsüchtige geht

aber nie zur Schwermuth über, sondern der Dichter weiß bei sei«

dr- 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

199

ner Empfänglichkeit für das Sittlich-Schöne in allem, was ihn um­

zieht, das Bedeutungsvolle sinnig hervorzuheben, und weiset zu dem

Ewigen und Göttlichen, dem Urquell aller Schönheit hin [1S1].

Jacobi erreichte ein hohes Alter, und geliebt und beklagt von seinen vielen Freunden starb er am 4. Januar 1814. Klamer Eberhard Schmidt war 1746 in Halberstadt ge­

boren und dichtete schon mit seinen Mitschülern auf der Schule zur Freude des Vaters, in dessen Familie das Talent der leichten Ge­ legenheitspoesie forterbte. Durch Gleim wurde Schmidt in die

tändelnde Dichtungsweise eingeführt; er wurde zunächst Anakreon­ tiker,

dann ein seraphischer Schwärmer, sympathisirend mit dem

Halladat, ferner Petrarchist, platonischer Liebesdichter; nachher schlug er in seinen üppigen Erzählungen in den obscönen Gegensatz über, und wurde dann ein Epistolvgraph von milderem Epikureismus, der allen jenen Graziendichtern gemeinsam ist, indem ihnen Friede,

Frohsinn und häusliches Glück das erste Bedürfniß war. Schmidts Bildungsgang hat eine gewisse Analogie mit dem von Wieland. Er brachte in verschiedenen Anstellungen sein ganzes Leben in Hal­ berstadt zu und starb daselbst im I. 1824 [1S$J.

Es sind noch zwei Dichter zu nennen, die mehr isolirt dastehen und nur ein vorübergehendes Verhältniß hatten zu Einzelnen von

den Leipzigern und Hallischen oder Halberstädtischen Dichtern. Dies sind dir beiden Fabeldichter Lichtwer und Pfessel.

Magnus Gottfried Lichtwer wurde 1719 zu Wurzen geboren; 1737 studirte er die Rechte in Leipzig, später in Witten­

berg, wo er auch 1747 als Lehrer auftrat, indem er juristische, philosophische Vorlesungen hielt.

Wegen geschwächter Gesundheit

entsagte er dem akademischen Leben und zog 1749 nach Halberstadt, wo er verschiedene Aemter bekleidete, ohne jedoch eine Verbindung mit dem dortigen Dichterkreise einzugehen. Er hielt sich auch eine

Zeitlang in Braunschweig auf, indem er 1760 den Kriegsunruhen aus dem Wege ging. Er starb 1783 in Halberstadt. Neuheit der Erfindung und phantasirvolle Darstellung ist den Fabeln und Er­ zählungen Lichtwer'S eigenthümlich. Die Moral ist in der Regel

bedeutsam, nicht alltäglich und pedantisch, sie bezieht sich oft auf das rein Menschliche, welches das Gemüth ergreift.

Obgleich Licht­

wer didaktischer Dichter war und ein Lehrgedicht das „Recht der Vernunft" schrieb (1758), das sich auf das Wolfsche Naturrecht stützte, so herrscht doch in seinen Fabeln das epische Element vor, indem der Dichter nicht der Lehre zueilt, sondern bei den Gestalten

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Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

und Situationen, die er uns vorführt, gerne verweilt und ihnen eine selbstständige, von der Moral unabhängige Lebendigkeit zu ge­ ben weiß, so daß die Eigenthümlichkeit und die individuelle Wahr­ heit des Thierlebens anschaulich uns entgegentritt. Die erste Aus­ gabe seiner Fabeln erschien Leipzig 1748, ohne den Namen des Dichters und wurde von Gottsched empfohlen. Die Sprache Lichtwer's ist in ihrer Rauhheit und Derbheit einfach und natürlich; sie hat Kraft und Frische und ist dem Inhalt angemessen und aus der Eigenthümlichkeit des Dichters hervorgegangen. Die zweite Auflage der Fabeln erschien zu'Derlin 1758 mit Lichtwer's Namen. Dann folgte eine Ausgabe Leipzig 1761 ohne Mitwissen des Dichters und mit Correcturen von Ramler, welcher in seinen Verbesserungen manche Eigenthümlichkeiten verwischt hatte. Lichtwer besorgte daher selbst 1762 eine neue Ausgabe und sprach sich mit innerer Entrüstung in der Vorrede gegen Ramler's Verfahren aus, änderte indeß zum Theil diejenigen Fabeln, bei denen Ramler sich Veränderungen erlaubt hatte [234]. Gottlieb Conrad Pfeffel war 1736 in Kolmar geboren; schon in seinem 15. Jahr ging er nach Halle, um die Rechte zu studiren. Bald wurde aber für ihn ein Augenübel drückend, das sich so sehr steigerte, daß er 1757 ganz erblindete. Eine glückliche Ehe, die er 1759 schloß, und seine angeborne Heiterkeit und Gei­ stesthätigkeit hielt ihn in dieser traurigen Zeit nicht nur aufrecht, sondern gab ihm auch Muth und Kraft, sich einen ausgezeichneten Wirkungskreis zu schaffen. Er gründete nemlich im Jahr 1773 mit Genehmigung des Königs von Frankreich in Kolmar ein aka­ demisches Erziehungsinstitut für die protestantische Jugend. Diesem Institute widmete er nebst dem Hofrath Lerse seine ganze Kraft, bis in Folge der sranzösischen Revolution die Erziehungsanstalt unter­ ging. Im Jahr 1803 wurde er Präsident des evangelischen Consistoriums und starb den 1. Mai 1809. Pfeffel stand mit den deutschen Dichtern dieser Zeit in keiner näheren Verbindung; erst später kam er in ein näheres Verhältniß zu Jacobi, und beide Freunde eiferten gegen die rohe Kraft der Originalgenies, welche in den 70er Jahren in der deutschen Literatur sich geltend machten. In seiner Fabeldichtung schloß ^ch Pfeffel ebenso an Florian, wie Gellert an Lafontaine. Die Fabel gilt ihm nur als Mittel zur Mittheilung moralischer Wahrheiten; er verweilt daher nicht mit Theilnahme bei seinen Gruppen und Wesen, sondern eilt der Lehre zu und giebt der Fabel mit Beseitigung alles Neben- und. Bei-

Werks eine epigrammatische Wendung. Bei dieser vorherrschenden Richtung auf die Moral führte er die Fabel auf ihre engsten Gren­ zen zurück und vermeidet die Weitschweifigkeit, verliert aber dabei die Naivität und den gutmüthigen Humor der früheren Fabeldich­ ter. Da er nur nach einer bequemen Einkleidung seiner Urtheile und Ansichten strebt, so ist ihm die individuelle Natur der Thiere gleichgültig, die oft sogar den Charakter ihrer Gattung ganz ver­ leugnen, indem der Dichter ihre Handlungen nicht nach der Natur­ bestimmtheit der Thiere menschlich deutet, sondern ihnen Handlun­ gen beilegt, die nur der Mensch in seiner Verkehrtheit und Abwei­ chung von der Natur begehen kann. Die Nutzanwendungen sind oft politisch, partheiisch, leidenschaftlich und bitter, und dies trat bei Pfeffel um so mehr hervor, als er wegen der französischen Re­ volution, unter deren Stürmen er viel zu leiden hatte, eine einsei­ tige politische Richtung nahm. Es sind indeß viele seiner Fabeln frei von diesen Mängeln und zeichnen sich durch epigrammatische Kürze aus, und in manchen seiner Erzählungen tritt die Liebe des Dichters an allem Edlen und rein Menschlichen auf entsprechende Weise hervor. Die Sprache ist leicht und fließend, wodurch sich die Fabeln und Erzählungen für den Schulgcbrauch empfahlen [2 35J. Die bisherigen Bestrebungen, welche theils die Leipziger, theils die Preußische Dichtergruppe für die Gcschmacksläuterung der deut­ schen Literatur verfolgte, faßten sich auf eine durchgreifende Weise in drei Männern zusammen, die sich als die Höhenpunkte in dieser Borbereitungszeit mit ihren Regenerationsversuchen darstellen und den HauptwtNdkpunkt für die Richtung unserer Nationalliteratur herbeiführen. Wie sich aus der christlich-religiösen Seite, wohin sich das lyrisch-didaktische Element der Leipziger Dichtergruppe wendete, Klopstock erhebt und die religiös-ethische Dichtung zum Abschluß bringt, ebenso baut sich Wieland auf der weltlich-moralischen Seite der anakreontisch-Horazischen Lebensdichter auf un eröffnet das Reich der heiteren Sinnlichkeit, indem er der Erde ihre poeti­ schen Rechte dem Himmel gegenüber sichert. Die Kritik endlich, welche die stete Vermittlerin und Begleiterin unserer Nationallite­ ratur «uf dem Wege ihres Entwickelungsganges war, gewinnt in dieser vorbereitenden Zeit ihren Höhenpuukt in Lessing, der sich ebenso sehr über das formal-conventionelle Princip Gottsched's und die malerisch-didaktische Richtung Bodmer's und Breitinger's erhebt, als über die Berliner kritische Schule, die unter Ramler eine Art Bermittelung der beiden streitenden Parteien bildete; er faßte mit tu

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Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

nem freieren, durchdringenden Geistesblick die klassische antike Form in größerer Reinheit auf und machte zugleich den nationalen Ge­ halt für unsere Literatur geltend.

5. Klopstock, Wieland und Lessing als die drei Höhcnpunkte in der Vorbercitungszeit unserer klassischen Literatur. a. Klopstock.

Klopstock steht an der Spitze der Wiedergeburt unserer Nationalliteratur; in ihm sammelten sich die Strahlen der damaligen Bildung wie in einem Brennpunkt, so daß er die vergangene Zeit völlig abschloß und nach neuen Richtungen für die Folgezeit ebensoviele Strahlen auswarf, welche die allerverschiedensten Früchte zur Reife brachten. Wirksam trat in ihm hervor die ächt deutsche Ge­ müthsinnerlichkeit, welche Noth that gegenüber den drückenden Fes­ seln eines herzlosen Ceremoniells und einer in hohlen Formen er­ starrten Convenienz; sie gewann bei ihm die Richtung auf das in­ dividuelle, weiche Gefühlsleben, wie es durch das Bedürfniß der Freundschaft erzeugt ward. Es concentrirte sich in ihm die senti­ mentale Stimmung der Zeit, welche durch die fröhliche Heiterkeit eines Hagedorn eine eigenthümliche Mischung bei ihm erhielt [2,eJ. Er sympathesirte, wie Bodmer, mit Young und Milton, und betheiligte sich, wie Haller, mit erhöhtem Selbstgefühl, an großen, erhabenen Gegenständen; aber noch entschiedener als Hagedorn und Gieseke sagte er zum ersten Mal der Welt die geheimsten Regun­ gen seines Herzens. Andererseits faßte er in seiner Beschäftigung mit der Sprache, wie Gottsched, Grammatik und Regel ins Auge, zugleich aber auch ihre lebendige Bildung, wie sie sich aus Volks­ sprache und den alten Klassikern gestaltete. Er suchte zu vereinigen das Musikalische nnd Malerische eines Drollinger und Haller mit der Lebensweisheit Hagedorns und strebte für Verstand, Einbildungs­ kraft und Herz zugleich Nahrung zu geben mit entschiedener Bevor­ zugung der Wirkungen aufs Gefühl. Deutscher Sinn, christliche Gefühlsinnigkeit und antik klassischer Geist durchdrangen sich in ihm zu einer harmonischen Einheit, und hierdurch wurde er das große, schöpferische Dichteringenium, welches weit über seine mitstrebenden Freunde erhaben eine plötzliche, zauberähnliche Macht über die Zeit­ genossen ausübte. Friedrich Gottlieb Klopstock wurde den 2. Juli 1724 zu Quedlinburg geboren [1S7]. Sein Vater war ein treuherziger, biederer Mann von edlem Trotz und unerschütterlichem Muthe, und

203

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

gab dm Sohn eine kräftige Erziehung, die vor aller Verweichli­

chung schützte.

Zuerst Quedlinburgfcher Commissionsrath wurde er

spater Pächter

des

brandenburgischen

Amtes

Friedeburg

in

der

Grafschaft Mansfeld. Hier in lieblicher Gegend an der Saale ver­ lebte dir junge Klopstock seine glücklichen Knabenjahre; gleichmä­ ßig entwickelte er die körperlichen und geistigen Kräfte, und noch

in ganz späten Jahren [1,8J verweilte die Erinnerung des Grei­

ses gerne bei diesem ländlichen Aufenthalt in Friedeburg (1735 — 37).

Nachdem der Vater nach Quedlinburg zurückgekehrt war, be­

suchte der damals dreizehnjährige Klopstock das dortige Gymnasium, wendete aber mehr Zeit auf Uebung seiner Körperkräfte, bis die Aussicht nach Schulpforte'zu kommen ihn zu größerem Fleiße

aufmunierte.

Dieser berühmten Lehranstalt wurde er 1739 über­

geben, wo er bis zum Jahr 1745 zubrachte.

Die alten Sprachen

waren hier sein Hauptstudium, zugleich wurde aber auch sein poetisches Talent durch die Kenntniß der klassischen Literatur geweckt und durch

die klösterliche Einsamkeit und die romantischen Umgebungen genährt. Er versuchte sich in Schäfergedichten, in Oden, und ent­

warf den Plan zu einem großen Heldengedichte. Er schwankte in der Wahl zwischen Heinrich dem Vogler und dem Messias, also zwischen

einem vaterländischen und einem christlichen Stoffe, bis er sich endlich für den Messias entschied [1S9], und zwar noch eher, als er Kenntniß

von Milton's verlornem Paradies hatte,

das er aber, sobald er damit bekannt wurde, mit der begeistertsten Liebe begrüßte. Mit einer lateinischen Abschiedsrede [24°], in wel­

cher er über den hohen Endzweck der Poesie sprach, verließ er 1745 die Schulpforte und bezog die Universität Jena, wo er die ersten Gesänge des Messias in Prosa bearbeitete; denn die bisher üblichen Versarten widerstrebten seinem Gefühl, und obgleich er die Kraft und Wirksamkeit des Hexameters wohl erkannte, so zweifelte er doch noch, ob die deutsche Sprache für dies Versmaaß bildsam genug sey. Da ihm das damals rohe Studentenlcben in Jena nicht zu­ sagte tnb er das Bedürfniß nach gleichgesinnten Freunden nicht be­ friedigt sah, so ging er im Frühling 1746 nach Leipzig und bezog mit

seinem Vetter L. K. Schmidt aus Langensalza dasselbe Zimmer. Hier

in Leirzig trat er in den Kreis der jungen Freunde der Dichtkunst, welche die Bremer Beiträge seit 1744 Herausgaben. Der glückliche Versuch, welchen er hier machte, den Hexameter der Alten nachzubil­

den [*“], bestimmte ihn, dies Versmaaß für seinen Messias zu wäh­ len, md so erschienen die drei ersten Gesänge in den Bremer Beiträgen

204

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

von 1748, welche die außerordentlichste Wirkung hervorriefen und den

Streit zwischen den Gottschedianern und Schweizern wieder anfach­

ten; dort zeigte sich der hartnäckigste Widerspruch, hier der begei­ stertste Beifall E*42]. In die Zeit von Klopstock's Aufenthalt in Leipzig fallen auch seine ersten lyrischen Gedichte (1747).

Die

Ode „der Lehrling der Griechen" spricht die hohe Befriedigung aus, welche ihm das Studium der alten Klassiker bei seiner poetischen Thätigkeit gewährte. Wie ihn aber neben seiner religiösen Empfin­

dung die Schwärmerei für Freundschaft und Liebe beseelte, das spie­ gelt sich ab in den lyrischen Ergüssen, an Giseke, an Ebert und in der Elegie: „die künftige Geliebte." Sein liebebedürftiges Herz sollte

eine schwere Prüfung bestehen, als er 1748 nach Langensalza ging, um im Hause eines seiner Verwandten, des Kaufmanns Weiß, die Aufsicht über dessen Kinder zu übernehmen.

Hier lernte

er die

Schwester seines Universitätsfreundes Schmidt kennen, und glaubte in ihr diejenige zu finden, welche die Leere seines sehnsüchtigen Her­

zens ausfüllen könne. versenkte sich

Doch seine Liebe blieb unerwiedcrt und er

darüber ganz

in

seinen Schmerz.

Fanny, ferner Bardale, der Abschied,

Die Oden an

die Stunden der

Weihe an Gott geben Zeugniß von der Tiefe und Innigkeit der

Liebe des Dichters,

der in seinem schwermüthigen Gefühl seinen

Blick auf das ferne Jenseits richtete.

Während dieser Zeit arbei­

tete er am vierten und fünften Gesänge seines Messias; in der Her­ zensgeschichte von Semida

und Cidli (Gesang 4, 83. 742 —

890) hat er seine damalige Gemüthsstimmung verewigt, und die Liebe in überirdischer Verklärung dargestellt. Sein Dichterruhm war bald überall verbreitet und in der Schweiz verkündigte ihn besonders Bodmer, welcher es für eine Angelegenheit-sowol der Re­ ligion als auch der Poesie hielt, daß dem Dichter Muße gewährt

werde, damit er seinen Messias vollende.

Er lud ihn daher zu

sich nach Zürich ein, und Klopstock folgte 1750 dieser Einladung.

Hier in der Schweiz erfrischte und erquickte sich sein Geist an der

herrlichen Alpennatur,-und in heiterer Geselligkeit kehrte dem Dich­

ter Frohsinn und Lebensmuth zurück.

Die Frische des Gefühls be­

lebt seine Ode „der Zürchersee" und den fünften Gesang seines

Messias, den er hier vollendete und selbst als den schönsten bezeich­ nete.

Bodmer nebst den Frommen unter den Zürichern war be­

fremdet über den Weltsinn Klopstocks, der Menschen aufsuchte, sich

in geselligen Kreisen bewegte und mit Jünglingen und Jungfrauen

heiter verkehrte.

Man hatte erwartet in ihm einen heiligen Pro-

205

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

pheten kennen zu lernen, und namentlich hatte Bodmer geglaubt,

daß Klopstock in der Schweiz ausschließlich für ihn leben und auf seine Ansichten und poetischen Maximen ganz eingehen werde.

Die

Enttäuschung hatte Entfremdung und Kaltsinnigkeit zur Folge [2 *3],

Im Jahr 1751 erhielt Klopstock durch Bermittelung des Grafen v. Bernstorf vom König Friedrich V.

einen Ruf

nach Kopenhagen

mit der Zusicherung eines Jahresgetzalts von 400 Rthlr. ohne an­

dre Verpflichtung als die ker Vollendung seines Messias.

Mit der

Annahme dieses Rufs beginnt eine neue Lebensperiode Klopstocks. Vor und auf seiner Reise dichtete er noch die beiden Oden Frie­ drich V.; er nahm seinen Weg von der Schweiz über Quedlinburg, Braunschweig, wohin seine Freunde ihn durch den Abt Jerusalem hatten ziehen wollen, und über Hamburg, wo er seine künftige Gat­

tinn, die Tochter eines begüterten Kaufmanns, Margaretha Mol­

ler (unter dem Namen Cidli von ihm besungen) kennen lernte. In Kopenhagen wurde er von dem Minister v. Bernstorf auf das

Freundlichste begrüßt, und er lebte jetzt hier still seinem Gedichte und dem Briefwechsel mit seinen Freunden und seiner Meta. Im nächsten Sommer 1752 benutzte er die Gelegenheit, als König Frie­

drich Holstein besuchte, Hamburg wiederzusehen, und während die­ ser Zeit, wo des Dichters Geist mannigfaltige wohlthuende Anre-

gungen'fand, entstanden die trefflichen Oden „Hermann und Thus­ nelda," „Fragen," „An Poung" und vorzüglich die tiefempfundenen Gesänge an Cidli. Seine Verbindung mit Meta mußte er aber

noch verschieben und die innigen Gefühle seines Herzens sprechen sich

aus

in

den

Oden:

das

Rosenband,

An

Schlummer, Gegenwart der Abwesenden.

Sie,

Ihr

Erst im Som­

mer 1754 wurde die geliebte Meta seine Gattinn, und er führte sie

sogleich seinen Eltern in Quedlinburg zu; hier befiel ihn aber eine schwere Krankheit, während welcher ihn der Gedanke quälte, daß er in der Vollendung des Messias zu lässig gewesen.

ist vorherrschend in seiner Ode „die Genesung."

Dies Gefühl

Gegen Ende des

Jahres kehrte er in Meta's Begleitung nach Kopenhagen zurück. Mit neuem Eifer überließ er sich ganz der heiligen Poesie, und schon 1755 erschien der zweite Band seines Messias (Gesang VI.

bis X).

Er lebte eingezogen mit wenigen Freunden oder in den

vornehmen Kreisen des Hofes, wodurch er der äußeren Welt mehr und mehr entzogen und auf sich zurückgedrängt ward. Die Würde seines Gegenstandes, den er besang und auch in Oden und Hym­

nen pries, ging auf seine Denkungsart und auf seine ganze Lebens-

206

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

richtung über [244].

immer mehr

Als religiöser Dichter bewundert strebte er

nach Schwung und Kühnheit der Sprache, die ge-

heimnißvoll und dunkel wird.

Vom Jahr 1756—58 entstanden

außer dem „Tod Abels" zwei Sammlungen geistlicher Lieder, de­

nen sich die christlichen Hymnen anschlossen.

Im Jahr 1758 wurde

der Dichter tief erschüttert durch den Tod seiner Gattinn, und er wandte sich ganz den religiösen Betrachtungen zu.

Die drei fol­

genden Jahre 1759 — 62 waren größtentheils der heiligen Poesie,

vorzüglich dem Messias gewidmet.

Im Jahr 1762 reiste er zu

seiner Aufheiterung und Zerstreuung nach Deutschland; er besuchte

seine Freunde und arbeitete in der Zwischenzeit am Messias und an seinen Dramen Salomo und David; der Salomo

erschien

in Magdeburg 1764 und im Juli desselben Jahrs kehrte Klopstock nach Dänemark zurück. In den nächsten Jahren wurden die alt­

deutsche Geschichte und Sprache, Literatur und Mythologie seine Studien.

Je mehr er sich in seiner Innerlichkeit abschloß, unbe­

kümmert um die lebendige Fortentwicklung des Zeitalters, desto ent­ schiedener bemächtigte sich das Individuelle und Pathologische seiner

Dichtung.

Das Ansehen der antiken Dichtung trat immer mehr bei

ihm in den Hintergrund, da sein Dichtungsvermögen in den innig­ sten Empfindungen des Gemüthslebens wurzelte.

Er vermißte bei

den Alten die Wärme des Herzens; er sand, wie die antike Poesie

aus klarer Anschauung der Welt entsprungen sey, während die hei­ lige Poesie aus der innersten Tiefe des Gemüths hervorquelle.

Er

forderte für das lebendig erregte Gefühl eine musikalische Poesie, die in sich selbst die Musik ersetze und des Gesanges nicht bedürfe,

indem sie durch Vollklang der Sprache, Wohllaut und Abwechse­ lung des Rhythmus musikalisch roirfe [2 45J.

Aus dieser neuen An­

sicht der Lyrik entstand eine Reihe von Oden, in welchen die Be­

deutsamkeit des Worts und die rhythmische Bewegung die durch den dargestellten Gegenstand erregte Empfindung mit ausdrücken sollte.

Es gehören hierher

die Oden aus dem Jahr 1764 Aganippe

und Phiala, Kaiser Heinrich, Siona.

Es werden die neuen

Grundsätze selbst zum Inhalt mehrerer Oden, wie in Sponda,

Thuiskon (1764) und in der Ode der Bach (1766).

Klop­

stock bildete sich daher neue Metra, in denen sicy der Inhalt des Dargestellten abspiegeln sollte [246], und musikalisch wirksam sind z. B. die beiden Oden: „der Jüngling" „die frühen Grä­

ber" (1764) und „dieSommernacht" (1766).

Am bestimm­

testen spricht er den Gegensatz der antiken Poesie, die das Herz

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

207

nicht erwärme, zu der modernen Empsindungspoesie aus in den bei­

den Oden:

„Wir und Sie" (1766) und „der Hügel und

der Hain" (1767).

Mit dieser neuen Ansicht von der musikali­

schen Wirksamkeit der Poesie verband sich Klopstock's Hinneigung

zur nordischen Mythologie, auf die er durch seine Studien der alt­

germanischen Vorzeit geführt wurde. ertönen und brachte selbst aus

Mythologie heraus.

Er ließ den Bardengesang

den früheren Oden die griechische

Hatte er zuerst die heilige und profane Dich­

tung einander gegenüber gestellt, so setzte er jetzt germanische und

griechische Poesie (Telyn und Cyther, Hain und Hügel) gegenüber. Eine Reihe von Oden, die von 1766—73 entstanden, geben von

diesen Bestrebungen Zeugniß.

Im Jahr 1768 erschien vom Mes­

sias der 11. bis zum 15. Gesang, und 1769 die Hermanns­ schlacht, der erste Theil von seinen dramatischen Bardieten [141], in welchen er zur Belebung des Nationalsinns den Deutschen das Gemälde ihrer kampfrüstigen, treuen, biederen Vorfahren aufstellte,

um ihnen Achtung vor ihrem Volk einzuflüßen.

Klopstock dedicirte

die Hermannsschlacht dem Kaiser Joseph II., für welchen nach sei­ ner Thronbesteigung (1765) sich ein allgemeiner Enthusiasmus regte, indem man von ihm für die deutsche Dichtkunst einen neuen Musensitz in Wien hoffte errichtet zu sehen. Auch Klopstock gab

sich lebhaft diesem Gedanken hin, doch wurden alle seine Pläne und Als im Jahr 1770 der Mini­

Entwürfe nicht verwirklicht [148J.

ster v. Bernstorf unter Christian VII. seine Entlassung erhalten und sich nach Hamburg zurückgezogen hatte, so folgte ihm dorthin im nächsten Jahre auch Klopstock, der hier 1772 das geistliche Drama David herausgab und dann seinen Messias beendigte, indem 1773

die fünf letzten Gesänge (XVI. bis XX.) erschienen.

Von jetzt an

beschäftigte ihn besonders ein Werk, wodurch er die deutschen Ge­ lehrten aus der einseitigen Bewunderung der Alten und der Aus­ länder herausreißen und ihnen ächten Nationalsinn und edles Selbst­ vertrauen einflößen wollte. Dies Ziel verfolgte er in seiner Gelehr­

tenrepublik, auf welche die Erwartung im hohen Grade überall gespannt war,

bis endlich das Buch selbst 1774 erschien [24e],

Mit demselben wollte Klopstock bei der exclusiven, vornehmen Stel­

lung, die er bisher eingenommen hatte, sich wieder dem Publikum nähern. Er bezeichnete den Gang und den Zustand der Literatur seines Zeitalters, und gab ihr Verhältniß zum Dichter und zum

Publikum und die wechselseitigen Beziehungen zwischen beiden an. Das republikanische Element kündigte sich an in dem Kamps gegen

208

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

alle französische Diktatur, gegen den Druck der blinden Verehrung

der Alten, gegen das „R eg ulbuch" der Aesthetiker, gegen alle Kri­ tik, die nicht auf Natur, Erfahrung und Seelenkunde ruhe [lt0J.

Doch die gesuchte, deutschthümelnde Form, in welcher das Ganze dargestellt ist, indem die Literatur als ein Druidenstaat erscheint mit Meistern und Gesellen, Oberzünften und Unterzünften u. s.w.,

entzog der in vielen Beziehungen werthvollen Schrift ihre erfolg­ reiche Wirkung, wozu auch besonders noch der Umstand kam, vaß ein in sich abgeschlossener, literarischer Aristokratismus an die Stelle des ächten freien Republikanismus trat, den später Lessing und Her­

der geltend machten. Je ungünstiger sich der Erfolg dieser Schrift für Klopstock gestaltete, um so größere Aufmerksamkeit und Tbeil-

nahme schenkte er jetzt dem Göttinger Dichterbunde (s. unt.), welchen er zu einem allgemeinen Bund deutscher Dichter, zu einer wirkli­ chen Gelehrtenrepublik zu erweitern hoffte.

Im Jahr 1774 erhielt

Klopstock eine Einladung des Markgrafen Karl Friedrich von Ba­ den nach Carlsruhe f**1]; auf seiner Reise dahin kam er nach Göt­ tingen, wo er unter den jungen Dichtern die begeistertste Aufnahme fand.

In Carlsruhe verweilte er nur bis 1775, da ihm eine ge­

wisse Zurücksetzung Anlaß gab, schnell abzureisen.

Vom I. 1776 lebte Klopstock ausschließlich in Hamburg im Kreise weniger Ver­

ehrer und Freunde; er isolirte sich immer mehr und schloß sich ab

gegen die lebendige Fortenwickelung seiner Zeit, sie nicht verstehend

und nicht mehr verstanden von ihr. Den großen literarischen Er­ scheinungen, die er noch erlebte, sah er nur von ferne zu, ohne sie in ihrer Bedeutsamkeit erkennen zu können. Er gab sich jetzt gram­ matikalischen Untersuchungen hin und lieferte die Fortsetzungen der Hermannschlacht. Im I. 1779 erschienen Fragmente über Sprache und Dichtkunst; 1784 gab er den

zweiten Theil seiner Bardiete

heraus, „Herman und die Fürsten," 1787 den dritten Theil „Her-

man's Tod," und 1794 erschienen seine „grammatischen Gespräche." Den lebendigsten Antheil nahm er noch in seinem hohen Greisen­

alter an der französischen Revolution [2äI], die er als eine neue Verklärung des Menschengeschlechts in hymnenartigen Oden begrüßte.

Er wurde daher zum französischen Bürger der neuen Freiheit er­ nannt; doch als die Gräuelscenen des Jacvbinismus eintraten (1792),

da wandte er sich mit Abscheu ab [lss].

Die letzten Jahre wid­

mete er der neuen Herausgabe seiner Werke, erlebte aber nur den

Abdruck der Oden und des Messias.

Er starb den 14. März 1803

und bei seiner Beerdigung zeigte sich die hohe Verehrung, wie

sie

209

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. keinem Dichter vor und nach ihm zu Theil geworden ist. fürstlichem Gepränge wurde die Leiche

Mit

nach dem Kirchhof zu Ot­

tensen begleitet [2S4J, wo sich Klopstock neben seiner Meta unter einer von ihm selbst gepflanzten Linde das Grab gewählt hatte.

Mit Klopstock erhält die neuere deutsche Literatur zuerst Tiefe des Gehalts und gewinnt an Innerlichkeit. Er drang ein in das Gemüthsleben des Volks durch seinen christlich - gläubigen Sinn

und durch seine warme Vaterlandsliebe.

Religion und Vaterland

stellte er als den wahrhaft objectiven Gehalt aller Dichtung hin; sie galten ihm als die beiden reinen, tiefen Quellen, aus welchen alle deutschen Dichter schöpfen müßten, um an ihnen sich zu begei­ stern und die Gesänge himmelan steigen zu lassen, die das Herz

rühren und bewegen und mit unwiderstehlicher Gewalt wirken soll­ ten ps$].

Glaubenstiefe und Vaterlandsliebe waren die leitenden

Ideen, welche Klopstock's innerste Gemüthswelt ergriffen, und ihn

zu der Höhe der Begeisterung emportrugen; durch sie wurde er der

productive Genius seines Jahrhunderts und der erste classische Dichter in unserer neueren Nationalliteratur.

Von hier ging auch

die hohe, sittliche Achtung vor seiner Dichtung und die allgemeine, nationale Bewunderung seiner Persönlichkeit hervor. Er hatte eine

Ahnung einer neuen und besonders deutschen Poesie, und indem er alles Irdische nur in der Beziehung zu den höchsten substanziellen Mächten des Lebens auffaßte, zog er die äußersten Grenzlinien, in­ nerhalb welcher sich deutsche Poesie bewegen sollte, und

die wei­

tere Geschichte der deutschen Literatur ist nur «ine inhaltsvollere, contretrre Ausführung des großen Themas, welches Klopstock aufge­

stellt hatte. Er sprach es aus, daß die Poesie ein Mittel in der Hand Gottes sey, die Menschheit zu bilden und vorzugsweise eine Nation zu ihrer Würde zu erheben. Der Geist mit seinem idealen Inhalt ist ihm der wahrhafte Gehalt für die Dichtung. Die höch­ sten, unvergänglichen Güter des Lebens werden das lebendige Pa­

thos seines Herzens: Vaterland, Freiheit, lebensfeste Freundschaft und Liebe edler Seelen, Tugend und Unsterblichkeit erfüllen sein Herz mit ächter Begeisterung, und alle die edelsten, besten Empfin­ dungen, welche sie hervorrufen, haben ihren Ursprung in Gott als dem Urbilde aller Heiligkeit, Macht, Weisheit und Güte. Es wird daher unserem Dichter die Poesie das gottgeweihteste Licht des Geistes; in Allem, was er liebt, liebt er zugleich das Höchste, die

Religion, und sein Ideal der Poesie wie des Lebens ist die mo­

ralische Schönheit, die Läuterung und Verklärung des inneren Blese deutsche Literaturgeschichte. II.

14

210

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Menschen durch himmlische, göttliche Gedanken. Es ist aber diese Beziehung alles Endlichen auf das Ewige und Unvergängliche zu­ nächst nur eine innerliche, die noch nicht das Princip der Be-

sonderung in sich enthält und die Mannigfaltigkeit und den Reich­ thum der Welt nicht zugleich mit erfaßt, wie sie in ihren verschie­ denen Sphären von der göttlichen Offenbarung erfüllt ist. Diese ideale Innerlichkeit wird zu einem Gefühlsidealismus, welcher in seiner Ueberschwänglichkeit stets in den höchsten Höhen zu schwe­

ben sucht und durch die Berührung des festen Bodens der Wirk­ Klppstock's Phantasie strebt da­ her aus der Wirklichkeit und dem Leben hinaus. Bei diesem Hin­

lichkeit sich zu erniedrigen fürchtet.

ausgehen über die Zustände irdischer Wirklichkeit ruht

der Blick

entweder auf der Vergangenheit oder auf der Zukunft, und 'es er­

zeugt sich hieraus jene Weichheit und Schwermuth einer sentimen­

talen, elegischen Stimmung, die zwar hinaushalf über die Verstan­ desdürre und Prosa der bisherigen Poesie, aber auch hinführte zu

einem Leben voll steter Rührung und fast unaufhörlichen Thränenreizes, so daß die Begeisterung des frommen Dichters oftmals un­

terging in Thränen [25e],

Außerdem läßt dieser Gefühlsidealis-

mus die Lage der Dinge in der wirklichen Welt verkennen, und es schließt sich einer in lauter Idealen schwebenden Schwärmerei weder

das Leben der unmittelbaren Gegenwart, noch auch das Leben der Geschichte zur reinen Anschauung auf. Klopstock's Patriotismus steigt über die Gegenwart hinaus und er feiert das Nationale nicht da, wo es wirklich war, sondern er geht auf die Zeiten zurück, die

keinen bestimmten Zusammenhang mehr mit der unsrigen haben, deren

Gestalten aus dämmernder Ferne ohne sestumgrenzte Individualität uns entgegentreten.

Nicht Friedrich den Großen feiert er, sondern

Hermann den Cherusker und strebt den alten Bardengesang zu er­ neuern. Wie er das deutsche Volksthum nicht in seiner wirklichen Wahrheit erfaßte, so vermochte er auch, bei der bloß gefühlsmäßi­ gen Erregtheit, nicht in den innersten Kern jener großen politischen

Revolution in Frankreich einzudringen.

So lange diese sich nur

im Allgemeinen hielt, und Freiheit und Gleichheit und die unver­ äußerlichen Menschenrechte in begeisterten Worten laut verkündete, begrüßte er freudig diese neu aufgehende Freiheit;

qls aber jene

große Volksbewegung bei den heißen Brandungen des Lebens zur That schritt und in ihrer nothwendigen Fortentwickelung alles nie­

derschmetterte, was ihr im Wege stand, da wurde sie ihm ein gro­ ßes Räthsel und er widerrief seine frühere Begeisterung, und sprach

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

211

den Fluch aus, wo er vorher gesegnet hatte.

Es führte die ideale Innerlichkeit von Klopstock's Geistesleben zu einer Gefühls- und Gedankeneinsamkeit, bei welcher er sich in immer engeren Kreisen

abschloß und zuletzt ein Fremdling wurde in der Mitte des reichen

literarischen Lebens, daß seit Lessing in üppiger Fülle aufsproßte. Es rief aber Klopstock's Gefählsidealismus ächte Poesie her­

vor, und es trat das volle Pathos in die Dichtung ein, welche auf tiefer, inniger Empfindung beruhend sich ganz lyrisch, sentimental

und musikalisch gestaltete. Klopstock wurde der Dichter innerer Ge­ fühlszustände und pathologischer Stimmungen, und dies ist gerade

das Gegentheil von dem Epischen und Plastischen, wo die Außen­ welt, wo Thaten und Handlungen, in bestimmten festumgrenztrn

Gestalten uns entgegentreten. Die Hauptaufgabe des Lebens für un­ seren Dichter wurde seine Messiade [1S,J, in welcher er uns all sein Dichten und Streben kund gethan hat; es ward dies Gedicht

der eigentliche Sammelplatz seiner tiefsten Empfindungen und Ge­ danken, seiner innigsten Lebensbezüge und heiligsten Stimmungen, und er widmete demselben die schönsten Jahre seines Lebens (1746

bis 73).

Das Erlösungswerk ist der erhabene Gegenstand, und die

dichterische Behandlung desselben führt in die jenseitige Welt des Himmels, in die geheimnißvollen Plane der Gottheit, und hierin zeigt sich die Richtung des Dichters auf das Uebersinnliche, sein Streben nach Würde und Erhabenheit [1S8J.

Gott und die En­

gel, Himmel und Hölle sollen geschildert werden. Wie der Stoff selbst, den sich der Dichter zu seinem Epos wählte, hinausführt aus

der Welt wirklicher Beziehungen und gegebener Verhältnisse, eben so fehlt auch der Behandlung und Ausführung sinnliche Gestaltung

Klopstock's Phantasie verliert sich bei dem Streben nach Erhabenheit ins Formlose; sie vermag nicht das,

und individuelle Belebung.

was im Geiste geboren, mit körperlicher,

sinnlicher Hülle zu um­

kleiden und unsere Einbildungskraft an bestimmten, individuellen

Gestaltungen festzuhalten. Die Energie der Empfindung muß die Gabe poetischer Gestaltung ersetzen, und das Epos erhält unter

Klopstock's Händen eine ganz lyrische Färbung. Nicht vermag er, wie Dante, uns von Anschauung zu Anschauung zu führen, und

das Uebersinnliche in eine faßliche, menschlich vermittelte Gestalt zu kleiden, sondern wo er sich zum Ausdruck des Ueberfinnlichen erhebt, und in die Gedanken Gottes hineinschauen will, da ringt er, das Unsagbare zu sagen und das erhabene Verstummen muß oft die Stelle des bildenden Worts vertreten [lse]. Wir sehen nicht mehr 14*

212

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

den darzustellenden Gegenstand, sondern den tief ergriffenen, gerühr­ ten Dichter, der sich in Ausrufungen und Versicherungen über das

Unzulängliche menschlicher Sprache und Vorstellung verliert.

Die

Uebermacht des Lyrischen und Sentimentalen laßt es nicht zu der epischen gleichmäßigen Entwickelung, zu einer harmonischen Klar­ heit und zu der Ruhe ästhetischer Betrachtung kommen.

Selbst da,

wo der Stoff zur epischen Darstellung Gelegenheit darbot in den besonderen Verhältnissen der Juden und Römer und in dem ge­

schichtlichen Stoffe des Alten Testaments, verschmähte der Dichter das Weltliche, von dem das Erlösungswort nach den mannigfaltig­ sten Seiten

hin umgeben war, in seine Dichtung hineinzuziehen.

Die Gesinnungen und Handlungen

wirklicher Charaktere und die Verwickelungen von Begebenheiten darzustellen, das lag außerhalb des

Gesichtskreises unseres Dichters; sein Gebiet ist die Innerlichkeit, die Vorgänge im Innersten der Seele, alles das, was sie zum Ewi­ gen erhebt, was sie in die Tiefen des Schmerzes oder des Zweifels

versenkt.

An die Stelle charaktervoller Handlung tritt Allegorie,

an die Stelle rascher Entwickelung von Thatsachen eine Reihe be­ deutsamer Wesen ohne lebensvolle Individualität, Engel und Teu­

fel, unschuldige und reuevolle Menschen, verhärtete Sünder und Bö­ sewichter. Es ist charakteristisch für dies Epos, daß die Passion der Gegenstand desselben ist; eS zeigt sich daher auch in den Cha­ rakteren die Passivität vorherrschend. Nicht durch Thaten und

Handlungen lernen wir die Personen kennen, sondern durch lange

gehäufte Reden, durch Monologe und Rhetorik

der Engel, die

als

Wechselreden.

bloße Mittel

Die lyrische

und Diener

nen, zieht sich durch die ganze Dichtung hindurch.

erschei­

Die große

Macht und Wirkung, welche dies Epos ausübte, lag daher in den

lyrischen Stellen; hier zeigt sich Klopstock's großes Talent, innere Seelenzustände zu schildern, hier entfaltet seine Sprache ihre musi­ kalische Fülle und Kraft, und mit ergreifenden Tönen versteht er

das mächtig erschütternde Pathos tiefster Empfindung auszuspre­ chen, wenn von Zweifeln, Bekümmernissen und Aengsten die Seele bedrängt wird, wie es sich bei Philo, bei Judas, bei Petrus und

namentlich bei Abbadona zeigt.

Ebenso ergreifend ist die elegische

Wehmuth, das Zartempfundene in den Schilderungen von Benoni, von Semida und Cidli, von Maria und Porcia, von Mirjam und Debora [260J. Vorzüglich tritt in den ersten zehn Gesängen diese

ergreifende

Schilderungspoesie

hervor,

in

denen noch

die

schöne, freudige Kraft des unbewußt wirkenden poetischen Schöpfer-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

triebes herrscht.

213

Je länger sich die Vollendung des Gedichts verzö­

gerte, desto mehr überreizte, erschöpfte sich der Dichter und die Wärme einer jugendlich frischen Begeisterung nahm ab. Er kehrte zwar immer mit neuer Liebe zu seinem erhabenen Gegenstände zu­ rück, und ringt nach neuen Worten und Gedanken, um das Unaus­

sprechliche auszusprechen.

Nach dem Kreuzestode des Messias vom

11. Gesänge an entzieht sich immer mehr der feste Boden der Wirk­ lichkeit; wir bewegen uns in einem Geisterreich, in Visionen, welche der Realität entbehren. Die Gesänge der Engel, der Seli­

gen und Auferstandenen,

welche mit gleichem Inhalt öfter wieder­

kehren , sollen der Dichtung Leben ertheilen. Im letzten Gesang, wo der Erlöser unter den Jubelliedern der Engel und Chöre der

Erstandenen gen Himmel schwebt, unterbrechen Hymnen den Gang

der Erzählung. Die Triumphlieder verklingen erst, bis sich Jesus dem Throne Jehovah's nahte, „da wurde stiller die Stille. — Der Hocherhabene, Gott, und der Vater unseres Mittlers, der Allbarm­ herzige war in der vollen Gottesliebe verklärt." Bei der Innerlichkeit des Seelenlebens, in welcher Klopstock seine eigenste Heimath hatte, bei den musikalisch- pathologischen Stimmungen seines Gemüths war die Lyrik das eigentlichste Ge­ biet seiner Poesie, und da sein Gefühlsidealismus vorherrschend die Form persönlicher Begeisterung annahm und ihm die Richtung auf

große und erhabene Gegenstände gab, so wurde die Ode die ei­ gentliche Gattung, in welcher er Klassicität gewann. Seine Oden­ poesie leitet uns durch sein Leben von der Jugend bis in sein ho­ hes Greisenalter und gewährt uns das vollständigste Abbild seines Gemüthslebens, wie es von Liebe, Freundschaft, Religion, von Va­ terland und Freiheit bewegt wurde.

Die Ode ist der Culminations-

punkt aller lyrischen, die Spitze der musikalischen Poesie, die in sich selbst die Musik ersetzen und des Gesanges entbehren will, indem

sie durch Vollklang der Sprache, Wohllaut und Abwechselung des Rhythmus eine musikalische Wirkung hervorbringt.

Nicht genügte

unserem Dichter das Lyrische im einfachen Liede und in der leich­ ten anakreontischen Ode, ebensowenig auch das bloß Didaktische [260b], sondern indem er die verschiedenartigen Richtungen der bisherigen

Poesie auf eine bedeutsame Weise zusammenzufaffen und harmo­ nisch zu verknüpfen suchte, strebte er nach einer Dichtung, in wel­ cher Gedanke

und poetische Vorstellung,

Geist und Empfindung

sich gegenseitig durchdringen, und eben dies findet in der Ode

statt peiJ.

Klopstock nahm von den Alten den Formensinn und

214

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

lernte bei ihnen den Reim verschmähen [261].

Bekannt mit den poetischen Perioden und der freieren Sylbenbewegung der antiken Verse war er bemüht die lyrischen Sylbenmaße der Griechen nach­

zubilden, und der Dichter der tiefsten Empfindung beschäftigte sich sorgfältig mit der Vervollkommnung der äußeren Verstechnik und versuchte sich in eigenen Strophencompositionen.

In seinem Stre­

ben nach Allseitigkeit hielt er die Hauptelemente der bisherigen Dich­ tung, das Antike, das Christliche und Vaterländische mit sicherem

Griffe fest.

Rücksichtlich des Inhalts spricht sich in den früheren

Oden bis zum Jahr 1754 oder 1'758 da, wo er die Liebe besingt

(an Fanny und Cidly) die tiefste Herzenssehnsucht und die rüh­ rendste Schwermuth aus, ohne in weichliche Kränklichkeit überzuge­

hen („der Adler" und „Bardale"); da wo er die Freundschaft feiert, tritt die zarteste Innigkeit und die lebhafteste Wärme hervor („Wingolf," „An Giseke," „An Ebert"); wo er Gott und den Er­ löser besingt, herrscht die feurigste Begeisterung, die hinreißendste

Erhabenheit („die Frühlingsfeier"), wo er endlich das Vaterland verherrlicht, zeigt er sich tief durchdrungen von dem reinsten Selbst­ gefühl

und

edelsten

Volksbewußtseyn

(„Heinrich

der Vogler,"

„Hermann und Thusnelda," „Fragen," „die beiden Musen," wo­ zu noch hinzugefügt werden kann „Wir und Sie" und das „Va­

terlandslied" (1'770).

In späteren Jahren, besonders seit 1764

verstummt immer mehr die Leier des Alterthums, welche fast nur bis zum Austritt aus der Schule Klopstock's Begleiterin gewesen war; lauter aber ertönt die Harfe der Barden, und vor Allem ist

es David's Psalter, von dem seine Muse begeistert erscheint.

Er

gab Homer gegen Ossian auf und beide zugleich nebst Pindar und

Horaz gegen David.

Sion's Lied schien sich ihm über Hämus und

des Hufes Quell' zu heben und Pindar verschwindet gegen den Jsaiden („Kaiser Heinrich"). Immer entschiedener entwickelte sich in Klopstock's Dichtung das Pathologische („Hügel und Hain") und

bei der Innerlichkeit der religiösen Vertiefung,

bei dem

bloßen

Selbstempsinden des Gemüths im religiösen Aufschwung bleibt die Kunst der Poesie nur getragen von der Unmittelbarkeit tiefer Ge­

fühle; sie ist musikalisch-sentimental und offenbart ihre Ueberschwäng-

lichkeit in dem seraphischen Schwünge, in der gezwungenen Erhaben­ heit das Unsagbare zu sagen.

Es fehlt lebendige Einheit uud reine

Harmonie der Darstellung; die Versmaaße sind künstlich verschlun­

gen und der Inhalt dunkel. Auch die edlen Regungen unseres Dichters für Vaterland, für die deutsche Sprache und für Freiheit

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

215

überspannten sich. Er schrieb im patriotischen Eifer gegen Friedrich H. („die Rache" vergl. „Ihr Tod" Str. 6. und „An Gleim"), und verstieg sich in seinem Freiheitssinn gegen Tyrannei („Fürstenlob"). Die Bardenlieder, die er dichtete nach einem selbst erschaffenen Bilde von der Poesie der alten Germanen, zu welchem Osstans Gesänge

und die scandinavischen Edden die meisten Farben liehen, gewähren keine reine, ungetrübte Unmittelbarkeit der Anschauung. — Neben der Odendichtung

ließ

sich Klopstock

auch

die Poesie des Kir­ dieselbe geltend,

chenliedes angelegen seyn [1,3J, und machte für

daß sie das Herz bewegen sollte, weil die Andacht mehr Herz als Betrachtung sey. Sein Gefühlsidealismns ließ ihm aber nicht die Ruhe und Klarheit, um sich herabzustimmen zu dem einfachen Tone

des Volksliedes. Er hat ergreifende geistliche Lieder gedichtet, wie „Sink ich einst in jenen Schlummer," „Auferstehen, ja auferstehen," aber es sind keine Kirchenlieder, die sich für die Gemeinde eigneten.

Im Drama endlich, welches auf der Entwickelung von Hand­ lung und Entfaltung bestimmter Charaktere beruht und vor Allem

die Unmittelbarkeit der Gegenwart fordert, konnte sich Klopstock's Poesie um so weniger bewähren, als diese nicht heraustritt im ge­

genständlichen Wollen und Handeln und es nicht zu einer Jndividualisirung des Idealen in Zuständen und Begebenheiten der äu­ ßeren Welt kommen läßt. Bon seinen drei biblischen Stücken ist daS älteste Adam's Tod, ein dialogisirtes sentimentales Idyll. Die drei Bardieten stellen dar die Großthaten und Schicksale des Cheruskerfürsten Hermann, des Befreiers Deutschlands vom Römer-

jvch; sie sollten dienen zur Belebung des deutschen Nationalgefühls. Der Dialog ist in Prosa, aber durchwebt mit Gesängen der Drui­

den und Barden.

Eigenthümlich ist der Contrast zwischen dem hier

geschilderten Heldenthum und der überspannten Sentimentalität ei­ ner modernen Gefühlspoesie.

Es lag der urdeutsche Teutonismus

in einer zu unbestimmten Ferne, als daß der nationalen Begeiste­

rung Wahrheit und Innigkeit verliehen werden konnte; die Bar­ dentöne blieben der Nation fremd und waren für die Nachwelt als­ bald verklungen.

Einwirkung Klopstock's auf die Dichtung seiner Zeit. Klopstock's Einfluß zeigte sich am wirksamsten in Niederdeutsch­ land und in der Schweiz, wo Brockes und Bodmer für die neue

Empsindungspoesie den Weg gebahnt hatten. Außerdem zog er Kopenhagen, Halberstadt, Berlin und selbst Wien in sein Interesse,

216

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

und hierdurch wurde die Wirksamkeit der Gottschedschen Schule, die sich namentlich auf Sachsen, Schlesien und Preußen erstreckte, im­

mer mehr in den Hintergrund gedrängt.

Als das Ziel der neuen

Dichtungsweise galt die Veredlung und Erhöhung der Gefühle, die Das episch-religiöse Element, welches durch den Messias angeregt war, trat vorzüglich im Süden hervor, wo

Rührung des Herzens.

die erzväteclichen Epopöen, die Patriarchaden entstanden.

Bodmer, welcher die Erscheinung der drei ersten Gesänge des Mes­ sias als einen Sieg seiner Principien begrüßte, nahm den älteren Plan seiner Noachide wieder auf,

und 1752

erschien schon sein

Noah in zwölf Gesängen, und es folgte binnen weniger Jahre von

ihm eine Reihe patriarchalischer Dichtungen (die Sündfluth, Jacob und Joseph u. s. w.). An ihn schloß sich damals Wieland mit seinem geprüften Abraham (1753).

Diese patriarchalischen

Dichtungen bildeten zugleich den Uebergang zu den Idyllen; denn

die Patriarchen führten ein Hirtenleben, in welchem das goldene Zeitalter ungestörter Eintracht herrschte. Salomon Geßner, 1730 in Zürich geboren, wo sein Wa­

ter Buchhändler war, schien in seinen jungen Jahren wenig zu ver­ sprechen ; 1749 schickte ihn sein Vater nach Berlin, um Buchhänd­ ler zu werden.

Der junge Geßner verließ aber die Buchhandlung,

miethete sich ein eigenes Zimmer und malte Landschaften; daneben versuchte er sich nach der Manier der Anakreontiker in reimfreien Versen, und theilte seine poetischen Versuche Ramlern mit, dessen kritische Feile allgemein anerkannt war. Dieser gab dem jungen Dichter die Verse zurück mit dem Rathe, seine Sachen lieber in Prosa zu schreiben, und hierdurch wurde Geßner auf die poeti­

sche Prosa geführt. Ueber Hamburg, wo er freundliche Ausnahme bei Hagedorn fand, kehrte er nach Zürich zurück. Im Jahr 1754 erschien sein Daphnis, ein Schäferroman in drei Büchern; 1756 der erste Band seiner Idyllen, 1758 der Tod Abels in fünf Gesängen und 1762 der erste Schiffer in zwei Gesängen. Geß­

ner war als Buchhändler, Maler, Dichter und Kupferstecher hoch­ geschätzt, wurde in den hohen Rath gewählt und sein gastfreies Haus bildete

einen Vereinigungspunkt von Gelehrten,

Staatsleuten; er starb 1787.

Künstlern und

Frühzeitig mit Malerei und Poesie

beschäftigt folgte Geßner der Bodmer-Breitinger'schen Theorie.

Vor­

züglich setzte sich in ihm Klopstock'S religiöse Richtung fort und des­ sen gemüthliches Pathos, welches bei ihm aber ausartete in zärt­ liche, weichliche Empsindrleien.

Sein Tod Abels hängt noch mit

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

217

den Patriarchaden zusammen; in seinen Idyllen schuf er sich aber

eine eigene idyllische Idealwelt ohne Kampf und Schmerz, und wurde der eigentliche Schöpfer der modernen Naturidylle [1,4J, hie sich erst später individueller und lebensvoller gestaltete. Durch

ihn trat neben einer wahrhaften empsindungsvollen Theilnahme an der Natur Reinheit und Keuschheit der Gesinnung in die Idylle

und hiermit verband sich das Malerische der Schilderung, welche Reim und Vers aufgebend eine rhythmische und musikalische Prosa

sich bildete.

Durch solche gemüthinnige Naturmalereien und durch

die Ueberschwänglichkeit naiver, weicher, zärtlicher Empfindungen übte Geßner den bedeutendsten Einfluß auf die Naturschwärmerei

der deutschen sentimentalen Jugend aus. Er wurde daher lange Zeit nur mit der größten Verehrung genannt, wozu auch der Um­ stand beitrug, daß er der erste Dichter war, der in Frankreich all­

gemeinen Eingang fand und dort vielfach übersetzt und bewundert ward. Später wurden seine Idyllen durch Lessing's Widerstreben

gegen alle sentimentale Malerei und durch die genauere Bekannt­ schaft mit den altklassischen Mustern verdrängt [*•*]. Es fehlt den Dichtungen Geßner's jede Jndividualisirung, sowol der Natur als auch der Menschen und Sitten. Er führt uns ideale Phantasiegrbilde in den farblosesten Umrissen vor, denen die reale Grundlage wirklicher Naturzustände fehlt. Der Zweck seiner Gedichte ist nicht

Darstellung lebensvoller, individuell gehaltener Gruppen, sondern

Versinnlichung sittlicher Begriffe, wodurch seine Poesie in das Ge­ biet der Allegorie hinüberspielt. Seine poetische Prosa wurde be­ quem für rin großes Gefolge von Nachahmern, welche ihre andäch­

tigen Naturempsindungen und allegorischen Naturbetrachtungen in „rieselnder" Prosa vortrugen [ie7J. Einen Fortschritt zum Indi­ viduelleren

und Realeren

machte

mit

Fischeridyllen

Tav er Bronner, welcher 1758 zuHöchstädt geboren war.

Franz Frü­

her katholischer Klostergeistlicher suchte er, als er diesen Stand auf­

gegeben hatte, seine Zuflucht in der Schweiz, wo er in verschiedenen Stellungen lebte [167J.

Seine Idyllen gab Geßner 1787 heraus,

und wenn diese auch eine realere Grundlage haben, so sieht man es ihnen doch an, daß der Dichter aus der Enge der Klosterzelle Menschenwelt und Natur auffaßte.

Seine Idyllen tragen ein durch­

aus ideales Gewand, und es fehlt Personen und Zuständen an ei­

6 Wie durch das religiöse Moment wirkte Klopstock auch mäch­ tig ein durch die Idee des Vaterländischen und der Freiheit, welche ner anschaulichen Verkörperung.

218

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

nach ihrer politischen Bedeutung besonders im südlichen Deutsch»

land mit lebhaftem Eifer erfaßt wurde [Ie8J, namentlich imWür tembergschen,

wo der politische Druck am stärksten empfunden

wurde und Männer, wie I. L. Huber (1723—1800)

und Fr.

v. Gemmingen (1726 — 91) über die Finsterniß und Barbarei in ihrem Vaterlande jammerten, uud Fr. Karl v. Moser (1723

bis 98) den Ruf nach Achtung der Menschenrechte erhob.

Auch

Christoph Daniel Friedrich Schubart betheiligte sich an den

Freiheitsideen

und war

von

Klopstock poetisch begeistert, dessen

Ruhm er überall in Würtemberg verkündete, indem er seinen Mes­

sias öffentlich vorlas.

Er war 1739 zu Obersontheim in Schwa­

ben geboren, studirte 1758 in Erlangen, wo sein verwildertes Leben ihn in Schulden stürzte. Nach manchem unstäten Umherirren wurde er 1768 Organist und Musikdirektor in Ludwigsburg, ward aber seines Lebens und seiner Satiren wegen abgesetzt. Nach längerer

Zeit fand er endlich als Zeitungsschreiber in Augsburg einen Wohn­ sitz; hier gab er die deutscheChronik (vom 1.1774an) heraus,

die für die damalige Zeit von einer kühnen Freimüthigkeit zeugte,

ihm aber eine zehnjährige widerrechtliche Gefangenhaltung auf dem

Hohenasperg zuzog (1777 — 1787).

Sein Kerkerleiden sah er als

den Weg zu seiner Bekehrung an und in solcher Stimmung be­ schrieb er sein Leben.

Sein Hymnus auf Friedrich den Großen

trug zu seiner Freilassung bei; er wurde zum Director der herzog­

lichen Musik und des Theaters in Stuttgart ernannt und starb 1791. Die Verirrungen und die bitteren Leiden seines Lebens lie­ ßen sein Talent nicht zur ächten Poesie hindurchdringen. Von Klopstock eignete er sich das Pathos des Ausdrucks an, das bei

bei seinem wilden Kraftgefühl ins Pomphafte und Schwülstige aus­ artete.

Manche Lieder sind momentane Ergüsse seines überfließen­

den Herzens und ergreifen durch die Wahrheit der Empfindung und durch die Kraft des Ausdrucks („der Gefangene," „die Linde," „der

Frühling"). Andere Lieder, in denen er den naiven Ausdruck des Gefühls traf, drangen in das Volk und wurden von Würtembergischen Bürgern und Bauern gesungen („Auf auf ihr Brüder und

seid stark").

In seinen geistlichen Liedern, die er während seiner

Bekehrungszeit auf dem Hohenasperg dichtete, herrscht eine Ueber» fchwänglichkeit der Empfindung, welcher die Ruhe einer von der Glaubenskraft gehobenen Gemüthsstimmung fet)lt[2 89]. — In der

Schweiz zeigten sich die doppelseitigen Eindrücke christlicher und va­ terländischer Begeisterung vonKlopstock her vorzüglich an Johann

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

219

Caspar Lavater. Er war 1741 zu Zürich geboren, wo sein Vater als Arzt in großer Achtung stand. Schon früh zeigte sich

in ihm eine entschiedene Richtung auf das Religiöse, so daß Bibel­ lesen und Gebet ihm Bedürfniß waren. Die Aufgeregtheit seines geistigen Lebens ließ es nicht zu einem tieferen Eindringen in phi­

lologische Studien kommen.

Früh trat schon der ihm eigenthüm­

liche Zug hervor, Menschen zu beobachten, zu belehren, zur Fröm­ migkeit aufzumuntern und über seinen und Anderer Seelenzustän­ den zu wachen.

Von Freundschaftsenthusiasmus getrieben schloß er

sich an mehrere edle Jünglinge an, und seine Studienjahre sielen

in die Zeit, wo Klopstock's Messias und Rousseau's Freiheitsideen in der Schweiz die Stimmung der Judend beherrschten und reli­

giöse, patriotische Ideen nährten. Sein Name wurde zuerst berühmt, als der 21jährige Jüngling 1762 in Verbindung mit Heinrich Füßli

den Landvogt Grebel der Erpressungen wegen anklagte und zur Entschädigung der Uebervortheilten zwang. Mit Füßli reiste er

1763 über Leipzig nach Berlin, wo er nähere Bekanntschaft mit den bedeutendsten Gelehrten und mit den Zuständen der deutschen Literatur machte. Nachdem er mehrere Monate sich bei Spalding in Barth aufgehatten hatte, um seine Bildung zum Geistlichen im

Umgänge mit diesem berühmten Theologen zu vollenden, kehrte er 1764 nach Zürich zurück, und war hier in verschiedenen geistlichen Aemtern als Seelsorger unermüdlich thätig und starb 1801 nachdem

er lange gelitten hatte in Folge einer Wunde, die ihm 1799 von einem Franzosen bei der Eroberung Zürichs meuchelmörderisch war zugefügt worden.

Lavater's frühste Produkte, die Schweizerlieder

(1767) und seine Aussichten in die Ewigkeit (1768), in denen er den Plan zu einem geistlichen Gedichte niederlegte [170J, gaben Zeugniß von seiner vaterländischen und christlichen Begeisterung. In de« Schweizerliedern pries er in Gleim's Tone die älteren und

neueren Schweizerhelden und verherrlichte die Schweizerfreiheit. Diese Lieder in ihrer anspruchslosen Form drangen in alle Klaffen ber jugendlich spielenden Phantasie, in die alte Märchen-

508

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

und Sagenwelt, ebenso zogen sie sich zurück in die Einsamkeit der Natur, drangen ein in ihre geheimnißvollcn Tiefen und begrüßten in ihren Erscheinungen überall ein unabhängiges, sich selbst genü­ gendes Leben, das seine Geheimnisse kund giebt [,11J. Das Herz des Herzens, die unerforschliche Tiefe des Gemüths ward der Mit­ telpunkt, in welchem Gott, Natur und alles Menschliche sich lieb­ reich vereinen. Aus diesen verborgenen Quellen sollte der wahre Dichter die Offenbarungen schöpfen, die er weissagend dem in der Noth der Gegenwart befangenen Geschlechte zurufk. In der Be­ gründung einer neuen symbolischen Weltanschauung, einer religiösen Universal-Mythologie wurde für das Unendliche eine sinnbildliche, soviel möglich individualisirende Darstellung gesucht, die zugleich zur Bermittelung zwischen Poesie und Wissenschaft dienen sollte [’12]. In der damaligen Zeitphilosophie Fichte's und namentlich Schelling's fand diese Richtung der Romantiker eine ergänzende Seite. Bei dem Streben nach dem Großen und Besten der Poesie suchte man im Auslande die obersten Muster, und eröff­ nete die bisher verborgenen Schätze nicht bloß der alteren ro­ manischen, sonvern auch der orientalischen Poesie. Indem man die Nationalliteratur auf ihre Höhe erheben wollte, drang man hindurch zur Universalität der Weltliteratur. Die spanische und italienische Literatur, sowol in ihrem tieferen Gehalt als auch mit ihren künstlichen Formen wurde herangezogen, und vor Allem ruhte der Blick auf Shakespeare, der als Muster universaler Weltpoesie in dem Brennpunkte seiner Genialität alle Bezüge des Lebens, der Geschichte, der Zeiten, Nationen und der Natur vereinte, sich dabei auf der Spitze der Ironie und des Humors bewegte, und durch den Zauber seiner Phantasie die widersprechendsten Dinge, die entferntesten Punkte der Menschheit in einem Spiegel zu sammeln und zu zeigen wußte [’ * aJ. Es wurde für die Romantiker der prosaischen Zeit gegenüber die Ironie ein Lebensprincip, die in Ver­ bindung mit dem Humor sich in Gesinnung und Weltanschauung der jungen Dichter auf eigenthümliche Weise offenbarte [’14]. Sie galt zunächst der Verkehrtheit der Welt und sollte der Poesie den Weg ins Leben ebnen und bahnen; sie steigerte sich aber bald zu einem willkürlichen Spiele der Phantasie, vor welcher alle Gestal­ tungen der Erscheinungswelt zerrinnen und nur das eigene Innere übrig bleibt mit seinen Traumgebilden. Der gediegene Gehalt der wahrhaften Wirklichkeit wurde verflüchtigt und aus den zerstäuben­ den Widersprüchen des Lebens ging nicht eine harmonische Aussöh-

509

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

nung hervor, in der sich der wahrhafte Lebensgehalt siegreich erhält, sondern eine ermattende Sehnsucht nach einem unerreichbaren Jen­

seits. Durch die Erschütterung der erscheinenden Welt, durch das Zugrundegehen alles einst Festbegründeten sollte die ächte Wahrheit

auftauchen im Gemüth, und indem dieses nur Kraft hat zum zer­ störenden genialen Spiele mit dem bisher Gültigen, fällt die Ge­ staltung der neuen Wahrheit der Willkür und

mystischen Begeisterung anheim [’15].

dem Zufall einer

Es wollten die Romantiker

neben dem Leben eine Welt der Poesie künstlich erschaffen, damit jenes von dieser durchdrungen werde; allein die gemeine Wirklich­

keit und das Ueberschwängliche jener wunderbaren idealischen Welt schließen sich einander aus.

Es erblaßt der zauberische Schimmer

der höheren Wunderwelt, und die Lcbensprosa wird dadurch nicht

geläutert und veredelt.

Die neue Romantik bildet zu der damals

sich breit machenden, an der gemeinen Wirklichkeit haftenden All­

tagspoesie das andere ebenfalls einseitige Extrem, indem sie theils

keck über das wirkliche Leben hinausflog oder dieses auf den Kopf

stellte.

Sie bezeichnet die Epoche der genialisirenden, forcirten Ta­

lente, welche von dem Geist der Unruhe und Ungeduld ergriffen sich

ganz Hingaben einem unbestimmmten, oft wilden Drange nach Auf­ nahme

und Wiedergabe des Höchsten;

das in

ihnen

flammende

Feuer ist nicht ein plastisch bildendes und läuterndes, sondern ein

von innen heraus verzehrendes, so daß sie nicht selten von Selbst­ verzweifelung erfaßt, ihre ursprünglich herrlich angelegten poetischen Gebilde auf einen Streich mit Hülfe der Ironie, der Selbst- und

Weltverspotlung in Stücke schlagen und an der Zersplitterung alles

Schönen und Herrlichen ihre Freude haben.

Indem sie in kecker

Selbstüberhebung sich von der Wirklichkeit und dem Leben mit sei­

nen Forderungen abwandten, überließen sie sich ihren mystischen Ah­ nungen und traumhaften Phantasien, und achteten die Bedingung

ächter Kunstbildung gering [,16J.

Bei solchen drangvollen Stre­

bungen ging daher von der neuen Dichtergeneration kaum ein grö­ ßeres Werk hervor, das in durchgängiger Reinheit und poetischer Wahrheit den Anforderungen der Kunst vollkommen genügte.

Den­

noch bleibt den neuen Romantikern das Verdienst, unsere National­

literatur vor der Erschlaffung und dem Versinken in die Gemeinheit bewahrt zu haben. Sie unterhielten sowol durch ihre Kritik als auch durch eigene Productionen eine frische Regsamkeit und einen höheren Aufschwung.

510

Zweite Periode.

A.

Von dem ersten Viertel

Die kritische Seite der Romantik.

Die wissenschaftlichen, kritischen Vertreter der Romantik sind

vorzüglich die beiden Brüder A. W. u. Fr. Schlegel [’*’], welche aus einer Familie stammten, die sich bereits einen ausgebreiteten literarischen Ruhm erworben hatte.

A. W. Schlegel wurde 1767

in Hannover geboren, wo sein Vater Joh. Adolf Consistorialrath

war.

Durch trefflichen Schulunterricht in seiner Vaterstadt vorbe­

reitet, ging der junge Schlegel auf die Universität zu

Göttingen,

um Theologie zu studircn; bald aber wandte er sich von derselben

unter Heyne's Leitung und unter dem Einfluß von dem Umgang mit Bürger zu sprachwissenschaftlichen und ästhetischen Studien.

Früh zeigte sich in ihm die den Romantikern eigenthümliche Un­ ruhe eines ungebundenen, wanderlustigen Lebens.

Nach Beendigung

seiner Studien hielt er sich einige Jahre als Erzieher in Amsterdam auf, kehrte nach Deutschland zurück und ging in Jena (1796 — 1800) ganz auf die neuen Lebensregungen in Kunst und Wissen­

schaft ein. Er begann hier 1797 seine Uebersetzung des Shakespeare, bethätigte seine Theilnahme an den Horen durch mehrere gehaltreiche Aufsätze, so wie durch Stücke seiner Uebersetzungen Dante's und

Shakespeare's [,l8J, außerdem hielt er Vorlesungen über die Theo­ rie der Kunst, und gab mit seinem Bruder die Zeitschrift „Athe­ näum" (1795) heraus, mit welcher sich beide an die Spitze der jungen Schriftsteller-Generation stellten und in dem kecken Ton der Lenien den Kampf eröffneten gegen die literarische Mittelmäßigkeit

und gegen die Plattheit des sich überhebenden gesunden Menschen­ verstandes. Im Jahr 1801 entsagte Schlegel seiner Professur, die er 1798 in Jena erhalten hatte, und ging nach Berlin, welches damals der Mittelpunkt für die neue literarische Schule wurde.

Er

hielt.hier 1802 Vorlesungen über Literatur und Kunst, gab seinen

„Jon," ein antikes Trauerspiel, heraus und eröffnete 1803 seine Uebersetzungskunst mit dem spanischen Theater, namentlich mitCalderon, und zeigte seine universal-literarische Thätigkeit in den „Blumensträußen der italienischen,

Poesie" (1804).

spanischen und portugiesischen

Um einer unfreundlich beengenden Lage, in die er

besonders durch die Streitigkeiten mit Kotzebue und Merckel versetzt war, zu entgehen, brach er 1805 plötzlich seinen Aufenthalt in Ber­ lin ab, und ging mit der Frau v. Stael aus Reisen, und lebte bald in Coppet, bald in Italien, Frankreich oder wählte deutsche Städte zu seinen Aufenthaltsorten. In Wien erregte er besonders

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

511

großes Aufsehen durch seine Vorlesungen, die er dort 1808 über dramatische Kunst und Literatur hielt; diese Vorlesungen gab er 1809 —1811 in 3 Theilen heraus. Als die begeisterten Freiheits­ kämpfe gegen Napoleon begannen, ward Schlegel in die großen Zeit­ ereignisse mit hineingezogcn; er trat 1813 als politischer Schrift­ steller in französischer und deutscher Sprache aus, und begleitete den damaligen Kronprinz von Schweden, Bernadotte, als Kabinetssecretair auf dem Feldzuge; er ward geadelt und schwedischer Lega­ tionsrath. Nach dem Sturze Napoleon's kehrte er zur Frau von Stael zurück, und nach deren Tode (1817) studirte er in Paris die indische Literatur, und erhielt 1818 einen Ruf als Professor an die Universität Bonn, wo er vorzüglich die Geschichte der schönen Künste alter und neuer Zeit vortrug und sich mit besonderem Eifer dem Studium der orientalischen Literatur zuwandte. Er starb hier im hohen Alter im Jahr 1845. A. W. Schlegel war als productiver Schriftsteller ohne eigentliche Genialität; es fehlte ihm die schöpfe­ rische Kraft, welche allein den Dichter bildet. Seine Poesien be­ wegen sich mehr im Elemente geistreicher Reflexion, zeichnen sich aber überall durch eine reine, durchsichtige Form aus. Die technischsormelle Seite der Sprache und des Rhythmus und Reims be­ herrschte er mit vollendeter Meisterschaft, und diese zeigte sich vor­ züglich im Sonett, einer Dichtungsart, in welcher die Unmittelbar­ keit des Empfindens übergeht zur Reflexion, zu einer sinnigen

Betrachtung, die das Einzelne der Anschauung und Herzenserfah­ rung unter allgemeinere Gesichtspunkte zusammensaßt. Es findet hier weder die Einfachheit des Liedes noch die Erhabenheit der Ode statt, und somit fällt einerseits die Gangbarkeit weg, andererseits aber wird, statt des begleitenden Singens, die Sprache selbst in ih­ ren Klängen und künstlichen Reimen zu einer tönenden Melodie des Wortes [’**]. In der zweiten Ausgabe von Schlegel's Gedichten (1789) ertheilt Bürger in der Vorrede seinem Freunde die poetische Weihe und verkündigt in einem klangreichen Sonett des Dichters Unsterblichkeit. Es war Schlegel im Bewußtseyn seiner Herrschaft über die Sprache und ihre poetischen Mittel nicht ohne hohe Mei­ nung von seinem Talente, so wie ihm auch im gewöhnlichen Leben ein« übertriebene Eitelkeit in der Art seines äußerlichen Behabens nicht fremd war. Wie sehr ihm das eigentliche schaffende Dichter­ talent fehlte, zeigte sich vorzüglich in seinen epischen Dichtungen. In der Romanze „Pygmalion" erscheint die Erzählung nicht sowol als poetische Darstellung der Handlung, sondern vielmehr als Re-

512

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

flexion des Dichters, und die Anordnung und Composition ist unklar. Auch im „Arion" kommt die Idee von der Macht des Gesanges nicht zur bestimmten Anschauung. Die Wirkung beider Gedichte liegt vorzüglich in dem Wohllaut der Sprache und in der glücklichen Be­ handlung des Rhythmus und des Reimes [,20J. Schlegei's dramati­ scher Versuch, im „Jon" die reingriechische Form einzuführen, blieb wirkungslos; das Ganze ist ohne eigentliche Lebenskraft; es fehlt die von innen heraus gestaltende schöpferische Idee. Das Wirksame dieses Drama's besteht gleichfalls nur in der hohen sprachlichen und rhythmischen Bildung und in dem Rhetorisch-Gelungenen einzelner Stellen. In Satiren und Epigrammen richtete sich Schlegel sowol gegen die unkünstlerischen als sittlich und nationell entwürdigen­ den Bestrebungen; zugleich mischen sich hier öfter seine subjcctiven Meinungen nebst persönlicher Gereiztheit ein, wodurch der ästhetische Werth geschwächt wird [T20b], Der eigentliche Ruhm Schlegel's be­ ruht auf den ausgezeichneten Verdiensten, die er als Kritiker und

Literar-Historiker hatte. Die großen Kunstideen, welche seit Winckelmann und Lessing durch Herder, Göthe und Schiller gewonnen waren, führte er in die kritische Auffassung der Literatur hinüber. Hierzu kamen die philologischen Studien, welche seiner Kritik zur Grundlage dienten, und die damals, namentlich durch Wolf geför­ dert, tiefer cingingen auf die historischen Verhältnisse, auf den sach­ lichen Gehalt und die ästhetischen Bezüge der alten Klassiker. Auf Schlegel's ungemeiner Fähigkeit, sich in Fremdes hineinzudenken und es sich anzueignen, beruht seine universal-literarische Thätig­ keit, und er wirkte durch seine kritische Auffassungsweise der poeti­ schen Productionen des Auslandes über Deutschland hinaus auf England, Italien und namentlich auf Frankreich ein [’2,J. Der Standpunkt, den er in seinen ästhetischen Abhandlungen einnahm, ist bezeichnet durch den Ausdruck „Charakteristiken und Kritiken," die er gemeinschaftltch mit seinem Bruder herausgab. Er sagte selbst, daß unter allen Aufgaben keine schwieriger, aber auch keine belohnender sey, als eine treffende Charakteristik der großen Meisterwerke. Diese wird von ihm gewonnen nicht sowol durch Vertiefung in den inneren Ge­ dankengehalt, der das Ganze organisirt, als vielmehr durch geistrei­ ches Raisonnement. Mit sicherem Tacte trifft er diejenige Seite des Gedichts, welche die historische desselben ist; nicht aber weiß er sich der inneren Gründe zu bemächtigen, auf denen sowol das We­ sen der Kunst im Allgemeinen als auch die künstlerische Composition in Besondern beruht [,22J. Sn den „Vorlesungen über die dra-

513

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

malische Kunst und Literatur" behandelt Schlegel mit Vorliebe das

antike Drama, namentlich das griechische, und wendet dann im wei­ teren Verlauf seine hauptsächliche Aufmerksamkeit dem Romantischen zu, besonders der spanischen und englischen Romantik [’2SJ.

Die

sprachliche Darstellung trägt das Gepräge der Klassicität und offen­ bart eine freie, von jedem Systemzwange unabhängige Geistesbewe­

gung.

Die außerordentliche Fähigkeit, Fremdes sich anzueignen, be­

wies Schlegel vorzüglich auch in seinen Uebersetzungen.

Er begann

und ging dann zu den Dichtern des südlichen

mit Shakespeare,

Europa's über; er machte zuerst auf Dante aufmerksam, gab Proben

von dem spanischen Theater und in den Blumensträußen von der italienischen, spanischen und portugiesischen Poesie. Von ihm an­ geregt übersetzte Gries den Tasso nebst Ariost und Calderon, Kan­ negießer den Dante, Streckfuß neben Dante den Ariost und

Taffo.

Endlich machte sich Schlegel auch noch verdient um die

orientalische Literatur durch die Herausgabe „der Indischen Biblio­ thek" (1828 sqq.).

Durch diese vielseitige Thätigkeit übte er den

nachhaltigsten Einfluß aus auf eine lebendigere Vermittelung der Li­

teratur mit dem Leben [’24]. Friedrich Schlegel, der 1772 geboren wurde, war anfangs

von seinem Vater für den Kaufmannsstand bestimmt.

Als er aber

in Leipzig die Handlung erlernte, fühlte er so lebhaft seine Unfä­ higkeit dazu, daß der Vater seinen Bitten nachgab und ihn zurück­ nahm. Der junge Schlegel, 16 Jahr alt, ging mit Eifer an das Studium der alten Sprachen; er studirte ein Jahr in Göttingen, dann in Leipzig, und verschaffte sich eine ausgebreitete Belesenheit

in den griechischen und römischen Schriftstellern.

Nach Beendigung

seiner akademischen Studien trat er 1794 schon mit einer Abhand­

lung hervor über „die Schulen der griechischen Poesie."

Seine erste

Schrift von größerem Umfang waren „die Griechen und Römer"

(1797); sie blieb aber unvollendet.

Als Fortsetzung derselben kann

angesehen werden die Schrift: „Poesie der Griechen und Römer," welche gleichfalls Bruchstück geblieben ist. Im Jahr 1798 leitete er mit seinem Bruder durch die Herausgabe

des Athenäum die

neue Literaturrichtung ein, und schrieb 1799 den berüchtigten Ro­ man „Lucinde."

Damals lebte Schlegel in Berlin; im I. 1800

ließ er sich als Privatdocent in Jena nieder, und bezeichnete durch

das „Gespräch über Poesie" entschieden die Richtung der neuen Ro­ Jetzt trat er auch zuerst als Dichter auf; die ersten Ge­ dichte von ihm erschienen im Athenäum. Im Jahr 1801 gab er

mantik.

Biese deutsche Literaturgeschichte. II,

33

514

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

im zweiten Bande der „Charakteristiken und Kritiken" ein größe­ res Gedicht im elegischen Versmaße heraus, „Hercules Musagetes,"

das für Schlegel's Eigenthümlichkeit charakteristisch ist [7 2 5].

Zm

Jahr 1802 versuchte er sich im Drama, und lieferte im „Alarkos" ein seltsames Gemisch des Antiken und Romantischen; es tönen hier

die modernen Assonanzen in die Metrik der griechischen Tragiker

hinein.

In demselben Jahr

begab er sich aus einige Zeit nach

Dresden, ging aber von hier, da ihm das Reisen bereits zur Ge­ wohnheit geworden war, in Gesellschaft feiner nachherigen Frau,

Dorothea Mendelssohn, nach Paris.

In der französischen Haupt­

stadt zog er sich von dem großen Weltgetriebe mehr auf sich und

sein Innerstes zurück; er beschäftigte sich 1803 und 1804 mit Stu­ dien über mittelaltrige Cultur, mit der Poesie der romanischen Völ­

ker, und vorzüglich mit der Sprache und Literatur der Indier. Die Resultate feiner Forschungen machte er 1808 in der Schrift: „Ueber

die Sprache und Weisheit der Indier" bekannt.

Das Studium

des Sanskrit bezeichnete einen Wendepunkt in Schlegel's geistiger Bildungsgeschichte.

Die indische Mystik mit ihren asketischen Buß­

übungen leitete ihn hinüber zu dem System der katholischen Kirche,

welches in sich fest und unerschütterlich

der Phantasie und dem

ästhetischen Mysticismus einen freien und genußvollen Spielraum

gewährt.

Schlegel verließ Paris, um in Cöln 1805 nebst feiner

Frau zum Katholicismus

überzugehen.

Von Cöln

führten

ihn

seine reaktionären Bestrebungen nach Wien, wo auch andere Gei­

stesverwandte, Adam Müller, Zacharias Werner, sich zusammensanden. In der Zeit des Krieges gegen Napoleon kam 'Schlegel nach Oesterreich, und ward 1809 kaiserlicher Hofsekretair im Hauptquar­

tier des Erzherzogs Karl; in dieser Stelle wirkte er durch kraftvolle Proclamationen

auf die Erhebung des deutschen

Nationalgeistes.

Bei der unglücklichen Wendung der Dinge kehrte er zur literarischen

Thätigkeit zurück, und hielt in Wien 1811 und 1812 Vorlesungen

„über die Geschichte der alten und neuen Literatur," die 1815 in zwei Theilen erschienen.

Schlegel wollte zur Anschauung bringen,

wie bedeutend eine nationale Geistesbildung in den Laus der gro­ ßen Weltbegebenheiten und in die Schicksale der Staaten eingreife. Er bezweckte ein welthistorisches Gemälde der europäischen Geistes­

bildung, und prägte somit den weltliterarischen Standpunkt der Ro­ mantik am umfassendsten aus. In Folge des Vertrauens, das er sich bei Metternich erwarb, wurde er aus die diplomatische Laufbahn

geführt, und trat als österreichischer Legationsrath bei dem Bundes-

de- 18. Jahrhunderts dis zur Gegenwart.

tage zu Frankfurt a. M. auf.

515

Es sagte ihm aber die politische

Thätigkeit nicht zu, und er zog sich 1819 von den öffentlichen Ge­

schäften zurück.

In seiner literarischen Thätigkeit treten jetzt immer

bestimmter seine reactionairen Bestrebungen gegen die freie Bewe­ gung in Religion, Politik und Wissenschaft hervor.

Er wollte eine

vorzugsweise katholische Literatur begründen, in welcher Philosophie, Geschichte und Poesie aus den Quellen biblischer und christlicher Tradition hergeleitet und auf diese zurückgeführt werden sollten. In seinen beiden Hauptwerken der „Philosophie des Lebens" (1827)

und der „Philosophie der Geschichte" (1828) zeigt sich sein neues Verhalten zur Geschichte und Philosophie in einer Art von wiffen-

senschaftlichem Zusammenhang.

Er hielt über die Philosophie des

Lebens auch Vorlesungen in Dresden, wo er den 11. Januar 1829 an einem Schlagflusse starb. Friedr. Schlegel war während seines

Lebens in dem beständigen Suchen nach der ewigen Einheit begrif­ fen.

Bei vielseitiger Befähigung, bei Tiefe des Gefühls und Reich­

thum der Phantasie fehlte männlichen Gesinnung,

ihm

die Energie

einer

thatkräftigen,

um über die Widersprüche der suchenden

Der Gegensatz zwischen Realismus und zwischen Sinnlichem und Geistigem wollte sich bei ihm immer nicht recht ausgleichen; beide Momente waren in ihm gleich mächtig, und da er nicht zu einer festen, charaktervollen Selbst­

Unruhe hinauszukommen. Idealismus,

bestimmung gelangen konnte, ward er von einem Extrem zum an­

dern getrieben.

Aller Drang, alle Unsicherheit einer in Gährung

begriffenen, des festen inneren Halts ermangelnden Zeit stellte sich in den Entwickelungsformen und Wandelungen seines Inneren dar.

Voll Enthusiasmus für die sinnlich-geistige Schönheit der Antike,

und von Fichte's Idealismus gehoben, sich steigernd zu der anmaßlichen Selbstgenügsamkeit genialer Ironie, die mit Allem ein will­ kürliches Spiel treibt, gerieth er, indem sich die ursprünglich dunk­

len Züge seiner Mystik immer bestimmter herausstellten, allmählig in den Quietismus des Orients und endigte mit dem Frieden der Dieselben Extreme offenbarten sich

alleinselignachenden Kirche.

sowol in seinen politischen Theorien zwischen seiner Revolutionsbe­

geisterung und dem monarchischen Absolutismus, als auch in seinen Kunstansichten zwischen der reinen, objectiven Schönheit des Alter­ thums und dem Unklaren der mittelaltrig - christlichen Symbolik

»nb Allegerie. In seinen Dichtungen herrscht die lyrische Grund­ stimmung vor, und überwiegend ist Hinneigung zum Mystischen, das sich ost ins Nebelhafte verliert [,ieJ.

516

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

Adam Müller, 1779 in Berlin geboren, erhielt daselbst un­ ter Gedikc, Spalding, Heindorf eine gründliche Schulbildung, und begann 1798 seine dreijährige akademische Laufbahn in Göttingen, wo er die Rechte studirte. Burke's Werke, welche damals großes Aufsehen erregten, griffen nachhaltig in sein Leben ein, und er hielt schon 1800 in Göttingen einigen seiner Freunde Vorlesungen ge­ gen die französische Revolution und für die Sache der alten Ord­ nung von Europa. Im Jahr 1802 ward er Referendar bei der kurmärkischen Kammer zu Berlin. Literarische Unruhe und Wan­ derlust trieb ihn aber auf Reisen; er begab sich nach Schweden und Dänemark, hielt sich zwei Jahre auf dem Lande in Polen auf, und kam 1805, um seinen Freund Gentz zu sehen, nach Wien, wo er zur katholischen Kirche übertrat. Im folgenden Jahr begab er sich nach Dresden, und hielt hier Vorlesungen über die deutsche Litera­ tur und Wissenschaft, über dramatische Poesie, über die Idee der Schönheit und über das Ganze der Staatswissenschaft. Mit seinen Vorlesungen über die deutsche Literatur bezweckte er durch ein zusammenhänges Gemälde deutscher Geistesbildung auf die Anregung des Nationalgefühls und des Bewußtseyns der Nationalgröße hin­ zuwirken. Die große Versöhnung des äußeren mit dem inneren Leben erschien ihm als das Problem der Zeit, und er ging beson­ ders naher ein auf das Verhältniß, welches zwischen der Literatur und dem Staat stattsinden soll. Die Staatswissenschaft gilt ihm als diejenige, „der in letzter Instanz das menschliche Gesammtleben zur Beschirmung und Förderung anheim gestellt wird." Es bildete sich in ihm das romantische Princip, nachdem es durch österreichi­ schen Einfluß und durch den Katholicismus eine besondere Färbung erhalten hatte, zu einer bestimmten Staatstheorie aus, die auf der Feudalitäts-Freiheit des Mittelalters hängen blieb. In den Jah­ ren von 1809 — 12 lebte Müller theils in Berlin, theils in Wien, und hielt Vorlesungen. Das Jahr 1813 berief ihn zur öffentlichen Wirksamkeit; er wohnte als k. k. Landeskommissar und tyroler Schützenhauptmann der Befreiung von Tyrol bei, wurde später Regierungsrath und k. k. Generalconsul für Sachsen und Geschäfts­ träger an den anhaltischen und schwarzenburgschen Höfen, und lebte als solcher in Leipzig. Im Jahr 1819 wohnte er den Ministerialconferenzen in Karlsbad, hierauf denen in Wien bei. Als österrei­ chischer Geschäftsträger hatte er bis Ende 1827 seinen Wohnort in Leipzig, und ward dann nach Wien zurückberufen, wo er 1829 starb. Adam Müller gelangte bei seinem Schwanken zwischen Geist

517

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

und Sinnlichkeit ebenso wenig, wie Fr. Schlegel, zur Sicherheit

eines eigentlichen Charakters; er theilte mit diesem das Ueberschwängliche der mystischen Richtung und die Ansichten über die Ironie als den freien Ausdruck des genialen Selbstbewußtseyns den Ge­

genständen gegenüber.

Eigenthümlich ist ihm das Streben in dem

Streite zwischen Antikem und Modernem

vermittelnd einzutreten

und eine Versöhnung zwischen den verschiedenen literarischen For­ men und Erscheinungen herbeizuführen.

Bei Mangel an Schärfe

des Urtheils und an Strenge des Denkens blieb es aber bei raisonnirenden Allgemeinheiten, und außerdem fehlte es nicht an dem Unklaren und Nebelhaften mystischer Ahnungen [’i7J.

Die productive Seite der Romantik.

B. 1.

Die neue romantische Dichterschule nach ihren Hauptrichtungen.

Die verschiedenen Elemente der neuen Romantik fanden ihre

productive Vertretung in Ti eck, welcher, wie die beiden Schlegel für die kritische, so für die productive Sphäre einen persönlichen Mittelpunkt bildete, in dem sich sämmtliche Formen

schen Poesie concentrirten.

der romanti­

Mit philosophischem Skepticismus be­

ginnend, schlug er über in die religiöse Mystik, feierte und verherr­

lichte das katholische und ritterliche Mittelalter, führte mit den Waf­ fen der Ironie und des Humors den Kampf gegen die Beschränkt­

heit und die von aller Poesie entblößte kleinbürgerliche Nüchtern­ heit der Verstandesaufklärung,

und

ging dann zuletzt

mit der

Novelle näher ein auf die socialen Zustände der Gegenwart. Ludwig Tieck wurde den 31. Mai 1773 in Berlin geboren, wo er auf dem Zoachimsthal unter Engel und Meierotto

Schulbildung erhielt.

seine

Schon auf der Schule entwickelte sich sein

Talent zur Darstellung; er begann hier den „Abdallah."

In sei­

nem 19. Jahre bezog er die Universität; er ging nach Halle, dann nach Göttingen und mit seinem Freunde Wackenroder auf kurze Zeit nach Erlangen.

Sein Hauptstudium war außer Geschichte vorzüg­

lich die poetische Literatur des Alterthums und der christlichen Zeit. Sein productives Talent offenbarte sich zuerst in der erzählenden

Darstellung.

Gegenüber den rationalistischen Tendenzen und ihrem

Kampfe mit dem Wöllner'schen Pietismus in Berlin hatte sich Tieck

bei seiner leicht beweglichen Natur und im innigen Bunde mit sei­ nem enthusiastischen Freunde Wackenroder schon früh in seinen An­

sichten

überspannt

und

einem

rathlosen

Skepticismus

hinge-

518 geben.

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel Verweilend auf den Nachtseiten des Menschenlebens stellte

er in seinem „Abdallah" (1795) ein finsteres orientalisches Schauer­ bild im Geschmacke Klinger's auf.

Diese Erzählung ist als Vor­

läufer des „William Lovell" (1796) anzusehen, welcher Roman recht eigentlich zu seinem Inhalte die'Verstimmtheit hat, die aus

der schrankenlosen Ungebundenheit der Subjectivität entspringt [7 2 8J. Es zeigt dieser Roman, wie die Werthersentimentalität und Faust­ zerrissenheit die beiden herrschenden Krankheitsstoffe

der Zeit wa­

ren. Wenn nun aber auch die lyrischen Ergüsse Lovell's an die des Werther und des Faust erinnern, so gewinnen doch die innersten Tiefen des Gemüths nicht, wie bei Göthe, den ergrei­

fenden, erschütternden Ausdruck, sondern werden von einer chaotisch umherschweifenden Phantasie übertäubt. Es tritt in diesem Roman die dämonische Gewalt der Phantasie hervor, von welcher die neue Dichtergeneration ergriffen ward.

Die geistreiche Genußsucht

und Charakterlosigkeit Lovell's, der dem Außerordentlichen nachstrebt, führt von Verderbniß zu Verderbniß, und es bricht hier eine Ironie

hindurch, die mit dem Geschicke des Lebens, auch in den höchsten Beziehungen, ein selbstsüchtiges Spiel treibt.

Es wird indeß dem

Helden gegenüber das Glück der mittleren Bescheidung in das beste

Licht gerückt.

Der Dichter, von den Widersprüchen des Lebens er­

saßt, mußte auf eine Krisis der Selbstbesinnung hingedrängt wer­ den, um sich von seinen Ueberspanntheiten zu läutern.

Unmittelbar

auf den Lovell folgte „Peter Lebrecht," eine Geschichte ohne Aben­ teuerlichkeiten, welche, einführend in die Kleinwelt des Familienle­ bens, heitere Lebensbilder entwirft.

Seitdem Tieck mit dem Don

Quixote des Cervantes näher bekannt geworden war und mit dessen

Ironie, in welcher der Valkswitz den geheimen Sieg über die Rit­

terweisheit feiert, suchte er der prosaischen Zeit gegenüber gleich­ falls den humoristischen Standpunkt zu gewinnen und ward auf die Märchenwelt geführt, um die Erscheinungen dieser phantasti­

schen Welt mit der spießbürgerlichen Plattheit contrastiren zu las­

sen [72 9J.

Mit „Peter Lebrechts Volksmärchen" (1797) trat Tieck

der romantischen Richtung näher, und begann namentlich im „Blau­

bart" die Polemik gegen das verwilderte Ritterwesen in denRomanen der Spieß und Cramer, der beständigen Stichblätter seines

Witzes, und schuf sich im „gestiefelten Kater" eine poetische Bühne,

die sich selbst zum Gegenstand des Gespötts macht [7$0J.

1L. W.

Schlegel, der damals noch mit dem Verfasser der Volksmärchen un­ bekannt war, leitete auf ihn durch eine Recension in der Jenaischen

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Literaturzeitung (1797, No. 333)

519

die öffentliche Aufmerksamkeit

hin, indem er in den Märchen die Sprache eines künftigen Genossen

erkannte.

Ticck lebte während dieser Zeit in Berlin in reger lite­

rarischer Thätigkeit, und drang im Verein mit seinem Freunde Wackenroder tiefer in die romantische Mystik ein. Es erschien 1798

der Roman „Franz Sternbald's Wanderungen," an welchem Wak-

kenroder den größten Antheil hatte.

Die Kunst wird hier der Auf­

klärung gegenüber als das neue Evangelium verkündigt; das Prin­

cip für sie ward die Andacht und Frömmigkeit, eine poetische Ascetik, ein Preisgeben der prosaischen Wirklichkeit, welches dann weiter zu dem Unwirklichen, Wunderbaren und Phantastischen hinführte.

Es verliert Franz Sternbald in der Kunstsehnsucht sich und die Welt; dennoch wurde aber durch diesen Roman der Sinn für tiefere Er­

fassung der Kunst in den weitesten Kreisen angeregt.

Zm I. 1798

machte Tieck die Bekanntschaft der beiden Schlegel, mit denen er

einige Jahre in nahem Verkehr theils in Jena, theils in Dresden verlebte.

Die Anregungen, welche er außerdem durch den Umgang

mit Schelling und Novalis, und durch die Bekanntschaft mit Her­

der in Weimar gewonnen hatte, gaben seiner productiven Thätig­

keit eine immer bestimmtere, eingreifendere Wirksamkeit, und es er­ folgte von 1799 — 1805 die reichste und bedeutsamste Periode seiner

Poesie. Es erschienen 1799 die „romantischen Dichtungen," deren erster Theil den „Zerbino, oder die Reise zum guten Geschmack" enthält, der, wie der „gestiefelte Kater," gegen die materielle, anti­ poetische Denkart gerichtet ist.

Wir werden hier in eine toll-komi­

sche Welt versetzt ("'s, und ergötzlich ist es, wie plötzlich das völlig

ausgetrocknete Holz, Tisch und Stühle, den geistig ebenfalls aus­

getrockneten Nestor (Nicolai) anreden und den platten Naturalismus preisen muß.

Doch Tieck will sich nicht bloß in der lachenden Zer­

störungslust der heimischen Prosa vollständig befriedigen.

Dem wilden

Spiele ist im Zerbino ein liebliches, idyllisches Drama beigesellt,

und es tönen durch das prosatolle Gewirr die Unschuldsklänge er­ ster Liebe;

die kummervollste Sehnsucht haucht ihre lebensmüden

Seufzer aus, und das Wunder der Einsamkeit, die heilende Trauer der stillen Natur, das Wiedererwachen hingebender Neigung tropft

Balsam in die zerrissene Brust,

welche in den Widersprüchen der

Welt zu verzweifeln drohte [,32J.

Gleichzeitig mit seinen roman­

tischen Dichtungen gab Tieck seine Uebersetzung des Don Quixote von Cervantes heraus (1799 — 1801, 4 Thl.), der sein Vorbild für

die ironische, humoristische Auffassungsweise war.

Die ernsteren

520

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Töne der Romantik schlug er an in den erzählenden Märchen, wie im blonden Eckbert, der schönen Magellone, dem getreuen Eckart. Durch die Uebersetzung des Don Quixote ward er auf Lope und Cal deren geführt; er wurde bekannt mit der zärtlichen Liebes­ sehnsucht in Boscan's Sonetten und Canzonen, mit der süßesten Weichheit der Empfindung, dem reinsten Wohlklang der Sprache in Garcilaso's idyllischer Poesie, und von diesen romantischen Klängen entzückt, wollte er die künstlichen Versmaße, die lyrischen Ergüsse einführen in das Drama. Aus diesen Bestrebungen ent­ stand seine „Genoveva," im zweiten Theil der romantischen Dich­ tungen [’3SJ. Vorsätzlich sah er von allem Theater und dessen Einrichtungen ab, um größeren Raum zu gewinnen, um einige Stellen ganz musikalisch, andere ganz malerisch behandeln zu kön­ nen. Die katholische Form des Christenthums in Cultus, Legende, Wundersage, Poesie, Malerei, Musik und Architektur sollte sich in ihrer ganzen poetischen Fülle entfalten [,34J. Es sind daher in der Genoveva alle romantischen Motive versammelt, doch fehlt diesen verschiedenartigen Elementen die organisirende Einheit; sie verbinden sich nicht zu einem ruhigen Abschluß, und außerdem stört die Absichtlichkeit, das Manierirte, die nur sehnsüchtige, im Dichter nicht wirklich gegenwärtige Stimmung der Liebe, den ästhetischen Ge­

nuß. Im Jahr 1801 und 1802 hielt sich Tieck in Dresden auf, wo eben auch sein Freund Friedrich Schlegel lebte, und wo ihn die Kunstschätze, die Bibliothek, die schöne Natur mächtig anzogen. Gemeinschaftlich mit A. W. Schlegel gab er hier'den Musenalma­ nach heraus (1802), wo' alle möglichen romantischen Töne im So­ nett, in der Canzone, im Triolett, der Stanze und Terzine in der buntesten Mannigfaltigkeit angeschlagen werden; vorherrschend ist hier viel Gespiel neben wenig Vertiefung. Mehrere Gedichte von Tieck aber, z. B. „die Zeichen im Walde," eine Romanze [73$], „die Sanftmuth" u. a. m., enthüllen die zartesten Geheimnisse der Poesie. Seit 1803 hielt sich Tieck theils auf dem Lande bei Frank­ furt a. d. O., theils zu Zibingen in der Mark auf. Es erschienen von ihm die „Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter" in freier Bearbeitung und mit einer trefflichen Vorrede, welche, auf die älte­ ren Nationaldichter der Deutschen zurückgehend, das Verhältniß der schwäbischen Dichter zu den Provenzalen und zu Petrarca näher bestimmt. Im Jahr 1804 gab er den längst erwarteten „Kaiser Octavianus" in zwei Abtheilungen heraus. In dieser Dichtung wollte er seine Ansicht von der romantischen Poesie allegorisch, ly-

521

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

risch und dramatisch niederlegen.

Der Prolog ist dazu bestimmt,

diese Absicht deutlich anzukündigen.

Alle Versmaße, die er kannte,

ließ er in diesem dramatistrten Volksmärchen erklingen, bis zu der Mundart und dem Humor des Hans Sachs herab, sowie auch die

Prosa ihm unerläßlich schien, um den ganzen Umkreis des Lebens und die mannigfaltigsten Gesinnungen anzudeuten [7S6J.

Es zeich­

net sich der „Kaiser Octavian" neben der „Genoveva" durch grö­

ßere Klarheit und Abgeschlossenheit aus, und giebt vom Standpunkte der neuen Schule den Geist der Romantik in der klarsten Form wieder. Im Jahr 1805 begab sich Ticck nach Italien, und be­ schäftigte sich in Rom in der vaticanischen Bibliothek vornehmlich mit der altdeutschen Literatur.

Gegen Ende des Jahrs 1806 kehrte

er nach Deutschland zurück, und wandte sich nach München, wo er den ersten Anfall einer schmerzlichen Gicht erlitt, die seine litera­ rische Thätigkeit später nicht selten unterbach. Er kehrte zu dem

ländlichen Leben in der Gegend von Frankfurt a. d. O. zurück, und verschwindet auf längere Zeit in der Literatur.

Ohne besondere Be­

theiligung an den großen Ereignissen der nationalen Bewegungen

Deutschland's, bewahrte er sichiin stiller Zurückgezogenheit vor den

Zerrissenheiten und Ausschweifungen, denen andere Anhänger der romantischen Schule anheim sielen, und bereitete sich zu literarischen Unternehmungen vor.

Seit 1811 beschäftigte ihn das „Altenglische

Theater," und von 1812 — 16 erschien sein „Phantasus,"

worin

Theil die früheren Märchendichtungen mit neuen ver­ band [7S7J. Erzählungen und dramatische Spiele werden hier in er zum

der geschicktesten Einkleidung vorgetragen, und die alten Volkssagen und Märchen gewährten in der klaren, durchsichtigen Darstellung

ein weitverbreitetes, hohes Interesse.

Auf die ästhetisch-kritische Bil­

dung Tieck's übte die Freundschaft Solger's einen großen Einfluß

aus, wovon sich auch Spuren im Phantasus zu erkennen geben. Es bereitete sich nach und nach eine neue und letzte Epoche in der Dichtung Tieck's vor, besonders seitdem er 1817 eine Reise nach London gemacht und nach seiner Rückkehr 1819 in Dresden sich nie­

dergelassen hatte.

In die Zeit des Uebergangs zu seiner neuen

Dichtungsweise fällt der „Fortunat" [7 3 8J, welcher reich an Witz

und Laune ist; die streng gehaltene dramatische Form contrastirt mit der epischen Breite des märchenhaften Stoffes auf eigenthüm­ liche Weise.

Dies Drama bildet gewissermaßen den Abschluß der

romantischen Production Tieck's, welcher jetzt den Märchenboden verließ

und in Novellen sich seit 1820 den Verhältnissen und

522

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Zuständen der Gegenwart zuwandte [7 39].

In denselben bespricht

er vornehmlich Gegenstände des socialen Lebens, welches ebenso in der Mitte zwischen der natürlichen Geschlossenheit der Familie und

in der ideellen Allgemeinheit des Staats liegt, wie die Novelle in der Mitte zwischen der einfachen Erzählung und dem Roman. Für

die Darstellung wählte Tieck die Gesprächsform mit ihrer dramati­ schen Lebendigkeit.

Die Scenen sind fast immer die Cirkel der ge­

bildeten Gesellschaft, und unter geistreicher Unterhaltung wird die Erzählung fast ganz in den Dialog hineingezogen. Die große Klarheit, womit die Gegenstände behandelt werden,

und

klangvolle Rundung der Sprache übt

Gewalt aus.

die Anmuth

eine unwiderstehliche

In der Reihe der einzelnen Novellen können hervor­

gehoben werden „die Gemälde," „die musikalischen Leiden und Freu­

den," „der Aufruhr in den Cevennen" (unvollendet), „der Ge­

lehrte," „die Vogelscheuche," „das Dichterleben" (Shakespeare), „des Im Jahr 1821 erschienen zuerst Tieck's Gedichte in drei Bänden vereinigt, in welchen sich die Eigenthüiti-

Dichters Tod" (Camoens).

lichkeit seiner poetischen Auffassungsweise zu erkennen giebt. lyrische Musik der Empfindung ist das wesentlichste Element.

Die Die

geheimnißvollen Tiefen des Naturlebens rufen wundersame Stim­

mungen in der Seele hervor, und in dem musikalischen Verklingen unsagbarer, unendlicher Gefühle, in der Auflösung der festen Ge­

stalten der sichtbaren Welt verschwebt jede scharfe Bestimmtheit zu

Duft und Klang bei den mannigfaltigsten Tönen von metrischen For­ men.

In Dresden setzte Tieck seine literar-historischen und kritischen

Arbeiten fort.

Im Jahr 1820 erschien das „deutsche Theater" (in

2 Thl.), 1823 „Shakespeare's Vorschule" (in 2 Thl.), und 1826 „die dramaturgischen Blätter" (in 2 Thl.), in denen er entschieden

sowol der spießbürgerlichen Plattheit entgegentrat als auch der Un­

natur in den Kunstdarstellungen.

Außerdem übte er für das Thea­

ter eine große Wirksamkeit aus durch

die Theilnahme an der von

A. W. Schlegel begonnenen Uebersetzung des Shakespeare.

In ein­ zelnen seiner späteren Dichtungen trat er näher der poetischen Auf­ fassung des bürgerlichen Lebens, wie in dem „jungen Tischlermei­

ster" (1835), wo er den Handwerkerstand ins Auge faßt, und das

bürgerliche Gewerbe

an

die Interessen

höherer Bildung

knüpft.

Endlich in dem Roman „Vittoria Accorombona" (1839), griff er unmittelbar ein in die Emancipationsversuche der modernen Gesell­ schaft, und lieferte ein düsteres Gemälde unversöhnter Leidenschaft ohne scharfe, durchgreifende Charakteristik der handelnden Personen

des 18, Jahrhunderts bis zur Gegenwart. und ohne organische Entfaltung der epischen Handlung.

523 Im Jahr

1843 folgte er dem ehrenvollen Rufe des Königs von Preußen nach

Berlin, und übernahm hier die Anordnung und Einübung antiker Tragödien des Sophokles (Antigone) und des Euripedes (Medea). —

Ausgerüstet mit den schönsten Talenten vermochte Tieck nicht in sei­ nem geistigen Entwickelungsprocesse die ungleichartigen Bestandtheile seines Inneren zu überwinden und zu einer innig versöhnten, unse­

rem geistigen Bedürfnisse genügenden Lebensansicht zu vereinen. In seine bewegliche Phantasie und Empsindungsfrische drängte sich das Geistreiche reflexiver Weltauffassung, die, den Ernst des philosophi­ schen Gedankens verschmähend, sich mehr gefällt in einem phanta-

sirenden Herumspielen um die Tiefen des menschlichen Bewußtseyns. Er sagt selbst von sich:

„aller Gedanken- und Jdeengang soll mir

nur tiefe Vorurtheile bestätigen."--------- „Es ist mir nie um das

Denken als solches zu thun gewesen; die bloße Lust, Uebung und

Spiel der Ideen ist mir uninteressant" [’40].

In seinen schwär­

menden Jugendtagen glaubte er das innere Leben und alle Specu-

lation gefunden zu haben; er wünschte sich die Einsamkeit des Klo­ sters, um ganz seinem Jacob Böhm und Tauler und den Wundern

des Gemüths sich hingeben

zu können.

Die bloße Innerlichkeit

aber als solche, die sich nicht in aller Reinheit, Klarheit und Ver­ ständlichkeit gegenständlich wird, verliert sich nur zu leicht in das Maaßlose und Unbestimmte des Mysteriösen, woraus form- und ge­

staltlose Geisteszustände hervorgehen, mit denen bei allem inneren Leben und den Wundern des Gemüths ebensowenig philosophische

Speculation als poetische Production verbunden seyn kann. Tieck fühlte damals auch seine Productionskraft und sein poetisches Ta­ lent gebrochen.

Doch eine Krankheit, Italien, Homer und die Ni­

belungen, Sophokles und sein theurer Shakespeare heilten ihn von

den Finsternissen, die seine Seele umzogen hatten, und durch einen

freien Act der Willkür versetzte er sich ins Gebiet der Heiterkeit und Dichtung zurück.

Die Mystik lag hinter ihm, sie erklärte ihm

Alles, aber aus poetischem Leichtsinn mochte er in ihr nicht weilen. Dennoch blieb in seiner Ansicht die Entzweiung, und vorherrschend war die Laune subjectiver Stimmungen, was sich theils in einer

forcirten Begeisterung und gesuchten Originalität, theils in eitlem Selbstbespiegeln und im Selbstironisiren äußerte.

Es gestaltete sich

kein bestimmter, geistiger Mittelpunkt heraus, von wo aus er den Widerstreit im Sittlichen und im Denken hätte überwältigen kön­

nen, und bei dem Mangel an Ernst ruhiger Gedankenvcrmittelung

524

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

fehlte die Tiefe einer energischen Ueberzeugung, die durch die Schwan­

kungen des wirklichen Lebens hindurchzuleiten vermag.

Wenn nun

aber auch das mystische Versinken in die eigenen Wunder des Gemüths der rechten Realität entbehrt, und daher die Gestaltungen der Phan­

tasie oft zu sehr in Ton und Duft verschweben, so bleibt doch Tieck's Dichtungsvermögen in seiner Ursprünglichkeit immer ein bedeuten­ des.

Die Unschuld, Treue, Kindlichkeit und Innigkeit des Gemüths,

wie sie im Christenthum wurzelt, die prophetenartige Extase der re­ ligiösen Begeisterung nach ihren verschiedenen Formen, wie sie der „Aufruhr in den Cevennen" darstellt, der sehnsüchtige Schmerz und die in der Tiefe des innersten Lebens erzitternde Wehmuth der End­

lichkeit im Wiederschein der Unendlichkeit, diese Zustände sind von

Tieck in den Bereich der Poesie gezogen.

Er hat die deutsche Dich­

tung wesentlich erweitert und eine neue Triebkraft in dieselbe ge­

legt. Außerdem wurde von ihm das Volksthümliche, die Bolkssage, das Volksbuch über alles Reflectirte erhoben, und wenn er auch sich

selbst bei dem Vorherrschen seiner lyrischen Innerlichkeit von dem Reflectirten nicht frei zu machen wußte, so hat er doch den Sinn für

die Wirksamkeit nährt [,41].

ursprünglicher

Volkspoesie

geweckt

und

ge­

Aus den der Romantik eigenthümlichen Bestrebungen gingen verschiedene Richtungen hervor, nach welchen die Eigenthümlichkeit

von den Anhängern dieser neuen Dichterschule ihre nähere Bestim­

mung erhält.

Als besonderes Unterschiede, die in dem Wesen der Ro­

mantik begründet sind, ergeben

das

Fatalistische,

das

sich das Religiös-Mystische,

Patriotische

und

das Phantasti­

sche [»“]. a.

Die religiös-mystische Richtung.

Die Mystik zeigt sich gleich zu Anfang der romantischen Be­

wegung, indem sie als Gegensatz zu der religiösen Skepsis der Auf­

klärung sich ausbildete. Wilhelm

Heinrich Wackenroder,

geboren

zu

Berlin

1772, wo sein Vater Bürgermeister war, gewann früh in Ludwig

Treck einen gleichgesinnten Freund, mit welchem er einen Theil der Schuljahre in Berlin und die Universitätsjahre in Halle verlebte. Er studirte zwar die Rechte, war aber ganz der Poesie zugewen­

det.

Nach Beendigung seiner Studien ward er als Referendar bei

dem Kammergerichte in Berlin angestellt, und starb schon früh im 25. Jahre 1797.

Unbestimmte Sehnsucht und die Gluth einer in

525

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

der Kunst schwelgenden Phantasie hat ihn vor der Zeit aufgerieben.

eines kunstliebenden Klosterbruders,"

Seine „Herzensergießungen

welche Tieck 1797 herausgab, verbreiteten die religiöse Kunst-My­

stik.

Es sind für Wackenroder Natur und Kunst die zwei wunder­

baren Sprachen, durch welche der Schöpfer den Menschen vergönnt

hat, die himmlischen Dinge zu fassen und zu begreifen.

Sich ganz

versenkend in den frommen, seelenvollen Ausdruck vieler Gemälde

des Mittelalters betrachtete es Wackenroder als Ausgabe der Kunst, daß sie begeisternder Ausdruck dessen sey, was im Herzen der Gläugen unausgesprochen lebe, und stellte diese Weihe der inneren Em­ pfindung hoch über alle bloß äußere Vollendung der Form, in wel­ cher die von Andacht und Liebe ergriffene Seele nicht hindurchscheine.

Der Katholicismus

gilt

ihm

als

die

rechte Stätte

für

Kunst

und Poesie, und in den von Tieck herausgegebenen „Phantasien über die Kunst" wird in einem „Brief eines jungen deutschen Ma­

lers in Rom an seinen Freund Sebastian in Nürnberg" [74S] der Uebertritt

eines

Künstlers

zur katholischen Religion

dargestellt,

der vorbildlich geblieben ist für alle romantische Bekehrungen.

Friedrich v. Hardenberg, mit dem Dichternamen No­

valis, wurde den 2. Mai 1772 auf einem Familiengute in der Grafschaft Mansfeld geboren.

Er war schon früh sehr kränklich,

und die fromme Stimmung seiner Eltern machte auf sein Gemüth

den tiefsten Eindruck.

Mit großem Eifer betrieb er feine Schulbil­

dung, und studirte in Jena, wo er Fichte und Schelling kennen

lernte, und zu Leipzig und Wittenberg bis 1794. Er ging darauf nach Arnstadt in Thüringen, um sich in praktischen Geschäften un­

ter dem Kreishauptmann Just zu üben.

Hier auf einem benach­

barten Gute lernte er seine Sophie kennen, und der Frühling und Sommer von 1795 war die Blüthezeit seines Lebens.

Er kam

dann nach Weißenfels und ward Auditeur bei dem dortigen Sali­ nenamte. Im März 1797 traf ihn der harte Schlag, seine Sophie durch den Tod zu verlieren.

Er lebte ganz seinem Schmerze und

frommer Todessehnsucht, und setzte von dieser Zeit eine neue Aera für sich fest. Er schrieb und arbeitete alle Morgen unermüdet, und

es entstanden die meisten jener Aufsätze, die von Tieck unter dem Titel „Fragmente" mitgetheilt sind.

Er hatte eine Vorliebe für

Lavater's und Zinzendorf's Schriften, für katholische Erbauungs­ bücher, selbst für Jakob Böhme's Werke gewonnen. Im December 1797 ging er nach Freiberg, wo er die Bergwerksakademie be­ suchte ; hier gewann Julie von Charpentier seine Liebe. Im Som-

526

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

mer 1799 kehrte er nach Weißenfels zurück und wurde dem Directorium der Salinen als Assessor beigesellt. Im Herbste desselben Jahres war er bald auf längere, bald auf kürzere Zeit in Jena, und erhielt an den beiden Schlegel und an L. Tieck Freunde und Gei­ stesgenossen. Auch verweilte er damals längere Zeit an einem ein­ samen Orte in der güldenen Aue in Thüringen, am Fuße des Kyffhäuser-Berges, und in dieser Einsamkeit wurde ein großer Theil seines Romans „Heinrich von Ofterdingen" ausgearbeitet. Als er eben die Stelle eines Amtshauptmanns in Thüringen erhalten sollte, starb er im väterlichen Hause in den Armen seines Freundes F. Schlegel den 25. März 1801. Während Wackenroder in der bildenden Kunst den Ausdruck seiner religiösen Mystik fand, stellte No­ valis die Poesie in den Mittelpunkt der gesammten Weltanschauung, und wollte, wie Adam Müller sich ausdrückt, „mit dem Geiste der Poesie alle Zeitalter, Stände, Gewerbe, Wissenschaften und Ver­ hältnisse durchschreitend, die Welt erobern." Es galt ihm jenes Zusammenwirken aller Geisteskräfte, das seit Hamann während des Geniedranges bis auf Göthe und Schiller geltend gemacht war, als das höchste Ziel aller Bestrebungen, damit die Trennung von Literatur und Leben, die Scheidung von Gelehrsamkeit und Poesie überwunden werde. Auf Novalis, den Frühverstorbenen, wiesen da­ her seine Freunde als auf den eigentlichen Verkünder der romanti­ schen Lehre hin; ihm war es eine seiner Natur ursprüngliche Richtung, die Poesie durch das Leben darzustcllen, und das Leben mit der Poesie zu durchdringen. Sein „Heinrich von Ofterdingen" sollte die poetische Apotheose der ganzen Wirklichkeit werden, und wenn auch Göthe's Wilhelm Meister einen Anknüpfungspunkt darbot, so sah Novalis in diesem Roman noch zu sehr die äußere Gestalt des Lebens berücksichtigt, und Natur und Mysticismus darin ganz ver­ gessen. Er wollte das, was Göthe nach der Wcltseite hin zur Anschauung gebracht hatte, in der Tiefe und mit der Färbung der Unendlichen Innerlichkeit offenbaren. Hieraus ging aber eine Ab­ straction von aller positiven Wirklichkeit hervor, und es vermochte der Dichter das unendliche Leben, das in ihm wogte, nicht, zu ei­ nem gestalteten Ganzen aus sich herauszuarbeiten. Alles bisher Dunkle und Unverstandene sollte sein Geheimniß dem Auge der Poesie erkläre», die Natur und ihre Kunde sollte sich mit der Dicht­ kunst vermählen und das ganze Universum im Gemüthe lebendige Gestaltung gewinnen. Indem Novallis so Alles in das Centrum seiner Innerlichkeit hineindrängte und nach diesem einen Punkte zu

527

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

verarbeiten strebte, behielt er nicht Freiheit und Kraft genug übrig, um seine eigene Innerlichkeit und Tiefe äußerlich zu entfalten.

Das

Schwinden des ganzen Universums, das sich zu Gemüth und Poe­

sie aufzehrt, ist zugleich die eigene Krankheit und Schwäche des Gemüths, das die concrete Wirklichkeit nicht zu bewältigen vermag,

und während der Dichter das Organ wird,

die geheimnißvollen

Wahrheiten zu verkünden, muß sein eigenes Herz schweigend bre­ chen.

Wir vernehmen zwar den ruhigen Klang des Friedens, der

Stille und träumenden Begeisterung, oberes giebt dennoch für diese

Poesie eine ewige Trauer, durch welche sie

die „alle Herzen in eine Fluth auflöst,

sich in Gott,

in den Ocean des Lebens ergie­

ßen" [’44].

Novalis schreibt an Tieck von seinem Roman: „das Ganze soll eine Apotheose der Poesie seyn. Heinrich von Ofter­

dingen wird im ersten Theil zum Dichter reif, und im zweiten als Dichter verklärt. — Es ist ein erster Versuch in jeder Hinsicht, die

erste Frucht der bei mir wieder erwachten Poesie."

Der Dichter, dem

Leben zu früh entrissen, ist über die „Erwartung," nicht hinausge­

kommen, und hat „die Erfüllung" nicht geben können.

Es ist das

Ganze zu einer märchenhaften, phantasmagorischen Allegorie angelegt;

nicht kommt es zu einer lebendigen Eharakterzeichnung oder zu einer Reihe kunstvoll verknüpfter Handlungen, sondern es drängt sich in die Aufregung der Gemüthsbegeisterung der Verstand mit seinen Re­

flexionen über Poesie, Physik, über Bergbau, Handlung, über Ge­ schichte und bürgerliches geben [’45].

Die Grundanschauung bildet

eine mystische, naturphilosophische Betrachtungsweise, welcher

die

ganze Welt durchsichtig wird, und die, auf die ewige Bewegung des Daseyns in allem und hinter allem Sichtbaren gerichtet, sich an dem verborgenen Brunnen des göttlichen, Alles erfüllenden Le­

bens begeistert.

ES werden Durchblicke in das Geisterleben eröff­

selbst weht oft etwas Geisterhaftes. Einen tieferen Stützpunkt gewinnt diese pantheistische Naturpoesie

net, und in der Darstellung

an dem Christenthum

und zwar

in

seiner katholisirenden Form.

Maria ist für Novalis das Symbol ewiger mütterlicher Natur s'4 °s,

und Christus das Symbol des überall ergossenen Naturgeistes, die Bestätigung des allgegenwärtigen Lebens, in welchem auch der Tod nur als Entwickelung erscheint.

Aus dieser Naturmystik ging die

Hinneigung unseres Dichters zum Katholicismus hervor, dessen Neu­

belebung er zuversichtlich erwartete. Auf die Wiederherstellung einer allgemeinen alle Völker ohne äußere Gewalt vereinigenden Kirche

528

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

gründete er seine Hoffnung für daö Heil der Zukunft [’*’].

Der

Gipfel von Novalis Mystik ist, daß alles sich in Poesie und Reli­ gion auflöse.

Den vollendetsten Ausdruck für sein religiöses Gefühl

fand er in seinen „geistlichen Liedern," in welchen sich Glaubens­

tiefe verbindet mit Glaubensfreudigkeit, die auch im Unglück nicht verzagt, sondern von der Sehnsucht nach dem Ueberirdischen zu dem

glaubensmuthigen Ergreifen der Gegenwart übergeht.

In den „Hym­

nen der Nacht," die Novalis in Ansehung der Ausführung von al­ len seinen Arbeiten bevorzugte, vertieft er sich in den großen Gei­ sterfrieden der Schöpfung; in der Stille und Heimlichkeit der Nacht

sucht er den Frieden, und weist das Licht des gegenwärtigen Tages als eine reizende Täuschung von sich, die erst in einem künftigen allgemeinen Tode vor dem Durchbruche des wahren Lichts weichen müffe.

Die „Lehrlinge von Sais" endlich enthalten den Anfang

eines physikalischen Romans voll naturpantheistischer Mystik.

Der

Welt früh entzogen, hat Novalis nur Bruchstücke hinterlassen als

lauschende Versuche eines dichterischen Geistes, dem eine neue Welt tiefer Poesie aufgegangen war. Die Sammlung von seinen abge­ rissenen Sentenzen enthält einen Reichthum geistvoller Aussprüche,

die zur Befruchtung des höheren geistigen Lebens eine weithinreichende Wirksamkeit erhalten haben.

Zacharias Werner wurde den 18. November 1768 zu Kö­ nigsberg in Preußen geboren, wo er 1784 studirte, und, außer ju­ ristischen, cameralistischen Vorlesungen, Philosophie bei Kant hörte. Mit seinen bedeutenden Geistesanlagen verband sich eine sinnliche

Genußlust, die ihn zu einer ausschweifenden Lebensweise hinriß, und

schon früh entstand daher in ihm ein Widerspruch zwischen den In­ teressen geistiger Bildung und den Ansprüchen eines ungezügelten

Naturdranges.

Während

seines

Universitätslebens

theilte er die

Tendenzen der damaligen Modeaufklärung, die ihm Gleichgültigkeit

gegen Glaube und Kirche einflößte.

Im Jahr 1793 trat er als

Kammersecretair in Preußische Dienste und bekleidete diese Stelle am längsten in Warschau.

Er setzte hier seine frühere, ungeordnete

Lebensweise fort, trennte sich von seiner ersten, sowie auch von sei­

ner zweiten Gattinn, und ging eine dritte Verbindung mit einer

Polin ein, die ebensowenig deutsch als er polnisch verstand. drückt und gequält von innerer Selbstentzweiung

Ge­

machte er den

Uebergang von der Freigeisterei zur Frömmigkeit, und wandte sich der Mystik der romantischen Dichterschule zu, mit der er die hoch­

gespannte Erwartung von einer Wirkung der Poesie auf die allge-

529

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. meine Zeitverhältniffe theilte.

Im Jahr 1800 schrieb er sein erstes

Drama „die Söhne des Thals," welches den Sieg des durch Frei­ maurerei geläuterten Katholicismus über die prosaische Flachheit der

Aufklärerci darstellen sollte.

Der Templerorden wird der Trager

der rationalistischen Grundsätze, und das Thal vertritt die Stelle des Schicksals und zerschlägt die veraltete Form.

Werner nahm

von 1801 —1804 wegen der zunehmenden Krankheit seiner Mutter seinen Aufenthalt in Königsberg, wo sich seine religiös-mystische

Richtung immer bestimmter ausbildete.

Nach dem Tode

seiner

Mutter (24. Februar 1804) kam er in den Besitz eines bedeuten­ den Vermögens und kehrte nach Warschau in seine frühere amtliche Stellung zurück. Er wurde hier näher mit E. T. A. Hoffmann bekannt, der zu dem von ihm damals vollendeten „Kreuz an der

Ostsee" die Musik schrieb.

Im I. 1805 ging Werner als expedi-

render Secretair nach Berlin, wo er sich einem wilden Genußleben hingab.

Für das Berliner Theater dichtete er „Luther oder die

Weihe der Kraft" (1807), in welchem Drama eine wunderliche

Mystik und trübe Gefühlsschwärmcrei vorherrschend ist.

aber Werner jetzt

von

keiner Lebenslage

mehr

Es konnte

gefesselt werden;

innere Unruhe trieb ihn auf Reisen, und bis zum Jahr 1809 hielt

er sich theils in der Schweiz, theils in Paris, theils in Weimar und dann in Italien auf. Von steter Unruhe umhergetrieben ging er endlich 1811 in Rom zum Katholicismus über, nachdem er sich

in dem materiellen Genuß des irdischen Lebens erschöpft hatte.

Er

wurde 1814 Priester zu Aschaffenburg und lebte meistens in Wien, wo er zur Zeit des Congresses predigte, und vermittelst der Kraft

höherer Inspiration, die er auf übernatürlichem Wege erhalten zu haben glaubte, zu lehren und zu bekehren bemüht war.

Im Jahr

1814 erschien sein Drama „die Weihe der Unkraft," welches die „Weihe der Kraft" widerrufen sollte, und 1815 folgte der „Vier­ undzwanzigste Februar," welches Stück die sogenannten Schicksals­

tragödien einleitete.

Im Jahr 1821 trat er in Wien in den Re­

demptoristenorden, den er aber zum allgemeinen Erstaunen bald wieder verließ. Sein fanatischer Kanzeleifcr wurde die Ursache sei­ nes Todes, indem er noch fortwährend predigte, obgleich er seit längerer Zeit an einem heftigen Brustübel litt.

Er starb den 18.

Januar 1823. — Hatte Novalis den dichterischen mit dem religiö­ sen und mystischen Sinn für verwandt erklärt, so daß die Inspira­ tion des gläubig Schauenden und des dichterisch Begeisterten eine und dieselbe sey, so machte Werner noch bestimmter den Uebergang

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

34

530

Zweite Periode.

Von de» ersten Viertel

von der dichterischen Phantasie zur religiösen,

und suchte das reli­

giöse Mysterium als herrschendes Moment seines Dichtens durchzu­ führen.

Die kalten Herzen der Alltagsmenschen wollt« er durch die

Bilder des Uebersinnlichen, durch die heiligen Mysterien der Reli­ gion entflammen, und wirksam sollte werden die Kraft des Wun­

ders. Anfangs schilderte er noch die Thatkraft, welche die Rellgion in der Welt befestigte, zuletzt wurde ihm in den „Makkabäern"

(1820) das Martyrium das Höchste.

In seinen dramatischen Dich­

tungen, welche, wie säst alle aus der romantischen Schule, der büh­

nengerechten Einrichtung und Haltung ermangeln, wird das histo­ rische und reale Moment immer mehr von dem Wunderbaren und Legendenartigen überwirkt; Sinnenpomp, Geisterspuk, Wundereffecte, ins Heroische

carikirte Charaktere,

Grauenvolles und Gräßliches

können nur Ueberdruß und Widerwillen erregen, der nicht durch

schöne Einzelheiten und durch eine nicht selten anziehende Lebens­ frische der Sprache überwunden werden kann. Der „24. Februar" ist ein Nachtstück im eigentlichsten Sinne; es waltet hier ein blin­

des Schicksalselement, das jedes höhere Aufstreben des Menschen­

geistes unmöglich macht; was dem inneren Gehalte abgeht, das soll durch Grauen und Schrecken ersetzt werden.

Bei dem inneren Zer-

würfniß von Werner's Gemüth erzeugte sich eine Gefühls-

und

Phantasiereligion, die der sittlichen Weihe entbehrte, und eine aus ungebändigter Phantasie hervorgehenve Mystick riß

ihn fort zum

Abenteuerlichen, Excentrischen, Verkehrten und Abgeschmackten s"'s.

b. Die fatalistische Richtung.

Indem sich die der romantischen Schule zu Grunde liegenden

Principien bestimmter herausgestalteten, traten bei den vorherrschend werdenden religiösen und katholischen Sympathien die Dichtungen Calderon's in den Vordergrund und verdrängten Shakespeare um so yiehr, als in dem Drama der Spanier vornehmlich die Religion

und die Kirche einen Mittelpunkt bildet. streng

Da diese aber als die

katholische eine mehr äußere Macht ausübt,

tung des

Menschen Zeichen

die zur Lei­

und Wunder benutzt, so

wird

der

freie Wille durch solche äußere Mittel gefangen gehalten, die um so willkürlicher erscheinen, als sie verbunden sind mit dem wunder­

baren Eingreifen in den natürlichen Gang der Dinge.

Hierzu

kommt noch in dem Drama der Spanier eine fatalistische Macht

des nationalen Siltengesetzes, das sich in einem entschieden ausge-

531

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

bildeten System von dem Begriff der Ehre concentrirt, -und eine

äußere Nothwendigkeit, eine völlig willkürliche Macht bildet, deren Spielball der Mensch trotz seiner inneren Freiheit wird.

Da nun

außerdem durch Schiller's Dramen, durch seinen Wallenstein, durch seine Jungfrau von Orleans und namentlich durch die Braut von Messina die antike Schicksalsidee sür die moderne Tragödie erneuert

war, so ergab sich als Folge von der einseitigen Auffasflrng des Dramas, wie es sich theils im Alterthum theils bei Calderon ge­

staltet hatte, daß die Schicksalsidee ausartete in ein abstractes Verhängniß, welches, losgerissen von dem individuellen Leben der han­ delnden Personen, willkürlich in den Lauf der menschlichen Angele­

genheiten eingreift,

und den freien Willen

dem Hohne und der

Grausamkeit des Fatums zum Opfer bringt.

Durch eine solche

Darstellung kann keine sittliche Erhebung bewirkt werden, indem ge­ gen das willkürliche Walten der Schicksalsmacht die Freiheit eines

männlichen Kampfes aufgehoben ist.

Es bekommen Träume, Pro­

phezeiungen, ja ganz zufällige äußere Gegenstände eine unwidersteh­ liche Macht; das Verhängniß knüpft sich an subjective 'Einbildun­ gen, an den Aberglauben, es wird zu einem tückischen Dämon, wes­ halb hier jenes großartige Geschick fehlt, das den Menschen erhebt,

wenn es ihn zermalmt, das die innere Kraft und Freiheit nicht

vernichtet, sondern auch noch im Untergange der im dunklen Drange

begriffenen Menschennatur zeigt, wie in ihrem Inneren eine Macht

wirkt, die durch kein Geschick, durch keine düstere Verkettung der Le­ bensschicksale überwältigt zu werden vermag.

Es war daher Wer-

ner's „24. Februar" als Schicksalstragödie nicht unvorbereitet, und

dies Stück rief eine Reihe ähnlicher Dramen hervor, in denen sich

zugleich die zerreibenden Einflüsse der damaligen Weltlage, die trü­ ben Gährungen einer zerfahrenen Zeitstimmung abspiegeln. Die Vertreter dieser Schicksalsdramen sind Müllner, Grillparzer,

Houwald. Adolph Müllner, 1774 zu Weißenfels geboren, erhielt seine Schulbildung theils in seiner Vaterstadt theils in Pforta.

In Leip­

zig studirte er die Rechte und lebte seit 1798 als Advokat in Wei­ ßenfels.

Bürger war sein Onkel und hatte Einfluß auf seine Nei­

gung zur Poesie.

Im Jahr 1810 errichtete Müllner

in

seiner

Vaterstadt ein Privattheater, und Halle von sich als Dichter keine

geringe Meinung. Nach Werncr's „24. Februar" schrieb er 1812 seine erste Tragödie, den „29. Februar," welcher die „Schuld" folgte, die seit 1816 vier Mal aufgelegt, und auch ins Englische, 34*

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

532

Französische und andere Sprachen übersetzt ist. Im Jahr 1817 er­ schien „König Pngurd" und 1820 „die Albaneserin." Außerdem schrieb Müllner auch mehrere Lustspiele; er gab 1828 seine dramati­ schen Werke heraus, und starb 1829 zu Weißenfels. Wenn er auch Talent der Darstellung besaß, so ist diese doch zu sehr auf den Ef­

fect berechnet, nnd cs fehlt die eigentlich dichterische Begabung und die productive Ursprünglichkeit. Als Advocat ist er in der Entwick­ lung der dramatischen Handlung nicht frei von juristischer Sophistik und processualischer Spitzfindigkeit, und indem er nach Werner's Vorbild ganz einging aus das Fatalistische, entfaltet« er in seinen Tragödien ein düsteres Schicksal, wodurch mehr Schrecken und Grauen, als irgend eine sittliche Erhebung gewirkt wird [,SOJ. Franz Grillparzer, welcher 1790 in Wien geboren wurde, war seit 1819 Privatsecretair der Kaiserin, und erhielt 1832 das Amt eines Archivdirectors der Kaiser!. Hofkammer. Es besitzt Grill­ parzer die Gabe der Dichtung; davon zeugt die Tiefe und Wärme

seiner Empfindungen, die Schönheit und Wahrheit seiner Bilder, die bald mild, bald glühende Farbenpracht seiner Darstellung. Sein poetisches Talent offenbart sich aber mehr darin, interessante Situa­ tionen in wohlgelungenen Bildern und in schöner Sprache lyrisch

auszuführen, als sie durch lebendige Handlung und gediegene Cha­ rakteristik der Personen dramatisch zu entwickeln. Nach Werner's und Müllner's Beispiel schrieb er 1816 die „Ahnfrau," ein Nacht­ stück, worin er die fatalistische Schicksalsmacht seiner Vorgänger überbietet; es ist hier das'Gräßliche vorherrschend, und weder die

Kraft der Schilderung noch die musikalische Sprache kann mit der Grundidee versöhnen. Das verbrecherische Blut der Ahnen waltet durch die ganze Reihe der Geschlechter, und es siegt nicht die ge­ rechte Vorsehung, sondern eine blinde Naturkraft. ES folgte im I. 1818 die „Sappho," in welchem Stücke das Antike in romantischen Empfindungen verschwimmt. Im Jahr 1822 ließ Grillparzer eine Trilogie erscheinen „das goldene Vließ" (in den drei Abtheilungen „der Gastfreund," „die Argonauten," „Medea"). Es fehlt hier die tiefere Erfassung des Alterthums und die gehörige Aufeinanderfolge in der trilogischen Verknüpfung; jedoch ist die Medea nicht ohne ächt tragische Momente. Mit dem „Ottokar" (1824) betrat Grill­ parzer den vaterländischen Boden; es wird aber auch hier bei dem Schwanken zwischen zwei Helden die rechte dramatische Haltung

vermißt.

Ernst Freiherr v. Houwald, 1778 zu Straupitz in der

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

533

Lausitz geboren, erhielt seine Schul- und Universitätsbildung zu Halle, wo er den innigen Freundschaftsbund mit K. W. Contessa schloß. Seit 1802 widmete er sich dem ständischen Dienst seiner Provinz, zog sich aber 1815 auf sein Gut Sellendorf zurück, und gab sich hier mit seinem Freunde Contessa poetischen Arbeiten hin. Es erschienen Erzählungen „romantische Klänge" (1817), dramati­ sche Gemälde „die Freistatt," und seit 1821 die größeren Dichtun­ gen „das Bild," „der Leuchtthurm" [7S1J, „Fluch und Segen." In denselben fehlt cs nicht an schöner Sprache, an leichter Aersi-

sication, an poetischen Schilderungen; jedoch der Mangel sowol an dramatischer Bewegung und bestimmter Charakteristik als auch an psychologischer Wahrheit, die kraftlose Breite bei vorherrschend krank­ hafter Rührung, und dann vor Allem das rein Zufällige und Will­ kürliche, woran sich das Schicksal knüpft, stört alle ästhetische Wir­ kung und macht eine beruhigende Erhebung unmöglich. c. Die patriotische Richtung.

Bei dem Bestreben der Romantiker, die Poesie ins Leben ein­ zusetzen, bildete die volksthümliche national-politische Richtung ein wesentliches Moment für die neue Dichterschule. Durchdrungen von der früheren politischen und nationalen Größe des Vaterlandes, von der religiösen und vaterländischen Einheit und Innigkeit des Lebens, wirkten die Romantiker darauf hin, den nationalen Sinn zu bele­ ben, und dies Streben erhielt nach den Zeitzuständen seine bestimm­ tere Gestaltung. Die Erniedrigung Deutschland's seit 1806, die Freiheitskriege, und die Zeit unmittelbar nach denselben bilden die

besonderen Entwickelungsmomente. ♦ Am tiefsten wurde unter den romantischen Dichtern Heinrich v. Kleist von der trostlosen Gegenwart während der französischen

Gewaltherrschaft ergriffen. Er war den 10. Oktober 1776 zu Frankfurt geboren, und machte als Preußischer Offizier den Rhein­ feldzug mit; von Verlangen aber nach wissenschaftlicher Bildung ge­ trieben, nahm er seinen Abschied und studirte 1799 und 1800 in seiner Vaterstadt, wo er außer Rechtswissenschaft mit Eifer die

Kantische Philosophie trieb. Mit Zschokke stiftete er hier eine Art Dichterbund, in welchem ein Sohn Wieland's der Dritte war, der sich gleichfalls der dramatischen Dichtung zuwandte. Nachdem Kleist seine Studien vollendet hatte, wurde er in Berlin im Departement des Ministers v. Struensee angestellt; er erhielt aber bald mit eini­ gen Aufträgen Urlaub zu reisen und lebte ein Jahr lang in Paris.

534

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

Seinen Rückweg nahm er durch die Schweiz, ließ sich in Dresden nieder, und machte von da aus einen zweiten Ausflug durch die Schweiz und Frankreich.

Unbefriedigt von den öffentlichen Zustän­

den der Zeit schwärmte er für den Gedanken, fern von allem Be­

ruf eine freie Bildung zu gewinnen, und in der schweizerischen Na­ turidylle, in einer friedlichen Umgränzung, durch welche keine Civi­

lisationszerwürfnisse mehr hindurchdringen, auf patriarchalische Weise den Acker zu pflügen, und mit Wäldern und Feldern alt und ge­

sund zu werden. Aber immer von Neuem ergriff ihn das öffent­ liche Leben, und kurz vor dem Ausbruch des unglücklichen Kriegs von 1806 kehrte er nach Berlin zurück, und arbeitete einige Zeit itn Finanzministerium.

Nach der Schlacht von Jena ging er nach

Königsberg; er nahm hier seine Entlassung aus dem Staatsdienst,

und suchte bei den Musen Trost und Erheiterung in der traurigen Zeit der Unterdrückung des Vaterlandes, welches er mit glühendem

Herzen liebte.

Schwermuth beschlich ihn in seiner stillen Zurück­

gezogenheit, und diese Gemüthsstimmung befestigte sich in ihm, als

er bei seiner Rückkehr nach Berlin von den Franzosen aus dem Vaterlande als ein Gefangener fortgeführt ward.

Er saß zu Joux

und Chalons im Gefängniß, ohne Grund eingesetzt, und nachdem er 1807 wieder freigelassen war, wählte er Dresden zu seinem Auf­

enthaltsorte, wo er an Adam Müller einen Freund fand und mit diesem die Tendenzen der Romantik verfolgte; beide gaben 1808 ge­ meinschaftlich die Zeitschrift „Phöbus," ein Journal für Kunst her­ aus. Im I. 1809, als der Krieg zwischen Frankreich und Oester­ reich ausbrach, begrüßte Kleist freudig in dem Aufschwung desTy-

roler Volks den neuen Hoffnungsstrahl zur Rettung des Vaterlan­

des.

Er eilte nach Prag, und war auf dem Wege nach Wien, als

durch den schnell abgeschlossenen Frieden alle seine Hoffnungen wie­

der zerstört wurden.

Innerlich und äußerlich gedrückt und gebeugt,

verzweifelnd an sich und seinem Vaterlande, kehrte er nach Berlin

zurück.

Tief ergriff ihn im Jahr 1811 die vollkommene Trostlo­

sigkeit der öffentlichen Zustände; das Herz brach ihm über die Lei­

den der Zeit, und von Todesverlangen getrieben endigte er am 21. November zugleich mit einer kranken Freundin, Adolphine Vogel, durch freiwilligen Tod das Leben in einem Hölzchen bei Potsdam am heiligen See.

Es ist Kleist der politische Werther seiner Zeit

genannt worden; das Vaterland war seine Geliebte, und einer har­ ten, schwerlastenden Wirklichkeit gegenüber flüchtete er sich in die

tiefe Innerlichkeit seiner Gemüthswelt, fühlte sich aber stets wie-

535

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

der getrieben sein ganzes Innere in die äußere Wirklichkeit hin­ auszusetzen der

dem

und

sich

hinzugeben

an

die Bilder

und Erguß Schmerz Linderung

Welt, ohne durch Aussprechen

innerlich

empfundenen

Diese innere Spannung

schen Poesie.

und

Formen

seiner Gefühle zu gewähren.

und Unruhe trieb ihn zur

dramati­

Seine wenigen lyrischen Gedichte zeugen von der

dunklen Verschlossenheit

eines innerlich tiefbewegten Lebens, und

lassen, bei dem Zurückhalten der Empfindungen, in ihrer Einsylbigkeit den inneren Zustand des Dichters ahnen. In Kleist's dramati­

schen Productionen zeigt sich als Eigenthümlichkeit der handelnden

Charaktere, daß sie bei der innerlichen Concentration meistentheils ihren Zweck verbergen, von dem sie selbst kaum ein klares Bewußt­ seyn haben; sie sprechen

Hoffnungen kaum

aus.

sich ihre Wünsche, ihre Ahnungen und

diesem Mangel des selbstbewußten

Bei

Zwecks und dem Ueberwiegen des Geschehens, der äußeren Lokalität

und der mannigfachen Begebenheiten zeigt sich Kleist als größerer Meister in der Erzählung, in derer sich auszeichnet durch scharfe und feste Charakteristik [’51].

Die Handlung in den Erzählungen,

die 1810 und 11 erschienen, geht nicht aus abstrakten Reflerionen über den Inhalt des zu erreichenden Zwecks hervor, sie bestimmt stch nicht nach Sentenzen und

allgemeinen Grundsätzen,

sondern

nach dem unmittelbaren Gefühle der einzelnen Personen; diese sind im Ganzen wortarm, aber alles, was sie aussprechen, entspringt

aus ihrem innersten Herzen.

„Michael Kohlhaas"

ist unter den

Erzählungen die gelungenste, in denen sich überall Reichthum der

Erfindung zeigt, Tiefe des Gefühls, rascher Fortgang der Handlung,

in und mit welcher zugleich sich die Charaktere entwickeln.

Es war

Kleist eine wahrhafte Dichternatur; allein die Bitterkeit hypokondrischer Verstimmung ließ ihn nicht zu dem freien Walten und Bil­

den gelangen. Hätte er die Befreiung des Vaterlandes erlebt, so würde die verfinsternde Hülle von seinen Augen gewichen seyn, und er wäre der wahrhaft nationale Theaterdichter Deutschlands gewor­ den. Seine dichterischen Werke sind die Erzeugnisse einer großen inneren Mißstimmung, von welcher sich der Dichter nicht, wie Gö­ the, durch künstlerisches Schaffen zu befreien vermochte.

Sie haben

daher manche Härten und Ecken; das Phantastische, Abenteuerliche und Ercentrische, wie sehr es auch in Verbindung steht mit ächt poetischer Begabung, unterbricht den Gang der Handlung in ihrer organischen Entfaltung, und stört den Bau, der in der Anlage das Schönste verheißt.

Kleist's erstes Drama war die „Familie Schrof»

536

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

fenstein" (1803). Die Welt der äußeren Umstände in ihrem Ver­ hältniß zum Gemüthe der handelnden Personen erscheint hier in einer Doppelsinnigkeit, und jede Erklärungsart derselben führt ins Verderben. Das Schicksal knüpft sich an den äußeren Schein und die zufällige, innere Gemüthsstimmung, und es bereitet sich die fa­ talistische Richtung der Schicksalstragödie vor. Im „Amphitryon" (1808) strebt der Dichter im Gegensatz der antiken Fabel und der Moliereschen Frivolität nach tieferen Motiven. Die sich zur Alcmene herablassende Gottheit will in der tiefsten Innerlichkeit des menschlichen Gemüths empfunden werden. In der „Penthesilea" (1808) wollte Kleist sein innerstes Wesen, den ganzen Glanz und Schmerz seiner Seele zugleich niederlegen. Die Heldin des Stücks wird durch die Leidenschaftlichkeit gestürzt, mit welcher sie aus eige­ nem Entschlüsse und gegen die Götteroffenbarung ihre Wünsche aus­ zuführen strebt. Das Gemüth glaubt mit Gott und Welt im Ein­ klänge zu seyn, und verfolgt in dieser Zuversicht seine Wünsche und Hoffnungen mit der ganzen vollen Leidenschaftlichkeit eines nie ge­ brochenen Willens, und schließt mit der Erfahrung, daß es furchtbar getäuscht sey, indem Gott und der weite Kreis alles Wirklichen und Wahren sich dem unbezwinglichen innersten Her­ zenswünsche entgegenstemmen. DaS Aufgeben alles Handelns aus eigenem Entschlüsse ergiebt sich als die Bedingung zur inneren Be­ friedigung. Das „Käthchen von Heilbronn" (1810) nannte Kleist die Kehrseite der Penthesilea; es sey ein Wesen, ebenso mächtig durch gänzliches Hingeben, als Penthesilea durch Handeln. Es zeichnet sich diese Dichtung durch Lebendigkeit der dramatischen Be­ wegung und durch die individuelle Haltung der Charaktere aus, und gehört zu den besten deutschen Dramen [’5SJ; es wird nur der Eindruck des Ganzen durch die visionäre Traumseherei geschwächt. Der „zerbrochene Krug," ein Lustspiel, in welchem das Ausmitteln verborgener Umstände den Mittelpunkt des Interesses bildet, ist reich an köstlichem Humor und ungezwungenem Witz [’**]. Die von Tieck herausgegebenen nachgelassenen Schriften Kleist's machten zwei neue Dramen bekannt, den „Prinz v. Homburg" und die „Hermannsschlacht," beide aus dem Jahr 1809. In dem ersteren Drama geben sich Züge einer höheren tragischen Kunst in Stil und Charakteristik zu erkennen, und die nationale Tendenz offenbart sich in der Persönlichkeit des großen Churfürsten; es mischt sich aber auch hier, wie im Käthchen v. Heilbronn, das visionäre Traumleben als ein fremdartiges Element störend ein, und bringt einen Wider-

des 18. Jahrhunderts -iS zur Gegeuwart.

537

spruch in die Charakterentwickelung des Prinzen [’ss]. Zn der „ Hermannsschlacht" benutzt Kleist die Zeiten der ersten Befreiung Deutschland's vom Römerjoch, um die schmählichen Zustände des Vaterlandes unter den Einwirkungen des Rheinbundes zu schildern. Es war dies Drama ein politisches Strafgedicht, in welchem der Dichter seinen ganzen patriotischen Unwillen und Schmerz über Deutschland's Erniedrigung kund that [’56]. Wie von Oesterreich der erste, wenn auch unglückliche Versuch ausging, die Macht des Feindes zu brechen und die Unabhängig­ keit des Vaterlandes zu erkämpfen, so stammen auch die ersten Kriegs- und Schlachtgesänge von dort her. Heinrich Joseph Edler von Collin, 1772 zu Wien geboren, studirte mit Eifer die alten Sprachen und klassischen Dichter, darauf die Rechte, ward 1809 kaiserlicher Hosrath und starb im Jahr 1811. Seine „Wehrmannslieder" sind, wie alle Kriegsgesänge aus jener Zeit (1805— 1809), von einer gewissen trüben Ahnung erfüllt, welche die rechte Schlachtfreude nicht aufkommen läßt [,S,J. Mit der Sehnsucht nach Befreiung des deutschen Vaterlandes verbindet sich bei Collin der österreichische Patriotismus. Unter seinen auf die Verherrlichung des Kaiserhauses bezüglichen Gedichten ist besonders hervorzuheben die Romanze „Kaiser Max auf der Martinswand." Collin war auch dramatischer Dichter, wählte aber antike Stoffe und behan­ delte diese nach dem Muster der Alten. Sein erstes Drama „der Regulus" (1802) wurde sein berühmtestes; es folgten „Coriolan," „Polyrenä" u. s. w. Das Rhetorische ist vorherrschend, und die declamatorische Breite läßt kalt. Auch Collin's Bruder Mat­ thäus Edler v. Collin (aus Wien 1779 —1824) war drama­ tischer Dichter, und wurde von Tieck angeregt, vaterländisch histo­ rische Schauspiele zu schreiben, um sich dadurch den Ruhm eines Volksdichters zu erwerben. Er hatte aber wenig Beruf zur Poesie, und was er dichtete, war ohne Bedeutung. Im Jahr 1813 begann der Kampf mit Gott für König und Vaterland und rief eine allgemeine Begeisterung hervor, die den Kriegs- und Freiheitsgesang weckte. In dieser Zeit voll gesunder Thatkraft und frischer Lebensentfaltung waltete Schiller's Dichter­ geist in den schwungvollen Liedern, welche schnell Aller Herzen zün­ deten, sich von Mund zu Mund sortpflanzten und zu Volksliedern wurden. TheoderKörner, 1791 zu Dresden geboren, war derSohn Chr. Gottfr. Körner's, der in sächsischen und preußischen Diensten

538

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

hohe Staatsämter bekleidete und sich als den treusten Freund Schil­ ler's bewährte.

Der junge Körner besuchte zuerst die Bergakade­

mie zu Freiberg und studirte zwei Jahre Bergwissenschaft.

1810 bezog

Im I.

er die Universität Leipzig, und hier entwickelte sich

schon sein großes Talent poetischer Improvisation und Versisication.

Er gab sich damals einem frohen, ungebundenen Lebensgenüsse hin, und wegen Ausbrüche jugendlicher Leidenschaft mußte er die Uni­

versität Leipzig verlassen.

Er begab sich nach Berlin, und von da

bald darauf nach Wien, wo einzelne dramatische Erzeugnisse di«

Sie waren noch ohne

öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn zogen.

eigenthümliche Form; die Lustspiele lehnten sich an Kotzebue, und die Trauerspiele

hatten Schiller- zum Vorbild;

Knospen als Früchte [7S8J.

sie waren

mehr

Es schien, als ob der junge Körner

Schiller's dramatisches Pathos mit Kotzebue's gewandter Theater­ praxis verbinden wollte. Durch Kotzebue's Vermittelung gewann er

den Titel eines k. k. Theaterdichters.

Als der Aufruf an die deut­

sche Jugend zum Kampfe für's Vaterland erging, da wurde auch Theodor Körner's Herz mächtig ergriffen, und er vertauschte die Leier mit dem Schwerte.

Er stellte sich unter Lützow's Schaaren,

und in der Laufbahn des Kriegs, in dem Sturmdrang der Thaten fand er den Stoff lebendiger Gesänge; mitten im Kampfgetümmel

wurden sie gedichtet, in den Augenblicken der schönsten und vollsten

Begeisterung [7Sej. Aus seinen Liedern spricht begeisterte Schlach­ tenlust, freudiges Ringen nach Freiheit, glühender Haß gegen die Feinde des Vaterlandes; sie erklangen in den Reihen der Vatrrlandskämpfer durch alle deutsche Heere.

Sein „Schwertlied" dich­

tete der junge Dichter kurz vor dem Anfänge des Gefechts bei Ga­ debusch, wo ibn die tödtliche Kugel traf. Seine Leiche ward, bekränzt

von den Freunden mit Eichenlaub, mit militärischen Ehrenbezeugun­ gen unter einer alten Eiche bei dem Dorfe Wöbbelin bestattet. Kör­ ner's Lieder drangen bei ihrer rhetorischen Kraft am tiefsten in die Herzen der deutschen Jugend. Friedrich Max Schenk v. Schenkendorf, der am 11.

December 1784 zu Tilsit geboren wurde, kam früh aus dem älter-

lichen Hause in die Kreise der gräflichen Familie von Dohna, die sich durch christliche Frömmigkeit und hohe Geistesbildung auszeich­

nete.

Er studirte in Königsberg Kameralwissenschaft, und brachte

darauf ein Jahr (1805) im Amte Waldau zu, um sich mit der

Landwirthschaft praktisch bekannt zu machen.

Um diese Zeit lernte

er seine nachherige Gattin kennen, wodurch

das Glück seines Le-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, bens entschieden wurde.

539

Im Jahr 1812 verheirathete er sich in

Karlsruhe. Im reinsten Genuffe des ehelichen Glücks und im Um­ gänge mit Jung-Stilling und anderen ausgezeichneten Männern er­ freute er sich der frohsten, heitersten Lebenstage.

Aber dennoch ver­

ließ er im folgenden Jahre, als der Freiheitskampf Alle unter die Waffen rief, den kaum gegründeten Herd, begab sich in das Ge­

folge des Generalmajors v. Röder, und theilte alle Beschwerden des Felddienstes, muthig im Feuer, thätig bei den Arbeiten des Gene­

ralstabes seinen Freunden helfend.

In dieser Zeit der allgemeinen Nach beendig­

Begeisterung entstanden seine schönsten Lieder [7 60].

tem Kriege ward er Regierungsrath in Coblenz, wo er schon 1817

an seinem Geburtstage starb.

Schenkendorf besaß in seinem Herzen

einen reichen Schatz von Liebe, und zeichnete sich durch Milde der Gesinnung und unverfälschte Religiosität aus.

Seine Lieder spre­

chen nicht sowol die laute Kampfes- und Siegesfreude aus, als

vielmehr die Vaterlands- und Heimathsfreude, und sind durchdrun­ gen von der Wärme einer tiefen Innerlichkeit. Es verbindet sich in ihm der Patriotismus der Gegenwart mit dem Romantischen, mit der Sehnsucht nach der früheren nationalen Größe des Vater­ landes und der religiösen Innigkeit des Lebens; in seinen Liedern

tritt eine edle Begeisterung hervor für des deutschen Volkes Ver­ gangenheit und Zukunft, für den Glauben der Christen, für die Würde der Kirche.

Ernst Moritz Arndt, welcher den 26. December 1769 zu Schoritz auf Rügen geboren wurde, wirkte durch Lauterkeit und

Biederkeit der Gesinnung, durch Kraft der Rede und durch die Macht der Wahrheit am thätigsten und eifrigsten mit zur Rettung

deutscher Freiheit und vaterländischen Rechtes. ein Wort.

Er war. ein Mann,

In den Jahren 1797 — 1799 machte er Reisen durch

Schweden, Italien, Frankreich, und zeigte sich in den Beschreibun­

gen und Schilderungen derselben als aufmerksamen und aufgeklärten

Beobachter.

Im Jahr 1806 wurde er Professor der Philosophie

in Greifswald.

Er war einer der ersten unter den Männern zur

Zeit des französischen Jochs und deutschen Verfalls, welche, den

Glauben an die Auferstehung ihres Landes festhaltend, das heilige Feuer zum begeisterten Freiheitskampfe schürten.

In seinem „Geist

der Zeit" (1806) richtete er glühende Zornesworte gegen den frem­

den Eroberer und gegen die Schmach des eigenen Volks; dies Buch gewann die weiteste Verbreitung.

Arndt's Motto war: „Im Her­

zen Muth, Trotz unter'm Hut, Am Schwerte Blut, Macht alles

540

Zweite Periode.

gut!"

Er

Von dem ersten Viertel

mußte vor Napoleon nach Schweden flüchten;

hier

würde er glücklich gewesen seyn, wenn er die Erinnerung des ver­

gangenen Lebens hätte auslöschen können.

Gedachte er aber Deutsch­

lands und der Tiefe der deutschen Sprache und des deutschen Ge­

müths, so ergriff ihn sehnsüchtiges Heimweh.

Zu tief wurzelte in

ihm die Liebe zum deutschen Wolke, und er lernte in der Fremde, was dasselbe werth sey, „wie geistig, wie treu, wie fromm, wie

bieder."

Er kehrte zur Zeit der Befreiung seines Vaterlandes zu­

rück, und seine patriotischen „Kriegs- und Wehrlieder" (1813—15)

erhoben und

entflammten alle Herzen, fie wurden

Volkslieder,

welche die Stimmung einer großen Zeit in voller Wahrheit poetisch

aussprachen, und die Begeisterung für die Befreiung des Vaterlan­

des kräftigten [’61].

Ihre Erfolge waren höher zu achten als die

einer gewonnenen Schlacht, und sie werden fortdauern mit dem An­ denken an den Sieg und an die Ehre und an die Freude von 1813. Im Jahr 1818 wurde Arndt als Professor der Geschichte an der in Bonn neuerrichteten Universität angestellt.

Es folgte die trübe

Zeit der Reactionsstrebungen, eine Zeit voll Mismuth und» Groll wegen getäuschter Hoffnungen, wo die früher begeisterten Freiheits­

sänger in Liedern klagten, daß das kaum gebaute Haus des Bruder­ bundes der Jugend gebrochen sey.

Auch Arndt ward von der di­

plomatischen Politik wie von einer harten Schicksalsmacht getrof­

fen, und von 1820 — 40 von seinem Amte suspendirt.

Friedrich

Wilhelm IV. gab ihm wieder seine Wirksamkeit an der Universität Arndt hatte sich die alte Liebe zu seinem Volke bewahrt; lebendig war in ihm der Haß gegen den Hochmuth der lüsternen

zurück.

Nachbarcn, und er blieb der deutschen Rheingrenze muthiger Wäch­ ter.

Seine Lieder,

weltliche

und

geistliche,

welche

die

letzten

vierzig Jahre umspannen, tragen das ächte Gepräge seiner feurigen Gesinnung und Geisteskraft, seines

wunden, doch ungebrochenen

Herzens. Friedrich August v. Stägemann, 1763 zu Vierraden in der Uckermark geboren, war der Sohn eines Landpredigers.

Er

studirte in Halle die Rechte, und wurde dann in Königsberg ange­

stellt, 1806 aber nach Berlin versetzt, 1807 zum vortragenden Rath beim Staatskanzler Fürsten Hardenberg ernannt und später zum Geheimen Staatsrath und Minister erhoben; er starb 1840.

Im

Geräusche der Feldlager dichtete Stägemann Kriegsgesängc und hi­

storische Lieder aus den Jahren 1806 — 15, welche voll Schwung

feurigen Zorn über

des

Vaterlandes

Schmach und

Bedrückung

541

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

aussprechen; sie entbehren aber einer ächt poetischen Auffassungs­

weise, und in Ramler's Manier gedichtet, haben sie ost viel Wort­ klang. Sie übten auch die populäre Wirkung nicht aus, wie die Lie­

der von Arndt, Körner und Schenkendorf. Stagemann's „historische Erinnerungen in lyrischen Gedichten"^(1828) sind ein poetisches Ge­ schichtsbuch der Befreiungszeit. Friedrich Rückert, welcher 1789 zu Schweinfurt geboren

wurde, erhielt auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt die erste gei­ stige Bildung, und studirte in Jena Philologie und Belletristik;

1811 ward er daselbst Privatdocent.

Von 1815 — 17 hielt er sich

in Stuttgart auf, und nahm Theil an der Redaction des Morgen­ blattes. Von da ging er nach Italien, und lebte den größten Theil des Jahrs 1818 in Rom und Aricia. Er beschäftigte sich mit

Sprache und Dichtkunst des italienischen Volks und schloß mit deut­

schen Künstlern freundschaftliche Verbindung.

Nach seiner Rückkehr

aus Italien privatisirte er in Koburg, im Schooße einer glücklichen

Häuslichkeit den Musen opfernd; Frauentaschenbuch.

1821 —1823 redigirte er das

Seit 1826 lebte er als Professor der orientali­

schen Sprache in Erlangen, bis ihn der König von Preußen 1841 als Professor der Philosophie nach Berlin berief.

Rückert hat in

seinen „Erinnerungen aus den Kinderjahren eines Dorfamtmanns­ sohns" (1829) seine kräftige, natürliche, ungebundene, von Erzie­

hung und Unterricht nicht gestörte Kindheit wieder durchlebt.

Die

Jugendlieder geben ein treues Bild eines Jünglingslebens, welches

die poetische Stimmung der eigenen Brust mit der in der Außen­ welt waltenden Poesie in Einklang zu setzen sucht. Der Jüngling lebt schon ganz mit der Natur, er lauscht auf ihre Worte; Alles redet und schließt seinen innersten Kern auf, der Geist der Liebe wird das beseelende Princip der Jugendlyrik Rückert's, und eröffnet ein tiefes allumfassendes Verständniß der Natur.

Mit seligen Em­

pfindungen sucht der junge Dichter Trost und Beruhigung in dem sinnigen Anschauen der Natur, wenn der Sturm der Zeit und die

stumme Verzweifelung ihn emporrüttcln will. Als aber unser Volk sich erhob und die Freiheitsgesänge' erschollen, da trat auch Rückert,

der sinnige Naturdichter, aus dem stillen Kreise seiner Empfindun­ gen, aus seinem gewohnten Gefühlsleben heraus, und gab sich ganz dem einen großen Gedanken des Kampfes fürs Vaterland hin.

Er

harnischte sein Sonett, es wurde zum treffenden Erz und zur Sturmglocke; seinen dichterischen Genossen ruft er zu, daß sie zu

den Waffen greifen, statt ihrer Steckenpferde Rappen zäumen, und

542

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

statt der Narrenkappen Helme tragen sollen. Er erinnert an den großen Friedrich, der seine Preußen unter die Fahnen ruft und in der Wetternacht ihnen voranzuschreiten verspricht. Rückert gab 1814 die „deutschen Gedichte von Freimund Reimar" heraus, de-, ren Haupttheil die geharnischten Sonette waren [,e2].

Es

schloß sich dieser Sammlung als zweiter Theil an der „Kranz der

Zeit" (unter dem Titel Friedrich R.'s, Stuttgart 1817).

Es sind

Zeitgedichte, welche eine Ehrenhalle ausgezeichneter Thaten bilden (wie „Körner's Geist," „Hofer," „Deutschland's Heldenweib," „die

Erscheinung" u. a. m.).

Es riefen aber Rückert's' patriotische Ge­

dichte nicht einen solchen Enthusiasmus hervor, wie die von Arndt, Körner, Schenkendorf; seine ihm eigenthümliche Dichternatur ging nicht mit ihrem innersten Wesen ganz auf in jenem Kampfe und

in den Hoffnungen, die sich an denselben knüpften.

Mit den Jah­

ren 1816 und 1817 schloß Rückert den Antheil seiner Poesie an den Zeitereignissen ab; er vertiefte sich in den Orient, und die Be­ schaulichkeit verdrängte das Interesse für das handelnde Leben. Als höchsten Gewinn seiner Forschungen im Orient bezeichnete er die „Weltpoesie" (s. unten). Als nach Beendigung der Freiheitskriege die Schlachtgesänge

verstummten, ward das Streben lebendig, durch die Erneuerung altdeutschen Geistes und Sinnes sittlich und politisch hinzuwirken

auf die nationale Einheit des deutschen Vaterlandes. Das Deutschthum wurde die Losung des Tages; man ging zurück auf die

Zustände des alten deutschen Reiches, und mit Wohlgefallen ruhten die Blicke auf der Herrlichkeit des mittelaltrigen Ritterwesens.

Diese Richtung des vaterländischen Lebens wird in der poetischen Literatur vorzüglich von zwei Dichtern vertreten, in verschiedener Weise, nemlich von Fouque und Uhland; während der Erstere in ein überspanntes, deutschthümelndes Wesen hineingerieth, verband Uhland mit der Wiedererweckung der ritterlichen Sagen der Vorzeit

den Sinn für das im Volke durch die Freiheitskriege lebendig an­ geregte Streben nach dem Vaterländischen und wußte der Roman­

tik eine realere Grundlage zu geben. Friedrich Baron de la Motte Fouque,

geboren zu

Brandenburg den 12. Februar 1777, empfand schon im Knaben­

alter bei körperlicher Krankhaftigkeit und weicher Seelenstimmung eine Lust an dem Schauerlichen der Gcisterwelt und an den ah­

nungsreichen Zuständen der Ritterlichkeit und Liebeslust.

Indem

sich sein geistiges Leben weniger unter dem Einfluß einer gesunden

543

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Schulbildung entwickelte, als unter den Einwirkungen der neuen

romantischen Dichterschule, vereinigte sich in ihm auf eigenthümliche

Weise das Element der Befreiungskriege mit der Romantik zu ei­ ner ritterlichen Gestalt, in welcher der preußische Offizier durch die

mittelalterliche Ritterlichkeit überall

hindurchblickt.

Mit seinem

Freunde Heinrich Kleist machte er als Lieutenant im Regiment« der

Garde du Corps 1792 den Rheinfeldzug mit, und lebte hierauf in ländlicher Stille der Freundschaft, der Liebe und den Musen, bis 1813 der Freiheitskampf begann.

Er führte selbst ein Fähnlein

auserlesener Krieger seinem Könige zu, und ward im Laufe des Krieges bald Rittmeister beim freiwilligen Jägereskadron des bran­ Er sang Kriegslieder aus freier

denburgischen Kürassierregiments.

Brust, und wohnte den bedeutendsten Schlachten bei [’•’].

Nach

der Schlacht bei Kulm erkrankte er, konnte aber noch am Tage des

18. October den glorreichen Kampf mitkämpfen. Seine Gesund­ heitszustände nöthigten ihn darauf den Abschied zu nehmen, den er mit dem Majorspatent erhielt.

Er lebte jetzt theils in Berlin, theils

zu Nennhausen bei Rathenow, ward später in Halle bei der Uni­ versität angestellt, und starb im Jahr 1843. Religiosität, Ritter­

lichkeit und Galanterie sind die Hauptelemente in Fouque's Dichtergrmüth.

Zurückblickend

auf die alte goldene Zeit der Minne

und Adelsherrlichkeit, bezog er seine Dichtungen ausschließlich auf die poesiereichen Erscheinungen

des

mittelalterlichen Ritterwesens;

dabei fesselte ihn aber zugleich ein tiefes Gefühl für Vaterland und

Glauben an das wirkliche Leben der Gegenwart.

Seine ersten dra­

matischen Spiele erschienen 1804 unter dem Schutze A. W. Schlegel's, welcher ihn unter den Namen Pellegrin zuerst einführte. In denselben erklangen die mannigfaltigsten Formen der südlichen

Lyrik.

Es folgten 1805 zwei Schauspiele „Falk und Reh," die

eine Tetralogie von Elementar-Bildern eröffneten, in denen er sich seltsamen- Phantasiegebilden hingab.

Er ward auch von der spani­

schen Poesie angezogen, und die Weihe, im Geiste derselben zu dich­

ten, empfing er, wie er selbst sagte, von A. W. Schlegel.

In der

Bearbeitung des Strickerschen Karl und der Historie von Ritter

Galmy (1806) kam er auf die stelzenmäßigen Darstellungen des al­ ten Ritterromans.

Schlegel wies ihn indessen auf die nordischen

Sagen hin, und wie Aeschylus die homerischen Sagen, wollte Fou-

que die Nibelungen dramatisch behandeln. In „Sigurd dem Schlangentödter" (1809), entzückte die Reckenkraft [’64], wie in „Eginhard und Emma" (1811) die Zartheit und Ritterlichkeit.

544

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

Ganz im Geschmack der alten Heldendichtung besang er in dem

epischen Gedicht „Corona" (1814) sein treues Roß. Am meisten gelang ihm die poetische Nachbildung der alten Ritter- und Sängcrzeiten in den „Fahrten Thiodolfs" (1815) und im „Zauberring"

(1816),

sowie sich auch unter seinen Erzählungen das der alten

Volkssage angehörige Märchen „Undine" auszeichnet, die eine der

schönsten Gabe seiner Dichterphantasie ist [,6SJ.

Es fehlte indeß

bei Fouquö, ungeachtet seiner poetischen Begabung, an der rechten

Energie und an fester Haltung, um bestimmte, individuelle Gestal­ ten hervorzubilden.

Forcirte Künstelei verdarb Vieles, und zuletzt

verfiel er in eine manierirte Vielschreiberei, über welcher er in Ver­ gessenheit gerieth. Ludwig Uh land,

den 26. April 1787 zu Tübingen gebo­

ren, empfing in seiner Vaterstadt seine Schulbildung und studirte daselbst von 1805 — 8 die Rechtswissenschaften.

Im Jahr 1808

wurde er unter die Zahl der König!. Advocaten ausgenommen, und erwarb sich 1810 die Würde eines Dr. der Rechte.

Im Frühling

desselben Jahrs machte er eine literarische Reise nach Paris, wo er die Manuskripte des Mittelalters auf der Königl. Bibliothek stu­

dirte.

Seit 1812 war er als Advocat in Stuttgart thätig, wo er

auch eine Zeit lang im Bureau des Justizministeriums arbeitete.

Als Dichter machte er seine Lieder und Romanzen zuerst in ver­

schiedenen Musenalmanachen bekannt; er stimmte zur Zeit der Er­ hebung Deutschland's mit ein in die Lieder des Freiheitskampfes, und fand in der Verherrlichung des errungenen Siegs den höchsten

Ruhm des Dichters.

Als im Jahr 1815 mit der neuen Constitu­

tion, welche König Friedrich v. Würtemberg seinem Lande ertheilte,

der Kampf um die alten und neuen Rechte begann, da machte Uhland in den „vaterländischen Gedichten" das Verhältniß des Volks

zum Fürsten, und besonders den Werth des „alten guten Rechts" mit männlichem Freimuth geltend.

Seine hierauf bezüglichen Lie­

der haben einen provinziellen Charakter, und fanden, wie sie da­ mals

in

fliegenden

Aufnahme.

Blättern

gegeben

wurden,

eine

begeisterte

Im Jahr 1817 ertheilte König Wilhelm seinem Lande

die entrissene Constitution wieder, und Uhland's Muse gab dem freudigen Danke Ausdruck, der vom Volke zum Throne aufstieg. Seit 1819 war Uhland ein thätiges Mitglied der Ständeversamm­ lung, wurde.

wodurch seine literarische Thätigkeit

vielfach unterbrochen

Im Jahr 1829 ward er als Professor der deutschen Lite­

ratur nach Tübingen berufen, legte aber seine Stelle nieder, als

ihm die Regierung den Urlaub zum Eintritt in die Ständeversamm­ lung verweigerte. Eigenthümlich ist der Poesie Uhland's die liebe­ volle Hingabe an Natur und Vorzeit; er versenkt sich ganz in seine Jugend-, Frühlings- und Heldenwelt, so daß von seiner Subjectivität uns wenig entgegentritt; seine Lieder lösen sich von seiner Per­ sönlichkeit fast ganz los, und auf eigenthümliche Weise verbindet er die mittelalterliche romantische Richtung mit Göthe's bildnerischer Plastik [7 6 6J. In dieser Objectivität liegt der hohe Reiz von Uh­ land's Dichtungen, ihre klare Verständlichkeit und eindringliche Wirk­ samkeit. Es ist der Standpunkt der glaubensvollen, ahnungsrei­ chen, zweifellosen Jugendempsindung, welcher die sittlichen Mächte, wie die äußere Natur, als gewiß gelten, weil sie da sind und le­ ben. Erweckt der Dichter die ritterlichen Sagen der Vorzeit, so sind sie nicht, wie es sonst der Romantik eigenthümlich ist, der Re­ ster einer sehnsüchtigen Erinnerung, treten nicht als bloße Gegen­ bilder der prosaischen Zustände der Gegenwart hervor, sondern sie enthalten ein durchaus positives Element; sie sind naiv und harm­ los, durchaus objectiv und gewähren eine wirklich in sich abgerun­ dete Darstellung des jugendlichen, empsindungsreichen Lebens der Menschheit. Ebenso offenbart Uhland auch in seinen Naturliedern ein kräftiges Ergreifen des Lebens, ohne sich in die geheimnißvollen Wunder der Natur zu verlieren und den dunklen Jrrgängen der Mystik sich hinzugeben. Es ist daher bei ihm Gesundheit und Klarheit vorherrschend, die ihn aus dem sentimental Elegischen sei­ ner anfänglichen Dichtungsweise bald hinführte zur Behandlung des Naiven und Trauten, des Kräftigen und Männlichen. In sei­ nen Poesien prägt sich das landschaftliche Element und die ächt volksthümliche Gesittung des würtembergischen Volksstammes ab, das anmuthige Naturleben auf rebenbepstanzten Bergen und in volksgedrängten Thälern nebst den vielfachen Erinnerungen an eine reiche Sagenwelt, die sich an die Burgen, Kapellen und Klöster des Landes knüpften. Es verband sich in Uhland die Romantik mit der Freiheitsliebe durch das Element wahrer Volksthümlichkeit zur Einheit eines vollen, kräftigen Lebens; überall tönt durch seine Ge­ dichte die Treue und Kraft deutscher Gesinnung, wenn auch mehr in der Weise mittelaltriger Vorzeit [7 6 7]. In einer Reihe von Liedern waltet eine sanfte Schwermuth und ahnungsreiche Hoffnung, wie in den „sanften Tagen," in „Schäfer's Sontagslied," in den „Frühlingsliedern" und besonders in den „Wanderliedern," in de­ nen sich Uhland's Eigenthümlichkeit zeigt, die tiefe Innerlichkeit Bieft deutsche Literaturgeschichte. II. 35w

546

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

durch äußerliche Erscheinungen ahnungsvoll anzudeuten, wodurch diese Gedichte an die wunderbaren Naturlaute des Volksliedes er­ innern. Die Lieder der Liebe bei Uhland sind entweder naive Ent­ äußerungen des Gefühls, oder Ausdrücke der Wehmuth wie im Volkslied. In mehreren Liedern verbindet sich Wehmuth und Laune auf ächt gemüthliche Weise („die Abreise"), und diese führen zu den naiv-humoristischen Gedichten hinüber („der Entschluß," „Lauf der Welt," „Recensent im Frühling" u. a. m.). Auch in allego­ rischen Dichtungen weiß Uhland tiefere Wahrheiten sinnreich zur Anschauung zu bringen („der Mohn," „Blumenstrauß," „die ver­ lorne Kirche," „Freie Kunst"'»; besonders ist aber bei seiner klaren Auffassung des Aeußeren und bei der innigen Theilnahme an sei­ nem Gegenstände, in seinen Gedichten diejenige Form der epischen Poesie hervortretend, welche sich in Balladen und Romanzen aus­ gebildet hat. Ein Theil der hierhergehörigen Gedichte stellt allge­ mein menschliche Zustände und Erlebnisse dar, in welchen die un­ endliche Empfindung der Sehnsucht, der Wonne und der Wehmuth das romantisch vertiefte Seelenleben kund giebt. („Goldschmied's Töchterlein," „Gretchen's Freude," „das Schifflein," „Abschied"). Auch die Süßigkeit und naive Sentimentalität des Minnegesanges tritt uns entgegen, und wie Uhland den historischen Stoff des Mittelalters zu benutzen wußte, zeigt der Romanzencyclus „Sän­ gerliebe." Der schrankenlosen Sehnsucht Rudello's steht „Ber­ tram de Born" gegenüber als die Gestalt des Ritters, welchem das Getümmel des wilden Kriegs lieber ist, als Blumen und Früh­ ling, und wir sehen, wie der Minnegesang ebensoviel Weichheit und Zartheit, als Kraft und Zorn, ebensoviel Schmachten und Sehn­ sucht, als Uebermuth und Wildheit entfaltete. Vor Allem zeichnen sich aber unter Uhland's Romanzen diejenigen aus, welche die rit­ terliche Vorzeit mit ihren kühnen Thaten und energischen Charak­ teren zu ihrem Gegenstand haben und in die Welt des Heldenle­ bens einführen, wo das Wirken und Handeln mehr aus freier Willkür bestimmt ist, ohne darin durch die feste Ordnung eines organisirtcn Staates gehemmt zu werden. Das Mittelalter war eine solche Zeit des noch unausgebildeten Staatslebens, und in dieses und zwar in die Geschichte des deutschen Volks versetzt uns Uhland in seinen epischen Dichtungen, welche zur Unterscheidung von den Balladen und Romanzen von Echtermayer mit dem Namen Rhap­ sodien bezeichnet sind [,68J. Den Mittelpunkt bildet hier die Willenskraft entschiedener Persönlichkeiten; erst durch diese wird die

dargestellte Begebenheit wichtig, und nicht gewinnt, wie bei Schil­ ler, der Held seine Bedeutung durch die Größe und vielfältige Ver­ wickelung der Handlung. Die treue Charakterdarstellung bildet hier das Hauptmoment, und Uhland's Helden treten uns in der voll­ sten, bestimmtesten Individualität entgegen. Mit Vorliebe behan­ delt er die Vorzeit seines eigenen Volksstammes, wie im „Eberhard der Rauschebart." Im „Taillefer" zeigt sich der frühere Sänger­ und Rittergeist mehr noch in einer unbewußten Haltung; im „gu­ ten Kameraden" giebt sich das Treuherzige der Kampfgenossen, in der „Bidassoabrücke" der Heldenschmerz, in dem „sterbenden Hel­ den" der Heldentrost auf ergreifende Weise zu erkennen. Uhland verkehrt lieber mit den markigen Gestalten und Handlungen gedie­ gener Charaktere, als mit dem Wunderbaren, Geister- und Mär­ chenhaften, und wird das Wunder ausgenommen, so ist es aus der Objectivität heraus als bloß inneres Phänomen ins Bewußtseyn gerückt („Walter"). Außerdem weiß Uhland auch einen gewissen gemüthlichen Humor im volksmäßigen Sinne über seine epischen Darstellungen auszubreiten, wie in „Klein Roland," „Roland Schildträger," „König Karls Meerfahrt," „Schenk von Limburg." Andere sagenhafte Romanzen werden durch Witz und Laune poe­ tisch, wie „Unstern," „der weiße Hirsch," „die sieben lustigen Zech­ brüder." Die in der Gedichtsammlung als dramatisch bezeich­ neten Dichtungen sind dramatistrte Romanzen, welche einzelne Situationen der Vorzeit in romantischer Empfindungsweise darstel­ len. Uhland versuchte sich auch im Drama, und zeigte hier seine ausschließlich vaterländische Richtung in der Wahl des historischen Stoffs („Herzog Ernst vvn Schwaben" 1817, „Ludwig der Baier" 1819) [76eJ. Es ist aber bei ihm das Lyrisch-Epische zu sehr vor­ herrschend, und es kommt bei dem Mangel an innerer Spannung der Gegensätze nicht zu der rechten Dialektik der Handlung. Manche gelungene Situationen werden uns vorgeführt; es fehlt aber in der fortschreitenden Entwickelung an dramatischem Pathos, an dessen Stelle eine mehr leidenschaftslose Verhandlung tritt. In literarhi­ storischer Beziehung machte sich Uhland durch mehrere gehaltvolle Schriften verdient, wie durch seine Arbeit „über nordfranzösische Poesie," durch die Abhandlung über „Walter von der Vogelweide," und durch die in neuester Zeit erschienenen „Alten hoch- und nie­ derdeutschen Volkslieder." Uhland trat in den Mittelpunkt einer dichterischen Genossen­ schaft, welche als die schwäbische bezeichnet wird. Zu diesem 35*

548

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Dichterkreis gehört, außer Mayer und Kerner, besonders Gustav Schwab. Gustav Schwab, 1792 in Stuttgart geboren, studirte 1809 Theologie in seiner Vaterstadt, ward 1817 daselbst Professor am Gymnasium, und 1836 Pfarrer in Gomaringen. Er theilt mit seinem Freunde Uhland die Freiheilsliebe und patriotische Gesinnung, singt vaterländische Romanzen, Tagesbegebenheiten, Begegnisse sei­ nes eigenen Lebens und wird ein fruchtbarer Gelegenheitsdichter, als welcher er bei dem Mangel an urkrästiger poetischer Begabung öf­ ter zu bedeutungslosen Reimereien herabsinkt. Wenn Schwab's Poesie auch die Uhlandsche durch eine größere Mannigfaltigkeit von Klängen übertrifft, so steht sie ihr doch an gedrungenem, in sich ab­ gerundetem Leben weit nach. Außerdem neigt Schwab zu einer eigenthümlichen religiösen Richtung hin, die eine pietistische Färbung trägt. In seinen epischen Darstellungen, die als Rhapsodien bezeich­ net werden können, wird die poetische Ausfassungsweise ost ver­ mißt, dagegen haben seine Balladen fast durchweg poetischen Ge­ halt [”°J. Während Schwab ein Moment der Uhlandschen Dichtung wei­ ter ausspinnt, nemlich die Stimmung des thatkräftigen Jünglings, der sowol in den eigenen Erlebnissen, als auch besonders in der Ge­ schichte der vaterländischen Vorzeit Stoff zu poetischen Darstellun­ gen findet, hat dagegen Karl Mayer (1786 zu Neckarbischofsheim geboren) die Natur zum ausschließlichen Gegenstand der Dichtung gemacht. Abgewandt dem Geräusche des Menschenlebens eilt er in die stille Waldeinsamkeit und beobachtet die Natur, welche in ih­ rem stillen Frieden die poetische Stimmung hervorrust, und wie der Lerche ihren Gesang, so dem Dichter Lieder entlockt. Auch Christian Justinus Kerner (welcher 1786 zu Lud­ wigsburg geboren, in Tübingen 1804 Medizin studirte und dort mit Uhland durch die Liebe zur deutschen Dichtkunst aufs Innigste verbunden wurde, seit 1819 Oberamtsarzt in Weinsberg ist), ver­ tiefte sich in das Naturleben, welches sein Gemüth aber nicht mit Kraft und Lebenslust erfüllt, sondern nur trübe Ahnungen hervor­ ruft. Ihn treibt es nicht nur aus dem Lärm der Menschenwelt in die Natur, aus der Ebene in die Berge und Wälder, sondern über­ haupt aus der irdischen Fremde in die höhere Heimath, aus dem Leben in den Tod hinüber. In der Zueignung seiner gesammelten Gedichte (1826) bezeichnet er Schmerz und Sehnen als das­ jenige, wodurch allein er zu Liedern erregt werde, während Befrie-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

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digung ihn stumm mache. Bei dieser Richtung auf das Unendliche wird es ihm schwer, im Endlichen sich anzubauen und in diesem das Unendliche zu finden. Wenn es ihm auch bisweilen in seinen Dichtungen, namentlich in manchen Balladen gelingt, sich im Dies­ seits zu befriedigen, so verliert er sich doch zu gern mit romanti­ scher Willkür in den leeren Höhen des Unendlichen, und verflüch­ tigt die gegebenen Verhältniffe menschlicher Zustände zu. unbestimm­ ten Traumgehilden [7,1J. Aus einer solchen Entfremdung von der Wirklichkeit erzeugte sich bei Kerner die ihm eigenthümliche Vor­ liebe für Beschäftigung mit Somnambulen, Geisterseherinnen und Besessenen. Es konnte aber nicht fehlen, daß, während seine Phan­ tasie 'sich mit den Nebelgestalten der Geisterwelt erfüllte, ihm sich zugleich auch das Unzulängliche und Begriffslose solcher geisterhaf­ ten Traumwesen aufdrängte, und er mit diesen, wie in dem Drama „der Bärenhüter im Salzbade," sein humoristisches Spiel trieb, ohne den Glauben an sie aufzugeben. Die „Reiseschatten" bezeich­ nen Kerner's Eigenthümlichkeit am bestimmtesten; die Anschauungen der Welt werden dem Reisenden zu Reiseschatten; das Leben ist nicht das Wahre, sondern das Streben; unser tiefstes Gefühl ist die Sehnsucht nach dem Abscheiden aus dieser Zeitlichkeit, in der unsere Seele nie zum heimathlichen Gefühle gelangen kann. Es giebt sich in den „Reiseschatten" die Mischung des Sentimentalen mit dem Phantastischen und Komischen, der romantisirende Humor zu erkennen, und Jean Paul lenkte auf dies Buch bald nach dessen Erscheinen die Aufmerksamkeit des Publicums durch ein sehr günstiges Urtheil. Obgleich in Folge der patriotischen Poesie und namentlich in Uhland durch das Anschließen an den lebendig erregten Sinn für Freiheit und Vaterland die Romantik eine realere Grundlage ge­ wonnen hatte, so siel sie doch durch Entfremdung von den Zustän­ den der Wirklichkeit immer wieder von Neuem in das Phantastische zurück, und verlor sich in das Märchenhafte und in das Nebulöse dunkler, unbestimmter Ahnungen.

d. Die phantastische Richtung.

Das Phantastische gehört der Romantik ursprünglich an, und ging hervor aus der Art und Weise, wie sie die Zustände der wirk­ lichen Welt contrastiren ließ mit den Ahnungen und Träumen ei­ ner idealen Weltanschauung. An die Stelle der Tiefe trat Trüb-

550

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

heit, und die Wirksamkeit der Phantasie ward eine dämonische.

Das Phantastische zeigte sich zuerst in dem Streben nach dem Mär­

chenhaften, das

die prosaische Bedingtheit willkürlich

durch

das

Wunderbare aufhebt; es wurde in Novalis zum Geisterhaften, in Werner zum Fatalistischen, in Kleist zum Somnambulen und Traum­ wachen, in Kerner zum Gespenstischen, und löste sich zuletzt durch

das principlose Durcheinanderschwanken der Ideen in den Nihilis­ mus vollkommenster Willkür auf.

Bei der Unfähigkeit, in Natur

und Wahrheit das Hauptinteresse zu suchen, machte sich der Trieb

geltend, dasselbe zu erregen durch Verzerrungen. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, 1776 zu Königs­

berg in Ostpreußen geboren, studirte daselbst die Rechte, ward 1800 Regierungs-Assessor in Posen, 1802 Rath in Plotzk und 1803 in

Warschau, wo er mit Werner und Hitzig bekannt wurde.

Mit

Vorliebe trieb er Musik und zeichnete Carricaturen. Als 1806 durch

die Franzosen die Regierung in Warschau aufgelöst war, mußte Hoffmann, da er ohne Vermögen war, seine musikalischen Kennt­

nisse als

Erwerbszweig benutzen.

Er wurde 1808 Musikdirector

beim Bamberger und 1813 beim Dresdener Theater.

Im 1.1814

erhielt er in Berlin eine Anstellung, ward 1816 Rath beim Kam­ mergericht, und starb 1822.

In Hoffmann gewann die Romantik

einen durchaus dämonischen Charakter, und artete in Zerrbilder der schrankenlosesten

Phantastik

aus.

Musik bilden

Wein und

die

Hauptmomente seiner dämonischen Romantik, die beide ihn zu ei­ nem geheimen Geisterbunde emporhoben.

Hoffmann pflegte nach

strenger Erfüllung seiner amtlichen Pflichten sich dem ungebunden­ sten Leben hinzugeben, und feierte in dem ausgelassensten Weinge­

nuß wilde Orgien; in diesem Zustande fand seine dichterische Be­

geisterung Nahrung, und seine Phantasie, in das Wunderland des Ueberirdischen hinausgerückt, erfüllte sich mit den verschiedenartigsten

Bildern, Gestalten, Figuren und Erscheinungen, und trieb ihr Spiel mit gespenstischen Wesen

und

den wunderlichsten

Spukgestalten.

Das Ideale geht über ins Magische, das Magische ins Hcrenhafte

und Koboldartige,

der Spuk in Wahnsinn,

der Wahnsinn ins

Diabolische, und der Dichter im Zustande des Außersichseyns wird

sein eigener Doppelgänger; im Schreck dieser Doppelgängerei wer­

den die beiden Welten der gemeinen und höheren Wirklichkeit zu gespenstischem Spuk verdreht.

und Nachtstücke aus einem

Es gingen Hoffmann's Phantaste-

überreizten Nervenleben hervor,

fein Dichten war eine Art geistiger Schwelgerei.

und

War die Geistes-

551

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

trunkenheit vorüber, dann folgte die Abspannung, und es spricht sich

die Zerrissenheit eines verunglückten inneren Menschen aus.

Ueberall

treten Spuren hoher geistiger Begabung hervor, die aber bei dem

Vorherrschen phantastischer Ueberspannung nicht zur rechten Wirk­

samkeit gelangen kann; mehrfach dringt ein besserer Geist aus der chaotischen Verzerrung hervor, und Einzelparthien sind des größten Meisters würdig.

Die „Phantasiestücke in Callot's Manier" (1814)

waren das erste Erzeugniß von Hoffmann's humoristischem Talente;

er bezeichnet selbst sie als Fulgurationen seines Enthusiasmus; sie sollen seine eigenen musikalischen Leiden und Freuden in Kreisler's Person darstellen.

In den „Elixiren des Teufels" (1816) breitete

sich die Phantastik des Grauenvollen in ihrer ganzen Ueberspannung

aus.

Mehrere ironisch-satirische Dichtungen, wie „Klein Zaches"

(1819), „Lebensansichten Katers Murr" (1820), „Meister Floh"

(1822) sind höchst ergötzlich; doch

wird durch die märchenhafte

Wunderbarkeit die komische Wirkung nur zu oft gestört.

Die „Serapionsbrüder" (1819—21) enthalten mehrere ansprechende Erzäh­

lungen, die in der Erfindung, wie in der Entwickelung und Dar­

stellung klar und einfach sind. Clemens Brentano, geboren zu Frankfurt a. M. 1777, war der Sohn eines reichen Kaufmannes; seine Mutter war eine

Tochter von Sophie v. Laroche, der Cousine und ersten Geliebten

Wieland's; seine Schwester Bettina gab sich schon in früher Jugend einem schwärmerischen Naturdienst hin.

Früh verlor Brentano seinen

Vater, und wuchs ohne häusliche Erziehung, ohne väterliche Leitung und ohne Schulbildung auf, und wurde dann hineingerissen in den

wilden Strudel des Universitätslebens.

Seine sinnliche Natur, sein

allzuweiches Gemüth, dabei ein gewisser geistiger Egoismus sanden

in seiner Jugend keinen Widerhalt in seinem Charakter.

Er stu-

dirte in Jena, und hielt sich später theils hier, theils in Frankfurt

a. M., theils in Heidelberg, Wien und Berlin auf.

Im I. 1805

verheirathete er sich mit der von ihrem ersten Gatten geschiedenen Dichterin, Sophie Mereau, die ihm im nächstfolgenden Jahr durch

den Tod entrissen wurde.

In Heidelberg gab er in Gemeinschaft

mit Achim v. Arnim „des Knaben Wunderhorn" (1806) heraus,

eine Sammlung alter Volkslieder, welche den bedeutendsten Im­ puls gab zu der literarhistorischen Thätigkeit für unsere Volkspoe­

sie.

Es

gefiel sich aber Bretano

zu sehr in den dämmerhaften

Regionen romantischer Traumgebilde, und gab sich einer egoistischen

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Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Geistesschwelgerei hin, ohne in derselben Befriedigung zu gewinnen. Er verstand die Zeit nur in ihrer Unruhe aufzufassen; sie erschien ihm in schwankender Haltungslosigkeit, weil er selbst schwankte und nirgends auf dem Boden sicherer Ueberzeugung ruhte. Der Gegen­ satz, in welchem sein ironisch zersetzender Verstand sich zu seinem kindlichen Gemüth und seiner üppigen Phantasie befand, störte die ruhige Entwickelung seines reichen Geistes und schönen Talents, und ließ ihn mit sich und seinen Umgebungen zerfallen, so daß er im letzten Abschnitt seines Lebens sich mit glühender Liebe an die Tröstungen der Religion klammerte und sich ganz in die Tiefe sei­ ner Reue und Zerknirschung versenkte. Im Jahr 1818 ging er zur katholischen Kirche über; der Welt entsagend wählte er ein Kloster im Münsterschen zu seinem Aufenthalte, und begab sich 1822 nach Rom, wo er als Secretair bei der Propaganda eine Anstellung sand; diese Thätigkeit setzte er auch später in Frankfurt a. M. fort. Er starb im Jahr 1844. Brentano erregte durch seinen ersten Ro­ man „Godwi oder das steinerne Bild der Mutter" (1801) große Erwartungen, die er später nicht erfüllte. Er nannte selbst seinen Roman einen verwilderten. Bei den dunklen Stimmungen seines zerrissenen Gemüths konnte er nicht zu der höheren Klarheit des künstlerischen Schaffens hindurchdringen, und seine Neigung, die Welt poetisch zu verklären und diese poetische Verklärung selbst wieder durch ironische Schlagschatten zu verdüstern, ließ es nur zu formlosen Werken kommen, die uns in ihrer tollen Zerstörungslust unheimlich berühren. Sein Lustspiel „Ponce de Leon" (1804) zeigt die größte Zerrissenheit in Gedanken wie in der Sprache; alles ist hier in einer bunten, kreiselnden Bewegung, voll satirischen Muth­ willens, dem das rechte Ziel fehlt. In der Tragödie: „die Grün­ dung Prag's" (1815) weckt er die geheimnißvollen Schauer uralter Sagen. In seinen lyrischen Poesien weht nicht selten der Hauch der unmittelbaren Volksdichtung [’”]. Von dem poetischen Reich­ thum seines originellen Geistes zeugen am meisten seine kleineren Erzählungen und Märchen; Auszeichnung verdient besonders „die Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Nanerl." Sein Märchen „Gockel, Hinkel und Gakeleia" (1838) gehört zu dem Besten, was Brentano geschrieben hat; sonst verliert sich der Dich­ ter auch in den Märchen, indem er sein Talent mißbraucht und den Faden immer feiner ins Endlose ausspinnt, in überkünstliche Witzund Wortspiele und Allegorien, und öfter fährt ein capriciöser Ein­ fall zerstörend durch das Ganze [”*].

Achim von Arnim, geboren 1781 zu Berlin, studirte in Göttingen Naturwissenschaften; seine erste Schrift war eine „Theo­ rie der electrischen Erscheinungen," in welcher er das Uebersinnliche in allen Erscheinungen darzuthun sucht. Durch Wissenschaft wie durch Reisen gewann er eine positivere Grundlage für seine poetischen Produktionen. Die Jahre 1806 bis 1812 übten einen großen Ein­ fluß auf seine Bestrebungen aus; die Idee deutscher Volksthümlichkeit durchdrang ihn, und cs belebte ihn der Gedanke, daß durch ein religiös-sittliches Element das Vaterland von Innen heraus in der Wurzel des Nationallebens gekräftigt werden müsse. Sein Sinn für Nationalpoesien gab ihm den frischen, naiven und gemüthskräftigen Ton, welcher öfter in seinen eigenen Dichtungen anklingt. Zugleich weckte in ihm das Volkspoetische den Sinn für das Hi­ storische, das er gleichfalls in seine Dichtungen hineinzuziehen suchte. Er lebte längere Zeit in Heidelberg mit Brentano, dann theils in Berlin, theils auf seinem Gute Wiepersdorf, wo er den 21. Ja­ nuar 1831 starb. Arnim gehört zu den originellsten Talenten un­ ter yllen Romantikern; er wußte noch inniger als Novalis sich in die Natur zu versenken, und konnte weit grauenhaftere Gespenster beschwören als Hoffmann. Er besaß einen bewundernswürdigen Reichthum von Phantasie, Gefühl und Humor, die er aber nicht zu zügeln wußte, um ein größeres poetisches Ganze mit der Klarheit und Nothwendigkeit der Idee zu gestalten. Forcirte, humoristische Reflexionen greifen störend ein, und das Formlose seiner Darstel­ lungen, sowie die Neigung zum Bizarren verleiden den reinen Ge­ nuß seiner Schöpfungen. Vielversprechend beginnen seine Dichtun­ gen und gewähren oft die reizendsten Aussichten, gelangen aber zu keiner durchgreifenden Ausführung. Sein Drama „der Auerhahn" giebt in der ersten Scene das treuste Bild einer tödlichen Lange­ weile; die beiden Romane „Gräfinn Dolores" (1810) und „die Kronwächter" (1817) haben den vortrefflichsten Anfang. In dem ersteren Roman schildert der Verfasser die Poesie der Armuth und zwar einer adeligen Armuth, die er, der damals selber in großer Dürftigkeit lebte, sehr oft zum Thema gewählt hat. In den „Kron­ wächtern" wird die Zeit Kaiser Maximilian's in einen sinnreichen Zusammenhang mit den allgemein-menschlichen und nationalen In­ teressen gebracht, und die Zukunft der deutschen Volksentwickelung in großen und kräftigen Zügen angedeutet. Der Roman blieb un­ vollendet; er verliert sich in das Nebelhafte mystischer Verhüllung, und dies war überhaupt die Ursache, daß Arnim's volksthümliche

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Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

Bestrebungen nicht tiefer in die Nation eindrangrn. Unter seinen Novellen ist die werthvollste „Isabella von Aegypten" (1812), in welcher eine Jugendliebe Kaiser Karl's V. mit Gestalten des Volks­ aberglaubens durchwebt ist; das wanderschaftliche Treiben der Zi­ geuner (Egyptiens) lernen wir hier kennen, das seltsame Märchen­ volk mit seinen braunen Gesichtern, forschenden Wahrsageraugen und seinem wehmüthigen Geheimniß. Aber auch in diese Novelle drin­ gen von allen Seiten störende Elemente ein [”SJ. Bettina v. Arnim, 1787 zu Frankfurt geboren, aus dem Hause der Brentano, erhielt ihre Erziehung in einem Kloster; doch wußte sie sich den öden Klostermauern zu entziehen, um als Ersatz für unverstandenen Gottesdienst dem Strome des Herzens in der Stille der Natur zu genügen, und sie beginnt ihr eigenes, ganz eigenthümlich errungenes Naturleben. Mit dem dreizehnten Jahr verließ sie das Kloster und kam zu ihrer Großmutter Sophie La­ roche. In Göthe's Haus war sie schon früh bekannt, lebte mit seiner Mutter in vertrautester Nähe und bewahrte treu alle Details seiner Kindheit, alle Züge seines vergangenen Lebens auf. Eine eigenthümliche Liebe erwachte in ihr, dem siebenzehnjährigen Mäd­ chen, zu dem beinahe sechszigjährigen Göthe; sie liebte seine sinnliche Gestalt als das Gepräge des Dichter-Genius, und es erscheint alle Sinnengluth bei ihr als geheiligt. In ihren Briefen vom 1.1807 und 1808 schafft sie sich eine Lyrik des Ausdrucks, welche die Musik der Sprache in den reinsten Melodien ertönen läßt, und es verbin­ det sich das Wort der Liebe mit einem schwärmerischen Naturdienst. Oft liegt etwas Somnambules in Bettina's Extase; als sie Göthe zum ersten Male umarmte, da wurde sie plötzlich wie vom magne­ tischen Schlafe befallen. Scharfsinn und übersprudelnde Phantastik vereinigten sich auf eigenthümliche Weise in ihrem Gemüthe. Im Jahr 1809 war sie in München, und der Aufstand der Tyroler be­ geisterte sie für die Sache der Völkerfreiheit, und sie schrieb köstliche Hymnen in brieflicher Prosa. Später wurde der Dichter Achim von Arnim ihr Gatte, und mit ihm kam sie nach Berlin, wo sie noch jetzt sich aufhält. Sie sammelte ihre Briefe an Göthe, und gab sie heraus unter dem Titel „Göthe's Briefwechsel mit einem Kinde" (1835). Das Ganze ist durchdrungen von dem Geiste le­ bendiger Poesie; das hier geschilderte Leben ist ein poetisches, so daß sich hier die Lehre der romantischen Schule, die Einheit der Poesie mit dem Leben herzustellen, verwirklicht hat. Die Verklä­ rung des Natürlichen durch die Beziehung auf den Geist, der sich

im Stofflichen zur Erscheinung bringt, das ist Bettinen's Religion. „Die Schönheit erkennen in allem Geschaffenen und sich ihrer freuen, das ist Weisheit und fromm." In den Briefdichtungen an die Jugendfreundinn Günderode spricht sie ihre philosophischen Schwärmereien über Religion aus, sowie sie in dem „Königs­ buch," sich dem Spiele ihrer Phantasie über den freien Staat hingiebt.

2. Die an die romantischen Tendenzen sich mehr oder weniger anschließen, den Dichter. Bei den Dichtern, welche unter dem Einfluß der neuromanti­ schen Poesie standen, bleibt die Lyrik das Vorherrschende; das Epi­ sche wird durch Novelle und Roman vertreten, und für das Drama fehlt es an plastisch gediegener Darstellung, an individueller Be­ stimmtheit der Charaktere und an drastischer Wirkung der Hand­ lung. In romantischer Empsindungsweise behandelte das Epos Ernst Schulze, dessen Dichtertalent schon früh durch Ritterbücher ge­ weckt und genährt wurde. Er ward 1789 zu Celle geboren; als lebhafter Knabe zeigte er mehr Anlagen als Fleiß, und gewann die gelehrten Studien nur allmählig lieb. Im I. 1806 ging er nach Göttingen, um Theologie zu studiren, die er aber bald mit der Philologie vertauschte und mit den schönen Wissenschaften; letztere studirte er vornehmlich unter Bouterwek's Anleitung. Das Ideal des Schönen ging ihm auf in der liebenswürdigen Cäcilie, der Tochter des Professors Tychsen in Göttingen. Er sollte aber nur der Liebe tiefes Weh empfinden, da ihm die Geliebte seines Her­ zens durch den Tod entrissen wurde. Nachdem sich sein Schmerz mehr beruhigt hatte, wandte er alle seine geistige Kraft auf ein Gedicht, in welchem er seine Liebe verherrlichen wollte. Es ent­ stand die „Cäcilie, ein romantisches Gedicht in 20 Gesängen" in Wieland'schen Stanzen, das er in drei Jahren vollendete. Neben­ her dichtete er mehrere Lieder, durch welche überall sentimentale Klagelaute hindurchtönen. Eine kräftigere, männlichere Stimmung wurde in ihm durch die Freiheitskriege geweckt, an denen er als Freiwilliger Theil nahm. Nach beendigtem Kriege kehrte er nach Göttingen zurück, und in dem Gedichte: „Cäcilie" schaut der Dich­ ter auf die Heldentage zurück, und erblickt in ihnen die Gewähr einer schönen Zukunft. Aber Trübsinn bemächtigte sich wieder sei­ ner Seele, und sein Gesundheitszustand wurde bedenklich. Im

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Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Herbst 1816 machte er eine Rheinreise; nach seiner Rückkunft schwanden aber seine Kräfte in Folge eines Brustübels immer mehr dahin. In diesem leidenden Zustande schrieb er noch „die bezau­ berte Rose," welches Gedicht den in der „Urania" ausgesetzten Preis gewann. Im Jahr 1817 reiste er nach Celle, wo er am 26. Juni an seinem Brustleiden starb. Schulzens lyrische Gedichte sind der Ausdruck seiner trüben Wehmuth, und haben durch die Wahrheit der Empfindung einen entschiedenen Vorzug vor seinen romantischen Erzählungen, obgleich diese sich durch schöne Schilde­ rungen und musikalische Klangfülle auszeichnen, in ihrer Breite aber und wegen des Mangels an Handlung und Leben ermüdend sind. Was die äußere Form anbetrifft, so wußte Schulze den ganzen Wohllaut der Sprache und des Reims zu benutzen, und er hat die wohlklingendsten Verse der neueren Zeit gedichtet, daher man ihn auch wohl mit den Minnesängern verglichen hat [”6]. Wilhelm Müller, geboren 1795 zu Dessau, der Sohn ei­ nes bemittelten Handwerkers, erhielt eine sorgfältige Erziehung, die aber frei blieb von äußerem Zwange, weshalb sich schon früh in ihm ein Gefühl von Unabhängigkeit erzeugte. Die Wahl seiner Be­ schäftigung blieb ihm fast ganz überlassen, und er wandte sich von einem Lieblingsgegenstande zum anderen. Vor oberflächlicher Vielwisscrei bewahrten ihn seine seit 1812 zu Berlin begonnenen philo­ logischen und geschichtlichen Studien. Diese wurden durch den Be­ freiungskrieg unterbrochen, der ihn als Freiwilligen unter die preu­ ßischen Fahnen rief. Er nahm Theil an den Schlachten bei Lützen, Bautzen und Kulm, und kehrte 1814 nach Berlin zurück, wo er seine früheren Studien wieder aufnahm, und außerdem sich mit be­ sonderem Fleiß auf die altdeutsche Literatur legte. In den Jahren 1817 — 1819 hielt er sich theils in Wien, theils in Italien auf; 1819 ward er Gymnasiallehrer in Dessau, dann Dessauischer Hof­ rath und Bibliothekar. Er starb aber schon im Jahr 1827. Einen Theil seiner Erfahrungen auf der Reise nach Italien hat er in der Schrift „Rom, Römer und Römerinnen" (1820) niedergelegt. Sein poetisches Talent bewährte er in den „Gedichten aus den hinter­ lassenen Papieren eines Waldhornisten" (1824); es sind Lieder der Liebe und des geselligen Lebens, theils heiteren, theils wehmüthigen Klanges, meist alle im ächten Volkstone. In den „Liedern der Griechen," welche seit 1821 erschienen, feiert er mit einer feurigen, schwungvollen Begeisterung das Erwachen eines unterdrückten Volks, die Lust der im Kämpfen und Siegen neuauskeimenden

557

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Freiheit.

Müller gehört zu den vorzüglichsten Lyrikern seiner Zeit;

Innigkeit und Wahrheit der Empfindung, fröhliche Lebensansicht,

freie Bewegung der Darstellung, reger Natursinn und tiefes Gefühl für das Rechte und Gute sind die Eigenthümlichkeiten seiner lyri­ schen Muse [”’]. Adalbert von Chamisso, geboren den 27. Januar 1781

auf dem Schlosse Boncourt in der Champagne (das er in dem Ge­

dichte „das Schloß Boncourt" besungen hat), wanderte in Folge der Revolution als neunjähriger Knabe mit seiner Familie aus, und fand in Berlin ein neues Vaterland.

Er war von 1796 — 98 Leib­

page am preußischen Hofe, und trat dann in preußische Kriegs­ dienste. Mit eigenthümlichem Sinn faßte er die Erscheinungen deut­ scher Poesie

und Philosophie auf,

und eignete sich mehr

und

mehr deutsche Geistesbildung und deutschen Charakter an, so daß er

für sein Fühlen und Denken in unserer Sprache den Ausdruck sand, wie in seiner Muttersprache.

Wissenschaftliches Streben und innige

Freundschaftsverbindungen knüpften ihn immer fester an Deutsch­ land.

Mit Varnhagen v. Ense gab er 1804—6 den sogenannten

„rothen Musenalmanach" heraus.

Nach dem Tilsiter Frieden wur­

den seine Dienstverhältnisse aufgelöst; er reiste nach Frankreich, wo seine Familie einen Theil ihrer verlorenen Besitzungen wieder be­ kommen hatte, kehrte aber bald nach Deutschland zurück, und wid­

Im I. 1810 wurde

mete sich vorzüglich den Naturwissenschaften.

er als Professor nach Napoleonville berufen; er fand aber seine Er­

wartungen nicht befriedigt, und begleitete Frau v. Staöl ,nach Genf

und Coppct.

Im Jahr 1812 war er wieder in Berlin, das er sich

zum bleibenden Wohnort wählte.

Als im Jahr 1813 der große

Nationalkampf eintrat, und das Volksthum die Losung des Tages ward, da empfand Chamisso es tief, daß ihm die Nationalität fehle,

auf die er, als er sie hingab, kein Gewicht gelegt hatte.

Obgleich

er die innigste Theilnahme für Deutschland's Sache hegte, so konnte er doch die Schmach der aus Rußland zurückkehrenden Franzosen nicht verschmerzen.

Es galt jetzt den Kampf gegen ein Volk, dem

er durch Geburt und Familienbande angehörte.

Voll innerer Miß­

stimmung rief er aus: „die Zeit hat kein Schwert für mich, nur

für mich keins."

In dieser drückenden Lage schrieb er 1813 auf

dem Gute einer adeligen Familie

zu Cunersdorf seinen „Peter

Schlemihl," um sich, wie er selbst sagte, zu zerstreuen und die

Kinder seines Freundes Hitzig zu ergötzen.

Schlemihl's Schatten-

losigkeit findet sein Gegenbild in Chamisso's trüber Erfahrung von

558

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

seiner Vaterlandslosigkeit; auch seine Schuld bestand, wie dieSchlemihl's, in der Veräußerung eines Guts, das er nicht achtete, als er es hingab. Die Entbehrung desselben in einer Zeit, wo für dies Gut der denkwürdigste Kampf entbrannte, ließ es den Dichter schmerzlich empfinden, daß der Kosmopolitismus für den Verlust des Vaterlandes nicht entschädigen könne. Wie Chamisso den armen Schlemihl endlich durch große Reisen und durch Be­ schäftigung mit der Natur die Ruhe gewinnen läßt, so suchte er selbst in dem größeren Weltverkehr innere Beruhigung. Vom Jahr 1815—18 nahm er als Naturforscher an einer Entdeckungsreise Theil, die der Graf Romanzow veranstaltete. Viele Mühsale hatte Chamisso während dieser Zeit zu bestehen; zu der Entbehrung aller geistigen und körperlichen Pflege kam die schlechte Behandlung von Seiten der russischen Schiffsmannschaft. Dennoch gab er sich mit der regsten Theilnahme allen Erscheinungen hin, in denen ihm Menschliches und Lebensfrisches entgegen trat. Der Naturzustand der Wilden entzückte ihn, und sein Dichterherz wurde für die Zu­ stände und Gefühle der farbigen Naturkinder entflammt. Chamisso's „Bemerkungen und Ansichten" auf dieser Reise enthalten die schätz­ barsten Beiträge zur Länder- und Völkerkunde. Nach seiner Rück­ kehr ward Berlin wiederum sein Wohnsitz; er wurde zum Mitglied der Akademie und zum Custos des botanischen Gartens ernannt, und starb den 21. August 1838. Chamisso hatte alles der Welt abgerungen, sich alles mühsam erobert, selbst das Vaterland, und es bildete sich in ihm, bei aller Milde und liebevollen Sanftheit eine kraftvolle, biedere und ehrliche Natur aus. Die Ursprünglich­ keit der Gesinnung in Haß und Liebe, in Rache und hingebender Treuherzigkeit ist der innerste Nerv seiner Poesie, welche, meistens in der Sphäre des wirklichen Lebens sich bewegend, Vorfälle und Begebenheiten darstellt, und daher einen vorherrschend epischen Cha­ rakter hat. Alle Länder und Geschlechter der Erde haben dem Dich­ ter lebendige Bilder zugeführt; überall hat er der Stimme der Natur gelauscht und ihre Töne wieder gegeben; überall begegnet uns das Ursprüngliche, das Starke, das Selbstgeschaute in seiner eigenthümlichen Gestaltung und Urkraft. Auch die eigentlichen ly­ rischen Gedichte Chamisso's haben eine epische Grundlage, indem bestimmte Personen als Träger der Empfindungen des Dichters er­ scheinen. Gleich am Anfänge des dritten Bandes finden wir eine größere Reihe solcher Gedichte: „Frauenliebe und Leben," „Thrä­ nen," „die Blinde," „Lebenslieder und Bilder." In diesen und

des 18, Jahrhunderts Lis zur Gegenwart.

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ähnlichen Gedichten tritt die reine, tiefe und gemüthliche Natur Chamisso's am reinsten hervor. Die schönen Züge seines edel und wahr empfindenden Gemüths finden wir, wenn er sich, wie im „Frühling," seines jugendlichen Herzens erfreut, das er sich durch alle Stürme des Lebens hindurch bewahrte, oder wenn er fest an den Blüthen der Gegenwart hängt, von denen er für die Zukunft die schönsten Früchte vertrauensvoll hofft („der alte Sänger"). In seinen Balladen und poetischen Erzählungen wendet er sich mit Vorliebe solchen Stoffen zu, in denen sich die menschliche Natur in ihrer finstersten Leidenschaftlichkeit, in ihrem bittersten Schmerze zeigt. Unter diesen Gedichten war „Salas y Gomez" dasjenige Erzeugniß, das mit dem größten Beifalle ausgenommen wurde. Hier tritt Chamisso's Richtung auf das Entsetzliche und Grauenhafte in vollem Maaße hervor. Auch in anderen Erzählungen führen uns schauerliche Nachtstücke, Gespenstergeschichten und Räuberscenen in­ dividuelle Lagen des Lebens vor, die aber, entblößt von der Ideali­ tät des Allgemein-Menschlichen, keine poetische Wirkung ausüben können. Solche Gedichte enthalten oft nur Anekdoten, und wie bei Chamisso der Ernst in den Situationen liegt, ebenso der Scherz, der sich in Schnurren und Anekdoten ganz burlesk gestaltet, wo es, da weiter keine ideale Bedeutung abzugewinnen ist, bloß auf die Pointe ankömmt. Die poetische Form beherrschte Chamisso mit gro­ ßer Kraft und Gewandtheit; besonders weiß er durch die Behand­ lung der Terzine die schönste Wirkung hcrvorzubringen, indem er in dieser Form bei der heftigsten Bewegung der Darstellung epische Ruhe zu verleihen weiß [”8]. Joseph Freiherr von Eichendorff, gebärenden 10. März 1788 in Lubowitz bei Ratibor, studirte 1805 —1808 die Rechte in Halle und Heidelberg, bereiste dann das südliche Deutschland und hielt sich längere Zeit in Wien auf. Im Jahr 1813 trat er als freiwilliger Jäger in die Reihen vaterländischer Streiter und nahm an den Feldzügen nach Frankreich Theil. Nach Beendigung des Kriegs war er im Staatsdienste thätig, seit 1816 zuerst in Bres­ lau, dann in Königsberg und Berlin, wo er noch als Regierungs­ rath in geachteter Stellung lebt. Eichendorff ist eine durchaus ly­ rische Natur; bei einem tiefen, innigen Gefühle ist der Kreis seiner poetischen Anschauungen nicht umfangsreich. In frischester Lebens­ lust läßt er seine Naturlieder erschallen, und über Alles reizt ihn die Wanderlust, wie den Vogel, wenn sich unversehens sein enger Käsig aufthut. Der Drang über Berg und Thal ist sein eigentli-

560

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

ches Element, das grüne Schlesien gab ihm Gesundheit des Gei­ stes, der katholische Glaube Inbrunst, sein Herz gab ihm die Ein­

falt, die in einer nicht krankhaft überreizten Naturschwärm'erei er­ klingt.

Sein ächt deutsches, gläubiges Herz vergißt im regsten und

reichsten Leben der Fremde niemals die Heimath mit ihren schauer­

lichen Wäldern und Nachtigallenbüschen.

Eichendorff stimmte in

den Jahren 1810, 1813 und 1815 auch einige kräftige Kriegs­ lieder an; in seinen Romanzen aber, und in Novellen und Dra­ men verliert er sich leicht in lyrische Ueberspanntheit und Gestaltlo­

sigkeit; es fehlt ihm die Kraft und Stärke einer lebenschaffenden,

gestaltenbildenden Phantasie.

„Ahnung und

In seinem Roman

Gegenwart" (1815), den zuerst Fouqu« eingeführt hat, ist das ly­

rische

Element

vorwaltend;

Geist

und Richtung

der Zeit

bil­

det das Grundthema. In der Novelle „Krieg den Philistern" (1823) tritt der romantische Humor der behaglichen Selbstgefällig­ keit oberflächlicher Mittelmäßigkeit entgegen.

Eichendorff's Ironie

ist aber immer gemüthlich und nicht verwundend.

In der Novelle

„Aus dem Leben eines Taugenichts" (1826) wird das lyrische Be­

hagen als das höchste Lebensideal humoristisch gefeiert, und über das Ganze breitet sich in reicher Fülle der eigenthümliche Duft der

Romantik aus.

Inniges Naturgesühl, poetischer Uebermuth, unbe­

fangene Sorglosigkeit sind hier die Hauptelemente.

In der histori­

schen Tragödie „Ezzelin von Romano" (1828) hat Eichendorff sich Schiller's Wallenstein zum Vorbild genommen.

In der Novelle

„Dichter und ihre Gesellen" (1834) ist das Wandern und Ziehen

ein Hauptthema; dichterische Naturen, Charaktere, voll von eigener

Poesie oder den Phantasien der Zeit, werden in verschiedenen Le­ benslagen an uns vorübergeführt [”•].

Leopold Sch efer ward den 30. Jul. 1784 zu Muskau in der Niederlausitz geboren; sein Vater war Arzt und seine Mutter die Tochter eines Geistlichen. Früh und leicht erlernte der junge Schefer mehrere lebende Sprachen, erhielt daneben auch Unterricht in den alten Sprachen und in der Musik,

ßer Vorliebe zuwendete.

der er sich mit gro­

Seine Schulbildung

vollendete er

auf

dem Gymnasium zu Bautzen, von wo er nach dem Tode seiner

Mutter in die Heimath 'zurückkehrte.

Von dieser Zeit an blieb er

in der Familie des Graf-Fürsten Pückler zu Muskau, und gab sich theils den Studien der Dichter hin, besonders des Homer und Sha­ kespeare, theils machte er kleinere und größere Reisen, und fand

überall für seine geistige Ausbildung fruchtbringende Anregungen.

Als der Graf Pückler 1813 an dem Krieg Theil nahm, ward Schefer dessenDeneralbevollmächtigter, der als solcher eine umfassende Thä­ tigkeit entwickelte. Außerdem verfolgte er eifrig die schon früher betretene Dichterlaufbahn, und erhielt hierzu durch die nähere per­ sönliche Verbindung mit Clemens Brentano und Weisflog vielfache Aufmunterungen. Nach den Freiheitskriegen gewann er durch den Grafen Pückler die Mittel zu Reisen; er widmete sich vorzugs­ weise der Musik, und um sich in dieser Kunst auszubilden, begab er sich nach England, dann nach Wien, wo er unter Haydn und zuletzt unter Salieri den Contrapunkt studirte. Sein Reiseleben führte ihn weiter nach Rom und dem Orient, und auf den ver­ schiedenartigen Studien, denen er sich hingab, baute sich seine lite­ rarische Eigenthümlichkeit auf. Im 1.1820 kehrte er nach Deutsch­ land zurück, und fand in einer glücklichen Ehe reiche Freude, und im poetischen Schaffen innere Befriedigung. Er schloß sich mehr und mehr in seinem Muskau von der übrigen Welt ab, und hielt sich fern von dem literarischen Treiben der politisch bewegten Zeit. Begnügung ist der Wahlspruch seines Lebens; das Weib, die Ehe, die Mutter sind die Lieblingsthemata, in die er sich vertieft. In seiner Weltbetrachtung zeigt er sich als einen Geistesverwandten Jean Paul's, mit dem er auf eine durchaus originelle Weise die Fülle von Gedanken und Gefühlen theilt; auch sein Stil ist ost an Blumen und Blüthen reich und überschwänglich, und wird nicht selten geheimnißvoll und räthselhaft. Das menschliche Herz ist Schefer's Gebiet; seine Novellen und Romane führen in die Tiefe des Gemüths, und Gedankenschwere ist ihnen eigenthümlich. Sie verlassen die feste Basis des Wirklichen, und führen in eine Ideen­ welt ein, die ihre Wahrheit für sich hat im Gegensatz der Erschei­ nungen der Wirklichkeit. In den Novellen (1825 —29, 5 Bde.); „Neue Novellen" 1831—35, 4 Bde.) überläßt sich Schefer oft einem phantastischen Humor, der ihn der wahren Wirklichkeit ent­ fremdet, aber dafür im Gebiet der Traume um so glänzender und farbenreicher erscheinen läßt. Als lyrischer Dichter zeigt Schefer die still sinnende Contemplation eines reichen Herzens, und giebt in seinem „Laienbrevier" (1834) die Summe seiner dichterischen Le­ benserfahrungen in einer Reihe von didaktischen Sprüchen, ohne die inneren Lebenskämpfe zu zeigen, aus denen die beruhigten Ergeb­ nisse gewonnen sind. Alle Erscheinungen sind dem sinnigen Dich­ ter mit einem ewigen Sonnenglanze umflossen, durch welchen die Eontraste gemildert werden und die Gegensätze sich in Harmonie Blese deutsche Literaturgeschichte. II. 36

562

Zweite Periode.

verschmelzen.

Die Liebe eröffnet ihm das tiefste Geheimniß, ihr ist

Von dem ersten Viertel

das Fernste nah und das Größte, Gott selbst, liegt in ihr offen da.

Alles ist Offenbarung des guten Geistes, nichts ein Abfall von dem Gott, der der Gute heißt; alles trinkt vom Becher der Freude, und nur daß er überschäumt, ist der Schmerz der Seele, die sich in der

Fülle der Lust berauscht und vergißt.

Die Eintönigkeit der fünf­

füßigen reimlosen Jamben entspricht der einförmigen, keuschen Stille des Klosters, wo ein der Welt und ihrem Zwiespalt entfremdeter, reiner Geist seine Andachtsübung hält [,80j.

Adam Oehlenschläger, geboren 17'79 in Kopenhagen, ver­ lebte seine Jugendjahre auf dem Schlosse Friedrichsberg, wo sein

Vater Schloßverwalter war.

Er erhielt eine sorgfältige Erziehung,

und studirte seit 1800 in seiner Vaterstadt die Rechte, verließ aber

bald nachher die juristische Laufbahn, und machte auf Kosten der dänischen Regierung eine Reise durch Deutschland, Frankreich und

Italien.

Nach seiner Rückkehr erhielt er 1811 die ehrenvolle An­

stellung eines Professors der Aesthetik an der Kopenhagener Univer­

sität und eines Mitdirectors der Königl. Bühne.

Im Jahr 1815

wurde er Doctor der Philosophie, und 1827 ordentlicher Professor.

Oehlenschläger hatte mehr mit emsig schaffendem Fleiß, als mit dem Drange des Genies an deutschen Mustern sein Talent genährt und

entwickelt, und ohne eigentliche Schöpfungskrast war er von fremden Mustern abhängig.

Anfangs sich an Kotzebue und Jffland an­

schließend, ward er nachher von Göthe und Schiller angeregt, und

dann durch seinen Landsmann Steffens der Romantik zugeführt. Das Eigenthümlichste an ihm ist seine Märchenphantasie; in dem

Märchendrama „Alladdin" (1808) hat er Tieck zn seinem Vorgän­ ger, mit dem er auch die humoristischen Hinblicke auf die Wirklich­

keit theilt [’8 *].

Außerdem schrieb er mehrere scandinavische Trauer­

spiele, in denen das dramatische Leben durch rhetorischen Prunk verkümmert wird; am meisten Ruf erhielt er in Deutschland durch

sein Künstlerdrama „Correggio" (1816).

Seine erzählenden Dich­

tungen und lyrischen Versuche haben geringen Werth.

In Däne­

mark verbreitete Oehlenschläger den Geschmack an dem Romanti­ schen, und gerieth darüber in heftige Streitigkeiten mit Baggesen, welcher manche schwache Seite seines Gegners schonungslos auf­

deckte [’•*]. Heinrich Steffens wurde den 2. Mai 1773 zu Stavan­

ger in Norwegen geboren, wo sich sein Vater, Districtschirurg in Odstheerred, zur Errichtung eines Krankenhauses aufhielt.

Jm J.

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

563

1779 kam sein Vater nach Helsingör, wo der junge Steffens die gelehrte Schule besuchte. Er wurde wegen seines lebendigen reli­ giösen Gefühls und seiner Rednergabe, die er früh zeigte, zum Theo­ logen bestimmt; aber schon damals ward er von inniger Liebe zur

Erforschung der Natur beseelt.

Als sein Vater 1785 nach Rös-

kilde, und 1787 nach Kopenhagen versetzt wurde, wußte sich der

junge Steffens durch Privatfleiß in seinen Kenntnissen der Natur zu fördern. Epoche in seinem Leben machte Büffon, durch welchen

er für die Naturwissenschaft gänzlich gewonnen wurde.

Er studirte

1790 in Kopenhagen, ließ sich 1794 von der Gesellschaft für Na­

turforscher prüfen, machte Reisen durch Norwegen, kam auch nach Deutschland, und begab sich 1796 nach Kiel, wo er Vorlesungen über die Naturgeschichte hielt. Als aber der Hang zur Spekulation

in ihm erwachte, und Spinoza's Philosophie ihn mit sich selbst in

Zwiespalt gesetzt hatte, da trieb ihn geistige Unruhe und wissen­ schaftliche Sehnsucht nach Deutschland, um in deutscher Philosophie

und Poesie für sein heißes Streben Befriedigung zu finden.

Er

ging nach Jena, wo er durch Schelling die bedeutsamsten Anregun­

gen für seine naturphilosophische Richtung erhielt.

Durch den Mi­

neralogen und Geologen Werner wurde er in Freiberg in die Tie­ fen der Erdbildungen eingcsührt, und schrieb hier seine „Beiträge

zur inneren Naturgeschichte der Erde."

Er kehrte 1802 nach Ko­

penhagen zurück, wo seine Vorlesungen allgemeine Theilnahme er­ regten.

Er sollte aber bald durch Gegner seine Thätigkeit gelähmt

sehen, und gerne folgte er daher 1804 einem Rufe zu einer Pro­ fessur nach Halle.

Hier machte die unglückliche Jenaer Schlacht

seiner Wirksamkeit ein Ende; noch vor dem Ausbruche des Krieges

ließ er die „Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft" drukken, und gab sich enthusiastisch und thätig eingreifend an die große

naturphilosophische Bewegung hin. Auf eigenthümliche Weise ver­ band sich in ihm die dichterische und wissenschaftliche Begabung, und es ging die Romantik, das stete Verlangen nach innerer Sät­ tigung, das Suchen eines sicheren Mittelpunkts in sein innerstes Wesen über.

Zwischen den beiden neuen Richtungen der Natur­

philosophie und Romantik, die gegen Ende des vorigen Jahrhun­ derts herüber und hinüberschwankten, führte er eine bestimmtere Ver­

mittelung herbei, und war bestrebt die naturphilosophische Spekula­ tion in die Fülle

positiver

Naturkenntnisse

hinüberzuleiten.

Es

machte sich aber bei ihm stets das Element der romantischen Dich­ tung geltend; getheilt zwischen poetisirender und theoretisirender Rich-

36*

564

Zweite Periode. Von dem erste» Viertel

tung bewegte er sich mehr in geistreichen Phantasien als in einem gediegenen System gründlicher Gedanken. Steffens hatte nun in Deutschland eine neue Heimath gewonnen, und nahm von ganzer Seele an Allem Theil, was die Männer der That im Stillen zur Befreiung von dem Druck einer fremden Herrschaft vorbereiteten. Im Herbst 1811 ging er als Professor nach Breslau, wo er durch seine Vortrage die höchsten Erfolge erlangte. Mit dem lebendigsten Eifer nahm er an dem Enthusiasmus des Volks Theil, als die Stunde der Befreiung erschien. Mit begeisternden Anreden wandte er sich an die Jugend, trat selbst in die Reihen der Freiwilligen und kämpfte mit bis zur Einnahme von Paris, worauf er seinen Abschied und das eiserne Kreuz erhielt. Als er nach Beendigung des Kriegs seiner eigenthümlichen Thätigkeit wiedergegeben war, gerieth er gleich in den ersten Jahren des Friedens, den leidenschaft­ lichen Eiferern des Deutschthums gegenüber, in Streitigkeiten über das Turnwesen. Indem er das Ziel einer ruhigen, gemessenen Ent­ wickelung im Auge hatte, konnte er die Ueberschwänglichkeit in den vaterländischen Bestrebungen nicht theilen, und dies um so weniger als er durch den Fanatismus einer drängenden Jugend erschreckt ward. Von der Partei, der er selbst angehört, die er selbst mit hervorgerufen hatte, mit bitterem Haß verfolgt und als Verräther an einer heiligen Sache gescholten, sah er sich auf sich selbst und in die innere Welt seiner Gedanken gewiesen, und als ein Mann der Zukunft blickte er über allen leidenschaftlichen Parteieifer hinweg; seinen dichterischen in die Ferne schweifenden Geist drückte die Ein­ seitigkeit der Männer der That als eine Last. Doch fühlte er bei der freien Weite seiner begeisterten Hoffnung die Nothwendigkeit eines zusammenhaltenden Mittelpunkts; der fromme Glaube seiner Kindheit kam ihm zur Hülfe, und beseelt von dem Gedanken eines innigen Anschlusses an eine bestimmte Kirche, trat er in Verbindung mit dem Professor Scheidet, der sich in Folge der seit 1817 in Preußen begonnenen Unionsversuche als entschiedener Gegner jegli­ cher Kirchenvereinigung zeigte. Aber auch hier erlebte Steffens dasselbe, was ihm schon früher wiederfahren war. Die prakti­ sche Hartnäckigkeit, die nothwendige Einseitigkeit seiner neuen Freunde stand seiner Idee von einer frei sich entwickelnden, in freier Entwickelung zur Vollendung bestimmten Kirche entgegen. Er schied auch hier aus, und zog sich nochmals in seine eigenthümliche Welt zurück. Die reiche Entwickelungsfähigkeit seines Geistes, in dem sich Kunst, Natur, Religion und Geschichte zu den fruchtbarsten und

des 18. Jahrhunderts Lis zur Gegenwart.

665

vielseitigsten Beziehungen umfaßten, offenbarte sich in zwei gehalt­ vollen Schriften „die gegenwärtige Zeit, und wie sie geworden" (1819) und „die Caricaturen des Heiligen" (1819, 21); sie wa­ ren die freisinnigsten Thaten seines schriftstellerischen Lebens. In der ersteren Schrift that er tiefe Blicke in das Zeitverhältniß, und in der zweiten stellte er ohne Rückhalt die Verzerrungen des Edel­ sten im menschlichen Leben nach allen Seiten hin dar, und wies auf die Religion, als die reine Quelle aller Sittlichkeit hin. Im Jahr 1821 erschien auch seine „Anthropologie," welche als die be­ deutendste Schrift aus seiner Naturphilosophie hervorging. Es wurde ihm indeß immer mehr ein Bedürfniß, theils in dichterischen Darstellungen, theils in unmittelbaren Selbstbekenntnissen die bezie­ hungsreichen Verhältnisse seiner Persönlichkeit zur Zeit darzulegen. Seit 1827 erschienen seine Novellen, zuerst „die Familie Walseth und Leith," in welcher die geistigen und literarischen Bewegungen des 18. Jahrhunderts die Grundlage bilden; es ist eine poetische

Anthropologie des vorigen Jahrhunderts. In den „vier Norwe­ gern" bildet die neueste Zeit, wie sie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den bedeutsamsten Verhältnissen entwickelt hat, den Mittelpunkt. Die vier Norweger stellen die eigene Entwickelungs­ geschichte des Verfassers in verschiedenen Persönlichkeiten dar, haupt­ sächlich seine Betheiligung an den Bestrebungen der Naturphiloso­ phie und Romantik. Auch in „Malcolm" (1831), wo das nordische Heldenthum mit moderner Bildung versetzt erscheint, tritt die Per­ sönlichkeit des Dichters nicht ganz in den Hintergrund [,8$]. Mit besonderer Vorliebe weilt Steffens in seinen poetischen Anschauun­ gen auf dem skandinavischen Norden; die wissenschaftliche Befriediguug hatte ihn zum Deutschen gemacht, aber die Sehnsucht nach den Felsen und Buchten seiner Heimath verließ ihn nie, und sie führte zu den lebensvollen Bildern von den Landschaften Norwegens,

die an Reiz des Gegenstandes und Lebhaftigkeit der Anschauung wahre Musterschilderungen sind. Was die Kunstform der Novellen von Steffens anbetrifft, so wird ihre Wirkung durch den Mangel an Einheit der Darstellung gar sehr geschwächt; die Erzählungen verwirren sich labyrinthisch durch Anhäufung von Episoden auf Epi­

soden, durch Abschweifungen und alle nur möglichen Kreuz- und Querzügc; immer aber bleibt der gedankliche Werth bedeutend. Im Jahr 1834 wurde Steffens als Professor nach Berlin berufen, nachdem er schon früher dem damaligen Kronprinzen von Preußen in BreSlau war persönlich bekannt geworden. Es wurdet für ihn

566

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

eine Professur in Berlin ganz neu begründet; doch die Blüthe sei­ ner Wirksamkeit hatte Steffens in Breslau gehabt, und er ver­ mochte in seiner neuen Stellung keine besondere Macht mehr über die strebenden Geister zu gewinnen. Seine Novelle „die Revolu­ tion" (1837) laßt das reactionäre Bestreben auf bestimmte Weise hervortreten. Aus der großartigen nordischen Gebirgswelt, in die uns Steffens in seinen früheren Novellen versetzt, führt er uns in eine prosaische Verständigkeit einer entsittlichten Civilisation, und in­ dem er das Princip der Revolution als absolut schlecht darstellcn will, singirt er seinen Stoff, sich wohl hütend, den großen Bewegun­ gen der Geschichte näher zu treten, und bei der heftigen Opposition gegen die Richtungen der Gegenwart ist das Leidenschaftliche vor­ herrschend. Es wußte sich aber Steffens aus den drohenden Ver­ wickelungen der Zeit und den Wirrnissen der Gegenwart immer wie­ der aufzurichten an der Hoffnung auf eine schönere Zukunft, und daß diese sich in der Gestaltung des politischen und kirchlichen Lebens verwirklichen werde, war ihm nicht zweifelhaft; sie ging aus seiner religiösen Glaubenszuversicht hervor, die ihn auch im Alter noch immer jung erhielt. In seinen letzten Jahren seit 1840 verfaßte er die Schrift „Was ich erlebte," [”*], in welcher er die reichen in­ neren Erfahrungen seines Geistes in Wissenschaft und Leben mit liebenswürdiger Redseligkeit, geistreicher Darstellung und stark her­ vortretender Subjectivität vor Augen legt. Nicht lange vor seinen Tode schickte er den letzten Band dieser seiner Denkwürdigkeiten zum Drucke ab, und er äußerte, daß, nachdem er auch diese Auf­ gabe nun vollführt habe, er nicht mehr wisse, was er noch im Le­ ben beginnen solle. Er starb den 13. Febr. 1845. Steffens hat mit der gluthvollsten Empfindung und mit großer Energie des Gedan­ kens auf phantasiereiche Weise das Leben zu umfassen getrachtet. Er nimmt eine ihm eigenthümliche Stellung in der Literatur ein; er ist ein Philosoph, der Poet, und ein Poet der Philosoph ist; allein während er, auf philosophischem Gebiete in die Poesie hin­ übergreifend, dem Gedanken Abbruch thut, hat er in der Poesie wieder nur Geltung seiner philosophischen Gedanken wegen. Er führte die romantischen Tendenzen in die Wissenschaft hinüber, und wollte die Wissenschaft zur Dichtung, und diese zu jener umbilden.

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. III.

567

Die Uebergänge zur neuesten Zeit.

Die Gestaltung der literarischen Gegenwart wurde vornehmlich in den 20er Jahren während der Zeit der politischen Reaction vor­ bereitet, und erzeugte sich in allmähligen Uebergängen aus den Be­ strebungen der Romantik, indem sich aus diesen sowohl das natio­ nale als auch universale Moment immer bestimmter herausbildete. Wie die Romantik ihre Aufgabe, der Schiller-Götheschen Zeit ge­ genüber, durch die Kritik erst feststellte und hierauf die Production nachfolgen ließ, auf ähnliche Weise bahnte und ebnete sich die Lite­ ratur der Gegenwart ihre Wege. Die Aufgabe und der Fortschritt der Zeit bestand in einer immer vollkommeneren Ausgleichung der bestehenden Zustände mit den allgemeinen Forderungen der Men­ schenrechte, um eine als disharmonisch erkannte Wirklichkeit mit ihrer Idee immer concreter zu vermitteln. Die auf das Nationale sich stützende politische Weltanschauung ward die innerste Triebkraft in dem Gestaltungsproceß der neu sich bildenden Literaturepoche. Vorbereitet wurde sie von Seiten der Kritik durch Wolfgang Menzel und durch Börne, und zugleich als Dichter der neuen Bewegung trat Heine hinzu. Es gaben sich damals die Stokkungen des öffentlichen Lebens in mancherlei Armseligkeiten der Ge­ sellschaft zu erkennen, die sich in der Literatur zum Theil inClauren s Erzählungen und Romanen reflectirten, und außerdem in dem einseitigen Enthusiasmus am Theaterwesen hervortraten. Während W. Hauff („derMann im Monde") 1826, gegen die schlaffe Novellistik seine satirische Polemik richtete, machte S a p h i r in der niederen Sphäre des Wortwitzes die Theaterpasstonen zur Zielscheibe seines Spottes. Je trostloser die socialen und politischen Zustände waren, um so mehr stei­ gerte sich die Mißstimmung, und es hatte die Zerrissenheit jener Zeit ebenso sehr innere Wahrheit, als die Wertherstimmung im achtzehnten Jahrhundert. Den patriotischen Bestrebungen, in de­ nen sich das nationale Bewußtseyn geltend machte, trat anderer­ seits die Richtung auf das Universale gegenüber, und stellte sich in

zwei Dichtern dar, in Rückert und Platen, welche auf dem Standpunkte rein poetischer Vermittelung auf eine freie Weise, ohne romantische Ueberspannung, sich in die Erscheinungen der Natur und des Menschenlebens vertieften, und wie in Rückert sich die Weltli­ teratur Ausdruck verschaffte, so drängte sich in Platen der Welt­ schmerz hervor. 1.

Menzel.

Börne.

Heine.

Wolfgang Menzel, geboren den 21. Juni 1798 zu Wal-

568

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

denburg in Schlesien, kam erst 1814 auf die Elisabethschule nach Breslau, wo er sich eifrig der Turnkunst widmete. In den Jah­ ren 1818 — 20 studirte er in Jena und Bonn Philosophie, er kam 1820 nach der Schweiz und wurde in Aarau erster Lehrer an der Stadtschule. Seine literarische Laufbahn eröffnete er 1823 mit den „Streckversen" [7SS], worauf im folgenden Jahr die „Europäischen Blätter" erschienen; hier wie dort kündigte sich die neue Zeitstim­ mung in einem schonungslosen Vernichtungskampfe an, der sich richtete gegen die geistentblößte Wortmacherei und den Kram der Gelehrsamkeit, gegen die hohlen Formen in der Poesie, gegen Nach­ ahmung des Fremden, überhaupt gegen die mattherzige Belletristik, welche während der 20er Jahren in der deutschen Literatur herr­ schend war. Die auf das Nationale und Patriotische hinstrebende Gesinnung sprach sich vorzüglich in der Polemik gegen Göthe aus, dem es zum Vorwurf gemacht wurde, daß er sich nicht um die Leiden der Zeit kümmere, daß er seiner Macht und hohen Stellung sich nicht bediene, um in den Kämpfen, deren Zeitgenosse er war, mitzustreiten für Recht, Freiheit, Ehre, Vaterland. Um Menzel als den kampfgerüsteten Streiter sammelten sich die bisher mehr vereinzelt gewesenen Bewunderer Schiller's, besonders als er sich 1825 nach Stuttgart begab, wo er in Verbindung mit Cotta trat und das Literaturblatt übernahm. Im Jahr 1827, 28 erschienen der erste und zweite Band seiner „deutschen Literaturgeschichte," wo er es sich zur Aufgabe machte, das Wort, das bei den Deutschen im Gegensatz mit dem Leben getreten sey, zum Leben zurück­ zuführen. Auf einem freien Standpunkte wollte er mit Ausschluß der streng gelehrten Form die Literatur betrachten, und indem er in dem polemischen Theil seine früher im Allgemeinen ausgesprochenen Ansichten weiter entwickelte, rief er von vielen Seiten heftige An­ griffe hervor. Seit 1829 trat er an die Spitze des Literaturblatts, das von jetzt unter seinem Namen erschien, und nach einer planmäßi­ gen Umgestaltung der Waffenplatz für seine Bestrebungen wurde. Er war in Verbindung getreten mit den jugendlichen Talenten, welche sich lebendig an der neuen Gestaltung der Literatur beteiligten, und indem er sich in die vordersten Reihen von denjenigen stellte, welche von Patriotismus und vernunftfreier Ueberzeugung geleitet, den Kampf führten gegen die dunklen Gewalten des reactionären Strebens, rief er die junge Bewegung hervor, welche in den 30er Jahren den Gefahren des Rückgangs den Muth des Fortschritts entgegensetzte. Es blieb aber Menzel in seiner Kritik noch befangen

in Unklarheiten romantischer Sympathien, die sich auch in seinen poetischen Versuchen, den dramatisirten Märchen „Rübezahl" (1829) und „Narcifsus" zu erkennen geben. Er drang auf dem Stand­ punkte seiner polemischen Kritik nicht hindurch zu einer ruhigen, besonnenen Behandlung der Gegenstände, die sich mit Liebe in die Sache vertieft und von dem leidenschaftlichen Eifern für subjective Lieblingsansichten frei erhält. Während er auf der einen Seite sich hingab mittelaltrigen Ideen, und die poetischen Productionen von Tieck, Novalis und anderen Romantikern, den Dichtungen Göthe's gegenüber, mit Lobsprüchen überhäufte, fühlte er andererseits in sich auch den Trieb, einzugehen auf die Bewegung des neuen Zeitgeistes, ohne aber in sich die Kraft zu haben, denselben als werdende Macht in seiner wahren Bedeutung aufzufassen. Es er­ zeugte sich hieraus in ihm ein Zwiespalt, der oft den widerspre­ chendsten Urtheilen Raum gestattete. Er bildete sich allgemeine Maaßstäbe für die Beurtheilung, gewisse Kategorien, wie Deutschheit, Mannheit, Rückkehr zur guten alten Sitte, deutsche Innigkeit und Sinnigkeit; nach diesen Kategorien fällte er seine absprechenden Urtheile über Religion, Staat, Poesie und Philosophie, und charakterisirt recht anschaulich sowohl die Eitelkeit als auch Befangenheit individueller Einfälle. Er wurde der Aller-Welts-Kritiker, der ohne gründliche Sachkenntniß nach seinem allezeit fertigen Maaß­ stäben alles recensirte, und das, was zu diesen paßte, überall an­ pries, was sich aber denselben nicht fügen wollte, mit leidenschaft­ lichem Parteiciser verfolgte. Zuletzt gerieth er in ein moralisirendes Räsonnement, und indem er sich für berufen hielt, die neue Zeitbcwegung abzudämmen, suchte er durch Denunciationen die Staats­ gewalt für sich zu gewinnen, und verlor darüber an Achtung bei allen denen, welche für die freie Entwickelung des geistigen Lebens kämpften [,86J. Ludwig Börne, geboren 1784 zu Frankfurt a. M., war der Sohn eines jüdischen Banquiers Baruch. Er sollte, da er als Bekenner des mosaischen Glaubens vom Staatsdienste ausgeschlos­ sen war, Arzneiwissenschaft studiren, und dieser befleißigte er sich auch eine Zeit lang zu Berlin und Halle, widmete sich aber später mit weit größerer Liebe den Staatswiffenschaften zu Heidelberg und Gießen (1808). Als er in seine Vaterstadt zurückkehrte, erhielt er von dem damaligen Großherzoge von Frankfurt eine Anstellung als Polizeiactuar, die er aber nach den Freiheitskriegen wieder verlor; er wurde nemlich von den neuen Behörden seiner Vaterstadt, die

570

Zweite Periode. Von dem erste» Viertel

ihre früheren Privilegien wieder erlangt hatte, mit einer Pension entlassen. Nachdem Börne 1817 zur christlichen Kirche evangeli­ scher Confession übergetreten war, wandte er sich ganz der politi­ schen und kritischen Schriftstellerei zu. Der literarischen Welt machte er sich zuerst bekannt durch die Herausgabe der „Zeitschwingen," welche von 1818—20 erschienen, worauf die Zeitschrift, die „Wage" (1820, 21) folgte. Eng schloß er seine literarischen Bestrebungen an politische Tendenzen, und trat überall für die Freiheit in die Schranken, wo er sie gefährdet sah. Seine treffenden Satiren fan­ den großen Beifall, erregten aber auch eben so großen Anstoß in einer Zeit, wo man die politische Bewegung in ihrem Fortschreiten zu hemmen bemüht war. Börne verlor das für die in Offenbach gedruckten Zeitschwingen erhaltene Privilegium, und wurde nicht lange darauf wegen angeschuldigter Theilnahme an Verbreitung ei­ ner demagogischen Flugschrift in Frankfurt verhaftet, aber als un­ schuldig wieder entlassen. Seit 1822 lebte er in gänzlicher Zurück­ gezogenheit von allem literarischen Verkehr, bis er 1829 seine „ge­ sammelten Schriften" hcrauszugeben begann. Im Jahr 1830 nahm er seinen bleibenden Wohnsitz in Paris, und seine „Briefe aus Pa­ ris" (1831) gewähren in unverkennbaren Zügen ein vollständiges Bild seiner inneren Gemüthsstimmung. Er starb in Paris 1837. Börne kämpfte zunächst für die Freiheit der Literatur und Wissen­ schaft in Deutschland, und war ein erklärter Feind jeder vornehm sich abschließenden literarischen Aristokratie; daher seine Brochüre gegen die von Hegel und Gans gestifteten Jahrbücher für wissen­ schaftliche Kritik, daher auch seine Antipathie gegen Göthe, die sich noch höher steigerte, je mehr seine auf das Nationale gerichtete Ge­ sinnung hervortrat. Seine Trauerrede auf den Tod Jean Paul's ließ seine wahre Gemüthsstimmung erkennen; er feierte Jean Paul als den Dichter der Armen, dessen warme Liebe zur Menschheit sich in Börne zur nationalen Liebe individualisirte, und aus dieser er­ zeugte sich sein humoristischer Standpunkt, auf dem er die ganze Zeitgeschichte als ein tragikomisches Drama belächelte. Der Ge­ danke, was Deutschland seyn könne, wenn es frei seyn dürfte, und was es sey, da es unfrei seyn müsse, rief einen tiefen Unmuth in ihm hervor, und er wanderte aus nach Paris, dem Gcburtslande der neuen Freiheitslehre, die Heimath trotz scheinbaren Hasses liebe­ voll in einem hoffnungslosen Herzen hegend. Patriotismus und Weltschmerz durchdrangen sich in ihm; sie raubten ihm die Ruhe besonnener Ueberlegung, und ließen ihn mit zu großer Schwarz-

sichtigkeit nur auf den offenen und geheimen Schäden deutscher Na­ tionalität verweilen. Witz und Humor, Verstand und Scharfsinn ohne Tiefe der Erkenntniß, welche die Frucht der Arbeit und An­ strengung eines ruhig fortschreitenden Denkens ist, erzeugten den Naturalismus in Börne's Kritik [’8’J, welche oft eines bestimm­ ten Ziels, einer klar erfaßten Idee sich nicht bewußt ist, und sein Stil, in welchem sich I. Paul's Manier eigenthümlich ausprägte, ist, namentlich in seinen letzten Schriften, der Abdruck eines unru­ hevollen Trübsinns. Bei dieser Spannung einer im Innern krank­ haft wühlenden Leidenschaft gerieth Börne in vie extreme Richtung eines demokratischen Nadicalismus, von dem allein er Heil erwar­ tete, und während er in der Fremde Lästerreden auf sein deutsches Vaterland hielt, rieb er sich selbst in seinem Inneren auf, und ging an dem Elend des eigenen Herzens zu Grunde [,88J. Heinrich Heine, geboren 1797 in Düsseldorf, stammt vom Vater her aus dem jüdischen Volke; die Mutter aber war eine Christinn, und Heine selbst wurde als Christ erzogen. Er studirte in Bonn, Berlin und Göttingen, wo er sich die juristische Doctorwürde erwarb, und hielt sich dann abwechselnd in Hamburg, Ber­ lin, München und Paris auf. Bei seinem ersten Aufenthalte in Berlin gab er 1822 die erste Sammlung seiner Gedichte heraus, lyrische Kleinigkeiten; dann folgten 1823 die Tragödien „Almansor" und „Nadcliff." Großes Aufsehen erregte er aber erst mit seinen „Reisebildern" seit 1826 und mit der größeren Sammlung lyrischer Gedichte, die er „das Buch der Lieder" (1827) nannte s'8 9J. In dasselbe nahm er die Gedichte aus den beiden ersten Bänden der Reisebilder auf und gab in übersichtlichem Zusammenhang seine Lieder, die bisher vielfach zerstreut gestanden hatten. Die Mißstim­ mung über die Zeitzustände ließ Heine's poetisches Talent nicht zu seiner vollen Entwickelung gelangen; er kam über den Standpunkt der lyrischen und humoristischen Reflexion nicht hinaus, und in­ dem er die individuellen Verhältnisse des kleinlichen, deutschen Le­ bens mit bitterem Hohn und Spott verfolgte, ging er noch weiter und trieb in genialem Belieben sein Witzspiel mit den heiligsten Gefühlen des Menschen. Im Jahr 1830 begab er sich nach Pa­ ris, von wo ihm die Rückkehr ins Vaterland untersagt ist; dort schrieb er „französische Zustände" und den „Salon," eine Samm­ lung von Aufsätzen, in welchen er sich über französische und deutsche Kunst, Religion und Philosophie in frivolem Tone verbreitete. In Heine durchdrang sich romantische Phantasieanschauung mit franzö-

572

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

sisch-freigeisterischer Weltausfassung/ In seinen Liedern der Heimkehr und im ersten Theile der Reisebilder zeigt sich die Ungeniertheit des genialen Beliebens noch am unbefangensten; wahre und tiefe Na­ turlaute tönen aus den Liedern, die in der Naivität des Ausdrucks die Wirkung des Volksliedes haben. Der Dichter läßt frisch, le­ bendig und rein die Empfindung aus seinem Herzen ausströmen, und weiß den alltäglichen Situationen des Lebens eine poetische Seite abzugewinnen. Es bildete sich aber bald bei Heine immer bestimmter die Richtung aus, die zaubervollsten Gebilde und die tiefinnigsten Gefühle durch eine piquante Wendung zu vernichten und ins Komische zu verkehren. Um hinauszukommen über ro­ mantische Gefühlsseligkeit, parodirt der Dichter seine eigenen senti­ mentalen Stimmungen und die Herrlichkeiten des Gemüths; er schämt sich des Adels menschlicher Empfindung und verzerrt in eit­ ler Laune die reinsten Herzensmelodien. Hieraus entstand die Heinesche Pointenpoesie, die auf den Effect berechnet, das spielende frivole Witzleben zu ihrem Element macht, und nur das eigene Ich in eiteler Selbstbespiegelung hervortreten läßt. Es coquettirt Heine, wie mit anderen Empfindungen, so auch mit seinem Schmerz und wählt die Nachtseiten des menschlichen Herzens, Träume und gespenstische Gestalten zum Ausdruck subjectiver Zerrissenheit. Da ihm aber das rechte Herz der Dichtung, die Gesinnung, fehlte, so versiegte zuletzt der Quell seiner Poesie, und er sagt selbst in der Vorrede zum dritten Theil des Salons, daß er sich auf die Prosa gelegt habe, da es mit der Poesie auf die Neige gegangen sey. Er rühmt sich, es dahin gebracht zu haben, eine „göttliche Prosa" zu schreiben; doch auch in dieser zeigt sich, bei aller frischen Färbung in den Schilderungen und bei aller plastischen Sinnlichkeit des Aus­ drucks, nur die in sich selbst verliebte Manier des Stils, die in ei­ nem witzigen selbstgefälligen Gedankenspiele durch Bejahen und Verneinen, durch Satz und Gegensatz piquante Contraste sucht, und dem Effecte eines glänzenden Scheins die Wahrheit aufopfert. Die Gesinnungslosigkeit bildet die Hauptgrundlage von Heine's literari­ schen Produclionen; sie zeigte sich schon im dritten Theil der Reise­ bilder in der Art und Weise, wie er mit frivoler Eitelkeit sich über Literatur, über Religion und Christenthum, über Freiheit und Staat aussprach. Bei dem Mangel an einer großen Gesinnung und tie­ fen Begeisterung für das Wahre gingen seine poetischen Talente zu Grunde, und er verlor wie in der Literatur so im Leben an Ach­ tung und Einfluß [”0].

2.

Rückert.

Platen.

Den entschiedensten Gegensatz zu Heine bildet Rückert, mit welchem die Poesie ihre Keuschheit wieder gewinnt; denn die Macht der Liebe ist es, die in ihm wirksam ist, und das Getrennte in har­ monischen Einklang zusammenschlingt. Die Natur wird ihm Bild der Reinheit und Heiligkeit des Lebens; was er mit ihr fühlte und ahnte und redete, das pflanzte er in seine Gedichte über; sie ward für sein Dichterherz, welches ihm das der Menschheit ist, die uner­ schöpfliche, stets erfrischende Duelle. Aus ihr tönte ihm der Gruß der Liebe entgegen, „die alles Leben hervorgerufen hat, die der Wel­ ten goldenen Zaum wirkt, die mit seligem Behagen die ganze Schöpfung füllt, die der Strahl ist, welcher Gott und die Men­ schen versöhnt." Er will nur Liebe singen und durch den Liebes­ gesang sich mit der Welt vereinen. Er fordert sich selbst auf: „Sing Liebe wie die Nachtigall; O trachte still in Deinen Tö­ nen Dein eignes Daseyn zu versöhnen." In einer Zeit, die rin­ gend kämpft, um zu höherer Freiheit der Lebensverhältnisse hindurch­ zudringen, ist Rückert am Horizont des deutschen Dichterhimmels wie ein guter Genius, der in der Liebe den Zusammcnklang von Dichtung und Wirklichkeit herzustellen vermochte. Leben und Na­ tur, Geschichte und Politik, Religion und Wissenschaft, Alles findet seinen poetischen Ausdruck. Nicht im Hause, in der Heimath, im deutschen Vaterland allein ruht Rückert's Dichterwelt, sie hat sich auch der entlegensten Zonen bemächtigt. Am Urquell der Mensch­ heit schöpfte er seine reichen Schätze, und er hat es nicht mit den Aeußerlichkeiten fremder Länder zu thun, sondern mit dem Gedan­ ken, dem großen Bildungsgänge der Menschheit. Die Poesie ward ihm zur Weltpocsie [’91]. Die patriotische Begeisterung hatte unseren Dichter der Natur­ betrachtung entzogen (s. oben); zu dieser kehrte er nach Beendigung der Freiheitskriege allmählig zurück, und seine Poesie fand ihre rei­ nen, unvermischten Lebenselemente wieder. Seine Gedichte im vier­ ten Bande aus den Jahren 1815 — 18 bezeichnen seinen Rückzug aus der Tagesgeschichte; sie sind eingeleitet durch den „Rückblick auf die politischen Gedichte;" heimwärts sehnt sich das Lied nach frühen Liebesklängen. Vorherrschend wird eine ruhige, meistens heitere Beschaulichkeit; die Grundlage bildet Anschauung der Na­ tur, die sich frei hält von romantischer Sentimentalität. Der Dich­ ter sucht nicht sehnsüchtig die Natur als eine fremde Heimath, son-

574

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

dern er lebt vertraulich mit ihr, und sie „hallt nur wieder ihr Glokkenspiel, das reine." Während er beschäftigt war mit den Vorbe­ reitungen zu einer Reise nach Italien, sprechen die „Octaven und Verwandtes" im zweiten Bande der Gedichte die Reisevorgesühle aus. In Italien sucht und findet unser Dichter am meisten in der Natur Trost; vor der erschütternden Sprache der Weltgeschichte, vor den Ruinen als den Zeugnissen der Nichtigkeit alles Irdischen verstummen seine Naturlaute; nur vorübergehend berührt ihn der Eindruck von den Trümmern gefallener Größe („die Kirche zu Puteoli). In Sicilien beglückte ihn der reinste, ungetrübteste Natur­ genuß, hier regte sich seine Phantasie wieder in ihrer ganzen Kraft und erzeugte die zartesten und lieblichsten Bilder. In den „Ritornellen" [,92] verpflanzte er die italienische Volksdichtung nach Deutschland; schnell und tief erfaßte er das Wesen dieser Volksliedchen, welche in ihrer anspruchslosen Kürze und in dem leichten Spiel, dem irdischen Ernste gegenüber, wie die reinsten Na­ turlaute an das empfängliche Herz dringen. An die heiteren Ritornelle mit den reichen poetischen Genüssen, die sie gewähren, rei­ hen sich die „Vierzeilen," und führen ein in die ideale Welt des tiefer sinnenden Gedankens; hier spricht sich Rückert's vorzugs­ weise heitere Lebensphilosophie in mancherlei guten Lebensregeln und Weisheitssprüchen aus, in denen sich auf eine leichte und freie Weise der Gedanke sinnreich mit der Anschauung, die Idee freundlich mit dem Bilde vermählt. Diese Vierzeilen bilden den Uebergang aus dem Abendland in den Orient, an welchen unseren Dichter der Na­ turcultus der Perser nebst der auf einer tiefen Mystik beruhenden Naturbegeistcrung eines Dschelaleddin fesselte. Er wurde ein glück­ licher Nachbildner das den Persern angehörigen Gasels [’•*], das sich zur Darstellung innerer Empfindungen der Liebe und des Genusses besonders eignet. Rückert durchdrang diese Dichtungsart mit seinem eigenen tiefinnerlichen Gefühlsinhalte, und dieselbe wurde ebensowenig von dem Taumel orientalischer Begeisterung ge­ trübt, als von der dunklen Mystik romantischer Naturlyrik; es bil­ dete sich der Dichter, gestützt auf die Religion des freien Gemüths, einen christlichen Pantheismus, in welchem der Unendlich-Eine ge­ feiert wird, der mit liebevoller Macht die Welt zu seiner und der Menschen Lust erschaffen hat. Zn diesem dichterischen Gottesdienste hat sich Natur und Geist zu einem Liebesbunde vereint. Die Na­ tur ist nicht mehr eine Schranke, die von Gott trennt, sie wird in allem Schönen, was die Erde schmückt, nur eine Stätte für das

höhere Menschenleben, das sich über sie wie ein Geistesgruß hin­ bewegt. Ein Geist spricht zu anderen, ihm verwandten Geistern, und indem er zu diesen Geistern spricht, spricht er doch nur wieder zu dem in seiner Mcnschcngemeine gegenwärtig und sichtbar gewor­ denen Gott. In dem dritten Abschnitte der Gasele folgen Hym­ nen des Frühlings, der Gottesliebe, der reinen Gottesverehrung; sie sind, wie die vorhergehenden, Denkmale der tiefen Religiosität des Dichters. Während die Gasele uns in das ernst beschauliche Leben orientalischer Mystik versetzen, geben uns die östlichen Rosen [’9,b] eine Anschauung von der Heiterkeit des Lebensgenusses im Orient. Frühling, Jugend, Rosen, Wein und Liebe sind hier die Gegenstände des Gesanges. Fortgesetzt wurden die östlichen Rosen von Gaselen, die theils sinnlich erotischer Natur sind, theils einen innerlicheren Charakter haben und von Sehnsucht und Wehmuth durchdrungen sind. Die Liebe leitet den Dichter aus Persien zurück zur Wirk­ lichkeit und findet ihre schönste Feier im „Liebesfrühling." Es schließen sich die Wanderungen des Dichters ab mit seiner Rückkehr zur alten Ruhe, die er in Coburg fand (1821 —1826). Die Ge­ dichte dieses Abschnitts sind meist beschaulich, betrachtend, aber nicht ohne das frische Farbenspiel der Jugend; die innige Beziehung zur Natur fehlt auch hier nicht. Auf das Anmuthigste weiß der Dich­ ter Natur und Menschenleben in die sinnreichsten Wechselbeziehun­ gen zu bringen. In den „Bausteinen zu einem Pantheon" legte Rückert die Grundlage zu einem Tempel seiner Weltpoesie; hier nahm er die am meisten vollendeten plastischen Gebilde auf, welche die Poesie des Erdenlebens verwirklichen sollten. Auf der einen Seite erscheint der Kampf und die Noth der Erde im Gegensatz der seligen Ruhe des Edens, auf der anderen Seite wird auch der reiche Schatz von Herrlichkeiten, welche die Welt bietet, in frischem Schmelz der Farben vor die Seele gerufen. Im „Dichterselbstlob" spricht Rückert die Bestimmung des Dichters aus. Die Terzinen, die sich an die Bausteine anschließen, gewähren anmuthige Phanta­ siebilder und Allegorien, unter denen „Edelstein und Perle" sich am meisten auszeichnet. Unser Dichter behandelte auch epische Stoffe in der Balladen- und Nomanzenform; es widerstrebte ihm aber diese Dichtungsart, wie überhaupt die romantische Welt des Ritterthums. Er lebte zu sehr in der Wahrheit der Natur und rein menschlicher Gefühle. Sein „Liebesfrühling" war die größte That deutscher Lyrik; alle zarten Liebeserlebnisse und Liebesempfindungen führt der Dichter hier, bald in heiter tändelnder Form, bald

576

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

in ernstem, geistigem Verkehr vorüber, und erhebt sich zuletzt in die

geweihte Höhe eines ewigen Bundes.

Natur und Liebe, die Mit­

telpunkte, um welche sich Rückert's Poesie bewegt, erscheinen in

dieser Dichtung geistig verklart.

Poesie und Leben feiern die an«

muthigste Vereinigung und die lieblichste Harmonie mit der Natur. Die Ehe führte auch unseren Dichter ein in die Häuslichkeit, und gewöhnte ihn an ein schönes, ungestörtes Stillleben, wie es sich in

den Dichtungen „Erlangen 1827—29" abspiegelt; hierauf folgten die Haus- und Jahreslieder, welche das Leben der Familie in Freud In diesen Gedichten besonders tritt, wie auch sonst wohl, eine Hauptschwache von Rückert's Poesie hervor, indem

und Leid darstellen.

sie sich öfter zu sehr in das Farblose, Nüchterne und Kleinliche ver­ liert. Seine Sprach- und Verstechnik verleitete ihn nicht selten zu poetischen Gedankenspielen und Tändeleien, woraus eine Manier

entstand, die selbst in seinen wahrhaft poetischen Erzeugnissen sich nicht verleugnet. Andererseits vernachlässigte er auch im Bewußt­ seyn seiner Dichterkraft die Form im Ausdruck und in der Sprache;

aber dennoch hat er die größte Meisterschaft bewährt in der unnach­ ahmlichen Leichtigkeit, mit welcher er die vcrwickeltsten Strophen-

compositionen und die schwierigsten Reimverschlingungen der deut­ schen Sprache angeeignet hat. Diese Virtuosität bewies er besonders in den Nachbildungen orientalischer Dichtungen, in den M«ka­

men Ha riri's, wovon die erste Nachbildung 1826, und die zweite

vollständige Ausgabe 1838 erschien. Der Hauptheld ist in diesen Makamen ein genialer Landstreicher, der voll Geist und Witz sich schmiegt und biegt, bis er Alle angeführt und sich eine gute Mahl­

zeit oder eine Geldsumme verdient hat.

Der Humor erlaubt sich

hier die seltsamsten Sprachbildungen und Wendungen.

Auf kunst­

reiche Weise eignete ferner Rückert „Nal und Damajanti," eine

Episode aus dem

indischen Heldengedicht Mahabharata, unserer

Sprache an (erste Ausg. 1828, zweite 1838).

Mit gleich freier

poetischer Kunst ist das Lehrgedicht „die Weisheit der Brahmanen"

behandelt, das Rückert die Weisheitserndte seines Liebesfrühlings nennt.

In diesem Gedichte erscheint die Lehre ebenso als Ausdruck

der persönlichen Gesinnung des Dichters, wie sonst der Lyriker ei­ nen Inhalt des Gefühls, der unmittelbaren subjectiven Stimmung

Der Sinn für das Himmlische ist in dem Brahmanen nicht Theorie, sondern inniges Gefühl, aber auch nicht ein blinder Zug des Herzens, sondern gläubige Erkenntniß. Es offenbart sich ausspricht.

daher sowol in der Lehre als auch in der Betrachtung das ganze,

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

577

ungetheilte Wesen des Geistes und der Persönlichkeit, und es wird das Einzelne, wie das Ganze, daslKleine wie das Große von dem lebendigen, individuellen Selbst des Dichters beseelt. Eben hierdurch ist die Trockenheit des Didaktischen vermieden, welche auf dem Mangel an subjectiver Lebendigkeit, auf der einseitigen mehr wissen­ schaftlichen Trennung des Objectiven vom Subjectiven beruht. Als Grundansicht geht in der Weisheit des Brahmanen durch die ein­ zelnen Betrachtungen der Gedanke hindurch, alles Schöne und Würdige der Erde mit Liebe zu erfassen, und es zu einem Organ des höheren Geisteslebens zu machen, damit der Mensch von Klug­ heit, Gerechtigkeit, Entsagung geleitet, durch Großmuth, Liebe, Gnade aufsteige zur Demuth vor Gott, welche allen Tugenden erst die höhere Weihe ertheile. Rückert erneuerte für das didaktische Ge­ dicht die schmucklose Form des Alexandriners [,e,J, welcher durch die Zertheilung in zwei gleiche Hälften den Gegensätzen und Parallelismen, in denen die Spruchdichtung sich häufig bewegt, auf an­ gemessene Weise entgegcnkommt. Rückert's ganze Weltanschauung ist eine lyrische mit vorwaltender Hinneigung zur sinnigen Betrachtung, zur Lehre, zu Weisheitssprü­ chen, in deren Entfaltung er sich öfter kein Genüge thun kann und daher bisweilen in eine ermüdende Breite hineingeräth. Das han­ delnde Leben der äußeren, thätigen Wirklichkeit, der objective Gehalt des Epischen tritt bei ihm ganz in den Hintergrund, weshalb auch Romanzen und Balladen seiner Natur widerstrebend waren. Um so weniger konnte die dramatische Poesie sein Beruf werden, und seine dichterischen Versuche nach dieser Seite zeigten seine Unfähigkeit, eine dramatische Handlung entweder psychologisch oder historisch zu motiviren und zu organisiren. Wie Rückert's ganze Weltanschauung eine lyrische ist, so umfaßt auch seine Lyrik eine ganze Weltan­ schauung; aus dieser entwickelte sich sein Ideal einer Weltpoesie, für die er in der deutschen Sprache diejenige Universalität fand, welche sie fähig machte, poetische Weltsprache zu werden [’•*]. August Graf von Platen Hallermünde, geboren den 24. Oktober 1795 in Ansbach, erhielt zuerst im CadettencorpS zu München, später in der Pagenanstalt daselbst seine Erziehung. Er trat in den bayerischen Militairdienst und nahm 1815 als Lieute­ nant an dem zweiten Feldzuge nach Frankreich Theil. Nach dem Frieden erhielt er Urlaub aus seinem Militärdienste und bezog zu­ erst die Universität Würzburg, dann Erlangen, wo namentlich Schel­ ling den schöpferischen Trieb in ihm fruchtbar anregte und ihm die Biese deutsche Literaturgeschichte. II. 37

578

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Begeisterung zur Dichtkunst einflößte („Sonett an Schelling"). Außer den philosophischen Wissenschaften studirte Platen vorzüglich

die Dichterwerke der alten und fast aller neueren Völker in den

Ursprachen, und eignete sich mit einem seltenen Talente die Spra­ chen des Abendlandes an, sowie auch das Persische und Arabische. Bon Erlangen aus machte er jährlich kleine Ferienreisen, lernte in

Jena Göthe bei dem Major v. Knebel kennen, besuchte in Bai-

reuth Jean Paul, fand in Stuttgart bei Uhland und Schwab die herzlichste Aufnahme.

Im I. 1820 machte er von Erlangen aus

eine Wanderung zu Rückert, hielt.

der

sich damals in Nürnberg auf­

Angeregt von Göthe's Divan und durch Rückert's Beleh,

rungen ermuntert, gab er seine ersten Gedichte „Gaselen" 1821

heraus.

Eine Sammlung meist früher entstandener Gedichte „Ly­

rische Blätter" erschien in demselben Jahr, und eine zweite Samm­

lung „Vermischte Schriften" 1822.

In beiden Sammlungen zei­ Auf den in

gen sich Göthe's und Schelling's Einflüsse auf Platen.

den vermischten Schriften enthaltenen dramatischen Versuch „Ma­ rats Tod" folgten einzelne Lustspiele „der gläserne Pantoffel" (1823)

und „der Schatz des Rhampsinit" (1824).

Im Herbste 1824 kam

Platen auf einer Reise durch die Schweiz auch nach Venedig; nach seiner Rückkehr gab er die trefflichen „Sonette aus Venedig" (1825)

heraus.

Von Widerwillen gegen die romantischen Schicksalstragö­

dien erfüllt,

schrieb er 1826 „die verhängnißvolle Gabel," und

wollte dieses Lustspiel als eine Art von deutschem Muster in dieser

Gattung hingestellt haben. Da Platen bei seinem liberal-politischen Patriotismus von den vaterländischen Zuständen vielfach schmerzlich berührt wurde,

und außerdem ihn seine Bestrebungen für Kunst

mit einer heißen Sehnsucht nach Italien erfüllten, so erwirkte er sich

von König Ludwig einen Urlaub, und trat im September 1826

seine italische Reise an. Er ging über Florenz nach Rom, traf im April 1827 in Neapel ein, und war entschlossen, hier sei­ nen bleibenden Aufenthalt zu wählen. Durch die Angriffe Jmmer-

mann's und Heine's gereizt schrieb Platen 1827 das satirische Lustspiel „der romantische Oedipus," in welchem er die Jrrgänge

der romantischen Poesie parodirt. Im folgenden Jahr wurde er Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften zu München,

und gewann hierdurch eine unabhängigere Existenz.

Er machte

wiederholt Wanderungen durch Italien, und auf diesen entstand im

Jahr 1829 das epische Gedicht „die Abbassiden," welches, im Ge­ biete der Märchen von Tausend und einer Nacht sich bewegend,

579

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

die Abenteuer von Harun al Raschid's Söhnen in neun Gesängen besingt.

Als Platen 1830 nach Neapel zurückgekehrt war, gab er

sich historischen Studien hin, und folgte seit der französischen Juli­ revolution mit Theilnahme den Erscheinungen des

bens.

Die polnische Revolution

politischen Le­

erfüllte ihn mit einem bitteren

Haß gegen Rußland, und es entstand jetzt eine Reihe von politischen

Liedern, größtentheils Polenliedern.

Gerne flüchtete er sich aber

aus den Wirren der Gegenwart in seine historischen Studien, und verfolgte mit besonderer Vorliebe die „Geschichten des Königreichs

Neapel," welche 1833 im Druck erschienen.

Im Jahr 1832 reiste

Platen in Folge von dem Tode seines Vaters nach Deutschland,

und schrieb zu München das geschichtliche Drama „die Liga

von

Cambrai," welches, aus politischen Zeiteindrücken hervorgegangen, den Patriotismus im Gegensatz der Despotie darstellen soll. Im I. 1834 reiste er von München aus wiederum nach Italien ab, wo auf verschiedenen Wanderungen besonders seine Hymnen entstan­ den, welche der Dichter selbst als das Beste bezeichnet,

hervorgebracht habe.

Die Furcht vor der Cholera

was er

trieb ihn im

September 1835 nach Sicilien, wo er in Syracus den 5. Decem­ ber einem heftigen Fieber erlag.

Platen bezeichnet in seinen litera­

rischen Productionen den Uebergang aus romantischen Sympathien in die Tendenzen der Literatur der Gegenwart. Von Schelling zur Dichtkunst angeregt, verkehrend mit Jean Paul, mit Uhland und Schwab steht er noch auf dem Gebiete der Romantik, mit welcher

er auch die rhythmische Formenkunst gemeinsam hat, so wie er sich in seinen orientalischen Dichtungen auch thätig zeigte zur Begründung einer Weltliteratur. Auf eigenthümliche Weise gestaltete sich aber in ihm die aus den vaterländischen Zuständen hervorgangene Miß­ stimmung der Zeit. Er nannte sein Vaterland das Land der Mühe, des herben Entsagens, wo man bedrängt von tausend Hindernissen

sich müde quält und dennoch verderben muß.

Seine trübe, finstere

Stimmung wurde dadurch noch mehr gesteigert, daß er die Liebe, die er den Menschen bot, wie er meinte, verlacht sah, und für

sein Dichterverdienst keine Anerkennung fand, was ihn um so tie­

fer schmerzte, je ernster er sein Leben der Kunst widmete und je höher er sich selbst als Dichter schätzte. Diese Verstimmung störte den freien Zug des Gefühls wie der Phantasie, und ließ die frische Lust des Daseyns, das kindliche Behagen, die gemüthliche Laune,

die Innigkeit und Seligkeit der Liebe, kurz alle die Elemente, aus denen eine tiefe und energische Lyrik entspringt, nicht aufkommen.

37*

580

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Platen besaß mehr ein Streben nach großen Leistungen als eigent­

liche poetische Lebensfülle; es fehlte ihm das Ungezwungene, Leichte, Gefällige, das Einschmeichelnde und Anmulhige, der eigentliche Duft und Schmelz der Poesie, die poetische Verklärung.

Dagegen

war bei ihm ausgezeichnet der Ernst, das Gewaltige, Großsinnige,

das Rhetorisch-imponirende und die Pracht der Sprache.

Er hielt

es gegenüber der Formlosigkeit und Zerfahrenheit, in welche die Poe­

sie durch die späteren Romantiker gerathen war, für eine Aufgabe, seinen Dichtungen

nebst einem kernhaften, strengen Gehalte eine

möglichst vollendete Form zu geben.

Aus dieser polemischen Rich­

tung ging bei ihm mehr Drang, Wunsch, Verheißung hervor, als

Besitz, Genuß, That; namentlich kehren, bei seinem Selbstgefühl, in seinen poetischen Productionen

stungen wieder.

die Versprechungen großer Lei­

Die erste Periode seiner dichterischen Laufbahn um­

faßt seine Jugendwerke in rein deutscher, in orientalischer und roma­ nischer Form; die zweite umfaßt die in antiker Form gebildeten

Werke, die mit der Ode an König Ludwig beginnen und mit den Hymnen schließen; sie sind größtentheils auf italischem Boden ent­ sprungen.

Die eigentlichen

Lieder in seinen Jugendwerken

sind

nicht unmittelbar aus der Brust herausgewachsen; nur die Schwermuth hat in einem Liede: „Wie rafft' ich mich auf in der Nacht

u. s. w." einen wahrhaft poetischen Ausdruck gewonnen.

Unter

den Gelegenheitsgedichten sind die Zuschriften an bestimmte Perso­

nen von lebendigem Gefühle und tiefer Ueberzeugung durchdrungen. Platen's ernste Bestrebungen weckten in ihm immer mehr den Sinn

für alles Edle, Männliche, Große, und es wurde das Sittliche seine Liebe und Poesie.

In

den Gaselen [’••] kommt unser

Dichter aus der einförmigen düsteren Stimmung heraus, die über

seine Lieder verbreitet ist; es tönt aus denselben frohe Lebenslust, mit welcher sich weise Lebensregeln verbinden. Eigenthümlich ist die begeisterte Verherrlichung der schönen Jünglingsgestalt in den Lie­

besgaselen, wo aber die weichmüthige, nicht naturgemäße Sehn­

sucht störend wird. Eine Reihe von Gaselen hat das Sittliche zum Inhalt, und hier spricht sich der edle Sinn des Dichters aus. Im Sonett bewährte sich Platen als ein Meister der Form, und stellt in demselben Gedanken und Bilder auf mannigfaltige Weise dar In den „Soneltendichtern" giebt er eine anmuthige Geschichte des

Sonetts. Es zeichnen sich unter diesen Gedichten Platen's beson­ ders diejenigen aus, welche an Dichter und große Personen gerich­ tet sind (Sophokles, Schelling, Winckelmann, Jean Paul), oder

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

581

große Erscheinungen der Natur und der Kunst behandeln; werthvoll sind in letzterer Beziehung vorzüglich die Sonette aus Venedig. Der Sinn unseres Dichters für das Edle und Große giebt sich

auch in den Balladen zu erkennen.

Diese haben großherzige Ge­

sinnungen und Thaten der Vergangenheit zu ihrem Gegenstände, und es offenbart sich in ihnen die naturüberwindende sittliche Kraft.

Bei diesem Sinne für das Erhabene entwickelt Platen den reich­ sten Schatz seiner Poesie in den Oden und Hymnen, in denen er

das Schöne und Edle der Gegenwart feiert. Er macht große Künstler, Dichter, Helden und Herrscher zum Gegenstände seiner Oden (Göthe als Dichterfürst, Ludwig von Bayern als Friedens­

fürst, Napoleon als Kriegsfürst).

Neben dem Lobe und Preise des

Großen der Erde verschafft sich in den Oden auch das Weh des Le­ bens und der Jammer der Menschheit Ausdruck, und Entrüstung

spricht sich aus gegen Tyrannei („Herrscher und Volk"); in die Zukunft blickend, sieht der Dichter ein furchtbares Verhängniß über

die europäische Menschheit hereinbrechen („Kassandra"); anderer­

seits verkündigt er aber auch den endlichen Sieg der Bildung über die Barbarei.

Mit inniger Liebe hängt er am deutschen Vater­

lande, in welchem er so gerne den politischen Erlöser der Völker er­ blickt („Opfer"). Er mahnt zur kräftigen Einheit des gesammten Vaterlandes („An Franzen den Zweiten"), und preist neben der Einheit die Freiheit als den innersten Lebensnerv der Völker („Pri­

vilegien der Freiheit;" „An Karl den Zehnten").

Platen hat in

seinen Oden den Rhythmus zur höchsten Ausbildung zu bringen

gewußt; es sind musikalische Tongefüge, in denen die Form zum Inhalt in die engste Beziehung gesetzt ist. Bei seinem treuen Kunstfleiße war er stets fortschreitend, und bewahrte sich vor der Manier, die sich in einem und demselben abgeschlossenen Kreise be­

wegt.

Jeder Schritt auf seiner literarischen Bahn war ein Fort­

schritt seiner

poetischen

Auffassung

und

Darstellung, indem er

sich in Form und Gehalt neue Wege eröffnete.

Allmählig gelangte

er vom Einfachen zum Höheren, vom Liede zur Gasele, zum So­ nett, zur Ode, und zuletzt war er bestrebt, in der Hymne die lyrische

Kunst Deutschlands auf den Gipfel zu bringen. Hier wetteiferte er mit den Festgesängen Pindar's, und steckte der deutschen Lyrik

Der Gedankengehalt gründet sich auf die reinste Wirklichkeit; die Gesinnung ist ächt deutsch, und die besonderen Verhältnisse gewinnen dadurch, daß sie in die Allgemeinheit der ein höheres Ziel.

Anschauung erhoben werden, ihre poetische Verklärung. Ein Haupt-

582

Zweit« Periode.

Bon dem ersten Viertel

gedanke halt in der Hymne die einzelnen Theile zusammen und verknüpft sie zur Einheit; wie aber der Rhythmus vielgestaltiger ist, als in der Ode, so begnügt die Hymne sich auch nicht bloß mit Tropen und Gleichnissen, sondern führt zur Versinnlichung des Ge­ dankens verschiedene Bilder in einer Reihe lyrischer Scenen aus, die sich episodisch herumschlingen um die Grundideen des Ganzen („Abschied von Rom;" „der Herzoginn von Leuchtenberg"). In den Epigrammen endlich treten alle bisher angedeuteten charak­ teristischen Züge und Neigungen unseres Dichters übersichtlich uns entgegen, und gewähren zugleich einen Einblick in sein Kunsturtheil, besonders auch über dramatische Poesie. Es wird hier anschaulich, daß Platen den innersten Lebenspunkt des Dramas nicht klar und bestimmt erfaßte. Während er mehrfach gegen Shakespeare polemisirt und gegen Schiller, preist er Lessing's Nathan als die beste deutsche Tragödie, ist eingenommen für die eleganten Formen der Calderonschen Poesie die ihn auch günstig für Corneille stimm­ ten. Für das historische Drama fehlte Platen die tiefere Erfassung des weltgeschichtlichen Lebens; seine satirischen Lustspiele sollten die Aristophanische Komödie erneuern. Da er aber die politischen Ver­ hältnisse, welche bei Aristophanes den wirksamsten Hintergrund bil­ den, ausschließen mußte, blieb er auf die literarische Satire be­ schränkt, deren Schärfe sich dadurch abstumpfte, daß sie sich gegen Geistesrichtungen wendete, die nicht zu einer solchen Macht im Volks­ leben hindurchgedrungen waren, wie sie zu Aristophanes Zeiten So­ krates und Euripides gewonnen hatten. In den Parabasen stört die anspruchsvolle Persönlichkeit des Dichters mit seinen Klagen über das Publikum und den Regeln und Ermahnungen an die Dichter; eS schwächt sich hierdurch die unbefangene Laune des Hu­ mors ab. Platens literarisches Verdienst beruht auf seinem ernsten Kunststreben, mit welchem er der Poesie zu einer Zeit, wo sie un­ ter den Händen der Romantiker in eine formlose Zerfahrenheit ge­ rathen war, einen festen Haltpunkt wicderzugeben und ihre Wirk­ samkeit in formeller und materieller Hinsicht auf Einen Punkt zu sammeln bemüht war. Es gelang ihm auf, dem Gebiete der Lyrik die künstlerischen Formen des Versbaus mit den großen Gedanken der Gegenwart zu durchdringen, ohne jedoch die höchste Vollendung der Form zu erreichen, die sich da findet, wo wir nicht an die Kunst des Meisters, nicht an die Schwierigkeiten, die er überwunden, er­ innert werden, sondern nur die Allgewalt fühlen, welche die Schön-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

583

heit auf unseren Geist und unsere Sinne zu gleicher Zeit aus­

übt [»••].

IV. Das jungt Deutschland mit seinen vorherrschend kritischen Bestrebungen und die eigentlichen Dichter der Gegenwart. A. DaS junge Deutschland. In Menzel, Börne, Heine liegen die Ausgangspunkte für die

neue Bewegung unserer Literatur, die es sich, als nach der Juli-

Revolution der Drang nach Leben, nach That und nach Umgestal­ tung des Alten überall erwacht war, zur Aufgabe machte, die Zeit­

fragen in das Gebiet der literarischen Production zu ziehen und die Kluft zwischen Literatur und Leben aufzuheben. Mit aller Beweg­ lichkeit und Regsamkeit des Geistes ging man für die Verjüngung der deutschen GesinnungS- und Anschauungsweise auf die frischen Regungen des wirklichen Lebens ein, um die Schätze der Gegen­

wart zu heben, welche eine Zukunft im Keime in sich enthielten, und suchte in künstlerischer Darstellung den bewegenden Gedanken der Zeit zu verkörpern und eben dadurch zur Klarheit zu bringen.

Die neue Literaturepoche, sich stützend auf den Erwerb der Kunst­ anschauungen des vorigen Jahrhunders, nahm die reiche Weltkennt­

niß des jetzigen in sich auf; die universale Anschauung der Geschichte richtete ihre Blicke weithin in die Zustände der Vergangenheit, um hier die Belege für die neu angeregten Ideen und Anschauungen

zu finden, und es sollte die Poesie, aus dem fruchtbaren Boden der

Wirklichkeit entsprießend, ihre höchste Kraft und Energie eben da­ durch gewinnen, daß in ihr der Herzschlag des weltgeschichtlichen Le­ bens pulsire. Philosophie, Poesie und Liberalismus bilden in ihrer gegenseitigen Durchdringung die Hauptelemente, aus denen die neuesten Literaturbestrebungen hervorgingen. Die Darstellungen hi­ storischer Verhältnisse der Gegenwart traten in den Vordergrund, und es concentrirten sich hier die Bildungselemente unserer Zeit zu

dem festen Kern ethischer Anschauungen, welcher die bestehenden Zu­ stände in den schärfsten Reflexen wiederspiegelte. Wenn auch zu­

nächst der Blick vorzüglich auf den krankhaften Stellen der Mensch­ heit, auf dunkelfarbigen, im Innern chaotisch ringenden Gestalten verweilte, so gewann doch die Poesie durch die Hinwendung zu

den tiefsten, weltbewegenden Ideen der Gegenwart eine neue Be­ seelung. Die Reisebilder, Reisenovellen, die Spaziergänge und Wettfahrten bezeichnen den Drang, überall den welthistorischen Os-

584

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

fenbarungen des gegenwärtigen Lebens zu lauschen und die Gestal­ tung der Zukunft in ihrem geheimnißvollen Weben zu enträthseln.

Bei dieser Hingabe an die Sympathien der Zeit, um ihre Jnteresten so mannigfaltig, wie das Leben selbst sich darstellt, zu schildern,

bei den vielfach sich kreuzenden Richtungen, in welche die Gegen­

wart zersplittert ist, herrschte der Geist der Unruhe, der Unstetigkeit vor, und die poetischen Productionen haben nicht in sich selbst ih­

ren Mittelpunkt, sind nicht sich selbst Zweck, sondern dienen ander­ weitigen Motiven, Tendenzen und Speculationen zur Grundlage.

Es machte sich gegenüber den schroffen Gegensätzen und den sich feindselig bekämpfenden Extremen der Gegenwart die gediegene Fe­

stigkeit ideeller Durchdringung als ein hauptsächliches Bedürfniß gel­ tend, und durch die Hegelsche Philosophie, die lebenskräftig in die verschiedenartigen Sphären der Wirklichkeit eindrang, wurde das Princip der freien Entwickelung gewonnen, welche ebensosehr die

Einheit der Idee in den mannigfaltigen Gestalten des Lebens zur

Anschauung bringt, als die individuelle Bestimmtheit in demselben In den dichterischen

mit aller Schärfe hervorzuheben bestrebt ist.

Erzeugnissen war aber die Reflexion um so vorherrschender, als bei der Armuth und Dürre deutscher Zustände noch der fruchtbare Boden der Wirklichkeit fehlte, und die Phantasie erst mühsam dar­ nach rang, den Boden sich für die poetische Kultur ergiebig zu ma­ chen.

Hieraus ging auch, namentlich bei den ersten Vertretern der

neuen

Literaturbewegung,

das Hingeben

an französische Sitten

und Institutionen hervor, weil man in diesen das zu finden glaubte,

was man in Deutschland vermißte, ein freies, öffentliches und ge­ selliges Leben, politische Gesinnung und liberale Berfaffung.

Das

Vorherrschen der Reflexion gab sich besonders auch darin zu erken­ nen, daß man aus kritischen Anfängen zur Production überging; die Kritik stellte die Principien fest, welche in den literarischen Er-

zcugniffen in Bezug auf das sociale und geschichtliche Leben zu berück­ sichtigen seyen, und indem sie auf Theilnahme an den wirklichen Zuständen der Gegenwart drang und deren Ziele und Forderungen

in Absicht auf die Literatur besprach, sammelte sie Vergangenes zum Gegenwärtigen, und suchte dieses durch jenes in ein helleres Licht zu stellen.

Während man gegen alles Veraltete in unseren litera-

ri schen undgesellschaftlichen Zuständen ankampfte, wiederholte sich

eine neue Sturm- und Drangbewegung;

es bildete sich bei dem

Hinausstrcben aus dem Drucke socialer Beschränkung eine Opposi­ tion gegen jede Aristokratie im Leben und in der Literatur, und da

585

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

als die bestimmteste Socialschranke die Ehe empfunden wurde, so drang man auf die Emancipation der Frauen, und hieran schlossen sich die Ansprüche, welche erhoben wurden für die Berechtigung des sinnlichen Theils des Menschen (rchabilitation de la chaii), für die

sinnliche Schönheit, überhaupt für das Weltliche und Materielle, was dem Geiste wieder zu gewinnen sey; hieraus ergab sich in ein­ seitiger Consequenz ein neues Heidenthum, das mit dem Christen­

thum in Conflict gerieth, und es stand zu besorgen, daß ebenso die Materie den Geist ertödte, wie man befürchtete, daß der Geist ertödten möchte die Materie.

Dem Pietismus als der Verketzerung

des Weltlichen trat einseitig die Heiligsprechung des Weltlichen ge­

genüber, ohne daß in dieser das Sinnliche in seiner Unterordnung

unter das Geistige erfaßt wurde und jenes in diesem seine Heili­ gung empfing [’"]. Unreife und Willkür zeigten sich bei den Be­ sprechungen socialer, politischer, religiöser Fragen, und Arroganz und

Eitelkeit, frivole Ansichten von dem sittlichen und christlichen Leben

trübten und verdunkelten das Princip, welches, die Triebkraft des organischen Fortschreitens in sich schließend, der neuen Literaturbewe­

gung zum Grunde lag. Die jungen Männer,

welche

vorzüglich

sich

thätig

zeig­

ten, die neue Literaturepoche herbcizuführen, waren folgende:

1)

Heinrich Laube, 1806 zu Sprottau in Schlesien geboren, studirte zu Halle und Breslau, machte mit Gutzkow eine Reise nach

Italien, wurde in demagogische Untersuchungen verwickelt und neun Monate in Berlin gefangen gehalten. Im I. 1837 verheirathcte er sich mit der jungen Wittwe des Professors Hänel in Leipzig, die ihm sowol nach dem Amthause in Muskau, wo er in Folge eines Straferkenntniffes abermals Gefängniß dulden mußte, als auch 1839

auf einer Reise nach Frankreich und Algier folgte.

Gegenwärtig

lebt Laube als dramatischer Dichter in Leipzig. 2) Ludolf Wien­ barg, 1803 im Holsteinschen geboren, studirte in Bonn und Kiel, wo er Doctor der Philosophie wurde, und mit Vorlesungen über

Aesthetik und deutsche Literatur auftrat; später hielt er sich in Frank­

furt a. M. und in verschiedenen Städten am Rhein auf, wandte sich

nach Hamburg, wo er neben belletristischen Arbeiten den kri­

tischen Theil der Börsenhalle

besorgte.

3) Theodor Mundt,

zu Potsdam 1807 geboren, studirte zu Berlin Philologie und Theo­ logie, erhielt dort die philosophische Doctorwürde, lebte seit 1832 in Leipzig, machte Reisen, wandte sich wieder nach Berlin zurück, und hat sich daselbst als Privatdocent an der Universität habilitirt.

586

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

4) Karl Gutzkow, 1811 in Berlin geboren, studirte Theologie,

dann Philosophie, spater in München und Heidelberg Rechts- und Staatswiffenschaften.

Seit 1836 begann seine kritische Thätigkeit;

er schrieb ein „Forum der Kritik" und sing mit der Kritik -er Kri­ tik an.

Mit seinem Aufenthalt in Stuttgart erschienen seine ersten

poetischen Erzeugnisse, am Ende des Jahres 1835 mußte er wegen seines Romans „Wally" eine dreimonatliche Haft büßen. Er ging spater nach Hamburg, wo er den Telegraphen redigirte; gegenwär­

tig ist er Theaterdichter in Dresden.

Laube gab die ersten Anregungen zu der Gestaltung des neuesten Literaturlebens, und suchte zu demselben die Keime in äl­

teren Schriftstellern, in Göthe, Fr. Schlegel, Heinse u. a., insofern sie sich die Emancipation unbefangener Natur, die Heiligung der Sinnlichkeit durch künstlerische Auffassung, die Rechte der sinnlichen Schönheit hatten angelegen seyn lassen.

Er trat 1833 als Redac­

teur der Zeitung für die elegante Welt auf, und besprach die neuen literarischen Erscheinungen im Sinne des Liberalismus.

In feinen

„modernen Charakteristiken" (1835) stellt er in fahriger Hast das Neue in Contrast mit dem Alten, und greift unter dem, was ehe­

mals Autorität war, nicht selten neben dem unbrauchbar Geworde­

nen auch das brauchbar Gebliebene an, so daß Wahres und Un­ wahres neben einander und durch einander liegt; er zeigt Sympa­ thien für das Ballet, das er eine glänzende Rückforderung verloren gegangener Körperschöne nennt, und für italienischen Opernkitzel,

dem er die deutsche Musik weit nachsctzt. Im ersten Theil der Cha­ rakteristiken ist hervortretend die Charakterisirung Raupach's und im zweiten Theil die Charakterzeichnung Chamiffv's, Varnhagen von

Ense's, des Fürsten von Pückler-Muskau, Hoffmann's von Fallers­

leben und Callot-Hoffmann's; gegen Tieck ist eine befangene, feind­ selige Stimmung vorwaltend. Den Mittelpunkt von Laube's schrift­ stellerischer Thätigkeit bilden seine „Reisenovellen" (1834—183'7),

wo er

in Heine's Stil,

jedoch

nicht

ohne

eigen« Originalität

sich auf leichte Weise über Alles und Jedes in Staat, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft, über Personen und Verhältnisse aus allen

Regionen des Lebens ausläßt.

Seine Darstellung ist immer frisch

und lebendig ohne Tiefe, wechselnd nach den mannigfaltig sich auf­ drängenden Gegenständen. Auch in anderen Novellen ist die äußere Form ein integrirender Hauptschmuck des Ganzen.

Seine „deutsche

Literaturgeschichte" (1839) entbehrt einer ruhigen, gründlichen Auf­

fassungsweise.

In der neuesten Zeit wendet er seine Thätigkeit dra-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

587

malischen Arbeiten für das Theater zu, und ist hier noch in der Entwickelung begriffen; mit „Gottsched und Gellert" und den „Karlsschülern" hat er das moderne Dichterdrama versucht, wie früher Oehlenschläger im „Correggio" das Künstlerdrama. Wienbarg verband mit einem größeren Ernste das Streben nach Wissenschaftlichkeit; sein Standpunkt ist der einer freien, gei­ stigen Bewegung. Er hält sich an die Idee und will die Wirk­ lichkeit zu ihr hinaufziehen, sowol in politischer, als auch in lite­ rarischer und jeder menschlichen Hinsicht. In seinen „ästhetischen Feldzügen" (1834), die aus Vorlesungen an der Kieler Universität hervorgingen, giebt er die Umrisse zu einer Aesthetik im Sinne der neuesten Literaturepoche. Er faßt die Kunst in ihrer Einheit mit dem Charakter ihrer Nation auf, und weist mit Schärfe des Ur­ theils und in einer klaren wohlgebildeten Sprache nach, wie die Aesthetik stets eine nationale seyn müsse, indem sich das Schöne nach der jedesmal herrschenden Weltanschauung einer Zeit und ei­ nes Volks lebendig individualisire. Zu einer solchen Betrachtungs­ weise lagen die Anregungen in der Hegclschen Philosophie, welche die lebendige Besonderung des Allgemeinen zu ihrem Principe hat, und auch in der Aesthetik zeigt, wie die Vernunfterkenntniß nicht das Gefühl für das Schöne ausschlicße, sondern erst in ihrem Rechte anerkenne und in sich aufnehme. Wienbarg widmete seine „ästhe­ tischen Feldzüge" „dem jungen Deutschland" und gab hierdurch der neuen Literaturrichtung den Namen, der sich besonders auf die oben bezeichneten jungen Männer bezieht. Während die neueste Kritik in Menzel und Heine die Dictatur Göthe's zu stürzen bemüht war, erkennt Wienbarg Göthe's nationalliterarische Bedeutung an und feiert ihn als den geistigen Befreier Deutschland's. Die productive Thätigkeit innerhalb seines Standpunktes trat in Wien­ barg zurück; er hatte überdieß schmerzlich die reaktive Politik zu empfinden, welche ihm lange keinen sicheren Platz im Vaterlande gönnte. Mundt hat besonders die Ideen der deutschen Philosophie mit den neuen Anschauungen der Geschichte zu vermitteln gestrebt, und steht in der Auffassungsweise des Individuellen in der Kunst mit Wienbarg auf gleichem Boden. Diese Methode der ästhetischen Kritik gewährt einen Reichthum von concreten und lebensvollen An­ schauungen, und die productive Thätigkeit hat in ihrem der Gegen­ wart zugewandten Streben die reichsten und mannigfaltigsten An­ regungen zu neuen Schöpfungen gewonnen. Der Fortschritt unserer

588

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

gegenwärtigen Literaturepoche giebt sich eben darin kund, daß sich das Allgemeine und Besondere durch die Kräfte des Gemüths und

des denkenden Geistes zu einer immer lebensvolleren Einheit ver­ schmelzen; die ideelle Durchdringung neben der Macht der Unmit­ telbarkeit gestaltet das freie Leben der Persönlichkeit und die For­

derungen der Kunst inhaltsvoller, und schließt in sich die Triebkraft zu tieferen und reicheren Gestaltungen somol in unseren politischen

als auch literarischen Zuständen.

Mundt ging in seinen „modernen

Lebenswirren" (1834) auf die verschiedenen in unserer Zeit wirken­ den Gegensätze ein, die er in einer Reihe von humoristischen Brie­ fen behandelt; er sagt aber selbst in der Vorrede, dies Buch sey

resultatlos, und gerade so resultatlos als unsere Zeit selbst es noch sey. In der „Madonna" (1835) wagte er sich auf das verfängliche Gebiet der neuen Lehre von der Emancipation des Fleisches, ohne daß es ihm gelang, die verflüchtigende Richtung des sensualistischen Princips zu überwinden und die christliche Herrschaft des Geistes

über das Fleisch zur Anschauung zu bringen.

In den „Eharakteren

und Situationen; Vier Bücher Novellen, Skizzen, Wanderungen

auf Reisen und durch die neueste Literatur" (1837) und in dem „Delphin" (1838) zeigt sich das Bestreben Mundl's, die poetischen

Anschauungen seines Inneren immer reicher und voller zu gestalten. Er bewährt namentlich ein schönes Talent der Auffassung und Schilderung, und Schärfe des Blicks, mit welcher er die Bildungs­ phasen unserer Zeit durchschaut. Dies tritt auch in den „Spazier­ gängen und Wettfahrten" (1838) hervor, wo er in die ethische Wahrheit und Bedeutung des völkergeschichtlichen Lebens einzudrin­

gen sucht, um durch individuelle Auffassung der Weltverhältnisse eine Gesammtanschauung von dem Geist der Gegenwart zu geben.

Seinem historischen Roman „Thomas Münzer" (1843) liegen werth­ voll geschichtliche Studien zu Grunde; es fehlt nur die Bewälti­ gung und die volle poetische Verarbeitung des Stoffs, der in sei­ ner Reichhaltigkeit uns in eine Zeit versetzt, wo die Spannungen zwischen Alt und Neu, zwischen Staat und Kirche revolutionäre,

konfessionelle Gährungen hervorriesen, in denen sich die Zeitzustände der Gegenwart wiedcrspiegeln. Eine regsame Thätigkeit entwickelte

Mundt in der Herausgabe von Zeitschriften; dahin gehören „die Schriften in bunter Reihe" (1831), „der Zodiakus" (1835, 36), „die Dioskuren für Kunst und Wissenschaft" (1836, 37), „der Frei­

hafen" (1838—44).

Bemerkenswerth sind auch seine literarhisto­

rischen Bestrebungen; in der „Kunst der deutschen Prosa" (1837)

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

589

giebt er eine lebensvolle Entwickelung von dem Kampfe der Prosa mit der Poesie und führt in geistvoller Behandlung die Resultate

gelehrter Forschungen in weitere Kreise ein.

In der „Geschichte

der Literatur der Gegenwart" (1842) bewährt er gleichfalls ein großes Talent in der Ausfassung und Darstellung; doch eine ge­ wisse Leichtigkeit in der Entwickelung thut der Gründlichkeit und tiefer

gehenden Forschung in seinen literarhistorischen Schriften überhaupt nicht selten Eintrag.

Sein Stil zeichnet sich überall durch anschau­ liche Klarheit, lebensvolle Frische und reiche Fülle des sprachlichen Ausdrucks aus. Gutzkow vertritt die Eigenthümlichkeit der neuen Literatur­

bewegung in ihrer raschen Beweglichkeit und in ihrem unruhigen Suchen am vielseitigsten [*00].

Er war mit den „Briefen eines

Narren an eine Närrin" (1832) in die Bahn der jungen Dränger

eingetreten, und sprach in deren Ton, jedoch auf eigenthümliche Weise, die Zeitstimmung nach der Julirevolution aus.

In Stuttgart kam

er in Verbindung mit Menzel, und schrieb für das Morgenblatt klei­ nere Novellen.

In dem Roman „Maha Guru" (1833) stellt er die

Geschichte des irdisch sichtbar gewordenen Gottes der Tibetaner dar, in welcher er die Zustände der Gegenwart mit ironischerSchärfe sich reflectirm ließ; dieser Roman war sein erstes bedeutendes Werk, das Menzel als das Erzeugniß eines Dichters rühmte, in welchem sich

Tiecks u. Steffens Kunst vereinen. In der Tragödie „Nero" wird die Gemüthsstimmung eines großen Zeitunglücks zur Anschauung ge­ bracht, der Schmerz über die Verworfenheit menschlicher Zustände; mit z» großer Vorliebe verweilt der Verfasser bei der Darstellung

der Arsgeburt eines ekelhaften Wahnsinns. Die „Soireen" (1835) zeigen in den Neiseblicken Gutzkow's scharfe, wenn auch flüch­ tige Beobachtungsgabe, die verbunden ist mit einem bedeutenden Talente genreartiger Detailschilderung. Der Roman „Wally oder die Zveiflerinn," sprach am kecksten die neue Lehre von dem Cultus

des Feisches aus, und lieferte die Hauptanklagepunkte, weshalb die Schriften „des jungen Deutschlands" nebst ihren Verfassern von Staakwegen mit dem Bann belegt wurden, wozu Menzel thätig mitgevirkt hatte. Gutzkow richtete seine strafende Kritik gegen Menzil's reactionäre Sittlichkeitsprincipien, und entwickelte eine unermüdiche literarische Thätigkeit.

Im Jahr 1836 erschien: Zur

Philoophie der Geschichte, Beiträge zur Geschichte der neusten Li-

teratw, und Göthe im Wendepunkt zweier Jahrhunderte; in dieser letzten Schrift stellt Gutzkow im Gegensatz von Menzel's einseitiger

590

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Kritik auf unparteiische Weise Göthe's Dichten und Wirken dar, und rechtfertigt denselben, daß er sich dem Gewirr der nationellen

Tagesinteressen entzog, um als ächter Dichter das zu thun, was er Nachdem

jetzt, wie zu jeder anderen Zeit, eben nur thun konnte.

1837 die „Zeitgenossen" erschienen waren, trat 1838 der Roman

„Blasedow" ans Licht, in welchem Gutzkow humoristisch die Le­

bensfragen in I. Paul's Manier behandelte; außerdem erschien in

demselben Jahr das Buch „Götter, Helden und Donquixote," die „rothe Mütze und die Kapuhe," der Aufsatz „Vergangenheit und Gegenwart,"

endlich

der Roman „Seraphine,"

in welchem

sich

der „Wally" gegenüber eine gehaltenere Ruhe kund giebt. Gutzkow's literarische Thätigkeit entwickelte sich vorzüglich in der Hast des Kampfes, welche ihn von einem Werke zum anderen fort­ trieb. Mit einem angeborenen Eigensinn wandelte er eifersüchtig

seine eigenen Pfade, und eine eminente Verstandesschärfe gab ihm Waffen in die Hand, die unheilbare Wunden schlugen.

Seine Kri­

tik war bitter und nicht ohne Herzlosigkeit, namentlich gegen die gehässigen Anfeindungen, mit denen er zu kämpfen hatte. Seine Diction ist der lebendigen Beweglichkeit seiner Gedanken entspre­ chend. Ein unerschöpflicher Reichthum von Ideen steht ihm zu Gebote, und mit unglaublicher Leichtigkeit fließen ihm die Vergleiche

zu, ohne daß sie gesucht und verfehlt erscheinen, nur daß nicht sel­ ten, in der unaufhörlichen Erzeugung neuer Bilder die Deutlichkeit eingebüßt wird. Er greift ein in die Gebiete der Politik wie Li­ teratur, der Pädagogik wie Theologie, und wie er diese Stoffe

rasch erfaßt, läßt er oft nur einzelne Schlaglichter auf sie fallen, ohne sie zu ergründen und allseitig zu beleuchten. Seine eigentlich poetische Thätigkeit nahm zu, wie er älter und reifer ward; es

steigerte sich, während er früher in subjectiver Bitterkeit seine Ge­

fühle zurückdämmte, die Wärme der Empfindung und die Theil­ nahme am menschlichen Weh und Leid.

Dies zeigt sich in seinen

Dramen: „Patkul," „Pugatschew," „Werner," „das weiße Blatt." In den letzten Jahren hat er sich fast ausschließlich der Thätigkeit

für das Theater hingegeben.

Die Stärke seiner Dichtung beruht

hauptsächlich auf der Darstellung

der

tiefsten Conflicte

im In­

nern der Menschenbrust; doch fehlt ihm für das historische Drama die Ruhe

bestrebt

einer

ist,

rein

objectiven Anschauung,

die Fragen

und Tendenzen

schichtlichen Stoff hineinzuziehen.

der

indem

er

Zeit

in

zu sehr

den

ge­

In dem Lustspiel wird dies we­

niger störend, und in der Posse „Zopf und Schwert," und nament-

lich im „Urbild der Tartüffe" hat er für das deutsche Lustspiel auf neue Wege hingeleitet. Es ist für das deutsche Drama beson­ ders durch Gutzkow's Bühnenstücke das Interesse wieder geweckt worden, und die talentvollsten Dichter der Gegenwart sind bemüht, das Theater zu erobern; die Erfolge werden um so größer seyn, je mehr sich die freie Bewegung des Volksgeistes im Drama wird Ausdruck verschaffen können [801J. Unter den jungen Männern, die sich an die neue Literaturbe­ wegung anschloffen, .ohne mit einseitiger Entschiedenheit auf die ex­ tremen Ricktungen einzugehen, ist besonders G. Kühne zu nennen, der, 1806 in Magdeburg geboren, in Berlin studirte, und später 1835 in Leipzig die Redaction der Zeitung für die elegante Welt über­ nahm. Philosophisch gebildet suchte er vorzüglich Poesie und Phi­ losophie in ihren Wechselbezügen zu erfassen und universale An­ schauungen der Geschichte poetisch zu gestalten. Das Bestreben, die rein geistigen Bewegungen des Gedankens umzusetzen in die Fülle des individuellen Lebens, gab der jüngeren Literatur ihre bestimm­ tere Richtung und befruchtete sie mit neuen Ideen. Kühne stellt in der Novelle „Eine Quarantaine im Irrenhause" (1835), wo er mit dem Scharfblicke eines Beobachters die Störungen des Seelen­ lebens ersaßt, das Ringen dar zwischen der Stabilität eines .in sich abgeschlossenen philosophischen Systems und der freien Bewegung einer ächt menschlichen Bildung, zeigt jedoch, wie sehr er selbst noch befangen ist in der Mitleidenschaft, die aus jenem Gegensatze her­ vorgeht. In den „Klosternovellen" (1838) wird durch die histori­ sche Grundlage eine festere Charakteristik und eine größere Abrun­ dung und Geschlossenheit der Darstellung gewonnen. Auch in den „Rebellen von Irland" (1840) behandelte Kühne einen historischen Stoff; doch das reflectirende Element überwiegt in seinen dichteri­ schen Erzeugnissen zu sehr die poetische Erfindung, welche als eine Gabe des Genius dem Stoffe erst sein inneres Leben ertheilt und alles Einzelne in seiner Entfaltung ebensowol anschaulich, charakte­ ristisch und originell hervortreten läßt, als auch harmonisch mit einander verbindet und in Einklang mit dem Ganzen setzt. Zn den „weiblichen und männlichen Charakteren" (1838) und in den „Portraits und Silhouetten" (1843) erfaßt Kühne die Richtungen der neusten Literatur und des gegenwärtigen deutschen Lebens, wie sie sich in ihren hauptsächlichen Vertretern auf eigenthümliche Weise besondert haben, und zeigt ein schönes Talent das Indivi­ duelle in dem Allgemeinen zu erfassen und darzustellen.

592

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

Die Richtung der neuen Literatur hat, ungeachtet der repressi­ ven Maaßregeln, die gegen sie von Seiten des Staats ergriffen

wurden, sich weitere Bahnen gebrochen, und indem sie sich von den extremen Bestrebungen einer unklaren Drangbewcgung immer mehr läuterte, hat sie nicht bloß eine kritisch zersetzende, sondern auch organisirende Thätigkeit entwickelt.

B.

Die Dichter der Gegenwart.

Seitdem die großen Zeitereignisse das deutsche Nationalbewußt­ seyn wieder geweckt und zur Thatkraft aufgerufen hatten, wurden

die Ideen eines frischeren, größeren, reineren Daseyns lebendig, die

in dem nationalen Freiheitssinne ihren Mittelpunkt fanden.

Die

Freiheitssehnsucht wurde das gestaltende Element in den dichterischen

Erzeugnissen, in welche zugleich mit der Theilnahme an dem wirk­

lichen Leben die Unruhe des Interesses, die Hast, die Sorge und Ungeduld eindrang. Es regte sich die ausgedehnteste poetische Be­ triebsamkeit, in welcher sich die allgemeine Theilnahme an der gro­

ßen Aufgabe der Zeit kund gab; in allen Theilen des Gesammtvaterlandes trat die Productionslust hervor und ergriff alle Stände auf gleiche Weise.

Da in Folge der geschichtlichen Entwickelung

im deutschen Volke die Energie der Thatkraft in die Tiefe seiner Subjektivität zurückgedrängt war, so erzeugte sich ein Reichthum der Empfindung und Anschauung des Gemüths, woraus die Herr»

lichsten lyrischen Dichtungen hcrvorgingen, und es spiegelt sich in der deutschen Lyrik der ganze Verlauf unseres geschichtlichen Da­ seyns ab. Es giebt keine Richtung des Gemüths, für die nicht

der tiefste Ausdruck der Empfindung, welche von dem Weben des Zeitgeistes durchdrungen ist, gefunden wäre, und aus der nationa­ len Hingebung, aus dem innigen Verschmelzen mit dem Volksle­

ben erwuchs der neusten Lyrik eine eigenthümliche Macht; wir ha­ ben in ihren Produktionen einen Schatz, der in dem tiefsten Innern der Nationalempsindung ihre Aufbewahrung erhält. Es trat die lyrische Poesie in der neusten Literaturepoche in den Vordergrund,

und damit verbanden sich besonders die novellistischen und drama­ tischen Produktionen (vergl. oben S. 427 sqq.).

593

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

1.

Die Lyrik nebst den epischen und lyrisch-epischen Dichtungen.

In Oesterreich machte sich in den jungen Gemüthern gegenüber

den bestehenden Verhältnissen des öffentlichen Lebens

der Drang

und die Sehnsucht nach Freiheit am glühendsten geltend;

theils

suchen die Oesterreicher Sänger Nahrung an den nationalen Inte­

ressen des gemeinsamen Vaterlandes und geben in ihren Liedern der öffentlichen Stimmung und dem Geiste der Gegenwart Ausdruck, theils sprechen sich die Phantasien ihres Heimathlandes aus, und der

Völkerschmerz giebt sich in elegischem Tiefsinn kund.

Mit der Fülle

des Gemüths verbindet sich bei den Oesterreichischen Dichtern ein großer Reichthum der Naturanschauung,

seits

die

Vorliebe

für

Bilderglanz

doch

ist

auch anderer­

und Prunkrhetorik

hervor­

tretend. Nikolaus Lenau (Niembsch von Strehlenau), geb. 1802 zu Chatad in Ungarn, trat zuerst als Dichter auf in der Zeit, in wel­

cher die Polen dem Uebergewichte fremder Macht erlagen.

Im I.

1832 erschienen seine lyrischen Gedichte, und 1838 kam eine Samm­

lung „Neuerer Gedichte" hinzu, die in der jüngsten Ausgabe (1844) noch vermehrt wurden. Die Begeisterung für nationale Freiheit und die reine Theilnahme an dem Schicksale der unglücklichen Po­ len, ferner die liebevolle Hingabe an die Natur, um dort inneren Frieden und Trost für die in der Menschenwelt getäuschten Hoff­

nungen zu finden, bilden die Grundelemente, welche Lenau's Dich­ tertalent erregten. („Abschied," „der Gefangene," „Abschied von Ga­

lizien," „der Polenflüchtling"). gefühl seiner Nation, die in

Durchdrungen von dem Selbst­ nach ihrer Ein­

früherer Zeit

wanderung sich in vielfachen Kämpfen siegreich behauptete,

weiß er in lebendiger Schilderung und frischer Anschaulichkeit die Eigen­ thümlichkeiten seines Landes und Volks darzustellen („die Haide­

schenke," „die Werbung," „Mischka"). Mit Liebe versenkt er sich in die Erscheinungen und Zustände der Natur und verleiht ihnen

inneres Leben, indem er sie mit dem Reichthum seines eigenen Gei­

stes beseelt („Lenz," „Liebesfeier," „der Gefangene"); doch der nicht gelöste Zwiespalt in Lenau's Dichterbrust läßt eine schwermüthige Stimmung und tiefe Melancholie vorherrschen. Die schöne Welt des Glaubens, die ihn früher beseligte, ist zerstört; die Früchte

von dem Baum der Erkenntniß erquicken ihn nicht,

das Vater­ land, die hohe Göttinn Germania kann ihn nicht trösten; sie ist todt und wandelt in den Räumen der Schatten. Der alles zer-

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

38

594

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

setzende Zweifel wird sein Gefährte, der ihn überall nur Vergäng­ lichkeit erblicken läßt, der Schmerz wird sein einziger Vertrauter, mit dem er Zwiegespräche hält.

Diese Zerrissenheit eines großen

Weltschmerzes lähmt die freie Geisteskraft und stört die lyrische Un­

mittelbarkeit; sie ergeht sich oft in den gewaltigsten Bildern und läßt die einfache Sprache der Empfindung nicht aufkommen.

Lenau

ward besonders angezogen von der Sage des ewigen Juden („der ewige Jude" und „Ahasver, der ewige Jude") und von der Faust­

sage; letztere behandelte er in einem Gedichte (1836) episch-drama­

tisch, indem er Erzählung und Dialog abwechseln läßt.

Diese Dich­

tung ist der Ausdruck von Lenau's innerer Zerrissenheit; sie enthält

viele schöne Einzelnheiten, verfehlt aber den tiefen Gehalt der Sage. Die Sehnsucht des Faust nach Erkenntniß erscheint hier als das Sündhafte, die den Mephistopheles herbeiruft. Nicht ergreift uns, wie bei Göthe, die tragische Verzweifelung Faust's, der mitten

im Sinnentaumel seine geistige Hoheit bewahrt, sondern wir begeg­ nen nur dem bittern Hohn über das Mißlingen seines Strebens. Als letztes Moment tritt Faust's Abgelebtheit hervor; alles Irdische verachtend, flieht er die Erde und sucht das Meer, die graue Un­ endlichkeit. Nachdem er auf demselben gescheitert ist und in dem rohen gefühllosen Matrosenleben die energische Todesverachtung ken­

nen gelernt, ersticht er sich selbst, in der Ueberzeugung, daß sein eigentliches Wesen ein Theil der Gottheit, sein irdisches Leben aber nur rin Traum seines besseren Seyns gewesen. Wie nun Lenau in seinem Faust die Sehnsucht nach Erkenntniß als ein ursprüng­ lich sündhaftes Begehren bezeichnet, so eröffnet er im „Savonarola"

(1837) den entschiedenen Kampf gegen die Erkenntniß und geräth in eine didaktische Polemik gegen die neueste Wissenschaft, wodurch er von der Höhe der Poesie herabsinkt. In den letzten Jahren ist

der Dichter leider in einen unglücklichen Wahnsinn verfallen; seine Freunde hoffen, daß er von demselben noch wird geheilt werden können [801J. Anastasius Grün (Graf von Auersberg), geboren 1806 in

Krain, wo er meistentheils auf seinen Gütern lebt, trat mit den „Spaziergängen eines Wiener Poeten" (1837) in die vordersten Reihen der neuesten politischen Dichter, welche seit der Juli-Revo­

lution auftraten und als Verkündiger der Ideen der Volksfreiheit nach allen Seiten hin ein mannigfaltiges Echo erweckten.

Im I.

1837 erschienen seine Gedichte, eine Sammlung, in der zusammen­

gefaßt ist, was der Jüngling und der Mann in einer Reihe von

595

des 18. Jahrhunderts his zur Gegenwart.

Jahren gedacht und gefühlt.

Hervortretend ist in seinen Liedern

die Liebe und Begeisterung der Freiheit, welche, da sie in der Hei­ mat!) keine Befriedigung findet, sich den großen Angelegenheiten

der Menschheit

zuwendct.

Lebendig

wird in dem

Dichter das

Schiller'sche Pathos eines Marquis Posa für Vernunft, Weltbürgerthum und Naturrecht, und sein Freiheitsdrang äußert sich bald in Schmerz und Wehmuth, bald in Bitterkeit und Ingrimm.

In­

dem er seine Heimath flieht, vertieft er sich auf seinem Weltgange in die Völkerschicksale, und als treuer Gefährte begleitet ihn die Naturbcgeisterung, welche ihn über alles Weh und allen Schmerz trö­

stet, indem sie ihm die Idee des ewigen Werdens der Weltgeschichte Viele unter den Liedern aus Italien, den Erin­ nerungen an Adria und den vermischten Gedichten zeugen von dem

vergegenwärtigt.

tiefsten Eingehen in die Wirklichkeit des Lebens, in denen sich Grün's Idealismus zu wahrhaft tragischer Tiefe erhebt, wie in dem Gedicht „die Sünderin," „der gefangene Räuber," „der Invalide"

„Lubomirsky."

Unter Italiens schönem Himmel ergreift ihn das

Elend des Geschlechts und die wirre Knechtschaft der Menge, so

wie der Alpcnbewohner seiner Heimath ihm als das Lamm in den Fängen des Raubthiers erscheint. Venedig, das ehemals so stolze,

ruhmreiche Venedig, dessen Größe mit der Freiheit verloren ging, wird der Gegenstand der klagenden Verwunderung des Dichters.

Wendet er sich dann wieder dem deutschen Vaterlande zu, um des­ sen verborgene Thatkraft an das Licht zu beschwören, dann macht sich energisch seine Begeisterung für die Kraft deutscher Nationalität

geltend, wie in dem Gedicht „am Rhein" und „das Weiheschwert." Bei dieser Poesie des Zorns, die sich erzeugt aus dem Kampfe und Streite, in welchem der Dichter sich mit der Welt findet, kann die Naivität des Liedes, die Einfachheit und Lebensinnerlichkeit ächter

Lyrik nicht aufkommen; vorherrschend ist die Reflexion, und die Schwere des Gedankens verdrängt die Wärme des Gefühls.

Mit dieser reflectirenden Richtung

verbindet sich das Jagen nach

Effecten und nach Bilderreichthum, und über dem Anhäufen von Bildern und Gleichnissen geht öfter die wahre Einheit verloren. A. Grün's „Gedichte" bilden die schönste Ergänzung zu den Dich­ tungen, welche er „Schutt" betitelte und schon 1835 herausgab. In denselben führt uns der Dichter über den äußeren Druck des Lebens, über veraltete zusammenstürzende Formen politischer Zu­ stände, über Trümmer, Asche und Schutt in ein Thal, wo auf

den alten Trümmern ein weites Meer von Saaten wogt, wo über 38*

Zweite Periode.

596

den

alten

Schutt

Bon dem erste» Viertel

das grüne Kleid

frischer Triften

geworfen,

wo das ganze Land ein sonniger Garten ist, in welchem die allge­

meine Menschenliebe thront, der Aberglaube mit seiner Kette zer­ bricht und

ein

ewiger

Friede

sich

auf Rosen bettet.

Es

sind

dies die poetischen Träume eines subjectiven Idealismus, welcher

der inneren Wahrheit entbehrt; denn die Freiheit wird ewig nur aus der harten Arbeit des Kampfes entsprießen.

Da Anastasius Grün's

Dichtungen von dem Ernst des reflectirenden Gedankens beherrscht werden, so gelang ihm am wenigsten das Epische, die Ballade und Romanze.

Dies zeigt sich besonders in seinem Gedichte „der letzte

Ritter," das schon 1830 erschien.

Es besteht aus einer Reihe von

Romanzen und verherrlicht den Kaiser Maximilian, welchem der Dichter sein volles Herz entgegenträgt. Er leiht dem Helden seine Gedanken, namentlich wo Maximilian seinem Enkel den Aufgang

eines neuen Lichtes in Deutschland durch Luther verkündet.

Außer

dem Mangel an Einheit werden in dem Gedichte die vielen Alle­ gorien störend, die ebenso unpoetisch sind, wie die Bilder und der Parabelschmuck, worin A. Grün öfter in seinen Liedern die Weisheit

und Lehren der Zeit hüllt [80SJ.

Karl Beck, geboren 1817 zu Pesth in Ungarn, kam nach Deutschland und

ward besonders von Börne's Schriften

erregt,

welche einen Sturmdrang von Gedanken in ihm hervorriefen, denen die innere Beruhigung und die höhere Erleuchtung fehlt. Er über­

schrieb seine ersten Gedichte „Nächte" (1838) und verkündet« in denselben seine glühenden Freiheitsträume mit oratorischem Pathos in üppiger Prunkrhetorik.

Das gebeugte Judenthum, das vernich­

tete Polen sind besonders die Trümmerhaufen, auf denen des Sän­ gers Stimme ertönt; aus dem Strome der stürmischen Gefühle taucht selten ein großes und einfaches Gefühl auf.

Eine größere

Innigkeit herrscht in den „stillen Liedern" (1840), und auch in „Janko" (1841), in welchem Beck vom verwilderten Sohn der braunen Haide seines Heimathlandes singt, aber auch hier drängt sich die Ueberschwänglichkeit des Gefühls in rhetorischem Bilder­ glanze hervor. In seiner „Auferstehung" ist die fieberhafte Stim­ mung noch nicht beschwichtigt; diese Dithyrambe ist eine Einleitung zu künftigen Gesängen, ein Gebet um ein Lied, welches das zer­

streute und zerflossene Zeitalter mit mächtigem Arme zu erfassen vermöchte. Alfred Meißner und Moritz Hartmann, beide aus Böhmen, sprechen in ihren Liedern den Völkerschmerz aus, und be-

597

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

sonders überläßt sich Meißner in seinen böhmischen Elegien weh-

muthsvoll den nationalen Erinnerungen und Träumen. Neben

diesen

und

anderen Oesterreichischen Dichtern wählte

Karl Egon Ebert, geb. 1801 zu Prag, die alten Stoffe ge­

müthlicher deutscher Lyrik, und besang Liebe, Frühling, Natur. In der Ballade, Romanze, poetischen Erzählung hat er das ihm ge,

mäße Gebiet für seine Dichtung gewonnen und greift in die Roman­

tik hinüber. In seinem „Wlasta" (1829) lieferte er ein nationales Epos und versetzt uns in sein Heimathsland Böhmen.

Der romantischen Richtung gehört zum Theil auch noch Jo­

v. Zedlitz an, welcher 1790 im österreichischen Schlesien geboren und gegenwärtig in Wien lebend,

seph Christian Freiherr

in seinen „Todtenkränzen" einen edlen Geist und ein ebenso dich­

terisches als für das Heilige im Menschenleben empfängliche Ge­ müth bezeugte. Er veranschaulicht hier in einem Cyclus lebens­ voller Bilder die Idee der Unsterblichkeit, der Wandelbarkeit des irdischen Glücks gegenüber,

in begeisterter Dichtersprache.

Seine

„dramatischen Werke" (1830—1836) bewegen sich in roman­ tischen Formen und zeigen das Bestreben, die Eigenthümlich­ keiten des älteren spanischen Theaters auf die deutsche Bühne zu

verpflanzen. Der Nestor unter den Oesterreichischen Dichtern

der Gegen­

wart war I. Ladislaus Pyrker, der 1772 zu Langh in Un­ garn geboren 1846 als Erzbischof von Erlau starb. Er suchte in seiner „Tunisias" (1819), welche Karl's V. Zug gegen Tunis

darstellt, und in der „Rudolsias" (Rudolf von Habsburg) das

eigentliche Epos wieder zu beleben, und zeigt von Neuem das Mißliche des Kunstepos; denn ungeachtet der gewählten und ge­

schmackvollen Diktion, der gewiffenhasten Behandlung des Hexa­ meters und der lebendigen Anschaulichkeit vieler einzelnen Schil­ derungen läßt das Ganze doch kalt. Pyrker's „Lieder der Sehn­ sucht nach den Alpen" (1845) gewinnen durch die frische Unmittel­ barkeit poetisches Leben, sowie die „Perlen der heiligen Borzeit"

ansprechend sind durch die Innigkeit des in ihnen waltenden Ge­ fühls. Wenden wir uns nun von Oesterreich nach dem Süden und We­ sten Deutschland's, nach Schwaben, nach der Schweiz und nach dem

Rhein bis zu Westphalen, so treffen wir hier auf Dichter von jeder Weise und in jeder Gattung.

In Schwaben

bildete besonders Uhland's Poesie einen An-

598

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

knüpfungspunkt für die jungen Dichter, welche, je bewegter sich in Schwaben die politischen Zustände gestalteten, den Freiheitsideen

Ausdruck zu geben suchten. Gustav Pfizer, geb. 1807 zu Stuttgart, wendet sich in seinen Liedern nach Frankreich, Polen und Griechenland und ver­

kündet in einem edlen kosmopolitischen Enthusiasmus den Freiheits­ drang der europäischen Menschheit. Es sind beredte Reflexionen, in denen sich eine ehrenhafte Freimüthigkeit ausspricht.

Von ähnlichen

allgemeinen Tendenzen wird auch W. Zimmermann (geb. 1807)

beseelt, in welchem sich besonders das Schillersche Pathos hervor­

drängt [804J. Am eigenthümlichsten hat sich in Eduard Mörike (geboten 1804 in Ludwigsburg) der Uhlandsche und Kernersche Dichtergeist

durchdrungen.

In ihm verbindet sich die Romantik mit dem Geiste

moderner Bildung; sein Gemüth hat sich aufgeschlossen den Schmer­

zen und Leiden des

geistigen Lebens

der Gegenwart, aber sein

Schmerz hat nichts Krankhaftes, Ueberreiztes, sondern der Geist ächter Humanität, der in Mörike durch die Werke der Griechen und Römer und durch Göthe's Dichtungen genährt ist, erzeugt eine

besänftigende, beruhigende Stimmung.

Die romantische Seite giebt

sich in Mörike's Vorliebe für das Wunderbare, das Geister- und Märchenhafte kund („die Geister am Mummelsee," „Um Mitter­

nacht").

In der Ballade wählt er vorzugsweise mythische, mär­

chenhafte Stoffe („die traurige Krönung," wo das Wunder einer sittlichen Idee dient), und seinen Dichterberuf bewährt er in der Naivität volksthümlicher Lieder („Jägerlied," „Soldatenbraut,"

„Agnes," „das verlassene Mägdlein," „Lied vom Winde").

klassische

Kunstpoesie

erscheint

bei

Mörike

in

reiner

Die

Idealität

und veredelter Form; in seinen Naturgedichten ist nirgends Be­ schreibung oder reflectirender Gedanke, sondern überall Bild und

Stimmung („Mein Fluß," „Tag und Nacht," „Zurechtweisung," „An einen Wintermorgen").

In seiner Betrachtung des Men­

schenlebens tritt die Sinnigkeit eines weichen,

zartgestimmten Ge­

müths hervor in Verbindung mit einem kräftigen, gesunden Hrtmor; wie der Dichter mit dem Unverstände des Lebens heiter zu

spielen weiß, so versenkt er sich auch in seinen Ernst,

und

im

Schwünge der Religion erhebt sich seine Seele über den großen und allgemeinen Schmerz der Endlichkeit („Zum neuen Jahr," „Charwoche"). Einen großen Reichthum entfaltet Mörike in der Liebes­

poesie, und hier bewährt sich seine poetische Begabung darin, daß

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

599

er das persönlichste Gefühl in ein objectives Bild zu fassen und ein besonderes Erlebniß zur Allgemeingültigkeit zu steigern weiß („der Knabe und das Jmmlein," „Liebesvorzeichen," „Frage und Ant­

wort," „Nächtliche Fahrt," „Erinnerung," — „Josephine" —). Mit Uhland hat Mörike die Reinheit und das plastische Element

der Form gemeinsam, die er beseelt mit der Empsindungstiefe eines christlich-romantischen Gemüths [8 05j.

Mit Mörike befreundet war W. Waiblinger, der 1804 zu Heilbronn geboren, eine frühreife Natur war. Eine ungebändigte

Phantasie tyrannisirte das gemüthliche Element in ihm, und seine leidenschaftliche Freundschaft war seinen Freunden am lästigsten, in­

dem er, das Recht der Gleichheit nicht anerkennend, jeden zu be­

herrschen suchte. In der Poesie bewunderte er zuerst Matthisson, dann trat ihm Göthe als Kunstideal näher, und Hölderlin's tiefe elegische Wchmuth mit der Sehnsucht nach dem Gricchenthum übte einen mächtigen Einfluß auf ihn aus.

Bei dem inneren Drange

seiner Natur fühlte er sich auch von Schiller und Jean Paul angezogen, am meisten entsprach aber seiner skeptischen Zerrissenheit Byron;

seit der Bekanntschaft mit diesem

Waiblinger eine

neue Epoche.

Dichter beginnt für

In der kleinen Schrift:

„Drei

Tage in der Unterwelt," einer literarischen Satire, zeigt er das Bestreben, mit seinen Lehrjahren abzuschließen. Göthe und Byron wiesen ihn gleichmäßig auf den Süden, aus Italien hin, wohin er im I. 1826 sich begab. Die seinem Inneren entsprechende äußere Unruhe seines Lebens rieb ihn hier früh auf, indem er hinaus­

stürmte in die Welt mit dem ungezügelten Streben, das sich aus­ sprach in den Worten „Aber ohne Maaß und Ende Will ich Leben

dich vergöttern."

Er starb schon in seinem 26. Lebensjahr 1830

zu Rom [8O6J. Unter den Schwabendichtern war es Georg Herwegh (geb.

1816 zu Stuttgart), in welchem das rhetorische Phrasenpathos der politischen Poesie zum Durchbruch kam. In seinen „Gedichten ei­ nes Lebendigen" (1841) bildet mehr Unmuth und Grimm als die

ideale Begeisterung die schöpferische Triebkraft, und wenn auch das

lebendige Pathos, mit welchem die Interessen des Vaterlands er­ griffen werden, nicht zu verkennen ist, so stört doch das Tendenz­

artige das innere Leben der Poesie, und es entsteht eine Dichtung,

die auf den Effect, auf epigrammatische Schlußwendungen und pi­

kante Refrains hinarbeitet; diese Dichtungsweise bedarf bei den un­ bestimmten Allgemeinheiten, in denen sie sich bewegt, um so mehr

600

Zweite Periode.

Von dem erste» Viertel

des Schmucks der äußeren technischen Form, als sie eines Stoffs entbehrt,

der für das innere Auge ein objectives Bild mit sich

An die Stelle der einfachen Versmaße der naiven Lieder­

führt.

poesie treten Künsteleien gungen,

und

über

dem

in Strophenbildung leidenschaftlichen

interesses schließt sich nur selten

eine

und Reimverschlin-

Pathos

des

Partei­

reine menschliche Gefühls­

welt auf [eoeb]. In der Schweiz treten uns in Abrah. 6nt. Fröhlich und

in Karl Rud. Lanner zwei Dichtrr entgegen, die sich einer reinen Naturfreude hingeben. Während sich Tanner (geb. 1794 in Aarau) in der landschaftlichen Miniaturpoesie bewegt, hat sich

Fröhlich (geb. 1796 in Brugg), außer in Schilderungen idylli­ schen Stilllebens, besonders in „Fabeln" (1825) versucht, in die er öfter verkehrte Zeitrichtungen und verderbliche Lebensverhältniffe hin­

einzuziehen weiß, und sie mit Ironie behandelt. Unter den Dichtern, welche den Rheinlanden angehören, ist besonders Ferdinand Freiligrath hervorzuheben, welcher 1810 in Detmold geboren, sich zuerst dem Kaufmannsstande widmete zu Soest bei seinem Oheim (1825 — 31), dann von 1831—36 in dem Comptoir eines bedeutenden Handlungshauses zu Amsterdam arbei­

tete.

Als er nach Deutschland zurückgekehrt war, entsagte er erst

1839 den Handlungsgeschäften, wählte sich Unkel am Rhein zum

Aufenthalte und gab sich ganz der Poesie hin. Schon seit dem Jahr 1830 hatte er einzelne Gedichte theils in Taschenbüchern, theils in Zeitschriften bekannt gemacht; die erste Sammlung gab er

1838 heraus.

Schon früh batten ihn in seinem Knabenalter Reise­

beschreibungen, Land- und Seeabenteuer beschäftigt; in dem Ge­

dichte „die Bilderbibel" versetzt er sich mit Wehmuth in die schöne Zeit zurück, wo die Bilderbibel ihm zuerst das Morgenland mit den Palmen, Kameelen, Wüsten, Hirten und Hirtenzelten zeigte. In originaler Anschauung erfaßt er die Naturwelt des Orients und weiß sie durch die Gewalt einer energischen Phantasie vor unseren

Augen zu entfalten; sich wegwendend von der europäischen Civili­

sation eröffnet er den Blick in die Naturwunder der Tropenwelt

und giebt der Naturromantik eine neue Gestaltung.

Mit tiefem

heißem Gefühl sehnt er sich von dem kalten klugen Norden in den Sand der Wüste, um dort an eines Hengstes Bug gelehnt seine Lieder zu singen („Wär' ich im Bann von Mecka's Thoren"). Er zürnt der Cultur, die er den Ruhm der Thoren nennt; sie ver­ nichte die Tiefe, die Frische, die Kraft.

Mit Liebe erfaßt er je-

601

des 18. Jahrhunderts dis zur Gegenwart

den Zug eines kecken und energischen Lebens, das Naturwüchsige der farbigen Menschenwelt („Piratenromanze," „Banditenbegräbniß") und schwelgt mit der vollen Gluth seiner Phantasie unter

den Palmen der Tropenländer, unter dem Wolke der Araber und Neger.

Seine

Poesie

ist der

Ausdruck aufgeregter

Stimmung

(„Moosthee," „der Reiter"), und bei dem Vorherrschen malerischer

Naturschilderungen entsteht mehr eine Poesie der Anschauung als des Gemüths; die frische Unmittelbarkeit des Gesanges, das Lie­ derartige tritt zurück.

Die epische Lyrik ist vorzugsweise Freilig-

rath's Element; doch läßt er das rein Deskriptive oft zu sehr vor­

walten, indem die Naturscenen den einzigen Inhalt bilden, ohne daß sie nur der Hintergrund für das Leben der handelnden Men­ schenwelt sind.

(„An das Meer," „die Todten im Meer;" selbst

auch „der Löwenritt" gehört hierher).

Wo dagegen die Bezug­

nahme auf das Menschliche vorherrscht, wo die geistigen Eigenthüm­ lichkeiten und Charaktere der fremden Länder uns entgegentreten, da

fesselt die Kraft und das spannende Interesse der Darstellung, und es ha: zugleich die schmerzdurchdrungene nationale Subjektivität des Dichters sichtbaren Antheil an der Erzeugung des Stoffes („der

Schwertfeger von Damaskus," „der Scheik am Sinai"). In sol­ chen Gedichten wird aber nicht selten das Streben nach Effect stö­ rend, und der Reiz des Stoffartigen ist oft größer, als der Werth desselbm für die Empfindung. Wie sehr nun auch Freiligrath's Phantrsie in die Ferne schweift, so beseelt ihn doch innige Liebe

zumVaterland; diese spricht sich aus in dem Gedicht: „der ausgewan­ derte Dichter," wo die Tiefe menschlicher Empfindung

dem Reichthum lebendiger Naturschilderung verbindet.

sich mit

Seinen va-

terläniischcn Sinn offenbart Freiligrath auch in den beiden Gedich­ ten, de er dem Andenken Platen's und Grabbe's gewidmet hat, so

wie e: andererseits

einen vaterländischen Stoff in

dem Gedicht

„Prinz Eugen, der edle Ritter" im Volksliederton behandelte. Einen nationalen Gehalt haben auch die beiden Gedichte: „der Wassergeuse," und „eine Geusewaht;" dennoch blieb bei Freiligrath die pcetische Schilderung fremder Natur und fremder Sitten die hervor agende Seite, und hier konnte er die Gefahr, sich zu wirderholm und eine gewisse Manier anzunehmen, nicht vermeiden. Die firmelte Seite der Sprache und des Verses beherrscht er mit

großer Sicherheit; seine Diktion zeichnet sich durch Kraft und Originalitrt aus, und er weiß selbst den Alexandriner neu zu beleben.

Auf egenthümliche Weise gestaltete er den Reim, der auf fremd

602

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

klingende, ausländische Wörter,

auf geographische und historische

Eigennamen fallend ein Bild fremder Länder und Zustände in des

Lesers oder Hörers Seele leichter hervorruft; aber auch hier stört

das Manierirte

nicht selten.

Seine Uebersetzungen

aus

dem

Englischen und Französischen sind verdienstlich und haben ein origi­ nelles Gepräge.

Nachdem Freiligrath sich 1841 verheirathet hatte,

ließ er sich in Darmstadt nieder, und von jetzt an richtete er seine

Aufmerksamkeit auf die vaterländischen Zustände, und gerieth in sei­

nem „Glaubensbekenntniß" in das deklamatorische Pathos der poli­ tischen Tendenzpoesie, welche mehr eine irrige Abschweifung auf ein

ihm fremdes Gebiet bezeichnet, als einen Fortschritt seiner poetischen

Entwickelung.

Gegenwärtig hat er sich nach England übrrgesiedrlt,

und in ein kaufmännisches Comtoir zurückgezogen [eo,J. Nicolaus Becker (geb. 1810 gest. 1845) wurde durch sein „Rheinlied" berühmt im I. 1840, als die Drohungen Frankreich's

den Nationalwillen aus den alten Erinnerungen wieder erweckten. Der allgemeine Anklang, welchen jenes anspruchslose Lied „Sie sollen ihn nicht haben" u. s. w. überall fand, gab Zeugniß von

dem politischen Nationalbewußtseyn, das sich in Deutschland regte, von dem deutschen Gesammtgefühl, das alle Herzen beseelte. Als Dichterinn ist in Westphalen noch zu nennen die Freiin Annette von Droste-Hülshoff, deren Dichtungen sich vor der sonstigen Frauenlyrik auszeichnen durch kräftigen Ausdruck,

durch entschlossene und energische Kürze und eine Fülle origineller Bilder und Gedanken.

Sie besitzt eine scharfe Beobachtungsgabe,

durch welche sie mit großer Lebendigkeit alle Einzelheiten umfaßt; in ihren ausführlicheren Darstellungen überwuchert bisweilen die

Fülle des kleinen Details den Grundgedanken des Ganzen. In den Balladen zeigt die Dichterinn besondere Vorliebe für das Un­

heimliche dämonischer Mächte, die in der Natur und Menschenbrust walten.

In dem eigentlich lyrischen Gedichte erreicht die Tiefe ih­

res Gefühls, die Kraft und Originalität ihres Ausdrucks, der Reich­

thum ihrer Phantasie oft die höchste Schönheit. Die Dichterinn erhebt in milder, weiblicher Weise ihre Stimme für alte einfache

und treue Sitte, für Pietät und Herzensreinheit, für einen from­ men und sanften Glauben, ohne in einer reactionären Richtung be­

fangen zu seyn.

In formeller Rücksicht werden nicht selten stilisti­

sche Härten störend, die sich kund geben in veralteten Ausdrücken,

in unklaren nicht logisch gedachten Satzbildungen; dennoch überragt die Dichterinn alle anderen dichtenden Frauen durch ihr ursprüng-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

603

liches Talent, durch die Kraft ihrer originellen Auffassung und durch die Fülle ihrer genialen Anschauungen. Wenden wir uns mehr nach dem Innern Deutschland's, so tritt uns aus dem Hessenland Franz Dingelstedt, aus dem Lhüringschen Ludwig Bechstein, aus dem Braunschweigschen Hoffmann v. Fallersleben, aus dem Königreich Sachsen Ju­ lius Mosen entgegen. Franz Dingelstedt (geb. 1814 zu Halsdorf in Oberhessen) gab seine Gedichte 1838 und 1845 heraus. In diesen führt er uns zuerst in seine „Heimath;" es sind seine „ersten Lieder," die aus den innigsten Gefühlen des Herzens hervorgegangen und be­ sonders der „ersten Liebe" gewidmet sind. Die Abtheilungen „va­ terländische Dichtungen" und „Ferien" wenden sich dem Freiheits­ leben der Gegenwart zu und sprechen vaterländische Wünsche und Ideen aus nebst witzigen und sarkastischen Spöttereien, wie sie schon früher Dingelstedt in den „Liedern eines kosmopolitische» Nachtwächters" (1841) hervortreten ließ. Es sehnt sich der Dich­ ter in den „vaterländischen Dichtungen" aus der Enge einer klei­ nen Stadt und eines beschränklen Lebens heraus; es treibt ihn in die weite Welt hinaus. Doch Schwermuth und Trauer ergreift ihn und der Jammer des Weltschmerzes, welcher das freie Spiel der Poesie stört, ist nicht frei von selbstgefälliger Verbitterung. In den Liedern „derManderschaft" erhalten wir statt der früheren hes­ sisch-vaterländischen Bilder, Scenen und Situationen aus Frank­ reich und England, welche durchdrungen sind theils von geistreicher Reflexion theils von sinnigem Humor. In den Liedern der „Rück­ kehr" endlich herrscht eine besänftigtere Stimmung; der Dichter, welcher sich an der Welt gesättigt hat, sehnt sich zurück nach der engbegrenzten Heimath, ohne die rechte Versöhnung gewonnen zu haben. Eine gewisse Kälte verstandesmäßiger Auffassung überwiegt die Wärme des Gemüthslebens, und an die Stelle der frischen Un­ mittelbarkeit des Gefühls tritt die Skepsis einer verdrossenen Welt­ anschauung; es spiegeln sich daher auf individuelle Weise die Leiden und Schmerzen der Zeit in Dingelstedt's Gedichten ab. Ludwig Bechstein (aus dem Meiningschen geb. 1801) gab seine Gedichte 1836 heraus, in denen sich die Stimmung des hei­ teren, gemüthlichen Thüringers reflectirt; der Drang über Stock und Stein durchs Holz zu streifen und ein frisches, fröhliches Lied zu singen, ist Bechstein's Element. Mit der regsten Empfänglich­ keit für alle Reize der Natur in der Sage durchwandert er sein

604

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Thüringen, und verweilt mit gleicher Theilnahme bei der zierlichen Bergpflanze, wie bei dem alten Burggemäuer, und überall taucht bei

ihm das Andenken an die alte Sagenwelt Thüringens auf.

Der

Gedanke an seine Heimath begleitet ihn selbst auf seinen Wande­

rungen in der Fremde, und dieser heimathliche Sinn giebt seinen

In allen seinen Gedichten

Liedern ein eigenthümliches Gepräge.

tritt eine edle, milde Gesinnung hervor, in welcher der Schlachtruf der Gegenwart zwar nachhallt, ohne daß jedoch der Dichter selbst

sich in die Parteiinteressen hineinziehen läßt.

Heinrich August Hoffmann von Fallersleben, gebo­

ren 1798, hatte seit 1820 seine literarische Thätigkeit an der Uni­ versität Breslau, bis ihn wegen seiner „Unpolitischen Lieder" (1840) die Strafe der Absetzung im I. 1843 traf.

Durch gründliche lite­

rarische Studien war Hoffmann eingedrungen in die Schätze der

älteren deutschen Lyrik,

und indem

er ihren

Dictionsreichthum,

ihre naive Harmlosigkeit, ihre ungesuchte Scherzhaftigkeit lieb ge­ wann, leitete er in seinen „Gedichten" (1834) zurück zu der Ein­

fachheit des alten Liederstils.

Er besingt Frühling und Liebe, Wein

und Freundschaft, Waldleben, Kindheit, und zeigt überall lebens­ volle Frische der Auffassung; seine Grundstimmung ist eine hei­ tere, und seine Scherze sind anmuthig und kindlich. ristische Lied ist das ihm

eigenthümliche Gebiet,

DaS humo­ und

besonders

stimmte er eigene Weisen aus dem Volksleben an; trefflich sind seine Handwerksburschenlieder. Das Naive der Diction weiß er

durch manchen schlesischen Provinzialismus zu heben, so wie auch seine Lieder in allemannischer Mundart von der Gewandtheit des sprach­ kundigen Dichters zeugen. In seinen „Unpolitischen Liedern" stimmte er für die politische Opposition den Volkston an. Er knüpft an einzelne Zustände der Gegenwart an, öfter an die all­

täglichen, kleinlichen Erscheinungen des gewöhnlichen Lebens, und

indem der individuelle Aerger das stachelnde Element wird, fehlt es nicht an schneidender Schärfe und epigrammatischer Spitze, aber es

geht darüber das satirische Behagen des Volksliedes- das Naive und Poetische verloren, wie sehr auch humoristische Kraft und männ­ liche

Entschiedenheit

einer

nationalen

Gesinnung

wirksam

her­

vortritt. Julius Mosen (geb. 1803 im sächsischen Voigtlande) ist ein ächtes Dichtergemüth, in welchem sich die Poesie rein und selbst­ ständig entfaltete, ohne von dem Tendenzartigen politischer Wünsche

und Ideale getrübt zu seyn.

Der nationale Gehalt waltet auch in

605

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Mosen"s Lyrik,

in der sich

oft Gedankenfülle

dichterischen Kraft des Ausdrucks verbindet.

mit der

höchsten

Es erschienen seine

Gedichte 1836 und die zweite vermehrte Ausgabe 1842.

Charak­

teristisch für seine lyrische Poesie ist der „eiserne Heinrich;" dieser trägt drei eiserne Ringe um's Herz, damit es ihm nicht in Stücke zerbricht; so wandert er durch die Welt und sucht sein Vaterland, das er nicht findet. Mosen's wahrer Dichterbcruf bewährt sich in der Tiefe und Gedrungenheit des Volksliedes, wie in dem „Trom­ peter an der Katzbach," ebenso in den Polenliedern, in denen sich

der Völkerschmerz ächt poetisch ausspricht; unter diesen ist besonders das Gedicht „die letzten Zehn vom vierten Regiment" zum Volks­

liede geworden.

Die vaterländische Gesinnung

unseres Dichters

giebt sich vorzüglich kund in den beiden Liedern auf die Völker­

schlacht bei Leipzig und in der trefflichen Ballade „Andreas Ho­ fer." Wo er das eigene Weh besingt, hält er sich fern von schwäch­ licher Sentimentalität, und verbindet das Rührende mit männlicher

Kraft und einer liebenswürdigen Kindlichkeit „der Mond und Sie". Die Kraft seines Dichtergenius offenbarte aber Mosen in der Wahl und Bearbeitung zweier epischen Stoffe, des „Ritters Wahn" und

des „Ahasver" (1838), die beide in ihrer Weite und Tiefe eine universale Bedeutung für die ganze Menschheit haben. Während im „Ritter Wahn" der transcendenten christlichen Gesinnung gegen­ über das Princip der schönen sinnlichen Lebensblüthe (Helena) tritt, welcher der Ritter, obgleich aus dem christlichen Himmel kehrend, erliegt, kommt in „Ahasver" zur Darstellung die Starrheit und

der Trotz des Judenthums, das, wenn auch gebrochen, doch un­ veränderlich, durch alle fortlaufende Geschicke der Weltgeschichte hindurchgeht. Es zeichnet sich dies Gedicht durch die Kraft einer schönen Diction aus und durch die Pracht der Schilderungen; je­

doch die Auffassung der Volkssage, in der Mosen das Ringen der Materie gegen den Gottesgeist angedeutet findet, ist theils wegen ihrer Allgemeinheit unpoetisch, theils entbehrt sie auch der christli­ chen Grundlage.

Ahasver erscheint bald als eine allegorische, bald

als rein persönliche Gestalt, und sein Kampf und Haß wird als ein

nothwendiger

in der menschlichen Natur begründeter,

ewig fort­

dauernder anerkannt.

Endlich ist auch der Norden Deutschland's und namentlich Preußen in der lyrischen Poesie von manchen Dichtern vertreten. Aus dem Mecklenburgschen trat in der Ida Gräfin HahnHahn (geb. 1805) ein neuer weiblicher Charakter in unsere Lite-

606 Mur ein.

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel Es erschienen von ihr „Gedichte" (1835), „Neuere Ge­

dichte" (1836) und „Venezianische Nächte." Es spricht sich in diesen Gedichten die weibliche Liebebedürftigkeit aus, der eine seltene Kraft und eine starke Fülle von Gefühl inwohnt.

Jedoch verlieren

sich die sentimentalen Hymnen mit der Ueberschrist „Dir" zu sehr

in die Unbestimmtheit des inneren Schmerzes; es entbehrt hier die Trauer, die Sehnsucht, alles, was ein tiefbegabtes Frauenherz be­

wegt, der rechten Gegenständlichkeit.

Die versagte Neigung flüch­

tet« sich in die Begeisterung für die Kunst und ging in Sympa­ thien für das Unglück der Welt über. Ergreifende Liederklänge ver­ nehmen wir in dem „Wiegenlied einer polnischen Mutter," und in dem „polnischen Auswanderer."

Die zweite Sammlung der

Gedichte enthält unter dem Titel „Reiseskizzen" eine Reihe kleiner Lieder, die den subjectiven Schmerz in das Leben der Natur, in die Kreise der Borwelt hineintragen; das eigene Leid wird zu einer alten

Sage, die nun tröstlicher klingt („Auf dem Königssee," „Rosane"). Ein Liederkranz „der Kampf auf der Wartburg" reproducirt den Wettstreit vom Jahr 1207 und giebt eine Charakteristik sämmtli­ cher Minnesänger, die ihn führten. Die drei „venezianischen Nächte" sind Novellen in Versen, in denen sich die Stimmung der Dichte­

rin an gegebenen Stoffen entäußert; diese werden aber durch die

nordische Sentimentalität zu sehr verflüchtigt.

Die Diction

der

Gräfinn Hahn-Hahn ist nicht frei von Härten; der Drang des Ge­

fühls bei ihr läßt nicht immer die Grazie der Form zu. Fr. Hebbel (aus dem Dithmar'schen geb. 1813) offenbart in seinen Gedichten (1842) eine kräftige Gesinnung; seine Hauptthatigkeit hat er dem Emanuel Hofmeister mit von hier einen

Drama zugewandt. Geibel, geb. 1815 zu Lübeck, kam 1838 als der Familie eines Russen nach Athen, und bereiste Theil des südlichen Europa; er kam dann 1840

nach Berlin, wo er zuerst seine Gedichte herausgab.

Durch Reisen und den Umgang mit den gebildetsten Männern hat er eine viel­

und in seinen Dichtungen hält er sich auf dem Standpunkte freier Menschlichkeit gegenüber der po­

seitige Ausbildung gewonnen,

litischen Tendenzpoesie, ohne jedoch die Rechte des Fortschritts zu verkennen. Eine originelle, durch prägnante Gestalten oder be­ stimmte Farben kenntliche Individualität leuchtet aus seinen Gedich­ ten nicht hervor. Mit Franz Freiherr v. Gaudy, geb. 1800 zu Frankfurt a. d. O., wenden wir uns nach Preußen.

Gaudy gerieth früh in

d«S 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

607

eine persönliche Schroffheit gegen die Außenwelt, die aus dem Kern

eines edlen kräftigen Herzens hervorging.

Auf Geheiß seines Va­

ters trat er als Grenadier in die Potsdamer Garde, und kam später nach Breslau.

Es widerstrebte ihm aber das einförmige Leben des

Garnisondienstes, und seine ersten poetischen Ergüsse waren Kinder

des bitteren Unmuths, Epigramme und Spottlieder; es bildete sich seine satirische Lyrik und seine barocke Selbstbeschaulichkeit; die Ge­

dichte „Erato" (1829) zeigen den Jünger I. Paul's und Heines. Im Jahr 1833 erhielt Gaudy den schon früher vergeblich nachge­ suchten Abschied aus dem Militairdienst, und entwickelte von nun an in Berlin im Verkehr mit Chamisso, Alexis, Strecksuß, Kopisch eine große literarische Thätigkeit.

Im Jahr 1834 erschienen seine

„Korallen," in welchen eine reinere, dem Höheren zugewandte Le­

bensanschauung hindurchdringt, und hiermit verbindet sich eine edlere Diction und Wohllaut des Rhythmus, welchen der Dichter auch in

den schwierigen Meins auf eine leichte, gewandte Weise zu hand­ haben weiß. Seine „Kaiser-Lieder" (1835) geben Züge aus Napoleon's Leben in Elegien, Balladenbildern und poetischen Reflexio­

nen.

Das Dithyrambische der Begeisterung ist nebst dem Elegi­

schen vorherrschend; es wird aber der Held mit allem Glanz der

Beredsamkeit, mit allem Pomp der Diction unserem Herzen nicht näher geführt. Trefflich schildert der Dichter die Grenadiere der

alten Harde; die balladenartigen Gedichte sind die gelungeneren. Im Jahr 1837 erschienen die „Lieder und Romanzen," in denen sich Gaudy zur originalen Meisterschaft im humoristischen Liede em­ porschwang und den Charakter desBerangerschen Chansons^")

auf eigenthümliche Weise ausprägte.

Mit dem ächtesten und rein­

sten Humor ironisirt er die socialen und staatlichen Verhältnisse, mag er nun die schönen Redensarten von frei in „dem freien Lande" und die ins Kleinliche sich verlierenden Zeittendenzen, oder die Lang­ weiligkeit und Philisterhaftigkeit des alltäglichen gesellschaftlichen Le­

bens verspotten; auch fehlt nicht der Humor der Selbstpersiflage, wenn der Dichter in dem „letzten Gedicht" und „wo bleibt mein

Geld" sich selbst als Lieutenant und als Dichter ironisirt.

Immer

verbindet sich die Schärfe seiner Ironie mit einer gemüthlichen Be-

theiligrng; er faßt die unsittlichen socialen Verhältnisse als Verkehrthet und Dummheit auf, ohne daß er einen stechenden Stachel

der Satire zurückläßt.

Unter den Romanzen haben die humoristi­

schen Gedichte „der Handwerksbursch" und „die Reiterei" einen eigenthümlichen Reiz.

Die Sprache Gaudy's ist von musterhafter

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

608

Reinheit und Schönheit; der Verkehr mit Chamisso und Streckfuß veranlaßte ihn zu einer Reihe von metrischen Nachbildungen unter denen sich die Uebersetzung der Lieder von Beranger (1838) am

meisten auszeichnet.

Im Jahr 1840 starb Gaudy noch nicht volle

vierzig Jahre alt [”•]. R. E. Prutz (aus Stettin geboren 1816) gab 1841 seine Ge­

dichte heraus, von denen 1844 die zweite Auflage erschien.

Der

Dichter ruft seine Genossen von den Seufzern und Klagen ab und fordert sie auf Männer zu seyn und den großen Ideen der Zeit

eine Stimme zu verleihen.

Bei der polemischen Absichtlichkeit tritt

hier, wie bei Herwegh, mehr das rhetorische als das poetische Ele­

ment hervor.

Das patriotische, fteiheitslustige Pathos findet seinen

Ausdruck in einer schwungreichen Sprache; es ist nicht das volle bewegte Herz, das sich in ächt lyrischer Unmittelbarkeit ausspricht, sondern allgemeine Gedanken, bereits fertige Ansichten und Ent­ schlüsse werden mit dem Schmucke einer männlich kräftigen Rede dargestellt; selbst das „Rheinlicd" ist nicht frei von dem Rhetorischen.

Bei dieser tendenzartigcn Richtung gelingt dem Dichter am wenigsten

die objectivste Gattung der Lyrik, die Ballade und Romanze; am meisten zeichnet sich „die Mutter der Kosacken" durch die Kraft der Schilderung und durch die Größe des Gedankens aus, und

„der Allerseelentag" erinnert in Schaucrlichkeit an Ehamisso's Auf­ In den Terzinen „Aus Algier" ist das Deskriptive

fassungsweise.

durchdrungen von einem elegischen Grundton und belebt von einer Unter den erotischen Liedern end­

frischen Fülle sprechender Bilder.

lich sind manche, die im Gegensatz von dem selbstbewußten Pathos

der politischen durch Einfachheit, Neuheit und unmittelbares Ge­ fühl wie durch melodischen Klang des Verses eine ächt poetische Wirkung ausüben. Rob. Reinick (geb. 1810 zu Danzig), zeichnet sich sowohl in der Maler- als auch Dichtkunst durch sinnreiche, poetische Auf­ fassung auS; er ließ mit Kugler ein „Liederbuch für deutsche Künst­ ler" (1837) erscheinen, und dichtete „Lieder eines Malers" (1844),

di« ebensosehr durch ihre Einfachheit und Herzlichkeit, als durch den kindlich-heiteren Humor ansprechend sind. Unter den Provinzen Preußens hatte das grüne Schlesien mit

den saftigen Wiesen und der langen Kette von Berg und Wald immer seine vielen Sänger.

Aug. Kahlert (geb. 1807 in Breslau), gab „Romanzen"

(1834) heraus, in welchen sich bald ein heiterer, spielender Sinn

609

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

ausspricht, bald und zwar überwiegend eine schmerzvolle Klage, jedoch ohne krankhafte Ueberspanntheil; sie spiegeln das eigene in­

nere Leben des Verfassers ab und erinnern mehrmals an Uhland.

Kahlert's Beitrag zur Literaturgeschichte: „Schlesiens Antheil an deutscher Poesie" (1835) giebt ein anschauliches Bild, wie sich der poetische Sinn in Schlesien entwickelt hat.

H. Kletke (geb. 1813 in Breslau), gab 1836 „Gedichte" heraus, aus denen wahre und reinempfundene Gefühle hervortönen;

seine Balladen und Romanzen sind sinnreich erfunden und haben eine feste Eigenthümlichkeit in der Form. Aug. Kopisch, geb. 1799 in Breslau, widmete sich der Malerei und lebte lange Zeit in Italien, wo er mit Platen enge

Freundschaft schloß. Ein großes Talent zeigte er für Auffassung des Volkslebens, und er sammelte und übertrug mehrere italienische Volkslieder. Eine heitere, ächt komische Laune waltet in seinen „Gedichten" (1836), in welchen sich die Lyrik des humorist-geselli­ gen Lndes nach allen Seiten hin reich entfaltet; es spricht sich in

ih en ber frische Lebensmuth, die Nichtachtung aller Sorgen, der

nie versiegende Genuß bei Wein, Liebe und Gesang ächt poetisch aus. Oie romanzenähnliche Form giebt diesen Liedern einen eigen­ thümlichen Reiz; namentlich gewähren die allbekannten Geschichten

des alen Testaments mit ihrem patriarchalischen Charakter den glückliästen Stoff („die Historie von Noah," „der Jubal," „Sam­ son"). Ueberall herrscht die heiterste Lust und die ungezwungenste Naivitft, so in dem Gedicht „Coeur-König," und „die Perlen im Champrgner," und besonders in „dem Gesang zur Tarantella." Kopisch's Talent ist wesentlich plastisch, objectiv; die höhere Lyrik ist feinte Eigenthümlichkeit weniger entsprechend, und seine im an­

tiken Versmaße gehaltenen Gedichte, die Oden und Dithyramben, entbehrm der lebensvollen Frische, die in seinen Liedern so anzie­ hend is. F iedrich v. Sallet, geb. 1812 zu Neiße, stellt in seinen

Dichturgen den Zwiespalt der Zeit und das Ringen nach Versöh­ nung as Haus einer großen Residenzstadt, und enthüllt uns

618

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

nach und nach die Verhältnisse und das Seelenleben aller Bewoh­ ner desselben. Es treten die Volksinteressen in Verbindung mit den industriellen Tendenzen in den Vordergrund, ohne daß sie aber in einer inneren Beziehung zu der Idee des Staats erscheinen und durch diese eine höhere Bedeutung gewinnen. Außerdem thut die Carikirung der Charaktere ihrer inneren Wahrheit Eintrag, und es verliert sich die Darstellung öfter in maaßlose Reflexionen. Die Behandlung unmittelbarer Zcitinteressen gab Häring auf; er wandte sich in seinem neusten Roman „die Hosen des Herrn von Bredow" (1846) wieder der Brandenburgischen Geschichte zu, und führt uns in die Epoche des ersten entscheidenden Kampfes der fürstlichen Ge­ walt gegen die Adelsherrschaft (unter Joachim I.). Wir sehen die rohe Feudalherrschaft des Adels und die gleiche Rohheit des zünftig abgeschlossenen Bürgerthums und erkennen die Nothwendigkeit des Zerstörungsprocesses, der beide ergriff, als sich eine dritte Macht, die der fürstlichen Gewalt, über sie erhob und sich aus dieser die wirk­ liche Idee des Staates loswand. In dieser Sphäre des histori­ schen Romans bewährt Häring sein eigenthümliches Talent; er of­ fenbart tiefere geschichtliche Auffassung, womit er feinen Beobach­ tungsgeist und künstlerische Gewandtheit der Darstellung ver­ bindet. Heinrich Zschokke (s. oben) hat Scott's Manier mit den romantischen Elementen in seinen Novellen mehrfach in Verbindung gebracht; ohne höhere Ansprüche zu machen, gewähren sie nur das Interesse augenblicklicher Unterhaltung. Philipp Joseph v. Rehfues, geb. 1779 zu Tübingen von einer bürgerlichen Familie, erhielt in dem protestantischen Seminar seiner Vaterstadt seine Bildung, und ging nach Beendigung seiner Umversitätsstudien nach Italien, roo. er abwechselnd in Florenz, Rom und Neapel bis 1805 lebte. Er wurde darauf 1806 als Bibliothekar und Vorleser beim damaligen Kronprinzen von Würtemberg angestellt. Während dieser Zeit machte er Reisen nach Spanien und Frankreich; seine Neiseschriften über Spanien und Paris (1813), sowie auch über Italien (1809 — 10) zeichnen sich aus durch phantasievolle Darstellung. Durch seine „Reden an das deutsche Volk" (1813—14) zog er die Aufmerksamkeit des Frei­ herrn von Stein auf sich, und erhielt durch diesen, wie später un­ ter dem Ministerium des Freiherrn von Altenstein einflußreiche Staatsämter. Die Gründung der Universität Bonn im I. 1818)

die Rehfues schon 1814 durch eine Druckschrift angeregt hatte, er-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

619

öffnete ihm eine neue Sphäre der Thätigkeit. Er wurde Regierungsbevollmächtigter und Curator der Universität und starb als solcher im Jahr 1842. Seine Romane „Scipio Cicala" (1832), „Castell Gozzo" (1834) und „die neue Medea" zeichnen sich vor allen ähnlichen Romanen der damaligen Zeit durch kunstgemäße Darstellung und gediegenen Gehalt aus, namentlich erregte „Sci­ pio Cicala" die allgemeine Aufmerksamkeit; in demselben ist eine tiefgreifende Charakteristik das vorwaltende Element, womit sich

kunstvolle Schilderungen sowol der Geschichte als der Natur ver­ binden. Der Roman „die Belagerung des Castells von Gozzo" ist dürftiger an Erfindung; aber auch hier finden sich lebensvolle Gemälde von Gegenden und Zuständen, und feine Beobachtungen, die sich auf reiche Lebenserfahrungen stützen. In der „neuen Me­ dea" geht ein vielgestaltiges Leben der Phantasie durch das Ganze, und zeugt von dem großen Talente des Verfassers für Charakter­ zeichnung und Schilderung. Karl Fr. v. Rumohr, geb. 1785 zu Reinhardtsgrimma unweit Dresden, verweilte seit 1804 wiederholt auf längere Zeit in Italien und gab sich gründlichen Kunstforschungen hin. Im Jahr 1832 ließ er die „Deutschen Denkwürdigkeiten" erscheinen, einen in Memoirenform gekleideten Roman, welcher das Werk eines frei bildenden Dichters ist. Die eigentliche Erzählung bildet nur den Rahmen, welcher geschickt eine ganze Welt von Gestalten und Be­ trachtungen umfaßt; unvermerkt werden wir von Bild zu Bild übergeführt und erhalten ein höchst änziehendes Gemälde der An­

sichten und Sitten, des Geistes und Geschmacks in Wissenschaft, Leben und Kunst in Deutschland und Frankreich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts. Karl Immer mann, 1796 in Magdeburg geboren, erhielt von seinem Vater eine strenge Erziehung, in welcher Gehorsam, Ordnung und Fleiß mit unerbittlichem Ernste gefordert wurde. Daneben regte sich aber früh in dem jungen Jmmermann eine un­ widerstehliche Lust zu Versen und zum Theater; er schrieb schon im zwölften Jahre Geburtstagsgedichte, im scchszehnten einen Roman, ein Drama „Prometheus," und besang den Tod Heinrichs von Kleist. Tief ergriff ihn die Erniedrigung des deutschen Vaterlan­ des, und aus dieser Zeit stammte eine düstere Lebensstimmung, Hinneigung zur Natur und zu einer gewissen Abgeschiedenheit. Im

Jahr 1813 bezog er die Universität Halle, und trat, als der Aus­ auf an Deutschland's Jugend erging, in die Reihen der Vaterlands-

620

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Vertheidiger. Er wurde aber durch ein Nervenfieber abgehalten, vor der Einnahme von Paris seinem Corps zu folgen. Nach dem Frieden setzte er seine Studien fort, und machte den ganzen Feld­ zug 1815 in den Niederlanden und Frankreich mit. Seit 1818 trat er in den Staatsdienst, zuerst als Referendar in Magdeburg, dann als Auditeur in Münster, wo er manche freundschaftliche Ver­ bindungen anknüpfte. Im I. 1827 kam er als Landgerichtsrath nach Düsseldorf; hier fand er im Verhältniß zu poetischen Freun­ den, Künstlern und Gleichgesinnten das rechte Lebenselement, und war mit dem rühmlichsten Eifer bemüht das dortige Theater zu heben. In diese Zeit fällt die fruchtbarste Thätigkeit seiner schrift­ stellerischen Laufbahn. In der Mitte seines rüstigen Wirkens wurde er 1842 im kräftigen Mannesalter vom Tode überrascht [8l3]. Früh entwickelte sich in Jmmermann bei der Abgeschlossenheit sei­

nes Wesens, in welcher er, unbekümmert um die Menge, auf sei­ nem eigenen Pfade fortschritt, eine gewisse Härte und herbe Kraft seines Talents, die ihn einer populären Wirksamkeit entzog. Er war beseelt von den höchsten Anforderungen, die an das künstleri­ sche Schaffen zu machen seyen, und suchte an dem Besten aller Zeiten sich heranzubilden und dabei seine Selbstständigkeit zu be­ wahren. Während er bestrebt war, sich mit seiner Zeit in Einklang zu setzen, bekämpfte sich in ihm fortwährend Verstand und Phan­ tasie, der Kritiker und der Dichter, und es kam ebensowenig die reine Tiefe des Gemüths als die lichte Klarheit des Gedankens in ihm zur rechten Wirksamkeit. Es blieben seine Bestrebungen nicht unberührt von der allgemeinen Zeitstimmung, die sich in einem un­ befriedigten Hin- und Hergreifen kund gab, und nicht fand er in dem idealen, tiefsinnigen Elemente philosophischer Speculation einen Schwerpunkt; er konnte daher von sich sagen: „So hab' ich im­ merdar gesucht." Seine poetische Bildung beruhte auf dem Stu­ dium von Shakespeare und Göthe, in welches sich Sympathien für die Tendenzen der Romantik mischten. Er begann mit romantisirenden Dichtungen, wie in den Dramen „das Thal von Ronceval," „Edwin und Petrarca" (1822), in „König Periander und sein Haus" (1823) und in „Cardenio und Celinde" (1826); in diesen Dramen zeigt sich der Dichter bestrebt, unserer poetischen Li­ teratur einen neuen Aufschwung zum Kräftigen, Großen und Er­ habenen zu geben; es ist Shakespeares Kraftmanier in denselben vorwaltend. Zugleich tritt uns hier der Dualismus des romantisch Poetischen uud des praktisch Verständigen in Zmmermann's Natur

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

621

entgegen; satirische Reflexionen, welche aus Mißstimmungen über eine schlaffe, mattherzige Zeit hervorgegangen sind, mischen sich öf­ ter ein und stören die Einheit der dramatischen Handlung. Die beiden Lustspiele „die Prinzen von Syrakus" (1821) und „das Auge der Liebe" (1824) halten sich rein von solchen subjectiven, tendenzartigen Beziehungen; dem derbsten Humor steht Tiefe und Innigkeit der Empfindung zur Seite. Nicht ohne Einfluß auf Jm-

mermann blieb sein Studium der griechischen Tragiker, aus wel­ cher Beschäftigung seine Abhandlung über den rasenden Ajax des Sophokles (1826) hervorging. Er gewann die Ueberzeugung, daß ein Kunsterzcugniß nur dann richtig gewürdigt werden könne, wenn man sich die Lebensbedingungen vergegenwärtige, unter denen es entstand. Jmmermann ging jetzt zu gediegeneren, selbstständigeren Schöpfungen über, zu historischen Dramen, wie in dem „Trauer­ spiel in Tyrol" (1827) und im „Kaiser Friedrich." Es dräng­ ten sich aber noch immer in seinen Productionen zu sehr die Mißstimmungen seiner kritischen Natur hervor, und bei diesem Kampfe von Verstand und Phantasie gelangte er nicht zu einer ächt poetischen Stimmung und Begeisterung, zu freier Schöpfung und reiner Kunstausführung; es fehlte ihm die Ruhe und die hin­ längliche Selbstentaußerung, um seinen dramatischen Erzeugnissen die objective Selbstbewegung der Handlung zu geben. Als' sich endlich Jmmermann in seinem „Reisejournal" (1831) aller kriti­ schen langgesammelten Schärfen entledigt hatte, trat ein Wende­ punkt seines literarischen Wirkens ein; seine poetischen Schöpfungen wurden freier, gesunder und waren weniger gestört durch Einreden der Polemik und Kritik. Es konnte in den bisherigen Dichtungen Jmmermann's zweifelhaft erscheinen, ob dem Naturell des Dichters das epische oder dramatische Element mehr entspreche. Unverkenn­ bar zeigte sich indeß, daß seine dramatischen Werke der epischen Be­ handlung sich zuneigten, und seine Tragödie „Merlin" ging ganz in die epische Breite über. Diese Tragödie bildet für Jmmermann auch den Uebergang von der dramatischen Form zur epischen Dar­ stellung in Romandichtungen; sie ist, da alle seine Dichtungen aus ganz individuellen Stimmungen und Anlässen hervorgingen, beson­ ders charakteristisch für seine Weltausfassung. Er wollte, wie er selbst sagte, in derselben nicht die Sünde als das Unglück der Welt darstellen, sondern den Widerspruch. „Merlin sollte die Tragödie des Widerspruchs werden;" diese Dichtung erschien zwei Jahre nach der Julirevolution, einem Ereigniß, in Folge dessen sich die

622

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

Idee von einer neu ausstehenden Zeit aller strebenden Gemüther be­

mächtigte.

Jmmermann trat aus seiner spröden persönlichen Jso-

lirung, mit welcher sich eine gewisse aristokratische Gesinnung ver­

knüpfte, heraus und stieg von der Höhe seiner idealen Phantasie­

gebilde auf den ebenen Boden der uns zunächst umgebenden mensch­ lichen Interessen. Während in seinen früheren Werken öfter ein zürnender Hohn der Erbitterung hervortrat, und der Dichter keine

Freude daran hat, die Geschenke der Muse seinem Volke zu spenden, sondern sie ihm hinwarf, damit es seinen Haß fühle, nicht aber sich an seinem Talente freue, ging er jetzt entschiedener auf die moder­ nen Zeitstrebungen ein und führte in seinen poetischen Erzeugnissen

wirkliche und uns nahe stehende Lebensgebilde aus. Er gewann das ihm gemäße Gebiet der Romandichtung, welche die moderne Form ist, um die Völker- und zeitbewegenden Ideen poetisch zu ge­

stalten, und seit Göthe erreichte Jmmermann in der Behandlung

des Romans zuerst wieder eine Höhe, aus. welcher er weit über Es erschienen im Jahr 1836 Familienmemoiren in neun Büchern;" zwölf

seine Dichtergenossen hervorragte.

seine „Epigonen,

Jahre hatte er an denselben gearbeitet, und er sagte selbst: „Ein gro­ ßes Stück meines Lebens und meines Selbst ist hineingearbeitet; mit

der Vollendung des Werkes löste sich eine ganze Vergangenheit von mir ab."

Wie

einer von den frühsten Romanen Jmmermanns

„die Papierfenster eines Eremiten" (1822) auf Göthc's Werther

zurückgeht, so die Epigonen auf Göthe's Wilhelm Meister, jedoch mit der Eigenthümlichkeit einer originalen Schöpfung.

Der Dich­

ter will in den „Epigonen" die Richtungen und Strebungen der Zeit wie in einem Spiegel reflectiren und sie in einem concentrirten Bilde übersehen lassen. Er stellt die herrschenden Stände der

Gesellschaft dar in ihren gegenseitigen Verhältnissen und Conflicten;

sie sind Epigonen, Nachgeborne,

die

an der Last einer großen

Erbschaft tragen, und weil sie ohne sonderliche Anstrengung, selbst bei geringer Fähigkeit, zu den überkommenen Schätzen gelangt sind,

mit denselben leichtfertig wirthschaften; daher die Verschleuderung des modernen Lebens, die verzehrende Regsamkeit, in der Alles von Allem berührt wird,

ein ödes Wanken und Schwanken, ein lä­

cherliches Sich-ernststellen und Zerstreutseyn, ein Haschen, man weiß nicht, wonach? Wie in Göthe's Lehrjahren Wilhelm als Haupt­ held des Romans ein junger, strebender, aber richtungsloser Mann ist, ebenso bildet in den Epigonen den Mittelpunkt Hermann, ein «mherschweifender Jüngling, ohne Zweck und Ziel, ohne Plan und

623

des 18. Jahrhunderts his zur Gegenwart.

Eigenthümlichkeit, mit jenem wohlgefälligen Firniß geistreicher Bil­

dung,

hinter der Alles und Nichts verborgen seyn

Hermann sind

auch

die

übrigen Charaktere mit

kann.

Wie

psychologischer

Wahrheit entworfen, und es werden die Meinungen, Ansichten und Bestrebungen in den verschiedenartigen Gruppen mit künstlerischer

Ruhe und darüberstehender Objektivität dargestellt.

Wie zerrissen

und krank aber auch die Zeitzustände seyn mögen, so ist doch in ihnen enthalten ein positives Element, eine Gesundheit; die Epoche

der Gegenwart hat mit ihren ehrwürdigen Schmerzen ihre berech­ tigten Hoffnungen, und der Epigonendichtung Jmmermann's fehlt eben jene ideale Perspective, welche über den engen Bezirk des Jetzt

eine Brücke schlagend, eine mildere Beleuchtung, einen hoffnungs­ volleren Farbenschimmer auf die verhüllte Wirklichkeit zurückwirst. Eine noch freiere Höhe der Dichtung gewann Jmmermann in seinem

„Münchhausen" (1838), in welchem er das Epigonenthema mit hu­

moristischer Laune behandelt; der humoristisch-satirischen Seite ge­ genüber tritt die gemüthliche und lyrisch-sentimentale in der Ge­

schichte des Westphälischen Dorfschulzen und in der zwischen Os­

wald und Lisbeth; hier waltet eine freie ächt poetische Stimmung, aus welcher das anziehendste Sittengemälde hervorgegangen ist. Diese beiden Sphären aber, die zerfahrene Welt des Lügenbolds

Münchhausen und die einfachen Zustände des westphälischen Bauer­ lebens, greifen nicht ineinander, sondern das Idyll steht neben der

Farce, und beide Theile verknüpfen sich nicht zu einem organischen Ganzen. Jmmermann's letzte Dichtung war „Tristan und Isolde," die unvollendet blieb; er schließt den ersten Theil seines Gedichts mit einem Nachgesang, in welchem er von den Entwickelungen sei­

nes Wesens und den inneren Kämpfen, welche er bestanden, eine gedrängte Andeutung giebt. Er sagt am Schluffe: Weil ich so ernst geworden, darf ich scherzen, Weil ich so heiter, darf das Roß der Musen Mich tragen durch die Wildniß grimmster Schmerzen, Denn alles kann und darf ein freier Busen.

Die hierher gehörigen Novellen und Romane von Th^ Mundt und G. Kühne, die zu ihrem Gegenstände theils histo­

rische

Ereignisse der Vergangenheit theils die modernen Interessen der Gegenwart haben, sind schon oben berührt worden. Theodor Mügge, geb. 1808 zu Berlin, wo er Philosophie studirte und gegenwärtig sich aufhält, zeichnet sich in seinen Novel­

len durch Klarheit der Gedanken, Frische der Färbung und leben»

624

Zweite Periode.

digen Dialog aus.

Von dem ersten Viertel

Sein Roman „Toussaint" (1840) baut sich

in der Geschichte auf und hat die politische Entwickelung

einer

Völkerschaft zum Gegenstand; wir erhalten ein künstlerisches Ganze, welches, das Mannigfaltige organisch gliedernd, voll Originalität,

Energie, Fülle und Wahrheit im Stoffe, voll Stils und mannig­ In einem früheren Ro­

facher Schönheit in der Ausführung ist.

man „die Vendeerinn" (1837) machte Mügge den Jdeenkampf der

französischen Revolution zur Basis seiner Poesie.

Auf anschauliche

Weise motivirt er das Princip des Kampfes in den einzelnen Ge­

müthern, und in der Charakteristik der einzelnen Individuen spie­

gelt sich der Zwiespalt des Princips als Zerrissenheit des Gemüths wieder. Alle Bande der Liebe werden gelöst, und die Familie ver­

liert ihre substanzielle Bedeutung; das psychologische Interesse ist mit dem historischen in schönen Gleichklang gebracht. Was die Frauenliteratur auf dem Gebiete des historischen Ro­

mans betrifft, so eröffnete dieselbe Karoline Pichler (zu Wien 1769 geb. und 1843 gest.) mit ihrem „Agathokles" (1808); sie

wurde eine der fruchtbarsten und beliebtesten Schriftstellerinnen ihrer Zeit.

Obgleich sie die Gabe der Erfindung und glücklichen Durch­

führung besitzt, so zeigt sich doch in ihren Romanen, wie in den meisten Frauenschriften, neben Breite der Schilderung eine beson­

dere Vorliebe für sentimentalisirende Reflexion. Auguste von Paalzow hat sich in der neuesten Zeit die

größte Gunst in der nach Unterhaltungslectüre strebenden Lesewelt erworben durch die Romane „Saint Roche" (1840), „Thomas Thyrnau" (1843), „Jakob van der Nees in Amsterdam" (1845), welche sich alle mehr oder weniger an historische Elemente anschlie­

ßen und sich in den vornehmen Kreisen der Gesellschaft bewegen. Neben einer verwickelten oft spannenden Erfindung ist hervortretend die lebendige Schilderung von Zeitcostümen und Zuständen, und

eine seine Psychologie des weiblichen Herzens.

Es weiß sich indeß

die Verfasserin nicht immer der geschichtlichen Momente zu bemäch­ tigen, und ihre Darstellung hält sich nicht frei von Umständlichkeit und Redseligkeit, so wie auch ihr Stil oft ins Pretiöse übergeht.

Es ist schon oben hingewiesen auf die Reisebilder und Reise­ novellen, auf die Spatziergänge und Wettfahrten, in denen sich der Drang kund giebt, für die Darstellung einen realeren Gehalt zu

gewinnen.

Es reihen sich

hier

an den historischen Roman

Reiseskizzen und Charakteristiken Leben.

aus dem

die

wirklichen

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

6SS

Hermann Fürst von Pückler-Muskau, geb. 1785 zu Muskau in der Lausitz, erhielt seine höhere Schulbildung auf dem Pädagogium zu Halle und studirte 1800 in Leipzig Rechtswissen­ schaft.

Er ging später in sächsische Militärdienste, und machte

1813 in russischen Diensten den Freiheitskrieg mit.

Nach dem Ab­

schluß des Friedens besuchte er England, wo er über ein Jahr blieb und sich mit den Eigenthümlichkeiten des Landes, mit Einrichtun­

gen, Sitten und Thätigkeiten gründlich bekannt machte.

Im Jahr

1816 kehrte er auf seine Besitzung nach Muskau zurück und be­

schäftigte sich daselbst mit großartigen Parkanlagen.

Im I. 1828

reiste er auf's Neue nach England, und verweilte daselbst und in Frankreich über ein Jahr.

Das

berühmte Buch „Briefe eines

Verstorbenen," von dem zuerst die beiden letzten und dann die bei­ den ersten Bände (1830—1832) im Drucke erschienen, hatte den Fürsten Pückler zum Verfasser.

Diese Briefe stellen besonders Er­

lebnisse und Zustände der englischen Gesellschaft dar, und zeugen von dem großen Talente des Verfassers, Bedeutendes und Gerin­

ges in der größten individuellen Mannigfaltigkeit vorzutragen [814]. Es herrscht in denselben die geistreiche Unterhaltungssprache vor­ nehmer Gesellschaft, die es in behaglicher Lässigkeit nicht verschmäht, fremde Worte, ja ganze französische Phrasen in die deutsche Rede einzumischen. Den gesellschaftlichen Zuständen gegenüber steht der

Verfasser auf dem Standpunkte einer pikanten Weltanschauung, und entwickelt in Selbst- und Zeitbetrachtung Ironie und Humor. Er geht mit großer Leichtigkeit auf alle gesellschaftlichen, ethischen, re­ ligiösen und politischen Fragen der Gegenwart ein, ohne sich aber ihnen mit einer entschiedenen inneren Betheiligung hinzugeben und

sie tiefer zu begründen.

Gerne führt er aus dem ertödtenden Ge­

wirr der Gesellschastswelt immer wieder in die belebende Anschauung

der Natur zurück, deren verschiedenartigste Seiten er stets mit treuer

Liebe auffaßt.

Das ungemeine Aufsehen, welches die „Briefe des

Verstorbenen" sowol in Deutschland als auch in England erregten,

überstieg alle Erwartungen des Verfassers, und es wurde jetzt für

den Fürsten Pückler das Behagen des Schreibens ein neuer Le­ bensreiz, und seine große Leichtigkeit und Schnelligkeit der Dar­

stellung begünstigte die Aufgabe, unter allen Lagen und Situatio­

nen etwas aufzuzeichnen. Wie das Reisen, so diente das Schrei­ ben seiner Lust sich zu unterhalten, und es folgte eine Reihe von Schriften: „Tutti Frutti" (1834), „Semilasso's vorletzter Weltgang,

in Europa" (1835), „Semilasso in Afrika" (1836) u. s. f. bis zu Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

40

626

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

zu der Schrift „Aus Mehmed Ali's Reich" (1844) wo der Ver­

fasser sich als eifriger Bewunderer Mehmed Ali's zeigt und raher eingeht auf die Verhältnisse des Landes.

Die novellistische Reiseliteratur erhielt die mannigfaltigste Be­ reicherung: Franz Gaudy fand besonders in Italien die Stoffe

für seine Novellistik.

Der Ertrag seiner ersten Reise war sein „Rö­

merzug" (1836), in welchem er bei gesunder Beobachtung, Sach-

kenntniß und phantasiereicher Darstellung anschauliche und lelensfrische Bilder giebt, namentlich aus dem Volksleben, wie es sich

in dem bunten Nationengemisch der kleinen italienischen Steaten

immer anders und anders gestaltet.

Das ergötzliche „Tagebuch

eines wandernden Schneidergesellen" ist eine Parodie auf densilohfanger Nicolai.

den Skizzen

Nach der zweiten Reise schrieb Gaudy die reizen­

„Portogavi"

und die „Venizianischen

Novellen"

(1838); in diesen traf er glücklich den Volkston und ward ein hu­

moristischer Genremaler; er bewegt sich hier mit derselben Lraft,

demselben Humor, wodurch er sich in der Lyrik so vortheilhaft aus­ zeichnet. Ein Rhapsode von der Riva degli Schiavoni erzählt sämmtliche Geschichten

vor einer Volksmenge mit jener südlichen

Lebendigkeit in Mimik und Gesten, die auch dem unbedeutenden Factum einen gewissen dramatischen Reiz verleiht.

Franz Dingelstedt weiß in seinem Wanderbuche, (2 Bde. 1839), die Bilder seiner Anschauung dem Leser frisch und scharf vor die Augen zu stellen. Das erste der beiden Bändchen enthält theils

Novellen, die sich an angebliche Reiseerfahrungen anknüpfen, theils führt es in die beschränkteren Gebiete des wirklichen Lebens; das zweite Bändchen eröffnet einen weiteren Ausblick und

giebt be­

deutendere Stoffe, die auf wirklichen Reisen gewonnen sind.

Aug. Lewald (geb. 1793) hat in der Reiseliteratur eine große Thätigkeit entwickelt. In einem vielbewegten Leben erhielt er Stoff und Form für seine vielseitige Productionsgabe. Er hat viel erlebt und erfahren, und geht mit großer Regsamkeit auf die mo­ dernen Ideen ein, welche die Zeit bewegen, wenn er sie auch nicht In seinen „Aquarellen aus dem Le­ ben" (1836—1840) führt er die verschiedensten Bilder von Land­

gerade in ihrer Tiefe erfaßte.

schaften, Städten, Personen und sonstigen Lebenserscheinungen uns

vor, jedoch verblassen in diesen Aquarellen vor dem Wasser öfter die Farben. Sealsfield (angenommener Name) hat in den „Lebensbil­ dern aus der westlichen Hemisphäre" mit seiner frischen, an die ob-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

627

jective Wirklichkeit fich haltenden Schilderung uns das Leben Nordamerika's allseitig eröffnet und übertrifft Cooper und Washington

Irving in Kraft der Zeichnung und Farben. Hervortretend ist die Stärke seiner gestaltenden Phantasie, welche die treffendsten Lebens« bilder malt, und unerschöpflich die Frische seines Humors; dagegen

tritt die Form zurück, und das Kunstlose derselben läßt seine Dar­

stellungen als unmittelbaren Abdruck des Erlebten erscheinen. Unter den Frauen hat besonders die Gräfinn Ida HahnHahn sich in reisenovellistischen Productionen ergiebig gezeigt.

Sie

schrieb „Reisebriese" (1841), „Erinnerungen aus und an Frank­

reich" (1842), „Reiseversuch im Norden" (1843), „Orientalische

Briefe" (1844) u. s. f.

Diese Darstellungen gehören der geistrei­

chen aber oberflächlichen Touristenliteratur an, die mehr amüsirt

als belehrt.

Emma Nindorf giebt in den „Reisescenen in Bayern, Tyrol und Schwaben" (1841) warme und lebendige Schilderungen der Natur, in denen eine zarte, weibliche Empfindung waltet. Der biographische Roman, welcher sich an die historische Novellistik anschließt, fand in Tieck's „Dichterleben" seinen Anknü­

pfungspunkt. Der Freiherr A. v. Sternberg (geb. 1806), welcher sich mit großer Productivität an der Tagesliteratur betheiligt, schrieb eine Novelle „Lessing" (1834), wo die Grundlage der Handlung einerseits die französisch - rationalistische Aufklärung der Zeit bildet, repräsentirt durch den Marquis, den Grafen und die jüngere Gräfin, andererseits die ängstlich orthodor-pietistische Rich­

tung der niederen und mittleren Stande,

welcher auch Lessing's

Eltern zum Theil angehören.

Dazwischen steht Lessing; dicht ne­ ben ihm der Freigeist Mylius und die Schauspielerinn Sabine, die an ihrer Liebe zum Dichter untergeht. Lessing läßt sich nach keiner Seite hin verlocken; er halt fest an seinem klar gefühlten

Beruf, Wiedcrhersteller der deutschen Literatur und Schöpfer deut­ scher Geistesproducte zu werden; aber dennoch tritt Lessing's Per­ sönlichkeit nicht in ihrem Ernste und ihrer Tiefe vollständig heraus.

Lessing's Charakter ist nicht an der innersten Wurzel erfaßt, und seine Gemüthsentwickelung, wie sie unter den gegebenen Umständen erfolgen mußte, durch alle Situationen seines Lebens verfolgt; erst bei einem solchem tieferen Eingehen in die äußeren und inne­ ren Zustände wird der Bildungsproceß einer individuellen Gestalt

gewonnen. Ernst Willkomm giebt in seinem „Lord Byron" (1839)

40*

628

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

eine Reihe von Novellen, die von der ersten Entwickelung bis zum tragischen Ende des Dichters fortlaufen.

Die Darstellung hebt die

Hauptmomente von Byrons Leben, das sich in scharf bezeichneten

Perioden entwickelt, auf prägnante Weise hervor und hält sich mei­

stens an die historische Wahrheit, ohne jedoch zur Kunst poetischer Entfaltung und individueller Charakteristik hindurchzudringen. Heinrich König geb. 1791 zu Fulda, kämpfte sich durch die beschränktesten Verhältnisse hindurch, und unter schmerzlichen Jugenderfahrungen wußte er sich bei seinem regsamen Geiste die Bahn für seine Thätigkeit zu eröffnen. Im Jahr 1816 erhielt er

die Stelle eines Finanzsecretairs in Fulda, und wurde 1819 in

gleicher Eigenschaft nach Hanau versetzt.

Durch seine Verbindung

mit dem freisinnigen Benze!-Sternau ward er in seiner Opposi­ tion gegen das hierarchische Wesen des Katholicismus befestigt, und

wie er ein beredter Sprecher für religiöse und kirchliche Freiheit wurde, ebenso bewies er lebendiges Interesse an den Bestrebungen

für politische Freiheit. Als kurhessischer Deputirter (1833) und als Publicist und Dichter kämpfte er für die Freiheit des Denkens, Glaubens und Handelns

und

für die Verwirklichung

durch volksthümliche Staatsformen [816J.

derselben

Er gab 1839 in „Wil­

liams Dichten und Trachten" ein Lebensbild Shakespeare's, und stellt an diesem Dichterfürsten dar, wie Poesie und Wirklichkeit in

einander greift.

Während Tieck in seinem „Dichterleben" Sha­

kespeare in seinem stillen dichterischen Werden im Gegensatz von dem phantastischen Marlow auffaßt, stellt König seinen Shakespeare in die Mitte der damaligen Zeitverhältnisse, und bringt zur An­ schauung, wie der Dichter von der Realität der ihn umgebenden

Welt ergriffen wurde und seine poetische Innerlichkeit mit den hi­ storischen Anforderungen einer großen Nationalität in Einklang zu

setzen rang. In der neusten Zeit hat Otto Müller in seinem Roman „Bürger" eine individuelle Charakterentwickelung dieses Dichters gegeben.

Es enspricht diese Richtung des biographischen Romans

dem von Laube versuchten Dichterdrama.

Berthold Auerbach hat in seinem „Spinoza" (1837) und int „Dichter und Kaufmann" (1840) versucht, große und ehrenwerthe Persönlichkeiten des Judenthums in ihrem Kampfe mit den bewegenden Fesseln socialer Verhältnisse zu zeichnen. Roman giebt eine ziemlich

historisch

Der erstere

gehaltene Biographie Spi-

des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

629

noza's, der zweite eine Lcbensgeschichte des israelitischen Dichters Ephraim Kuh. Auerbach bezeichnet den Uebergang, welchen die historische No­ velle durch novellistische Genrestücke zu den Dorfgeschichten machte; diese lehnen sich an Hebels Darstellungen an und haben in Jmmermann's Westphälischem Hofschulzen das trefflichste Bor­ bild. Vor Allem ist hier wichtig eine liebevolle Hingabe an die Erscheinungen des Volkslebens, um sie in ihrer reinen und un­ schuldigen Natur zu erfassen und sie in der ihnen gemäßen Vollen­ dung darzustellen, damit sie, in dieser Weise poetisch verklärt, ihre volle Wirksamkeit ausüben. Ze individueller diese Erscheinungen aufgefaßt werden, desto größere Wahrheit gewinnen sie; daher sich in dieser Richtung das Provinzielle und Heimathliche mit Recht Geltung verschafft [81 ’]. Der Dichter muß im Volksleben un­ tertauchen und die innersten Elemente seines Volksstamms ergrei­ fen, um sie poetisch gestaltet an's Tag'slicht zu fördern; seine Dich­ tung ist wie eine Einkehr zu sich selbst, so eine Heimkehr zu den Seinigen. Das süddeutsche Naturell zeigt sich für diese Dichtungs­ art vorzüglich günstig, weil es sich mehr im Elemente des Gemüths bewegt, das ein sinniges Eingehen fordert und den Gedanken in der Gestalt des Unmittelbaren zu Tage bringt; außerdem giebt sich in den süddeutschen Dialekten die Naivität gemüthlicher Unmittelbar­ keit kund. Dagegen herrscht im nördlichen Deutschland das Ele­ ment des Verstandes vor, welcher die Dinge äußerlich bezieht, ordnet, sie benutzt. Der Norddeutsche ist auch schon durch den Charakter und Klang der Rede mehr in das Element der moder­ nen Reflexionsbildung gestellt, in die Sphäre einer Allgemeinheit, worin vom Individuellen und Unmittelbaren provinzieller Naivität abstrahirt ist. Die bedeutendsten Leistungen für die volksthümliche Literatur sind bisher im südlichen Deutschland hervorgetreten. Ber­ thold Auerbach's „Schwarzwälder Dorfgeschichten" (1842) haben den weitverbreitetsten Beifall gefunden [8l8J. Auch Jerem. GottHelf (aus der Schweiz), hat in seinem „Uli" (1841), in „Anne Bäbi" (1843) und in den „Bilder und Sagen aus der Schweiz" (1843—1844) treffliche Muster für diese Volksliteratur geliefertDieselbe darf nach keiner Seite hin einem äußerlichen Zwecke, am wenigsten gewissen Parteibestrebungen dienstbar seyn; hierdurch un­ terscheidet sie sich von dem Tendenzartigen der Proletariats-Ro­ mane, welche auf der Schilderung des Elends in den untersten Volksschichten beruhend, im Interesse der Lagesfragen geschrieben

630

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

werden. A. v. Sternberg begab sich in seinem „Paul" (1845) auf dieses Gebiet, ohne daß er sich jedoch von seinem vorneh­ men Standpunkte aus in die innersten Zustände des Volks hinein­ gelebt hat. Boz (Charles Dickens) hat in seinen „Humoristischen Genrebildern," in „Nickelby," den „Pickwickiern," in „Oliver Twist" neben wahrer Liebe zum Volk einen scharfen Blick für des­ sen Eigenthümlichkeiten bekundet, und durch die Naturwahrheit sei­ ner Schilderungen und durch den köstlichen Humor sowol in Eng­ land als auch in Deutschland große Popularität gewonnen. Mit Recht bemerkt Auerbach: „Wir haben in Deutschland noch so viele innerliche Unverwüstlichkeit des Volkslebens, cs ist noch so viel Sonnenschein, so viel Wiesen- und Waldgrün zwischen die Hütten der Armen gebreitet, daß Herz und Auge sich sattsam daran er­ quicken mag." Es wird daher bei der gegenwärtigen Rückkehr zu einer natur- und volksmäßigen Entwickelung, die in allen Kreisen des Lebens sich kund giebt, auch unserer Volksliteratur eine schönere Zukunft bevorstehen.

b.

Der Gefühls- und Gesellschaftsroman.

Der Familienroman, welcher um die Mitte des vorigen Jahr­ hunderts durch die Betheiligung an dem innersten Gemüthslcben eine lebensvollere Gestalt gewonnen hatte, wurde in seiner sentimen­ talen Richtung von dem humoristischen Roman bald in den Hin­ tergrund gedrängt, und in der neuesten Literaturepoche fand der auf den innersten Regungen des Herzens und auf der Familien­ innigkeit beruhende Gesühlsroman um so weniger Bearbeitung und Anklang, als das gesellschaftliche Leben in seinen vielfachen Miß­ verhältnissen die Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Darstellung der Conflicte, in welche der Einzelne mit den Verhältnissen der socia­ len Welt geräth, wenn er die hemmenden Schranken durchbrechen will, diese Pein und Qual der neuen Zeit, welche aus dem Ver­ alteten sich mühsam kämpfend losringt, ist ein hauptsächlicher Ge­ genstand des Romans geworden, und je mehr hier das Tendenz­ artige und Absichtliche vorherrscht, um so mehr wird dadurch das still schaffende, von Innen heraus gestaltende Leben der Poesie, das sich selbst Zweck ist, gestört. Ed. Mörike (s. oben) hat sich in seinem Roman „Maler Nölten" (1832) noch nicht vollständig von den Einflüssen der Ro­ mantik frei gemacht. Die romantische Mystik bildet den Hinter-

gründ, die naturgemäße klare Wirklichkeit den Vordergrund; beide Principien treten mit einander in Kampf, und das erstere, roman­ tisch mystische behält den Sieg. I. Mosen, welcher vor Allen nach der Entfaltung eines reinen und selbstständigen Dichterlebens ge­ trachtet hat, weiß in seinen „Novellen" (1837) mit geringen Mit­ teln das Schönste zu vollbringen („Ismael" — „Helena Vallisneria"). Es spricht sich hier die Stimme des Herzens innig und eindringlich aus, wie auch in späteren Novellen „der blauen Blume" (Urania 1840), und in dem „Heimweh" (ebend. 1844). Auch H. König bewegt sich in mehreren seiner Novellen auf dem Ge­ biete des innersten Gefühlslebens; hierher gehört seine „Regina, eine Herzensgeschichte" (1844), und „deutsches Leben in deutschen Novellen." In der „hohen Braut" (1833) geht er näher ein aus die religiösen und gesellschaftlichen Conflicte der Gegenwart. K. Gutzkow hat in den Novellen „die Wellenbraut," „die Selbst­ taufe," auch in der „Seraphine" die tiefsten Conflicte der Men­ schenbrust dargestellt, und dringt ein bis in die innersten Geheimnisie der menschlichen Seelenregungcn; es beeinträchtigen bei ihm nicht selten die feinen Charakteranalysen den raschen Gang der äußeren Handlung. Franz Dingelstedt lieferte in seinem Roman „Unter der Erde" (1840) eine Dichtung, die in der Mitte zwischen dem Gefühls- und Gesellschaflsroman steht. Im ersten Theil sehen wir den Helden des Romans, Felix, wie er die Pforte, durch die er in die Gegenwart hereinschritt, hinter sich zugeworfen hat, um nicht rückwärts zu schauen; es bleibt verborgen, ob eigene oder fremde Schuld ihn nöthigte, der Welt Lebewohl zu sagen. Wir ahnen nur die Wirren der höheren Gesellschaft, durch die sich Fe­ lix hindurchgekämpft. Der zweite Theil des Romans giebt hier­ über nähern Aufschluß, und der Dichter tritt zwischen die handeln­ den Personen und den Leser; wir werden in die Cercles der deut­ schen Aristokratie geführt, und erfahren hier näher die Motive für die sonderbare Grille von Felix, sein Leben an die Unterwelt des Stollen zu knüpfen. Den größten Umfang hat in der neuesten Unterhaltungs­ literatur der Gesellschaftsroman gewonnen, der durch gewandte Schilderung pikanter Situationen den abgestumpften Sinn des großen Lesepublikums zu reizen sucht und sich vorzüglich in den un­ natürlichen und unsittlichen Verhältnissen'des höheren Gesellschafts­ lebens bewegt. In dieser Sphäre hat unter vielen Anderen A. v. Sternberg eine große Productivität entwickelt, und unter den

632 Frauen

Zweite Periode. kann

Von dem ersten Viertel

die Gräfin Hahn-Hahn

hervorgehoben

werden,

welche sowol in der Novelle „Aus der Gesellschaft" (1838), als

auch in der Gcsammtausgabe der Romane, die „Aus der Gesell­ schaft" betitelt ist (1844, 45), ihre Schilderungen aus den aristo­

kratischen Kreisen der vornehmen Welt entlehnt und in der Behand­ lung der socialen Fragen der Gegenwart sich der George Sand

(Dudevant) anzunähern sucht, ohne aber deren tiefe und großartige

Auffassung zu erreichen.

3.

Drama.

Die dramatische Poesie, welche am meisten mit dem Leben und allen gesellschaftlichen Zuständen verflochten ist, erscheint, wie

sie selbst die Spitze der dichtenden Kunst ist, als die Blüthe der jedesmaligen Culturepoche. Während in den Zeiten Schröder's und Jffland's sich überall eine frische, lebendige Theilnahme für die Bühnenpoesie kund gab und die Schauspielkunst blühte, beweg­

ten die Bühnenstücke selbst sich vorzugsweise in den beschränkteren Zuständen des Familienlebens und bezweckten durch Gegenüberstel­ lung von Tugend und Verbrechen das Herzerschütternde; sie spie­

gelten die engumgrenzten Interessen der damaligen Zeit ab, und das Drama war weit entfernt, ein nationales zu werden, weil

demselben die größeren und allgemeineren Bezüge eines öffentlichen, volksthümlichen Lebens fehlten. Schon Lessing hatte diesen Mangel tief empfunden, und, bitter enttäuscht in seinen schönen Erwartun­ gen, sprach er sich gegen den Schluß seiner Dramaturgie aus „über

den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu ver­ Göthe und Schiller widmeten sich, im regsten Eifer für die dramatische Kunst,

schaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind."

der Emporbringung der Bühne.

Wie sehr auch in

den Dra­

men dieser beiden großen Dichter die ganze Weltanschauung der

Deutschen ihren Mittelpunkt fand, und jedes Geschlecht und jedes Alter hier die Kraft des Gefühls der ethischen Bildung und der Freiheit des Geistes schöpfte, und wie sehr namentlich Schiller den

Deutschen ihr politisches Bewußtseyn erringen half, dennoch stan­

den diesen idealen Bestrebungen die Zustände bens zu fremdartig gegenüber,

des wirklichen Le­

und es konnte mit dem Theater

noch keine große, volksthümliche Wirkung auf eine nachhaltige Weise gewonnen werden; es fehlte der nationale Boden, auf welchem al­ lein das Drama erst feinen wahrhaften Gehalt gewinnen kann.

Es sanken daher auch nach Göthe's und Schiller's Wirksamkeit die dramatischen Erzeugnisse immer tiefer von der Höhe der Kunst herab; das Theater diente mehr einem gesellschaftlichen Bedürfnisse und wurde zum Unterhaltungsmittel, zu einem müßigen Zeitver­ treibe. Immer bestimmter trat der Zwiespalt zwischen Poesie und Bühne hervor, so daß, während die Einen ihr Talent und ihren Ruhm dem Beifalle der Menge zum Opfer brachten, Andere auf alle Bühnendarstellung verzichteten; weshalb auch ost gerade der Beifall, den ein dramatisches Werk aus der Bühne fand, gegen seinen dichterischen Werth zeugte. So verlor das deutsche Theater alle Selbstständigkeit, und obgleich in Folge der großen Welter­ eignisse seit der ersten französischen Revolution neue Gedanken über nationale Einheit und politische Freiheit überall angeregt waren, er­ hielten sich doch alle früheren für die freiere Entwickelung des Drama's störenden Uebelstände, die sowol aus der Politik als aus dem Mangel eines großen, einigen Vaterlandes hervorgingen. Wenn auch die Romantik sich an der Zeit der Freiheitskriege begeisterte zu dem Vorsatze der Erneuerung der deutschen Bühne durch die Schöpfung historischer Dramen, und besonders Tieck seine Theil­ nahme dem deutschen Theater zuwandte, in welchem er, wie schon früher Schiller, eine der wichtigsten Nationalangelegen­ heiten erkannte; dennoch waren die Zeitverhältnisse für einen glück­ lichen Erfolg zu ungünstig, und es zersplitterten die Romantiker ihre schönsten Kräfte in der Polemik. Unter solchen Umständen blieb das Theater hinter der geistigen Bildung der Nation und hinter dem gewonnenen politischen Bewußtseyn der Zeit weit zurück; es schwankte zwischen einer bloßen Gesellschafts- und einer Kunst-An­ gelegenheit. Auf der deutschen Bühne herrschten schlechte Bearbei­ tungen französischer Stücke, geistlose Possen und Melodramen, Claurensche Wollmärkte und Vogelschießen, Kotzebue's Lustspiele nebst einigen Reizmitteln Müllnerschcr und Houwaldscher Rührspiele, während Dramen, wie Göthe's Egmont und Schiller's Tell zu den verbotenen gehörten; daher sich auch der bessere Theil des Publi­ kums immer mehr mit einem gewissen Widerwillen vom Theater abwandte. Börne deckte den Grund auf von dem Zustande un­ serer deutschen Dramatik und Bühnenzustände in ihrem Stadium des Marasmus senilis, indem er Drama und Bühne in ihrem Zu­ sammenhänge und in ihrem Verhältnisse zum Staate und zum po­ litischen und socialen Leben der Gegenwart auffaßte. Durch alle seine dramaturgischen Aufsätze zieht sich als Grundgedanke hindurch,

634

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

daß politische Freiheit, ein von großen Interessen bewegtes öffent­ liches Leben der Boden sey, auf dem allein das Drama zu gedei­ hen vermöge, und weil wir weder die eine noch das andere hätten, wir auch keine gesunde Bühne haben könnten. Indeß sollte die Zeit des tiefsten Verfalls der deutschen Bühne durch die Energie des deutschen Geistes überwunden werden, und wie dieses Streben für das Drama schon zweimal den Höhepunkt unserer Poesie ge­ bildet hat, das eine Mal als Lessing die moralische Kraft des deut­ schen Geistes in diese Form goß, das andere Mal, als Göthe und Schiller das ethische und welthistorische Bewußtseyn ihrer Zeit darin aüsprägten, so stehen wir jetzt in dem Beginn einer dritten Epoche der dramatischen Poesie, welche die Weltanschauung der jüngsten Zeit, ihre Kämpfe und das Ringen neuer Principien mit den alten abgelebten Formen eines geschichtlichen Daseyns zur An­ schauung bringen soll. Jmmermann hatte die neue Wendung, welche die dramatische Poesie nehmen werde, prophetisch verkündet, und der Zeitpunkt stark erwachten deutschen Nalionalgefühls, wel­ ches Lessing früher so schmerzlich vermißte, berechtigt zu den schön­ sten Erwartungen für die Zukunft. Immer lebendiger hat sich der Gedanke aufgedrungen, das Leben der Gegenwart in seinen inner­ sten Empfindungen und Regungen auf der Bühne zur Erscheinung zu bringen, die Vergangenheit und die Zukunft, das Gewordene und das Werdende im Moment der Gegenwart zu erfassen und den Uebergang zu dem wirklich historischen Drama zu machen. Shakespeare bildet auch für diese neue Bestrebungen das bisher unerreichbare Vorbild; denn ihm gelang es seine Nationalgeschichte auf acht dramatische Weise zu behandeln. Es ist daher die dra­ matische Poesie der Gegenwart in einem neuen Entwickelungspro­ ceß begriffen; sie wird noch manche Stadien zu durchlaufen haben, und eine gesunde, volksthümliche Lebensentwickelung in allen Sphären der socialen und politischen Zustände wird voraufgehen müssen, bevor das Drama sich als eine wahrhaft nationale Ange­ legenheit Geltung verschafft und ein National-Theater ins Daseyn ruft [•*•]. Es traten seit Göthe und Schiller manche Dichter auf, welche dem Drama sowol im künstlerischen als auch nationalen Interesse mit dem regsten Eifer ihre Thätigkeit widmeten, aber theils durch ungünstige Zeitverhältnisse theils durch frühzeitigen Tod in ihrem besten Wirken gestört wurden. Andere gaben sich dagegen einer oberflächlichen Bielschreiberei hin, und erst durch die jüngeren Ta-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

635

lente wurde ein Umschwung für die nationalere Gestaltung unseres Dramas herbeigeführt. Michael Beer (1800—33, aus Berlin, Privatgelehrter da­ selbst und Bruder des Componisten Meyer-Beer) schrieb „die Bräute von Arragonicn" (1823), „Klytämnestra" (1823), „der Paria" (1829), „Struensee" und bewährte ein schönes Talent für drama­ tische Composition und Charakteristik, welches einer immer höheren Kunststufe entgegenreifte. Der Lod setzte aber der weiteren Ent­ wickelung desselben ein frühes Ziel [8 *®J. Georg Büchner, geb. 1813 zu Goddelau bei Darmstadt, studirte Medizin und Philosophie, und ward durch demagogische Umtriebe in die Verbannung getrieben; er promovirte in Zürich, wo er anatomische Vorlesungen hielt. Er schrieb das Trauer­ spiel „Danton's Tod" (1835), worin er ein bedeutendes dramati­ sches Talent bewährte; aber ein frühzeitiger Tod raffte ihn 1837

dahin. Ernst Benjamin Salomo Raupach, geb. 1784 zu Straupitz unweit Liegnitz, bezog 1801 die Universität Halle, um Theologie zu studiren. Nach beendigten Studien begab er sich 1804 zu seinem Bruder nach Petersburg, und brachte hier die er­ sten zehn Jahre als Erzieber in Privathäusern zu; später erhielt er an der Universität eine Professur der deutschen Literatur und der Geschichte, und war außerdem beschäftigt mit dramatischen Ar­ beiten, an denen er schon damals sehr ergiebig war. Es erschie­ nen unter mehreren anderen „die Fürsten Chawansky" (1818), „die Erdennacht" (1820) u. m. a. Auch „Isidor und Olga" ent­ stand in Petersburg, ward aber erst 1826 gedruckt. Als über Rau­ pach und einige seiner College» im Jahr 1821 eine Untersuchung verhängt wurde, verließ er Rußland und kam 1822 nach Berlin; hier gelang es ihm, sich der Bühne z'u bemächtigen, für welche er mit dem fruchtbarsten und unermüdlichsten Talente arbeitete, das in vielen Beziehungen an Kotzebue erinnerte. Im 1.1829 erschienen seine „dramatischen Werke komischer Gattung," und 1830 — 43 die „dra­ matischen Werke ernster Gattung." Raupach besitzt Talent für die Bühnenpoesie, aber er gab es einer oberflächlichen Vielschreiberei Preis, und wie er die Poesie herabzog und dienstbar machte für die äußeren Zwecke des Theaters, ebenso wußte er sie auch zu be­ nutzen zum Gelderwerb. In den „Hohenstaufen" wollte er eine nationale Richtung der dramatischen Poesie wieder erwecken, und vollendete in dreizehn Tragödien den ganzen die Geschichte der Ho-

636

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

henstaufen umfassenden Cyclus, von denen die ersteren (besonders der 2. Theil Heinrichs VI.) die wirksameren sind, die späteren aber immer matter und langweiliger werden. Wie wenig das Wesen des historischen Dramas, das die Geschichte der Poesie wegen, nicht um der Geschichte willen reproducirt, von Raupach erfaßt wurde, ist daraus ersichtlich, daß er meinte, seine Dramen wären ein Mit­ tel um das Volk zu belehren, und in ähnlicher Weise könne die ganze deutsche Geschichte in etwa achtzig Dramen bearbeitet wer­ den. Der Kampf der Hohenstaufen mit der Hierarchie der Kirche bezeichnet einen bedeutsamen Wendepunkt des Mittelalters; Rau­ pach hat aber die in diesem Kampfe waltenden Ideen und den eigentlichen Nerv nicht zu erfassen vermocht, sondern sich damit be­ gnügt, die Raumersche Geschichte der Hohenstaufen äußerlich zu copiren und zu dramatisiren. Das Bühnenmäßige gilt ihm als das Erste, und manche Rolle hat er mit besonderer Rücksicht auf ein­ zelne Schauspieler geschrieben und dafür zu sorgen gewußt, daß durch effectvolle Schlußscenen dem Schauspieler Beifall geklatscht werde. Daher hat er auch, weit davon entfernt, eine tiefere Ein­ sicht in die Bedeutung der großen Charaktere und ihres Verhält­ nisses zu der Zeit zu gewinnen, nur solche Motive gefunden, welche für ein größeres Publikum ein gewöhnliches Ritter-, Pfaffen- und Liebesschauspiel abgeben. An die Stelle der Charakteristik tritt Re­ flexion, an die Stelle der Poesie Rhetorik, welcher individuelle Wahrheit fehlt. Vorwaltend ist der berechnende Verstand, und wir erhalten nur Personificationen allgemeiner Begriffe, keine lebens­ volle, individuelle Charaktere. In der Sphäre des Komischen, in­ sofern es durch die Verstandesthätigkeit vermittelt ist, hat Raupach mit glücklichem Erfolge die Wirkung des Lachens hervorzubringen gewußt; jedoch wie ihm die tiefere tragische Kraft abgeht, ebenso auch der tiefere Humor, und seine Spaßfigur Schelle, die er von dem Lustspieldichter Holberg entlehnte, kehrt in mehreren Stücken wieder, in den „Schleichhändlern," in dem „Zeitgeiste," im „Nasen­ stüber" und in „Schelle im Monde." Er hat sich auch an dem „Till" (Eulenspiegel) versucht, ihn aber seines nationalen Ge­ präges entkleidet und aus dem Boden der volksthümlichen Sage herausgerissen. Raupach ist ein Repräsentant für den trivialen Zu­ stand, zu welchem die Bühne herabgekommen war. Das Lustspiel, und namentlich die Posse ist die Eigenthüm­ lichkeit des Wiener Theaters und hat in dem Leopoldstädter Thea-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Irr einen festen Sitz gewonnen.

637

Für dasselbe arbeiteten Bäuerle,

Nestroy u. a.; unter diesen war vorzüglich

Karl Raimund

saus Wien 1790 —1836, Schauspieler) bemüht, das Casperl- und

Staberllustspiel seiner Vorgänger aus eine höhere Stufe zu brin­ gen, indem er die alten Wiener Bolksspäße mit phantastischem

Humor

ausstattete,

und

mit

tiefernsten Reflexionen

durchdrang.

Einen bedeutenden Namen erwarb er sich durch seinen „Diamant des Geisterkönigs," und den „Bauer als Millionär." In seiner

gab er ein durchaus phantastisches Lust­ spiel. Die Phantasie erscheint als Person und wird, in Fesseln ge­ schlagen, an den Tisch eines Bänkelsängers gebunden. Der Trun­ /, Gefesselten Phantasie"

kenbold schimpft,

schlägt,

Himmelskind nicht singen.

stößt,

aber gefesselt will das liebliche

Raimund glaubte in der Allegorie die

Quelle der Poesie gefunden zu haben, verlor aber dadurch die dra­ matische Wirksamkeit. Jos. Freiherr v. Auffenberg, geb. 1798 aus Freiburg, badenscher Offizier und Kammerherr, ist mit seiner überreichen Produktivität ein Seitenstück zu Raupach. Er hat Romane von

van der Velde, Walter Scott und Anderen dramatisirt; Rheto­ rik und sentimentale Reflexion bilden die Hauptelemente. Im I. 1843 sqq. sind seine Werke in 21 Bänden erschienen.

Karl 3 mm ermann (f. oben) arbeitete thätig an der Wie­ dererhebung des deutschen Theaters und förderte in seiner drama­

turgischen Praxis, welche auf „die Palingenesie einer realen poeti­

schen Bühne" hinstrebte, besonders das historische Drama. Unter seiner Leitung blühte kräftig das Theater zu Düsseldorf empor, in­

dem hier das Recht der Poesie mit Glück und Erfolg gewahrt, das deutsche Element festgehalten und das Leere und Oberflächliche fran­ zösischer Bühnenstücke beseitigt wurde [ei0J. In seinen eigenen dramatischen Erzeugnissen wußte Jmmermann nicht das rechte Ver­ hältniß zwischen Drama und Bühne zu treffen; sie sind größtentheils unter dem Einfluß romantischer Gefühlsstimmungen entstan­ den, und später als er eine freiere Höhe gewonnen hatte, wandte

er sich der seiner Eigenthümlichkeit mehr

entsprechenden Roman­

dichtung zu.

Christian Grabbe wurde 1801 zu Detmold geboren, wo sein Vater Zuchthausverwalter war und gewissenhaft nur seinem Amte lebte; seine Mutter war eine bösartige, leidenschaftliche Na­

tur, die, dem Trünke ergeben, ihrem Kinde von dessen viertem Le­

bensjahre an täglich betäubende geistige Getränke darbot, und ihm

638

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

des Nachts beim Schlafengehen solche vor das Bett setzte.

Unter

solchen Umgebungen wuchs der Knabe aller Liebe entbehrend heran, in tiefer Verschlossenheit, die sich äußerlich als Blödigkeit, innerlich

als

Eigensinn und Trotz kund

gab.

Eine Befriedigung seines

Wiffendranges fand er durch Clostermaier auf dem Detmolder Gym­

nasium,

wo Grabbe der

ausgezeichnetste Schüler wurde.

Früh

fühlte er sich zu den griechischen Tragikern und zu Aristophanes

hingezogen, und unter den Neueren waren es besonders Shakespeare und Byron, von denen sein poetisches Talent geweckt wurde; schon auf der Schule concipirte er die Idee zu seinem ersten Drama, dem

„Herzog von Gothland."

Im I. 1820 ging er nach Leipzig, um

dort Rechtswissenschaft zu studiren; er fand aber in diesem Stu­

dium keine Befriedigung, und als er 1822 nach Berlin kam, wo er

mit Heine und anderen jungen Dichtern in freundschaftlichem Ver­ kehr lebte, entschloß er sich, die juristische Laufbahn aufzugeben. Allein er sah leider alle seine Lebensplane, die auf eine dichterische Thätigkeit gebaut waren, scheitern, und mißmuthig kehrte er zu

der Rechtswissenschaft zurück.

Er ward 1829 als Regimentsaudi-

teur in Detmold angestellt, und arbeitete daselbst zugleich als Sach­ walter. Die Prosa des Geschäftlebens rief bald in ihm ein« düstre Verzweifelung hervor, und auch das Glück der Ehe konnte ihn nicht aufrecht halten. Endlich befreite er sich, indem er fein Amt auf­ gab, um als Schriftsteller zu leben; er ging nach Frankfurt, dann nach Düsseldorf, wo er in nähere Verbindung mit Jmmermann trat. Grabbe wurde zuerst durch sein Drama „der Herzog von Gothland" bekannt, in welchem der Ungestüm eines maßlosen Ge­

niedranges waltet. dem Völkerleben,

Den Stoff für seine Dichtungen suchte er in

dessen Macht

und Gewalt er

Drama zur Anschauung bringen wollte.

dem

deutschen

Er begann mit der Dar­

stellung des Erhabenen, vermochte aber nicht den Uebergang zur

Schönheit zu finden, weil er sich in dem Uebermaaß seiner Kräfte In seinem „Friedrich Barbarossa" und

nicht zu zügeln wußte.

„Heinrich VI.," im „Don Juan und Faust" (1829), in den „hun­ dert Tagen" (1831), und im „Hannibal" (1835), überall offenbart sich die Kühnheit der Conception und Fülle an überraschenden Ge­

es fehlt die Ruhe und Sicherheit des bewußten Schaffens; über dem Stoffartigen geht die Form, über dem Ori­ danken, aber

ginellen das Wahre, über der Kraft die Schönheit verloren; neben

Tiefes und Großes tritt das Wilde und Rohe. Die „Herrmanns­ schlacht" ist das letzte Drama, über dessen Ausarbeitung Grabbe

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. starb [81IJ.

639

Wie seine Poesie, so kam auch sein Wesen, sein Cha­

rakter zu keiner Ruhe, zu keiner Befriedigung; die Gluth seines

Innern, rin rastlos in ihm gährender Schaffungsdrang verzehrte ihn, und er siechte in der Blüthe seiner Jahre dahin.

Nicht ver­

mochte er sich frei waltend über die feindlichen Mächte des Lebens

zu erheben, um sie als Dichter zu beherrschen, und ging an seiner eigenen

Maaßlosigkeit,

an

dem

Mangel

innerer

Haltung

zu

Grunde, ohne zur vollendeten Entwickelung seines Talents und sei­ ner Kräfte zu gelangen.

In seinem fünf und dreißigsten Lebensjahr

starb er 1836 in Detmold. Immer entschiedener ging von den neuen die Zeit bewegenden Ideen nationaler Einheit und politischer Freiheit der Impuls aus

zu neuen Produktionen, wie bisher in der Lyrik und Novellistik, so

auch im Drama, welches stets das treuste Abbild

der geistigen,

sittlichen und politischen Bildungszustände der Zeit gewesen ist.

Es

suchten die jüngeren Talente sich der Bühne zu bemächtigen, und

in Gutzkow's, so wie auch Laube's dramatischen Erzeugnissen regte sich ein freierer Geist und strebte einer tieferen Lebensan­ sicht zu; man suchte den socialen und politischen Bewegungen dra­ matische Gestaltung zu geben, und gerieth darüber zunächst in das

Tendenzartige, welches die ruhige, objective Entfaltung der drama­ tischen Handlung störte. Indessen hatten diese Dramen, welche den

Sieg des freien Geistes in Geschichte und Leben auf der Bühne zur Anschauung zu bringen suchten, sich von Seiten der Hofthea­

ter in den großen Hauptstädten nur geringer Begünstigung zu er­ freuen und mußten hinter gleichzeitig hervortretenden Bühnenstücken zurückstehen, in denen einerseits sentimentale Gefühlsverweichlichung

vorherrschend ist, wie in der „Griseldis" (1837) und in dem „Sohn

der Wildniß" (1843) von Fr. Halm (Freiherr von Münch-Bellinghausen), oder die andererseits Jfflandsche Familienscenen vorfüh­ ren, wie die Conversationsstücke in den „Original-Beiträgen zur

deutschen Schaubühne" (1836 — 44) von der Prinzessinn Amalie von Sachsen

und

die

dramatisirten Romane der Charlotte

welche als Schauspielerin

effektvolle Theater­ scenen zu erfinden versteht. Das Lustspiel, in welchem Karl Töpfer (geb. 1792, früher Schauspieler in Wien, später auf Rei­ Birch-Pfeiffer,

sen und in Hamburg) eine leichte und sehr ergiebtge Produktivität

bewiesen hat, gewann an Roderich Benedix eine Bereicherung, dessen „gesammelte dramatische Werke" 1846 erschienen.

denselben enthaltenen Lustspiele

„das

Die in

bemooste Haupt," „Dr.

640

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Wespe," „der Weiberfeind," „der Steckbrief," „der alte Magister"

sind nicht ohne Anerkennung geblieben.

Es

herrscht in denselben

ein gewisser wohlwollender Humor, und es fehlt nicht an wirkungs­

reichen Scenen und Situationen.

Benedir bewegt sich

in der

Sphäre des deutschen Familienlebens, und die heiteren Thorheiten desselben oder die komischen Situationen, welche sich im Conflicte desselben mit modernen Schwindeleien und den Ausgeburten des Zeitgeistes erzeugen, bilden sein Gebiets" *j. Rüstig schritten aber

die jüngeren dramatischen Dichter, ungeachtet der Hemmungen und Entmutigungen, auf der von ihnen betretenen Bahn weiter; für

das historische Drama, das eigentliche Ziel, welchem die dra­

matische Poesie der Gegenwart zustrebt, zeigte sich am wirksamsten Julius Mosen thätig, der als Dramaturg in Oldenburg de»

Lheaterzuständen einen neuen Schwung und ein neues Leben zu

verleihen wußte.

Er brachte dort einen Cyclus historischer Dramen

von Schiller, Göthe, Heinrich v. Kleist, Jmmermann u. a. zur

Anschauung, und bewährte in seinen eigenen Dramen den tiefen Blick, welchen er in die Bedeutung und das Wesen der historischen Tragödie gewonnen hat. Indem diese den Geist der Vergangen­ heit, wie er in früheren historischen Zuständen und in einzelnen

hervorragenden Individuen zur Erscheinung kam, von dem Höhe­ punkte der gegenwärtigen Weltanschauung darstellt, bringt sie zu­ gleich die in der Geschichte waltenden idealen Mächte des Lebens als die ewigen Gesetze zur Anschauung und wirft helle Lichtreflexe

auf Gegenwart und Zukunft; je absichtsloser dies geschieht, um so mehr wird der beschränktere Standpunkt einer Tendenztragödie überwunden. Mosen läßt in seinem „Heinrich dem Finkler," in „Kaiser Otto III.," in „Cola Rienzi," in den „Bräuten von Flo­

renz" überraschende Schlaglichter auf die Richtungen der Gegenwart fallen.

In seinem Drama „Herzog Bernhard der Große" bildet

die Reformation die Grundlage, ein Ereigniß, welches in seiner

großen nationalen Bedeutung mit den Kämpfen und Strebungen

der Gegenwart in einem unmittelbaren Zusammenhänge steht. In dem „Sohn des Fürsten" knüpft Mosen die Gegenwart an die un­ mittelbarste Vergangenheit, und weiß in dem Jünglinge Friedrich die künftige Herrscher-

und Heldengröße zu

einem festen Bilde

schöpferisch auszuprägen und aus der Gegenwart eine Perspective auf die Zukunft zu eröffnen.

Endlich in seinem „Don Johann

von Oestreich" hat er sich dem Ziele, welches das historische Drama erstrebt, am meisten genähert ["$J.

641

des IS. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Auch andere jüngere Dichter haben es versucht, große Mo­ mente weltgeschichtlicher Conflicte zum Inhalte der Tragödie zu

machen. I. L. Klein verfaßte das Drama „Maria von Medici" (1841), welche die erste Tragödie

einer Trilogie ist;

in

dieser

kommt zur Anschauung, wie sich durch Concini, Luynes, Richelieu in Frankreich die absolute Monarchie verwirklichte, durch die das

Mittelalter in seiner Wurzel angegriffen, die particulären Rechte

für immer getilgt, der erste Höhepunkt der neueren Geschichte er­ reicht war.

Es

tritt uns in diesem Drama eine Vielheit und

Mannigfaltigkeit von historischen Gestalten entgegen, die ihren Mit­

telpunkt finden in dem Streben nach Macht und politischem Ein­ fluß; wir lernen alle Elemente des damaligen französischen Reichs kennen, Königthum, Adclsmacht, Stände, Parlament und Volk. Der Starrheit des Absolutismus gegenüber macht sich der Geist der Freiheit geltend; das Volk erhebt sich, und die Revolution wird

die natürliche Kehrseite der absoluten Monarchie.

Dies Element

tritt gleichfalls in Klein's Tragödie hervor; Picard's Aufstand ist vorbildlich für die Revolutionszeit.

Die dramatische Anordnung,

wodurch die verschiedenartigen Gruppen zu einem organischen Gan­ zen verknüpft werden, zeugt von einem tieferen Studium Sha-

kespeare's. Die Fortsetzung von Maria von Medici ist das Trauer­ spiel „Luines" von Klein (1842), welches den weiteren Auflösungs­ proceß

des

französischen

Staats

darstellt; es

ist

ein

politisches

Jntriguenstück, in welchem Jeder intriguirt mit dem Ganzen und

für sein Interesse zugleich, Kunst, Richelieu;

dessen Consequenz

aber nur Einer ist Meister in dieser

er wird der Schöpfer des absoluten Staats, die Revolution ist. Luines ist der politische

Bösewicht, der Held der Jntriguenkunst und des Jesuitismus. In den beiden Dramen hat der Dichter die epische Breite des Stoffs noch nicht gehörig zu überwinden und dramatisch zu concentriren gewußt. R. E. Prutz hat in seinem Drama „Moritz von Sachsen" einen Stoff von historisch nationalem Gehalte behandelt, der wie

Mosen's „Bernhard der Große" die Reformation zu ihrem Hinter­ gründe hat. Moritz kämpft für Deutschland's Freiheit gegen seinen Freund und Kaiser, welcher groß und starken Geistes, und edel allem Gemeinen gegenüber, doch nur sich selbst und der Größe sei­

nes Hauses diente.

Dieser Egoismus wand ihm das Scepter der

Weltherrschaft aus der Hand. Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

Indem er ein unbegrenztes Ver-

41

642

Zweite Periode.

Von dem erste« Viertel

trauen Mf Moritz setzte, war feinem eindringenden Scharfblicke es

entgangen, wie tief in dem Herzen desselben die Liebe für Deutsch­

land wurzelte.

Die siegreichen Unternehmungen des Herzogs Mo­

ritz befestigen den Entschluß des Kaisers, die Krone niederzulegen,

der am Abend seiner Tage den großen Irrthum seines Lebens er­ kennt und sich der Aufgabe seiner Zeit nicht mehr gewachsen fühlt; in stiller Nacht eröffnet er sein Innerstes seinem treuen Diener. Mo­ ritz tritt hinzu und weiß des Kaisers Herz zu gewinnen; beide scheiden versöhnt, der Kaiser um ins Kloster zu gehen, Moritz um im Kampfe für die Seinen, für Deutschland gegen Albrecht die Todeswunde zu empfangen.

Prutz

bewährt

in dieser Tragödie

dramatisches Talent, und weiß die Charakteristik und Sprache mit

Kraft und Sicherheit zu handhaben, nut wird die poetische Unbe­

fangenheit zu sehr gestört durch die absichtlichen Anspielungen auf die

Gegenwart und ihre Kämpfe; außerdem ist der Charakter Moritzens

Diese und andere Mängel des Drama's haben zum Theil ihren Grund in der Zeit, nicht historisch und individuell genug gefaßt.

welche, befangen in den Wehen kritischer Kämpfe, noch nickt zur Ruhe und zur Beherrschung hat hindurchdringen können. Sn ei­ nem zweiten Drama von Prutz „Karl von Bourbon" wird gleich­

falls das Tendenzartige zu sehr in die Geschichte hineingezogen, und Handlung und Charaktere müssen den Interessen der gegen­ wärtigen Zeit dienen.

Der historische Stoff ist von dem Dichter

nicht bewältigt, und es fehlt der Handlung an stetiger Entwicke­

lung; der Ungestüm und Drang giebt sich svwol in der schwung­ reichen, hinreißenden Sprache, als auch in dem gewaltsamen Wech­

sel von Ort und Zeit zu erkennen [614]. Prutz ist jetzt als Dra­ maturg an die Hamburger Bühne berufen, und giebt daselbst „Dramaturgische'Blätter des Hamburger Stadttheaters" zur För­ derung und Hebung der Bühne heraus.

Fr. Hebbel hat in der neusten Zeit große Erwartungen we­ gen seines dramatischen Talents erweckt; er trat zuerst mit seiner Tragödie „Judith" (1841) hervor, in welcher er den biblischen Stoff, der uns der rohen, despotischen Kraft der Assyrier gegen­ über den weiblichen Heroismus der Judith darstellt, umgebildet

und neu gestaltet hat, um moderne Effecte zu bewirken.

Da diese

aber der Ursprünglichkeit des gegebenen Stoffes ganz fremdartig sind, so wird dadurch die volle Kraft der Unmittelbarkeit, nament­ lich in dem Charakter der Judith und des Holofernes, verwischt;,

der Heldinn sind Schwächen und Fehler angedichtet, die ihre Tu-

643

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

gend, ihren Heroismus vernichten und des poetischen Interesses be­ rauben.

Sonst hat der Dichter,

besonders im 3. Act auf ächt

poetische Weise das hebräische Volksleben zu reproduciren gewußt

und im Dialog

eine kräftige,

kernige Sprache

entwickelt.

Auf

gleiche Weise hat Hebbel in seiner „Genoveva" moderne Elemente

in mittelaltrige Lebensformen hineingetragen und dadurch das ein­ fache Sagenbild gestört; jedoch ist die Charakterzeichnung fest und sicher, und das Ganze reich an Stellen voll Schönheit, tiefer sitt­

licher Wahrheit und Geist.

In dem

neuesten Drama

„Maria

Magdalena" (1844) wählte Hebbel einen Stoff aus den gesell­

Conflicten der Gegenwart und lieferte ein bürger­ liches Trauerspiel. Die Vorzüge dieses Stücks liegen in der fe­ schaftlichen

sten und sicheren Charakteristik, in der erschütternden Wahrheit, und

in der ächt künstlerischen Jndividualisirung der Gestalten und in der Poesie der Sprache [82SJ. Die fernere erfolgreiche Gestaltung eines nationalen Dra­

mas wird mit der weiteren glücklichen Entrvickelung unserer natio­ nalen und politischen Zustände in einem inneren Zusammenhänge stehen, und wir werden aufhören, dasselbe zu entbehren, wenn wir ein einiges deutsches Vaterland und das Bewußtseyn einer großen starken Nation gewonnen haben.

Zweites Capitel. Die Prosa-Literatur.

Seitdem Klopstock, Lessing, Winckelmann der Prosa die neue Bahn zur Vollendung eröffnet hatten, strebte diese unausgesetzt nach Veredelung, Tiefe, Gedankenreichthum, nach Wohllaut, Kraft und Schönheit, und es sielen immer mehr die Schranken, welche zwi­

schen ihr und der Poesie bestanden.

Je entscheidender in den Be­

wegungen der neu sich gestaltenden Zeit die Herrschaft des Gedan­ kens sich Geltung verschaffte, und Wissenschaft und Kritik in den

Vordergrund traten, um so mehr ging die Bedeutung und die Wirksamkeit der literarischen Produktionen in die Prosa über, die 41*

644

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

mit der seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts sich entfaltenden Blüthe der Philosophie, Geschichte und Redekunst eine immer kunst­

vollere, inhaltsreichere und objectivere Gestaltung gewann.

(Vergl.

oben S. 427 sqq.).

1. Die Bewegungen auf dem Gebiete der Philosophie und der besonderen Wissenschaften nebst ihrem Einfluß auf den Lehrstil. Nachdem Kant den Geist aus den Niederungen der endlich­

verständigen Popularphilosophie auf die Höhe der Idee zurückge-

sührt hatte, trat die Philosophie in den Mittelpunkt der höheren

geistigen Bestrebungen, und es entfaltete der deutsche Geist, da die Energie seiner Thatkraft auf das eigene, innere Leben zurückgedrängt war, die ganze Fülle und Macht des Gedankens. in seinem Jahrhunderte herrschende Aufklärung

Wie Kant die ihrer tie­

in

feren Bedeutung und Wahrheit auffaßte, und über dieselben ein bestimmteres Bewußtseyn verbreitete, so bildeten Fichte's und Schelling's philosophische Lehren den Ausgangspunkt für die literarischen

Anschauungen und Tendenzen der Romantik, welche, gerichtet auf Vereinigung der Idee und Wirklichkeit, sich im Verlauf der Zeit immer mehr läuterten, so daß an die Stelle ironischer Weltbetrach­ tung und phantastischer Willkür eine bestimmtere Betheiligung an

den objectiven Zuständen des wirklichen Lebens trat. Johann Gottlieb Fichte wurde den 19. Mai 1762 zu Rammenau bei Camenz in der Ober-Lausitz geboren, wo sein Va­

Seine erste Erziehung verdankte er der Unter­ stützung eines Herrn von Miltitz, und später erwarb er sich in

ter Tuchweber war.

Schulpforte durch seinen Fleiß und tüchtigen Sinn eine gediegene Grundlage für seine höhere wissenschaftliche Ausbildung. Er studirte zu Jena, Leipzig und Wittenberg, und nach beendigten Stu­ dien lebte er seit 1788 einige Jahre als Hauslehrer in Zürich, und dann in Königsberg, wo ihm der Umgang mit Kant fruchtbrin­ gende Anregungen gewährte.

Sein erstes Werk „Versuch einer

Kritik der Offenbarung" (1792) galt für ein Kantisches und zog

die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich; Fichte erhielt dadurch 1793, besonders auf Göthe's Betrieb, den Ruf als ordentlicher Professor

der Philosophie nach Jena, wo er nicht bloß durch die Kraft des Gedankens und der Sprache, sondern auch durch die Tüchtigkeit seiner Gesinnung einen großen Einfluß auf die jungen Gemüther gewann; er war eine der ersten Zierden dieser Universität währen

645

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

ihrer glänzendsten Zeit.

Wie tief in ihm die Ueberzeugung für das

Recht des freien Geistes wurzelte,

„Zurückfoderung

der

Denkfreiheit

sprach sich aus in der Rede von den Fürsten Europa's"

(1793) und in den „Beitragen zur Berichtigung der Urtheile über die französische Revolution" (1793). Mit seiner „Wissenschafts­ lehre" trat er seit 1794 in die Reihe der selbstständigen Philosophen.

Eine in

das

von ihm herausgegebene „philosophische Journal"

(Bd. 8) eingerückte Abhandlung „über den Grund unseres Glau­

bens an eine göttliche Wcltregierung," wegen welcher er von den

strengen Glaubenssreunden

einer irreligiösen Denkart beschuldigt

wurde, zog ihm eine Untersuchung zu, in Folge deren er, weil er mit Niederlegung seiner Stelle gedroht hatte, seine Entlassung er­

hielt [8ieJ.

Fichte

fand freundliche Aufnahme

im

Preußischen

Staat, und privatistrte einige Zeit in Berlin; darauf ward er 1805 als Professor der Philosophie nach Erlangen berufen. Während

des französisch-preußischen Kriegs ging Fichte nach Königsberg, und hielt hier Vorlesungen; kehrte dann nach Berlin zurück, wo er 1809 an der neu errichteten Universität als Professor der Philoso­

phie angestellt ward.

Mit dem regsten Eifer wirkte er mit zu der

patriotischen Wiedergeburt Preußens, und durch seine kraftvollen „Reden an die deutsche Nation" (1808) weckte er in den Gemü­

thern Muth und Begeisterung für das niedergctretene Vaterland. Als der Freiheitskampf begann, war er überall mit Rath und That zu helfen bereit; mit seiner Gattinn widmete er sich der Sorge für

die Militairhospitaler in Berlin, und ward 1814 ein Opfer seiner Fichte drang mit

Bemühung, indem er dem Lazarethfieber erlag.

der ganzen Stärke reinster Begeisterung darauf, daß Alles, was wir sind im Denken, Thun, Leben, nur Produkt innerer, geistiger Erfahrung seyn müsse, daß der Mensch nur soweit Mensch, als

Geist sey.

Die Erkenntniß seiner selbst als vernünftigen, geistigen

Wesens, und die Gestaltung seiner That, seines Lebens, seiner Welt aus vernünftigen Gesetzen, aus den inneren, geistigen Principien, sey seine höchste letzte Bestimmung.

Wissenschaft und Leben, Theo­

rie und Praxis stand bei Fichte in steter, gegenseitiger Wechselwir­

kung; „auf mein Thun," sagt er selbst, „muß alles mein Denken sich beziehen — außerdem ist es ein leeres, zweckloses Spiel."

Er

faßte den Geist, das Ich als absolute Thätigkeit, Thätigkeit aus

sich, durch sich; Thätigkeit, Bewußtseyn im Seyn, Gegenstand in

Einem.

Das Wissen selbst ist nichts Anderes als das Ich, und

die philosophische Erkenntniß strebt nach nichts Anderem, als dies

646

Zweite Periode. Bon dem erste« Viertel

Wissen zu wissen; sie ist daher Wissenschaftslehre; in dieser entfaltet sich die Thatkraft des Ichs, welches als absolute Freiheit das Princip des Wissens wie des SeynS ist. Schöpferisch tritt das Ich durch die Form des Erkennens in die Welt, und wie es sich durch sein erkennendes Handeln selbst hervorbringt, so bestimmt es die Realität der Welt durch sich selbst. Somit ist das Ich der subjectiv-productive Urgeist; aber so sehr auch das Ich, welches sich selbst gleich ist, den Trieb hat, die gegenständliche Welt (das NichtJch) aufzuheben und sich selbst hervorzubringen, so tritt doch der Gegensatz zwischen der Freiheit des Jch's und der Nothwendigkeit des Nicht-Jch's immer von Neuem hervor, und findet endlich seine Lösung in dem Glauben an eine moralische Weltordnung, daß endlich gelingen müsse, was seyn sollte, und daß die Ver­ nunft ihr Recht behaupten werde gegen die blinde Naturgewalt und gegen die Unvernunft. Das letzte Resultat ist das Stre­ ben und die höchste Thätigkeit das Sehnen, welches in der un­ endlichen Liebe, in der Religion, Befriedigung findet. Fichte popularisirte in der „Anweisung zum seligen Leben" (1806), zum Theil auch in den „Vorlesungen über das Wesen des Gelehrten" (1805) den Gedanken der absoluten göttlichen Lebensoffenbarung; die Liebe, die über dem Wissen und der Vernunft steht, die Leben und Zeit schafft, gilt ihm als der höchste reale Gesichtspunkt für Alles, als das Princip der wahren Speculation [•*’]. In der letzten Umarbeitung seiner Wissenschaftslehre (1810) erweiterte er den subjektiv--productiven Urgeist, den er früher als Ich bestimmt hatte, zu dem Wesen Gottes. Die sittliche Weltanschauung, die Durchdringung des Wissens und Handelns bleibt bei Fichte stets das Hauptziel. In seinem „Naturrecht" (1796), in welchem er den alten, abgelebten Formen des Staats gegenüber einen freien Rechtszustand zu entwickeln sucht, dringt er vorzüglich auf allge­ meine Volkserziehung und traf hierin den tiefsten Lebenspunkt der modernen Staatsentwickelung. Da in Fichte's System die Form der Subjectivität ihre höchste Ausbildung gewann, so bildete es vorzüglich die Grundlage der Ironie und der phantastischen Will­ kür in den literarischen Tendenzen der Romantiker. Was den philosophischen Stil anbetrifft, so wurde derselbe durch Fichte bei der Entschiedenheit seines thatkräftigen Denkens wesentlich gefördert, wenn auch in der sprachlichen Darstellung, namentlich in den rein wissenschaftlichen Werken, eine gewisse Schwierigkeit des Ausdrucks, der mit dem tiefen Gedankeninhalt ringt, noch vorherrschend ist;

647

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

eine frischere Bewegung und ein lebendigerer Fluß zeigt sich in den populären Schriften, die sich ost zu klassischer Gediegenheit er­

heben [818]. Friedrich Wilhelm

Joseph

v.

Schelling

ward

den

27. Jan. 1775 zu Leonberg im Würtembergschen geboren, wo sein Vater Prediger war.

Er studirte zuerst in Leipzig und dann in

Jena; hier wurde er Fichtc's Schüler und 1800 sein Nachfolger.

Im Jahr 1803 kam er als Professor der Philosophie nach Würz­ burg , und 1807 nach München als Mitglied der Akademie; im Jahr darauf wurde er in den Adelsstand erhoben und zum Gene-

ralsecretair der Akademie der bildenden Künste ernannt, als wel­ cher er 1808 die treffliche Rede „über das Verhältniß der bilden­

den Kunst zu der Natur" hielt.

Im Winter 1820 nahm er seiner

Gesundheit wegen Urlaub, und hielt seitdem in Erlangen philoso­ phische Vorlesungen. Auf sein Ansuchen ward er 1823 seiner

Stelle bei der Akademie der Künste entlassen, aber 1827 an die neuerrichtete Universität München berufen und zum Vorstand der

neuorganisirten Akademie der Wissenschaften ernannt. Im Jahr 1841 folgte er dem Rufe des Königs von Preußen nach Berlin, wo er Vorträge über seine neue Offenbarungsphilosophie gehalten hat.

Während Fichte in der allmähligen Umgestaltung seiner Wis-

senschaftslrhre de» Uebergang machte von der Form des absoluten

Ich, das sich im Wissen mit sich selbst vermittelt, zu dem Urprincip des absolut göttlichen Geistes, erfaßte Schelling mit noch tiefer eindringendem Geistesblick Gott als das Absolute, als die unendliche Vernunft, aus welcher das Ich selbst und die ganze reale Welt hervorgeht, so daß Gott in dieser seiner Absolutheit die Iden­

tität von Natur und Geist oder die Vernunft beider ist.

In die­

ser absoluten Identität ist Alles, und außer ihr Nichts; sie ist der Grund alles Seyns, und selbst seyend, die absolute Vernunft. Na­ tur und Geschichte ist nur das sich entwickelnde Absolute oder die Offenbarung Gottes selbst. Schelling's Philosophie ist daher we­ sentlich Jdentitätssystem, und insofern er die Identität des

Endlichen und Unendlichen besonders von der realen Seite darge­ stellt hat, ward er her eigentliche Begründer der Natur-Philo­ sophie. AIs das wahre Organ für die Philosophie, um das gesammte Seyn in der Einheit des Endlichen und Unendlichen zu erfassen, bestimmt Schelling die intellektuelle Anschauung, die ein rein unmittelbarer Act des Selbstbewußtseyns ist; zu dieser steigert sich die Einbildungskraft in ihrer höchsten, vollendetsten Ge-

648

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

staltung, und während weder in der Welt der Natur, noch in der des Geistes die absolute Jneinsbildung des Realen und Idealen für sich heraustritt, ist die Kunst allein die ewige Offenbarung Gottes im menschlichen Geiste; sie ist ein Wunder, das, wenn es auch nur Einmal existirt hätte, uns von der absoluten Realität jenes Höch­ sten überzeugen müßte. Auf diese Weise faßte Schelling die Kunst als eine Offenbarung des Absoluten, und seine Philosophie war die erste, welche Kunst und Schönheit in der Ewigkeit und Unendlich­ keit ihrer Idee anerkannte. In seinen Schriften hält er sich an­ fangs noch auf Fichte's Standpunkt; aber in den „Ideen zu einer Philosophie der Natur" (1797) machte er, so wie in der Schrift „von der Wcltseele" (1798) selbstständiger den Uebergang zur Na­ turphilosophie, und in dem „System des Transcendentalismus" verschafft er Fichte gegenüber dem absoluten objectiven Idea­ lismus Geltung. Dies System entfaltete er weiter im „Bruno, oder über das göttliche Princip der Dinge" (1802); bald darauf erschienen die „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studium's," welche, bei ihrer Anwendung des neu gewonnenen Princips auf das Gesammtgebiet der Wiffenschaft, nach allen Sei­ ten hin anregend einwirkten. Die Schrift „über das Wesen der menschlichen Freiheit" (1809) enthält die Umriffe zu einer Philo­ sophie des Geistes, und in dem Buch „Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen" (1812), läßt Schelling, indem er gegen die Schrift Jacvbi's „von den göttlichen Dingen" polemisirt, seine philosophische Weltanschauung noch bestimmter hervortretcn. Nach­ dem er nun in einzelnen Schriften mehr aphoristisch seine philoso­ phischen Ansichten mitgethcilt hatte, ohne das Ganze seines Sy­ stems den vorhandenen Bruchstücken gegenüber aufzustellen, machte er allmählig den Uebergang von der Naturphilosophie zur Offen­ barungsphilosophie; diesen Wendepunkt bezeichnet die Schrift „die Gottheiten von Samothrace" (1819), welche die mythologische Vor­ stufe zu seiner neuen Philosophie bildet. Es sucht Schelling in der neuesten Zeit sein Vernunftsystem, welches auf der intellectuellen Anschauung beruht, durch die lebendige Auffassung der Wirklichkeit zu ergänzen und-bestimmt jetzt seine Philosophie als die positive; alle Erkenntniß Gottes und der Welt sey nur eine Erkenntniß a posteriori und die Erkenntniß a priori nur das Minimum unserer Erkenntniß [818J. Bon diesem Gedanken geleitet, verheißt Schel­ ling der Philosophie noch „eine große, aber in der Hauptsache letzte Umänderung," und hat in diesem Sinne vor einigen Jahren in

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

649

Berlin seine Borträge über Philosophie der Mythologie und Offen­

barung gehalten.

Er ist nicht mit Unrecht der Dichter unter den

Philosophen genannt worden, da er vor der Strenge des ruhig fortschreitenden logischen Denkens die schöpferische Willkür der Phan­

tasie vorwalten läßt; hiervon zeugt auch seine Darstellungsweise, welche, ausgezeichnet durch lebensvolle Frische und durch die An­ schaulichkeit des bildlichen Ausdrucks, den Gedanken nicht in seiner

logischen Schärfe

und Klarheit hervortreten läßt, sondern öfter

durch die Nebelschleier der Phantasie verdunkelt.

Schelling hat bei

dem aphoristischen Charakter seiner philosophischen Schriften, in de­

nen er schon manchen neuen Ausgangspunkt versuchte, sein voll­ ständiges System bisher noch nicht in zusammenhängender Dar­ stellung zu geben vermocht und ebensowenig seine neueste Verhei­ ßung, das Problem der wahren Geisteswissenschaft in der positiven

Offenbarungsphilosophie zu lösen, erfüllt. Seine Hauptwirksamkeit fällt in die beiden ersten Decennien des gegenwärtigen Jahr­ hunderts.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde den 27. August

1770 zu Stuttgart geboren, wo er seine Gymnasialbildung erhielt. Im Jahr 1788 bezog er die Universität Tübingen und studirte hier in dem theologischen Stifte fünf Jahre Theologie und Philosophie. Je weniger er Befriedigung fand in den philosophischen Vorlesun­ gen, um so eifriger beschäftigte er sich in seinen Privatstudien so-

wol mit Plato, als auch besonders mit den Kant'schen Schriften; auch den Naturwissenschaften und der Mathematik widmete er sich mit großem Interesse. Nachdem er seinen Cursus in Tübingen beendigt hatte, ging er als Hauslehrer nach Bern, wo er neben theologischen auch historische Studien betrieb. Im Jahr 1797 kam

er als Hauslehrer nach Frankfurt a. M., und wurde durch Kant's Rechtslehre, welche 1797 erschienen war, auf politische Studien hingeführt. Als er nach dem Tode seines Vaters (1799) in den Besitz eines kleinen Vermögens gekommen war, entschloß er sich

nach Jena zu gehen, um dort die Idee von der Philosophie, welche in ihm durch Fichte's Wiffenschaftslehre angeregt war, weiter zu

verarbeiten und mit seinem früheren Universitätsfreund Schelling,

der damals Professor in Jena war, in nähere Verbindung zu tre­

ten. Als Hegel 1800 nach Jena kam, war es für ihn ein Be­ dürfniß, seine Stellung, die er zu den philosophischen Systemen der damaligen Zeit gewonnen hatte, näher zu bezeichnen, und er schrieb „Ueber die Differenz der Fichte'schen und Schelling'schen

650

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Philosophie" (1801); auch sing er an als Privatdocent Vorlesun­ gen zu halten, und gab mit Schelling das „Kritische Journal der Philosophie" (1802 — 3) heraus. Im Jahr 1806 wurde er außer­ ordentlicher Professor der Philosophie, und es gestalteten sich in ihm immer bestimmter seine eigenthümlichen, von Schelling abweichen­ den philosophischen Ansichten. Da die neuere Philosophie aus dem Begriff des Bewußtseyns entsprungen war, so beschäftigten ihn be­ sonders die Entwickelungsstufen vom Bewußtseyn zum Selbstbe­ wußtseyn, und es entstand hieraus die „Phänomenologie," die er seit 1804 zum Drucke vorbereitete. In der Nacht vor der Schlacht bei Jena vollendete er die letzten Blätter des Manuskripts, und das Ganze erschien 1807 unter dem Titel „System der Wissen­ schaft." Dies Werk nannte Hegel seine Entdeckungsreise; er richtete sich in demselben ebensowol gegen den Inhalt der Schel« lingschen Jdentitätsphilosophie, als auch gegen ihre Form, die als intellektuelle Anschauung nur ein unmittelbares Erfassen dieser Iden­ tität sey. Nach der unglücklichen Katastrophe von Jena ging He­ gel nach Bamberg, und übernahm hier die Zeitungsredaction, bis er im Herbst 1808 zum Rector des Gymnasiums in Nürnberg und Professor der philosophischen Norbereitungswissenschaften ernannt wurde. Während dieser Zeit arbeitete er die „Wissenschaft der Lo­ gik" aus, welche von 1812 —16 in drei Theilen erschien; sie ent­ halt die Grundlage seines philosophischen Systems. Im Herbste des Jahrs 1816 wurde er als Professor der Philosophie nach Hei­ delberg berufen, wo sein Freund Thibaut und seine wissenschaft­ lichen Verehrer Ereuzer und Daub ihn freudig begrüßten. Hier schrieb er die „Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften^ (1817), in welcher er sein System in der gedrungensten Kürze überschauen ließ. Von Heidelberg wurde Hegel, nachdem besonders Solger die Aufmerksamkeit des Unterrichtsministers Altenstein auf ihn gelenkt hatte, nach Berlin berufen, und im Herbst 1818 be­ gann er daselbst seine philosophischen Vorlesungen, durch die er nach allen Seiten hin den weitreichendsten Einfluß ausübte. Im Jahr 1821 erschien seine „Rechtsphilosophie," in welcher er die Rechts- und Staatsidee entwickelt; am Schlüsse erhebt er sich von dem Begriffe des Völkerrechts zu dem der Weltgeschichte, und giebt die Umrisse einer Philosophie der Geschichte, die er zum ersten Mal im Wintersemester 1822 — 23 vortrug. Im Jahr 1827 veranlaßt« er die Stiftung der Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, denen er fortwährend die lebhafteste Theilnahme widmete. Wäh-

rend er nun in seiner thätigsten Wirksamkeit begriffen war, wurde er ganz plötzlich von der Cholera befallen und starb am 14. Nvbr. 1831. Durch Schelling, der als das Princip der Wahrheit die absolute Identität des Subjectiven und Objectiven aufgestellt hatte, war die Philosophie zu einem großen Wendepunkt gelangt, zu einem Ziele, nach welchem die gesammte geschichtliche Entwickelung des philosophirenden Geistes hinstrcbte. Es blieb aber die intellectuelle Anschauung, als das einzige Organ für die Auffassung je­ ner Identität, nur ein Erbthcil der zur Philosophie Eingeweihten, weil sie eine bloß unmittelbare Erkenntniß ist, welcher die tiefere Begründung und Vermittelung fehlt. Das logische, begreifende Denken, welches Schelling bei dem Vorherrschen seiner poetischen Intuitionen von sich wies, stellte Hegel in den Mittelpunkt seiner Philosophie, und indem er das, was Schelling in der intellektuel­ len Anschauung voraussetzte, als das Resultat der logischen Selbst­ entwickelung gewann, erhob er die Realität der Vernunft zu be­ stimmtem Selbstbewußtseyn. Die Freiheit des Geistes besteht in der Vermittelung des Unmittelbaren, in der Aufnahme und Auflö­ sung des Gegenstandes in den Gedanken; die Methode dieser Ver­ mittelung ist die eigene Entwickelung der Sache, wie sie Hegel in seiner Logik als die absolute Methode ausgeführt hat. Dir große Wirksamkeit seiner Philosophie beruht eben darin, daß er das wahre Princip der geistigen Gegenwart erfaßte, das Princip der selbstbewußten freien Vernunft aus der Mitte der Umdunkelung an das helle Tageslicht förderte. „Mit Recht ist," sagt er, „die Production des Denkens und bestimmter die Philosophie Weltweis­ heit genannt worden, denn das Denken vergegenwärtigt die Wahr­ heit des Geistes, führt ihn in die Welt ein, und befreit ihn so in seiner Wirklichkeit und an ihm selbst." Der Idealismus, welchen Kant dem Geistesstreben des 18. Jahrhunderts gegenüber begrün­ dete, ward die lebendige Triebkraft für die philosophische Fortent­ wickelung und gewann einen Culminationspunkt in Hegel's Philo­ sophie, welche aus dem innersten Geistesleben des deutschen Volks hervorgegangen eine ächt nationale und zugleich als Philosophie eine allgemeine Bedeutung hat. Ihr Element ist die Spekula­ tion [8S0], deren Wesen darin besteht, daß sie dieGegensätze durch die Kraft der Dialektik mit aller Schärfe ebensosehr herausstellt als auch zur höheren Einheit vermittelt. Ueberwunden wurden durch diese Methode die einseitigen Standpunkte der Reflexionsphilosophie, welche die verschiedenen besonderen Seiten der Wahrheit in ihrer

652

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Bereinzelung stritt, ohne sie als Glieder eines Ganzen zu erfassen, ohne das Eine

in

seinem Selbstunterschicde

zu

erkennen.

Je

mehr die Speculalion den Gegensatz zwischen dem vom Anschauen

abstrahirenden Denken und der vom Denken abstrahirenden An­ schauung bekämpfte, um so mehr reizte sie gegen sich die früheren Gedankensysteme auf, sowol die abstrakte Ontologie, die

an dem

Uebermaaß der Realitatslosigkeit leidet, als auch die abstrakte Em­

pirie, in welcher die Begriffslosigkeit vorherrscht.

Unter den Geg­

nern Hegel's kann besonders I. F. Her bart hervorgehoben wer­ den, der, 1776 zu Oldenburg geboren, im Jahr 1805 als Professor

der Philosophie in Göttingen auftrat und 1809 nach Königsberg ging; im Jahr 1833 kehrte er nach Göttingen zurück, wo er 1841 starb.

Er steht im Wesentlichen seiner Doktrin und Methode nach

auf dem Standpunkte der Kant'schen Reflexionsphilosophie, und An­ erkennung hat er sich vorzüglich erworben durch seine auf das prak­ tische Gebiet, namentlich auf Pädagogik, bezüglichen Schriften, die sich durch Reinheit und Gediegenheit

des Ausdrucks und durch

Klarheit der Darstellung auszeichnen. Die Form der Hegelschen Philosophie ist die streng wissenschaftliche, und wenn sie sich auch in einer schwierigen, öfter abstrusen Darstellungsmeise bewegt, so liegt doch ihre Schönheit in der gedrungenen dialektischen Entwicke­ lung,

die zugleich das in der deutschen Sprache waltende philoso­

phische Element auf sinnvolle Weise zu benutzen versteht [8SIJ. Wie nun die Romantik einen Anknüpfungspunkt an die Fichtesche Philosophie gefunden hatte, ebenso auch an die Schellingsche, mit welcher sie die poetisirende Weltauffassung und überhaupt die Identität der Poesie und Wissenschaft theilte. Ihre genialisirenden und phantastischen An­ schauungen nebst der bilderreichen, trüben Mystik, das Forcirte in Vorstellungen von der ursprünglichen

ihren literarischen Produktionen nebst der Manier geistreicher Refle-

rionen, alles dies

fand ein kräftiges Gegengewicht in der Hegel­

schen Philosophie, welche, den Ernst des Denkens auf sich nehmend,

die freie Stellung dem Gedanken zu sich und der Welt errang, und von der Höhe wissenschaftlicher Auffassung das Princip der selbstbewußten freien Vernunft immer mehr und mehr in die Ge­ biete sowol der besonderen Wissenschaften als auch des praktischen Lebens einführte. Der Fortschritt der det sich in der tieferen Durchdringung ner Objektivität,

in der

immer

Spekulation des Geistes

beurkun­

mit

sei­

lebendigeren Vermittelung der

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

653

Theorie und Praxis. Ohne sich in einen Formalismus zu ver­ steifen halt die Philosophie, ihrer unendlichen Freiheit eingedenk, als diese der wirkliche entsprechende Ausdruck jener Freiheit sind, überläßt sie aber der nur so lange an Denkbestimmungen fest,

Vergangenheit, wenn der Geist in seiner Allgemeinheit über die hemmenden Dämme übertritt. Nachdem die großen Resultate der

philosophischen Speculation in das allgemeinere Bewußtseyn über­

gegangen sind, strebt die wissenschaftliche Entwickelung nach freie­ ren und lebensvolleren Formen, sucht hierdurch den philosophischen

Inhalt flüssig zu machen und

in die Vorstellungen des Lebens

weiter hinüberzuführen.

Karl Rosenkranz (geb. 1805 zu Magdeburg, seit 1833 Professor in Königsberg) hat nach dieser Seite hin sich große Ver­

dienste sowol durch seine philosophischen Schriften, als auch durch

seine Kritiken und literar-historischen Arbeiten erworben.

Durch le­

bendige, individuelle Auffassung weiß er seinem Stil Frische und

Anschaulichkeit zu geben, und verbindet mit einer großen Klar­ heit und charakteristischen Bestimmtheit gediegene Gründlichkeit. Es gestaltete sich bei dem Streben, den realen Inhalt der einzelnen

Wissenschaften mit der geistigen Erkenntniß zu befruchten, immer bestimmter das Princip der freien Wissenschaft, die in der phi­ losophischen Denkbewegung ihre Wurzeln hat, und wie wenig es auch manche Vertreter von einzelnen wissenschaftlichen Zweigen an­ erkennen wollen, dennoch wirken in ihren literarischen Produktio­

nen die philosophischen Ideen, ihnen unbewußt, als der innere Le­ benstrieb, und eben dieser philosophische Gehalt wird die deutsche Wissenschaft bewahren, daß sie sich nicht in das realistische, materiell«

Treiben des Tages verliere. Die verschiedenartigen durch die Kantische Philosophie auf dem

Gebiete der Theologie hervorgerufenen Richtungen (s. unten) fan­ den, indem sie von den Anschauungen der Fichteschen und Schel-

lingschen Philosophie durchdrungen wurden, in Schleiermacher

den bedeutsamsten Mittelpunkt. Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher wurde am 21. Novbr. 1768 zu Breslau geboren, und erhielt seine erste religiöse

und wissenschaftliche Bildung in den Anstalten der Brüdergemeinde zu Niesky und Barby; er trat aber 1787 aus dieser Gemeinde aus

und ging auf die Universität Halle.

Im Jahr 1794 wurde er

Pfarrer zu Landsberg an der Warthe, und 1796 Prediger am Charitehause in Berlin.

Hier traf er mit Fr. Schlegel zusammen, und

654

Zweite Periode. Bo» dem ersten Viertel

das Studium des Alterthums, namentlich der Geist des Hellenis­

mus, welcher an Fr. A. Wolf damals einen genialen Verirrter ge­ funden, führte zwischen beiden ein enges Verhältniß herbei. Die Uebersetzung des Platon wurde gemeinsam unternommen; außerdem lieferte Scbleiermacher Beiträge zum Athenäum, und ging auf die

Gedankenspeculationen seines Freundes ein, jedoch mit Bewahrung

der Eigenthümlichkeit seines klaren und scharfen Bewußtseyns.

Es

erschienen von ihm 1799 die „Reden über die Religion an die Ge­ bildeten unter ihren Verächtern," und 1800 „die Monologe" (eine Neujahrsgabe), welche, von Fichte-Schellingscher Doctrin durchdrun­

gen, den theologischen Geist des 19. Jahrhunderts an der Schwelle desselben verkündigen.

Sein Verhältniß zu Schlegel löste sich im

Jahr 1802, als dieser nach Paris ging, während Schleiermacher

Hofprediger in Stolpe wurde und noch in

demselben Jahr

als

der Theologie und Philosophie nach Frei und selbstständig, ohne sich an eine bedeutende

außerordentlicher.Professor

Halle kam.

Persönlichkeit zu nahe anzuschließen, beschäftigte er sich mit der Wissenschaft der Theologie, verfaßte seine theologische Encyklopädie

und gründete sein Gebäude als Religionslehrer; auch begann er im Gefühl der Unabhängigkeit von Fr. Schlegel den Platon allein zu übersetzen.

Seine „Weihnachtsfeier" (1806), mit welcher er die

dichterische Gestaltung seiner Gedanken abschloß, ist ein Denkmal

seines toleranten Christenthums, indem hier die verschiedensten Rich­

tungen des religiösen Gefühls gerechtfertigt und anerkannt erschei­

nen.

Im Jahr 1807 kehrte Schleiermacher nach Berlin zurück und

privatisirte dort bis 1809, in welchem Jahr er als Pastor an der Dreifaltigkeitskirche angestellt wurde. Er bildete sich jetzt seine Gemeinde, und als die Berliner Universität eröffnet wurde, be­

stieg er auch, wie früher in Halle, den akademischen Lehrstuhl. Den lebhaftesten Antheil nahm er an den politischen Verhältnissen, unter welchen sein Vaterland schmachtete, und begeistert für König

und Vaterland, sprach er von der Kanzel inmitten der Bajonette Davoust's mit einem unerschütterlichen Muthe, versammelte die furchtsamen Gemüther um sich, kräftigte sie und flößte ihnen Selbst­

vertrauen ein. In seiner wissenschaftlichen Richtung sagte er sich immer mehr von allen selbstständigen Gestaltungen der philosophi­ schen Forschung los, und seine „Darstellung des theologischin Stu­

diums" (1811) bezeichnet den Wendepunkt seiner theologischen An­ sicht, indem er die Idee der Kirche als die Hauptsache hervorhebt, aus deren richtige Leitung er alle theologische Wissenschaft bezieht.

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

655

Seine Christuslehre erbaute sich auf das Gefühl der Abhängigkeit, auf das Bedürfniß der Liebe, auf die Sehnsucht nach Erlösung von der Vergänglichkeit des Daseyns, und letzten Decennium seines Lebens die

es

entstand in dem

„christliche Glaubenslehre"

(1821), die in der späteren Umarbeitung (1830) dem kirchlichen Standpunkte noch naher rückte.

Schleiermacher starb den 12. Fe­

bruar 1834 als gläubiger Christ;

er hatte noch kurz vor seinem

Lode die Seinigen versammelt, sprach ihnen Muth ein und reichte ihnen das Abendmahl, das er dann selbst empfing, und schloß das

Auge für immer.

Wie tiefe Wurzel seine Wirksamkeit in Berlin

geschlagen hatte, zeigte sich am Tage seiner Beerdigung; die ganze Hauptstadt war bewegt und mehr als dreißigtausend Menschen folgten seiner Leiche. Zwei Elemente waren mächtig in Schleier-

macher's Geistesleben, die Schärfe seines Verstandes und die Kraft seines liebenden Gemüths; wie sehr er auch alle Zweifel aufzuwer­ fen wußte, so hielt doch in ihm dem negativen Elemente ein posi­

tives das Gegenwicht, da er im Selbstbewußtseyn den Punkt ent­

deckt hatte, wo das Individuum sich nicht als Einzelwesen, sondern als Rester des Allgemeinen erfaßt. Bei der Klarheit und Schärfe seines Verstandes, bei der Elasticität seiner geistigen Natur wußte er sich vor den phantastischen Ausartungen romantischer Gefühls­ schwärmereien zu bewahren. Seine isolirende Verstandesthätigkeit erzeugte in ihm den Hang des Negirens, jene dialektischen Gedan­ kenbewegungen, in denen er allseitig das Für und Wider beleuch­ tete; in scharfer Analyse suchte er zuvor alle Bedenklichkeiten ab­ zuwägen, um sich allmählig in den Inhalt der Sache zu ver­

setzen [••*]. Er brachte die Widersprüche des Aeußercn und Inneren zum Bewußtseyn, deckte die Disharmonie des Endlichen und Ewi­

gen im Leben des Geistes auf, damit der Mensch sich in sich selbst besinne, sich selbst erfasse, und mit Aufgebot aller geistigen Kräfte die Tiefe der Geheimnisse erforsche; diese sollte jeder an sich selbst erprüfen, auf sich selbst walten lassen und aus den Wirkungen scheu und behutsam auf die Ursachen schließen.

AuS der dialekti­

schen Eigenthümlichkeit Schleiermacher's ging

die Unruhe seines

Geistes hervor, die ihn stets zu neuer Beweglichkeit trieb, um in

neuem Stoffe sich wieder zu erfrischen und erkräftigen; deshalb war er auch der Mann der Bewegung, dem in seiner innersten Natur jede sich abschließende Richtung, jeder Stillstand wie im Leben so in

der Wissenschaft widerstrebte; daher auch sein Widerwille gegen spe­ kulative Theologie, von der er eine Verknöcherung des lebendigen

656

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

Forschens fürchtete.

Bei dieser Beweglichkeit seines Geistes, die

sich keinen Ruhepunkt erlaubt, weil sie ein fernes Ziel erstrebt, ge­

langte er zu keinem versöhnenden Abschluß der sich dem Denken aufdringenden Widersprüche; er beharrte in denselben, ohne sie

durch die Kraft der Speculation zu überwinden.

Die Liebe aber

und die Bedürftigkeit des menschlichen Wesens, die volle Sehnsucht

nach Hingebung des Ichs und die Unzulänglichkeit der vereinzelten

Natur führte ihn zu der Person Christi, an der sich ein Halt bot für sein der Liebe bedürftiges Herz. Die Einheit des Göttlichen und Menschlichen in Christo gilt ihm als eine Thatsache der Er­

fahrung, durch die erst der erlösungsbedürftige Mensch in die Ein­

heit des Göttlichen ausgenommen wird, und der Geist der Kirche ist ihm ein Erstes und Letztes, welches als ein Gegebenes ausge­ nommen werden muß, und worin alle Wahrheit des Gedankens

und alles höhere Leben der Persönlichkeit enthalten ist.

Die sprach­

liche Darstellung tragt, besonders in Schleiermacher's wissenschaft­ lichen Schriften, das Gepräge seines dialektischen Geistes, durch den öfter die freie, ungezwungene Gestaltung des Stils gestört wird;

der vielgliedrige Bau altklassischer Perioden erschwert die Uebersicht

und ermangelt einer frischen,

fließenden Fortbewegung.

Zn den

Reden über die Religion, sowie in den Monologen herrscht die Sprache der Begeisterung, ohne daß jedoch das poetische Element das Ganze harmonisch durchdringt, und in den Predigten hält das scharfe Zergliedern, das dialektische Aufwerfen von Zweifeln und Bedenken der warmen Ansprache an Herz und Gemüth das Ge­ gengewicht.

Während Schleiermacher

die in der Theologie herrschenden

Gegensätze mit dem hellen Lichte seines Verstandes beleuchtete, ohne

daß es ihm gelang, dieselben für die Wissenschaft zu überwinden, bildete sich unter dem Einflüsse der Hegelschen Philosophie die spe-

culative Theologie, welche nach einer tieferen allgemeineren Durch­

dringung der Geheimnisse des Christenthums strebte und die großen Gegensätze der Zeit in sich zu verarbeiten und zu vermitteln suchte. Die beiden hauptsächlichen Vertreter der spekulativen Theologie sindKarl Daub (1765 —1836) und Ph. Marheineke (1786 —

1846) s. unten. Fern von aller Philosophie hielt sich auf dem theologischen Gebiete Aug. Neander, welcher, geb. 1789 von jü­ dischen Eltern zu Göttingen, seine Erziehung in Hamburg erhielt.

Kurz vor dem Beginn seiner akademischen Studien trat er zum Christenthum über und studirte in Halle und Göttingen.

Im I.

657

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

1811 wurde er Privatdocent in Heidelberg, folgte aber 1812 dem Rufe als Professor der Theologie an die Universität Berlin, wo er noch jetzt in einer umfassenden Wirksamkeit segensreichen Einfluß

auf die theologische Jugend ausübt.

Neander hat den tieferen, ge­

haltvolleren Geist der neuen Theologie, welcher in den positiven

Kern des Christenthums einzudringen bestrebt ist, wesentlich mit ge­

fördert.

Er umfaßt die ewigen Wahrheiten der christlichen Religion

mit Herz und Gemüth; er glaubt sie,-nicht weil sie von Außen ge­ geben, sondern weil sie innerlich sich ihm kräftig und mächtig er­

wiesen haben.

Sein Verhältniß zum Glaubensinhalt ist ein un­

mittelbares; immer tiefer und tiefer hat er sich in denselben hineinge­ lebt durch seine umfassenden Forschungen sowol in der heiligen Schrift,

als auch in der Kirchengeschichte, wo er überall dieselbe Kraft des Christenthumswiedersindet, die ihn mitFreude, Friede, Seligkeit erfüllt.

Neander ist daher in seinem tief religiösen Gemüthe über alle Ver­

schiedenheiten, Gegensätze und Zweifel hinaus, ohne sie in sich zu be­ kämpfen nöthig gehabt zu haben, und aus der Einheit seines Selbst­ bewußtseyns spricht er mit zweifelloser Sicherheit und Ruhe in ein­ facher, fließender Rede über den mächtigen Inhalt, der von ihm

Besitz genommen.

Die historische Erfassung der wirksamen Macht

des Christenthums ward das treibende Moment in seinen literari­ schen Arbeiten, welche von seiner ersten Schrift an „Ueber den Kai­

ser Julianus und sein Zeitalter" (1812), die eine bedeutsame Ent­ wickelungsstufe seiner Denk- und Betrachtungsweise bezeichnet, durch die Monographien hindurch („der heilige Bernhard und sein Zeit­ alter" 1813, „Genetische Entwickelung der vornehmsten gnostischen Systeme" 1818, „der heilige Chrysostomus und die Kirche" 1821)

bis zu den „Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des Christenthums und des christlichen Lebens" (1822) nur Vorbereitungen zu seiner

„Geschichte der christlichen Religion und Kirche" (1825 sqq. 2. A. 1844 sqq.) bilden, einem Werke, das klassische allgemeinen

Bedeutung in unserer Nationalliteratur hat.

Den Hauptzweck des­

selben bezeichnet der Verfasser selbst, wenn er sagt, daß er es sich zur Aufgabe gestellt habe, die Kirchengeschichte zu behandeln als einen sprechenden Erweis von der göttlichen Kraft des Christen­

thums, als eine Schule christlicher Erfahrung, eine durch die Jahr­ hunderte hindurchtönende Stimme der Erbauung, der Lehre und der

Warnung für Alle,

welche

hören

wollen.

Die „Geschichte der

und Leitung der Kirche durch die Apostel" (1832. 4. A. 1847) bringt das Leben und die individuelle Wirksamkeit der Pflanzung

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

42

658

Zweite Periode. Bon dem erste« Viertel

Apostel zur Anschauung.

Ausgehend von seiner durch den Glauben

erleuchteten Geschichtsbetrachtung schrieb Neander „das Leben Jesu Christi" (1837. 3. A. 1839), und stellte es gegenüber dem „Leben

Jesu" von Dav. Strauß (1835. 3. A. 1839).

In der Vorrede bezeichnet er unsere Zeit als eine Epoche, welche durch Auflösung und Krisis eine neue Schöpfung vorzubereiten bestimmt sey und

an der Grenze zwischen einer neuen und einer alten Welt stehe, durch welche das ewig alte und ewig neue Evangelium in das Da­ seyn werde gerufen werden;

Gegners

er

gesteht dem Standpunkte seines zu für die vollkommene

eine Art von Nothwendigkeit

Durchbildung der evangelischen Geschichte Jesu, und sieht ihn als einen Durchgangspunkt an, über den unsere Literatur hinaus müsse,

um den Gipfel der Vollkommenheit zu erreichen. Was nun außer der Theologie die übrigen Disciplinen anbe­

trifft, so blieb die Rechtswissenschaft nicht unberührt von dem Ein­ fluß der Philosophie, und gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bildete sich in derselben eine Doppelrichtung unter dem Namen der

philosophischen und der historischen Schule. Die Umge­ staltung der wissenschaftlichen Methode der Rechtswissenschaft ging

von Hugo (1764 —1844) aus, der, vorzugsweise auf den histori­ schen Standpunkt tretend,

durch seine „Geschichte des römischen

Rechts" (1790. 9. A. 1823) der Begründer der neuen historischen

Rechtsschule wurde; zugleich ankämpfend gegen die Steifheit und Pedanterie, welche von der Wolf'schen Schule her noch in der ju­ ristischen Literatur herrschte, rief Hugo auf diesem Gebiete die freiere

sprachliche Bewegung und den gebildeten deutschen Ausdruck her­

Durch seine „Philosophie des Rechts" (4. A. 1819) versuchte er die philosophische Auffassung des Rechts mit der historischen zu vereinigen. Je weniger dieser Versuch gelang, um so schärfer trat vor.

in dem weiteren Verlauf der Gegensatz zwischen der philosophischen

und historischen Rechtsschule hervor, und fand in Thibaut (geb. 1774 in Hannover) und in Savigny (geb. 1779 in Frankfurt)

seine Hauptvertreter, durch welche die juristische Wissenschaft eine national-klassische Bedeutung erhielt, indem die literarischen Werke beider Männer sich ebenso sehr durch gründliche Gelehrsamkeit und geistvolle Auffassung als durch Reinheit und Gediegenheit der sprach­ lichen Darstellung auszeichnen.

Eine neue durch die Hegelsche Phi­

losophie vermittelte Richtung verfolgte Gans (1798—1839), wel­ cher zuerst

den Versuch

machte,

den Gedanken einer Universal-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

659

Rechtsgeschichte zu bethätigen, und zugleich die innere Beziehung

zwischen dem historischen und philosophischen Recht tiefer erfaßte. Bor Allem aber wurde die Naturwissenschaft durch die Denk­

bewegung, welche von Kant ausging, neu befruchtet, indem durch die „Kritik der Urtheilskraft" (s. oben S. 397) der bisher vorherr­ schende Standpunkt der mechanischen und atomistischen Na­

turbetrachtung überwunden wurde und an dessen Stelle die dyna­ mische Ansicht trat, welche die Naturerscheinungen als Folge einer

von Innen heraus bildenden Kraft ausfaßte und besonders auf die Physiologie organischer Naturen hinführte. Karl Fr. v. Kiel­ meyer (geb^ 1765 zu Bebenhausen bei Tübingen) wirkte durch seine Vorträge über

die Physik organischer Körper reformatorisch

auf alle Zweige der Naturwissenschaft; er begann seine Wirksamkeit als Gelehrter zu Stuttgart 1793 mit einer „Rede über die Ver­

hältnisse der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der ver­

schiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhält­ nisse;" diese Rede begründete zunächst den großen RufKielmeyer's.

An seine geniale Betrachtungsweise der Natur, in welcher er mit eigenthümlicher Divinationsgabe die waltenden Gesetze zu erfassen wußte, schloß sich sowol Cuvier als auch Alex. ».Humboldt, und seine Ansichten suchte sich auch Göthe anzueignen, der schon von Kant's Kritik der Urtheilskraft lebendig sich angeregt fühlte, ein Kunstwerk wie ein Naturwerk, ein Naturwerk wie ein Kunstwerk

zu behandeln und den Werth eines jeden aus sich selbst zu entwikkeln, an sich selbst zu betrachten [83$J.

wann

die Naturwissenschaft

durch

Einen neuen Impuls ge­

Schelling's

Naturphilosophie,

welche vorzüglich auf das allgemeine Princip des Lebens zurückge­

hend dasselbe als das Eine in seinem Selbstunterschiede erfaßte und

das große Grundgesetz der Polarisation (Einheit des Entgegenge­ setzten) auf den verschiedenen Entwickelungsstufen der Natur nach­ wies.

Wenn auch in Ungeduld der Begeisterung, die Natur durch

den Gedanken zu erobern, bald eine ideelle Constructionsweise und der zu sehr von der concreten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen abstrahirte, so wur­

ein willkürlicher Schematismus sich bildete,

den doy die leitenden Grundideen für ein tiefer eindringendes Naturstudum anregend und fruchtbringend. Unter den Anhängern der Schellirgschen Philosophie zeichnete sich besonders Oken (geb. 1782 zu Freüurg; seit 1827 Professor an der Universität zu München) sowol durch seine allseitigen und umfassenden Kenntnisse aus, als auch drrch sein seltenes Ahnungsvermögen, mit welchem er tief-

42 *

660

Zweite Periode.

blickend das in den kannte.

Bo« dem ersten Viertel

einzelnen Erscheinungen waltende Gesetz er­

In seinem System der Naturkörper leitete ihn der Grund­

gedanke, daß die ganze Natur nichts sey, als der auseinanderge­

legte

Mensch,

und

er weist

in

dem

Gesammtorganismus der

Natur das Stufenverhältniß nach bis zum Menschen als der vol­

lendetsten Zusammenfassung aller übrigen Gebilde der Natur.

Wenn

es hier auch nicht an willkürlichen und unhaltbaren Verbindungen im Einzelnen fehlt, so gingen doch aus der Grundanschauung viel­ seitige Forschungen hervor, die zu den wichtigsten Resultaten führ­

ten.

In der „Naturgeschichte für alle Stände" (1833 — 44) ent­

faltete Oken auf der Grundlage seines naturwissenschaftlichen Systems

das vollständigste Material der drei Naturreiche, und lieferte ein ebenso eigenthümliches als für die Wissenschaft bedeutendes Werk. Unter den Romantikern vertritt vorzüglich Steffens (s. oben) die

Anhänger der Schellingschen Naturphilosophie; es herrschte aber in diesem Kreise mehr ein geistreiches Phantasiren, als das gediegene

System gründlicher Gedanken.

Die Hegelsche Philosophie hielt den

unklaren Phantasieanschauungen das Gegengewicht, und indem sie die Begriffe des Mechanismus und Chemismus und der Teleolo­ gie tiefer entwickelte,

leitete sie die großen Ideen der Naturfor­ das allgemeine wissenschaftliche Be­

schung immer bestimmter in wußtseyn hinüber.

Am umfassendsten hat alle Tiefen der Natur­

wissenschaft Alexander v. Humboldt durchdrungen, welcher sowol für die Erweiterung des empirischen Wissens als für philosophische

Naturanschauung sich gleich große Verdienste erwarb. Er sprach eS aus: „der Inbegriff von Erfahrungskenntnissen und eine in allen ihren Theilen ausgebildete Philosophie der Natur (wenn eine solche Ausbildung je zu erreichen ist) könne nicht in Widerspruch treten, wenn die Philosophie der Natur ihrem Versprechen gemäß, das vernunftmäßige Ergreifen der wirklichen Erscheinungen im Weltall

sey. Wo der Widerspruch sich zeigt, liegt entweder die Schuld in der Hohlheit der Spekulation, oder in der Anmaßung der Empirie,

die mehr durch die Erfahrung bewiesen glaubt, als durch dieselbe begründet ward." Friedrich Heinrich Alexander Freiherr von Humboldt wurde den 17. September 1769 zu Berlin geboren, studirte zuerst

in Göttingen und Frankfurt a. d. O., dann auf der Bergakademie zu Freiberg, und wurde 1792 von der preußischen Regierung als Oberbergmeister von Ansbach und Baireuth angestellt. Schon früh

erkannte er, „daß ohne den ernsten Hang nach der Kenntniß des

de- 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

661

Einzelnen alle große und allgemeine Naturanschauung nur ein Lust­

gebilde ist."

Er entsagte 1795 dem Staatsdienste, um sich ganz

der Wissenschaft und der Bereicherung derselben durch Reisen zu

widmen, und nachdem er von 1795 -98 einen großen Theil von Europa durchwandert hatte, begab er sich zu Anfang des Jahrs

179'9 nach Madrid, und erwirkte von der dortigen Regierung die Erlaubniß, die spanischen Colonien in Amerika bereisen zu dürfen. Fünf Jahre verweilte er sodann mit seinem Freunde Aime Bonpla nd in den tropischen Gegenden Amerika's; dort in der zerrissenen

Andeskette von Neugranada und Quito, wo das Land von der heißen Meeresküste rasch zu einem der höchsten Gebirge der Erde aufsteigt, wird dem forschenden Auge eine Uebcrschau gewährt so«

wol von allen Pflanzenformen der Erde als von allen Gestirnen

des Himmels; „dort sind die Klimate wie die durch sie bestimmten Pflanzenzonen schichtenweise über einander gelagert, dort die Gesetze abnehmender Wärme dem aufmerksamen Beobachter verständlich, mit ewigen Zügen in die Felsenwände der Andeskette eingegraben."

Dieser großartige Schauplatz wurde für Humboldt die Schule, wo

er in den Strömungen des Oceans oder der unsichtbaren magneti­ schen Erdkrast, in den Schwankungen der Klimate, wie in der geographischen Verbreitung der Organismen die Gesetzmäßigkeiten fassen und sie nach Maaß und Zahl ausdrücken lernte.

Unermeß­ lich waren die Ergebnisse seiner Forschungen für Länder- und Völ­ kerkunde, sowie für die Naturwissenschaften in ihrem weitesten Um­ fange.

Nach seiner Rückkehr aus der neuen Welt lebte er meist zu

Paris, seit 1815 gab er seine „Reisen nach den Aequinoctialgegen-

den des neuen Kontinents in den Jahren 1799 — 1804" heraus, die bis zum Jahr 1829 in 6 Bänden erschienen. Ende 1826 kehrte er von Paris nach Berlin zurück; in demselben Jahr erschie­ nen seine „Ansichten der Natur," in welchen er Pflanzengestaltung,

Grasfluren, Wüsten unter allgemeinen Beziehungen behandelt, und sich zugleich als Meister in malerischer und plastisch kräftiger Dar­

stellung zeigt.

Im Jahr 1829 machte er eine Reise nach Sibirien

und an das kaspische Meer, und lebt seitdem in hohen Ehren als

wirklicher Geheimerath in der nächsten Umgebung des Königs von Preußen in Berlin.

In seinem jüngsten Werke „Kosmos, Entwurf

einer physischen Weltbeschreibung," erst. Bd. (1845), zieht Humboldt

recht eigentlich die Summe seiner eigenen so umfangsreichen Entwick­ lung und Bildung, und faßt auf eine großartige Weise die höchsten

und allgemeinsten Ergebnisse der Naturforschung zu einem Elemente der

662

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

Aeitbildung zusammen.

Der erste Band

enthält einleitende Be­

trachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und die Ergründung der Weltgesetze; Begrenzung und wissenschaftliche Be­ handlung der physischen Weltbeschreibung; ein allgemeines Natur­

gemälde als Uebersicht der Erscheinungen zur

späteren genaueren

Ausführung. Wie den wissenschaftlichen Stoff, so beherrscht Hum­ boldt auch die Sprache, und sein Kosmos ist auch in dieser Be­ ziehung durch Kraft,

Lebendigkeit und Harmonie des Stils ein

Schmuck, eine Zierde unserer Literatur. Carl Ritter, geb. 1779 in Quedlinburg, erhielt zuSchnepfthal seine Erziehung. Er studirte 1797 und -98 in Halle und bil­ dete sich unter Niemeyer's Leitung zum Pädagogen aus. Er wurde

hierauf Erzieher im Bethmannschen Hause zu Frankfurt a. M. und faßte hier schon den Plan zu seinem großen geographischen Werke. Er begleitete seine Zöglinge auf Reisen und Universitäten. Im I. 1819 wurde er Lehrer der Geschichte am Gymnasium zu Frank­

furt a. M., erhielt aber schon 1820 einen Ruf als außerordentli­ cher Professor der Geographie an die Universität Berlin. Durch seine literarischen Arbeiten, die sich vorzüglich in seinem Haupt­ werke „die Erdkunde im Verhältniß zur Natur und Geschichte" (181'7—18. 2 Bde.; 2. A. 1822 — 47. 13 Bde.) concentriren, er­

öffnete er für die Behandlung der Geographie eine neue Bahn und schuf die vergleichende Erdkunde.

Indem er die geographischen Ana­

logien auf fruchtbringende Weise zu verfolgen wußte und sie in ih­ rem inneren Zusammenhänge erfaßte, außerdem die Wechselbeziehung zwischen Natur und Mensch, zwischen Geographie und Geschichte

überall erforschte, legte er den Grund zu einer Wissenschaft der Geographie und gab den Impuls zu einer vollständigen Umgestal­ tung der geographischen Lehrbücher.

Zn der Auffassungs- und Be­

handlungsweise fand er in A. v. Humboldt sein Vorbild, und es zeichnen sich seine literarischen Arbeiten wie auch seine Lehrvorträge sowol durch gründliche Forschung und geistvolle Auffassung als auch

durch lichtvolle Klarheit der Darstellung aus.

Seine Erdkunde ist

eine wesentliche Bereicherung unserer nationalen Wissenschaft.

Auf dem Gebiete der Philologie trug die philosophische Bildung zu einer tieferen Erfassung der Idee des Alterthums bei, nachdem besonders der reinere Geist des Hellenismus auf die Ge­

staltung, welche unsere klassische Nationallitcratur durch Göthe und Schiller erhielt, einen tiefgreifenden Einfluß ausgeübt hatte. Von Kant's Philosophie ging ein neuer Geist der Kritik und methodischen

663

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Untersuchung aus, und auf der Grundlage gediegener, gründlicher

Forschung drang die philologische Wissenschaft mit immer glückli­

cherem Erfolge in die großen Ideen und Lebensanschauungen der Alten ein.

Reformatorisch wirkte für das Alterthumsstudium Fr.

Aug. Wolf, indem es ihm gelang, die Philologie als selbstständige Wissenschaft in den Kreis der menschcnbildenden Disciplinen ein­

zuführen.

Er wurde den 15. Februar 1759 zu Haynrode unweit

Nordhausen geboren, wo sein Vater Eantor und Organist war. Seine Schulbildung erhielt er in Nordhauscn, und studirte von 1777 an zwei Jahre in Göttingen; 1779 kam er als Collaborator nach

Jlefeld und 1782 als Rector nach Osterode. Im Jahr 1783 er­ hielt er einen Ruf als Professor der Philosophie nach Halle, und hier begann er als Lehrer seine umfassende, einflußreiche Thätigkeit. Es beseelte ihn der Gedanke, das klassische Alterthum als Vorbild eines auf den edelsten und größten Ideen beruhenden öffentlichen

und Privatlebens zu einem achten Bildungsmittel auf Hochschulen zu benutzen, und gründlich gebildete Lehrer und Vorsteher für die

Schulen auszubilden.

Während der 23 Jahre seines Professorats

in Halle verbreiteten sich seine Vorlesungen über die verschiedenar­

tigsten Seiten des Alterthums, und er strebte nicht sowol als Schrift­

steller, sondern als Lehrer sich Ruhm zu erwerben.

Im I. 1806

wurde seine Wirksamkeit durch die Aufhebung der Universität Halle gestört, und Wolf wandte sich nach Berlin, wo er nach und nach von den Geschäften des Staatsdienstes sich frei machte.

Thätig

wirkte er mit bei der Errichtung der neuen Universität, und behielt

sich als Mitglied der Akademie das Recht vor zu freien Vorlesun­

gen auf der Universität.

Um seinem leidenden Gesundheitszustand unter dem wärmeren Himmel des südlichen Frankreichs Heilung zu

verschaffen, reiste er im April 1824 von Berlin ab nach Marseille, wo er am 3. August desselben Jahres starb. Wolf verband mit kritischem Scharfsinn einen genialen Blick und umfassende Gelehr­ samkeit, wodurch er befähigt war, den neuen Umschwung für die

philologische Wissenschaft herbeizuführen.

Durch seine homerischen

Prolegomena (1795) gab er ein Muster der höheren Kritik, und durch seine „Darstellung der Alterthumswissenschaft" (1807) war er bestrebt, das ganze Gebiet der Alterthumskunde als Wissenschaft

festzustellen.

Er faßte das Alterthum als ein organisch-abgeschlosse­

nes Ganze auf, in welchem der Nationalgeist das belebende Princip

ist und ein Glied des Lebens durch das andere bedingt wird.

Mit

stimm durchdringenden Geiste bemächtigte er sich der Eigenthüm-

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

664

lichkeiten der Autoren, wie sie sich nach Zeit und Ort individualisiren, und schärfte sein Urtheil dergestalt, daß er in dem Unterschiede der Sprache und des Stils zugleich den Unterschied des Geistes

und des Sinnes zu entdecken wußte.

In seinen metrischen Ueber,

setzungsversuchen zeigte er seine geniale Auffassung, mit welcher er

in den Geist des Schriftstellers und der Sprache eindrang; er be­ wies hier zugleich seine Herrschaft über den deutschen Ausdruck, wie er sich auch in mehreren Aufsätzen als Meister deutscher Prosa bewährte [8,4J.

Einen ausgezeichneten Platz nicht bloß auf dem Gebiete der

altklaffischen Literatur, sondern auch auf dem des allgemeinen Sprach­ studiums nimmt Karl Wilhelm Freiherr v. Humboldt ein,

welcher, 1'767 zu Potsdam geboren, in Berlin eine sorgfältige Un­

terweisung in Sprachen und Wissenschaften erhielt und den Grund legte zu seinen späteren umfassenden Sprachforschungen. Mit sei­ nem nur wenige Jahre jüngeren Bruder theilte er in seiner weite­

ren Entwickelung ein gleich hohes Geistesstreben, und begünstigt von schönen Geistesgabcn und dem äußeren Glück der Wohlhabenheit widmete er sich mit Ernst und Ausdauer dem Dienste der Wissen­

schaft.

Der Gedanke „das Höchste in der Welt bleiben und sind die

Ideen," ward das belebende Element seiner tiefcindringenden For­

Diese ideale Richtung knüpfte das enge Freundschafts-

schungen.

verhältniß zwischen ihm und Schiller, und trieb ihn auch an, 1794

seinen Wohnsitz in Jena zu nehmen, welches damals der Mittel­

punkt aller höheren Geistesstrebungen war. Hier lebte er mehrere Jahre anregend und strebend, besonders im lebendigen Verkehr mit

Schiller; der Briefwechsel

beider Männer

giebt uns ein schönes

Zeugniß ihrer Geistesverwandtschaft. In den „ästhetischen Versu­ chen" (1794) knüpfte Humboldt an Göthe's Hermann und Doro­ thea seine Betrachtungen über das Wesen des Epos und der Dicht­ kunst überhaupt, und zeigte, mit welchem feinen Sinne er in Göthes

Dichtercharakter die und Lebens

innige

mit dem Geiste

Verschmelzung des

und der Form

deutschen Wesens

der Antike erkannt

hatte. Im Jahr 1807 führte ihn die diplomatische Laufbahn auf den öffentlichen Schauplatz des Lebens, und als Gesandter zu Rom, Wien, London, als Bevollmächtigter bei dem Friedcnscongreß zu Prag, mitthätig bei dem Wiener Congreß und anderen wichtigen Gelegenheiten bewährte er sich als einen großen, an dem Geschick sowol der Menschheit als seines Vaterlands theilnehmcnden Staats­

mann.

Zu verschiedenen Perioden war er auch wirksam im preu-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

665

ßischen Ministerium, besonders für die Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts, und als er, beseelt von dem Princip der neuen Zeit, und für Deutschland die freie Volksvertretung anstrebcnd, seine Thätigkeit unter den obwaltenden Umständen erfolglos sab, nahm er seine Entlassung aus dem Staatsdienste, und lebte nur der Wissenschaft und der Kunst auf seinem Landgute Tegel, wo er 1835 starb. In W. v. Humboldt durchdrang sich ein ächt antiker Geist mit der Innerlichkeit und Tiefe deutscher Bildung zu schöner Einheit, und hieraus ging ebensowol der hohe Adel seiner Humanität als die große Freiheit seiner Gesinnung hervor. Seine Liebe zur altklassischen Literatur bezeugte er in mehreren metrischen Uebersetzungen (der zweiten Olympischen Ode des Pindar, des Aga­ memnon und der Eumeniden vonAeschylus); seine nationalklassische Bedeutung gewann er aber vornehmlich auf dem Gebiete der Sprach­ wissenschaft, indem er als Sprachforscher eine seltene Fülle des ge­ lehrtesten Detailwissens mit philosophischem Tief- und Scharfsinn vereinigte; seine reichen Forschungen erstreckten sich über das Al­ terthum, über Indien, über Spanien (vaskische Sprache), über Amerika und die Südinseln. Zusammengefaßt hat er dieselben in seinem Werke „über die Kawi-Sprache" (1832), und durch dasselbe eine gediegene Grundlage für das neue vergleichende Sprach­ studium geschaffen [8$äJ. Die deutsche Sprach- und Alterthumswiffenschast erhielt ihre tiefere Begründung durch die Brüder Grimm. Es hatten be­ reits die Romantiker das Interesse für altdeutsches Leben und alt­ deutsche Literatur geweckt; jedoch herrschten bei ihrem Enthusiasmus für das Mittelalter manche unklare Sympathien, welche erst durch eine ruhige, bcsonneneForschung überwunden wurden. Auf dem Wende­ punkte, wo an die Stelle einer mehr dilettantischen Beschäftigung mit mittelaltriger Literatur eine ernste wissenschaftliche Erforschung trat, stehen die Brüder Grimm, denen der Ruhm gebührt, eine neue Wissenschaft, die deutsche Philologie begründet zu ha­ ben [*S6J. Jakob und Wilhelm Grimm wurden, jener 1'785, dieser 1786 in Hanau geboren; sie erhielten ihre wissenschaftliche Ausbil­ dung auf dem Lyceum zu Kassel und studirten auf der Universität Marburg Rechtswissenschaft. Jakob Grimm ging 1805 mit Savigny nach Paris, wo er sich dem Studium der Literatur und Dichtkunst des Mittelalters zu widmen anfing. Durch Joh. v. Müller erhielt er 1808 die Aufsicht über die im Schlosse Wilhelms-

666

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

höhe aufgestellte Privatbibliothek des Königs ».Westphalen; später reist« er mehrmals als Gesandter nach Wien und Paris, und wurde

1816 zweiter Bibliothekar in Kassel.

Sein Bruder Wilhelm war

bereits 1814 als Secretair bei derselben Bibliothek angestellt.

Als

1829 nach dem Tode Völkel's, des ersten Bibliothekars, an seine

Stelle Rommel trat, fühlte sich I. Grimm zurückgesetzt, und nahm einen Ruf nach Göttingen an, wohin er 1830 mit seinem Bruder

ging.

Da beide Brüder sich unter den sieben Professoren befanden,

welche die bekannte Protestation gegen die Verfassungsänderung in

Hannover unterzeichnet hatten, so wurden sie 1837 ihres Amtes

entsetzt und aus Göttingen vertrieben.

Einen neuen Wirkungskreis

erhielten sie aber 1841 durch den König von Preußen in Berlin, und finden

dort die ihnen gebührende

Anerkennung.

Bekannt

machte sich zuerst Jakob Grimm durch seine Schrift über den alt­ deutschen Meistergesang (1811), eine Polemik gegen Docen, und

verfolgte dann mit besonderer Vorliebe in Gemeinschaft mit seinem Bruder die deutsche Sagenpoesie, auf welche schon die Romantiker hmgeführt hatten. Aus dieser Beschäftigung gingen die „Kinderund Haus-Märchen" (1812—14) hervor, in denen sich das deutsche

Familienleben im Reflex der deutschen Phantasie abspiegelt, und ferner die „deutschen Sagen" (1816 —18), in welchen sich das Be­ wußtseyn des Volks über sein Verhältniß zur äußeren Natur und über seine geschichtliche Bewegung anderen Völkern gegenüber aus­

spricht.

In der spateren Periode der literarischen Wirksamkeit ar­

beiteten beide Brüder nicht mehr gemeinsam, sondern gaben sich einer streng wissenschaftlichen Beschäftigung hin, der ein sorgfältiges grammatisches Studium zu Grunde lag. Da die Sprache der ächte Ausdruck der Nationalität ist, so gewann I. Grimm erst durch

die Erforschung der deutschen Sprache die Hauptgrundlage für alle seine Untersuchungen, und es begann mit seiner „deutschen Gram­

matik," welche zuerst 1819 erschien, die neue Wissenschaft der deut­ Da außer der Sprache sich in Recht, Religion und Sitte das Nationale scharf und bestimmt ausprägt, so wandte I. schen Philologie.

Grimm auch diesen Gegenständen seine umfassenden Studien zu, und

es erschienen die „deutschen Rechtsalterthümer" (1828) und die „deutsche Mythologie" (1835). W. Grimm gab während dieser Zeit als das reifste Produkt seiner wissenschaftlichen Forschung „die deutsche Heldensage" (1829) heraus; außerdem beschäftigte er sich

mit der Herausgabe mehrerer mittelhochdeutschen Gedichte.

Zu dem

Sagenstudium kehrte I. Grimm gerne zurück, und lieferte in sei-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

667

nem „Reinhart Fuchs" (1834) die gründlichste und erschöpfendste

Arbeit über die Thicrsage. Ein nicht unwichtiger Beitrag zu der Geschichte der verschiedenen Sagenkreise sind auch die „Lateinischen Gedichte des X. und XL Jahrhunderts," welche er 1838 in Ge­

meinschaft mit Schneller herausgab. I. Grimm verbindet eine umfassende Kenntniß des Einzelnen mit angeborner Intuition in das Ganze, und hat dadurch eine so große Meisterschaft in der

Erforschung der nationalen Sprache, Dichtung und des Rechts ge­ wonnen. Wie nun die altklassische Philologie seit Wolf durch eine Reihe

von ausgezeichneten Männern, durch Butt mann, Hermann, Böckh, Jmman. Bekker, O. Müller, Welcher und mehrere andere vielseitig gefördert wurde, und Zeugniß ablegte sowol von

der gründlichen Forschung als auch von der idealen Auffassungs­ weise des deutschen Geistes, ebenso hat auch die deutsche Philologie

in Schmeller, v. d. Hagen, Lachmann, Beneke, Mone,

Graff, Maßmann, inHaupt, Hoffmann v.Fallersleben, Wacker nagel, Simrock und in vielen anderen reiche Förderung gesunden und sich als ein ächtes Erzcugniß des nationalen Bewußt­ seyns neben ihrer älteren Schwester allgemeine Anerkennung und

Geltung verschafft.

Beide Disciplinen haben auf die Gestaltung

der deutschen Sprache, sowol in Poesie als auch in Prosa, den tief­ greifendsten Einfluß ausgeübt.

Mit den beiden philologischen Disciplinen steht in näherem Zusammenhang die Aesthetik; diese Wissenschaft war von Kant

neu begründet, wurde von Schiller weiter ausgeführt und durch A. W. Schlegel in die kritische Auffassungsweise der Literatur hinübcrgelcitet. Nachdem Schelling die Bedeutung der Kunst in ihrer

ganzen Tiefe erfaßt hatte, ward Hegel's ästhetisches System in der neusten Zeit die wichtigste Erscheinung auf dem Gebiete der Kunst­ betrachtung; seine Vorlesungen über Aesthetik, in denen sich die Idee

des Schönen organisch zu dem reichen Baume der wirklichen Kunst weit entfaltet, lassen in der Geschichte der Kunst einen stetigen Entwickelungsproceß erblicken, und leiten dazu an, jedes poetische

Werk zu erfassen, sowol wie es in dem nationalen Leben wurzelt,

als auch wie es, durchdrungen von der schöpferischen Idee, seine eigene innere Gesetzgebung hat. Die ästhetischen Theorien der neu­ sten Zeit werden wesentlich von dem Impuls getragen, den Hegels

Vorlesungen über die Aesthetik hervorgebracht haben, und ebenso

hat auch durch dieselben eine neue Triebkraft die ästhetische Kritik

668

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

gewonnen, durch welche die tieferen Grundanschauungen über Kunst­

mehr und mehr zu einem Gemeingute werden. Bei der immer be­ stimmteren Zusammenfassung des Besonderen mit dem Allgemeinen, der Idee mit der Wirklichkeit, erhielt auch die sprachliche Darstel­ lung reichere Fülle, und in der freieren Bewegung eine lebensvol­

lere frischere Gestaltung.

Wesentlich gefördert wurde die Aesthetik

durch Chr. Herm. Weiße, durch Heinr. Gust. Hotho und

Friedr. Theod. Bischer [8S7], so wie die Kritik und ästhetische Betrachtung, welche durch das junge Deutschland einen neuen Auf­ schwung gewonnen hatte, in K. Rosenkranz, in Theod. Röt­

scher und R. E. Prutz [8S8], eine inhaltsvollere Gestaltung er­ hielt. An die Stelle des heineschen, die subjectiven Stimmungen

wiederspiegelnden Stils trat mehr und mehr der Stil des reinen Inhalts, welcher seine höchsten Gesetze von den darzustellenden Ge­

danken empfängt.

Eine neue Bewegung trat in die kritische Po­

lemik durch Arnold Rüge, welcher in Verbindung mit Theod. Echtermeyer [8”J

seit 1838

die Halleschen

Jahrbücher

herausgab; diese Zeitschrift führte die Kritik auf das Gebiet der gestimmten geistigen Wirklichkeit, auf das der Wissenschaft und Kunst, des Staats und der Kirche, des bürgerlichen und geistigen Lebens, und indem sie das Princip der freien Wissenschaft geltend

machte, übte sie nach allen Seiten eine tiefgreifende Wirkung aus, bis sie seit 1841, wo sie unter dem Titel „Deutsche Jahrbücher" erschien, sich in eine immer unhaltbarere Stellung fortreißen ließ

und dadurch sich selbst den Untergang (1843) bereitete.

Stelle traten

die

„Jahrbücher der Gegenwart,"

An ihre

welche von A.

Schwegler seit 1843 herausgegeben, durch freie und gründliche

Besprechung der wesentlichsten Zeilfragen und bedeutendsten Zeiter­ scheinungen für die Verständigung der Gegenwart über sich selbst und ihre Zukunft zu wirken bestrebt sind.

2. Die Bewegungen auf dem Gebiete des nationalen und politischen Le­ bens nebst ihrem Einfluß auf die Geschichtschreibung und auf die historische Prosa. Zwei Punkte sind es vorzüglich, welche seit dem Beginn des

19. Jahrhunderts der Geschichtschreibung einen höheren Aufschwung gaben, nemlich das Erwachen des nationalen Bewußtseyns und die

inhaltsvollere universal-weltgeschichtliche Anschauung.

Wie beson­

ders die Häupter der romantischen Schule es waren, welche zur

669

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Zeit der größten Unterdrückung Deutschland's in Schrift und le­ bendiger Rede für die Erweckung des Nationalbewußtseyns thätig

wirkten, so waren es andererseits die Koryphäen unserer neusten Philosophie, Fichte, Schelling, Hegel [84°], welche die universal­

weltgeschichtliche Anschauung tiefer begründeten und die Wissenschaft vom Geist der Geschichte als eine acht deutsche gestalteten. Als nach dem Tilsiter Frieden in Preußen sich überall das

Gefühl vaterländischer Erhebung regte,

wurde namentlich Berlin

der Mittelpunkt für die nationalen Freiheitsstrebungen.

Der Frei­

herr H. Fr. K. von Stein (geb. zu Nassau 1757 gest. 1831)

suchte in bedeutsamster Weise die Idee deutscher Nationalfreiheit zu verwirklichen, und seit 1807 erster Minister in Berlin richtete

er seine hauptsächliche Thätigkeit darauf, die Macht des Staates auf die innere Volkseinheit und auf das Volksbewußtseyn zu grün­ den; die Aufhebung der Erbunterthänigkeit, die Einführung einer

freisinnigen Städteordnung war sein Verdienst; er leitete den Tu­ gendbund, und Fichte, Scharnhorst, Arndt und andere pa­ triotisch gesinnte Männer waren nach allen Seiten hin thätig, um

das Nationalgefühl zu wecken und zu beleben.

Moritz Arndt

(f. oben) schrieb als kühner Verfechter der Freiheit Deutschland's seinen „Geist der Zeit" (1806). Joseph Görres (geb. 1776 zu

Koblenz), welcher, schon früher mächtig ergriffen durch die Ideen von Freiheit und Gleichheit der französischen Revolution, diese in seinem „rothem Blatt" verkündigte, später aber durch unmittelbare

Anschauung in Paris enttäuscht, sich von Frankreich abwandte und dem vaterländischen Freiheitsenthusiasmus sich hingab, war in Schrift und in lebendigem Worte wirksam für die Belebung des nationalen Sinnes, und nachdem er sich in deutsche Wissenschaft

und Philosophie vertieft hatte und auf die romantischen Sympa­ thien für das Mittelalter näher eingegangen war, fachte er beson­ ders im „Rheinischen Mercur" (1814) die Flamme der Vaterlands­

liebe an. In dieser Zeitschrift entwickelte er die volle Gluth der politischen Beredsamkeit, und übte durch die Kraft des Worts da­ mals den mächtigsten Einfluß aus. Fr. Ludw. Jahn (geb. 1778 zu Lenz in der Priegnitz), der gleichfalls Theil nahm am Tugend­

bund, trug durch sein „deutsches Volksthum" (1810) zur Belebung

des nationalen Sinns bei.

Fr. v. Gentz (geb. zu Breslau 1764)

welcher wie Görres sich an den Freiheitsideen der französischen Re­ volution betheiligte, und vom Liberalismus getrieben, wegen Frei­

heit der Presse sein „Sendschreiben an den König Friedrich Wil-

670

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

Helm III. bei dessen Thronbesteigung" (1797) richtete, war durch

seine Talente berufen ein Stützpunkt zu werden für die Entwicke­ lung der Zeit zu freien und öffentlichen Nationalformcn. Bis 1802 war er in Preußischen Diensten, nahm aber aus politischen Grün­

den seine Entlassung, und nachdem er katholisch geworden war, trat

er als Rath in die Hof- und Staatskanzlei zu Wien, wo er allmählig von seinen freisinnigen Ansichten zu den Grundsätzen des österreichischen Absolutismus abfiel.

Mit welchem klaren Geiste er

die Verhältnisse der Zeit auffaßte und namentlich in die Zustände des

Preußischen Staats eingcdrungen war,

zeigt

er in

seinem

„Reisejournal" (1806) und in den „Fragmenten aus der neusten

Geschichte;" beide Schriften zeichnen sich ebensosehr durch ihren Ge­

halt als durch die lichtvolle Darstellung aus.

Während nun Gentz

dem Oesterreichischen Kabinette Hand und Kopf lieh, wußte er durch die musterhafte Handhabung seines Stils eine künstlerische und

ideale Haltung in die Kabinetsprosa zu bringen.

Es stand ihm

ebensosehr die Klarheit der Entwickelung als die Kraft der Begei­

sterung zu Gebote, und die Manifeste, welche er für Preußen (1806) und für Oesterreich (1809 und 13) entwarf, sind Muster politischer

Nationalbcredsamkeit. Er machte sich daher den verschiedenen Ka­ binetten immer unentbehrlicher, und eröffnete sich dadurch eine reich­ lich fließende Quelle des Gelderwerbs. Auf dem Wiener Congreffe, wie auf den nächstfolgenden, war er der beständige Protocollführer, und bei der Springkraft seines Stils wußte er aus Allem zu ma­ chen, was er gerade wollte. Die Haltungslosigkeit der damaligen

Zeitzustände spiegelt sich anschaulich ab in dem geistigen Verhalten

Einzelner, in welchen die Widersprüche der Zeit Wechsel und Zwei­ deutigkeit der Gesinnung erzeugten, so daß in solchen Individuen

oft das Höchste neben dem Gemeinen liegt. Als die Zeit der ent­ täuschten Hoffnungen folgte und die Fortsetzung von den früheren

Bestrebungen patriotisch gesinnter Männer anfing lästig zu werden, als Schmalz (Geheimerath und Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Berlin) in seiner Schrift „über politische Ver­ eine" (1814)

die Begeisterung des deutschen Volks während des

Freiheitskrieges herabsetzen wollte und von der Fortdauer geheimer

und gefährlicher Verbindungen sprach, als Schleiermacher, Nie­

buhr und andere Männer sich gedrungen fühlten, gegen solche denunciatorische Umtriebe das Schwert des Wortes zu führen, da traten nach untr nach immer entschiedener die Reactionsstrebungen

hervor, welche die begonnene Bewegung für zeitgemäßen Fortschritt

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

671

der nationalen Zustände zurückdämmen sollten. Görres richtete im Rheinischen Mercur, wie früher gegen den äußeren gtinb, so jetzt gegen den inneren seine freimüthige Sprache, und als er die Ge­

genwirkungen nicht achtete, so wurde sein Blatt 1814 verboten. Im Jahr 1818 trat Görres, von edlem patriotischem Freiheitsstnn beseelt, mit der Uebergabe der Adresse der Stadt Koblenz vor den Staatskanzler Hardenberg und gab den Wünschen der Provinz

Ausdruck.

Die Folgen dieser Adresse, sowie eine andere Schrift

„Deutschland und die Revolution" (1819) bewirkten, daß Görres,

um der Strafe des Festungsarrestes zu entgehen, nach Frankreich floh und von da nach der Schweiz.

Vor den Widersprüchen der

Zeit zwischen einer freieren Fortentwickelung und dem Festhalten

des Bestehenden nahm Görres endlich seine Zuflucht zum Katho­ licismus, und in der Schrift „Europa und die Revolution" (1821) bezeichnet er seinen Rückzug aus der revolutionären in die katho­

lische Weltanschauung.

Die überladene Bilderpracht seiner Darstel­

lung ist ebenso verwirrend für das Verständniß,

als diese trübe

Mischung von Poesie und Wissenschaft die eigene Unklarheit des

Verfassers bezeugt, welcher die in ihm gährenden Vorstellungen noch nicht zu beherrschen vermag. Görres verfolgte den Weg der Reac­ tion später immer weiter, und lehrt in diesem Sinn seit 1827 als Professor der allgemeinen und Literaturgeschichte an der Universität

München.

M. Arndt, welcher 1818 Professor der neueren Ge­

schichte in Bonn geworden war, wurde schon im folgenden Jahr

wegen angeblicher Theilnahme an demagogischen Umtrieben in Un­ tersuchung gezogen, und in Folge derselben zwar freigesprochen, aber dennoch mit Beibehaltung seines vollen Gehalts in den Ruhe­ stand versetzt [84,J. L. Jahn, welcher 1817 in Berlin über Volksthum Vorlesungen hielt, kam gleichfalls 1819 wegen demago­ gischer Umtriebe in Untersuchung. Im Jahr 1825 freigesprochen,

zog er sich nach Freiburg an der Unstrut zurück. Der Freiherr v. Stein, welcher 1813 an der Spitze der Centralverwaltung Deutschland's stand, hatte sich bald darauf, da er in seiner freien Regsamkeit sich gehemmt sah, vom öffentlichen Leben auf seine Güter

in Westphalen zurückgezogen. Dasselbe that W. v. Humboldt im Jahr 1819. Auf dem Gebiete der Staatswissenschaft war K. Ludwig v. Haller (geb. 1768 zu Bern; 1806 Professor der Ge­

schichte daselbst; 1820 erfolgte sein heimlicher Uebertritt zum Ka­ tholicismus und 1821 seine Absetzung) in seiner „Restauration

der Staatswissenschaft" (1816) als Verkündiger der Lehre vom un-

672

Bon dem ersten Viertel

Zweite Periode.

bedingten Gehorsam aufgetreten, und sein System bot sich den An­

fängen der Reaction als doktrinären Stützpunkt dar.

Joh. Lud­

wig Kl über (geb. 1762 zu Thann bei Fulda; 1817 in preuß.

Dienst unter Hardenberg, gest. 1837) bewährte in seinem Werke „Oeffentliches Recht des deutschen Reichs" (1817) einen politischen

Liberalismus,

wie er früher von Schlözer und Moser vertreten

war, und von dem Standpunkte der constitutionellen Volksfreiheit

aus suchte er die Folgen derselben nach allen Seiten weiter zu entwickeln; doch nach Hardenberg's Tode (1822) sah er sich wegen politischer Verketzerungen veranlaßt, 1823 ins Privatleben zurück­ zutreten.

Karl Salomo Zachariä (geb. 1769 zu Meißen, seit

1806 Professor der Rechtswissenschaft in Heidelberg; gest. 1842)

macht in seinen zahlreichen Schriften, welche mit gründlicher Ge­

lehrsamkeit und philosophischer Tiefe eine musterhafte Darstellung verbinden,

seine freiere Ueberzeugung geltend.

Sein Hauptwerk

„Vierzig Bücher über den Staat," welches seit 1829 erschien, und

in zweiter Aust. v. 1839 — 42, enthält einen großen Schatz staats­ wissenschaftlicher Ansichten.

Friedr. Ancillon

(geb.

1767 zu

Berlin; Prediger an der Werderschen Kirche und seit 1792 Pro­

fessor der Geschichte an der Militairakademie; 1810 an Delbrück's

Stelle Erzieher des Kronprinzen; 1817 Mitglied des neugebilde­ ten Staatsraths; 1832 wirkt, geh. Staatsminister des Auswärtigen; gest. 1837) war ein Freund der Reformen, hielt aber das Princip

fest: Nichts durch das Volk, alles durch die Regierung, und er­ klärte sich bestimmt für das unbeschrankte Königthum und gegen

jede constitutionelle Verfassung.

In seinem Werke „Zur Vermit­

telung der Extreme in den Meinungen" (1828—1831) suchte er für die in seiner Zeit herrschenden Gegensätze auf die rechte Mitte

(juste Milieu) hinzuführen.

Eine tiefere Grundlage hatte

die

Entwickelung der Staatsidee bereits in Hegel's „Grundlinien des Rechts" (1821) gewonnen. Als nun nach den Freiheitskriegen in Folge der Reaction die

schönen Hoffnungen auf die Wiedergeburt Deutschland's geschwun­

den waren, als alle in ächter Begeisterung genährte patriotische und freisinnige Gefühle an der spröden Wirklichkeit eine bittere Enttäuschung gefunden hatten, da war es möglich, daß Heine zu jener Verspottung der begeisterten Hingabe an die idealen Mächte

des Lebens gelangte, und es spiegelt sich in seiner aus einer ge­ wissen Verzweifelung an allen religiösen, patriotischen und freisinni­

gen Gefühlen hervorgegangenen Gesinnungslosigkeit nur das Trost-

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

673

lose der damaligen Zeit ab, wie auch Gentz das Depravirende der öffentlichen Verhältnisse an sich halte erfahren

müssen, und wie

Görres unter dem Einfluß seiner Zeit in die extreme Richtung

hineingetrieben war.

Welche neue Bewegung

durch die

zweite

französische Revolution in die stockenden Zustände des öffentlichen Lebens kam, und welchen Aufschwung das deutsche Nationalbe­ wußtseyn besonders seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV.

gewonnen hat, ist schon oben S. 415 sqq. angedeutet.

Das historische Interesse steht in einem inneren Zusammen­ mit dem polischen und patriotischen, und die Geschicht­

hänge

schreibung

findet

den wahren Boden

in der vaterländischen Ge­

schichte; sie fordert zu ihrem Gedeihen vor Allem ein öffentliches Leben, da sie selbst ja die Wissenschaft des öffentlichen Lebens ist. Unsere Historiographie wurde zunächst von dem Impulse getragen, der von den Romantikern ausging, welche in ihren Bestrebungen

vornehmlich das nationale Element hervortreten ließen. Karl Ludwig von Woltmann (geb. 1770 zu Oldenburg,

studirte 1788 zu Göttingen; 1794 Professor der Geschichte in Jena;

seit 1799 als preußischer Hofrath in Berlin, zugleich Geschäftsträ­

ger mehrerer kleiner Höfe; 1813 flieht er vor den Franzosen nach Prag; gestorben 1817) steht in seiner

„Geschichte der Reforma­

tion" (1800) und in der „Geschichte des westphälischen Friedens"

(1808 sqq.) auf dem Gebiete der Nationalgeschichte. Er ist nicht frei von dem forcirten, genialisirenden Wesen der Romantiker, und ließ sich von Lieblingsgedanken und willkürlichen Vorstellungen in der Beurtheilung geschichtlicher Ereignisse leiten. Es fehlt ihm als

Historiker an Quellenstudium, und sein Bestreben, zu glänzen, tritt überall zu sichtbar hervor. In der Kunst der Darstellung wett­ eiferte er mit Schiller, und opfert dieser nur allzuoft die historische Treue. Seine „Memoiren des Herrn v. S—a" (1815) haben ein entschieden romantisches Gepräge, und sind eine Art Denkwür­ digkeiten, in welchen vorzüglich das Nationalliterarische besondere

Berücksichtigung findet. Berthold Georg Niebuhr, geb. 1776 zu Kopenhagen, Sohn Carsten Niebuhr's, des berühmten Reisenden, verlebte seine Kindheit und Jugend zu Meldorf in Süderdithmarschen in stiller Zurückgezogenheit und offenbarte schon früh ein großes Lerntalent,

wodurch er sich einen bewundernswürdigen Reichthum von Sprachkenntniß erwarb. Bei seiner überwiegenden Receptivität und dem großen Lerneifer, der ihn der äußeren Welt entfremdete, erzeugte

Biese deutsche Literaturgeschichte. II.

43

674

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

sich in ihm eine Schüchternheit und Befangenheit, welche tr auch

auf der Handelsakademie in Hamburg, wohin ihn sein Vater schickte, nicht überwand, und auf der Universität Kiel, die er 1794 bezog und zwei Jahre lang besuchte, erschloß sich ihm gliichfalls nicht das freie, thatkräftige Jugendleben. Mit Eifer warf sich der

junge Niebuhr auf die Wissenschaften; er hörte historische, juristische

und

naturwissenschaftliche

Vorlesungen

und

widmete

dec kriti­

schen Philosophie Kant's großen Fleiß, ohne daß er jedoch einging

auf die höhere und freiere Gestaltung der Vernunftidcen, die von

Fichte's begeistertem Idealismus ausging; es erfüllte ihn vielmehr ein gewisser Abscheu vor einer Philosophie, welche die welthistorische

Bedeutung der französischen Revolution nachwics und in derselben

den nothwendigen Proceß der wahrhaften Gestaltung des Völker­

lebens erkannte.

Nach Beendigung seiner Studien kam Niebuhr

als Privatsecretair in das Haus des Grafen Schimmelmann nach

und gewann jetzt nach und nach immer mehr die Ueberzeugung, daß die Wissenschaft sich dem Leben zuwenden müsse, Kopenhagen,

um die Resultate des Wissens in dieses zu pflanzen und eine grö­ ßere Herrschaft über das Leben selbst zu gewinnen. Er machte 1798 eine Reise nach England, und nach seiner Rückkehr überwog entschieden das praktische Interesse das wissenschaftliche. Er wurde 1804 Direktor der Bank in Kopenhagen, neben welcher Beschäfti­ gung er seine philologischen Studien besonders des Arabischen als Erholung fortsetzte. Im Jahr 1806 trat er in preußische Dienste, für welche er durch den Minister v. Stein gewonnen wurde; als dieser aber von seinem Posten abtrat, und Niebuhr sich später in

Hardenberg's Verwaltung nicht zu finden wußte, so trat er 1810 aus dem praktischen Staatsdienste und ward an Joh. v. Müller's Stelle zum königlichen Historiographen ernannt.

Es begann jetzt

in Niebuhr's Leben der wichtigste Abschnitt, nachdem er von dem

Geschäftsleben, worin er sich nie recht heimisch gefühlt hatte, zu Seine Beschäftigung mit dem

seinen Studien zurückgekehrt war.

Alterthum gab ihm eine gewisse aristokratische Gesinnung, und über seinem Interesse für die antiken Zustände verkannte er die größeren und höheren Bestrebungen der modernen Zeit. Sein Cassandragemüth, wie er es selbst nennt, sah in der Gegenwart und Zukunft nur Flachheit, Schlechtigkeit und Anheben der Barbarei; so sehr er auch die Mängel des Alten erkannte, haßte er dennoch aus Pie­

tät nichts mehr als die Neuerungen.

Diese Unentschiedenheit ging

aus einer inneren Disharmonie hervor, deren Daseyn, wie er selbst

675

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

gestand, er bis in die frühsten Jahre verfolgen konnte; er zog sich da­

her in seinen wissenschaftlichen Forschungen ausschließlich auf die Ver­

gangenheit zurück, weil diese wenigstens nicht unmittelbar durch ihre Kämpfe und Widersprüche verletzte; nur schmerzte es ihn, daß die antike Welt nicht mehr sey, und er empfand später in Italien nicht

Freude über das ewige Rom, gangene.

sondern nur Trauer über das ver­

Niebuhr entwickelte in Berlin die höchste Energie

der

Forschung auf dem Gebiete der römischen Geschichte, und aufge­

muntert durch die große Theilnahme, welche seine Vorlesungen fan­ den, arbeitete er seine „römische Geschichte" aus, deren erster Band

1811 erschien (3. A. 1834 — 35 in drei Bdn.).

Dies Werk giebt

Zeugniß von der Schärfe des ausgebildetsten Verstandes, die sich bis zur vollendetsten Virtuosität gesteigert hat, und ist von Seiten

der

kritischen

Richtung

Geschichtschreibung

der

Denkmal des forschenden Geistes und eine

ein

schönes

unvergängliche Zierde

der Wissenschaft. In den Jahren 1816 — 24 war Niebuhr preu­ ßischer Gesandte in Rom, und nach seiner Rückkehr hielt er Vorle­

sungen in Bonn, wo er 1831 starb. Tief hatte ihn das Jahr zuvor der Ausbruch der sranzösischen Revolution erschüttert, und

in seiner Mißstimmung gab sich ebenso sehr der Mangel eines un­ befangenen Blicks in die große Aufgabe unserer Zeit zu erkennen als der tiefe schneidende Zwiespalt, welcher durch das Innerste von Niebuhr's Wesen ging [842J.

Friedr. Wilken (geb. 1777 zu Ratzeburg, studirte 1795 zu Göttingen; 1805 Professor der Geschichte in Heidelberg, 1808 Di­ rektor der dortigen Universitätsbibliothek; 1816 vermittelte er in

Rom die Rückgabe der Palatinischen Bibliothek; 1817 wurde er Oberbibliothekar uud Professor an der Universität Berlin; gest. 1841) zeichnete

sich

durch

gründliche,

gelehrte Forschungen und scharf­

sinnige historische Kritik aus; in seiner „Geschichte der Kreuzzüge nach morgenländischen und abendländischen Berichten" (1807—32,

7 Bde.), hat er ein klassisches Geschichtswerk geliefert.

Karl von Rvtteck, geb. 1775 zu Freiburg, bildete sich auf derSchule und der Universität seiner Vaterstadt, wo er Anfangs Pri-

vatdocent und Assessor bei dem Stadtmagistrat, später 1798 Pro­ fessor der Geschichte, 1816 Hofrath und 1817 Professor der Rechts­

und Staatswiffenschast wurde; 1819 trat er als Abgeordneter in der ersten Badenschen Kammer auf. Durch Reisen nach Wien, Paris, in die Schweiz und nach Italien hatte sich Rotteck eine freiere Weltanschauung erworben,

welche durch seine eifrige Ge-

43*

676

Zweite Periode.

Von dem ersten Viertel

schichtsforschung noch eine bestimmtere Richtung erhielt. Bon fe­ sten Grundsätzen geleitet und von edlem Freiheitsmuth beseelt wirkte er anregend durch seine Vorträge und Schriften, welche anziehend waren durch geistvolle Auffassung und blühenden Stil.

Mit seiner

„Allgemeinen Geschichte" (9 Bde., 1813—18; 15. A. 1842) er­

öffnete er sich die Bahn für die Aufgabe seines Lebens, um mitzu­ wirken zur Begründung der politischen Freiheit Deutschlands. Er behandelte die Geschichte vorzüglich in ihrer Wirkung aufs Gefühl

und auf den Willen; er forderte von derselben, daß sie die mora­ lische Kraft erhöhen, Liebe zur Tugend und Haß gegen das Laster einflößen und Begeisterung zur großen That geben solle; deshalb dürfe sie nicht bloß zum Verstände, sondern auch zur Imagination

und zum Herzen reden; die Belehrung selbst gewinne eine eindring­ lichere Kraft und dauerndere Wirkung, wenn sie in belebter Sprache

ertheilt werde; es verwandte daher Rotteck auch auf Einkleidung

und Stil

eine

besondere Sorgfalt.

Da

er

die Geschichte vom

Standpunkte des Liberalismus behandelte, so ist das subjectiv reflectirende Element vorherrschend und an die Stelle einer objectiven

Behandlung tritt eine von bestimmten politischen Ideen geleitete Kritik der Thatsachen; in Verbindung mit dieser tendenzartigen

Richtung steht das Rhetorische in der Darstellung. Die Welgeschichte sollte gleichsam eine Schutzrede der unterdrückten Menschheit gegen ihre Gewaltherrscher seyn, und als solche hat Rotteck's allge­

meine Geschichte eine weit verbreitete populäre Wirkung gewonnen, was

sich in ihren fünfzehn Auflagen deutlich zu erkennen giebt.

Rotteck

wurde bei seiner Liebe für Freiheit und bei seinem tiefen Rechtsge­ fühl der Vorkämpfer und Chorführer des süddeutschen Liberalismus,

und im Jahr 1831 gelangte er, verbunden mit Welcker, auf den Gipfelpunkt seiner parlamentarischen Thätigkeit, in welcher er uner­

müdete Ausdauer und feste Willenskraft bewährte.

Als er unter

dem Einfluß des ihm widerstrebenden Aristokratismus seine Ent­ lassung aus öffentlichem Amte erhielt, blieb er doch in seiner Unab­ hängigkeit für die geistige und politische Hebung der Menschheit unausgesetzt thätig bis zum Tode, d. 26. Nov. 1840. Heinrich Luden, 1780 zu Lockstadt im Bremischen geboren, Sohn eines schlichten Landmanns, legte den Grund zu seiner wis­

senschaftlichen Bildung seit 1796 in der Domschule zu Bremen. Er ging 1799 auf die Universität Göttingen, wo ihn neben seinem

Berufssach, der Theologie, historische und philologische Studien be­ schäftigten. Bekannt machte er sich als Historiker zuerst durch ge-

677

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

lungene Biographien „Christian Thomasius" (1805) und „Hugo

Grotius" (1806), in denen er vorzüglich die literarische Bedeutung

jener beiden Männer hcrvorhob.

Im Jahr 1806 wurde er auf

Empfehlung Joh. v. Müllers, der das Talent des jungen Mannes

früh erkannte, außerordentlicher Professor der Philologie in Jena; 1810 erhielt er das durch den Tod des Professor Heinrich erledigte Lehramt der Geschichte. Luden wirkte durch seine historischen Vorträge

im hohen Grade anregend auf die studirende Jugend; belebt von dem patriotischen Geiste seiner Zeit pflegte er besonders den Keim der Vaterlandsliebe in den jungen Gemüthern. Durch seine „Ne­ mesis, Zeitschrift für Politik und Geschichte" (1814—18), war er bestrebt, die patriotische Politik und den nationalen Volksgeist mit

lebendigster und eindringlichster Ansprache zu fördern.

Die Vater­

landsliebe bildete den Mittelpunkt sowol in seinen akademischen Vor­ trägen als auch in seinen literarischen Arbeiten, und die politische

auf Patriotismus sich stützende Weltanschauung war die Grundidee welche seine geschichtlichen Forschungen und Darstellungen

leitete.

Im Jahr 1811 gab er sein „Handbuch der Staatsweisheit und Politik" heraus, 1814 die „Allgemeine Geschichte der Völker und Staaten des Alterthums;" in dieser, wie auch in der „All­ gemeinen Geschichte der Völker und Staaten des Mittelal­ ters" (1821, 1823) entwirft er ein anschauliches Bild des Völkerlebens in einer gehaltvollen, ansprechenden Darstellungs­ weise.

Sein Hauptwerk „Geschichte des deutschen Volks" (seit

1825) hat er nicht weiter als bis zum zwölften Bande vollen­ det und ist damit nur bis in die Zeiten der Hohenstaufen gelangt. Obgleich manche Abschnitte trefflich behandelt sind, so ist doch der historische Stoff zu wenig bewältigt; die Darstellung verliert sich in mancherlei Abschweifungen und in maßlose Breite. Luden's Haupt­

wirksamkeit

war in seinen Vorlesungen enthalten; sein Vortrag

zeichnete sich aus durch Klarheit der Entwickelung, und seine Rede

war gehalten und doch eindringlich, schön und gewählt, ohne gesucht zu seyn.

In

den

letzten Jahren wurde

seine Thätigkeit

durch

körperliches Leiden vielfach gestört, und er starb den 23. Mai 1847. Friedr. Ludwig Georg v. Raumer, geb. 1781 in Wör­

litz bei Dessau,

studirte in Halle und Göttingen vorzüglich Ge­

schichte, ward 1811 Professor der Geschichte und Staalswissenschaft in Breslau, 1819 Professor an der Universität Berlin und Aka­ demiker.

In seiner früheren Periode stand er als Freund Solger's,

Tieck's, v. d. Hagen's und der Schlegel in näherem Zusammen-

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

678

hange mit der romantischen Schule.

Ruf erwarb er sich zuerst

durch die „Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit" (1823 — 25; 2. A. 1840—41), wozu seine Vorarbeiten noch in die frühere Periode hineinreichen, in der seine Sympathien für das Mittelalter, für Kaiser und Reich, für Pabst und Kirche, für Rittcrthum u. s. f.

vorherrschten.

Dies Werk fand in seiner geschmackvollen Darstel­

lung großen Beifall;

es wurde ein historisches Lesebuch für alle

Klassen der Gesellschaft, und trug dazu bei, das Interesse der Deutschen an ihrer Nationalgcschichte zu wecken, wie sehr auch im Einzelnen eine flüchtige Benutzung der Quellen und eine oft zu unentschiedene Auffassung der allgemeinen das Mittelalter in der damaligen Zeit bewegenden Ideen mit Recht gerügt worden ist.

Später machte sich Raumer von seiner romantischen Vorliebe für das Mittelalter frei und wandte sich der neueren Geschichte zu; er

begab sich auf Reisen, um in den Archiven ein umfassendes Quel­ lenstudium anzustellen. Seit 1830 hat er verschiedene Reisen nach Frankreich, England, Italien gemacht, und die Resultate derselben

mitgetheilt theils in seinem „historischen Taschenbuch" (feit 1829), durch welches er manche treffliche Aufsätze und Monographien ver­ anlaßte,

theils in Briefen

und

in actenmäßigen Darstellungen,

theils in seinem zweiten größeren Geschichtswerk „Geschichte Europa's seit Ende des 15. Jahrhunderts" (1832 — 43 , 7 Bände). In diesem herrscht der Mangel an Bestimmtheit und Entschieden­ heit der Auffassung, eine gewisse Principlosigkeit vor, bei der mit dem Satze „die Wahrheit liegt in der Mitte" sich ein Alles ni-

vellirendes Räsonnement verbindet, wodurch die Gegensätze, die sich

in dem Leben der Geschichte selbst erzeugen und zu neuen, höheren

Gestalten forttreiben, verwischt werden.

Aus einem solchen farblo­

sen Justemilieu, welches, sich neutral haltend, nur mit dem Reflectiren nach beiden Seiten hin sich begnügt, bildet sich keine be­ stimmte positive Ansicht hervor, und es entsteht zuletzt eine Be­ griffsverwirrung, die es nicht zu einem klaren, in sich abgerundeten Geschichtsbilde zu bringen vermag.

In dem Werke über England

(1835, 41), und über die vereinigten Staaten von Nordamerika (1845) zeigt sich

Raumer mit einer entschiedeneren Färbung als

Freund des Fortschritts. In der neusten Zeit giebt er seine „Vor­ lesungen über die alte Geschichte," welche 1821 zum ersten Mal

tm Druck erschienen, von Neuern heraus, und bringt die Thatsachen der alten Geschichte in Verbindung mit den Resultaten der For­ schungen der neueren Gelehrten und Reisenden, welche die von den

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

679

zu uns herübergekommenen Nachrichten durch autoptische Vergleichung der Schauplätze der Begebenheiten zu prüfen, zu sich­

Alten

ten und zu berichtigen bemüht gewesen sind.

Friedrich Christ. Schlosser (geb. 1776 zu Jever, studirte

in Göttingen, seit 1817 Professor der Geschichte in Heidelberg), faßt die für die Geschichtschreibung wesentlichen Momente auf eine bedeutsame Weise zusammen.

In seiner „Weltgeschichte" (I815sqq.),

bewegte er sich namentlich im ersten Theil noch fast ganz auf dem

Gebiete der Geschichtsforschung, der kritischen Untersuchung und Feststellung des Faktischen; in den späteren Theilen tritt immer entschiedener das Streben hervor, die Ursachen zu den Wirkungen,

die Gründe der Erscheinungen vornehmlich in den handelnden Per­ sonen nachzuwcisen, in ihren moralischen und intellektuellen Eigen­

schaften, so daß wir hier den Fortschritt von materieller Geschichts­

forschung zu psychologisch beobachtender Geschichtschreibung erkennen. Ohne die geringste Ostentation von Gelehrsamkeit werden anspruchs­

los die Begebenheiten mit einem sittlichen Ernste vorgeführt, und

wir gewinnen ein historisches Gesammtbild, welches in den bedeu­

tenden Persönlichkeiten, in der Sitte und der Cultur uns den Zu­ stand der Länder vergegenwärtigt. In der „Geschichte des 18. Jahr­ hunderts" (1823 sqq.) tritt die Rücksicht auf die Individuen in den Hintergrund; es wird hauptsächlich die in der Gesammtheit treibende Kraft der Richtungen, es werden die innerlich arbeitenden Mächte zur Anschauung gebracht. Wir sehen, wie die geistigen In­

teressen, die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Verhältnisse in die staatsthümlichen eingreifen, wir erkennen das Werden einer neuen Zeit, die Auflösung mittelaltriger Zustände und Ueberlieferungen, und

das Aufkommen einer neuen Denkart und Literatur.

Ueberall stützt

sich die Darstellung auf sorgfältiges Quellenstudium und halt sich

fern, subjektive Ansichten und Theorien den Thatsachen aufzudrangen. In der „Universalhistorischen Uebersicht der Geschichte der al­

ten Welt und ihrer Cultur" (1826—30, 9 Bde.) durchdringen

sich die besonderen Behandlungsarten der Geschichte zu einem selbst­ ständigen historischen Kunstwerke, welches die Geschichte der alten Welt als ein Ganzes in seiner inneren Entwickelung und äußeren

historischen Erscheinung darstellt.

Ueberall werden an den verschie­

denartigsten Erscheinungen die Ideen nachgewiesen, welche das Al­ terthum bewegten, und indem sich hinter der wirklichen Welt der ideale Hintergrund zeigt, läßt die Darstellung eine höhere Welt­ ordnung, die Vorsehung, die Gottheit, wie sie sich in den Ereig-

680

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

nissen offenbart, ahnen.

Schlosser's Geschichtschreibung ist epoche­

machend, insofern er der Erste war, welcher auf umfassende Weise die Verkettung der inneren Erscheinungen der geistigen Welt mit

den Begebenheiten und Ereignissen hervortreten ließ; er weiß auf die inneren Triebkräfte hinzuleiten, die in dieser oder jener Zeit den

Staat, seine äußeren Schicksale, seine Literatur und die Zustände

des öffentlichen und Privatlebens gestalteten.

Die sprachliche Dar­

stellung ist frei von allen rhetorischen Mitteln und gekünstelter Aus­ führung; sie wirkt durch die Reinheit und Unbefangenheit, mit welcher

das Leben in allen seinen Beziehungen gefaßt wird, durch die ein­ fachen Thatsachen, durch die Stellung, die ihnen gegeben, durch das

Licht, in das sie gerückt werden.

In der „Universalhistorischen

Uebersicht" ist Schlosser auch von der Herbheit des Urtheils, von

der moralischen Heftigkeit, die sich noch in seiner Geschichte des 18. Jahrhunderts zeigt, zurückgekommen; es spricht aus derselben ein rei-

neL'Gemüth, eine ehrenfeste Gesinnung, und das Ganze wirkt an­ regend auf Kopf und Herz zugleich [84S].

Friedrich Christoph Dahlmann, geb. 1785 zu Wismar, studirte in Kopenhagen und Halle Alterthumswissenschaften, und kam 1813 als außerordentlicher Professor der Geschichte nach Kiel; hier wurde er als Secretär der fortwährenden Deputation der schleswig-holsteinschen Prälaten und Ritterschaft,

die für ihr ge­

schichtliches Recht und für eine Verfassung kämpfte, den Kreisen des

Adels befreundet und in eine praktisch publicistische Thätigkeit ver­ setzt. Seine Schriften bezogen sich theils auf geschichtliche Begrün­ dung staatsrechtlicher Fragen, theils auf reine Geschichtswissenschaft,

besonders auf Quellenkritik.

In seiner „Quellenkunde der deutschen

Geschichte" (1810, 2. verm. Aufl. 1838), in welcher er die Folge der Begebenheiten für eigene Vorträge ordnete, ist er bestrebt, die

deutsche Geschichte als Ganzes zusammenzusaffen und bis in die Gegenwart hinabzuführen. Unter vielseitigen Gesichtspunkten be­ handelt er den historischen Stoff und verbindet damit eindringende

Gründlichkeit, welche ihren Gegenstand von mehr denn Einer Seite zu erforschen sucht.

Im I. 1829 wurde Dahlmann als Professor

der Geschichte nach Göttingen berufen, wo er durch den Gang des öffentlichen Lebens zur praktischen

Theilnahme am Staatswesen

veranlaßt wurde, indem er 1831 bei Abfassung des Entwurfs zu dem Grundgesetz des Königreichs Hannover und bei der Discussion desselben in der zweiten Kammer 1833 thätig war.

Nach der un­

glücklichen Katastrophe des Jahrs 1837 begab er sich nach Leipzig,

des 18. Jahrhunderts dis zur Gegenwart.

681

dann nach Jena und 1842 nach Bonn. Dahlmann wurde durch seinen praktischen Bildungsgang auf die Politik geführt, für die ihm die Geschichte den Ausgangspunkt bildet; seine historischen Studien

gewährten ihm tieferen Aufschluß über bestimmte Fragen des Staats­ wesens und bewahrten ihn vor einseitigen Vernunfttheorien.

Bei

seiner vorherrschenden Besonnenheit und Mäßigung wurde er der Politiker der gegebenen Zustände, und sein Ideal ist das Gute, was unter den bestehenden Verhältnissen möglich ist; seine Gesinnungstüchtigkeit und Wahrheitsliebe flößte Vertrauen zu seinem politischen Cha­ rakter ein.

In seiner „Politik" (1835,2. verm. Aufl. 1847) bildet die

Darstellung der englischen Verfassung einen Haupttheil; mit dieser wurde er während seines Aufenthalts in Hannover noch vertrauter,

nachdem er schon in Kiel eine Vorliebe für dieselbe gewonnen hatte.

Als Historiker faßt er die Geschichte als einen sich fortentwickelnden lebensvollen Organismus auf, und verbindet mit Gründlichkeit der

Kenntnisse das Streben, die historischen Ereignisse in ihrem Geiste

zu erfassen und in ihrem Bezüge zur Idee des Menschlichen.

Hier­

von zeugt seine „Geschichte von Dännemark" (1840 — 43), so wie auch seine „Geschichte der englischen Revolution" (1844) und der

„französischen Revolution" (1845); die beiden letzteren Schriften

gewinnen eine direktere Beziehung zur Gegenwart, indem die revo­ lutionäre Vergangenheit in ihrer Bedeutung für die politischen Fra­

gen der neuesten Zeit aufgesaßt wird.

Ernst Wilh. Gottlieb Wachsmuth (geb. 1784 zu Hil­ desheim, studirte 1803 in Halle; 1820 Professor der alten Litera­ tur in Kiel; 1825 Professor der Geschichte in Leipzig) trat in sei­

ner „Geschichte der Römer" (1819) der kühnen Kritik Niebuhr's entgegen und gab in seiner „Hellenischen Alterthumskunde" (1826 —

28, 2. A. 1843—45) eine umfassende Darstellung des griechischen

Staats- und Volkslebens.

Außerdem bewährte er sich in mehreren

trefflichen, auch formell ausgezeichneten Schriften: in den „Dar­ stellungen aus der Geschichte der neueren Zeit" (1831 — 32), in

der „Geschichte des deutschen Bauernkriegs" (1834), in der „Eu­ ropäischen Sittengeschichte" (1831—39) und in der „Geschichte

Frankreichs im Revolutionszeitaltcr" (1840—44) als einen gründ­ lichen und geistreichen Geschichtschreiber.

Georg Heinrich Pertz, 1795 zu Hannover geboren, stu­ dirte in Göttingen, und ließ 1819 seine „Geschichte der merovingischen Hausmayer" erscheinen. Wegen dieser Arbeit wurde er Mit­ glied der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, und auf

682

Zweite Periode. Von dem ersten Viertel

Anlaß des Hannöverschen Ministers Freih. v. Stein durchsuchte er seit 1823 fast sämmtliche Archive Europa's zum Zwecke der alteren

deutschen Geschichtskunde und begann die äußerst wichtige Samm­ lung der Momunenla Gennaniae hislorica (1835 sqq.), wodurch

er sich um ein gründliches historisches Quellenstudium wahres Ver­

dienst erwarb.

Im Jahr 1841 kam er als Oberbibliothekar nach

Berlin, und hier hat er sich in Gemeinschaft mit I. Grimm, L. Ranke, K. Lachmann und K. Ritter vereinigt zu der „Geschicht­

schreibung der deutschen Vorzeit in deutscher Bearbeitung."

Franz Leopold Ranke (geb. 1795 zu Wiehe in Thürin­ gen; 1818 Oberlehrer am Gymnasium zu Frankfurt, seit 1825 Pro­

fessor der Geschichte in Berlin) machte sich zuerst bekannt durch die „Geschichte der romanischen und germanischen Völker" (1824) in

welcher er, gestützt auf sorgfältige Erforschung und Nachweisung der

Quellen, die Kämpfe Maximilians 1. mit Frankreich und den großen Wendepunkt des Mittelalters und der neueren Zeit darstellt. Von gründlicher urkundlicher Forschung zeugt auch sein Werk „Fürsten

und Völker von Südeuropa im 16. und 17. Jahrhundert;" der erste Band (1827) enthält frische Lebensbilder von Karl V. und dem osmanischen Reiche, Mailand, Philipp II., meist venetianischen

Gesandschaftsberichten entnommen. Es zeigt hier Ranke eine große Kunst im Schildern und Portraitiren, kleine anekdotenartige Züge hcrvorzuheben und auf diese Weise die Charaktere bis ins Kleinste zu individualisiren. Der zweite bis vierte Band unter dem Titel „die römischen Päbste, ihre Kirche und ihr Staat im 16. und 17.

Jahrhundert" (1834 sqq. 3. A. 1843 — 44) führt in die Verhält­ nisse und Zustände des Pabstthums ein, in die Zerwürfnisse der äußerlich siegreichen Herrschaft des Pabstes, und es wird die geheim-

nißvolle Macht äußerer Einflüsse enthüllt, wodurch die unangefoch­ tene Hoheit der alleinseligmachenden Kirche überwunden und in ihr die überraschende Wahrheit hervorgerufcn wurde, daß man sich nur

zu lange einer blendenden Täuschung überlassen habe. Auch hier bewährt Ranke in der Darstellung der Individuen mit ihren Ein­ sichten und Absichten, mit ihren Leidenschaften und Schwächen ein großes Talent; wir werden eingeweiht in die geheimsten Pläne und Absichten der handelnden Personen und schauen in die Falten ihres Herzens. Einer solchen historischen Portraitmalerei ist der scharf

pointirte, in kurzen, kleinen Sätzen sich bewegende Stil angemessen.

Durch diese historischen Werke bahnte sich Ranke den Weg zu seinem

bedeutendsten Geschichtswerke „Deutsche Geschichte im Zeitalter der

des 18» Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

683

Reformation" (seit 1839; 2. A. 1844), in welchem er die Refor­ mation in ihrem Zusammenhänge mit der Entwickelung des deut­ schen Reichs und dem Gesammtleben der Nation ausfaßt.

Er för­

dert hier durch seine Kunst der historischen Darstellung nicht bloß die Erkenntniß der Zeiten und Personen des Reformationszeitalters, sondern er läßt auch anschaulich hervortreten das Leben und den Conflict der Gegensatze zwischen dem Alten und Neuen und ihr schöpferisches Zusammentreffen, wodurch das Resultat der Bewegung zu Stande kommt.

Ranke begründete daher immer mehr in seiner

Geschichtschreibung den Ruhm genetischer Anschaulichkeit, innerer Be­ lebung des Gegenstandes, Kunst der Charakteristik und der Schilde­ rung; er weiß die Thatsachen geistig zu verklären, und Personen und Ideen in lebendiger Gestalt vor das geistige Auge zu führen. Gustav Ad. Harald Stenzel (geb. 1792 zu Zerbst, studirte in Leipzig, trat hier 1816 als akademischer Lehrer auf und

kam 1820 als Professor der Geschichte nach Breslau) folgte in der Kritik der Quellenschriststeller dem leuchtenden Beispiele Ranke's, und bewährte sich als

dessen würdigen Genossen in seiner „Ge­

schichte Dcutschland's unter den fränkischen Kaisern" (1827—28).

In seiner „Geschichte des preußischen Staats" (1830 — 41) ist der sorgfältig gesammelte Stoff gut geordnet und durch inneren Zusam­ menhang verknüpft.

Heinrich Leo, geb. 1799 in Rudolstadt, erhielt daselbst seine

erste wistenschaftliche Bildung, auf welche besonders Abeken und Göttling einen großen Einfluß ausübten. Als er 1816 zur Univer­ sität abging, um in Breslau Medizin zu studiren, lernte er auf seiner Durchreise in Berlin Jahn kennen, durch den eine völlige

Aenderung seines Lcbensplanes bewirkt wurde. Leo entschloß sich, in Breslau Philologie zu studiren, um als Lehrer auf die deutsche Jugend ;u wirken. Er wurde mit Wolfg. Menzel bekannt, sowie während seines Aufenthalts in Jena mit vielen befreundet, welche

demagogscher Umtriebe wegen später beschuldigt wurden.

Von

seiner bisherigen Richtung einlcnkend, ging er, besonders durch Rei­ sig bestinmt, nach Göttingen und faßte das Geschichtsstudium ent­

schiedener ins Auge.

In Göttingen widmete er sich vorzüglich dem

Studium der Quellenschriftsteller des Mittelalters, und 1820 trat

er als ?rivatdocent in Erlangen auf; 1822 ging er nach Berlin,

wo er flrißig Hegel'S Vorlesungen besuchte.

Im Jahr 1823 machte

er, um italienische neuere Urkundenwerke zu studiren, eine Reise nach Italien. Nach seiner Rückkehr hielt er in Berlin Vorlesungen, und

684

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

kam 1828 als außerordentlicher Professor der Geschichte nach Halle. Leo ging von einer freisinnigen Geschichtsbetrachtung aus; er schrieb zuerst „über die Verfassung der lombardischen Städte" (1820), welche Schrift er später vervollständigte durch die „Entwickelung der Verfassung der lombardischen Städte" (1824). Im 1.1828 erschienen seine „Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Volks." Hier tritt schon in Bezug auf seine Geschichtsauffassung im Gegensatz einer bloß äußerlichen geistlosen Reccption die Entschiedenheit hervor, mit welcher er den historischen Stoff seiner subjektiven Ansicht unterwirft. Es widerstrebt ihm jetzt noch das theokratische Element, und er sieht in der Geschichte des jüdischen Volks nur eine menschliche Ge­ schichte jüdischer Hierarchie. Aus seinem umfassenden Studium italienischer Urkundenwerke ging seine „Geschichte Italiens" (1829 — 32, 5 Bde.) hervor, sein gediegenstes Werk, welches seinen Ruf als einen unserer ersten Historiker begründete. Wir erhalten hier ein historisch entwickeltes Bild des italienischen Volkscharakters, der besonders in dem reichen Leben der italienischen Städterepubliken des Mittelalters dargelegt wird. Die Darstellung ist meistens ob­ jectiv gehalten und von wahrhaft historischer Kraft und Würde. Die Resultate seiner mittelaltrigen Forschungen legte er nieder in seinem „Handbuche der Geschichte des Mittelalters" (1830), in welchem er eine neue Grundlage gab für die Auffassung mittelaltriger Zustände; die Behandlung zeugt ebenso sehr von der Tiefe und Schärfe seines eindringenden Geistes als von der Fülle seiner historischen Gelehrsamkeit. Mit diesem Handbuche macht Leo den Uebergang von seiner freien rationalistischen Richtung zur Anschauungs­ weise des Mittelalters. Es bildete sich, indem er mehr und mehr den zusammenhaltenden Kräften des Gemüths als der tren­ nenden Thätigkeit des Verstandes sich zuwandte, immer bestimmter seine Ansicht heraus von dem christlich-germanischen Staat, von dem Feudal- und Corporationsstaat und von der Hierarchie; er entwarf sich einen Jdealstaat, welcher zuletzt ihm den einzigen Maßstab ab­ gab für die Kritik alles Modernen. In seinen „Studien und Skizzen zur Naturlehre des Staats" (1833) giebt sich entschieden seine Vorliebe für die naturmäßigen, organischen, unbewußt sittlichen Anfänge der Völker und Staaten zu erkennen; in diesen sieht er dasjenige, was allein festzuhalten sey, und verkennt in dem ge­ schichtlichen Proceß die Freiheit geistiger Entwickelung und geistigen Fortschritts, welcher durch die Entzweiung und durch das Verder­ ben des Früheren zu höheren, reicheren Gestaltungen forttreibt.

veS 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

685

Sein „Lehrbuch der Universalgeschichte" (1835—44, 6 Bde.) giebt

das vollständigste Zeugniß seiner reaktionären Richtung gegen die freie Fortentwickelung des geistigen Lebens in Staat und Kirche.

Wenn auch Leo in seiner allgemeinen

Geschichte

ebensowol den

großen Umfang seines historischen Wissens bezeugt als auch Tiefe und Schärfe seines Geistes, mit welchem er den Stoff bewältigt

und in ein neues Licht stellt, so gelangt er doch nicht zu der innern,

wahrhaften Objektivität.

Der wesentliche Inhalt seiner zu Grunde

liegenden Ansichten erscheint als Partciauffassung oft in einer lei.

denschaftliche» Form, und bei der vollen subjektiven Willkür in der

Behandlung der Thatsachen und Verhältnisse vermag er sich nicht Geschichtschreibung zu erheben. Es fehlt ihm das Vertrauen auf die Geschichte selbst, ob es ihr auch gelin­

auf die Stufe ächter

gen werde, zur Vernunft zu kommen, an Achtung vor ihrem un­

abänderlichem Gange, ob der Weg, den sie cingeschlagen, auch der rechte sey.

Am störendsten wird seine

in der neueren Geschichte,

einseitige Auffaffungsweise

indem diese

ihm

als eine Zugrable­

gung des idealen Staats und der Kirche erscheint, als ein ungegeheurer, schrecklicher Abfall. Es können aber die Kämpfe und opponirendcn Bestrebungen,

beruht, nicht Schärfe und

auf welchen das Leben der Geschichte beseitigt werden; ihre erst bann, wenn ein

durch Stabilitätsprincipien Bestimmtheit verlieren sie

neuer höherer Standpunkt gewonnen ist, für den die früheren Ge­ gensätze ihre Bedeutung verloren haben. Peter Feddersen Stuhr, geb. 1787 zu Flensburg, ward durch Görres, dessen Vorlesungen er 1806 — 7 in Heidelberg hörte,

der Schellingschen Philosophie zugeführt. Nachdem er sich zur weiteren Verfolgung seiner akademischen Studien theils in Göttin­ gen, theils in Kiel und Halle aufgehalten hatte, ging er nach Ber­ lin, nahm später Theil an den Freiheitskriegen und habilitirte sich

1821 an der Berliner Universität, wo er seit 1826 als Professor über die brandenburgisch-preußische Geschichte, über Mythologie und

Philosophie der Weltgeschichte Vorlesungen hält.

Stuhr hatte bei

der Energie seines dialektisch bewegten Geistes und in Folge seines eifrigen Studiums der Geschichte nicht lange in dem Schematis­ mus der Schellingschen Jdentitätsphilosophie Befriedigung finden können, und indem er sich dem realen Stoffe der Philosophie zu­

wandte, gewann er durch die tiefere Erfassung der Metamorphosen des Völkerbewußtseyns die wichtigsten Resultate sowol für die My­ thologie als

für die Philosophie der Geschichte.

Seine Schrift

686

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

„über den Untergang der Naturstaaten" (1812), welche eine sieg­ reiche Polemik gegen Niebuhr enthält, legte den Grund zu seinen

nachherigen Forschungen; durch dieselbe bahnte er, wie Hegel sich

darüber aussprach,

der vernünftigen Betrachtung

und der Geschichte überhaupt den Weg.

der Verfassung

In seinen „Abhandlun­

gen über die nordischen Alterthümer" (1817) eröffnete er seine Po­

lemik gegen Creuzer, den Repräsentanten der Symboliker, welche als Anhänger Schelling's von der Uroffenbarung und dem äußeren

traditionellen Zusammenhänge der Religionen aller Völker ausge­ hen.

Stuhr war durch sein eigenthümliches Talent, in welchem sich

die poetische und historische Anschauung durchdringt, besonders be­ fähigt, die Urzustände der Völker zu erfassen und zum wissenschaft­ lichen Bewußtseyn zu bringen.

Vom Mittelpunkt des Gemüths

aus zur tieferen Erkenntniß fortstrcbend, vertiefte er sich in die allmählig fortschreitende individuelle Gestaltung des Bewußtseyns der Völker und ergründete die schaffende Gewalt der religiösen Phan­ tasie.

Er hält den Symbolikern gegenüber an dem volkstümlichen

Ursprünge und der nationalen Bedeutung jeder Mythologie fest, an der eingebornen, selbstgeschaffenen Religion, und in der Deutungs­ weise verwirft er im Ganzen die astronomische und physische Aus­

legung und sucht überall die ethische durchzuführen. gemeine Geschichte der Religionsformen (erster Band:

die

Religionssysteme

der

Seine „All­

der heidnischen Völker" heidnischen

Völker des

Orients, 1836; zweiter Band: die Neligionssystcme der Hellenen in ihrer geschichtlichen Entwickelung, 1838) ist eine lebendige, aus

dem innersten Mittelpunkt des Völkerlcbens hcrvorgcgangene Dar­ stellung der Mythologie, welche von national klassischer Bedeutung ist. Als Historiker hat sich Stuhr besonders die preußische Geschichte zu seiner Aufgabe gewählt, indem ihm Preußen als das Ziel und

die Erfüllung der europäischen Geschichte gilt. In seinem „sieben­ jährigen Krieg" (1834) und in seinen „Forschungen und Erläute­ rungen über Hauptpunkte des siebenjährigen Kriegs" (1842) sucht

er einen Beitrag zur gründlicheren Charakteristik dieses denkwürdi­ gen Krieges zu geben.

Stuhr ist aber bei einer reichen, kühnen,

reizbaren Phantasie nicht frei von politischen Lieblingsideen, durch welche er dem historischen Stoffe öfter Gewalt anthut.

Während

er als Mytholog einen Höhepunkt der Wissenschaft einnimint und

vorzüglich sich in den mythischen Perioden der Geschichte heimisch fühlt, wo der Geist der Völker noch als Naturbestimmtheit er­ scheint, gelangt er dagegen als Historiker in der Behandlung poli-

687

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

tischer und ethisch-religiöser Zustände der neueren Zeit nicht immer zu der wahrhaften, inneren Objectivität der Ausfassung.

Georg Gottfried Gervinus, geb. 1805 zu Darmstadt, erhielt aus dem Gymnasium daselbst seine erste Bildung; er wurde

von seinem Vater zum Kaufmann bestimmt und verlebte fünf Jahre in einer Ausschnitthandlung zu Darmstadt. Gerne beschäftigte er sich aber schon während dieser Zeit mit der Literatur, und vorzüg­

lich nahm er den Homer immer wieder zur Hand.

Zwei Umstände

waren es, die ihn mit der deutschen Literatur näher bekannt mach­

ten: das Theater in Darmstadt, welches damals in seiner Blüthe stand, und eine große Lesebibliothek, welche in jener Zeit angelegt wurde und

anfänglich im Hanse

Die mannigfaltigen Anregungen,

seines Vaters ausgestellt war. die Gervinus theils in eignem

Studium fand theils durch Freunde erhielt, bestimmten ihn zu dem

Entschluß, seinen bisherigen Lebensberuf aufzugeben und nach Gie­ ßen zu gehen, um dort Philosophie und Philologie zu studiren.

Er

fand aber in Gießen seine Erwartungen nicht befriedigt und begab sich nach Heidelberg, wo er in Schlosser seinen Lehrer und Meister

Mit der „Geschichte der Angel­ sachsen" habilitirte er sich als Privatdocent in Heidelberg, und in fand, dem er sich ganz hingab.

seiner „inneren Geschichte von Arragonien" (1833) zeigte er zuerst seine selbstständige Forschung und seine bestimmte Stellung, die er

den Geschichtsquellen gegenüber einnimmt.

Eine Reise nach Italien

(1832) veranlaßte seine „Geschichte der flvrcntinischen Historiogra­ phie," und es kamen jetzt seine Gedanken über den Unterschied zwischen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung, zwischen der Wissenschaft und Kunst der

Geschichte immer mehr

zur Reife.

Durchdrungen von der Ueberzeugung, die er gewonnen hatte über

den innigen Zusammenhang zwischen Leben und Wissenschaft, rich­

tete er sich entschieden gegen die unfruchtbare Notizengelehrsamkeit, und den um und

da er fand, daß von Schlosser Kunst und Poesie zu wenig in Bereich der historischen Auffassung gezogen sey, wandte er sich

so mehr diesem Gebiete zu, als er hier ebenso treue Zeichen Zeugen der Nationalität und ihrer Entwickelung sah als in

irgend einer anderen Aeußerung des Geistes, in Religion, Staat

oder Wissenschaft.

Seine Liebe zum deutschen Volke führte ihn auf

die Geschichte der deutschen Nationalliteratur, von welcher 1835

der erste Band erschien.

Im Jahr 1836 kam er aus Dahlmann's

Empfehlung an die Universität Göttingen, die er aber schon im folgenden Jahr wegen der bekannten Protestation verlassen mußte.

688

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

Er machte 1838 eine zweite Reise nach Italien,

und beendigte darauf, in Heidelberg sich aufhaltend, 1842 mit dem fünften Bande seine

Geschichte

der

poetischen

Nationalliteratur

der Deutschen.

In seinen „Grundzügen der Historik" (1837) hat er sich über seine

historische Richtung ausgesprochen; zur Aufgabe stellt

er sich dir

Geschichtschreibung, welche die Erforschung des Materials nur als

Vorarbeit benutzt, um ein selbstständiges historisches Kunstwerk zu schaffen.

Seine deutsche Literaturgeschichte hat in ihrer genetischen

Methode der Behandlung zuerst den Weg gebahnt, um einzudrin-

gen in den Entwickelungsgang des Geistes der deutschen Nation, wie dieser sich ausgeprägt hat in dein reichen Gehalte unserer Literatur.

Wie sehr auch der Verfasser einerseits den Gang der Darstellung öfter unterbricht durch geistreiche Reflexionen und Combinationen, indem er über die Eindrücke der literarischen Erscheinungen reflectirt und Vergleichungen zwischen dem Antiken und Modernen an­ stellt, wie sehr er andererseits zu entschieden seine subjektive Zu- und

Abneigung hervortreten läßt und, nach dem Momente der Bewe­ gung überwiegend, zu ungleichartig Licht und Schatten vertheilt in Bezug auf die Schriftsteller, in denen das Moment der Bewegung

oder der Ruhe vorherrschend ist; dennoch bleibt die Geschichte der deutschen Nationalliteratur von Gervinus ein epochemachendes Werk,

das in den Mittelpunkt der li'teraturhistorischen Bestrebungen der Gegenwart getreten ist. Nach dem Standpunkte, welchen die historische Wissenschaft in der neusten Zeit gewonnen hat, sind es vorzüglich zwei Weisen der Behandlung, die sich Geltung und Anerkennung verschaffen: die

eine, welche aus dem schon vorhandenen historischen Material schö­

pfend, in einer geistreichen und wirklich vernunftgemäßen Art die allgemeinen Ideen zum Bewußtseyn bringt; die andere, welche den Kreisen der Besonderheit sich ganz hingebend, in Specialgeschichten und monographischen Untersuchungen das in der Literatur vorhan­

dene Material in bedeutender

Art zu bereichern bestrebt ist.

Je

mehr sich beide Weisen der Behandlung gegenseitig ergänzen, um

so bestimmter wird das Ziel ächter Geschichtschreibung

gewonnen

werden, welche, philosophische Auffassung mit historischer Objektivi­ tät verbindend, den Geist zur Anschauung zu bringen sucht, der die Geschichte durchwaltet und die Ereignisse hervorbringt [844J.

Auf dem Gebiete der Biographie hat Barnhagen von Ense eine klassische Bedeutung gewonnen. Er wurde 1785 zu Düsseldorf geboren, studirte in Berlin zuerst Arzneikunde, dann

689

VeS 18. Jahrhundertö bis zur Gegenwart.

Philosophie und Literatur,

und gab hier mit Chamisso,

Hitzig,

Theremin u. A. den Musenalmanach für 1804 heraus, ging nach Hamburg, nach Halle, wo er Wolf, Schleiermacher, Steffens hörte, und nach Tübingen.

Im Jahr 1809 trat er ins österreichische und

1813 ins russische Militair.

Während dieser Zeit verband er lite­

rarische und politische Thätigkeit mit regsamem Eifer, und kam mit den angesehnsten und bedeutendsten Männern der Zeit in vielseitige In Paris erkannte man des gebildeten und tüchti­ gen Mannes diplomatisches Talent, und Varnhagen ging 1814

Beziehungen.

mit Hardenberg nach Wien; im folgenden Jahre kam er als Charge d'Affaires nach Paris, und wurde dann Minister-Resident in Karls­

ruhe. Dieselbe Stellung bei den Vereinigten Staaten in Nord­ amerika schlug er aus, und lebt seitdem als Geh. Legationsrath in Berlin. In seiner schriftstellerischen Thätigkeit treten, außer der kritischen, zwei Hauptrichtungen hervor, die geschichtliche in seinen Biographien und eine tagsgeschichtliche in seinen Bildnissen von Zeitgenossen und in den Denkwürdigkeiten aus seinem eignen Le­ ben.

Die früheren Bestrebungen, welche auf dem Gebiete der Bio­

graphie und Charakteristik Möser und Sturz (s. oben S. 268) ver­ folgt hatten, gewannen jetzt eine höhere Vollendung; Varnhagen übertraf seine Vorgänger sowol durch die künstlerische Behandlung des Stils als auch durch die universelle Weltansicht. Seine beiden Hauptwerke sind die „Biographischen Denkmale" (5 Thle. 1824— 1830) und „Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften" (2. A. 6 Bde. 1843); hier bewährt er seine Kunst in der Darstellung von Persönlichkeiten und Alles dessen was den Charakter des Biogra­

phischen erhält.

Da der Biograph die Darstellung durch das Medium seiner subjectiven Auffassung hindurchgehen läßt, so kommt

es besonders darauf an, daß er die mannigfaltigen Züge seines Helden nebst den Eindrücken, die er von ihm empfangen, zu einem Ganzen zusammenfaßt. Der universelle Standpunkt, von wel­ chem Varnhagen in die idealen Lebensrichtungen, in Philosophie, Kunst und Geschichte eingedrungen ist, so wie seine Welterfahrung befähigt ihn zu der vielseitigen Ausfassung und Beurtheilung der einzelnen Persönlichkeiten, wie andererseits sein künstlerischer Sinn zu der Abrundung

und inneren Vollendung seiner Biographien, und da er von dem Mittelpunkte der darzustellenden Charaktere aus sein Lebensbild allseitig zu entfalten und die Reflexionselemente

mit sinnlicher Anschaulichkeit auf eigenthümliche Weise zu durch­

dringen weiß,

so

gewähren

seine

Blese deutsche Literaturgeschichte. II.

biographischen Charakteristikey

44

690

Zweite Periode.

Bon dem erste» Viertel

ein Interesse, daS nicht sowol durch daS Stoffartige als vielmehr durch die künstlerische Behandlung vermittelt ist. Eduard Gans hat durch seine „Rückblicke auf Personen und Zustande" (1836) das Verständniß der Gegenwart durch Be­

leuchtung der wichtigsten und allgemein interessanten Seiten der­ selben zu befördern gewußt, und indem er seinen gutgewählten Stoff in lebensvollen Bildern reproducirt und durch geniale Auf­ fassung vergeistigt, so gewährt er sowol durch die Leichtigkeit und Eleganz der Darstellung einen ästhetischen Genuß als durch gründ­ liche Sachkenntniß eine gehaltvolle Belehrung. Da in Deutschland bisher das öffentliche Leben weniger ent­ wickelt war, so hat bei uns der Briefwechsel die Stelle der Me­ moiren vertreten. Die Briefsammlungen, welche seit dem Brief­ wechsel zwischen Schiller und Göthe (1828) in reicher Anzahl er­ schienen sind, haben für die Literaturgeschichte eine ganz neue und eigenthümliche Hülfsquelle eröffnet. Ein nicht bloß literarisches, sondern ein kulturhistorisches und politisches Interesse nehmen Ra­ he l's Briefe in Anspruch. Rahel Antonie Friederike Varnhagen von Ense (geborne Levin, nachher unter dem Familiennamen Robert bekannt, geb. in Berlin 1773, vermählt mit Varnhagen 1814, gest, in Ber­ lin 1833) verbrachte in ihrer Vaterstadt den größten Theil ihres Lebens in Verbindung mit fast allen ausgezeichneten Personen, welche dort längere oder kürzere Zeit verweilten. Ein längerer und wiederholter Aufenthalt in den vorzüglichsten Städten Deutschlands, in den besuchtesten Bädern u. s. w. verschaffte ihren Verbindungen immer größere Ausdehnung, und es gab nur wenige ausgezeichnet« Männer der Zeit, mit denen sie nicht in irgend eine Berührung kam. „Rahel; ein Buch des Andenkens für ihre Freunde," her­ ausgegeben in 3 Theilen von Varnhagen (1836), enthält Rahel's Briese, welche einen wichtigen Beitrag zur Geschichte unserer Zeit liefern, indem sie uns vertraut machen mit den geistigen Trägern unserer neueren Geschichte und uns eindringen lassen in den tiefe­ ren Kern, den eigentlichen Geist einer gebildeten Nation. Rahel nahm Theil an allen wichtigen und bedeutenden Erscheinungen, mochten diese die Menschheit oder einzeln« Personen, das Leben überhaupt oder Politik, Wissenschaft, Literatur und Kunst betreffen; alles dieses suchte sie zu erfassen und sich anzueignen, und mit ur­ sprünglicher Genialität wußte sie das Wahre und das Wesen in Dingen, an Personen und Verhältnissen zu treffen. Varnhagen

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

691

von Ense hat in der „Gallerie von Bildnissen aus Rahel's Um­

gang und Briefwechsel" (1836) den merkwürdigen Lebcnskreis, in

welchem sich Rahe! bewegte, näher umschrieben und individualisirt, und hier von Neuem seine Kunst bewährt, biographische Gemälde

mit sicherer Hand zu entwerfen.

3. Die oratorische Prosa. Die Beredsamkeit entfaltete sich im Verlaufe des 19. Jahrh, reicher und inhaltsvoller, indem sie nicht bloß auf dem Gebiete des kirchlichen Lebens gefördert wurde, sondern auch in Folge des Auf­ schwungs der patriotischen Gesinnung und durch Kräftigung des

nationalen Bewußtseyns eine vielseitigere Gestaltung gewann und in eine immer nähere Beziehung trat zu dem öffentlichen, politi­ schen Leben. S.

Die geistliche Beredsamkeit.

Die geistliche Beredsamkeit erhielt ihre weitere Entwickelung

unter dem Einfluß der besonderen Richtungen, die auf dem Gebiete der Theologie verfolgt wurden, und auf diese übte Kant's System der Philosophie die durchgreifendste Wirkung aus. Durch dasselbe wurde sowol die Acußerlichkeit der am Buchstaben klebenden Schul­

theologie (Orthodoxie), als auch die schrankenlose Willkür des frei­ geisterischen Naturalismus, so wie die Anmaßungen des gebetstolzen und gefühlssüchtigen Pietismus

siegreich

bekämpft.

Die Schrift

Kant's: „über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver­ nunft" (1793) gab den unmittelbaren Stütz- und Anhaltspunkt für die neue theologische Richtung zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Unerkennbarkeit Gottes, der Zweifel an einer direkt gegebenen Of­

fenbarung, die Gleichgültigkeit gegen den Beweis der Göttlichkeit einer Religion durch die Berufung auf Wunder, die Reduktion des

Cultus auf das Moralische, alle diese Elemente, welche in der Zeit­ richtung lagen, faßte Kant zusammen und erhob sie zu einem letz­

ten Abschluß.

Die Moralität ward das Centrum aller Religion,

und die Hauptwendung, welche die Theologie nahm, war die Ab­ straktion vom Dogmatischen und die Reflexion auf das Moralische. Man ließ die Dogmen über die Trinität, über die Menschwerdung

Gottes, über die Wirkungen des heiligen Geistes ganz in den Hin­

tergrund treten, da sie dem Verstände überall nur Widerspruchs­ volles darböten, ohne die Thatkraft zur Besserung des Lebenswan«

44*

692

Zweite Periode.

Bo» dem ersten Viertel

dels, worauf Alles ankame, besonders anzuregen.

Dieser Geist des

Kantischen Kriticismus wurde nach allen Seiten hin für die Theo­

logie zuerst durch K. F. Stäudlin (geb. 1761 zu Stuttgart, gest, zu Göttingen 1826) gefördert. H. E. G. Paulus (gleichfalls ein

Würtcmberger, geb. 1761, seit 1811 Professor in Heidelberg) kam dem Kantianismus durch die Exegese entgegen, sowie I. A. 8. Wcgscheider (geb. 1771 im Braunschweigschen, seit 1810 Prof, in Halle) durch die Dogmatik (1815).

Für die christliche Moral

nach Kantischen Principien war Eh. Fr. v. Ammon (geb. 1766 in Baireuth, seit 1813 Oberhosprediger in Dresden) thätig; für die praktische Theologie wirkte G. Fr. D inter (geb. 1760 zu Bor­

na,

seit 1816 Consistorial- und Schulrath in Königsberg, gest.

1831), und A. H. Niemeyer (geb. 1754 zu Halle, seit 1808

Kanzler der Universität Halle, gest. 1828); das Extrem erreichte diese theologische Richtung in I. Fr. Röhr (geb. 1777 zu Roß­

bach bei Naumburg, seit 1820 Generalsuperintendent in Weimar). Diesem neuen idealist-praktischen Rationalismus trat gegenüber der

Supranaturalismus, welcher die Offenbarungstheorie festhielt und die christliche Religion als eine außerordentliche aus dem Kreise der

Natur- und Menschengeschichte heraustretende Erscheinung betrach­ tete, die durch unbegreifliche Wahrheiten und Ereignisse eine von

aller Menschenvernunft geschiedene Wahrheit mittheilt.

In dem Supranaturalismus wurde die frühere Orthodoxie neu belebt, indem er mit den Waffen der Wissenschaft stritt, um die als Erbtheil

überlieferten heiligen Lehren des Christenthums bis aufs Aeußerste zu vertheidigen. Während der Rationalismus die höhere Belebung der Menschenvernunft durch göttliche Offenbarung verkennt und die

großen Thatsachen der christlichen Religion nach dem Maßstabe des abstrakten Sittengesetzes mißt, entrückt der Supranaturalismus die unbegreifliche Wahrheit dem Kreise aller menschlichen Entwickelung

und Ausbildung.

Auf eine tiefere Vermittelung dieses Gegensatzes

war Schleiermacher (s. oben) gerichtet und suchte den christlichen

Glauben in seiner Uebereinstimmung mit der Wissenschaft darzustel-

len.

Das Sündenbewußtseyn des Menschen führte ihn auf den

urbildlichen Christus, auf die Persönlichkeit des Erlösers, an wel­ chem die sündige Menschheit sich aufrichtet. Liebe und Erlösungs­

bedürftigkeit sind in Schleiermacher's Doctrin das Wesentliche, das mit dem überlieferten Christenthum übereinstimmt, während er alles

Andere, was dem Dogma angehört, mehr dem subjektiven Dafür­ halten preisgab. Bei seinem Bestreben, den Rationalismus mit

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

693

dem Supranaturalismus innerlich und geistig zur Versöhnung zu bringen, gelang es ihm nur die Disharmonien des Endlichen und

Ewigen im Leben des Geistes aufzudecken, und wenn Schleierma­ cher auch dahin gelangte, jene Gegensätze in sich selbst und für sich

zu vermitteln, so vermochte er doch nicht eine tiefere Vermittelung für die Wissenschaft herauszustellcn [S45]. Ein Mittelglied zwischen Schleiermacher und dem Rationalismus bildet Wilh. Leber, de

Wette, welcher 1780 zu Ulla bei Weimar geboren, 1807 Profes­ sor der Philosophie in Jena, 1809 der Theologie in Heidelberg und

1810 in Berlin wurde.

Wegen eines an Sand's Mutter geschrie­

benen Trostbriefes der Rechtfertigung des an Kotzebue begangenen Meuchelmordes angeklagt, ward er, ungeachtet seiner dagegen ein­ gereichten Erklärung, jene That nicht nur als ungesetzlich, sondern auch als unsittlich verworfen zu haben, 1819 seines Amtes entlassen, und folgte, als seine Erwählung zum zweiten Prediger an der Ka­

tharinenkirche in Braunschweig die landesherrliche Bestätigung nicht erhalten hatte, 1822 einem Rufe als Professor der Theologie nach Basel, wo er noch jetzt in segensreicher Thätigkeit wirksam ist. In der systematischen Darstellung der Theologie schloß er sich an das philosophische System seines Freundes Jak. Fr. Fries (geb. 1773, gest. 1842 als Professor der Phil, in Jena), welcher der negativen Seite der Kant'schen Kritik der Vernunft die unmittelbare Gültig­ keit des Glaubens und der Ahnung ewiger im Gefühl begründeter Wahrheiten gegenüberstcllte und dadurch sich der Jacobi'schen Glau­

benslehre näherte.

De Wette sprach seine durch die Philosophie

gewonnenen Ansichten in der Schrift: „über Religion und Theolo­

gie" (1815 u. 1821) aus; im Gewände einer Biographie gab er

in „Theodor oder des Zweiflers Weihe" (1822, 2 A. 1828) eine psy­ chologische Entwickelung des religiösen Lebens im Kampfe mit den Zweifeln der modernen Bildung, die sich in einer sittlich-ästhetischen

Auffassung des Christenthums lösen.

Seine „Vorlesungen

über

Religion, ihr Wesen, ihre Erscheinungsformen und ihren Einfluß

auf das Leben" (1827) enthalten eine Geschichte des religiösen Le­ bens in heidnischer und christlicher Zeit vom sittlich-ästhetischen Standpunkte in einer beredten und ansprechenden Darstellung.

De

Wette faßt die evangelische Geschichte symbolisch auf, und findet in dem Leben des in stetem Hinblick auf seinen himmlischen Vater wirkenden Jesus die Idee der Andacht, in dem am Kreuze han­ genden Christus ein Symbol der durch Aufopferung geläuterten

Menschheit, in der Auferstehung ein Bild des Siegs der Wahrheit,

694

Zweite Periode.

Bon dem ersten Viertel

und in der Himmelfahrt das Symbol des einstigen Triumphes und der ewigen Herrlichkeit der Religion.

Eine bestimmtere, gedanken­

mäßigere Vermittelung zwischen Glauben und Wissen wurde durch

die von der Hegelschen Philosophie ausgegangene spekulative Theo­

logie herbeigeführt.

Daub [846J und Marheineke (s. unten)

waren bestrebt, den tieferen Gehalt der christlichen Dogmen geistig zu durchdringen, und die Vernunft im Christenthum und das Chri­

stenthum in der Vernunft zu bewähren.

Die geistliche Beredsamkeit wurde ein treuer Spiegel der theo­ logischen Richtungen; die Anhänger des Rationalismus ließen in

ihren Predigten das dogmatische Element zurücktreten, und indem sie an den biblischen Text irgend einen Gegenstand der Moral und

das praktisch Nützliche anknüpften, trat nicht sowol das Leben des

Menschen in Gott, sein ewiges Heil in den Mittelpunkt, sondem vielmehr sein zeitliches Wohl, seine irdischen Lebensumstände.

Die

Predigt wuchs nicht aus dem biblischen Texte hervor, sondern nach­ dem das moralische Element gewonnen, blieb im weiteren Verlauf

der zu Grunde gelegte Text unberücksichtigt, aus welchem sich auf diese Weise alles Mögliche ableiten ließ. An den Festtagen, welche wesentlich auf dem dogmatischen Elemente beruhen, zeigt sich in den rationalisirenden Predigten recht anschaulich der Mangel eines tie­

feren Gehalts in der Auffassung der christlichen Glaubenslehren. Während nun in der rationalistischen Richtung das verständige Ele­

ment der Reflexion und die Zergliederung abstrakter Begriffe vor­ herrschend ist, macht sich in den Anhängern des Supranaturalismus das religiöse Gefühl geltend, welches seine kräftigste Anregung ge­ winnt in dem Sündenbewußtseyn und der Erlösungsbedürftigkeit,

und daher besonders anknüpft an die verdorbene und durch Adams

Fall gesunkene Menschennatur, die durch Christus erst wiedergeboren und durch sein Blut erlöst ist. Hier waltet die Richtung auf das innere Leben in Gott so vor, wie in der rationalistischen Predigt die Richtung auf äußere Lebensumstände; aber beiden Tendenzen gemeinsam ist, daß wenn auf der einen Seite das moralische und auf der anderen das zur Buße auffordernde Moment gewonnen,

der biblische Text nicht weiter genetisch entwickelt und geistig durch­ leuchtet wird, sondern die praktische Anwendung die Hauptsache Je mehr nun seit der Erhebung des deutschen Volks wäh­

bleibt.

rend der Freiheitskriege, in denen der sichtbare Beistand der göttli­ chen Macht alle Herzen ergriffen hatte, ein lebendiges religiöses Be­

wußtseyn überall erwachte, um so weniger konnten die bisherigen

de- 18. Jahrhunderts bi- zur Gegenwart.

695

einseitigen Richtungen auf dem Gebiete der Theologie Befriedigung ES regte flch zugleich ein tieferer wissenschaftlicher Geist, der sich nach Erkenntntß sehnte; die Gewalt der Berstandesbildung

gewahren.

der Zeit wurde allmählig durch das speculative Element der Philo­ sophie überwunden, welche die Einheit des Endlichen und Unend­ lichen tiefer erfaßte und begründete.

Je mehr die Ideen der neusten

Philosophie in das allgemeine Bewußtseyn übergingen, um so le­ bendiger war auch das Bestreben, das Göttliche im Glauben zu

ergreifen, den großen Gedankengehalt der Glaubenswahrheiten im­ mer tiefer zu durchdringen und in das eigenste Wesen des Geistes zu verwandeln [•**].

Es konnte daher auch nickt mehr eben so

wenig die trockene Moralpredigt als die eifernde Bußpredigt das neuerwachte religiöse Bedürfniß befriedigen.

Das Sollen muß im

Glauben und Wissen wurzeln, die Lehre in ihrer Wahrheit begriffen werden; es genügt nicht, bloß das Gefühl zu beleben, ohne das

tiefere Verständniß zu fördern, weil ohne die Erkenntniß der Lehre

die Zuversicht im Handeln fehlt.

Immer bestimmter giebt sich auch

bei den Geistlichen, die von der hohen Bedeutung ihres Berufs ganz durchdrungen sind, das Bestreben zu erkennen, den biblischen

Tert in der Predigt exegetisch zu beleuchten und dogmatisch zu ge­ stalten, und dann im Lichte desselben dir Lebensverhältniffe zu be­ trachten. Eine solche das Bibelwort entfaltende und tiefer deutende geistliche Rede eröffnet den Blick in das innerste Heiligthum des

christlichen Glaubens, und regt an, die Bibel selbst mit gläubigem Sinn zu lesen, und die darin enthaltenen ewigen Gedanken Got­

tes auch mit den eigenen Gedanken zu ergreifen und in Besitz zu

nehmen. Gegen Ende des vorigen und in den ersten Jahrzehnten des gegenwärtigen Jahrhunderts schloffen sich die geistlichen Redner, wie Haustein (gest. 1821 als Oberconsistorial- und Oberschulrath zu Ribbeck (gest. 1826 gleichfalls Oberconsistorialrath in Berlin), A. H. Niemeyer, H. A. Schott (gest. 1835 als Kir­ Berlin),

chenrath und Professor der Theologie in Jena), Ammon mehr

oder weniger an Reinhard's Predigtweise (f. oben S. 401) an, und besonders war es Schott, der thätig war, die Theorie der Bered­ samkeit zu fördern durch besondere hierauf bezügliche Schriften; die

Predigten der genannten Männer zeichnen sich aus durch Klarheit der Begriffe, warmes Gefühl, schönen Periodenbau und eine edle Sprache. Während sie dem Rationalismus schon manche Zuge­ ständnisse machten, sprachen sie doch immer mit hoher Achtung

696

Zweite Periode.

Bo« dem ersten Viertel

von der Kirchenlehre; dagegen traten Henke (gest. 1809), Veil, lobtet (gest. 1828), Tzschirner (gest. 1838), Dinter, Schuderoff, Röhr, Bretschneider als entschiedene Rationalisten auf. In ihren Reden zeigt sich Eleganz des Ausdrucks und rhetorischer

Schmuck, und außerdem ist ihnen eigenthümlich logische Klarheit und lichtvolle Darstellung, so wie neben den praktischen Nutzan­

wendungen

eine scharfsinnige psychologische Entwickelung, in der

namentlich Tzschirner noch Reinhard übertrifft. In den Predigten von den Anhängern des Supranaturalismus giebt sich im Allge­ meinen eine größere Einfachheit des Ausdrucks und geringere Kunst

der Rede zu erkennen, so wie auch öfter Vernachlässigung der logi­ schen Anordnung; sie sind theils einer strengen Orthodoxie zuge­

wandt mit vorherrschender Hinneigung zum Pietismus (Krum? machet, Hatms, Stier, Scheidet, Guerike) theils waltet lebensvoller in ihnen das mystische Element.

Am anschaulichsten

stellt sich die weitere Gestaltung der geistlichen Beredsamkeit im Ver­ lauf des gegenwärtigen Jahrhunderts in Schleiermacher, Drä-

seke, Harms, Theremin, Tholuck, Marheineke dar. Fr. Schleiermacher hatte im Christenthum die Fülle bet Weisheit und Göttlichkeit gefunden, und weil ihm die Gotteser­ kenntniß als die höchste Aufgabe des menschlichen Geistes erschien,

war ihm das Priesteramt ein heiliges.

Das Bedürfniß der Liebe

bildete den belebenden Mittelpunkt für seine gesammten geistigen

Anschauungen; von hier aus ging sein Glaube hervor an die Noth­ wendigkeit einer höheren erlösenden Kraft. In sich selbst erfuhr et diese Wirkung und schloß von dieser auf die Quelle zurück, auf die Göttlichkeit der Person Christi;

die Hinneigung zum Erlöser zu

einem immer festeren Bewußtseyn zu gestalten, ward die Hauptauf­ gabe seiner geistlichen Reden, und er versammelte um sich eine Ge­ meinde, die sich erquickt und gelabt fühlte von den Wirkungen ächt christlicher Erhebung

und Begeisterung.

Seine Rednerkraft

war

belebt von der Seele des Christenthums, und hinter Allem, was er sprach, stand die Versöhnung wie ein ferner Himmel; er deutete hin auf eine lichte Verklärung, als berge sie die Zukunft der kom­ menden Geschlechter.

Nicht suchte er die süßen Schauer des Pie­

tismus in den Herzen zu erregen, auch predigte er niemals Him­

mel und Hölle, um die Gemüther zu betäuben, sondern, indem er Jedem beides in dem eigenen Busen zeigt, führt er, die Furcht vor einem Jenseits beschwichtigend, auf den höheren Standpunkt, auf

welchem Jeder zum freien Gesetzgeber seiner selbst wird.

Einen

Ke- 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

697

Hauptnachdruck legt er auf den Conflict der inneren Freiheit mit

der von außen, von der Welt oder den Gesetzen kommenden Ge­ bundenheit, in welchem Kampfe das Individuum, wenn es auch nie siegreich hindurchdringt, immer in sich fester, individueller, die

Persönlichkeit immer persönlicher werden muß.

Nicht gab Schleier­

macher in seinen Predigten das, was er gedacht, als Resultat hin, um es als Festes und Fertiges aufzustellen, sondern Alles entstand ihm erst im Strome der Rede; immer ließ er die Art des Gewin­

nens, den Proceß seines Denkens schauen.

In

dem innigsten

Wechselverkehr mit seiner Gemeinde ließ er die Zweifel des reflecti-

renden Verstandes laut werden und stellte sie alle auf, in der siche­ ren Zuversicht, die leuchtende Vernunft und die wärmende Liebe

werde sie doch besiegen.

Sich zuwendend allen Heils Bedürftigen,

sucht er diesen das geheimnißvoll verschlossene Buch des Lebens zu

entsiegeln, indem er zuerst eingeht auf den Zweifel, dessen Einwür­ fen nachfolgt, aber sie zugleich durch die Macht des Verstandes selbst bekämpft, und dann, nachdem er alle Mächte des Innern

zum offnen Kampf aufgerufen, zur siegreichen Entwickelung des Po­ sitiven übergeht. Auf diese Weise wird das reflectirende Element,

welches dem positiven Christenthum widerstrebt, durch sich selbst bekämpft, die Skepsis wird niedergeschlagen und der ganze innere Mensch in Anspruch genommen, der sich gedrungen sieht, den eige­

nen Zweifel aufzugeben und dem Christlichen sich zu unterwerfen,

insofern er erkennt, daß der von Gott durch die Sünde abgesallene

Mensch nur durch Gott wieder zu ihm zurückgeführt werden kann, eine Grundüberzeugung, die sich durch Schleiermacher's gesammte

Geistesbildung hindurchzieht. Indem er so Jeden in sein eignes Herz zurückführt, ihn sich in sich selbst besinnen und erfassen lehrt, leitet er zugleich darauf hin, wie der Einzelne den Versöhnungsact an sich selbst zu vollziehen habe [84 8J.

Joh. Heinr. Beruh. Dräseke, geb. 1774zu Braunschweig, studirte seit 1792 zu Helmstädt, wurde 1795 Diaconus zu Möllen im Lauenburgischen, 1804 Pastor zu Ratzeburg, und 1814 Pastor

an der Ansgari-Kirche zu Bremen. Seit 1832 bekleidete er die Stelle eines evangelischen Bischofs und Generalsuperintendenten der Preußischen Provinz Sachsen zu Magdeburg; aus dieser Stellung nahm er seine Entlastung, und lebt mit seinem vollen Gehalt seit

1843 in Potsdam. In Dräseke zeigt sich anschaulich, wie er, mit einem phantasiereichen Gemüthe begabt, sich nach und nach von den Einflüssen rationalistischer Aufklärung befreit und immer tiefer in

698

Von dem ersten Viertel

Zweite Periode.

den positiven Kern des Christenthums einzudringen

bestrebt ist.

Wahrend seines Predigtamtes in Mölln war die rationalistische Auf­ fassungsweise bei ihm noch vorwaltend, und in seiner Abschiedspre­

digt von Mölln spricht er es aus, wie er treulich bemüht gewesen sey, das Heiligthum des Evangeliums zu eröffnen, sich aber dabei doch sagen müsse, daß er bis dahin, ohne es zu wissen, nur draußen vor

den goldnen Pforten stehe.

Das Köstlichste zu suchen und in der

Offenbarung zu finden, welche die Liefe der Gottheit in das Herz des Erlösten herabsenkt, wurde sein eifriges Bemühen während der Zeit, wo er Prediger zu Ratzeburg war.

In der Vorrede zur zwei­

ten Sammlung der „Predigten für denkende Verehrer Jesu" (1804

bis 12, 4. A. 1818) stellt er das Ideal des christlichen PredigtamteS auf, daß der Lehrer des Christenthums als Erzieher der Menschheit zum Heiligsten auf eine gänzliche Wiedergeburt des in­

neren Menschen dringen, und

im Strahle des Evangeliums

die

schlafenden, verwöhnten Gemüther wecken und stärken müsse; in dem Herrn und Meister allein wohne das wahrhaftige Leben, und nur die, welche sein göttlicher Geist treibe, könnten für Glieder am Leibe dieses erhabenen Hauptes gelten.

Dräseke's Predigten

erscheinen

jetzt als der einfache, klare, herzliche Erguß seines religiösen Gefühls

und Glaubens, ohne daß aber der christliche Inhalt des Bibelworts in seiner ganzen Tiefe allseitig entwickelt wird.

Die Beziehungen

auf äußerliche Lebensverhältnisse treten mehr in den Hintergrund; alle Weisheit soll ihren Ausgangspunkt von der ewigen Wahrheit

nehmen, die menschliche Vernunft durch das Fleisch gewordene Wort wiedergeboren werden.

Die Wiedergeburt

selbst aber wird mehr

nach ihren äußeren Erscheinungen dargestellt, als gezeigt, wie sie im Innern selbst vor sich gehe, und so von Innen heraus sich im Leben kund gebe und bewähre.

Das Handbuch für junge Christen

„Glaube, Liebe, Hoffnung" (1813, 4. A. 1818) ist durchdrungen von lichtvollen christlichen Gedanken; jedoch wird Christus noch zu sehr vom menschlichen Standpunkte betrachtet.

In der Vorrede zu

dieser Schrift stellt Dräseke rücksichtlich der Darstellung folgende Regeln auf: „die Darstellung sey nicht zu hoch, und gleichwol hoch

genug für

den erhabenen Gegenstand; nicht für die Gebildeten

ohne Reiz, und doch auch für die Schwächeren berechnet; nicht de­ clamatorisch, und doch ergreifend; ungeschmückt, und doch schön.

Der Ausdruck sey reich, um anziehend — geschmackvoll, um nährend—

bestimmt, um verständlich zu seyn.

Der Periodenbau geselle zur

Leichtigkeit — Klarheit, und zur Einfachheit—Wohlklang."

In

des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

699

Bremen beginnt ein dritter Abschnitt für Dräseke's Wirksamkeit; hier fand das Wort des Herrn, welches er verkündete, begeisterte

Aufnahme, und sein schönes Rednertalent trug dazu bei, in vielen Gemüthern die schlummernden Keime des Christlichen zu wecken. Ihm selbst erschloß sich immer umfassender das Verständniß deS

christlichen Glaubens, und in seinen „Predigten über die letzten

Schicksale unseres Herrn" (1818—21, 3 Thle.) thut er tiefe Blicke in die hochheilige Passionszeit, und in den „Predigten über freie Texte"

(1815, 2 Bde.), und „über freigewählte Abschnitte der heiligen Schrift" (1817, 2 Bde.) behandelt er das christliche Leben nach sei­

nen bedeutsamsten Momenten.

Der biblische Text wird in diesen

Reden nicht allseitig entfaltet, sondern dient nur zur religiösen Er­

regung ; die Anwendung aus das Leben bleibt die Hauptsache. Da Dräseke's Predigten vorzugsweise Ergüsse des religiösen Gefühls

sind, so ist daS empfindende Element, das Seelenvolle vorherrschend; seine Sätze als Ausdrücke der Empfindung sind kurz, in sich ge­

kehrt, und es geht der eine nicht immer aus dem anderen hervor;

nur die Stimmung beherrscht und bindet sie; dies giebt seinen Re­ Mit einer Fülle von Gedanken

den einen musikalischen Charakter.

und Gefühlen, mit einer Wärme, die vom Gemüth zum Gemüth dringt, verbindet Dräseke eine große Herrschaft über die Sprache; nur wird sein Ausdruck hier und da auf eine gesuchte Weise sententiös,

so

wie

er auch

nicht

selten

durch

spielende

Bilder,

durch Paradoxa zu überraschen und die Aufmerksamkeit zu fesseln

sucht [“•]. Claus Harms, geb. 1778 zu Fahrstedt, einem Dorfe im Dithmarschen, war der Sohn eines WindmüllerS; bis ins 19. Jahr

genoß er nur den Unterricht der Dorfschule und anderthalb Jahr den des Predigers.

Endlich erreichte er es, daß er 1797 auf die

Schule zu Meldorf kam;

seit 1799 studirte er zu Kiel, wurde

1802 Hauslehrer, 1806 Diakonus zu Lunden und 1816 Archidiakonus zu Kiel.

Seine am Reformationsfest (1817) erlassenen 95

neuen Theses über die völlige Verdorbenheit des Menschen und den

alleinseligmachenden Glauben bezeichnen seinen religiösen Stand­ punkt.

Harms spricht, ankämpfend wider die Vernunft des Zeit­

alters in folgerechten Schlüssen entschieden das Anathem wider alle Vernunft aus. Groß ist die Macht, welche er als Prediger aus­ übt, und als er vor mehreren Jahren den Ruf zu der evangelischen Bischofswürde für alle evangelischen Gemeinden in Rußland ab­

lehnte, sprach sich die Freude seiner Gemeinde über sein Bleiben

7VÜ

Zweite Periode. Bon dem ersten Viertel

laut aus.

Seine Rede ist einerseits milde und sanft, andererseits

kräftig und feurig, stets aber eigenthümlich und nicht ohne unge­ wöhnliche oratorische Wendungen; seine Ausdrucksweise ist auf das

Populäre und Faßliche gerichtet, und indem er auf Lehre und Er­ kenntnißmittheilung in der Predigt kein Gewicht legt, wendet er sich

ausschließlich an das Herz und sucht alle Klassen seiner Zuhörer,

den des gelehrten Standes wie den des Landmannes zu erbauen.

Ueberall findet man in seinen Predigten, wenn man von manchen Wunderlichkeiten in Form und Ausdrucksweise absieht, einen gesun­ den tüchtigen Kern.

Unter seinen zahlreichen Predigtsammlungen

können hervorgehoben werden: „Winter- und Sommerpostille" (5. A. 1836), und die „Neue Winter- und Sommerpostille" (1824 —

27), so wie die neun Predigten „von der Schöpfung" (1834), in denen Harms die Hinneigung zur Naturreligion bekämpft und auf

die Unentbehrlichkeit der Offenbarung in der heil. Schrift hinweist. Durch seine „Pastoraltheologie" (2. A. 1837) hat er einen weit­ reichenden Einfluß ausgeübt. Ludw. Friede. Franz Theremin, geb. 1783 zu Gram­

zow in der Ukermark, erhielt seine erste Bildung von seinem Va­ ter, welcher Prediger der französischen Coloniegemeinde war. Er besuchte sodann das französische Gymnasium in Berlin und studirte in Halle, wo er besonders Knapp's Vorlesungen hörte.

Im

Jahr 1805 wurde er Prediger zu Genf, und als Ancillon 1810 zum Erzieher des Kronprinzen von Preußen berufen wurde, kam

Theremin an dessen Stelle als Prediger an der französischen Kirche auf dem Werder in Berlin; 1815 wurde er Hof- und Dompredi­

ger, 1824 Oberconsistorial- und Ministerialrats», 1840 Professor der Theologie und starb im Jahr 1846. In Theremin war das my­ stische Element romantischer Innerlichkeit das gestaltende Princip, das sich auch in seinen poetischen Erzeugnissen kund giebt, so wie er auch in Uebersetzungen (Cervantes, Byron) romantische Sympa­ thien erkennen läßt. Auf dem religiösen Gebiete war er vornehm­ lich dem inneren Leben des Glaubens zugewandt, wie dieser sich

weniger durch die Ueberzeugung der Vernunft, als durch die Ein­

drücke bildet, die das Herz des Menschen durch seine Schicksale un­ ter Leitung der göttlichen Vorsehung empfängt.

„Adalbert's Be­

kenntnisse" (1828), eine religiös-poetische Darstellung in Briefen, enthalten Theremin's Grundüberzeugungen in einer klaren, innigen,

phantasievollen Sprache.

In seiner „Lehre vom göttlichen Reiche"

.(1823) erfaßte er die Idee vom Reiche Gottes als das verbindende

des 18. Jührhunderts bis zur Gegenwart.

70t

Moment für die Glaubens- und Sittenlehre und leitete daraus die

christlichen Dogmen, die sittlichen Verhältnisse, Gesinnungen, Bestre­ bungen und Gesetze ab. In seinen Predigten, von welchen 9 Theile erschienen, vernehmen wir die Stimme eines offenbarungsgläubigen

Christen, welcher für die Sache seines Herrn begeistert, vorzüglich das fromme Gefühl seiner Zuhörer zu bilden sucht, und auf die

Nothwendigkeit dringt, durch Selbstverleugnung und Hingebung zur Gemeinschaft mit Gott zu gelangen.

Unter besonderem Titel er­

schienen die Predigten: „Kreuz Christi" (1. 93b. 1829, 2. A. 1831,

2. Bd. 1832), die das Innerste ergreifen, um sowol zu vernichten, als auch zu erheben; in den Predigten: „Zeugnisse von Christo in

einer bewegten Zeit" (1832), spricht sich Theremin's innige Theil­ nahme an de» Leiden und Gebrechen der Menschheit aus, und selbst tief bewegt, sucht er zu trösten und aufzurichten.

Nach manchen

trüben Lebenserfahrungen zog sich Theremin nach und nach in die

stille Einsamkeit zurück und versenkte sich in die Gedanken des To­

des ; es erschienen seine „Stimmen aus den Gräbern" (1832), drei Predigten „Vom Tode" (1837), außerdem die „Abendstunden" (1. Bd. 1833, 2. Bd. 1837, 3. Bd. 1839) voll religiöser Gesin­

nung und frommer Andacht; hervortretend ist im zweiten Bande die Legende „der ewige Jude," welche gegen die Verirrungen des

flachen Nationalismus gerichtet ist. Was die Form der Darstellung in den Predigten anbetrifft, so entwickelt Theremin eine glänzende

Rhetorik und folgt, außer eigenen, seiner Persönlichkeit entsprechen­ den Grundsätzen, vorzüglich griechischen und französischen Rednern (Demosthenes und Massillon). Durch seine Schrift „die Beredsam­ keit, eine Tugend, oder Grundlinien der systematischen Rhetorik"

(1814, 2. A. 1837) hat er die Beredsamkeit auf eine neue Grund­ lage zurückzuführen gesucht, indem er aus der sittlichen Gesinnung und Kraft, als dem eigentlichen Talente des Redners, die Haupt­

regeln der Beredsamkeit ableitet.

In seinem Buche „Demosthenes

und Massillon" (1845), giebt er einen thatsächlichen Beweis für die Wahrheit seines Princips. Friedr. Aug. Deofidus Tholuck, geb. 1799 zu Bres­ lau, wurde zu dem Gewerbe seines Vaters, eines Goldarbeiters bestimmt und begann im zwölften Jahr seine Lehrlingszeit; doch

wegen entschiedener Abneigung gegen seinen Lebensberuf kehrte er bald auf das Gymnasium zurück, studirte 1816 in Breslau orien­ talische Literatur, ging dann nach Berlin, wo er, von dem Mini­

ster Altenstein und dem Professor Neander begünstigt, Theologie

?02

Zweit« Periode.

studirt«. war,

Bon dem erste» Viertel

Während er früher einem entschiedenen Unglauben ergeben

so daß er als Gymnasiast in einer Abgangsrede von der

Schule sich zum Thema wählte,

die Borzüge des Mohammeda-

nismus vor dem Christenthum darzustellen,

erhielt er in Berlin

vorzüglich durch Neander jene pietist-mystische Richtung, in die er sich bei der Wärme und Innigkeit seines religiösen Gefühls immer mehr hineinlebte.

Von dem inneren Antriebe beseelt, für die neu­

gewonnene religiöse Ueberzeugung zu wirken, diese auch in Ande­ ren zu erwecken und zu verbreiten, wandte er sich von seinen frü­ heren orientalischen Studien ganz der Theologie zu, zumal da er 1824 nach de Wette's Abgang von dem Ministerium zu theologi­ schen Vorlesungen

an

der Universität aufgefordert wurde.

Auf

einer Reise nach England und Holland (1825) verkündete er als Prediger den christlichen Glauben und beteiligte sich eifrig an den Bestrebungen der Bibel- und Missionsgesellschast.

Im Jahr 1826

wurde er an Knapp's Stelle nach Halle berufen; wegen schwerer

körperlicher Leiden ging er 1828 auf ein Jahr als Gesandtschafts­ prediger nach Rom.

Am Körper gestärkt kehrte er darauf nach

Halle zurück, wo er ein rüstiger Kämpfer für Orthodoxie (1830) ward,

und es richtete sich gegen ihn, wie gegen Hengstenberg und die Evan­ gelische Kirchenzeitung, der Unwille und die literarischen Angriffe

der freidenkenden Theologen.

Tholuck stand indeß auf einem freie­

ren und mehr auf einem speculativen Grunde, als die strengere Hengstenbergsche Partei mit ihrer dogmatischen Ausschließlichkeit und der daraus hervorgehenden Verketzerungs- und Verfolgungssucht. Er gab seine Theilnahme an der „Evangelischen Kirchenzeitung"

auf, und gründete eine eigene theologische Zeitschrift, den „Literari­ schen Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt" (1830 — 33). Seine theologische Grundüberzeugung hat er in seiner

Schrift: „die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder die

wahre Weihe des Zweiflers" (1823, 5. A. 1836) entwickelt.

Das

Sündenbewußtseyn zu wecken und zur Buße anzureizen ist die vor­

herrschende Tendenz in Tholuck's geistlichen Reden, wie sie gleich in den ersten Predigten hervortritt, die er drucken ließ unter dem

Titel „Zehn Predigten zu Berlin, Rom, London und Halle gehal­ ten" (1824— 28). Der Zielpunkt in denselben ist, die Zuhörer von der Nichtigkeit des nicht durch Christum wiedergebornen Men­ schen zu überzeugen; die Richtung auf das Gewissen ist überwie­ gend, und in den Hintergrund tritt die tiefer eingehende Lehre über das Erlösungswerk selbst, über die Wirksamkeit des heiligen Geiste-

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de» 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

in dem durch die Kraft Christi wiedergebornen Menschen. Als Universtlätsprediger hielt Tholuck in Halle eine Reihe von Predigten, welche geistig erregend und wahrhaft erbauend wirkten in

einer

Stadt, in der bisher Wegscheiders Rationalismus die herrschende Richtung gewesen war.

Diese Predigten erschienen, erste bis vierte

Sammlung (1834—38); zweite Folge erste Sammlung 1839; in der Vorrede zur zweiten Sammlung spricht Tholuck sich über die Mängel und Erfordernisse der heutigen Predigtweise mit ein­ dringlichen Worten aus.

Wenn er auch vorzugsweise noch hin­

wirkt auf die Weckung des Sündenbcwußtseyns, so wird doch seine Richtung umfassender; die Macht seines frommen Gefühls treibt

ihn, auf das christliche Dogma selbst einzugehen, so daß es in ihm Leben gewinnt, ohne gerade durch den Gedanken geistig wieder er­ zeugt zu seyn.

Er sagt in jener Vorrede, daß jede neue Erkennt­

niß der Wahrheit und ihre Anwendung auf das Leben auch eine Kraft des Lebens werde; aber dennoch widerstrebt die bestimmte Entwickelung eines Dogma's der Individualität Tholuck's. Seine

Predigten erfassen die Lehre mehr mit der Wärme des religiösen Gefühls und zeigen vorzüglich die Anwendung derselben; sie sind überwiegend negativ gegen die Sünde der Menschen, die sie bis in alle Verhältnisse verfolgen; sie gehen aber zu wenig darauf rin,

darzustellen, wie sich die verschiedenen Verhältnisse des christlichen Lebens nach dem Evangelium entwickeln sollen, damit dieses Fleisch und Blut gewinne. Als fromme Ergüsse des Gefühls ergreifen Tholuck's Reden, ja sie erschüttern; allein sie überzeugen nicht im­ mer,

indem im Ganzen der denkende Geist zu wenig befriedigt

wird.

Es gelingen ihm daher auch weniger solche Predigten, in denen

ein Grundgedanke zu entwickeln und

durchzuführen ist;

dagegen

seine Reden, die zu ihrem Gegenstand eine Angelegenheit des from­ men Herzens haben, von großer Wirksamkeit sind, wie die Predig­ ten 8—11 der dritten Sammlung über das Vater unser. Die Wärme und Frische der Darstellung, die Lebendigkeit und Birlsei-

tigkeit des Inhalts, die Kraft und Reinheit der Sprache, endlich die Tiefe und der Ernst, womit die Heilswahrheiten verkündet wer­ den, geben den Tholuck'schen Predigten unter den geistlichen Reden

der Gegenwart eine hervorragende Stelle; in ihnen concentrirt sich Tholuck's literarische Thätigkeit, die dadurch in unmittelbare Bezie­

hung zum wirklichen Leben tritt und zugleich eine populäre Wirk­ samkeit ausübt [8$0J.

Philipp Konrad Marheineke, geb. 1786 zu Hildesheim,

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