Mittelalterliche Lyrik Frankreichs II : Lieder der Trouvéres : Französisch/Deutsch
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Mittelalterliche Lyrik Frankreichs II

Lieder der Trouvères Französisch ! Deutsch

Reclam

Mittelalterliche Lyrik Frankreichs II

Lieder der Trouvères FRANZÖSISCH / DEUTSCH

AUSGEWÄHLT, ÜBERSETZT UND KOMMENTIERT

VON DIETMAR RIEGER

PHILIPP RECLAM JUN. STUTTGART

Universal-Bibliothek Nr. 7943 [4] Alle Rechte vorbehalten. © 1983 Philipp Reclam jun., Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 1983

ISBN 3-15-007943-8

Inhalt Einleitung..............................................................................

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Lieder und Übersetzungen I

Anonym Quant vient en mai, que l'on dit as Ions jors / Wenn es im Mai, den man (den Monat) mit den langen Tagen nennt, geschieht..............

10

II

Anonym Lou samedi a soir, fat la semainne / Am Samstagabend, es endet die Woche..............

14

Anonym En un vergier lez une fontenele / In einem Baumgarten neben einer Quelle..................

18

Anonym Bele Aëliz / Schöne Aeliz................................

22

Anonym E, bone amourette / He, gutes Liebchen

. .

26

VI

Anonym Mal li vaigne et Deus malëur lou dont / Schlimmes möge dem zustoßen, und Gott überlasse ihn dem Unglück............................

30

VII

Anonym Quant voi la verdure / Wenn ich das Grün (der Natur) sehe..............................................

34

VIII

Anonym Gaite de la tor / Turmwächter.....................

38

IX

Chrétien de Troyes Amors tençon et bataille / Die Liebe(sgottheit) hat Streit und Kampf............................

44

III

IV

V

4

Inhalt

X

Chrétien de Troyes D'Amors, qui m'a tolu a moi / über die Liebe(sgottheit), die mich mir (selbst) weg­ genommen hat.................................................

48

XI

Conon de Béthune Ahi! Amors, com dure départie / Ach! Liebe(sgottheit), welch harte Trennung . . . .

52

XII

Conon de Béthune L’autrier avint en cel autre païs / Neulich geschah es in jenem anderen Land..............

56

XIII

Chastelain de Couci La douce voiz du louseignol sauvage / Die süße Stimme der scheuen Nachtigall ....

60

XIV

Chastelain de Couci Moutm’est bele la douce conmençance / Sehr gefällt mir der liebliche Anfang.....................

64

XV

Blondel de Nesle Quant je pluz sui en paour de ma vie / Wenn ich am meisten in Angst um mein Leben bin

70

XVI Gace Brulé Desconfortez, ploins de dolour et d’ire / Un­ tröstlich, voll von Schmerz und Kummer . .

76

XVII Gace Brulé Les oiseillons de mon païs / Die Vöglein meines Heimatlands.......................................

82

XVIII Gace Brulé L’autrier estoie en un vergier / Neulich war ich in einem Baumgarten................................

86

XIX Richard Löwenherz Ja nus bons pris ne dira sa raison / Niemals wird ein Gefangener seine Sache in gewand­ ter Weise zum Ausdruck bringen ..................

90

XX

Inhalt

5

Gautier de Dargies De cele me plaig qui me fait languir / Über diejenige klage ich, die mich in einer Weise schmachten läßt ..............................................

94

XXI

Moniot d’Arras Amors mi fait renvoisier et chanter / Die Liebe läßt mich fröhlich sein und singen 100

XXII

Thibaut de Champagne Ausi conme unicome sui / Ich bin ebenso wie das Einhorn ......................................................... 106

XXIII

Thibaut de Champagne L’autrier par la matinee / Neulich, am Vor­ mittag ....................................................................110

XXIV

Gautier de Coinci Hui matin a l'ajomee / Heute morgen bei Tagesanbruch ......................................................114

XXV

Guillaume le Vinier Glorieuse Virge pucele / Glorreiche Jungfrau

122

XXVI Richart de Semilli L’autrier tout seus chevauchoie mon chemin / Neulich, an einem Morgen, ritt ich ganz allein....................................................................... 128 XXVII Colin Muset Volez oir la muse Muset? / Wollt ihr das Lied von Musethören? .............................................. 132

XXVIII

Colin Muset Sire cuens, j’ai viele / Herr Graf, gefiedelt habe ich ................................................................ 138

XXIX Colin Muset Qant je lou tans refroidier / Wenn ich das Wetter sich abkühlen........................................... 142

6

Inhalt XXX

Jean Bretel / Lambert Ferri Lambert Ferri, le quel doit miex avoir / Lambert Ferri, welcher (von beiden) . . . . 146

XXXI Adam de la Halle J’os bien ä m’amie parier / Wohl wage ich, neben ihrem Ehemann.................

152

XXXII Adam de la Halle E, las, i n’est mais nus ki aint / Ach, da ist niemand mehr, der liebt.................................... 154

XXXIII

Anonym Quant voi vendre char de porc soursamee / Wenn ich sehe, wie verdorbenes Schweine­ fleisch ....................................................................158

XXXIV Jacques de Cysoing Li nouviaus tans que ge voi repairier ! Der Frühling, den ich zurückkehren sehe . . . . 162

XXXV

Rutebeuf Des Ordres / Über die Orden.............................166

Kommentar.............................................................................. 173

Allgemeine Bibliographie..................................................... 247

Nachwort: Die mittelalterliche Lyrik Frankreichs . . . 257 Die Sprache.............................................................................. 260 Die Überlieferung................................................................... 266 Die Dichter..............................................................................275 Die Form................................................................................. 290 Der Sitz im Leben................................................................... 301

Einleitung Die zweisprachige Anthologie von Liedern von Trouvères des 12. und 13. Jahrhunderts basiert auf denselben Vorüber­ legungen und folgt denselben Editionsprinzipien wie der erste Band (Lieder der Trobadors). Sie wendet sich deshalb auch an denselben Leserkreis. Auch in diesem Teil sollte auf beschränktem Raum die außergewöhnliche Vielfalt der mit­ telalterlichen Lieddichtung Frankreichs zum Ausdruck gelangen. Alle wichtigen Gattungen dieser Dichtung - auch zum Teil interessante Gattungsinterferenzen - und die bedeutendsten Trouvères waren zu berücksichtigen. Nicht aufgenommen wurden Gedichte, die nicht zugleich Lieder sind, selbstverständlich auch nicht nichtlyrische Versgattungen. Vertreten sind dagegen - wenn auch in einem etwas eingeschränkten Maß - einige bürgerliche Trouvères des 13. Jahrhunderts. Daß von Rutebeuf nur ein einziges Gedicht gebracht werden konnte, ist bedauerlich, aber zwingend. Der bedeutsamen Tatsache, daß es in der altfran­ zösischen Lyrik neben dem höfisch-aristokratischen bzw. bürgerlichen »gelehrten« Bereich einen quantitativ und quali­ tativ bedeutenden Bereich eher »volkstümlicher« und meist anonym überlieferter Dichtung gibt, ist durch die Aufnahme einiger anonymer Lieder Rechnung getragen worden. Die Anordnung der Lieder folgt prinzipiell einer (sicherlich in vielen Fällen diskutablen) relativen Chronologie - mit Aus­ nahme der anonymen Lieder, die, abgesehen von der erst vor dem Hintergrund der Kanzone verständlichen Sotte chanson (Lied XXXIII), alle an den Anfang gestellt wurden. Die Kommentare sind entsprechend den Kommentaren des ersten Bands aufgebaut. Da es für die altfranzösische Lyrik sehr wenige Interpretationen einzelner Lieder gibt, wurde gerade der interpretatorische Aspekt etwas mehr als im ersten Band berücksichtigt und in der Bibliographie noch mehr Sekundärliteratur zu Gattungsfragen bzw. zum jewei-

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Einleitung

ligen Dichter verzeichnet. Die Allgemeine Bibliographie am Schluß des Bandes bringt u. a. auch die in den Kommentaren mit Abkürzungen (M/W und R/S) verzeichneten metrischen Repertorien. Die Übersetzungen schließlich basieren auf den gleichen Vorüberlegungen wie diejenigen des ersten Bands. Das Klammernsystem (runde Klammem werden mitgelesen, nicht aber die eckigen Klammern, die Varianten, Grundbedeutungen, andere Möglichkeiten, sonstige Erklä­ rungen und dergleichen in bezug auf das unmittelbar Vor­ ausgehende enthalten) wurde beibehalten. Es ist indessen nicht so konsequent gehandhabt worden, daß eckige (und auch runde) Klammern an entsprechenden Stellen immer stünden. Hier wurde wie im ersten Band eher unsystema­ tisch-selektiv, vom Kontext des einzelnen Lieds ausgehend, verfahren. Manche Dinge werden nur bei den ersten Liedern berücksichtigt, manche Erklärungen nur, wenn sich ein Mißverständnis ergeben könnte. Eine systematische Einführung in alle Problemkreise der mittelalterlichen Lyrik Frankreichs findet sich am Ende der vorliegenden Ausgabe. Sie bezieht sich sowohl auf die nord­ französische Dichtung der Trouvères wie auf die im Süden verfaßte provenzalische Poesie der Trobadors und schließt so beide Bände der Anthologie im Zusammenhang ab.

Gießen, im Dezember 1981

Lieder und Übersetzungen

I ANONYM

Quant vient en mai, que l'on dit as Ions jors

I Quant vient en mai, que l’on dit as Ions jors, que Franc de France repairent de roi cort, Reynauz repaire devant el premier front. Si s'en passa lez lo mes Arembor, ainz n’en dengna le chief drecier a mont. E Raynaut amis!

II Bele Erembors a la fenestre au jor sor ses genolz tient paile de color; voit Frans de France qui repairent de cort, e voit Raynaut devant el premier front: en haut parole, si a dit sa raison. E Raynaut amis!

III «Amis Raynaut, j’ai ja veu cel jor, se passisoiz selon mon pere tor, dolanz fussiez se ne parlasse a vos.» «Jal mesfaistes, fille d’empereor, autrui amastes, si obliastes nos.» E Raynaut amis!

IV «Sire Raynaut, je m’en escondirai: a cent puceles sor sainz vos jurerai, a trente dames que avuec moi menrai,

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I ANONYM

Wenn es im Mai, den man (den Monat) mit den langen Tagen nennt, geschieht

I ‘Wenn es im Mai, den man (den Monat) mit den langen Tagen nennt, geschieht [kommt], / 2daß die Edlen aus Franzien vom Königshof zurückkehren, / ’kehrt Raynaut vorn in der ersten Reihe zurück. / 4So kam er an dem Haus der Arembor [= Erembor] vorbei; / ’dabei geruhte er jedoch keineswegs, den Kopf nach oben zu richten. / 6Ei! Geliebter Raynaut! II

7Schön Erembor, bei Tagesanbruch (schon) am Fen­ ster, / “hält auf ihren Knien ein buntfarbenes Seiden­ tuch; / ’sie sieht die Edlen aus Franzien, die vom Hof zurückkehren, / 10und sie sieht Raynaut vorn in der ersten Reihe: / “Mit lauter Stimme [Wort, Sprechwei­ se], so hat sie ihre Rede gehalten [gesagt], / '2Ei! Geliebter Raynaut!

III

’’»Geliebter Raynaut, ich habe einst Tage [wörtl.: jenen Tag] gesehen, / 14wenn Ihr (da) an dem Turm meines Vaters vorbeigekommen wärt [wörtl.: vorbei­ kommen würdet], / ’’wäret Ihr betrübt (gewesen), wenn ich nicht mit Euch gesprochen hätte [wörtl.: sprechen würde].« / '‘»Einst tatet Ihr Unrecht, Kai­ serstochter, / 17Ihr liebtet einen anderen und vergaßt uns so.« / x>Ei! Geliebter Raynaut!

IV

’’»Herr Raynaut, in dieser Sache werde ich mich rechtfertigen: / 20-2'In Anwesenheit von hundert Jungfrauen, von dreißig Damen, die ich mit mir führen werde, werde ich Euch bei den Heiligen

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Quant vient en mai, que l'on dit as Ions jors c'onques nul hom fors vostre cors n’amai. Prennez l’emmende et je vos baiserai. » E Raynaut amis!

v Li cuens Raynauz en monta lo degré, gros par espaules, greles par lo baudré; blonde ot lo poil, menu, recercelé: en nule terre n’ot si biau bacheler. Voit l’Erembors, si comence a plorer. E Raynaut amis!

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VI Li cuens Raynauz est montez en la tor, si s'est assis en un lit point a flors, dejoste lui se siet bele Erembors.

Lors recomencent lor premieres amors. E Raynaut amis!

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Wenn es im Mai ... geschieht

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schwören, / 22daß ich (noch) niemals irgendeinen Mann außer Euch [wörtl.: Euren Körper = Eure Person] liebte. /23Nehmt die Genugtuung an, und ich werde Euch küssen.« / 24 Ei! Geliebter Raynaut! V 25Der Graf Raynaut ging die Treppe (zum Turm) hinauf, / 26breit [dick] in den Schultern, schmal in den Hüften [wörtl.: am Hüftgürtel]; / 27er hatte blondes, feines, gelocktes Haar: / 2SIn keinem Land gab es einen so schönen jungen Ritter. / 2,Es sieht ihn Erembor, und sie beginnt zu weinen. / KEi! Geliebter Raynaut!

VI 31Der Graf Raynaut ist in den Turm hochgestiegen, / 32er hat sich (dann) auf ein geblümtes [wörtl.: mit Blumen bemaltes] Bett gesetzt, / 33neben ihn setzt sich Schön Erembor. / 34... / 35Da beginnen sie ihre erste Liebe von neuem. / 36£17 Geliebter Raynaut!

II ANONYM

Lou samedi a soir, fat la semainne

I Lou samedi a soir, fat la semainne, Gaiete et Oriour, serors germainnes, main et main vont bagnier a la fontainne. Vante l’ore et li raim crollent: ki s’antraimment soweif dorment.

5

II L’anfes Gerairs revient de la cuitainne, s’ait chosie Gaiete sor la fontainne, antre ces bras l’ait pris, soueif l’a strainte. Vante l’ore et li raim crollent: ki s’antraimment soueif dorment.

10

III «Quant avras, Orriour, de l’ague prise, reva toi an arriéré, bien seis la vile; je remanrai Gerairt ke bien me priset.» Vante l’ore et li raim crollent: ki s’antraimment soweif dorment.

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IV Or s’en vat Orious teinte et marrie; des euls s’an vat plorant, de cuer sospire, cant Gaie sa serour n’anmeinnet mie. Vante l’ore et li raim crollent: ki s’antraimment soweif dorment.

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V «Laise,» fait Oriour, «com mar fui nee! J’ai laxiet ma serour an la vallee.

II ANONYM

Am Samstagabend, es endet die Woche

I ’Am Samstagabend, es endet die Woche, / 2_3gehen Gaiete und Oriour, leibliche Schwestern, Hand in Hand zur Quelle, um zu baden. / 4£s bläst der Wind, und die Zweige bewegen sich: / 5Die einander lieben, schlafen sanft (und ruhig).

II ‘Der Edelknabe Gerart kommt von der Stechpuppe [d. h. vom Lanzenstechen] zurück, / 7(da) hat er Gaiete an der Quelle erblickt, / 8in seine [ces = ses] Arme hat er sie genommen, sanft hat er sie gedrückt. / 9Es bläst der Wind, und die Zweige bewegen sich: / 10Dre einander lieben, schlafen sanft (und ruhig).

III ” »Oriour, wenn du vom Wasser (genug) genommen hast [wörtl.: haben wirst], / l2(dann) geh du wieder zurück, du weißt wohl, (wo) die Stadt (ist); / 13ich werde (bei) Gerart Zurückbleiben, denn er schätzt mich sehr.« / 14Es bläst der Wind, und die Zweige bewegen sich: / '^Die einander lieben, schlafen sanft (und ruhig). IV “Nun geht Oriour fort, bleich und bekümmert; / 17weinend [wörtl.: mit den Augen weinend] geht sie von ihnen fort, sie seufzt von Herzen, / ’’weil sie Gaiete, ihre Schwester, gar nicht mit sich führt. / ”£s bläst der Wind, und die Zweige bewegen sich: / 20Dre einander lieben, schlafen sanft (und ruhig).

V 2l»Ach [wörtl.: ich Unglückselige]«, sagt [macht] Oriour, »wäre ich doch nie geboren [wörtl.: wie

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Lou samedi a soir, fat la semainne

L’anfes Gerairs l’anmoine an sa contrée.» Vante l’ore et li raim crollent: ki s’antraimment soweif dorment.

VI L’anfes Gerairs et Gaie s’an sont torneit, lor droit chemin ont pris vers la citeit: tantost com il i vint, l’ait espouseit. Vante l’ore et li raim crollent: ki s’antraimment soweif dorment.

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Am Samstagabend, es endet die Woche

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wurde ich doch zum Unglück geboren]! / 22Ich habe meine Schwester in d(ies)em Tal zuriickgelassen. / 23Der Edelknabe Gerart führt sie mit sich in sein Land.« /24Es bläst der Wind, und die Zweige bewegen sich: / 25Die einander liehen, schlafen sanft (und ruhig).

vi 26Der Edelknabe Gerart und Gaie(te) sind weggegan­ gen, / 27sie haben den [ihren] direkten Weg zur Stadt hin genommen: / “Sobald er dort hinkam, hat er sie geheiratet. / 23Es bläst der Wind, und die Zweige bewegen sich: / KDie einander lieben, schlafen sanft (und ruhig).

Ill ANONYM

En un vergier lez une fontenele

I En un vergier lez une fontenele, dont clere est l’onde et blanche la gravele, siet fille a roi, sa main a sa maxele: en sospirant son douz ami rapele. •Ae cuens Guis amis! La vostre amors me tout solaz et ris.

il Cuens Guis amis, com male destinee! Mes pere m’a a un viellart donee, qui en cest mes m’a mise et enserree: n’en puis eissir a soir n’a matinée.» Ae cuens Guis amis! La vostre amors me tout solaz et ris.

III Li mais mariz en oi la deplainte, entre el vergier, sa corroie a desceinte: tant la bâti q’ele en fu perse et tainte. Entre ses piez por pou ne l’a estainte. Ae cuens Guis amis! La vostre amors me tout solaz et ris.

IV Li mais mariz quant il l’ot laidangie, il s’en repent, car il ot fait folie, car il fu ja de son pere maisnie: bien set q’ele est fille a roi, koi qu’il die. Ae cuens Guis amis! La vostre amors me tout solaz et ris.

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III ANONYM

In einem Baumgarten neben einer Quelle

I ‘In einem Baumgarten neben einer Quelle, / “deren Wasser [Welle] klar und deren Sand weiß ist, / ‘sitzt eine Königstochter, ihre Hand an ihre Wange (ge­ schmiegt): / ‘Seufzend ruft sie ihren süßen Geliebten zurück. / s»Ac/>, (mein) geliebter Graf Gui! / 6Die Liebe zu Euch nimmt mir Freude und Lachen.

II “(Mein) geliebter Graf Gui, welch schlimmes Ge­ schick! /’Mein Vater hat mich einem alten Mann (zur Frau) gegeben, / ’der mich in dieses Haus gesteckt und gesperrt hat: / ‘“Nicht am Abend und nicht am Morgen [d. h. niemals] kann ich aus ihm hinausge­ hen.« / "Ach, (mein) geliebter Graf Gui! / "Die Liebe zu Euch nimmt mir Freude und Lachen.

III “Der böse Ehemann hörte die(se) Klage, / “er betritt den Baumgarten, er hat seinen Riemen losgegürtet: / “So lange schlug er sie, bis sie davon (ganz) blaß und bleich ward. / “Beinahe hat er sie zu [zwischen] seinen Füßen getötet [ausgelöscht]. / "Ach, (mein) geliebter Graf Gui! / "Die Liebe zu Euch nimmt mir Freude und Lachen. IV “Als der böse Ehemann sie mißhandelt hatte, / ““empfindet er darüber Reue, denn er hatte eine Torheit begangen, / “'denn er gehörte einst zum [wörtl.: war einst im] Gefolge ihres Vaters: / ““Wohl weiß er, daß sie eine Königstochter ist, was er auch immer sagen mag. /22Ach, (mein) geliebter Graf Gui! / 2*Die Liebe zu Euch nimmt mir Freude und Lachen.

En un vergier lez une fontenele

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La bele s’est de pameson levee, Deu réclama par veraie pensee. r köstliches (und) gefälli­ ges (Liebchen), / 4vergeßt keinen edlen Liebhaber!

I “Die Liebe lehrt mich zu lieben, / “das ist ein sehr gutes Leben: / 7Ich höre so viele Leute darüber Lo­ bendes sagen, / “daß mich die Lust packt, / ’verliebt zu sein; / ’’fröhlicher bin ich / ’’hundertmal, / II l2* als ich vorher war. / x>He, gutes Liebchen, / "~'',sehr köstli­ ches (und) gefälliges (Liebchen), / '^vergeßt keinen edlen Liebhaber!

II 17Ohne ** Falsch [wörtl.: ohne zu fälschen, zu betrü­ gen] liebe ich treuergeben, / '“das ist eine große Süße [Musik, Lied], / ’’dies darf mir deshalb niemand zum Vorwurf machen [wörtl.: deshalb darf mich niemand dafür tadeln]; / 20das wäre (nämlich) eine Torheit, / 2,denn ich bin (recht) jung, / 22gefällig und lieblich / 23und fröhlich [lachend], / 24und ich werde mein ganzes Leben (lang) lieben. / 2iHe, gutes Liebchen, / 2b~27sehr köstliches (und) gefälliges (Liebchen), / 2>vergeßt keinen edlen Liebhaber!

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E, bone amourette

III Amins cui je n’oz nomeir, ne me fauceir mie! Je vos ain, nou pux celleir, et sans vilonie ceste chansonette voix de ma bouchette chantant an despit des mesdixant: [£, bone amourette, très saverouzette plaisans, n’oblieiz nuns fins amantf]

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He, gutes Liebchen

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111 ’’(Geliebter) Freund, den ich nicht zu nennen wage, / ’’betrügt mich (ja) nicht! / “Ich liebe Euch, kann es nicht verheimlichen, / “und ohne (jede) Gemeinheit / 33_J5komme [gehe] dieses Liedchen aus meinem sin­ genden Mund [Mündchen], / 36den Ubelrednern zum Trotz: / Z7He, gutes Liebchen, / }*~nsehr köstliches (und) gefälliges (Liebchen), / *°vergeßt keinen edlen Liebhaber!

VI ANONYM

Mal li vaigne et Deus malëur lou dont

[Mal U vaigne et Deus malëur lou dont ki sotte croit ne ki l’aimme, k’elles ne font se mal non.]

I

II

III

Vos qui ameis, je vos fais a savoir: doneis dames et a main et au soir, et s’i meteis cuer et cors et avoir, pandeis moi, c’elle vos aimme, se ce n’est par traïson. Mal li vaigne et Deus [malëur] lou dont ki sotte croit ne ki l’aimme, k’elles ne font se mal non.

Or li aveis doneit un pelisson et en après lai cotte a recorson, ancor vos dist qu’il li faut un chasson d’escarlette tinte an grainne et soulairs a baikillon. [Mal li vaigne et Deus malëur lou dont ki sotte croit ne ki l’aimme, k’elles ne font se mal non.]

Ancor vos dist qu’il li faut un mantel, une aumoniere, une coife, un chapel; s’avoir pooit un tronson de vos pel, volentiers i metroit poinne

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VI ANONYM

Schlimmes möge dem zustoßen, und Gott überlasse ihn dem Unglück

'Schlimmes möge dem zustoßen, und Gott überlasse [schenke] ihn dem Unglück, / 2 der auf eine Närrin hört [glaubt] und der sie liebt, / }denn sie [näml. die törichten Frauen] tun nichts als Schlechtes.

I ’Ihr, die ihr liebt, ich lasse euch wissen: / ’Beschenkt die Damen sowohl in der Frühe als auch am Abend, / ‘und wenn ihr dabei (auch) Herz und Körper und Besitz einsetzt, / ’hängt mich auf, wenn sie euch liebt, / ’es sei denn aus Verrat. / ’’Schlimmes möge dem zustoßen, und Gott überlasse [schenke] ihn dem Un­ glück, / loder auf eine Närrin hört [glaubt] und der sie liebt, / "denn sie [näml. die törichten Frauen] tun nichts als Schlechtes.

II 12Habt ihr ihr soeben einen Pelz geschenkt / ’’und danach den hochgerafften Überrock [recorcier = >aufschürzen habe ihn gesehen, / “dort unten, unter dem Haselgebüsch. / 2'Tut und tut und tut und tut! / 22Beinah würde ich ihn töten.

III

[Der Wächter:] “Gefährte, in Verwirrung / 24bin ich, denn in dieser Situation / “würde ich gerne schlafen. / “Habt keine Angst: / 27Nach Belieben kann gehen, /

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Gaite de la tor Hu et hu et hu et hu! Or soit teü, compainz, a ceste voie. Hu et hu! bien ai seü que nous en avrons joie. IV

V

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Ne sont pas plusor li robeor, n’i a c’un que je voie, qui gist en la flor soz covertor, cui nomer n’oseroie. Hu [et hu et hu et hu! Or soit teü, compainz, a ceste voie. Hu et hu! bien ai seü que nous en avrons joie.] Cortois ameor, qui a sejor gisez en chambre coie, n’aiez pas freor, que tresq’a jor poëz demener joie. Hu [et hu et hu et hu! Or soit teü, compainz, a ceste voie. Hu et hu! bien ai seü que nous en avrons joie.]

Gaite de la tor, vez mon retor de la ou vos ooie. D’amie et d’amor a cestui tor ai ce(u) que plus amoie.

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Turmwächter

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2’wer des Wegs gehen will. / 2’7'wt und tut und tut und tut! / iaNun sei Stille [wörtl.: werde geschwie­ gen],/ ^'Gefährte, an dieser Stelle. / >2Tut und tut! Wohl habe ich erfahren, / 3idaß wir dabei Freude empfinden werden.

IV [Der Wächter:] ’’Sie sind nicht zahlreich, / J5die Räuber, / ’‘und nur einen (einzigen) gibt es, den ich sehen kann, / ’’(jenen), der in der Blutne(npracht) liegt, / ’’unter einer Decke, / ’’(und) den zu nennen ich nicht wagen würde. / 40Tut und tut und tut und tut! / 4lNun sei Stille [wörtl.: werde geschwiegen], / 41Gefährte, an dieser Stelle. / 4iTut und tut! Wohl habe ich erfahren, /44daß wir dabei Freude empfinden werden.

V [Der Wächter:] ’’Höfischer Liebender, / ’‘der Ihr zum Ausruhen [Erholung] / ’7in dieser behaglichen Kammer liegt, / ’’habt keine Angst, / ’’denn bis zum Tag(esanbruch) / 50könnt Ihr Freude bekunden. / 51 Tut und tut und tut und tut! / i2Nun sei Stille [wörtl.: werde geschwiegen], / 5}Gefährte, an dieser Stelle. / i4Tut und tut! Wohl habe ich erfahren, /33daß wir dabei Freude empfinden werden.

vi [Der Liebende:] ’‘Turmwächter, / 57sieh, ich kehre zurück [wörtl.: meine Rückkehr] / ’’von dort, wo ich Euch hörte. / ”Von der Geliebten und von der Liebe / “"‘'habe ich bei diesem Mal das (erhalten), was ich

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Gaite de la tor

Hu et hu et hu et hu! Pou ai geü en la chambre de joie. Hu et hu! trop m’a neü l’aube qui me guerroie. Vil

Se salve l’onor au Criator estoit, tôt tens voudroie nuit feïst del jor; jamais dolor ne pesance n’avroie. Hu et hu et hu et hu! Bien ai veü de biauté la monjoie. Hu et hu! c’est bien seü, gaite, a Dieu tote voie!

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Turmwächter

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am meisten liebte. / i7Tut und tut und tut und tut! / Vorteil< wartend, / ’den die Liebe den treuen Liebenden ver­ spricht und gibt, / ’oder (aber) derjenige, der bereits jetzt diesen Vorteil in Besitz hat [wörtl.: besitzend ist] / 7und ganz nach seinem Willen die Liebe ge­ nießt? / “Ich will in dieser Sache von Euch die Wahr­ heit erfahren [wissen], II ’Herr Jehan Bretel, wisset fürwahr, / “besser wird der Mann Herz und Sinn dafür haben, / 11 sich Ach­ tung und Wertschätzung zu verschaffen, / 12der in der Liebe in einer so guten Situation ist, / ’’daß er sie [näml. die Liebe] immer nach seinem Willen genießt, / ’’(besser) als derjenige es (tun) wird, der von ihr (noch) überhaupt nichts erhält [wörtl.: neh­ mend ist]. / ’’Ein reicher Mann muß (nämlich) mehr edle Gesinnung bekunden / ’’als ein armer Mann, der des Reichtums wegen [d. h. um ihn zu erlan­ gen] dient.

III l7_1!Lambert Ferri, wohl wird derjenige, der (erst) zu genießen begehrt, seine edle Gesinnung sichtbar ma­ chen: / ’’Dadurch kann man das Herz einer Dame rühren. / 20(Nur) der Tüchtige verdient, daß sie [näml. die Dame] seine Schmerzen lindert /2I- aber derjenige, der (schon) genießt, kann wohl (leicht) zum Still-

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Lambert Ferri, le quel doit miex avoir

que par ce iert sa dame connoissans qu’au point qu’il fu plains de joliveté, que ce ne fu fors que pour s’amisté.

IV - Sire Jehan, dame doit bien voloir et velt que cil de qui elle a l’ommage soit preus, hardis et bons sans remouvoir; et cil doit bien le cuer avoir si sage qui got d’amours qu’il doit estre parans plus en honneur furnir que li servans, quar il set bien pour coi il fait bonté, mes cil qui sert faut bien a son pensé.

v - Lambert Ferri, qui a pris son manoir en paradis, il est hors de servage: ne li puet mais de Dieu servir chaloir, quar ataint a la fin de son ouvrage. Pour achever est chascuns besoignans. Li saoulez doit bien estre restans. Je ne verrez moine c’on face abbé de bien servir eglise entalenté.

VI - Sire Jehan, chascun doit bien savoir que cil qui est tenans d’un héritage se paine plus de métré son pooir en amender la terre et le manage qu’il ne feroit s’il i estoit beans. Qui d’amours got, plus doit estre querans

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Lambert Ferri, welcher (von beiden) ...

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stand [näml. seiner Bemühungen in der Liebe] kommen / 22denn dadurch [näml. dadurch, daß er sie noch umwirbt] wird seine [d. h. des preus] Dame erkennen, / 23daß zum Zeitpunkt, als er voller Tapfer­ keit war, / 24dies nur um ihrer Liebe [Freundschaft] willen [näml. um ihre Liebe zu erlangen] geschah. IV 25Herr Jehan, wohl wird eine Dame wollen / 26und will es (auch), daß derjenige, von dem sie die Huldi­ gung (erhalten) hat, / 27trefflich, kühn und gut sei, ohne (damit) aufzuhören; / 28_30und derjenige, der die Liebe (schon) genießt, muß wohl ein so feingebilde­ tes Herz haben, daß er sich (als einer) erweisen muß, der mehr Ehrenhaftes vollführt als der (noch) Die­ nende, / 31denn er weiß wohl, wofür er Gutes tut [d. h. er kennt bereits den Lohn], / 32während [aber] derjenige, der (noch) dient, bei seinem (liebenden) Sinnen wohl (auch einmal) einen Fehlschlag tut.

V 33_34Lambert Ferri, wer seine Bleibe (schon) im Para­ dies genommen hat, der ist außerhalb eines Dienst­ verhältnisses [Knechtschaft]: / 3SIhm kann es nicht mehr darum gehen, Gott zu dienen, / “denn er erreicht das Ziel seines Mühens. / 37Um ans Ziel zu gelangen, müht sich jeder ab. / “Der Zufriedenge­ stellte wird [muß] (damit) wohl aufhören [wörtl.: ausruhend sein]. / ’’"’’Nie werdet Ihr einen Mönch, den man zum Abt machen will, begierig sehen, der Kirche wohl zu dienen.

VI 41Herr Jehan, jeder wird wohl wissen, / 42daß derjeni­ ge, der Besitzer eines Erbes ist, / 43sich mehr abmüht, seine Macht darein zu setzen, / 44das Land und das Haus zu verbessern, / 45als er (es) tun würde, wenn er danach [näml. nach dem Erbe] (nur) trachtete. / 46Wer die Liebe genießt, wird mehr danach streben, / 47löb-

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Lambert Ferri, le quel doit miex avoir

d’avoir bon los et de faire bamé que cil qui sert sans joïr, c’est passé.

VII - Ferri, cil doit estre preus et vaillans qui veult conquerre, et cil a pais vivans qui a conquis. Cil qui n’ont nient gousté sont désirant plus que li saoulé.

VIII - Sire, c’est voirs, mès or soiez creans que le saoul est plus chaus et ardans de parfumir vaillance et honnesté que cil qui n’a fors désir afamé.

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Lambert Ferri, welcher (von beiden) ...

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liehe Anerkennung zu erhalten und edle Gesinnung zu bekunden, / 48als derjenige, der ohne zu genießen dient, das [näml. die Streitfrage] ist (damit) erledigt.

VII 4,Ferri, derjenige wird trefflich und wacker sein, / 50der (etwas) erreichen will, und derjenige hat mitten im Leben [wörtl.: lebend] Ruhe, / 5,der (schon etwas) erreicht hat. Diejenigen, die (noch) nicht gekostet haben, / “sind begieriger als die Satten. VIII “Herr, das ist die Wahrheit, doch mögt Ihr nun (auch) glauben, / 54daß der Satte erhitzter und begieri­ ger ist, / 55Treffliches und Ehrenvolles zu vollbrin­ gen, /S6als derjenige, der nichts als hungrige Begierde hat.

XXXI ADAM DE LA HALLE J’os bien à m’amie parler

1. J’os bien à m’amie parler lès son mari, et baisier et acoler d’encosté li; et lui on jalous clamer, wihot aussi, et hors de sa maison enfremer, et tous mes bons de mamiette achever, et li vilains faire muser.

2. Je n’os à ma mie aler pour son mari que il ne se peust de mi garde doner. Car je ne me puist garder d’encosté li de son bel viaire regarder. Car entre amie et ami an jeux sont à cheler li mal d’amer. 3. Seculum.

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XXXh ADAM DE LA HALLE Wohl wage ich, neben ihrem Ehemann ...

1. 1-2Wohl wage ich, neben ihrem Ehemann zu meiner Geliebten zu sprechen / ^und (sie) neben ihm zu küssen und zu umarmen; / 5-6und (ich wage), ihn einen scheußlichen Eifersüchtigen, auch einen Alten, zu nennen / 7und ihn außerhalb seines Hauses einzu­ sperren / ’und alle meine Gelüste an meinem Lieb­ chen zu befriedigen [vollenden] / ’und den Nieder­ trächtigen [näml. den Ehemann; Nom.!] warten zu lassen. 2. 10-11 Ich wage, wegen ihres Ehemanns, nicht, zu mei­ ner Geliebten zu gehen, / 12-13damit er nicht auf mich aufzupassen vermöchte. / 14-lsDenn neben ihr [oder: (sogar) neben ihm?] kann ich mich nicht davon ab­ halten [davor bewahren], / ,6ihr schönes Antlitz anzu­ sehen. / 17Denn unter einer Geliebten und (ihrem) Liebhaber / 18-1’sind die Liebesschmerzen in Scherzen zu verbergen.

3. Seculum.

» XXXII ADAM DE LA HALLE £, las, i n’est mais nus ki aint

I E, las, i n’est mais nus ki aint, ensi c’on deveroit amer; cacuns l’amant or endroit faint et veut gouir sans endurer! Et pour chou se doit bien garder chele c’om prie; car tant est li feme proisïe, c’on ne li set ke reprouver! II Et tant amans en dangier maint, c’amïe se fait desirer; et s’il avient k’i le seurvaint, haussage en li vaura clamer! Et chele n’osera parler k’i ne li dïe; e, las, con je plain don d’amïe pour si vilainement user!

III Cacuns ki a viaire taint ne ki saroit biau sermouner, n’aime pas pour chou s’i se plaint, ne s’il est largues de douner! D’amïe voit om maint vanter ki ne l’a mïe; pour che doit dame, ains k’ele otrïe, sen ami par uevre esprouver!

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XXXII ADAM DE LA HALLE Ach, da ist niemand mehr, der liebt

I ’Ach [wörtl.: ach, (ich) Unglückseliger], da ist (heu­ te) niemand mehr, der liebt, / 2so wie man lieben sollte; / ’nunmehr heuchelt jeder (nur) den Liebenden / Sind will sich (der Liebe) erfreuen, ohne zu dulden! / ’"‘Und deshalb muß diejenige, die man (um Liebe) bittet, wohl auf der Hut sein; / 7denn so lange ist die Frau geschätzt, / ’wie man ihr nichts vorzuwerfen weiß [wörtl.: nicht weiß, was ihr vorwerfen]! II ’Und so lange bleibt der Liebende in (ihrer) Gewalt, / *°wie die Geliebte sich (von ihm) begehren läßt [d. h. ihn nicht erhört]; / "und wenn es geschieht, daß er sie [näml. die Gewalt] da überwindet, / "wird es nützlich sein, sich über die Anmaßung in ihm zu beklagen [oder: wird sie «¿ich über die Anmaßung in ihm beklagen wollen; oder: wird er von ihr Anmaßendes beanspruchen wollen?]! / "Und jene wird nicht zu sprechen wagen, / "wenn er (es) ihr nicht befiehlt [sagt]; / 15ach, wie beklage ich die Hingabe einer Geliebten, / “wenn sie so schändlich ausgenutzt wird [wörtl.: wegen eines so schändlichen Ausnutzens]!

III "Jeder, der ein blasses Gesicht hat / “und der schöne Reden [eigentl. Sing.] (zu führen) wüßte, / “liebt deshalb (noch) nicht, wenn er da klagt, / 20auch nicht wenn er im Schenken großzügig ist! / "Manchen sieht man sich einer Geliebten rühmen, / 22der diese über­ haupt nicht besitzt; / 23_24deshalb muß eine Dame ihren (geliebten) Freund sich durch die Tat bewähren lassen [erproben], bevor sie Zugeständnisse macht!

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£, las, i n'est mais nus ki amt IV Chele ki par fierté destraint trop sen ami, fait a blâmer, et chius, s’i l’enour de li fraint; moiienement couvient aler! Dedalus - k’ensi vaut ouvrer! le senefïe, et ses fius ki pour se folie fu tous ars par trop haut voler!

v Je n'ai rien en amour ataint ne je n’os proiier ne rouver; pour chou li cuers pas ne m'estaint, ains vif de me dame esgarder! De souhaidier et d’esperer tele est me vie! Chius ne cache fors vilenie, ki ne s’em veut a tant passer! VI Me douche dame, on doit douter langue polie; pour teus gens sui en jalousie, k'i ne vous puissent enganer.

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Ach, da ist niemand mehr, der liebt IV

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25-2‘Diejenige, die ihren (geliebten) Freund aus Hochmut [Stolz] zu sehr peinigt, ist zu tadeln [wörtl.: handelt zum Tadeln], / 27und jener [näml. der amt] (auch), wenn er dabei ihre Ehre verletzt [zer­ bricht]; / 2!man muß den Mittelweg [in der Mitte] gehen! / 2,Dädalus - denn so (wie er) gilt es zu handeln [oder: denn er wollte so verfahren]! - / “zeigt [bedeutet] es (uns), / “und (auch) sein Sohn, der wegen seiner Torheit / “durch zu hohes Fliegen ganz verbrannt wurde!

V “In der Liebe habe ich nichts erreicht, / “und ich wage nicht(s) zu erbitten und zu verlangen; / “(gera­ de) deswegen erlischt mir mein [das] Herz nicht, / “sondern ich lebe davon, meine Dame anzusehen! / “Wünschen und hoffen, / “das [derart] ist mein Leben! / “Derjenige birgt nichts als Gemeinheit (in sich), / “der dem [d. h. einem solchen Leben] dann [jetzt] nicht nachlcommen will!

vi 41_,2Meine liebliche Dame, eine glatte Zunge muß man fürchten; / “wegen ebensolcher Leute bin ich ängstlich [wörtl.: in Eifersucht], / “daß sie Euch täuschen [betrügen] könnten.

XXXIII ANONYM Quant voi vendre char de porc soursamee

I Quant voi vendre char de porc soursamee aus bais estaus au debout des maissiaus, de bone Amour ai si la pance enflee c’ausi jolis suis corn arbelestiaus. Dont voil trover chansons, motés, fabliaus, mais dou faire ne me sai tant pener ke de chanson puisse .j. soul mot trover. Bien ait Amor par cui suis ci isniaus.

Il J’ain et désir de cuer et de coree une dame qui ait non Ysabiaus, ke tant par est saige et bien espansee ke cant regart son cors qui moult est biaus, si grant joie ai ke mi chiet li serviaus et dou délit ke j’ai dou regarder me fourdout ci qu’il me covient pasmer et toëlier ausis com uns porciaus.

III Et cant ju ai celle joie passée, acheter vois moi et li .ij. chapiaus. Lues ke reving, corne dame senee me fait veïr .j. de ces blans trumiaus, dont me comance a hiricier li piaus dou grant désir k’ai de sor li monter,

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XXXIII ANONYM Wenn ich sehe, wie verdorbenes Schweinefleisch ...

I 1_2Wenn ich sehe, wie verdorbenes Schweinefleisch an den niedrigen Ladentischen ganz hinten in den [wörtl.: am Ende der] Fleischereien verkauft wird, / ’habe ich den Wanst [Pansen] so von edler Liebe aufgeblasen, / *daß ich ebenso fröhlich bin wie ein Possenreißer [Armbrustschütze]. / ’Also will ich Lie­ beslieder, Motetten, Fabliaux dichten, / ‘aber so sehr kann ich mich (gar) nicht abmühen, es zu tun, / 7daß ich ein einziges Wort eines Lieds finden könnte. / ’Der Liebe gehe [oder: geht] es gut [wörtl.: die Liebe habe bzw. hat es gut], durch die ich so geschickt [schnell] bin. II

’Von Herzen und von Eingeweiden liebe und begeh­ re ich / 10eine Dame, die den Namen Isabel trägt [hat], / "denn sie ist so durch (und durch) klug und wohlbe­ dächtig, / "daß, wenn ich ihre Gestalt anschaue, die sehr schön ist, / ’’ich eine so große Freude empfinde [habe], daß mir das Hirn herunterfällt / 14_16und (daß) ich mich vor dem Vergnügen, das ich über den Anblick empfinde, so fürchte, daß ich in Ohnmacht fallen und mich ebenso wie ein Schwein im Schmutz wälzen muß.

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"Und wenn ich diese Freude überstanden [durchge­ macht] habe, / ’’gehe ich mir und ihr zwei Kränzchen [Kopfputz] kaufen. / ’’“’“Sobald ich zurückkomme, läßt sie mich wie eine kluge [vernünftige] Dame eine ihrer weißen Waden sehen, / 21-22weswegen mir, auf Grund der großen Begierde, die ich auf sie zu steigen

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Quant voi vendre char de porc soursamee

ci qu’il m’estuet per force ausi trambler con fait .j. fours cant il est fais noviaus.

IV Trante .ij. ans l’ai bien de euer amee, n’en ruis mentir, vigne li quaremiaus, et de nos .ij. fut faite l’asamblee en .j. merchiet ke siet an coste Miaus, n’onkes ne sou tant faire de cembiaus ne moi pener de liement chanter que me vosist, sans plus, laissier taster con fait il fait par desoz ces draipiaus.

v Dame saichans, plus coie ke poupee, si voirement que ver vous sus loiaulz et corn mes cuers vuelt vilainne pansee ver vos gent cors, voilliés vos vos chaviaus en mon despit coper de malz coutiaus, car cant me doi lés vos cors reposeir, il me font ci mon visaige graiteir c’acunes gens dïent ke suis musiaus.

VI Dame saichans, plus douce c’uns aigniaus, si chier aveis nuit et jor le filer ke se voleis ma chanson escouter, je vos donrai .j. parti de fusiaus.

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empfinde, meine [die] Axt sich aufzurichten beginnt, / 23so daß ich gezwungenermaßen [durch Gewaltsamkeit] ebenso zittern muß, / 24wie ein Backofen (es) tut, wenn er neu gebaut [gemacht] ist.

IV 25Zweiunddreißig Jahre (lang) habe ich sie von Her­ zen geliebt, / 26ich will [verlange] in dieser Beziehung nicht lügen, bei der [wörtl.: komme doch die] Fa­ stenzeit [Fastnachtszeit?], / 27_28und unser beider Ver­ bindung wurde in einem Marktflecken getätigt, der in der Nähe von [neben] Meaux liegt, / 2’und (noch) niemals konnte ich so viele Hinterhalte legen [ma­ chen] / 30und mich (so) anstrengen, fröhlich zu sin­ gen, / 31daß sie mich wenigstens [wörtl.: ohne mehr] hätte versuchen lassen wollen, / 32wie es unter ihren Bettüchern ist. v ’’Kluge Dame, (die Ihr) stiller als eine Puppe (seid), / 34so wahr wie ich Euch gegenüber treu ergeben bin / 35_36und wie mein Herz Eurem anmutigen Körper gegenüber einen gemeinen Plan [Gedanken] schmie­ det [will], mögt Ihr Eure Haare / 37zu meinem Ver­ druß mit schlechten Messern schneiden, / 3!denn wenn ich mich neben Euch [wörtl.: Eurem Körper] ausruhen werde [muß], / ’’zerkratzen sie mein Ge­ sicht so, / 40daß einige Leute sagen, daß ich ein Leprakranker [verderbt] bin.

VI 41 Kluge Dame, (die Ihr) sanfter als ein Lamm (seid), / 42Ihr habt Tag und Nacht das Spinnen so gern, / 43daß, wenn Ihr mein Lied hören wollt, / 44ich Euch einen Packen [?] Spindeln geben werde.

XXXIV JACQUES DE CYSOING

Li nouviaus tans que ge voi repairier

I Li nouviaus tans que ge voi repairier m’eüst douné voloir de cançon faire, mais jou voi si tout le mont enpirier q’a chascun doit anuier et desplaire; car courtois cuer joli et deboinaire ne veut nus ber a li servir huchier, par les mauvais ki des bons n’ont mestier; car a son per chascun oisiaus s’aaire.

Il Nus n’est sages se il ne veut plaidier, u s’il ne set barons le leur fourtraire; celui tienent li fol boen conseillier ki son seignour dist çou ki li puet plaire. Las! au besoin nés prisseroit on gaire. Mais preudoume ne doit nus blastengier; non fais jou, voir, ja mot sonner n’en qier, ne des mauvais ne puet nus bien retraire.

ni Une merveille oï dire l’autrier dont tout li preu doivent crier et braire, que no jone baron font espiier les chevaliers mains coustans, mais k’il paire; teus les voelent a leur service atraire;

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XXXIV JACQUES DE CYSOING

Der Frühling, den ich zurückkehren sehe

I 'Der Frühling [neue Zeit], den ich zurückkehren sehe, / 2hätte mich (eigentlich) wünschen lassen [wörtl.: mir das Wollen gegeben], ein (Liebes-)Lied zu machen, / 'aber ich sehe die ganze Welt sich so verschlechtern, / Maß sie jedermann verdrießen und mißfallen muß; / '"‘denn kein Edelmann [Baron] will, auf daß es ihm diene [wörtl.: um ihm zu dienen], ein munteres und gütiges Herz von höfischer Art (zu sich) kommen lassen, / 7(und dies ist verursacht) durch die Schlechten, die die Guten nicht nötig ha­ ben; / "denn jeder Vogel setzt sich zu seinesgleichen ins Nest. II ’Niemand ist klug, wenn er nicht einen Prozeß füh­ ren will, / '“oder wenn er (es) nicht versteht [weiß], den Baronen das Ihrige zu entwenden; / "die Törich­ ten halten denjenigen für einen guten Ratgeber, / 12der seinem Herrn das sagt, was diesem gefallen kann. / 13Ach, in der Not würde man sie [näml. die fol\ kaum loben [schätzen]. / "Aber einen Ehrenmann darf niemand tadeln; / "ich tue es nicht, fürwahr, nie will ich ein Wort darüber verlautbaren, / "aber [und] über die Schlechten kann niemand Gutes berichten.

III

17Neulich hörte ich eine erstaunliche Sache [Wunder] erzählen, / "über die alle Trefflichen (empört) auf­ schreien und zetern müssen, / 1’"20(nämlich) daß unsere jungen Barone den Rittern, die am wenigsten kosten, auflauern lassen, wofern das (nur) offenbar ist; /21 sol­ che (Ritter) wollen sie für ihren Dienst [d. h. als Diener]

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mais ce leur font li mauvais fauconnier, ki si durs giés leur metent au loirrier q’i leur en font ongles es pies retraire.

IV II n’i a roi ne conte si gruier, s’il veut parler d’aucun bien grant afaire, ançois n’en croie un vilain pautounier, pour tant q’il ait trésor en son aumaire, ke le meillour ki soit juq’en Cesaire, tant le sace preu et bon chevalier; mais en la fin s’en set bien Dieus vengier: encor parut ceste fois au Cahaire.

v Princes avers ne se doit avancier, car bien douner toute valour esclaire; ne leur vaut riens samblant de tournoier s’il n’a en aus de larghece essamplaire; mais qant amour en loial cuer repaire, tel l’atire k’i n’i a k’enseignier; pour ce le fait bon servir sans trechier, car on en puet de tous biens a chief traire.

VI Quens de Flandres, por qu’il vos doive plaire, mon serventois vueill a vous envoier, mais n’en tenez nul mot en reprovier, car vos feriez a vostre honor contraire.

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gewinnen [an sich ziehen]; / 22aber folgendes [dies] tun ihnen die schlechten Falkner (an): / 2’Sie [eigentl. Relativsatz] legen ihnen beim Abrichten mit dem Köder so harte Riemen an, / 24daß sie ihnen dadurch Krallen und Fänge [Füße] dabei einengen [zuziehen]. IV

25Es gibt keinen (noch) so schlauen [geschickten] König oder Grafen, / 26(der), wenn er über irgendeine sehr bedeutende [große] Angelegenheit beratschlagen [sprechen] will, / 27in dieser Sache nicht eher einem gemeinen Schuft traut [glaubt] / 2’- wofern der (nur) in seinem Schrank einen Schatz hat -, / 2’als dem Besten, den es bis Caesarea gibt, / 30wenn er ihn auch als noch so trefflichen [tapferen] und guten Ritter kennt [weiß]; / ’’aber schließlich weiß sich Gott wohl daran zu rächen: / “Erneut [noch] wurde es diesmal in Kairo offenbar.

V ’’Ein geiziger Fürst darf nicht vorankommen, / 34denn rechtes Schenken erhellt jede Tugend [Wert]; / ’’nichts nützt ihnen ein (nur) scheinbares Turnier [wörtl.: Anschein eines Turniers], / ’’wenn in ihnen nicht eine beispielhafte [wörtl.: ein Muster an] Frei­ gebigkeit vorliegt [ist]; / ’’aber wenn die Liebe in einem treuergebenen Herzen einkehrt, / ’’gestaltet sie es so, daß es darin nur gute Eigenschaften [wörtl.: Vorzeigen, Lehren] gibt; / ’’deshalb tut es gut [d. h. frommt es], ihm ohne Trug zu dienen, / 40weil man dadurch alle guten Dinge vollenden [wörtl.: zu Ende bringen] kann. VI

4lGraf von Flandern, wofern es Euch gefallen würde [sollte], / 42will ich Euch mein Serventois schicken, / 4’aber haltet kein Wort davon für einen (gegen Euch gerichteten) Vorwurf, / 44denn (dann) würdet Ihr Eurer Ehre zuwiderhandeln.

XXXV RUTEBEUF

Des Ordres I Du siecle vueil chanter que je voi enchanter; tels vens porra venter qu'il n'ira mie ainsi. Papelart et béguin ont le siecle boni.

II Tant ¿’Ordres avons ja, ne sai qui les sonja: ainz Diex tels genz n’onja n’il ne sont si ami. Papelart et béguin ont le siecle boni.

III Frere Predicator sont de moult simple ator et s’ont en lor destor, sachiez, maint parisi. Papelart et béguin ont le siecle boni. IV Et li Frere Menu nous ont si près tenu que il ont retenu de l’avoir atressi. Papelart et béguin ont le siecle boni.

V Qui ces deus n’obeïst et qui ne lor gehist quanqu’il onques feïst,

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XXXV RUTEBEUF

Über die Orden I ’Über die (gegenwärtige) Welt will ich singen, / 2die ich (alles) verhexen [verzaubern] sehe; / 3ein solcher Wind wird wohl blasen [wörtl.: wird blasen kön­ nen], / 4daß es so auf keinen Fall (weiter)gehen wird. / ^Frömmler und Betbrüder / bhaben die Welt entehrt.

II 7So viele Orden haben wir nun [schon], / ’ich weiß nicht, wer sie sich ausdachte [träumte]: / ’(Noch) nie hatte Gott mit solchen Leuten zu tun, / *°und sie sind nicht seine Freunde. / "Frömmler und Betbrüder / "haben die Welt entehrt. in 13Die Brüder Prediger [d. h. die Dominikaner] / ’’sind von sehr schlichtem Äußeren [Putz, Kleidung], / ’’und sie haben in ihrem Versteck [abgelegenen Ort], / ’’wisset (es), manchen Pariser [= Geldstück], / 17Frömmler und Betbrüder / "haben die Welt entehrt. IV ”Und die Minoritenbrüder [d. h. die Franziskaner] / “haben uns so nachgestellt [wörtl.: so nahe gehal­ ten], / 21-22daß auch sie Geld (und Gut) bekommen [behalten] haben. / 2iFrömmler und Betbrüder / lbhaben die Welt entehrt. v 25Wer diesen beiden nicht gehorchte / 26und wer ihnen nicht beichtete, / 27(alles) was immer er tat, / 28ein

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Des Ordres tels bougres ne nasqui. Papelart et béguin ont le siecle boni. VI

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Assez dient de bien, ne sai s’il en font rien; qui lor done du sien, tel preudomme ne vi. Papelart et béguin ont le siecle boni.

Cil de la Trinité ont grant fraternité; bien se sont aquité: d’asnes ont fet ronci. Papelart et béguin ont le siecle boni. Et li Frere Barré resont cras et quarré; ne sont pas enserré: je les vi mercredi. Papelart et béguin ont le siecle boni.

Nostre Frere Sachier ont luminon fet chier; chascuns samble vachier qui ist de son mesni. Papelart et béguin ont le siecle boni. Set vins Filles ou plus a li rois en reclus; onques més quens ne dus tant n’en congenuï.

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Über die Orden

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solcher Ketzer wurde (noch) nicht geboren. / ^Frömmler und Betbrüder / iohaben die Welt entehrt.

VI 31Viel Gutes sagen sie, / 32ich weiß (aber) nicht, ob sie davon (auch) etwas tun; / ’’wer ihnen von dem Seinen gab, / “einen solchen Ehrenmann sah ich (noch) nicht. / 25Frömmler und Betbrüder / 2ihaben die Welt entehrt.

VII ’diejenigen von der Dreifaltigkeit [d. h. die Trinita­ rier] / ’’pflegen [haben] große Brüderlichkeit; / ’’wohl sind sie ihrer Pflicht nachgekommen: / 40 Aus Eseln haben sie ein Pferd [Lastpferd] gemacht. / ^'Frömmler und Betbrüder / nhaben die Welt entehrt.

VIII 4’Und die Brüder Quergestreift [d. h. die Karmeli­ ter], / “sind wieder fett und kräftig [viereckig, vier­ schrötig]; / 4’sie sind nicht (in Klostermauem) einge­ sperrt: / “Ich sah sie (nämlich) am Mittwoch. / Frömmler und Betbrüder / ^haben die Welt entehrt.

IX 4’Unsere Brüder Säckchen [d. h. die Brüder von der Buße Jesu Christi] / “haben eine Kerze [Kerzen­ stumpf] teuer gemacht; / 31 jeder scheint ein Kuhhirte (zu sein), / 52der [d. h. wenn er] aus seinem Haus herauskommt. / 5>Frömmler und Betbrüder / *haben die Welt entehrt. X ’’Hundertvierzig Töchter [d. h. die Töchter Gottes] oder mehr / “hat der König im Kloster [Klause]; / ’7-’’noch nie zuvor zeugte ein Graf oder Herzog so

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Des Ordres

Papelart et béguin ont le siecle boni. XI

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Beguines avons mont qui larges robes ont; desouz les robes font ce que pas ne vous di. Papelart et béguin ont le siecle boni. L’Ordre des Nonvoianz, tels Ordre est bien noianz; il tastent par leanz: «Quant venistes vous ci?» Papelart et béguin ont le siecle boni. Li Frere Guillemin, li autre Frere Hennin, m’amor lor atermin: jes amerai mardi. Papelart et béguin ont le siecle boni.

Expliciunt les Ordres.

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Über die Orden

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viele davon. / 53Frömmler und Betbrüder / ^haben die Welt entehrt.

XI “Beginen haben wir viele, / “die breite Kleider tra­ gen ; / “unter den Kleidern machen sie (etwas), / “was ich euch nicht sage. / biFrömmler und Betbrüder / '¿haben die Welt entehrt.

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“Der Orden der Nichtsehenden [d. h. die Dreihun­ den Blinden], / “ein solcher Orden ist wohl nichts (wert); / “sie tasten im (ganzen) Haus [wörtl.: drin­ nen] herum: / 70»Wann kamt Ihr hierher?« /Frömm­ ler und Betbrüder / 71haben die Welt entehrt.

XIII

7JDie Brüder von Guillemin [d. h. die Wilhelmiter], / 74die anderen armenischen Brüder, / 75für meine Liebe zu ihnen lege ich einen Zeitpunkt fest: / 76Ich werde sie am Dienstag lieben. / 77Frömmler und Betbrüder / 7ihaben die Welt entehrt.

•Die Orden* sind zu Ende.

Kommentar I ANONYM

Quant vient en mai, que l’on dit as Ions jors Chanson d’histoire

Ed. K. Bartsch, Romances et pastourelles françaises des XIIe et XIIIe siècles, Leipzig 1870, Nachdr. Darmstadt 1967, S. 3f. (Nr.1,1).

M/W 73,2 (R/S 2037): alO alO alO alO alO B5 6 coblas unissonans (I—II—III—VI; die Str. IV und V haben jeweils einen anderen a-Reim) (v. 6 jeder Str. = Refrain; vorwie­ gend epische Zäsur; Assonanzen; Str. VI, v. 4 nicht überliefert) Dieses Lied gehört einer im deutschen Sprachgebrauch miß­ verständlich als »Romanze« bezeichneten Gattung an, die zweifellos volkstümlichen Ursprungs ist, auch wenn auf Grund der etwa 20 anonym überlieferten Einzellieder nichts Sicheres über die tatsächliche Entstehungszeit der Gattung als Kunstlyrik ausgesagt werden kann (archaisch oder nur archaisierend?). Die Form dieser Lieder (meist Zehnsilber mit epischer Zäsur; einfacher Strophenbau, Assonanzen, Refrain) erinnert an die Laissenform der altfranzösischen Chanson de geste (Heldenepos), aber auch an bestimmte Erscheinungsformen der mittellateinischen Metrik, während ihr Inhalt und ihre Funktion sie als Spielart des großen vorhöfischen und später auch teilweise höfisierten Bereichs der sogenannten Frauenlieder (wenn nicht von, so doch für Frauen verfaßte, ihnen meist in den Mund gelegte, auf jeden Fall von ihnen vorgesungene Lieder) ausweisen. Die Chan-

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Kommentar

son d’histoire - diese Bezeichnung ist schon im 13. Jahrhun­ den belegt - hat großenteils erzählenden Charakter mit monologischen (häufig: Frauenklage) und dialogischen Tei­ len (»genre objectif«). Ihre Liebeskonzeption ist vorhöfisch - ein Einfluß der trobadoresken Minnekonzeption ist in der Regel nicht bzw. noch nicht festzustellen: es ist die schöne Erembor(c), die den ehemaligen Geliebten, der vom Königs­ hof, d. h. wohl auch vom Krieg, heimkehrt, anruft und sich vor ihm zu rechtfertigen hat, nicht umgekehrt. Die im übrigen unverheiratete Frau ist in dieser im aristokratischen Raum situierten Gattung der werbende Teil; sie ist es, die auf die Ehre ihres Geliebten zu achten hat, der - selbst ebenso schön - es auf Grund seiner strahlenden Heldenhaf­ tigkeit auch wert ist. Auch die Bezeichnung »chanson de (oder à) toile« für diese Liedgattung, deren Blütezeit im 12. Jahrhundert liegt, geht aus altfranzösischem Sprachge­ brauch hervor. Sie dürfte daher rühren, daß sehr viele dieser Lieder - so auch Lied I (vgl. v. 8) - von Frauen handeln, die eine Nadelarbeit (toile bedeutet >LinnenChansons de geste< e >chansons d’histoire««, in: Studi Romanzi 30 (1943) S. 55-203. E. Faral, »Les chansons de toile ou chansons d’histoire«, in: Roma­ nia 69 (1946/47) S. 433-462. E. Gasparini, »A proposito delle «chansons à toile««, in: Studi in onore di I. Siciliano, Florenz 1966, S. 457-466. R. Joly, »Les chansons d’histoire«, in: Romanistisches Jahrbuch 12 (1961) S. 51-66. P. Jonin, »Les types féminins dans les chansons de toile«, in: Romania 91 (1970) S. 433-466. G. Saba (Hrsg.), Le *chansons de toile* o »chansons d’histoire*, Modena 1955. W. Storost, Geschichte der altfranzösischen und altprovenzalischen Romanzenstrophe, Halle 1930 (Romanistische Arbeiten 16). M. Zink, Belle: Essai sur les chansons de toile, suivi d’une édition et d’une traduction, Paris 1978 (Coll. Essais sur le Moyen Age).

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Kommentar

P. Zumthor, »La chanson de Bele Aiglentine«, in: Mélanges de linguistique, de philologie et de littérature offerts à Albert Henry (= Travaux de linguistique et de littérature de TUniversité de Strasbourg 8,1), Straßburg 1970, S. 325-337.

II ANONYM

Lou samedi a soir, fat la semainne

Chanson d’histoire Ed. K. Bartsch, Romances et pastourelles françaises des XIIe et XIIIe siècles, Leipzig 1870, Nachdr. Darmstadt 1967, S. 8 (Nr. 1,5).

M/W 192,8 (R/S 143): alO' alO' alO' B7' B7' 6 coblas doblas (I—II, III—IV) (w. 4-5 jeder Str. = Refrain; vor­ wiegend epische Zäsur, 6 + 4; As­ sonanzen)

Einen archaischen (oder nur bewußt archaisierenden?) Ein­ druck macht - trotz des durch eine besondere, volkslied­ hafte Szenerie bedingten Fehlens der »toile«-Situation auch diese Chanson d’histoire, eines der schönsten Beispiele der Gattung, bei dem die Einfachheit der Form mit der Schlichtheit des Inhalts korreliert: »Gaiete, Oriour, Gérard. Six strophes, six scènes. Gaiete et Oriour, Gérard avec Gaiete, Gérard plutôt qu’Oriour, Gaiete sans Oriour, Oriour sans Gaiete, Gaiete avec Gérard; l’action la plus simple possible (un personnage se détache d’un autre pour s’attacher à un troisième), une progression purement lyrique par variations subtiles, suivant que l’un ou l’autre est mis en avant dans une relation identique« (J. Batany). Eine spezifi­ sche Wirkung resultiert in jeder Strophe auch aus der Span-

Lou samedi a soir, fat la semainne

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nung zwischen der besonderen Handlung des gerafften, fast brutalen »Minidramas« der drei Personen und dem allgemein gehaltenen, zeitlosen, ruhigen Refrain. Am volksliedhaften Charakter dieses Lieds besteht kein Zweifel, auch wenn man, wie D. Scheludko, das hohe Alter dieser Chanson d’histoire in ihrer überlieferten Fassung in Zweifel zieht: »Der Dichter der in Frage kommenden Romanze hat viel­ leicht ein Volkslied nur insoweit verändert, daß er die Strophen regelte, je drei Zeilen einen Reim gab und entspre­ chend der Mode des XIII. Jahrhunderts zu jeder Strophe noch einen Refrain fügte.« Hervorzuheben ist die Verdop­ pelung der weiblichen Protagonistin, die von A. Planche interpretatorisch wieder rückgängig gemacht wird (Gaiete = erträumtes, vielleicht zukünftiges Ich; Oriour = gegenwär­ tiges, von der ersehnten Zukunft träumendes Ich, das sich jedoch vorerst mit dem Alltag ohne Liebes- und Ehefreuden abfinden muß). In jedem Fall ist aber Oriour die Figur, welche die melancholische Tonlage des Lieds determiniert. Im übrigen wird immer wieder die Möglichkeit eines Ein­ flusses dieses Lieds auf den Pont Mirabeau Apollinaires vor allem dessen erste Fassung - hervorgehoben: »Même dessein rythmique que dans le Pont Mirabeau, même dispo­ sition de rimes, partiellement mêmes rimes; de plus, même rythme, même disposition, même construction grammati­ cale et même mouvement du refrain. L’on croira difficile­ ment à une rencontre fortuite« (M. Roques). In der vom Schreiber der einzigen Handschrift, die das Lied überliefert, aus Versehen erst am Ende nachgetragenen zweiten Strophe steht - in v. 7 - eigentlich Orior statt Gaiete. Fast alle Herausgeber haben indessen - aus Gründen der Logik der weiteren Handlung - Orior durch Gaiete ersetzt. Dagegen könnte - davon abgesehen, daß der Name Oriour sonst immer (w. 2, 11, 16, 21) ebenfalls an dieser versrhythmisch besonders markanten Stelle steht (Zäsur nach der 6. Silbe) allerdings u. a. die Möglichkeit gehalten werden, daß in Str. II eine anfängliche Verwechslung stattfindet, auf die

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Kommentar

Gaiete in Str. III sofort und verständlicherweise besonders brüsk-unfreundlich reagiert. Oriours Enttäuschung würde dadurch auf besondere Weise motiviert erscheinen. Ausgewählte Bibliographie J. Batany, Français médiéval, Paris/Montréal 1972, S. 116-123. P. Jonin, »Le refrain dans les chansons de toile«, in: Romania 96 (1975) S. 209-244. P. Pieltain, »Une chanson médiévale: >Lou samedi al soir fait la semaine««, in: Cahiers ¿’Analyse Textuelle 6 (1964) S. 23-30. A. Planche, »Gaiete, Oriour et le copiste distrait«, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 20 (1977) S. 49-52. M. Roques, Etudes de littérature française, Genf 1949, S. 144 f. D. Scheludko, »Beiträge zur Entstehungsgeschichte der altprovenzalischen Lyrik. Die Volksliedtheorie«, in: Zeitschrift für franzö­ sische Sprache und Literatur 52 (1929) S. 1-38, 201-266, vor allem S. 211 ff.

III ANONYM

En un vergier lez une fontenele Chanson d’histoire I Chanson de mal-mariée Ed. K. Bartsch, Romances et pastourelles françaises des XIIe ei XIIIe siècles, Leipzig 1870, Nachdr. Darmstadt 1967, S. 13 (Nr. 1,9).

M/W 120,5 (R/S 594): alO' alO' alO' alO' B6 B10 6 coblas (a-Reim der Str. II, V und VI ist identisch) (w. 5-6 jeder Str. = Refrain; Str. V hat 7 alO'-Verse; vorwiegend epi­ sche Zäsur; keine Assonanzen)

En un vergier lez une fontenele

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Dieses Lied dürfte schon aus formalen Gründen (keine Assonanzen) etwas jüngeren Datums sein als die Lieder I und II. Protagonistin ist nicht ein (oder zwei) unverheirate­ te^) Mädchen, sondern eine verheiratete, genauer: schlecht verheiratete, Frau, eine »mal-mariée«, die über das Leid klagt, das ihr der gemeine und böse Ehemann zufügt, und die ihren Geliebten herbeisehnt. Diese Chanson d’histoire hat viel an »histoire«, an erzählter Handlung, verloren und ist - immer unter Einschluß der Refrainverse - mehr und mehr zu einem lyrischen Monolog geworden. Allerdings ist auch hier das volkstümliche Substrat - bereits in der Szenerie (Mädchen an der Quelle) - noch deutlich genug greifbar. Im übrigen sind die 6 Strophen dieser Chanson d’histoire gera­ dezu symmetrisch komponiert. Die erste Strophe führt in das Geschehen ein und zeigt die Königstochter, die sich in der idyllischen Natur nach ihrem Geliebten sehnt. Diese erste Strophe ist ebenso erzählend wie die mit ihr korrelie­ rende letzte Strophe, in der die Erfüllung dieser Sehnsucht, die Vereinigung der Liebenden in der Natur, stattfindet. Ein ähnliches Verhältnis weisen die zweite und die fünfte Stro­ phe auf. Sie sind monologische Strophen der Königstochter. Während Str. II sich an den Geliebten wendet und zugleich das »mal-mariee«-Thema der beiden mittleren Strophen ein­ leitet, ist Str. V an Gott gerichtet, der allein noch der Brutalität des Ehemanns entgegenwirken kann und der das Flehen der »mal-mariée« denn auch erhört. Die beiden Mittelstrophen sind - wie die Refrainstrophen - wieder erzählend. Sie stellen in drastischer Weise das schlimme Schicksal der Königstochter als »mal-mariée« dar und legiti­ mieren damit zugleich den Beginn und vor allem das Ende dieses Lieds, das formal-musikalisch der Rotrouenge zuge­ rechnet wird - einer Gattung, die nicht inhaltlich bestimmt werden kann (ganz verschiedene Inhalte), auch nur mit Einschränkungen formal (meist: a a a ... (b) + Refrain b b; größere Strophenzahl als in formal ähnlichen Gattungen) zu definieren ist, sondern letztlich nur musikalisch abgegrenzt

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Kommentar

zu werden vermag (Fr. Gennrich). Zur eigentlichen Chan­ son de mal-mariee, von der diese Chanson d’histoire ihre zentrale Thematik bezieht, vgl. Lied XXIII (Moniot d’Arras). Ausgewählte Bibliographie Fr. Gennrich, Die altfranzösische Rotrouenge. Literarhistorisch­ musikwissenschaftliche Studie II, Halle 1925. Fr. Gennrich, »Zu den altfranzösischen Rotrouengen«, in: Zeit­ schrift für Romanische Philologie 46 (1926) S. 335-341.

IV ANONYM

Bele Aëliz 1. Main se leva bele Aëliz, / mignotement

Chanson d’histoire (Form: Rondeau) Ed. Fr. Gennrich, Rondeaux, Virelais und Balladen aus dem Ende des XII., dem XIII. und dem ersten Drittel des XIV. Jahrhunderts, Bd. 1 : Texte, Dresden 1921 (Gesellschaft für romanische Literatur 43), S. 4. 2. Main se Ieva bele Aëliz, / Dormez

Chanson de mal-mariée (Form: Rondeau) Ed. Fr. Gennrich, a. a. O., S. 4.

3. Main se leva la bien fete Aeliz Pastourelle (Form: Rondeau)

Ed. N. van den Boogaard, Rondeaux et refrains français du XIIe siècle au début du XIVe, Paris 1969 (Bibliothèque française et romane D/3), S. 131 f.

Bele Aëliz

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4. Quant Aeliz fu levee Chanson d’histoire

Ed. G. Raynaud, Recueil de motets français des XIIe et XIIIe siècles, Bd. 2, Paris 1883, S. 138. 1. M/W 181,63: a8 A8 a8 b4 A8 B4 1 cobla (w. 5-6 = Refrain; v. 2 = v. 5; a = Assonanz)

2. M/W 181,53: a8 A8 a8 b6 A8 B6 1 cobla (w. 5-6 = Refrain; v. 2 = v. 5; a = Assonanz?)

3. M/W 217,6:

alO A10 alO blO BIO BIO 1 cobla (w. 5-6 = Refrain; v. 5 = Variation von v. 2 auf Grund der Reimadaption an v. 6; a, b = Assonanzen)

4. M/W 2,22:

a7'a7'a7'a7' 1 cobla (wahrscheinlich Fragment)

Dies ist nur eine ganz kleine Auswahl aus den äußerst zahlreichen Liedern (vornehmlich Rondeaux, aber auch auf Rondeaux basierende Motetten), die sich - trotz aller Varia­ tionen in stereotyper Weise - mit dem >Thema< der schönen Aeliz befassen. Neben anderen derartigen >ZyklenHandlung< und des Ausdrucks immer konstant, ja fast schon formel­ haft-vorgegeben. Sie stellen den Kern dieser Lieder dar, der

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Kommentar

in gewissen Grenzen vom ersten Vers an (bele, 1, 2 > bien fete, 3; im 3. Vers: bien, mieus, 1, 2 > biau, plus biau, 3), schließlich vor allem im 4. Vers der Rondeaux variiert wird. Dem in der Regel zweifellos einem Volkslied entnommenen Refrain kommt dabei die Hauptfunktion zu; durch ihn wird - jedenfalls im zweiten und dritten Lied - so etwas wie eine gattungsmäßige Variation bewirkt. Während das erste Lied wie der Beginn einer Chanson d’histoire anmutet, erhält das zweite Lied eher den Charakter einer Chanson de mal­ mariée und das dritte Lied durch die auch in anderen altfran­ zösischen Tanzliedern festzustellende Verbindung von Aeliz mit dem Hirten Robin den Charakter einer volkstümlichen, volksliedhaften Pastourelle. Am volkstümlichen Charakter des gesamten Zyklus gibt es keinen Zweifel. Bele Aëliz steht am Anfang einer kontinuierlichen Volksliedtradition (Hauptmotive: morgendliches Aufstehen, Gang in den Gar­ ten, Blumenpflücken usw.), die bis in die heutige Zeit reicht, auch wenn der Name Aeliz bald durch das Ich des Sängers ersetzt wurde: »De bon matin je me levai ...«. Im übrigen ist für den mittelalterlichen Zyklus - im Unterschied zu den neueren Volksliedern - die Frage J. Bédiers voll und ganz berechtigt: »Que se passait-il dans ce jardin où entre Bele Aelis? Aucun texte ne nous le dit. Ceux qui font le plus avancer le récit ajoutent qu’elle y trouva >cinq fleurettes de rose fleurie« et qu’elle en fit une couronne; c’est tout. Qu’advenait-il d’elle ensuite? Les philologues désespèrent de le savoir jamais« (1906). Als Problem empfunden und in parodistischer Weise beantwortet wurde diese Frage aller­ dings schon bei den Zeitgenossen der Bele Aëliz, wie das vierte Lied zeigt. Diese Satire ist von Jacques de Vitry (gest. 1240) sogar in einer lateinischen Kreuzzugspredigt kom­ mentiert worden. Es heißt da: Quando Aeliz de lecto surrexit, et Iota fuit, et in speculo aspexit, et vestita et omata fuit, jam cruces ad processiones tolerunt et missam cantaverant, et demones eam tulerunt (»Als Aeliz vom Bett aufgestanden ist und gewaschen war und in den Spiegel geschaut hat und

Bele Aëliz

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angekleidet und geschmückt war, haben sie schon die Kreuze aufgenommen und hatten [schon] die Messe gesun­ gen, und die Teufel haben sie [näml. Aeliz] beseitigt«), Auch am volkstümlichen Charakter der Form des Rondeau bzw. Rondet gibt es keinen Zweifel. Das in der Hauptsache französische Rondeau (Rondet) ist ursprünglich ein (mög­ licherweise allein für Frauen bestimmtes) Tanzlied gewesen und wurde zur Begleitung der »Carole« (eine Art Reigen­ tanz, Maientanz) gesungen. Es ist als Ausgangspunkt für andere Tanzliedformen noch ausgesprochen einfach in for­ maler (metrischer und musikalischer) und thematischer Hin­ sicht. Seine Struktur basiert auf dem Wechselgesang zwi­ schen Vorsänger, der die >Addimenta< (w. 1, 3, 4 unserer Beispiele) vorträgt, und dem Chor, der den Refrain (w. 2, 5, 6 unserer Beispiele) singt. Der Refrain, dessen erster Vers in der Regel wortwörtlich den Mittelvers der eigentlichen Liedstrophe bildet, kann syntaktisch und thematisch in den >Erzählvorgang< des Lieds integriert sein, muß es jedoch nicht. Von einer vollen Integration kann in unseren Beispie­ len keine Rede sein. Die Spannung, die daraus zwischen dem Refrain und dem Rest der Strophe entsteht, macht den besonderen Reiz dieser Verse aus. Ausgewählte Bibliographie

J. Bédier, »Les fêtes de mai et les commencements de la poésie lyrique du moyen âge«, in: Revue des deux mondes 1896, S. 146-172. J. Bédier, »Les plus anciennes danses françaises«, in: Revue des deux mondes 1906, S. 398-424. P. Coirault, »Belle Aelis et sa postérité folklorique«, in: Romance Philology 2 (1949) S. 299-305. M. Delbouille, »Sur les traces de >Bele Aelis««, in: Mélanges de philologie romane dédiés à la mémoire de J. Boutière, Lüttich 1971, Bd. 1, S. 199-218. Fr. Gennrich, Das altfranzösische Rondeau und Virelai im 12. und 13.Jahrhundert, Langen bei Frankfurt 1963 (Summa Musicae Medii Aevi 10).

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Kommentar

L. Jordan, »Der Reigentanz Carole und seine Lieder«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 51 (1931) S. 335-353. R. Meyer ! J. Bédier / P. Aubry, La chanson de Bele Aelis par le trouvère Baude de la Quariere, Paris 1904. M. Sahlin, Etude sur la Carole médiévale. L'origine du mot et ses rapports avec ¡’Eglise, Uppsala 1940. P. Verrier, »La plus vieille citation de Carole«, in: Romania 58 (1932) S. 380-421, 61 (1935) S. 95-97. P. Verrier, »Le rondeau et formes analogues«, in: Neuphilologische Mitteilungen 34 (1933) S. 102-125. P. Zumthor, Essai de poétique médiévale, Paris 1970, S. 84 ff.

V ANONYM

E, hone amourette Chanson de femme (Form: Virelai) Ed. Fr. Gennrich, Rondeaux, Vireiais und Balladen aus dem Ende des XII., dem XIII. und dem ersten Drittel des XIV.Jahrhunderts, Bd. 1: Texte, Dresden 1921 (Gesell­ schaft für romanische Literatur 43), S. 181 f.

M/W 1219,1 (R/S 970):

a7 b5' a7 b5' c5' c5' d2 d7 C5' C5' [D2 D7 3 coblas unissonans + vorange­ stellter Refrain (4 w.) (w. 9-12 jeder Str. = Refrain)

Diese anonym überlieferte Chanson de femme (Frauenlied; hier besser: Mädchenlied) enthält trotz des volkstümlich­ volksliedhaften Grundtons (>vorhöfische< Liebeskonzep­ tion, Spontaneität, Lebens- und Liebeslust) Elemente, die zunächst auch dem (nicht zuletzt sprachlichen) Register des höfischen Dichtens entstammen können; so die Versiche­ rung in v. 17, das Verschweigen des Namens des geliebten

E, bone amourette

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Freunds (v. 29), der Verweis auf die mesdixant (v. 36) - also die losengters des höfischen Liebeslieds - und selbstverständ­ lich auch und gerade der Begriff des fins amant (Refrain), der Terminus für den höfischen Liebhaber par excellence. Derartige inhaltliche Interferenzen - es gibt auch formale zwischen einer eher volkstümlichen Lyrik und der höfischen Dichtung sind vom 12. Jahrhundert an gerade in den soge­ nannten volkstümlichen Gattungen keine Seltenheit und resultieren aus der kulturellen »Koexistenz« beider Register. Das vorliegende Mädchenlied ist in einer Form gehalten, der im 13. Jahrhundert mit Vorliebe - von ihrer Genese und ihrer Funktion her - nichthöfische Inhalte zugeordnet wer­ den. Das Virelai bzw. Vireli (so der ältere Terminus) ist zweifellos aus dem Rondeau durch Erweiterung der Strophe und der Strophenzahl (3 Strophen), auch durch thematische Erweiterung, hervorgegangen. Vorangestellt wird immer der Refrain, der jedoch nicht wie im Rondeau im Strophen­ inneren erscheint; dieser Refrain nimmt metrisch grundsätz­ lich die letzten Verse der Strophe wieder auf, die dadurch in zwei Abschnitte geteilt wird - in unserem Fall: a b a b + c c d d. Ebenso wie das (weiterentwickelte) Rondeau hat das Virelai im 14. und 15. Jahrhundert - beide Gattungen nun aber nicht mehr als Tanzlieder - in der Kunstlyrik eine große Rolle gespielt.

Ausgewählte Bibliographie

M. Françon, »On the nature of the virelai«, in: Symposium 9 (1955) S. 348-352. E. Hoepffner, »Virelais et ballades dans le Chansonnier d’Oxford, Douce 308«, in: Archivum Romanicum 4 (1920) S. 20—40. P. Le Gentil, Le virelai et le villancico. Le problème des origines arabes, Paris 1954. H. Spanke, »Volkstümliches in der altfranzösischen Lyrik«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 53 (1933) S. 258-286.

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Kommentar VI ANONYM

Mal li vaigne et Deus maleur lou dont Chanson satirique (Form: Virelai)

Ed. Fr. Gennrich, Rondeaux, Vireiais und Balladen aus dem Ende des XII., dem XIII. und dem ersten Drittel des XIV.Jahrhunderts, Bd. 1: Texte, Dresden 1921 (Gesell­ schaft für romanische Literatur 43), S. 189 f.

M/W 256,1 (R/S 1814):

alO alO alO b7' c7 C10 B7' C7 5 coblas Singulars + vorangestell­ ter Refrain (3 vv.) (w. 6-8 jeder Str. = Refrain; Str. II: Reim a = Reim c; Str. V: 9 Verse; Reime b und c = durchge­ hende Reime; Reim b = eher As­ sonanz)

Diese anonyme Frauensatire kann wie Lied IV formal als Virelai gefaßt werden, auch wenn der Refrain nicht voll und ganz dem zweiten Teil der Strophe entspricht und deshalb auch an die im übrigen schwer von der Virelai-Form zu unterscheidende Form der Ballette gedacht werden kann. Sie zeigt, wie die satirische Dichtung des 13. Jahrhunderts nicht nur die Verderbtheit der Welt, Stolz und Zügellosigkeit, den habgierigen und genußsüchtigen Klerus, sondern auch die Frauen, ihre Lüsternheit oder - wie hier - ihre Putzsucht aufs Korn nimmt. >Frau< wird synonym mit sötte, wobei in den Adressaten dieses Lieds (vos qui ameis, v. 4) unschwer die höfischen Liebhaber zu erkennen sind, die ihrer Gelieb­ ten vertrauen und ihr - bis zur Selbstaufgabe - treuergeben zu Diensten sind. Diese Selbstaufgabe, die als Besitzaufgabe dekuvriert und lächerlich gemacht wird, führt zum Status des povres chaitis - interessant ist, daß der höfische Liebha­ ber diese Bezeichnung für sich selbst oft genug wählt -, aber

Quant voi la verdure

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eines povres chaitis, der im Kontext eher als »armer Irrer« denn als »armer Unglücklicher« aufzufassen ist. Von daher ist diese Satire auch als Symptom für eine gewisse antihöfi­ sche Strömung im 13. Jahrhundert zu bestimmen. An misogynen Dichtungen ist gerade in der Spätzeit der Trouvèrelyrik kein Mangel: Hom qui se fie en famé, bien a el cors la rage (»Ein Mann, der einer Frau vertraut, der hat bestimmt die Tollwut«) - so heißt es in dem in vielen Versiönen überlieferten satirischen Evangile aux Femmes.

Ausgewählte Bibliographie P. Fink, Das Weib im französischen Volksliede, Berlin 1904, T. L. Neff, La satire des femmes dans la poésie lyrique française du moyen-âge, Paris 1901.

VII ANONYM

Quant voi la verdure

Estampie

Ed. W. O. Streng-Renkonen, Les estampies françaises, Paris 1931 (Les classiques français du moyen âge 65), S. 22-24. M/W 1442,1; 58,1; 1443,1; 1455,1 (R/S 2120):

Str. I Str. II Str. III Str. IV

a5' b5 b? b4 a5' b5 b5 b4 c4 c4 c4 clO c4 c4 c4 clO a4' d8 d3 d6 a4' d8 d3 d6 a5' d6 d3 d6 a5' d6 d3 d6

4 coblas (s. u.)

a6' a5' b5 b5 b4 a6' a6' a5' b5 b5 b4 a6' c5 c4 a6' c5 c4 a6' a6' (d4) a6' d7 a6' d7 a6'

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Kommentar

Dieses Frühlings- und Liebeslied ist eine der 19 (in einer einzigen Handschrift) überlieferten Estampies der altfran­ zösischen Lyrik. Daß sie alle ohne Melodie überliefert sind, hängt mit der relativ späten Entstehungszeit der Handschrift (erstes Viertel des 14. Jahrhunderts) zusam­ men. Ursprünglich dürfte die Estampie - der Terminus geht etymologisch auf germ. *stampjan (nhd. stampfen) zurück - ein Tanzlied, vielleicht sogar nur eine textlose Tanzmelodie, im 13. Jahrhundert auf jeden Fall noch ein gesungenes Lied gewesen sein. Inhaltlich sind die Estam­ pies der Liebeskanzone zuzuordnen (Klage des Liebenden über den ausbleibenden Lohn für seine Dienste; Anrufung der Dame, seinen Schmerz zu lindern, ihm Freude zuteil werden zu lassen; Lob der Dame; Ergebenheitsbeteuerun­ gen) - auffallend ist (nicht nur in der ausgewählten Estam­ pie) der ausgeprägte Frühlingseingang (10 w.). Formal sind die überlieferten Estampies keineswegs einheitlich (vgl. dazu auch die berühmteste altprovenzalische Estam­ pida, Kalenda maia von Raimbaut de Vaqueiras, Lied XXVII in Bd. 1 dieser Anthologie). Sie zeichnen sich jedoch in der Regel aus durch 3 oder 4 Strophen mit zwischen 4 und 30 Versen, meist - wie für ein Tanzlied charakteristisch - kurzen Versen. Die Einzelstrophe hat manchmal nur einen einzigen, meistens aber 2 Reime. Die einzelnen Strophen einer Estampie sind im allgemeinen unterschiedlich gebaut (Nähe zum Descort), folgen also jeweils einem anderen Rhythmus. Doch im Unterschied zum Descort ist jede Strophe meist in zwei gleich große Abschnitte teilbar. Außerdem sind die heterometrischen Strophen dadurch miteinander verbunden, daß die letzten Verse aller ersten Strophenteile und die letzten Verse aller zweiten Strophenteile einen einzigen Reim aufweisen. Im Unterschied zu den anderen Tanzliedformen der altfranzö­ sischen Lyrik kennt die Estampie, die aus der Sequenz abgeleitet wird, keinen Refrain. In der ausgewählten Estampie fällt der unregelmäßige Reim von v. 35 auf (ow

Gaite de la tor

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muß hier wie u gelesen werden); daß z. B. Amours (v. 36) mit estrous (v. 41) reimt, ist dagegen phonetisch korrekt; v. 44 scheint überflüssig.

Ausgewählte Bibliographie P. Aubry, Estampies et danses royales. Les plus anciens textes de musique instrumentale au moyen âge, Paris 1907. J. Handschin, »Über Estampie und Sequenz«, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 12 (1929/30) S. 1 ff., 13 (1930/31) S. 113 ff. L. Hibberd, »Estampie and stantipes«, in: Spéculum 19 (1944) S. 222-249. H. Spanke, »Das Fortleben der Sequenzform in den romanischen Sprachen«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 51 (1931) S. 309-334.

VIII ANONYM

Gaite de la tor

Aube Ed. P. Bec, La lyrique française au moyen âge (XII'-XIIT siècles). Contribution à une typologie des genres poétiques médiévaux, Bd. 2: Textes, Paris 1978, S. 27-29.

M/W 328,1 (R/S 2015):

a5 a4 b6' a5 a4 b6' C7 C4 B6' C7 |B6' 7 coblas unissonans (w. 7-11 jeder Strophe = Refrain; allerdings nur v. 7 und die ersten drei Silben von v. 10 in allen Stro­ phen identisch, ansonsten: Refrain von Str. I—II und Refrain von Str. III-IV-V identisch)

Dieses Lied ist das wohl älteste und bekannteste, aber auch umstrittenste der insgesamt nur 5 (fast alle anonym) überlie-

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Kommentar

fetten altfranzösischen Tagelieder. Es basiert wie die übrigen Aubes und die altprovenzalischen Albas (vgl. die Lieder XX, 1-3 in Bd. 1 dieser Anthologie und den dortigen Kom­ mentar) auf der Tageliedsituation: Zwei Liebende - die Dame ist in der Regel verheiratet - müssen sich nach einer gemeinsam verbrachten Liebesnacht bei Anbruch des Tages (aube), der ihnen durch einen Wächter - in volksliedhaften Vorformen auch die Vögelein - angekündigt wird, aus Furcht vor der Entdeckung ihrer heimlichen, verbotenen Liebesbeziehungen nicht zuletzt durch den Ehemann der Geliebten trennen. Diese Tageliedsituation wird entweder monologisch (so in der dem Tagelied vielleicht genetisch zugrunde liegenden Frauenklage), dialogisch (Dame, Lieb­ haber und Wächter als mögliche Dialogpartner) oder mit einer Kombination von narrativen Elementen und direkter Rede (Monolog oder Dialog bzw. - wie auch in Gaite de la tor - eher Hintereinanderschaltung verschiedener Mono­ loge) entwickelt und variiert. Daß wir es beim altprovenzali­ schen und auch altfranzösischen Tagelied in der Regel mit der höfischen Aktualisierung eines fast in jeder Dichtung und in allen Zeiten erkennbaren lyrischen Archetyps zu tun haben, wurde seit langem erkannt (Volksliedtheorie). Die These, daß das weltliche Tagelied in genetischem Zusam­ menhang mit geistlichen Morgenhymnen und der Liturgie steht, wird heute kaum noch vertreten. Dabei ist anzuneh­ men, daß die Gestalt des Wächters auf eine ursprünglich selbständige Gattung, das Wächterlied (aprov. gaita) zurückgeht. Ob dieses Wächterlied, das in den erhaltenen altfranzösischen und altprovenzalischen Tageliedern sehr oft - so auch in Gaite de la tor klar erkennbar - mit der Klage der bzw. des Liebenden über die bevorstehende Trennung kontaminiert wurde, volkstümlicher oder höfischer Prove­ nienz ist, sei dahingestellt. Diese Kontamination selbst ist auf jeden Fall höfisch bedingt und wurde nicht auf der Ebene des Volkslieds vollzogen. Im übrigen zeigt das profane höfisierte Tagelied mit vorhöfischen Mitteln einen positiven Ausweg

Gaite de la tor

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aus der permanenten, die Liebeskanzone determinierenden Spannung zwischen Begehren und Nichterfüllung der Sehn­ süchte des Dichters; es vermag seine Anstrengung und seine Hoffnung auf Erfüllung zu reaktivieren, indem es das in unerreichbarer Ferne liegende Ideal der reziproken und erfüllten Liebe wenigstens momentan - wenn auch traum­ haft im Dunkel der Nacht und unter ständiger Gefahr - in die Gegenwart holt. Bei Gaite de la tor fällt der mehrfach variierte Refrain mit seinem onomatopoetischen hu (Hornsignal) auf, der mitsamt seiner - im Unterschied zu derjenigen der Strophen selbst - beschwingten Melodie aus einem Volkslied übernommen worden sein dürfte (P. Bec). Anson­ sten gibt es über dieses Tagelied - von Arbeiten zu textkriti­ schen Fragen ganz abgesehen - kaum eine Theorie, die nicht geäußert worden wäre, so z. B.: Gaite de la tor sei ein­ schließlich Refrain ein Dialog zwischen Ritter und Dame (Wächter nur im Hintergrund); oder ein Dialog zwischen zwei Wächtern, auf den die Klage des Liebhabers folge, wobei dieser Dialog in eine Handlung eingebettet sei; oder gar ein kleines Theaterstück, ein mimisch und tänzerisch dargestelltes »Wächterspiel« (Personen: Wächter, Liebhaber, Freund des Liebhabers); oder ein »Spiel« in drei Akten (1: Begegnung der Liebenden, 2: Einbruch der Dunkelheit, 3: Morgengrauen); oder: die ersten 5 Strophen einschließlich Refrain seien eine »gaita«, genauer: ein Dialog zwischen dem Wächter (Refrain) und einem Freund des Liebhabers (Stro­ phe), der Rest des Lieds eine »aube« und dem Liebhaber zuzuordnen, und das Ganze wiederum in eine dargestellte Handlung eingebettet (Szenario aus zwei Akten). Es ist klar, daß je nach Theorie der überlieferte Text völlig unterschied­ lich auf das >Personal< aufgeteilt wird. Wesentliche Klarstel­ lungen sind P. Bec zu verdanken, der Str. I dem Liebhaber, Str. II—V dem Wächter und Str. VI-VII wiederum dem Liebhaber zuordnet. Weitere wichtige Ergebnisse seiner Neuinterpretation sind: Der Refrain von Gaite de la tormöglicherweise von einem Chor gesungen - besitzt eine

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Kommentar

ausgesprochene Autonomie (semantisch, metrisch-musika­ lisch, genetisch). Gatte de la tor ist ein Tagelied und kein »mimodrame«, kein »ballet en miniature«, auch kein Tanzlied und auch kein Dialog im eigentlichen Sinn; statt durch drei Akte wird dieses Lied allenfalls durch drei »moments lyri­ ques« strukturiert (Angst vor dem Ehemann, dem traitor, die hier als zusätzliche Angst vor dem larron/robeor in Erschei­ nung tritt; Liebesfreude; Trennungsschmerz). Gälte de la tor ist eine für den gesanglichen Vortrag bestimmte Abfolge von drei Monologen (Liebhaber, Wächter, Liebhaber). Ausgewählte Bibliographie

P. Bec, »L'aube française >Gaite de la Tore pièce de ballet ou poème lyrique?«, in: Cahiers de Civilisation Médiévale 16 (1973) S. 17-33. Ph. A. Becker, »Vom Morgenhymnus zum Tagelied«, zuletzt in: Ph. A. B., Zur romanischen Literaturgeschichte. Ausgewählte Studien und Aufsätze, München 1967, S. 149-173. L. Cocito, »Ancora Sulla >Gaite de la torauktorial< verdeut­ licht. Ansonsten entspricht das regelmäßig auf die Strophen verteilte Alternieren von Rede und Gegenrede (Dame: I, III, V; Ritter: II; IV; VI - er hat selbstverständlich das letzte Wort) den Gepflogenheiten der aus dem Süden (altprovenzalische Tenzone) stammenden Gattung; sicherlich um die­ ser Gesprächsstruktur willen (Rede - Gegenrede / Rede Gegenrede / ...) sind relativ viele Tenzonen wie diese in coblas doblas gehalten. Conons Tenzone, zu der eine Melo­ die überliefert ist, fällt allerdings - abgesehen davon, daß der Ritter bezeichnenderweise 22 Verse, die Dame aber nur 17 oder 18 Verse zur Verfügung hat, also keine formale »Gerechtigkeit« besteht - nicht zuletzt inhaltlich aus dem Rahmen der (im Vergleich zur Tenzone der Trobadorlyrik quantitativ ziemlich marginalen) altfranzösischen Tenzonendichtung. Es wird nicht über eine »Sache« gestritten, sondern über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Liebesbeziehung zwischen den Streitpartnem selbst. Damit verweist Conons Lied, das in 10 Handschriften erhalten ist, auf eine besondere, recht alte Spielart der Streitlieddichtung, den sogenannten »débat amoureux«, von dem es einige altprovenzalische und altfranzösische Beispiele gibt und der für die Gattung der Pastourelle als Baustein eine große Rolle spielt. Der Débat amoureux ist grundsätzlich ein heftiger Dialog zwischen einem Mann (Ritter) und einem Mädchen (Dame), das mit allen Mitteln der Rhetorik die Zudringlich­ keit des werbenden Manns abzuwehren versucht, um schließlich doch nachzugeben. Conons Tenzone ist nichts anderes als eine völlige, parodistische Umkehr eines solchen Débat amoureux - und es ist sicherlich nicht ganz ohne Interesse, daß u. a. Conons Dichterfreund, der Trobador

L’autrier avint en cel autre païs

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Raimbaut de Vaqueiras, mit dem zusammen er ein zweispra­ chiges Jeu-parti verfertigt hat, einen entsprechenden altprovenzalischen Débat amoureux verfaßt hat. Bei Conon will nicht der Ritter die Dame zum Liebesvollzug überreden, sondern es ist umgekehrt die Dame, die bereit ist, ganz die Seine zu werden. Und am Ende führt der Débat amoureux nicht zum Erfolg - der Ritter läßt sich auch durch den Verweis der Dame auf ihre Macht und ihren Reichtum als Ersatz für die nunmehr fehlende Schönheit nicht beeindrukken. Besonders >pikant< wird dieses Streitgedicht dadurch, daß es gleichzeitig die normalen Positionen des Minnever­ hältnisses verkehrt. Die Dame will - was sie als Dame gar nicht dürfte - dem höfischen Liebhaber ihre volle Gunst äuteil werden lassen und >umwirbt< ihn, der seinerseits dieses Angebot ablehnt, das er zu einer Zeit dankend akzep­ tiert hätte, als die Dame von ihm noch begehrt wurde. Hervorzuheben ist auch die Tatsache, daß für den höfischen Liebhaber offenbar nur die (äußere) Schönheit der Dame, ihre Jugend, als Wert zählt und weder ihre Tugenden noch ihre hohe Stellung für ihn eine Rolle spielen: ganz nach dem Grundsatz »Schönheit vorbei - Liebe vorbei». Aber - so vollkommen oder teilweise unhöfisch dies alles auch sein mag: das ganze spielt ja »in einem anderen Land».

Ausgewählte Bibliographie

Fr. Gennrich, »Zu den Liedern des Conon de Béthune«, in: Zeit­ schrift für Romanische Philologie 42 (1922) S. 231-241. A. Jeanroy, »Sur deux chansons de Conon de Béthune«, in: Roma­ nia 21 (1892) S. 418—424. A. Jeanroy, Les origines de la poésie lyrique en France au MoyenAge. Etudes de littérature française et comparée, Paris ’1925, S. 45-70, 517-521. H. Knobloch, Die Streitgedichte im Provenzalischen und Altfranzö­ sischen, Diss. Breslau 1886. H. Walther, Das Streitgedicht in den lateinischen Literaturen des Mittelalters, München 1920.

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Kommentar XIII CHASTELAIN DE COUCI

La douce voiz du louseignol sauvage

Chanson courtoise Ed. A. Lerond, Chansons attribuées au Chastelain de Couci (fin du XIIe - début du XIIIe siècle), Paris 1964 (Publica­ tions de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Rennes 7), S. 68-70.

M/W 860,49 (R/S 40):

alO' blO alO' blO blO alO' alO' blO 5 coblas unissonans

Der Kastellan von Coucy, der Verfasser dieser bekannten, in über 10 Handschriften - zum Teil auch mit Melodie erhaltenen Liebeskanzone ist nicht mit Sicherheit zu identi­ fizieren. Wahrscheinlich ist es Gui de Coucy, der am 3. Kreuzzug teilgenommen hat und nach der Chronik von Villehardouin 1203, bei der erneuten Überfahrt nach Kon­ stantinopel (4. Kreuzzug), gestorben ist (»... und er wurde ins Meer geworfen«). Vielleicht ist dieser Gui auch identisch mit Gui de Ponceaux, einem Freund des Trouvère Gace Brulé. Schließlich ist der Chastelain de Couci, der schon von den Zeitgenossen als vorbildlicher Trouvère höfischer Manier eingeschätzt wurde, im 13. Jahrhundert zum Helden einer altfranzösischen Version des Herzmäres (Geschichte vom gegessenen Herzen) geworden (Li roumans dou Cha­ stelain de Couci et de la dame de Fayel von Jakemes). Auch der Held dieser Verserzählung, in die u. a. ein dem Lied XI (Conon de Béthune) entsprechendes Kreuzlied mit Minne­ thematik vom Chastelain de Couci eingeschaltet wird, stirbt auf der Überfahrt ins Heilige Land. Nicht uninteressant ist weiterhin, daß auch ein Trobador des 12. Jahrhunderts, Guillem de Cabestanh, zum Protagonisten einer (altproven­ zalischen) Version des Herzmäres geworden ist (in seiner Lebensbeschreibung). Daß sich das Herz-Motiv - wie im

La douce voiz du louseignol sauvage

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Kreuzlied von Conon de Béthune (Lied XI) - in den Liedern beider Dichter findet (das Herz bleibt bei der geliebten Dame, auch wenn der Körper sich von ihr trennen muß), hat sicherlich zu dieser Integration in die Herzmäre-Tradition beigetragen. Lied XIII, das mit einem der besonders schö­ nen Natureingänge des Chastelain beginnt - meist als Paral­ lelisierung und nicht als Kontrastierung von »inspirierenden Natur (hier Vogelsang) und Ich des Dichters -, spielt die meisten Themen und Motive der höfischen Liebesideologie, sie gekonnt formulierend und variierend, durch: Verpflich­ tung zum Singen, d. h. auch Besingen der Dame; Vasallen­ verhältnis zur Dame; Erwartung der joie, d. h. Glückser­ wartung; Beteuerung von permanenter Treue und Ergeben­ heit; Scheu vor der Dame und ihrer übermäßigen Schönheit - der Dichter wagt nicht zu reden und nicht zu schauen; Lob der Dame; Vergleich mit Tristan; Bereitschaft, für die Dame in ihrem Dienst zu sterben; Motiv der Augen; Motiv des Herzens; Motiv der Feinde der Liebenden. Der Vergleich mit Tristan (Str. III) fällt ganz anders als bei Chrétien de Troyes aus. Ausgewählte Bibliographie

M. Delbouille / J. E. Matzke (Hrsg.), Le Roman du Chastelain de Coucy et de la Dame de Fayelpar Jakemes, Paris 1936 (Société des anciens textes français). J. E. Matzke, »The legend of the eaten heart«, in: Modem Language Notes 26 (1911) S. 1-3.

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Kommentar XIV CHASTELAIN DE COUCI

Atout m’est bele la douce conmençance Chanson courtoise Ed. A. Lerond, Chansons attribuées au Chastelain de Couci (fin du XII’ - début du XIIIe siècle), Paris 1964 (Publica­ tions de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Rennes 7), S. 89-92.

M/W 795,1 (R/S 209):

alO' blO alO' blO alO' b6 blO blO |blO alO' 5 coblas ternas capcaudadas + 1 envoi (6 w.)

Der Natureingang dieses Lieds ist ein besonders ausführli­ cher Frühlingseingang, dessen parallelistische Struktur viel­ leicht nicht auf den ersten Blick erkennbar ist: so wie die frühlingshafte Natur »von mancherlei Aussehen« ist, gegen­ sätzlich z. B. in der Farbgebung (»weiß und rot«), so ist auch der Dichter von Gegensätzen erfüllt, die aus seiner zuweilen schon zum Glück selbst umgemünzten Glückser­ wartung einerseits, der Vergeblichkeit des Wartens anderer­ seits resultieren. Die antithetische Struktur ist nicht nur in der >Zirkularität< der Komposition zu erkennen, sondern läßt sich bis in Oxymora wie »süße Lanze« (v. 21) hinein verfolgen. Auch der Ton des Dichters der Dame gegenüber ist in dieser Liebesklage nicht einheitlich, sondern schwankt zwischen bedingungsloser Unterwürfigkeit und mehr oder weniger offener Anklage. Wird die Dame zum »Verräter« werden, indem sie die Hoffnung, die ihre Erscheinung beim Dichter ausgelöst hat, nicht erfüllt? Das Phänomen der Liebe zu einer Dame, der zur Vollkommenheit lediglich merci fehlt (envoi), wird in Str. III vor allem ovidianisch gefaßt, während in Str. V ein letzter Versuch unternommen wird, durch eine fast kasuistische Rhetorik - eine recht

Quant je pluz sui en paour de ma vie

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durchsichtige Belehrung, die sogar das Won courtoisement an der richtigen Stelle placien - die Dame zum Entgegen­ kommen zu bewegen. Daß die Dame nicht genannt wird (v. 52), entspricht dem Gesetz des «Verheimlichens« (aprov. celar) der Liebesbeziehung bzw. der Identität der Dame. Auch zu diesem Lied ist eine Melodie überliefen. Ausgewählte Bibliographie

P. Zumthor, »De la circularité du chant (à propos des trouvères des XII' et XIII' siècles)«, in: Poétique 1 (1970) S. 129-140.

XV BLONDEL DE NESLE

Quant je pluz sui en paour de ma vie

Chanson counoise Ed. L. Wiese, Die Lieder des Blondel de Nesle, Dresden 1904 (Gesellschaft für romanische Literatur 5), S. 135-139.

M/W 942,2 (R/S 1227):

alO' blO alO' blO blO alO' blO c3 [c4 c6 blO a7’ b7 b7 6 coblas doblas + 1 envoi (3 w.)

Auch diese Liebeskanzone, bei der formal die quantitative Ausweitung der Strophe (14 w.) auffällt, stammt von einem Trobador, der in die Legende einging. Es handelt sich um den wohl hochadligen Blondel de Nesle bzw. eigentlich Jehan (II.) de Nesle (Blondei < blont «blond« dürfte bloß ein Beiname sein). Dieser Trouvère Blondel soll der Legende nach der treue Spielmann von Richard Löwenherz gewesen sein, der das Gefängnis seines bei der Rückkehr vom 3. Kreuzzug von Herzog Leopold I. gefangengesetzten Herrn nach langem Suchen mit Hilfe des Vortrags eines nur

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Kommentar

ihm und dem König bekannten Lieds entdeckt und dann zur Befreiung des Gefangenen beigetragen habe (vgl. dazu auch das Serventois von Richard Löwenherz: Lied XIX). Blon­ deis Lieder, die den >Konventionen< der höfischen Liebeskanzone fast im Übermaß gerecht werden, sind in außeror­ dentlich vielen Handschriften überliefert - zum Teil mit Melodie. Wie die meisten seiner Lieder, ist auch diese an Conon de Béthune gesandte Liebeskanzone eine Liebes­ klage. Die Liebesfreude ist in der Vergangenheit (v. 45) und vor allem in einer ungewissen Zukunft situiert. Der Dichter darf, ja er muß begehren; er muß sich gleichzeitig bewähren für das höchste Gut seiner Liebe, und am besten tut er dies, paradoxerweise, indem er auf dieses Ziel verzichtet. Die Dame, obgleich hartherzig erbarmungslos, darf nicht geta­ delt werden. Der höfische Liebhaber nimmt alle Schuld für die Qualen, die sie ihm bereitet, auf sich. Nie wird er von der Liebe lassen - aus dieser Fatalität (mar vi..., w. 15, 71) kann und will er nicht ausbrechen, und zwar um so weniger, als er zwar nicht die Dame und die Liebe, aber wenigstens den Schmerz, den die unerwiderte Liebe verursacht, »besiegt« hat. Und dennoch: es bleibt ja noch der Faktor Zeit, der am Schluß des Lieds eine erneute Hoffnung zu stimulieren vermag. Ausgewählte Bibliographie

F. W. Marshall, Les poésies de Blondel de Nesle. Une étude du lexique d’après l'examen des manuscrits, Diss. Paris 1958.

Desconfortez, ploins de dolour et d’ire

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XVI GACE BRULÉ

Desconfortez, ploins de dolour et d'ire Chanson courtoise Ed. H. Petersen Dyggve, Gace Brulé, trouvère champenois. Edition des chansons et étude historique, Helsinki 1951 (Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki 16), S. 248-250.

M/W815.3 (R/S 1498):

alO' blO' alO' blO' alO' blO' C8 C8 6 coblas doblas + 2 envois (je 2 w.) (w. 7-8 jeder Str. = Refrain; Re­ frainvariation in Str. II, v. 15)

Gace Brulé ist ein um 1195 geborener adliger Trouvère aus der Champagne, von dem 69 ihm mit Sicherheit attribuierbare Lieder - meist mit Melodie (er war bei seinen Zeitge­ nossen als Meister der Musik bekannt) - überliefert sind und der nach 1212 gestorben ist. Der Einfluß der Trobadors, von denen er einige persönlich gekannt haben dürfte, ist beson­ ders groß in seinen Liebeskanzonen, die schon zu seinen Lebzeiten berühmt waren. In Lied XVI, bei dem der seman­ tisch weitgehend integrierte Refrain auffällt, hat der Dichter einen Schuldigen für sein Unglück und seine Qualen gefun­ den: es sind die verfluchten faux amanz (v. 11) - im Grunde alle anderen -, die nicht richtig zu lieben verstehen und es verhindern, daß man ihn, den (einzigen) wahren höfischen Liebhaber, als solchen erkennt. Und richtig lieben heißt z. B. traurig und bekümmert sein und trotzdem singen (»Da Singen objektiv Darstellung der Freude ist, wird durch das Faktum des Singens die Klage in einen Gegenstand der Freude verwandelt«, P. Bürger); das heißt auch sich ganz der Liebe verschreiben und sich nicht über die erduldeten Schmerzen zu sehr beklagen, im Gegenteil: sie als Bausteine eines ständigen Perfektionierungsprozesses begreifen, sie

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Kommentar

zum kostbaren Liebesgeschenk ummünzen, die Leiden als Freuden erleben; das heißt auch Geduld haben, treu und standhaft sein. Werden diese Bedingungen erfüllt, dann löst sich vielleicht eines Tages auch der Widerspruch zwischen dem franc euer debonaire der Dame und ihrer den Dichter tötenden Hartherzigkeit.

Ausgewählte Bibliographie

P. Bürger, »Zur ästhetischen Wertung mittelalterlicher Dichtung. >Les oiseillons de mon päis< von Gace Brulé«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

45 (1971) S. 24-34. R. Fawtier, »Thibaut de Champagne et Gace Brulé«, in: Romania 59 (1933) S. 83-92. XVII GACE BRULÉ

Les oiseillons de mon pats

Chanson courtoise Ed. H. Petersen Dyggve, Gace Brulé, trouvère champenois. Edition des chansons et étude historique, Helsinki 1951 (Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki 16), S. 190f.

M/W 616,1 (R/S 1579):

a8 b6' a8 b6' a5 a5 a8 a8 b6' a8 5 coblas doblas capcaudadas

Dies ist eine der bekanntesten Liebeskanzonen von Gace Brulé. Str. I, v. 2 weist wohl auf einen Aufenthalt am Hof von Gottfried, Graf der Bretagne und - ebenso wie Gace Brûlés Gönnerin Marie de Champagne - Kind jener Eleo­ nore von Aquitanien, hin, die für die Verbreitung der Trobadordichtung und der trobadoresken Liebesideologie in Nordfrankreich so eminent wichtig gewesen ist. In Lied

Les oiseillons de mon pals

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XVII, das wie die meisten Liebeskanzonen »die gesellschaft­ liche Funktion [erfüllt], die höfische Liebesideologie in der Form der persönlichen Fiktion zur Darstellung zu bringen« (P. Bürger), ist besonders das Motiv der Erinnerung hervor­ zuheben: »Die Erinnerung erscheint in sich [.. .] gestuft: Champaigne und Bretaigne als deutlich voneinander abge­ hobene Bereiche, von denen nur der letzte noch in die Gegenwart hineinwirkt, was das passé indéfini ai oïs im Gegensatz zum passé défini oianzeigt. [.. .] dolz panser, das zugleich die subjektive Reaktion auf die Erinnerung an den Vogelsang meint und den Gedanken an die Dame [...]. Mit der knappen, fast skizzenhaften Motivreihung der zweiten Strophe kontrastiert die ausholende Darbietungsweise der beiden folgenden. Hier tritt das Thema der Erinnerung erneut in den Vordergrund. Der Dichter schildert das Ent­ stehen seiner Liebe unter der Allegorie des Herzensraubs. [...] Der Kuß, Zeichen der Erhörung, ist zugleich Ursache des späteren Leids. Was eben noch in die Form der Allegorie gekleidet war, wird in den darauffolgenden Versen als unmittelbar gegenwärtiges Erlebnis veranschaulicht. Hier erreicht das Gedicht seinen Höhepunkt; indem das lyrische Ich den einstigen Kuß als geistig-sinnliche Realität (en m'en­ tente und a mes levres) fixiert, die zugleich zwei Zeitebenen angehört, dem Einst und dem Jetzt, erscheint die Lust-LeidDialektik der höfischen Liebesdoktrin als erlebte Wirklich­ keit. [...] Die am Schluß der Strophe vollzogene Rückwendung zur Gegenwart konstatiert nur noch einmal das Fak­ tum der longe atente und seine Auswirkungen auf das lyrische Ich. Dem fügt auch die letzte Strophe nichts Wesentliches mehr hinzu. Sie entfernt sich nur noch weiter von der nur als Erinnerung gesehenen Möglichkeit des Glücks, indem jetzt noch die räumliche Trennung von der Geliebten (Las! n’i os aler) und die Anwesenheit der falschen Liebhaber angesprochen wird« (P. Bürger).

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Kommentar

Ausgewählte Bibliographie

P. Bürger, »Zur ästhetischen Wertung mittelalterlicher Dichtung. >Les oiseillons de mon païs< von Gace Brulé», in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte

45 (1971) S. 24-34.

XVIII GACE BRULÉ

L’autrier estoie en un vergier

Tenzone

Ed. H. Petersen Dyggve, Gace Brulé, trouvère champenois. Edition des chansons et étude historique, Helsinki 1951 (Mémoires de la Société Néophilologique de Helsinki 16), S. 379-381.

M/W 76,1 (R/S 1321):

a8 a8 a8 a8 a8 b7' a8 b7' a3 a8 b7' 5 coblas doblas

Dieses Lied ist eine fiktive Tenzone wie Lied XII (Conon de Béthune) - mit dem Unterschied, daß der Dichter selbst sich als Person, als Beobachter, in das Lied einführt und am Ende des Steitgesprächs eingreift, um Schlimmeres zu verhindern. Dieses Streitgedicht mit epischem Rahmen (auch) der Gat­ tung der Pastourelle zuzurechnen - so Mölk/Wolfzettel - ist trotz einiger für die Pastourelle charakteristischer Elemente (vor allem stereotyper Beginn: L’autrier .... Szenerie im Freien, Locus amoenus, Dichter als Beobachter und Zuhö­ rer, Débat, Handgreiflichkeiten) sehr problematisch, da es Conditio sine qua non für eine derartige Zuweisung - nicht in der Hirtenwelt situiert ist, der ständische Gegensatz also fehlt. Es ist klar, für wen der Dichter eigentlich Partei ergreift, und Gace Brulé läßt am Ende, von sich selbst in der dritten Person sprechend, keinen Zweifel daran (er hätte besser daran getan, die gute Dame der falschen die Augen

L’autrier estoie en un vergier

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auskratzen zu lassen). Nicht einmal das Argument der fal­ schen Dame, man könne schließlich nicht verhungern und von der Ehre allein ließe sich nicht (gut) leben, kann zwi­ schen den beiden Positionen, der höfischen und der total unhöfischen, vermitteln. Geliebt werden darf eben nicht wegen des Reichtums, nicht des Geldes, sondern allein der höfischen Tugenden wegen: dazu gehören Edelmut und feines Benehmen, Liebenswürdigkeit, Schönheit und Klug­ heit, Bescheidenheit und Mäßigung (Str. II); dazu gehören Ritterlichkeit, Aufrichtigkeit und Treue (Str. III), aber auch der standesgemäße Lebenswandel (von Turnier zu Turnier ziehen, Freigebigkeit, Str. IV). Wer diese Tugenden nicht besitzt, ist coart (v. 11) und mauvais (v. 22). Und schließ­ lich: Geld verdirbt sowieso den Charakter. Die aristokrati­ sche Verachtung des Geldes ist unverkennbar. Die Streit­ frage, um die es in diesem Lied geht, liegt auch anderen altfranzösischen Débats zugrunde, und bei Andreas Capellanus (De Amore) heißt es: Et exstat inde dictum Campaniae comitissae dicentis: Non esset asseveratio iusta, si nohilis et décora paupertas opulentiae postponatur incultae (»Und es geht daraus der Richterspruch der Gräfin der Champagne hervor, die sagt: >Es wäre nicht der richtige Standpunkt, wenn die edle und anmutige Armut dem rohen Reichtum nachgeordnet würde««). Auch wenn A. Vàrvaro sicherlich nicht recht hat, wenn er nahelegt, die vilenie des ironisch gemeinten letzten Verses auf das ganze Lied zu beziehen (Gace Brulé wolle durch diese Bezeichnung die »normalitä cortese«, die sein Lied überschritten habe, dem Zuhörer gegenüber wiederherstellen), so sieht er doch richtig, daß die Antithese dieses Lieds, personifiziert in der guten und der falschen Dame, aufgeweicht ist. Die Damen diskutieren nicht nur, sondern sie streiten und schreien, und es ist gerade die gute Dame, die ihrer Kontrahentin die übelsten Schimpfwörter an den Kopf wirft, und wiederum die gute Dame ist es, die mit den Handgreiflichkeiten beginnt, als ob ihre höfischen Argumente nicht ausreichten. Sie erreicht

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dadurch im Gegenteil erst, daß diese Argumente an Kraft verlieren und die Gegenargumente der falschen Dame den Charakter des schon a priori Inakzeptablen einbüßen. Den­ noch bedeutet dies nicht, daß die höfische Position dadurch relativiert, in Frage gestellt werden soll. Dies hieße den Spielcharakter, den die Dichtung - und zumal der Débat und verwandte Formen - im Mittelalter auch hatte, verken­ nen. Der Vortrag eines solchen Lieds (keine Kanzone!) auch zu ihm ist eine Melodie überliefert - hat nicht nur einen didaktischen, sondern auch einen unterhaltenden Zweck gehabt: es sollte ganz einfach Spaß machen.

Ausgewählte Bibliographie

A. Vàrvaro, »A proposito della canzone cortese come lirica formale: Gace Brulé stravagante«, in: Scritti offerti a Francesco Piccolo, Neapel 1962, S. 515-526.

XIX RICHARD LÖWENHERZ

Ja nus bons pris ne dira sa raison

Serventois Ed. Fr. Gennrich, Die altfranzösische Rotrouenge. Literar­ historisch-musikwissenschaftliche Studie II, Halle 1925, S. 20 f.

M/W 73,1 (R/S 1891):

alO alO alO alO alO b6 6 coblas doblas + 2 envois (3 w. und 2 [3] w.) (Refrainwort pris am Ende jeder Strophe des 1. envoi, nicht aber des 2. envoi, dem ein a-Vers fehlt; epi­ sche Zäsur)

Ja nus hons pris ne dira sa raison

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Dieses berühmte Lied kann vom Inhalt her als (politisch­ persönliches) Serventois gefaßt werden - also als ein Lied, das sich mit politischen und, in einem Fall wie diesem (der Dichter ist ein hoher Feudalherr), auch mit persönlichen Realien kritisch auseinandersetzt. Insofern ist es vielen Sirventesen des Trobadors Bertran de Born ähnlich, mehr aber noch - vor allem von der Tonlage und der persönlichen Involviertheit des Dichters her - dem Lied Pos de chantar m’es pres talenz Wilhelms IX. von Aquitanien (Lied V in Bd. 1 dieser Anthologie). Formal (metrisch-musikalisch) kann das Lied nach der überlieferten Melodie als Rotrouenge bestimmt werden (vgl. zu dieser Gattung auch Lied III), auch wenn es keinen vollentwickelten Refrain aufweist, sondern nur ein stets wiederkehrendes und dadurch betontes Reimwort (pris) am Ende jeder Strophe, dessen semantische Funktion klar ist. Von diesem Lied gibt es noch eine (kür­ zere) altprovenzalische Version, ohne Zweifel ebenfalls von Richard Löwenherz, dessen Untertanen, für die sein Lied bestimmt war, sich ja auf französisches und auf okzitanisches Sprachgebiet verteilen. Es ist bezeichnend, daß die Strophen (V und VI), in denen sich der königliche Dichter an die Barone von Anjou, der Touraine, von Caen und von Perche wendet (französisches Sprachgebiet), in der okzitanischen Version fehlen. Die französische Version gilt aus metrischen Gründen als die zuerst gedichtete. Das Lied von Richard Löwenherz, als Sohn von Eleonore von Aquitanien ein Urenkel des >ersten< Trobadors (Wilhelm IX. von Aquitanien) und von 1189 bis 1199 König von England, der jedoch fast ausschließlich in Poitiers resi­ dierte, ist während seiner Gefangenschaft (21. Dezember 1192-2. Februar 1194) entstanden (vgl. Lied XV). Aus v. 6 geht hervor, daß Richard Löwenherz, von dem noch ein anderes (altprovenzalisches) Lied (Sirventes) überliefert ist, sein Serventois im Frühjahr oder Herbst 1193 abgefaßt hat. Das Lösegeld, das der deutsche Kaiser (Heinrich VI.) und Herzog Leopold forderten, belief sich auf 100000 oder

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Kommentar

150000 Silbermark, eine für damalige Verhältnisse hohe Summe. Der Lehnsherr, von dem in v. 20 die Rede ist, ist der König von Frankreich (Philipp August), dessen Vasall der englische König auf Grund seiner Besitzungen auf dem Kontinent (Aquitanien) war und der - kaum von Kaiser Heinrich VI. über die Gefangennahme von Richard Löwen­ herz informiert - nichts Eiligeres zu tun hatte, als einen Feldzug in diese Besitzungen zu unternehmen (April 1193: Einnahme von Gisors). Der Eid, auf den die w. 21-22 anspielen, wurde im Sommer 1187 geleistet. Das 1. »envoi« ist an die Gräfin Marie de Champagne gerichtet (Richards Halbschwester). Im 2. »envoi« ist offenbar von Aelis, der Gräfin von Chartres, einer weiteren Halbschwester Richards, die Rede. Ausgewählte Bibliographie:

L. Wiese (Hrsg.), Die Lieder des Blondei de Nesle, Dresden 1904 (Gesellschaft für romanische Literatur 5), S. XIX ff.

XX GAUTIER DE DARGIES

De cele me plaig qui me fait languir

Descort

Ed. G. Huet, Chansons et descorts de Gautier de Dargies, Paris 1912 (Société des anciens textes français), S. 55-57. M/W 850,2 (608,1; 408,1; 2,21; 273,3; 272,14 ; 851,6) (R/S 1421): Str. I alO blO alO blO blO Str. II ail bll ail bll ail Str. III bll ail bll ail Str. IV c7 c7 d6 c6 d6 c6 d6 c6

De cele me plaig qui me fait languir Str. Str. Str. Str. Str. Str. Str. Str.

V VI VII VIII IX X XI XII

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e7' e7' e7' e7' b5 b5 f8' b5 b5 f8' b5 b5 f8' f7' f7' f9' f9' g6 g6 a6 g6 g6 a6 h7' a7 h7' a7 a7 a7 ¡6 a8 i6 a8 h7’ j8 h7' j8 j8 h7'

12 coblas Dem Inhalt nach ist dieses Lied von Gautier de Dargies (Zeitgenosse von Gace Brule) ein höfisches Liebeslied, der Form nach ein Descort. Das besondere Kennzeichen dieser Form ist: jede Strophe hat eine eigene metrische und musi­ kalische Struktur, was für die Einteilung in Strophen häufig Probleme in sich birgt, zumal Strophenenjambements (wie in Lied XX) keine Seltenheit sind. Die Bezeichnung descort (>DissonanzAristokratisierung< der volkstümlichen Gattung, d. h. ihre Angleichung an das höfische Dichten, am deutlichsten zu beobachten. Es kann als sehr wahrscheinlich gelten, daß der metrisch integrierte Refrain des Lieds von Moniot d’Arras aus einer volkstümlichen Chanson de mal-mariée stammt. Die meisten Motive dieses Lieds könnten auch in einer volkstümlichen Chanson de mal-mariée zu finden sein. Die Ausdrucksweise, die sprachlichen Register - auch die Form (abgesehen vom Refrain) - sind dagegen höfisch.

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Kommentar

Ausgewählte Bibliographie

P. Bec, »La chanson de malmariée«, in: P. B., La lyrique française au moyen âge. Bd. 1, Paris 1977, S. 69-90. R. Dähne, Die Lieder der Maumariée seit dem Mittelalter, Halle 1933. A. Parducci, »La canzone di >mal maritata« in Francia nei secoli XV-XVI», in: Romania 38 (1909) S. 286-325.

XXII THIBAUT DE CHAMPAGNE

Ausi conme unicome sui

Chanson courtoise Ed. A. Wallensköld, Les chansons de Thibaut de Cham­ pagne, roi de Navarre, Paris 1925 (Société des anciens textes français), S. 112-115.

M/W 1425,2 (R/S 2075):

a8 b8 b8 a8 c8 c8 b8 d8 d8 5 coblas doblas + 1 envoi (3 w.) (Reim b von Str. I—II = Reim c von Str. III-IV).

Thibaut de Champagne (1201-53) ist der berühmteste aristo­ kratische Trouvère des 13. Jahrhunderts. Er war Graf der Champagne, seit 1234 auch König von Navarra und lange Zeit einer der Anführer des französischen Feudaladels im Kampf gegen den König. Nach einem mißglückten Kreuzzug (1239) und einer Buß- und Pilgerfahrt nach Rom (1248) widmete er seine letzten Lebensjahre fast ausschließlich seiner segensreichen Tätigkeit als Mäzen. Als Dichter war er vielseitiger als viele seiner Dichterkollegen. Vor allem die Gattungsvielfalt ist beachtenswert. Sein dichterisches Re­ nommee war schon bei den Zeitgenossen groß - bei Dante wird er als Meister der Dichtung in der »lingua d’oi'l« gefeiert

Ausi conme unicome sui

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und neben Giraut de Bornelh (Trobadorlyrik, in der »lingua d’oc«) und Guido Guinizelli (Dolce Stil nuovo, in der »lingua di si«) gestellt (De vulgari eloquentia). Lied XXII beginnt wie andere Lieder dieses Dichters mit einem Tier­ vergleich - hier der Vergleich mit einem Fabeltier, dem in den mittelalterlichen Physiologien immer wieder beschrie­ benen Einhorn, das so durch die Schönheit und Keuschheit einer Jungfrau fasziniert wird, daß es mit diesem Mittel, trotz seiner Wildheit, gefangen werden kann. Mit ihm iden­ tifiziert sich der liebende Dichter, wobei diese Identifikation eine besondere Akzentuierung erhält, wenn man weiß, daß das Einhorn schon in frühchristlicher Zeit auf Christus bezogen und Maria als die Jungfrau gedeutet wurde, in deren Schoß das Einhorn sein Haupt legt. Das beliebte Motiv des Herzraubs beginnt in Str. II recht >konventionellhöfischen< (aristokratischen) Pastourelle, deren Blüte­ zeit die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts war und die, später in großem Maß verbürgerlicht, ohne Zweifel (zumindest auch) auf einer volkstümlichen Pastourelle basiert. Lied XXIII ist weiterhin ein Beispiel dafür, wie »für die ritterli­ che Pastourellendichtung [...] die Gefügigkeit der Hirtin eine Selbstverständlichkeit [ist], [...] sogar da, wo die Dich­ tung, sich selbst ironisierend, den werbenden Ritter den kürzeren ziehen läßt« (E. Köhler). Gattungstypisch sind bei Thibauts Pastourelle vor allem: Zufällige Begegnung - stets »neulich« (L’autrier ■■■)- zwischen einem Ritter, der in IchForm davon berichtet, und einer Hirtin in der freien, offe­ nen Natur, der Welt der Hirtin also und nicht der geschlos­ senen« Welt des Hofs; der «ausschweifende« Ritter versucht die «natürlich frische« Hirtin in einem Débat amoureux zu verführen - er tut dies ohne Umschweife und verspricht wertvolle Geschenke; da er mit seinen Überredungskünsten keinen Erfolg hat, versucht er es mit Gewalt, doch muß er, von der Hirtin verhöhnt, vor dem zu Hilfe gerufenen schäferlichen Galan der Hirtin die Flucht ergreifen; Diskussion des ständischen Gegensatzes - wer ist der bessere Liebha­ ber? -, der, im Spott der Hirtin (v. 53 äfft höhnisch v. 22

L'autrier par la matinee

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nach) inbegriffen, das Lied beschließt; Liebesklage der Hir­ tin: sie singt eine Chanson de femme, einen son (»son d’amour«; v. 6 ist, als Anfang einer Motette belegt, zweifel­ los ein bekannter Refrain gewesen). Die altfranzösische Pastourelle - dies zeigt auch noch ihre >höfische< Spielart ist weit realistischer, auch oft viel derber bzw. derbkomi­ scher, insofern auch »volkstümlichen als die altprovenzalische Pastourelle, die seit Marcabru (vgl. Lied X in Bd. 1 dieser Anthologie) immer mehr zum Vehikel für subtile liebeskasuistische, moralische, religiöse und sogar politische Erörterungen wurde und bei der das galante Abenteuer als solches immer mehr zum reinen Aufhänger geriet. Sehr kompliziert ist gerade bei der Pastourelle die Ursprungsproblematik (gelehrt/volkstümlich), aber auch die sicherlich nicht einheitliche Funktion der überlieferten Pastourellen. Hinter der »höfischem Pastourelle eines Thibaut de Cham­ pagne, die ohne Zweifel die Standesgenossen des Dichters zum Lachen brachte, steht unausgesprochen auch der Gegensatz von höfischer Dame und unhöfischer Hirtin, auf deren Niveau sich der Ritter fast in jeder Beziehung begibt. Der Ritter wirbt um die Hirtin - aber nicht, wie er um seine Dame wirbt, sondern in aller Eindeutigkeit unmittelbar auf das Ziel, den Beischlaf, zusteuemd. Der Minnedienst am Hof ist strapaziös, von ihm sucht der Ritter sich bei einer leichten Beute zu erholen. Die Hirtin (dunkle Haare) verspricht in ihrer »Natürlichkeit^ als »femme sauvage« (M. Zink) das, was die Dame (blonde Haare) dem frustrierten Ritter ständig vorenthält. Die Hirtin kann der Ritter nach einer vergebli­ chen longue proiere zu vergewaltigen versuchen, seine Dame nicht. Indessen: meist bedarf er dieses letzten Mittels gar nicht. Denn die pastore ist an sich alles andere als hartherzig. Sie liebt - auch wenn sie den Ritter mit Verweis auf die moralische Fragwürdigkeit dieser Ganelons (Ganelon ist die Verrätergestalt im altfranzösischen Rolandslied) zurückweist -, und sei es ihren Perrin, der, vom Ritter hochnäsig mit dem Diminutiv bergeron, von der replizierenden Hirtin liebe-

222

Kommentar

voll mit dem Diminutiv Perrinet belegt, ihr seinerseits treu ergeben ist: Er liebt die Hirtin auch »sprachlich« (de euer loiaument) so, wie der höfische Liebhaber stetig seine Dame zu lieben vorgibt.

Ausgewählte Bibliographie A. Biella, »Considerazioni sull’origine e sulla diffusione della »pastorella«, in: Cultura Neolatina 25 (1965) S. 236-267. M. Delbouille, Les origines de la pastourelle, Brüssel 1926 (Mémoi­

res de l’Académie Royale de Belgique. Classe des lettres et des sciences morales et politiques, 2bne série, t. XX). W. Engler, »Beitrag zur Pastourellen-Forschung (Literaturbericht und ergänzende Deutungen)«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 74 (1964) S. 22-39. E. Faral, »La pastourelle«, in: Romania 49 (1923) S. 204-259. M. Gerhardt, La pastorale. Essai d’analyse littéraire, Assen 1950. T. H. Jackson, »The médiéval pastourelle as a satirical genre«, in: Philological Quarterly 31 (1952) S. 156-170. W. P. Jones, The Pastourelle. A study of the origins and traditions of a lyric type, Cambridge (Mass.) 1931. E. Köhler, »Marcabrus »L’autrier jost’una sebissa .. .< und das Problem der Pastourelle«, zuletzt in: E. K., Trobadorlyrik und

höfischer Roman. Aufsätze zurfranzösischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962 (Neue Beiträge zur Litera­

turwissenschaft 15), S. 193-204. E. Piguet, L'évolution de la pastourelle du XII' siècle à nos jours, Basel 1927 (Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für Volks­ kunde 19). A. Pillet, »Studien zur Pastourelle«, in: Beiträge zur romanischen und englischen Philologie dem 10. deutschen Neuphilologentage überreicht, Breslau 1902, S. 87-192. J. C. Rivière, Pastourelles. Introduction à l’étude formelle des pastourelles anonymes françaises des XII' et XIII' siècles, 2 Bde.,

Paris 1974-75. T. M. Scheerer, »Thibaut de Champagne: »L’autrier par la matinée« (13. Jahrhundert)«, in: W.-D. Lange (Hrsg.), Einführung in das Studium derfranzösischen Literaturwissenschaft, Heidelberg 1979 (UTB 715), S. 28-34. M. Zink, La pastourelle. Poésie et folklore au moyen âge, Paris 1972.

Hui matin a 1‘ajomee

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XXIV GAUTIER DE COINCI

Hui matin a l'ajomee

Pastourelle/Marienlied Ed. V. Fr. Koenig, Les miracles de Nostre Dame par Gautier de Coinci, Bd. 3, Genf 1966 (Textes littéraires français 131), S. 292-296.

M/W 760,1 (R/S 491a):

a7' b5' a7' b5' a7' b5' a7' b5' c3 c4 [c7 D3 E4 D2 E6 E6 E4 E4 E8 6 coblas singulars (w. 12-19 jeder Str. = Refrain)

Gautier de Coinci (geb. 1177/78, seit 1233 Großprior der Abtei Saint-Médard von Soissons, gest. 1236) ist einer der ältesten, vielleicht sogar der älteste Verfasser altfranzösi­ scher geistlicher Lyrik, der neben seiner Lyrik vor allem Marientnirakel und Heiligenleben verfaßt hat und dem auch in der Geschichte der Musik eine gewisse Bedeutung zukommt: drei seiner Lieder sind zweistimmig nach Art des polyphonen Conductus. Überliefert sind seine Lieder fast ausschließlich als Einschübe in seine umfangreiche Samm­ lung von Miracles de Notre-Dame. Lied XXIV basien auf einer anonymen Motette (inhaltlich ein Pastourellenanfang), in der Gautiers Lied, vor allem sein Refrain, folgende »Vor­ form« aufweist: Hyer matin a l’enjomee toute m’enblëure chevauchoi aval la pree querant aventure; une pucele ai trovee, gente de feiture, mes de tant me desagree que de moi n’ot cure; [•••]•

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Kommentar

Seule estoit et si notoit O! o! o! o! o! o! Dorenlot si chantot, molt li avenoit, O! o! o! o! Et a chascum mot souvent regretot sa conpaignete Marot.

Gestern morgen bei Tagesanbruch ritt ich ganz im Paßgang die Wiese hinunter auf der Suche nach einem Abenteuer; ein Mädchen habe ich getroffen von anmutiger Art, doch insofern mißfällt sie mir, als sie sich nicht um mich kümmerte; [...]. Allein war sie und sang: Oh! oh! oh! oh! oh! oh! Ein Liedchen sang sie wohl, es war ihr sehr gemäß, oh! oh! oh! oh! Und bei jedem Wort vermißte sie oft ihre Gefährtin Marot.

Die geistliche Replik, die Gautier de Coinci - sprachlich und klanglich gekonnt - darauf gibt, ist deutlich genug. Nicht die eitle Marot bzw. Mariette, das Hirtenmädchen der Pastourelle, soll besungen werden - das mag allenfalls der ungeschlachte Robin selbst tun -, sondern Maria. Nur die

Hui matin a l’ajomee

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Dummen (genauer: die dummen Kleriker, an die sich Gau­ tier mahnend .wendet) singen noch Pastourellen mit den in ihnen enthaltenen Debats amoureux (notes). Das sind alles überholte, altmodische Lieder. Die neuen Lieder sollen nur noch von Maria singen. Nicht die törichte und tadelnswerte profane Liebe, sondern die Liebe zu Maria soll besungen und gelebt werden: Maria betrügt im Unterschied zur höfi­ schen Dame, mit der sie in Str. IV kontrastiert wird, nie­ manden und besitzt doch alle Attribute der höfischen Dame (Schönheit, Klugheit, Lieblichkeit usw.). Der Dienst an Maria wird belohnt - hier gibt es eine reziproke Liebe, die dem Liebenden das ewige Leben im Paradies beschert. Die Liebe zu ihr hält keinen illusionären Perfektionierungspro­ zeß in Gang, wie die höfische Liebe es zu tun vorgibt, sondern führt zu wirklicher Läuterung der Seele von Schmutz und Sünde. Maria ist die wahre Königin, die wahre Herrin (dame), die nicht verletzt und krank macht wie die höfische Dame, sondern im Gegenteil Wunden heilt und Kranke pflegt. Es werden also nicht nur Marot und die Pastourellenliebe (Str. I—III), sondern in der zweiten Hälfte des Lieds (Str. IV-VI) auch die höfische Dame und die höfische Liebe kritisch mit Maria und der Liebe zu ihr kontrastiert. Das Lied endet in einem litaneiartigen Marien­ loh, das jene kritische Substanz stets mitklingen läßt - nicht zuletzt durch die Benutzung der auch in der profanen Liebeskanzone verwendeten sprachlichen Register. Das Lied, das als Anti-Kanzone endet - auch insofern als die Wir-Form die Ich-Form ablöst -, beginnt wie eine profane Pastourelle (vgl. Lied XXIII), die sich indessen bald als geistliche Kontrafaktur einer Pastourelle erweist, und ver­ schmilzt noch in Str. I mit dem ebenfalls ins Geistliche gewendeten volkstümlichen Motiv des Findens einer Blume (Typus »Sah ein Knab’ ein Röslein stehn«), die sich sogleich als fleur de paradis, als Metapher für Maria entpuppt. Derar­ tige Umbiegungen von Registern, ja von ganzen Gattungen der profanen höfischen Lyrik finden sich gerade bei Gautier

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Kommentar

de Coinci häufig. Seine Absage an die höfische Tradition erfolgt relativ frühzeitig - früher jedenfalls als ihre Entspre­ chung im Midi. Sie kann gleichzeitig auch als »Reaktion« auf eine eher volkstümliche lyrische Tradition verstanden wer­ den. Zu dieser Reaktion gehört auch die Beibehaltung for­ maler Besonderheiten - hier z. B. des Refrains, auch der beschwingten Melodie - bei gleichzeitiger Umkehrung ihrer Funktion, ihrer »Botschaft« an den intendierten Rezipienten, dessen Vorliebe für das, wogegen reagiert wird, ja der Stein des Anstoßes ist. Das Sündige soll mit seinen eigenen »Mit­ teln« bekämpft werden. Eine eigenständige geistliche Lyrik, die ohne diese Mittel auskommt, gibt es im 13. Jahrhundert in der Volkssprache kaum. Ausgewählte Bibliographie

P. Aubry, L’idée religieuse dans la poésie lyrique et la musique française du moyen âge, Paris 1909. H. Hatzfeld, »Einige Stilwesenszüge der altfranzösischen religiösen Reimdichtung«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 52 (1932) S. 693-727. E. Järnström / A. Längfors (Hrsg.), Recueil de chansons pieuses du XIII' siècle, 2 Bde., Helsinki 1910-27. A. Jeanroy, »Imitations pieuses de chansons profanes«, in: Romania 18 (1899) S. 477-486. A. Lingfors, »Mélanges de poésie lyrique française II: Gautier de Coinci«, in: Romania 53 (1927) S. 474-838. V. Lowinski, »Zum geistlichen Kunstliede in der altprovenzalischen Literatur bis zur Gründung des Consistori del gai saber«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 20 (1898) S. 163-271.

Glorieuse Virge pucele

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XXV GUILLAUME LE VINIER

Glorieuse Virge pucele Marienlied

Ed. Ph. Ménard, Les poésies de Guillaume le Vinier, Genève/ Paris 1970 (Textes littéraires français 166), S. 149-152. M/W 300,1 (R/S 611):

a8'a8'b8 a8’a8'b8 b8 a8'b8 b8 a8' 5 coblas unissonans capcaudadas + 2 envois (je 5 vv.)

Dieser bürgerliche Trouvère aus Arras, dessen Brüder Gilles und Jacques ebenfalls gedichtet haben, hat nicht wie der Geistliche Gautier de Coinci nur geistliche Lyrik verfaßt, er ist vor allem als Kanzonendichter hervorgetreten, der aller­ dings auch eine eher volkstümliche Tradition (Chanson de mal-mariée, Pastourelle) nicht verschmäht. Bei ihm verwun­ dert es deshalb noch weniger, wenn seine Marienlieder über weite Strecken als regelrechte Kontrafakturen von höfischen Liebesliedern anmuten. Das ausgewählte Marienlied ist indessen erstaunlich unabhängig von den Registern der pro­ fanen Liebesdichtung, was dadurch verstärkt wird, daß die letzte Strophe und die beiden Geleitstrophen sich nicht mehr an Maria, sondern an Gott und den Erzengel Michael wen­ den, eindeutig Gebetscharakter tragen und eine relativ auto­ nome Metaphorik und Motivik aufweisen. Auch der Beginn des Lieds trägt Gebetscharakter: Maria wird hier vor allem in ihrer traditionellen Rolle als Mittlerin zwischen Gott und der sündigen Menschheit angesprochen. Die Metaphorik der Str. II—IV - so z. B. der Vergleich der Reue mit Tau und Honig - stammt aus der geistlichen, speziell der mariologischen Tradition. Trotzdem fehlen auch hier nicht die Bezüge zur höfischen Lyrik. Auch in diesem Lied wird Maria implizit als Antithese zur höfischen Dame präsentiert, wird eine klare Alternative zum »paradoxe amoureux« offe­

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Kommentar

riert. Die Liebe zu Maria bereitet keine Qualen (vgl. das Herz-Motiv in Str. IV), sondern ungetrübte und dauerhafte Freuden. Daß Maria als dame und damoisele angesprochen wird, hängt damit zusammen, daß sie als Herrin der Welt zwar eine dame ist, aber auf Grund der unbefleckten Emp­ fängnis eigentlich damoisele geblieben ist.

XXVI RICHART DE SEMILLI

L'autrier tout seus chevauchoie mon chemin Pastourelle / Chanson de mal-mariée (Form: Virelai)

Ed. G. Steffens, »Der kritische Text der Gedichte von Richart de Semilli«, in: Beiträge zur romanischen und engli­ schen Philologie. Festgabe für W. Foerster, Halle 1902, S.352f. M/W 255,1 (R/S 1362):

all all all b6 C7 C4 B6 6 coblas singulars (w. 5-8 jeder Str. = Refrain; b und c = durchgehende Reime; aVerse: lyrische Zäsur)

Die Schaffenszeit von Richart de Semilli wird - vielleicht zu Unrecht und auf Grund falscher Rückschlüsse aus seiner viele volkstümliche Elemente aufgreifenden Dichtung - relativ früh (um 1200) angesetzt. Die metrisch-formale »Originalität hingegen spricht eher für eine spätere Datierung seiner Lieder. Lied XXVI - formal ein Virelai oder, auf Grund der erhaltenen Melodie, eine Rotrouenge (nach Fr. Gennrich) ist gattungsmäßig als Kontamination einer Pastourelle und einer Chanson de mal-mariée zu qualifizieren. Das Lied beginnt wie eine Pastourelle (L’autrier ...; morgens; Szene­ rie im Freien, außerhalb von Paris [außerhalb der Stadt,

Volez oïr la muse Muset?

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nicht außerhalb des Hofs: spricht dies nicht auch für eine spätere Datierung?]; der Ritter ist allein; Begegnung mit einer Schönen .. .), und es endet auch wie so manche Pastourelle (der Ritter >tröstet< die klagende Schöne; Bereit­ willigkeit der Schönen, die sogar um Wiederholung bittet), sogar die »Liebesklage« der Schönen fehlt nicht, ebensowenig eine Art Débat amoureux. Doch die Schöne ist keine Hirtin, sondern eine »mal-mariée«, die über ihren bösen Ehemann klagt und - der Refrain unterstreicht diesen Aspekt, denn er ist in Str. I in die Strophe integriert (als Lied der »mal­ mariée«) - sich nach einem Geliebten sehnt. Sie nimmt den ersten besten, der sich anbietet: den dichtenden Ritter selbst. Die Vermutung, daß der Refrain aus einer Chanson de mal­ mariée stammt, liegt nahe.

XXVII COLIN MUSET

Volez oïr la muse Muset? Pastourelle/Reverdie

Ed. J. Bédier, Les chansons de Colin Muset, Paris 21938 (Les classiques français du moyen âge 7), S. 1-3.

M/W 183,1 (R/S 966):

a8 a8 a8 b4 a8 b4 a8 b4 a8 b4 c4' c5' [c4' d5 c4' c5' c4' d5 d5 4 coblas doblas (Str. I, v. 12; Str. IV, w. 69, 73: c6' statt c5' ; zu anderen Unregelmäßig­ keiten und ihrer Erklärung vgl. die Edition)

Colin Muset (zweites Viertel des 13. Jahrhunderts) ist ein vielseitiger lothringischer Trouvère bzw. Ménestrel, der die relative formale und thematische Uniformität der höfischen

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Kommentar

Lyrik fast in allen seiner überlieferten Lieder - besonders kompliziert sind bei ihm die Attributionsfragen - durch­ bricht. Seine »Originalität« besteht u. a. darin, daß er sein spielmännisches Leben, den Alltag seines Berufs in seine Dichtung immer wieder miteinbezieht. Sehr oft hat er Lie­ der regelrecht signiert - meist mit seinem Namen bzw. seinem Beinamen (muset bedeutet >MausüberspieltReimanomalienqui ne voudrait pas compter« [...]. Le pauvre Muset n’était pas bien reçu quand il rentrait à la maison sur

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Kommentar

son cheval harassé avec sa male farsie de vent [...]. Aussi fallait-il de temps en temps se résigner à des expéditions plus longues; il fallait trotter après quelque »mauvais prince« qui ne vous récompenserait que bien médiocrement de vos peines: fâcheux moments pour qui n’aimait qu’dise et sejor\ Mais d’autres fois aussi on vivait grassement, quitte à enga­ ger son manteau, dans quelque bone vile où on médisait des borjoises, et où on donnait à un confrère en poésie comme Jacques d’Amiens des conseils empreints de la sagesse la plus pratique: »Faites comme moi, si menrés bone vie-, ne donnez votre amour qu’aux bons morceaux, aux bons vins, et, par cette froidure, aux grands feux dans la chambre.« Ainsi se passa la vie de Colin Muset, voyageuse et casanière, légère et sensuelle, recluse en hiver et vagabonde en été, familière jusqu’à l’insolence avec ceux qui l’entretenaient [...].« Lied XXVII weist gattungsmäßig einige (wenn auch zum Teil verfremdete) Merkmale der Pastourelle auf: Locus amoenus als Szenerie, Liebesbegegnung im Freien (aber nicht mit einer Hirtin, außerdem spricht die dancele den Dichter an und nicht umgekehrt), Liebeswerben (aber nicht per Débat amoureux, sondern durch ein eigenes Liebeslied: die vv. 24-25 sind zweifellos Selbstzitat eines nicht erhalte­ nen Lieds, was u. a. daraus hervorgeht, daß Colin Muset in v. 24 diesem seinen Zeitgenossen sicherlich bekannten Lied zuliebe einen eklatanten Reimverstoß in Kauf nimmt), Lie­ besbereitschaft des Mädchens, Liebesvollzug. Andererseits ist es möglich, dieses beschwingte Lied der Gattung der Reverdie zuzuweisen, mit der es folgende zahlreiche Cha­ rakteristika gemeinsam hat: Frühlingshafte Szenerie (Ergrü­ nen, »reverdie« der Natur< morgendlicher Vogelsang; freu­ dige Stimmung), Liebesbegegnung (mit der oben vermerk­ ten »Umwandlung« des Dialogs), Beschreibung des schönen Mädchens (Freude über Natur und Freude über Schönheit des Mädchens korrelieren), Übertragung der Euphorie auf andere Bereiche (hier: Gastronomie), Schlüsselwörter als Diminutive. Darüber hinaus kann dieses Lied als Kommen-

Sire cuens, j’ai vielé

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tar des in w. 24-25 lediglich intonierten Lieds aufgefaßt werden: Es >berichtet< reverdiehaft und durchaus in der Art einer Razo (wohl mit derselben Melodie wie J'ai mis mon euer ...), wie jenes Lied entstanden ist, wie es am Morgen eines Maitags (En mai fu fete, un matinet) in einem herrli­ chen Glücksgefühl für eine schöne dancele verfaßt wurde und welchen Erfolg der Dichter mit diesem Lied hatte.

Ausgewählte Bibliographie

G. Paris, Rez. von: J. Bédier (Hrsg.), De Nicolao Museto (gallice Colin Muset), francogallico carminum scriptore, Paris 1893, in: Romania 22 (1893) S. 285-296. M. Tyssens, »An avril au tens pascour«, in: Mélanges de philologie romane dédiés à la mémoire de J. Boutière, Bd. 2, Lüttich 1971, S. 589-603. XXVIII COLIN MUSET

Sire cuens, j’ai vielé Chanson jongleresque

Ed. J. Bédier, Les chansons de Colin Muset, Paris 21938 (Les classiques français du moyen âge 7), S. 9 f.

M/W 134,2 (R/S 476):

a7 a7 a7 a7 b4' b7' b7' b7' b7' 5 coblas unissonans (Str. II, w. 6, 8: b8' statt b7'; Str. V: Erweiterung zu 12 w. mit dem Schema a7 a7 a7 a7 a7 a7 b5' b7' b7' b7' b7' b7'; Assonanzen)

Dieses >Spielmannslied< gibt - trotz aller Selbstironie und möglicher Stilisierung - einen recht guten Einblick in die Lebensverhältnisse des Trouvère Colin Muset (vgl. den Kommentar zu Lied XXVII). Es zeigt, wie oft der mittelal-

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Kommentar

terliche Spielmann mit seinem eigenen >Unglück< geradezu hausieren gehen mußte. Colin Muset tut dies mit Witz und einem für ihn typischen Realismus, der die Beschreibung seiner Ehefrau (bzw. ihrer beiden Seiten - je nach Erfolg des Ehemanns) ebenso umfaßt wie diejenige des erträumten Schlemmer- und Patriarchenlebens am heimischen Herd. Nicht uninteressant ist der Gegensatz zwischen dem gräfli­ chen ostel (Reimwort von v. 2) des Beginns (Realität), in dem der Ménestrel (lat. ministerialis >DienerspielmännischenReich< sein eigener >Herr< sein zu dürfen, auch lange genug den Diener spielen müssen.

XXIX COLIN MUSET

Qant je Ion tans refroidier

Chanson (bachique?) Ed. A. Henry, »La chanson R 1298«, in: Romania 75 (1954) S. 108-115 (ohne das Komma nach v. 50 und die damit verbundene Interpretation der unklaren Str. V).

M/W 758,2 (R/S 1298):

a7 b4 a7 b4 a7 b4 a7 b4 c5 c5 c5 c7 4 coblas unissonans + 2 envois (je 4 vv.)

Dieses Lied, zu dem im Unterschied zu Lied XXVII und Lied XXVIII keine Melodie erhalten ist, ist nicht unter Colin Musets Namen überliefert, wird ihm aber von der

Lambert Ferri, le quel doit miex avoir

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Forschung attribuiert, da es wesentliche Merkmale des Musetschen Dichtens (vgl. auch den Kommentar zu Lied XXVII) aufweist: Sehnsucht nach Wärme und Gebor­ genheit im Winter; Epikureismus und Freude am Schönen; spielmännischer Appell an die Freigebigkeit und die Groß­ zügigkeit der hohen Herren; Kritik am kriegerischen Ernst, der niemandem, am wenigsten den Spielleuten, etwas ein­ bringt; Traum vom wohligen Schlemmerleben und von fröhlicher Trunkenheit; auch formale Eigentümlichkeiten. Es vor allem auf Grund der letzten Strophe als Trinklied (Chanson bachique) zu bezeichnen (ältere Forschung), ist ein Notbehelf. Vielleicht ist es eher - wie Lied XXVIII - als ein Spielmannslied in dem Sinn zu qualifizieren, daß es die reale Unwirtlichkeit des gerade hereinbrechenden kalten Winters mit dem Traum vom Wohlleben an einem warmen Ofen kontrastiert, um in den beiden »envois« zur bitteren Wirklichkeit zurückzukehren (das »Nicht...« von v. 49 ist vielleicht zu einem »Nicht einmal ... « zu verdeutlichen) und einen potentiellen Gönner, einen Gui de Sailly, der den gar nicht einmal so versteckten Sinn, die Funktion dieses Lieds erkennt (antant raison), um Hilfe in der »schlimmen Jahreszeit« zu ersuchen.

XXX JEAN BRETEL / LAMBERT FERRI

Lambert Ferri, le quel doit miex avoir

Jeu-parti Ed. A. Lângfors / A. Jeanroy / L. Brandin, Recueil général des jeux-partis français, Bd. 1, Paris 1926, S. 191-193.

M/W 1209,17 (R/S 1794):

alO blO' alO blO' clO clO dlO LdlO 6 coblas unissonans + 2 envois (je 4 w.)

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Kommentar

Dieses Lied zweier bürgerlicher Trouvères aus Arras (zwei­ tes Drittel des 13. Jahrhunderts) gehört zur Gattung des Jeu­ parti (»geteiltes Spiel«), einer Streitgedichtgattung, die sich vor allem dadurch von der Tenzone (vgl. Lied XII und Lied XVIII) unterscheidet, daß sie mit einer mehr oder weniger dilemmatischen Fragestellung beginnt, die nur ein Entwe­ der-Oder als Antwort zuläßt, und daß es sich in der Regel um liebeskasuistische Fragen handelt (hier: Wer hat die besseren Voraussetzungen zur ritterlich-höfischen Vollkom­ menheit - derjenige, dessen Liebe noch unerfüllt ist und der deshalb noch hoffnungsvoll dient, oder derjenige, der das Ziel seines Mühens schon erreicht hat). Durch Setzen von These (Sic) und Antithese (Non) soll das Wahre vom Fal­ schen geschieden, die vérité (v. 8) erkannt, eine Synthese anvisiert werden, die allerdings als eine ideale außerhalb des Einzellieds liegt, das nur alle Möglichkeiten bis ins Detail argumentativ durchspielt, aber keine gültige Antwort auf die Frage selbst, also keine Lösung enthält. Insofern ist das Jeu­ parti, das auf der scholastischen Disputationsmethode basiert, mehr als bloße Unterhaltungskunst einer höfischen oder auch bürgerlichen Gesellschaft. Daß der angesprochene Interlokutor weniger die Aufgabe hat, eine gültige Wahrheit zu formulieren, sondern an ihrer Erarbeitung mitzuwirken, zeigt die Tatsache, daß er - wie hier in Lied XXX - zwar die Gelegenheit hätte, sich für die in der höfischen Norm veran­ kerte Möglichkeit (A) zu entscheiden, aber dennoch die Möglichkeit B wählt, um sie quasi als Advocatus diaboli zu verteidigen und damit einer besonderen Schwierigkeit (Argumente finden für eine an sich »unhaltbare« These) Herr zu werden. Die eine Seite aber vermag die andere zu erhel­ len. Und vor allem: erst durch die Konfrontation mit einer völlig entgegengesetzten Position wird die als Standard gel­ tende Seite als eine extreme gekennzeichnet und somit relati­ viert. Die rund 200 überlieferten Jeux-partis stammen in der Hauptsache aus Arras und wurden als Gemeinschaftspro­ duktion zweier Dichter vor einem Publikum von Sachken-

J'os bien a m’amie parler

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nern vorgetragen (den Dichtergenossenschaften, den soge­ nannten Puys). In Lied XXX werden in den beiden »envois« noch einmal die Hauptargumente rekapituliert und resü­ miert; in anderen Beispielen (ursprünglich war dies die Regel) nennen die beiden Interlokutoren jeweils eine(n) Richter(in). Ausgewählte Bibliographie

F. Fiset, »Das altfranzösische Jeu-parti«, in: Romanische Forschun­ gen 19 (1905) S. 407-544. H. Spanke, »Zur Geschichte des altfranzösischen Jeu-parti«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 52 (1929) S. 39-63. XXXI ADAM DE LA HALLE

J’os bien a m’amie parler

Motet

Ed. E. de Coussemaker, Œuvres complètes du trouvère Adam de la Halle, Paris 1872, S. 270 (Melodie: S. 266-270).

M/W 676,1 (1. Stimme): a7 b4 a7 b4 a7 b4 a9 ail a8 M/W 697,8 (2. Stimme): a7 b4 b7 a4 a7 b4 a9 b7 a7 a4 Dieses Lied ist eine von über 600 überlieferten Motetten und stammt vom bekanntesten bürgerlichen Trouvère aus Arras (gegen 1255 geb., schon 1288 gest.), der nicht nur seinem für die Entwicklung des französischen Theaters des Mittelalters entscheidenden Theaterschaffen (Jeu de la Feuillée und Jeu de Robin et Marion) und einem Abschiedsgedicht (Congé) an seine Freunde und seine Frau (vor einer Reise nach Paris gedichtet), sondern auch seiner Lyrik (Kanzonen, Motetten, Rondeaux, Jeux-partis usw.) seinen bedeutenden Platz in der Geschichte der altfranzösischen Literatur verdankt. Die

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Kommentar

Motette ist eine Liedgattung des 13. Jahrhunderts, die als (mehrstimmige) musikalische Gattung bis heute weiterlebt. Die Hauptform ist im 13. Jahrhundert die Doppelmotette (vgl. Lied XXXI), bei der man zwei Stimmen eine dritte, rhythmisch selbständige Stimme (Tenor), die meist dem Gregorianischen Choral entnommen wurde, hinzufügte. Jede Stimme (3. Stimme = Tenor) hat einen eigenen Text; alle Stimmen kommen gleichzeitig zum Vortrag. Die Texte der beiden hohen Stimmen sind seit Beginn des 13. Jahrhun­ derts in französischer Sprache abgefaßt, während der Tenor selbstverständlich in der Regel lateinisch blieb (Lied XXXI: Seculum als Textzeichen). Zwischen den drei Stimmen gibt es in diesen Fällen also eine sprachliche Opposition (franzö­ sisch - lateinisch), darüber hinaus eine prosodische (und musikalische) Opposition (unterschiedliche metrische Struktur) und, auf Grund der textlichen Verschiedenheit, eine semantische Opposition. Diese kann - zwischen den beiden ersten Stimmen - dadurch verstärkt sein, daß die (meist profanen) Texte verschiedenen Liedgattungen zuzu­ ordnen sind (sehr häufig: Fragmente von Pastourellen und Reverdies, Rondeaux, Chansons de mal-mariée, Marienlieder, satirische oder gar obszöne Textsorten, höfische Lie­ beslyrik, auch erzählende Texte usw.). Meist kann eine gewisse Tendenz zu volkstümlichen Gattungen beobachtet werden. Die Motetten sind aber dennoch eher für ein gebil­ detes Publikum als für das Volk verfaßt worden (liturgischer Charakter), was auch in der relativ unkomplizierten hand­ schriftlichen Überlieferung zum Ausdruck kommt, vor allem aber in der Vielfalt von Gattungen, Registern und Traditionen, die in ein und derselben Motette aufeinander­ treffen können: »Les motets constituent donc, comme on peut le voir, un véritable conservatoire textuel qu’il convien­ drait d’étudier de plus près, et qui mêle constamment à des fins stylistiques concertées, la tradition courtoise et la tradi­ tion popularisante« (P. Bec). Die Motette von Adam de la Halle enthält ebenfalls so etwas wie eine Stimme und eine sie

J’os bien a m’amie parler

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negierende Gegenstimme (J’os bien ... / Je n’os ...) - die beiden ersten Stimmen sind einander parallel und zugleich antithetisch zugeordnet. Auf eine einfache Formel gebracht: Die erste (volkstümliche) Stimme bringt die »mal-mariee«Thematik aus der Perspektive eines dreisten ami - die zweite (höfische) Stimme die celar(cheler, v. 18)-Thematik (Ver­ heimlichen der Liebe) aus der Perspektive eines vorsichtigen Liebhabers. Ausgewählte Bibliographie

E. Apfel, Anlage und Struktur der Motetten im Codex Montpellier, Heidelberg 1970. P. Aubry (Hrsg.), Cent motets français du XIII' siècle, publiés d’après le ms. de Bamberg, Paris 1908. Fr. Gennrich, Bibliographie der ältesten französischen und lateini­ schen Motetten, Darmstadt 1958. H. Guy, Essai sur la vie et les oeuvres littéraires du trouvère Adam de la Haie, Paris 1898. F. Mathiassen, The style of the early motet, Kopenhagen 1966. H. Nathan, »The function of the text in French 13th-century motets«, in: Music Quarterly 28 (1942) S. 445-462. G. Raynaud (Hrsg.), Recueil de motets français des XII' et XIII' siècles, 2Bde., Paris 1881-83. A. Summing (Hrsg.), Die altfranzösischen Motette der Bamberger Handschrift, Dresden 1906 (Gesellschaft für romanische Literatur B). H. Tischler, The motet in the thirteenth century France, New Haven (Conn.) 1942.

240

Kommentar

XXXII ADAM DE LA HALLE

E, las, i n’est mais nus ki aint Chanson courtoise

Ed. R. Berger, Canchons und Partures des altfranzösischen Trouvere Adan de le Haie le Bochu d’Aras, Bd. 1: Can­ chons, Halle 1900 (Romanische Bibliothek 17), S. 96-98.

M/W 1045,30 (R/S 149):

a8 b8 a8 b8 b8 c4' c8' b8 5 coblas unissonans + 1 envoi (4 vv.)

Diese Liebeskanzone von Adam de la Halle zeigt, daß auch in der bürgerlichen Lyrik der reichen Stadt Arras die höfi­ sche Tradition noch keineswegs abgebrochen ist. Im Gegen­ teil: Adams Liebeskanzonen entsprechen in fast allen Punk­ ten der höfischen Liebesideologie und wetteifern in dieser Hinsicht mit den entsprechenden literarischen Produkten aus aristokratischen Federn - so wie überhaupt die reichen Bürger von Arras, als Mäzene und als Dichter (150 sind namentlich bekannt), mit der höfischen Kultur zu konkur­ rieren trachteten. In Adams Lied XXXII, in dem die Topoi der höfischen Liebeslyrik unschwer zu erkennen sind, ist ein wesentlicher kritischer und didaktischer Ton hervorzuhe­ ben: Kritisiert werden die schlechten Liebhaber - gute gibt es jetzt schon fast keine mehr, außer dem Dichter selbst belehrt wird die Dame. Auf den Mittelweg kommt es an - so der Bürger Adam, der aus seiner Bildung (Dedalus) kein Hehl macht: Die Dame darf nicht zu hartherzig sein, der Liebhaber darf ihre Ehre nicht verletzen. Einen solchen bürgerlichen Mittelweg kennt die höfische Ideologie in ihrer »klassischen* Ausprägung nicht. Sie ist von Zuspitzung geprägt, ja ohne diese Zuspitzung verliert sie ihre paradoxale Struktur. Die aber ist bei Adam de la Halle in einer nüchter­ nen Rekapitulation der Verhaltensnormen aufgegangen,

Quant voi vendre char de porc soursamee

241

denen Dame und höfischer Liebhaber zu folgen haben. Der ursprüngliche Sitz im Leben dieser Verhaltensnormen ist jedoch verlorengegangen. Die Dame soll nicht deshalb die Erfüllung hinauszögern, damit der spannungsgeladene Pro­ zeß der Perfektionierung im höfischen Sinn nicht zum Still­ stand kommt, sondern damit sie die Macht über den Liebha­ ber behält und schließlich: damit sie sich nichts zuschulden kommen läßt (c’on ne li set ke reprouverl). Der bürgerliche Dichter schleicht sich fast unmerklich in das höfische Lied ein.

XXXIII ANONYM

Quant voi vendre char de porc soursamee

Sötte chanson Ed. A. Längfors, Deux recueils de sottes chansons. Bodl., Douce 308 et Bibi. Nat., Fr. 24432, Helsinki 1945 (Annales Academiae Scientiarum Fennicae), S. 54-56.

M/W 1045,7 (R/S 555):

alO' blO alO' blO blO clO clO blO 5 coblas unissonans + 1 envoi (4 vv.)

Die Sötte chanson gehört - neben hier nicht berücksichtig­ ten Gattungen wie der Resverie und der Fatrasie (keine Liedgattungen!) - als systematische Parodie der höfischen Liebeskanzone zur gegenkulturellen Bewegung des 13. Jahr­ hunderts. Sie ist von daher eine Anti-Kanzone. Die 26 in insgesamt nur 2 Handschriften überlieferten Lieder sind mit Sicherheit lediglich die (mehr oder weniger zufällig überlie­ ferte) Spitze eines Eisbergs, der in den bürgerlichen Zentren Nordfrankreichs zu lokalisieren ist. Die Sötte chanson des­ halb aber allein auf die bürgerliche (burleske und antihöfi­ sche) Kultur zurückführen zu wollen, scheint trotz dieses

242

Kommentar

Überlieferungstatbestandes verfehlt. Die Sötte chanson muß nicht ausschließlich ein Phänomen der Spätzeit sein. Daß die Sötte chanson des aristokratischen Kulturbetriebs, die es zweifellos gegeben hat, nicht überliefert wurde, wohl aber ein Teil der bürgerlichen Sottes chansons, bedarf keiner besonderen Erklärung. Dabei dürfte die ari­ stokratische Parodie sich von der bürgerlichen in ihren Erscheinungsformen kaum unterschieden haben. Parodiert werden in Lied XXXIII in einer metrisch korrekten Kanzonenform u. a.: der Natureingang (Schema Quant voi ... und Parallelisierung mit Dichter-Ich beibehalten, aber mit burlesken bzw. widerlichen Inhalten gefüllt; auch der Weg von der >Natur< zum Abfassen des Lieds ist gegeben, doch aus dem einen Lied werden viele Lieder verschiedener Gattungen, und alles wird umgedreht zum Motiv der dichterischen Impotenz, für die der Liebe ironisch gedankt wird); sprachliche Register (z. B. v. 9 durch den Zusatz et de coree oder durch die zeitliche Spezifizierung in v. 25, die dem höfischen Liebhaber und seiner Dame ein für mittelalterliche Verhältnisse bereits ausgesprochen hohes Alter zuweisen); Motive der Liebeskanzone (z. B. der >keusche Beischlaf« in vv. 31—32; das celar-Gebot durch das Nennen des Namens der geliebten Dame in v. 10, auch durch die Ortsangabe in w. 27-28; die physischen und psychischen Auswirkungen der Liebe auf den höfischen Liebhaber - kein Hunger, kein Durst, Schlaflosigkeit, Trä­ nen, Schauder, Ohnmacht usw. - werden ins Burleske oder gar Obszöne gewendet: w. 12-16, 21-24; Umkehrungen von topischen Beteuerungen des höfischen Liebhabers der Dame gegenüber wie in w. 35-36; in Str. V der trobadoreske »Masochismus«); Lob der Dame (Umkehrungen, Parodie durch Einbetten von Topoi in einen anderen Kon­ text usw.). Die Dame ist selbstverständlich keine »hohe« Dame mehr, sondern eher eine Dirne, die nicht genug »Spindeln« haben kann. Die höfische Liebe ist nur noch gewöhnliche, zum großen Teil auch bewußt ins Wider-

Li nouviaus tans que ge voi repairier

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liehe gezogene Sexualität. Doch warum sollte es diese im Zeitalter der höfischen Liebe - und gerade in ihm - nicht gegeben haben?

XXXIV JACQUES DE CYSOING

Li nouviaus tans que ge voi repairier Serventois

Ed. A. Jeanroy / A. Längfors, Chansons satiriques et bachi­ ques du XIIIe siècle, Paris 1921 (Les classiques français du moyen âge 23), S. If. M/W 860,38 (R/S 1305):

alO blO' alO blO' blO' alO alO LblO' 5 coblas unissonans + 1 envoi (4 vv.)

Jacques de Cysoing ist ein adliger Dichter aus Flandern (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts), der in diesem mora­ lisch-sozialkritischen Rügelied gegen den seiner Ansicht nach entarteten Adel seiner Zeit polemisiert. Dieser miß­ achte die ritterlichen Tugenden und nehme falsche Ratgeber in seine Dienste - diejenigen nämlich, die nicht viel kosten und von daher dem Geiz der großen Barone gerecht werden, und diejenigen, die ihren Herren nur nach dem Mund reden. Das Serventois von Jacques de Cysoing, das nach 1250 (die Schlacht von Mansourah, auf die v. 32 anspielt, fand im Februar 1250 statt) entstand und das mit Melodie überliefert ist (für ein Serventois recht ungewöhnlich), ist eines der wenigen Lieder der altfranzösischen Lyrik, das von seinem Dichter selbst als serventois (y. 42) bezeichnet wird. Freilich sind die Hälfte dieser Lieder gar keine Serventois (morali­ sche, politische, soziale, persönliche Rügelieder), sondern Marienlieder. Ganz von diesem terminologischen Problem

244

Kommentar

abgesehen, »daß die altfranzösische Lyrik die Gattungsbe­ zeichnung serventois kaum kennt und darüber hinaus - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - in einer anderen gattungsmäßigen Zuordnung belegt, als sie dem altprovenzalischen Sirventes auch noch im späten 13. und beginnen­ den 14. Jahrhundert eigen gewesen ist« (D. Rieger), ist auch das Serventois als Gattung im Norden relativ wenig vertre­ ten. Jacques de Cysoing nun knüpft mit seinem Appell an die Freigebigkeit der Barone an die trobadoreske Tradition an - so auch, wenn er am Anfang seiner Diatribe deutlich macht, warum er keine Kanzone - einige seiner Liebeskanzonen sind überliefert - dichten kann (trotz des Frühlings: Umwandlung des Frühlingseingangs), sondern ein Serven­ tois dichten muß. Ausgewählte Bibliographie

E. Hoepffner, »Les chansons de Jacques de Cysoing«, in: Studi Medievaliti. S. 11 (1938) S. 69-102. D. Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobadorlyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Sirventes, Tübingen 1976 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 148), S. 68 ff. R. Zitzmann, »Die Lieder des Jacques de Cysoing«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 65 (1949) S. 1-27.

Des Ordres

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XXXV RUTEBEUF

Des Ordres Satire

Ed. E. Faral / J. Bastin, Œuvres complètes de Rutebeuf, Bd. 1, Paris 21969, S. 330-333.

M/W 248,14 (R/S 835a):

a6 a6 a6 b6 C6 B6 13 coblas singulars (w. 5-6 jeder Str. = Refrain)

Diese nach dem Mai 1263 verfaßte Satire stammt vom berühmten Rutebeuf (vor 1248 - um 1285), einem Spiel­ mann und Dichter niederer Abkunft, der vollkommen mit der höfischen Dichtung gebrochen hat und der deshalb am Schluß dieser Anthologie seinen Platz findet. Ein Trouvère im eigentlichen Sinn ist er nicht mehr. Rutebeuf, der mit seinen persönlichen Gedichten (der Terminus >Lied< ist bei ihm in der Regel nicht mehr angebracht, da das musikalische Element sich vom Text gelöst hat, die Lieddichtung zur Lyrik geworden ist) bereits auf Villon weist, ist der große, außerordentlich produktive Satiriker der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Dabei hat es ihm - wie Lied XXXV zeigt auch der Klerus bzw. das Ordens(un)wesen seiner Zeit angetan. Die Bissigkeit, die satirische Schärfe, mit der er die verschiedenen Orden kritisch Revue passieren läßt, ist kaum zu überbieten. Selbstverständlich wird heute das Verständ­ nis durch viele Anspielungen erschwert, die erst zu ent­ schlüsseln sind (vgl. die ausführlichen Anmerkungen der Edition). Die Verwendung des Refrains zeigt, daß diese Satire als eine Art »Gassenhauer« konzipiert worden ist. Eine Melodie ist nicht überliefert.

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Kommentar

Ausgewählte Bibliographie

L. Clédat, Ruteheuf, Paris 21909. L. Cocito, »Osservazioni e note sulla lirica di RutebeufGeschichte< gemacht. Sie wirken zum

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Die mittelalterliche Lyrik Frankreichs

Teil heute noch in bestimmten Denk-, Fühl- und Verhal­ tensweisen nach, auch wenn man sich dessen kaum bewußt ist. Die (nicht überlieferten) Anfänge der Trobadorlyrik als Kunstlyrik liegen wohl in der zweiten Hälfte des 11., die der Trouverelyrik um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Der älteste Trobador, von dem Lieder überliefert sind, ist der Herzog Wilhelm IX. von Aquitanien (1071-1127), der älteste Trouvere Chretien de Troyes (vor 1150 - vor 1190), zugleich der bedeutendste Verfasser höfischer Romane in Frankreich, dessen beiden Liebeskanzonen wahrscheinlich zu seinen >Jugendwerken< zu zählen sind. Die Blütezeit der überliefer­ ten höfischen Lyrik in Nord- und Südfrankreich erstreckt sich auf die Jahrzehnte zwischen 1170 und 1250 (Trouvere­ lyrik) bzw. 1140 und 1250 (Trobadorlyrik). Die Trouveredichtung des 13. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch eine immer stärkere Übernahme der ursprünglich allein der Ari­ stokratie zugeordneten Dichtungsformen und -inhalte durch das städtische Bürgertum (Hauptzentrum: Arras), so daß auch von einer gewissen Kontinuität in der Geschichte der französischen Lyrik bis weit in das Zeitalter der Renaissance hinein gesprochen werden kann. Bei der altprovenzalischen Lyrik liegen die Verhältnisse anders: Hier trug ein politi­ sches Ereignis, der aus politischen und religiösen Gründen vom (nord)französischen Königshaus und vom Papst gemeinsam gegen den Süden geführte Albigenserkreuzzug (1209-29), wesentlich zum völligen Niedergang der Trobadordichtung gegen Ende des 13. Jahrhunderts bei. Der Süden verlor seine politische Autonomie, die bisherigen kulturellen Zentren büßten damit mehr und mehr an Bedeu­ tung ein, und auch die Sprache selbst, das Okzitanische, wich in der Folgezeit nicht nur als Verwaltungssprache, sondern auch als Sprache der Dichtung mehr und mehr dem Französischen. Daran vermochte auch der 1323 gegründete, vor allem religiöse Dichtung pflegende Dichterverein von Toulouse (Consistori del gai ¡aber), eine Art Meistersinger-

Die mittelalterliche Lyrik Frankreichs

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schule, nichts zu ändern. Die Dichtung in dieser romani­ schen Sprache wurde mehr und mehr auf die Ebene der Folklore herabgezogen, was einen völligen Bruch mit ihrer Glanzzeit als Kunstlyrik bedeutete. Eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert, u. a. durch die romantisierende FélibrigeBewegung (Mistral), setzte ein deutliches Renouveau der Kunstlyrik in okzitanischer Sprache ein, das bis heute anhält. Die Frage, ob dieses Renouveau sprachbewußter Dichter Südfrankreichs auch einem Renouveau eines ent­ sprechenden breiteren Publikums entspricht, muß allerdings mit einem vorsichtigen Nein beantwortet werden. Sie ist letzten Endes ebenso Teil der französischen ZentralismusRegionalismus-Problematik und ihrer Geschichte seit dem hohen Mittelalter wie der Niedergang der Trobadorlyrik und der sie tragenden Kultur in Südfrankreich selbst. Der Niedergang allerdings kam zu spät, um die Wirkung dieser Dichtung verhindern zu können - eine Wirkung, die auch in Zeiten - etwa in der Renaissance oder in der Aufklä­ rung - anhielt, als der Ausgangspunkt selbst so gut wie vergessen war. Die europäische Romantik hat indessen bald die Wiedererinnerung an die Anfänge der volkssprachlichen Kunstdichtung des Abendlands eingeleitet. Die in ihrem Zusammenhang zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstandene wissenschaftliche Beschäftigung mit den romanischen Spra­ chen und Literaturen, die Romanische Philologie, hat schließlich seit François Raynouard und Friedrich Diez der mittelalterlichen Lyrik Frankreichs - der Trobadorlyrik und wenig später auch der Trouvèrelyrik - den ihr gebührenden Rang zurückgegeben - nicht nur in Frankreich, sondern zunächst vor allem in Deutschland. Von dem im ^.Jahr­ hundert noch vorherrschenden romantischen Bild vom »Troubadour« und seinen Liedern, das ohne Zweifel noch die allgemeine Vorstellung des »Durchschnittslesers« prägt, hat die Forschung sehr bald nicht mehr allzu viel übriggelassen. Die folgenden gewiß sehr unvollständigen Ausführungen sollen ebenso wie die Übersetzungen und die Kommentare

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Die mittelalterliche Lyrik Frankreichs

dazu beitragen, dem Leser einen Einblick in die wissen­ schaftliche Beschäftigung mit dieser Dichtung, einen Ein­ blick in ihre >Wirklichkeit< zu gestatten. Sicherlich werden bei ihm dadurch einige jener romantischen Clichevorstellungen zerstört. Doch die >Alterität< der mittelalterlichen Dich­ tung, die nicht nur eine sprachliche Andersartigkeit ist, wird auf der Grundlage von wissenschaftlichen Ergebnissen und Hypothesen auch der Phantasie des heutigen Lesers noch genügend Spielraum lassen. Das Faszinosum bleibt als sol­ ches erhalten - trotz oder vielleicht gerade wegen der perma­ nenten Versuche, seine Rätselhaftigkeit wissenschaftlich auf­ zuhellen. Die Sprache

In seinem bedeutenden Aufsatz über die »Rolle der Trouba­ dours in der Entstehungsgeschichte der modernen Lyrik« hat Istvän Frank das »großartig Neue« der altprovenzalischen Lyrik wie folgt zusammengefaßt: »sie bedient sich der Volkssprache, die allen verständlich ist; sie ist lyrisch und das Werk individueller Persönlichkeiten, die uns als solche bekannt sind. Das Zusammentreffen dieser drei Gegeben­ heiten literarischen Schaffens begegnet uns zum ersten Mal in den Werken der Troubadours.«' Was den ersten Punkt, die Volkssprachlichkeit, betrifft, so muß allerdings eine die Erstaunlichkeit des Phänomens >Trobadorlyrik< noch erhö­ hende Einschränkung gemacht werden: die Sprache der Trobadors ist nämlich eine Koine, also eine literarische Gemeinsprache, und keine Verkehrssprache des täglichen Lebens gewesen. Die Ursprünge dieser die schon im Mittelalter existierenden dialektalen Unterschiede innerhalb des Okzitanischen überbrückenden Koine liegen nach wie vor im dunkeln. Bereits die um 1100 zu datierenden überliefer­ ten Lieder des >ersten< Trobadors, des Herzogs Wilhelm IX. von Aquitanien, sind in dieser - wenn auch bei Wilhelm mit einigen Poitevinismen (Dialekteigentümlichkeiten des

Die Sprache

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Poitou) durchsetzten - Sprache abgefaßt, setzen diese Koine als schon gefestigt voraus; die dialektalen Erscheinungsfor­ men der trobadoresken Texte insgesamt sind geringfügig und verweisen in der Regel nicht auf den Dialekt des Dich­ ters, sondern auf den des Handschriftenschreibers bzw. -abschreibers, oder aber sie werden vom Dichter selbst ganz offenbar aus formalen, meist metrischen Gründen als dispo­ nibles Material verwendet: Oft ist nur so zu erklären, warum in ein und demselben Trobadorlied Varianten aus verschiedenen Dialekten besonders in den Bereichen Graphie und Phonetik gleichzeitig auftauchen. Wie es scheint, ist diese in großem Maß künstliche Sprache der Lyrik, die der »natürlicheren« Sprache der altprovenzalischen Epik in mancher Beziehung entgegensteht, wohl aus einem be­ stimmten okzitanischen Dialekt des Mittelalters hervorge­ gangen - aus welchem, darüber ist sich die Linguistik bis heute noch nicht im klaren.3 Im allgemeinen wird angenom­ men, daß der sprachliche Normgebungsprozeß, der zur Koine führt, im Fall der altprovenzalischen Literatursprache keineswegs politisch motiviert (politische Vorherrschaft einer bestimmten Region), sondern - wie später bei der Herausbildung des Italienischen aus dem Toskanischen rein literatur- und kulturhistorisch begründet ist, d. h. »daß die Entstehung der einheitlichen Sprache nur im Zusammen­ hang mit dem Aufblühen der Trobadorlyrik betrachtet wer­ den kann«.4 Man dachte dabei sehr lange an den Dialekt des Limousin; einmal weil aus dieser Region einige der bedeutendsten Trobadors des 12. Jahrhunderts stammten, zum andern weil Limoges, ihre Hauptstadt, genauer: die dortige Abtei SaintMartial, ein Zentrum der mittellateinischen liturgischen Tropusdichtung war, deren Einfluß auf die Trobadorlyrik unbestritten ist, zumal ja auch das Wort für >dichten«, aprov. trohar bzw. afrz. tro(u)ver (heutige Grundbedeutung »fin­ den«), im allgemeinen aus (con)tropare »Tropen, d. h. Texte zu Melodien finden, erfinden« abgeleitet wird, der trohador/

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Die mittelalterliche Lyrik Frankreichs

trovere entsprechend aus tropator(em). So haben schon die Verfasser von Grammatiken aus dem 13. und 14. Jahrhun­ dert (der Razos de trohar und der Leys d'Amors) die altprovenzalische Dichtungssprache als lemozi (»Limousinisch«) bezeichnet. Man hat auch an das Poitevinische gedacht, vor allem weil der »erste« Trobador aus dem Poitou stammt - er war gleichzeitig Graf von Poitiers oder an das Languedokische, den Dialekt der Region von Toulouse, die ebenfalls ein bedeutendes Kulturzentrum war, oder an den Dialekt der ehemaligen Gallia Narbonensis, also des Südostens des okzitanischen Sprachraums. Wie dem auch sei: es ist interessant zu sehen, wie diese Literatursprache der Trobadorlyrik bereits sprachlich ohne wesentliche Veränderungen bis ins 14. Jahrhundert hinein - ein einheitliches Gepräge gibt, wie auch die Trobadors aus der Gaskogne sich dieser Sprache bedienten, obgleich ihr Dialekt innerhalb des Okzitanischen schon im Mittelalter eine ausgesprochene Sonderstellung einnahm, insbesondere aber wie in manchen Regionen der Romania, die im 12. und 13. Jahrhundert noch nicht über eine das Lateinische ablösende eigene Literatursprache verfügten, ebenfalls die Trobadorsprache als Sprache der Lyrik verwen­ det wurde: Es gibt eine ganze Reihe von katalanischen und von oberitalienischen, auch von französischen Trobadors, und noch die Anfänge einer eher eigenständigen lyrischen Dichtung Kataloniens und Italiens (Sizilien) sind mit einer Fülle von sprachlichen Provenzalismen durchsetzt. Dabei muß festgehalten werden, daß diese Literatursprache, als Sprache der höfischen Lyrik zugleich Sprache der höfischen Kultur, des Höfischen überhaupt - sicherlich auch der höfi­ schen Konversation -, im ganzen Abendland Geltung besaß. Die sprachliche Homogenität des geistigen und literarischen Südfrankreich des 12. und 13. Jahrhunderts ist deshalb zugleich als Symptom für eine wesentliche kulturelle Ein­ heitlichkeit zu werten, und diese Sprache als Vehikel ganz generell der höfischen Ideologie hat überall dort - auch und

Die Sprache

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gerade in der Sprache der Trouveres - ihre Spuren in Form von Provenzalismen hinterlassen, wo jene höfische Ideolo­ gie aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Eines der bekanntesten Beispiele: das französische Wort amour »Liebe« ist Lehnwort aus dem Altokzitanischen,5 während das eigenständige, nichtlehnwörtliche ameur nur noch im pikardischen Dialekt mit der das genaue Gegenteil der Trobadorliebe beinhaltenden, »entmenschlichten« Bedeutung »Brunst« weiterlebt. Was die Aussprache der Trobadorsprache betrifft, so lassen sich - u. a. ausgehend von der des modernen Okzitanischen - die folgenden hauptsächlichen Feststellungen treffen: Die Vokale e und o sind je nach der Etymologie des betreffen­ den Worts geschlossen oder offen (p - p, p - p): p < lat. i, e oder oe;p< lat. eoderbessere< Französisch zu spre­ chen, schon früh bemerkbar ist.6 Der Trouvère Conon de Béthune, der aus dem Artois stammt und dessen Lieder voller pikardischer (artesianischer) Dialektmerkmale sind, zog bereits um 1180 (oder etwas später?) am französischen Königshof Tadel auf sich, weil seine Lieder nicht im könig­ lichem Dialekt abgefaßt seien. Conons dichterische Antwort auf diese politisch - möglicherweise letztlich auch ganz ökonomisch gegen den reicheren Norden - motivierte Anmaßung zeigt den Ärger des Angegriffenen, doch zugleich sein regionalistisches Selbstbewußtsein:

Ke mon langaige ont blasmé li François et mes cançons, oiant les Champenois et la Comtesse encoir, dont plus me poise.

Die Sprache

265

La Roi'ne n’a pas fait ke cortoise, ki me reprist, eie et ses fieus, li Rois. Encoir ne soit ma parole franchoise, si la puet on bien entendre en franchois; ne chil ne sont bien apris ne cortois, s’il m’ont repris se j’ai dit mos d’Artois, car je ne fui pas norris a Pontoise.7 Etwa zur gleichen Zeit brüstete sich Guernes de PontSainte-Maxence, ein Dichter der Ile-de-France, in einem Heiligenleben (Vie de Thomas Becket), ein besseres Franzö­ sisch zu schreiben. Die Tendenz ist also vorprogrammiert, doch die Realität des 12. und 13. Jahrhunderts zeigt im Bereich der Lyrik noch ein Nebeneinander verschiedener, relativ gleichberechtigter (vor allem pikardischer, champa­ gnischer, lothringischer und franzischer) Dialektformen. Eine Tendenz zur Koine ist allerdings nicht zu leugnen darauf weist auch Conon de Bethune hin, wenn er betont, seine Lieder würden auch von einem Bewohner der Ile-deFrance verstanden. Die Linguistik gebraucht für diese auf dem Weg zur Koine befindliche, aber von dialektalen Besonderheiten noch keineswegs ganz freie Schriftsprache den Terminus >ScriptaMeer< - werden ebensowenig ausgesprochen wie s vor Konsonant; mit Ausnahme von i und u werden alle Vokale vor n oder m auch dann nasaliert, wenn unmittelbar auf den Nasalkonsonanten ein Vokal folgt; bei einem Diphthong vor einem Nasalkonsonanten wird der erste Teil des Diphthongs nasaliert; der Konsonant r ist leicht zu rollen; bei dem zu « vokalisierten l (yot Konsonanten) ist ein Laut zwischen u und / zu sprechen; mouilliertes l ist noch als solches zu sprechen und noch nicht zum /-Laut geworden. Hinzuweisen ist noch auf eine Besonderheit in der Schrei­ bung: Einer Gepflogenheit mittelalterlicher Schreiber fol­ gend, steht in den hier abgedruckten Texten gelegentlich -x als Kürzel für -us, man lese also Dieus statt Diex, biaus statt biax, usf. Die Überlieferung

Geht man von der gesamten überlieferten mittelalterlichen Dichtung Frankreichs aus, so wird zwischen Trobadorlyrik und Trouvèrelyrik ein wesentlicher Unterschied deutlich. Die Lieddichtung der Trouvères stellt im literarischen System Nordfrankreichs im 12. und 13. Jahrhundert ledig­ lich einen - allerdings wichtigen - Ausschnitt dar. Sie ist mit ihren vielen Einzelgattungen ein Teilsystem oder Subsy­ stem, dem im Gesamtsystem eigentlich in keinem Zeitpunkt der Entwicklung die Rolle der Dominanten zugefallen ist. Diese Rolle hatten in Nordfrankreich - wie die Überliefe­ rung deutlich zu machen vermag - eher die epischen Gattun­ gen inne, vor allem die Chanson de geste (Heldenepos), der Roman courtois (höfischer Roman) und eine Vielzahl von erzählenden (aber gleichfalls in Versform gehaltenen) Kurz­ formen. Anders in Südfrankreich: Auch hier gilt zwar, daß mit dem Terminus lyrisches Gattungssystem (der Trobadors)< - bzw. »trobadoreskes Gattungssystem« - nicht das

Die Überlieferung

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literarische System, die Dichtung in Südfrankreich vom Ende des 11. bis zum Ende des 13. Jahrhunderts insgesamt erfaßt wird; denn es gab in diesem Zeitraum neben der Trobadorlyrik selbstverständlich noch andere Dichtungsfor­ men und -Untersysteme, vor allem erzählende Dichtung (z. B. FZamenca-Roman und Jaufre-Roman).8 Doch waren diese in Südfrankreich - im Unterschied zum Norden - zu keiner Zeit quantitativ oder qualitativ dominant und wurden deshalb auch nur in äußerst geringem Maß von der hand­ schriftlichen Überlieferung erfaßt. Bei der Trobadorlyrik handelt es sich also zwar ebenfalls lediglich um ein (aller­ dings ausgesprochen kohärentes) Subsystem, dem indessen eine derartige, durch die Überlieferung veranschaulichte, ohne Zweifel durch die soziale und kulturelle Vorherrschaft seiner Trägerschicht bedingte Dominanz im literarischen Leben Südfrankreichs zu dieser Zeit eignet, daß ihr gegen­ über alle anderen (nur spärlich oder überhaupt nicht überlie­ ferten) Subsysteme als nahezu bedeutungslos erscheinen. Eine gewisse Einschränkung ist notwendig: Diese relative »Bedeutungslosigkeit« vor allem der erzählenden Dichtung im Midi ergibt sich so eindeutig selbstverständlich nur aus der unsere Perspektive bestimmenden Quantität der Über­ lieferung. Über die tatsächliche »Bedeutung« anderer (vor allem epischer) Subsysteme insbesondere für »nichthöfische« Publikumsschichten, also das niedere Volk, dessen Literatur ja meist »subliterarisch« blieb, d. h. nicht aufgezeichnet wurde, wird damit nichts ausgesagt. Erhalten sind von den Anfängen der Trobadorlyrik bis zum Ende des 13. Jahrhunderts mehr als 2500 Lieder von mehr als 450 namentlich bekannten Trobadors - nur etwa 250 Lieder sind überhaupt ohne Dichternamen auf uns gekom­ men. Dieses Liedmaterial pflegt die Forschung im großen und ganzen auf der Grundlage des trobadoresken Gattungs­ bewußtseins selbst, aber ohne Berücksichtigung der zumeist nach inhaltlichen Kriterien ausgesonderten Untergattungen und der Spezifizierungen von Trobadors des 13.Jahrhun-

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Die mittelalterliche Lyrik Frankreichs

derts (z. B. Cerveri de Girona) und Theoretikern der Spät­ zeit (z. B. Guillem Molinier, Verfasser der Leys d’Amors), in 14 oder 15 Gattungen zu unterteilen: Kanzone (trobadoreskes Minnelied), Sirventes (moralisches, persönliches, politi­ sches oder soziales Rügelied), Sirventes-Kanzone (Lied, das Kanzonen- und Sirventesthematik miteinander verbindet), Cobla (Lied von nur einer Strophe Länge), Kreuzzugslied, Planh/Klagelied (Totenklage), Tenzone und Partimen (Streitgedichte zweier oder mehrerer Trobadors), Pastou­ relle (Lied von der Begegnung eines Ritters mit einer Hir­ tin), Alba/Tagelied, Romanze, Tanzlied, Descort, religiöses Lied (vor allem: Marienlied) und Salut d’amour (Liebesbrief in Versen).’ Da die Trobadorlyrik eine neu entstehende Dichtung ist, die keinem schon bestehenden poetologischen Kanon zu entsprechen hat und vor allem durch kein ver­ bindliches Imitationsprinzip an die mittellateinische Lyrik anknüpft, sondern sich in der Hauptsache eigenständig ent­ wickelt hat, ist diese Gattungsvielfalt, die sich im Lauf des 12. Jahrhunderts herausgebildet hat, erstaunlich. Schon das zahlenmäßige Verhältnis der einzelnen Genera zeigt, daß den Gattungen der Trobadorlyrik rein quantitativ ein unterschiedliches Gewicht zukommt. Zwar können die Verhältniszahlen lediglich auf Grund des überlieferten Lied­ materials gewonnen werden, und man kann nur vermuten, daß sich darin die tatsächlichen Proportionen widerspiegeln - Verfälschungen des tatsächlichen quantitativen Verhältnis­ ses durch die selektionierende handschriftliche Überliefe­ rung sind möglich. Doch kommt gerade im quantitativen Verhältnis innerhalb des überlieferten Materials das ent­ scheidende qualitative Gewicht der einzelnen Genera als Teile des trobadoresken Gattungssystems zum Ausdruck. Danach steht die Kanzone mit einem Anteil von etwa 40 % des gesamten Liedermaterials an der Spitze, gefolgt vom Sirventes mit ungefähr 22 %, während die anderen Gattun­ gen - von der Cobla (etwa 19%) abgesehen - ohne Aus­ nahme jeweils weniger als 10 % ausmachen: »Die Hauptgat-

Die Überlieferung

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tungen sind von den weniger bedeutenden zahlenmäßig deutlich getrennt.«10 Das bedeutet jedoch nicht, daß die oft nur mit 1 % vertretenen Kleingattungen als Randerschei­ nungen, die aus dem durch die Hauptgattungen determinier­ ten Rahmen der altprovenzalischen Lyrik fallen, und als nicht für das ganze System symptomatisch qualifiziert wer­ den dürfen. Im Gegenteil: jede Gattung hat einen ganz bestimmten Stellenwert innerhalb und nicht außerhalb des lyrischen Gattungssystems der Trobadors und stellt ein Symptom dieses funktionalen Systems dar, dessen Bezie­ hungen zum Ganzen wie zu den einzelnen Teilen, d. h. den anderen Symptomcharakter tragenden Gattungen, vor allem jedoch zur Dominanten des Systems, zur Kanzone, und zur sich wandelnden epochalen Lebenswirklichkeit dieses Systems im Vordergrund neuerer Untersuchungen zur Tro­ badorlyrik stehen, da allein dadurch das einmalige Gesamt­ phänomen der Trobadorlyrik angemessen zu umschreiben ist. Eine ähnliche Kohärenz, wie sie das Gattungssystem der Trobadors vor allem in der Blütezeit aufweist (dies ist auf Grund des überlieferten Liedmaterials evident), läßt die überlieferte Lieddichtung Nordfrankreichs nicht erkennen. Die über 2100 erhaltenen Lieder sind einer größeren Anzahl von Einzelgattungen zuzuordnen; die Gattungsgrenzen sind oft viel weniger eindeutig gezogen. Insgesamt ergibt sich das Bild größerer Diversität. Dies hängt in der Hauptsache mit zwei Faktoren zusammen: Zum einen damit, daß die Ver­ bürgerlichung auch und gerade im Bereich der Lyrik sehr früh (um 1200) einsetzt und im 13. Jahrhundert in großem Maß von einem Nebeneinander der eigentlichen höfisch­ aristokratischen Lyrik und der in den Städten (vor allem Arras) in Dichtungszünften (»puy«) gepflegten >höfischvolksliedhafter< Überlieferung orientiert Kunstlyrik, der sie schaffende Dichter ist nach seinem Selbstverständnis ein Künstler, und als solcher geht er bzw. sein Name zusammen mit seinem Produkt in die Überliefe­ rung ein, so daß ein höfisches Kunstlied - im Unterschied zum Volkslied - von Anfang an in der Regel als Produkt einer auf ihre Arbeit stolzen, sich zuweilen im Lied selbst nennenden Dichterpersönlichkeit18 verbreitet wird. Dieser Dichter ist nach seinem eigenen Selbstverständnis kein Künstler im modernen Sinn; er ist im Gegenteil - ganz entsprechend der im Mittelalter, trotz Quintilians Unter­ scheidung zwischen poeta (»Dichter») und versificator (»Versemacher»), vorherrschenden Konzeption der Dichtung als eine erlernbare und lehrbare Kunst, im übrigen als ars adulterina und gar als ars mechanica'9 - eher ein »Kunst­ handwerker», der die formale Handhabung der dichterischen Sprache, das Versifizieren, beherrscht. Bedenkt man die äußerst strengen und auch recht komplizierten metrischen Regeln, nach denen der höfische Lyriker seinen Text zu »(er)finden» hatte und die keinerlei »dichterische Freiheit» erlaubten, so wird der Schwierigkeitsgrad dieses Versifizierens einsichtig, der sich mit der jeweiligen Komplexität des in Verse zu bringenden Gedanken-, Themen- und Motivma­ terials noch steigerte; wenn ein Trobador der zweiten Gene­ ration (Bernart Marti, Mitte des 12. Jahrhunderts) einmal behauptet, »im Jahr ein oder zwei oder drei« Lieder zu verfassen (P/C 63,6, v. 4), so darf diese Aussage zweifellos weitgehend generalisiert werden, denn auch ein so großer

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»Können wie Guiraut Riquier aus der »letzten« Trobadorgeneration (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) hat in man­ chen Jahren in seinem »Liederbuch« nur ein einziges Lied aufzuweisen. Nicht zu vergessen ist dabei, daß Trobador und Trouvère in den meisten Fällen nicht nur den Text ihrer Lieder, sondern auch deren Melodie zu verfassen hatten. Vom Gedicht eines höfischen Lyrikers zu sprechen, ist eigentlich falsch. Die Anfänge der volkssprachlichen Lyrik fallen in Frankreich zusammen mit den Anfängen des literarischen Chansons. Die lyrische Dichtung des hohen und zum Teil auch noch des späten Mittelalters - bis zur definitiven Trennung von Poesie und Musik20 - ist (nicht nur in Frankreich) gesungene Dichtung. Die Trobadors des Südens und die sie nachah­ menden und zugleich weiterentwickelnden Trouvères des Nordens sind nicht nur Texter, sondern in der Regel auch Komponisten und Interpreten, entsprechen also dem im Bereich des modernen französischen Chansons gängigen Typus des »auteur-compositeur-interprète«. Der mittelal­ terliche Lyriker »erfindet« nicht nur den Text, sondern auch die Melodie. Wenn er - was bei manchen Liedgattungen möglich war, bei anderen (vor allem Sirventes) zur besseren Textverbreitung bald Brauch wurde - eine schon bestehende Melodie übernimmt, muß er sich bei der Abfassung des Texts an ihr und ihrer Struktur orientieren. Stets ist er aber ein Sänger (aprov. cantador / afrz. chantior); seine Tätigkeit wird auch dann als »singen« (cantar/chanter) bezeichnet, wenn er nicht selbst als Interpret seiner Lieder auftritt, sondern sie durch andere, meist berufsmäßige Interpreten (Jongleurs), vortragen läßt. Die »Berufsbezeichnung« Trobador/Trouvère selbst weist nicht allein auf die Inventio des Texts, sondern ebenso auf die der Melodie. Die mittelalterli­ che Lyrik ist prinzipiell keine gelesene Dichtung, sondern bis zu ihrem Niedergang durch das Medium des gesangli­ chen Vortrags rezipierte Lieddichtung. Dementsprechend wird das mittelalterliche »Gedicht« häufig als chant (»Lied«)

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oder chansoneta (»Liedchen«) bezeichnet, und die Gattung, die quantitativ und qualitativ als Dominante des Gattungs­ systems der höfischen Lyrik in Frankreich zu gelten hat, das höfische Liebeslied (Kanzone), erhält als Dominante sehr früh (um 1170) die Gattungsbezeichnung canso/chanson. Text (motz) und Melodie (son) verfaßt zu haben, betonen vor allem die Trobadors des Südens oft voller Stolz. Infolgedessen ist beim höfischen Lyriker im allgemeinen auch eine theoretische und praktische musikalische Ausbil­ dung vorauszusetzen, wie sie in den Klosterschulen der Zeit im Rahmen des quadrivium (Lehre der Arithmetik, Geo­ metrie, Astronomie und Musik) vermittelt wurde. Dazu kommt eine solide Schulung in der Disziplin der Rhetorik (ars bene dicendi), die sich in den überlieferten Liedern nicht nur dort manifestiert, wo der Dichter mit ganz entsprechen­ den Termini sein Tun beschreibt, wie sie in den lateinischen Rhetoriken und Poetiken seit der Antike bis ins 11. und 12. Jahrhundert als rhetorische Fachtermini in Erscheinung treten. Man muß im übrigen davon ausgehen, daß gerade im Bereich der Rhetorik die Kontinuität von der Antike und Spätantike und ihren Rhetoriken (Rhetorica ad Herennium von Cornificius, De inventione von Cicero, Ars poetica von Horaz, Institutio oratoria von Quintilian usw.) zur mittelal­ terlichen - lateinischen - Rhetorik, in deren Schule auch die in der Volkssprache dichtenden Trobadors gingen, beson­ ders groß war.21 Ein enger Zusammenhang in Theorie und Praxis zwischen den Bereichen der volkssprachlichen und der mittellateinischen Dichtung ist von daher stets in Rech­ nung zu stellen.22 Das große Interesse vor allem der Troba­ dors an Stilfragen gerade in den Anfängen der Überliefe­ rung, wo die Auseinandersetzung um trobar clus (»ver­ schlossenes, dunkles Dichten«) und trobar leu (»leichtes, verständliches Dichten«) im Vordergrund steht, weist eben­ falls in diese Richtung. Die über 450 namentlich bekannten Trobadors des 12. und 13. Jahrhunderts, von denen Lieder überliefert sind, gehören

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den verschiedensten sozialen Schichten an. Trobadoreske Lieder verfaßt haben Könige - wie der König Alfons II. von Aragon - und Mitglieder der Hocharistokratie - wie der erste bekannte Trobador, Herzog Wilhelm IX. von Aquita­ nien -, viele Vertreter des niederen (meist verarmten) Adels und viele »arme Ritter« (paubres chevaliers) - wie es in den altprovenzalischen Lebensbeschreibungen oft heißt -, aber auch Vertreter der hohen und niederen Geistlichkeit - vom Bischof bis zum Kanonikus, auch einfache Kleriker -, dane­ ben Vertreter nichtadliger Schichten - vor allem seit Beginn des 13. Jahrhunderts viele Bürgerliche, im übrigen auch (vornehmlich adlige) Frauen (trobairitz). Besonders auffällig ist dabei, daß auf der Ebene der Dichtung nur wenig von den ansonsten strengen mittelalterlichen Standesgrenzen zu spü­ ren ist; nicht nur, daß alle Trobadors - gleich welchen sozialen Stands - miteinander »kollegial« zu verkehren ver­ mochten, und das heißt auch: miteinander in dichterischen Dialog treten konnten, der einzelne Trobador konnte zudem in der höfischen Gesellschaft eine Achtung genießen, die mit seiner sozialen Herkunft auch nicht das geringste zu tun hat. Wenn Friedrich Diez diese Besonderheit vor allem aus einer bestimmten Gattung, dem politischen Rügelied, ableitet,23 so trifft er zwar den Kem der Sache, aber dennoch nur die halbe Wahrheit: Es ist die trobadoreske Kunst insgesamt, die denen, die sie beherrschten, auf Grund ihrer besonderen - kulturellen und nicht nur vordergründig poli­ tischen, wenngleich dennoch stets auch politischen - Funk­ tionen zu einer Art sozialer Promotion verhalf. Entsprechendes gilt auch für die Trouvères, wenngleich es dort nicht in gleicher Weise manifest wird. Auch in Nord­ frankreich wird vom höfischen Publikum die poetische Qualität über die soziale Qualität gestellt. Die adligen (und später, in den Städten, auch bürgerlichen) Mäzene unterstüt­ zen und fördern die höfische Dichtkunst unabhängig vom sozialen Status des Dichters. Persönliche Beziehungen zwischen bürgerlichen Trouvères - im Hauptberuf städti-

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sehe Beamte, Kaufleute oder auch Handwerker - und adli­ gen Kollegen waren keine Seltenheit. Allein die häufige Zusammenarbeit im Bereich der dialogischen Gattung des Jeu-parti als gleichberechtigte Interlokutoren weist darauf hin. So wie bürgerliche Dichter gern gesehene Gäste an den nord- und ostfranzösischen Höfen gewesen sind - sofern sie sich durch ihre Kunst Geltung verschaffen konnten -, so nahmen auch adlige Trouvères häufig am bürgerlichen Dich­ tungsbetrieb teil - vor allem im städtischen Kulturzentrum Arras, dem Südfrankreich im übrigen in dieser Zeit nichts Vergleichbares entgegenzustellen hatte. Von wenigen Aus­ nahmen abgesehen (vor allem Chrétien de Troyes, vielleicht auch Gontier de Soignies), sind die ersten Trouvères aller­ dings alle Mitglieder der Aristokratie gewesen. Der nord­ französische Adel war es also, der für den »Import« der Trobadorlyrik die Hauptverantwortung trug. Die soziale Verbreitung der Trouvèrelyrik in Nordfrankreich erfolgte daher gewissermaßen von oben nach unten - im Unterschied zu Südfrankreich, wo der erste bekannte Trobador zwar der Hocharistokratie angehörte, sein Stand jedoch von einer sozial weit niedrigeren Schicht, dem sogenannten »niederen Rittertum«, das trobadoreske Dichten lernte. In beiden Fäl­ len wurde indessen - unabhängig von der verschiedenen Ausgangslage - das lyrische Dichten zu einer zwar immer höfischen, aber nie sozial abgeschlossenen Kunst, zu einer Kunst, an der prinzipiell alle partizipieren konnten (als Produzenten und Rezipienten), die das höfische Lieben, Leben und Dichten hochhielten. Das Selbstbewußtsein der Dichter, das sich daraus ableitete, ist oft genug zu konstatieren - so etwa wenn Peire Vidal, Sohn eines Kürschners aus Toulouse (ausgehendes 12. Jahr­ hundert) und ausgesprochener Europareisender in Sachen Trobadorlyrik, sich dem König von Ungarn vorstellt, an dessen Hof er als Hofsänger angestellt werden möchte (P/C 364,13, w. 13-18):

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Et aurai gran honor, si m’a per servidor, qu’eu posc far sa lauzor per tot lo mon auzir e son pretz enantir mais d’autr’om qu’el mon sia.24

Und er wird große Ehre erlangen, wenn er mich zum Diener hat, denn ich kann sein Lob in der ganzen Welt vernehmen lassen und mehr als ein anderer auf der Welt seinen Ruhm erhöhen.

Wie mit der Tätigkeit als Trobador bzw. Spielmann sogar ein wirklicher sozialer Aufstieg verbunden sein konnte, der meist auch eine ökonomische Komponente aufweist, zeigt zum Beispiel sehr deutlich die in diesen Punkten zuverläs­ sige, da durch den Dichter selbst bestätigte« altprovenzalische Lebensbeschreibung des Trobadors Raimbaut de Vaqueiras (ausgehendes 12. Jahrhundert), die im folgenden ungekürzt zitiert wird:

Raembautz de Vaqueiras si fo fillz d’un paubre cavaillier de Proensa, del castel de Vaqueiras, que avia nom Peirors, qu’era tengutz per mat. En Raembautz si se fetz joglar et estet longua saison ab lo prince d’Aurenga, Guillem del Baus. Ben sabia chantar e far coblas e sirventes; el princes d’Aurenga li fetz gran ben e gran honor, e l’ennanset el fetz conoisser e presiar a la bona gen. E venc s’en en Monferrat, a miser lo marques Bonifaci. Et estet en sa cort lonc temps. E crec si de sen e d’armas e de trobar. Et enamoret se de la serror del marques, que avia nom ma dompna Beatritz, que fo moiller d’Enric del Caret. E trobava de leis mantas bonas cansos. Et apellava la en sas cansos Bels Cavalliers. E fon crezut qu’ella li volgues gran

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ben per amor. E quant lo marques passet en Romania, el lo mena ab se e fetz lo cavalier. E det li gran terra e gran renda el regisme de Salonic. E lai el mori.25

Raimbaut de Vaqueiras war der Sohn eines armen Ritters aus der Provence, vom Burgschloß von Vaqueiras, eines armen Ritters, der Peiror hieß und der für verrückt gehalten wurde. Herr Raimbaut machte sich zum Spiel­ mann und blieb lange Zeit beim Fürsten von Aurenga (Orange), Guillem de Baux. Er konnte gut singen und Coblas (Strophen) und Sirventese verfertigen; und der Fürst von Aurenga tat ihm viel Gutes und erwies ihm große Ehre und erhob ihn (über seinen Rang) und machte ihn bei der guten Gesellschaft bekannt und geschätzt. Und er ging fort nach Monferrat (Monferrato) zum Herrn Markgrafen Bonifacio. Und er blieb lange Zeit an seinem Hof. Und er steigerte sich, was seine Geistesga­ ben, das Waffenhandwerk und das Dichten betrifft. Und er verliebte sich in die Schwester des Markgrafen, die Frau Beatrix hieß und die Ehefrau von Enrico del Carretto war. Und er verfaßte über sie etliche gute Minnelieder. Und er nannte sie in seinen Liedern »Schöner Ritter«. Und man glaubte, daß sie ihm aus Liebe sehr wohlwollte. Und als der Markgraf sich in das byzantinische Kaiser­ reich begab, nahm er ihn mit sich und schlug ihn zum Ritter. Und er gab ihm viel Land und ein großes Einkom­ men im Königreich von Saloniki. Und dort starb er. Der zitierte Text ist eine der vielen Vidas (Lebensdarstellun­ gen), die uns - zusammen mit zahlreichen Razos - aus dem 13. und dem beginnenden 14. Jahrhundert überliefert sind.26 Etwas Entsprechendes gibt es im Bereich der Trouverelyrik nicht. Vida und Razo sind Prosagattungen, die indessen von der Trobadorlyrik weder funktional noch ideologisch zu trennen sind. Der Vortrag von Vidas und Razos als Einlei­ tung zum Vortrag von Liedern dürfte spätestens seit dem

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Beginn des 13. Jahrhunderts in Südfrankreich und Oberita­ lien üblich geworden sein. Die zahlreichen Vidas vor allem sind oft die einzigen Informationsquellen, die wir über altprovenzalische Dichter besitzen - insbesondere dann, wenn diese, in der Hauptsache wegen ihres niederen sozia­ len Stands, nicht außerhalb der Trobadorlyrik in Urkunden, Chroniken usw. dokumentiert sind,27 was vor allem für die große Masse der berufsmäßigen Trobadors gilt, zu deren Datierung und Lokalisierung meist nur ihre eigenen Dich­ tungen (vor allem »realitätsorientierte« Lieder wie Sirventese, aber auch Widmungen in Liedern anderer Gattungen) Anhaltspunkte zu geben vermögen. Die Razo ist nichts anderes als ein Liedkommentar. Sie erzählt die Vor- und Entstehungsgeschichte eines Lieds, erklärt den historischen Hintergrund und die historischen Anspielungen und gibt Auskunft über die Personen, die im betreffenden Lied - dort oft nur mit einem Senhal (Versteck­ name) bezeichnet - eine Rolle spielen. Es verwundert nicht, daß solche Razos ursprünglich wohl weniger zu Minneliedem als zu Sirventesen verfaßt wurden28 - sehr viele Razos sind zu den politischen Liedern eines Bertran de Born überliefert -, und man nimmt an, daß viele Razos aus Erklärungen hervorgegangen sind, die der Dichter seinem Jongleur mit auf den Weg gab und die dieser als wichtige Verständnishilfen seinem Publikum jeweils vor dem Vortrag des betreffenden Lieds präsentiert haben dürfte. Ganz folge­ richtig ist der Platz dieser Razos in den meisten - vor allem den frühen - Handschriften auch unmittelbar vor dem jeweiligen Lied, und erst im 14. Jahrhundert wurden die Razos - ebenso wie die Vidas29 - in eigenen Handschriften­ abteilungen zusammengefaßt, was u. a. dafür spricht, daß diese Prosastücke mit ihrer großen Uniformität in Stil, Ausdrucksweise und Formelschatz bald als zu ganz spezifi­ schen, »autonomen« Prosagattungen gehörig angesehen wur­ den. Die (möglicherweise jüngeren) Vidas, die vielleicht ebenfalls vom Jongleur vorgetragen wurden und deren Ge-

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samtheit eine »première ébauche d'histoire littéraire existant en Europe«30 darstellt, enthalten meist mehr oder weniger ausführliche31 Angaben zum Geburts- bzw. Herkunftsort des Trobadors, zu seinem sozialen Stand - auch zu seinen ökonomischen Verhältnissen -, Bemerkungen über seine Bildung und seinen Werdegang, über die Höfe, an denen er tätig war, über seine Reisen, über die Herren und die Damen, für die er gedichtet hat, über sein Ende und sehr oft auch dezidierte - keineswegs immer nur positive - Urteile über den Wen seiner Lieder und Angaben über ihre Beliebt­ heit. Allerdings sind beide, Vidas und Razos, für eine Dokumen­ tation eines Trobadors nur mit äußerster Umsicht zu gebrauchen, da deren Verfasser oft ungenau sind, Dichtung und Wahrheit mischen, ihrer eigenen Phantasie freien Lauf lassen bzw. einen großen Teil ihrer Angaben dem ihnen vorliegenden Liedmaterial selbst entnehmen.32 So ist etwa die folgende Razo zum berühmten Lied über die domna soisseuhuda («zusammengesuchte Dame«) von Bertran de Born (P/C 80,12) zu erklären, die als Beispiel zitiert werden soll: Bertrans de Born si era drutz d’une domna gentil e jove e fort prezada, et avia non ma domna Maeuz de Montaingnac, moiller d’En Talairan, qu'era fraire del comte de Peiregors; et ella era filla del vescomte de Torena e seror de ma dompna Maria de Ventadorn e de N’Elis de Monfort. E, segon qu’el dis en son chantar, elal parti de si e-il det comjat, don el fo n mout tristz e iratz, e fez razo que ja mais no la cobraria, ni autra non trobava que fos tan bella ni tan bona ni tan plazens ni tan enseingnada. E penset, pois qu’el non poiria cobrar neguna que ill pogues esser egals a la soa domna, si s conseillet qu’el en fezes una en aital guisa qu’el soiseubes de las autras bonas dompnas e bellas de chascuna una beutat o un bel senblan o un bel acuillimen o un avinen parlar o un bel captenemen o un

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bel gran o un bel taill de persona. Et enaissi el anet queren a totas las bonas dompnas que chascuna li dones un d’aquestz dos que m’avetz auzit nofnar per restaurar la soa domna c’avia perduda. Et el sirventes qu’el fetz d’aquesta razon vos auziretz nommar totas las domnas a las quais el anet querre socors et ajuda a far la domna soiseubuda. El sirventes qu’el fetz d’aquesta razon si comensa.33

Bertran de Born war der Geliebte einer edlen, jungen und sehr geachteten Dame, und die hieß Frau Maheut de Montagnac, Ehefrau von Herrn Talleyrand, der wieder­ um ein Bruder des Grafen von Périgord war; und sie war die Tochter des Vizegrafen von Turenne und die Schwe­ ster von Frau Marie de Ventadour und von Frau Hélis de Montfort. Und nach dem, was er in seinem Lied sagt, entfernte sie ihn von sich und gab ihm den Abschied, worüber er sehr traurig und betrübt war, und er rechnete sich aus, daß er sie niemals mehr zurückgewinnen würde, und er fand auch keine andere, die so schön und so gut und so gefällig und so gebildet wäre. Und er dachte darüber nach und nahm sich vor - wenn er schon keine gewinnen könnte, die seiner Dame gleich sein könnte -, auf eine solche Weise (selbst) eine Dame zu verfertigen, daß er von den anderen guten und schönen Damen jeweils eine Schönheit, entweder ein schönes Antlitz oder einen schönen Empfang (d. h. freundliches Wesen) oder lieb­ liches Reden oder schönes Benehmen oder einen schönen Wuchs oder eine schöne Taille entlehnen würde. Und so suchte er alle guten Damen auf, auf daß jede ihm eines dieser Geschenke geben sollte, die ihr mich habt nennen hören, um seine Dame, die er verloren hatte, wiederherzustellen. Und im Sirventes, das er darüber verfertigte, werdet ihr alle Damen nennen hören, bei denen er um Beistand und Hilfe nachsuchte, um die »zusammengesuchte Dame« machen zu können. Und das

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Sirventes, das er darüber machte, beginnt folgenderma­ ßen .. ,M

Eine Vida gibt selbstverständlich exaktere Auskünfte über den Trobador; wenn man - nach einer eher leichtgläubigen« Phase in den Anfängen der Provenzalistik - den Wahrheits­ gehalt der Vidas, veranlaßt durch die Aufdeckung vieler Widersprüche und so manchen «Irrtums« der Vidaverfasser, vieler Phantastereien und mancher Übertreibung, lange sehr gering einschätzte,35 so hat sich heute eine etwas gemäßigter kritische Haltung durchgesetzt. Man hat erkannt, daß Irrtümer nicht ausgeschlossen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß eine historisch objektive Wahrheit dem Mittelalter kein per se anzustrebendes Ziel war - die Vidas immer dann relativ exakt sind, wenn sie auf konkrete Details aus dem «realen« Leben eines Trobadors verweisen (Name, Herkunft, soziale Stellung, Mäzene usw.), daß Angaben zum «sentimentalen« Leben der Trobadors dagegen - auch Namen der geliebten und besungenen Damen - eher auf Spekulationen des Vidaverfassers basieren. Aber diesen Spe­ kulationen - so muß hinzugefügt werden - verdanken wir reizvolle Beispiele früher erzählender Prosa (vgl. etwa die Vidas von Jaufre Rudel und Guillem de Cabestanh). Vom Trobador und Trouvere als Berufsdichter, der auf ein seine Kunst honorierendes Publikum angewiesen ist, muß der Dichter unterschieden werden, der seine Kunst - und deshalb keineswegs weniger gut - nur aus Spaß und zum Zeitvertreib bzw. aus Interesse an der Dichtkunst ausübt. Ist der erstere - ob er umherzieht und vor einem breiteren Publikum seine Lieder vorträgt bzw. von einem ihn beglei­ tenden Jongleur vortragen läßt oder ob er das von jedem berufsmäßigen Dichtersänger angestrebte Glück hat, an einem Hof fest angestellt zu sein - stets Diener in dem Sinn, daß er im Dienst eines bestimmten (höfischen) Publikums steht, für das er seine Lieder verfaßt, und sich in großem Maß nicht zuletzt seiner ideologischen Unabhängigkeit

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begeben muß, so ist der zweite in der Regel unabhängiger und vermag die dichterischen, auch die ideologischen Nor­ men sehr viel leichter zu durchbrechen, denn er strebt nicht nach Lohn für einen Dienst, sondern im wesentlichen allein nach voller - auch künstlerischer - Selbstentfaltung. So singt Raimbaut, Graf von Aurenga, in einem Lied (P/C 389,19, w. 1-8):

Bei sai c’a sels seria fer que m blasmon qar tan soven chan si lor costavon mei chantar. Miels m’estai pos leis plai quem te jai qu’ieu no chant mia per aver: qu’ieu n’enten en autre plazer.56 Ich weiß wohl, daß es denjenigen, die mich tadeln, weil ich so oft singe, mißfiele, wenn sie meine Lieder etwas kosten würden. Besser steht es mir an, wenn ich derjenigen gefalle, die mich fröhlich bleiben läßt, denn ich singe keineswegs für Geld: denn ich bin dabei auf eine (ganz) andere Freude aus.

Die Zahl dieser vor allem dem hohen und mittleren Adel angehörenden Dichter ist in Süd- und in Nordfrankreich relativ groß und vermag neben der größeren Zahl von Berufsdichtern zu zeigen, wie sehr die höfische Lyrik - ob sie (wie im Süden) vom miederen Rittertum* als Träger­ schicht ausgeht oder (wie im Norden) von der Aristokratie auf Grund eines kulturgeschichtlich epochemachenden Kompromisses* zu einer nicht nur den Konsensus, sondern auch (und dies jeweils seit den überlieferten Anfängen) die aktive Teilnahme aller in Frage kommenden Schichten er-

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langenden einheitlichen Kunst- und Lebensform werden konnte. Berufsdichter - zumindest für eine bestimmte Zeit ihres Lebens - konnten auch verarmte Adlige sein wie z. B. Raimon de Miraval, aber auch Geistliche wie der Mönch von Montaudon. Es hat - nicht nur in Nordfrankreich - Dichter bürgerlichen Stands gegeben,37 die die Dichtkunst nicht berufsmäßig pflegten, aber auch solche, die daraus einen Beruf machten und angeblich reich damit wurden wie etwa Pistoleta. Nicht unwichtig sind schließlich manche Troba­ dors, die weder berufsmäßig noch zum wie auch immer motivierten Zeitvertreib dichteten, sondern für die das Lied - und hier in erster Linie das politische oder persönliche Schmäh- und Rügelied - als eine Art Waffe in den feudalen Auseinandersetzungen fungierte, in die sie als Vizegrafen (Guillem de Berguedan) oder Burgherren (Bertran de Born) involviert waren. Diese vertraten mit ihren Liedern, die sie durch eigene Spielleute verbreiten ließen, ganz handfeste ökonomische und machtpolitische Interessen, was sie aber (gerade) nicht daran hinderte, auch auf den im engeren Sinn künstlerischen Aspekt ihres Dichtens zu achten: Bons sirventes fetz, on disia mals als uns e bens als altres.™ Die Trouverelyrik, die diese Form des Serventois kaum kennt und - viel stärker ästhetisierend - überhaupt im politischen Leben weniger eine direkte konkrete Funktion erfüllt, hat derartige Phänomene nicht aufzuweisen. Ob sie nur nicht überliefert sind, muß dahingestellt bleiben. Während es unter den Dichtern selbst kaum eine Diskrimi­ nierung aus Gründen der sozialen Herkunft gegeben hat auf der Ebene der kulturdeterminierenden höfischen Dicht­ kunst fand auch so etwas wie eine Harmonisierung sozialer Divergenzen im Bereich der höfischen Freude und Gesellig­ keit statt -, ist eine deutliche Hierarchisierung in den Bezie­ hungen zwischen dem Trobador einerseits und dem Spiel­ mann (joglar) andererseits erkennbar. Die Jongleurs39 haben im Mittelalter einen eigenen Berufsstand gebildet, dem nicht

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nur die Reproduktion von - epischer bzw. lyrischer Dichtkunst oblag, sondern der alle Sparten der heutigen Variété- und Zirkuskunst (Gaukler, Akrobaten, Tierbändi­ ger usw.) umfaßte.40 Der Jongleur im Bereich der Lyrik dürfte dabei noch der am meisten geachtete gewesen sein und dies vor allem wegen der besonderen Fähigkeiten, die von ihm verlangt wurden: Er mußte (nach Noten bzw. Neumen) mit eigener Musikbegleitung (Fiedel) singen, und er mußte lesen können, außerdem ein gutes Gedächtnis haben.41 Der Jongleur im engeren Sinn war ein lediglich reproduzierender Künstler, der sich mit dem Vortrag von Liedern vor einem Publikum (prinzipiell) ganz unterschied­ licher Zusammensetzung sein Geld verdiente.42 Die Rolle der Jongleurs (vor allem in Nordfrankreich) für die Vermitt­ lung volkstümlicher Dichtung in das höfische literarische Leben wird erst in neuerer Zeit klarer erkannt. Der Jongleur war es, der für die Verbreitung neuer und alter Lieder sorgte und damit den Ruhm und den Bekanntheitsgrad eines Dich­ ters vergrößerte. Viele Trobadors und Trouvères - solche jedenfalls, die es sich leisten konnten - hielten sich deshalb von ihnen selbst versorgte Spielleute, deren Repertoire sich im wesentlichen auf ihre eigenen Lieder beschränkt haben dürfte. Nicht selten tragen in Südfrankreich solche und andere Jongleurs einen Spitznamen, der ihre Inferiorität dem Trobador gegenüber zum Ausdruck bringt.43 Sie waren angewiesen auf die Gunst eines Trobadors, die oft nur darin bestand, daß er ihnen neue, gerade verfaßte und noch nicht im Umlauf befindliche Lieder >schenkteFinden< neuer Melodien hinzu­ kommen -, und daß - sollte es dennoch einmal gelungen sein, wie im Fall von Pistoleta, der anfangs als Jongleur von Arnaut de Marueil gedient haben soll - noch der Verfasser der Vida diesen ehemaligen Jongleur implizit seine Herkunft spüren läßt: Pistoleta si fo cantaire de N'Arnaut de Maruoill e fo de Proenssa. E pois venc trobaire e fez cansos com avinens sons; e fo ben grazitz entre la bona gen; mais hom fo de pauc solatz e de paubra enduta e de pauc vaillimen. E tolc moiller a Marseilla, e fez se mercadier, e venc ries e laisset d’anar per cortz. E fez aquestas cansos.47 Pistoleta war der Sänger von Herrn Arnaut de Mareuil und stammte aus der Provence. Danach wurde er Troba­ dor und verfaßte Kanzonen mit lieblichen Melodien; und in der guten Gesellschaft wurde er sehr geschätzt; aber er war ein Mann von geringer Unterhaltungsgabe [?] und von armseligem Äußeren [?] und von geringem Wert. Und er nahm eine Frau in Marseille und wurde Kaufmann und wurde reich und gab es auf, von Hof zu Hof zu ziehen. Und er verfaßte die folgenden Lieder . ..

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Die formale - sprachliche und metrisch-musikalische - Seite spielt bei der Kunst der Trobadors und - wenn auch in geringerem Maß - bei den Trouvères von Anfang an eine außerordentliche Rolle: »Jamais poésie ne fut plus rigou­ reuse, plus totalement et consciemment calcul, mathémati­ que et harmonie« ;48 Form nicht als Selbstzweck und Spiele­ rei - dieses Phänomen gibt es natürlich auch, es läßt sich vor allem in der Endphase der Trobadorlyrik zunehmend beob­ achten -, sondern Form als Zueinanderordnung von aus­ drucksstarken Elementen, als ein wohldurchdachtes, varia­ bles und dennoch stabiles System von Strukturelementen, die als Teile einer Gesamtstruktur, als Manifestationen der höfischen Ideologie, aufeinander bezogen sind. Die formale Schönheit durch metrische, musikalische und sprachliche Mittel wird vom höfischen Publikum erwartet - sie stellt einen der Hauptreize der Rezeption dar, an ihr wird auch die künstlerische Leistung des Dichters gemessen, von ihr hängt sein Ruf als Sprachkünstler ab. Groß ist deshalb die Furcht vor jenen Jongleurs, die beim Vortrag die Form des komplizierten Sprachkunstwerks »beschädigen« könnten, denn die geringste Veränderung (der metrischen Struktur vor allem, die alle anderen Strukturen des Lieds wie durch ein Band zusammenhält) würde das ganze subtile Gebilde, seine Makellosigkeit zerstören, auf die der Dichter seinen Stolz gründet.4’ Diese Makellosigkeit soll dabei grundsätz­ lich mit der Makellosigkeit des Inhalts korrespondieren, die - wie vor allem der Trobador Marcabru immer wieder betont - eigentlich erst die formale Makellosigkeit möglich macht. Sind die zum Ausdruck gebrachten Gedanken schön, weil gut, weil wahr, weil höfisch, dann kann sich auch die formale Schönheit entfalten. Wesentliches Merkmal dieser Form, die ein Symptom für die gesellschaftliche Determiniertheit der höfischen Kunst darstellt, ist ihre Formelhaftigkeit bei gleichzeitigem For-

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menreichtum. Während Friedrich Diez diesen Sachverhalt, wenn auch undifferenziert, noch relativ objektiv zu beschreiben vermochte - »Man könnte sich diese ganze Literatur als das Werk eines Dichters denken, nur in ver­ schiedenen Stimmungen hervorgebracht«50 -, geriet diese Feststellung bei Alfred Jeanroy zum negativen Verdikt einer an romantischen ästhetischen Prinzipien orientierten Mediä­ vistik, die den Ausdruck eines echten individuellen Gefühls als Conditio sine qua non einer ästhetisch wertvollen Lyrik erachtete und den >Clichéreichtum< der Trobadorlyrik als Monotonie, die >Uniformität< der höfischen Lyrik als inspi­ ratorische Armut deutete: »Autant la poésie lyrique des Provençaux est variée dans ses formes, autant elle est mono­ tone en son contenu. [...] ce sont toujours les mêmes situations, les mêmes sentiments, les mêmes images qui reparaissent devant nos yeux.«51 In neuerer Zeit hat man dagegen mehr und mehr gelernt, die höfische Lyrik als »poésie formelle« im vorurteilsfreien Sinn zu verstehen und neu zu entdecken, eine >Formdichtunggelehrten< mittellateinischen Metrik - auf Silbenzählung und Reim. Die Trouvères haben sie mitsamt den höfischen Gattungen aus dem Süden impor­ tiert, unbeschadet einiger Umakzentuierungen - insbeson­ dere des weitgehenden Fehlens extremer metrischer Spiele­ reien und metrischer Variationen in größerem Umfang. Die metrische Terminologie ist okzitanisch und entstammt den

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mittelalterlichen Metriken selbst. Die Silbenzahl eines Ver­ ses (aprov. vers bezeichnet nicht den Einzelvers, sondern ein ganzes Lied bzw. eine Liedgattung!) ist sehr variabel, wobei eine unbetonte Silbe am Versende nicht mitzuzählen ist: die Zahl schwankt zwischen 1 und 14 Silben; besonders häufig sind Achtsilber und Zehnsilber. Vom Zehnsilber an zerfällt der Vers in zwei durch Zäsur getrennte Teile: beim Zehnsil­ ber meist 4 + 6 mit Akzent auf der 4. Silbe, daneben aber auch 6 + 4 oder 5 + 5; lyrische (4 + 6), aber auch epische Zäsur (5 + 6: die vor der Zäsur stehende 5. Silbe ist unbetont und wird nicht gezählt) ist möglich. Der Zwölfsilber weist die in der Romania übliche Zäsur nach der 6. Silbe auf. Mit ganz wenigen Ausnahmen, wo um volksliedhafter Effekte willen statt des Reims die Assonanz verwendet wird, oder in aus dem volkstümlichen Bereich stammenden Gat­ tungen wie vor allem der Chanson d’histoire, ist in der höfischen Lyrik der Vollreim (aprov. rim oder rima) die Regel.57 Dabei muß der Dichter strenge Regeln beachten: So reimen z. B. offene und geschlossene Vokale nicht miteinan­ der; in ein und demselben Lied soll ein Reimwort prinzipiell nicht wiederholt werden (Ausnahme: mit anderem Präfix, also z. B. amar - desamar; weitere Ausnahme: graphisch identische, aber semantisch bzw. grammatikalisch verschie­ dene Reimwörter, also z. B. saber >das Wissen« - saber »wissen« oder amar »lieben« - amar »bitter«), außer im Geleit. Es wird zwischen männlichen Reimen (z. B. amor / amor) und weiblichen Reimen (z. B. ama / aime) unterschieden die Trobadorlyrik der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts kennt fast nur männliche Reime, der weibliche Reim setzt sich erst allmählich als Möglichkeit durch. Es bildet sich die in der Trouverelyrik allerdings weit seltener befolgte Gewohnheit heraus, männliche und weibliche Reime alter­ nieren zu lassen. Reimvirtuositäten nehmen mit der einseiti­ gen Betonung des formalen Aspekts in der Spätzeit der Trobadorlyrik zu; sehr häufig ist seit der Mitte des 12. Jahr­ hunderts z. B. der Gebrauch des grammatischen Reims

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(Wörter desselben Stamms oder verschiedene Flexionsfor­ men desselben Worts reimen miteinander); formale Vir­ tuosität, aber auch ein Gespür für besondere Klangwir­ kungen des Reims stellen viele Trobadors des trobar ric (»reiches Dichtem - Hauptvertreter: Arnaut Daniel) mit den rimas caras (»wertvolle, schwierige, d. h. seltene Reime«) unter Beweis. Die Trouvères kennen das trobar ric allerdings kaum. Übertriebene Reimakrobatik (z. B. rims derivatius-. Reimalternierung mit Wörtern derselben Wortfamilie) ist erst spät bzw. überhaupt nicht zu beob­ achten. Die Zahl der Reime je Strophe ist meist geringer als im Süden. Die metrische und musikalische Grundeinheit jedes Lieds ist die Strophe (cobla). Bei Mehrstrophigkeit weisen alle Stro­ phen eines Lieds - mit Ausnahme des Descort - dieselbe Verszahl (die Chanson d’histoire nicht immer) und Reim­ anordnung auf; jede Strophe eines Lieds wird nach derselben Melodie gesungen (gilt auch für die Chanson d’histoire, nicht aber für den Descort). Die weitaus häufigste Verszahl einer Strophe ist 8 (über ein Drittel aller erhaltenen Lieder), dann 9 und 10 Verse; es gibt aber auch Coblas mit 3 Versen (beim »ersten« Trobador) und mit 44 Versen (Peire Carde­ nal). Die häufigste Strophenverknüpfung vom Anfang der Überlieferung an - zugleich auch die schwierigste der gängi­ gen Verknüpfungen - ist die der coblas unissonans (nicht nur die Reimanordnung, sondern auch die Reime sind in allen Strophen eines Lieds identisch).58 Eine andere Möglichkeit der Strophenverknüpfung ist jene der coblas Singulars (die Reime, nicht aber die Reimstruktur, wechseln von Strophe zu Strophe - einzelne durchgehende Reime sind jedoch nicht ausgeschlossen). Andere Strophenverknüpfungsarten resul­ tieren letztlich aus dem Bemühen, die bei coblas Singulars und coblas unissonans durch die mündliche Überlieferung (Jongleurs) auf Grund der meist - vor allem in Minne­ liedern59 - fehlenden eindeutigen Linearität der Gedanken­ führung gefährdete Strophenfolge besser zu fixieren. So

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sind wohl die coblas doblas (jeweils zwei aufeinanderfol­ gende Strophen weisen dieselben Reime auf: I—II, III—IV, V-VI ...) zu erklären, die seit der Frühzeit belegt sind; seltener sind die coblas temas (I—II—III, IV-V-VI . ..) und die coblas quatemas (I—II—III—IV, V-VI-VII-VIII). Eine andere mnemotechnisch relevante Möglichkeit stellen die alternierenden Strophen dar (I—III—V—VII ... und II-IV-VI ...), wieder andere die coblas retrogradadas (Str. II kehrt die Reimfolge von Str. I um, Str. III die von Str. II usf.), die mit anderen Strophenverknüpfungstechniken kombinierbaren coblas capcaudadas (der erste Reim jeder Strophe nimmt den letzten Reim der vorausgehenden Strophe wieder auf) und die coblas capfinidas (ein Wort des letzten Verses einer Strophe, in der Regel das Reimwort, erscheint - gleich oder leicht verändert - im ersten Vers der folgenden Strophe wieder). Hier sind nur die Grundmuster genannt, nicht die vielen - zum Teil äußerst komplizierten - Kombinations­ möglichkeiten, bei denen die Virtuosität die ursprüngliche (mnemotechnische) Funktion überdeckt: so die von Arnaut Daniel >erfundene< Sestinenform. Auch in diesem Bereich zeichnet sich die Lyrik der Trouvères durch größere Ein­ fachheit aus. Die meisten Trobadorlieder - aber nur relativ wenige Trouvèrelieder - werden durch eine oder mehrere Tornadas (frz. Envois) abgeschlossen. Die Tornada - auch finida genannt kann nur einen Vers, und sie darf höchstens einen Vers weniger als die Liedstrophe umfassen; die Reimstruktur und die Reime müssen denen der zahlenmäßig entsprechenden letzten Verse der unmittelbar vorausgehenden Liedstrophe entsprechen. In der (den) Tornada(s) kann der Dichter eine kurze aphoristische Zusammenfassung seines Lieds präsen­ tieren, meist erfüllen die Tornadas jedoch - zumindest auch - Geleitfunktion: Sie nennen (bzw. rufen an) die besungene Dame (mit einem Senhal) oder eine andere Dame, eine Gönnerin oder einen Gönner, meist ein hoher Herr, einen Freund bzw. einen anderen Dichter,“ sehr häufig auch

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einen Jongleur, der den Auftrag erhält, das Lied an seinen Bestimmungsort zu bringen und dort vorzutragen. Die Tat­ sache, daß ein Lied mit je nach Handschrift verschiedenen Tornadas überliefert ist, kann daher rühren, daß der Dichter es - gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten - an zwei oder mehrere Adressaten gerichtet hat. Das Kunstlied der Trobadors kennt selbstverständlich auch den Refrain, der bei manchen Gattungen (z. B. Tagelied, Tanzlied) obligatorisch ist, bei anderen Gattungen als metri­ sches Kunstmittel fakultativ einsetzbar ist - oft nur als Refrainwort (mot-refranh). Das stets im Reim stehende Refrainwon hat indessen meist nicht nur metrischen Wert, sondern ist oft geradezu die Quintessenz eines Lieds - so das lonh in Jaufre Rudels berühmter Kanzone (P/C 262,2) über die Fernliebe (amor de lonh) oder die Refrainwörter marrimen (»Trauer«), jove rei engles (»junger englischer König«, nämlich der Sohn Heinrichs II. von England) und ira (»Kummer«) im Klagelied Bertrans de Born (P/C 80,41) auf den Tod des Königs von England. In der altfranzösischen Lyrik spielt der Refrain - wie bereits erwähnt - eine weit größere Rolle: nicht nur in Tanzliedern und anderen aus dem volkstümlichen Bereich stammenden lyrischen Gattun­ gen, sondern auch im engeren Bereich des Grand chant courtois, wo er, wohl meist Volksliedern entnommen, als volkstümlich-archaisierendes Stil- und Kontrastmittel einge­ setzt werden kann. Nur hingewiesen werden kann auf die musikalische Struktur eines Lieds, die auf die metrische genau abgestimmt ist, ohne ihr stets entsprechen zu müssen: »Das Sprachgebäude einer Strophe weist Symmetrien auf, die durch die rhythmischen Einheiten ihrer Verszeilen und durch das Reimschema entstehen. Die Melodie bildet ihre Symmetrie durch den Kontrast der Melodiezeilen oder die Wiederkehr gleicher oder ähnlicher Zeilen. Das Zusammen­ wirken metrischer und musikalischer Symmetrien schafft die Kunstform der Liedstrophe.«61 Hinzu kommt - auf der Seite des Textes - das syntaktische Ordnungssystem einer Stro-

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phe, das sich der metrischen Symmetrie einordnen oder ihr auch widersprechen kann. Den Symmetrien liegt im übrigen bei der >Kanzonenstrophe< - also, da fast alle Gattungen die Form der Dominanten aufweisen, den meisten Liedern - das Grundschema Aufgesang (1. Stollen - 2. Stollen) - Abgesang auch dann zugrunde, wenn - wie dies häufig geschieht diese Symmetrien teilweise durchbrochen werden. Daß außerdem - was die Melodie betrifft - die Neumennotation der überlieferten Melodien den Musikwissenschaftler auch heute noch bei ihrer Übertragung (vor allem hinsichtlich der Rhythmik) vor eine mit letzter Verbindlichkeit kaum lös­ bare Aufgabe stellt, ist bekannt. Im 13. Jahrhunden vor allem übernehmen manche Trouvères die metrische Struk­ tur, meist auch die Melodie ihrer Lieder sehr oft von Trobadorliedern. Es gibt innerhalb der höfischen Lieddichtung einige Gattun­ gen, die vorwiegend durch ihre Form bestimmt sind. So die Tanzliedgattungen, bei denen das musikalische Element dem Textlichen übergeordnet ist: Sie weisen - auch wenn Parallelerscheinungen in der mittellateinischen Dichtung ausfindig gemacht werden können (Liturgie) - auf volks­ tümliche Gattungsmuster insbesondere auch durch den für sie konstitutiven Wechselgesang Chor (Refrain) - Vorsänger (Strophe). Dazu gehören die balada (Süden) / ballette {vire­ lai) (Norden), die trobadoreske dansa (sie weicht inhaltlich nur selten von der Kanzonenthematik ab) und das französi­ sche rondeau (Rondet de Carole). Die französischen Tanzlie­ der behalten auch inhaltlich noch sehr oft ihren volkstümli­ chen Anstrich - im Gegensatz zu den provenzalischen Lie­ dern, in denen allenfalls - in einigen baladas - einmal das Thema der »mal-mariée« (des mit einem eifersüchtigen Ehe­ mann verheirateten Mädchens) behandelt wird. Noch mehr ist die estampida (Süden) / estampie (Norden) durch ihre metrisch-musikalische Form bestimmt (ohne Refrain), ebenso die französische Rotrouenge, die im Midi {retroencha) aus dem Norden entlehnt wurde (mit Refrain). Das

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Sonett ist in der Trobadorlyrik mit 3 Beispielen von italieni­ schen Trobadors der Spätzeit vertreten. Äußerst wichtig für die Form, die sprachliche Form der altprovenzalischen Lyrik, ist die schon erwähnte Auseinan­ dersetzung, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts um die beiden Stilrichtungen des trobar clus und des trobar leu erfolgt und die zeigt, wie groß gerade in diesen Bereichen die Verknüpfungen zur mittellateinischen Tradition (Dich­ tungspraxis und Poetik) sind. Das trobar leu zielt auf Ver­ ständlichkeit in jeder Hinsicht ab, meidet deshalb Anspie­ lungen, Doppeldeutigkeiten, seltenes Vokabular und kom­ plizierte Syntax. Der Hörer ist nicht überfordert, er vermag das, was er hört, zu genießen, ohne indessen auf eine kunstvolle Form - und schon gar nicht auf eine dieser Form adäquate Thematik (hohe Minne) - verzichten zu müssen. Einer der Hauptvertreter des trobar leu, Bernart de Ventadorn, ist der Trobador, dem fraglos die schönsten Minnelie­ der der Trobadorlyrik zu verdanken sind. Ganz anders das trobar clus, das geschlossene« Dichten, das von den Trobadors auch als trobar escur (»dunkles Dichten«) oder trobar cobert (»verdecktes Dichten«) bezeichnet wird. Während das trobar leu vom großen und allgemeinen Publikum verstanden sein will, gilt das trobar clus im Selbstverständnis seiner trobadoresken Vertreter als adäquate poetische Ausdrucksweise eines sich an eine Elite wendenden Dichters - und es ist klar, daß der dunkle Stil vor allem in der Minnekanzone (Liebeskasuistik, höfische Ethik) und weniger in der Gattung des Sirventes gepflegt wurde. Mittel des »Verdunkelns« des Inhalts sind insbeson­ dere: Concetti, seltenes Vokabular (auch Neologismen), verstechnische Mittel, auch syntaktische Mittel - alle bereits bei Marcabru, dem Hauptvertreter der Trobadors der zweiten Generation, allerdings ohne die Absicht zu »verdunkeln«, vorgeformt. Eine - letztlich vermittelnde - Sonderstellung nimmt das bereits erwähnte trobar ric - von den Trobadors auch als

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trobar prim bzw. trobar car bezeichnet - ein. Bei ihm kann von einem ausgesprochenen Bemühen, dunkel zu dichten, keine Rede sein. Das trobar ric, als dessen Hauptvertreter Arnaut Daniel zu gelten hat, hat die formale Schönheit, die Virtuosität in der Handhabung formaler Mittel zum Ziel, strebt klangvolle Verse an, unter formalen Gesichtspunkten ausgesuchtes Vokabular, das jegliche Vulgarismen aus­ schließt, legt besonderen Wert auf das metrische Ausfeilen eines Lieds (seltene, schwierige Reime: rimas caras, beson­ dere Reimstrukturen usw.) und schafft so de facto eine gewisse Dunkelheit, die als Ausweis der besonderen dichte­ rischen, versifikatorischen Fähigkeiten des Trobadors gilt, aber nicht ein erschwertes Verstehen oder gar Unverständ­ lichkeit per se zum Ziel hat. Es wurde schon darauf hinge­ wiesen, daß die Trouvères kein trobar ric kennen. Noch viel weniger ist auch nur eine Tendenz zum trobar dus bei den Trouvères zu beobachten.

Der Sitz im Leben Gerade die ausgedehnte, jahrzehntelange Diskussion der Forschung zu der Zweistiltheorie der Trobadors war immer wieder durch die Frage verkompliziert worden, woher die Trobadors ihr stilistisches Programm, woher sie ihr dunkles Dichten bezogen haben könnten. Man hat die Bibelallegorese des Mittelalters, die durchaus Analogien zum trobar dus aufweist, ebenso bemüht wie die Tradition der lateini­ schen glossematischen Literatur des Mittelalters, selbstver­ ständlich auch die Lehre vom doppelten sprachlichen Schmuck der Rede (omatus fadlis - omatus difficiles') der lateinischen Rhetorik, aber auch Analogien in der hispanoarabischen Literatur. Dieses Herkunftsproblem, das sich bei dem Gesamtphänomen Trobadorlyrik - Trouvèrelyrik ebenso wie bei ihren einzelnen Erscheinungsformen (Gat­ tungen, Themen, Motive, Form usw.) gesondert immer

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wieder stellt, hat innerhalb der mediävistischen Forschung lange Zeit im Vordergrund gestanden. So wurden - zum Teil mit Überschneidungen, je nach Forschungsgegenstand die verschiedensten Thesen aufgestellt: volkstümlicher Ursprung - mittellateinische Dichtung als Modell, insbeson­ dere auch Vagantenlyrik - antik-lateinische Dichtung als Quelle, vor allem die Dichtung Ovids - liturgische Tradition des Mittelalters, seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auch die Marienverehrung, als impulsgebend - Einfluß durch, ja Herkunft aus der hispano-arabischen Hofdichtung mit ihrem in vielen Punkten entsprechenden Frauendienst. Daß im einzelnen synkretistisch verfahren und z. B. nach Gattungen differenziert werden muß, ist eine Einsicht, die sich heute mehr und mehr durchsetzt. Ebenfalls klar ist, daß Einflüsse von außerhalb immer in Rechnung zu stellen sind. Aber wichtiger ist in jedem Fall die Frage, warum bestimmte Einflüsse zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Region in einer bestimmten Weise wirksam werden, d. h. als kulturfördernde Beiträge wirken konnten; und dies ist letzt­ lich die Frage nach dem Sitz im Leben dieser Dichtung, die zu beantworten in jüngerer Zeit vor allem für die Trobadorlyrik verstärkte Versuche unternommen wurden. Die literatursoziologisch orientierten Forschungen von Erich Köhler haben dargelegt, daß die Entstehung und Entfaltung der Trobadorlyrik letztlich auf die historisch­ soziale Situation einer bestimmten Gruppe der südfranzösi­ schen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zurückzuführen ist, die trotz ihrer Heterogenität eine wesentliche Einheit bildet: Diese Gruppe, deren einzelne Schichten unter dem ihr Gruppenideal bezeichnenden Ober­ begriff Joven (>Jugendniederen Rittertums« stellt die Träger­ schicht der Trobadorlyrik dar. Ihre sich im »paradoxe amoureux« (Paradox der höfischen Liebe - unerfüllte Liebe zu einer hohen Dame) kristallisierende liebespsychologische Struktur weist eine echte Homologie zur sozialpsychologi­ schen Struktur dieser Gruppe von »marginal men« auf, die im Verlauf ihres gesellschaftlichen Aufstiegs zwar die Grenze zur nächsthöheren sozialen Schicht erreicht hat eine Grenze allerdings, die, nur unvollständig überwindbar, ihrem weiteren Emporstreben Einhalt gebietet. Die Angst vor dem (gesellschaftlichen Tod bedeutenden) Zurücksinken auf die Ausgangsposition und die Hoffnung, ja Erwartung, jene Schranke durch verstärkte Anstrengung doch noch überschreiten zu können, erzeugen einen im Prinzip perma­ nent ungelösten Spannungszustand, der ihr Kollektivbe­ wußtsein bestimmt: »Selbstüberwindung im Verzicht, bei meist, aber nicht immer unausgesprochener Erwartung, durch diese unablässig propagierte Leistung schließlich doch auf den Verzicht selbst verzichten zu können, ist die Hal­ tung, mit der sich diese Gruppe für die Anerkennung durch die höhere Schicht und schließlich für die Aufnahme in sie empfiehlt. «M Dichterische Projektion dieses sozialpsycholo­ gischen Sachverhalts ist die Lyrik der Trobadors, die der allerdings erst sekundären - Bindung des Hochadels an die durch diese Dichtung propagierten gesellschaftlichen, ethi­ schen und kulturellen Wertideale ihre weitere Entfaltung verdankt. Daß dann die Aristokratie auch in Nordfrankreich zur Trägerschicht der (»importierten«) höfischen Lyrik wer­ den konnte, leuchtet ein. Die (teilweise) Übernahme höfi­ scher Dichtung und Wertideale durch das städtische Bürger­ tum seit dem Ende des 12. Jahrhunderts entspricht vor allem dem Bedürfnis aufsteigender Schichten, mit »konsekrierten« gesellschaftlichen, ethischen und kulturellen Mustern ihren Aufstieg zu legitimieren. Weitere (vor allem kulturelle) Ent-

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stehungsbedingungen der Trobadorlyrik lagen ohne Zweifel u. a. in der besseren Rechtsstellung der Frau im Süden, in der politischen Autonomie der südfranzösischen Feudalari­ stokratie und im (bis zum Verlust der Unabhängigkeit) weit geringeren Einfluß der Kirche im Midi begründet. Trobadorlyrik und Trouverelyrik sind wesentlich höfische Lyrik, d. h. der Ort, der ihnen von der Produktion und der Rezeption her in erster Linie zukommt, ist der Hof (cort). Diese Lyrik ist in der Hofkultur Süd- und Nordfrankreichs im 12. und 13. Jahrhundert künstlerischer Ausdruck der die Ethik - Denk- und Lebensform - als zu erstrebendes Ziel prägenden cortezia/cortoisie, die der Liebesideologie, der cortez'amor (>höfische Liebe«) bzw. fin'amor (»edle, reine Liebe«) zugrunde liegt. Diese cortezia/cortoisie (lat. curialitas) ist das Ideal der moralischen, auch sozialen Vollkom­ menheit des Menschen in der feudalen Gesellschaft, ein »elitäres« Ideal, nach dem jeder sein Handeln auszurichten hat; es vereinigt in sich die Tugenden, die immer wieder bei Trobadors und Trouveres explizit und implizit proklamiert werden - Treue (leialtat/loialte), Freigebigkeit (largetat bzw. largueza / largece), Tapferkeit (proeza/proece), gutes und gesittetes Benehmen, auch Schönheit und Soziabilität, Gast­ freundschaft, Hilfsbereitschaft usw. usw. - und die der vilania/vilenie (»nichthöfisches Wesen«) entgegenstehen. Höfisches Leben und Lieben sind identisch. Höfisches Wesen ist deshalb in seiner Vollkommenheit nur durch die Liebe erreichbar; per amor es om cortes (»durch die Liebe ist der Mensch höfisch«). Diese Liebe, die das Zentrum der höfischen Ideologie ausmacht, ist - ohne das Moment der Sinnlichkeit in jedem Fall zu negieren - keine allein durch den körperlichen Vollzug realisierbare Liebe; sie wäre sonst unhöfisch. Sie ist auch keine rein »platonische« Liebe; sie wäre sonst nicht höfisch. Diese Liebe ist eine prinzipiell unerfüllte Liebe - ein amar desamatz (»ungeliebtes Lieben«): der Liebesvollzug stellt zwar das permanente Ziel des mora­ lisch-ethischen Strebens dar, er darf jedoch - und dies macht

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das bereits angesprochene Paradoxale dieser Liebe aus prinzipiell niemals erreicht werden. Der liebende Dichter befindet sich in einem durch das Spannungsverhältnis des »paradoxe amoureux« (Leo Spitzer) determinierten perma­ nenten Unterwegs zu seinem Ziel, ohne seiner vollkommen teilhaftig zu werden, teilhaftig werden zu dürfen. Denn würde das Ziel erreicht, dann gäbe es keine Anstrengung mehr, dann würde das Bemühen, durch die Liebe höfisch, vollkommen zu werden, erlahmen: der stetige Perfektionie­ rungsprozeß würde nicht mehr stattfinden. Dieser Span­ nungszustand zwischen Begehren und Erfüllung verstärkt sich im Lauf der Entwicklung der höfischen Lyrik. Bei den Trouvères wird er - je »realitätsferner« die höfische Liebe, als rein moralisch-ethische Kategorie, von ihrem ursprüngli­ chen Sitz im Leben gelöst wird - geradezu verabsolutiert. Die Liebe der höfischen Lyrik ist eine »ehebrecherische« Liebe: sie gilt einer verheirateten Frau, der zum Ideal stili­ sierten, wesentlich »überindividuellen« domna/dame. Dem liegt die durch die mittelalterliche Heiratspraxis gestützte Auffassung zugrunde, daß wahre Liebe zwischen Eheleuten nicht möglich sei, weil diese das Gesetz zusammenführe; wahre Liebe darf überdies nicht gesellschaftsfeindlich sein was die »private« eheliche Liebe wäre, da sie dem höfischen Kreis seine bildende, den einzelnen perfektionierende Kraft nehmen würde. Die Liebe erscheint »als eine Erziehungs­ macht, und d. h. in einem zugleich ganz konkreten und universalen Sinne als eine auf einem unzerstörbaren Grund­ bestand der menschlichen Natur aufbauende Ordnungs­ macht«.65 Im Norden Frankreichs, wo Kirche und Klerus im 12. Jahrhunden eine viel stärkere Position innehatten als im Süden, war diese Ehefeindlichkeit nicht durchweg auf­ rechtzuerhalten. Hier wird - im höfischen Roman - die Ehe sogar zum eigentlichen Ziel des höfischen Liebens, ihr Voll­ zug zum Lohn für erfolgreiches Bewähren und stetiges Streben nach Perfektion. Damit wird auch begreiflich, warum dem (höfischen) Roman im rigoroseren Nordfrank­

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reich eine so dominante Rolle zufiel, im Süden dagegen der Lyrik: »Die Lyrik konnte sich, ja mußte sich ihrem Wesen nach begnügen, von der Distanz der Liebespartner zu spre­ chen; die Notwendigkeit, die Ehe in die höfische Liebe einzuführen, gebot, die Distanz und ihre Überwindung darzustellen, und das heißt: sie verlangte den Roman.«64 Wesentlich ist die Distanz zwischen Trobador und Dame: sie ist einerseits durch den Verheiratetenstatus der Dame gegeben, andererseits - und in größerem Maß - durch ihre höhere soziale Stellung. Diese ist aber zugleich eine ethische Distanz. Lieben zielt auf deren (nicht erreichbare) Überwin­ dung ab. Die Sehnsucht nach dieser Überwindung führt richtig »genutzt« - zu gesellschaftlicher Anerkennung {pretzl pris). Wenn der Trobador Jaufre Rudel um die Mitte des 12. Jahrhunderts aus der sozialen Distanz eine geographi­ sche macht - und zwar in seiner berühmten »Fernliebe« -, so sicherlich deshalb, weil er selbst als Graf von Blaia dem hohen Feudaladel angehört, weil bei ihm eine soziale Distanz nicht konstruierbar ist. Symptomatisch für den Sitz im Leben vor allem der Trobadorlyrik ist die in der Forschung immer wieder diskutierte Analogie - hinter ihr verbirgt sich eine echte Homologie von »Frauendienst« und »Vasaljität«. Der liebende Dichter ist der Vasall (om'j seiner Herrin — sehr oft indessen noch weniger als ihr Vasall, der immerhin noch - der Reziprozität des Verhältnisses Vasall - Feudalherr entsprechend - neben seinen Pflichten bestimmte Rechte, vor allem den Anspruch auf Schutz und Hilfe, aber auch Lohn für seine Dienste geltend machen kann. So erreicht die trobadoreske Unter­ würfigkeit oft genug - aber in der Regel in der Spätzeit - das Extrem einer ausgesprochenen Sklavenhaltung einer domina gegenüber, die bis zur Grausamkeit einer »belle dame sans merci« geht und damit das amar desamatz zuspitzt. Vor allem in der französischen Weiterentwicklung wird die Dame als »schöne, (aber) erbarmungslose Dame« bis hin zu Alain Chartier (Anfang des 15. Jahrhunderts) zum Typus.

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Schon beim »erstem Trobador wird die Dame von ihrem trobadoresken Verehrer auch mit midons (statt ma domna) bezeichnet - abzuleiten von lat. meus dominus »mein Herr< und gleichgültig, ob diese Form genetisch mit entspre­ chenden maskulinen Formen der hispano-arabischen Lie­ besdichtung in Zusammenhang steht oder nicht, besteht über ihren feudalistischen Charakter keinerlei Zweifel; viele Trobadors spielen sogar regelrecht mit dieser Doppeldeu­ tigkeit von midons. Damit jedoch nicht genug: fast das gesamte Vokabular, das die höfischen Lyriker zur Kenn­ zeichnung ihres Verhältnisses zur geliebten Dame verwen­ den, ist - bis zum zentralen Terminus amor selbst - ein ausgesprochen feudalrechtliches; darüber hinaus ein bewußt feudalrechtliches, wie z. B. Peire Raimon de Tou­ louse (Anfang des 13. Jahrhunderts) in einem Lied (P/C 355,3) zum Ausdruck bringt: Gran talan ai cum pogues de gignols ves lieys venir de tan luenh cum hom cauzir la poiria, que vengues mas juntas far homenes cum sers a senhor deu far.67

Große Lust habe ich, nach Möglichkeit auf Knien zu ihr zu kommen von so weit her, wie man zu erkennen sie vermöchte, auf daß ich käme, mit gefalteten Händen zu huldigen, so wie ein Höriger dem Herren huldigen muß. In der feudalistischen Terminologie entspricht dies den die Realität der vasallitischen Huldigung (homagium) treffenden Formeln flectis genibus und manibus iunctis (immixtio manuum als Ritus der Selbstaufgabe: »das Einlegen der Hände in die des Herrn symbolisiert die Übergabe der

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ganzen Person des Vasallen an den Herrn«68) - hier speziell wohl dem im Midi vor allem zu Beginn des 13. Jahrhunderts äußerst häufig praktizierten »hommage servile« (der Dichter war bürgerlichen Stands) wobei bedeutsam ist, daß derje­ nige, der den »hommage servile« leistet, zuvor im allgemei­ nen vollfrei gewesen ist, was die Selbstaufgabe des sich in ähnlicher Weise in die Abhängigkeit seiner Dame begeben­ den Trobadors noch verstärkt; außerdem übergibt der sich als treuer servus verpflichtende ehemalige Freie nicht nur sich selbst (de corpore), sondern meist auch seine ganze Habe (de casalagio), die ihm wiederum vom Herrn zur Nutzung überlassen wird, was sicherlich z. B. in den fol­ genden Versen einer Kanzone (P/C30.17) von Amaut de Marueil impliziert ist:

[...] ren de mon cor non ai mais la bailia; de vos lo tenh don tot lo mon tenria, s'el era mieus.6’ [...] nichts besitze ich von meinem Herzen, außer die Aufsicht (darüber); von Euch habe ich es, von der ich die ganze Welt hätte, wenn sie die meine wäre. In diesen Zusammenhang gehören u. a. die permanenten expliziten oder impliziten Verweise vor allem der Trobadors auf die convenientia (aprov. covtnensa, covinen, coven), die sie mit ihrer Dame abgeschlossen haben und die vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen ist, daß im Midi die Vasallität ursprünglich auf nichts anderem als einer feierli­ chen, keiner Zeugen bedürfenden, reziproken Willenserklä­ rung zwischen einem Herrn und seinem Vasallen basiert.70 In diesen Zusammenhang gehört auch die dauernde Bitte des höfischen Liebhabers, von seiner Dame »reteniert« zu wer­ den, d. h. ihr Vasall werden zu dürfen; auch der Kuß auf den Mund (osculum), auch die feudalistische Terminologie für

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Treue (bona fe / bone fei) und Untreue (felonüt/felonie), das Bitten um Gnade (merce/merci), die Begriffe für Recht (dreit) und Unrecht (fort); überhaupt die Terminologie des mittelalterlichen Vertragsrechts, mit welcher der Dichter immer wieder seine Rechte der Dame gegenüber - vor allem sein Recht auf Belohnung seiner Dienste - unterstreicht: Er wird nicht müde zu betonen, daß er seine Verpflichtungen, die ihm aus dem >Vertrag< des Minnedienstverhältnisses erwachsen, stets erfüllt hat und erfüllen wird, daß er den Vertrag nicht brechen wird - stets auch in der Hoffnung, daß seine Dame ihrerseits ebenfalls diesen Kontrakt nicht etwa durch positive Vertragsverletzungen oder Leistungs­ verzug aufheben wird - si q’en baizan / sien nostre coven verai / e qe m do zo que m’a promes.7' Gerade die Bedeutung der convenientia aber zeigt, wie hier eine Homologie von poetischen Strukturen und sozioöko­ nomischen Verhältnissen - also mehr als Analogie oder reine Metaphorik - vorliegt. Auf der einen Seite haben wir den unvermindert starken Anspruch der zahlenmäßig wachsen­ den Gruppe des >niederen Rittertums« bzw. des verarmten Kleinadels auf Belehnung und die durch die zunehmende, im 12. Jahrhundert auch den Süden erfassende Verdingli­ chung der feudo-vasallitischen Beziehungen bedingte Tatsa­ che, daß nur durch den Erhalt eines beneficium (Lehen) eine soziale Integration in den Adel möglich ist. Auf der anderen Seite stehen die immer größeren realen Schwierigkeiten, diese Aspirationen für alle bzw. viele zu erfüllen - hierin liegt eine für die Dichtung wichtige Krise in der Aufstiegsbe­ wegung von Joven begründet. Dies stellt einen Antagonis­ mus dar, der sich in der Trobadorlyrik als ein sie strukturie­ render Widerspruch (»paradoxe amoureux«) niederschlägt, für den diese aber gleichzeitig einen auch für Nordfrank­ reich äußerst brauchbaren, da harmoniestiftenden »Kompro­ miß« präsentiert, der in der Rechtskategorie der convenientia zum Ausdruck kommt. Mit ihr setzt sich einerseits das »niedere Rittertum« (bzw. entsprechende untere Schichten

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im Norden) ideologisch in eine enge Beziehung zum Hoch­ adel und betont permanent seine ökonomischen und sozia­ len Ansprüche für die Zukunft, mit ihr bindet andererseits der Hochadel die emporstrebende Gruppe an sich und ver­ mag - da die reale Ausführung der convenientia in die Zukunft verlegt wird und der Akzent auf dem unaufhörli­ chen, zugleich statischen und dynamischen Weg dorthin liegt, der als Grundlage des Bildungsprozesses einen emi­ nenten Eigenwert erhält - somit das Nachobendrängen zu reglementieren und durch die Integration bestimmter Werte wie mezura (Maß) und obediensa (Gehorsam) als Vorausset­ zung für den Erfolg geradezu in den Dienst der sozialen Ordnung zu stellen. Für die Trouvèrelyrik, die mit vielen inhaltlichen Elementen und Topoi der Trobadorlyrik (wie etwa Natureingang, Lob der Dame und der Liebe, Werbung um die Dame ...) grundsätzlich auch das beschriebene Konzept der trobadoresken Liebe übernommen hat, müssen einige differenzie­ rende Einschränkungen gemacht werden. Chrétien de Troyes z. B. kennt zumindest noch die Struktur der conve­ nientia. Zwar unterwirft er sich seiner Dame, doch nicht der Fatalismus eines Tristanschen Liebestranks macht ihn zum Sklaven seiner Dame, sondern sein freier Wille läßt ihn zur von ihm erwählten Dame in den Dienst treten. Bei späteren Trouvères wird der Graben zwischen Dichter und Dame ähnlich wie in der späten Trobadorlyrik - immer tiefer. Die Dame wird immer mehr spiritualisiert, gleichzeitig immer grausamer. Mehr als ein Blick - weit von oben herab - kann dem höfischen Liebhaber als Lohn treuen Dienens und höfischer Vervollkommnung kaum noch zuteil werden. Die bei den Trobadors der Blütezeit durchaus >normale< sinnli­ che Begierde wird zur folie, zum Verbrechen der Dame gegenüber, die Unterwürfigkeit zur Grundgebärde des Dichters. Aber schon bei Chrétien de Troyes wird andererseits eine Bedingungslosigkeit des Minnedienstverhältnisses deutlich,

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die den Trobadors meist fremd ist. Daß man über die Liebe nur Gutes sagen darf, hat schon Wilhelm IX. von Aquita­ nien betont - doch die Trobadors haben sich immer wieder zur Kritik an der Liebe, an den Damen im allgemeinen, aber auch an der eigenen Dame hinreißen lassen. Daß sie sich trotz aller Unbill und mangelnder Hoffnung auf Lohn niemals von ihrer Dame trennen werden, haben die Troba­ dors immer wieder beteuert - und dennoch haben sie sich immer wieder in sogenannten Abschiedsliedem nach einer gewissen Zeit vergeblichen Werbens von ihrer Dame getrennt (comjat: Aufkündigung des Minnedienstverhältnis­ ses mit Beschimpfung der Dame - chanson de change: comjat + Hinwendung zu einer neuen Dame). Bei den Trouvères ist keine Spur mehr von einem Abschiedslied in dieser Form - der altfranzösische congié ist etwas gänzlich anderes. Die Bedingungslosigkeit der Liebe ist nicht mehr nur Teil einer Werbungsrhetorik, sondern - im Zusammen­ hang der nicht mehr existentiellen Verknüpfung von Lieben und Leben - stets durchgehaltenes Prinzip. Kritisiert ein Trouvère dennoch einmal die Liebe,72 so provoziert er sogleich eine dichterische Fehde gegen sich, die damit endet, daß er klein beigeben, eine Art Widerruf verfassen muß und den Minnedienst reumütig wiederaufnimmt. Die höfische Liebe wird bei den Trouvères - bei den Troba­ dors erst im Verlauf des 13. Jahrhunderts - mehr und mehr zur dichterischen Fiktion. Der Anteil des Sinnlich-Eroti­ schen nimmt stetig ab. Bei der trobadoresken Liebe kann in der Blütezeit nur in den seltensten Fällen von der Fiktion einer Liebe die Rede sein - davon also, daß Frauenlob und Frauendienst immer nur Herrenlob und Herrendienst mei­ nen, daß das Appellieren des Trobadors an die sich ihm letztlich verweigernde Dame nur ein Appellieren an die largueza/larguetat (Freigebigkeit) des Herrn meint. Das enge Zusammenleben des vor allem durch junge Leute - u. a. vom Feudalherrn direkt abhängige bacheliers (angehende Ritter), escudiers (Knappen) und chevaliers (Ritter) - vertre­

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tenen «niederen Adels« mit nur wenig Frauen an einem Hof, über den vor allem durch die langen Abwesenheiten des Herrn und zumal im Bereich der höfischen Geselligkeit die domna herrscht, »muß in dieser Inselwelt eine erotische Hochspannung erzeugen, die, weil sie in den meisten Fällen nicht anders abgeleitet werden kann, in der sublimierten Form der höfischen Verliebtheit Ausdruck findet«.73 Diese höfische Verliebtheit - mehr dynamisch als statisch - wird durch den bedeutungskomplexen Terminus joi («Freude«) wiedergegeben: eigentlich und ursprünglich meint er - auch noch in der Liebeskanzone, vor allem aber im Tagelied - den vollkommenen Liebesgenuß, die durch die Erfüllung der Liebe erzeugte Freude, also das Ziel der fin'amor, den vollen Besitz der Dame - und deshalb oft auch die Dame selbst. Doch da dieser eigentliche joi in der Kanzone nicht realisier­ bar ist, macht der Trobador sehr häufig »aus der Not eine Tugend«, was sich semantisch dahingehend auswirkt, daß der joi nicht mehr allein den ohnehin nicht erreichbaren fach (lat. factum «Liebesakt«) bezeichnet - es sei denn im Optati­ ven Kontext -, sondern auf der Stufenleiter der graduellen Liebeserfüllung herabsteigt, bis er schließlich nur noch die Sehnsucht und die Wunschsituation des Liebenden selbst, seine Hoffnung und die durch sie erzeugte Glückserwartung umschreibt, ein Glücksgefühl und inneres Hochgestimmt­ sein, das sich aus der Hoffnung und nicht aus der Erfüllung ableitet, jedenfalls aber selten so weit sublimiert ist, daß es kein erotisches mehr wäre. Die joie der Trouvères geht hier mit einer wesentlichen Enterotisierung meist noch einen Schritt weiter. Lange nicht entschieden ist allerdings dennoch die alte Streitfrage, ob die Liebe des höfischen Liebhabers als regel­ rechte Liebesbeziehung, als Gefühlsbeziehung zwischen Mann und Frau Realität oder Fiktion gewesen ist. Bei den Trouvères weist auch hier nahezu alles in Richtung Fiktion. Bei den Trobadors wird man je nach Dichter und je nach Phase in der Entwicklung der Trobadorlyrik zu differenzier­

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ten Antworten gelangen müssen. Vieles weist bei vielen Trobadors auf Authentizität hin - nicht zuletzt entspre­ chende Berichte in Vidas und Razos, die zwar im Einzelfall nicht unbedingt glaubwürdig zu sein brauchen, aber gene­ relle Schlußfolgerungen dennoch zulassen es gibt aller­ dings auch gegenteilige Aussagen wie z. B. in der Vida von Uc de Saint-Circ, dem vorgeworfen wird, die in seinen Kanzonen besungenen Damen nicht wirklich geliebt zu haben: Cansos fez de fort bonas e de bos sons e de bonas coblas; mas non fez gaires de las cansos, quar anc non fo fort enamoratz de neguna; mas ben se saup feingner enamoratz ad ellas ab son bei parlar. E saup ben dire en las soas cansos tot so queill avenia de lor, e ben las saup levar e ben far cazer. Mas pois qu’el ac moiller non fetz cansos.74 Er verfaßte sehr gute Kanzonen und gute Melodien und gute Coblas; aber (insgesamt) verfaßte er kaum Kanzo­ nen, denn nie war er in eine (Dame) sehr verliebt; aber mit seiner schönen Rede wußte er gut so zu tun, als wäre er in sie verliebt. Und er konnte in seinen Kanzonen gut all das ausdrücken, was ihm von ihnen geschah, und wohl vermochte er sie [d. h. ihr Ansehen] zu erhöhen und zu senken. Aber nachdem er geheiratet-hatte, verfaßte er keine Kanzonen (mehr).

Bei den besonderen Bedingungen, durch die sich die fin’amor auszeichnet, ist es - wie weit die Fiktionalität auch im Einzelfall gehen mag - nicht verwunderlich, daß diese Liebe bestimmte Geheimhaltungspflichten mit sich bringt. Einerseits muß stets das Entdecken der >ehebrecherischen< Liebe durch den Ehemann der Dame, den Eifersüchtigen (gi/os), gefürchtet werden, der aus der Perspektive des Dich­ ters deshalb stets negativ, d. h. als unhöfisch, gezeichnet wird;75 bezeichnend für die Entfernung vom ursprünglichen

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Sitz im Leben der höfischen Lyrik bei den Trouvères ist dabei, daß dieser grobschlächtige, moralisch minderwertige vilan (einmal) von einem Trouvère (Guiot de Provins) beneidet werden wird. Andererseits ist die Gefahr der eben­ falls unhöfischen lauzengiers/losengiers, der Schmeichler und Neider, zu beachten, die Trobador und Trouvère bei seiner Dame anschwärzen und verleumden - eine in der Kanzone stereotyp wiederkehrende, anonyme Personenkategorie, die als Rivalen der Dichter eine permanente und deshalb stets angeklagte und verfluchte Bedrohung darstellen und letzt­ lich auf die Hofministerialität in der Realität zurückgeführt werden kann, die darauf bedacht ist, ihre Ämter gegenüber den noch nicht integrierten, noch nicht bestallten Aspiran­ ten zu verteidigen. Vorläufer des lauzengier in der ersten und zweiten Trobadorgeneration ist der gardador (Wäch­ ter), der im Auftrag des Mächtigen dasjenige zu bewachen hat, nach dessen Besitz der besitzlose Trobador strebt - die domna -, und sogar oft in betrügerischer Weise Nutznießer des ihm anvertrauten und von ihm »verwalteten« Guts ist. In diesen Zusammenhang gehört die auch noch bei den Trouvères gegebene, wenn auch dort meist funktionslos gewordene Grundforderung des celar, des Verheimlichens der Liebe, einerseits, das der Forschung bis heute noch manche ungelöste Probleme aufgebende, den Trouvères fast unbekannte Senhal andererseits. Das Senhal ist ein erfunde­ ner Versteckname, mit dem der Trobador - meist im Geleit seiner Kanzone - seine Dame bezeichnet,76 um deren wahre Identität zu verbergen, und ist schon beim »ersten« Trobador belegt (Bon Vezi »Guter Nachbar«). Einige weitere Beispiele: Miellz de domna (»Besser als Dame«), Na Dezirada (»Frau Begehrte«), Bon Esper (»Gute Hoffnung«) - mit diesem Sen­ hal wurde ein und dieselbe Dame von verschiedenen Trobadors gleichzeitig bezeichnet -, Bel Vezer (»Schönes Blikken