Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I : Lieder der Trobadors : Provenzalisch/Deutsch
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Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I Lieder der Trobadors Provenzahsch / Deutsch Reclam

Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I Lieder der Trobadors PROVENZALISCH / DEUTSCH

AUSGEWÄHLT, ÜBERSETZT UND KOMMENTIERT

VON DIETMAR RIEGER

PHILIPP RECLAM JUN. STUTTGART

Universal-Bibliothek Nr. 7620 [5] Alle Rechte vorbehalten © 1980 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 1989 RECLAM und UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Warenzeichen der Philipp Reclam jun. GmbH fic Co., Stuttgart ISBN 3-15-007620-X

Inhalt Einleitung

..........................................................................

9

Lieder und Übersetzungen

I

Wilhelm IX. von Aquitanien Farai un vers de dreyt nien / Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen ...............................

16

Wilhelm IX. von Aquitanien Companho, farai un vers qu'er covinen / Ge­ fährten, ich werde ein Lied machen, das passend sein wird...............................................................

20

III

Wilhelm IX. von Aquitanien Ah la dolchor del temps novel / Mit der Süße des Frühlings...............................................................

24

IV

Wilhelm IX. von Aquitanien Farai un vers, pos mi sonelh / Ich werde ein Lied machen, da ich schläfrig bin...............................

28

Wilhelm IX. von Aquitanien Pos de chantar m’espres talenz / Da mir die Lust zu singen gekommen ist.........................................

36

VI Jaufre Rudel Lanqand li jom son lonc en mai / Wenn die Tage lang sind, im Mai..................................................

40

II

V

VII

VIII

Marcabru Dirai vos senes duptansa / Ich werde euch ohne Zögern ... sagen..................................................

44

Marcabru Pax in nomine Domini! / Pax in nomine Domini!

50

4

Inhalt IX

Marcabru A la fontana del vergier / Am Brunnen des Gar­ tens ........................................................................

56

X

Marcabru L’autrier iost’una sebissa / Neulich, neben einer Hecke.....................................................................

60

XI

XII

XIII

XIV XV

Marcabru Estomel, cueill ta volada / Star, fliege los .... Ges l’estomels non s’oblida / Der Star vergißt sich keineswegs.....................................................

66

70

Cercamon Puois nostre temps comens'a hrunezir / Da unser Himmel sich zu bedecken beginnt......................

78

Bernart Marti D’entier vers far ieu non pes / Ich denke nicht daran, ein vollkommenes Lied zu machen . . . .

84

Rigaut de Berbezilh Atressi con 1‘orifanz / Ebenso wie der Elefant . .

90

Peire d’Alvernha Rossinhol, el seu repaire / Nachtigall, zu ihrer Wohnstatt............................................................... 100 Ben ha tengut dreg viatge / Wohl hat der Vogel den direkten Weg eingehalten............................ 104

XVI Bernart de Ventadorn Can vei la lauzeta mover / Wenn ich die Ler­ che ... bewegen sehe............................................

108

XVII Bernart de Ventadorn Non es meravelha s’eu chan / Es ist kein Wunder, wenn ich singe .....................................................

114

XVIII Raimbaut d’Aurenga Escotatz, mas no say que s’es / Hört zu, aber ich weiß nicht, was es ist............................................

120

Inhalt

5

XIX Giraut de Bornelh / Reis Anfos Be me plairia, senh ‘en reis / Wohl würde mir gefallen, Herr König............................................ 126

Raimbaut d’Aurenga/Giraut de Bornelh Era m platz, Giraut de Bomelh / Nun gefällt es mir, Giraut de Bornelh......................................... XX

130

Giraut de Bornelh Reis glorios, verais Iums e clartatz / Ruhmreicher König, wahrhaftes Licht und Helligkeit............. 136 Anonym En un vergier sotz fuella d’alhespi / In einem Garten, unter einem Weißdornblatt...................

138

Bertran d’Alamanon Uscavalierssiiazia / Ein Ritter lag...................

140

XXI Guillem de Berguedan Amics Marques, enqera non a gaire / Freund Markgraf, noch ist es nicht lange her................... 146 XXII Arnaut Daniel Lo ferm voler q'el cor m’intra / Das beständige Begehren, das in das Herz mir hineingeht .... 152

XXIII

Bertran de Born Mon chan fenisc ab dol et ab maltraire / Meinen Gesang beende ich mit Schmerz und mit Leid . . 156 Si tuit li dol elh plor elh marrimen / Wenn all die Klagen und die Tränen und die Betrübnisse . 162

XXIV

Bertran de Born No puosc mudar un chantar non esparja / Ich kann nicht umhin, einen Gesang zu verbreiten .

166

XXV Bertran de Born Be m platz lo gais temps de pascor / Wohl gefällt mir die fröhliche Osterzeit..................................

172

6

Inhalt XXVI Comtessa de Dia A chantar m'er de so q'ieu no volria / Ich muß über das singen, was ich nicht möchte................ 176

XXVII Raimbaut de Vaqueiras Kalendamaia / Das Maifest...............................

180

XXVIII Peire Vidal Mout es bona terr’Espanha / Ein sehr gutes Land ist Spanien...............................................................

188

XXIX Savaric de Mauleon/Gaucelm Faidit/Uc de la Bacalaria Gaucelm, tres jocs enamoratz / Gaucelm, drei Liebesspiele............................................................

192

XXX Gavaudan Dezamparatz, ses companho / Verlassen, ohne Begleiter ............................................................... 200 L’autre dia, per un mati / Neulich, an einem Morgen.................................................................. 206

XXXI Elias de Barjols Si l belha m tengues per sieu / Wenn die Schöne mich als den Ihren annehmen würde................... 210

XXXII Guillem de Montanhagol Non an tan dig li primier trobador / So viel haben die ersten Trobadors nicht ... gesagt . . 214 XXXIII Peire Cardenal Ab votz d’angel, lengu’esperta, non bleza / Mit Engelsstimme, gewandter und nicht lispelnder Zunge..................................................................... 220

XXXIV Cerveri de Girona Gentils domna, venfa us humilitatz / Edle Da­ me, möge Euch die Demut ... besiegen................. 226

Inhalt

XXXV

7

Guiraut Riquier Humils, forfaitz, repres e penedens / Demütig, schuldig, angeklagt und reuig............................ 228

Kommentar..........................................................................

233

Allgemeine Bibliographie......................................................

317

Einleitung Das Verhältnis der heutigen Zeit zum Mittelalter und seiner Dichtung wird in immer stärkerem Maß durch zwei gegen­ läufige Tendenzen determiniert. Einerseits ist ein immer größeres allgemeines Interesse für das Mittelalter und die verschiedensten Bereiche des mittelalterlichen Lebens, Den­ kens und Dichtens zu beobachten, das nicht einfach vielleicht sogar abfällig - als Symptom einer Fluchtcharakter tragenden Nostalgiewelle abzutun ist, sondern eher auf ein ansteigendes Bedürfnis nach einem bisher weitgehend feh­ lenden Geschichtsbewußtsein, auf ein sich entwickelndes Bewußtsein von der eigenen Geschichtlichkeit hindeutet. Andererseits geht an den Universitäten im Bereich der Lehre - also dort, wo die allgemeinen Bildungsinhalte von morgen vorprogrammiert werden, im Bereich der Lehrerausbildung vor allem - die Tendenz in eine völlig andere Richtung. Das Mittelalter spielt hier eine immer geringere, mancherorts als geradezu verpönte Epoche überhaupt keine Rolle mehr. Zu erklären ist dieser radikale Wandel durch die Geschichte der Philologien, vor allem auch durch die berechtigte Forderung nach Gegenwartsbezug, ohne Zweifel ebenfalls durch ein unkritisches, da undifferenziertes und geradezu oberflächli­ ches bildungspolitisches Konzept mancher Verantwortli­ cher. Denn daß auch die Mediävistik dazu in der Lage sein kann, in ihrem Bereich den äußerst wichtigen Gegenwartsbe­ zug herzustellen, hat sie - soweit sie nicht museale Wissen­ schaft bleibt und bleiben muß - in vielen ihrer Teilbereiche unter Beweis stellen können, während sich auf der anderen Seite bei kritischen Beobachtern immer mehr die an sich selbstverständliche Erkenntnis durchsetzt, daß man zum kritischen Erkennen der Gegenwart und dem allein auf dieser Grundlage möglichen Meistern der Zukunft diese Gegenwart als eine gewordene begreifen und kennenlernen, sie in ihrer Genese und ihrer Evolution durchleuchten muß.

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Einleitung

Dies gilt insbesondere auch für den Bereich der Literatur. Die mittelalterliche Dichtung ist - und dies trifft auch zu, wenn man die Einflüsse der Antike gebührend berücksich­ tigt - die Keimzelle der heutigen abendländischen Dichtung in nahezu allen ihren Bereichen, was nicht nur an dem deutlich zu machen ist, was bis heute - selbstverständlich in einem neuen Sinnzusammenhang und mit einer neuen Funktion - »konserviert« wurde, sondern gerade auch an dem, womit die Folgezeit gebrochen hat, was modifiziert wurde und was zum Teil bis heute seinen »Reaktions«Charakter nicht verloren hat, als »Gegenbewegung« noch begriffen wird. All dies kann jedoch nicht - über den Kreis der ohnehin informierten Mediävisten hinaus - deutlich gemacht werden, wenn man die zu ihrer Zeit durchaus sinnvolle und nach den Exzessen der Romantik wiederum durchaus sinnvolle, Protestcharakter tragende »aufkläreri­ sche« Nichtbeachtung des Mittelalters nicht in ihrem Aus­ maß reduziert. Denn dieses Mittelalter ist nur so lange ein »finsteres«, wie es dem Betrachter verschlossen, »unaufge­ klärt« bleibt. Selbstverständlich ist und bleibt es eine wesentlich »andere« Epoche, auch wenn sie erkannt ist. Aber das Erkennen des Eigenen - und darum soll es als Fernziel gehen - ist stets vom Erkennen des »Anderen« abhängig und schon allein deshalb in dieses involviert, da jedes Erkennen des Anderen ja von der Warte des Eigenen aus geschieht. Es kommt natürlich noch das Problem der sprachlichen Andersartigkeit hinzu. Deren adäquates Erkennen - als Voraussetzung für das Erkennen dessen, was diese Sprache in unsere Zeit transportiert - erfordert gerade für das Provenzalische des Mittelalters, die Sprache der Trobadors, einen Aufwand, der - für Nichtspezialisten - als unzumut­ bar zu gelten hat. Die »Aufklärung« des »finsteren« Mittelal­ ters muß deshalb gerade in diesem literarischen Bereich durch Übersetzungen geschehen, aber ohne daß der Origi­ naltext dabei jede Funktion verliert, da er auch durch die

Einleitung

11

beste Übersetzung - und diese gibt es nicht einmal - nicht ersetzt werden kann. Die folgende zweisprachige Anthologie von Trobadorliedern aus dem 12. und 13. Jahrhundert versucht den gerade skizzierten Überlegungen so weit wie möglich Rechnung zu tragen. Sie ist gedacht zunächst einmal für alle, auch Nicht­ philologen - sie pflegen allgemein als interessierte Laien bezeichnet zu werden die sich mit mittelalterlicher Litera­ tur überhaupt befassen und auch einen Einblick in das besondere Gebiet der Trobadordichtung - Keimzelle der abendländischen Lyrik - gewinnen wollen. Ihnen sollen die Übersetzungen und zum Teil auch die Kommentare zu den einzelnen Liedern ein einigermaßen objektives Bild von dieser Lyrik geben, das sicherlich nicht viel von dem aufwei­ sen wird, was die auch heute noch im Bann der romanti­ schen Verherrlichung und Harmonisierung des Mittelalters stehenden gängigen Übertragungen tröbadoresker Dichtung vermitteln. Zwar ist jede und auch die wörtlichste Überset­ zung bereits eine Interpretation des Originals, aber das Ziel muß eben doch sein, die Übersetzung so weit wie möglich vom Subjektiven freizuhalten, um das Interpretieren weitge­ hend dem Leser selbst überlassen zu können. Dies ist insbesondere auch entscheidend für den engeren Leser- und Benutzerkreis, der sich aus allen, die sich mit mittelalterlicher Dichtung von ihrem Beruf oder ihrer Aus­ bildung her beschäftigen, zusammensetzt: Philologen und Studenten vor allem der romanistischen, germanistischen und anglistischen Fachgebiete. Für sie, die zugleich auch ein größeres Interesse an den Originaltexten, vielleicht auch an der Originalsprache als solcher haben, wurde die möglichst wörtliche Übersetzung mit integrierten Übersetzungserläu­ terungen ausgestattet. Während in runde Klammern all das gesetzt wurde, was der Originaltext selbst nicht oder nur andeutungsweise enthält, was aber für ein Verständnis des übersetzten Textes auch dann wesentlich ist, wenn - wie hier - auf ein über jeden (vor allem stilistischen) Zweifel erhabe-

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Einleitung

nes Deutsch keineswegs Wert gelegt werden soll, wird all das in eckige Klammern gesetzt, was in irgendeiner Weise zusätzliche Erklärungen bringt: noch wörtlichere Überset­ zungen von einzelnen Passagen etwa zur Verdeutlichung syntaktischer Strukturen, Grundbedeutungen bzw. Neben­ bedeutungen von Wörtern und sonstige Kurzerläuterungen vor allem. Während die runden Klammern mitzulesen sind, gilt dies nicht für die eckigen Klammern; sie sind als inte­ grierte Anmerkungen zu betrachten. Sicherlich: diese Anmerkungen können ebensowenig ein Ersatz für ein Wörterbuch oder eine Grammatik der altprovenzalischen Sprache sein,1 wie die Kommentare zu den Liedern eine Literaturgeschichte oder andere Sekundärliteratur ersetzen können. Aber es soll dadurch vor allem ein synoptisches Lesen von Originaltext und Übersetzung zum besseren Begreifen und Durchschauen des Originaltextes auch und gerade im Detail, in den Vers- und Satzstrukturen, ermög­ licht werden. Allein in einer solchen synoptischen Lektüre kann der wahre Sinn einer zweisprachigen Anthologie be­ stehen. Die Kommentare zu den einzelnen Liedern oder Liedgrup­ pen sollen vor allem zusätzliche Erklärungen geben (Dich­ ter, Gattung, Kontexte verschiedener Art) und erste Hin­ weise auf die implizierte Forschungsproblematik. Für wei­ tergehende Beschäftigung mit diesen Fragen wird jeweils auf die in der Bibliographie genannte Sekundärliteratur verwie­ sen. Dabei folgen die Kommentarteile zunächst einem festen Prinzip: sie nennen die Gedichtnummer nach Pillet-Carstens (s. Allgemeine Bibliographie), die Gattung, zu der das Lied gehört, die (wenn vorhanden kritische) Edition, aus welcher der Originaltext stammt (Abweichungen von dieser Edition sind - wenn nicht anders vermerkt - lediglich gra­ phischer und orthographischer Art), sie bringen die Num1 Empfehlenswert sind vor allem E. Levy, Petit dictionnaire provençal-fran­ çais, und O. Schultz-Gora, Altprovenzalisches Elementarbuch (s. Allgemeine Bibliographie).

Einleitung

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mer der metrischen Analyse bei Frank (s. Allgemeine Biblio­ graphie) und diese metrische Analyse selbst2 und verweisen auf eine eventuell überlieferte, bei Gennrich (s. Allgemeine Bibliographie) abgedruckte Melodie. Nach diesen z. T. noch ergänzten Angaben folgen die Kommentare keinem strengen Schema mehr, sondern richten sich in der Akzentu­ ierung bestimmter Problemkreise ganz nach den Erforder­ nissen des jeweiligen Lieds. Einmal wird der Akzent mehr auf der formal-metrischen Seite liegen, ein andermal mehr auf der Ebene der Thematik und der Motive oder auf der Frage der Gattungszugehörigkeit oder auf der Person des Trobadors und der besonderen Eigenart seines Dichtens usw. - oder es werden - wie im Fall von Lied I - nur hier als Fragen erscheinende Antworten der Forschung auf die Frage, die das Lied selbst stellt, resümiert. In jedem Fall richtet sich die anschließende Bibliographie nach der beson­ deren Akzentuierung des Kommentars. Und nun noch etwas zur wichtigen Frage der Auswahlkrite­ rien. Es ist natürlich von vornherein der Versuch zum Scheitern verurteilt, aus dem Gesamtkorpus von weit über 2000 überlieferten Trobadorliedern aus dem 12. und dem 13. Jahrhundert mit etwa 40 Liedern eine auch nur annähernd repräsentative Auswahl treffen zu wollen. Obwohl deshalb der Anspruch, repräsentativ zu sein, nicht erhoben wird, sollte dennoch versucht werden, so weit wie möglich die verschiedensten Aspekte zu berücksichtigen, die für den Bereich der altprovenzalischen Lyrik wichtig sind. So liegt der Akzent der im Prinzip nach der relativen Chro­ nologie der Dichter aufgebauten Auswahl eindeutig auf dem 12. Jahrhundert - der eigentlichen Blütezeit der Trobador2 Zu den verwendeten Begriffen: coblas (Strophen) unissonans: alle Strophen des Lieds weisen dieselben Reime auf; coblas Singulars: die Reime (nicht die Reimstruktur!) wechseln von Strophe zu Strophe; coblas doblas: je zwei Strophen (zusammen oder alternierend) weisen dieselben Reime auf; coblas capcaudadas: der Reim des letzten Verses einer Strophe wird zum Reim des ersten Verses der folgenden Strophe. Die tomada ist eine das Lied als »Geleit« abschließende Kurzstrophe.

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Einleitung

lyrik. Die beiden großen Trobadors des 13. Jahrhunderts Peire Cardenal und Guiraut Riquier - konnten nur mit je einem Lied, der Katalane Cerveri de Girona nur mit einer Cobla, der Italiener Sordel überhaupt nicht berücksichtigt werden. Weiter wurde innerhalb des 12. Jahrhunderts ein großer Akzent auf den »erstem Trobador gelegt, der zugleich der komplexeste und rätselhafteste, aber deshalb auch faszi­ nierendste und interessanteste altprovenzalische Dichter ist. Besonders betont wurde auch die sogenannte zweite Trobadorgeneration mit ihrem Hauptvertreter Marcabru, der auf den weiteren Verlauf der Trobadorlyrik mit den größten Einfluß ausübte. Im übrigen wurde überhaupt darauf geach­ tet, daß nur bedeutende Trobadors vertreten sind und daß von ihnen insbesondere solche Gedichte ausgewählt wur­ den, die schon im Mittelalter selbst besonders bekannt waren und/oder in der Forschung als besonders schöne bzw. problematische Texte eine besondere Beachtung fanden, zu denen es also auch Einzelinterpretationen gibt, die mit her­ angezogen werden können. Außerdem wurde auf die Be­ rücksichtigung aller wichtigen Gattungen der altprovenzalischen Lyrik geachtet, denn es gehört gerade auch zur »Aufklärung< des »finsteren« Mittelalters, auf die eminente Diver­ sität insbesondere des trobadoresken Dichtens aufmerksam zu machen. Wie gesagt, repräsentativ ist die Auswahl kei­ neswegs, sie vermag aber - wie ich glaube - einen ersten, die meisten Bereiche und Aspekte des trobadoresken Dichtens erfassenden Einblick in diesen Dichtungskomplex zu gewähren, aus dem die abendländische Lyrik der Neuzeit hervorgegangen ist. Eine systematische Einführung in alle Problemkreise der mittelalterlichen Lyrik Frankreichs (Überlieferung, Sprache, die lyrischen Gattungen, die Dich­ ter, die Gesellschaft) findet sich am Ende des zweiten Bandes der vorliegenden Ausgabe (Mittelalterliche Lyrik Frankreichs 11: Lieder der Trouvères, 1983). Sie bezieht sich sowohl auf die im Süden verfaßte provenzalische Poesie der Trobadors wie auf die nordfranzösische Dichtung der Trouvères und schließt' so beide Bände der Anthologie im Zusammenhang ab.

Lieder und Übersetzungen

I WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Farai un vers de dreyt nien i Farai un vers de dreyt nien: non er de mi ni d’autra gen, non er d’amor ni de joven, ni de ren au, qu’enans fo trobatz en durmen sobre chevau.

II No sai en qual hora'm fuy natz: no suy alegres ni iratz, no suy estrayns ni sui privatz, ni no'n puesc au, qu’enaissi fuy de nueitz fadatz, sobr’ un pueg au.

m No sai quora'm suy endurmitz ni quora'm velh, s’om no m’o ditz. Per pauc no m’es lo cor partitz d’un dol corau; e no m’o pretz una soritz, per sanh Marsau!

iv Malautz suy e tremí murir, e ren no' n sai mas quan n’aug dir; metge querrai al mieu albir, e no sai cau; bos metges er si'm pot guerir, mas non, si amau.

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I WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen I 'Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen: / 2es wird nicht von mir noch von anderen Leuten handeln [sein], / ’es wird nicht von Liebe noch von Jugend handeln, / ’noch von etwas anderem, / ’denn es wurde vielmehr im Schlaf [wörtl.: schlafend] gedichtet [ge­ funden], / ‘auf dem Pferd. II

’Ich weiß nicht, zu welcher Stunde ich geboren bin: / "ich bin nicht fröhlich und nicht traurig, / ’ich bin nicht von dort [wörtl.: fremd] und ich bin nicht von hier [wörtl.: vertraut, einheimisch] / '“und ich kann in dieser Hinsicht nicht anders, / "denn so wurde ich des Nachts vom Schicksal begabt, / "auf einem hohen Berg.

in "Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin / "noch wann ich wache, wenn man es mir nicht sagt. / ’’Beinahe [per pauc no = um ein Weniges nicht] ist mir das Herz gebrochen / '‘wegen eines aus dem Herzen kommenden Schmerzes; / "aber [und] ich schätze dies nicht (einmal wie) eine Maus ein, / ’’beim heiligen Martial! iv ’’Ich bin krank und zittere davor zu sterben / 2°und ich weiß nichts darüber, außer was ich darüber sagen höre; / "ich werde nach meinem Gutdünken einen Arzt (auf)suchen / "und ich weiß nicht welchen; / "ein guter Arzt wird es sein, wenn er mich heilen kann, / "jedoch nicht, wenn ich kränker [schlechter] werde.

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Farai un vers de dreyt nien v Amigu’ ai ieu, no sai qui s’es, qu'anc non la vi, si m’ajut fes; ni'm fes que'm plassa ni que'm pes, ni no m’en eau, qu’anc non ac Norman ni Frances dins mon ostau.

vi Ane non la vi et am la fort, anc no n’aic dreyt ni no'm fes tort; quan non la vey, be m’en déport, no'm pretz un jau, qu’ie n sai gensor et bellazor, e que mais vau.

vu Fag ai lo vers, no say de cuy; e trametrai lo a selhuy que lo'm trametra per autruy lay vers Anjau, que'm tramezes del sieu estuy la contraclau.

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Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen

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v “Ich habe eine Geliebte [Freundin], ich weiß nicht wer sie ist, / “denn ich sah sie (noch) nie, bei meiner Treu [wörtl.: so möge mir Treue helfen]; / 27und sie tat mir nicht(s), was mir gefallen noch mich beküm­ mern möchte, / “und es liegt mir nicht(s) daran, / “denn (noch) niemals gab [hatte] es einen Norman­ nen oder einen Franzosen / “in meinem Haus.

vi “(Noch) niemals sah ich sie und liebe sie sehr [stark], / “(noch) niemals bekam [hatte] ich von ihr Recht [Genugtuung, Gunst], noch tat sie mir Unrecht; / “wenn ich sie nicht sehe, macht es mir überhaupt nichts aus [wörtl.: finde ich wohl Spaß daran], / “denn ich schätze es nicht (einmal wie) einen Hahn ein, / “denn ich weiß eine lieblichere und schönere (Ge­ liebte), /“und die mehr wert ist.

vii “Ich habe das Lied gemacht, ich weiß nicht über wen; / “und ich werde es demjenigen übermitteln, / “der es für mich [mir] für eine(n) andere(n) (weiten­ schicken wird, / “dort gegen Anjou hin, / “"“damit diese(r) (andere) mir den Nachschlüssel [Auflösung] für dessen [d. h. des Lieds] Hülle übermittle.

II WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Companho, farai un vers qu’er covinen

I

II

Companho, farai un vers qu’er covinen, et aura'i mais de foudatz no'i a de sen, et er totz mesclatz d’amor e de joi e de joven.

E tenhatz lo per vilan, qui no l’enten, qu’ins en son cor voluntiers res non l’apren: greu partir si fai d’amor qui la trob’a son talen.

5

ni

Dos cavals ai a ma sselha, ben e gen; bon son ez ardit per armas e valen; mas no'ls puesc tener amdos, que l’uns l’autre [non consen.

iv

Si'ls pogues adomesgar a mon talen 10 ja no volgr’aillors mudar mon garnimen, que meils for’encavalguatz de nuill hom en [mon viven.

v

Launs fo deis montanhiers lo plus corren, mas aitan fer’estranhez’ha longuamen ez es tan fers e salvatges, que del bailar si defen.

ís

II WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Gefährten, ich werde ein Lied machen, das passend sein wird I ‘Gefährten, ich werde ein Lied machen, das passend sein wird, / 'und es wird darin mehr Albernheit geben [haben], als es darin Vernünftiges [Verstand] gibt [hat], / ’und es wird ganz aus Liebe und Freude und Jugend zusammengemischt sein.

II ‘Und ihr mögt den für unhöfisch [bäurisch] halten, der es nicht versteht, 7 ’der es keineswegs gerne drinnen in seinem Herzen [d. h. auswendig] lernt: / ‘schwer tut der sich von der Liebe trennen, der sie nach seinem Sinn findet.

ill 'Für meinen [wörtl.: meinem] Sattel habe ich zwei Pferde, gut und schön; / "gut sind sie und tapfer (genug) für das Waffenhandwerk [Waffen] und vor­ trefflich; / ’aber ich kann sie nicht beide (be)halten, denn das eine duldet das andere nicht. rv '“Wenn ich sie (beide) nach meinem Sinn zähmen könnte, / "wollte ich meine (Pferde-)Rüstung nie woandershin bringen [verändern], / "denn ich wäre besser beritten als irgendein Mann zu meinen Lebzei­ ten [viven = lebend]. v ’’Das eine [= lo uns] war das schnellste [corren = laufend] der aus den Bergen stammenden (Pferde), / "aber es hat (schon) lange eine so ungebändigte [wil­ de] Scheu / "und ist so wild und ungezähmt, daß es sich des Striegelns [Zäumens? Handhabung?] er­ wehrt.

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Companho, farai un vers qu’er covinen VI

L’autre fo noiritz sa jos, près Cofolen; ez anc no n vis belazor, mon essien: aquest non er ja camjatz, ni per aur ni per argen.

VII

Qu’ie’l donei a son senhor poilli paisen, pero si-m rétine ieu tan de covinen 20 que, s’il lo ténia un an, ieu lo tengues mais de cen.

Vin

Cavalier, datz mi conseil! d’un pensamen: anc mais no fui eissarratz de cauzimen: re no sai ab cal me tenha, de N’Agnes o de N’Arsen.

ix

De Gimel ai lo castel e'1 mandamen e per Niol fauc ergueill a tota gen: c’ambedui me son jurât e plevit per sagramen.

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Gefährten, ich werde ein Lied machen

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vi “Das andere wurde hier unten, bei Confolens, groß­ gezogen [ernährt]; / “und (noch) niemals sah ich ein schöneres, meines Wissens: / “dieses wird nie ausge­ tauscht werden, nicht für Gold und nicht für Silber. vii “Denn ich gab es seinem Herrn als weidendes Fül­ len, / “jedoch hielt ich mir so viel als Recht [Abma­ chung] zurück, / 21daß, wenn er es ein Jahr (lang) be­ hielte, ich es mehr als hundert (Jahre lang) behalten könnte.

viii “Ritter, gebt mir einen Rat zu einem Problem [Ge­ danke]: / “(noch) niemals war ich wegen einer Ent­ scheidung mehr in Verwirrung [wörtl.: in die Irre geraten]: / “ich weiß überhaupt nicht, zu [bei] wel­ chem [Pferd] ich mich halten soll, (dem) von Dame Agnes oder (dem) von Dame Arsdn. IX "Ich habe die Burg und die Botmäßigkeit von Gimel, / “und wegen Nieul bezeige [mache] ich allen Leuten gegenüber Stolz: / “denn beide sind mir durch Eid verpflichtet [geschworen] und verbürgt.

III WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Ab la dolchor del temps novel i Ab la dolchor del temps novel foillo li bosc, e li aucel chanton, chascus en lor lati, segon lo vers del novel chan: adonc esta ben c’om s’aisi d’acho dont hom a plus talan.

il De lai don plus m’es bon e bel no vei mesager ni sagel, per que mos cors non dorm ni ri ni no m’aus traire adenan, tro qu’eu sacha ben de la fi, s’el’es aissi com eu deman.

m La nostr’amor va enaissi com la brancha de l’albespi, qu’esta sobre l’arbr’en creman, la nuoit, ab la ploi’ez al gel, tro l’endeman, que'l sols s’espan per la fueilla vert el ramel.

iv Enquer me menbra d’un mati que nos fezem de guerra fi e que'm donet un don tan gran: sa drudari’e son anel. Enquer me lais Dieus viure tan qu’aia mas mans soz son mantel!

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III WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Mit der Süße des Frühlings i 'Mit der Süße des Frühlings [wörtl.: der neuen Jah­ reszeit] / 'belauben sich die Wälder, und die Vögel / ’singen, ein jeder in seiner [ihrer] Art [Sprache, La­ tein], / 'nach der Versart des neuen [frühlingshaften] Gesangs: / ’“‘da ist es ganz recht, wenn man sich mit dem versorgt, wozu man am meisten [mehr] Lust hat.

II Won dort, wovon es mir am meisten willkommen und lieb ist, / ’sehe ich keinen Boten oder Siegel [d. h. Brief] (kommen), / ’weshalb mein Herz [oder: mein Körper = ich] nicht schläft und nicht lacht / '“und ich nicht Mut zu fassen [vorzutreten] wage, / "bis ich bezüglich des Ausgangs wohl (Bescheid) weiß [Konj.], / "(nämlich) ob er so ist, wie ich (es) begehre.

in "Unserer Liebe geht es [wörtl.: unsere Liebe geht] / "wie dem Zweig des Weißdorns, / "“'‘der, in der Nacht, beim Regen und beim Eis [Frost], zitternd [treman?] auf dem Baum verweilt, / "“"bis zum näch­ sten Morgen, da sich die Sonne durch das grüne Laub im Gezweig ausbreitet. iv "Noch (immer) erinnere ich mich [wörtl.: erinnert es mich] an einen Morgen, / !Oals wir dem Streit [Krieg] ein Ende machten / "und als sie mir ein so großes Geschenk gab: / "ihre Liebe und ihren Ring. / "Gott lasse mich noch so lange leben, / "bis ich meine Hände unter ihrem Mantel habe!

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Ab la dolchor del temps novel

v Qu’eu non ai soing d’estraing lati que'm parta de mon Bon Vezi; qu’eu sai de paraulas com van, ab un breu sermon que s’espel: que tal se van d’amor gaban, nos n’avem la pessa e’1 coutel.

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Mit der Süße des Frühlings

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v “Denn ich kümmere mich nicht [wörtl.: habe keine Sorge] um das sonderbare [fremde? ferne? unange­ nehme?] Gerede, / “das mich von meinem Guten Nachbarn trennen mag; / 27denn ich weiß, wie es den Worten [d. h. solchen Reden] ergeht [wörtl.: was die Worte betrifft, wie sie gehen], / “(nämlich) mit einem kurzen Sprichwort, das besagt: / “daß manche (ande­ re) sich der Liebe rühmen [wörtl.: rühmend gehen], / “(während) wir von ihr das Stück [Brot?] und das Messer haben.

IV WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Farai un vers, pos mi sonelh i Farai un vers, pos mi sonelh, e’m vauc e m’estauc al solelh; donnas i a de mal conselh, e sai dir cals: celias c’amor de chevaler tornon a mais.

il Donna non fai péchât mortau que ama chevaler leau; mas s’ama monge o clergau non a raizó: per dreg la deuria hom cremar ab un tezo.

ni En Alvernhe, part Lemozi, m’en aniei totz sols a tapi: trobei la moiller d’En Guari e d’En Bernart; saluderon mi sinplamentz, per Saint Launart. IV La una'm diz en son lati: «O, Deus vos salf, don peleri! Moût mi senblatz de bel aizi, mon escient; mas trop vezem anar pel mon de folia gent. »

V Ar auziretz qu’ai respondut: anc no li diz ni bat ni but,

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IV WILHELM IX. VON AQUITANIEN

Ich werde ein Lied machen, da ich schläfrig hin i 'Ich werde ein Lied machen, da ich schläfrig bin / 2und in der Sonne spazierengehe und stehe; / ’es gibt Damen üblen Sinns, / ’und ich kann sagen welche: / ’diejenigen, die die Liebe eines Ritters / ‘herabwürdi­ gen [wörtl.: zum Schlechten wenden],

n 7_,Eine Dame, die einen treuen Ritter liebt, begeht [wörtl.: macht] keine Todsünde; / ’aber wenn sie einen Mönch oder Kleriker liebt, / "hat sie nicht recht: / "von Rechts wegen sollte man sie verbren­ nen, / "mit einem Holzfeuer.

in "In die Auvergne, jenseits des Limousin, / "ging ich ganz allein im Pilgergewand: / "ich traf auf [wörtl.: fand] die Ehefrau von Herrn Garin / "und (die) von Herrn Bernart; / "sie grüßten mich auf einfache Art, / "(nämlich) beim heiligen Leonhard.

IV "Die eine sagte mir in ihrer Sprache [Redeweise, wörtl.: Latein]: / 20»Oh, Gott behüte Euch, Herr Pilger! / "Ihr scheint mir von sehr schöner Art (zu sein), / "meiner Meinung nach [wörtl.: meines Wis­ sens]; / 2J_2,aber wir sehen zu viele törichte Leute durch die Welt gehen.«

v “Nun werdet ihr hören, was ich erwidert habe: / 2‘gar nichts sagte ich zu ihr, weder »muh« noch »mäh«

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Farai un vers, pos mi sonelh

ni fer ni fust no ai mentagut, mas sol aitan: «Babariol, babariol, babarian. » VI

VII

VIII

IX

X

«Sor», diz N’Agnes a N’Ermessen, «trobat avem que anam queren!» «Sor, per amor Deu l’alberguem, que ben es muez, e ja per lui nostre conselh non er saubutz.»

La una'm près sotz son mantel et mes m’en sa cambra, el fornel; sapchatz qu’a mi fo bon e bel, e'1 focs fo bos, et eu calfei me volenter als gros carbos.

A manjar mi deron capos, e sapchatz aig i mais de dos; et no'i ac cog ni cogastros, mas sol nos tres; e-l pans fo blancs e-l vins fo bos e’1 pebr’espes. «Sor, s’aquest hom es enginhos e laissa lo parlar per nos, nos aportem nostre gat ros de mantenent, que l fara parlar az estros, si de re’nz ment.»

N’Agnes anet per l’enoios: et fo granz et ac loncz guinhos;

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55-

Ich werde ein Lied machen, da ich schläfrig bin

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[d. h. nicht ein Sterbenswörtchen], / 27weder Eisen noch Holz [d. h. gar nichts] habe ich erwähnt, / 2Baußer allein so viel: / 2,»Babariol, babariol, / ”babarian.«

vi ’’»Schwester«, sagte Frau Agnes zu Frau Ermessen, / 52»wir haben gefunden, was wir gerade suchen [wörtl.: suchend gehen]!« / ’’»Schwester, beherbergen wir ihn um Christi willen [wörtl.: um der Gottesliebe willen], / ’’denn er ist wohl stumm, / ’’“’‘und durch ihn wird unser Vorhaben niemals bekannt [wörtl.: ge­ wußt] werden.«

vii ’’Die eine nahm mich unter ihren Mantel / ’"und brachte mich in ihre Kammer, zum [wörtl.: in den] Ofen; / ’’wisset, daß es mir außerordentlich gefiel [wörtl.: gut und schön war], / “und das Feuer war gut, / ’’und ich wärmte mich gerne / "an den dicken Kohlen.

viii "Zu essen gaben sie mir Kapaune, / "und wisset, ich bekam [wörtl.: hatte] da mehr als zwei; / "und es gab da keinen Koch und keine Küchenjungen, / “außer allein uns drei; / "und das Brot war weiß, und der Wein war gut, / “und der Pfeffer reichlich [wörtl.: dicht].

IX "»Schwester, wenn dieser Mensch [Mann] listig ist / “und unseretwegen das Reden (sein) läßt, / ’’““wollen wir sogleich unsere rote Katze herbeiholen, / ’’die ihn auf der Stelle zum Reden bringen [wörtl.: reden machen] wird, / “wenn er uns irgendwie [de re = eine Sache betreffend] täuscht [wörtl.: belügt], x ’’Frau Agnes ging, um den Widerling (zu holen): / “und er war groß und hatte einen langen Schnurr-

Farai un vers, pos mi sonelh

32

et eu, can lo vi entre nos, aig n’espavent, qu'a pauc no n perdei la valor e l’ardiment. XI

XII

XIII

XIV

Quant aguem begut e manjat, e m despoillei per lor grat; detras m’aporteron lo chat mal e felón: la una’l tira del costat tro al talón.

Per la coa de mantenen tir’el chat, el escoisen; plajas mi feron mais de cen aquella ves; mas eu no’m mogra ges enguers qui m’aucizes.

«Sor» diz N’Agnes a N’Ermessen, «mutz es, que ben es conoissen.» «Sor, del bainh nos apaireillem e del sojorn.» Ueit jorn ez anear mais estei az aquel torn.

Tant las fotei com auziretz: cent et quatre-vinz et ueit vetz, que a pauc no’i rompei mos corretz e mos ames; e no'us puesc dir los malavegz, tan gran m’en pres.

xv Monet, tu m’iras al mati, mo vers portaras el borssi,

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Ich werde ein Lied machen, da ich schläfrig bin

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bart; / “und ich, als ich ihn bei [unter] uns sah, / ’"ich bekam [wörtl.: hatte] davor einen Schrecken, / ”so daß ich beinahe [= a pauc no] die Tapferkeit [Wert] verlor / “und den Mut.

XI ‘'Als wir getrunken und gegessen hatten, / “zog ich mich nach ihrem Willen aus; / “"‘'hinter mir [d. h. auf meinen Rücken] trugen sie die böse und arglistige Katze herbei: / “die eine zieht sie von der Seite (des Körpers) / “bis (hinunter) zur Ferse.

Xii “"“Sie zieht sogleich die Katze, die kratzende, am Schwanz; / “"’’sie brachten [machten] mir dieses Mal mehr als hundert Wunden bei; / 71aber ich hätte mich (immer) noch [engxers = ancar] nicht bewegt, / 72wenn man [wörtl.: wer] mich getötet hätte [wörtl.: töten würde], XIII "»Schwester«, sagte Frau Agnes zu Frau Ermessen, / 7Fernliebe< wahrhaftig an einem geeigneten Ort [Plural] sehen kann, / “so daß die Kammer und der Garten / “mir im­ mer als Palast erschiene(n)! vn ““"Die Wahrheit sagt, wer mich begierig und sehn­ süchtig nach der >Fernliebe< nennt, / "denn keine andere Freude gefällt mir so sehr / “wie der Genuß der >Fernliebegesättigtmisogynen< Trobadors Marcabru gegen die Liebe und gegen die Frauen. Dabei ist festzuhalten, daß der Sittenrichter Marcabru wohl keineswegs die fin'amor, die höfische Liebe, meint, sondern die unhöfische, sinnli­ che Liebe, die er hier etwa mit fals'Amor, an anderer Stelle - im Unterschied zu amor - auch als amar (substantivierter Infinitiv) bezeichnet und die er dem hohen Feudaladel sei­ ner Zeit mit seiner immer wieder von ihm gegeißelten Unmoral zum Vorwurf macht. Wie in vielen anderen Lie­ dern, so fällt auch in diesem Lied des soudadier Marcabru die Allegorisierung der Tugenden (Zentrum und zugleich die diese Tugenden repräsentierende Gruppe: Joven) und vor allem der Laster auf, darüber hinaus der drastische, oft geradezu derbe, auf jeden Fall plastische und aussagekräf­ tige Stil, der implizite und explizite Bilderreichtum, die Verweise auf Biblisches einerseits, Religiöses überhaupt, und auf Volkstümliches andererseits. Nicht von ungefähr resultiert aus diesen Charakteristika ein wesentlich predigthafter (escoutatz!) und zugleich ein sehr persönlicher Stil, der dem heutigen Leser an vielen Stellen keine geringen Verständnisschwierigkeiten bereitet. Nicht zuletzt deshalb werden dieser Trobador und sein Werk von vielen Mediävi­ sten dem dunklen Dichten, dem trobar eins, zugeordnet. Von Marcabru sind - ganz entsprechend seiner biographi­ schen« Aussage in der letzten Strophe dieses Lieds, die auch in einer altprovenzalischen Vida (Lebensbeschreibung) des Trobadors zitiert wird - fast keine Liebeskanzonen überlie­ fert, sondern vor allem derartige moralische Rügelieder (sie werden später auch als sirventes bezeichnet werden), in denen der gegenwärtige Weltzustand auf allen Gebieten (vor allem in ethisch-moralischer bzw. religiöser und sozia­ ler Hinsicht) an einem rigoristischen Ideal gemessen und einer scharfen Kritik unterzogen wird, die für Zukunftsop­ timismus keinerlei Platz mehr läßt. Für den Bekanntheits­ grad des Trobadors und den Erfolg seiner Lieder spricht u. a. die Tatsache, daß Nach- und Zudichtungen den

Dirai vos senes duptansa

247

Strophenbestand gerade dieser Satire auf die Liebe auf 25 erhöht haben. Eine gesonderte Analyse dieses Lieds liegt nicht vor; man vergleiche indessen einige wenige ausgewählte Untersu­ chungen zu allgemeinen Problemen des Marcabruschen Dichtens: Ausgewählte Bibliographie C. Appel, »Zu Marcabru«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 43 (1923) S. 403-469. A. Del Monte, Studi sulla poesia ermetica medievale, Neapel 1954. G. Errante, Marcabru e le fonti sacre delPantica lirica romanza, Florenz 1948 (Biblioteca Sansoniana Critica 12). E. Köhler, »>Trobar clus«: discussione aperta. Marcabru und die beiden Schulen«, in: Cultura Neolatina 30 (1970) S. 300-314. K. Lewent, »Beiträge zum Verständnis der Lieder Marcabrus«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 37 (1913) S. 313-451. M. Mancini, »Recenti interpretazioni del >trobar clus««, in: Studi di letteratura francese 12 (1969) S. 241-259. U. Mölk, Trobar clus, trobar leu. Studien zur Dichtungstheorie der Trobadors, München 1968. F. Pirot, »Bibliographie commentée du troubadour Marcabru«, in: Le M¥ Age 73 (1967) S. 87-126. A. Roncaglia, »Per un’edizione e per l’interpretazione dei testi del trovatore Marcabruno«, in: Actes et Mémoires du Ier Congrès

International de Langue et Littérature du Midi de la France, Avignon 1957, S. 47-55. A. Roncaglia, »>Trobar clus«: discussione aperta«, in: Cultura Neo­ latina 29 (1969)iS. 1-59. D. Scheludko, »Über die Theorien der Liebe bei den Trobadors«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 60 (1940) S. 191-234. D. Scheludko, »Klagen über den Verfall der Welt bei den Troba­ dors. Allegorische Darstellung des Kampfes der Tugenden und der Laster«, in: Neuphilologische Mitteilungen 44 (1943) S. 22 bis 45. H. Spanke, Untersuchungen über die Ursprünge des romanischen Minnesangs. Zweiter Teil: Marcabrustudien, Göttingen 1940 (Ab­ handlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philol.-histor. Klasse III/24).

248

Kommentar

K. Vossler, Der Trobador Marcabru und die Anfänge des gekünstel­ ten Stiles, München 1913 (Sitzungsberichte der Bayerischen Aka­ demie der Wissenschaften 11).

VIII MARCABRU

Pax in nomine Domini!

P.-C. 293,35; >vers< (Kreuzzugslied). Ed. V. Crescini, Manuale per l’avviamento agli studi provenzali, Mailand 1926, S. 166 ff.

Frank I: 456,1

a8 b8 a4 c8 d8 c8 d8 e8 f8 8 coblas doblas (Str. I/II entspricht Str. V/ VI, Str. III/IV entspricht Str. VII/VIII) (Reimwort lavador in v. 6 jeder Strophe)

Melodie: Gennrich III, S. 28, Nr. 11. Berühmtes, von anderen Trobadors oft zitiertes Kreuzzugs­ lied zugunsten der spanischen Reconquista, am Rande auch der Eroberung des Heiligen Landes, wobei Spanien als sai und das Heilige Land als lai gekennzeichnet werden. Inso­ fern ist in v. 55 der handschriftlichen Lesart En Espaigna sai der Vorzug zu geben, da sie unmißverständlich deutlich macht, daß Marcabru sich zur Zeit der Abfassung dieses Lieds in Spanien aufgehalten hat - und zwar sehr wahr­ scheinlich im Umkreis von Ramón Berenguer IV., Graf von Barcelona (1131-1162), im Lied als lo Marques genannt, dem der Templerorden (áll del temple Salomo) in seinem Kampf gegen die spanischen Mauren (vor allem bei der Eroberung von Tortosa und Lérida in den Jahren 1148 und 1149) zur Seite stand. Die Abfassungszeit dürfte deshalb nicht das Jahr 1137 sein, wie einige Provenzalisten bis heute

Pax in nomine Domini!

249

(R. M. Ruggieri) annehmen, sondern das Jahr 1149 (F. Pirot). Nicht vergessen werden darf auch die Tatsache, daß im Dezember 1148 der Papst den Kriegszug des Grafen gegen Tortosa zum Kreuzzug deklarierte und mit denselben Privilegien wie den Kreuzzug ins Heilige Land ausstattete. Der in v. 70 genannte Graf dürfte deshalb auch nicht der 1137 auf der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela gestorbene Wilhelm X. von Aquitanien (Sohn des >ersten< Trobadors) sein, sondern vielmehr dessen Bruder Raimon, Fürst von Antiochia, der am 27. Juni 1149 im Kampf gegen die Sarazenen fiel. Unterstrichen wird diese Deutung dadurch, daß Ludwig VII. und seine Frau, Eleonore von Aquitanien (die Mutter des Gefallenen), aus diesem Anlaß im Heiligen Land waren, daß also damals Poitiers und Niort (Eleonores Herrschaftsgebiet) in der Tat ohne besonderen Schutz blieben. Im übrigen bringt dieses Kreuzzugslied Marcabrus mit dem berühmt gewordenen Bild vom läutern­ den Waschhaus die meisten gattungsverbindlichen Themen zur Geltung: Aufruf zum Kampf zur Befreiung des Heiligen Lands bzw. christlicher Länder von den Heiden, Aufruf zur Rache für den Gekreuzigten, Werbung für das eigene See­ lenheil als Lohn für die Anstrengungen und - damit wird die Grenze zum eigentlichen Sirventes überschritten - Kritik an denjenigen, die nicht für die Sache der militia Christi kämp­ fen wollen bzw. Lobpreisung derer, die sich in diesem Kampf besonders hervortun. Der gebetartige Anfang von Marcabrus Lied stellt dieses thematisch in den Kontext der Agitationsliteratur aus der Zeit der ersten beiden Kreuzzüge (vgl. neben päpstlichen Appellen insbesondere das Wirken Bernhards von Clairvaux). Nicht von ungefähr weist das gesamte Lied einen deutlichen Predigtcharakter auf. Ausgewählte Bibliographie P. Groult, »Interpretation de quelques passages du »Vers del Lava­ dor« de Marcabrun«, in: Actes et Mémoires du 1" Congrés Intema-

250

Kommentar

tional de Langue et Littérature du Midi de la France, Avignon 1957, S. 41—46. K. Lewent, »Das altprovenzalische Kreuzlied«, in: Romanische Forschungen 21 (1908) S. 321—448. F. Pirot, Recherches sur les connaissances littéraires des troubadours

occitans et catalans des XII' et XIII' siècles. Les •sirventés-ensenhamens’ de Guerau dé Cabrera, Guiraut de Calanson et Bertrand de Paris, Barcelona 1972 (Memorias de la Real Academia de Buenas Letras de Barcelona 14), S. 150-157. P. T. Ricketts / E. J. Hathaway, »Le >Vers del lavador« de Marcabrun: Edition critique, traduction et commentaire«, in: Revue des langues romanes 77 (1966) S. 1-11. R. M. Ruggieri, »Chiose interpretative al >Vers del Lavador««, in: Cultura Neolatma 12 (1952) S. 81-101. F.-W. Wentzlaff-Eggebert, Kreuzzugsdichtung des Mittelalters. Stu­ dien zu ihrer geschichtlichen und dichterischen Wirklichkeit, Ber­ lin 1960.

IX MARCABRU

A la fontana del vergier

P.-C. 291,1 ; gewöhnlich ungenau als >Romanze< bezeichnet, eher vergleichbar mit der späteren portugiesischen »cantiga d’amigo«, auch als Frühstufe der Pastourelle faßbar (E. Köhler). Ed. F. Pirot, »>A la fontana del vergier« du troubadour Marcabru, édition, traduction et notes«, in: Mélanges offerts à P. Imbs, Straßburg 1973, S. 621 ff. Frank I: 54,1

a8 a8 a8 b8 a8 a8 c8 6 cobias singulars (b und c = durchgehende Reime)

Eines der schönsten volkssprachlichen Lieder des Mittelal­ ters, in dessen Mittelpunkt die Klage eines Mädchens über die durch den 2. Kreuzzug verursachte Abwesenheit seines

A la fontana del vergier

251

Geliebten steht, verbunden mit einer als naiv-unschuldig, keinesfalls als blasphemisch präsentierten Anklage gegen Gott und einer ebensolchen gegen König Ludwig VII. von Frankreich, die beiden Initiatoren« dieses Kreuzzugs. Der Rahmen dieses Lieds - vor allem die Szenerie, der das Mädchen belauschende Dichter, der vergebliche Tröstungs­ versuch - und manche sprachliche Register weisen auf die Gattung der Pastourelle (vgl. Lied X), deren - nach Marcabrus Auffassung - unsittlicher Geist durch den Mißerfolg des Ritters auch in diesem Lied entlarvt wird. Zugleich wird in dieser «Romanze« der Kreuzzugsgeist als verpflichtender herausgestellt und die Treue der Daheimgebliebenen den Kreuzfahrern gegenüber verherrlicht. Das Lied, das durch seine sprachliche Schlichtheit, die der Schlichtheit des adli­ gen Mädchens angemessen ist, aus dem Rahmen sonstigen Marcabruschen Dichtens fällt, ist zwischen Mai 1146 und Juni 1147 gedichtet worden (W. Pagani). Ausgewählte Bibliographie G. Hatcher, »Marcabru’s >A la fontana del vergier««, in: Modem Language Notes 79 (1964) S. 284—295. E. Köhler, »Marcabrus «L'autrier jost’una sebissa .. .< und das Problem der Pastourelle«, zuletzt in: E. K, Trobadorlyrik und

höfischer Roman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962 (Neue Beiträge zur Litera­ turwissenschaft 15), S. 193-204. W. Pagani, »Per una interpretazione di >A la fontana del vergier««, in: Studi mediolatini e volgari 20 (1972) S. 169-174.

252

Kommentar X MARCABRU

L’autrier iost’una sebissa

P.-C. 293,30; Pastourelle. Ed. C. Appel, Provenzalische Chrestomathie, Leipzig ‘1932, S. 101 ff. (Lücke in v. 88 ausgefüllt nach Ed. J. M. L. Dejeanne, Poesies completes du troubadour Marcabru, S. 137 ff.) Frank I: 51,5

a7' a7' 3.7' b7' 3.7' a7' b7' 12 coblas doblas + 2 tornadas (je 3 vv.) (b = durchgehender Reim; Reimwort vilayna in v. 4 jeder Strophe)

Melodie: Gennrich III, S. 27, Nr. 10. Erste überlieferte Pastourelle der altprovenzalischen Lyrik, zugleich aber mit einer wesentlichen, sich vor allem von der nordfranzösischen Gattungstradition abhebenden Sonder­ stellung. Im allgemeinen ist »für die ritterliche Pastourellen­ dichtung ... die Gefügigkeit der Hirtin eine Selbstverständ­ lichkeit, ist es sogar da, wo die Dichtung, sich selbst ironi­ sierend, den werbenden Ritter den kürzeren ziehen läßt«; Marcabru dagegen »hält streng an den ständischen Grenzen fest, die für ihn geradezu biologisch sind. Daher läßt er in bitterer Ironie seine Hirtin die naturrechtlichen Grenzen mit den Begriffen des Rittertums von unten her ziehen. Die Pflicht zur strengsten Distanzierung ist nach Marcabru für beide Stände bindend« (E. Köhler). Die Hirtin wird zum Sprachrohr des Trobadors, der durch ihren Mund den Wert der mesura, des Maßes, und die lex naturalis proklamiert, vor deren Hintergrund die 12. Strophe zu sehen ist. Dazu steht die Überlegenheit der Hirtin auch und gerade in gei­ stiger Hinsicht im Einklang: Sie vermag mit ihrer Argumen­ tation und ihrer Schlagfertigkeit den auf ein »gemeines«

L'autrier iost’una sebissa

253

Liebesabenteuer außerhalb der höfischen Gesellschaft hof­ fenden Ritter abzuweisen. Wichtig ist auch, daß - innerhalb der ständischen Grenzen verbleibend - auch der Liebe eines vilan zu einer vilana ein gewisser Wert eingeräumt wird, was der christlich-rigoristischen Haltung Marcabrus ent­ spricht. Vor dem Hintergrund der zu erschließenden Pastourellentradition vor Marcabru (das Liebesabenteuer des Ritters mit der Hirtin endet in der Regel mit dem geradezu selbstverständlichen Triumph des Ritters) muß die Marcabrusche Pastourelle sogar als Pastourellenparodie erscheinen, d. h. auch als eine polemische Dichtung gegen die in der Pastourellengattung gemeinhin zum Ausdruck gelangende Unsittlichkeit der höfischen Welt, die der Trobador immer wieder geißelt. Wie meist bei Marcabru, so wird auch hier die Polemik durch ein gut Teil Ironie, ja sogar Humor instrumentiert, die durch die Melodie unter­ strichen werden. Marcabrus Pastourelle hat die weitere Ent­ wicklung der altprovenzalischen Gattung in großem Maß determiniert: sie wird mehr und mehr zum Vehikel für liebeskasuistische moralische (kritische), religiöse und sogar politische Erörterungen werden. Das Geschehen, das epi­ sche Element dieses »genre objectif«, wird mehr und mehr zum reinen Aufhänger, zur Staffage. Ausgewählte Bibliographie A. Biella, »Considerazioni sull’origine e sulla diffusione della >pastorellaNovellino< e Uc de Saint-Circ«, in: Lettere italiane 11 (1959) S. 133—173. A. Thomas, »Richard de Barbezieux et le Novellino«, in: Giomale di Filología Romanza 3 (1880) S. 12-17.

XV PEIRE D'ALVERNHA

Rossinhol, el seu repaire P.-C. 323,23; vgl. die Lieder von Marcabru (XI). Ed. A. Del Monte, Peire d’Alvemha. Liriche, Turin 1955, S. 16 ff.

Frank I: 378,1

a7’ b7 a7' b7 c3 c3 d5' c3 c3 d5' jeweils 6 coblas unissonans

Vgl. zu diesen beiden Liedern die Lieder von Marcabru (XI). Del Monte betont mit Recht, daß trotz der episch­ dramatischen Anlage dieses Lied auf Grund der Situation (Trennung) und der Thematik (Liebessehnsucht), auch ein­ zelner Motive (Vogel als Liebessymbol und Liebesbote, Fernliebe, Einsamkeit), zutiefst lyrisch bleibt. Formal sind die Strophenenjambements hervorzuheben, inhaltlich u. a. das carpe diem der 6. Strophe des 1. Teils.

Can vei la lauzeta mover

263

XVI BERNART DE VENTADORN

Can vei la lauzeta mover

P.-C. 70,43; Kanzone. Ed. C. Appel, Bemart von Ventadom. Seine Lieder mit Einleitung und Glossar, Halle 1915, S. 249 ff.; vgl. auch M. Lazar, Bernard de Ventadour, troubadour du XII' siècle. Chansons d’amour, Paris 1966 (Bibliothèque française et romane B/4), S. 180 ff.

Frank I: 407,9

a8 b8 a8 b8 c8 d8 c8 d8 7 coblas unissonans + 1 tornada (4 vv.)

Melodie: Gennrich III, S. 43, Nr. 33.

In mehr als 20 Handschriften überliefertes und in mittelal­ terlicher provenzalischer Literatur immer wieder zitiertes Liebeslied, die bekannteste Kanzone von Bernart de Ventadorn, die auch als »Prototyp« der Kanzone überhauptgelten kann (E. Köhler). Dante, der Bernart namentlich nie erwähnt, hat sich offenbar am Beginn dieser Kanzone für einige Paradiso-Verse inspiriert: »Wie in die Lüfte sich die Lerche hebt / und mit Gesang beginnt und dann gesättigt / im höchsten Wohllaut ihres Trillers schweigt« (XX,73-75, nach K. Vossler). Es gibt auch altfranzösische Fassungen dieser Kanzone, deren Melodie ebenfalls sehr >zugkräftig< war (es wurden neue Texte auf sie gedichtet), und als gesichert kann ihr Einfluß auf ein Liebeslied von Chrétien de Troyes gelten (A. Roncaglia). Die Hypothese, daß sich hinter dem Verstecknamen Tristan ein anderer Trobador, Raimbaut d’Aurenga, verbirgt (P. Delbouille), und nicht wie meist bei diesen Senhals die geliebte, hier: die verlassene Dame, ist sehr zweifelhaft. Bernarts Kanzone weist in poe­ tisch eindringlicher und reizvoller, zugleich aber auch unge­ wöhnlich schlichter Weise auf die trobadoreske Liebespsy­

264

Kommentar

chologie, und dies von der originellen Abwandlung des Natureingangs an, dem Bild der zur Sonne hoch fliegenden Lerche, deren Flug zum Symbol einer Sehnsucht wird, die sich für den Trobador nicht erfüllt. Hauptthema ist das Liebesparadox, das amar desamatz (Lieben ohne Gegen­ liebe), mit den kunstvoll variiert eingesetzten Motiven vom Herzraub, von Narziß, von der Hybris des Dichters, von seiner inferioren Stellung der Dame gegenüber, vom Liebes­ tod usf. ; die Liebe des Trobadors ist hoffnungslos, und dennoch muß er lieben, ohne Lohn und ohne Gnade: nur der »Tod« des Trobadors kann die Folge davon sein - »Als >ToterCan vei la lauzeta mover«. - Überlegungen zum Verhältnis von phonischer Struktur und semantischer Struktur«, in: Miscellània Aramon i Serra, Barcelona 1979, S. 337-349. M. Mancini, »Antitesi e mediazione in Bernart de Ventadorn«, in: Attualità della retorica, Padua 1975 (Quaderni del Circolo Filologico-Linguistico Padovano 6), S. 131-152. M. Mancini, »II principe e il >joi«. Sui canzionere di Bernart de Ventadorn«, in : Studi filologici, letterari e storici in memoria di G. Favati, Padua 1977 (Medioevo e Umanesimo 29), S. 369-395. A. Roncaglia, »Carestia«, in: Cultura Neolatina 18 (1958) S. 123 bis 126. A. Varvaro, Struttura e forme della letteratura romanza del medioevo [Kap. »Spazio lirico e metafora amorosa: Bernart de Ventadorn«], Neapel 1968. A. Viscardi, »Gli studi sulla poesia di Bernard de Ventadorn e i nuovi problemi della critica trobadorica«, zuletzt in: A. V., Ricerche e interpretazioni romanze, Mailand / Varese 1970, S. 213 bis 250. Zum Abschiedslied der Trobadors: Chr. Leube-Fey, Bild und Funktion der >dompna< in der Lyrik der Trobadors, Heidelberg 1971 (Studia Romanica 21), S. 74 ff. D. Rieger, »Bona domna und mala domna. Zum >roman d’amour« des Trobadors Uc de Saint-Circ«, in: Vox Romanica 31 (1972) S. 76-91. D. Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobador­ lyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Sirventes, Tübin­ gen 1976 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 148), S. 303 ff. W. Russmann, Die Abschiedslieder in der provenzalischen Literatur, Diss. Heidelberg 1915.

266

Kommentar XVII BERNART DE VENTADORN

Non es meravelha s’eu chan

P.-C. 70,31; Kanzone.

Ed. C. Appel, Bemart von Ventadom. Seine Lieder mit Einleitung und Glossar, Halle 1915, S. 186 ff.; vgl. auch M. Lazar, Bernard de Ventadour, troubadour du XII' siècle. Chansons d’amour, Paris 1966 (Bibliothèque française et romane B/4), S. 60 ff. Frank I: 624,51

a8 b8 b8 a8 c8 d8 d8 c8 (Str. I, III, V, VII) c8 b8 b8 c8 a8 d8 d8 a8 (Str. II, IV, VI) 7 alternierende coblas capcaudadas + 1 tornada (3 vv.)

Melodie: Gennrich III, S. 40, Nr. 28. Auch diese Kanzone ist in vielen Handschriften (etwa 20) überliefert. In ihr kommt die in Lied XVI auf die Spitze getriebene und deshalb an dessen Ende sich zum comjat hin entladende trobadoreske Grundhaltung in nahezu reiner Form zum dichterisch vollkommenen Ausdruck. Dazu gehört die uneingeschränkte, bedingungslose Unterwerfung unter die Dame ebenso wie der Verzicht auf den eigenen Willen, wie das >masochistische< Akzeptieren des Liebes­ leids, ja dessen Ummünzung in Freude in Erwartung der wahren, aber sich nie realisierenden Freude, oder die immer wieder, hier in der 5. Strophe evozierte Existenz von Wider­ sachern (lauzengiers), die der Realisierung der trobadoresken Liebe im Weg stehen, ja diese mit allen Mitteln der Verleumdung und der Schmeichelei zu verhindern suchen. Dieses Lied macht auch und vor allem deutlich, daß Lieben und Leben wahrhaft identisch sind und daß von deren

Non es meravelha s’eu chan

2b7

Intensität gleichzeitig das dichterische Talent des einzelnen Trobadors abhängig ist. Dabei ist es fast so, als würde das Übermaß an Leidenkönnen, aus dem das Ineinanderfließen von Schmerz und Freude, ja deren Austauschbarkeit resul­ tieren, Voraussetzung für die poetische Kraft sein. Außer der bei Lied XVI aufgeführten Sekundärliteratur vgl. noch: G. Lavis, L’expression de l'affectivité dans la poésie lyrique française du moyen âge (XII’-XIII' siècles). Etude sémantique et stylistique du réseau lexical .¡oie-dolor’, Paris 1972 (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège CC.)

Von Bernart de Ventadorn sind nur Liebeskanzonen über­ liefen, und dieser Trabador gilt zu Recht als einer der größten Vertreter der Liebeslyrik überhaupt. Die altprovenzalische Lebensbeschreibung (Vida), die in der im folgenden abgedruckten Fassung angeblich von dem auch als Biograph tätigen Trabador Uc de Saint-Circ aus dem 13. Jahrhundert stammt, legt denn auch - wie die Razos Wahrheit und Legende so vermischend, daß sie heute kaum mehr vonein­ ander zu scheiden sind - den Hauptakzent auf das >trobadoreske Liebesleben«. A. Jeanroy hat diese Vida zu Recht als »roman d’un jeune homme pauvre« bezeichnet (La poésie lyrique des troubadours, Bd. 2, S. 140) und damit sowohl auf die Bedeutung der Vidagattung als novellistische Form als auch auf die in der Ideologie seiner Lieder zum Ausdruck gelangende niedere Abstammung dieses Trobadors ver­ wiesen. Vida Bernartz de Ventadorn si fo de Limozin, del castel de Ventadorn. Hom fo de paubra generación, fils d’un sirven qu’era forniers, qu’esquaudava lo forn a coszer lo pan del castel. E vene bels hom et adreichs, e saup ben chantar e trobar, e vene cortes et enseingnatz. E lo vescons, lo seus seingner, de Ventadorn, s’abelli moût de lui e de son trobar e de son cantar e fez li gran honor. E l vescons de

268

Kommentar

Ventadorn si avia moiller, joven e gentil e gaia. E si s’abelli d'En Bernart e de soas chansos e s’enamora de lui et el de la dompna, si qu’el fetz sas chansos e sos vers d’ella, de l’amor qu’el avia ad ella e de la valor de leis. Lonc temps duret lor amors anz que-1 vescons ni l’autra gens s'em aperceubes. E quant lo vescons s’en aperceup, si s’estranjet de lui, e la moiller fetz serar e gardar. E la dompna si fetz dar comjat a*N Bemart, qu’el se partis e se loingnes d’aquella encontrada. Et el s’en parti e si s’en anet a la duchesa de Normandia, qu’era joves e de gran valor e s’entendia en pretz et en honor et en bendig de lausor. E plasion li fort las chansos e l vers d’En Bernart, et ella lo receup e l’acuilli mout fort. Lonc temps estet en sa cort, et enamoret se d’ella et ella de lui, e fetz mantas bonas chansos d’ella. Et estan ab ella, lo reis Enrics d’Engleterra si la tolc per moiller e si la trais de Normandia e si la menet en Angleterra. En Bernartz si remas de sai tristz e dolentz, e venc s’en al bon comte Raimon de Tolosa, et ab el estet tro que-l coms mori. Et En Bernartz, per aquella dolor, si s’en rendet a l’ordre de Dalon, e lai el definet. Et ieu, N’Ucs de Saint Circ, de lui so qu’ieu ai escrit si me contet lo vescoms N’Ebles de Ventadorn, que fo fils de la vescomtessa qu’En Bernartz amet. E fetz aquestas chansos que vos auziretz aissi de sotz escriptas.

Lebensbeschreibung Bernart de Ventadorn war aus dem Limousin, aus der Burg von Ventadour. Es war ein Mann von niedriger [armer] Abstammung, der Sohn eines Dieners, der Ofenheizer war, der den Ofen zum Brotbakken der Burg heizte. Und er wurde [kam] ein schöner und gewandter Mann und konnte [wußte] gut singen und dichten und wurde höfisch und gesittet [unterrichtet]. Und der Vizegraf von Ventadour, sein Herr, fand sehr an ihm und seinem Singen Gefallen und erwies [tat] ihm große Ehre. Und der Vizegraf von Ventadour hatte eine junge und edle und heitere Ehefrau. Und sie fand Gefallen an Herrn Bernart und seinen Liedern und verliebt(e) sich in ihn und er in die Dame, so daß er seine Kanzonen und seine Vers über sie machte, über die Liebe, die er für sie empfand [hatte], und über ihre [wörtl.: von ihr] Treff­ lichkeit. Lange Zeit dauerte ihre Liebe, bis [bevor] der Vizegraf und die anderen Leute sie bemerkte(n) [Konj.]. Und als der Vizegraf sie bemerkte, trennte [entfremdete] er sich von ihm und ließ die Ehefrau einschließen und bewachen. Und die Dame ließ Herrn Bernart den Abschied geben, (auf) daß er fortginge und sich aus dieser Gegend

Escotatz, mas no say que s’es

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entfernte. Und er ging von da fort und begab sich zur Herzogin von der Normandie [= Eleonore von Aquitanien], die jung und von großer Trefflichkeit war und nach Wert und nach Ehre und nach gutem Lobeswort strebte. Und ihr gefielen die Kanzonen und die Vers von Herrn Bernart sehr, und sie empfing ihn und nahm ihn sehr herzlich [stark] auf. Lange Zeit weilte er an ihrem Hof und er verliebte sich in sie und sie in ihn, und er machte über sie manche guten Lieder. Und während er bei ihr weilte [wörtl.: bei ihr weilend], nahm sie der König Heinrich [II.] von England zur Ehefrau und entfernte [zog] sie aus der Normandie und brachte sie nach England. Herr Bernart blieb traurig und bekümmert diesseits zurück und kam zum guten Grafen Raimon von Toulouse und blieb bei ihm, bis der Graf starb. Und Herr Bernart trat [begab sich] dieses Schmerzes wegen in den Mönchsorden von Dalon ein und dort verschied er (auch). Und das was ich, Herr Uc de Saint-Circ, über ihn geschrieben habe, erzählte mir der Vizegraf Herr Eble von Ventadour, der der Sohn der Vizegräfin war, die Herr Bernart liebte. Und er machte diese Lieder, die, hier unten geschrieben, ihr hören werdet.

XVIII RAIMBAUT D’AURENGA

Escotatz, mas no say que s’es

P.-C. 389,28; >no-say-que-s’es< (bewußtes, vor allem forma­ les Spiel mit den zeitgenössischen Gattungszuordnungen). Ed. W. T. Pattison, The life and works of the troubadour Raimbaut d’Orange, Minneapolis 1952, S. 152 ff.

Frank I: 223,2

a8 b8 a8 b8 a8 b8 + Prosateil 6 cobias unissonans (der Prosateil ist von unterschiedlicher Länge)

Der Prosateil der f>. Strophe lautet in der Hs. M: Vai, sesnom, e qui t demanda qui t’a fag, digas H d'En Rambaut, que sap ben far una balla de foudat quan si vol. (Geh,

270

Kommentar

Namenlos, und wenn dich jemand fragt, wer dich gemacht hat, dann sollst du ihm über Herrn Raimbaut sagen, daß er wohl einen Packen [Ball] Verrücktheit machen kann, wenn er will.)

In der Tat einmalig in der Formtradition der altprovenzali­ schen Lyrik, in der die Prosa nichts zu suchen hat, lebt dieses um 1169 datierte Lied in großem Maß vom ironisch wirkenden, sicherlich auch spielerisch gemeinten Kontrast zwischen dem jeweiligen Vers- und Prosateil einer Strophe, der durch die verschiedene Vortragsweise (Singen - >Sagenno say que s’es< für Raimbaut auch ein inhaltliches Problem: das Unbestimmte, auf das er jedoch - ähnlich wie Wilhelm IX. zugunsten der greifbaren, gegenwärtigen Realität verzichtet (vgl. vv. 12-14), die sich ohne Zweifel in den Prosateilen des Lieds verdichtet. Die Anklänge an Wilhelm IX. sind unüberhörbar, auch wenn Raimbaut seine Dame, die ihn wie üblich - immer wieder hinhält, als amic bezeichnet. Im Prosateil der 3. Strophe ist im übrigen der Versteckname Bon Respieg, den Raimbaut an anderer Stelle für seine Dame verwendet, parodistisch zu lonc respieg umgebogen, in v. 34 bezeichnet der Dichter sich quasi selbst mit dem Senhal Joglar, mit dem er ansonsten (in 10 Kanzonen) eine vertraute Ratgeberin belegt, hinter der sich die Dichterin (trobairitz) Azalais de Porcairagues verbergen dürfte.

Ausgewählte Bibliographie C. Appel, Raimbaut von Orange, Berlin 1928 (Abhandlungen der Gesellschaft der Wiss. zu Göttingen, Philolog.-histor. Klasse, N. S. XXI/2). E. Köhler, »No sai qui s’es - No sai que s’es (Wilhelm IX. von Poitiers und Raimbaut von Orange)«, zuletzt in: E. K., Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania, Frank­ furt a. M. / Bonn 1966, S. 46-66. D. Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobadorlyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Sirventes, Tübin­ gen 1976 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 148), S. 136-139. A. Sakari, »Azalais de Porcairagues, le Joglar de Raimbaut d’Orange«, in: Neuphilologische Mitteilungen 50 (1949) S. 23—43, 56-87, 174-198.

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Kommentar

XIX GIRAUT DE BORNELH / REIS ANFOS

Be me plairia, senk'en reis P.-C. 242,22 = 23,1a; Tenzone (Partimen: E. Köhler). Ed. A. Kolsen, Sämtliche Lieder des Trobadors Giraut de Bornelh, 2 Bde., Halle 1910-35; Bd. 1, S. 378 ff. (Bd. 2, S. 107 ff.). Frank I: 714,2

a8 b8 b8 c8 c8 d8 d8 e8 6 coblas unissonans + 2 tornadas (je 3 vv.)

Berühmtes Streitgedicht zwischen Giraut de Bornelh, dem »poeta rectitudinis« (Dante, De vulgari eloquentia 11,2), und dem König Alfons II. von Aragon, als Alfons I. Graf von Barcelona und nach 1166 faktisch auch Markgraf der Provence, der zu den großen Gönnern der Trobadors der damaligen Zeit gehört und selbst auch in provenzalischer Sprache gedichtet hat; von der Mitwirkung an dieser Ten­ zone abgesehen, ist noch eine Kanzone von Alfons II. erhalten. Die Tenzone dürfte um das Jahr 1170 (W. T. Pattison: 2. Hälfte 1170), vielleicht auch etwas später, sehr wahrscheinlich im Königreich Aragon entstanden sein. Die Frage, die Giraut, der größte Theoretiker unter den Troba­ dors, hier einem direkt von ihr Betroffenen gegenüber anschneidet, ist in dieser Zeit und auch später noch von vielen Trobadors, vor allem auch in Streitgedichten, behan­ delt worden. Sie ist letztlich einzuordnen in den größeren Zusammenhang der zeitgenössischen Diskussion um das Problem Tugendadel - Geburtsadel, das ebenfalls Thema vieler trobadoresker >Disputationen< ist. Die von Giraut vertretene und von Alfons II. mit trobadoresken Mitteln und Argumenten und vor allem mit demselben Ernst beant­ wortete (nicht eigentlich entkräftete) Position ergibt sich im übrigen mit Notwendigkeit aus der trobadoresken Ideolo­ gie, die den Ausgangspunkt für Girauts Vorwurf an die

Be me plairia, senh'en reis

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Mächtigen darstellt: »Die Liebe ist für ihn identisch mit dem joi, jenem in angestrengter Bemühung erzielten geistigen Erleben vorbildlichen Menschentums. [...] Das Leben wird in seinen einzelnen Abschnitten wie im ganzen nur unter dem Aspekt des joi gewertet, der [...] unabhängig ist von der letzten Gunst der geliebten Dame. Die verehrungsvolle Liebe an sich schon schafft Raum für alle Tugenden. Rasche Erfüllung der kühnen Wünsche führt nicht zum joi, sondern zur brutalen Sinnlichkeit. Somit ist es die Pflicht der Dame, verwegene Forderungen zurückzuweisen, wenn sie nicht den tieferen Sinn ihrer Verherrlichung verfehlen will. [...] Nur der den Menschen dauernd zu weitestmöglicher Übung seiner Fähigkeiten zwingende erregende Schwebezustand zwischen Wunsch und Erfüllung gewährleistet volle Entfal­ tung aller Kräfte. [.. .] Leicht gewonnener Besitz versperrt den Weg zur menschlichen Vollendung. Reichtum gilt nur in dem Maße, als er Hilfsmittel in deren Dienst ist. [. ..] Wer in gierigem Zugriff, auf Reichtum und Macht pochend, das Ziel erreichen will, verliert es nicht bloß für seine eigene Person, sondern droht es für alle zu verschütten in einer Gesellschaft, die das Individuum nur in seiner Umweltbe­ ziehung sieht. Aller Reichtum ist für Guiraut nur Elend ohne Freude, die die hohe Liebe schenkt, ja Reichtum und Macht stören ebensosehr wie bittere Armut und niedrige Geburt die unerläßliche seelische Spannung, in der allein der Mensch sich vor den Extremen bewahrt; sie stören die mesura« (E. Köhler). Der Zuweisung dieses Lieds zur Gat­ tung des Partimens steht u. a. das Fehlen einer dilemmati­ schen Frage, vielleicht auch das Fehlen der Richternennung in den Tornaden entgegen. Beides ließe sich allerdings durch die ganz persönliche Betroffenheit des einen Interlokutors in seiner königlichen Position erklären. Ausgewählte Bibliographie E. Köhler, »Zur Diskussion der Adelsfrage bei den Trobadors«, in: E. K., Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französi-

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Kommentar

sehen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 15), S. 115-132. A. Kolsen, Guiraut de Bomelh, der Meister der Trobadors, Berlin 1894. W. T. Pattison, »The troubadours of Peire d’Alvernhe’s satire in Spain«, in: Publications of the Modem Language Association 50 (1935) S. 14-24. A. Sakari, »Azalais de Porcairagues, le Joglar de Raimbaut d’Orange«, in: Neuphilologische Mitteilungen 50 (1949) bes. S. 61-64.

RAIMBAUT D’AURENGA / GIRAUT DE BORNELH

Era'm platz, Girant de Bomelh

P.-C. 389,10a = 242,14; Tenzone. Ed. A. Kolsen, Sämtliche Lieder des Trohadors Girant de Bornelh, 2 Bde., Halle 1910-35; Bd. 1, S. 374 ff. (Bd. 2, S. 104 ff.); Str. VI nach M. de Riquer, Los trovadores. Historia literariay textos, Bd. 1, Barcelona 1975, S. 457—458.

Frank I: 705,9

a8 b8 b8 c4 c4 d8 d8 8 coblas unissonans + 2 tornadas (je 2 w.)

Dieses nicht minder berühmte, vielfach diskutierte und vor allem in der 6. Strophe nicht in allen Teilen klare, um 1170 entstandene Streitgedicht hat eine der wichtigsten poetologischen Kontroversen des 12. Jahrhunderts zum Thema - die Auseinandersetzung zwischen trobar eins (dunkles Dichten) und trobar len (leicht verständliches Dichten). Raimbaut d’Aurenga wird von seinem Gesprächspartner Giraut mit dem Senhal Linhanre bezeichnet (das Senhal rührt vielleicht vom altfranzösischen »Lai d’Ignaure« her, einer Parodie des Herzmaere, dessen Held ein Meisterliebhaber ist, der zwölf Frauen auf einmal den Hof macht und dem die Ehemänner nicht nur das Herz, sondern auch die Hoden herausschnei­ den, um sie den untreuen Damen zum Essen vorzusetzen;

Era'm platz, Giraut de Bomelh

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Raimbaut sagt selbst einmal in einem Prahlgedicht (gap), er sei von einem eifersüchtigen Ehemann kastriert worden: P.C. 389,31). Die aristokratisch-elitäre Konzeption Raimbauts wird deutlich, wenn er die Ansicht vertritt, man solle sich um die Meinung der Vielen gar nicht kümmern, wichtig sei nur das Urteil der wenigen Kunstverständigen; Dichten im trobar leu bedeutet für den stolzen Aristokraten Nivellie­ rung der Standesunterschiede. Giraut vertritt die gegentei­ lige Position. Eine Entscheidung über die Frage, wer recht hat, wird nicht getroffen - Raimbaut wechselt unvermittelt das Thema und Giraut folgt ihm darin. Dabei muß aber auch berücksichtigt werden, daß auch Giraut - vor dieser Tenzone - im trobar clus gedichtet und Raimbaut selbst sich in vielen anderen seiner Lieder gerade um eine Vermittlung von trobar clus und trobar leu bemüht hat (komplizierte Versund Reimform einerseits - leicht verständlicher Inhalt ande­ rerseits). »Die Auseinandersetzung um das trobar clus klingt nach ihrer Zuspitzung im Streitgedicht Linhaure - Guiraut ab. Das Bestreben des höfischen Rittertums, sich zum Repräsentanten eines allgemeingültigen menschlichen Ideals zu stempeln, verdrängt den Gedanken, die als eigenes und unveräußerliches Erzeugnis gefaßte Vorbildhaltung vor dem Gemeinwerden schützen zu müssen. Die Kraft, mit der eine mühsam errichtete Barriere gehalten werden soll, läßt nach. Dunkles Wissen wird wieder als verlorenes Wissen angese­ hen« (E. Köhler). Ausgetnählte Bibliographie E. Köhler, »Zum -trobar clus- der Trobadors«, zuletzt in: E. K.,

Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962 (Neue Beitrage zur Literaturwissenschaft 15), S. 133-152. R. Lejeune, »Le personnage d’Ignaure dans la poésie des trouba­ dours«, in: Bulletin de ¡’Académie Royale de langue et de littéra­ ture françaises de Belgique 18 (1939) S. 140-172. M. Mancini, »Recenti interpretazioni del -trobar clus-«, in: Studi di letteratura francese 12 (1969) S. 241-259.

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Kommentar

U. Mölk, Trobar dus, trobar leu. Studien zur Dichtungstheorie der Trobadors, München 1968. [Giraut-Raimbaut: S. 116-137.] J. Mouzat, »Remarques sur Linhaure et sa localisation«, in: Mélan­ ges offerts à R. Lejeune, Bd. 1, Gembloux 1969, S. 213-218. L. Pollmann, Trobar clus. Bibelexegese und hispano-arabische Lite­ ratur, Münster 1965 (Forschungen zur Romanischen Philo­ logie 16). A. Roncaglia, La generazione trobadorica del 1170, Rom 1967/68, S. 125-150. A. Roncaglia, »>Trobar cluse discussione aperta«, in: Cultura Neo­ latina 29 (1969), S. 1-59. [Antwort von E. Köhler in: Cultura Neolatina 30 (1970), S. 300-314.]

XX GIRAUT DE BORNELH

Reis glorios, verais Iums e clartatz

P.-C. 242,64; Tagelied (Alba). Ed. A. Kolsen, Sämtliche Lieder des Trobadors Giraut de Bomelh, 2 Bde., Halle 1910-35; Bd. 1, S. 342 ff. (Bd. 2, S. 95 f.). Frank I: 156,2

alO alO blO' blO' c6' 7 coblas doblas (v. 5 der Str. I-VI = Refrain; Str. VII: nur Refrainwort alba)

Str. VII: Echtheit aus metrischen (Refrain), sprachlichen (companh statt companho), grammatikalischen (jom statt richtiger joms im Reim) und auch musikalischen Gründen sehr fraglich.

Melodie: Gennrich III, S. 65, Nr. 58.

En un vergier sotz fuella d’albespi

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ANONYM

En un vergier sotz fuella d’albespi

P.-C. 461,113; Tagelied (Alba).

Ed. C. Appel, Provenzalische Chrestomathie, Leipzig ‘1932, S. 90.

Frank I: 44,1

alO alO alO blO 6 coblas singulars (v. 4 jeder Str. = Refrain)

Das Tagelied von Giraut de Bornelh ist ohne Zweifel das schönste Lied dieses Trobadors und basiert - wie die anonyme Alba (die Gattungsbezeichnung resultiert aus dem durchgängigen Gebrauch des Wortes alha im Refrain) - auf der Tageliedsituation: Zwei Liebende - die Dame ist verhei­ ratet - müssen sich nach einer gemeinsam verbrachten Lie­ besnacht bei Anbruch des Tages (alba), der ihnen durch einen Wächter angekündigt wird, aus Furcht vor dem Ent­ decktwerden ihrer heimlichen Liebesbeziehungen nicht zuletzt durch den eifersüchtigen Ehemann der Geliebten trennen. Diese Tageliedsituation wird entweder monolo­ gisch (so das Tagelied Girauts, wenn die 7. Strophe apo­ kryph ist), rein dialogisch oder mit einer Kombination von narrativen Elementen und direkter Rede (wie im anonymen Tagelied: die Rahmenstrophen I und VII sind narrativ, die Binnenstrophen II-V sind direkte Rede der Dame) entwikkelt und variiert. Während die nicht datierbare anonyme Alba auf Grund ihrer einfachen Form, der Szenerie im Freien, der relativ unbeteiligten Gestalt des Wächters und der Frauenklage als Zentrum in großem Maß volksliedhaften Charakter aufweist und deshalb von der romantischen, aber auch der modernen Volksliedtheorie als Argument für die Genese des weltlichen Tagelieds aus dem Volkslied dient, vermag Girauts Alba, die eine große motivische Verwandt­ schaft mit den christlichen, zum liturgischen Gebrauch

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Kommentar

bestimmten lateinischen Morgenhymnen aufweist, der These gewichtige Argumente zu liefern, nach der die Gat­ tung des weltlichen Tagelieds in genetischem Zusammen­ hang mit geistlichen Morgenhymnen und der Liturgie zu sehen sei: vor allem das hymnenartige Gebet zu Beginn des Lieds und der liturgische Charakter der erhaltenen Melodie, die im 14. Jahrhundert vom Autor des Jeu de Sainte Agnès sogar für ein ernstes und feierliches Klagelied wiederaufge­ nommen wurde. Nicht abgerissen sind bis heute die Versu­ che, Girauts Tagelied als eindeutig religiöse Alba, von der es in der Trobadorlyrik noch weitere 6 überlieferte Beispiele gibt, zu deuten (zuletzt M. P. Simonelli), wozu selbstver­ ständlich die 7. Strophe überhaupt nicht passen würde: dabei wird der gilos als der Teufel gedeutet - bei Hrabanus Maurus, Paulus Diaconus u. a. in der Tat als zelosus bezeich­ net. Dies wäre allerdings in Anbetracht der sonstigen christ­ lichen Umdeutung des profanen Tagelieds im religiösen Tagelied, das große Affinitäten zum Marienlied aufweist, recht ungewöhnlich; denn entscheidend ist, daß in der geist­ lichen Alba der Begriff alba positiv umgedeutet wird: alba bedeutet hier die Muttergottes, der Morgenstern, der den Tag (Jesus) herbeiführt, Jesus selbst und die himmlischen Freuden des Paradieses oder die göttliche Gnade und Erleuchtung oder die Jungfrau Maria als Mittlerin zwischen der göttlichen Gnade (Tag) und der sündigen Menschheit (Nacht). Es fällt schwer, Girauts Lied in diesen Zusammen­ hang zu stellen. - Im übrigen weist das profane Tagelied mit vorhöfischen Mitteln auf einen positiven Ausweg aus dem »paradoxe amoureux«, der als Entladung der unabdingbaren trobadoresken Spannung zwischen Begehren und Erfüllung nur scheinbar das Prinzip der Kanzone umstößt. Das in unerreichbare Ferne gerückte Ideal der reziproken, erfüllten Liebe zwischen Trobador und domna wird in der zeitlichen und sozialen Gegenwart (nicht im Raum der Utopie oder der arkadischen Freiheit) verwirklicht, eine Realisierung des Ideals, die ihre Problematik innerhalb der gesellschaftlichen

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Us cavaliers si iazia

Realität indessen nicht abzustreifen vermag, die weiterhin des celar (Verheimlichen der Liebesbeziehung) bedarf und nur im Dunkel der gesellschaftlichen Existenz möglich erscheint - der anbrechende Tag und seine realen Erforder­ nisse, die der Wächter unerbittlich wie die Realität selbst den Liebenden in Erinnerung ruft, setzt dem Traum ein Ende und stellt die paradoxale Kanzonensituation wieder her, restituiert das »paradoxe amoureux«. Das Et ades sera l’alba - dem do taget ez Heinrichs von Morungen vergleichbar bezeichnet den Übergang vom einen zum anderen Bereich. Es ist klar, daß die positive (wenn auch eingeschränkte) Lösung des höfischen Paradoxons als Ausgleich für die Quasi-Aporie der Kanzone die Hoffnung des TrobadorIchs und seine Anstrengung zu reaktivieren vermag, daß sie mit anderen Worten geradezu die Kanzone weiter möglich macht, d. h. daß sie zur Aufrechterhaltung der Kanzonenideologie motiviert und diese stützt; denn »der in der Kan­ zone mit ihrer präsentischen Struktur zum Ausdruck kom­ mende gegenwärtige, die Zukunft nur als subjektiven Wunsch formulierende Zustand wird durch den ersehnten zukünftigen, als objektiver Tatbestand dargebotenen Zu­ stand ersetzt, die subjektiv erstrebte Zukunft in die objek­ tive Gegenwart geholt« (D. Rieger 1976), d. h. episch und dramatisch zum »genre objectif« »objektiviert«.

BERTRAN D’ALAMANON

Us cavaliers si iazia P.-C. 76,23; Tagelied (Alba).

Ed. C. Appel, Provenzalische Chrestomathie, ‘1932, S. 91. Frank I: 69,1 Frank II: S. 226

Leipzig

3.7' a7' 3.7' b7 b7 bl a7' al' clO 5 coblas unissonans (w. 6-9 jeder Str. = Refrain)

280

Kommentar

Auch diese von Bertran d’Alamanon (etwa aus der Mitte des 13. Jahrhunderts) stammende, vielleicht aber auch von Gaucelm Faidit verfaßte Alba weist die Hauptcharakteristika der Gattung - einschließlich Refrain mit dem Refrainwort alba auf. Die Trennungssituation wird hier - nach der epischen Einleitung - durch die an die Geliebte gerichtete Rede des liebenden Ritters zur Darstellung gebracht. Ausgewählte Bibliographie Ph. A. Becker, »Vom Morgenhymnus zum Tagelied«, zuletzt in: Ph. A. B., Zur romanischen Literaturgeschichte. Ausgewählte Studien und Aufsätze, München 1967, S. 149-173. A. T. Hatto (Hrsg.), EOS. An Enquiry into the Themes of Lovers’ Meetings and Parting at Dawn in Poetry, London / Den Haag / Paris 1965 (Kap. »Old Provençal and Old French« von B. Woledge, S. 344-389). D. Rieger, »Zur Stellung des Tagelieds in der Trobadorlyrik«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 87 (1971) S. 223-232. D. Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobador­ lyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Sirventes, Tübin­ gen 1976 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 148), S. 7-22. G. Schlaeger, Studien über das Tagelied. Ein Beitrag zur Literatur­ geschichte des Mittelalters, Jena 1895. J. M. Scudieri-Ruggieri, »Per le origini dell’alba«, in: Cultura Neolatina 3 (1943) S. 191-202. M. P. Simonelli, Lirica moralistica nell’ Occitania del XII secolo: Bemart de Venzac, Modena 1974, bes. S. 196-207.

XXI GUILLEM DE BERGUEDAN

Amies Marques, enqera non a gaire

P.-C. 210,1; Sirventes.

Ed. M. de Riquer, Guillem de Berguedà, 2 Bde. (Bd. 1 :

Amtes Marques, enqera non a gaire

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»Estudio histórico, literario y lingüístico«; Bd. 2: »Edición crítica, traducción, notas y glosario«), Bd. 2, Abadía de Poblet 1971, S. 113 ff.

Frank I: 382,50

alO' blO' alO' blO' clO clO dlO' dlO' 6 coblas doblas

Eines der zahlreichen persönlichen Schmäh- und Schimpflie­ der (vor 1180) des katalanischen Trobadors gegen Pons de Mataplana, seinen eigenen Feudalherrn und Schwiegervater, im übrigen einer der Erzfeinde des adligen Dichters, über dessen bewegtes und an Fehden reiches Leben man ziemlich genau Bescheid weiß. Bei ihm wird das Trobadorlied pro­ pagandistisch in den Dienst der eigenen Sache gestellt: der attackierte Gegner soll lächerlich gemacht werden, wobei dem Jongleur (Ramon de Pau), der das Lied in Umlauf bringen soll, eine große Bedeutung zukommt. Das Sirventes, das hier noch deutlich auf seine Herkunft aus dem spielmännischen Bereich verweist, in dem auch nicht vor den übelsten Unflätigkeiten zurückgeschreckt wird, beginnt mit einem Verweis auf ein früheres Lied gegen Pons de Mataplana (P.-C. 210,18), das ebenfalls ironisch als coinda cansson e bona bezeichnet wird, wie Lied XXI jedoch nichts anderes als eine an Anspielungen reiche, heftige und haßer­ füllte Diatribe gegen den »Besungenen« ist - die parodistische Umkehrung des panegyrischen Stils (bona canso = Loblied auf die geliebte Dame) ist evident, die angekündigte Lauda­ tio entlarvt sich als boshafte Karikatur der moralischen und physischen Eigenschaften des Gegners. Im übrigen hat Guil­ lem auf den Tod von Pons de Mataplana ein Klagelied verfaßt (P.-C. 210,9), in dem er den nunmehr Verstorbenen und gefahrlos gewordenen einstigen Gegner mit Lobprei­ sungen überhäuft, dem ehemaligen Erzfeind jetzt im die ideale trobadoreske Gesellschaft reproduzierenden Paradies einen Platz neben Ludwig VIL, Roland und Olivier zuweist (vgl. dagegen Lied XXI, w. 17-18) und ihn für die einstigen Schmähungen und Verleumdungen um Verzeihung bittet -

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Kommentar

ein Schuldbekenntnis, das - wenn es keine ironisch gemeinte Retractado ist und vom Publikum nicht als eine solche aufgefaßt wurde - erstaunlich ist: »Markgraf, wenn ich über Euch Törichtes sagte und gemeine und unfeine Worte, dann habe ich in allem gelogen und gefehlt ... und ich sage das keineswegs nur so hin.« - Das Senhal Mos Sogres meint Pere de Berga, einen weiteren Intimfeind des Trobadors, und auch der in der 3. Strophe genannte Guillem de Claramunt ist von Guillem de Berguedan dichterisch beleidigt worden. Rotlans a Serragosa bezieht sich auf das Thema eines altprovenzalischen Heldenepos {Rollan a Saragossa). Zu Einzelheiten der Anspielungen in diesem Lied vgl. die Edition. Ausgetvählte Bibliographie D. Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobador­ lyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Simientes, Tübin­ gen 1976 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 148), S. 176-180, 289, 310-311.

XXII ARNAUT DANIEL

Lo ferm voler q’el cor m’intra P.-C. 29,14; Sestine (= formale Gattungsbestimmung; inhaltlich: Liebeslied).

Ed. G. Toja, Amaut Daniel. Canzoni, Florenz 1961, S. 373 ff. (vgl. auch S. 50-55).

Frank I: 864,3

a7' blO' clO' dlO' elO' flO' 6 cobias singulars + 1 tornada (3 vv.) (Durchgehende Reimwörter: intra, ongla, arma, verga, onde, cambra)

Lo ferm voler q'el cor m’intra

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Str. I: a II: f III: c IV: e V: d VI: b VII: b e d d c a f c e b f f a e d b a c f c e d b a f c e d b a b a f c e d Prinzip der mittellateinischen >retrogradatio cruciata« (coblas retrogradadas). Assonanzen ongla - oncle, arma - cambra, intra - verga - in Str. III gepaart.

Melodie: Gennrich III, S. 93, Nr. 91. Arnaut Daniel, der »miglior fabbro del parlar moderno« (Dante, Purgatono XXVI, 117), gilt als der Erfinder der Sestinenform, deren Entstehung aus einzelnen metrischen Erscheinungsformen vor Arnaut und bei Arnaut selbst keine Geheimnisse birgt (Kombination vor allem von >rimas dissolutas< = Reime, die in derselben Strophe keine Entsprechung finden, >rima capcaudada< = der letzte Reim einer Strophe wird zum ersten Reim der folgenden Strophe, Wiederholung ganzer Reimwörter). Das Besondere an der Sestine ist vor allem auch, daß ihre Einzelstrophen im Gegensatz zu denen der Kanzone nicht teilbar sind, was sich auch in der Struktur der überlieferten Melodie äußert. Ohne Zweifel steht hinter der Sestinenform primär das Streben nach Formvirtuosität, wie es nicht erst im 13. Jahrhundert - dann aber in verstärk­ tem Maß -, sondern schon im 12. Jahrhundert in beachtli­ chem Ausmaß festzustellen ist; denn ein Lied aus 36 Versen mit nur sechs überdies auf den ersten Blick keineswegs poetischen, sondern z. T. geradezu trivialen, außerdem auch klanglich eher schwerfälligen Reimwörtern zu dichten, deren jeweilige Aufeinanderfolge darüber hinaus festen Regeln unterworfen ist, verrät in der Tat eine große, von Arnaut im übrigen ironisch umspielte Könnerschaft, die Arnaut auch in vielen anderen seiner Lieder unter Beweis stellt: Verwendung von Einsilbenversen; >coblas unissonanscoblas capfinidas« = Reimwort des letzten Verses

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Kommentar

einer Strophe kehrt im Innern des ersten Verses der folgen­ den Strophe wieder; Häufigkeit der >rimas dissolutasc Amaut verwendet in seinen 18 Kanzonen 100 verschiedene Reime; »rimas caras< = seltene Reime: wurde von Dante besonders geschätzt, 30 »rimas caras« finden sich vor Arnaut Daniel nicht in der Trobadorlyrik; >rim equivocz« = homo­ nyme Reime; »rim derivatius« = grammatische Reime; Assonanzentechnik und kunstvolle Vokaldispositionen, Konsonantenentsprechungen und Alliterationen. Wichtig ist - auch bei der Sestine -, daß die formalen Virtuositäten in der Regel eng mit der Aussage des Lieds und seiner Musika­ lität verbunden sind - die Schwere der Versschlüsse unter­ streicht z. B. die Aussage des Einzelverses, die Reimwörter selbst erfahren fast dauernd semantische Variationen und Umakzentuierungen, was eine gewisse Dunkelheit zur Folge hat, ohne daß von ausgesprochenem >trobar clus« (= dunkles Dichten der Trobadors) gesprochen werden kann. Hinzu kommen cor(Herz)-cors(Körper)-Antinomien, die parallelistische oder antithetische Verbindung der Reimwörter mit Substantiven im Versinnern und v. a. m.; nicht vergessen werden darf dabei, daß die erstrebte Schönheit der Form die Wahrheit der Aussage akzentuieren soll. Diese letztere ist zwar konventionell-trobadoresk, die Originalität liegt aber gerade - wie in der »poesie formelle« des Mittelalters überhaupt - in der formalen Darbietung. Der Sestine Arnauts gedankliche Armut vorzuwerfen, wie dies seit F. Diez bis heute (J. Riesz) geschieht, ist dieser Dichtung deshalb völlig unangemessen, vielleicht aber auch die gegen­ teilige Auffassung, die in Arnauts Sestine deshalb eine bedeutende Erfindung sieht, weil in ihr »die Qual einer verliebten Besessenheit durch die verflochtene Wiederkehr von gleichlautenden Zwangsvorstellungen und Schlagwör­ tern an Reimes Statt veranschaulicht wird« (K. Vossler, Dichtungsformen der Romanen, Stuttgart 1951, S. 119, n. 3). — Amauts Sestine ist mehrfach nachgeahmt worden: in der Tro­ badorlyrik in vier überlieferten Liedern, darunter in zwei

Lo ferm voler q’el cor m’intra

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Fällen mit denselben Reimwörtern, aber einer entscheiden­ den Veränderung der inhaltlichen Seite, nämlich in den beiden Sirventesen von Guillem de Sanh Gregori (P.-C. 233,2: 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts) und Bertolome Zorzi (P.-C. 74,4: 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts). Nicht zu vergessen sind die italienischen Sestinen von Dante und Petrarca, die direkt auf Amaut Daniels Sestine zurückgehen, und die sich ebenfalls an Arnauts Dichtung inspirierenden Sestinen von Ezra Pound. - Zu den verschiedenen Deutun­ gen von seca verga (v. 25) vgl. die entsprechende Anmer­ kung der Edition; am wahrscheinlichsten ist die Deutung Jungfrau Mariae v. 25 weist demgemäß auf das Neue Testament und die Geburt Christi (Erlösung), v. 26 dagegen auf das Alte Testament und die Geburt des ersten Menschen (Sündenfall) - beides zusammen stellt die heilsgeschichtliche Vergangenheit dar. Das Senhal son Desirat wird entwedernach einem Hinweis, der sich in Hs. H findet - als ein Versteckname für Bertran de Born gedeutet (bzw. für einen unbekannten männlichen Adressaten, da der Schlußvers mit seiner auf Str. II und Str. III zu beziehenden Symbolik nur auf einen Mann verweisen könne) oder als Versteckname für eine Dame (mit lieis von v. 38 identisch?) - maskuline Senhals für Damen sind sehr häufig in der Trobadorlyrik. Diese Dame kann eine Gönnerin, aber auch die geliebte Dame selbst sein. Verschieden interpretierbar ist auch das Wort verga in v. 38: entweder es verweist auf die Unnach­ giebigkeit der Dame oder ist als Sexualmetapher zu verste­ hen. Die letzte Möglichkeit liegt keineswegs außerhalb des Arnautschen Dichtens, wie nicht zuletzt auch die erotische Symbolik dieses Lieds zu zeigen vermag, die sich um das intrar en la cambra der Dame zentriert (vgl. auch das Zittern des membre in v. 10 usf.). Ausgewählte Bibliographie C. M. Bowra, »Dante e Arnaut Daniel«, in: Speculum T7 (1952) S. 459—474.

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Kommentar

U. A. Canello, La vita e le opere del trovatore Arnaldo Daniello, Halle 1883. H. J. Chaytor, The troubadours of Dante, Oxford 1902. E. Hoepffner, »Dante et les troubadours«, in: Etudes italiennes 4 (1922) S. 193-210. A. Jenni, La sestina lírica, Bern 1945. A. Prieto, »La sextina provenzal y su valor como elemento estruc­ tural de la novela pastoril«, in: Prohemio 1 (1970) S. 47-70. J. Riesz, Die Sestine, München 1971. S. Santangelo, Dante e i trovatori provenzali, Catania 1921.

XXIII BERTRAN DE BORN

Mon chan fenisc ah dol et ah maltraire P.-C. 80,26; Klagelied (Planh). Ed. C. Appel, Die Lieder Bertrans von Bom, Halle 1932 (Sammlung romanischer Übungstexte 19/20), S. 39 ff. ; Razo: Ed. J. Boutière / A.-H. Schutz, Biographies des troubadours. Textes provençaux des XIII' et XIV' siècles, Paris 1964 (Les classiques d’oc 1), S. 115.

Frank I: 576,1

alO' blO blO alO' c5 c5 d5 c5 e5 f5' f5’ c5 c5 Lc7

5 coblas unissonans + 3 tornadas (je 3 vv.)

Si tuit li dol e'lh plor e'lh marrimen P.-C. 80,41; Klagelied (Planh).

Ed. C. Appel, Die Lieder Bertrans von Bom, Halle 1932 (Sammlung romanischer Übungstexte 19/20), S. 98 f.

Si luit li dol elh plor e lh marrimen Frank I: 427,2

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alO blO alO blO clO dlO dlO elO' 5 coblas unissonans (Durchgehende Reimwörter: marrimen, y. 1; jove rei engles, v. 5; ira, v. 8)

Bei beiden Liedern handelt es sich um Klagelieder auf den Tod von Heinrich Plantagenet, den »Jungen König« von England, Sohn von König Heinrich II. und Bruder von Richard Löwenherz (vgl. Razo). Der in diesen wie die meisten Klagelieder recht konventionellen Planhs betrauerte Heinrich ist- 1155 geboren und schon 1170 gekrönt (»Jun­ ger König«) - in der Nacht vom 11. zum 12. Juni 1183 in Martel am Fieber gestorben. Während aber das Lied Mon chan fenisc in etlichen Handschriften überliefert wurde und sicher von Bertrán de Born stammt, steht die Attribution des anderen, nur relativ dürftig überlieferten Planh nicht mit Sicherheit fest (Peire Vidal? Arnaut Daniel? Rigaut de Berbezilh? Ramon Vidal de Besalú? Bertrán de Born?). Wenn man berücksichtigt, daß auch Aimeric de Peguilhan mit Sicherheit zwei Klagelieder auf den Tod ein und derselben Person verfaßt hat (P.-C. 10,30 und 10,48 auf den Tod von Azzo VI. von Este), dann steht der Attribution auch von Si tuit li dol an Bertrán de Born nichts im Weg. Beide Lieder, welche die hauptsächlichen Elemente auch der lateinischen mittelalterlichen Totenklage aufweisen (Klage, Lob des Ver­ storbenen und Fürbitte für seine Seele), zeigen deutlich, daß das Klagelied zwar eine »poésie de circonstance« (oft auch Auftragsdichtung) ist, die ganz bestimmten Gattungsgeset­ zen unterliegt, daß die »circonstance« aber in der Regel nur den Ausgangspunkt für eine über den konkreten Anlaß hin­ ausgehende Klage darstellt. Mit der Klage um den Verlust einer realen Person verbindet sich nämlich die Furcht vor dem Niedergang der eigenen Welt und ihres Wertesystems, der für die trobadoreske Existenzform unabdingbaren Tu­ genden und Ideale. Mit dem Tod des beklagten Gönners und Beschützers - mit ihm befassen sich die meisten Klage-

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Kommentar

lieder, einige Planhs beklagen den Tod eines Freunds oder einer Dame - beklagt der Trobador auch - als Konsequenz daraus - seinen eigenen >Tod< und den seiner Gruppe. Die Affinitäten zum Sirventes, der moralisch-kritischen oder politischen Rügeliedgattung, können dabei sehr groß sein. Wie das Sirventes nimmt der Planh auf ein zeitgenössisches Ereignis von allgemeiner Bedeutung Bezug - der Tod eines fürstlichen Gönners - und gibt durch Lob (des Verstorbe­ nen) in Verbindung mit ausgeprägtem Tadel (der übrigen Welt) eine Zeitsatire, die sich von der eines Sirventes kaum unterscheidet und in deren Zentrum die >Klage< über den Verfall der trobadoresken Ideale, vor allem von joi und joven, steht. Die relativ große Uniformität der Gattung des Planh ist oft Gegenstand der Kritik gewesen. Die exzessive Hyperbolik, die ständigen Übertreibungen und z. T. subti­ len Vergleiche in Klage und Lob, die auch in Bertrans Klagelied auf den Tod von Gottfried von der Bretagne zu konstatieren sind (P.-C. 80,6a), sind gattungsimmanent. Was schließlich das überwiegende Fehlen echter und rein persönlicher Anteilnahme und gefühlsträchtiger Spontanei­ tät und das Überwiegen von Klischees, festen Formeln und Registern (dazu gehört z. B. die Aufzählung der trauernden Völker usw.) betrifft, so darf mehr noch als bei anderen Gattungen der Trobadorlyrik nicht vergessen werden, daß der klagende Dichter sich in erster Linie als Sprecher seiner >Gruppe< fühlt. Persönliche Trauer ist dabei - oft aus unmit­ telbarem materiellen >Betroffensein< resultierend - keines­ wegs von vornherein auszuschließen, wenn selbstverständ­ lich auch der z. B. in der häufigen Ankündigung, nun nicht mehr zu singen, zum Ausdruck kommende Appellcharakter an die Nachfolger des Verstorbenen im Vordergrund steht.

Ausgewählte Bibliographie C. Appel, Bertran von Born, Halle 1931; Genf 1973. S. C. Aston, »The Provençal planh: II. The lament for a lady«, in: Mélanges offerts à R. Lejeune, Bd. 1, Gembloux 1969, S. 57-65.

No puosc mudar un chantar non esparja

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S. C. Aston, »The Provençal planh: I. The lament for a prince», in:

Mélanges de philologie romane dédiés à la mémoire de J. Boutière, Bd. 1, Lüttich 1971, S. 23-30. C. Cohen, »Les éléments constitutifs de quelques planctus des X' et XI' siècles», in: Cahiers de Civilisation Médiévale 1 (1958) S. 83 bis 86. H. H. Lucas, »Pons de Capduoill and Azalais de Mercuor. A study of the planh«, in: Nottingham Médiéval Studies 2 (1958) S. 119 bis 131. D. Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobadorlyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Sirventes, Tübin­ gen 1976 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 148), S. 271-301. H. Springer, Das altprovenzalische Klagelied mit Berücksichtigung der verwandten Literaturen, Berlin 1895 (Berliner Beitrage zur germanischen und romanischen Philologie 2).

XXIV BERTRAN DE BORN

No puosc mudar un chantar non esparja

P.-C. 80,29; Sirventes (Genauer: Sirventes-Kanzone auf Grund der Liebesthematik in der 5. Strophe). Ed. C. Appel, Die Lieder Bertrans von Born, Halle 1932 (Sammlung romanischer Übungstexte 19/20), S. 72 ff. ; Razo: Ed. J. Boutière / A.-H. Schutz, Biographies des troubadours. Textes provençaux des XIII' et XIV' siècles, Paris 1964 (Les classiques d’oc 1), S. 132.

Frank I: 879,3

alO' blO clO dlO' elO flO glO hlO' 5 coblas unissonans + 2 tornadas (je 2 w.)

Eines der typischen Kriegssirventese Bertrans de Born, von Dante in De vulgari eloquentia 11,2 zitiert, anläßlich des Kriegs zwischen Richard Löwenherz und König PhilippeAuguste von Frankreich im Mai/Juni 1188 entstanden. Bert-

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Kommentar

ran übernimmt für dieses in der 5. Strophe in die Liebesthe­ matik einmündende politische Sirventes die metrische Form und alle Reime von einer bekannten, von Dante in De vulgari eloquentia 11,13 zitierten Liebeskanzone von Arnaut Daniel (P.-C. 29,17) - die Übernahme der metrischen Form und Melodie (einschließlich Reime) von einer schon beste­ henden, bekannten und weit verbreiteten Kanzone ist beim Sirventes zur Zeit Bertrans de Born allgemein üblich gewor­ den (Funktion vor allem: dem neuen Text und seiner Aus­ sage eine möglichst große Verbreitung sichern). Interessant in diesem Fall ist, daß Arnauts Kanzone 6 Strophen zählt, Bertran sein Sirventes dagegen nach der 5. Strophe abbricht - mit der selbstironischen Begründung (2. Tornada), er finde keine Reimwörter auf die schwierigen >rimas caras< (= sel­ tene Reime) ombra, om und esta mehr. Wie dieses Kriegssirventes zeigt, stehen politische Propaganda und Agitation im Vordergrund; insbesondere der Aufruf, das Anstacheln der mächtigen Herren zum Krieg ist Ziel der politischen Sirventese dieses Dichters, der als relativ unbedeutender Vasall aus Aquitanien ein Leben lang um den Besitz seines einzigen Schlosses Autafort zu kämpfen hatte. In großem Maß dient auch seine Dichtung diesem wechselvollen Kampf mit wech­ selnden Verbündeten, wobei er, dessen Parteilichkeit bezüg­ lich der zeitgenössischen kriegerischen Auseinandersetzun­ gen fast stets unverhüllt ist, trotz des häufigen (opportunisti­ schen) Wechsels von Gegner und Freund immer nur eine Partei, seine eigene, ergreift. Wer sich den materiellen Inter­ essen des Trobadors entgegenstellt oder auch ihm die Hilfe zur Erreichung dieses Ziels verweigert, wird zur Zielscheibe seines Sirventes; von wem er sich aber auf Grund der klug eingeschätzten und stets wechselnd .. i politischen Lage Hilfe und Beistand erhofft, den preist und verherrlicht er in seinen Liedern als Inkarnation der höfisch-ritterlichen Tugenden bzw. ruft ihn zum politisch-kriegerischen Handeln auf, wenn er selbst sich einen Vorteil davon verspricht. Auf je­ den Fall aber: »Ein großer Krieg macht aus einem geizigen

No puosc mudar un chantar non esparja

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Herrn einen freigebigen«; Bertran de Born ist - wie jeder niedere oder verarmte Ritter - auf die Hilfe der Großen angewiesen, jener von ihm immer wieder - ähnlich wie von den Dichtern der zweiten Trobadorgeneration (Marcabru vor allem) - gerügten, aber auch unterwürfig angerufenen, getadelten und verhöhnten (vgl. Str. IV), aber auch gepriese­ nen ries omes: sie sollen zur Freigebigkeit ermahnt bzw. zum Krieg aufgerufen werden, der den Hochadel wie in den alten Zeiten der »chanson de geste« zur larguetat (Freigebigkeit) geradezu zwingen muß. Deshalb die Verherrlichung des Kriegs als Gelegenheit für alle, die von Bertrans Standpunkt aus höfischen Tugenden zu entfalten und weiterzuentwikkeln. Von einem großen direkten politischen Einfluß, wie man ihn seit den vielen Razos zu Bertrans Sirventesen eben diesen Liedern seit jeher bis weit nach der Romantik zuschrieb, kann natürlich keine Rede sein. Kein Kriegssirventes von Bertran de Born dürfte ein geschichtliches Ereig­ nis in Südfrankreich in den letzten beiden Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts unmittelbar beeinflußt haben. Falsch dürfte aber auch sein, von einer völligen Wirkungslosigkeit des Bertranschen Sirventes zu sprechen, das durch Jongleurs (Papiol) weit verbreitet worden ist und ohne Zweifel ein wichtiges indirektes Kampfmittel in den weitreichenden politisch-kriegerischen Auseinandersetzungen der Zeit dar­ stellte. Die angebliche Rolle des Trobadors in den für die Geschichte Südfrankreichs so entscheidenden Familienzwi­ stigkeiten der Plantagenet gehört selbstverständlich der Legende an. Auf ihr fußt Dante, wenn er in Inferno XXVIII,113-142 im vorletzten Höllenkreis unter den Betrügern, genauer denen, die unter den Menschen betrüge­ rische Zwietracht stifteten, Bertran de Born wandeln läßt, der seinen Kopf an den Haaren wie eine Leuchte trägt, als »seminator di scandalo e di scisma«, als Zwietrachtstifter zwischen Vater und Sohn, als böser Ratgeber des Sohns von Heinrich II. von England. Auf jeden Fall wird in dem ausgewählten Lied auch die etwas zwielichtige Haltung von

292

Kommentar

Richard Löwenherz aus der Perspektive des kommentieren­ den Bertran spürbar: denn es ist bekannt, daß Richard eine Doppelrolle spielte, daß er einerseits nicht auf der Seite des französischen Königs stand, sich andererseits aber die Nach­ folge seines Vaters sichern wollte und dabei wieder die Unterstützung von Philippe-Auguste gegen Heinrich II. brauchte und suchte. Schließlich ging - was Bertran noch nicht wissen kann - Richard offen zu Philippe-Auguste über, und Heinrich wurde zu einem schmählichen Vertrag gezwungen, in dem er sich den Forderungen Richards und des französischen Königs unterwerfen mußte. - Die Analo­ gie zwischen der grausamen, keine Rechte anerkennenden und Versprechen nicht einhaltenden, dem Dichter nicht helfenden Dame (Str. V) und dem falschspielenden Oc-e-No ist symptomatisch. Ausgewählte Bibliographie K. W. Klein, The Partisan voice: a study of the political lyric in France and Germany. 1180-1230, Den Haag / Paris 1971, S. 127 bis 152. G. de Poerck, »Bertran de Born: Non puosc mudar«, in: Romanica Gandensia 7 (1959) S. 49-63. [Kommentierte Edition] D. Rieger, Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobadorlyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Sirventes, Tübin­ gen 1976 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 148), S. 180-184.

XXV BERTRAN DE BORN

Be'm platz lo gais temps de pascor P.-C. 80,8a; Sirventes (Nähe zum >PlazerPlazer< entwickelt - parallel dazu das >EnuegEnuegtrobairitz> - Christine de Pizan«, in: R. Baader / D. Fricke (Hrsg.), Die französische Autorin. Einzeldarstellungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1979. O. Schultz, Die provenzalischen Dichterinnen, Leipzig 1888. J. Véran, Les poétesses provençales du moyen âge et de nos jours, Paris 1946.

298

Kommentar XXVII RAIMBAUT DE VAQUEIRAS

Kalenda maia

P.-C. 392,9; Estampida (Tanzlied).

Ed. J. Linskill, The poems of the troubadour Raimbaut de Vaqueiras, Den Haag 1964, S. 184 ff.; die Versanordnung nach Gwynn S. McPeek, »Kalenda maia: a study in form«, in: Medieval Studies in honor of Robert White Linker, Castalia 1973, S. 141-154; Razo: Ed. J. Boutière / A.-H. Schutz, Biographies des troubadours. Textes provençaux des XIII' et XIV' siècles, Paris 1964 (Les classiques d’oc 1), S. 465 ff. [viele Italianismen], Frank I: 88,1

a4' a4' b4 a4' a4' a4' b4 a4' b4 a4' b4 a4' a2' [a2' c2 a4' a2' a2' c2 a4' 6 coblas singulars

Melodie: Gennrich III, S. 100, Nr. 98.

Dieses berühmte Lied Raimbauts de Vaqueiras (Ende des 12. Jahrhunderts) ist die älteste der insgesamt 6 Estampidas der Trobadorlyrik. Die Gattung, die eine wesentlich musikali­ sche ist, bei der der Text ursprünglich überhaupt keine oder nur eine sekundäre Rolle spielt, dürfte - wie auch die interessante Razo zeigt - aus Frankreich stammen (ähnlich wie die sich von der Estampida vor allem durch den Refrain unterscheidende Retroencha) und volkstümlichen Ur­ sprungs sein, wenn sie auch formal von der lateinischen Sequenz abzuleiten ist (H. Spanke). Die 19 überlieferten altfranzösischen Estampies stammen alle aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts, zeichnen sich aber im allgemeinen - von den charakteristischen Kurzversen abgesehen - durch die unterschiedliche metrische Struktur der einzelnen Strophen aus, während Raimbauts Lied Isometrie aufweist. Eigen­ tümlich ist im Fall von Raimbauts Estampida, die inhaltlich

Mout es bona terr’Espanha

299

völlig kanzonenhaft ist (vgl. vor allem auch das in der Razo episch ausgeführte Motiv der lauzengiers), daß zu ihr eine erhaltene Melodie - im übrigen eine der schönsten Trobadormelodien überhaupt - vorliegt und daß diese fast iden­ tisch mit einer altfranzösischen Estampie-Melodie ist (Inc. Souvent sospire); an die Wahrheit des in der Razo Erzählten zu glauben, lag deshalb nahe. Jedenfalls vertritt ein großer Teil der Musikologen (F. Gennrich) die Auffassung, daß Raimbauts Melodie auf derjenigen der Estampie basiert, während eine Minderheit die gegenteilige Meinung vertritt. Die Struktur der überlieferten Melodie zu Raimbauts Estampida ist die folgende: 1. musikalischer Satz: vv. 1-3 -wiederholt in vv. 4—6 2. musikalischer Satz: v. 7 -wiederholt in v. 8 3. musikalischer Satz: vv. 9-10 -wiederholt in vv. 11-12 Ausgewählte Bibliographie F. Gennrich, »Die Deutungen der Rhythmik der >Kalenda-mayaersten< Trobador belegt ist. Wie fast jedes Partimen, so macht auch das von Savaric initiierte Torneyamen trotz seiner humori­ stischen Akzente deutlich, daß das liebeskasuistische Streit­ gedicht der Trobadors mehr als »bloße Unterhaltungskunst einer höfischen Festgemeinschaft« bzw. als ein pures »Spiel in seiner vom Ernst freien Beweglichkeit« (S. Neumeister) ist, sondern daß auch hinter der scheinbar belanglosesten Frage das Bestreben steht, durch Setzen von These (Sic) und Antithese (Non) das Wahre vom Falschen zu scheiden, eine Synthese anzuvisieren, die als eine ideale außerhalb des Einzellieds liegt. Ausgewählte Bibliographie A. Jeanroy, »La tenson provençale«, in: Annales du Midi 2 (1890) S. 281-304, 441-462. D. J. Jones, La tenson provençale. Etude d‘un genre poétique, Paris 1935. H. Knobloch, Die Streitgedichte im Provenzalischen und Altfranzö­ sischen, Diss. Breslau 1886. E. Köhler, »Zur Geschichte des altprovenzalischen Streitgedichts«, zuletzt in: E. K., Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze

zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 15), S. 153 bis 192. E. Köhler, »Der Frauendienst der Trobadors, dargestellt an ihren Streitgedichten«, zuletzt in: E. K., Trobadorlyrik und höfischer Roman, S. 89-113.

304

Kommentar

S. Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen, München 1969 (Beihefte zu Poetica 5). L. Selbach, Das Streitgedicht in der altprovenzalischen Lyrik und

sein Verhältnis zu ähnlichen Dichtungen anderer Literaturen, Marburg 1886 (Ausgaben und Abhandlungen 57). R. Zenker, Die provenzalische Tenzone. Eine literarhistorische Abhandlung, Leipzig 1888.

XXX GAVAUDAN

Dezamparat2, ses companho P.-C. 174,4; Pastourelle.

Ed. A. Jeanroy, »Poésies dy troubadour Gavaudan«, in: Romania 34 (1905) S. 497-539 (S. 510 ff.). Frank I: 433,1

a8 b8 a8 b8 c8 d8 e8 e8 c8 8 cobias unissonans + 2 tornadas (je 3 vv.)

L’autre dia, per un mati

P.-C. 174,6; Pastourelle. Ed. A. Jeanroy, »Poésies du troubadour Gavaudan«, S. 519 ff. Frank I: 421,29

a8 b8 a8 b8 c8 d7' d7' c8 6 coblas unissonans + 1 tornada (4 vv.)

Es ist klar, daß die beiden Pastourellen des Trobadors Gavaudan (Ende des 12. bzw. Beginn des 13. Jahrhunderts), dessen Abhängigkeit in formaler, stilistischer und themati­ scher Hinsicht von Marcabru vor allem in seinen übrigen

Dezamparatz, ses companho

305

Liedern zum Ausdruck gelangt, eigentlich zusammengehö­ ren - quasi als Vorform des von Cerveri de Girona (2 Pastourellen) und Guiraut Riquier (6 Pastourellen) gegen Ende des 13. Jahrhunderts gepflegten Pastourellenzyklus. Denn es handelt sich in L’autre dia - wie die beiden ersten Strophen klar machen - um dieselbe Hirtin wie in Dezampa­ ratz. Dabei ist festzustellen, daß in der ersten Pastourelle im Unterschied zum klassischen Pastourellentyp - der Ritter nicht eine naive Hirtin übertölpelt, verführt oder - auch das gibt es - mit Gewalt gefügig macht, sondern er überzeugt sie, erwirbt die Liebe eines geistig ebenbürtigen Mädchens, das er nur am Anfang mit toza, dann aber immer (auch im 2. Lied) mit amiga apostrophiert. Vom aristokratischen Charakter der Gattung, der sozialen Distanzierung von der vilana ist nicht mehr viel zu spüren - im 2. Lied überhaupt nichts mehr. Der Ritter hält im 1. Lied bis zum Schluß geradezu einen höfischen Werbungsstil der Hirtin gegen­ über durch: die toza wird zur gleichberechtigten Gesprächs­ partnerin erhoben. Sie soll und wird dem von der (höfi­ schen) Liebe Verlassenen den verlorenen joy zurückgeben. Darum wirbt der Ritter und tut dies wie in einer Kanzone, auch mit den dort üblichen Unterwerfungsformeln. Die Realisierung dieses joy, der auf Reziprozität und Aufhebung der ständischen Unterschiede basiert, geschieht abseits von der Welt der Gesellschaft, fern von ihren Gesetzen, in der Pastourellenfiktion; in der höfischen Realität ist sie nicht möglich, sondern nur im Freiraum der Bukolik, Arkadiens, in den der Ritter - nach abermals enttäuschenden Erfahrun­ gen in der höfischen Welt - im 2. Lied zurückkehrt. Die Liebe der Hirtin ist unverändert: die Liebe der Hirtin ver­ mag zu halten, was der höfische Minnedienst nur verspricht. Die amistat von Gavaudans Pastourellen, die keine Sündhaf­ tigkeit und kein Sündenbewußtsein kennt, bringt so die hohe und die niedere Minne zu einem harmonischen Aus­ gleich; sie ermöglicht den joy de cambra (Hof) en pastori (Arkadien), der auf enger Vertrautheit und Rücksicht-

306

Kommentar

nähme, vorbehaltloser Hingabe und gegenseitiger Anerken­ nung basiert und körperliche wie seelische Lust beinhaltet alles unter der Voraussetzung, daß es sich um den aus freien Stücken vereinigten joy zweier autonomer Wesen handelt.

Ausgewählte Bibliographie E. Köhler, »Die Pastourellen des Trobadors Gavaudan«, in: Germa­ nisch-Romanische Monatsschrift N. F. 14 (1964) S. 337-349. A. Del Monte, Studi Sulla poesia ermetica medievale, Neapel 1953, S. 97-112.

XXXI ELIAS DE BARJOLS

Sil belha'm tengues per sieu P.-C. 132,12; Descort.

Ed. St. Stronski, Le troubadour Elias de Barjols, Toulouse 1906 (Bibliothèque Méridionale, P" série, t. X), S. 8 ff. Frank I: S. 184 f. (Descorts nr. 5) Str. I: a7 b5' a7 b5' a7 b5' a7 b5' (Reime: ieu, ira) Str. II: 3.7 b5' a7 b5' a7 b5' a7 b5' (Reime: i, ansa) Str. III: a6' b6' a6' b6' a6' b6' a6' b6' (Reime: aya, aire) Str. IV: a6' a6' a6' a6' (Reim: aire) Str. V: a4 a4 a4 b4 a4 a4 a4 b4 a4 a4 b8 a4 a4 b8 (Reime: ai, e) Str. VI: a8 a8 a8 a8 a8 a8 (Reim: e) Dieser Eleonore von Aragon, Tochter von König Alfons II. von Aragon und Ehefrau des Grafen Raimon de Toulouse, gewidmete Descort aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts ist eines von insgesamt 30 erhaltenen Beispielen dieser Gattung, die sich - im Unterschied zur Kanzone und den von ihr formal abhängigen übrigen lyrischen Gattungen - durch konsequente Heterometrie der Strophen auszeichnet, was

Sri belha m tengues per sieu

307

natürlich auch bedeutet, daß jede Strophe eines Descort auf eine andere Melodie gesungen wird. Die Unterschiede zum lyrischen Lai, der vor allem in Nordfrankreich gepflegt wurde (es sind nur drei altprovenzalische Lais überliefert), sind vor allem: die erste und die letzte Strophe des Lai sind in ihrer metrischen und musikalischen Struktur identisch, wäh­ rend beim Descort die Tendenz zur Tornada- auch formal in Analogie zur Kanzonentornada (d. h. mit der metrischen Struktur der letzten Verse der letzten Strophe) - zu beobach­ ten ist; im Lai wechseln die Reime häufiger als im Descort; im Descort ist im allgemeinen die Stropheneinteilung klarer. Wie die Kanzone bedarf der Descort, der sich von der lateinischen Sequenz herleiten läßt, stets einer neuen Melodie, die in Kontrafakturen mit neuen Texten unterlegt werden kann. In vier Fällen ist die Descort-Melodie überliefert. Der Gat­ tungsterminus (>DissonanzDissonanz< zwischen dem höfischen Liebhaber und seiner Dame - im Unterschied zum acort in der Kanzone: »Descort, as opposed to acort, descri­ bes the remoteness from the relative and precarious >peace< of the loving poet, who can be sure at least of hope, if not of fulfillment. [...] The descort almost suspends the process that leads from hope, postponed again and again, to total resignation - a process that remains in the self-tormenting and yet sweet sadness of frustrated yearning and confers distinc­ tion by the readiness to suffer the torture of a permanent death of love. The descort isolates, cultivates, and neutralizes the masochistic aspect of courtly love« (E. Kohler). Unter­ strichen werden die formalen und inhaltlichen Dissonanzen aber noch durch die Dissonanz zwischen der - wie von den Dichtern selbst oft betont wird - fröhlich-beschwingten Melodie einerseits und den Worten andererseits.

308

Kommentar

Ausgewählte Bibliographie C. Appel, »Vom Descort«, in: Zeitschrift für Romanische Philologie 11 (1887) S. 212-230. R. Baum, »Le descort ou l’anti-chanson«, in: Mélanges de philologie romane dédiés à la mémoire de J. Boutière, Bd. 1, Lüttich 1971, S. 75-98. E. Köhler, »Deliberations on a Theory of the Genre of the Old Provençal Descort«, in: Italian Literature. Roots and Branches. Essays in honor of Th. G. Bergin, New Haven / London 1976, S. 1-13. J. Maillard, »Problèmes musicaux et littéraires du descort«, in:

Mélanges de linguistique et de littérature romanes à la mémoire d’I. Frank, Saarbrücken 1957, S. 388-409. J. Maillard, Evolution et esthétique du lai lyrique des origines à la fin du XIV' siècle, Paris 1963.

XXXII GUILLEM DE MONTANHAGOL

Non an tan dig li primier trobador P.-C. 225,7; Kanzone. Ed. P. T. Ricketts, Les poésies de Guilhem de Montanhagol, troubadour provençal du XIII' siècle, Toronto 1964, S. 84 ff.

alO a4 b6 alO a4 b6 clO' dlO dlO clO' 6 cobias unissonans + 1 tornada (4 vv.) (Frank teilt den ersten Vers jeder Strophe in a4 b6, wobei der a-Reim jeweils -an ist. Der erste Vers von Str. I müßte dann lauten: Non an dig tan I li primier trobador.) Frank I: 675,1

Eines der 14 Lieder, die von diesem Trobador aus der Mitte des 13. Jahrhunderts überliefert sind. Der Verweis Guillems auf die alten Zeiten trägt jetzt - zur Zeit der vom Trobador in anderen Liedern kommentierten Ereignisse der Albigen-

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serkriege - bereits nostalgische Züge. Wenn er auch in den Concetti der traditionellen Liebestheorie seiner Vorgänger verhaftet bleibt, so weisen z. B. die w. 27-30 ohne Zweifel in die Richtung der »donna angelicata« der Stilnovisten. Interessant sind die Ausführungen über die dichterische Originalität, mit denen der Trobador sein Lied beginnt, eine Originalitätskonzeption, die er in den folgenden Strophen in die Praxis umzusetzen versucht - so etwa, wenn er von der Dame sagt, sie habe die Blume (d. h. den Preis) der Schön­ heit, die geboren wird, statt des »üblichem Vergleichs: sie hat die Schönheit einer Blume, die sich entfaltet; symptomatisch ist dabei, daß Ricketts die w. 25-26 falsch, aber am »übli­ chen« Vergleich orientiert mit »a la beaute de la fleur qui s’ouvre« übersetzt. Es ist möglich, daß in v. 48 mit assais auf den von Guillem demnach verurteilten Brauch der »Liebes­ probe« angespielt wird, die von R. Nelli (L’erotique des troubadours, S. 202-209) beschrieben und belegt wird (keu­ scher Beischlaf). Die Tornada verweist auf ein etymologisie­ rendes Spiel in einer anderen Kanzone des Dichters (P.-C. 225,9), wo es heißt: »N’Esclarmunda, vostre noms signifia / Que vos donatz clardat al mon per ver / Et etz monda.« (Dame Esclarmunda, Euer Name bedeutet, daß Ihr der Welt wahrhaftig Helligkeit gebt / und rein seid.); der Name Guia wird nach aprov. gui(d)a »Führung«, »Geleit« zu etymologi­ sieren sein.

Aufgewühlte Bibliographie L. T. Topsfield, »The theme of courtly love in the poems of Guilhem Montanhagol«, in: French Studies 11 (1957) S. 127-134.

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Kommentar

XXXIII PEIRE CARDENAL

Ab votz d’angel, lengu'esperta, non bleza P.-C. 335,1; Sirventes.

Ed. R. Lavaud, Poésies complètes du troubadour Peire Car­ denal (1180-1278), Toulouse 1957 (Bibliothèque Méridio­ nale, 2' série, t. XXXIV), S. 160 ff. Frank I: 335,1

alO' blO alO' blO c8' c8' dlO dlO 7 coblas unissonans

Dieses scharfe Rügelied gegen die Dominikaner stammt vom größten Vertreter des moralischen Sirventes im 13. Jahrhun­ dert - Peire Cardenal, der fast immer im Dienst der Grafen von Toulouse stand und während seiner extrem langen dichterischen Aktivität sein Sirventes - und auch die eher generell bleibende moralische Satire - letztlich als Propagan­ dawaffe für die Sache seiner Herren betrachtete, mit der er sich voll und ganz identifizierte. An Bitterkeit und Ironie, an Polemik und an persönlichem Engagement steht er Mar­ cabru nicht nach, ja seine direktere und schonungslosere Kritik, die jede Dunkelheit vermeidet und dennoch - für den Zeitgenossen - ironisch-anspielungsreich bleibt, macht im allgemeinen sein Sirventes noch schlagkräftiger, auch reali­ tätsbezogener, weniger in der Abstraktion des Allegorischen verbleibend, die Allegorie weitgehend durch einen ausge­ sprochenen Metaphernreichtum ersetzend. Dabei tritt die satirische Schärfe, mit der er die Korruption in der Welt, die Heuchelei, den Betrug, die Lüge, die Sünde, Mißstände in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens immer und immer wieder als strenger gesellschaftlicher Sittenrichter geißelt, in einen sein Werk determinierenden, eigenartigen Kontrast zu seinem tiefen Pessimismus, der - von den Entwicklungstendenzen der Zeit her begründet - auf das Ende der trobadoresken Dichtung überhaupt verweist. Im

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vorliegenden Sirventes wird der Antiklerikalismus von Peire Cardenal besonders deutlich, der als Hauptzielscheibe eben die Dominikaner hat. Er ist natürlich vor dem Hintergrund der politischen Zeitgeschichte, der Albigenserkriege vor allem, zu sehen; denn Peire Cardenal verteidigt in seinen Liedern die Ideologie der Unabhängigkeit der südfranzösi­ schen Herren vom französischen König, deshalb und weni­ ger aus Glaubensgründen die Albigenser und ihre bald ver­ lorene Sache; er wendet sich - und hier verbinden sich Religion und Politik wie in den Ereignissen selbst auch gegen die Helfershelfer des Königs, wozu vor allem die Dominikaner als Prediger und Hetzer gegen die albigensische Sache zählen (im Lied auch als Jakobiner bezeichnet so genannt, seit sie sich 1218 im Pilgerhospiz von St.Jacques-de-Compostelle in Paris niedergelassen haben). Interessant ist im übrigen das in der 3. Strophe offenbar enthaltene Lob der seit 1217 in Paris etablierten Franziska­ ner, das Peire Cardenal schon 1222 anklingen ließ. Das Lied selbst ist 1229 oder kurz danach verfaßt worden, da es in der 4. Strophe offenbar auf das in diesem Jahr in Toulouse errichtete Inquisitionsgericht Bezug nimmt, dessen Richter sehr häufig Dominikaner, dessen Angeklagte sehr häufig Waldenser waren. Was die in der letzten Strophe lächerlich gemachte Beginenbewegung betrifft, so kam diese gegen Ende des 12. Jahrhunderts auf im Kontext der sich am Ideal des apostolischen Lebens orientierenden Laienbewegung, nicht ohne Zusammenhang mit den häretischen Strömungen der Zeit, auch der Albigenser und Waldenser. Daß Peire Cardenal seinen Sarkasmus auch auf diese klosterähnlichen Frauengemeinschaften ausdehnte, zeigt deutlich, daß es ihm in seiner Polemik keineswegs um Unterstützung der Häre­ sie, sondern um Verteidigung der Orthodoxie einerseits (religiöse Ebene) und um die Unabhängigkeit des Midi andererseits (politische Ebene) geht.

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Kommentar

Ausgewählte Bibliographie J. Boutière, »Les poésies religieuses de Peire Cardenal«, in: Mélan­ ges d'études portugaises offerts à G. Le Gentil, Lissabon 1949, S. 87-130. L. Varga, »Peire Cardinal était-il hérétique?«, in: Revue de l’histoire des religions 117 (1938) S. 205-231. K. Vossler, Peire Cardinal, ein Satiriker aus dem Zeitalter der Alhigenserkriege, München 1916.

XXXIV CERVERI DE GIRONA

Gentils domna, venfaus humilitatz

P.-C. 434,7d; Cobla.

Ed. M. de Riquer, Los trovadores. Historia literariay textos, Bd. 3, Barcelona 1975, S. 1574 f. Frank 1:495,6

alO blO blO alO clO clO 1 cobla + 1 tornada (2 vv.)

Eine der vielen Coblas des katalanischen Trobadors aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, der ohne Zweifel - in inhaltlicher und formaler Hinsicht - als der vielseitigste Dichter provenzalischer Sprache des 13. Jahrhunderts bezeichnet werden kann. Eine große Zahl der über 100 erhaltenen Lieder dieses Trobadors, eines armen Krautjun­ kers, so auch diese Cobla, wird durch eine Handschrift überliefert, die unmittelbar auf Cerveri selbst zurückzuge­ hen scheint und die zu jedem Lied eine meist auch gattungs­ spezifizierende Überschrift enthält, wobei Cerveris Bemü­ hen zu beobachten ist, traditionelle Gattungen der Kunstly­ rik und der volkstümlichen Lyrik zu erneuern, aber auch nicht zuletzt auch terminologisch - zu differenzieren und zu systematisieren. Dies sind selbstverständlich Symptome der

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Spätzeit ebenso wie manche Lieder dieses Trobadors, in denen sich Humor und ausgesprochene formale Virtuosität mit manchmal geradezu infantil anmutenden Wort- und Buchstabenspielereien verbinden; so z. B. im Vers estrayn (P.-C. 434a,66), bei dem jede Silbe mit einer beliebigen, aber von Strophe zu Strophe wechselnden und sich am Vokal dieser Silbe ausrichtenden Buchstabenfolge durchsetzt wird, so daß z. B. der Anfang - Taflamart faflama hoflomom maflamal - nichts anderes als Tart fa hom mal (Schwerlich macht der Mensch Böses) heißt - wozu Cerveri im Vers breu (P.-C. 434a,68) selbst den Schlüssel liefert. Frei von diesen formalen - manchmal geradezu akrobatischen (wie z. B. ein Lied aus lauter Einsilber- und Zweisilberversen) - Kraftak­ ten ist die Cobla Gentils domna, die in der Handschrift mit folgender Überschrift versehen ist: La cobla d’En Cerveri que sa dona dix que no li daria un bays si son pare no la'n pregava. (Die Cobla von Herrn Cerveri, als seine Dame sagte, daß sie ihm keinen Kuß geben würde, wenn sein [?] Vater sie nicht darum bitten würde.) Ein Rollenlied also, bei dem allerdings nicht ganz klar ist, ob - der Bedeutung der Einzelcobla als dialogischer Gattung entsprechend - hier zwei Personen reden (Vater des arnic. Str. I; Vater der domna-, Tornada) oder nicht. Im übrigen hängt viel davon ab, ob man fila in v. 8 als >Tochter< oder als >Mädchen< deutet. Mit der Bedeutung >Mädchen< läßt sich - so K. Lewent - die gesamte Cobla als Rede des Vaters des amic deuten, mit der Bedeutung >Tochter< - so M. de Riquer - als Rede des Vaters der domna (son pare in der Überschrift heißt dann >ihr Vater