Der mittelalterliche Totentanz: Entstehung - Entwicklung - Bedeutung 9783412338398, 3412399744, 9783412399740


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Der mittelalterliche Totentanz: Entstehung - Entwicklung - Bedeutung
 9783412338398, 3412399744, 9783412399740

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HELLMUT ROSENFELD

DER M I T T E L A L T E R L I C H E

TOTENTANZ

BEIHEFTE ZUM ARCHIV

FÜR

KULTURGESCHICHTE

HERAUSGEGEBEN

HERBERT GRUNDMANN

VON

UND F R I T Z

HEFT 3

WAGNER

DER MITTELALTERLICHE TOTENTANZ ENTSTEHUNG - ENTWICKLUNG - BEDEUTUNG

VON

HELLMUT ROSENFELD

3. verbesserte und vermehrte Auflage

® 1974

BÖHLAU

VERLAG

KÖLN

WIEN

Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1954 by Böhlau-Verlag, Köln Druck: fotokop Wilhelm weihert kg, Darmstadt Printed in Germany ISBN 3 412 39974 4

V O R W O R T ZUR 1. A U F L A G E

Der Totentanz fand von jeher das Interesse sowohl der Sammler und Liebhaber alter Kunst wie der literarhistorischen und kunstgeschichtlichen Forschung. Die Literatur darüber ist fast unübersehbar; um ihre Erfassung und Ordnung bemüht sich die beigegebene Bibliographie. Je nach dem Standort des Forschers stehen bald die Totentanztexte, bald die Totentanzbilder im Vordergrund und bestimmen die Betrachtungen und Thesen. Das Wesen des Totentanzes wird sidi aber wohl nur ganz erfassen lassen, wenn man ihn nicht mit ästhetischen Maßstäben mißt und modernen Kunstkategorien eingliedert, sondern als komplexes Gebilde aus der mittelalterlichen Welt selbst zu begreifen sucht. Die Urform des Totentanzes ist, wie ich nachzuweisen suchte, der mittelalterliche Bilderbogen, eine meist zu wenig beachtete literarische Schicht, die aus dem spätmittelalterlichen Streben nach heilbringender Schau und Versinnlichung des subjektiven Erlebens erwuchs und weiteste Volkskreise erfaßte. Vor allem die Dominikaner und Franziskaner als Volksprediger bedienten sich dieser literarischen Kleinform. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß auch der Totentanz in diesen Kreisen erwuchs und von ihnen weitergetragen und weitergedichtet wurde. Iin Totentanz fand das religiöse Anliegen des Bußpredigers eine volksläufige, einprägsame Form, die alsbald aus der lateinischen Urform in die Landessprachen übertragen wurde und sich auf diese Weise über alle europäischen Länder verbreitete. Daß der erschütternde Eindruck des Schwarzen Todes den unmittelbaren Anlaß gab, deutsche Volksvorstellungen vom Tanz der unerlösten Armen Seelen zur Vision eines Totentanzes umzugestalten, hoffe ich ebenso erwiesen zu haben wie das Wachstum der Texte und Formen und ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander. Es geht hier also nicht darum, isolierte Denkmäler der Dichtung und Kunst zusammenzustellen, sondern Entwicklung, Wandlung und Verfall einer volksläufigen literarischen Gattung aufzuzeigen und die Bedingungen ihrer Wandlung zu ergründen. Der erarbeitete weit-

VI

Vorwort

verzweigte Stammbaum vermag nur ein unvollkommenes Bild der wirklichen Ausbreitung des Totentanzes zu geben. Die eingehende Interpretation der erhaltenen Texte versucht, nicht nur die äußeren Zusammenhänge festzustellen, sondern auch zu den inneren Beweggründen vorzustoßen. Dabei wird in der Geschichte der Totentänze nicht nur ein Stück Buch-, Literatur- und Kunstgeschichte, sondern zugleich auch ein Stück Kultur- und Seelengeschichte des ausgehenden Mittelalters sichtbar. Denn die Entwicklung des Totentanzes ist aufs engste verflochten mit den religiösen Anliegen der Zeit, mit Volksglauben, Volksmagie und seelischen Erschütterungen ebenso wie mit sozialen Bestrebungen und Erlebnissen. In dieser literarischen Kleinform spiegelt sich mehr noch als in den gleichzeitigen Individualdichtungen das Erleben und Ringen zweier Jahrhunderte, die in den verschiedenen Fassungen des Totentanzes Anfechtung und Trost fanden! Ich habe dem Problem der Vereinigung von Wortkunst und Bildkunst seit 25 J a h r e n mehrere Arbeiten gewidmet. Auch das vorliegende Buch ist aus solcher Betrachtungsweise erwachsen, und hat deshalb die oft nicht genügend beachteten äußerlichen Voraussetzungen gebührend in Rechnung gezogen und für die Entwicklungsgeschichte der Totentänze ausgewertet. Ziel blieb aber, zu den inneren Beweggründen vorzustoßen und den Totentanz in seiner Funktion und Bedeutung für den spätmittelalterlichen Menschen zu erfassen und damit aus seinen seelischen Untergründen zu verstehen und entsprechend zu werten. Die Ausarbeitung des Buches geschah in einer Zeit, die noch im Schatten von Tod und Not des vergangenen Krieges stand. Die zerstörten oder geschädigten Bibliotheken vermochten manche der benötigten Bücher überhaupt nicht zu beschaffen. Nicht immer ist also die erwünschte Literaturkenntnis erreicht; in anderen Fällen mußte ich mich auf Jahrzehnte alte Exzerpte verlassen. Der Stammbaum und der größte Teil der Abbildungen wurde vom Verfasser gezeichnet, der auch die Verantwortung für Anordnung und Druck der Abbildungen übernahm; zutage tretende Ungeschicklichkeiten möge man verzeihen. Erreicht wurde damit, daß durch erstmalige Abbildung oder Rekonstruktion oder' durch geeignete Bildausschnitte wenigstens die wichtigsten erörterten Probleme zu anschaulicher Darstellung kommen konnten. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich für Gewährung einer Druckbeihilfe zu danken, dem Herausgeber Prof. H. Grundmann für die Aufnahme in die Beihefte und für fördernde Kritik bei

VII

Vorwort der Drucklegung,

dem Verlag

für Eingehen

auf

meine

Wünsche.

Institute und G e l e h r t e aus aller W e l t h a b e n b e r e i t w i l l i g A u s k ü n f t e gegeben

und

das

beglückende

Gefühl

erweckt,

daß

Suchen

nach

W a h r h e i t ein übervölkisches B a n d bildet; s o w e i t möglich, ist in den Anmerkungen

ihrer H i l f e namentlich gedacht. M e i n Bruder,

Prof.

H a n s - F r i e d r i c h R o s e n f e l d ( G r e i f s w a l d ) , hat in unverrückbarer T r e u e mit wissenschaftlichen A u s k ü n f t e n u n d mit Beschaffung sonst unerreichbarer Literatur g e d i e n t u n d dadurch m i t g e h o l f e n , d a ß ich trotz schwerer beruflicher A r b e i t dieses v o r 20 J a h r e n konzipierte T h e m a nach U n t e r b r e c h u n g durch Krieg u n d G e f a n g e n s c h a f t w i e d e r a u f n e h m e n u n d v o l l e n d e n k o n n t e . M ö g e das Buch nun dazu beitragen, die mittelalterliche W e l t in ihren A n t r i e b e n , kulturellen L e i s t u n g e n und in ihrem W e r t recht v e r s t e h e n zu lernen!

VORWORT ZUR 3. AUFLAGE

Der rasche Absatz der 1. und 2. Auflage erweist, daß das Bemühen des Autors, den Totentanz aus der mittelalterlichen Geisteshaltung und den mittelalterlichen Publikationsmitteln zu verstehen, seine Entwicklung psychologisch zu deuten und die Einzeltexte aus der religiösen und sozialen Einzelsituation zu interpretieren, Anklang und Verständnis gefunden hat. Die These vom Ursprung des Totentanzes, den Gründen seiner Weiterentwicklung und vom Zusammenspiel der europäischen Völker dabei hat meist die Zustimmung der Fachleute des In- und Auslandes gefunden. Der Autor sieht deshalb keinen Grund, seine These zu ändern. Soweit Mißverständnisse bestanden oder neuere Forschungen Stellungnahme verlangten, gibt der Aufsatz „Der Totentanz als europäisches Phänomen" 1 Antwort. Er unterzieht einige Probleme einer nochmaligen Prüfung und kann auch darauf hinweisen, daß in Frankreich bereits im 15. Jahrhundert die deutsche Herkunft des Totentanzes betont wurde. Seitdem haben auch härteste Kritiker ihre Bedenken gegen meine These zurückgezogen. So kann die 3. Auflage berichtigt und besonders hinsichtlich der Bibliographie vermehrt, aber im wesentlichen unverändert hinausgehen, um sich neue Freunde zu erwerben und erneut zum Durchdenken der Probleme einzuladen.

1

Archiv für Kulturgeschichte 48 (Köln-Böhlau 1966) S. 5 4 - 8 3 .

INHALT Seite

Vorwort I. Der T o d in der christlichen Kunst 1.Die Überwindung des Todes in der christlichen Kunst . 2. Die Augenbinde des Todes und seine Gewalt 3. Der Schnitter Tod 4. Der Reiter Tod 5. Jäger Tod 6. Spielmann Tod 7. Totengräber Tod 8. Der Tod als Leiche 9. Tote als Abgesandte des Todes

V .

.

II. D i e mittelalterliche Bußliteratur und das Vado-mori-Gedidit III. D i e Idee des Totentanzes und seine älteste Form, der lateinische Totentanzbilderbogen l . D e r Volksglaube an die armen Seelen als Urgrund des Totentanzes 2. Die Perversität des Totenreigens als Idee des Totentanzes 3. Der Spruchbandtitel als literarische Form des Totentanzes . 4. Eigenart und Heimat der ältesten Totentanzdichtung und ihr Dichter, ein deutscher Dominikaner ura 1350 5. Die älteste Totentanzdichtung, ein lateinischer Bilderbogen 6. Der lateinische Totentanzdialog als zweite Stufe des Totentanzes IV. Die Entwicklung der ursprünglichen Totentanzdichtung in Oberdeutschland 1. Wandel der Totentanzidee im Rahmen der Todesikonographie und Kulturgeschichte 2. Der Würzburger Totentanz als älteste deutsche Totentanzdichtung 3. Die Baseler Totentänze als Dokumente spätmittelalterlicher Stadtkultur

] 4 6 10 14 16 18 23 25 29 32

44 50 52 56 66 72

80 89 103

V. Der französische Totentanz, seine Quellen und seine Auswirkung 1.Le Fevre als Verfasser der Danse de macabre 118 2. Le Fevre's Danse de macabre und der lateinische Totentanztext 125 3. Entwicklungsmomente in Le Fevre's Danse de macabre . .135 4. Die Pariser Danse macabre von 1425 und die französischen Totentanzbilderbogen 141

IX

Inhalt 5. Die Wirkung der Danse de macabri und der spanische Toten tanz 6. Die Danse de macabri und der englische und italienische Totentanz V I . V e r b r e i t u n g u n d E n t w i c k l u n g des T o t e n t a n z e s in N i e d e r deutsdiland 1. Der Lübecker Totentanz, seine Beziehung zur Danse de macabri und seine bürgerlich-dramatische Haltung 2. Kleinbürgerlichkeit und franziskanische Frömmigkeit im Hamburg-Berliner Totentanz 3. Niederdeutsche Totentanzbilderbogen und Totentanzbücher V I I . D i e mitteldeutschen T o t e n t ä n z e im K r a f t f e l d zwisdien W e s t u n d Ost 1.Der mittelrheinische Totentanz als Ausdruck rheinischer Stadtkultur und franziskanischer Frömmigkeit 2. Der nordböhmische Totentanzbilderbogen als ostländisdies Verlagsobjekt und Dokument volkstümlicher Frömmigkeit . . V I I I . D e r T o t e n t a n z a n der S d i w e l l e der R e n a i s s a n c e u n d der kultische G e h a l t d e s T o t e n t a n z e s 1. Der Berner Totentanz, sein Verhältnis zum Baseler und mittelrheinischen Totentanz und seine Stellung zwisdien Mittelalter und Reformation 2. Holbeins Auflösung des Totentanzes aus dem Geiste der Renaissance 3. Der alte Totentanz als magisch-kultische Dichtung und der Grund seines Absterbens I X . Erkenntnisse und Ergebnisse Stammbaum

155 169

ISO 204 214

230 255

263 283 293 301

der T o t e n t ä n z e

307

Anhang: Quellentexte 1.Der Würzburger Totentanztext (ca. 1350) 308 la. Zusätze zum Würzburger Text im Cgm 2927 (M 3 ) .319 Ib. Zusatz zum Würzburger Text im Heidelberger Blockbuch von 1465 320 2. Der lateinische Würzburger Totentanztext 320 3. Die Vado-mori-Elegie 323 4. Westfälischer Totentanzbilderbogen 327 5. Papst und Kaiser in den einzelnen Totentanztexten 32S 6. Der Oberysselsche Totentanz und seine mittelrheinisdie Vorlage 335 B i b l i o g r a p h i e : T o d u n d T o t e n t a n z in Dichtung u n d K u n s t .

.

337

N a c h t r ä g e zur B i b l i o g r a p h i e

364

N a m e n - u n d Sachregister

373

Quellennachweise der Abbildungen

379

B i l d a n h a n g : 40 A b b i l d u n g e n auf 12 T a f e l n .

I DER TOD IN DER CHRISTLICHEN KUNST Vor jedem Menschen steht der T o d wie ein großer dunkler T o r bogen: drohend und furchterregend dem einen, mahnend

anderen

oder auch lockend

Trübsal,

oder

als

willkommener

Ausweg

aus

Angst und Leid. In der Haltung gegenüber dem T o d scheiden sich die Charaktere in ihrer Härte oder Weichheit, in ihrer Echtheit oder Theatralik,

in

ihrer T i e f e

oder Seichtheit.

Angesichts

des

Todes

brechen alle Illusionen haltlos zusammen, und der Mensch steht in seiner Kleinheit und Nacktheit vor der Allgewalt von Vernichtung und Untergang. Weltangst und Verzweiflung brechen hervor, mit einer Lebensgier ohne gleichen klammert sich der Mensch an sein armes kleines Leben, oder er wirft es verachtungsvoll dahin wie eine allzuschwere Last, trotjig und aufbegehrend. Aber anderen wiederum läßt Wissen um Leid und T o d die ganze T i e f e der Seele aufquellen, und unter ihrem Druck findet

oftmals die Dichtung die

tiefsten

Klänge. In der Haltung zum T o d scheiden sich aber auch Weltanschauungen und Religionen. Die Griechen der Blütezeit kannten wohl die Verstrickung von Sünde und Schuld, kannten die Tragik des Konfliktes von Gott und Welt, Religion und Staat, kannten die Gewalt der Liebe, die auch die Schranken des Todes aufstößt, wie jene Sage vom griechischen Sänger Orpheus zeigt, der seine Gattin Eurydike von den Toten zurückzuführen sucht. Aber dem furchtbaren Ernst des Todes wichen sie aus. Nur in den unteren Volksschichten hielt sich mit Zähigkeit die Vorstellung eines schreckhaften, lebensfeindlichen Dämons Thanatos, der gnadenlos seine Opfer abwürgt, und bisweilen schlägt eine W e l l e dieses Meeres von Todesfurcht auch bis in die führenden Sdiichten und in ihre Aufgeklärtheit und harmonische Abgeklärtheit hinüber. In Euripides' Alkestis meint man von fern das unruhige, von Bildern des Todesentsetzens heimgesuchte Herz klopfen zu hören, und es wird wie Befreiung von einem lähmenden Bann gewesen sein, wenn das Volk auf der Bühne den gefürchteten Dämon 1 R o s e n f e 1 d , Totentanz

2

I. Der Tod in der christlichen Kunst

von dem siegreichen Helden Herakles besiegt und geprellt sah 1 ). Aber sonst erscheint der Tod in der hohen Literatur des Griechentums und in der Hochkunst seiner adligen Schichten beschönigt und verharmlost. Er ist nach dem schönen Bild der Dichter und Künstler der Bruder des Schlafes, man spricht vom Auslösdien des Lebenslichtes, vom Abschied von den Freuden des Lebens. Als unmittelbarer Ausdruck dieses harmonisierenden Lebensgefühles ist uns die Statue des Eros von Centocelle erhalten: der Todesgenius als schöner nackter Jüngling mit melancholisch geneigtem Haupt. C. F. Meyer gab dieser schönen Gestalt mehr Innerlichkeit und Ernst, als ihr ursprünglich innewohnt, wenn er in barocker Dialektik die Statue in Frage und Antwort zu einem Symbol der Fragwürdigkeit des menschlichen Daseins reifen läßt. Eine Fackel trägst du, bist beschwingt? Bist du Amor, der die Herzen zwingt? Er senkt die Fackel, sie verloht: dieser schöne Jüngling ist der Tod!

In der Welt der ausgehenden Antike wächst mit dem Empfinden, in einer Zeit des Kulturzerfalls zu leben, das Gefühl für die Vergänglichkeit. In der stoischen Philosophie wird es ins Pessimistische gewandt und das Leben geradezu elend und widerwärtiger als der verhaßte Tod genannt. Die Überwindung der Eitelkeit der Welt wird in der philosophischen Bemühung gesucht, durch stetes Denken an den Tod das Sterben aus einem Zufall zu einem vernünftigen Akt zu machen 2 ). Ins andere Extrem verfällt der Hedonismus, der damals weite Kreise ergriff. Hier wird der Gedanke an den Tod zur Mahnung, sich um so rückhaltloser den Genüssen des Lebens hinzugeben, solange noch die Fackel des Lebens glüht. Bei Gastmählern wurden kleine bewegliche Totengerippe aus Metall vorgeführt oder herumgereicht, nicht um zur Todesbereitschaft und Buße zu mahnen, sondern um zu desto froherem Festjubel zu ermuntern 3 ). Nicht anders sind die antiken, mit Skeletten in bacchantischem Tanz verzierten Weinkrüge zu verstehen: als Aufforderung an die Zecher, sich ganz den Freuden der Tafel, dem Genuß des Weines und aller Genüsse des Lebens hinzugeben, solange der Leib noch nicht dem Tode preis1

K. H e i n e m a n n , Thanatos in Poesie und Kunst der Griechen, Diss. München 1913. — A. d e R i d d e r , De l'idée de la mort en Grèce à l'époque classique, Paris 1897. * E. B e n z , Das Todesproblem in der stoischen Philosophie, Stg. 1929. » F. P. W e b e r , Des Todes Bild, bearb. v. E. Holländer, Bln. 1923, S. 30 ff.

Antike und christliche Stellung zum Tode

3

gegeben ist. Der Hofdichter des römischen Kaisers Augustus, Horaz, gab in seiner Ode Aequarn memento diesem Gedanken in vollendeter Weise Ausdruck: Denn sterben mußt du, ob du nun dein Leben in steter Angst und Sorge hingebracht, ob dir beim Safte auserwählter Reben im grünen H a g der frohe T a g gelacht. Deshalb bestell dir Wein und duftge Rosen, solang die kurze Lebenszeit noch rinnt, solange Kraft und Jugend dich umkosen, die Parze dir den Lebensfaden spinnt.

Es Ist das genau derselbe Gedanke, der in dem deutschen Liede noch wie ein spätes Echo nachklingt: Freut euch des Lebens, solange noch das Lämpchen glüht, pflücket die Rose, eh sie verblüht!

In diese Welt, die angesichts des Auslösctoens des Lebens in ewige Nacht die Freuden des Lebens, den Genuß, Nervenki^el, Ruhm und äußere Ehren erstrebte und dem unerbittlichen Ernst des Todes aus dem Wege ging, brachte das Christentum einen neuen, tiefen Klang. Man kann Not und Elend der Welt vergessen, wenn man an vollen Tischen sitjt, aber verleugnen kann man sie nicht! Nur wer J a sagt zu den Schrecken des Todes und zu Elend und Leid, kann Tod und Leid überwinden. Das Christentum sieht hinter der glänzenden Fassade der Welt, hinter den Kulissen menschlicher Würde und Überheblichkeit die Dämonie des Bösen, die Macht der Sünde. Es sieht Elend, Leid und Tod als Strafe für die Abwendung des Menschen von seiner eigentlichen Bestimmung zum Guten, als Strafe für die Sonderung von Gottes Güte, sieht den Tod als „der Sünde Sold". Hinter dem leiblichen Tod, drohender, unheimlicher, vernichtender aber steht das ewige Gericht, die ewige Verdammnis der unvergänglichen Seele. Deshalb allein steht der leibliche Tod dem Christen so drohend, so voller Entsetzen und Schrecken vor Augen, weil er dem Menschen die Larve vom Gesicht reißt und die Kleider vom Leib, weil er ihn in seiner Kleinheit, in seiner Jämmerlichkeit und Sündhaftigkeit unmittelbar vor den gewaltigen, allwissenden und richtenden Gott stellt, vor dem es keine Ausreden und kein Entrinnen gibt. So sind Elend, Leid und Not nur Hinweise auf die Allgewalt des Todes und seiner Schrecken für alle sündhafte Kreatur. Aber wer sein gläubiges J a zu dieser Verdammung der menschlichen Sündhaftigkeit spricht, wer 1*

4

I. Der Tod in der christlichen Kunst

festen Glaubens die Erlösung von Sünde und Schuld und die Verheißung göttlicher Begnadigung annimmt, für den verlieren Not und Tod den Schrecken. Er weiß sich geborgen in der Hand seines Gottes, weiß sich geborgen im Schöße der göttlichen Barmherzigkeit. Das ist die neue ewige Wahrheit des Christentums, daß Not, Leid und Tod die Meilensteine auf dem Wege ins ewige Leben sind. Den frohen T a g des Lebens sieht der Christ überschattet von Sünde und Tod, und doch wird das Dunkel der Welt und des Todes erhellt und überstrahlt vom ewigen Licht göttlicher Gnade. Der Mensch ist ein Wanderer zwischen zwei Welten und steht im Zwielicht zwischen Tag und Nacht, zwischen Dunkelheit der Welt und ewigem Licht. Alles bekommt einen zwiefachen Sinn. Der Kreuzestod Christi, äußerlich ein Triumph des Hasses, der Sünde und des Todes, wird zum Triumph des Lebens und der Liebe über Sünde und Tod, so daß der Apostel Paulus jubeln kann „Der Tod ist verschlungen in den Sieg: Tod, wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?" (1. Kor. 15,55) Und dennoch ist die erlöste Welt noch eingebettet in Sünde und Schuld und dem Tod verfallen bis an das Ende der Tage. Vom Ende der Tage erst sagt die Verheißung (Offenbar. 21, 4): „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid und Geschrei noch Schmerz wird mehr sein."

1. D i e Ü b e r w i n d u n g d e s T o d e s i n d e r Kunst

christlichen

Wie für den christlichen Glauben der Tod das Kernproblem ist, die Angel, um die sich die Tür der Weltgeschichte dreht, so steht die Todessymbolik im Mittelpunkt der christlichen Kunst. Weil hinter dem körperlichen Schmerz des Sterbens das jüngste Gericht steht und die Seele mit göttlicher Gnade überströmt oder mit ewiger Verdammnis, dem zweiten, ewigen Tod bedroht, deshalb steht der Tod drohend vor dem Gewissen der sündigen Menschheit, drohend, weil er nicht das Ende ist, sondern der Eingang zu Verantwortung und Gericht. Aber dem Gläubigen, der sich der Erlösung und Gnade sicher weiß, bangt nicht vor der Stunde, die ihn der Ewigkeit näher bringt. Er sieht das Dunkel jenseits der sichtbaren Welt erhellt von der Gnadensonne Gottes, er sieht die Freiheit von Sünde und Schuld, die in dieser Welt der Schwachheit und Begrenztheit nur unvollkommen, nur in Stunden höchster Angespanntheit erreicht wird, in jener zukünftigen

D i e O b e r w i n d u n g des T o d e s in der Kunst

5

W e l t verwirklicht u n d verherrlicht. D e m T r i u m p h über S ü n d e u n d T o d gilt also ein gut Teil christlicher Todessymbolik. Sie jubelt ü b e r das Erlösungswerk, das die D ä m o n i e von T o d u n d Hölle bannte. Das christliche A l t e r t u m hat den Sieg des H e i l a n d s sich ganz realistisch als H ö l l e n f a h r t Christi ausgemalt. So schildert z. B. das a p o k r y p h e Evangelium Nicodemi, wie Christus A d a m und Eva, P a t r i a r c h e n u n d P r o p h e t e n aus der Macht der U n t e r w e l t b e f r e i t u n d den T e u f e l , den Fürsten des Todes, besiegt. In der Passio Bartolomaei w e r d e n der „ F r a u T o d " u n d d e m „ H e r r n T e u f e l " H ä n d e u n d Füße in f e u r i g e Ketten g e l e g t 4 ) ; so f ü h r t sie uns auch noch die Legenda aurea (1260) vor, u n d ähnliche Vorstellungen spiegeln die M a l e r u n d die mittelalterlichen Mysterienspiele wieder. W a s die Bilder von Christi H ö l l e n f a h r t in historischer Realistik wiederzugeben suchen, das f a ß t e die christliche Symbolik in e i n p r ä g same Sinnbilder. A u f frühchristlichen G r a b d e n k m ä l e r n t r i u m p h i e r t Christus über den H a d e s d r a c h e n u n d eine mit dem P f e i l gekennzeichnete Todesgestalt u n d kettet beide a n sein Kreuz. Das Missale des Bischofs von O x f o r d u n d ein L o n d o n e r Psalter des 11. J a h r h u n d e r t s stellen d e n T o d (Mors) in A n k n ü p f u n g a n antike D a r s t e l l u n g e n in s a t y r h a f t e r oder f u r i e n h a f t e r Gestalt dem Leben (Vita) g e g e n ü b e r 5 ) . Diesem H a n g der romanischen Epoche zu sinnbildlicher Symbolik entspricht noch besser das W o r m s e r Missale in Paris (11. J a h r h u n d e r t ) . Christus sitjt hier auf dem „ T h r o n des Höchsten" u n d setjt sein Kreuzszepter t r i u m p h i e r e n d auf die struppige Menschengestalt des Todes, der a n H ä n d e n u n d F ü ß e n gefesselt u n t e r seinen Füßen liegt 6 ). Ist diese D a r s t e l l u n g in i h r e m Sinn nur aus den beigegebenen Versen voll zu verstehen, so h a t das E v a n g e l i s t a r der U t a (1002) die E r lösungstatsache in ein großartiges, eindeutiges S y m b o l b i l d 7 ) v e r w a n delt, das die i n n e r e Dialektik der Erlösung wiedergibt: der T o d des Erlösers als Ü b e r w i n d u n g von T o d u n d S ü n d e u n d als G e b u r t des wirklichen Lebens, der Scheinsieg des J u d e n t u m s auf G o l g a t h a als G e b u r t der christlichen Kirche. D e r Gekreuzigte, zu dessen H ä u p t e n Sonne u n d M o n d sich verhüllen, ist noch nicht wie in der Gotik als 4

5

S t . K o z á k y , A n f ä n g e der D a r s t e l l u n g e n des Vergänglichkeitsproblems, (Bibliotheca H u m a n i t a t i s histórica 1) Budapest 1936, S. 139 ff. K o z á k y , a. a. O., T a f . 4, Abb. 3/4.

' K o z á k y , a. a. O., T a f . 4, Abb. 5. 7

A . B ö c k l e r , A b e n d l a n d . Miniaturen, Bln. 1930, Abb. 40; S t . B e i s s e l , Geschichte d. Evangelienbücher, Freib. 1906, Abb. 80.

6

I. Der Tod in der christlichen Kunst

der Leidende, sondern als der Triumphierende dargestellt. Unter den Kreuzarmen steht die siegreiche christliche Kirche (Ecclesia) der besiegten Judenheit (Synagoge) gegenüber, zu seinen Füßen steht das triumphierende Leben (Vita) und schaut gläubig empor, während der Tod (Mors) tödlich getroffen in die Knie sinkt. Der Tod ist hier als zerknirschte Männergestalt dargestellt, als Tod durch eine Sichel gekennzeichnet, als Besiegter aber durch einen Speer, dessen Spitje ihn selbst in die Schläfe trifft (Abb. 7). Überdies trägt er einen Knebel, eine Binde über dem Mund. Ist er hier doch als Folge der Sünde und damit gewissermaßen als Verkörperung der Gottferne, der schuldhaften sündigen Absonderung vom göttlichen Urgrund gesehen, und deshalb ist jene biblische Verheißung: „aller Bosheit wird der Mund gestopft werden" (Psalm 107,42) mit dem Knebel vor dem Munde der Todesgestalt in echt frühmittelalterlicher Naivität unmittelbar ins Bildliche umgesetzt- Dieser Darstellungstypus der Erlösungstatsache bleibt durch die Jahrhunderte konstant. Noch 1415 wird in einer bayrischen lateinischen Bibelhandschrift des Klosters Metten eine fast völlig mit dem Uta-Codex übereinstimmende Erlösungsminiatur gegeben 8 ), nur ist die Todesgestalt dem Brauch des 15. Jahrhunderts entsprechend jet}t als mumifizierter Leichnam wiedergegeben, der nur durch den zerbrochenen Speer als überwundener Tod gekennzeichnet ist (Abb. 8).

2. D i e A u g e n b i n d e d e s T o d e s u n d s e i n e G e w a l t Die Synagoge, die Verkörperung der Judenheit und des Alten Testamentes, ist auf dem Kreuzigungsbild des Uta-Codex (1002) und ebenso noch im Mettener Bibelcodex (1415) durch die wortgetreue Verbildlichung eines Bibelwortes als Verkörperung des Alten Testamentes gekennzeichnet: sie trägt in Anlehnung an 2. Kor. 3,13 ff. eine Binde, einen Schleier über den Augen. Moses hatte einst sein Antli$ mit einer Decke verhüllen müssen, da es vom Glänze Gottes widerstrahlte und das jüdische Volk erschreckte. Diese Decke, diesen Schleier, so meint der Apostel Paulus, habe die Judenheit über dem Alten Testament gelassen, obwohl Christus gekommen sei, den Schleier zu heben und den Glanz offenbar zu machen. So kennzeichnet die Augenbinde der Synagoge in der Darstellung der Kunst die Verstocktheit 8

P. W e b e r , Geistl. Schauspiel und kirchl. Kunst, Stg. 1904, S. 67 (Abb.).

Die Augenbinde der Synagoge und des Todes

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des Herzens, wie es 2. Kor. 3,14 ausdrücklich heißt, die Unbelehrbarkeit und Verstocktheit gegen Christi Heilslehre. Da kirchliche Spiele Ecclesia und Synagoga als Königinnen der Christenheit und der Judenheit im Streitgespräch auftreten ließen, ist die Zahl ihrer bildlichen Darstellung unabsehbar, besonders auch als Statue an den Portalen der großen Kathedralen und Dome Frankreichs und Deutschlands, und immer trägt die Synagoge eine Augenbinde zur Kennzeichnung ihrer Verstocktheit •). Zu den schönsten Darstellungen gehören die edlen Gestalten am Marienportal des Straßburger Münsters (13. Jahrhundert), die die Vorstellung der Synagoge als demütig gebeugter königlicher Jungfrau mit Augenbinde zu einem Gemeingut aller Kunstfreunde gemacht hat. Der große deutsche Scholastiker Albertus Magnus (t 1280) bezeichnete diese Art der Darstellung als eine Versinnbildlichung der audi in die Karfreitagsliturgie aufgenommenen Worte aus den Klageliedern Jeremias (.5,16-—17): „Die Krone unseres Hauptes ist abgefallen! Darum ist unser Herz betrübt und unsere Augen sind finster geworden." Aber die Augenbinde der Synagoge wurde sdion bald allgemeiner als Blindheit gegen Christus und Gottes Herrlichkeit oder schlechtweg als Blindheit überhaupt aufgefaßt, wie j a dann in den deutschen Mysterienspielen des 16. Jahrhunderts der Synagoge die Augenbinde erst am Schluß des Streitgespräches umgelegt wird mit der Begründung, sie sei mit sehenden Augen blind (so z. B. im Künzelauer Fronleichnamspiel und im Donaueschinger Passionsspiel). So konnte die Augenbinde, besonders in Frankreich, in den Niederlanden und in der von hier beeinflußten deutschen Kunst auf den Tod übertragen werden; kam doch der Tod wie im Uta-Codex so auch bei Endgerichtdarstellungen und auch an den Portalskulpturen der Kathedralen und Dome in der Nähe der Synagoge zur Darstellung. Die Todesgestalten an den Endgerichtsportalen der Kathedralen in Paris, Amiens und Reims (um 1230) tragen bereits die Augenbinde 10 ), und aus ihrer szenischen Umrahmung, die nicht die Niederlage des Todes durch Christi Erlösung, sondern das Gericht des Todes über die Menschheit im Namen Gottes ausmalt, wird deutlich, daß die Binde nicht mehr Verstocktheit • P . W e b e r , a. a. 0 . , S. 80 ff. — E. M â l e . L'art religieux, 1 (1912), fig. 127; 2 (1923), fig. 110 f. '»E. M â l e , a. a. O., 2, fig. 170/71; M. A u b e r t , Notre Dame de Paris, 1919, Taf. 44; W. M e d d i n g , Westportale v. Amiens, Augsb. 1930, Abb. 90; P. V i t r y , La cathédrale de Reims 1 (1919), fig. 77, 82.

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I. Der Tod in der christlichen Kunst

gegen Gott, sondern das blinde Walten des Todes ohne Ansehen der Person kennzeichnen soll. Denn für die sündige Menschheit ist j a durch die Erlösungstatsache die Macht des Todes über den Leib des Menschen nicht gebrochen. Ja, die tröstende Gewißheit der Erlösung von Sünde und Tod wird dadurch erst verinnerlicht und vertieft, daß jeder Mensch erst die Schrecken des Todes durchleben und durchleiden muß, ehe ihm das Tor des wahren Lebens aufgetan wird. So bleibt das Wissen um die Überwindung des Todes ein Trost des Glaubens, der doch das Beben aller Kreatur vor dem Auslöschen des Lebens nicht völlig zu bannen vermag. Eine Fabliaux-Handschrift des 13. Jahrhunderts zeigt den Tod mit verbundenen Augen am Todesbett eines Jünglings n ) (Abb. 5), das Missale von Amiens (1323) als reitenden Verfolger entsetjter Menschen (Abb. 2/3). Noch der Dichter des „Ackermann von Böhmen" (1400) schildert den Tod mit Augenbinde 12 ). Wenn die Augenbinde der Synagoge also zum Attribut des Todes wird, so wird damit das ursprüngliche Bild des Pauluswortes von der Verstocktheit der Juden gänzlich verschüttet, dafür aber ein sinnfälliges Bildsymbol gefunden, um die Unerbittlichkeit, die Wahllosigkeit des Todes in Kürze zu kennzeichnen, einen Schrecken, über den nur der Flügelschlag des Glaubens hinwegzutragen, über den nur der Blick auf das Kreuz des Erlösers hinwegzuhelfen vermag. Erst als der Schrecken des Todes, seine Unerbittlichkeit und Allgewalt im Totentanz ein sinnfälligeres und eindrücklicheres Bildsymbol gefunden hatte, verblaßt das Motiv der Augenbinde und diese kommt als Attribut des Todes in Vergessenheit. Bei der Spielkarte Karls VI. von 1392 ist die mißverstandene Augenbinde zu einem Stirnbande (Abb. 1) gemacht und im Lübecker Totentanz von 1463 (Abb. 21) ist sie zu einer Stirnschleife geworden! Gleichzeitig mit dem Verblassen des Motivs gegen Ende des 14. Jahrhunderts taucht die Augenbinde des Todes bei Darstellung anderer allegorischer Gestalten auf, bei Amor und Fortuna, später auch bei Justitia. Man hatte auch schon vorher die Unvernunft der Liebe und die Wahllosigkeit des Glückes dadurch hervorgehoben, daß man Amor und Fortuna für blind erklärte. Aber diese Blindheit ließ man bei den Abbildungen entweder außer Betracht oder bezeichnete sie durch ge11 I!

K o z a k y , a. a. 0 . , Taf. 7, Abb. 1. H . R o s e n f e l d , Das römische Bild des Todes im Ackermann, in: Zsdir. f. dt. Altert. 72 (1935), S. 241—47; ders., in: Studia Neophilologica 25 (1953), S. 91—93.

Die Augenbinde des Todes Sinnbild der Unerbittlichkeit

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sdilossene Augen oder durch Überschatten der Augen mittels einer großen Haube. Geg«n Ende des 14. Jahrhunderts wird das blinde Walten von Tod, Liebe und Glück parallel gesehen und einheitlich mit der Augenbinde des Todes gekennzeichnet. Dies fand den ersten uns faßbaren Niederschlag in der oberdeutschen Allegoriensammlung Cod. cas. 1404 aus dem Jahre 1402 13 ) und beherrscht das 15. Jahrhundert. Der Meister von 1464 gibt seiner Fortuna mit dem Glücksrad im Gegensat} zu seiner Madrider Vorlage, im Einklang aber mit einer verwandten Darstellung der Allegoriensammlung von 1402 eine Augenbinde 14 ), ebenso Marmion 1460 und ein flämischer BoetiusIllustrator des 15. Jahrhunderts 1 5 ). Ein Augsburger Bilderbogen aus Goethes Besitj bezeichnet 1475 Amors Blindheit mit der Augenbinde, nachdem schon Pierre Michault 1466 in seiner Danse aux aveugles den Triumph des Todes über Liebe und Glück geschildert und dabei Amor und Fortuna mit Augenbinde versehen hatte. Das 16. Jahrhundert hat dann die Augenbinde auch auf Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, übertragen: dies wird zum erstenmal in Jean Cousins Livre de Fortune 1568 für uns greifbar 1 '). Wenn somit Liebe, Glüdc und Gerechtigkeit in der Darstellung der Bildkunst mit der Augenbinde ein Attribut des Todes erhalten, leuditet damit nicht etwas von der Fragwürdigkeit unseres Daseins in unheimlichem Scheinwerferlicht auf? Ist es nidit wie eine Ausmalung jener tiefsinnigen Verse in Hartmann's v. Aue „Armen Heinrich" (v. 95 f.), daz wir in dem tode sweben, so wir allerbeste waenen leben? Ist es nicht wie eine Vorwegnahme jener dunkeltönenden Verse Rilkes: Der Tod ist groß. Wir sind die seinen lachenden Mundes. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. (Buch der Bilder II.) 13

F. S a x 1, Aller Tugenden und Laster Abbildung, in: Festschr. f. J. Schlosser, Zürich 1926, S. 104—21, bes. S. 105, 117. 14 M. L e h r s , Geschichte und krit. Katalog des Kupferstichkabinetts Wien 4 (1921), S. 125 ff. Nr. 87. 15 E. P. D u r r i e u , La miniature flamande, Brüssel 1921, pl. 59, 35; vgl. auch eine Augsburger Miniatur von 1461 bei F. B o l l , Neue Jahrb. 31, S. 219 u. Abb. 2, 3. 11 J e a n C o u s i n , Le livre de Fortune, hrsg. L. Laianne, Paris 1883, S. 13, 23, 33, 39, 65, 67, 81, 89 u. ö. — Amor (1475) vgl. W. L. S c h r e i b e r , Manuel de l'amateur de la gravure 6 (1893), pl. 18.

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I. Der Tod in der christlichen Kunst

3. D e r S c h n i t t e r

Tod

Das mittelalterliche Kirchenlied drückt diesen Gedanken schlichter und doch beinahe gleichlautend aus: Media vita in morte sumus: „Mitten wir im Leben sind vom Tod umfangen". Im Grunde ist dies das Anliegen aller christlichen Todessymbolik volksläufiger Art, eindrücklich daran zu erinnern, daß wir Kinder des frohen Tages doch „im Schatten des Todes" leben wie der Evangelist Lukas (1,79) sagt, und jederzeit bereit sein müssen, den letjten Schritt in das Dunkel zu tun. Dieser letjte Schritt ins Dunkel, er bleibt ein Sprung in den Abgrund, wenn der Glaube auch weiß, daß es der Abgrund der göttlichen Barmherzigkeit ist. „Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden" bittet schon der Psalmist (Psalm 90,12). Uns ist es die Bitte um Einsicht, daß der Tod eine Naturnotwendigkeit ist und ein Schritt auf dem Weg ins ewige Leben. In der Bibel kehrt der Vergleich des Menschen mit Gras, Blume und Korngarbe immer wieder, um die menschliche Hinfälligkeit und Vergänglichkeit, um die Kürze seines Lebens und die Naturnotwendigkeit seines Sterbens zu verdeutlichen (Jesajas 40,6; Psalm 102,12; Hiob 14,2; 1. Petr. 1,24; Jakobus 1,10). Dem frommen Dulder Hiob wird es verheißen: „Du wirst im Alter zu Grabe kommen, wie Garben eingeführt werden zu seiner Zeit" (Hiob 5,26), und Psalm 90,6 sagt von den Menschen: „Sie sind gleichwie ein Gras, das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt". So lag es nahe, das Bild der Todesengel des Endgerichts, wie sie der Apostel Johannes (Offenbar. 14,14—20) schaute, auf den zeitlosen Tod, der jedem begegnet, zu übertragen. „Schlag an mit deiner Sichel und ernte, denn die Zeit zu ernten ist gekommen", „Schlag an mit deiner scharfen Hippe und schneide die Trauben am Weinstode der Erde, denn seine Beeren sind reif!" so ruft die Engelsstimme den Todesengeln mit der Sichel und dem Winzermesser zu. Eis ist begreiflich, daß dieses naturverbundene Bild voll Anschaulichkeit und tieferer Bedeutung zum zeitlosen Sinnbild des Todes wird. Als Winzer tritt der Tod seltener auf, am eindrücklichsten in Conrad Ferdinand Meyers „Huttens letjte Tage", wo der sterbensmüde Hutten seinen eigenen Tod im Bilde der vollen Weintraube sieht, die die verdorrte Hand des Knochenmannes Tod mit dem Winzermesser schneidet. Aber das Sinnbild des Schnitters, der Greis, Blumen und Garben schneidet, wird im Einklang mit zahlreichen Bibelstellen zu einem der beliebtesten, unvergänglichsten und ungekünsteltsten Gleichnisse für den Tod. In

Der Tod als Schnitter mit Sichel, Hippe und Sense

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dem ergreifenden Streitgedicht zwischen dem „Adeermann aus Böhmen" und dem Tod, der ihm die Gattin entriß, läßt der Dichter Johann v. Tepl (1400) den Tod sich rühmen (Kap. 16, 4): Wir sein gotes hantgezeuge, herre Tot, ein rechte wurkender meder. Unser sengse hau get eben vur sich: Weiß, swarz, rot, braun, grün, blaw, graw, gel und allerlei glanzblumen unde gras hawet sie vur sich nider, ires glanzes, irer kraft, irer tugent nicht geachtet. So geneust der veiol nidit seiner schonen färbe, seines reichen ruodies, seiner wolsmeckenden safte. Sihe, das ist rechtfertigkeit "a!

Der Illustrator des Ackermanndrudces von 1461 hat diese Stelle vom Schnitter Tod eindrucksvoll illustriert (Abb. 10). Aber bereits die oben erwähnte Todesgestalt unter dem Kreuz im Uta-Codex (1002) trägt als eigentliches Todeskennzeichen eine Sichel (Abb. 7), und Cäsarius von Helsterbach berichtet (1220), daß auf Gemälden der Tod als Mann mit Sichel dargestellt zu werden pflege (Dialogus miraculorum II, 61). So malt ihn auch Giotto auf dem Keuschheitsbild zu Assisi (1330)"). Noch das schöne alte deutsche Volkslied weiß es nicht anders: Es ist ein Schnitter, der heißt Tod. Der hat Gewalt vom großen Gott. Bald wird er drein schneiden, wir müssen's nur leiden: Hut dich, schöns Blümelein! Viel hunderttausend ungezählt,

was unter seine Sichel fällt: rot Rosen, weiß Lilien, beid wird er austilgen und ihr Kaiserkronen, man wird euch nicht schonen: Hüt dich, feins Blümelein! 1 8

Geläufiger ist uns freilich statt der Sichel die Sense in den Händen des Todes. Bei Rüdegang des Waldes im Hochmittelalter begann man statt der Laubstreu die Halme als Stroh zu benutzen, die bisher auf dem Felde stehen blieben und zur Düngung des Bodens umgepflügt wurden. Jetjt brauchte man also statt der Sichel, mit der nur die Ähren abgeschnitten wurden, die Sense, um den ganzen Halm abzumähen. Die Sense, bis dahin nur das Werkzeug des Grasers, wurde nun zum kennzeichnendsten Attribut des Ernteschnitters und verdrängte die Sichel. Jetjt erst wird der Tod zum „Sensenmann", und im Schwung der Sense spiegelt sich noch eindrücklicher Schnelligkeit und Unerbittlichkeit des Todes wieder. Schon im Anfang des 14. Jahrhunderts "a Adeermann aus Böhmen, hrsg. L. L. Hammerich u. G. Jungbluth 1 (1951), S. 160 f. 17 L. B r é h i e r , L'art chrétien, Paris 1928, S. 342. 18 L. E r k - F . M. B ö h m e , Dt. Lierderhort 3 (1894), S. 849, Nr. 2152 (entstanden 1637?).

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I. Der Tod in der christlichen Kunst

stellt ihn eine Freske in der Burgkapelle von St. Kathrein (DeutschTirol) dar, wie er mit mächtiger Sense achtlos und unerbittlich an zwei ihn anflehenden Bettlern vorüberschreitet und sich der fröhlich tanzenden Jugend zuwendet 19 ). Auf dem erschütternden Trionfo della motte im Campo Santo zu Pisa (1350) 20 ) fliegt die Todesgestalt mit Fledermausflügeln über die Erde und mäht mit wildem Sensenschwung unzählige Männer und Frauen aller Stände nieder, schont auch Bischöfe und Päpste nicht. Nur Alte, Kranke und Bettler beachtet der Tod nicht, obwohl sie ihn rufen und bitten: „Weil uns das Glück verließ, komm du, o Tod, Heilmittel, jedes Leid zu enden: komm uns das letjte Abendmahl zu spenden!" Der Einsiedler aber faßt die Mahnung des Bildes — es entstand j a unter dem Eindruck der verheerenden Pestepidemie von 1348, die die Hälfte der Bewohner Italiens dahinraffte — in die inschriftlich beigegebenen Worte zusammen: Isdiermo di savere e di richezza di nobilitale ancora e di prodezza, vale neente ai colpi de cosci. Es ancor non si truova contra lei, o lettore, neuno argomento. Eh! non avere lo intelletto spento di stare sempre in apparediisto die non ti giunge in mortale peccato.

Weisheit und Reichtum schirmet dich nicht, Adel und Mut ist ohne Gewicht, gilt nidits vor des Todes Sensensdilag. Ihm gegenüber, o Leser, vermag nichts all deine Beredsamkeit. O sei klug und stets bereit, daß nicht einst der Tod dich finde tief verstrickt in Todessünde.

Das gleiche Motiv zeigt die erwähnte Illustration zum Ackermann aus Böhmen in dem Bamberger Pfisterdruck von 1461 (Abb. 10), nur vereinfacht, wie es der Stil des Holzschnittes bedingt: der Tod mäht unerbittlich Männer und Frauen nieder, verschont aber die Alten, die ihn um Erlösung anflehen. Bei den typisch italienischen Triumphzügen des Todes, seien sie wie die des Andrea Vanini (1400), des Matteo de Pasti (1442), des Lorenzo de Costa (1490) und des Mantegna gemalt oder wie der des Malers Piero di Cosimo (1511) als lebendes Bild vorgeführt 2 1 ): immer hat der Tod wie ein unheilbringendes weltbeherrschendes Szepter J . W e i n g a r t n e r , Die frühgot. Malerei Deutschtirols, Kunstgeschichtl. J a h r b . d. Centraikommission W i e n 10 (1916), S. 16 f. mit Abb.; vgl. S. 22 ganz ähnliche Darstellung in der Burgkapelle von Karneid. 10 E. D o b b e r t , Der Triumph des Todes im Campo Santo zu Pisa, Repert. f. Kunstwiss. 4 (1881), S. 1—45. — R. O e r t e l , Der T r i u m p h des Todes in Pisa von Fr. Traini, Bln. 1948. « K . B u r d a c h , Vom Mittelalter z. Reformation 3, 1 (1917), S. 245 ff.

Der Tod als Schnitter und Triumphator seine Sense bei der Hand. A b e r als unerbittlichen

13 Sensenschwinger

kennt ihn genau so die deutsche Kunst. D e r große deutsche Mystiker Heinrich Seuse ( t 1366) malte ihn auf der selbstentworfenen Illustration zu Kapitel 53 seiner Vita, wie er mit drohend erhobener Sense ein adliges Liebespaar bedroht und der weltlichen Lust ein j a m m e r volles E n d e b e r e i t e t 2 2 ) . Ähnliche Darstellungen haben das W a n d b i l d der Kirche zu Loxsted im L a n d e Hadeln und deutsche Einblattdrucke des 15. J a h r h u n d e r t s 2 3 ) . Peter von Andlau bekrönt sein Endgerichtsfenster in der T ü b i n g e r Stiftskirche (1480) mit der Darstellung eines Todes, der die Sense schwingt 2 4 ).

Dies

erinnert uns noch

einmal

daran, daß die Vorstellung vom Schnitter T o d aus den Visionen vom Endgericht stammt. I m religiös-christlichen Denken erhielt diese endzeitliche Todesvision aber zeitlose Gültigkeit. Zu den eindrücklichsten Gestaltungen des Motivs vom

Schnitter

T o d gehört die von einer anderen Apokalypsevision beeinflußte D a r stellung, wo der T o d zu R o ß über die Menschen aller Stände dahinsprengt und sie alle mit rasendem Sensensdiwung wie reife G a r b e n dahinmäht. Dieser Bildtyp mag in Frankreich zuerst entstanden sein. W i r kennen nur spätere Nachbildungen, so eine leider stark beschädigte Freske in der Kirche der böhmischen B u r g Karlstein (1357)

25

),

eine Miniatur in einer Handschrift der Sammlung Hamilton (15. J a h r hundert) und einen Holzschnitt in der ersten deutschen Bibel

von

1483, der das Vorbild für Dürer wurde und hinsichtlich des Sensenreiters T o d in der Lutherbibel 1534, von Virgil Solis 1560, von J o s t Amman

1564 und von T o b i a s Stimmer 1576 nachgeahmt

wurde").

Wichtig ist uns aber vor allem ein Kupferstich im Kartenspiel des französischen Königs Karls V I . von 1 3 9 2 2 7 ) , wo der T o d auf blumigem Anger König, Kardinal, Kanoniker und Ritter wie Blumen und G r a s abmäht und dabei noch die alte Augenbinde trägt (Abb. 1). Nur hat der flüchtig arbeitende Stecher die Binde mißverstanden und zu hoch Seuses Dt. Schriften, hrsg. K. Bihlmeyer, Stg. 1907, S. 195, Abb. 11 u. S. 192, 6 (Vita Kap. 53). " K ö n c k e , Jahresber. d. Männer von Morgenstern 12 (1909/10), S. 127. 24 H. W e n t z e l , Peter v. Andlau, Bln. 1946, Abb. 15. 25 J . N e u w i r t h , Mittelalterl. Wandgemälde der Burg Karlstein, Prag 1896, S. 24. 20 A. O e c h e l h a e u s e r , Dürers apokalypt. Reiter, Bln. 1885, S. 3 ff.,

12

27

E. H. L a n g l o i s , Essai historique sui les danses des morts 2 (1852) pL 48 u. S. 190 ff. - Jetzt als „norditalienisch, nach 1450" bezeichnet; vgL Detlef Hoffmann, Welt der Spielkarte, Mch. 1972, S. 18, zu 17 c.

14

I. Der Tod in der diristlidien Kunst

in die Stirne hinaufgedrückt, wie er auch die Sense denkbar ungeschickt wiedergab. Die übrigen Karten dieses Spiels zeigen Vertreter aller Stände, also die sogenannte Ständerevue, die dem Totentanz das Gepräge gibt und die eindrücklich bezeugt, daß der Tod Gewalt hat über alle, ob arm, ob reich, ob hoch oder niedrig.

4. D e r R e i t e r

Tod

Die Spielkarte von 1392 (Abb. 1), die Karlsteiner Freske von 1357 und die angeführten Bibelillustrationen weisen «ine Vermengung der Vorstellung vom Schnitter Tod mit der anderen vom Reiter Tod auf. Auch die Vorstellung vom Reiter Tod entstammt der Offenbarung des Apostel Johannes als eine Vision vom Weltgericht, wie j a die Karlsteiner Freske und die Bibelholzschnitte diese apokalyptische Weltgerichtsvision wiedergeben wollen. Es sind vier Reiter (Apokal. 6, 2-8), die Krieg, Aufruhr, Hunger, Tod und Verderben über die Menschen der Endzeit bringen. Wir haben uns daran gewöhnt, diese vier apokalyptischen Reiter mit den Augen Albrecht Dürers als eine geschlossene Reitergruppe zu sehen, die wie eine zusammengeballte Faust Gottes als unheilbringender Sturm über unsere Erde dahinbraust. Die Apokalypse selbst läßt die Reiter einzeln und nacheinander in die Welt reiten, und die Künstler des Mittelalters mit Ausnahme des Illustrators der Bibel von 1483 (Dürers Vorbild) haben die Reiter deshalb einzeln, jeden für sich, abgebildet 28 ). So konnte der vierte Reiter, der Reiter auf dem fahlen Roß, „des Name hieß Tod", wie der Schnitter Tod zum zeitlosen Sinnbild des Todes und seiner Gewalt werden. Freilich bleibt der Reiter Tod, wie wir schon sahen, stärker mit der Apokalypse und den Visionen vom Weltgericht verbunden. Von der Synagoge, die bei Endgerichtsdarstellungen audi beritten auftrat, übernahm der Todesreiter, wie bereits vorweggenommen, als ständiges Attribut die Augenbinde, um seine mitleidlose Härte, Unerbittlichkeit und Wahllosigkeit zu kennzeichnen. So kennen ihn zum Beispiel die Weltgerichtsportale der Kathedralen zu Amiens, Paris und Reims Mitte des 13. Jahrhunderts, und daß er „kein Ansehen der Person kenne", wird äußerlich noch hervorgehoben dadurch, daß ein Todesopfer hinter ihm kopfüber vom Pferde stürzt; in Amiens ist dies nodi weiter ausgesponnen dadurch, daß der Todesreiter mit dem Sdiwert blindlings nach hinten sticht und dabei den hinter ihm auf18

T h . F r i m m e l , Die Apokalypse in den Bilder-Hss. des MA., Wien 1885, S. 27 f.; O e c h e l h a e u s e r , a. a. 0 . , S. 3 ff.

Der Tod als Reiter des Jüngsten Gerichtes

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gesessenen Menschen trifft und tötet. W i e dann in Frankreich und der von ihm beeinflußten Kunst, in der Spielkarte von 1392, der Karlsteiner Freske 1357 und den Bibelillustrationen, der Reiter T o d mit dem Schnitter T o d zusammenfließt und über Menschen alier Stände mitleidlos zu unheimlicher Ernte mit der Sense dahinsprengt, wurde bereits berichtet. Auf anderen Darstellungen, zum Beispiel auf einer Freske des Antonio Crescenzio an der Außenwand des Spedale grande in Palermo, auf einer Freske im Palazzo Scl^fani in Palermo (1450) M ) und ähnlich auf einem Glasgemälde des Sixt Tucher (Nürnberg 1502) 30 ) verbindet sich die Vorstellung vom Reiter T o d mit der des Jägers T o d : er galoppiert, den gefüllten Kodier auf dem Rücken, mit gespanntem Bogen und aufgelegtem Pfeil zu seinem Verniditungswerk über Menschen aller Stände. Es ist der Jäger Tod, aber auch der apokalyptische Todesreiter. Vielleicht hat auch der erste apokalyptische Reiter, der Sieger mit Krone und Bogen, das Bindeglied beider Vorstellungen gebildet. Audi der zweite apokalyptische Reiter, der als Friedensstörer ein großes Schwert führt, scheint j a mit der Vorstellung des eigentlichen Todesreiters früh zu verschmelzen, da der Reiter Tod in Amiens das Schwert führt. W o aber die Künstler freier schalten und fabulieren können, da mischen sich in die von der Bibel genährte Bildsymbolik heimische Vorstellungen. Im Missale des Petrus von Raimboucourt (1323) reitet der T o d statt auf fahlem Roß auf einer Kuh, mit einem riesengroßen Pfeil, „dem grimmigen Strahl des Todes" bewaffnet (Abb. 2/3). Auf einem Ochsen läßt ihn auch der Ackermanndichter (Adeermann 16, 20) reiten, während der Illustrator im Pfisterdrudc von 1461 ihm Pferd und Bogen gibt (Abb. 10). Auf einem schwarzen Ochsen zeigt ihn Taddeo Gaddi in seinem Bild in Santa Croce zu Florenz (1362), und ebenso erscheint er noch in Pierre Michaut's Danse aux aveugles (1466), in den Livres d' heures von Chantilly und V i e n n e " ) und Simon Vostres Heures von 1512. Wenn man der zahlreichen Legenden gedenkt, denen zufolge der Leichnam eines Heiligen gegen ursprüngliche Absicht von den» Ochsengespann zu der späteren Stätte seiner Wallfahrtskirche hingeführt wird (zum Beispiel St. Sebald zur Sebalduskirdie in Nürnberg), so erkennt man, daß hier uralte heid-

" B . K u r t h , in: Jahrb. d. kunsthist. Samml. W i e n 26 (19G7), S. 107, fig. 34; F. M e 1 i , L'arte in Sicilia del sec. XII., Palermo 1927, S. 191, fig. 72. 30 H e r r n . S c h m i t z , Glasgemälde des Kunstgewerbemuseums, Bln. 1913, Abb. 250. " K o z à k y , (s. Anm. 4), Taf. 18, fig. 5—7.

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I. Der Tod in der christlichen Kunst

nisch-religiöse Kult Vorstellungen — man denke nur an den von heiligen Kühen gezogenen Kultwagen der Nerthus in Tacitus' Germania — aus der Volksüberlieferung an die Oberfläche kommen und daß das Reiten des Todes auf Kuh oder Ochse keine willkürliche groteske Anwandlung der Künstler ist, sondern unheimlichen imaginären abergläubischen Vorstellungen entspringt. Heimischer Vorstellung entspridit es audi, daß der Unheilreiter Tod sich mit der Vorstellung vom Jäger und vom Totengräber Tod verbindet — solche Vermischung der Motive miteinander ist ein Hauptkennzeichen spätmittelalterlicher Bildsymbolik. 5. J ä g e r

Tod

Die bildhafte Sprache der Bibel gibt dem mittelalterlichen Künstler immer wieder Anlaß, die religiösen Wahrheiten in Bilder einzufangen, sollen die Bilder doch dem des Lesens unkundigen Christen als eine Biblia pauperum (Armenbibel) mit derselben Eindrücklidikeit die ewigen Wahrheiten verkündigen wie Gottes W o r t selbst. Das gilt auch von der Todessymbolik. Der Psalmist schildert seine Errettung aus Todesnot mit den Worten: „Stricke des Todes hatten mich umfangen und Ängste der Hölle hatten midi getroffen, aber ich rief an den Namen des H e r r n : 0 Herr, errette meine Seele!" (Psalm 116,3-4; 18,5-7).An anderer Stelle wird das Bild vom Psalmisten noch genauer ausgemalt: „Unsere Seele ist entronnen wie ein Vogel dem Stricke des Voglers, der Strick ist zerrissen und wir sind los" (Psalm 124, 7). Der Psalmist vergleicht also die Todesnot mit der Verstrickung in einem Net} zum Fang wilder Vögel und Tiere. Es gibt dementsprechend in der Kunst Darstellungen des Todes als Vogler und Fallensteller. Dies klingt in der ältesten Fassung der Legende von den drei Lebenden und Toten im 12. Jahrhundert wieder, wenn es hier Strophe 23 heißt: Mors cum suo cursu rapit scnes cum iuvenibus, suo cunctos hämo capit robu.'tos cum senibus.

Eilger Tod, in wilder Hetze raubt er beide, Greis wie Kind, Alle fängt er mit dem Netze, ob sie stark, ob sdiwächlich sind.

Auf einem Kupferstich des Venetianers Johann Baptist Angeli 1535 stellt der Tod Leimruten mit einem Uhu aus, während eine zweite Todesgestalt Menschen wie W i l d in die aufgestellten Ne^e jagt 3 2 ). Dieser Versuch, die biblischen Metaphern in eine bildliche " A. F r e y b e , Christopherus, Lpz. 1882, S. 180 f.

Der Tod als Jäger mit Netz und Bogen

17

Szene umzusehen, bleibt unbefriedigend. Aber schon zwei Jahrhunderte vorher hatte ein anderer Italiener den Vogler und Fallensteller Tod mitten in seine Zeit gestellt: auf einem Relief in St. Pietro Martire, Neapel (1361) steht der Tod mit Doppelkrone, eine fast skelettierte nadcte Leiche, als Falkenjäger, den jagdbereit flatternden Jagdfalken auf der erhobenen Linken, in der Rechten das Luder der Falkenjäger; aber die unzähligen Leichen von Menschen aller Stände, auf denen er triumphierend steht, zeigen, welcher Art seine Jagdbeute ist und daß der Kaufmann, der ihm einen Sack mit Goldstücken anbietet, vergebens seinen Reichtum verschwendet 33 ). Ist hier die biblische Metapher Anlaß, den Tod als Falkenjäger der damaligen ritterlichen Welt unmittelbar anzupassen — die beigegebenen Verse des Todes sprechen nur allgemein von der Jagd auf das menschliche Geschlecht und von seinem weltumspannenden Net} —, so wirkt dies doch reichlich gekünstelt. Häufiger wird der Tod zum Jäger mit Pfeil und Bogen, wobei sich die heimische Vorstellung wieder auf die bildkräftige Sprache des Psalmisten stütjen kann: „Gott ist ein rechter Richter und ein Gott, der täglich droht; will man sich nicht bekehren, so hat er sein Schwert gewebt und seinen Bogen gespannt und zielt und hat darauf gelegt tödliche Geschosse; seine Pfeile hat er zugerichtet, zu verderben" (Psalm 7, 12-14). Der Tod ist j a dies« tägliche Drohung, dieser Mahner zu rechtzeitiger Bekehrung, er ist dieser gespannte Bogen mit dem tödlichen Pfeil, und es ist nicht verwunderlich, wenn man der Todesgestalt, dem Jäger Tod als tödliche Waffe einen großen Pfeil, später oft bis zum Spieß weitergebildet, oder aber Pfeil und Bogen in die Hand gibt, und als Bogenschütje konnte der Tod auch mit dem ersten der apokalyptischen Reiter, dem sieghaften Reiter auf dem weißen Pferd mit dem Bogen (Offenbar. 6, 2), der mit dem Reiter Tod zusammen das Endgericht einleitet, zusammenfließen. Als Bogenschützen sehen wir den Tod bereits in romanischer Zeit auf einer Freske der Kirche zu Celon (Nordspanien) um 1150 34 ), ebenso in der Münchener Handschrift Cgm. 3974 (Abb. 6), im Totentanz von Pinzolo von 1500 (Abb. 22), auf einem deutschen Mementojnon-Einblatt von 1440 35 ) und im Totentanzbuch der Grafen von Zimmern (1550), wo er auf einem Baum mit Menschen aller Stände,

53

H. W . S c h u l z , Denkmäler der Kunst d. MA. in Unteritalien, Dresden 1866, S. 53, fig. 135; D. C. H e s s e 1 i n g , Charos, Leiden 1897, S. 37. 34 J. M. F l o r e z y G o n z a l e s , Pintures murales y detalles de la iglesia de Celon, in: Museo español de Antigüedades, 6 (1875), S. 59 f. " P. H e i t z , Einblattdrucke des 15. Jh., Bd. 18, Tai. 23.

2

Rosenfeld,

Totentanz

18

I. Der T o d in der christlichen Kunst

vom Kaiser und Papst angefangen, sich das Ziel seiner Pfeile sucht. Häufiger stürzt er sich, einen übergroßen verderbenbringenden Pfeil wie einen Speer schwingend, zu Fuß oder beritten auf seine Opfer. Im Missale von 1323 überfällt er Ritter und Damen, die zur Falkenjagd reiten, indem er ihnen auf einer Kuh nachjagt (Abb. 2/3), zu Pferde mit Pfeil und Bogen verfolgt er fliehende Reiter im, Ackermanndrudc von 1461 (Abb. 10), zu Fuß und doch schneller als die verfolgten Reiter zeigt ihn der deutsche Meister H. W . (1482), die Jäger werden zu Gejagten, j a zur erlegten Jagdbeute 3 9 ). Niemals vorher wurde der unerwartete persönliche Zugriff des Todes mitten in die Freuden des Lebens so eindrücklich gezeigt und die Mahnung, stets bereit zu sein, so zum gültigen Symbol. Der Mensch mit seiner Freude am bunten Leben der Welt ist jederzeit in die Hand des Todes gegeben: das predigten die Bilder vom Schnitter Tod, insbesondere auch das Kartenspiel Karls VI. von 1392 (Abb. 1), das predigt auch ein holländisches Kartenspiel des 15. Jahrhunderts, das 34 Mensdien aller Stände vom Kaiser bis zum Dienstknecht aufwies, dazu das Leben, Seifenblasen machend, und den T o d " ) . Die Trumpfkarte des Todes zeigt den Jäger Tod, den Pfeil schußbereit auf gespanntem Bogen: alle Menschen sind seine Jagdbeute, er wird sie treffen, obwohl ihm die Augen verbunden sind, denn er trifft sie alle unterschiedslos ohne Ansehen der Person. 6. S p i e l m a n n

Tod

Der Jäger, der Reiter, der Schnitter Tod, sie kommen als Feinde und überfallen mit ihren Waffen unerwartet die ihnen hilflos preisgegebene Menschheit. Aber nicht jedem begegnet der Tod mit soldi brutaler Gewalt. Wer hat nicht einmal bei aussichtsloser Lage oder in seelisdier schwerer Not schaudernd die Lodcung des Todes empfunden? Lockt der Tod nicht auch die Menschheit mit unheimlich magischer Gewalt, mit leiser, aber betörender Zaubermelodie? Jedenfalls empfand man es in der an seelischen Spannungen, religiösen Sehnsüchten und politischen Gärungen so reichen Zeit des ausgehenden Mittelalters. Petrus von Raimboucourt malte 1323 neben anderen Todesbildern im Haager Missale den Tod als Zentaur, der mit seinem Geigenspiel die Mensdien lockt und zwingt (Abb. 9), mag nun eine vage Erinnerung an die Sirenen der griechischen OdysseusM F . P. W e b e r , Des Todes Bild (s. Anm. 3) S. 64. " J . C. S c h u l z - J a c o b i , De Nederlandsdie Doodendans, Utrecht

1849.

Der T o d als Spielmann mit Fiedel und P f e i f e

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sage oder uneingestandener Aberglaube hier in christliche Bildsymbolik umgeformt sein. Diese Vorstellung wurde durch keine Bibelstelle legitimiert. Deshalb begegnet sie uns in der offiziellen Kunst so selten, aber sie muß verbreiteter gewesen sein, als wir heute nachzuweisen vermögen. Peter Dell z. B. verwandte sie auf seinem Holzrelief der diristlichen Heilsordnung (1548). Man sieht hier, wie ein Tod das Kind in Schlummer geigt, um es dann zum Entse^en der Mutter aus der Wiege zu reißen 58 ). Auf einem Wandbild des Kartäuserklosters Königsfeld bei Brünn (wohl 16. Jahrhundert) spielt der Tod auf der Fiedel, während seine Abgesandten den betenden Mönchen Gebetbuch und Leben nehmen 8 8 ). Dies mag zeigen, wie weitverbreitet die Vorstellung vom Spielmann Tod, vom fiedelnden Tod in der Kunst offensichtlich war, so wenig Zeugnisse sich auch erhalten haben. Aber der deutsche Volksglaube bewahrte auch diese Vorstellung getreu 40 ). Da schwebt der Tod, die Geige spielend, dem Totenvolk voraus, zieht es also mit den magischen Saitenklängen hinter sich her oder lockt mit dem Geigenspiel die Toten bei Nacht aus den Gräbern zu unheimlichem Gräbertanz. Es scheint, daß die Vorstellung vom Spielmann Tod im deutschen Volkstum besonders tief Wurzel geschlagen hat. Bis in die neueste Zeit blieb das Faszinierende dieser Vorstellung vom fiedelnden lockenden Tod lebendig. Man denke nur an Arnold Böcklins Selbstbildnis (1872), wo der Künstler auf die Geigenklänge des hinter ihm stehenden Todes lauscht, bis auch die letzte Saite r e i ß t . . . Ähnlich fühlte C. F. Meyer, ebenfalls ein Deutschschweizer, als er in seinem Gedicht „Das Ende des Festes" (1890) dichtete: Aus den Kelchen schütten wir die Neigen, die gesprächesmüden Lippen schweigen, um die welken Kränze zieht ein Singen: Still! Des Todes Schlummerflöten klingen!

Diese Todesmystik, diese unheimlich magisch zwingende Zaubergewalt des Spielmanns Tod dürfte sich in der Volkssage vom Rattenfänger von Hameln wiederspiegeln, einer Sage, die aus dem 13. oder 14. Jahrhundert stammt, also der gleichen Zeit, in der Petrus von 58

H. G u m b e l , Dt. Kultur im Zeitalter der Mystik, Potsdam 1932, Taf. 6. »• T h . F r i m m e l , in: Mitteilungen d. Centralkomm. W i e n NF. 16 (1890), S. 116 u. 190. 40 Vgl. Handwörterb. d. Aberglaubens 3 (1931), S. 463; 8 (1936), S. 976 f.; A. N i e d e r h ö f f e r , Mecklenburg. Sagen 1 (1850), S. 179 f. (Tod durch Teufel ersetzt); 0 . S c h w e b e l , Der Tod in dt. Sage und Dichtung, Bln. 1876, S. 182 f.

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I. Der T o d in der christlichen Kunst

Raimboucourt seinen fiedelnden Tod malte. Der Spielmann dieser Sage zieht mit den magisch zwingenden Tönen seiner Pfeife erst die Ratten und Mäuse hinter sich, bis sie im Fluß ertrinken. Als ihm dann der gebührende Lohn verweigert wird, lockt er auf seiner Pfeife, die Straßen auf und ab spielend, die Kinder der Stadt hinter sich her und verschwindet mit ihnen im nahen Kalvarienberg 41 ). Die historische Grundlage der Rattenfängersage ist eine vernichtende Niederlage des Jahres 1259, bei der die Blüte der Bürgerschaft Hamelns den Tod fand. So sind die Ratten und Mäuse gewiß, wie so oft in der Volkssage, ursprünglich nichts anderes als die dem Körper entflohenen Seelen, und der Rattenfänger und Kindesentführer ist niemand anderes als der Spielmann Tod, der die Seelen in seinen Bann zieht, und darauf deutet j a auch das Verschwinden im Kalvarienberg, offenbar einer alten Wallfahrtsstätte, vielleicht sogar ein Berg, der schon in heidnischer Zeit als Totenberg, als Aufenthaltsort der Toten galt. Der Spielmann Tod ist es ja auch, der im ältesten lateinischen Totentanztext aus dem 14. Jahrhundert — die bisherige Totentanzforschung hat merkwürdigerweise darüber hinweggesehen — mit seiner unheimlichen Pfeife die Seelen der Menschen in seine Gewalt, in seinen widernatürlichen Totentanz über den Gräbern zwingt (Fistula tartarea vos jungit in una chorea, Discrepat iste sonus et mortis fistulae tonus, Fistula me fallit mortis, quae dissone psallit). Audi in den Volkssagen lockt der Spielmann Tod oft durch Musik die Menschen in seinen Bann. In der mystischen Volksliteratur des 14.-16. Jahrhunderts ist es Christus, der mit Geigenspiel oder Pfeifenspiel die Seelen zu sich lockt 42 ), und man hat erwogen, ob die Vorstellungen von Christus als himmlischem Spielmann und vom Spielmann Tod voneinander abhängig sind. Bei den großen deutschen Mystikern wie Seuse finden wir vor allem die Ausmalung des ewigen Lebens als eines Festes mit Musik und Tanz. Bibelworte wie Psalm 149,3 „Sie sollen loben seinen Namen im Reigen, mit Pauken und Harfen sollen sie ihm spielen" und Psalm 150,4 „Lobet ihn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen" gaben den äußeren Anlaß, die Freuden 41

Fr. J o s t e s , Der Rattenfänger v. Hameln, Bonn 1895; F r . M e i s s e 1, Die Sage vom Rattenfänger v. Hameln, 1924. — Eine andere Deutung (Auszug zur Ostkolonisation) bietet W. W a n n , Die Lösung der Hamelner Rattenfängersage, Diss. Würzburg 1949. 48 W . W a c k e r n a g e l , Abhandlungen z. dt. Altertumskunde u. Kunstgesch. 1 (1872), 312 ff.; R. B a n z , Christus und die minnende Seele, Breslau 1908, S. 92 f.; 98 ff.

Der T o d als Spielmann und Christus als Spielmann

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des ewigen Lebens als T a n z mit den Engeln unter Vorantritt Marias zu sehen, wie es schon Konrad von W ü r z b u r g (1250) in seinem Gedicht „Die goldene Schmiede" tat. Bei den großen Mystikern wird das himmlische Fest liebevoll ausgemalt u n d der Seele als lockendes Ziel verherrlicht. Heinrich Seuse ( f l 3 6 6 ) sieht so die „unmäßigen Freuden des Himmelreiches": „Hier sieht man fröhliche Augenblicke von Lieb zu Liebe gehen, hier H a r f e n , Geigen, Singen, Springen, Tanzen u n d Reigentanz und Hingabe an volle Freude, hier jede Wunscherfüllung u n d Liebe ohne Leid", „wo die christusliebenden Seelen, die noch vor kurzem in diesem J a m m e r t a l bei uns waren, im Schall der Musik u n d Festfreude den fröhlichen Reigen tanzen, der da heißet Ewigkeit" 4 S ). Ein thüringisches Volkslied bewahrt diese Vorstellung: „Im Himmel, im Himmel ist Freude viel, da tanzen die lieben Engel, sie haben ihr Spiel" 43a ). Aber auch Heinrich von N ö r d lingen knüpft an diesen Motivkreis an, wenn er 1346 im Briefwechsel mit der Nonne Margarete Ebner bittet: „Bitt f ü r mich, daß ich den T a n z eines wahrhaftigen Lebens trete nach der süßen Pfeife deines lieben Jesu Christi" 44). Aber Seuse hört das Spiel des himmlischen Spielmanns bereits auf Erden in einer Vision, u n d dies wird in der mystischen Volksliteratur zur Norm. In einem geistlichen Liede des 14. J a h r h u n d e r t s 4 5 ) erlebt die Seele im Augenblick der Entrückung vom elenden P f a d des Lebens Jesus als Tanzmeister an der Spi^e der Engel und Seraphim und als fiedelnden Spielmann: Heia, wie süß er fiedelt! alle Engel tanzen nach seiner Lehr, Die Saiten kann er rühren, und die Seele tanzet hochgemut, von Freud zu Freude f ü h r e n ! damit gewinnet sie himmlisdie Sitt, Jesus der Tanzmeister ist, bis der T a n z ein E n d e h a t ! er wendet sich hin, er wendet sich her,

Bis die mystische Ekstase ein Ende hat! In den Bilderbogen von Christus u n d der minnenden Seele aus dem 14. J a h r h u n d e r t lockt Christus die Seele mit seinem Saitenspiel „Nimm wahr, wie mein süßes Saitenspiel dich liebevoll zu mir ziehen will" und der Reigen43

Seuses Autobiographie, Kap. 5, Büchlein der ewigen Weisheit Kap. 12, Gr. Briefbuch, Br. 9, in: Dt. Schriften, hrsg. K. Bihlmeyer, Stg. 1907, S. 21, 6; 242, 12; 432, 22. 43 « C. H a r t e n s t e i n , Thür. Volkslieder, Weimar 1933, Nr. 7; L. E r k B ö h m e , Dt. Liederhort 3 (1925) Nr. 2034. 44 Ph. S t r a u c h , Margarethe Ebner und Heinrich von Nördlingen, Tüb. 1882, S. 257, 37, Br. 48. Dieselbe Anschauung spiegelt eine „Krönung Maria" wieder, die im Hintergrund musizierende Engel und Heilige zeigt (Mitteilungen d. Centralkomm. W i e n 11, 1885, S. 32, fig. 15). 45 P. W a c k e r n a g e l , Das dt. Kirchenlied, 2 (1867), Nr. 447, Str. 21 ff.

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I. Der Tod in der christlichen Kunst

tanz, zu dem er die Seele unter Pauken, Pfeifen und Geigen als Reigenführer auffordert, ist eine Stufe auf dem W e g e der Seele zur Vereinigung mit Christus (Abb. 40). Im Banne der Musik löst sich die Seele von den körperlichen Banden und findet in gläubiger Verzückung zur mystischen Vereinigung mit dem göttlichen Bräutigam. W e r so von Verlangen getrieben wurde, sein Ich aufzugeben und sich ins Meer der göttlichen Liebe zu versenken, für den verlor der Tod seine Sdirecken. Aber gleichwohl haben wir nirgends eine Andeutung, daß jetjt etwa der himmlische Spielmann der Mystik mit dem finsteren Spielmann T o d seine Rolle vertauscht hätte. Audi gibt es nirgends einen Beleg dafür, daß das Sterben von mystischer Seite als ein Tanz der Seele zu Gott empfunden wurde! Alle hierfür ins Feld geführten Literaturstellen malen lediglich die ewige Seligkeit als ein Tanzfest aus, feiern aber niemals das Sterben und den W e g vom Tode ins ewige Leben als Freudenfest. Daß in den weltfrohen Kreisen das Sterben mit Schrecken, nicht mit Freuden erwartet wurde, bedarf erst recht keines weiteren Beweises. Viel Verwirrung hat da ein mißverstandener Spruch Freiclanks gestiftet. Der tot daz ist ein hödigezit, die uns die werlt ze jungest git sagt Freidank, aber er will den T o d gewiß nicht als Freudenfest bezeichnen. Er meint es ironisch: der T o d ist der üble Lohn der schnöden falschen Frau W e l t ! Beide Vorstellungskreise, der mystische vom himmlischen Spielmann und Reigenführer und der andere vom dämonischen unheimlich zwingenden und lockenden Spielmann T o d haben nichts miteinander zu tun, aber sie leihen beide ihre Farben und Töne aus der Welt des mittelalterlichen fahrenden Spielmannes, wie ihn z. B. die Miniatur eines ländlichen Tanzes aus Poitou zeigt (Abb. 19): sie stehen beide unter dem Eindruck der Magie der Musik. Ihre Gemeinsamkeiten rühren nicht von gegenseitiger Beeinflussung, sondern aus gemeinsamer Quelle! Als Beweis f ü r die Berührung des mystischen Vorstellungskreises mit dem des Spielmanns Tod wird immer wieder ein Verspaar aus dem Gedicht von der „Minnenden Seele" zitiert 4 ') und neben ein ähnlich klingendes aus dem oberdeutschen Totentanz gestellt. T u von dir venien und beten, du mußt mit mir den rcigen treten

sagt Christus dort, während die Nonne im oberdeutschen Totentanz klagt: 4

*W. S t a m m l e r , Die Totentänze des MA., München 1922, S. 24; ders., Der Totentanz, Mündien 1948, S. 32.

Der Tod als Spielmann und Christus als Spielmann

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W a s hilft mich nun al min beten? Ich muoz des tödes reigen treten (V. 73/74).

Die Beweiskraft dieses Wortanklanges verflüchtigt sich völlig, wenn man beachtet, daß der Totentanzvers lediglich eine freie Übersetjung eines älteren Hexameters ist: In claustro grata servivi Christo velata. Quid valet orare: me mors jubet hic corisare (V. 49/50).

Der Sinn des lateinischen Hexameters ist also: „tro^ meiner Frömmigkeit zwingt der Tod mich zu seinem grausenhaften Tanz", während der Mystikervers ganz anderes ausdrückt „Laß jetjt das Rufen nach mir, denn ich bin dir schon ganz nahe, es bedarf nur eines kleinen Schrittes, und du hast die mystische Vereinigung mit mir erreicht". W e d e r Gedanke noch Wortlaut bieten Verwandtes, und es bleibt als einziges, daß der Reim orare: corisare beim Totentanz zwangsläufig denselben Reim beten: reigen treten hervorrufen mußte, den auch der Mystiker benutjte. Auf dieses Reimpaar kann man aber nicht eine ganze Theorie über den Einfluß mystischer Christusvorstellung auf die Totentanzidee herleiten! Ich glaube auch nicht, daß dem Übersetzer des lateinischen Hexameters das Mystikerreimpaar im Ohre klang und so die Formulierung aufeinander abstimmte. Aber selbst wenn es der Fall wäre: es bleibt eine breite Kluft zwischen dem himmlischen Spielmann, dessen Saitenspiel, Pfeifengetön und Reigentanz die mystisch verzüdcte Seele sich freudig hingibt, und dem dämonischen Spielmann Tod, der mit unheimlichem Fiedeln und Pfeifen die widerstrebenden Menschen willenlos in seinen Bann zieht. Die mystisch erregten Menschen des ausgehenden Mittelalters erleben in den Augenblicken höchster Verzückung und Hingabe an das Göttliche die himmlische Musik und den Himmelstanz ewiger Freude. Aber jene anderen, weniger weichen, realeren Naturen sahen sich der unheimlichen Gewalt des Todes willenlos preisgegeben und erlebten mit dem Schaudern der Kreatur die Eitelkeit menschlichen Willens vor der unheimlichen Magie des Todes! 7. T o t e n g r ä b e r

Tod

Johann von Tepl schildert im 16. Kapitel seines sprachgewaltigen Streitgespräches zwischen dem „Ackermann von Böhmen" und dem T o d (1400) eine bildliche Darstellung: der T o d reitet mit verbundenen Augen, Haue und Schaufel in den Händen, auf einem Ochsen sitzend, gegen die Menschen aller Stände und Berufe, die sich heftig wehren:

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I. Der Tod in der christlichen Kunst

„aber der Tod besiegt und begräbt sie alle!" Es ist die gleiche Ständerevue vor dem siegreichen Tod wie auf den Apokalypse-Illustrationen und in den erwähnten Kartenspielen, aber der Tod der Apokalypse, der Reiter und Jäger Tod, ist hier ganz ins heimische Milieu gezogen und zum Totengräber geworden 47). Das besagt nicht nur ausdrücklich der zitierte Schlußsat}, das erweisen bereits die Werkzeuge, die dem Tod in die Hände gegeben sind: Haue und Schaufel. Die Haue (Pickel) und die Schaufel sind j a die notwendigsten Werkzeuge des Totengräbers und als solche in der Volksliteratur sprichwörtlich geworden. Schon Hugo von Langenstein preist sie in seinem Gedicht über die Märtyrerin „Martina" (1293) als Beender aller menschlichen Not. Mit der Übertragung der Totengräberrolle auf den Tod verläßt die mittelalterliche Todessymbolik die vertrauten Gleichnisse und Bilder der Bibel und greift mitten in den Alltag des Menschen, und man kann wohl sagen, daß die Mahnung an den Tod dadurch drastischer und unausweichlicher wird, da sie allen poetischen Glanzes und aller Pathetik beraubt ist. Wesentlicher ist noch ein zweites: Der Schnitter, der Reiter, der Jäger Tod, sie gehen wie ein Sturm oder wie ein unheilbringendes Wetter über die Erde und über die Menschenwelt, keiner weiß, von wannen sie kommen und wohin sie gehen, sie sind wie die Hand Gottes, die richtend und strafend in diese Welt eingreift. Und der Spielmann Tod ist wie eine einschmeichelnde, magische Melodie, gestaltlos und wie ein Klang aus einer anderen Welt, in die er hinüberlocken will. Anders der Totengräber Tod: er ist erdennäher, dämonischer, ihn umweht der Hauch der Verwesung, er hat auf dem Kirchhof seine Stätte und sein Ziel, und es ist, als ob er aus den Gräbern steige, um neue Opfer in den dunkeln Schoß der Erde hinabzuholen. Es ist kein Zufall, daß er seinen Opfern immer ähnlicher wird! Als Totengräber ist der Tod zum ersten Mal nachzuweisen auf der Goldgrundminiatur einer Brüsseler Fabliaux-Handschrift des 13. Jahrhunderts: er tritt mit verbundenen Augen, den Sarg unter dem Arm und die Schaufel in der Hand, sacht zu einem Schlafenden (Abb. 5). Diese Vorstellung blieb seitdem im französischen und dem von ihm beeinflußten deutschen Kunstraum lebendig, mag sie auch mit den hergebrachten Bildtypen des Reiters und Jägers Tod vermischt werden. Im Haager Missale des Petrus von Raimbourourt (1323) trägt der Jäger Tod auf beiden Miniaturen bei seiner wilden Jagd auf die 47

H. R o s e n f e l d , Das römische Bild des Todes im Ackermann, in: Zsclir. .f. dt. Altert. 72 (1935), S. 241 ff., und Studia neophilol. 25 (1953), S. 92 f.

Der Tod als Totengräber mit Schaufel, Haue und Sarg

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Menschen einen Sarg unter dem Arm, den Pfeil des Todes in der H a n d (Abb. 2/3), u n d genau so wird der apokalyptische Todesreiter in der „Dance macabre des femmes" von 1499 noch dargestellt (Abb. 4). „Er besiegt u n d begräbt sie alle", so deutet j a die erwähnte Schilderung im „Ackermann von Böhmen" (1400) solche Darstellung aus. Die Verbindung der verschiedenen Motive, die das Missale in seinen Todesdarstellungen bringt, ist typisch spätmittelalterlich. In ähnlicher Weise verbindet der oberdeutsche Allegoriencodex von 1402 das Motiv des Lebensbaumes, dessen Wurzeln von zwei Mäusen, T a g und Nacht, durchnagt werden, mit der Vorstellung vom Totengräber T o d : der Tod, mit dem Sarg auf dem Rücken als Totengräber gekennzeichnet, beginnt mit einer Axt den Lebensbaum eines jungen Mannes umzuhacken 48 ). D a ß die Vorstellung vom Totengräber T o d lebendig u n d weitverbreitet blieb, beweisen zahlreiche Einblattdrucke des 15. J a h r hunderts, die gewiß Wiederspiegelung oder N e u a u f l a g e ähnlicher Bilderbogen des 14. J a h r h u n d e r t s sind. Diese Holzschnittbilderblätter zeigen oftmals den T o d zwischen Sarg u n d Schaufel am offenen Grabe, auf die Grabeshaue gestütjt oder mit der Sanduhr in erhobener H a n d , manchmal mit einer mahnenden Unterschrift, dem aus Jesus Sirach 14,12 entnommenen Satj „Der T o d säumt nicht" 4 9 ).

8. D e r T o d a l s

Leiche

Ja, der T o d säumt nicht, er hält den Sarg bereit und hat Haue und Schaufel bei der H a n d , um unseren Leib dem Schoß der Erde einzuverleiben und, wie es so oftmals heißt, „den W ü r m e r n zum Fraß zu übergeben". Es ist, als ob er selbst aus dem Schoß der Erde h e r a u f steigt, um seine Opfer zu sich herabzuziehen. So erklärt es sich, wenn die äußere Erscheinung zusehends die Gestalt der Leiche annimmt, bis er schließlich zu jenem Knochenmann wird, wie ihn die neuere Zeit abzubilden pflegt. Das war nicht immer so. Die Todesgestalt, die im Uta-Codex 1002 besiegt und zerknirscht unter dem Kreuz Christi sich krümmte (Abb. 7), war ein M a n n in der Kleidung seiner Zeit, mit 48

Cod. Cas. 1404, S. 6 r, vgl. F r . S a x l , in: Festschr. f. J. Schlosser, 1926, S. 104 ff. « P. H e i t z , Einblattdrucke des 15. Jh. 18, Taf. 22; W . L. S c h r e i b e r , Handbuch d. Holz- und Metallschnitte d. 15. Jh., 4 (1927), Nr. 1885, 1887, 1889 a, 1890.

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I. Der Tod in der christlichen Kunst

Hose und Rock angetan: der Tod ist also als eine Personifikation gegeben im Sinne der ausgehenden Antike, die selbst die Wissenschaften und Künste in menschlicher Gestalt abzubilden pflegte, Frau Grammatica, Frau Logica, Frau Philologia, durch Attribute jeweils besonders gekennzeichnet, so wie der Tod des Uta-Codex durch den zerbrochenen Speer, die Sichel und den Knebel vor dem Mund als Tod gekennzeichnet wurde. Audi die bildträchtigen Visionen der Apokalypse des Apostels Johannes schildern die Todesengel nicht anders als „gleich eines Menschen Sohn" (Apokal. 14, 14). Nichts hebt diese Gestalten aus der Zahl der Menschen heraus. Erst im Laufe des Mittelalters tritt da eine Änderung ein, ein Wandel der äußeren Gestalt und damit ein Wachstum von bloßer Allegorie zu wirklicher Symbolik, vom bloßen Zeichen zu bedeutungsträchtiger realistisch schrecklicher Wirklichkeit! Den Beginn dieser Entwicklung sehen wir in den Kathedralportalen von Amiens, Paris und Reims um 1230, wo die Todesreiter nackt sind wie ihre Opfer, die nach dem tödlichen Stich mit herausquellenden Eingeweiden vom Pferde gleiten 50 ). So mutternackt, wie die Menschen all ihrer Macht und Herrlichkeit entkleidet in die Nacht des Todes versinken, so nackt ist der Mörder Tod: er nimmt die Gestalt seiner Opfer an. Auf einer Freske der Kirche zu Celon in Spanien (13. Jahrhundert) finden wir den Jäger, den Bogenschütjen Tod wie die Toten der erwähnten Portalskulpturen mit aufgeschlitjtem Leib: der Tod hat also hier in noch stärkerem Maße das Aussehen seiner Opfer angenommen. Daß man Leichen mit aufgesdili^tem Leib darstellt, ist nicht Willkür der Künstler, sondern nur Abbildung der Wirklichkeit 51 ). In älterer Zeit hatte man die Leichen Gefallener, die man in die Heimat überführen wollte, ausgekocht, da man sie auf andere Weise für den Transport nicht zu konservieren wußte, eine barbarische Sitte, die Papst Bonifaz VIII. in seiner Bulle De sepulturis 1300 schließlich endgültig verbot. Jetgt ging man allgemein zu dem schon vorher aufgekommenen Brauch über, die Leichen zu mumifizieren. Man machte tiefe Einschnitte zum Ausbluten, entfernte Gehirn und Eingeweide und füllte die Bauchhöhle mit konservierenden Stoffen. Deshalb wird der tiefe Einschnitt in die Bauchhöhle Hauptkennzeichen der Leiche, wie wir es noch an den Totengestalten der Pariser Totentanzdrucke des 15. und 16. Jahrhunderts sehen. Mit dieser Behand50 51

Vgl. Nachweis der Abb. in Anm. 10. Hierzu und zu diesem Abschnitt allgemein vgl. R. H e l m , Skelett- und Todesdarstellungen bis zum Auftreten der Totentänze, Straßb. 1928, S. 14 ff.

Der T o d als Personifikation, als Leiche und Kadaver

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lung der Leiche war eine Mumifizierung verbunden, und dieses Zusammenschrumpfen der Haut über den Knochen bis zum fast völligen Heraustreten des Knochenbaues wird das andere Hauptkennzeichen aller Totendarstellung, bis die Darstellung der Verwesung und die Zeichnung eines von allem Fleisch und Muskelwerk befreiten Knochengerüstes die mumienhafte Darstellung ablöste und überbot. Die Darstellung des Todes folgt aber stets der Darstellung seiner Opfer. Die Todesreiter im Missale des Petrus von Raimboucourt (1323) haben bereits regelrechte mumifizierte Totenschädel und einen zur Mumie zusammengeschrumpften Körper: die Haut liegt eng über den Knochen und läßt bei den Gelenken bereits die Knochenansätze sichtbar werden (Abb. 2/3). Das gleiche Bild bieten der Tod auf dem Relief von Neapel von 1361 und der Todesreiter im Kartenspiel Karls VI. (1392), nur daß der Todesreiter mit einem langen gegürteten Gewand bekleidet ist (Abb. 1), während der Tod des Reliefs von 1361 völlig unbekleidet blieb und man deshalb in den unteren Partien schon die nackten Skelettknochen sehen kann. Es ist dies die damals übliche Darstellungsweise der Leiche: so ließ sich z.B. Guillaume de Hareigny ( t 1313) in der Bischofskapelle zu Laon darstellen 52 ) als nackter, mumifizierter, schon stark skelettierter Kadaver, ein erschütterndes Zeugnis von der Hinfälligkeit irdischer Macht und Herrlichkeit! Noch einmal überschauen wir Anfang und Ende der Entwicklung, wenn wir das Erlösungsbild mit der bekleideten rein menschlichen Todespersonifikation des Uta-Codex von 1002 (Abb. 7) neben das sonst inhaltlich völlig übereinstimmende Erlösungsbild im Münchener Codex 8201 vom Jahre 1415 halten: hier ist die zerknirschte Todespersonifikation durch einen nackten mumienhaften Totenkadaver mit aufgeschlitjtem Leib erseht und erhielt als einziges Attribut den zerbrochenen Speer (Abb. 8). Vielfach aber wird den Toten und dann auch dem Tod nodi das Leichentuch als Bekleidung oder als unheimlich flatterndes Attribut beigegeben (Abb. 14, 16, 21, 24, 26, 29, 34), und auch im Volksglauben spielt das Leichenlaken eine Rolle; Goethes Totentanzballade spiegelt das getreulich wieder. W o die Toten aus Übermut oder im Ernste mimisch dargestellt werden, geschieht es in der Regel mit weißem Leinentuch 53 ).

« M â l e (s. Anm. 9) 3 (1908), S. 376. 63 In Utredit wird 1398 ein Wächter bestraft omdat hij lüde daerto ghebradtt heeft, die bi nachte ghegaen hebben, mit enen witten slapelaken, carmende ghelijk een gheest (Archief voor kerkl. en wereldsche geschiedenissen 5, 1846, S. 55). In den Brüsseler Stadtordonantien 1341—54 finden sich Straf-

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I. Der T o d in der christlichen Kunst

Neben solchen mumienhaften Todesgestalten bringt das 15. Jahrhundert auch bereits Gestalten im Zustand der Verwesung, von W ü r mern und Schlangen zernagt. Das bekannteste, jedoch nicht das früheste Beispiel ist der Titelholzschnitt des Ackermann aus Böhmen bei Pfister in Bamberg 1474. Das 13. Jahrhundert pflegte so die Kehrseite der schönen Frau Welt vorzustellen. Allbekannt ist die Schilderung Konrads von Würzburg in „Der Welt Lohn" (1260) wie auch die sehr verwandten Skulpturen am Münsterportal von Worms (1290). Die Bibelworte, daß der menschliche Leib Speise der Würmer werde, sind bei solchen Darstellungen vergröbert. Mitgewirkt hat die Darstellung der schlangensäugenden Erdmutter, die man mißdeutete und zum Muster für den teuflischen Verführer nahm: so z. B. in Basel, Freiburg und Nürnberg. Von der Dichtung aus dringt dann die Abwandlung des Versuchers ins Weibliche, die „Frau Welt", in den Motivkreis der Kunst. Vom Bild der schlangenzernagten Frau Welt nimmt die Darstellung schlangenzernagter Leichen (Abb. 6, 27, 30, 32) zur Kennzeichnung der Verwesung in der Erde ihren Anfang. Im 16. Jahrhundert wurde es allgemein üblich, noch einen Schritt weiter zu gehen und den Toten und den Tod als reines Skelett, als Knochenmann, als Gerippe darzustellen. Erstmals geschah es wohl in Italien auf dem Triumph des Todes in Clusone (Abb. 12). Aber auch diese nur von wenigen Sehnenbändern zusammengehaltenen Gerippe, wie sie aus Holbeins Todesbildern allbekannt sind (Abb. 37/38), sie malen j a nichts anderes aus als das Aussehen, das die Opfer des Todes mit der Zeit im Grabe annehmen. Auch der Knochenmann Tod ist also seinem Wesen nach nichts anderes als Jahrzehnte und Jahrhunderte vorher die mumienhafte Gestalt, die Leichengestalt des Todes, der als Totengräber die Menschen in die Erde schaufelt und als solcher die Gestalt seiner Opfer annahm. So konnte endlich auf einem Bilderbogen von 1480 54 ) dem Tode selbst jener mahnende uralte Totenspruch, der den Kern der Legende von den 3 Lebenden und Toten bildet, in den Mund gelegt werden: Seht mich reich, jung und alt: Ihr gewinnt all meine Gestalt! bestimmungen gegen Leute, die sich nächtlich mit Laken vermummen oder zum gleichen Zweck die Innenseite der Kleider nach außen kehren: Soe wat manne gee ontlixent, sy met slapelakenen, sy met averechten cleederen, ofte in wat andere mannen dat sy, hi es om vijz pond (Belgisch Museum voor de nederdt. T a a l - en Letterkunde 1, 1837, S. 249). 54 W. L. S c h r e i b e r (s. Anm. 49) 4, Nr. 1885.

Der Tod als Skelett, Tote als Boten des Todes

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Ausführlicher bieten diesen G e d a n k e n die auf einem G e m ä l d e in der Kirche von Loxstedt 5 5 ) u n d a n d e r w e i t i g 5 9 ) überlieferten Bilderverse: 0 Mensch sieh an mich: der du bist, der war ich.

Gedenk, wer du mußt werden und tu recht hier auf Erden!

Es läge nahe, hierbei a n eine Verwechslung der Gestalt des Todes mit der eines T o t e n zu denken. A b e r damit bezichtigt m a n Künstler u n d A u f t r a g g e b e r einer Nachlässigkeit, die doch in starkem Gegensat} stünde zu dem ernsten Anliegen, das beide mit diesen Darstellungen verfolgten. W i r müssen vielmehr berücksichtigen, d a ß das mittelalterliche A u g e gesättigt w a r mit Allegorie u n d Symbolik u n d da, wo sich dem m o d e r n e n kritisch s o n d e r n d e n D e n k e n W i d e r s p r ü c h e aufnötigen, keine wesentlichen Unterschiede machte. Der T o d n a h m f ü r das symbolische D e n k e n nicht nur die Gestalt seiner O p f e r an, er konnte auch ebenso gleichzeitig M ö r d e r u n d O p f e r , Sieger u n d Besiegter sein, weil der mittelalterliche Mensch in seinem analogischen D e n k e n jederzeit die symbolische Entsprechung vor A u g e n sah. Das m a g ein Hinweis auf die P o r t a l s k u l p t u r des Klosterkapitelsaals Saint-Georges in Bocherville bei Rouen (12. J a h r h u n d e r t ) veranschaulichen: dort schneidet der T o d sich mit einem Rasiermesser selbst die G u r g e l ab, spricht aber dabei die (auf Spruchband beigegebenen) W o r t e Ego mors hominem jogulo corripio „Ich, der T o d , packe den Menschen bei der G u r g e l " 57). Obwohl also diese Inschrift scharf T o d u n d Mensch als zwei feindliche Gestalten e i n a n d e r gegenüberstellt, vollzieht der T o d die D r o h u n g an sich selbst, da f ü r mittelalterliche Symbolik sich die G r e n z e n zwischen den a n a l o g e n G e s t a l t e n des T o d e s u n d des T o t e n verwischen.

9. T o t e a l s A b g e s a n d t e d e s

Todes

Es kann deshalb nicht v e r w u n d e r n , d a ß nicht nur der T o d Gestalt u n d Rolle des T o t e n übernimmt, sondern d a ß auch T o t e jederzeit in die Rolle des T o d e s hinein*>ch]üpfen u n d zu einer V e r k ö r p e r u n g oder zu A b g e s a n d t e n des Todes w e r d e n können. Dies sehen wir an den bildlichen Darstellungen, die die L e g e n d e der 3 L e b e n d e n u n d 3 T o t e n 55 58

57

Vgl. A n m e r k u n g 23. W i e n e r Hs. Nr. 3027, vgl. Z w i e r z i n a , in: Zsdir. f. dt. Altert. 41, S. 65; vgl. auch a l l g e m e i n W . R. S t o r c k (u. a.), in: Zschr. f. Volkskd. 21 (1911), S. 53 ff.; 89 ff.; 281 ff.; 22 (1912), S. 293 ff. Illustration zu T h i b a u d de Marly' „Vers sur la mort", Stanze 9, Abb. E. H. L a n g l o i s (s. A n m . 27) 1, S. 161.

so

I. Der Tod in der christlichen Kunst

im 15. Jahrhundert erfuhr 5 8 ). Ursprünglich ist es nur eine Begegnung lebensvoller Menschen mit dem Bild der Vergänglichkeit. Drei König« reiten stolz zu Roß auf die Jagd und mitten in Übermut und Freude stoßen sie auf drei Särge mit halbverwesten Leichen, und diese schreckliche Mahnung an den Tod gewinnt Wort und Sinn, indem die Toten die erschrockenen Jäger anreden: „was ihr seid, das waren wir, was wir sind, das werdet ihr". Die Illustratoren bleiben nicht bei der Darstellung der Begegnung und bei diesem Ruf zur Todesbereitschaft und Buße stehen, sie machen die Mahner an den Tod zu Abgesandten des Todes, die sich mit den Attributen des Todes auf die Lebenden stürzen, um sie mitten aus den Freuden der Jagd in die Arme des Todes zu reißen. Da stürzen sie sich auf der Miniatur eines Utrechter Kalenders (Berlin Ms. germ. oct. 648, fol. 145r) und ganz ähnlich auf einen flämischen Kupferstich 59 ) wie der Jäger Tod mit Pfeilen oder Speeren bewaffnet auf die entsetzt fliehenden Reiter, da stürzen sie sich im Gebetbuch der Maria von Burgund (1480) lanzenschwingend auf die Herzogin selbst und ihr Gefolge®0). Da kommen die drei Toten im Stundenbuch des Jean du Pré (1450), auf Miniaturen in Arras, im Stundenbuch des Thielmann Kerver (1525) 61 ) und in den Heures de Lyon von 1495 (Abb. 11) wie der Totengräber Tod mit Sarg, Grabeshaue und Schaufel, um eilfertig den drei Lebenden das Grab zu graben. Da werden auf dem Freskobild zu Clusone bei Bergamo (Abb. 12) aus den drei Toten der König Tod, der triumphierend auf einem Sarkophag steht, während zwei kleinere Totengerippe ihm zur Seite mit Bogen und Feuerrohr die Menschen aller Stände umbringen, die vergeblich um Gnade betteln und Kostbarkeiten als Pfand bieten 62). Hier ist also aus den Toten der Legende eine dreifache Verkörperung des Allherrschers Tod geworden. Der Maler der Freske zu Clusone zog nur die Konsequenz aus der Kunstauffassung der Illustratoren der Legende, die den Toten die Attribute des Jägers und Totengräbers Tod in die Hand gaben und sie damit zu Abgesandten oder zur dreifachen Verkörperung des Todes machten. 68

K. K ü n s t l e , Die Legende der 3 Lebenden und 3 Toten und der Totentanz, Freiburg 1908; W . F. S t o r c k , Die Legende der 3 Lebenden und 3 Toten, Tüb. 1911. 59 Berlin, Kupferstidikab. Nr. 640; Abb. K ü n s t l e , Taf. 3, a. •°C. P. D u r r i e u (s. Anm. 15) pl. 84. " M â l e (s. Anm. 9) 3 (1922), fig. 199; G. B e r t o n i , Poesie leggende costumanze del medio evo, Modena 1927, S. 110; F. S o l e i l , Heures gothiques, Rouen 1882, Taf. 14. • 2 P. V i g o , Le danze macabre in Italia, 2. Aufl., Bergamo 1901, Taf. 4/5.

Tote als Abgesandte des Todes

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Wir sehen also ein« Verwischung der Grenzen zwischen den Toten und dem Tod, die aus der Annäherung des äußeren Erscheinungsbildes zur wesensmäßigen Identität fortschreitet. Wir sehen zugleich im Laufe der Entwicklung die biblische Todesspekulation sich zu symbolhaften Bildern verdichten, und mehr und mehr mit heimischen Vorstellungen verschmelzen. All das hilft uns, den Sinn und die Entwicklung der Totentänze zu verstehen. Aber ebenso deutlich ist, daß der Anlaß und Ursprung, daß der zündende Gedanke und die Form des Totentanzes nicht aus dieser christlichen Todessymbolik hervorgewachsen sind, geschweige denn zwangsläufig aus ihr sich entwickelt haben. Wir müssen die Wurzeln der Totentanzvorstellung ganz wo anders suchen, und wir werden sie suchen müssen in einer Zeit, der der Tod noch aufdringlicher begegnete, der das eigene Dasein noch fragwürdiger wurde. W i r müssen also nach der Zeit und dem Raum suchen, wo der Totentanz aufbrach, nach seinen literarischen und formalen Voraussetjungen, und wir müssen nach seinem Sinn und seinen seelischen Untergründen fragen.

II DIE MITTELALTERLICHE BUSSLITERATUR

UND

DAS

VADO-MORI-GEDICHT

Die romanischen Dome des Hochmittelalters stehen fest u n d tru^ig wie Burgen in der O r d n u n g dieser W e l t u n d lenken doch in schönem Rhythmus ihre Bauglieder zum Altar u n d seinem Geheimnis u n d damit zu dem, der die O r d n u n g dieser Welt geschaffen hat. Diese Dome sind Abbild eines stolzen, glaubenssicheren Menschentums, das sich im großartigen System der christlichen Weltanschauung geborgen fühlte u n d in der Idee des christlichen Rittertums den W e g fand, Gott u n d der Welt zugleich zu dienen, die Demut des Christen vor Gott mit dem Stolz eines seiner Kraft bewußten Menschentums zu verbinden. W i e den griechischen Statuen der klassischen Zeit, so eignet auch der Skulptur der frühen Gotik, deren Prototyp der Bamberger Reiter ist, j e n e Anmut, die aus dem Widerstreit der G e f ü h l e erwächst, der strahlende Glanz einer Meeresoberfläche, die noch von dem Sturm der W o g e n u n d den G e f a h r e n der T i e f e weiß. W o l f r a m von Eschenbach hat in seinem „Parzival" diesem Ideal einen dichterischen Leib zu geben gewußt, u n d in den dunklen Fügungen der Schlußworte ringt sich die Erkenntnis durch, d a ß aus siegreich überstandener A n fechtung innere Sicherheit u n d glaubensstarke Zuversicht erwachsen. Swes leben sidi so verendet, daz got niht wirt gepfendet der sele durch des libes schulde,

und der doch der werlde hulde behalten kan mit werdekeit, daz ist ein nütziu arbeit! (827, 19 ff.)

Aber das Ideal des christlichen Rittertums ist nur ein Sonderfall in dem ganzen System der hochmittelalterlichen Weltanschauung, wo in verwandter Weise jeder Stand auf Gott ausgerichtet war u n d in ihm Beglaubigung, Geborgenheit und Halt fand. Diese in sich ausgewogene Welt, in der j e d e r Stand seine in Gott gesetjte S t u f u n g u n d Stelle hatte, diese Welt, wo Askese u n d W e l t freude als die großen Wagschalen einer auf den Weltenschöpfer u n d sein ewiges M a ß ausgerichteten O r d n u n g erschienen, beginnt im Ver-

Gärungen, Erschütterungen und Katastrophen des Spätmittelalters

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lauf der gotischen Epoche innerlich zu zerbröckeln l ). Die äußeren sozialen Ordnungen lockern sich. Die immer stärker aufkommende Geldwirtschaft f ü h r t zur Entwertung des Grundbesitjes u n d zur Erschütterung der Stellung des Rittertums. Klagen über den Verfall des Rittertums werden laut. Sittliche Ideale verblassen, und an die Stelle eines idealisierenden Frauendienstes tritt der Schwank, der alle Schwächen u n d Verfehlungen von M a n n u n d Frau aufbauscht u n d in Gemeinheiten schwelgt. Das Bürgertum wächst empor und zerfleischt sich in Kämpfen zwischen den alten Geschlechtern u n d den a u f strebenden demokratischen Kleinbürgern. Der Bauer fühlt sich bedrückt, rottet sich zusammen u n d fordert soziale Gerechtigkeit. Die Kirche bricht auseinander u n d Reichsversammlungen u n d demokratische Konzilien versuchen vergeblich die kirchliche O r d n u n g herzustellen und eine Reichsreform durchzuführen. Der religiöse Mensch aber findet in den alten Ordnungen des Gottesdienstes kein volles Genügen mehr. Geißlerzüge kasteien den Leib, um das unruhige Herz zu stillen, Mystiker suchen in frommer Einkehr der Seele einen W e g unmittelbar zu Gott ohne den magisdiheiligen W e g der Sakramente. Menschen aller Berufe finden sich zu einem gemeinsamen gottgefälligen Leben in einer „modernen Frömmigkeit" zusammen. M ä n n e r aller Stände gründen Brüderschaften über Brüderschaften 2 ). Zweck ist die Unterstützung in Not geratener Mitglieder, gemeinsamer Gottesdienst u n d gemeinsame Fürbitte für die Verstorbenen, aber der eigentliche G r u n d ist die Unsicherheit des einzelnen, die nach brüderlicher Handreichung und Gemeinsamkeit sucht. Die Z a h l der Heiligenaltäre u n d der Fürbittmessen wächst ins Ungemessene, nicht weil alles veräußerlicht ist, sondern weil das unruhige Herz Nothelfer u n d Heilmittel sucht, der inneren Not zu steuern. A n d e r e wieder stürzen sich in lauteste Lebensfreude und geben sich derbestem Sinnengenuß hin. Inmitten dieser G ä r u n g e n und Erschütterungen sozialer u n d innerer A r t steigt in Seuchen u n d Naturkatastrophen so dunkel u n d in so drohender Realität wie noch nie die Gestalt des Todes empor, der T o d als der Mörder alles Glückes u n d aller Freuden, aber auch als großer Gleichmacher und Schlichter aller sozialen Kämpfe u n d Unterschiede. Der Tod, ein Beender aller Not, aber auch Beender aller 1

Vgl. J. H u i z i n g a , Herbst des Mittelalters, München 1924; E r n a D ö r i n g - H i r s c h , T o d und Jenseits im Spätmittelalter, Marburg 1927. * H . R o s e n f e l d , Eine unveröffentlichte Urkunde, in: H e s s e n l a n d 50 (1939) S. 175 ff.

3

Rosenfeld,

Totentanz

34

II. Bußliteratur und Vado-mori-Gedicht

Lebensfreuden, in die der Mensch sich zur Betäubung seiner inneren Angst hineinflüchtete, Beender auch aller Möglichkeiten zur Buße und Bekehrung! So wächst im ausgehenden Mittelalter die Zahl der Darstellungen des Todes als Schnitter, als Reiter und Jäger und in typisch spätmittelalterlicher Realität als Totengräber ins Ungemessene, und die sozial ausgleichende Gewalt, wie sie in einer Revue aller Stände vor dem Tod verbildlicht werden konnte, war noch nie so stark betont worden. Es ist eine Abwandlung und Fortführung der Todesbildsymbolik, wie sie im ersten Kapitel geschildert wurde, wenn im T o t e n t a n z jetyt ein neues Symbol für den Ruf zur Buße, zum Abtun alles Standesdünkels und aller sozialen Ungerechtigkeit, zur Einkehr und zur Todesbereitschaft gefunden und weithin verbreitet wird. Nicht weil das Totentanzmotiv etwas grundsätjlich Neues gebracht hätte, fand es solche Verbreitung, sondern weil es in Anlehnung an volkstümliche Vorstellungen die bisher übliche Todesbildsymbolik und die literarischen Todesbetrachtungen und Memento-mori-Ma.hnungen in volkstümlicher Form ausprägte und zu gängiger Form umprägte. Die Gemeinschaft von Bild und Vers ist das Hauptkennzeichen des Totentanzes. W a r bisher die Todesbildsymbolik im wesentlichen auf Randleisten in Meßbüchern, Stundenbüchern und sonstigen illustrierten Büchern oder auf eine Nebenrolle im Rahmen großer Portal- und Glasfenster-Konipositionen oder Bilderzyklen beschränkt und — von den typisch italienischen Todestriumphdarstellungen abgesehen — selten oder nie zu selbständiger Verbildlichung gekommen, so fand der Totentanz im illustrierten Einblatt seine literarische Form und in der Nachbarschaft des Kirchhofes, an Außenwänden der Friedhofskapellen, an Beinhäusern, Kirchhofsmauern oder Kreuzgängen eine Möglichkeit zu monumentaler Ausgestaltung. Wichtiger als die monumentalen Darstellungen, die der Nachwelt vornehmlich in die Augen fallen, war zweifellos der Anschluß an die volkstümliche Bilderbogenliteratur und über sie an die Tradition des illustrierten Volksbuches. Nur so konnte der Totentanz in jedes Haus und jede Klosterzelle wandern und zum Besi§ des einzelnen werden. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und die Entstehung des Totentanzes als eine populäre Umformung der bis dahin üblichen Todessymbolik und Todesmahnungen ansehen und in eine Reihe bringen etwa mit den populär-mystischen Bilderbogen, die das, was die großen Mystiker erdacht, durchkämpft und erlebt hatten, die Einswerdung der Seele mit Gott, in eine gängige Stufenfolge mystischer Askese und in knappe volkstümliche Bilderbogenverse umprägten. Freilich werden wir später

Z u s a m m e n h a n g des Totentanzes mit der Bußliteratur

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sehen, daß diese Parallele das besondere Wesen des Totentanzes noch nicht voll erfaßt, daß bei ihm noch sehr viel tiefere seelische Regungen mitspielen. Zunächst aber darf der Totentanz rein äußerlich als Popularisierung der Bußliteratur gefaßt werden. Asketiker u n d Bußprediger wurden seit den A n f ä n g e n der christlichen Kultur nicht müde, der Welt ihren Sündenspiegel vorzuhalten, die Nichtigkeit der W e l t zu schildern u n d zur Buße zu rufen. Das Christentum ist mit diesen Bußrufen nicht zu identifizieren, sie sind vielmehr das notwendige Korrelat u n d Korrektiv zur Verweltlichung der Kirche als menschlicher Institution, das notwendige Gegengewicht gegen eine völlige Säkularisierung der Kultur. Bußprediger und Asketen gehören wie Ketjer und Freidenker zu den notwendigen Faktoren, die nach Gottes Ratschluß die träge Menschheit aufzurütteln u n d in der Selbstprüfung u n d im Z w a n g der Entscheidung zu halten haben. So durchzieht die gesamte Geschichte u n d Vorgeschichte des Christentums der Ruf zur Buße. Schon das Buch Hiob hatte in büßender Selbstzerfleischung die Hinfälligkeit des menschlichen Leibes betont: W e n n ich gleich lange harre, so ist doch bei den T o t e n mein H a u s und in der Finsternis mein Bett gemacht; die V e r w e s u n g heiße ich m e i n e n Vater und die W ü r m e r meine Mutter und m e i n e Schwester; was soll ich denn harren? und wer achtet mein H o f f e n ? H i n u n t e r zu den T o t e n wird es fahren und wird vor mir in dem Staube l i e g e n ! ( H i o b 17, 13—16).

Das W o r t von den Menschen, die aus Lehm gemacht sind u n d „auf Erde gegründet sind u n d werden von W ü r m e r n zerfressen" (Hiob 4, 19), kehrt nicht nur mit immer neuen Variationen in der mittelalterlichen asketischen Literatur wieder, sondern führte auch, wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, dazu, den menschlichen Leib im Begriff der Verwesung von schlangenartigen W ü r m e r n zerfressen darzustellen oder die Frau Welt als üppiges schönes W e i b wiederzugeben, dessen Kehrseite von Schlangen u n d W ü r m e r n zernagt ist. A n den Münsterportalen zu W o r m s und Basel finden wir entsprechend die lächelnde gekrönte Frau Welt, vorn königlich und schön, aber hinten von Schlangen, W ü r m e r n , Kröten und anderem Ungeziefer bis auf die Knochen zernagt. Schon W a l t h e r von der Vogelweide dichtete: D i u W e l t ist uzen schoene, wiz, grüen unde rot,

und innän swarzer varwe, vinster sam der tot (124,37).

Bei Konrad von W ü r z b u r g erscheint wohl in Erinnerung an bildliche Verführerdarstellungen in der Dichtung „Der Welt Lohn" Frau W e l t in üppiger Schönheit, aber als sie dem entsetzten Beschauer den

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II. Bußliteratur und Vado-mori-Gedidit

Rücken zuwendet, ist sie bestecket und behangen mit ungefüegen schlangen, mit kroten unde nateren: ir Up was voller blateren; ir vleisch die maden äzen unz üf daz gebeine. So mahnt das von der Bußliteratur geprägte Schrifttum wie die Skulptur in barocker Eindringlichkeit an die Hinfälligkeit menschlicher Schönheit und Herrlichkeit, an die Eitelkeit der Welt und das Ende aller Erdenlust und ruft den Beschauer zu Weltflucht und Buße. Schon im 12. Jahrhundert mehrte sich besonders in Frankreich die Zahl der Literaturwerke, die ohne solche allegorische Einkleidung unmittelbar an den Tod mahnen und die Verachtung der Welt mit ihren Freuden, rechtzeitige Buße und Vorbereitung auf die Stunde des ewigen Gerichtes predigen. Vielfach wird dieser Ruf zur Buße dadurch noch eindrücklicher gestaltet, daß von der Geistlichkeit und den hohen Herren angefangen bis zu den Bauern und Armen jedem Stand seine Sündigkeit und Schuld vorgehalten wird 3 ). Das steigert sich im ausgehenden Mittelalter. Die eigentliche Ursache der Not und Verwirrung der Zeit wußte keiner zu nennen. So wird Schuld und Sünde da aufgedeckt, wo man sie findet: jeder schlage an die eigene Brust, suche die Schuld für die Verwirrung der Zeit bei sich selbst, trage die Kollektivschuld zu seinem Teil, büße und bessere sich! Schon frühchristliche Gräber legten den Toten einen Jammerruf in den Mund als Bußmahnung für die Lebenden 4). Legenden späterer Jahrhunderte, z. B. die Hieronymuslegenden, lassen Tote aus dem Jenseits wiederkehren, um das kirchliche Dogma vom Einzelgericht unmittelbar nach dem Tode häretischen Ansichten gegenüber zu erhärten 5). Im Hochmittelalter ging man dazu über, Beispiele solcher Wiederkehr von Toten zu erzählen, um damit zu rechtzeitiger Buße zu mahnen. Meist ist es ein Reicher oder Vornehmer, der überall als fromm und Gott besonders wohlgefällig galt und nun als Leichnam öffentlich bekennt, Gott habe ihn verdammt: wie rüttelt das das stumpfe Gewissen auf und treibt zur Selbstprüfung und Unruhe! Auch Heinrich v. Melk nahm in seinem Gedicht Von des todes gehugede (v. 697-910) dieses Motiv auf, wenn er den toten Vater zum Sohn sprechen läßt und ihm dabei einen solchen Jammerruf der 3

H. R o s e n f e l d , Die Entwicklung der Ständesatire im MA., in: Zsdir. f. dt. Philol. 71 (1952), S. 196—207. 4 S t . K o z á k y , Anfänge der Darstellungen des Vergänglichkeitsproblems, Budapest 1936 (Bibliotheca Humanitatis histórica 1), S. 213 ff. » K o z á k y , S. 276 £f.

Jammerruf der Toten und Legende der 3 Lebenden und Toten

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verdammten Seele in den Mund legt. Aber diese Darstellung war zu schwerfällig, um in die Breite wirken zu können, wohl auch zu hypothetisch, um wirklich zu überzeugen. Für einen wirklichen Aufschrei aus Angst und Qual war die Zeit noch nicht reif! Eher traf die L e g e n d e v o n d e n d r e i L e b e n d e n u n d d e n d r e i T o t e n 6 ) das Anliegen der Zeit; sie war auch auf Massenwirkung eingestellt, indem sie Bild und Text vereinte. In der Frühform des 12. Jahrhunderts ist sie jedoch nichts anderes als eine an ein Bild angeknüpfte Bußpredigt. Drei Männer erblicken eine verwesende Leiche. Die 45 Strophen der Dichtung lassen den Toten nicht selbst sprechen, und auch die Fiktion, daß die drei Lebenden die erschütternden Todesbetrachtungen selbst aussprechen, ist nicht durchwegs festgehalten. Aber auch diese frühe Fassung kristallisiert schon die Gedanken heraus, die dann in zahlreichen französischen, italienischen und deutschen Fassungen der Legende seit dem 13. Jahrhundert in dialogischer Form zum Ausdrude kommen: die Nichtigkeit der Welt, die Nichtigkeit von Schönheit, Macht und Ruhm angesichts des allmächtigen Todes. Ich gebe einige Strophen der früheren Fassung, die für den Geist der Dichtung besonders charakteristisch sind. Sie sind in ihrem Rhythmus und Inhalt von der Totenmesse beeinflußt. 6. Impotentes et potentes mordet mors finaliter. imprudentes et prudentes quodlibet equaliter.

6. Machtlos oder hoch geboren alle würgt zuletzt der Tod und die Weisen wie die Toren bringt er in die gleiche Not.

7.Haec non excipit personam divitis aut pauperis, ñeque mitram nec coronam, praesulis aut principis.

7. Schonet keinerlei Personen einerlei, ob arm, ob reich, schont nidit Mitra oder Kronen. Fürst und Bischof gilt ihm gleich.

9. Haec non parcit senectuti nec honestos excipit, nec fiorenti iuventuti: quidquid vidit, accipit.

9. Ja, er sdionet keiner Tugend; Alter hemmt nicht seinen Schritt zögert nicht vor frischer Jugend was er sieht, das nimmt er mit!

' K. K ü n s t l e , Die Legende der 3 Lebenden u. 3 Toten u. d. Totentanz, Freiburg 1908. — W . F. S t o r c k , D i e Legende der 3 Lebenden u. 3 Toten. Tüb. 1911. — Abdruck mehrerer Fassungen bei K o z ä k y , a. a. 0 . , S. 311 ff. — Die lateinische Fassung in 45 Strophen, die P. V i g o , Le Danze macabre in Italia, 2. Aufl., Bergamo 1901. S. 82 ff., aus einer Ferraraer Handschrift mitteilt, stammt aus dem 12. Jahrh.; sie dürfte somit die älteste Fassung sein und macht die i t a l i e n i s c h e Herkunft der Legende wahrscheinlich.

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II. Bußliteratur und Vado-mori-Gedidit

23. Mors cum suo cursu rapit senes cum iuvenibus, suo cunctos hamo capit robustos cum senibus.

23. Eilger Tod, in wilder Hetze raubt er beide, Greis wie Kind! Alle fängt er mit dem Netze, ob sie stark, ob sdiwächlidi sind.

33. Hie est vermis et putredo hie cadaver horridum: velis, nolis, est, ut credo, talis finis omnium.

33. Hier sind Würmer und Verwesung, fürchterliches Leichengift! Keiner findet hier Genesung, alle soldi ein Ende trifft.

34. Omnes mori certi sumus, nihil est securius, quando tarnen, hoc neseimus, solus novit dominus.

34. Alle Menschen müssen sterben — nichts gewisser als der Tod! wann? das können w i r nicht wissen diese Stunde weiß nur Gott!

In diesem rauschenden dunklen Hymnenfluß geht noch völlig unter, was später die Hauptsache ist, der Gedanke: der Tote war, was ihr Lebenden jetjt seid, ihr Lebenden werdet, was die Toten jetjt sind. In unserem Hymnus ist der Gedanke in Strophe 24/25 (Hoc videte speculum: hi fuere, quod vos estis) und Strophe 42 (Haec picturae repraesentet, quae sint mundi gloria) beiläufig genannt. Später ist dies der Inhalt eines Dialogs zwischen drei toten und drei lebenden Königen oder Fürsten, und oft schrumpft die Legende zu einer bildlichen Darstellung zusammen, die auf Spruchband nur noch diesen einen Satj enthält. W i e die gleichzeitige Todessymbolik aus dem vielstimmigen Ruf zur Buße nur wenige Gedanken herausnimmt, die plötjliche und alle Unterschiede des Standes ausgleichende Gewalt dies Todes, und dies in eine gängige, aber eindrückliche Bildform umprägte, so bringen diese italienische Hymnendichtung und ihre Nachfahren die mannigfaltigen Gedanken über Vergänglichkeit und Todesverfallenheit der W e l t in einfachste Folge und Reihung. Sie nähern sich damit schließlich einer volksläufigen Form. W a s in der Legende von den drei Lebenden und Toten noch in rauschenden Klängen und Wiederholungen, gewissermaßen planlos gereiht wird, das bringt das V a d o - m o r i - G e d i c h t 7 ) , das im 13. Jahrhundert in Frankreich gedichtet wurde, auf die einfachste 7

Übersicht über die Fundorte der Vadomori-Verse nebst Abdruck mehrerer Fassungen bietet S t . K o z á k y . Die Todesdidaktik der Vortotentanzzeit, Budapest 1944 (Bibliotheca Humanitatis histórica 5), S. 176—203; seine S. 154—176 gegebene Herleitung der Verse aus einem Tanz und ihre Bezeichnung als geistliches Tagelied und als Priamel überzeugt nicht. Einen die Erfurter und die Pariser Fassung kombinierenden Text fand ich im Erlanger Ms. 337, fol. 127 v ; das erweist die große Verbreitung der verschiedenen Fassungen. Weitere Fassungen bei E. P. H a m m o n d , Latin texts of the dance of death, in: Modern Philology 8 (1910/11), S. 399—410.

Legende der 3 Lebenden und Toten und Vado-mori-Gedicht

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Formel und in planvolle Abfolge. Nicht mehr klangvoll gereimte Hymnenverse sind es, sondern schlichte reimlose lateinische Distichen, deren jedes mit vado mori beginnt und endet. Mit dieser litaneiartigen Struktur sicherten sich diese Verse eine weite Verbreitung und Wirkung. Zahllose Abschriften und Bearbeitungen zeugen für ihre Beliebtheit: hier wurde der Mahnung Memento mori prägnanteste Formung zuteil. Ich halte diejenige Fassung des Gedichtes für die ältere, die ein Pariser Codex des 13. Jahrhunderts bringt 8 ). Hier ist der einheitliche Stil gewahrt. Alle 34 Distichen sind von dem eintönigen Wellenschlag der Uado-mori-¥ ormzl umrahmt, und diese Wiederholung und Monotonie ruft wie der dumpfe Trommelschlag kultischer Tänze eine erregende Vergegenwärtigung des Numinosen hervor. Es kann kein Zweifel darüber aufkommen: nicht 34 verschiedenen Gestalten werden die einzelnen Distichen in den Mund gelegt. Nein, hier spricht der Mensch schlechthin, Jedermann, und wenn auch die Vielzahl menschlicher Lebenshaltungen, Berufe, Alter, Lebensstände, Eigenschaften und Stimmungen genannt wird, es ist doch immer der Mensch schlechthin, in der Mannigfaltigkeit seiner Erscheinungsformen, der kreatürliche Mensch am Rande der Welt vor dem Schritt in das Nichts und in die Unendlichkeit. „Der Tod ist gewiß, nichts ist gewisser, aber die Stunde ist ungewiß": mit diesem Gedanken, den auch der italienische Hymnus brachte, setjt das Gedicht ein, und die ersten acht Distichen gelten diesem Allgemeinsten, der Sinnlosigkeit der Liebe, des Schicksals und dem Widerstreit von Augenblick und Ewigkeit, der unerbittlichen Logik des Satjes, daß auf Leben Sterben und Tod folgt. Das gipfelt im Schauder der Vergänglichkeit, der im Kreislauf der Gedanken immer neu erregt und bestätigt wird: Vado mori, ordine, quo Vado mori ultimus aut

cinis, in cinerem tandem rediturus, cepi, desino: vado mori! sectans alios, sectandus et ipse primus non ero: vado mori!

Ich gehe sterben, ich Staub zerfalle in Staub und in Asche; in dem Stoff, in dem ich begann, end' ich, ich sterbender Mann! Idi gehe sterben, anderen folgend und nach mir die andern, werde der erste, der letzte nicht sein, zum Sterben zu wandern! 8

Paris BN., Bibl. Mazarine 980, fol. 83, und in anderen bei Kozäky aufgeführten Hss., Textabdrude bei W . E. S t o r c k , in: Zsdir. f. dt. Philol. 42 (1910), S. 422 ff. und K o z ä k y , S. 186/87, die diese Fassung für die jüngere halten. Die Zufälligkeit, daß die anderen Fundstellen erst dem 15./16. Jh. angehören, bietet keinerlei sicheren Beweis für jüngere Entstehung.

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II. Bußliteratur und Vado-mori-Gedicht

Die folgenden Distichen kennzeichnen in bunter Folge alle die, die diesen Todesweg wandern. Zunädist differenziert sich dieser sterbende Jedermann in Vertreter der einzelnen Stände. Wüßten wir nicht schon aus der Formel vado mori die französische Herkunft des Gedichtes — es ist j a die französische Formel je vais faire quelque diose —, aus der Art der Standesreihe allein müßte man französische Herkunft erschließen! Den Kaiser kennt sie nicht, der in Mitteleuropa diesseits und jenseits der Alpen immer an der Spitje der weltlichen Standesreihe steht. Das erwachende französische Nationalbewußtsein erkennt die ideelle Vorherrschaft des deutschen Kaisers nicht mehr an. Vielmehr steht der König an erster Stelle, und er steht sogar vor dem Papst: es ist Frankreich in den Jahrzehnten um 1300, genauer gesagt: Frankreich unter Philipp dem Schönen (1285 bis 1314), das nach völliger Souveränität, nach voller Unabhängigkeit von Kaiser u n d Papst strebt. Es ist das Frankreich, das absolutes Recht des Königs über alle geistlichen und weltlichen Untertanen postuliert und zur Durchse^ung dieser Ansprüche das Papsttum in Abhängigkeit von der französischen Krone zu bringen suchte, erst mittels einer französischen Mehrheit im Kardinalskollegium, dann mit einer offensiven Politik gegen den Papst, die endlich in der Gefangennahme des Papstes 1303 und in der Verpflanzung der Päpste von Rom nach Avignon 1309 ihre Krönung fand. Die historische Situation des Machtkampfes zwischen Königtum und Papsttum fand also im Beginn der Standesreihe mit dem König vor dem Papst ihren Niederschlag. Sie alle, König, Papst, Bischof, Ritter, Turnierkämpfer, Arzt, Magnat, Logiker, Jüngling, Greis, Reicher, Richter, Lüstling und Edelknabe sprechen in den Vado-mori-Vtrsen nur von dem, was sie mit dem Tode aufgeben und verlassen müssen: der König muß Ehre, der Papst seine geistliche Herrschaft, der Bischof Mitra und Bischofsstab lassen. Ritter und Turnierkämpfer können den T o d nicht mit Waffengewalt, der Gelehrte nicht mit Disputieren besiegen. Der Arzt weiß keine Arznei wider den Tod, dem Reichen nütjt all sein Reichtum, dem Edelknaben seine vornehme Geburt nichts: Jugend und Alter, Luxus u n d Armut schüren ebensowenig. Diese Ständereihe ist keine vollständige, sie bringt nicht konsequent die politisch-soziale Schichtung, sie durchseht diese Schichtung bereits mit Alters- und Besitjklassen und mit der moralisch abgegrenzten Gruppe der Lüstlinge. Es ist eben keine Ständerevue im eigentlichen Sinn, sondern nur die Auffächerung des Begriffes „Jedermann" und um diese A u f fächerung voll zu machen und jeden einzelnen zu erfassen, werden je^t anschließend Querschnitte durch die ganze Menschheit gelegt:

Pariser und Erfurter Fassung des Vado-mori-Gedidites

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Eigenschaften, Charaktere und Stimmungen werden hervorgezogen als Verkörperungen des Jedermann in allen seinen Lebenslagen: Schönheit, Weisheit, Torheit, Trunkenheit, Hoffnung und Freude. Es ist das, was wie eine Maske vom Mensdien abfällt, wenn der Finger des Todes ihn berührt. Es bleibt der Jedermann, der ohne Rückhalt und Beistand den dunklen Pfad in die Nacht des Todes besdireitet. Deshalb sind die legten Verse ganz allgemein gehalten: v. 59 ff.

Ich gehe sterben, aber ich weiß nicht, wann und wo, weiß nicht, wohin ich midi wenden werde. Ich gehe sterben mit der Erkenntnis: der Tod ist Herr über alle, und vor Augen hab' ich die ausgespannten Netze des Todes. Ich gehe sterben, nidit Schmuck nodi Kleid hält mich, nidit Leinentücher noch weiche Kissen. Ich gehe sterben, erbarm dich meiner, erhabener König Christus und vergib mir all meine Schulden! Idi gehe sterben in Hoffnung auf ein ewiges Leben, in Verachtung irdischen Seins: so sterbe ich selig!

So endet das Gedicht mit dem Bekenntnis zur Verachtung der Welt und im Gebet um das göttliche Erbarmen, zeigt also deutlich seine Herkunft aus der Contemptus-mundiund Afemerato-mon-Literatur seiner Zeit. Die jüngere Fassung des Vado-mon-Gedichtes •) faßt in drei einleitenden, auf die Vado-mori-Formel verzichtenden Verspaaren die allgemeinen Gedanken kurz zusammen: der Tod kommt plötjlich, das Gesety des Sterbens gilt für arm und reich, denn seit dem Sündenfall muß jeder Mensch das Todesschicksal erleiden. Dann werden in der alten Vado-mori-Form lediglich die wichtigsten Stände und Berufe der Welt vorgeführt: Papst (der hier wieder an erster Stelle steht), König, Bischof, Ritter, Mönch, Jurist, Logiker, Arzt, der Weise, der Reiche, der Bauer, der Arme. Eine Zusammenfassung dieser Ständerevue zu einem allgemeingültigen Menschenschicksal erfolgt nicht. Gegenüber der noch ganz im Erbaulichen, Predigthaften stehenden Pariser Fassung wird also alles zu einer reinen Ständerevue schematisiert. Das Gedidit (das nur in 3 Distichen mit dem Pariser Text übereinstimmt) wird dadurch ärmer im Gefühlswert und an Gehalt, aber allgemeinverständlicher und einprägsamer. Hier ist es nicht mehr Jedermann, der aus der dunklen Vielfalt seines Wesens heraus• Erfurt Ms. Fol. Nr. 50 (14. Jh.), fol. 99 (abgedruckt bei W . F e h s e , in: Zschr. f. dt. Philol. 42, 1910, 277 ff. und Kozäky, S. 184), sowie in weiteren, bei Kozäky aufgeführten Hss., darunter angeblich noch dem 13. Jh. angehörige. Pariser und Erfurter Fassung drucke ich S. 323 ff. ab.

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II. Bußliteratur und Vado-mori-Gedidit

strebt, der alle Eitelkeit der Welt ablegt und die Arme ins Dunkle nadi der erbarmenden Hand Gottes ausstreckt. Hier ist es wirklich der einzelne differenzierte Mensch der mittelalterlichen Ständeordnung. Mußte nicht die Dichtung in dieser abgekürzten, schematisierten, auf die wichtigsten Stände der Welt beschränkten Form geradezu zur bildlichen Illustration reizen in einer Zeit, wo man den Bildgestalten auf Spruchbändern in Ich-Form gehaltene Verse beizugeben pflegte? Merkwürdigerweise hat keine der Handschriften, die Vado-moriVerse überliefern, den Versuch bildlicher Darstellung gemacht. Die aufdringliche Nennung des Standes in jedem Verspaar erweist ja auch, daß die Verse ursprünglich keineswegs für bildliche Darstellung verfaßt wurden. Erst im 15. Jahrhundert haben drei englische Handschriften die Vado-mori-VcTsc des Königs, Ritters und Logikers in englischer Übersetzung auf Spruchbändern den Gestalten eines Königs, eines Ritters und eines Bischofs beigegeben 10 ). Die zweite Dansemacabre-Ausgabe des Guy Marchant (1486) und ihr folgend die lateinische Ausgabe von 1490 n ) haben dann über den Bildern die Vado-mori-Verse der Pariser Fassung abgedruckt I2 ) und dabei willkürlich auf die Gestalten der Danse macabre verteilt, da ja ihre Gestalten ganz andere sind als die der Vado-mori-Vtrse. Man darf daraus schließen, daß das Vado-mori-Gtdidit niemals illustriert worden ist. Das Gedicht wurde als ein Ganzes empfunden und war für sich so eindrücklich und knapp, daß es nicht der Illustration bedurfte. Als aber die Totentänze zur Modesache geworden waren, empfand man die Verwandtschaft und gesellte es Totentanzillustrationen bei, so wie man die „Legende von den drei Lebenden und Toten" dem Totentanz von La Chaise Dieu und den Dansemacabre-Ausgaben anfügte. So wenig die „Legende von den drei Lebenden und Toten" sich zum Totentanz entwickelt hat (auch das hat man nachzuweisen versucht, aber vergeblich), so wenig ist das. £Wo-mon'-Gedicht zum Totentanz fortentwickelt, aber es kann die älteste lateinische Totentanzdichtung angeregt haben. Vielleicht sann ein Prediger darüber nach, wie er seiner Gemeinde den Tod recht anschaulich vor Augen führen und sie zu einem Leben ermahnen " K. B r u n n e r , Mittelengl. Todesgedidite, in: Archiv f. d. Studium d. n. Sprachen 167 (1935), S. 20 ff. 11 P e t e r D e s r e y , Chorea ab eximio Macabro, Paris 1490. 11 L. P. K u r t z , The dance of death, N e w York 1934, S. 17, schließt daraus zu Unrecht, die allgemein gehaltenen Verse seien schon ursprünglich für diejenigen Standesvertreter gedichtet, denen Marchant und Desrey sie beifügen.

Vado-mori-Gedicht und Totentanz

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könne, das den Riditersprudi Gottes nicht zu fürchten braucht. Vor seinem inneren Aug« sah er unzählige Tote in die Gräber sinken und nächtlich aus den Gräbern hervorsteigen. A l s er das Vado-moriGedicht zur H a n d nahm, da ordneten sich ihm diese Toten zu einer Ständerevue, und sie öffneten ihre Lippen und sprachen nicht viel anders als die Gestalten des Vado-mori-Gtdidites. In dieser Weise etwa mögen das Vado-mori-Gedidit und der Totentanz miteinander zusammenhängen. Beide sind hervorgewachsen aus dem Wunsche des Bußpredigers nach Anschaulichkeit und Prägnanz, beide geboren aus dem Gefühl der Eitelkeit des irdischen Daseins. Aber der eigentliche A n l a ß und die Idee des Totentanzes erklärt sich aus dieser Beziehung noch nicht, und nicht, warum gerade der Totentanz damals entstand, warum er mit dem Motiv des Tanzens verknüpft wurde und eine so innige Gemeinschaft mit der Bildkunst einging. Aus den allgemeinen Nöten und Wirren des ausgehenden Mittelalters ist seine Entstehung nicht zu erklären, und so sehr er seinem Geist nach in die Bußliteratur gehört: gradlinig aus ihr hervorgewachsen ist er nicht. W i r müssen schon etwas tiefer gehen, um die Wurzeln und Triebkräfte des Totentanzes recht zu begreifen. Daß die Vadomori traditionsgemäß und wegen ihres stärker elegischen Charakters ohne Illustrierung bleiben, zeigen auch erst im 15. Jahrhundert entstandene Vadomori, die die Ständerevue stärker herauskehren und somit eine Illustrierung hätten provozieren können. Im Jahr 1424 hatte der berühmteste Vertreter der Melker Klosterreform Peter Weichs von Rosenheim, vielleicht durch eine ihm von Johann Gerson aus Frankreich mitgebrachte Niederschrift der Pariser Fassung angeregt, ein neues Vadomori verfaßt Davon stimmen 69 Verse wörtlich mit der Pariser Fassung überein, während in 20 Dystichen geistliche Ständevertreter wie der doctor sacrae scriptum, jurista, legista sowie weltliche Ständevertreter (civis, consul, advocatus, mercator) zugefügt werden. Die Handschrift verzichtet trotz des Anklangs an die Ständerevue des Totentanzes auf Illustrierung. Das sogenannte „Oberaltaicher Vadomori", 1446 niedergeschrieben, ist wahrscheinlich in Frankreich entstanden und beim Baseler Konzil an bairische Mönche weitergegeben wordea Es verzichtet auf 20 menschliche „Zustände" und fügt statt dessen 20 geistliche Stände, 5 weibliche weltliche Standesvertreter und 8 männliche hinzu, wobei die geistlichen und weltlichen Stände nach franziskanischer Art getrennt aufgeführt werden. Der Text betont allgemein die Hinfälligkeit des Menschen und trotz der ausfuhr liehen Ständerevue, die an den Totentanz gemahnen mußte, kam der Abschreiber nicht auf den Gedanken, den Text durch Abbildungen zu illustrieren. Näheres bei H. Rosenfeld: Das Oberaltaicher Vadomori-Gedicht von 1446 und Peter von Rosenheim, in: Mittellateinisches Jahrbuch 2 (1965) S. 190-204.

III DIE IDEE DES TOTENTANZES U N D SEINE ÄLTESTE FORM, DER LATEINISCHE TOTENTANZBILDERBOGEN

1. D e r V o l k s g l a u b e a n d i e a r m e n S e e l e n a l s des T o t e n t a n z e s

Urgrund

Noch heute besteht weithin die Scheu, nachts über einen Friedhof zu gehen. Warum? Es ist unausgesprochen oder ausgesprochen die Furcht, die Toten könnten den Lebenden ergreifen und zu sich ins Grab hinabziehen. Die Nacht ist die Stunde, wo die Toten erwachen und Gewalt haben. Die Kirchendogmen widersprechen solchem Aberglauben. Sie betonen, daß die Seele mit dem Augenblicke des Todes dem Körper entflieht und unmittelbar vor Gottes Richterstuhl tritt und ihr Urteil empfängt 1 ). Im Grab ruht darnach also nur, was verweslich am Menschen ist. So eindeutig sind freilich die Aussagen der Heiligen Schrift nicht. Einschlägige Bibelstellen 8 ) setjen voraus, daß Leib und Seele im Grab versinken und ruhen, bis die Posaune des Endgerichtes die Toten aus den Gräbern zur Auferstehung und zum allgemeinen Endgerächt ruft. So lehrten noch die heiligen Väter der Kirchengeschichte, Origenes und andere, und erst allmählich brach sich die Auffassung Bahn, daß die Seelen sofort nach dem Tode oder nach vorübergehender Läuterung durch das Fegefeuer, jedenfalls vor der Wiederauferstehung der Leiber, in den Himmel vor Gottes Auge und Gericht treten. Die apokryphe Hieronymuslegende ist 1260 geradezu mit der Absicht geschaffen, häretischen Meinungen gegenüber das Einzelgericht der Seele durch Berichte wiedererstandener Toter zu erhärten. Noch Thomas von Aquino verteidigt Augustins universalgeschichtlich-eschatologische Auffassung, daß die Auferstehung der Toten und das Endgericht das Ziel der Weltgeschichte seien. Demgegenüber hat die Hochscholastik die Anschauung, daß nach Einzel1

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Vgl. Lexikon f. Theologie u. Kirche 5 (1933), Sp. 47 ff. (Himmel); 3 (1931), Sp. 979 ff. (Fegefeuer). Johannes 5, 28; 6, 40; Römer 8, 11; 1. Thessalonidier 4, 16; Offenbarung Johannis 20, 13.

Fegfeuer, Einzelgeridit und heidnischer Totenglaube

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gericht u n d Läuterung (Fegefeuer) die Seele der vollen Seligkeit teilh a f t i g werde, zum Siege gebracht und Papst Benedikt X I I . hat dies 1336 zum Kirchendogma erhoben. Damit wird die augustinische Geschichtslehre zerbrochen, die Bedeutung des Endgerichts entwertet und einer Individualisierung der Frömmigkeit freie Bahn gegeben'). Somit wird die Subjektivität der gotischen Epoche auch vom Dogma her begünstigt u n d legten Endes ermöglicht, daß Renaissance und Reformation das Individuum in den Mittelpunkt der Welt stellen. Der Volksglaube 3a) hat die ältere Auffassung über die Grabesruhe von Leib und Seele niemals aufgegeben, d a sie mit altheidnischen und abergläubischen Glaubensvorstellungen zusammentraf. Die frommen G r ü ß e an den Toten „requiesce in pace", „ruhe in Frieden", „ruhe sanft", die auch in der Totenmesse w i d e r k l a n g e n , konnten als Bestätigung dieser Volksvorstellungen aufgefaßt werden. Vielleicht ist das apokryphe vierte Buch Esdra die Quelle dieses Totengrußes oder das ehrwürdige W o r t des Heiligen Augustin „Herr, Du hast uns geschaffen mit dem Trieb zu Dir: unser Herz ist unruhig, bis es ruhet in Dir". Von Augustin her gesehen liegt in dem Totengruß nur der Wunsch, das unruhige Herz möge zu Gott zurückfinden u n d in ihm die ewige Ruhe finden; aber gewiß haben ihn weite Kreise anders verstanden. Seit den ältesten Zeiten besteht der Glaube, der Tote wandele nur seine Daseinsform, lebe aber in irgend einer Weise weiter. Deshalb räumte m a n in ältesten Zeiten das Haus, in dem der Tote starb, und überließ es dem Toten oder baute ihm ein neues, ewiges Haus, viel fester als das gewöhnliche Wohnhaus, ein Totenhaus von wuchtigen Steinen gebildet, in dem bäuerliche Geräte nicht fehlen dürfen. Regelmäßige Speise- u n d T r a n k o p f e r am Grabe zeigen es ganz deutlich, daß an ein wirkliches Weiterleben der Toten geglaubt wurde. Man pflegt diese Vorstellung als den Glauben an den „lebenden Leichnam" zu bezeichnen. Jenseitsvorstellungen wie die vom unterirdischen Totenreich, vom Reich der Hei, von einem himmlischen Elysium oder W a l h a l l a sind meist nur Vorstellung der führenden und dem urtümlichen Glauben entfremdeten Schichten, u n d in den Vorstellungen von einem Seelenheer, das unruhig über die Erde braust, lebt wie in der Sage von den Toten des Schlachtfeldes, die allnächtlich in gleicher Erbitterung den Kampf von neuem aus3

E. L e w a l t e r , Thomas v. Aquino und die Bulle „Benedictus Deus" von 1336, Zschr. f. Kirchengesdi. 54 (1935), S. 399—461. »•'Vgl. Handwörterbuch d. Aberglaubens 1 (1928), S. 584 ff.; 8 (1938), S. 1019 ff.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

f e i t e n , der Glaube einer kriegerischen Oberschicht 4 ), eines ritterlichen Heldentums, dessen Lebenserfüllung der Kampf war. Sie fand im Weiterleben mit den Kampfgefährten und in der Fortsetjung des Kampfes über den Tod hinaus höchste Beseligung. Die bäuerliche erdgebundene Schicht, also die große Mehrheit des Volkes, sah seit undenklichen Zeiten bis in unsere Tage hinein den Toten und die ganze Ahnensippe im Grabe ruhen und dort irgendwie weiterleben. Der Wunsch „Ruhe sanft", der Wunsch ewiger Grabesruhe oder daß die Erdscholle dem Toten leicht sein möge, sind jedenfalls nicht im übertragenen Sinn des Augustinwortes gemeint, sondern wörtlich und materiell. Der Mensch, der sein Leben lang gearbeitet hat und sich abgeplagt, hat ein Anrecht, sich auszuruhen, und diesen wohlverdienten Schlaf schläft er als „lebender Leichnam" im Grab, wenn ihn keine ungebüßten Sünden drücken und ihn keine Sorge um Hof und Nachkommen aufschreckt, wenn ihn Pktätlosigkeit und Lieblosigkeit der Nachfahren nicht stören. Da der Glaube an den lebenden Leichnam mit dem Kirchendogma unvereinbar war, wurde er als A r m s e e l e n g l a u b e der Kirchenlehre äußerlich angepaßt. Die Kirche ließ weitherzig die Fürbitte, Gebete, Meßopfer und Ablässe für die unerlösten „Armen Seelen" zu, für die Seelen, die nach kirchlicher Lehre noch den Qualen des Fegefeuers ausgesetjt sind. Sie gab damit dem alten Glauben eine Möglichkeit kirchlicher Betätigung, bog ihn aber bewußt ins Animistisdie um: mit dem Glauben an die unerlösten Armen Seelen verschwimmt dem Gläubigen die Vorstellung des lebenden Leichnams mit der flüchtigen Hauchseele. Oft überwiegt beim Kirchenvolk die Vorstellung des lebenden Leichnams, der in seinem Grabe ruht, aber auch erwachen und emporsteigen kann. Licht- und Speiseopfer sind das äußere Zeichen. Noch vor einer Anzahl Jahren wurden selbst auf dem Friedhof einer Welt- und Fremdenverkehrsstadt, wie es München ist, zu Allerseelen oder in der Weihnachtszeit, der Zeit der Toten, stets Schinken, Speck, Eier und anderes auf die Gräber gelegt: massiver kann der alte Totenglaube nicht zum Ausdruck gebracht werden. Dem Toten, der im Grabe ruht und so pietätvoll verehrt wird, traut man natürlich auch die Macht zu, daß er seinen Nachfahren in Nöten beistehen und ihnen Segen spenden kann. Die Kirche hat diesen Volksglauben mehr in die Bahn eines Armseelenglaubens zu bringen gesucht. Wenn noch etwas von den Toten 4

H. R o s e n f e l d , Die Schichtung im german. Totenkult und Götterglauben. Habil.-Schr. München 1950 (Masdi.-Schr.).

Armseelenkult und Kirchenglaube

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im Grabe lebendig ist, so können es nur unerlöste Seelen sein, deren Fegefeuerpein darin besteht, daß sie keine Ruhe finden, daß sie nicht zu Gott finden, sondern auf Erden umherirren oder nächtlich aus den Gräbern steigen. Nicht die Lebenden sind der Hilfe der Toten, der Armen Seelen bedürftig, sondern die Armen Seelen der O p f e r und Gebete der Lebenden, damit sie aus ihrer Unerlöstheit befreit werden. Deshalb sind Fürbittgebete und Fürbittmessen für die Armen Seelen gottgefällig. Beides, der Glaube an die Hilfe der Toten und an die Hilfsbedürftigkeit der Armen Seelen, verschwimmt dann ineinander. Die Legenda aurea und deutsche Volkssagen berichten, wie Menschen, die den Armen Seelen durch Opfer und Gebete geholfen haben, bei Verfolgung zum Friedhof flüchten; da stürzen die Toten mit Waffen und Geräten aus den Gräbern u n d vertreiben die Verfolger 5 ). Verhältnismäßig frühe Zeugnisse aus weit voneinander entfernten Gegenden Deutschlands erweisen die weite Verbreitung: das Tafelbild von 1492 im Mariendom von Kolberg in P o m m e r n ' ) dürfte die älteste erhaltene Darstellung des Motivs sein, das Holzrelief im Kloster Scheyern von 1520 7 ) ist aber nur wenig jünger. Der Glaube an die Totenhilfe ist noch bis in die Aufklärungszeit lebendig. Ein Votdvbild über solche Vorkommnisse findet sich z. B. in der ölbergkapelle des Friedhofes von Westerndorf bei Rosenheim, datiert 1681: der Ritter kniet betend vor dem Beinhaus, während die Toten als Gerippe mit W a f f e n und Dreschflegeln aus den Gräbern steigen und die Verfolger in die Flucht schlagen 8 ). Die beigefügte Inschrift lautet: Allhie haben alle Seelen aus Not ihren Fürbitter errettet vom Tod.

Ähnliche Darstellungen finden sich zu Burghausen (18. J a h r hundert), in der Allerseelenkapelle in Straubing (1742) und in der Gottesadcerkirdie zu Weilheim (1721) •). Die Grabspenden, die heute 5

A. V i e r l i n g , Totenhilfe, in: Altbayr. Monatsdir. 12 (1913/14), S. 13—15. — F r . W e b e r , Überreste alten Seelenglaubens, in: Bayr. H e f t e f. Volkskd. 3 (1916), S. 129ff. — S t . K o z a k y , Anfänge der Darstellungen des Vergänglichkeitsproblems, Budapest 1936, S. 303 ff. 6 A. M a 11 h e s , Der Totentanz im Mariendom zu Kolberg, Erfurt 1914 (Abb.). 7 Kunstdenkmäler Oberbayerns 1 (1895), S. 139. 8 Lexikon f. Theologie u. Kirche 3 (1931), Sp. 981/82 (Abb.;. • P h. M. H a l m , Altbayr. Totendarstellungen, in: Mündin. Jahrb. f. bild. Kunst 4 (1909), S. 145—59; ders.: Ikonogr. Studien zum Armseelenkultus, ebda. 12 (1921), S. 1—24. — J. A. E n d r e s : Zwei Armseelendarstellungen, in: Zschr. f. christl. Kunst 27 (1924), S. 157 ff. — Ein etwa 1800 gemaltes Votivbild desselben Themas aus der Mühldorfer Gegend kam 1936 in das Münchner Nationalmuseum.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

noch zu Allerseelen auf den G r ä b e r n dargebracht werden, lassen vermuten, d a ß auch heute noch im geheimsten W i n k e l des Herzens d e r G l a u b e a n die H i l f e der T o t e n lebendig ist. W e n n die Kirche gegenüber d e m G l a u b e n a n die T o t e n h i l f e u n d die Macht der T o t e n die H i l f s b e d ü r f t i g k e i t der unerlösten A r m e n Seelen betonte, so m u ß t e n diese P r e d i g t e n neben den ruhigen Schlaf der Toten, die von ihrer Arbeit ausruhen, ein a n d e r e s Bild setjen: das Bild der bemitleidenswerten A r m e n Seelen, die keine R u h e finden. Beides vereint sich d a n n in der Anschauung, d a ß die T o t e n u m Mitternacht aus den G r ä b e r n steigen. Das wechselnde Schattenspiel m o n d h e l l e r W o l k e n n ä c h t e u n d das Rauschen windgeschüttelter B ä u m e des Friedhofs n ä h r t oder steigert die Vorstellung, d a ß die T o t e n in Leichengestalt einen irrlichterhaften Reigen über den G r ä b e r n tanzen. Diese Vorstellung findet sich schon im Mittelalter. D a r i n besteht also die Qual der unerlösten A r m e n Seelen, ihre „ F e g f e u e r q u a l d a ß sie nachts aus ihrer T o t e n r u h e erwachen u n d zu diesem unheimlichen Reigentanz ü b e r den G r ä b e r n gezwungen werden, einem unheimlichen nächtlichen T r e i b e n , das so g a r nicht zu ihrem einstigen seriösen irdischen Dasein paßt. Sind es doch nicht beliebige u n b e k a n n t e T o t e , die da mitternächtlich umhertollen, s o n d e r n V a t e r u n d Mutter, A h n e n , V e r w a n d t e , F r e u n d e u n d N a c h b a r n der Menschen, die diese F r i e d hofstänze zu sehen meinen u n d sich vor ihnen fürchten. Mit diesen s p u k h a f t e n Visionen w a r also nicht nur das G r u s e l n vor dem U n ergründlichen v e r b u n d e n , sondern auch d a s Bewußtsein, d a ß die A r m e n Seelen einem unheimlichen Z w a n g unterliegen. N u r so e r k l ä r t es sich, welcher T o n von Inbrunst im Wunsche ewiger R u h e oder eines G r a b f r i e d e n s liegt, auch so nur, welchen U m f a n g die Fürbitte f ü r die A r m e n Seelen a n g e n o m m e n hat. Nach der Legenda aurea b e d r o h t e n die A r m e n Seelen einen Bischof auf d e m W e g zur Frühmesse, weil er einen Priester abgesetjt hatte, der viele F ü r b i t t messen f ü r die T o t e n zu lesen pflegte: „Du liest uns keine Messen u n d se^st unseren Priester, der uns Messen liest, a b " 10 ). Die t a n z e n d e n T o t e n sind der Fürbitte bedürftige, vom T a n z z w a n g gequälte A r m e Seelen. Dieser qualvolle Z w a n g ist bisher ü b e r h a u p t nicht beachtet. Er findet a b e r von ganz a n d e r e r Seite her eine überraschende Bestätigung. D e r niederländische Bearbeiter des französischen Gedichtes von Maugis d ' A i g r e m o n t f ü g t e seiner B e a r b e i t u n g (um 1350) eine 10

Vgl. H a l m , a. a. O.

Nächtlicher T a n z der Armen Seelen ist Fegfeuerqual

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merkwürdige Episode an 1 1 ): Maugis hat seinen Feind, den König Anthenor und dessen Ritter gefangen, alle nackt ausgezogen und mit Stricken an den mittleren Tragpfahl seines Zeltes gebunden, so daß sie im Kreise herumstehen wie ein Tanz von Toten: Ende staen recht in een crans als van doden luden een dans war gemaect bi mire wet.

Daß diese nackten gebundenen Ritter mit dem Tanz der Toten verglichen werden, bezeugt die allgemeine Verbreitung dieser Vorstellung, zugleich aber, daß dieser Tanz der Toten nidit Ausdruck einer Lustigkeit, sondern qualvoller Zwang war. Nach dem Volksglauben konnte man am St. Thomastag (21. Dezember) sogar die Gestalten derer, die im Laufe des kommenden Jahres sterben, bereits mit den Toten tanzen sehen. Deshalb schleicht sidi in dieser Nadit auf den Friedhof, wer die Toten des kommenden Jahres erkunden will 1 J ). Nach dem Volksglauben hat offensichtlich der Tod in der Zeit der zwölf Nächte, wo das Jahr gleichsam den Atem anhält und die Toten oft ins Heimathaus zu den Weihnachtsgabentischen — einst Opfertische für die Toten — zurückkehren, bereits eine geheimnisvolle Macht auf die Seelen derer, denen Gott im kommenden Jahr den Tod bestimmte. Aber der Tod übt nidit nur diesen Zwang auf die Seelen derer, die sterben sollen, aus (veige nannte man die vom Tod gezeichneten einst, erst später bekam das Wort die entehrende Bedeutung). Nein, der Tod selber ist es, der die Toten zu dem unheimlichen, allnächtlichen Tanz zwingt. Er ist es, der als Spielmann mit der Fiedel oder mit der Pfeife um Mitternacht den Toten aufspielt und sie zu ihrem Reigen ruft. Das ist die in verschiedenen Versen zum Ausdruck kommende Vorstellung des ältesten lateinischen Totentanztextes, das bezeugen uns ganze Reihen alter Totentanzbilder (Abb. 20, 21, 24, 30), aber das spiegelt sich ebenso sehr in der Volkssage wieder. Die Volkssage weiß, daß der Tod bei Mitternacht durch Streichen der Geige die Toten aus den Gräbern zum Tanz zwingt, und die Geige 11

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Roman van Malegijs, hrsg. Nap. de Pauw, Gent 1889, S. 67, v. 14—16: vgl. G. H u e t , in: Le Moyen Äge 29 (1917/18), S. 162 f. Einen literarischen Niederschlag solchen Volksglaubens bietet eine Erzählung von Emil F r o m m e l : in U n f r i e d e n lebende Ehepartner gehen unabhängig voneinander in der Andreasnadit zum Friedhof, um den Tod des Ehepartners zu erkunden, sehen sidi gegenseitig und halten sich für Seelengeister (Wie zwei in einer Nacht kuriert wurden, Schwerin 1914 u. Gütersloh 1948).

Rosenfeld,

Totentanz

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

spielend schwebt er in anderen Sagen dem Totenvolk voran l s ). Daß der Volksglaube vom Tanz der Toten auf dem Kirchhof sogar die Zeit der Aufklärung, die doch alle Geheimnisse und Wunder leugnete, überdauerte, beweist Goethes Ballade „Der Totentanz". Sie schildert diesen Tanz der Toten zunächst ein wenig humorvoll und überlegen, aber schließlich doch mit unheimlicher gespensterhafter Spannung. 2. D i e P e r v e r s i t ä t d e s T o t e n r e i g e n s a l s I d e e des T o t e n t a n z e s Die Vorstellungen vom mitternächtlichen Tanz der Toten, der „Armen Seelen", über den Gräbern bildet die Grundlage für die älteste Totentanzdichtung, die lateinischen Verse, die nur in einem Heidelberger Sammelcodex Pal. germ. 314 vom Jahre 1445 überliefert s i n d u ) . Man hat angenommen, Absicht dieser Dichtung sei, die Gläubigen vor nächtlichem Kirchhofbesuch zu warnen, sie zu erinnern, „daß die Toten jederzeit jeden Sünder in ihr Reich mitschleppen können" 15). Aber ein Glaube an solche Willkür der Toten widerspricht aller christlichen Heilslehre, wonach Gott jedem Menschen die Zahl seiner Tage zumißt. Warum sollte ein Geistlicher solch einer abergläubischen Warnung, die keinerlei religiöse Werte bot, zu bildlicher und dichterischer Darstellung verhelfen? Auch läßt der Totentanztext selbst nirgends die Deutung zu, daß die Toten einen zufällig in ihre Kreise geratenen Lebenden mit sich fortschleppen. Die bisherige Totentanzforschung hat sich die rechte Erkenntnis der Totentanzidee durchwegs damit verbaut, daß sie stets von einem Tanz der Lebenden mit den Toten redet. Es handelt sich aber keineswegs um einen Tanz von Lebenden und Toten, sondern, wie der " V g l . Handwörterbuch d. Abergl. 8, S. 1098 ff.; 3, S. 463; 467. — A. N i e d e r h ö f f e r , Meddenb. Sagen 1 (1858), S. 189 f. (Tod durch Teufel ersetzt). — O. S c h e l l , Berg. Sagen, Elberfeld 1897, S. 310 (Tod durch Fiedler ersetzt). M Textabdruck im Anhang (nach W. F e h s e , Der Ursprung d. Totentänze, Halle 1907, S. 50). — E. B r e e d e , Studien zu d.'lat. u. deutschsprachigen Totentanztexten des 13.—17. Jh., Halle 1931, ist unbrauchbar; ein Beispiel unerhörter Oberflächlichkeit ist, daß S. 19 presul falsdi mit Bürgermeister übersetzt wird, obwohl S. 23 der Totentanzvers des Bischofs zitiert wird, der presul egregius venerabor beginnt, also deutlich zeigt, daß presul Bischof heißt. — Ablehnend auch H. S p a n k e , ZDA 71 (1934) S. 54 ff. " W. S t a m m l e r , Die Totentänze des MA„ Münch. 1922, S. 12; ders., Der Totentanz, Münch. 1948, S. 17.

Perversität des nächtlichen Totenreigens

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Name deutlich genug sagt, um einen Tanz der Toten, eben um den nächtlichen zwangvollen Tanz der Toten über den Gräbern. Wenn zwischen die eklen Leidiengestalten jeweils Gestalten in der üppigen Kleiderpracht mit allen Insignien und Abzeichen der mittelalterlichen Stände eingereiht werden, so werden damit nur die jüngst Verstorbenen von den schon halb verwesten anderen Leichen abgehoben. Konnte man das Miteinander der jüngst Verstorbenen und der längst Verwesten anschaulicher darstellen als durch solche bunte Reihe? Nicht Lebende werden in den unheimlichen Tanz der Armen Seelen hineingezogen, sondern die neu Verstorbenen: sie, die eben erst in die Erde Versenkten, unterliegen zum ersten Mal dem unheimlichen Zwang, nach der Pfeife des Todes willenlos und hilflos mittanzen zu müssen. Die bunte Reihe des Totenreigens zeigt also in drastischer Anschaulichkeit: die, die heute noch die höchsten Würden der Welt bekleiden oder in Reichtum prangen und in Lust und Freuden leben und sich für weise und vornehm halten oder mit ihrer Frömmigkeit proben, sie alle tanzen vielleicht schon morgen mit den anderen Armen Seelen in ihrer scheußlichen Leichengestalt wie die Toren über den Gräbern. So vergeht mit dem Tod aller Ruhm, alle Würde, aller Stolz, aller Besi^, alle Weisheit, alle Lebensfreude, selbst alle Heiligkeit: was bleibt, ist nichts als ein ekelhaft verwesender Leichnam und ein unruhiges willenloses Tanzen in der Schar der anderen unerlösten Armen Seelen . . . Deshalb also wird dieser Tanz der Toten, der Armen Seelen in Leichengestalt, als ein Reigen dargestellt, bei dem sich die Toten bei den Händen halten wie Ringelreihen tanzende Kinder, immer abwechselnd ein Toter in Leichengestalt und ein Toter, der als jüngst Verstorbener noch ohne Verwesungsspuren ist und noch die Standestracht und Abzeichen menschlicher Würde und Macht trägt. Das ist j a das Erschütternde, daß der, der eben noch geachtet und geehrt unter den Lebenden weilte, je^t noch in seiner alten Tracht, doch willenlos wie ein Narr mit den Totengespenstern herumspringen muß! Das betonen die Verse der ältesten Totentanzdichtung ausdrücklich: Saliunt ut slulti periti (wie die Toren tanzen die Weisen), Metropolitanus nunc cum vanis ego vanus (Ich, der Erzbischof bin jetyt ein Schemen unter Schemen), Morte sum victus, non Caesar, non komo dictus (vom Tode besiegt, bin ich nicht mehr Kaiser, nicht mehr Mensch zu nennen). Mortis prolervam nunc stringor adire catervam (Ich bin gezwungen mit der frechen Schar des Todes zu tanzen), Morte nunc perii corisantibus associatus (Ich bin durch den Tod vernichtet und den

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

Tänzern beigesellt). Daß die Träger menschlichen Ansehens, menschlicher Macht und Würde Hand in Hand mit den ekelhaften Leichengestalten willenlos und unwürdig einen Narrentanz über den Gräbern vollführen, das soll die Menschen aufrütteln aus ihrer Weltsicherheit, das soll sie mit Verachtung gegenüber der Welt erfüllen und sie zu rechtzeitiger Buße und Vorbereitung auf den T o d veranlassen. Nur eine Zeit, die so voller Unruhe, so empfänglich für die religiösen Wegweisungen und Todesmahnungen war und zugleich so voller Gier, das Leben derb und naturhaft auszukosten, nur eine solche Zeit konnte den Gedanken des Totentanzes fassen und verbildlichen. Ein Geistlicher, der ein Kind seiner Zeit war und mit beiden Beinen in seinem Volke stand, ein Mann, der aus seiner Jugend den Glauben an das Fortleben der Toten, an die nächtlichen Tänze der Armen Seelen unter dem Zwang der Tanzweisen des Todes kannte, wurde bei seiner Predigt von den Eitelkeiten der Welt durch die Vision gepackt, wie die Würdenträger der Welt in den perversen Tanz des Todes gezwungen werden. Daß er diesem Gedanken nicht nur in der Predigt Ausdruck gab, sondern seine Vision zu einer Bilderdichtung verdichtete, gab seiner Idee die fortzeugende Kraft und Wirkung. Anregung mögen ihm dabei die Vado-mori-Verse gegeben haben, die ihm bekannt gewesen sein werden. Aber sie boten noch nicht die innige Verbindung von Bild und Text, si« gaben auch nur eine elegische Schau, keine erlebte Wirklichkeit, sie waren nicht Dichtung und Symbol zugleich. Wir müssen uns deshalb fragen, wo der Dichter die technische Voraussetjung für die Form seiner Dichtung fand, um die Unterschiede zum Vado-mori-Gedidit richtig würdigen zu können. Aber auch die bereitliegende literarische Form erklärt nicht die Entstehung der Dichtung, sagt noch nichts über die Heimat des Dichters, sagt nichts darüber aus, durch welche Erschütterungen die Seele gegangen sein mußte, ehe sie eine Dichtung schaffen konnte, die bei aller Verhaltenheit, Kargheit und Kunstlosigkeit so tief in die Herzen der Menschen seiner Zeit griff. 3. D e r

S p r u c h b a n d t i t e l als l i t e r a r i s c h e des T o t e n t a n z e s

Form

W i r bewegen uns beim Totentanz im Rahmen der geistlichen Lehrdichtung. Die geistliche Lehrdichtung benutzte gern die Allegorese, deren Anreger vor allem die Enzyklopädie der schönen Künste in allegorischer Form war, die der Spätrömer Martianus Capeila unter

Bild-Epigramm und Gemälde-Tituli

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dem Titel De nuptiis Philologiae et Mercurii geschaffen hatte. Sie diente im Mittelalter als Schulbuch. Geistliche allegorische Lehrdichtungen haben infolgedessen den mittelalterlichen Summen ähnlich das Bestreben, den ganzen Komplex der Morallehre zu erschöpfen. Beispiele sind etwa die Tochter Sion des Lamprecht von Regensburg und J o h a n n Rothes „Lob der Keuschheit". U m f a n g und gelehrter Ballast begrenzen die W i r k u n g solcher Werke. Auch einer weniger u m f a n g reichen unmittelbar belehrenden Dichtung wie Heinrichs v. Melk Von des todes gehugede blieb oft eine breitere W i r k u n g versagt. Dagegen wird meist die Breitenwirkung der epigraphischen Kleindichtung übersehen. Das griechische Epigramm 1 6 ), ursprünglich die erklärende Aufschrift eines Bildwerks, hatte sich zu einer rein literarischen, nur noch selten mit Bildwerken unmittelbar verbundenen Gattung entwickelt. Aber im römischen Schulbetrieb war man zur ursprünglichen Verbindung von Bildwerk u n d Text zurückgekehrt. Die Ilischen T a f e l n z. B. geben eine abgekürzte bildliche Darstellung des Trojanischen Krieges mit erklärenden Hexametern. Die christliche Kirche schloß an diese Tradition an. Sie wußte die unmittelbare W i r kung des Bildes auf breite Schichten auszunütjen u n d schmückte Kirchen u n d Klöster mit der Darstellung der heiligen Geschichten und kirchlichen Glaubenslehre, auf daß, wie Gregor der Große es ausdrückt, die der Schrift Unkundigen aus den W a n d g e m ä l d e n herausläsen, was sie aus Büchern nicht zu lesen vermögen " ) . Diese W a n d b i l d e r wurden jedoch meist mit kurzen lateinischen Versen, sogenannten Tituli18), erläutert, j a die Verse bilden in der Regel die Grundlage, das P r o gramm, das der Maler ins Bildliche u m z u s e i n hatte. Die Gemälde lockten in ihrer Vereinigung von Bild u n d Schrift beide, die Gelehrten wie die des Lesens Unkundigen, an, u n d die Lesekundigen mögen als wahre Ciceroni den Laien die Verse verdolmetscht u n d die Bilder erläutert haben. W e n n m a n diese mit Versen versehenen W a n d b i l d e r auch als Biblia pauperum bezeichnet, so liegt darin die Erkenntnis, d a ß damit den pauperes ein unschätjbares Hilfsmittel gegeben war, der niederen Geistlichkeit, die nicht gelehrt genug u n d auch nicht reich genug war, um umfangreiche Bücher kaufen u n d studieren zu können, die aber die kurzen Verse verstehen, interpretieren und zur G r u n d lage der Predigt machen konnte. Die kirchliche Bilderdichtung bot der " H . R o s e n f e l d , Das dt. Bildgedicht, Lpz. 1935, S. 11 ff. 17 St. Gregorii Epist. IX. 20S: Idcuco enim pictura in ecclesiis adkibetur, ul hi qui litteras nesciunt in parietibus videndo legant, quae legere in codicibus non valent. " R o s e n f e l d , Bildgedicht, S. 22 ff.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

niederen Geistlichkeit Anregung und Stoff zu volksmissionarischer Wirkung. Der objektiv erzählende Bildervers entsprach der Geisteshaltung des frühen Mittelalters. Die erwachende Gotik löst sich allenthalben von der starren symbolhaften Form. Wie der Bewegungsdrang der Gotik die Bildform flüssiger macht und szenische Vorgänge bevorzugt, so ersefjt er auch den objektiven Bildervers durch Sprüche in Ich-form, die den Bildgestalten in den Mund gelegt werden. Schon die griechischen Vasenmaler hatten bisweiten Worte ihrer Bildgestalten aus unsichtbaren Schallwellen in ablesbare Buchstabenketten verwandelt, die dem Munde der Bildgestalten zu entquellen scheinen. Die diristlidie Buchillustration machte von dieser Möglichkeit nur selten Gebrauch Folgenschwer war, daß sie die Propheten und Apostel wie die griechischen Gelehrten mit zum Lesen geöffneter Buchrolle in den Händen darstellte. Bisweilen ließ man dabei den Anfang des Buditextes in der geöffneten Buchrolle sichtbar werden. Wenn je^t ein Prophet in geöffneter Buchrolle eine messianische Weissagung sichtbar werden ließ, so mußte eine Zeit, die die Buchrolle nicht mehr kannte, sondern nur den C o d e x , das Buch im modernen Sinn, benutjte, die Buchrolle des Propheten für ein Plakat halten, auf dem die Worte des Propheten festgehalten waren. Man ging dann im 12. Jahrhundert dazu über, jegliche Art von Reden den Bildgestalten auf einer Art Band in die Hand zu geben. Was einst als sichtbar gemachte Schallwellenkette dem Munde einer Bildgestalt entströmte, wird jetjt auf einem Sprudibande den einzelnen Gestalten in die Hand gegeben. Als man den unmodernen objektiven Bildvers aufgab, kleidete man nun diese Spruchbandreden in Verse. Nur bei manchen biblischen Vorgängen wurde dabei der Wortlaut der Bibel beibehalten. Wer erinnert sich nicht der Bilder aus der Blütezeit mittelalterlicher Malerei, wo der Engel der Verkündigung mit dem Spruchbande „Sei gegrüßt, du Holdselige" vor die Jungfrau Maria tritt und diese wiederum ihm auf einem Spruchbande die demütige Antwort entgegenhält „Siehe, ich bin des Herren Magd, mir geschehe, wie du gesagt". So löst der gotische Mensch das Gemälde in Handlung und Bewegung auf, und es gibt Bilder, wo das Gerank der Spruchbänder mit ihren Versen die Bildgestalten rings umschlingen und umwuchern. Diese Spruchbandverse (Spruchbandtituli) sind nicht mehr zufällige Äußerungen wie einst zur Zeit der Buchstabenketten. Man sieht es daraus, daß sie bei Illustration von Dichtungen nicht der illustrierten Dichtung selbst entnommen, sondern eigens dazu gedichtet werden. Sollen diese Verse doch die ganze Szene in inhaltsschwere Verse zu-

Die Sprudibandtituli als literarische Form

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sammenfassen, so wie ein gotisches Netjgewölbe in einem Pfeiler zusammenströmt. Diese „Sprudibandtituli" werden also zu einer literarischen Form eigenen Gepräges M ). Auf dem großartigen Gemälde vom Triumph des Todes im Campo Santo zu Pisa und der Kirche De' Disciplini zu Glusone (Abb. 12) sind die Sprudibandtituli bereits in der Volkssprache abgefaßt und so jedem, der lesen konnte, verständlich; auch die ursprüngliche Form des Spruchbandes ist noch beibehalten. Aber vielfach zog man bei Bildern, wo auf den Text sehr viel ankam, die Spruchbänder den Figuren aus den Händen und brachte sie über oder unter dem Bilde an (Abb. 18/21), damit Bild und Text eindrücklicher wirken können. Der Spruchbandtitel wird also zur Uber- oder Unterschrift, aber er ist es seinem Wesen nach nicht, er gibt ja in Ich-Form die Rede der Bildfigur wieder. Wo das Bild selbst aufs äußerste vereinfacht und komprimiert wird, da war kein Pla(3 für das Anbringen eines Spruchbandes, und so ist gerade bei den kleinen geistlichen Lehrdichtungen das Herausziehen der Verse auf eine Schrifttafel über oder unter dem Bild das Übliche (Abb. 15, 22, 23, 39, 40). Damit ist weiterer Aufschwellung dieser kurzen Bildverse zu umfänglicherer Dichtung T ü r und Tor geöffnet. Wurden die kurzen Bilderdichtungen in den meisten Fällen als Bilderbogen, als Einblatt vervielfältigt und von Hand zu Hand weitergegeben, so wird bei Aufsdiwellung des Textes der kurze Bilderbogen zu einem illustrierten Buch erweitert. Der Bilderbogen aber ist und bleibt der Hauptträger der kleinen geistlichen Bilderdichtung, die in der sorgfältigen Abstimmung von Bild und Text und in der komprimierten Symbolträchtigkeit ihrer Verse ein eigenes Profil zeigt. Diese Gattung der Bilderdichtung oder, um die budifadunäßige Bezeichnung zu gebrauchen: diese literarische Form des Bilderbogens 40 ) bot sich dem Totentanzdichter dar, und als er seine dichterische Vision dieser literarischen Form anvertraute, da waren die Form-, Entwicklungs- und Verbreitungsmöglichkeiten seiner Dichtung eindeutig festgelegt. Die lange Tradition hatte eine literarische Gattung von Eigenart und Schärfe geprägt, und in dieser Gattung dichten hieß, sich einem Strom anvertrauen, der im ruhigen Gleichmaß, aber unaufhaltsam mit sich forttragen mußte!

" R o s e n f e l d , Bildgedidit, S. 22 ff. H. R o s e n f e l d , Die mittelalterl. Bilderbogen und ihre Bedeutung f ü r Literatur, Kunst u. Volkskunde, in: Zschr. f. dt. Altertum 85 (1954). — Vgl. auch H. R o s e n f e l d s Artikel ,Bilderbogen", in: L e x i k o n des Buchw e s e n s 1 (1952), S. 784/86 und R e a l l e x i k o n d. dt. Literaturgesih.,

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2. A u f l . , 1 ( 1 9 5 4 ) S. 174 f.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

4. E i g e n a r t u n d H e i m a t der ältesten T o t e n t a n z d i c h t u n g und ihr Dichter, e i n d e u t s c h e r D o m i n i k a n e r u m 1350 W i r wissen je^t, welche Volksanschauung und Idee hinter der Totentanzdichtung steht und welche literarische Form dem Dichter zu Gebote stand. Aber wir wüßten gern, was ihn zur Gestaltung trieb, welches der zündende Funke war, der ihn die Volksanschauung aufnehmen und die literarische Form des Bilderbogens ergreifen ließ. Wäre es nur das Bedürfnis des Bußpredigers nach Anschaulichkeit gewesen, dann hätte die Totentanzdichtung auch früher oder später entstehen können und es bliebe reiner Zufall, daß nicht ein anderer darauf verfiel. Warum hatte nicht längst ein Leser oder Bearbeiter der Vado-mori-Verse den ansdieinend so kleinen Schritt zum Totentanz getan? Der zündende Funke kann also nicht der Lektüre des Vado-mori-Gcdid\tes entsprungen sein. Nicht nur, daß dem Vadomori die Vorstellung des nächtlichen Totentanzes und damit die bildhafte Anschaulichkeit fehlte, seine Haltung ist auch rein elegisch, eine geistliche Betrachtung über die Vergänglichkeit alles Irdischen. Das Jedermanndrama hat in das Motiv mit dem Hinweis auf die Verdienstlichkeit der guten Werke einen moralischen Sinn getragen, das LWo-mon-Gedicht aber bleibt in der schmerzlichen, resignierten, man mödite beinahe sagen: stoischen Haltung befangen. Der Totentanzdichter hat eine ganz andere, eine sehr viel aktivere Haltung. Er sieht nicht die Lebenden und das Welken irdischer Pracht, er sieht die Toten, die Leichen und ist erschüttert und gepeinigt; nicht müde Vergänglichkeitsbetrachtungen bringt er, sondern er sieht hinter der Totenvision die ewige Verdammnis; seine Dichtung ist ein Warnungsruf aus innerer Not, die Wanderer über dem Abgrund zu warnen, sie zur Umkehr, zur Buße zu bewegen. Es ist dieser unerbittliche eifernde Ernst und Ruf zur Entscheidung, der die Totentanzdichtung wesentlich von dem lyrischen, weicheren Vado-mori trennt. Diese Dichtung ist eine aufrüttelnde Bußpredigt. Es entspricht ihrem Wesen, daß der Prediger tatsächlich am Anfang und am Ende der Dichtung zu Worte kommt und in zahlreichen Totentanzgemälden und Büchern am Anfang steht (Abb. 13, 20, 21, 24, 31). Wir gehen nicht fehl, wenn wir die Totentanzdichtung als eine in Bild und Vers umgesetzte Volkspredigt ansehen. Die Vadomori-Verse bleiben im Literarischen stecken, ihre Gestalten haben sich abgefunden mit dem Tode und die Welt erscheint nur noch wie ein undeutlicher Lärm aus der Ferne. Der Ritter sagt:

Vado-mori-GediAt und lateinischer Totentanztext

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Vado mori, miles, victor certamine belli, mortem non didici vincere, vado mori (v. 23/24).

Anders die Totentanzverse. Der Stand oder Beruf, der j a aus der Illustration zu erkennen war, wird entweder gar nicht oder nur nebenbei erwähnt. Aber leidenschaftlidi und erbittert wird der unwürdige, aller Standeswürde hohnsprechende Zwang zum Tanz im Reigen der verwesten Toten betont und beklagt. Jetjt gleicht der Ritter nicht mehr einem weltabgeklärten Stoiker, nein, wie Prometheus ruft er die Welt zum Zeugen: Seht, welch Unrecht ich leide! Strenuus in armis deduxi gaudia carnis contra iura mea ducor in ista chorea (v. 35/36). Ausgekostet hab ich die Freuden der Welt und tapfer im Kampfe gerungen. Wider mein Standesredit werd' ich in diesen Tanz gezwungen!

Der Kardinal, ein gottbegnadeter, vom heiligen Papst selber erwählter Mann, sieht sidi mit Entsetjen im wilden Heer der Toten einhertollen: Ecclesiae gratus fui per papam piliatus, mortis protervam nunc stringor adire catervam (v. 21/22). Der ich ein Licht der Kirche, vom Papst erwählet war: hinein werd' ich gezwungen in diese freche Totenschar!

In ähnlicher Weise beklagen sie alle (Papst, Kaiser, Kaiserin, König, Patriarch, Erzbisdiof, Herzog, Bischof, Graf, Abt, Ritter, Jurist, Chorherr, Arzt, Edelmann, Edelfrau, Kaufmann, Nonne, Bettler, Kodi, Bauer, Kind und Mutter), daß sie in diesen perversen Totenreigen gezwungen sind. Nicht die stummen Mittänzer, die Armen Seelen in ekler Leidiengestalt, sind es, die sie hineinzwingen in den Tanz, nein, eine höhere Macht, der Spielmann Tod zwingt alle mit seiner unheilvollen Pfeife in diesen Reigen, wie der Rattenfänger von Hameln die Kinder der ganzen Stadt mit seiner Pfeife unwiderstehlidi hinter sich herlockte. Der Chorherr betont, wie unrein der Pfeifenton des Todes seinem verwöhnten Ohre klingt, die Edelfrau klagt, daß die mißtönende Pfeife des Todes sie um alle Freuden des Lebens betrüge, die Nonne jammert, daß sie, die im Kloster so treu dem Herrn Christus gedient habe, ihr Beten lassen muß und vom Tod zum Totentanz gezwungen werde. Der Spielmann Tod zwingt also in diesen Reigen, seine Pfeife ist es, die alle in diesen Reigen lockt — der Prediger am Eingang des Totentanzes sagt es ja audi ausdrücklich (v. 10/11). Es scheint schlechterdings unverständlich, daß die bisherige Totentanzforsdiung

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

das völlig ignorierte und Spekulationen anstellte, wie der Tod nachträglich zum Reigenführer werden konnte. Da wird ein eigenes Gedicht konstruiert, das den Tod als Tanzführer mit den Menschen dargestellt haben soll. Dies Gedicht soll dann später mit dem ersten Gedicht, in dem Tote und Lebende miteinander tanzen, vereinigt sein 21 ). Das ist eine sehr geistreiche Konstruktion, aber sie ist mit dem Totentanztext unvereinbar. Nein, der älteste Totentanztext weiß es nicht anders als jüngere Fassungen: der Tod ist es, der als Spielmann den Toten aufspielt und sie zu gespenstigem Tanz über den Gräbern zwingt. Wenn die Armen Seelen, die „verrenkten schwarzen Männer", die »Gesellen des bitteren Todes" alle die neu hinzugekommenen Toten unter dem Zwang der Pfeife des Todes bei den Händen greifen, um den Reigen zu schließen, so kann doch dabei niemals ein Zweifel aufkommen, daß der Tod selbst Urheber und Mittelpunkt dieses Reigens ist. „Ich werde freventlich zum Tod geführt" (14), „ich bin vom Tode besiegt" (16), „ich bin vom Tod aus der Fassung gebracht" (18), „ich bin in den Banden des Todes verstrickt" (20), „ich bin in die Schar des Todes hineingezwungen" (22), „ich bin gezwungen, zu den Gesellen des bitteren Todes zu treten" (24), „ich bin zum Tanz mit dem Tode gezwungen" (28), „idb bin durch den Tod verniditet" (32), „ich bin verstridct in die Mönchsregel des Todes" (34), „das Grauen des Todes schreckt midi" (44), „der Tod veraditet Geschenke" (48), „der Tod heißt midi tanzen" (50): so bekennen schon im lateinischen Totentanztext Papst, Kaiser, Kaiserin, König, Kardinal, Patriarch, Herzog, Graf, Abt, Edelmann, Kaufmann und Nonne übereinstimmend in vielstimmigem Chor — die bisherige Forschung hat diesen Chor nicht gehört! Fürwahr, eindeutiger kann es doch nicht gesagt werden, daß der Spielmann Tod der Meister des Tanzes ist! Ebenso eindeutig zeigen es noch viele Totentanzbilder: wie der volkstümliche wandernde Spielmann mit seiner Dudelsackpfeife das Volk auf dem Anger zu fröhlichem Reigentanz verlockt (Abb. 19), so zwingt der unheimliche Spielmann Tod auf nächtlichem Kirchhof die Toten aus den Gräbern zu unseligem Tanz (Abb. 20, 21, 24, 30; vervielfacht zu einem Todesorchester: Abb. 13, 14, 22, 25)! Diu düstere Bild dieses Totenreigens nach der Pfeife des bitteren Spielmannes Tod, dieses Bild der höchsten menschlichen Würdenträger 21

S t a m m l e r (1922) S. 26 ff.; (1948) S. 36 ff. — G. B u c h h e i t , Der Totentanz, Bln. 1926, übernimmt meist Stammlers Formulierungen wörtlich und kritiklos, aber oft ohne Quellenangabe.

Spielmann Tod, Totentanz und Schwarzer T o d von 1348

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im irrliditerhaften willenlosen Tanz der unerlosten Armen Seelen über den Gräbern, dieser Tanz, der das Kind aus der Wiege und die Mutter vom Kinde reißt, ist es nicht sehr viel mehr als nur ein Ruf zu Todesbereitschaft und Buße, wie ihn die Asketiker aller Jahrhunderte erhoben? Ist es nicht sehr viel mehr als der dichterische Einfall eines einzelnen oder als zweckbewußter Auftrag besorgter Beichtväter? Ist es nicht wie Aufschrei einer gequälten Menschheit aus tiefster Not, der Aufschrei einer Menschheit, die die schwere richtende Hand eines zornigen Gottes über sich gefühlt hatte? Es ist eine Menschheit, die die Pestepidemien des 14. Jahrhunderts über sich hatte ergehen lassen müssen, die Pestepidemien, die seit 1348 die Völker Europas heimsuchten und nicht selten in den Städten bis zur Hälfte aller Einwohner dahinrafften 2 2 ). Vielleidit dürfen wir in der Bezeichnung der Toten als „schwarzer" Männer eine direkte Anspielung auf den „Schwarzen Tod", wie man die Pest damals nannte, sehen, obwohl solche Bezeichnung für aus den Gräbern entstiegene Leichen auch ohne dies verständlich wäre. Nodi im 16. Jahrhundert verbindet sidi mit dem Totentanz der Gedanke an die Pest. Als in Zürich im Jahre 1580 junge Burschen nächtlich auf dem Friedhof Unfug trieben und einen Totentanz mimten, verbreitete es sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt, auf dem Friedhof sei ein Totentanz gesehen worden, es stünde also eine neue Pestzeit bevor t2 a). Nun mag es uns wie Schuppen von den Augen fallen: die Vision von den Menschen aller Stände, die alle in einer Nacht zum ersten Mal in den Reigen der Armen Seelen hineingezogen werden, kann nur die Vision eines Massensterbens sein! Das Massensterben des Schwarzen Todes um die Mitte des 14. Jahrhunderts und das Grauen der Menschheit vor dieser Allgewalt des Todes bilden den düsteren Hintergrund und den seelisdien Nährboden für die Verbreitung des Totentanzes. Die Entstehung der ersten Totentanzdichtung aber ist unter dem unmittelbaren Eindruck der Pest in einer großen Stadt entstanden. Die Idee, alle menschliche Würde und Hoheit im perversen Gräbertanz scheußlicher Leichen entwürdigt und menschliche Weisheit entmündigt und alle unterschiedslos zum irrliditerhaften Tanz gezwungen zu sehen, ist nur eine typisierende Formung der wirklichen grauenhaften Bilder, wie sie eine von der Pest heim18

G. S t i c k e r , Die Geschichte der Pest, Gießen 1908, S. 60 ff. — P. H e i t z , Pestblätter des 15. Jh., hrsg. W . L. Schreiber, Straßb. 1918, S. 1 ff. 22a L. L a v a t e r , Von den Gespänsten, 1659, bl. 9 b ; vgl. Schweiz. Archiv f. Volkskunde 26, S. 307 f.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

gesuchte mittelalterliche Stadt bot. Die älteste Totentanzdichtung entstand unter dem grauenhaften Eindruck der Pest, und die Pest hat diese Assoziation immer wieder heraufgerufen. Wo später monumentale Totentanzgemälde entstanden, läßt sich fast immer nachweisen, daß dies im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Pestepidemie geschah! Für Basel und Lübeck ist dies längst erwiesen. Es gilt aber ebenso für Hamburg und Berlin, für Paris und fast alle bekannteren Totentänze. Stammler und andere Forscher sahen als Heimat von Idee und Bilddichtung des Totentanzes das Frankreich des 13. Jahrhunderts an, und zwar, weil hier im 15. Jahrhundert die ältesten monumentalen Totentanzbilder auftauchen und weil in Frankreich sich Mitte des 13. Jahrhunderts bei weitem mehr religiöses und kirchliches Bewußtsein gezeigt habe als im gleichzeitigen Deutschland 23 ). Mag diese Feststellung an sich richtig sein, so besagt sie doch für eine Entstehung des Totentanzes in Frankreich nichts. Wenn Frankreich Mitte des 13. Jahrhunderts kirchlich war, was beweist das für die Entstehung des Totentanzes Mitte des 14. Jahrhunderts? Bedarf es eines kirchlichen Bewußtseins, um unter der Erschütterung der Pestepidemie eine Totentanzdichtung zu schaffen, die sich im Einklang mit Volksvorstellungen befand, aber mit dem strengen Kirchendogma in völligem Widerspruch stand? Der österreichische Wanderdichter Heinrich der Teichner 24 ) hob 1358 nach zehn Jahren fürchterlichen Sterbens mit heiligem Ernst seine Stimme: man solle sich dieses Zeichen Gottes, diese Not über alle Not, diesen allgemeinen Tod zu Herzen nehmen: Wer heute lebt, der stirbt schon morgen. Das sollten wir bei uns stetig bedenken und zum Guten unsre Herzen lenken. Noch nie war ein Warnzeichen so gewaltig und groß!

Unter der Erschütterung durch dieses Warnzeichen Gottes entstand nach der Pestepidemie von 1350 als gewaltiges Mahnmal auf dem Friedhof zu Pisa das Bild vom Triumph des Todes. Sollte die Erschütterung der Seelen nördlich der Alpen nicht ähnliche Werke haben zeitigen können, wo doch die Seelen noch viel mehr aus ihrer Ruhe aufgeschreckt waren und wo Menschen aller Stände mit frommer In" S t a m m l e r (s. Anm. 15) 1922, S. 11 f.; 1948, S. 17. " T h . G. v. K a r a j a n , Über Heinrich den Teichner, Wien 1855, S. 10, Anm. 3.

Heimat des Totentanzes ist Deutschland um 1350

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brunst in Geißlerprozessionen durch das L a n d zogen u n d mit frommer Bußübung u n d Gebet Gott zwingen wollten, das große Sterben zu enden? Nun hebent uf die iuwern hende, Jesus, durdi diener namen drie, daz Got dis große sterben wende! mach du uns, herre, vor sünden frie! Nun hebent uf die iuwern arme, Jesus, durch diene wunden rot, daz sich Got über uns erbarme! behüt uns vor dem jehen tot!

So sangen die deutschen Geißler um das J a h r 1350 *»•). Es ist der ohnmächtige Versuch, Gott durch Bitten u n d Bußübungen, durdi „selbsteigene Pein" zu veranlassen, seine strafende H a n d zurückzuziehen. Der Totentanz aber spiegelt dies gefürditete jähe, unbußfertige Sterben wieder, nicht um die Seuche zum Erliegen zu bringen, sondern um die Menschen, die dieses große Sterben erlebt hatten, stetig daran zu erinnern, die G e f a h r des j ä h e n Todes vor Augen zu halten, und alle zu rechtzeitiger Buße zu rufen. D a ß Idee, Bild u n d T e x t der ältesten lateinischen Totentanzdichtung mit der Zeit des Schwarzen Todes verknüpft sind, scheint mir unbestreitbar, umsomehr, als die Sprachform der deutschen Übersetjung, wie wir noch sehen werden, in das dritte Viertel des 14. J a h r hunderts weist. Als Heimat des Totentanzes kommen nach der ganzen Überlieferung der Denkmäler u n d Texte nur Frankreich u n d Deutschland in Frage. Die neuere Totentanzforschung hat sich für Frankreich entschieden, ohne d a f ü r triftige G r ü n d e a n f ü h r e n zu können. Frankreich war damals durch den h u n d e r t j ä h r i g e n Krieg mit England (1339—1453) beunruhigt und verwüstet und von den gleichen Pestkatastrophen heimgesucht wie Deutschland, wo die Geißlerprozessionen die Furcht vor der Pest steigerten und gelegentlich zur Verbreitung der Pest beitrugen. In beiden L ä n d e r n zündete die Idee des Totentanzes wie ein L a u f f e u e r und zeitigte Denkmäler über Denkmäler. Aber die Mehrzahl der französischen Totentanzdarstellungen sind genau wie in England nur Reflexe der Totentanzidee, keine vollständigen Totentanzdarstellungen, und von den drei bekannten großen Totentanzwandbildern ist das eine ohne Textbeigabe geblieben. Für Frankreich war der Totentanz eine kurze Mode, u n d vor allem hat es in Frankreich nur einen einzigen Totentanztext gegeben: das Bedürfnis zu neuer Textgestaltung bestand hier nicht. In Deutschland aber hat man immer u n d immer wieder das T h e m a neu bearbeitet und neugestaltet, und die Totentanzdarstellungen sind seit dem 14. 25

Chronik Closeners, in: Chroniken d. dt. Städte vom 14.—16. Jh. 8 (1870). S. 109; 165 ff.; 120 ff. — A. H ü b n e r , Die Geißlerlieder, Bln. 1932, S. 109.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

Jahrhundert bis in unsere Tage nicht abgerissen. Das zeigt, wie tief der Totentanzgedanke im deutschen Fühlen verankert ist, wie sehr er der deutschen Mentalität entspricht. Es ist wenig einleuchtend, daß der Totentanzgedanke da zuerst Gestalt gewonnen haben sollte, wo er so wenig tief Wurzeln schlug. Wahrscheinlicher ist jedenfalls, daß er in Deutschland entstand, wo die Vielfalt der Gestaltungen und die lange Zeit des Beharrens bei diesem Thema erweisen, daß der Totentanz irgendwie im deutschen Wesen fest verwurzelt ist. Es dürfte auch kein Zufall sein, daß der Totentanz seinem Wesen nach mit der deutschen Vorstellung des Todes als eines Spielmannes verflochten ist, während der Franzose bestrebt war, auch im Totentanz die französische Vorstellung des Todes als eines Totengräbers zur Geltung zu bringen. Diese allgemeinen Erwägungen stimmen mit allen Einzelbeobachtungen überein. Schon der äußerliche Vergleich des TJado-moriGedidites, das nun wirklich und nachweislich in Frankreich entstanden ist, mit dem lateinischen Totentanztext ist aufschlußreich. Das Vadomon-Gedicht bringt als höchste Würdenträger Papst, König, Bischof und Ritter, und in der älteren Fassung rangiert der König sogar vor dem Papst: damit zeigt das Gedidit deutlich den Geist des zum unabhängigen zentralistisdien Nationalstaat heranreifenden Frankreich, in dem der König die höchste unbestrittene weltliche Würde darstellte. In diesem unbedingten nationalen Unabhängigkeitsstreben und Hoheitsanspruch wußte der König sich mit seinen weltlichen und geistlichen Würdenträgern einig. Der Unabhängigkeitsanspruch wurde gegen das Papsttum siegreich durchgekämpft, wie denn überhaupt das Papsttum seit Mitte des 13. Jahrhunderts weitgehend unter französischen Einfluß geriet Die Verpflanzung des Papsttums von Rom nach Avignon und die sogenannte babylonische Gefangenschaft der Kirche 1309-1377 ist dafür nur äußerliche Bestätigung. Wo aber sollte die Rangfolge Papst, Kaiser, Kaiserin, König, Kardinal, Patriarch, Erzbischof, Herzog, Bischof, Graf, Abt, Ritter geschaffen sein als im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation? Hier stand der Kaiser an der Spitje, der auch den Königstitel führte, hier gehörte ein König, der Böhmenkönig, seit dem 12. Jahrhundert zu den vornehmsten Lehensträgern. Niemals wäre ein Franzose der damaligen Zeit von sich aus darauf gekommen, als höchste weltliche Würden Kaiser und Kaiserin zu nennen und damit die siegreich erkämpfte nationale Unabhängigkeit Lügen zu strafen. In der Vielzahl der hohen geistlichen und weltlichen Würdenträger spiegelt sich die ideelle Universalität des deutschen Imperiums in seiner Verflochtenheit mit der universalen

Typisch deutsche Elemente im lateinischen Totentanz

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Kirche, nicht aber das moderne französische Landesfürstentum, das sich bei solcher Dichtung zunächst in den Vordergrund hätte drängen müssen. Wenn der französische Totentanz gleidiwohl mit Papst und Kaiser beginnt, so ist dies nur aus der Übernahme einer deutschen Vorlage zu erklären. Hierfür wird an anderer Stelle der Nachweis zu erbringen sein. Der Eindruck deutscher Herkunft, der durch die Auswahl der Personen entsteht, wird verstärkt durch ein inhaltlidies Motiv: die Szene zwischen Mutter und Kind (v. 57-60). Der älteste lateinische Totentanz weicht ein einziges Mal von der isolierten monologischen Selbstaussprache der Toten ab: das Kind, durch einen leidiengestaltigen Tanzpartner von der Mutter getrennt, ruft ängstlidi nadi der Mutter: O cara mater, mc vir a te trahit ater. Debeo saltare, qui nunquam scivi meare. O liebe Mutter, midi zieht ein schwarzer M a n n von dir. Ich wußte noch nicht zu gehen, und muß doch tanzen hier.

Und die Mutter antwortet, wie eine rechte Mutter antworten muß: 0 fili care, quae te volui liberare morte praeventa saliendo sumque retenta. 0 Kind, ich wollte didi wohl befreien, der Tod hält mich zurück, ich muß mit an den Reihen.

Hier durchbricht die Schilderung der Liebe von Mutter und Kind die starre Form, und in den knappen lateinischen Versen ist der Mutterliebe, die selbst die Schranken des Todes zu durchbrechen sucht, ein ergreifendes Denkmal gesetzt. Unwillkürlich wird man an die Pietàskulpturen des 14. Jahrhunderts erinnert, die die schmerz versunkene Gottesmutter mit dem toten Heiland im Schoß darstellen. Auch sie sind ein rein deutsches Gewächs. Hat die Gestaltung auch nichts Gleichartiges, so ist es doch der gleiche Geist, der die Pietà als zeitloses Symbol der Mutterliebe schuf und der die Szene zwischen Mutter und Kind in den grausigen Totenreigen einfügte. Hätten wir auch sonst keine Hinweise auf die deutsche Herkunft des Totentanzes, diese Szene allein in ihrer typisch deutschen Weichheit und Gefühlswärme würde genügen, um die deutsche Herkunft des Totentanztextes zu erweisen! Es ist gewiß kein Zufall, daß der französische Totentanztext die Gestalt der Mutter ausläßt und nur das Kind bringt. Den logisdien Aufbau der Standesreihe um eines sentimentalen Gespräches zwischen Mutter und Kind willen zu durchbrechen, lag dem Franzosen durchaus fern. Der Dichter des moralisch-religiösen

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

Todesgedichtes Mors de la pomme griff später auf den lateinischen Totentanztext zurück und nahm die Szene zwischen Mutter und Kind in seine Dichtung auf 2 6 ), da er überhaupt soldie Wechselgespräche zu dreien bringt. Aber er entkleidete die Szene zwischen Mutter und Kind aller Sentimentalität, tauchte sie in die logische Klarheit französischer Geistigkeit und machte die Reden zwischen Tod, Kind und Mutter zu philosophischen Deduktionen: TOD Pour monstrer, que dieu a puissance sur les grans et sur les petis cest enfant morra en enfance, prendre en puet a son appétit.

Gottes Madit über Große und Kleine sollt ihr Menschen nie vergessen, In früher Kindheit stirbt dieser Kleine, Gott kann nehmen nach Ermessen!

KIND Mère, ne plourez se m'en vois je n'ay gueros este au monde, à joy délivré je m'en vois quant de pediié mortel suys monde.

Mutter, klagt nicht, daß idi schcide der ich kaum auf Erden war. Denn erlöst zu ew'ger Freude bleib idi ew'ger Sünde bar.

mutter Helas, mon enfant voy morir qui tant est belle creature. Las! Ne le puis secourir, mors est plus fort que nature!

Weh, schon stirbt der kleine Mann und war die schönste Kreatur! Fahr hin, da ich nicht helfen kann: Der Tod ist stärker als alle Natur!

Auá dem ängstlich nach der Mutter schreienden Kind ist hier ein philosophierender Theologe geworden, aus der selbstlos liebenden Mutter eine eitle Mama, die sich mit der Sentenz tröstet, daß der Tod stärker als die Natur sei. Der Unterschied zwischen deutscher Sentimentalität, die selbst in der kurzen lateinischen Formulierung des Totentanztextes spürbar wird, und französischer logischer Geistigkeit ist eindeutig. So müssen wir die Heimat der ältesten, der lateinischen Totentanzdichtung in Deutschland suchen. Darüber hinaus vermögen wir nichts Bestimmtes zu sagen, wenn es auch nicht unwahrscheinlich ist, daß Würzburg, wo die älteste deutsche Überse^ung entstand, auch als Heimat der lateinischen Verse anzusehen ist. Können wir die " V g l . W . M u l e r t t , in: Festschr. f. E. Wedißler, Jena 1929, S. 132 f., der aber im 4. Vers des Kindes gegen die Hs, gegen den Sinn und ohne Be-

gründung avanl für quant einsetzt; vgl. die Abb. bei W. M u l e r t t , Kultur d. roman. Völker, Potsdam 1939, S. 39, Nr. 32; M. möchte seltsamerweise diese Dichtung von ca. 1450 indirekt zur Quelle des ältesten Totentanzes von 1350 machen, statt zuzugeben, daß der Dichter neben der Pariser Dansf macabre auch den latein. Totentanztext benutzt haben könne.

Französischer und deutscher Geist, Dominikaner als Totentanzdiditer

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engere Heimat nicht eindeutig festlegen, so können wir den Kreis, dem der Diditer angehörte und für den er arbeitete, doch eng umgrenzen. In der einzigen Handschrift des lateinischen Totentanztextes ist die Predigt, mit der der Totentanztext beginnt, überschrieben: Der erst prediger, die Sthlußpredigt, die hier gleich anschließt: Item alius doctor depictus predicando in opposita parte de contemptu mundi. Diese Bemerkung bezieht sich auf die Bilder der Vorlage, die an anderer Stelle als codex albus bezeichnet wird. Da auch spätere Fassungen fast durchwegs von Prediger, Doktor oder Magister sprechen (auch in den Pariser Handschriften heißt der Prediger meist docteur, während der Druck am Anfang acteur einseht, am Schluß aber meist maistre beläßt), werden wir hier die ursprünglichen Bezeichnungen haben. Als „Prediger" werden aber in erster Linie die Angehörigen des Predigerordens, des Dominikanerordens, bezeichnet. Auf diesen Orden weisen auch die Ausdrücke doctor und magister, die gleichbedeutend sind. Denn der Dominikanerorden legte auf die wissenschaftliche Vorbildung seiner Prediger als Voraussetjung für Predigt und Seelsorge größtes Gewicht, und wenn der Prediger als doctor, als Gelehrter bezeichnet wird, so schimmert dabei das wissenschaftliche Bildungsprogramm des Ordens durch, dem ein Thomas v. Aquino ( t 1274), Albertus Magnus ( t 1280) und ein Meister Eckhart (f 1327) angehört haben. Dominikaner sind auch die Hauptträger bei der Verbreitung des Totentanzes gewesen. Von den späteren monumentalen Darstellungen des Totentanzes finden sich ein ganze Anzahl in Dominikanerklosterkirchen, so in Großbasel (1439), Klingenthal (1439), Bern (1517), Konstanz (16. Jahrh.), Straßburg (16. Jahrh.), Landshut (17. Jahrh.). Daneben treten als Konkurrenten die Franziskaner auf, die eine noch volkstümlichere Predigt als die Dominikaner pflegten. Von den nachweisbaren mittelalterlichen Totentänzen sind der in Paris (1424) und der in Hamburg (1474) in Franziskanerklöstern beheimatet. Aber für die monumentale Darstellung war der Totentanz ursprünglich durchaus nicht geschaffen. Die wenigen Wandflächen, die eine durch Fenster und Pfeiler aufgegliederte gotische Kirche bot, waren der eng dogmatischen oder kultischen Bildkunst vorbehalten. Die allgemeineren Themen, aber auch Muster für Monumentalmalereien, wurden auf Pergamentblättern als Bilderbogen verbreitet. Auch die monumentalen Totentänze setjen Bilderbogen als Vorlage voraus. Gerade im Dominikanerorden war die Weitergabe von Bilderbogen üblich und bezeugt. Solche Bilderbogen gingen von Hand zu

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R o s e n f e l d , Totentanz

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

Hand, von Kloster zu Kloster, dienten als Wandschmuck und als Vorlage von Wandmalereien, bis sie von vielen Händen verwischt und zerschlissen dem Untergang anheimfielen. Der lateinische Totentanzbilderbogen war nur ein Bilderbogen unter anderen, die bei den deutschen Dominikanern umgingen 2 'a). 5. D i e ä l t e s t e T o t e n t a n z d i c h t u n g , Bilderbogen

ein

lateinischer

Der älteste (lateinische) Totentanztext 27 ) ist, wie bereits erwähnt, lediglich in einer der typisch spätmittelalterlichen Sammelhandschriften, dem Heidelberger Codex Pal. germ. 314, Bl. 79a-80b erhalten. Die Handschrift wurde 1445 in Augsburg für Margarete v. Savoyen geschrieben und beginnt mit Boners Edelstein. Dem lateinischen Totentanztext ist eine deutsche Fassung beigegeben. Daß der deutsche Text eine Überse^ung des lateinischen ist und nicht umgekehrt, läßt sich leicht beweisen. Jeder leoninische Hexameter ist durch ein deutsches Reimpaar wiedergegeben. Dabei ergeben sich im deutschen Text kleine Mißverständnisse, am deutlichsten beim Verspaar des Königs. Der König stellt sich mit seinem Hexameter Ut ego rex urbem sie rexi non minus orbem (wie ich als König die Stadt = Rom beherrschte, so damit auch die Welt) etwas schwerfällig als römischer König vor. Der deutsche Text verwirrt sich völlig im Gestrüpp der Begriffe: Ich hart als ein könig gewaltiklidi die weit geregyrt als Rom das rieh. In andern Fällen mußte der deutsche Übersetjer, um das Reimpaar zu füllen, ganze Sätje oder doch Ausdrücke und Reimworte einflicken. Reimzwang lag vor, als des Herzogs Vers Nobiles eduxi, quorum dux ipse reluxi (Die Edelleute führte ich an, als deren Herzog ich mich auszeichnete) dem deutschen Überse^er so aus der Feder floß: Ich han die edlen herren wert als ein herzog geregyret mit dem swert: mit dem Schwert regieren ist mindestens wenig glücklich im Ausdruck. In der anschließenden Zeile sed nunc ut adeam cogor cum morte choream mußte um des Reimes willen der Ausdruck in fescher cleyder glänz eingefügt werden: Nun bin ich in fescher cleyder glänz getwungen an des todes tanz. Bei den Versen der Mutter O fili care, quae te volui liberare, morte praeventa saliendo sumque retenta war der erste Hexameter bereits mit der ersten Zeile O kint, ich wolt dich haben erlost völlig wiedergegeben. Der Übersetzer schiebt deshalb " » H. R o s e n f e 1 d , Bilderbogen (s. Anm. 20). " Vgl. Textabdruck im Anhang S. 320—323.

Der lateinische Totentanz als Buß-Dichtung

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eine ganze Reimzeile ein: so ist enfallen mir der trost, obwohl damit der Satzzusammenhang mit dem zweiten Reimpaar gestört wird Der tot hat das fürkomen und midi mit dir genomen. Diese Beispiele mögen genügen, um den lateinischen T e x t als das Ursprüngliche, den deutschen T e x t als Übersetzung des lateinischen zu erweisen. Der deutsche T e x t ist, wie später bewiesen wird, in das dritte Viertel des 14. Jahrhunderts zu setjen. Einer Ansehung des lateinischen Textes um 1350 steht also nichts im Wege. D a ß die Totentanzdichtung aus einer Bußpredigt erwuchs, ist nicht verwischt. Am Anfang steht ein Prediger und warnt vor der ewigen Verdammnis und weist auf die Qualen der vom Tod zum Tanz gezwungenen Armen Seelen hin als eine Vorform der ewigen Höllenqualen. Die vierundzwanzig Personen, die nun ihren Eintritt in die Schar der Armen Seelen beklagen, sind die anschaulichen Beispiele einer Qual, die bei endgültiger Verdammung verewigt wird. Der zweite Prediger mahnt zu guten Werken und warnt vor dem ewigen Feuer. Die Bußpredigt der beiden Dominikaner schließt sich also wie ein fester Rahmen um die Vision des eigentlichen Totentanzes. In den Monologen der 24 Personen ist jedodi keine Selbstanklage, keine Reue oder Sündenbekenntnis enthalten. Sie beklagen alle nur ihre Ohnmacht und den Zwang, in diesem grauenhaften Totenreigen mittanzen zu müssen. Sie alle haben also ihre Sünden auf Erden nicht abgebüßt, sie alle sind unbußfertig gestorben, sie alle haben j a den jähen Tod, den T o d an der Pest, erlitten. D a ß sie aber besonderer Sünden sich schuldig gemacht hätten, wird nicht behauptet. Die Abfolge der Stände ist noch ziemlich zwanglos. Erst der Franzose hat später einen regelmäßigen Wechsel von geistlichen und weltlichen Ständen eingeführt. Im lateinischen T e x t ist dieser Wechsel nur zum Teil durchgeführt. Aber die Absicht, mit den ausgewählten Personen den ganzen Umkreis der Menschheit abzumessen, ist deutlich. Die Geistlichkeit ist mit Papst, Kardinal, Patriarch, Erzbischof, Bischof und Abt in ihren Spieen erfaßt, die weltliche politische Oberschicht mit Kaiser, römischem König, Herzog, Graf, Ritter und Edelmann, also ebenfalls mit sechs Ständen. Die bürgerliche städtische Sphäre vertreten Jurist, Chorherr, Arzt und Kaufmann, die Frauenwelt Kaiserin, Edelfrau, Nonne und Mutter, die Unterschicht, der die ganze Mühsal des Daseins aufgeladen ist, vertreten der Koch (damals ein „unehrlicher" Beruf wie der des Hirten), Bettler und Bauer. Als letjtes Glied im Totentanz treten Mutter und Kind auf. Sie sind der Urquell all der anderen Stände und die Mutter steht auch, was die Mühsal angeht, an erster Stelle. Zugleich schlägt aber

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

in Mutter und Kind, wir sahen es schon, die warme Welle deutscher Innigkeit und Herzlichkeit hervor, so daß man hier in mehrfacher Weise von einem dichterisch fein abgewogenen Aditergewidit sprechen kann. Aber schematisch erklügelt ist die Auswahl und Anordnung der Stände gewiß nicht. Die Stufenfolge ist mehr zwanglos und die meisten Einzelheiten sind mitten aus dem realen Leben gegriffen. Diese menschliche Seite zeigt sich gerade auch bei der Kennzeidinung der Weiblichkeit: die Kaiserin ist ganz den Hoffestlichkeiten hingegeben, die Edelfrau ganz dem ästhetischen Genuß und Spiel — das Bild des Minnedienstes steht dem Dichter da noch vor Augen —, die Nonne geht ganz im mystischen Sinne im Dienst des himmlisdien Bräutigams auf, die Mutter in der Fürsorge für ihr Kind. Spätere Texte haben mancherlei Berufsgruppen und Typen hinzugefügt, und doch ist schon in den vierundzwanzig Figuren der ältesten Totentanzdiditung die ganze Breite des Lebens umrissen, die höchste geistliche und weltliche Macht, der Umkreis der Frau, der Kreis der städtischen Kultur und die Werktätigen und die heimatlose Armut. Die Heidelberger Handschrift entnahm ihren Text einem illustrierten Codex albus, auf dessen Bilder vor Beginn des Textes hingewiesen wird. Diese ältere Handschrift schöpfte aber aus einem Bilderbogen. Denn der aus dem Codex albus übernommene Satj Item alius doctor depictus predicando in opposita parte de contemptu mundi sagt ausdrücklich, daß in der Vorlage der zweite Prediger nicht auf den ersten unmittelbar folgte, sondern am entgegengesetzten Ende, das heißt aber am anderen Ende einer lauigen Reigendarstellung, abgemalt gewesen sei. Beim letjten Blatt einer Handschrift hätte man nicht vom „entgegengesetzten Teil", sondern nur vom letjten Blatt gesprochen. Wir haben hier also doch wohl einen urkundlichen Beweis dafür, daß ein Bilderbogen vorlag und von dem Sammler in seinen Sammelcodex übertragen wurde. Wie sah solch ein Bilderbogen aus? Die Bilderbogen von Ghristus und der minnenden Seele28) ordnen ihre 20 Einzelszenen in sechs Reihen übereinander (Abb. 40) auf einem Bogen, der mit etwa 35 X 26 cm einem großen Folioblatt entsprach. Der Bilderbogen zur Verteidigung der Jungfräulichkeit Marias, der um eine große Mittelszene eine Menge kleiner Szenen aus der Tier" Vgl. R. B a n z , Christus u. die Minnende Seele, Breslau 1908. — H. R o s e n f e 1 d , Christus und die Minnende Seele, Verfasserlexikon der deutschen Lit. des MA.s 5 (1955) Sp. 140—143.

Der lateinische Totentanzbilderbogen und seine Anordnung

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fabel gruppierte, ist ein Pergamentblatt von doppelter Größe (84,4 X 58,8) 2 9 ). Eine derartige Anordnung war bei Einzelszenen möglidi, nicht aber, wo wie beim Totentanz eine einzige vielfigurige Szene, die zwischen zwei Prediger gespannte Reigenkette der Toten, wiedergegeben wird. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß die lange Reigenkette meist in zwei Reihen zerlegt wurde. Der einzige vollständig erhaltene Totentanzbilderbogen in Paris vom J a h r e 1490 enthält in dieser Weise die Danse macabre in zwei Reihen übereinander 3 0 ). Die Anordnung wird alt sein, denn auch der Venetianische Totentanzbilderbogen, von dem eän Fragment erhalten ist (Abb. 12), muß zweireihig gewesen sein. D a das Fragment mit drei Totentanzpaaren 23,7 X 40 cm mißt S1 ), wäre der ganze Bogen etwa 50 X 200 cm groß gewesen. Der Pariser Bilderbogen kommt etwa auf dieselbe Größe (50 X 190 cm). Der niederdeutsche Totentanzbilderbogen S 2 ) muß, nach der Größe des Berliner Pergamentfragmentes (Abb. 17) zu urteilen, eine Größe von 40 X 150 cm gehabt haben. Reihen wir diesen Totentanzbilderbogen und Fragmenten den Muster" J. S c h l o s s e r , S. 312 ff.

in: J a h r b . d. kunsthistor. S a m m l u n g e n W i e n 23 (1902),

so

Bibl. nat. Est. Te. 8 rés., zusammengeklebt aus 3 Papierblättern und einem Pergamentblatt von j e 50 X 73 cm, die jedoch zu Blättern von 50 X 36,5 cm zusammengefaltet und in sidi mit dem Rücken aneinandergeklebt sind, so daß ein Buch von 4 Blättern entsteht bzw. 8 Seiten, deren erste und letzte leer sind; die zweite Seite enthält das französische Königswappen, S. 3—7 (Papier) in zwei Reihen übereinander die Danse macabre und anschließend die Legende der 3 Lebenden und Toten, jedoch schließen sidi sämtliche Bilder der oberen Reihe und entsprechend die der unteren Reihe der Reihenfolge nach aneinander an, so daß das Zusammenkleben der Blätter mit dem Rücken aneinander unorganische spätere Zutat sein muß, weil sie das richtige Ablesen stört: gedacht war der Druck also als Bilderbogen; Drucker war wohl Le Rouge, jedoch ist Vérards Verlegersignet aufgemalt. Dieselben Holzschnitte wurden von Coutau und Menart 1492 umgestellt und zu einem normalen, doppelseitig bedruckten Buch verwandt. Ich bin der Bibliothèque Nationale in Paris für vielfache genaue Auskünfte in dieser Angelegenheit zu großem Dank verpflichtet. (Vgl. auch Gesamtkat.

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W . L. S c h r e i b e r , Manuel de l'amateur de la gravure sur bois et sur métal en 15. siècle, 6 (1893), pl. 27, und: Handb. d. Holz- u. Metallschnitte

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Das Fragment Berlin germ. fol. 735 enthält unter den Bildern, die in Abb. 17 erstmals veröffentlicht werden, etwas verstümmelt den zugehörigen Text, der im Anhang kritisch herausgegeben wird, nachdem eine noch unvollständige Wiedergabe schon durdi W. S e e 1 m a n n (Jahrb. d. Ver. f. ndt. Sprach f. 11 [1885], S. 126 ff.) erfolgte.

d . W i e g e n d r . N r . 7946, 7951 u. 7952.)

d. 15. J h . 4 (1925), S. 66, N r . 1300.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

bilderbogen an, der als „Musterrolle eines Kirchenmalers des 15. Jahrhunderts" gilt s s ) und aus einem Pergamentblatt in der Größe von 50 X 180 cm besteht, so kommen wir für so umfängliche Bilderbogen auf ein Normalmaß von etwa 50 X 150 cm. Zieht man in Rechnung, daß es sich bei den erhaltenen Bogen und Fragmenten um besonders sorgfältig ausgeführte Prachtexemplare handeln kann mit besonders großem Maßstab, so kann man von dieser Größe für einfachere Herstellung bis zur Hälfte abziehen. Diese nüchternen Erwägungen und Messungen zeigen, daß der Gedanke eines Totentanzbilderbogens keine Phantasie ist. Die erhaltenen Bogen und Fragmente entstammen freilich der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Aber warum sollten ähnliche Bogen nicht schon Mitte des 14. Jahrhunderts verbreitet worden sein? Daß von diesen Blättern nichts erhalten ist, kann kein Gegenbeweis sein. Wer besitzt heute noch etwas von den Bilderbogen seiner Jugend? Daß aber im 14. Jahrhundert ein reger Austausch von Bilderbogen zwischen den Klöstern stattfand, ist bezeugt. Ein Venetianischer Franziskaner sandte 1335 gemalte Tüchlein, die die figurenreichen Glasfenster seines Klosters in Miniaturen wiedergaben, als Malvorlage an ein Bruderkloster in Rom 34 ). Genauer sind wir über die Bilderbogen des Dominikanermystikers Seuse unterrichtet 35 ). Hier handelt es sich um mystisch-asketische Bilder mit lateinischen Versen, die er sich in seiner Jugend von einem Maler auf Pergament malen ließ. Er nahm diesen Pergamentbilderbogen auf die hohe Schule nach Köln mit und hängte ihn dort in seiner Zelle auf. Später ließ er sidi in seinem Konstanzer Heimatkloster danach eine kleine Kapelle ausmalen. Dann sandte er Kopien des Bilderbogens an seine klösterlichen Beichtkinder. Eines von ihnen, die Nonne Elsbeth Stagel, setjte dann die lateinischen Verse in deutsche Reime um. Sicher hat sie dann wieder Kopien mit den deutschen Reimen an andere Klosterschwestern hinausgesandt. Wir sehen also hier den Bilderbogen als persönliches Andachtsbild und als Vorbild von Wandmalereien, wir sehen seine Weitergabe von Kloster zu Kloster und die Umänderung und Übersetzung des Textes. Wie Seuses mystisch-asketische Bilderbogen in den weitabgewandten mystischen Kreisen des Dominikanerordens von Hand zu M

J . S c h l o s s e r (s. Anm. 29), S. 312 ff. J . S c h l o s s e r (s. Anm.29), S. 301. »' Seuses D t Schriften, hrsg. K. Bihlmeyer, Stg. 1907, S. 60, 10 ff.; 103, 14 ff.; 104, 1 ff.; 107, 1 ff.; 396, 21 ff. M

Totentanzbilderbogen aus dem Erlebnis des Sdiwarzen Todes

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Hand gingen, so gingen gewiß in städtischen Kreisen, die mehr dem realen städtisdien Leben zugewandt waren, mancherlei andere Bilderbogen um, um Predigt und Seelsorge zu befruchten. Greifbar werden uns die Bilderbogen meist nur, wo sie aus der Welt des Bilderbogens in die des Buches übergehen. Die sogenannten „Armenbibeln" und die ebenfalls illustrierten und mit lateinischem Text versehenen Büchlein über die Kunst zu sterben (Ars moriendi) sind solche homiletische Anweisungen und Anregungen für die niedere Geistlichkeit. Ob sie tatsächlich zunächst als Bilderbogen umgelaufen sind, wissen wir nicht sicher. Bei dem mystischen Thema „Christus und die minnende Seele" haben wir beides erhalten, sowohl Bilderbogen mit kurzen Bildversen als audi zu Andachtsbüchern von verschiedener Länge aufgeschwemmte Dichtungen 3 '). Von den vier Handschriften der umfangreicheren „Minnenden Seele" stammen drei (E, D und U) aus Dominikanerklöstern. W i r dürfen also den Verfasser des lateinischen Totentanzes in den Kreisen der deutschen Dominikaner des 14. Jahrhunderts suchen. Als Bilderbogen ordnet er sich der dominikanischen homiletischen Bilderbogenliteratur ein. Der Verfasser erlebte wohl in einer der großen Städte am Main oder Rhein die Zeit der Pest von 1348. Er sah, wie tausende von Menschen, die eben noch sich unbekümmertem Lebensgenuß hingaben, jäh von der Seuche dahingerafft und alsbald von rohen Totengräbern als Leithen durch die Straßen gezerrt und so, wie sie der Tod überrascht hatte, in ein Massengrab geworfen wurden. Dies schauerliche Erlebnis ließ vor dem inneren Auge die grausige Vision erstehen, wie diese unbußfertig so jäh Dahingerafften in der Standestracht, die sie bei ihrem jähen Tode trugen, nun alle auf einmal mit den unerlösten Armen Seelen in ihrer halbverwesten Leichengestalt zum ersten Male zum qualvollen, irrliditerhaften Tanz über den Gräbern gezwungen werden. Diese Vision faßte er in die bereitliegende Form des Bilderbogens, wie sie gerade in Dominikanerkreisen üblich war. Das Ganze ist, wie die umrahmenden Bußpredigten unterstreichen, ein packender anschaulicher Ruf zu rechtzeitiger Buße, und es kam aus dem übervollen Herzen eines Seelsorgers, der furchtbare Szenen mit angesehen und gemerkt hatte, wie unvorbereitet, mitten aus tiefster Sündenverstridcung, die Menschen in den Tod gingen. Deshalb ist der Ruf: „Denkt an das Ende, ändert euer Leben!" eine echt christliche Bußmahnung, aber an volksM

V g l . Anm. 28.

72

III. Idee und älteste Form des Totentanzes

tümlidie deutsche Totenvorstellungen angelehnt und mit G e f ü h l s w ä r m e gefüllt. A b e r in lateinischer Spradie!

deutscher

W a r u m in lateinischer Spradie? D e r Bilderbogen w a r also nicht f ü r die breite Masse gedacht. D i e Dominikaner predigten j a in deutscher Sprache, und ein Bilderbogen, der sein Publikum auf den J a h r märkten suchte, mußte deutsch sein. Dieser Bilderbogen sollte aber nicht fürs g r o ß e Publikum sein. Er w a r nur als Handreichung f ü r die Predigerkreise selbst gedacht, als A n r e g u n g f ü r die pauperes, f ü r die niedere Geistlichkeit, g e n a u w i e die A r m e n b i b e l n und Ars-moriendiBüdier! Es ist j a die Zeit, in der ein so sprachgewaltiger D o m i n i kaner, w i e Seuse es war, sein ursprünglich deutsch geschriebenes „Büchlein der ewigen W e i s h e i t " nachträglich als Horologium sapientiae selbst ins Lateinische übertrug, um es theologischen Kreisen, besonders auch seinen Ordensgenossen in aller W e l t , zur Beachtung vorlegen zu können. In ähnlicher W e i s e hatte auch Berthold v. Regensburg seine in deutscher Sprache gehaltene P r e d i g t e n zu einem lateinischen Predigtkompendium zusammengefaßt, das, wie schon der T i t e l Rusticanus besagt, ausdrücklich den pauperes, den L a n d p r e d i gern, als U n t e r l a g e und A n r e g u n g dienen sollte. M a n hat zweifellos die Bedeutung des Kulturaustausches zwischen den Klöstern zu w e n i g beachtet. W i e Seuses „ H o r o l o g i u m " , w i e Bertholds „Rusticanus", so w a n d t e sich auch der Totentanzbilderbogen in seiner ältesten lateinischen Form a n die Seelsorger in d e r N ä h e und Ferne, die alle vor der gleichen A u f g a b e standen und alle der A n r e g u n g und H i l f e bedurften. N u r weil es so war, nur weil der T o t e n t a n z lateinisch gedichtet w u r d e u n d damit international war, konnte er seinen W e g durch Europa antreten. Es gäbe in Frankreith und in Spanien und in Italien sonst schwerlich einen Totentanztext.

6. D e r

lateinische

Totentanzdialog des

als

zweite

Stufe

Totentanzes

Das älteste Totentanzgedicht ist monologisch: die einzelnen toten W ü r d e n t r ä g e r sprechen allein und beklagen, d a ß sie mit den larvenhaften halbverwesten T o t e n tanzen müssen. A b e r ihre K l a g e verhallt, als hätte ihre Stimme keinen T o n mehr. Es antwortet nur die Stummheit der Tanzpartner, die sie an den H ä n d e n halten, und das knackende Geräusch ihrer Gebeine und der unaufhaltsame Reigenschritt. Fürwahr, eine unheimliche Vision von der H i n f ä l l i g k e i t menschlicher W ü r d e . In der W e l t ist immer einer da, der antwortet, zustimmt oder widerspricht. Nichts ist schlimmer, als ins Leere zu

Totentanz und Legende der 3 Lebenden und Toten

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sprechen. Aber hier ist keiner, der zuhört. Nur noch die eigene Stimme hört man, und auch sie verliert ihren Ton. Konnte diese unheimliche Vision dadurch gesteigert werden, daß die stummen Partner den toten Menschen antworten und mit ihnen diskutieren? Eine Steigerung gewiß nicht! Für den nicht, der sidi von dieser Vision packen ließ. Wie kam man trotjdem dazu, den stummen Partnern, die Hand in Hand mit den Klagenden den unheimlichen Reigen springen, den Mund zu öffnen und ebenfalls Verse beizugeben, wie dies erstmals der vierzeilige oberdeutsche Totentanz " ) tut? Die bisherige Forschung ging davon aus, daß es sich bei den klagenden Würdenträgern vom Papst bis zur Mutter um Lebende handelt, die um Gnade betteln 88 ). Nur so konnte man auf den Gedanken kommen, einen Einfluß der „Legende von den drei Lebenden und drei Toten" auf den Totentanz anzunehmen, da in dieser Erzählung drei Tote die Lebenden anreden und mahnen, an den Tod zu denken und Buße zu tun. Ja, mau ging so weit, diese Erzählung als eine Hauptquelle in den Stammbaum des Totentanzes einzufügen. Der Ruf zur Buße wird aber im Totentanz durch die Gestalten der Prediger vertreten, für die Mahnungen der Toten der Legende ist schlechterdings kein Raum. Da außerdem die klagenden Würdenträger auch Tote sind, die mit den namenlosen Armen Seelen tanzen müssen, so fehlt für diese Stammbaumkonstruktion jeder Anhalt. Was haben wohl die kurzen Verse der 24 Partner des lateinischen Totentanzes mit den wortreichen Lehren und Ermahnungen der drei Gesprächspartner der „Legende" miteinander gemeinsam? Die „Legende von den drei Lebenden und Toten" ist eine auf mehrere Personen verteilte Bußpredigt in Rollenform, die bis zu 300 Verse zählt; sie gehört einer ganz anderen literarischen Gattung an als der Totentanz: die Tiraden ihrer Figuren haben nichts mit den zwei knappen Hexametern zu tun, die von den namenlosen Toten des Totentanzes gesprochen werden. Diese Antworten der namenlosen Toten sind eben keine Bußpredigten wie sie von den toten Königen der „Legende" gehalten werden. Es sind nur Antworten auf die Klagen der jüngst Verstorbenen, ja weniger noch, nur ein Echo. Die unheimliche Stummheit, die Totenstille, die in der ältesten Totentanzdichtung den Klagen antwortet, dieses unheimliche Verhalten der Stimme im leeren Raum, das wird jetjt zu einem Echo gemildert. Es gibt nur der un11 Vgl. den Würzburger Totentanztext im Anhang S. 308—320. " W . S t a m m l e r (s. Anm. 15), 1922, S. 13; 1948, S. 20.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

heimlichen, aber beseelten Stille der Urform je^t Wort und Klang und ist eben nur ein höhnischer Widerhall: Vergeßt eure Würde und was eudi lieb und wert war, reiht euch ein in den Tanz und springt lustig mit! Aber auch das wurde von der gesamten Totentanzforschung bisher verkannt, daß die Verse der namenlosen Toten ursprünglich den Reden der menschlichen Standesvertreter erst nachfolgten. In einigen Fällen ist es aber ganz eindeutig festgelegt. Der Patriarch spricht von dem Doppelkreuz als Zeichen seiner Würde, der namenlose Tanzpartner antwortet ihm: „Das zweifache Kreuz laßt fallen". Der Erzbischof rühmt sich, das Kreuzzeichen den Klerikern und Laien vorangetragen zu haben, der Tote höhnt: „Euch können weder Kreuz noch Pfaffen helfen". Der Chorherr erinnert sich der liebgewordenen Melodien, die er im Chore sang, der Tote antwortet: „Habt ihr vorher süße Gesänge im Chor gesungen, so achtet jetjt auf die Pfeife des Todes". Klagte die Edelfrau über den mißtönenden Klang der Pfeife des Todes, so fordert ihr Tanzpartner sie auf, nur tüchtig zu tanzen, bis die Pfeife den rechten Ton gewinne. Der Mutter, die dem Hilferuf ihres Kindes antwortet und beklagt, ihm nicht helfen zu können, gebietet der Tote Schweigen: „Schweigt und laßt Euer Streiten, lauft dem Kind nach mit der Wiege". So sind die Verse der namenlosen Toten nur der furchtbare Widerhall auf die unheimlich hellsichtige Selbstaussprache der jüngst Verstorbenen. Erst eine fehlerhafte Überlieferung hat diese Verse umgestellt und dadurch zu einem Anruf gemacht, was nur ein höhnendes Echo war. Schon immer wunderten sich die Forscher, daß die Verse der Ständesvertreter auf den Anruf der Toten keinerlei Antwort geben, sondern ins Blaue reden, aber keiner kam auf den Gedanken, daß hier eine ursprüngliche Ordnung verkehrt ist. Eis ist eben umgekehrt, die namenlosen Toten sind es, die die Gedanken der anderen weiterführen und das Unwürdige ihrer Lage unterstreichen. Dies geschieht auch in solchen Fällen, wo keine wörtliche Anspielung auf die vorangegangenen Verse vorliegt. Die Kaiserin z. B. bekennt, sich voll allen Genüssen des Lebens hingegeben zu haben, und trauert diesen Freuden nach. Ihr Tanzpartner weiß ihr einen Rat: sind die galanten Ritter von ihrer Seite gewidien, so hat sie doch einen Toten als Vortänzer, dem solle sie nur eifrig nachspringen. Für diese grausamen, die Schwächen menschlicher Würde und Macht schonungslos bloßstellenden Totepreden braucht man wahrlich keine anderen Quellen rv suchen. Sie entspringen ganz der gegebenen Situation. Auch der Anlaß, der sie auslöste, liegt im Totentanz selbst

Das Echo der Todespartner im Totendialog

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und in der Art seiner literarischen Überlieferung. Der Totentanzbilderbogen zeigte ja abwechselnd eine Leidiengestalt und einen Toten mit allen Kleidern und Abzeichen des Lebens. Das Schriftfeld aber gab jeweils nur dem letzteren, dem Jüngstverstorbenen, einen Vers bei. Liegt es nicht nahe, um des Gleichmaßes und der Einheitlichkeit willen nun auch den übergangenen namenlosen Tanzpartnern Verse beizugeben? Schrie nicht sozusagen das leergebliebene Schriftfeld nach einer Beschriftung, mußte sich nicht der Betrachter fragen: und was sagt der Tanzpartner dazu? Wir haben in der Pariser Danse macabre eine genaue Parallele dazu. Der Maler hatte den Wucherer darzustellen. Wie ein sinnfälliges Kennzeichen für den Wucherer finden? Eis gibt keins! Da gab der Maler ihm einen armen hinkenden Mann bei, dem er gerade Geld in die Hand zählt: nun weiß man es, daß es ein Geldausleiher ist. Die Gestalt des armen Mannes ist also nur Hilfsfigur, gleichsam Attribut des Wucherers. Gleichwohl störte es die Menschen, daß da eine Figur war, für die kein Vers unter dem Bild stand. So erhielt denn auch diese stumme Hilfsfigur Verse, damit das Schriftbild ausgefüllt war — obwohl auf die Weise zwei Lebende hintereinander zu Worte kommen und der ganze Rhythmus der Dichtung dadurch gestört wird. So dürfen wir also den horror vacui, die Scheu vor dem leeren Sdiriftfeld und die Frage des Betrachters nach dem Gedanken des stummen Partners, als äußeren Anlaß für die Verse der namenlosen Toten ansehen. Nicht von außen kam der Anstoß, sondern aus dem Werk selbst, das wie jede geprägte Form die Möglichkeit zur Entwicklung in sich trug. Es ist nur die Frage, ob der Totentanz diese Ergänzung schon in seiner lateinischen Fassung erfuhr oder erst nach seiner Übersetjung ins Deutsche oder andere Volkssprachen. Da alle volkssprachlichen Texte den D i a l o g zeigen, liegt die Annahme näher, daß diese Ergänzung bereits bei der gemeinsamen lateinischen Vorstufe stattfand. Eine lateinische Fassung dieser Verse ist nicht überliefert. Aber weis besagt das? Wäre der Heidelberger Codex nicht, so wüßten wir ja überhaupt von der ältesten lateinischen Fassung des Totentanzes nicht das geringste. Die Vermutung, daß die Antworten der namenlosen Toten bereits einer lateinischen Redaktion des Bilderbogens angehören, läßt sich zur Gewißheit erheben. Die deutsche Übersetjung der überlieferten lateinischen Verse hält sich, so weit möglich, eng an das lateinische Vorbild. Das gleiche ist auch für die neuen Verse anzunehmen. Wenn wir uns daraufhin die deutschen Verse betrachten, so sehen wir den lateinischen Wortlaut hier und da noch durchschimmern. Die Art, wie

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

der deutsche Übersetjer die lateinischen Verse der neu Verstorbenen gemeistert hat, wie er im Ringen um den Reim Reimworte oder ganze Sätje mit nichtssagendem Inhalt einflicht, um die Reimpaare zu füllen, all das dürfen wir auch bei den neu ergänzten Versen erwarten. Die Anrede des Toten an den Papst lautet (31 ff): Her papst merkt uf der pfifen dön, ir sult darnäch springen schön. Ez hilft dafür kein dispensieren der tot wil iu den tanz hofieren.

Die lateinische Urform dieser Strophe mag folgendermaßen gelautet haben: Mors dat hic sonum: exaudi fistulae tonum! Quid dispensare? Te mors jubet hic diorisare!

Der deutsche Übersetjer wandelt die prägnante, aber mehr unpersönliche Ausdrudesweise des Originals in kurze Anreden und Sätje mit persönlichem Ton, muß aber aus Reimzwang den Ausdruck wechseln und das etwas geziert klingende den tanz hofieren „zum Tanze musizieren" gebraudien. In anderen Fällen hat er, um das Reimpaar zu füllen, ganze Sätje einflicken müssen. Jedenfalls mutet der vierte Vers der an den König gerichteten Reimpaare als eine nicht ursprüngliche, allzu säkulare Einfügung des deutschen Übersetzers an 39 . Her kunig, iuwer gewalt hät ein ende. Id» wil iudi füeren bi der hende an diser swarzen bruoder tanz: da gibet iu der töt einen kränz (55 ff.).

Mit den „schwarzen Brüdern" mag auf die dunkle Erde, derem Schoß die Toten entsteigen, angespielt sein oder auf die Ursache ihres Todes, den „Schwarzen Tod" — auch in v. 57 des lateinischen Totentanztextes ist es ein vir ater, der das Kind gewaltsam in den Reigen hineinzieht. Jedenfalls lassen diese Verse das unheimliche Bild eines nächtlichen zwanghaften Tanzes der Toten über den Gräbern vor uns " D i e Parallele zu v. 57 des lateinischen Totentanzes (vir ater) legt an sich nahe, hintei swarzer bruder tanz einen Reim fratrum: atrum zu sehen, also zu lesen: Duco te fratrum adire dioream atrum. Besonders bei den r-Stämmen hielt sich zur Vermeidung der unbequemen Häufung der littera canina die ursprüngliche Genetiv-Endung -um in der 2. Deklination als Nebenform zu -orum bis ins Mittelalter (F. Sommer, Handbudi d. lat. Laut- u. Formenlehre, Heidelb. 1948, § 200, 2; R. Kühner / T. Holzwässig, Grammatik d. lat. Sprache 1, 1912, § 103, 22). Nadi Prof. Bernhard Bischof (der freundlicherweise meine rekonstruierten Verse einer kritischen Durchsicht unterzog, ohne damit die Rekonstruktion im ganzen gutzuheißen) ist jedoch

Die Antwort der Todespartner im Totendialog

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aufsteigen. Da der vierte Vers in dieses nächtliche Bild die frohen Farben volkstümlicher, mit Preisverteilung verbundener Tanzfeste misdit, wird dieser Vers vom Übersetzer zur Füllung einer Lücke angefügt sein. Das lateinische Original mag etwa folgenden Wortlaut gehabt haben: Regnum blanditum tibi nunc est morte finitum. Duco te nigros adire consortes pigros.

War bei den an den Papst gerichteten Worten das Fremdwort dispensieren Wegweiser zu einem mutmaßlichen lateinischen Vers mit dem Reim dispensare: diorisare, so bietet die Anrede der Nonne uns in scapulare wiederum ein solches, dem deutschen Sprachgebraudi fremdes Wort, das ein Relikt der lateinischen Vorlag« sein könnte. v. 175 Frou nunne, ir dunket iu subtil. Deste gerner idi mit iu tanzen wil. Werft von iu den scapulare, ir müezt hie mit den töten varn.

Der zweite Vers macht einen recht gezwungenen Eindrudc und stört die einheitliche Gesamthaltung des ursprünglichen Totentanzes, der nichts von einer Freude am Tanz weiß, sondern nur von einem furchtbaren, der Fegfeuerqual gleichkommenden Zwang. Der Überse^er wird ihn zur Füllung und unter Reimzwang eingefügt haben. Der Reim scapulare: varn ist rein äußerlich unschön. Im Würzburger Gebiet freilich bot er für das Ohr keine Unreinheit, weil hier der n-lose Infinitiv üblich ist; trotjdem wäre er wohl vermieden worden, wenn nicht die lateinische Vorlage ihn nahegelegt hätte. Der Schulterumhang der Ordensgeistlichen, von lat. scapula „Schulterblatt" abgeleitet, hieß mlat. scapulare, aber das wurde zu mhd. sdiapelaere, schepelaere und sdiepeler. In scapulare haben wir also im mhd. Text eine rein mittellateinische Form, die nur Relikt einer lateinischen Vorlage sein kann. Audi subtil ist der Dichtersprache durchaus ungeläufig und wird wie scapulare aus der Vorlage übernommen sein. die Nebenform auf -um 1350 nicht mehr möglich und damit ein Reim fratrum: atrum ausgeschlossen. — Meine Rekonstruktion der den deutschen Totentanzversen 31—34, 55—58, 171—74 zugrunde liegenden leoninischen Hexameter will diese lateinische Vorlage wahrscheinlich machen und veranschaulichen, aber nidit den Anspruch erheben, eindeutig den alten Wortlaut zu treffen. Jedoch finden die prosodisdien Freiheiten meiner Rekonstruktion ihre Parallele in den überlieferten und im Anhang abgedruckten lateinischen Totentanzversen, die gebrauchten Redewendungen wenigstens z. T . ebenfalls hier und in den Vado-mori-Versen.

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III. Idee und älteste Form des Totentanzes

Die Verse bekommen wohl erst den rechten Klang, wenn man sie lateinisch liest, also vielleicht folgendermaßen: Quae tarn subtilis nunc morti tradita vilis, abde scapulare! Tuum est cum vanis meare!

Idi glaube, diese Beispiele genügen, um zu erhärten, daß die deutschen Verse Überse^ungen aus dem Lateinischen sind, daß wir also ein Recht haben anzunehmen, daß der monologische lateinische Totentanz sozusagen in zweiter Auflage mit Versen für die namenlosen Toten versehen wurde. Schon auf der Ebene des Lateinischen wurde also der Übergang vom Monolog zu einer Art Totendialog vollzogen. Idi sage: zu einer Art Dialog, denn von einem wirklichen Dialog kann ja, wie schon hervorgehoben, keine Rede sein. Die neu Verstorbenen sprechen j a ihre verwesten Partner nicht an, sie sprechen j a ins Leere, und auch deren Antworten sind weit davon entfernt, realistisch, dramatisch ein Gespräch anzuknüpfen. Der Stil des Spruchbandtituls in seiner Komprimierung des Inhalts zu berstend voll gefüllter Form hindert es. Audi diese jüngeren Verse können nicht darüber hinweg, sie unterstreichen deshalb nur höhnend und bitter, was die anderen bereits aussprechen: die Ohnmacht des Menschen und den unwürdigen Zwang des Tanzes. So darf man sagen, daß die Antworten der namenlosen Toten den düsteren Eindruck des monologischen Totentanzes verstärken, aber auch vergröbern. Der schrille Mißklang des Totenreigenbildes mit seinem Wechsel zwischen verwesten Leichengestalten und Würdenträgern menschlicher Macht und Frömmigkeit im gleichen perversen Tanz über den Gräbern wird je§t auch in den Versen äußerlich betont: man nimmt die namenlosen lautlosen Schatten jetjt wichtig, und wenn ihre Antworten sarkastisch werden und Papst und andere seriöse Persönlichkeiten wie kleine Kinder kommandieren und zu fröhlichen Tanzsprüngen ermuntern, so steigert sich die Dissonanz. Schon die doppelte Abspiegelung des gleichen Schicksals in Rede und Gegenrede bedeutet perspektivische Tiefe. Damit gewinnt die Bußpredigt, die den Totenreigen umrahmt, die rechte Resonanz in den aufgewühlten Seelen, und man vergißt darüber, daß das heraufbeschworene Bild des Tanzes aller dieser unerlösten Armen Seelen sidi nicht völlig mit dem Anliegen des Bußpredigers deckt. Denn im Grunde klafft zwischen dem Volksglauben vom Tanz der Armen Seelen und dem kirdilichen Dogma von Begnadigung oder Verdammung im Einzelgericht eine Kluft, über die die Prediger am Anfang und Ende des Totentanzes vorsichtig hinwegsehen. Wohl galt der jähe

Totendialog und die Büßpredigt des Rahmens

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Tod ohne Buße und Segnungen der Kirche als Unglück und Strafe und bedingte einen längeren Zustand der Unerlöstheit. Daß dieser Zustand der Unerlöstheit, das Fegefeuer des Dogmas, das näditlidie Tanzen der Armen Seelen nach dem Volksglauben, qualvoll und unwürdig ist, wird in Bild und Vers des Totentanzes fühlbar. Der Bußprediger ruft aber nicht nur zu rechtzeitiger Buße auf, er stellt ewige Verdammnis und ewige Seligkeit als die Alternative hin. Das Fegefeuer des näditlidien Totentanzes dient ihm also letjtlidi als erster Vorgeschmack der ewigen Qual der Verdammnis, deren Schilderung sich der Möglichkeit von Wort und Bild entzieht. Eis wäre oberflächlich, diese Divergenz zwischen einer Vision des näditlidien Totentanzes und den umrahmenden Bußpredigten dadurch erklären zu wollen, daß man die umrahmenden Bußpredigten für eine spätere Zutat erklärt. Ohne solchen Rahmen hängen die eigentlichen Totentanzverse beziehungslos in der Luft. Die umrahmenden Predigten sind der Nährboden, aus dem die Vision des Totentanzes sich entfaltet. Nur aus der ehrlichen inneren Nötigung des Volkspredigers, die anvertrauten Seelen vor dem Abgrund zu retten, ist die Entstehung des Totentanzes zu verstehen, nur ihr ist sie zu verdanken. Die Divergenz zwischen Büßpredigt und Totentanzvision aber zeigt, daß es keine ausgeklügelte Sache ist wie so manche geistliche Allegorese. Hier war wirklich ein Mensch in der Tiefe gepackt von den grauenhaften Bildern des Massensterbens, in dem die Maditlosigkeit und Kreatürlidikeit des Menschen so deutlich zum Ausdruck kam. Diese Bilder grausiger Realität mischten sidi ihm mit den Volksanschauungen von den unerlösten Armen Seelen und wurden zu einer Vision von furchtbarer Deutlichkeit, die ihn ganz gefangen nahm. Daß sich die Vision vom Totentanz und seine Warnung vor der ewigen Verdammnis nicht völlig deckten, ist gewiß weder ihm selbst noch seinem Publikum zum Bewußtsein gekommen. Denn die Aufwühlung durch die grauenvolle Vision macht die Herzen empfänglich für die Warnung vor der ewigen Verdammnis. Was rein logisch gesehen divergiert, findet auf dieser Ebene die innere Einheit.

IV DIE ENTWICKLUNG DER URSPRÜNGLICHEN TOTENTANZDICHTUNG IN OBERDEUTSCHLAND 1. W a n d e l d e r T o t e n t a n z i d e e i m R a h m e n d e r Todesikonographie und Kulturgeschichte Der Gegensat} zwischen der Totentanzvision und dem Anliegen der Bußpredigt blieb überdeckt, solange das Erlebnis des Massensterbens die Herzen aufwühlte und den Volksglauben vom nächtlichen Tanz der Armen Seelen aus den Winkeln des Aberglaubens an die Oberfläche des religiösen Bewußtseins hob. Bei Verblassen der Erinnerungen an das große Sterben oder beim Abstumpfen gegen die periodische Wiederkehr solcher Seuchen mußte der Tanz der unerIösten Armen Seelen mehr und mehr als Strafe für ein sündhaftes Leben erscheinen und die Vision menschlicher Ohnmacht vor dem Tod eine demokratische und sozial-kritische Auslegung erfahren: der Totentanz konnte dann zu einer Kritik der Stände werden, also in erster Linie zur Kritik an der Amts- und Lebensführung der führenden Stände. Diese Entwicklung wird erst ermöglicht durch die Einführung des Dialoges, durch die Antworten der namenlosen Toten auf die Klagemonologe der Neuverstorbenen. Überhaupt birgt die Einführung des Dialoges den Keim in sich zur Auflösung des ursprünglichen Totentanzgedankens und Totentanzbildes. So sehr das bittere Echo der namenlosen Toten auf die Klagen der Neuverstorbenen eine Erfüllung der ursprünglichen Totentanzidee mit hödistem Leben und insofern einen Höhepunkt der Totentanzdichtung bedeutet, zugleich gab es den Antrieb zur allmählichen Wandlung der Idee, zur Wandlung des Bildes und schließlich zur Wandlung der religiösen Symbolik ins Allgemeinmensdiliche und Profane. Das Bild des Totenreigens hatte abwechselnd eine Leichengestalt und einen Neuverstorbenen in Standestracht und mit den Abzeichen seiner ehemaligen Würde gezeigt, um die Einreihimg der Neuverstorbenen in die Sdiar der unerlösten Armen Seelen sinnfällig vor

Der Dialog führt zur Isolierung, der Tote wird zum Tod

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Augen zu stellen. Jet^t, wo auf die Klagemonologe jeweils einer der namenlosen Toten antwortet, gruppiert sich die unterschiedslose Reigenkette in einzelne Tanzpaare; jeder Neuverstorbene bekommt jetjt seinen eigenen Tanzpartner. Das macht sidi rein äußerlich in der Auflösung der großen Reigenkette in einzelne Tanzpaare bemerkbar, die auf fast allen Totentanzbildern vor sich geht. Diese Isolierung des einzelnen Tanzpaares — sie kann zu Einzelbildern führen, kann sich auf Zusammenrückung der Einzelpaare zu einer Art Kette beschränken, kann auch noch Erinnerungen an die alte Kette in sich schließen — steigert zugleich die Bedeutung des namenlosen Tanzpartners. Aus dem namenlosen Leidensgenossen im grauenhaften Gräbertanz der Armen Seelen wird allmählich ein Abgesandter, ja schließlich ein Stellvertreter des Todes, der im Auftrag des Todes und mit den Attributen des Totengräbers Tod oder des Spielmanns Tod in den Händen die Menschen zum Tanz auffordert. Auf solche Weise wird der Totentanz schließlich zu einer euphemistischen Bezeichnung für das Sterben. Der Tote, der im Auftrag des Todes zum Tanz auffordert, ist nicht mehr Tanzpartner eines mitternächtlichen Treibens, sondern Bote, der die Lebenden aus ihrer Welt in ein anderes Land hinwegführt. Die grausenhafte Realität des Kirchhoftanzes wird zu einem Gleichnis abgeschwächt, der tote Tanzpartner schließlich zur Verkörperung des Todes selbst. Der Renaissancemensch kann dann diese erdenferne Symbolik ganz ins Allgemeinmenschliche wenden und sie jeden religiösen Gehaltes entleeren. So liegen in der zweiten, der dialogischen Totentanzdichtung schon keimhaft alle Entwicklungs- und Entartungsmöglichkeiten, die im Verlauf der nächsten anderthalb Jahrhunderte zur Verwirklichung und Reife kommen. Wenn die bisherige Totentanzforschung in den Stammbaum des Totentanzes hypothetisch unbekannte Dichtungen anderer Art hineinnahm, um an ihrer Einwirkung die weitere Entwicklung und die Entartung des Ursprünglichen zu erklären, so beachtete sie zu wenig, daß im Geistigen und Seelischen wie im rein Vitalen das Leben sich auch selbst weitertreibt, ohne immer eines mechanischen Anstoßes von außen zu bedürfen. Auch der Totentanz ist, um mit Goethes „Orphischen Urworten" zu reden, eine geprägte Form, die sich nach dem Gesetj, nach dem sie angetreten ist, lebend weiterentwickelt. Diese gesetjmäßige innere Entwicklung nachzuzeichnen, ist eine der Aufgaben dieser Untersuchung, und von Entwicklung können wir j a nur sprechen, wo etwas keimhaft Vorhandenes sich aus seiner Hülle herauswindet, zum Wachstum kommt und dabei Gestalt und Wesen wandelt. 6

Rosenfeld,

Totentanz

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutschland

Die sdion im lateinischen Totentanzdialog liegenden Entwiddungskeime wurden zum Leben erweckt und zum Wachstum angeregt, sobald die Landessprachen sidi des Totentanzes bemächtigten. Die prägnante lateinische Form war wie eine schürende Hülle. Sie wird durch die Übersetjung in die Volkssprache gesprengt. Der lateinische Text hält deutlich die Vorstellung fest, daß die Neuverstorbenen zum ersten Mal in diesen unheimlichen Gräbertanz der Armen Seelen hineingezogen werden, zum ersten Mal nach der Pfeife des Todes den näditlichen Reigen tanzen müssen. Der deutsche Übersetzer ergänzt den wortkargeren lateinischen Text auf Grund der Totentanzbildtradition, wenn er die schlichten Worte des Herzogs sed nunc, ut adeam, cogor cum morte dioream (v. 28).

so verdeutscht: Nu bin ich in vfeher cleider glänz getwungen an des tödes tanz (v. 85/86).

Der Gegensatj zwischen den nadkten mumienhaften oder verwesten Leichengestalten und den neu Verstorbenen in ihren bunten Kleidern ist damit aus dem Bild in die Dichtung übernommen. Anders ist es, wenn der namenlose Tanzpartner zum Kaiser sagt: Ir müezt an minen reien komen, oder wenn die Kaiserin aufgefordert wird: Springt mir nach, der rei ist min!, oder wenn der namenlose Tote zum Chorherrn sagt: Merket uf miner pfifen schal. Der lateinische Text spridit nur vom Tod und der Pfeife des Todes, der deutsche läßt die namenlosen Toten als die Tanzmeister erscheinen, obwohl sie doch genau wie die neu Verstorbenen nur willenlos in den Tanz gezwungen sind. Aus den Toten, die unter dem Zwang der Pfeife des Todes die neuen Gäste des Friedhofs zum nächtlichen Gräbertanz zerren, werden damit Handlanger und Abgesandte des Todes. Merkt uf miner pfifen schal, sagt der Tote, nach Meinung des Übersetzers ist es also der Tote, der dem Chorherrn zum Tanze aufspielt, und es konnte nicht ausbleiben, daß der Bilderbogenmaler nun auch tatsächlich dem Partner des Chorherm und anderen Toten die Pfeife des Todes in die Hand gibt. Der namenlose Tote, ursprünglich ein gleichgestellter Tanzpartner, eine Arme Seele, wird mit diesem Attribut des Spielmannes Tod zur Verkörperung des Todes oder doch zu seinem Stellvertreter abgestempelt. Im Heidelberger Totentanzblockbuch von 1465, das gewiß ältere Vorbilder darin getreu wiedergibt, ist es nidit mehr nur der Partner des Chorherrn allein, der die Pfeife des Todes bläst: auch die Partner des Kardinals, des Bischofs, des Bettlers und des Kochs blasen die Pfeife,

Übertragung ins Deutsche verschiebt die realistische Vorstellung

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und die Partner des Papstes und Kaufmanns schlagen auf der Pauke den Tanztakt dazu. Mußte nicht dadurch der Totentanz ein ganz anderes Gesicht bekommen? Die Vision aus der Zeit der Pest verschiebt sich zu einer Phantasie über das Thema Tod, der Tanz wird zu einem metaphorischen Abbild des Sterbens schlechthin. Wie eine Lawine durch ein Staubkorn ins Rollen kommen kann, so kam durch die Pfeife in den Händen des einen Toten die alte Vorstellung des Gräbertanzes ins Wanken, und Textworte, die ganz anders gemeint waren, erhalten naditräglidi eine Bedeutung im Sinne der neuen Auffassung. Der namenlose Tote redet den König an mit den Worten: Herr Kunic, iuwer gewalt hat ein ende, ich will iudh füeren bi der hende an diser swarzen bruoder tanz (v. 55/57). Das besagte ursprünglich nichts weiter, als daß der namenlose Tote den zögernden König bei der Hand nimmt und in den allgemeinen Reigen „der schwarzen Brüder" zerrt, eine Szene, ganz realistisch geschaut: beim Klang der Pfeife des Todes steigen die Toten aus den Gräbern, die Neulinge werden von den namenlos gewordenen Toten sofort ergriffen und in den gewohnten Reigen eingereiht. Aber die gleichen Worte kann auch der Abgesandte des Todes sprechen, um den Lebenden, über die Schwelle des Todes in ein anderes Land zu führen. Der Tanzpartner schulmeistert den verstorbenen Patriarchen: er solle sein Doppelkreuz fallen lassen und sich beeilen, zum Reigen zu kommen (v. 71/74): ursprünglich ist das wieder ganz die Situation des Friedhoftanzes über den Gräbern, aber die gleichen Worte kann auch ein Bote des Todes zu einem Lebenden sprechen. Das Fallenlassen des Doppelkreuzes, einst ganz wörtlich gemeint, wird damit zum Symbol: der Patriarch soll sein Amt niederlegen und in den Tod folgen! So läßt sich beinahe Vers für Vers in jenem neuen übertragenen Sinne deuten, daß der Bote des Todes den Lebenden mitten aus dem Leben abberuft, zu dem „Tanz, der da Sterben heißt". Wenn aber der namenlose Tanzpartner zum Boten des Todes wird und den Lebenden abberuft, so muß e r es sein, der zuerst redet, denn ehe die Lebenden nicht den Ruf des Todes vernommen haben, können sie sich nicht darüber beklagen, daß sie zum Totentanz gezwungen werden. So bedingt die sich wandelnde Auffassung des Totentanzes eine Vertauschung von Rede und Antwort. Dieser Schritt ist aber sehr geringfügig, wenn man sich die Form literarischer Verbreitung des Totentanzes vergegenwärtigt. Die Verbreitung erfolgte, 6»

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutschland

wie oben dargelegt, in Form des Bilderbogens. Der Bilderbogen belehrender Art gibt jeweils zu Häupten oder zu Füßen jeder Figur auf einer Sdirifttafel die Verse bei. Wenn mehrere Figuren in einer Szene zusammenwirken, ist also nicht zu ersehen, welche Figur zuerst spricht, weldie antwortet. Allerdings ist es dem abendländischen Menschen geläufig, dem Umlauf der Sonne und der Richtung seiner Schrift gemäß alles zunächst von links nadi rechts abzulesen. So wird er auch die Schriftfelder oder Spruchbänder jedes Bilderbogens zunächst der Reihe nach von links nach rechts abzulesen suchen und sich nur zu einer anderen Lesung bereitfinden, wenn der Text eindeutig der rechten Figur das erste Wort gibt. Nun zeigen fast sämtliche Totentanzbilder im großen ganzen einen Reigen oder eine Bewegungsrichtung von rechts nach links, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. W i r haben j a eine Ständerevue vor uns, die vom höchsten Würdenträger bis zum geringsten fortschreitet. Würde der Maler dem Reigen eine Wendung von links nach rechts geben, so beginnt der Beschauer zwar mit dem Papst als erster Figur, er würde aber, wenn er das Ganze überschaut, einen Zug sehen, bei dem der Bettler vorneweg schreitet, während der Papst der letjte Mann ist. Bei einem Zug von redits nach links bleibt aber der Papst links, den wir zuerst betrachten, dessen Verse wir zuerst lesen, auch bei einer Gesamtüberschau immer der erste, der vorderste des ganzen Zuges. Deshalb ist ein von rechts nach links bewegter Reigen das natürliche und offenbar auch das Ursprüngliche. Das Natürliche ist es auch, daß der namenlose Tote, der den Menschen in diesen Reigen hineinzieht, ihm vorausschreitet, also jeweils links von dem Menschen abgebildet wird. Auch das ist bei sämtlichen erhaltenen Totentanzbildern (mit Ausnahme des Berliner Totentanzes, wo die Komposition eine sehr viel kompliziertere ist) der Fall. Im ersten monologischen Totentanzbilderbogen nahm das Schriftfeld mit den Versen des Verstorbenen offenbar fast die Breite von zwei Bildfiguren ein, denn es ist nicht möglich, Verse von dieser Länge auf der geringen Breite einer Bildfigur unterzubringen. Als dann der dialogische Totentanzbilderbogen die Verse der namenlosen Toten anfügte, brachte er sie auf gleicher Breite ü b e r dem Bilde an, und dieselbe Verteilung der Verse finden wir noch im Heidelberger Totentanzblockbuch von 1465 (Abb. 39). Solange die Anschauung vom Tanz der Armen Seelen noch lebendig war, sah der Leser an der Art der Verse sofort, daß die unter dem Bild befindlichen Verse vorangehen, die Verse der Toten über dem Bilde aber die Antwort der namen-

Vertauschung der Reihenfolge: statt Antwort Anruf durch Tod

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losen Toten wiedergeben wollen. Als sich aber die Meinung bildete, diese namenlosen Toten seien Boten des Todes, die die Lebenden dem Tode zuführen sollen, konnte man von gleichen Bilderbogen entgegen der ursprünglichen Reihenfolge die Verse der Toten über dem Bilde zunächst lesen und die Verse unter dem Bilde als Antwort der Menschen auffassen. Diese vom Standpunkt des Ursprünglichen aus falsche Lesung hängt also mit der sidi wandelnden Auffassung des Totentanzes zusammen und hilft andererseits diese andere Auffassung zum Siege bringen! Bei einer Abschrift des Textes allein schrieb man nun dementsprechend die über dem Bilde befindlichen Verse zuerst ab, dann die unteren: dies ist die Reihenfolge, in der die Handschriften des 15. Jahrhunderts den Text bringen. Für solche Vertauschung der Reihenfolge kann ich eine schlagende Parallele aus der Handschriftentradition des 15. Jahrhunderts anführen. Nicht weniger als vier Handschriften des „ Spiegelbuches" (F, G, H, Z) bringen erst die Antwort Abrahams an den reichen Mann, dann erst die Bitte des reichen Mannes um Erbarmen, die für diese Antwort die Voraussetzung bildet 1 ). Wie erklärt sich das? Es handelt sich um illustrierte Handschriften, die bei dieser Szene unten den Höllenrachen, in dem der reiche Mann schmachtet, oben aber Abraham mit Lazarus im Schoß zeigen. Die Verse waren Abraham und dem reichen Mann auf einer Schrifttafel beigefügt und ein verständnisvoller Leser hat selbstverständlich Bild und Text in der von der Bibel festgelegten richtigen Reihenfolge abgelesen. In den erwähnten Handschriften sind zwar die Bilder kopiert, nicht aber die Schrifttafeln. Die Verse sind vielmehr so, wie man sie vorfand, also zunächst die Abrahams, dann die des reichen Mannes, auf dem verbliebenen freien Raum eingetragen worden, so daß man nunmehr genötigt war, sie in falscher Reihenfolge abzulesen. Auch Schäuffelins Holzschnitt in Schwarzenbergs „Memorial der Tugent" (1534) übernahm deshalb die falsche Reihenfolge der Verse. Wir sehen also, daß auch mit rein mechanischen Fehlern bei der Lesung und Kopie mittelalterlicher Handschriften zu rechnen ist. Beim Totentanz ist die Voraussetjung für solche fehlerhafte Lesung, daß sich die Auffassung des Todes wandelte und deshalb in den Reden der Toten nicht mehr Antworten auf die Klagen der Neuverstorbenen, sondern eine Aufforderung zum Sterben gesehen wurden. Die auf1

J o h. B o 11 e , Das Spiegelbuch (Sitzungsber. d. Ak. d. Wiss. Berlin, Phil.hist. Kl. 1932, 8), S. 6, 42, Abb. 8.

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutschland

fällige Tatsache, daß die Neuverstorbenen nicht auf diese Anrede antworten, sondern monologisch eignen Gedanken nachgehen, konnte Ausdrude der Überraschung und des Todesschreckens sein und fiel also nicht weiter ins Gewicht. Für uns aber bleiben diese ins Leere gesprochenen Worte ehrwürdige Relikte der frühesten Fassung der Dichtung. Wenn die Toten namens des Todes und mit Attributen des Todes in den Händen den Menschen aller Stände das Leben abfordern, so mußte dem mittelalterlichen Menschen zwangsläufig der Unterschied zwischen den Boten des Todes und dem Tod selber verschwimmen. Man halte nicht dagegen, daß der lange Totenreigen mit seinem regelmäßigen Wechsel von Toten und Sterbenden eine Verwischung der Grenze zwischen Toten und Tod hätte verhindern müssen. Erat mit der Renaissance beginnt sich allmählich die simultane realistische Bildeiniheit durchzusehen8). Der mittelalterliche Mensch war durchaus an chronikalisches Ablesen der Bilder gewohnt, war gewohnt, im gleichen Bilde dieselbe Person in mehrfacher Abbildung zu erblicken und den Ablauf des Geschehens Schritt für Schritt abzulesen. Für den modernen Mensdien wäre es freilich wohl unmöglich, in den Totengestalten eines Totentanzes die Widerspiegelung des einen Todes in vielfacher Gestalt zu sehen. Da der mittelalterliche Mensch, an realistische Veranschaulichung des Begrifflichen und Abstrakten gewohnt, aber nicht durch ein realistisches simultanes Bühnenbild verdorben war, machte solche vielfache Widerspiegelung der einen Todesgestalt keinerlei Schwierigkeiten. Sobald aber die namenlosen Toten wirklich mit den Attributen des Todes auftreten, mußte sich deshalb dem mittelalterlichen Menschen die Vorstellung des ArmSeelen-Tanzes verflüchtigen und der Unterschied zwischen den namenlosen Toten und dem Spielmann und Allherrscher Tod mehr und mehr verschwimmen. Diese Entwicklung vollzog sich da, wo der Totenreigen in völlig isolierte Tanzpaare aufgelöst wurde, mit doppelter Schnelligkeit und Konsequenz. Daß jeder Sterbende seinen eigenen Tanzpartner erhielt, der ihm antwortet, leistete ja der Auflösung des langen Reigens in Einzelpaare Vorschub. Sie wurde da, wo der Totentanz vom Bilderbogen ins Buch übertragen wurde, Regel, jedenfalls wenn die Bilder • D a g o b e r t F r e y , Gotik und Renaissance als Grundlagen der modernen Weltanschauung, Augsb. 1929.

Tote als Erscheinungsform des Todes, Verbreiterung des Publikums

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mit übertragen wurden, und nicht in humanistisch-gelehrter Sammelwut nur der Text. Liegt mithin das Entwicklungsprinzip des Totentanzes bis hin zu Holbeins „Bildern des Todes" deutlich vor unseren Augen, so bedarf die Ü b e r l i e f e r u n g s f o r m noch einiger Erklärung. Wie kann der Totentanz gleichzeitig im Buch auf kleinstes Format zusammengepreßt und zu Wandgemälden riesigen Ausmaßes ausgedehnt werden? Buch und Wandbild sind doch Produkte gänzlich verschiedener Sphären, die kaum eine Beziehung zueinander haben! Dieser scheinbare Gegensatj löst sich, wenn man die Entwicklung des Totentanzes nidit isoliert vom ästhetisch-formalen Gesichtspunkt aus betrachtet, sondern im Rahmen der Kulturgeschichte. Nur im Ineinander von Entwicklungsmöglichkeiten und kulturellem Bedürfnis kommt eine literarische Entwicklung zur Reife. Wir haben gesehen, daß bereits im lateinischen Totentanztext alle jene Entwicklungsmöglichkeiten schlummerten, die später entfaltet werden. Sie erhalten den Antrieb zur Entfaltung in dem Augenblick, in dem die Volkssprache sich des Totentanzes bemächtigt. Solange der Totentanzbilderbogen nur von Kloster zu Kloster, von Pfarre zu Pfarre wanderte, blieb die ursprüngliche Form des Totenreigens mit monologischen oder dialogischen lateinischen Versen gewahrt: ein Bilderbogen, der die Seelsorge befruchten und die Predigt beleben konnte und sollte, ein Bilderbogen zur religiösen Vertiefung und innerlichen Bereicherung des Klerus. Sobald aber der gedrängte lateinische Text in die Volkssprache umgegossen wurde, weitete sich der Text schon allein durdi freie Übertragung und Reimzwang, erfuhr Zusähe, Verunklärung der alten Vorstellung und Zufügung neuer Gedanken. Die Übertragung in die Volkssprache konnte aber nur den Sinn haben, nicht mehr dem Klerus und den Klöstern allein zu dienen, sondern einem breiteren Publikum, der großen Masse des religiösbewegten Volkes. Mag die Übertragung in die Volkssprache durch volkstümliche Prediger erfolgt sein oder wie in Frankreich bereits einem religiös ergriffenen Laien zu verdanken sein: das literarische Publikum dieser volkssprachlichen Totentanzbilderbogen ist ein sehr breites. Es kann nicht verwundern, wenn je^t der Bilderbogen Vorlag« für Wandbilder wird. Das Totentanz-Wandbild in den Vorhallen der Kirchen, an Kirdihofsmauern und Beinhäusern ist wie ein an die Litfaßsäule angeschlagenes Plakat. Bild und Text werden vergrößert und vergröbert, sie werben um die Blicke des Publikums, um

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutsdiland

sich die Herren zu erobern und in die Tiefe zu wirken. Hier ist Massenwirkung beabsichtigt. W o aber ein aufnahmebereites Publikum und ein zündendes Thema da ist, da findet sich auch der Geschäftsmann ein, der die Konjunktur ausnutzt und für Befriedigung von Bedürfnis und Nachfrage sorgt. Der Totentanzbilderbogen, bis jetjt in klösterlichen Kreisen vervielfältigt und verbreitet, wandert nunmehr in die Schreibstuben weltlicher Unternehmer und Verleger und von hier aus auch ins Buch. Es ist eine beinahe g«se^mäßige Erscheinung, daß erfolgreiche Bilderbogen in Ausnü^ung der Konjunktur von den Schreibstuben oder von begeisterten Lesern alsbald mehr oder weniger aufgebläht oder umgearbeitet zu illustrierten Büchern verarbeitet werden. Es ist der Typ des illustrierten Volksbuches. Der Bilderbogen von „Christus und der Minnenden Seele" aus dem 14. Jahrhundert®) erfuhr im 15. Jahrhundert eine recht umfangreiche Umarbeitung zum religiösen illustrierten Andachtsbuch, wobei die Zahl der Bilder sich kaum änderte. Was anschwillt, ist der Text: aus den 80 Versen des Originals werden 2112 Verse! Das 16. Jahrhundert bringt dann noch einen Bilderbogendrude und eine textlich schmale illustrierte Buchausgabe. Ein ähnliches Schicksal hatte der Totentanz. Audi er wird in einzelne Szenen zerlegt und als Volksbuch verbreitet, in verschiedenen Fassungen als Inkunabel in den Buchdruck übernommen oder auch zu einem umfangreichen religiös-moralischen Andachtsbuch aufgeschwemmt. Zunächst aber hielt man an den schlichten aus dem Lateinischen übersetzten Versen des Bilderbogens fest. Das Blockbuch von 1465, nach seinem Aufbewahrungsort „Heidelberger Blockbuch" 4) genannt, gibt offenbar ziemlich getreu ältere handschriftlich hergestellte und handillustrierte Bücher wieder (Abb. 34, 39). Das ersieht man auch daraus, daß es gegenüber einer bildlosen Basler Handschrift von 1437 und den 1440 gemalten Basler Totentänzen eine ältere Textform bietet. Das Heidelberger Totentanzbuch von 1485 5 ) aber gibt ziemlich getreu eine mittelrheinische Handschrift wieder 6 ), die Danse macabre von Guy Marchant 1485 7 ) den Pariser Totentanz, während das Lübecker Totentanzbuch von 1489 8) den Lübecker Totentanz (396 Verse) auf 1686 Verse aufschwemmt. 3

R. B a n z , Christus u. die Minnende Seele, Breslau 1908. Vgl. unten Anmerkung 17. 5 A. S c h r a m m , Der Dotendantz mit Figuren (Faksimile), Lpz. 1922. • Vgl. unten Kapitel 7. ' P. C h a m p i o n , La danse macabre de Guy Marchant, Paris 1925. 8 Des Dodes danz, hrsg. H. Baethcke, Tüb. 1876. 4

Totentanz wird zum Volksbuch — Der oberdeutsche Totentanztext

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2. D e r W ü r z b u r g e r T o t e n t a n z als älteste d e u t s c h e T o t e n t a n z d i c h t u n g Der oberdeutsche vierzeilige Totentanztext steht mitten in dieser Entwicklungsbewegung. Er hat ein doppeltes Gesidit. Einerseits ist er eine getreue Übersetjung des ältesten lateinischen Totentanzes — das ist im dritten Kapitel ausführlich erörtert. Andererseits ist er ohne Veränderung, nur mit Umstellung in der Reihenfolge von Rede und Antwort, in das illustrierte Volksbuch übergegangen und wenig verändert und etwas erweitert die Unterlage für die Baseler W a n d gemälde geworden. So steht der oberdeutsche Totentanz zwischen Zeiten und Formen und hat gerade deshalb für uns unschätzbaren Wert, weil er Grenzscheide, Abschluß und Neuanfang zugleich ist. Zunächst bietet er uns dadurch, daß er eindeutiger als die lateinische Totentanzdichtung zu datieren und örtlich festzulegen ist, einen Anhaltspunkt für Entstehungs- und Verbreitungsgebiet der lateinischen Totentanzdichtung; andererseits sahen wir, welche Wege dieser Text gegangen ist, wie er von einem Mittelpunkt sich nach allen Himmelsrichtungen verbreitet hat. Die Sprachform, in der der oberdeutsche Text uns vorliegt, gehört der Mitte des 15. Jahrhunderts an. Durch Diphthongierung der langen Vokale sind die ursprünglichen Reime gestört: 7/8 ist:weist, 37/38 midi:gleidi, 51/52 gewaltiglidi:reich, 227/28 zeit:nit, um nur einige Beispiele anzuführen, reimen nicht mehr. Gedichtet wurden die Verse also in einer Zeit und einem Gebiet, wo die Diphthongierung noch nicht durchgeführt war, wo es also ist:wist, midi.-glich, gewaltiglidi: rieh, zitmit lautete. Der Verfasser hatte offensichtlich auch das Bestreben, nicht in einer Mundart, sondern in der mittelhochdeutschen Schriftsprache zu dichten. Dies und der ziemlich regelmäßige Versbau deuten auf das 14. Jahrhundert. Ich habe deshalb den Text, der bisher nur getreu nach den Handschriften und Drucken des 15. Jahrhunderts geboten wurde»), in mittelhochdeutsche Schriftsprache umgesetjt 10 ), um aus der Sprache der Reime Kriterien für Heimat und Entstehungszeit zu gewinnen. Hierbei wurde auch die ursprüngliche Reihenfolge von Rede und Antwort hergestellt, sonstige Eingriffe aber vermieden. • W . F e h s e , Der oberdt. vierzeilige Totentanztext, in: Zsdir. f. dt. Philol. 40 (1908), S. 67—92. 10 Abdruck im Anhang S. 308—320.

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutsdiland Die Reime bieten folgende Kriterien:

1. Infinitiv ohne -n: 178 varn: scapuläre, 197 entvlien: hie 207 lernen: gerne, 220 gevallen: alle. Kemgebiet dieser Erscheinung ist Thüringen, audi Ostfranken. Die heutige Grenze nadi dem Deutschen Sprachatlas schließt Würzburg als südliches Gebiet ein, aber Bamberg aus. 2. 3. Plur. Ind. Praes. auf -en: 193 slihent: strichen. Im Mitteldeutschen schon im 12. Jahrh., im Oberdeutschen erst im Ausgang des mittelhochdeutschen Zeitraums durchgeführt; im Bairischen eher als im Alemannischen. 3. o : ä in 19/20 tot: hat. Zusammenfall von k und ö: vorwiegend ostfränkisch, oberpfälzisch, ostmittelbairisdi. 4. o : a in 77/78 sol: zal. Die ursprüngliche Form sal bleibt im Mitteldeutschen häufig, im Oberdeutschen dafür fast durchweg verdumpftes sol. 5. nit in 123 nit: strit, 228 nit : zit. Vorwiegend oberdeutsch, spricht jedenfalls für enge Nachbarschaft mit dem Oberdeutschen. 6. Apokope: 32 schone : dort; 125 mit sinem gesiechte : recht; 136 in iuwerem köre : vor; 160 sin : gewinne (3. sing. Conj. Präs.). 7. Diphthongierung noch nicht durchgeführt: ü in 26 truren : figüren; i in 8, 226 wist: ist; 38, 133 glieh : mich, 124 strit: nit; 133 zit: nit; 120 triben : angeschriben; 181 sin • hin; 203 min : hin. Diphthongierung in Baiern 1300, östl. Ostfranken (Bamberg) 1350, westl. Ostfranken (Würzburg) 1400. Schluß: Merkmal 1, 2, 3, 4, 7 spricht für Mitteldeutsch, speziell Ostfränkisdi. Merkmal 5 und 6 für ein dem Oberdeutschen benachbartes Gebiet. Merkmal 1 im Zusammenhang mit 5 und 6 weist auf das westliche Ostfränkisch um Würzburg. Dieser Befund ergibt hinsichtlich der Datierung, die Merkmal 7 bietet, die 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Da diese allgemeine Betrachtung der Reimspradie auf das Würzburgisdie weist, konfrontieren wir nunmehr die herausgestellten Merkmale mit der Würzburger Kanzleisprache des 14. Jahrhunderts, über die eine gute Spezialarbeit vorliegt 11 ). Zu Merkmal 1. Huther § 107. Das Infinitiv -n beginnt in Würzburg bereits im 9. Jahrh. abzufallen. Im 14. Jahrh. war es in der Mundart geschwunden. Trotzdem behält die Kanzleisprache das -n in der Regel noch bei. Abfall zeigt sich in der mundartlichen Richtung der Kanzlei, wofür 37 Beispiele angeführt werden, darunter vare und lerne. Zu Merkmal 2. § 89: t fällt ab nach n, meist in der 3. Pers. Plur. des Verbums, vgl. § 21. Zu Merkmal 3. Huther § 26: mhd ä ist zu o verdumpft vor 1, r, dl, p, g und t höt (und andere Beispiele), vgl. § 21. Zu Merkmal 4. sal in den angeführten Textdrudcen Huther § 13, 96 neben sol § 10,21. Verdumpfung vgl. Huther § 29. Das mhd a ist gewöhnlich erhalten, z.B. bezalet 1334 und 11 andere Beispiele. Zu Merkmal 5. Huther § 118: h fällt ferner aus vor t in nit (7 Beispiele 1335—57). " A l f o n s H u t h e r , Die Würzburger Kanzleisprache im 14. Jahrh., 1. Teil, Diss. Würzburg 1913 (U. 12.4651).

Aus den Reimen ergibt sich Würzburg um 1360 als Heimat

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Zu Merkmal 6. Huther § 68: Apokope. Nadi haupttoniger Silbe sind apokopiert Sing.-Dativformen, Konj. Praes. 1. u. 3. Sing. Konj. Imp. usw. Zu Merkmal 7. Huther § 48 Diphthongierung, ei findet sidi zum erstenmal 1298, zu 1328, zu 1336. Von 1335 an werden sie mit anderen Elementen häufiger. Von 1378 an bildet ei in den Protokollen die Regel bei sein (Verb, u. Pron.), einseit, ander seit, bederseit, partei. In einigen Dokumenten sind die neuen Diphthonge ganz durchgeführt, in mundartlichen Schriftstücken von 1378, 1379, 1385, 1400.

So bestätigt der Lautbestand der Würzburger Urkundensprache des 14. Jahrhunderts vollinhaltlich die Lokalisierung des oberdeutschen Totentanzes in Würzburg und gestattet die Datierung „drittes Viertel des 14. Jahrhunderts" als äußersten Zeitraum, wo eine diphthongfreie Reimbildung noch möglich ist 18 ). Man darf also den ganzen Totentanz dem Ostfränkischen, dem Würzburgischen zuweisen und auf das dritte Viertel des 14. Jahrhunderts datieren. Da das Ostfränkische bisweilen vom Mitteldeutschen gesondert und dem Oberdeutschen zugerechnet wird, ist die bisherige Bezeichnung „oberdeutscher Totentanz" nicht falsch. Der Name „Würzburger Totentanz" ist jedoch besser und genauer, und er läßt gleich erkennen, daß dieser Text schon ein ziemliches Stück Weg zurücklegen mußte, ehe er in Basel heimisch werden konnte. Ob die lateinische Totentanzdichtung, die dem Würzburger Totentanz zugrundeliegt, ebenfalls in Würzburg entstand oder von einer der Städte am Rhein oder Main mit dem Schwarzen Tod mainaufwärts nach Würzburg wanderte, mag ungewiß bleiben. Aber es scheint nicht unwahrscheinlich, daß im eng besiedelten Maintal die Vision des Totentanzes zuerst Gestalt gewann. Von Würzburg aus wanderte jedenfalls der Totentanzbilderbogen mit ostfränkischem Text den Main hinunter und den Rhein stromab und an der deutschen Nordküste gen Osten, wanderte andrerseits das Naabtal abwärts nach Bayern hinein, donauaufwärts nach Ulm und Basel und donauabwärts nach Österreich und Kärnten. Auch der jüngere Totentanz, fast ein Jahrhundert später in der Mainzer Gegend entstanden am Schnittpunkt von Rhein- und Mainstraße, steht noch unter der Wirkung des Würzburger Totentanzes, ist aber dem Westen zugewandt und öffnet sich willig französisch-burgundischem Einfluß: Schicksal des Mittelrheins, Mittler zwischen Osten und Westen, zwischen Frankreich und dem deutschen Osten zu sein! 11

Die Verse der namenlosen Toten könnten später als die anderen Verse ins Deutsche übertragen sein. Deshalb sei betont, daß nichts dagegen spricht, daß auch sie im gleichen Gebiet und gleichen Zeitraum gedichtet wurden (Merkmal 2 ist nur hier belegt, 3—5 nicht, aber I, 6 und 7).

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutsdiland

Der Würzburger Totentanz aber hat ein Jahrhundert lang das Feld behauptet. W i r erfassen seine Ausbreitung nur, wo die flüchtige Woge des Bilderbogens im Buch oder im Wandbild ihre Spuren hinterließ. Da sind zunächst die Sammelhandschriften spätmittelalterlicher Literaturliebhaber, die das umlaufende literarische Gut mit antiquarischem Interesse oft wahllos zusammenhäuften aus Freude am Stoff. Dabei wurden die Illustrationen meist fortgelassen: das ist für uns Nachfahren schmerzlich, kennzeichnet aber den aufs Stoffliche gerichteten Sammeleifer. Ein solcher Sammelcodex aus Rottenbuch bei Füssen vom Jahre 1464 18 ) bringt zwischen den verschiedensten Themen (Suchenwirt, Konrad v. Würzburg, Freidank, Mönch von Salzburg, Kaufringer) auch den Würzburger Totentanz in einer Fassung, die durch irrtümliche Abschrift entstandene Abweichungen und Fehler aufweist, im großen ganzen aber noch ziemlich getreu den Würzburger Originaltext bietet (M1). Eine oberbayerische H a n d schrift des 15. Jahrhunderts 1 4 ) bringt neben einer Chronik des heiligen Berges Andechs und kleineren Texten einen eng mit der Rottenbucher Fassung verwandten Totentanztext (M 3 ). Eine den W a p p e n nach in Basel beheimatete Sammelhandschrift (Germ. fol. Berol. 19) vom J a h r e 1448 15 ) enthält im Anschluß an Otto's von Passau „Vierundzwanzig Alte" und kleinere Stücke (z. B. eine deutsche Ars moriendi) den Würzburger Totentanz in einer jüngeren Textredaktion, die eng mit den Baseler Totentanzbildern zusammengehört (Berl). W e n n hier aus dem Edelmann (151) ein edler degen wird, so sieht das wie ein archäisierender Anklang an die Volksepik aus. Auffallend ist, daß die zeitlich jüngste dieser Sammelhandschriften (1464) den ursprünglichen Text bietet, die älteste die am meisten abgewandelte, durch Flüchtigkeitsfehler und nachträgliche Besserung auf eigne Faust veränderte Textfassung. Neben diese Sammelhandschriften mit dem vollständigen Würzburger Text tritt noch eine Heidelberger Sammelhandschrift von 1443/47 i e ), die nur die Verse der Neuverstorbenen bietet, aber diese in ausgezeichneter Textgestalt und zusammen mit "München Cgm. 270, bl. 192b—197b. " München Cgm. 2927, bl. 13 a—15 b. 15 Berlin Ms. germ. fol. 19, bl. 224—27. 16 Heidelberg Cod. Pal. 314, bl. 79 a—80 b. Vorangeht Boners Edelstein, es folgt Freidank, Dietridis Fludit, Rabenschladit u. a. Daß die Hs. aus Augsburg stammt, erwies R. K a u t z s c h , Zentralbl. f. Biblw. 12 (1895), S. 14 bis 16. — Erstabdruck der Totentanzverse bei W. F e h s e , Der Ursprung der Totentänze, Halle 1907, S. 50 ff. Die Ergebnisse von Fehses Arbeit bilden die Grundlage der modernen Totentanzforsdiung.

Der Würzburger Text in Handschriften und Blodcbüdiern

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den zugrundeliegenden lateinischen Versen. Diese aus Augsburg stammende Handschrift beruft sich auf einen Codex albus als Quelle, der illustriert gewesen sein muß und diese Illustrationen nach dem Ausweis der Zwischenbemerkungen aus einem Bilderbogen übernahm. Wahrscheinlich waren dem Schreiber des Codex albus sowohl ein Totentanzbilderbogen mit lateinischem Monolog der Neuverstorbenen wie auch dessen Umsetzung ins Ostfränkische bekannt. W i r sehen also aus dem vielfältigen Bilde, das diese Sammelhandschriften bieten, daß eine reiche Bilderbogenproduktion vorausgegangen ist. Den Schreibern der Sammelhandschriften lagen Bilderbogen ältester, jüngerer und jüngster Redaktion vor: offenbar fanden die verschiedenen Redaktionen des Totentanzbilderbogens nebeneinander Vervielfältigung und Absatj. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts der Blockbücher, die später als alle Handschriften sind, aber abgesehen von Durchführung der Diphthongierung und anderen jüngeren Sprachformen den ursprünglichen Text ziemlich getreu wiedergeben. Jedenfalls gilt dies vom Heidelberger Blockbuch von 1465 (H*)"). Es ist audi darin altertümlich, daß es die Verse der Neuverstorbenen unter, die der namenlosen Toten über dem Bild jeweils etwa in der Breite eines Tanzpaares bringt (Abb. 39). Der obere Text ist zwar etwas nach links, der untere etwas nach rechts verschoben, aber trotjdem besteht noch die Möglichkeit, die Verse der Neuverstorbenen in ursprünglicher Weise vorweg zu lesen, die Verse der namenlosen Toten als Antwort hinterher. Das Münchener Blockbudi von 1480 (M*)1*) zeigt im Gegensatj zu den traditionellen Totentanzbildern des Heidelberger Blockbuches eine eigenwillige, junge Bildfassung: der namenlose Tote und der Sterbende si^en sich meist in bequemer Unterhaltung auf Schemeln gegenüber (Abb. 30-32), eine Darstellung, die in keiner Weise dem aufrüttelnden Ernst des Totentanzes gerecht wird. Eis ist " Enthalten in Cod. Pal. 438, bl. 129a— 142a. — Faksimile bei H . F. M a s s m a n n , Die Baseler Totentänze, Lpz. 1847, Atlasbd., und durch W . L. S c h r e i b e r , Der Totentanz. Blockbuch von 1465, Photolithogr. Nachbildung, Lpz. 1900. 18 Cod. xyl. Mon. N r . 39. — Drei Holzschnitte d a r a u s bei A. G o e t t e . H o l beins T o t e n t a n z und seine Vorbilder, Straßb. 1897, fig. 49—51, ebda. S. 102 die Verse des Ritters. Die beiden xylographischen F r a g m e n t e lauten nach meiner Lesung: Her ritter, ir seit ach / an geschriben da / ir rittersdiaft nu I must triben mit dem / tod und synen knedi / ten Eudi hilfet II ich han als ain /strenger ritter gut / der weit gedient / in hohem mut nu / bin ich wider ritirs I orden mit disen II.

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutschland

ein äußerst ungeschickter Versuch, der Vereinzelung der Totentanzpaare durch szenische Darstellung eine neue Nuance zu geben: dem Illustrator schwebte also etwa das vor, was dann Holbein in souveräner Weise durchgeführt hat (Abb. 37/38). Das mangelnde Einfühlungsvermögen, das sidi in dieser ungeschickten szenischen Darstellung kundtut, zeigt sich auch bei Einzelheiten. Her ritter, ir sit angeschriben, daz ir nu rittersdiaft müezt triben mit dem tot heißt es im Würzburger Totentanz (v. 119/21). Angeschriben sin heißt „verpflichtet sein". Der Illustrator nimmt es ganz wörtlich als „aufgeschrieben sein": bei ihm hält der Tote dem Ritter eine Liste vor die Augen, um ihm vorzuweisen, daß er auf der Liste derer stehe, die mit dem Tode kämpfen müssen (Abb. 32). Vom Münchener Blodcbuch sind nur die Bilder erhalten, aber es ist noch zu sehen, daß unter jeder Figur Verse standen, also unter jedem Holzschnitt ein zweispaltiger, durch Rahmen in zwei getrennte Schriftfelder zerteilter Text. Offensichtlich ist die Handschrift, auf deren linke Seiten je zwei dieser beschnittenen Holzschnitte übereinander geklebt wurden, älter. Wohl 1446 schrieb ein Schreiber jeweils auf die rechte Seite die Verse von zwei Totentanzpaaren und ließ die linke Seite für die Illustrationen frei. Ein späterer Besitzer nahm ein Totentanzblodcbuch, schnitt den Text überall weg, bis die Bilder so beschnitten waren, daß er sie anstelle der unausgeführten Illustrationen einkleben konnte. Einer der weggeschnittenen Streifen wurde beim Einbinden benutjt und konnte herausgelöst werden. Er gibt die Verse des Ritters und seines Tanzpartners wieder. Dieser xylographische Text hat die Diphthongierung des i noch nicht durchgeführt, ist also wohl alemannisch, während der ältere handschriftliche Text die bairische Diphthongierung bereits zeigt. Wir sehen daraus das Wandern der Texte aus einer Landschaft in die andere. Sehr viele Redaktionen werden uns verloren sein. Hätten wir doch auch von diesem Münchner Blockbuch keine Spur, wenn es nicht in dieser barbarischen Weise verstümmelt und in die ältere Handschrift geklebt wäre: wie hätten sich da erst die viel leichter zerfledernden Bilderbogen erhalten sollen! Wir halten als wesentlich fest: bei Einverleibung der Totentanzes ins Buch fielen entweder die Illustrationen als entbehrlich fort — dies ist der Brauch bei den antiquarisch interessierten Sammlern und ihren Sammelhandschriften, die möglichst viel Stoff zusammenraffen — oder die Bilderbogen wurden zu einem illustrierten Volksbuch verarbeitet. Hierbei wird die Kette oder lose Reihe der Totentanzpaare in Einzelpaare zerlegt, und meist trägt jede Seite auch nur ein solches

Der Totentanz im Budi — Der Ulmer Totentanz

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Tanzpaar mit seinen Versen. Diese Trennung des Reigens in Einzelszenen ist zwangsläufig und ebenso bei den illustrierten Handschriften der Danse macabre zu beobachten. Erst Guyot Mardiant, der den Reigentanz des Pariser Wandbildes als illustriertes Budi wiedergeben wollte, hat bei seiner Atisgabe 1485 den Reigen durdi Zusammenfügen von zwei Tanzpaaren auf einem Holzschnitt wenigstens andeutungsweise beibehalten. Daß trotj solcher Zerlegung in Einzelpaare die Bildtradition des Bilderbogens ziemlich getreu bewahrt werden kann, zeigt das Heidelberger Blockbudi, während das Münchener Blockbudi einen eigenwilligen Illustrator am Werke zeigt. Jedenfalls ist für die Handschriften und Blockbücher eine mannigfaltige Bilderbogenkopie die Voraussetzung. Eis sieht so aus, als sei der Bilderbogen von Würzburg aus über den bayerischen Raum ins Alemannische (nach der Schweiz, nadi Basel) gewandert. Eine äußerst wichtige Etappe auf diesem Weg bedeutet der U l m e r T o t e n t a n z , der bisher in der Totentanzforschung noch nicht berücksichtigt wurde. Eis handelt sich um einen Bilderfries im östlichen Kreuzgang des Wengenklosters in U l m , der vor 30 Jahren unter dem Wandbewurf aufgefunden wurde"). Das damals freigelegte Stück war 10,8 m lang. Etwa 21/g m fehlen am Anfang und 9 m am Schluß, auch waren die Figuren besonders in den oberen Partien fast völlig zerstört, nur die unteren Partien und der Textstreifen waren einigermaßen zu erkennen. Inzwischen ist mit dem Wengenkloster auch dieser historisch sehr wichtige Totentanz endgültig in Trümmer versunken (17. 12. 1944), während die gleiche Katastrophe den Schluß des Totentanzes erstmals aufdeckte und damit auch den Unbilden der Witterung und, da örtliche Fürsorge ausblieb, der Vernichtung preisgab. Den einzigen in den Umrissen noch etwas erkennbaren Rest habe ich 1951 erstmals skizziert1*) und so gut wie möglich rekonstruiert (Abb. 16). Die wenigen noch vorhandenen Farbreste zeigen, daß hier ein guter Maler am Werke war. Unsdiätj" R. W e s e r , Der Ulmer Totentanz im Wengenkloster, in: Ulmisdie Blätter f. heimatl. Gesih. 1 (1924/25), S. 81 ff. — R. E r n s t , in: Mitteilgen, d. Ver. f. Kunst u. Altert, in Ulm 30 (1939), S. 123 ff. 10 In den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit haben weder die städtischen und kirchlichen noch die staatlichen Behörden sich des kostbaren Gemäldes angenommen oder auch nur f ü r ein Photo oder eine Skizze der Umrisse Sorge getragen. Durdi H. Kluge (Stuttgart) erfuhr ich von den inzwischen fast ganz zerstörten Resten, W . Heiss machte die ersten Ermittlungen für mich, Pfingsten 1951 konnte ich dann an Ort und Stelle die Reste besichtigen und skizzieren, wobei ich mich der Beratung durch Kirchenkonservator Hammer jun. erfreuen durfte.

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IV. Totentanzdiditung in Oberdcutschland

bar ist der Totentanz schon allein deshalb, weil er genau zu datieren ist. Denn in der Geschichte des Wengenklosters von Propst Michael III. Kuen von Weißenhorn (um 1760) ist auf Grund älterer Quellen vermerkt: Abbas Ulricus Strobl 1440 depingi curavit corearn defunctoTum. Die Vermutung liegt nahe, daß dieselbe Pestwelle, die am 5. 4. 1439 Basel erreichte und verheerte, auch Ulm heimgesucht und Anlaß zu diesem Gemälde gegeben hat. Das seinerzeit freigelegte Bruchstück begann mit dem Kaiser und brachte Kaiserin, König, Kardinal, Patriarch, Erzbisdiof, Herzog, Bischof, Graf, Abt, Ritter, Jurist, Chorherr und den Tanzpartner des Arztes; da der König die Nummer V trägt, müssen noch zwei Gestalten, Prediger und Papst, vorweggegangen sein. Sdion aus dieser Reihenfolge sehen wir, daß es sich um den Würzburger Totentanz handelt. Auch das neuaufgedeckte Stück bestätigt das: es beginnt mit der Edelfrau, deren Verse noch zu entziffern sind, und zeigte wahrscheinlich noch Kaufmann, Nonne, Krüppel, Koch, Bauer, Kind, Mutter 2 1 ) und zum Schluß genau wie noch der Totentanz in Metnitj den Prediger auf der Kanzel, der auch im lateinischen Totentanztext noch einmal den Eindruck des Ganzen zusammenfaßt. Aber auch der Text stimmt genau mit dem Würzburger Text überein und bietet in der Regel noch die mittelhochdeutsche Form des Originals. In den Abweichungen besteht Verwandtschaft zu den bairischen Fassungen und besonders zur Rottenbudier (M 1 ), ohne durchgängig mit diesen zusammenzugehen. Mit M 1 geht der Ulmer Text z. B. in der Änderung des unklaren Verses 52 die weit geregiert als Rom daz rieh in die weit geregieret und daz rieh, gegen alle anderen Fassungen zusammen 22). Im Vers 94 stütjt Ulm die Lesung von H 1 und H 2 zum tanze als einen äffen gegen das zum tode als einen äffen der bairischen und Baseler Fassungen. In einem Falle hat Ulm sogar wahrscheinlich ganz allein das Ursprüngliche bewahrt: v. 122 haben alle Iu hilfet weder schimph noch, vehten; Ulm bringt lu hilf et weder schirmen noch vediten und in diesem Doppelausdruck kommt Angriff und Verteidigung so trefflich zum Ausdrude, daß es vor dem un11

An diese Gestalten konnten sidi einige von denen, die die Gemälde kurz nach der Freilegung gesehen haben, einigermaßen erinnern (Kunstmaler W . Geyer, Konservator Hammer), im übrigen blieben meine Umfragen nach Einzelheiten bei allen Beteiligten leider ergebnislos.

" Im lateinischen Totentanz v. 19 sagt der König Ut ego rex urbem sie rexi non minus orbem. Dieses urbem wurde im Würzburger Text v. 52 durch Röm übersetzt. Die Textfassung von M 1 und Ulm hätte nie eine Beziehung auf Rom ergeben, hier war vielmehr eine glättende Hand am Werke.

U l m e r Totentanz — Metnitzer Totentanz

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organischen schimpf und vechten, den Vorrang verdient. So haben wir audi im Ulmer Totentanz ein unschätjbares Zeugnis für die Verbreitung des Würzburger Totentanzes. Bis auf das von mir Abb. 16 gebotene Bruchstück gibt es keinerlei Abbildungen, aber eine Einzelheit, die bei der ersten Aufdeckung bemerkt wurde, ist aufschlußreich. D a nach hat der Ritter seinen Fuß auf ein langes Schwert gese^t: auch im Heidelberger Blockbuch von 1465 liegt das lange Schwert unter den Füßen des Ritters, während in den Baseler Totentänzen der Tote es dem Ritter aus der H a n d nahm. Ulmer Totentanz und Heidelberger Blockbuch zeigen hier die ältere Bildtradition der Bilderbogen und Volksbücher. Daß dieser W a n d e r u n g des Totentanzes nach Südwesten auch eine ähnliche nach Südosten bis zu den fernsten Ausläufern des bayerischösterreichischen Stammes entsprach, beweist der Totentanz am achteckigen Beinhaus des Friedhofes zu M e t n i t z in Kärnten (etwa 1490) 2S ). Da das W a n d g e m ä l d e sich auf der Außenmauer befindet und erst nachträglich in halber Höhe ein Pultdach angebracht wurde, um den Bildstreifen vor dem Schlimmsten zu sdiütjen, sind die Verse schon längst unlesbar geworden und auch das Gemälde selbst ist bis auf einige Figuren im Norden und Osten fast ganz zerstört, während 1875 noch 19 Tanzpaare mehr oder weniger gut erhalten waren. In der Personenauswahl 2 4 ) und auch darin, daß am A n f a n g und am Schluß ein Prediger auf der Kanzel gegeben wird, zeigt das Metnitzer Bild noch deutlich den Typ des Würzburger Totentanzes. Jedoch nicht ein Bilderbogen war die Vorlage, denn die geschlossene Reigenkette 23

Th. F T i m m e l , in: Mitteilgen d. Centralkomm. Wien NF. 11 (1885), S. 83 (färb. Abb. eines Ausschnittes, danach meine Federzeichnung Abb. 15). — W. F r o d 1, Die got. Wandmalerei in Kärnten, Klagenfurt 1944, S. 117/18 und Taf. 77 (Koch, Bauer, Kind und Mutter). — Ein Postkartenphoto der Nordostseite des Beinhauses verdanke ich der Güte des Ortspfarrers. "Zwischen den 1. Prediger auf der Kanzel und den eigentlichen Beginn des Totentanzes ist noch die Darstellung des Höllenrachens eingeschoben an die Stelle, die ursprünglich der musizierende Tod einnahm: das mag Zutat des Metnitzer Malers sein. Dann folgen Papst, Kaiser, Kaiserin, König, Kardinal und eine Lücke, die Patriarch, Erzbisdiof. Herzog, Bischof, Graf und Abt enthalten haben wird; dann folgen Ritter, Jurist, angeblich eine Mönchsgestalt (jedenfalls eine zur Füllung des Raumes eingeschobene Figur, wenn nicht etwa der Abt hierher versetzt wurde), Kanoniker (fälschlich bisher als Edelmann bezeichnet), Arzt, Edelmann (fälschlich bisher als Kriegsmann bezeichnet), Edelfrau, Kaufmann, Nonne, Bettler, Koch. Bauer. Kind und Mutter und anschließend der 2. Prediger auf der Kanzel mit Zuhörern und hinter diesen eine Todesgestalt.

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Rosenfeld,

Totentanz

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I V . Totentanzdichtung in Oberdeutschland

wurde in dicht aneinander gereihte Einzelpaare aufgelöst, ein sicherer Beweis, daß ein Totentanzbuch als Malvorlage genommen wurde. Die ikonographischen Einzelheiten stimmen weitgehend mit dem Heidelberger Blockbuch von 1465 zusammen. So hat zum Beispiel der Edelmann hier wie dort die gleiche Rüstung und Körperhaltung bis hin zu der sehr gekünstelten Art., wie das Schwert mit der linken Hand nach hinten zur linken Schulter emporgehalten wird (Abb. 15/34). Weitere frappante Übereinstimmungen wären die beiden Trommeln, die der Tanzpartner des Papstes umhängen hat, der Geldsack im linken Arm der Kaufmanns und die Trommel seines Tanzpartners, die Blasinstrumente der Partner von Bettler und Koch, die Haltung des nackten Kindes, die Mutter mit der Wiege neben sich und viele andere Einzelheiten. Trotjdem kann nicht das Heidelberger Block buch als Malvorlage gedient haben, denn in ihm fehlt die doppelte Wiedergabe des Predigers; auch hat der Prediger im Blodcbudi keine Hörer vor sich wie in Metnitj (hier geht Metnitj mit dem Münchner Bloddbuch von 1480 zusammen, wie Abb. 31 zeigt), der Kaufmann hat unorganisch noch einen zweiten Geldsack in der Rechten und auch die beiden Trommeln beim Partner des Papstes sind in Metnitj ursprünglicher gegeben als im Blockbuch. Wir müssen vielmehr für das Metnitjer Wandbild und das Heidelberger Blockbudi eine gemeinsame Quelle annehmen, und zwar dürfte diese gemeinsame Quelle noch ein handgemaltes Totentanzbüchlein gewesen sein; in Metnit} wurde es ziemlich getreu ins Monumentale umgesetjt, im Blockbudi der Holzschnitt-Technik gemäß stark vereinfacht und vergröbert. Die Umsetzung des ursprünglichen Bilderbogens in handgemalte Totentanzbüchlein und Blockbücher, alles in verschiedenen Redaktionen, beweist den literarischen Erfolg. Die Totentanzgemälde in Ulm, Basel und Metnitj sind Marksteine dieses Erfolges und der weiten Ausstrahlung des Würzburger Totentanzes; auch für Nordböhmen und für den Mittelrhein haben wir, wie später gezeigt werden wird, indirekte Zeugnisse dieser Verbreitung. Aber die Wirkung ging über das hodideutsche Gebiet hinaus. Der Widerhall des ostfränkischen Textes auf n i e d e r d e u t s c h e m und niederländischem Gebiet ist auffälliger und für den literarischen Erfolg beweiskräftiger, weil hier eine völlige sprachliche Umsetyung erfolgen mußte. Später steht die norddeutsche Küste unter dem Einfluß des französischen Totentanzes: von jeher brachten Handel und Seefahrt auch einen kulturellen Austausch mit Frankreich und den Niederlanden mit sidi. Gleichwohl haben wir Anzeichen, daß zunächst der Würzburger Totentanz es war, der die Totentanzidee zum Siege brachte.

Verbreitung des Würzburger Textes nadi Norddeutsdiland

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Noch ins 14. J a h r h u n d e r t gehört das Gedicht „Das andere L a n d " 2 5 ) . Hier wird der ganze Motivkreis von T o d e s - und Vergänglidikeitsgedanken liedhaft zusammengefaßt. Die zweite Strophe zeigt unverkennbar die Kenntnis des Totentanzes: Ock en iss-et nicht alle wege mey, wy moten al dansen an den rey; dat uns dat meyen wort untwant unde singen voert in een ander lant. D e r A n k l a n g an Vers 21/22 des Würzburger Totentanzes: Mit hellischen

pfifen

siner

schrei bringt er iudi all an einen rey ist zu offensicht-

lich, um zufällig zu sein. Auch eine andere Strophe weist in die gleidie Richtung. Vers 5 3 f. heißt es: Pawes, keyser, herthogen ende greven, geistelic, werltlic, nichten ende neven. deser is mennich voer ghesant sunder keren in eyn ander lant. Sieht diese Strophe nidit wie die abgekürzte Aufzählung eines T o t e n tanzes aus? I m französischen T o t e n t a n z finden sidi die Figuren des Herzogs und des G r a f e n nicht. D e r W ü r z b u r g e r Totentanz mit Papst, Kaiser, Herzog und G r a f wird wie bei der oben genannten Strophe so auch hier den Anstoß gegeben haben. S o ist das Gedicht „Das andere L a n d " als Beleg für eine frühe Verbreitung des Würzburger Totentanzes in Norddeutsdiland anzusehen. Die uns überlieferte T e x t form stammt aus einem Kloster St. Anton zu Albergen in der niederländischen Provinz O v e r - Y s s e l und gehört dem Ende des 14. J a h r hunderts an. D i e Sprache ist eine Mischung von Niederländisch und Niederdeutsch. D e r T e x t war offensichtlich ursprünglich niederdeutsch und stammte wohl aus B r e m e n 2 6 ) . Hier muß also schon im 14. J a h r hundert der Würzburger Totentanzbilderbogen bekannt gewesen sein. Das stimmt gut dazu, daß auch für L ü b e c k eine frühe Bekanntschaft mit dem Würzburger T o t e n t a n z zu erweisen ist. D e r berühmte Lübecker Totentanz von 1463 steht zwar unter dem direkten oder indirekten Einfluß des Pariser Totentanzes von 1424, aber er reduJ . F. M o n e , in: Quellen u. Forschungen z Gesch. d. dt. Lit. u. Sprache 1 (1830), S. 128/33 (aus einem Martyrologium der Antwerpener Jesuiten). — In den niederdeutschen Totentänzen wird verschiedentlich auf das Gedidit angespielt (Lübeck, v. 267 Nu mustu int ander lant, Berlin v. 210 Gy mutten snel met my yn eyn ander lant, Totentanzbuch von 1520, v. 253 und 334: Nu mustu myt in eyn ander lant!). Das zeigt die weite Verbreitung des Gtdidites. " W . S t a m m l e r : Geschichte d. niederdt. Literatur, 1920, S. 33.

ts

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutsdiland

zierte die 30 Standesvertreter auf nur 24, also auf die Figurenzahl des Würzburger Totentanzes, und er bringt trotj dieser Reduzierung der Personenzahl die Gestalt der Kaiserin und des Herzogs, die sich nur im Würzburger, nicht aber im französischen Totentanz finden. Wir dürfen daraus schließen, daß in der Lübecker Marienkirche sich bereits ein altes Totentanzgemälde befand 2 7 ), als man sich 1463 zu einem neuen Gemälde entschloß. Dem alten Gemälde und dem zur Verfügung stehenden Platje entsprechend mußte man sich dabei entgegen der neuen Vorlage auf 24 Figuren beschränken, aber auf keinen Fall wollte man dabei die im deutschen Leben verwurzelten Gestalten der Kaiserin und des Herzogs entbehren, nur ihre Verse mußte man dem Stil des neuen Textes anpassen. Vielleicht hätten wir in den Versen des Herzogs noch Anklänge an den Würzburger Text finden können; leider sind sie nicht überliefert. Bei der Kaiserin erinnert die Aufforderung des Todes v. 71 Tred hyr an! noch an das Springt mir nach! des Würzburger Textes (v. 48). Eindeutiger ist der Wortlaut des Würzburger Textes beim Kinde bewahrt. Im französischen Totentanz stottert das Kind: Ah, ah, ah, ich kann noch nicht sprechen, in Lübeck aber klingt, wie der Vergleich der Verse zeigt, fast wörtlich der Würzburger Wortlaut wieder: Würzburg v. 205/06: Wie wiltu midi also verlän? Muoz ich tanzen und kan nit gän? Lübeck v. 389/90:

0 dot, wo schal ik dat vorstan? Ik schal danssen unde kan nidit gan!

Weil die Gestalt der Mutter im Lübecker Totentanz von 1463 ausfiel, mußte die Anrede an die Mutter in eine solche an den Tod umgewandelt werden. Aber anstelle der fremd erscheinenden Vorstellung des französischen Vorbildes hielt man ein der eigentümlich deutschen Prägung der kindlichen Verse fest, sicherlich, weil sie aus dem verblichenen älteren Lübecker Totentanzgemälde bekannt und beliebt waren. W i r dürfen also bei der Annahme bleiben, daß auf Grund eines Bilderbogens hier in der Marienkirche zu Lübeck schon früh der Würzburger Totentanz in niederdeutscher Fassung wiedergegeben " Ähnlich vermutet schon W. M a n t e l s : Der Totentanz in der Marienkirdie zu Lübeck, 1866, S. 9, und W. F e h s e , in Zsdir. f. dt. Philol. 42 (1910), S. 271 f. — Die Überlieferung der Verse des Kindes ist nicht zweifelsfrei, da sie sich nicht in Melles Niederschrift der anderen Verse in seiner Lubeca religiosa von 1710 feinden, sondern von anderer Hand nachgetragen wurden. Wir dürfen aber wohl annehmen, daß dieser Nachtrag aus zuverlässiger Quelle erfolgte, denn es handelt sich ja um ein Fragment von 2 Versen aus dem eigentlichen Achtzeiler.

Widerhall des Würzburger Textes in Lübeck und Wismar

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war, vermutlidi im Zusammenhang mit der Pestkatastrophe von 1387/88, bei der in Lübeck 16 000 Menschen gestorben sein sollen. Als die Pest von 1463 die Gemüter ängstigte und zu einer Erneuerung des verblichenen Gemäldes antrieb, nahm man zwar ein moderneres Muster französisch-niederländischer Prägung, aber man beharrte auf der traditionellen Figurenzahl und behielt besonders volkstümliche Gestalten und Verse aus dem alten Totentanz bei, und man behielt auch bei, daß die Menschengestalten zuerst zu Worte kommen, nicht wie im französischen Totentanz die Todesgestalten. Als Lübeck längst seinen modernen Totentanz von 1463 hatte, hat man offensichtlich im benachbarten W i s m a r noch nach der älteren Bilderbogenvorlage gearbeitet; das ist ein wichtiger Hinweis dafür, wie lebendig und verbreitet dieser ältere Bilderbogen war. Vom Text freilich wissen wir nichts, und auch die wenigen in der Marien-Pfarrei aufgefundenen Bildgestalten sind alsbald wieder übertüncht worden; aber die Reihenfolge Kardinal, Patriarch, Erzbisdiof, (Herzog), Bischof, (Graf), (Abt), Ritter, (Jurist), Domherr weist eindeutig auf die Tradition des Würzburger Totentanzes. Er muß also gegen 1500 nodi an der deutschen Küste als Bilderbogen oder illustriertes Volksbuch im Umlauf gewesen sein. Aber wenige Jahre später, noch im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts, treffen wir in der Wismarer Nikolaikirche einen ganz anderen Totentanztyp, eine Trennung in eine fortlaufende geistliche und weltliche Standesreihe, wie sie in gleicher Reihenfolge auch der Hamburg-Berliner Text aufweist, während ein weiterer Wismarer aus dem Jahre 1616 deutlich den Einfluß des Lübecker Totentanztextes von 1463 verrät 2 8 ). So sehen wir in Wismar nacheinander drei verschiedene Totentanztypen zur Herrschaft kommen. Am wichtigsten ist uns dabei, daß der Würzburger Totentanz hier noch gegen 1500 lebendig war, als anderwärts schon überall neue Totentanztexte in Umlauf gekommen waren. Welche Folgerungen haben wir aus diesen Zeugnissen für die Verbreitung des Würzburger Totentanzes zu ziehen? Der Übergang der Totentanzdichtung in die Volkssprache erweitert das Publikum und damit die Verbreitungsmöglichkeit und das Interesse aufs stärkste. Als Bilderbogen oder als illustriertes Volksbuch wird er von Stadt zu Stadt bis in die fernsten Gebiete des deutschen Sprachraumes weitergegeben. Er findet antiquarische Liebhaber, die seinen Text "W.

Krogmann:

(1938), S. 387—96.

Wismarer Totentänze,

in: Zschr. f. dt. Philol.

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IV. Totentanzdiditung in Oberdeutschland

ihren Sammelbänden einverleiben, und geschäftstüchtige Verleger, die ihn zu illustrierten Volksbüchern verarbeiten. Aber weil er an tiefste Seiten des spätmittelalterlidien Menschen rührte, an seine Ängste und Schredcenserlebnisse, an sein Erlebnis des Todes und der Kreatürlichkeit des Menschen, begnügt man sich nicht mit dieser rein literarischen Verbreitung. Wie man den Heiligen Christphorus in riesenhafter Gestalt an die Kirchenwände malte, um sich vor einem jähen Tod zu bewahren, so malt man jetjt auch die Totentänze riesenhaft an die Wand, um einem neuen Massenmord des Schwarzen Todes vorzubeugen. Der Ruf zur Buße und die religiösen Gefühle, die das Totentanzbild und die Darstellung der Vergänglichkeit hervorriefen, vermischte sich mit dem Gedanken heilbringender Schau, der das gesamte ausgehende Mittelalter beherrscht und mit uralten magischen Vorstellungen. Wie der Assyrerkönig Sanherib dem Pestgott Smintheus eine Bildsäule errichtete, damit sein von der Pest ergriffenes Heer durch den Anblick des Pestgottes gerettet würde, wie Moses in der Wüste eine eherne Schlange errichtete, damit, wer von giftigen Schlangen gebissen wurde, durch den Blick auf die eherne Schlange gesunde, wie nach dem Volksglauben Gelbsucht geheilt wird durch Anschauen einer Goldamsel oder Messingschüssel, so wurden wohl die Totentänze gemalt im geheimen Glauben, daß der Anblick des Todes den Tod vertreiben könne. Neben diesem Geflecht von heilbringender Schau, Abwehrmagie und Sympathiezauber mag auch noch der Gedanke an die apotropäische Wirkung (Abspeisung des Todes mit gemalten Opfern) und der Opfergedanke (Beteiligung an den Kosten des Bildes und schauende Beteiligung am Opfergang des Bildes) mitgewirkt haben. Je unbewußter dieser Heilsglaube an das Unheilsbild war, umso mannigfaltiger werden die damit verbundenen unklaren Hoffnungen auf Heil und Rettung gewesen sein. Nur aus solchen Gefühlskomplexen und Hoffnungen erklärt sich die ungeheure Verbreitung des Totentanzes, wobei Totentanzbilderbogen und Bilderbücher in Privathaus und Klosterzelle oft dieselbe Rolle gespielt haben werden wie die monumentalen Totentanzgemälde für die große Öffentlichkeit. Das hindert nicht, daß besonders bei monumentalen Darstellungen Künstlerehrgeiz und städtisches Selbstbewußtsein sich einmischen und zu Modernisierung oder Erweiterung der ursprünglichen Form drängen. Beides ist bei der Neugestaltung des Totentanzes in Lübeck im Jahre 1463 mitbeteiligt gewesen und das Gleiche gilt sicherlich in ähnlicher Weise für die Baseler Totentänze.

Totentanz und Bildmagie — Baseler Totentänze

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3. D i e B a s e l e r T o t e n t ä n z e a l s D o k u m e n t e spätmittelalterlicher Stadtkultur Der Totentanz des Klosters K l i n g e n t h a l in Klein-Basel (Abb. 14) wurde früher infolge einer verlesenen Jahreszahl ins Jahr 1312 gesetzt und als ältester Totentanz überhaupt angesehen. Emanuel Büchel, ein kunstliebender Bäckermeister, hatte 1766 die Bilder und Verse getreu kopiert und die Inschrift über eine Restauration des Jahres 1512 ursprünglich als Datierung des ersten Malers 1312 gelesen, sidi aber selbst später korrigiert. Diese Richtigstellung war unbekannt geblieben, so d a ß die Forschung für lange Zeit auf falsche Fährte gesetjt war. Das Kloster Klingenthal ist ein Nonnenkloster. Eis wurde am 11. 7. 1245 durch Papst Innozenz IV. dem Predigerorden inkorporiert und 1274 nach Klein-Basel verpflanzt. Der Kreuzgang, in dem der Totentanz gemalt wurde, ist erst 1437 gebaut worden, der Totentanz kann also erst nach 1437 entstanden sein. Sehr viel bekannter und berühmter war der Totentanz, der an die äußere Seite der Kirchhofsmauer des G r o ß b a s e l e T Dominikanerklosters gemalt war (Abb. 13) 2>). Er ist also von vorneherein für die Öffentlichkeit bestimmt, hat Jahrhunderte die Besucher und Betrachter angelockt, ist auch immer wieder aufgefrisdit, wie dies bei einem Werk, das dem Wind und Wetter ausgesetjt ist, unumgänglich war. Im Jahre 1805 ist die ganze Mauer von den Anwohnern, denen die Kirdihofsmauer lästig und der Totentanz nur noch ein abergläubischer Kirchensch rede war, als der Baseler Rat ihrem Abbruchansinmen nicht nachkam, eigenmächtig abgerissen worden. Kunstfreunde haben einige Bruchstücke des Gemäldes gerettet: noch heute existieren neunzehn solcher Bruchstücke im Baseler Museum. Einer alten Volksüberlieferung zufolge (Merian verzeichnete sie im Jahre 1621) wurde der Groß-Baseler Totentanz zur Erinnerung ein die große Pestepidemie gemalt, die vom 5. 4. bis 11. 11. 1439 Basel heimsuchte. Vom Konzil mit Ablaß begnadigte Wallfahrten nach Todtmoos im Schwarzwald und nach Einsiedeln blieben erfolglos, die Pest raffte im Sommer täglich über hundert Opfer dahin. Damals starben in Basel 5000 Menschen, darunter der päpstliche Protonotar Ludovicus Pontanus, der Patriarch von Aquileja Herzog Ludwig von Teck und andere Konzilsteilnehmer, außerdem die in ihre Hci" H. F. M a s s m a n n : Die Baseler Totentänze in getreuen Abbildungen nebst geschichtl. Untersuchung, Stg. 1847 (Texte und Umrißzeidinungen der Bilder).

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IV. Totentanzdiditung in Oberdeutschland

mat zurückgeflüchteten Bisdiöfe von Lübeck und Evreux. Man kann sich vorstellen, daß die Überlebenden und auch gerade die der Seuche entkommenen Konzilsteilnehmer gern ein Scherflein gaben, um ihren Dank für die Bewahrung vor dem Tode abzustatten und mit diesem öffentlichen Memento-mori zugleich ein Monument schaffen zu helfen, an dessen unheilabwehrende magische Kraft sicher noch mancher im Grunde seines Herzens geglaubt hat. Die Gaben werden also reichlich geflossen sein, und die Dominikaner konnten anders als die Klingenthaler Nonnen einen guten Maler mit der Anfertigung des Totentanzgemäldes beauftragen. Die geretteten Fragmente zeugen trot} mehrfacher Restaurierung von vortrefflicher Arbeit, und so konnte in neuerer Zeit wahrscheinlich gemacht werden, daß der Ausführende kein Geringerer als Konrad Witj (1395—1447) war 3 0 ). Mag es nun Konrad W i § selbst, einer seiner Schüler oder ein andrer gewesen sein, eine neue Komposition wurde nicht geschaffen, sondern in mittelalterlicher Arbeitsweise der einmal geprägte Bildtyp nach der bereitstehenden Malvorlage ohne große Änderungen wiedergegeben. Die Kunst des Ausführenden konnte sich nur in feinerer Nuancierung, in der Modulation der Bewegung und in der seelischen Vertiefung der Mimik Geltung verschaffen. Die Baseler Lokalforschung möchte das einfachere Gemälde in Klingenthal als eine ungeschickte Kopie des Großbaseler Totentanzes ansehen 31 ). Aber mittelalterliche Maler malten stets nach einer handlichen Malvorlage, nicht nach der Erinnerung, und man versperrt sich den Blick für die wenigen individuellen Züge des Großbaseler Bildes, wenn man den Klingenthaler Totentanz nicht 30

Die Datierung beider Totentänze auf die Zeit um 1440 und den Zusammenhang mit der Pest von 1439 hat in ähnlidier Weise bereits W. L. S c h r e i b e r in: Zschr. f. Büdierfr. 2 (1898/99), S. 322—26 verfochten. R. R i g g e n b a c h , Basler und schweizerische Totentänze, in: Basler Nachrichten 1942, Sonntagsblatt Nr. 40 vom 4. 10. 1942 stützt die Datierung des Großbasier Gemäldes auf 1440 mit ikonographisdien Argumenten und benennt Daniel Burckhardt als Gewährsmann für die Möglichkeit einer Zuweisung des Gemäldes an Konrad Witz. D. B u r c k h a r d t , Aus der Vorgeschichte des Konrad Witz und von den Höhepunkten seiner ersten Baseler Tätigkeit, Zschr. f. Schweizer Archäol. u. Kunstgesch. 5 (194.3), S. 65—85, erbringt die Beweisgründe dafür, Witz den Totentanz zuzuschreiben.

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R i g g e n b a c h , a. a. .0., meint, die Kopie sei etwa 1450 gemacht und habe sidi zunächst pedantisch an das Großbasier Vorbild gehalten; im Lauf der Arbeit sei der Kopist freier geworden und habe sich zuletzt nur noch auf seine Erinnerungen verlassen. Allein schon die Beigabe der zugehörigen Verse erweist, daß der Maler nicht aus der Erinnerung malen konnte, sondern eine komplette Malvorlage in Händen hatte. Die Priorität der

Großbaseler und Klingenthaler Totentanz

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als Abbild der herkömmlichen Bildtradition und getreue Wiedergabe der vorhandenen Malvorlage ansieht. Eindeutiger noch als im Bildlichen läßt sich am Wortlaut des Textes nachweisen, daß der Großbaseler Totentanz jünger ist als der Klingenthaler. Wo in Klingenthal der alte Text durch Abschriftfehler gestört ist, hat Großbasel den Fehler gebessert, aber nicht der älteren Vorlage entsprechend, sondern in ganz neuer Weise: der Fehler fiel dem Bearbeiter also auf und er suchte ihn nach seinem besten Können zu beheben. Als Beispiel nehme ich die Verse des Krüppels. Sie lauten im Würzburger Totentanz (v. 175 f.): Ein armer giler hie im leben ze einem vriunt ist niemanne eben.

In der Vorlage des Klingenthaler Totentanzes hatte sich ein leicht verständlicher, reimzerstörender Fehler eingeschlichen, der in Klingenthal unverbessert blieb: Ein armer krüppel hie uf e r d e n zu einem vrund ist niemant eben.

In Großbasel suchte man den Fehler zu verbessern, ohne eine bessere Textfassung zu kennen. Man ließ das reimstörende Erden als richtig gelten und erfand ein neues Reimwort dazu: Ein armer Krüppel hie auf Erd' zu einem Freind ist niemand wert.

Statt des ursprünglichen Verses 154 Ligent ir im ob, iu wird gelont hieß es in Klingenthal fehlerhaft seligent uch wird gelont. In Großbasel ist der Fehler verbessert, aber ohne Kenntnis des Originaltextes, und deshalb nur notdürftig, um einen Sinn zu bekommen: Gesegnet euch, so wird euch gelohnt. Am leichtesten läßt sich dies alles erklären, wenn man Einnimmt, daß dem Maler von Klingenthal und dem von Großbasel die gleiche Vorlage als Quelle diente: ein aus dem alten Totentanzbilderbogen hervorgewachsenes illustriertes Volksbüchlein. Die Nonnen ließen sich Klingenthaler Bilder und Verse wurde sdion von A. G o e 11 e : Holbeins Totentanz und seine Vorbilder, 1897, S. 138—46, und von W . F e h s e , in: Zsdir. f. dt. Philol. 40 (1906), S. 81, erwiesen. Als das Klingentaler Bild in Auftrag gegeben wurde, hatten die Dominikaner offensichtlich die Revision des in Basel vorliegenden Textes und ihre anderen Umänderungen noch nidit vorgenommen, sonst würden sie wohl den ihnen unterstellten Nonnen ihre Besserungen und Neuerungen zugänglich gemacht haben.

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutsdiland

dieses Totentanzbüdilein von einem biederen Durchschnittskünstler, von einem Handwerker also, getreulich abmalen, und gewiß gab auch ihnen der erschütternde Eindruck der Pest von 1439 die Anregung, in dem kürzlich fertiggestellten Kreuzgang den Totentanz abzumalen. Im Bilde des Kaisers finden wir unverkennbar die bekannte eindrucksvolle Gestalt Kaiser Sigismunds mit wallendem Vollbart. Er war 1437 gestorben und sein Bild stand noch leuchtend vor aller Augen, auch hatte er ja das Baseler Konzil besucht und war dadurch gerade in Basel bekannt. Bei dem unbärtigen König hat man wohl Karl VII. von Frankreich im Auge gehabt — in Großbasel wird daraus eine bärtige Figur: der Franzose, der seine Söldnerhorden auf die Schweiz losgelassen hatte, mochte nicht geeignet scheinen, in der Öffentlichkeit als Repräsentant des Königtums verewigt zu werden. Im Papst will man Züge des vom Baseler Konzil 1439 zum Gegenpapst gewählten Herzog Amadeus VIII. von Savoyen (Felix V.) wiederfinden 82 ), der 1449 als Papst zurücktrat und 1451 starb. Der Klingenthaler Totentanz befand sich innerhalb der Klausur, war also nur den Klosterinsassinnen zugänglich und blieb sonst unbekannt. Als die Predigermönche sich aber entschlossen, den gleichen Totentanz auf die der Stadt zugewandte Seite der Friedhofsmauer malen zu lassen, geschah es von vornherein für die breite Öffentlichkeit und mit volksmissionarischer Absicht. Daß die handschriftliche Vorlage vom Maler dabei ziemlich getreu kopiert wurde, sieht man auch aus der Anordnung der Schrift. Wo wir sonst in Europa monumentale Totentänze haben, immer sind die Verse unterhalb der Bildfiguren angebracht, damit mein sie deutlich lesen kann. Nur in Basel finden wir die Verse der namenlosen Toten über den Bildern, also in einer Höhe von drei Metern etwa über dem Erdboden. Um noch deutlich lesbar zu sein, mußte die Schrift riesenhaft vergrößert werden: drei bis vier Buchstaben sind ebenso groß wie der Kopf des Toten 33 ). Der Großbaseler Totentanz hat offensichtlich wie der ursprüngliche Totentanzbilderbogen und wie das Heidelberger Blockbuch die Verse der Toten über die Bilder, die Verse der Sterbenden unter die Bilder gesetjt. Merians Stiche vom Großbaseler Totentanz haben diese Anordnung festgehalten. Der Klingenthaler Totentanz scheint, nach Büchels Kopie zu " R i g g e n b a c h (s. Anmerkung 30). " V g l . die Abbildung bei R i g g e n b a c h , a . a . O . , deren Schrift jüngeren Datums ist, aber doch vermutlich bei der Restaurierung im alten Sinne erneuert wurde.

Baseler Totentanzbudi als Vorlage der Baseler Totentänze

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urteilen, die Verse in einer Folge über die Bilder gesetzt zu haben, wie es später Handschrift und Holzschnittbuch des mittelrheinischen Totentanzes taten, eine naheliegende Vereinfachung der ursprünglichen Anordnung. Beide Methoden entstammen jedenfalls der Sphäre von Bilderbogen und Bilderbuch und beweisen, wie eng gerade die Baseler Wandgemälde mit der handschriftlichen Totentanztradition verknüpft sind. Diese Beobachtung und der enge Zusammenhang mit dem (bilderlosen) Totentanztexte von 1448 in einer aus Basel stammenden Sammelhandschrift legen es nahe, daß beiden Totentanzgemälden dieselbe Vorlage zu Grunde liegt, nur daß die Dominikaner bei ihren repräsentativen, für alle Öffentlichkeit bestimmten Wandbildern zuvor den Text einer sorgfältigen Prüfung unterzogen und auch die Figuren an einigen Stellen noch wechselten. Wir dürfen also annehmen, daß hinter beiden Totentanzgemälden ein B a s e l e r T o t e n t a n z b u c h steht, das den Würzburger Totentanz, wie ihn Bilderbogen und illustrierte Volksbücher verbreiteten, dem reichen städtischen Leben Basels anpassen wollte und deshalb um 15 weitere Tanzpaare erweiterte. In den Versen der neuen Tanzpaare ist konsequent durchgeführt, was durch Umkehrung der Versreihenfolge und durch Zerlegung des Reigens in Einzelszenen bereits vorbereitet war: nicht mehr der namenlose Tote spricht zu seinem Tanzpartner, sondern jetjt ist es wirklich der Tod selbst, der zum Tanze auffordert. In einem aber erweist sich die Beharrlichkeit der Tradition: der monologische Charakter der Verse, die die Sterbenden sprechen, ist durchwegs bewahrt, nicht nur bei den Versen, die aus dem Würzburger Totentanz herübergenommen sind, sondern auch da, wo neue Figuren eingefügt und neue Verse gedichtet wurden. Selten kann man die Übermächtigkeit einer literarischen Tradition, einer einprägsamen Form, so deutlich sehen wie hier! Die Änderungen und Ergänzungen, die das Baseler Totentanzbudi nach dem Zeugnis des Klingenthaler Totentanzes gegenüber dem Würzburger Totentanz aufweist, sind offensichtlich nicht auf den Lebenskreis einer Nonne zugeschnitten, sondern allgemein auf eine große Stadt. Die Nonne selbst wird weggelassen und durch eine Äbtissin ersetjt, wahrscheinlich aus dem Bestreben, alle Würdenträger der Stadt zu erfassen — dem Gewissen der einzelnen Nonne wird dadurch der Text ferner gerückt. Wir dürfen also annehmen, daß das Baseler Totentanzbudi nicht etwa erst für die Nonnen geschaffen

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutsdiland

wurde 84 ), sondern lediglich dem Wunsche entsprang, den älteren Totentanz zu aktualisieren und ihm das Gepräge der Großstadt aufzudrücken. Unter den fünfzehn eingeschobenen Figuren, von denen vierzehn zwischen Bettler und Koch eingeschoben wurden, finden sidi Fürsprecher (Rechtsanwalt), Schultheiß und Vogt. Es sind die am meisten umstrittenen obrigkeitlichen Berufe einer großen Stadt, Berufe, denen am leichtesten Beugung des Rechtes und Bestechlichkeit nachgesagt zu werden pflegen. Der Herold vertritt den Feudalismus in seiner untersten Erscheinungsform, der Wucherer (Bankherr) den beginnenden Kapitalismus des Spätmittelalters, Pfeifer und Narr spiegeln die städtischen Vergnügungen und Volksfeste wieder und der Waldbruder als Leichenträger Aufwand und Schauspiel, das man im städtischen Gemeinwesen mit Tod und Begräbnis treibt. „Waldbruder" ist aber nur ein volkstümlicher Name für Begarde. Ihm steht deshalb als weibliches Gegenstück eine Begine zur Seite. In beiden verkörpert sich das vorreformatorische Streben nach innerweltlicher Askese und weltzugewandter Frömmigkeit. Eis ist eine sektiererische Frömmigkeit, die in dieser sozial aufgewühlten Zeit bedeutsam an Boden gewann. Der beginnende Kapitalismus fördert solche Bewegung durch die starke Scheidung in Arm und Reich, in Gesättigte und Darbende. Die ansteigende Zahl der Notleidenden erhält neben dem Krüppel im Blinden einen neuen Vertreter. Ähnlich wird der Mutter und dem Kind, die bisher die Urform der Familie und den Schoß aller menschlichen Stände und Berufe verkörperten, in Jüngling und Jungfrau die heranreifende Jugend an die Seite gestellt. Der Jude, der jetjt zum ersten Mal im Totentanz auftritt, gehört in das Bild der spätmittelalterlichen Stadt und des frühen Kapitalismus ohne weiteres hinein. Wenn dem Juden aber Heide und Heidin beigesellt werden, so wendet sich der Blick aus den engen Grenzen einer mittelalterlichen Ständerevue auf die gesamte Menschheit, die in Christen, Juden und Heiden umfaßt wird. Dem Blickpunkt einer in Reichweite des Orienthandels liegenden Stadt gemäß sind die Heiden als Mohammedaner gefaßt und als Türken abgebildet. Wir stehen ja in der Zeit, wo am Bosporus sich der letjte Stoß auf das zerbröckelnde byzantinische Reich vorbereitete. Aber der kleinbürgerliche Geist des TextM

E i n städtisches Nonnenkloster war damals vornehmlich ein Heim für die unverheirateten Töditer des städtischen Patriziats, die sidi natürlich dem bürgerlichen Lebensraum weiterhin verbunden fühlten. Das Leben der Klingentaler Nonnen erregte schließlich so starken Anstoß, daß sittenstrenge Bürger 1480 eine Reform des Klosters verlangten, wogegen sidi die Nonnen nicht ohne Erfolg wehrten.

Baseler Totentanz Spiegelbild der Stadtkultur

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dichters erfaßt nicht die politischen Aspekte, sondern sieht nur den religiösen Gegensatj, der den Mohammedaner für die Hölle prädestiniert. Durch die Einfügung dieser 15 neuen Tanzpaare wird die ursprüngliche hierarchische Standesreihe zu einem überwiegend städtischen Querschnitt durdi das menschliche Leben. Bürgerlich und spätmittelalterlich ist auch die Neigung zu quantitativer Steigerung und das Hintanstellen der Qualität. Das Publikum wollte im Totentanz seine bürgerliche Welt in ihrer ganzen Breite und Fülle wiederfinden, aber die Anordnung ist willkürlich und die Verse sind verwildert. Die völlig neu zugedichteten Texte lassen den Tod selbst sprechen und mengen mehr und mehr Ständekritik und Ständesatire in das Totentanzmotiv hinein: nicht mehr die Ohnmacht menschlicher W ü r d e und menschlichen Ansehens wird betont, sondern Mißbrauch des Amtes, Sünde und Schuld. Schultheiß und Vogt klagen den „harten Tod" an, der eine, daß er ihn in seinen Sünden dahinrafft — das ist also moralische Ständekritik —, der Vogt voller Unmut, daß er Vorteil und Wohlleben aufgeben muß: hier beginnt die Ständesatire. Dahin deutet es auch, wenn der Herold selbstironisch bekennen muß, er habe stets den Mantel nach dem W i n d getragen. Im ganzen bleibt aber Kritik und Satire in den Anfängen stecken, nur die kummervolle Frage „O harter Tod, muß es denn sein?" klingt dumpf und verzweifelt. Bitten um Frist, Jammern und laute Selbstanklagen fehlen noch: darin wirkt die feste gattungsgebundene Tradition des Würzburger Totentanzes noch nach. Nur gegen den Heiden, gegen den Türken findet der Klingenthaler Totentanztext bereits laute W o r t e der Verdammung: Machmet mach didi nit beschirmen, din lib gib ich den bösen würmen. du most gar tief in die hellsdie pin und Luzifers geselle ewig syn.

Die Farben für diese Verkündung ewiger Verdammnis entnimmt der volkstümliche Totentanzbearbeiter dem spätmittelalterlichen Antisemitismus, der die Judenszenen der mittelalterlichen Dramen immer drastischer ausgestaltete, den Verräter Judas gewissermaßen zum Prototyp des Judentums machte und die Gedanken des auf Judas gedichteten Osterliedes Ach, du armer Judas bei der Verdammung der Juden insgesamt widerklingen ließ. Zwei der zitierten Baseler Totentanzverse auf den Heiden sind, wie schon Maßmann erkannte, ein wörtliches Zitat aus diesem Judaslied:

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutschland Ach, du armer Judas, was hast du getan, daß du unseren Herrn also verraten hast, des mustu in der Höllen immer leiden Pein Luzifers Geselle mußt du ewig sein.

Die Verse gegen den Türken entstammen also dem Liederschat} der Kirche und stechen deshalb aus den anderen blasseren, formelhafteren und unbeholfeneren Versen heraus. Aber diesem Publikum kam es weniger auf die Tiefe des Gefühls im einzelnen an als darauf, die ganze bunte Welt, die Welt der Handelsstadt des ausgehenden Mittelalters reich und vielfältig im Totentanz abgeschildert zu sehen, und die W i r k u n g des Totentanzes als einer Einheit von Bild und Text beruht darauf, daß er diese bunte W e l t des Alltags in ihrer Fragwürdigkeit enthüllt und damit Tiefen aufwühlt, die bei der Isolierung des einzelnen Verses zweifellos nicht berührt werden. Das Baseler Totentanzbuch hatte natürlich wie die Blockbücher den geschlossenen Reigen in Einzelpaare auflösen müssen. Die Baseler Kirchenmaler änderten d a r a n nichts, so d a ß beide Baseler Totentänze Aneinanderreihung von Einzelszenen sind (Abb. 13/14). Die Eingangsszene, wo die Toten aus dem Beinhaus herausstürzen, zeigt zwar noch deutlich die ältere Auffassung, daß die Tanzpartner der menschlichen Standesvertreter Schicksalsgenossen und unfreiwillige Teilnehmer des nächtlichen Totentanzes sind, aber sie haben die Musikinstrumente, mit denen einst der Tod selbst zum Tanze aufspielte, ergriffen und werden so zu Stellvertretern des Todes. Mit allen Instrumenten des Spielmanns Tod, mit Trommeln und Pfeifen stürzen sie aus dem Beinhaus hervor. Auch die Einzelpartner des Kaisers, des Königs, des Arztes und Schultheißen spielen auf der „höllischen Pfeifen", und die Partner des Papstes und Vogtes schlagen auf der Trommel den Tanztakt. Sie zerren die Sterbenden nicht mehr nur wie im Würzburger Totentanz bei den Händen vorwärts in den allgemeinen Reigen. Nein, viele wenden sich um und umhüpfen ihr Opfer, so beim Patriarchen, Bischof, Juristen, Chorherrn, Edelmann, Kaufmann, bei der Äbtissin, beim Krüppel, Jüngling, Wucherer, Pfeifer, Herold, Schultheiß, Blinden, Heiden, Koch, Bauern und Kind. Ja, die Partner des Kardinals, des Jünglings und der Jungfrau umfassen ihr Opfer mit beiden Armen und schlagen damit ein Motiv an, das später die hohe Kunst durch Darstellung eines blühenden nackten Weibes in den Armen des Knochenmannes Tod verselbständigte. Andere Tote werden gewalttätig und rauben den Sterbenden ihre Sachen: dem Ritter das Schwert, dem Fürsprecher das Barett, dem Bettler die Krücke. Der eitlen Edelfrau aber zeigt sich der Tote

Baseler Totentanz Aneinanderreihung von Einzelszenen

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im vorgehaltenen Spiegel: statt ihres eigenen Antlityes grinst ihr aus dem Spiegel ein Totenschädel entgegen. Ganz aus dem Rahmen des Totenreigens fällt die Szene miit dem Wucherer: der Wucherer sitjt am Tisch und zählt sein Geld, als der T o t e ihn beim Arm greift und zum Mitgehen auffordert. Das Motiv des Tanzes ist damit völlig fallen gelassen und statt dessen vorgebildet, was Holbein zum Prinzip erhob: der T o d sucht den Menschen bei seiner täglichen Arbeit auf und reißt ihn mitten aus dem Leben! Die Szene mit dem Wucherer zeigt uns deutlidi, wie eng man sich bei den Wandgemälden an das Vorbild des Baseler Totentanzbuches mit seinen Einzelszenen hielt, selbst hier, wo dadurdi die Vorstellung der einheitlichen Totentanzvorstellung der Wandbilder gestört wurde. Die Klingenthaler Nonnen haben j a auch die Textfehler ihrer Vorlage ungebessert übernommen. Die Dominikaner in Großbasel waren sonst freilich auf eine wirksame Darstellung bedacht und haben, wie wir sahen, den T e x t und die Figurenfolge überprüft. W e n n sie an die Außenseite ihrer Kirchhofmauer, hinter der so viele Opfer des großen Sterbens von 1439 unbußfertig ihre letjte Ruhestatt gefunden hatten, von einem der besten damaligen Baseler Künstler den Totentanz des Baseler Volksbuches abmalen ließen, so war er zweifellos gedadit als eine Bilderpredigt für die lebensfrohe, aber jetjt so todwunde Stadt. Bei ihnen durfte die einleitende Bußpredigt, die schon der lateinische Totentanz bot, nicht fehlen, während die Klingenthaler Nonnen den Prediger auf der Kanzel und seine Verse ausgelassen 3 5 ) und sich begnügt hatten, auf dem Giebel des Beinhauses am Anfang des Gemäldes die alten Beinhausverse anbringen zu lassen: Hie rieht G o t t noch dem rechten: die herren liegen bi den knechtennun merket hie weldier herr oder knedit gewesen si!

In Großbasel war der alte Rahmen einer Bußpredigt unerläßlich mit der volksmissionarischen Tendenz verbunden. Es besteht auch kein Zweifel, daß die Vorlage, die von Klingenthal in die Johannesvorstadt herüberwanderte, die Prediger am Anfang und am Sdiluß 55

Nach Büchels genauer Kopie ging dem Beinhaus auf dem Klingentaler Gemälde keine Predigerszene voraus, da an dieser Stelle ein gotisches Spitzbogenportal war. W ä r e dies Portal nachträglich eingebaut, so wäre dabei die unmittelbar anschließende Beinhausszene beschädigt worden, wie Büchel dies an anderer Stelle bei T ü r - und Fenstereinbrüchen getreu festhielt.

112

IV. Totentanzdichtung in Oberdeutschland

nach alter Totentanztradition enthielt. Die Witterungseinflüsse machten beim Großbaseler Bild in bestimmten Abständen immer erneute Ubermahingen nötig und diese begünstigten das Anbringen von Korrekturen. So ließ man sich in der Reformationszeit nidit die Möglichkeit entgehen, dem Prediger auf der Kanzel Porträtähnlichkeit mit dem Baseler Reformator Oecolampadius zu geben und die Verse des Predigers am Anfang und am Ende in reformatorischem Sinne umzuändern. Aus der Bußpredigt eines seines göttlichen Auftrags sicheren Priestertums tritt die reformatorische Demut vor Gott. Im Anschluß an Luthers Überse^ung von Daniel cap. 12 wird der Prediger selig gepriesen, der die Menge in der rechten Lehre unterwiesen habe, und der Prediger am Schluß endet mit einem Gebet um ein seliges Ende: Nun, bitt idi Didi, Herr Jesu Christ, laß nach mein Schuld und böse Lust und leit mich mit der frommen Schar, so idi absdteid. in Himmel dar.

Das ist voll und ganz reformatorischer Geist, ein Kreisen um Wortverkündigung, Rechtfertigung und Sündenvergebung. Damit überdeckte man in einer Zeit, die dem Totentanzgedanken schon fern stand, daß die Predigergestalten am Anfang und Ende ursprünglich Bußprediger sind, die die Sprache des Bildes verdolmetschen und die Vision des Massensterbens im dominikanischen Sinne für die Besserung und Heiligung der Lebenden fruchtbar machen. Dem Anliegen des Predigers und Seelsorgers einer Bürgergemeinde sind deutlich die Änderungen angepaßt, die die Dominikaner gegenüber Klingenthal vornahmen. Patriarch und Erzbischof werden ausgeschieden: dieser hohen Herren hat man genügend im Totentanz. Aber für die Bürgerfrauen und ihr rührseliges Herz brauchte man zu der Kaiserin noch Königin und Herzogin: daß man diesen fürstlichen Damen Klagen um das Ende der Freuden, Vergnügungen, des Reichtums und der Schönheit in den Mund legte, mußte die Bürgerfrauen viel mehr ergreifen, als wenn man sie persönlich angesprochen hätte. Aus dem Fürsprech (dem Rechtsanwalt) in Klingenthal wird in Großbasel der Ratsherr und damit ist dem bürgerlichen Patriziat seine Stellung im Totentanz angewiesen. In dieser und den anderen Neuerungen tritt die Neigung hervor, nicht nur die Hinfälligkeit aller Macht vor der Gewalt des Todes fühlbar zu machen, sondern auch zugleich den Finger auf die Schäden der Gesellschaft zu legen. Dies zeigt sich auch in der Änderung der Verse. Ursprünglich hieß es beim Papst nur, daß vor dem Totentanz kein

Untersdiiede zwischen Großbaseler und Klingenthaler Totentanz

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Dispensieren nütye, je§t heißt es: „Der Ablaß audi nicht hilft". Die Kritik ist deutlich, aber noch ist sie in milde Form gekleidet. Schneidender ist sie beim Kaiser. In Klingenthal wurde ihm nur wie im Würzburger Totentanz vorgehalten: Udi hilft nit das swert, zepter und krön sint hie unwert. In Großbasel wird das ganz «uiders formuliert: Herr Kaiser mit dem grawen Bart (eine deutliche Anspielung auf den 1437 verstorbenen Kaiser Sigismund), Eur Reu habt Ihr zu lang gespart! Eine kleine Änderung, und doch ein ungeheuerlicher Sdiritt von der einstigen leidenschaftslosen Feststellung zu dieser leidenschaftlichen Anklage! Der Arzt wurde bisher immer etwas ironisch angesprochen, seine Kunst an sich selber zu bewähren. Jetjt in Großbasel wird daraus eine mehr als bittere Ironie, eine ungeheuerliche Anklage: Herr Doctor, beschaut die Anatomie an mir, ob sie redit gemachet si: denn du hast manchen auch hingericht, der eben gleich wie ich jetzt sieht.

Bereits, wie der Klingenthaler Totentanz zeigt, der Maler der Vorlage hatte den Einfall, der eitlen Edel fr au im Spiegel die Fra^e des Todes ersdieinen zu lassen. In Großbasel wird das in den Text hineingenommen — übrigens ein schlagendes Beispiel, daß das Großbaseler Gemälde jünger ist als das Klingenthaler — und es heißt jet>t: Ich sdion nicht ewens geelen Haar: was seht Ihr in dem Spiegel klar? 0 Angst und Not, wie ist mir besdiehen: den Tod hab ich im Spiegel gesehen! Mich hat erschreckt sein greulidi Gestalt, daß mir das Herz im Leib ist kalt.

In ähnlicher Weise nehmen die Verse beim Waldbruder Bezug auf die bildliche Darstellung und gewinnen damit große Unmittelbarkeit. Der namenlose Tote nimmt dem Waldbruder die Laterne weg — so wird es wohl auch in Klingenthal gewesen sein ®6) — aber erst die Großbaseler Verse verwerten das im Text: Bruder, komm du aus deiner Klaus, halt still, das Licht lösch ich dir aus! Drumb mach dich mit mir auf die Fahrt mit deinem weißen, langen Bart! " Infolge eines Fensterdurchbruches war die Klingentaler Darstellung dieser Stelle nicht mehr erkennbar, als Büdiel das Gemälde kopierte.

8

Rosenfeld,

Totentanz

an

114

IV. Totentanzdiditung in Oberdeutsdiland

Neben diesem elegischen zeitlosen Klang spüren wir bei anderen Gestalten den Herzschlag der Zeit. Die Geldwirtschaft, der Kapitalismus brachte ja das Gefüge der mittelalterlichen Standeshierarchie ins Wanken und gab dem Menschen der Zeit das Gefühl des Zerfalls aller gottgewollten Ordnung. Exponent des neuen Kapitalismus ist der Geldverleiher, der Bankherr oder „Wucherer". Der Klingenthaler Totentanz stand ihm noch gelassen gegenüber: Laß fahren los dein zeitlich Gut. In Großbasel aber kommt die ganze innere Not und der Haß gegen dieses die alte Ordnung zerstörende Gewerbe voll zum Ausdruck: Dein Gold und Geld seh ich nidit an, du Wucherer und gottlos Mann: Christus hat didi das nidit gelehrt. Ein sdiwarzer Tod ist dein Gefährt!

Der schwarze Tod ist die Strafe Gottes für die sündhafte, antidiristlidie Wucherei! Dem Textredaktor mochte dabei nur das Bild der Vorlage vor Augen stehen: der Wucherer wird beim Geldzählen vom Tod überrascht und hält ängstlich die Hand auf das ausgebreitete Geld. Konrad Witj legt dem Verse Dein Gold und Geld seh ich nicht an eine andere Bedeutung unter: bei ihm bietet der Wucherer dem Tod einige Münzen, um sich freizukaufen — aber nur wenige aus dem vollen Sack, der daneben steht, ein solcher Geizhals ist er! Mit den Worten Christus hat dich das nidit gelehrt erinnert der Dichter alle Bibelkundigen an die Szene, wie der Herr die Wechsler aus dem Tempel trieb und ihre Tische umstürzte: die Verurteilung des Bankgeschäftes ist eine leidenschaftliche, sie kommt aus dem Herzen des Seelsorgers, der das Schwinden aller Ordnung und das soziale Unglück miterlebte und im Kapitalismus die Wurzel des Übels sah. Im gleichen Sinne wird der Jude verdammt. In Klingenthal sind die Verse des Juden noch blaß und inhaltsleer. In Großbasel wird der religiös gefärbte Antisemitimus des Spätmittelalters offen zum Ausdrude gebracht. Dabei bildet die religiöse Ablehnung offenbar nur den Mantel, um den Haß auf die Wuchereien der Juden um so offener zur Schau tragen zu können. Der Tod wirft dem Juden nur vor, Christus ermordet und eines anderen Messias geharrt zu haben, dem Juden selbst aber werden Verse in den Mund gelegt, die auf den sozialen Kern der Judenfrage kommen: Ein zog gar hat

Rabbi war ich der Geschrift, aus der Bibel nur das Gift, wenig nach Messias ich tracht mehr auf Schätz und Wucher acht!

Wudierer, Jude und Heide im Baseler Totentanz

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So klingt in der religiösen Ablehnung des christenfeindlichen Judentums doch als Grundakkord die Klage wider den neuen gottlosen Kapitalismus, als dessen hauptsächlichste Repräsentanten der Wucherer und der Jude gelten. Für das geistige Leben in der Stadt Basel und für den Großbaseler Totentanz als kulturgeschichtliches Dokument sind die Änderungen aufschlußreich, die der Text des Heiden und der Heidin erfuhr. Heide und Heidin rufen nicht mehr Mohammed an wie in Klingenthal, sondern Jupiter, Neptun, Saturn, Juno, Venus und Pallas. Wohl kannte auch das hohe Mittelalter die Namen solcher Heidengötter zur Kennzeichnung heidnischen Glaubens 87 ). Aber wenn jetjt in einer Epoche, die durch Orienthandel und das immer drohendere Vordringen der Türken um den mohammedanischen Glauben der Türken und Araber wußte, erneut die alten Griechengötter eingesetzt werden, so ist das gewiß ein erster Lichtstrahl der Renaissance in der düsteren Welt des Totentanzes. Die gespreizten Reden italienischer Konzilteilnehmer, die von Humanismus durchdrungen waren, mögen den eifernden Prediger auf den Plan gerufen haben. Zwar ist es gegen den Heiden, gegen den Türken gerichtet, wenn es jetjt in Großbasel heißt: Komm falscher Heid und gottlos Mann, dein Abgott dir nicht helfen kann, den Teufel hast für Gott geehrt, derselb hat dein Gebet erhört!

Aber in seinem Herzen hegte der Dominikanerprediger, der diese Umdichtung vornahm, die Meinung, daß die Pest, die audi vor dem heiligen Konzil und seinen geistlichen Würdenträgern nicht Halt machte, nicht zulegt eine Strafe sei für die heidnischen Redensarten und Liebhabereien jener italienischen Humanisten. Die mittelalterliche dominikanische Scholastik kämpft hier gewissermaßen einen legten Kampf gegen Humanismus und Renaissance! An der Stelle, wo im Klingenthaler Totentanz die Begine als weibliches Gegenstück des Begarden, des Waldbruders steht, hat der Großbaseler Text, wie er uns überliefert ist, den Krämer eingese^t. Es ist etwas auffällig, daß eine für das städtische Leben des ausgehenden Mittelalters so kennzeichnende Erscheinung wie die Begine ausgelassen ist. Der Krämer, der Gassenhändler, bringt neben dem Großkaufmann und dem Bankherrn den kleinen Mann zur Darstellung. Seine Aufnahme liegt also in Richtung auf die Entfaltung ,7

L . D e n e c k e : Ritterdichter und Heidengötter, Lpz. 1930.

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IV. Totentanzdichtung in Oberdeutsdiland

der ganzen Breite des städtischen Lebens. Die Verse, die der Tod zum Krämer spricht, lassen denn auch an Deutlichkeit und Volkstümlichkeit nichts zu wünschen übrig: Wohl her, Krämer, du Grosdieneier, du Leutbesdieißer und Gassenschreier, du mußt jetzmals mit mir davon, den Humpelkram einem anderen Ion.

Diese Verse stehen in ihrer Derbheit isoliert und entsprechen kaum dem Stil des 15. Jahrhunderts und dem Ernst des Großen Sterbens, wie man es 1439 erlebt hatte. Ist es nicht vielmehr der derbe unbeschwerte Ton des Fastnachtsspieles des 16. Jahrhunderts, die volkstümliche Offenheit eines Hans Sachs, die hier zur Spradie kommt? Ich vermute, daß diese Gestalt und Verse in der Reformationszeit bei einer Renovation anstelle der Begine eingeschoben wurden. Dazu stimmt es, daß Nikiaus Manuel, der etwa 1520 seinen Berner Totentanz malte und wahrscheinlich den Groß-Baseler Totentanz unmittelbar zum Muster nahm, den Krämer nicht, aber Begine und W a l d bruder aufführt. Wir werden die Gestalt des Krämers wie die reformatorischen Verse der Prediger am Anfang und Ende des Totentanzes und wie das Selbstkonterfei des Malers Klauber, das an die Stelle der Gestalt der Mutter trat, als Zutaten des 16. Jahrhunderts ansehen dürfen. Es sind im Grunde Beweise, wie lebendig der Totentanz damals noch im Volksleben Basels stand, daß man ihn nicht wie ein totes historisches Denkmal restaurierte, sondern durch Änderungen dem Gefühl der Zeit anglich. Erst wenn man dem Geist einer Zeit sich entwachsen fühlt, konserviert man ehrfürchtig die fremd und tot gewordene Form. Im Großbaseler Totentanz kommen, so dürfen wir abschließend zusammenfassen, alle Strömungen und Bedürfnisse einer geistig und wirtschaftlich aufgeschlossenen Großstadt des Spätmittelalters zur Geltung. Trotjdem — und das ist äußerst aufschlußreich — bleibt der monologische Charakter der Verse, die von den Sterbenden gesprochen werden, durchgängig gewahrt. Selbst in den 1440 zu dem alten Totentanz hinzugefügten Strophen kommt es nicht zu einem eigentlichen Zwiegespräch zwischen den Sterbenden und den Vertretern des Todes. Ansähe dazu sind freilich da. Die Königin sagt zu ihrem Partner: O Tod, tu gemach., mit mir nicht eil!, die Jungfrau klagt: 0 weh, greulich hast midi gefangen. Dem Bauer wird von seinem Partner der Hut vom Kopf gerissen, und er jammert deshalb: O grimmer Tod, gib mein Hut! Mein Arbeit mir nicht mehr wehtut. Es ist also nicht

Die Gestalt des Krämers — Monologischer Charakter der Verse

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Ungeschicklichkeit oder Unvermögen, wenn solche unmittelbare Zwiesprache mit dem Toten im allgemeinen vermieden wird. Ja, beim Schultheiß und beim Vogt, wo dieser Ansät} zur Zwiesprache bereits in der Vorlage vorhanden war (0 harter Tod, wie mag das sein? O harter Tod, muß es denn sein?), ist diese Anrede an den Tod in Großbasel wieder getilgt zu gunsten eines rein monologischen Selbstgespräches. So stark wirkt also der ursprüngliche monologische Charakter der lateinischen Totentanzverse und die gattungsgebundene Form des Sprudibandtituls noch nach. Obwohl längst die Antwort der Toten auf die Monologie der Sterbenden den Platj vertauscht und zur Anrede durch Abgesandte des Todes oder durch den Tod selbst geworden sind: immer noch sprechen die Sterbenden im allgemeinen nur verhalten und wie im leeren Raum. Immer noch fühlen sie sich allein in der unheimlichen Leere der gespenstischen Todesnacht, immer noch stehen sie Auge in Auge mit der Ewigkeit, immer noch bekennen sie die Wahrheit und enthüllen sich selbst, sei es auch Sünde und Schuld. Das Versteckspielen dieser Erde haben sie verlernt und das Markten und Handeln um Frist und Schonung noch nicht dazu gelernt. Deshalb bleiben audi alle Ansähe zur Ständesatire oder auch nur zur Ständekritik unausgereift. Bild und Text bleiben beherrscht vom furchtbaren Ernst des großen Sterbens an der Pest, erfüllt von der Ohnmacht menschlichen Willens und Wirkens. Die Szene mit dem Krämer ist wohl die einzige, wo die laute Aufdringlichkeit des Fastnachtsspieles die Verhaltenheit und Würde einer vom heiligen Ernst und volksmissionarischem Ethos getragenen religiösen Dichtung stört und sidi damit als junge Zutat erweist. W o die Verhaltenheit und der Ernst durchgängig durchbrochen werden, wo die Ständekritik und Ständesatire sich breit machen und das Winseln der Kreatur vor dem unausbleiblichen Schicksal, da ist ein westliches Vorbild wirksam, da hat westlicher Einfluß die strenge spröde Haltung gelockert und gelöst. Wir müssen deshalb der Entwicklung des Totentanzes bei den westlichen Nachbarn nachgehen, ehe wir uns den jüngeren deutschen Totentanzdichtungen zuwenden. Die Lokalforschung (Bibliogi. III, 2, 6) hat die Datierung des Großbaseler Totentanzes um 1440 bestätigt (Boerlin 1966, S. 8), jedoch den Klingentaler T. zunächst fälschlich 1480 (Riggenbach 1961, S. 112), dann begründet um 1450 datiert (Maurer 1966, S. 307). Meine vorstehend begründete These, daß beide Totentänze nach der gleichen Vorlage gemalt sind, erklärt, warum der spätere Klingentaler T. altertümlicher ist während die Predigermönche bewußt änderten. Die Autorschaft von Konrad Witz bleibt umstritten.

V DER FRANZÖSISCHE TOTENTANZ, SEINE QUELLEN UND SEINE AUSWIRKUNG 1. L e F i v r e a l s V e r f a s s e r d e r D a n s e de m a c a b r e Man hat bisher in Frankreich den Ursprung des Totentanzes gesucht. Aber Frankreich kennt nur einen einzigen Totentanztext. Er fand sich auf dem Pariser Totentanzgemälde wie auf dem zu Kermaria. Sämtliche Handschriften bringen ihn ebenso übereinstimmend wie die zahlreichen Danse-macabre-Drudke. Eine Abwandlung hat er nicht erfahren, nur eine Erweiterung durch eine Danse macabre des femmes, die das Motiv in ermüdender Weise bei den Frauen sämtlicher Stände variiert. Deutschland kennt sehr viele verschiedene Totentanztexte, und die Totentanzidee hat. bis in neueste Zeit immer wieder neue Texte und Bilder gezeitigt, während sie in Frankreich schon im 16. Jahrhundert an Aktualität verlor. Schon diese Tatsache läßt Deutschland als die eigentliche Heimat des Totentanzes, als das Land der Totentänze schlechthin erscheinen. Wir haben darüber hinaus im ältesten, im lateinischen Totentanztext die Spuren deutschen Geistes und deutschen Gefühles aufgewiesen und wahrscheinlich gemacht, daß er um 1350 am Main oder Rhein entstanden ist. Ferner konnte der älteste deutsche Totentanztext, der Würzburger Totentanz, mit Sicherheit in das dritte Viertel des 14. Jahrhunderts datiert werden, während der Pariser Totentanz erst im Jahre 1424 gemalt wurde. Eis besteht also keinerlei Anlaß, den französischen Totentanz als den älteren anzusehen oder überhaupt den Ursprung des Totentanzes in Frankreich zu suchen. Wenn wirklich in Frankreich der erste Totentanz gedichtet worden wäre, so hätte sicherlich auch der französische Name des Totentanzes, Danse de macabre diesen Siegeszug durch die Welt mitgemacht und irgendwo seine Spuren hinterlassen. Dies ist nicht der Fall. Dieser Name oder doch das Wort macabre als solches hat der Deutung die größten Schwierigkeiten bereitet. Es ist schon im 15. Jahrhundert in Frankreich nicht mehr richtig verstanden worden. Guyot

Was heißt „Danse macabre"?

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Marchant bezeichnet das Werk in seinen Drudeausgaben als La danse macabre, aber die lateinische Ausgabe von Pierre Desrey 1490 gibt den französischen Titel als Chorea ab eximio Macabro wieder, sieht also Macaber als Namen des Verfassers oder Malers an. Ein Manuskript der Pariser Nationalbibliothek (nouv. acqu. fr. 10032) nennt den maistre, der die Schlußpredigt hält und im lateinischen Totentanz als alius doctor bezeichnet wurde, bereits als Macabre le docteur. Der Schreiber dieser Handschrift unterlag also bereits dem gleichen Irrtum wie Desrey, und auch der englische Mönch Daniel John Lydgate (t vor 1461), der den Pariser Totentanz sah und ins Englische übertrug, spricht vom Doctor Macabre, wird also diese Erklärung des Namens in Paris vor dem Totentanzgemälde in SS. Innocents gehört haben. Deshalb wird von vielen Forschern immer noch nadi einem Dichter Macaber gesucht. Wahrscheinlicher ist, daß man im 15. Jahrhundert ein nicht mehr verstandenes Wort in dieser Weise als einen Verfassernamen volksetymologisch ausgelegt hat. Wir prüfen daraufhin die Zeugnisse. In den Einleitungsworten, die der maistre oder docteur, der lateinischen Eingangspredigt der ältesten Totentanzdichtung entsprechend, spricht, heißt «s im Pariser Totentanz v. 3 ff.: Tu as cy doctrine notable pour bien finir vie inortelle:

la dance macabre sappelle que diacun a danser apprant.

Es fällt sofort auf, daß Vers 5 rhythmisch nicht in Ordnung ist. Überseht kann nur werden: „Dance macabre nennt sich, was jeder zu tanzen lernt", und aus dem Vordersat} geht hervor, daß diese dance macabre eine wichtige Lehre ist, um das irdische Leben gut zu vollenden. Die 5. Verszeile kann durch Einschieben eines de leicht in ihrer Vierhebigkeit wieder hergestellt werden: La dance de macabre sappelle. Man kann es verstehen, wie man hieraus eine chorea ab eximio Macabro machen konnte, aber eben so gewiß ist, daß ein Verfasser namens Macaber seine Dichtung in diesem Satzzusammenhang nicht als eine dance de Macabre hätte bezeichnen können. Der englische Mönch Lydgate freilich hat es so aufgefaßt und überseht deshalb Daunce of Machabree oder Madiabrees daunce (mit sächsischem Genetiv), das Ursprüngliche kann damit aber nicht getroffen sein. Das rätselhafte Wort macabre tritt nach bisheriger Kenntnis zum ersten Mal bei Jehan Le Fivre auf 1 ). In seinem 1376 gedichteten Respit de la mort heißt es: 1

Paris Bibl. Nat. Ms. fr. 1543, fol. 261. — H. F. M a s s m a n n wies bei Besprechung des Budies von Jubinal als erster auf diese Stelle hin (in: Serapeum 8, 1847, S. 134 f.).

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung Je fis de macabré la danse, qui toutes gens maine à sa tresdie et à la fosse les adresdie, qui est leur derraine maison

Es ist nidit unwahrscheinlich, daß Le Fèvre den Ausdruck überhaupt zum ersten Mal geprägt hat. Vielleicht halten wir in seinen Versen den Schlüssel zur Lösung des Problems in Händen? Da faire in dieser Zeit oft für composer „verfassen" gebraucht wird, so besagen die Verse Le Fèvres nicht mehr und nicht weniger als die Behauptung, die Dance de macabre vor der Abfassung des Respit de la mort verfaßt zu haben, mithin vor dem Jahre 1376. Eis fehlt freilidi nicht an Stimmen, die behaupten, Le Fèvre spreche hier nur davon, daß er dem Tode nahe gewesen sei: er habe schon im Sterben gelegen, war gewissermaßen zur dance de macabré angetreten, als ihn Gottes Gnade nodi einmal rettete 9 ). Solche Interpretation hält aber philologischer Prüfung nicht stand. Wenn faire de macabré la dance wirklich ein synonymer Ausdruck für „sterben" wäre, so würde je fis de macabré la danse nichts anderes heißen können als „ich bin gestorben", nicht aber „ich war dem Sterben nahe". Überdies hat bisher noch niemand den Ausdrude faire la danse de macabre in der Bedeutung „sterben" oder „am Totentanz teilnehmen" nachgewiesen. In der Danse macabré selbst heißt es ja danser la dance de macabré, nicht faire la dance. Wir müssen uns also an die Bedeutung halten, die für die damalige Zeit nachgewiesen werden kann. Es war damals durdiaus üblich, faire in der Bedeutung von composer zu gebrauchen. Die Pariser Handschrift BN 25 566, fol. 327 bringt den Satz: Chi commence Ii III morts et Ii III vifs, que maistre Kidiolas de Marginal fist „Hier beginnt die Legende der drei Lebenden und drei Toten, die Magister Nicholaus von Marginal verfaßte". Ebenso heißt es fol. 268: Ce sont Ii III morts . . ., que Baudouins de Conde fist von einer anderen Fassung derselben Dichtung. Aber nicht nur das: auch beim Totentanz von Paris selbst ist dieselbe Formel überliefert. Das Journal d'un bourgeois de Paris 1409—49 berichtet 4 ): Item l'an 1424 fut faicte la Dance Macabré aux Innocenz et fut commencée environ le moys d'aoust et achevée ou Karesme ensuivant „im Jahre 1424 wurde die Dance macabré in SS. Innocents verfertigt, sie wurde im Monat August begonnen und zum folgenden Osterfest vollendet". * Der Akzent in macabre wird vom Versrhythmus gefordert, idi setze ihn deshalb konsequent ein; in den alten Texten finden sich diese Akzente natürlich nicht. S W . W a c k e r n a g e l : Kleinere Schriften 1 (1872), S. 318. — P. C h a m p i o n : La danse macabre de Guy Marchant, Paris 1925, S. 14, Anm. 17. 4 Hrsg. A. Tuetey, Paris 1881, S. 203, 234.

Etymologie des Wortes

macabré

121

Eis kann danach wohl keinen Z w e i f e l mehr haben, daß Le F£vre mit seinem je fis Dance

de

de

macabre

macabre

la dance

sagen will, daß er ein W e r k

verfertigt habe. Ehe wir die Folgerungen

aus

dieser Tatsache ziehen, müssen wir uns über den möglichen Sinn des Ausdruckes klar werden. D i e einzige Etymologie des Wortes macabre,

die bei dem g e g e n -

wärtigen Stand der Forschung u n d ohne vollständige Sammlung u n d Deutung

der verwandten

mundartlichen

Ausdrücke

Anspruch

auf

Glaubwürdigkeit hat, ist die, die vor 100 Jahren der Pariser Bibliothekar van Praet gab, indem er macabre mit d e m arabischen (Plural von maqbara

„Grab") „Begräbnisplatj, Gräber"

maqäbir

zusammen-

brachte®). V o n den Arabern Spaniens, von den Mauren, lernten es die Portugiesen u n d Spanier kennen. D i e Portugiesen bewahrten es als al mocäver u n d almocaber.

„Maurenfriedhof", die Spanier mundartlich als

rung des Bertrand du Guesclin 1

macabes

V o n hier m ö g e n es die Söldner, die unter der Füh1366—1370

den G r a f e n

Heinrich

K. L o k o t s c h : Wörterbuch d. europ. Wörter oriental. Ursprungs, Heidelb. 1927, S. 109, Nr. 1372. — Überblick über die sonstigen Etymologien bieten W . S e e l m a n n , in: Jb. d. Ver. f. nddt. Sprachf. 17 (1892), S. 24—28; G. H u e t , in: Le Moyen âge 20 (1917), S. 163 ff.; G. B u c h h e i t , in: Zschr. f. franz. u. engl. Unterr. 25 (1928), S. 503 ff. — W . M u l e r t t , in: Berliner Beiträge z. rom. Philol. 1 (1929), S. 135, Anm. 4, bezeichnet die Herleitung von arab. maqabir ohne jede Begründung als abwegig, die (rein philologisch unmögliche) aus einem Diditernamen als am wahrscheinlichsten. Ein Dichter Macabré würde in seiner eignen Totentanz-Dichtung niemals sagen „Tanz des Macabré nennt sich, was jeder zu tanzen lernt" (Danse de macabré v. 5/6). Außerdem kann Macabré kein mittelalterlicher Rufname sein, da es weder einen alten Rufnamen dieser Art noch einen Heiligen oder eine biblische Gestalt dieses Namens gibt. Judas Madiabaeus (so ist die mittelalterlidie Sdireibweise) wurde zu Judas Macchabée, aber nicht zu Macabré. Macabré könnte nur ein Familienname sein, aber in jener Frühzeit der Familiennamen ist der Familienname ein reiner Beiname, d. h. er konnte nicht ohne Voranstellung des Vornamens gebraucht werden. Macabré kann deshalb aus rein philologischen Gründen niemals als Autorennamen angesehen werden. — L. S p i t z e r , La danse macabre, in: Mélanges de linguistique, offerts à Albert Dauzat, Paris 1951, S. 307—21 trägt ohne Kenntnis der umfangreichen Danse-macabré-Literatur und deshalb ohne Stellungnahme zur Herleitung au« maqäbir eine neue These über die Herleitung des Wortes macabré vor: Judas Machabaeus wäre als Häretiker angesehen und als solcher wie andere Häretiker zum Führer des wilden Heeres, der mesnie Hellequin, geworden, und nadi ihm als dem Führer des wilden Heeres wäre auch der Gräbertanz der Toten benannt. Aber es ist gänzlich unwahrscheinlich, daß ausgeredinet ein sonst

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

von Trestamare gegen Pedro den Grausamen von Spanien und die Mauren unterstütjten, nach Paris gebradit haben 6 ). Le Fèvre griff also ein modisches Fremdwort des Soldatenjargons auf, um den Tanz der Toten über den Gräbern mit einem kurzen Stichwort zu bezeichnen: Dance de macabre (für: maqabir) wird also „Gräbertanz" bedeuten. In den oben zitierten Versen sind die Worte macabre, fosse und dernière maison Synonyme für das eine Wort „Grab": „Ich dichtete den Gräbertanz, der alle an seinem Bande leitet und zum Grabe sie bereitet, das ihr letztes Erdenhaus."

Erst wenn man ein soldies Wortspiel mit Synonymen annehmen kann, bekommen diese Verse Chic und Eleganz. Aber das Wortspiel wurde mit Le Fèvre's Respit de la Mort vergessen und das Wort macabre, das 1370 vom spanischen Feldzug mitgebradit wurde, war längst zu einem Ausdruck für allerlei Seltsamkeiten geworden, die man in einzelnen Mundarten mit diesem dunklen, unverständlichen Wort benannte, als fast fünfzig Jahre später das Pariser Wandgemälde den Namen dance de macabre oder Dance macabre wieder in aller Munde brachte. Jetjt rätselte man daran herum und machte einen Dichter oder Maler Macaber daraus. Der Prediger am Anfang des Totentanzes, der im lateinischen Text doctor, im Frainzösisdien zunächst le docteur hieß, bekam die Bezeichnung acteur, als habe sich der Verfasser hier selbst porträtiert, wurde in einigen Manuskripten zu Macabre le docteur, wurde bei Desrey zum eximius Macaber. Wir haben keinen Anlaß, der Behauptung Le Fèvres, er sei der Verfasser einer Dance de macabré, zu mißtrauen. Ein solches Werk vollkommen unbekannter Führer des wilden Heeres (vgl. H. M. Flasdiedc, Harlekin, Halle 1937) den Namen gegeben haben sollte für einen Totentanz, dessen Ähnlichkeit mit der mesnie Helle quin angeblich evident war: warum nannte man ihn nicht danse Helleguinf Es ist aber auch sachlich ein großer Unterschied zwischen den an ihr Grab und ihren Friedhof gebundenen Toten der danse de macabré und den ungebunden wie ein wilder Sturm umherschweifenden Totendämonen der mesnie Hellequin. Wenn in neuer Zeit in Blois und anderwärts die diasie sauvage auch chasse des Macchabées oder chasse Macchabée genannt wird, so dürfte das nur beweisen, daß die Ausdrücke macabré und Macchabée zusammengeworfen und einheitlich ganz allgemein für die Toten gebraucht werden. Daraus das 1376 belegte danse de macabré erklären zu wollen, scheint mir völlig unmöglich. * So schon S e e l m a n n (s. Anm. 5) S. 28.

Jean Le Fèvre Verfasser der Danse de macabri

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ist jedoch nicht erhalten. Aber im Jahre 1424 — wir zitierten die Stelle im Journal d'un bourgeois — wurde eine Dance macabre an die W a n d des Beinhauses auf dem Friedhof des Franziskanerklosters SS. Innocents mit Bild u n d Text in großem Maßstabe abgemalt, in zahlreichen Handschriften u n d d a n n auch in vielen kostbaren Drucken abgebildet und verbreitet. Hält man sich diese beiden Tatsachen vor Augen, so liegt der Schluß nahe, daß wir in der Danse macabre von SS. Innocents das scheinbar verlorene W e r k Le F£vres vor uns haben: nicht das Werk an sich, nur die Nennung des Verfassers ging verloren 7 ). Es wäre wirklich außergewöhnlich, wenn das W e r k Le Favres spurlos verschwunden wäre u n d d a n n ein anderer Verfasser 50 J a h r e später den gleichen außergewöhnlichen Titel für ein inhaltlich völlig gleichartiges Werk gewählt hätte, ohne daß dieser Titel damals sprachlich verständlich war. Andererseits kann ein Verfassername in fünfzig J a h r e n in Vergessenheit geraten, wenn ein Werk seines Inhalts, nicht seiner Form wegen, weitergegeben wird. Dies war zweifellos bei Le F£vres Danse de macabre der Fall; wir dürfen mit Weiterverbreitung als kolorierter Bilderbogen rechnen. Im Sommer des Jahres 1374 suchte (wie schon 1348 und 1360) der Schwarze Tod, die Pest, Paris wieder heim 8 ). Damals wurde Le F i v r e von der Krankheit ergriffen u n d rang mit Gott um „Aufschub vor dem Tod", affinque je n'allasse le diemin de l'epidemie und um nicht mit 99 oder 100 anderen zusammen in ein Massengrab auf. dem Friedhof von SS. Innocents zu kommen: beim Jüngsten Gericht könne eine Schlacht entstehen, wenn alle auferstehen und ihre Gebeine dort zusammensuchen müßten, so fügt er humorvoll hinzu. Für Genesung von der Seuche fühlte er sich Gott zum Dank verpflichtet, und um diese seine Dankesschuld abzutragen, verfaßte er die Danse de macabre, die Menschen an die Ewigkeit zu mahnen, und hinterher das Werk Respit de la mort (Aufschub vom Tod), in dem er von diesen 7

8

G. G r ö b e r : Grundriß d. rom. Philol. 2,1 (1902), S. 1179ff. — L e o n h . K u r t z : The dance of death and the macabre spirit in Europeen literature, N e w York 1934, S. 7 0 S . Dies wird durch einen Brief des Official de Paris vom 8. 10. 1374 erwiesen, vgl. L. A b b é V i l l a i n : Essai d'une histoire de la paroisse de Saint-Jacques de la Boucherie, Paris 1758, p. 32—33; A b b é L e b e u f : Histoire de Paris, nouv. éd. 1 (1883), p. 198; J. A. D u l a u r e : Histoire de Paris 3 (1837), p. 243. — Daß 1374 in der Provence die Pest wütete, erwähnt auch B a s t h a r d - B o g a i n : Essai historique ou la peste en France au 14. siècle, Thèse Paris 1911. — Ich bin der Bibliothèque N a tionale in Paris für diese Nachweise zu großem Dank verpflichtet.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Dingen erzählt. Wir sehen also Le Fèvre's Totentanzdichtung mit dem erschütternden Eindruck des Massensterbens verknüpft. Das große Menetekel des Schwarzen Todes, das um 1350 die erste Totentanzvision, den lateinischen Totentanz, hervorrief, zwingt auch dem Dichter Le Fèvre um 1375 die Feder in die Hand. Wer war Le Fèvre? War er der Mann, eine Idee wie die des Totentanzes unabhängig von Vorbildern zu erfinden, oder ist ihm zuzutrauen, daß er andere Vorbilder benutzte und bearbeitete? Jehan Le Fèvre») war Parlamentsprokurator in Paris und ist vor allem bekannt durch seine französische Bearbeitung der Disticha Catonis, die weit verbreitet war und noch 100 Jahre später im Druck als Chaton fu preux chevalier et saige homme herauskam. Jedes lateinische Distichon ist durch einen zehnsilbigen französischen Vierzeiler wiedergegeben. Das gleiche Versmaß wählte er bei seiner französischen Bearbeitung der lateinischen Ecloga Theoduli als Tkeodelet en français. Seine Epistre sur les misères de la vie wird als Abschnitt aus der lateinischen Dichtung des Matheolus angesehen, die er vollständig in 9844 Achtsilbern als Livre des lamentations de mariage et de bigamie bearbeitete. Wir sehen also, der sprachgewandte Parlamentsprokurator war kein originaler Erfinder. Seine Phantasie und sein Gestaltungsvermögen entzündete sich am fremden Vorbild, so daß man selbst für seinen so persönlich gehaltenen Respit de la mort nach einem Vorbild gesucht hat. Er tritt vor allem hervor als freier Gestalter lateinischer Vorbilder. Wir werden ihm auch zutrauen dürfen, daß er in seiner Danse de macabre einem lateinischen Vorbild folgte. Aber er war kein kleinlicher Übersetzer. Am fremden Vorbild entfalteten sich seine Schwingen, und zumal unter persönlichem leidvollem Erleben der Epidemie und der Errettung daraus wird er einer fremden Vorlage Farbenreichtum, Gedankenfülle und Glanz gegeben haben. • Vgl. G r ö b e r (s. Anm. 7) S. 1066 f. und O. P a r i s ; La Dance macabre de Jean Le Fivre, in: Romanja 24 (1895), S. 129—32. — Dagegen L u d w . K a r l , in: Zsdir. f. rom. Philol. 45 (1926), S. 264, der einen Herold Le F£vre als Verfasser des Respit annimmt, der erst 19 Jahre nadi der Abfassung des Respit geboren wurde; S. 263 führt er die 1376 genannte Danse de macabre auf einen 1419 als jungen Mann erwähnten Kaplan Laurentius Machabre zurück, datiert den Basler Totentanz 1312 (längst berichtigter Lesefehler) und läßt den 1497 geborenen Holbein schon 1440 den Basier Totentanz übermalen.

Le Fèvre als Bearbeiter des lateinischen Textes

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2. L e F e v r e s D a n s e d e m a c a b r e und der lateinische T o t e n t a n z t e x t Es ist wohl nicht zu gewagt anzunehmen, daß Le Fevre einer jener Totentanzbilderbogen mit lateinischem Text in die Hände gekommen ist, deren Umlauf in Dominikanerkreisen ich wahrscheinlich machte. Sein Beichtvater mag ihm nach der Errettung von der Pest solchen Bilderbogen zugetragen und dem Genesenen als kleines Dankopfer an Gott eine französische Bearbeitung empfohlen haben. Es mag so oder anders gewesen sein, jedenfalls ergriff ihn die erschütternde Vision des Totentanzes, und die sdilichten, so ganz verhaltenen Verse der lateinischen Vorlage genügten ihm nicht, sie reizten ihn nur, das alles ausführlicher, besser, eleganter zu sagen und mit deutlicherer Hervorkehrung der Moral. Seine Beschäftigung mit Sprichwörtern (den Disticha Catonis) kam ihm dabei zugute und regte ihn an, jede Strophe in eine allgemeine Sentenz auslaufen zu lassen. Auch darin schon zeigt sich wohl französische Geistigkeit. Vor allem aber mußte er an der lockeren Reihung der Personen Anstoß nehmen. Den lateinischen Text ins Französische umsetjen hieß zugleich, das MalerischUngezwungene, das rein Zufällige im lateinischen Totentanz deutscher Herkunft in die strenge logische Architektur romanischer Geistigkeit umwandeln. Der Deutsche gab die menschliche Standesreihe nach seinem Gefühl wieder. Der Papst stand ihm voran und der Kaiser, aber zum Kaiser gehörte ihm die Kaiserin und der Sohn und Nachfolger, der römische König. Kardinal, Patriarch und Erzbischof schienen ihm im Rang allen weltlichen Fürsten und Herren voranzustehen. Den Vorrang des Kurfürstenamtes, das durch die Goldene Bulle von 1356 festgelegt war, kennt oder würdigt er noch nicht. So schließt er an die geistlichen Hochwürdenträger Herzog, Bischof, Graf, Abt, Ritter, Jurist, Kanoniker und Arzt an. Zum Edelmann gehört für ihn die Edelfrau, zum Bild der Stadt neben dem Kaufmann die Patriziertochter, die als Nonne im Kloster versorgt wurde; die unteren Stände sah er in Bettler, Koch und Bauer gegliedert oder repräsentiert, die Ursprünge aller Ständebildung in Mutter und Kind. Wie anders dachte dodi der Franzose. Ihm wird die Standesreihung zu einer rational-logischen Konstruktion. Fein säuberlich folgt jeweils jedem Geistlichen ein Weltlicher. Die Frauen werden um der Symmetrie willen ausgeschieden, sie hätten die Logik des Aufbaues gestört. Für die moderne bürgerliche Sicht ist es kennzeichnend, daß Herzog und Graf in der Standesreihe ausfallen. Es ist ja

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

die Zeit des hundertjährigen Krieges mit England, und in Paris mochte in dieser Zeit des Kampfes der fürstliche Rang weniger gelten als die ritterliche Tat. Der Söldnerführer Bertrand de Guesclin 10 ), derselbe, der in Spanien siegreich gekämpft hatte, von Haus ein kleiner verarmter Adliger, verwachsen und häßlich, aber ein kriegserprobter Stratege und Heerführer, stieg eben damals zur höchsten Würde von Frankreich empor. Er wurde, unerhört bei seiner niedrigen Herkunft, aber der eisernen Zeit des Krieges entsprechend, Kronfeldherr und Marschall von Frankreich (Connestable), und zwar im Jahr 1370. Es ist gewissermaßen eine Verewigung dieser aufsehenerregenden Ernennung, wenn Le F£vre einige Jahre später in der Standesreihe gleich nach dem König den Connestable als weltlichen Contrepart des Erzbischofs einfügt. Ihm folgen, dem Bischof und dem Abt beigeordnet, Ritter und Junker: so hoch wurde in diesen Kriegszeiten der Krieger eingeschalt! So sparsam die Vertreter der herrschenden Stände ausgewählt sind, so reich entfaltet sich die mittlere Schicht. Hier spricht uns das Gesicht der spätmivtelalterlichen Großstadt an, Paris als königliche Hauptstadt, als Si§ des obersten Gerichtes, als Universität, als Handelsstadt, als Stadt der Kirchen und der Klöster und als Stadt der Lebenslust und des Vergnügens. Abt und Richter, Magister und Bürger, Chorherr und Kaufmann, Kartäuser und Offizier der Leibwache (sergent), Mönch und Bankherr (Wucherer), Arzt und Sturer (amoureux), Advokat und Spielmann reihen sich als Querschnitt durch die städtische Bevölkerung, als Querschnitt von Paris aneinander. Für die untere Schicht, das niedere Volk der Stadt wie für die ländliche Bevölkerung, bleiben nur noch Pfarrer und Bauer, Bettelmönch (Franziskaner) und Kind, Kaplan und Einsiedler übrig. Es entspricht durchaus dem großstädtischen Geiste der Danse de macabre, daß die niedere Geistlichkeit, die nur um einen Hungerlohn für die vornehmen Pfründeninhaber die Hauptlast der kirchlichen Arbeit trug, so stark herangezogen wird. Diese auf Selbsthilfe angewiesenen Proletarier des geistlichen Standes sah noch das Auge des Großbürgers, die Bettler und das städtische Proletariat übersah auch er. Die eigentliche ländliche Bevölkerung fällt völlig aus, denn der laboureur, der an die Stelle des Bauern getreten ist, ist eindeutig als Arbeitsknecht in den Weinbergen der vornehmen Patrizier geschildert. Von den vierund" V g l . H a n s P r u t z : Staatengeschichte d. Abendlandes im Ma, 2 (1867), S. 44 ff.; 52; 242. — E r n e s t L a v i s s e : Histoire de France 4 (1911), S. 236. — Bertrands Ernennung zum Connestable erfolgte 2. 10. 1370.

Le Fevre spiegelt seine Zeit und Paris wider

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zwanzig Figuren des lateinischen Totentanzes finden wir im ganzen nur vierzehn wieder, aber anstelle der zehn ausgefallenen Stände sind sechzehn neue Gestalten eingefügt, um den Totentanz dem französischen Leben und dem städtischen Gesichtskreis einzuordnen, um die Danse de macabre zur Vision dier Pariser Pestzeiten zu machen. Man wird angesichts so starken Austausches der Personen auch vom Textinhalt keine allzu großen Anlehnungen an die lateinische Vorlage erwarten dürfen. Man hat gemeint, zwischen Le Fivres Achtzeilern und den lateinischen Zweizeilern des alten Totentanzbilderbogens noch ein Zwischenglied, eine unbekannte lateinische Textform mit Vierzeilern, einschieben zu müssen, da Le Fivre sonst nicht zu Achtzeilern hätte greifen können. Damit wird der Vorgang rationalisiert und schematisiert und nur auf zwei Autoren verteilt, was wir dem literarischen Können eines einzigen ebenso gut zutrauen dürfen. Eis ist der Aberglaube einer noch im Positivistischen stecken gebliebenen Philologie, die überall eine allmähliche, zwangsläufige, durch Quellen belegte Entwicklung herausarbeiten will und dabei die Sprünge, die das lebendige Leben sidi zu machen erkühnt, ignoriert. Es handelt sich j a bei Le Fevres Bearbeitung und Dichtung um nichts weniger oder mehr als darum, aus kurzen schlichten verhaltenen Bilderbogenversen in lateinischer Sprache für ein breiteres, verwöhnteres, bildungsgesättigteres Großstadtpublikum einen französischen Text zu schaffen, der den literarisch Verwöhnten die alte Wahrheit und Moral in weltgewandterer Weise bieten konnte. Man spürt es, wie das Einmünden jeder Strophe in eine allgemeine Sentenz oder ein allbekanntes Sprichwort dem verwöhnten Publikum ins Ohr klang. Eis war selbstverständlich, daß ein solches Brillantfeuerwerk nur möglich war unter Aufschwellung der Form. Normal ist die Wiedergabe lateinischer Zweizeiler in leoninischen Hexametern durch Vierzeiler der Volkssprache 11 ). Dies ist ja auch in einigen der genannten Werke Le Fevres der Fall. Aber die Umbiegung des alten schlichten Textes und Tones erforderte beim Totentanz ein doppeltes Maß. Man sieht es dem neuen Achtzeiler in seinem künstlichen Reimschema an, wie 11

Jeder leoninische Hexameter bildet j a in sich ein Reimpaar und kann deshalb nur durch einen reimenden Zweizeiler wiedergegeben werden. W. M u l e r t t (s. Anm. 5) S. 151 f. verkennt das völlig und will den deutschen Vierzeiler aus einem französischen Vierzeiler ableiten, weil nur so die Ersetzung der beiden leoninischen Hexameter durch einen deutschen Vierzeiler sich erklären lasse.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

er aus dem gewohnten Vierzeiler, der die Gedankenfülle nicht mehr zu tragen vermochte, sidi stufenweise zum Sechszeiler und endlich zum Achtzeiler weitete: er reimt a:b, a:b, b:c, b;c. v. 1. 0 creature raysonnable, qui désires vie éternelle, tu as cy doctrine notable pour finir vie mortelle:

5. la dance de macabré s'appelle, que chacun a danser apprant. A homme et femme est naturelle: 8. Mort n'espargne petit ne grant.

Bei soldier literarischen, auf Sentenzen ausgerichteten Bearbeitung des Themas mußte sich die ursprüngliche Vorstellung vom Tanz der Armen Seelen mit den Neuverstorbenen verwischen. Der früher ganz grob stofflidi gesehene Tanz der Toten wird in dieser rein geistigen Sphäre mehr und mehr zum Symbol des Sterbens. Dance de macabré nennt sidi der Tanz, den jeder lernen muß, heißt es in der ersten Strophe, und im Respit de la mort sagt Le Fèvre, der Totentanz führe alle Menschen an seinem Bande zur Gruft hin und damit zum legten Hause des Menschen. Aber die Tradition der lateinischen Vorlage und ihrer Bilder ist doch noch so stark, daß die Strophen „des Todes" weiterhin Le mort „der Tote" überschrieben werden. Es sind die namenlosen Toten des ursprünglichen lateinischen Totentanzes, aber es sind nicht mehr wie am Anfang die Leidensgenossen des zwanghaften nächtlichen Tanzes, sondern wie bei der weiteren Entwicklung auch in Deutschland Abgesandte des Todes, die in Stellvertretung des Todes den Mensdien in den Todesreigen zwingen, d. h. ins Grab. Durch die Voranstellung der Strophen der Toten vor die der Sterbenden ist die stellvertretende Rolle der Toten für den Tod betont. Daß es ein Toter ist und nicht der Tod selbst, wird in Vers 12 f. hervorgehoben: Le mort le vif fait avancer, tu vois les plus grans commencer, und aus einzelnen Bemerkungen sieht man, daß die Vorstellung einer Reigenkette oder einer Polonaise, die sich nach links fortbewegt, überall gewahrt wird. Der Tote zieht den Sterbenden vorwärts, und wenn der Sterbende zögert oder sich sträubt, treibt ihn der hinter ihm kommende Tote an, so z. B. der Tote des Chorherrn den vorangehenden Kaufmann mit einem Allez12), so der Tote des Franziskaners den vorangehenden Arbeiter, indem er ihn anherrscht: Macht Plat) ls). Läßt es sich wirklich erweisen, daß der l a t e i n i s c h e Totentanztext Le Fèvre's französischen Versen zugrunde liegt? Wer beide Texte nebeneinander liest, wird sidi immer wieder bei den französischen Versen an die lateinischen Formulierungen erinnert fühlen, 11

v. 273/74: Alez, mardiant, sans plus rester, ne faites ja cy resistence. " v . 441: Faictes voy, vous avez tort, laboreur!

Der lateinische Totentanztext als Quelle Le Fèvres

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ohne daß sie wortwörtlich aufgenommen wären. Aber das ist es ja gerade, was wir von vornherein erwarten müssen: eine Paraphrase, die das wesentliche Anliegen des alten Textes dem literarisdien Stil und dem französischen Wesen angleicht. Man wird schwerlich exakt beweisen können, daß der erste Vers der Danse de macabr£: O creature raysonnable nur dem lateinischen Totentanztext entnommen sein kann, aber es hat innere Wahrscheinlichkeit. Der lateinische Text spielt mit seinem: O vos viventes, huius mundi sapientes auf jene Bibelstelle an, die vom Zunichtewerden der Weisheit dieser Welt spricht is a). Diese Anspielung ist unbeholfen. Die Verse wollen mahnen, die Überklugheit der Welt abzulegen und sich mit offenem Herzen auf das Jüngste Gericht vorzubereiten, das über ewige Seligkeit und ewige Verdammnis entscheidet: v. 1. 0 vos viventes huius mundi sapientes, cordibus apponite duo verba Christi: Venite nec non et: Ite! Per primum ianua vitae iustis erit nota, sed per aliud quoque porta inferi monstratur: sie res diversificatur.

Das ewige Leben wird dann ausgemalt und vor der Eitelkeit der Welt gewarnt. Mit schmerzlichem Blick auf den Tanz der Armen Seelen schließt der Prediger: Haec ut pictura docet exemplique figura. Le Fevre nimmt dieser Deduktion die anhaftende Schwerfälligkeit und Umständlichkeit, und er läßt die Hinweise auf die Verdammnis fallen. So wird aus dem dunklen Gestrüpp des deutschen Grüblers die klare Diktion des Franzosen: „ 0 du weises Geschöpf, das du nach dem ewigen Leben verlangst, du hast hier eine deutliche Lehre, um dein sterbliches Leben gut zu beenden!" Der Gedanke ist gemodelt und vereinfacht, aber die Verse sind wie der blanke Spiegel des Meeres über der dunklen Tiefe: wer beides nebeneinander liest, dem klingt aus den französischen Versen der dunkle Inhalt des deutschblütigen Textes nach. Es ist gewiß auch kein Zufall, daß das pictura docet Vers 3 in doctrine wiederklingt, und das janua vitae nota im notable des gleichen Verses. Viventes und sapientes ist mit creature und raysonnable sinngemäß genau wiedergegeben. In ähnlicher Weise gibt Vers 6: „Jeder lernt tanzen" den lateinischen Vers 9 Fistula tartarea vos jungit in una chorea sinngemäß genau wieder. Endlich nimmt auch Vers 8 Mors nespargne petit ne grant den lateinischen 13a

1. Korinth, 1, 19/20: Scriptum est enim: Perdam sapientiam sapientium et pTudentiam prudenlium reprobabo. Ubi sapiens? ubi scriba? ubi conquisitor hujus saeculi? Nonne stultam fecit Deus sapientiam hujus mundif

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Vers 9 Mors . . nulli parcit auf, diesmal unter Benutzung der gleichen Vokabel espargner = parcere! So betrachtet hängt Le Fivre's erster Achtzeiler aufs engste mit den ersten zwölf Versen der lateinischen Vorlage zusammen, während sein zweiter Achtzeiler die angerührten Gedanken nur weiter ausspinnt. In diesem Spiegel, so heißt es, kann jeder lesen, daß so getanzt werden muß. Wirklich weise (wieder klingt das sapientes des lateinischen Textes an!), wirklich weise ist, wer sich genau betrachtet und in dem Tanz der Toten mit den Lebenden sich selbst sieht. All das wird dann in die allgemeine Sentenz zusammengefaßt: „Jammervoll ist es daran zu denken: alles ist aus demselben Stoffe gemacht!" Auch die Schlußszene der Danse de macabre, wo der tote König und der Magister Ermahnungen an die Lebenden richten, klingt an die lateinische Vorlage stark an, an die Verse, die der alius doctor am Schluß des lateinischen Totentanzes spricht. Die Verse 61 f.: O vos mortales . . . finern pensate! werden zur Rede eines toten Königs an die Lebenden ausgesponnen. Hier gab die in Frankreich so weit verbreitete „Legende von den drei Lebenden und drei Toten" das Klischee. Die Anregung aber wird von dem lateinischen Vers ausgegangen sein, und klingt es nicht wie eine Variation über das lateinische Pensate finern, wenn es jetjt Vers 515/16 heißt: Pensez, que humaine nature ce liest fors que viande a vers „Bedenkt, daß die menschliche Natur nichts ist als Fleisch für die Würmer?" Der gleiche Gedanke wird Vers 521/22 erneut und wieder im Anklang an das pensate variiert: Bon y fait penser soir et main, le penser en est profitable, tel est huy, qui mourra demain „gut ist's, daran zu denken morgens und abends, daran zu denken ist nütjlich, mancher ist heute noch, der morgen stirbt!" Der andere Gedanke der lateinischen Schlußpredigt gipfelt in v. 62/70: Futura considerate! Ergo desistite peccare, si properare ad finem cupitis optatum. Das ist aber auch im Grunde das Thema der Verse des Maistre am Schluß der Danse de macabre. Er mahnt v. 535, die Glorie des Paradieses vor Augen zu haben und stellt v. 538 Paradies und Hölle so gegeneinander, wie es der Doktor im lateinischen Totentanz v. 72 mit Himmel und ewigem Feuer tut. Wie der Lateiner v. 70, so mahnt der Maistre v. 543 „sich von Schuld freizumachen", und wenn der Lateiner v, 69 feststellt, daß „alles von den Taten in dieser Welt abhängt", so gibt der Franzose dieser Feststellung nur eine sentenzhafte Formulierung (v. 544): Bienfait vault moult aux trespasses „Gute Taten sind den Dahingeschiedenen von großem Wert!"

Der lateinische Totentanztext als Quelle Le Fèvrcs

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So zeigen sidi Eingang und Schluß der Danse de macabre durchtränkt mit den Formulierungen oder Gedanken der lateinischen Totentanzdichtung. Bei den einzelnen Gestalten macht sich natürlich viel stärker die Aufschwellung geltend und die Erfüllung mit dem Geiste der Weltstadt Paris. Gleichwohl finden wir auch hier Anklänge genug. Der Papst sagt im lateinischen Totentanz v. 13: Sanctus dicebar, der Bischof v. 29 ähnlich: Venerabar hic quasi dijus; bei Le Fèvre klingt dies fast wörtlich wieder in v. 26: Je suis dieu en terre, und das anschließende lateinische nullum vivendo verebar wird von dem Franzosen nur positiv ausgedrückt: j'ai eu dignité souverainne. Ebenso wird v. 14: Frivole nunc ducor ad mortem, vane reluctor „zum Tod werde ich freventlich geführt, vergeblich wehr ich mich" nur allgemeiner gefaßt: „Der Tod führt Krieg gegen alle, wenig Wert hat die Ehre, die so schnell vergeht!" 14 ). Die Worte, die der Tote zum Kaiser spricht (v. 33 ff.), stimmen so weitgehend mit dem Würzburger Totentanz überein, daß man annehmen kann, daß die lateinischen Verse, die nicht erhalten sind, die gemeinsame Vorlage bildeten. Im Würzburger Totentanz heißt es: v. 39. Her keiser, iu hilft nit daz swert, zepter und kröne sint hie unwert, ich hân iudi an der hant genomen, ir müezt an mînen reien komen!

Bei Le Fèvre wird der Kaiser (v. 34 ff.) ganz ähnlich angeredet: „Großer Kaiser, Ihr müßt Euren runden Goldapfel lassen, Waffen, Szepter, Hermelin und Banner; ich führe jeden mit, das ist meine Art: die Söhne Adams müssen alle sterben!" Die Antwortverse des Kaisers dagegen haben nur einen einzigen Anklang, insofern das culmen imperii magnificavi von v. 15 nachleben mag in dem Ausdruck Sur tous ay eu grandeur mondaine. Im Banne der französischen Todesikonographie steht der groteske Gedanke Le Fèvre's, dem Kaiser statt Szepter, Reichsapfel und Schwert die Geräte des Totengräbers zuzumuten: „Bewaffnen muß ich mich mit Hacke und Schaufel und mit einem Leichentuch" 15): eben dies sind die Geräte, die sein Tanzpartner trägt, und der Kaiser sieht sich also dieser Totengestalt gleich werden. Es ist eine der Stellen, wo noch die ursprüngliche Anschauung, daß sich die Neuverstorbenen dem Reigen der Armen Seelen einzugliedern haben und diesen angleichen müssen, durchschimmert. " v. 31/32: Mais tost passe. 15

v. 43/44: Armer



la mort

me fault

a tous

mainne

guerre;

peu vaull

de pic, de pelle et d'un

linseul.

honneur,

qui w

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Nodi eine Reihe belangloserer Berührungspunkte darf für die lateinische Vorlage Le Fevre's ins Treffen geführt werden. Hatte der lateinische Totentanz dem Kardinal zurufen lassen „Springt auf mit Eurem roten Hut!" (Würzburg v. 63), so nimmt bei Le F£vre der Kardinal selbst auf seinen Hut Bezug: „Den roten Hut, das kostbare Kleid muß ich zurücklassen" (v. 61). Der Patriarch wurde ursprünglich gemahnt „Euer Doppelkreuz laßt fallen" (Würzburg v. 73). Le Fi vre nimmt es v. 83 mit geringer Änderung auf: „Euer Doppelkreuz, das Euch so kostbar ist, wird ein anderer bekommen!" Die Gestalten des Herzogs und des Grafen ließ Le Fevre zwar ausfallen, aber aus ihren lateinischen Versen übernahm er das eine oder andere für seinen Ritter. Das selbstbewußte Wort des Herzogs Nobiles eduxi, quorum dux ipse reluxi schimmert in der Anrede des Toten v. 129 durch „Der Ihr unter großen Edelleuten Ruhm genossen habt", und wenn Le F£vre ihn fortfahren läßt (133ff.): „Die Damen pflegtet Ihr aufzuwecken, indem Ihr lange Tänze aufspielen ließet", so ist damit in die Sphäre des höfischen Kavaliers und Troubadours gehoben, was im alten Totentanz robuster gesagt und gesehen war: „Habt Ihr mit Frauen je hoch gesprungen oder wohl gesungen, das müßt Ihr in diesem Reigentanz büßen" (Würzburg v. 87 ff.). Die Antwort des Ritters Vers 138/39: „Ich stand in gutem Rufe und war geschäht bei groß und klein" ist nichts anderes als eine Wiedergabe des lateinischen Kobilis imperii com.es, in mundo reputatus (v. 31). Eine wörtliche Parallele haben wir beim Richter: das Kon juvat appello de mortis ultimo hello (v. 37) stimmt genau zu der Sentenz Vers 208: Contre la mort n'a point d'appel! Ganz Ähnliches sagt der Advokat v. 387 ff.: Contre mort n'a respit ne grace, nul n'appelle de sa sentence. Le Fe vre wußte es freilich aus eigner Erfahrung anders und besser, denn im nächsten Jahre schrieb er ja seinen Respit de la mort, um Gott für den Aufschub des Todes zu danken. Interessant ist in diesem Zusammenhang, in wie verschiedenem Sinne die Formel, daß es keine Berufung gegen den Tod gebe, gebraucht werden kann. Im lateinisdien Totentanz ist lediglich das Urteil des Todes selbst, also die Unausweichlichkeit des Todes gemeint. Bei Le Fevre tritt der Tote zum Richter (v. 193 ff.) und zum Advokat (v. 377 ff.) nicht nur als Stellvertreter des allmächtigen Todes, nein, der Blick geht über Tod und Grab hinaus, und der Tote ist nicht nur Abgesandter des Todes, sondern der Vollstrecker des Willens Gottes und lädt vor Gottes Richterstuhl. Damit wird das ursprüngliche Totentanzmotiv mit seiner Mischung von Todesgrauen und Welttragik in das rein kirchliche Fahrwasser zurückgelenkt.

Der lateinisdie Totentanztext als Quelle Le Favres

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Beim Arzt liegt die menschliche Unzulänglichkeit, die Diskrepanz zwischen der Heilwirkung auf andere und der eignen Todesverfallenheit so auf der Hand, daß ähnliche Formulierungen audi unabhängig voneinander auftaudien können. Gleichwohl sieht es so aus, als ob auch hier von Le F^vre der lateinisdie Text benutjt und ausgebaut wäre. Der Feststellung Curavi multos juvenes, mediocres, adultos (v. 41) steht bei L e F£vre (v. 353 ff.) ein Rühmen seiner theoretischen und praktischen Kenntnisse gegenüber, mit denen er „mancherlei Krankheiten heilen konnte"; Quismodo me curat?: diese rhetorische Frage wandelt er in eine positive Feststellung um: „Nichts hilft mehr Kraut, Wurzel oder andere Mittel: gegen den Tod gibt es keine Medizin!" Aus dem schwer zu übersehenden Schlußsatj: Mihi mors contraria jurat klingt das contraria in contredie (357), contre la mort (360) und contremander (351) wie ein fernes Echo wieder. Die Antwort des Toten: „Herr Arzt, tut Euch selber Rat mit Eurer Meisterkunst!" (Würzburg 143 f.) bildet bei Le Fivre die Schlußsentenz: „Ein guter Arzt ist, wer sich selbst zu helfen weiß" (352). Fast wörtlich wird auch der lateinische Text beim Arbeiter aufgenommen. Hieß es Hie in sudore vixi magnoque labore (55) vom Bauer, so wird bei L e Fevre der Arbeiter mit dieser Formel angeredet (v. 425): Laboureur, qui en soing et paine avez vescu tout vostre temps „Arbeiter, der Ihr in Sorge und Mühsal Eure ganze Zeit gelebt habt". Vielleicht wurde die Benennung der Figur durch den lateinischen Wortlaut begünstigt: das labore dürfte die Assoziation mit laboureur heraufgerufen haben, während die Uberschrift rusticus eine Übersetzung paysan hätte nahelegen müssen. Audi das Approchez vous (v. 431) findet in dem „Rusch her!" des Würzburger Textes v. 200 (der uns hier wieder das fehlende lateinisdie Verspaar ersehen muß) seine unmittelbare Parallele, und daß das lateinische non minus a morte fugio (56) Wort für Wort in der Antwort des Arbeiters Mais volontier je fuisse la mort (434) wiederklingt, braucht keiner Erläuterung. Kennzeichnend für die geistige Haltung Le F¿vre's ist, wie die Szene mit dem Wiegenkind umgemodelt wird. Wohl klingt das „Kreuch her, du mußt hier tanzen lernen!" des alten Totentanzes (Würzburg v. 207) in L e Favres Vers 459 wieder: „Zum Tanz wirst du geführt wie jeder andere". Aber die Unmittelbarkeit des Zwiegespräches zwischen Mutter und Kind, die diese Szene mit deutscher Sentimentalität erfüllte, ist mit Tilgung der Mutter von vornherein geschwunden. Aber nicht genug damit: der packende Gedanke, daß das Kind, das noch nicht gehen kann, bereits im Tanzreigen der Toten mittanzen soll, wird umgebogen: „A-A-A, ich kann noch nicht

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V . Der französische Totentanz und seine Auswirkung

sprechen" — was hat das Sprechenkönnen mit dem Totentanz zu tun? Und doch spricht das Kind anschließend wie ein Philosoph (v. 467 ff.): „Ich mache nur Eintritt und Ausgang im Leben, aber ich muß midi damit abfinden; die Weisung Gottes ändert sich nicht, jung und alt sterben ebenso schnell". So wird aus der urtümlichen Verbundenheit von Mutter und Kind bei dem Franzosen ein altkluges Philosophieren über die Schnelligkeit des Todes und Gottes unerforsdilichen Ratschluß, und der Tote fügt tröstend hinzu, wer länger lebe, müsse auch länger leiden. Dem Deutschen widersteht diese rationale Art des Trostes, der Franzose und sein Publikum werden wohl diese Lebensweisheit von Kinderlippen besonders eindrücklich gefunden haben. Der Vergleich zwischen dem lateinischen Totentanztext und der Danse de macabre wurde so ausführlich durchgeführt, weil es endgültig mit dem Vorurteil aufzuräumen galt, der französische Totentanz sei die Quelle für alle anderen Totentänze. Ich glaube, der Vergleich hat eindeutig erwiesen, daß Le F£vre den lateinischen Totentanztext gekannt und benutzt hat, j a , vermutlich erst durch ihn den Anreiz zu seiner Totentanzdichtung empfing. Aber die wörtliche Umsetjung des lateinischen Textes ins Französische, wie sie immerhin in einer Reihe von Fällen aufgewiesen werden konnte, bildet nur eine Ausnahme. Oft ist im Französischen breit ausgesprochen und in klare Sentenzen gefaßt, was im Lateinischen kaum angedeutet wurde. Aber auch wo L e F£vre völlig eigene W e g e geht oder sogar neue Gestalten einfügt: der Eindruck, den die lateinische Totentanzdichtung auf ihn machte, ist überall zu spüren. Vor allem in einem: obwohl er die Verse der namenlosen Toten denen der Sterbenden voranstellte und diese somit zu Stellvertretern des Todes machte, der monologische Charakter, den die Verse der Sterbenden im lateinischen Totentanztext erhielten, weil sie ursprünglich allein standen, haben die Antwortstrophen der Sterbenden, obwohl sie jet}t eigentlich Antworten sein sollten, durchweg bewahrt. Auch bei den neu hinzugefügten Gestalten! Nirgends machen die Sterbenden Versuch, sidi mit den Worten der Toten auseinanderzusetjen, sie anzureden, zu widerlegen. Ein einziges Mal nimmt einer, es ist der Chorherr, mit einem „Das ist mir keineswegs angenehm" (v. 249) auf die Ankündigung des Todes Bezug. Tro^dem redet auch er weiterhin ganz unpersönlich vom Tode in der dritten Person und als ob keiner da wäre, ihn zu hören. W o also nicht Wort und Sinn des lateinischen Totentanztextes gewahrt wurden, da blieb die einmal geprägte innere Form in einem Maße gewahrt, daß es nur Staunen erregen kann. Le Fevre fand wohl

Der lateinische Totentanztext und Le Favres Umdichtung

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das eigne Erleben des Massensterbens und den Griff des Todes nach dem Menschen in der lateinischen Totentanzdichtung auf so gültige und vollendete Weise widergespiegelt, daß er trotj aller Modernisierungen, Aufschwellungen und Ergänzungen von seinem Vorbild und seiner herben Form nicht los kam. Eis ist deshalb anzunehmen, daß Le F^vre's Absicht nur war, den übernommenen Totentanzbilderbogen mit einem allen Ansprüchen des verwöhnten Parisers genügenden neuen Text zu versehen. Auch daß der Text nirgends unter Le Fevre's Namen überliefert ist, spricht dafür, daß er mit Bildern, die der Umarbeitung angepaßt waren, wie der lateinische Totentanz als Bilderbogen umlief, bis er im monumentalen Wandbild am Beinhaus von SS. Innocents eine weithin sichtbare Verewigung fand. Jetyt erst wurde die Danse de macabre in Frankreich Modesache und von geschäftstüchtigen Verlegern in vielen Buchausgaben verbreitet. Wenn daneben Bilderbogen handschriftlicher Provenienz und dann auch buchtechnisch hergestellte und nachträglich illuminierte Bilderbogen nachzuweisen sind, so dürfte dies nur Wiederaufnahme eines alten, vielleicht nie abgerissenen volksläufigen Umlaufes sein. 3. E n t w i c k l u n g s m o m e n t e in L e F £ v r e s D a n s e de Macabre Bei aller Verflochtenheit mit der lateinischen Vorlage und mit der Tradition des volksläufigen Bilderbogens zeigt Le Fivre's Text über Ausweitung, stilistische Verfeinerung und den Hang zu sentenziöser Zuspi^ung hinaus neue Motive, die für die weitere Entwicklung wichtig wurden. Das Entscheidendste ist, daß der Totentanz, von Haus aus eine Dichtung aus dem Bereiche der Prediger, Seelsorger und Mönche, in Frankreich nicht von kirchlicher Seite in die Volkssprache übertragen wurde, sondern daß ein religiös ergriffener Laie, ein mitten im praktischen und kulturellen Leben seiner Zeit stehender Literat und Jurist, das Thema aufgriff. Daß jede achte Zeile zu einer Sentenz ausgeprägt wurde, kann man als ein stilistisches Phänomen werten. Auf diese Weise ist die ganze Danse de macabre mit einem Gerüst von achtundsechzig Sentenzen durchzogen. Selbst da, wo diese Sprichwörter etwas weit hergeholt erscheinen, werden sie ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Der anspruchsvolle Literaturkenner genoß die Zuspitzung der Gedanken zu dieser geschliffenen Form, der einfache Mann mit seiner Freude am Sprichwort fand sich hier unmittelbar angesprochen, sei es, daß er hier altfranzösische Sprichwörter wiederfand wie v. 377: „Kleiner Regen folgt auf großen

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Wind", sei es, daß er sidi an drastischen Vergleichen ergötjte wie jenem dem Abt zugedachten Bonmot: „Der Fetteste ist am schnellsten verfault". Reizvoll ist es auch, wie der adlige Knappe und der bürgerliche Stutjer in ihrer jugendlichen Besch wingtheit und Galanterie stilistisch aus dem Gleichmaß der menschlichen Selbstbetrachtungen herausgehoben werden. Der Junker, der galante Tänzer und Liebling der Damenwelt, ruft noch „in Todesbanden" den Vergnügungen und Festlichkeiten und den Damen, mit denen er zu scherzen pflegte, ein herzliches Adieu zu (v. 171 f.): Adieu deduis, adieu solas! Adieu dames, plus ne puis Tire! Bei dem bürgerlichen Sturer, der sich selbst so wichtig nahm und seine Zeit mit Liebeleien jeder Art vertrödelte, ist dieses Adieu auf seine allzu schnell dahingerauschte Jugend noch differenzierter und kennzeichnet trefflich das oberflächliche, allen Reizen zugängliche und mit allen Raffinements vertraute Genießertum: den Hüten, Bouquettes und allen seinen Eroberungen trauert er nach, und seinen Liebchen und Damen ruft er zu, ihn ja nicht zu vergessen (v. 370ff.): Helas, or n'y a il secours contre mort, adieu amourettes, moult tost va jeunesse a decours. Adieu, cfaapeaux, bouques, fleurettes, adieu amans et pucelettes, souvienne vous de moy souvent et vous mirez, se sages est es: petite pluie abat grant vent.

Wir verstehen, daß diese aus der Sphäre des großstädtischen Paris erwachsene Dichtung, wenn sie ihr Publikum fand, eine Atmosphäre von Esprit und religiös vertiefter Weltsdiau schuf — spätere Schilderungen, wie ganz Paris vor dem Totentanzgemälde auf dem Friedhof von SS. Innocents auf- und abpromenierte und sich Gedanken über die Gestalten des Totentanzes machte14), geben diesem Urteil recht. Diese literarische Geschicklichkeit und Routine des Autors mußte sich natürlich auch auf das Inhaltliche im allgemeinen auswirken und trotj aller Traditionsgebundenheit Idee und Motiv umfärben. Im lateinischen Totentanz werden menschliche Würde und die Würdelosigkeit des schauerlichen Leichentanzes der Armen Seelen kontrastiert. Die lateinischen Verse bemühen sich also lediglich, die Macht der einzelnen Personen bei ihrem Leben und ihre Ohnmacht im Tode 16,

Noël Du Fail, Contes et discours d'Eutrapel, éd. C. Hippeau, 1 (1875) p. 133.

Großstädtischer Esprit und Ständekritik in Le Favres Text

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herauszuarbeiten. Hier gibt es keinerlei Jammern um ein zu frühes Ende, keinerlei Ständekritik oder gar Ständesatire. Solche Elemente sind mit dem religiösen Ernst und mit der furchtbaren Vision des nächtlichen Totenreigens unvereinbar. In dem Maße, in dem der Totentanz aus der rein religiösen Sphäre in die literarische hinübergezogen wird, kann er sich auch der Ständekritik oder gar der Ständesatire öffnen. Man kann an Le F£vre's Text beobachten, wie die Ständekritik allmählidi immer stärker emporwächst. Da der Verfasser weltlichen Standes ist, entzündet sich seine Kritik in erster Linie an der Geistlichkeit. Bei einem Stand, der an Gottes Stelle sprechen zu können meint, an Gottes Stelle rechtet und richtet, wird der Außenstehende viel eher und viel stärker den Gegensatj zwischen dem Ideal und der menschlichen Unzulänglichkeit empfinden und dies zu geißeln geneigt sein. Beim Papst ist diese Kritik nodi ganz milde: „Ich dachte noch nicht im geringsten daran, zu sterben", sagt er 11 ) — aber sollte er als Haupt der Christenheit nicht immer todesbereit sein? — Und der Kardinal trauert kummervoll seinen kostbaren Gewändern nach 18 ): sollte er als oberster Diener der Kirche Christi nicht weniger am Luxus dieser Welt hängen? Der Patriarch muß es sich sagen lassen, daß seine törichte Hoffnung, Papst von Rom zu werden, zu Schanden werden muß (v. 89/92). Der Erzbischof denkt daran zu fliehen und scheut sich, seine prunkvoll ausgemalten Zimmer zu verlassen (v. 123/28), und der Bischof verzagt bei dem Gedanken, daß er Rechenschaft vor Gott ablegen soll: v. 153. Le cueur ne me peult esioir des nouvelles, que mort m'aporte: Dieu vouldra de tout compte oir, c'est ce, que me deconforte!

Gröber wird die Kritik beim Abt: die Abtei habe ihn dick und fett gefüttert, „aber schnell werdet Ihr, von allen verlassen, faulen, denn der Fetteste verfault am schnellsten" (v. 181/84). Dem Domherrn hält der Tote seine Habsucht nadi Einkünften und Pfründen vor (v. 241/44), dem Dominikanermönch den Ehrgeiz, Abt zu werden (v. 305/8), und der Dominikaner selbst bekennt, daß er wie ein Narr gesündigt und nicht genügend gebüßt habe (v. 316/19). Bekommt der Bankherr als einziger von den weltlichen Herren Vorwürfe zu hören 17 18

v. 80: Encar point morir ne cuidasse. v. 61/62: Chapeau rouge, robbe de pris me fault laisser à grant detresse.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

(natürlich wird seine Gewinnsucht gegeißelt) 19 ), so klingt das mild neben den Vorwürfen gegen den Pfarrer. Der Pfarrer klagt, daß er Kirchensteuern und Begräbnisgebühren nicht mehr bekommen werde 2 0 , so sehr hängt er am irdischen Gut, und sein Tanzpartner kann ihm vorhalten: „Lebendige und Tote pflegtet Ihr aufzuessen, aber jetjt werdet Ihr selbst den Würmern zur Speise gegeben werden" 2 1 ). Demgemäß bekennt der Pfarrer selbst: „Ich habe große Angst, bei der Rechenschaft nicht zu bestehen" 22). Dem Kaplan wird dagegen sein Ehrgeiz als Torheit vorgehalten, j a der Tod dafür als Strafe verkündet (v. 473/80). Diese Standeskritik trifft fast ausschließlich Vertreter der Geistlichkeit. Sie ist nicht antikirchlich oder antipäpstlich, sondern getragen vom Glauben an den Auftrag der Kirche in der Welt und richtet sich nur gegen das Unzulängliche und allzu Menschliche ihrer Vertreter. Die reformatorische Polemik gegen die Kirch« schlug ganz andere Saiten an. Hier interessiert weniger das Maß der Standeskritik, als ihre entwicklungsgeschichtliche Auswirkung. Noch ist es so, daß die Standeskritik vorwiegend durch die Toten als Stellvertreter des Todes erfolgt, daneben bekennen aber auch die Sterbenden selbst hier und da Unvollkommenheit und Sünde. Dies öffentliche Bekenntnis — wenn auch nur in Bild und Vers — wirkte zweifellos auf die angestaute Flut des Unmuts gegen unwürdige Vertreter des heiligen Amtes wie ein Ventil. Der Totentanz konnte damit über seine religiösmoralische Tendenz hinaus eine soziale, ausgleichende Wirkung ausüben. Im Keime ist das schon in der Vision der mit den eklen Leichen tanzenden Standesvertreter des lateinischen Totentanzes vorhanden, jetjt verstärkt und vergröbert sich das. Wir können es durchaus mit der öffentlichen Hinrichtung hochstehender Persönlichkeiten vergleichen. Diese spielen nidit aus Sensationslust oder Rohheit des mittelalterlichen Menschen eine so große Rolle in der Religions- und Kulturgeschichte, sie haben eine seelengeschichtliche Mission. Der einzelne vergeht, sein Leib wird verdammt, gefoltert und vernichtet. Aber durch diese gerechte Sühne wird das Unsterbliche gerettet, und durch die Sühne auch an den höchsten Spieen der Gesellschaft, nicht nur an hohen weltlichen Herren, sondern ebenso an geistlichen Würden19

v. 323/24: D'usure estes tant aveugles, que d'argent gaigner tout ardez. v. 419/20: Hee, de mes paroissiens offrende n'auray jamais ne funeraille! 2t v. 411/12: Le vif, le mort solies menger, mais vous seres aux vers donne. " v. 421/23: Devant le juge fault, que je aille, rendre compte las doloreux, or ay je grant peur, que ne faille. 80

Ständekritik und Entwicklungstendenzen in Le Fevres Text

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trägem, wird die menschliche Unvollkommenheit betont, die ewige Ordnung aber gewahrt und bestätigt. Die starke Wirkung, die die Danse de macabre hatte, beruht zum guten Teil darauf, daß sie nicht nur den Tod in seiner Allmacht zeigt, sondern- daß sie auch die gefährdete göttliche Ordnung der Welt durch maßvolle, aber deutliche Geißelung der Schäden wie durch kultische Opfer wiederherstellt und die sündige Welt entsühnen hilft. Formal gesehen ist es zwar so, daß die Sterbenden bei ihrer traditionellen Selbstaussprache bleiben. Aber muß nicht die Anklage oder Kritik des Toten schließlich bei den Sterbenden Widerspruch, Verteidigung und Bitte um Aufschub hervorrufen? Muß nicht das Einschalten der Ständekritik dazu führen, aus dem Aneinander-vorbeireden der Toten und Sterbenden einen wirklichen Dialog des Todes mit den Lebenden zu machen? Erst wo dieser Schritt getan wird, ist jene Entwicklungsstufe erreicht, die gemeinhin als Ausgangspunkt des ganzen Totentanzmotivs angesehen wird: das Betteln der Sterbenden um Aufschub oder Gnade 23 ) und die strafende und richtende Unnahbarkeit des Königs Tod! Erst dann verbindet sich das alte Thema in umgemodelter Motivierung mit dem ewigen Motiv des Jedermann. Einen Schritt hin zu dieser Entwicklung bedeutet es, wo die im Bild des Reigens festgelegte Zwiesprache je eines Toten mit einem Sterbenden im Text verwischt wird, wo man ungeachtet der vielen Toten des Reigens die Verse der Toten auffaßt als die Botschaft des Königs Tod an die Menschen. Diese Verwischung des Bildeindruckes konnte gefördert werden, wenn der Tod nicht nur am Anfang des Reigens als Spielmann und Zauberer erscheint, nach dessen Pfeife alle tanzen müssen, sondern wenn die Toten mit der Selbstherrlichkeit des Todes den Menschen gegenübertreten. Wo der Tote den Menschen nicht nur zum Tanz, zum Sterben aufruft, sondern auch das letjte Wort behält, seine Widerreden widerlegt, seine Ansprüche ad absurdum führt, da wird der Tote aus einem Abgesandten des Todes zu seiner Verkörperung. Le F£vre beläßt es noch bei dem Zwielicht der im Auftrage des Todes handelnden Toten. Zögernd ging er jedoch dazu über, hier und da dem Toten das letjte Wort zu überlassen: bezeichnender Weise finden sieh alle diese Fälle im zweiten Teil. Beim Kaufmann, beim Arbeiter, beim Kaplan und Eremiten antwortet " W . S t a m m l e r : Die Totentänze des MA, 1922, S. 13, und: Der Totentanz, 1948, S. 20.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

der Tote, freilich nicht der Tote, der den Menschen angeredet hatte, sondern der im Reigen nachfolgende Tote, auf die Widerrede kurz und treibt den zögernden vorwärts. Noch ist, wie gesagt, das Bild maßgebend und durchaus betont, daß es der Hintermann ist, der erst den sterbenden Vordermann antreibt, um dann seinen eignen Tanzpartner anzureden und hinter sich herzuzerren. Einer jüngeren Generation mußte daraus der eine Tod werden, dessen Stimme erst den einen, dann den anderen ruft. Betrachten wir die einzelnen Fälle genauer. Der Tanzpartner des Kaufmanns fordert den vielgereisten zum letjten Handel auf (v. 257/64). Der Kaufmann ergeht sich daraufhin in elegischer Schilderung seines gefahrvollen und mühseligen Lebens und endet in der Selbstkritik (v. 272): „Wer zuviel anfaßt, läßt manches fallen!" Da fährt ihn der folgende Tote, der Tanzpartner des Kartäusers, an: „Geht, Kaufmann, ohne länger zu verweilen! Leistet keinen Widerstand! Ihr könnt dabei nichts gewinnen!" (v. 273/75). Dann wendet er sich seinem eigenen Opfer zu: „Auch, Ihr, Mann der Enthaltsamkeit, Kartäuser, faßt Euch in Geduld!" Rechtfertigen die elegischen Betrachtungen des Kaufmanns solche barsche Anrede? Keineswegs! Nicht aus der lebendigen dramatischen Situation erwuchs dieser Herübergreifen und Verschleifen, diese Sprengung des bisherigen rhythmischen Gleichmaßes von Anruf und Gegenrede. Der Dichter muß bewußt eine Variation, ein Zwischenspiel eingeschoben haben, wobei der äußere Anlaß der war, daß die Frömmigkeit des Kartäusers zu Kritik und Vorhalten wenig Angriffsfläche bot, also der Achtzeiler nicht ohne Wiederholungen zu füllen war. Der gleiche Anlaß liegt beim Franziskaner vor und beim Einsiedler. Der Arbeiter bekommt so ein „Ihr habt Unrecht, gebt Raum, Arbeiter" (v. 441) von dem Partner des Franziskaners zu hören, obwohl seine Worte keineswegs herausfordernd waren. Der namenlose Tote, der dem Kaplan (Clerc) im Reigen folgt, richtet sogar vier volle Verse an den Vorangehenden, ehe er sich mit einem Venez après! an den Eremiten zu seiner Linken wendet: v. 489. Clerc point ne fault faire refus de dancer! Faictes vous valoir, vous n'estez pas seul! Levez sus pour tant moins voz en doit chaloir! — Venez après! c'est mon voloir, homme nourry en hermitaige, ja ne vous en convient doloir: vie n'est pas seule heritaige!

Die namenlosen Toten werden zu Vertretern des Todes

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Nach den ergebungsvollen Worten des Eremiten schließt der Totenreigen mit einer legten Totengestalt, die in ihrem Aditzeiler nun lediglich Antwort gibt auf das, was der Eremit gesagt hat, und dessen fromme Worte allen als Muster der Todesbereitschaft hinstellt. So verschiebt sich hier am Ende der Danse de macabre das Gewicht in den Achtzeilern der namenlosen Toten von dem Aufruf zum Totentanz zur Antwort auf die Worte der sterbenden Menschen, ein Motiv, das dann in Spanien und in Niederdeutschland unabhängig voneinander aus der Danse de macabre aufgegriffen und mit äußerster Konsequenz durchgeführt wurde. Aus den namenlosen Toten werden damit mehr und mehr selbstherrliche Tanzmeister des Totentanzes, und es ist kein weiter Schritt, wenn spätere hinter der Vielfalt der Toten den einen allmächtigen Tanzmeister Tod sehen, der einen nach dem anderen zum Tanze auffordert. Wo der Reigen auseinanderreißt, wo, wie in den meisten Handschriften, jedes Blatt nur mehr noch ein einziges Tanzpaar zeigt, da konnte nun endgültig der Tote zur Verkörperung des Todes werden. Die Holzschnittfolgen, die den Pariser Totentanz wiedergeben wollten, vermieden deshalb die Vereinzelung, sie bringen stets zwei Tanzpaare in einer Art Reigenkette vereinigt und betonen damit, was man noch täglich auf dem Friedhof von SS. Innocents sehen konnte und lesen: daß jeweils ein namenloser Toter den Sterbenden vorwärtszerrt. Der Keim zur Weiterentwicklung wurde nicht bei den Franzosen zum Reifen gebracht — sie blieben rein rezeptiv und beharrten bei dem einmal gegebenen Text. Aber die Nachbarn, die den französischen Totentanz kennen lernten, die Spanier, Italiener und Deutschen, haben jeder auf seine Weise das nachbarliche Geschenk weiterentwickelt.

4. D i e P a r i s e r D a n s e m a c a b r e v o n 1 4 2 5 und die französischen Totentanzbilderbogen Im Jahre 1424 wurde in den Arkaden des Beinhauses auf dem Friedhof des Pariser Franziskanerklosters „Aux SS. Innocents" die Danse macabre gemalt und Ostern 1425 vollendet. Es war eine traurige Zeit für Frankreich. Der hundertjährige Krieg mit England stürzte Frankreich in seine tiefste Erniedrigung. Bürgerkriege und Zwist innerhalb der königlichen Familie hatten die Lage heillos verwirrt. Der geistesgestörte Karl VI. war 1422 gestorben, der englische

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V. Der französische T o t e n t a n z und seine Auswirkung

König Heinrich VI. zum König von Frankreich gekrönt, der rechtmäßige Thronerbe Karl VII. ein haltloser Schwächling, dazu von seiner Mutter und seinem burgundischen Oheim bekämpft und verraten. Paris, durch Bürgerkrieg, Seuchen und Hungersnöte dezimiert 24) war in Händen der Engländer! Fürwahr, das französische Volk war durch die Fremdherrschaft aufs tiefste in seinem Stolze gedemütigt, und nur wenige Reste des Reiches hatten ihre Unabhängigkeit vor den Eroberern gewahrt. Das Königtum lebte nur noch in der Idee, denn der Träger der Krone war schlaff und energielos und inmitten allen Kriegselends nur sinnlichen Genüssen und Verschwendungen hingegeben. Für diese in äußeren und inneren Nöten gebrochenen Menschen war also Anlaß genug, ihren Sinn von der harten Welt der Politik fortzuwenden und sich auf die jenseitige Welt vorzubereiten oder durch Buße die strafende Hand Gottes, die so sichtbar auf Frankreich lag, zu besänftigen. Wie hätte ein Totentanz aussehen müssen, in dieser Zeit gedichtet von einem Dichter, der in seinem Volk verwurzelt war? Hätte er seine Strophen zu jenen allgemeinen Sentenzen zugespitzt? Hätte er den Lebenswandel der Geistlichkeit allein kritisch betrachtet, während innerhalb der herrschenden weltlichen Schichten Mord und Verrat an der Tagesordnung waren? Hätte er angesichts eines Königs, der seine Zeit und sein Reich in Wohlleben verpraßte, der seine Heere und seine Kämpfer im Stiche ließ, den Tod zum König sprechen lassen: „Kommt edler, gekrönter König, berühmt durch Kraft und Tapferkeit!" 2 5 ) und hätte er gar den König antworten lassen: „Ich habe nicht tanzen gelernt; beim Tanzen und Singen gebärdet man sich zu wild, nur gelassen kann man gut sehen und bedenken, was Stolz, Kraft und Abstammung vermögen" 2 6 )? Diese Haltung paßt so gar nicht zu dem vergnügungssüchtigen, haltlosen, kraftlosen Karls VII.! Nein, aus diesen Versen steigt unmittelbar das Bild König Karl V., des Weisen, empor, der sein Land mit kluger Hand organisierte, durch Würde und Geschick und Gerechtigkeit sein Volk zusammenschweißte und in siegreichen Kämpfen rettete und befreite. Es ist eben durchaus die Zeit Karls V., des Weisen, die " 1418 und vielleicht 1421 herrschte in Paris die Pest, 1422 wüteten die Pocken, vgl. A. C o 1 n a t , Les epidémies et l'histoire, Paris 1936. — Für diesen Hinweis bin idi der Bibliothèque Nationale in Paris zu großem Dank verpflichtet. 15 v. 65/66: Venez, noble roy couronné, renommé de force et proèsse. " v. 73/76: je ri ay point apris a danser; à danse et note se sauvaige! Las on peut bien veoir et penser, que vault orgeuil, force, lignaige!

Die Entstehungszeit der Danse macabre in Paris

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die Danse de macabre widerspiegelt 17 ), und die Pariser Danse macabre ist keine Dichtung des Jahres 1424, sondern die Dichtung einer glücklicheren Zeit, die Dichtung Jehan Le Fivre's! Ein Diditer aus der Zeit von 1424 hätte seine Feder in Schmerz, Zorn und Verachtung getaucht und hätte über König und Adel ein fürchterliches Gericht gehalten. Vielleicht war die Not zu groß und überwältigend, als daß ein Dichter den Abstand gefunden hätte, der dazu nötig ist, um Sprecher und Richter seiner Zeit zu sein. Die Menschen dieser Unglücksjahre in Paris waren wohl zu sehr zermürbt, zu müde und dem Verhängnis unterworfen. Die Franziskaner, die dieser müden Menschheit einen inneren Halt geben und sie zugleich zu wahrer Buße bewegen wollten, konnten nichts Besseres tun, als den bis dahin auf Bilderbogen verbreiteten Totentanz Le Favres nun in großen Ausmaßen an die Beinhauswände malen zu lassen. Man nahm den Text, den man zur Hand hatte, man gab wohl den Bilderbogen so, wie er war, oder nur mit geringfügigen Änderungen dem Maler in die Hand, der dann in acht Monaten den riesigen Wandstreifen ausmalte. Ein riesiges Memento-mori, das, wie Guillebert de Metj 1434 in seiner Beschreibung von Paris sagt, „mit seinen Beischriften die Mensdien zur Frömmigkeit bewegen sollte" 28). Ziel ist eine Abkehr von der Welt, eine Einkehr, eine Fludit aus der äußeren Not der Zeit in eine Frömmigkeit, die dann imstande war, ihrerseits wieder in der Gewißheit der Eintracht mit Gott in die Geschicke der Welt ordnend einzugreifen. Es ist der Geist, aus dem heraus Jeanne d'Arc aus dem einfachen Hirtenmädchen zur Befreierin Frankreichs werden konnte. Jeanne d'Arc hatte ihre erste Vision eben in jener Zeit, als der Pariser Totentanz gemalt wurde. Es besteht gewißlich kein direkter Zusammenhang zwischen dem religiösen Sendungsbewußtsein des lothringischen Hirtenmädchens und dem Pariser Totentanz. Aber daß man in der müden Großstadt sich auf die religiösen Kräfte zu besinnen begann, ist symptomatisch für die Kräfte, die die nationale Befreiung in die Wege leiteten und schließlich sogar den König mit " D a s hat man noch Mitte des 16. Jahrh. gespürt und gewußt, denn in den Contes et discours d'Eutrapel, éd. C. Hippeau 1 (1875), p. 133 heißt es von der Danse macabré in SS. Innocents: que ce savant et belliqueux roy Charles le quint y fil peindre, où sont représentées au vif les effigies des hommes de marque de ce temps là et qui dansent en la main de la mort. 88 A l'église des Innocents est unq cimetière moult grant . . . illec sont pointures notables de la Dance macabré et autres, avec escritions pour émouvoir les gens à dévocion. Vgl. V. D u f o u r : La dance macabre. Paris 1875, S. 11.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

sidi fortrissen und gegen Charakter und Gewöhnung dodi zu königlicherem, männlicherem Tun befähigten. Der Text des Pariser Totentanzes (den w,ir also zugleidi als den Text von Le F^ vre's Danse de macabre ansehen dürfen), ist in einigen Handschriften Dictamina dioreae macabre, prout sunt apud Innocentes überschrieben, und auch Lydgate's englische Übersetjung spricht ausdrücklich von den Pariser Versen, so daß wir gewiß sind, daß Guyot Marchants Holzschnittausgabe 14852*) der Danse macabr£ den ursprünglichen Text bringt. Weniger sicher sind wir, daß seine Holzschnitte die Pariser Bilder getreu wiedergeben. Nicht nur, daß die Gemälde dem Holzschnittstil angepaßt werden mußten, daß wohl auch die Kleidertracht mehr oder weniger modifiziert wurde. Schon die Zerlegung des einheitlichen Wandstreifens in einzelne Holzschnitte eines Büches bedingte Änderungen. Guyot Marchant versucht offensichtlich, den Eindruck des Pariser Reigens dadurch widerzuspiegeln, daß er nicht wie die wenigen illustrierten Handschriften jeweils nur ein Tanzpaar auf einer Seite unterbrachte, sondern stets deren zwei zu einem Holzschnitt vereinigt. Jeder Holzschnitt gibt eine doppelbogige Arkade wieder (Abb. 26), und wie schon im lateinischen Totentanz sind die eigentlichen Tanzpaare (deren es jetjt 30 sind) umrahmt von Predigern, die zur Buße mahnen. Diese siebzehn Holzschnitte mit ihren siebzehn Arkaden spiegeln von ferne das wirkliche Gemälde wieder, denn auch dieses war durch die Arkaden der den ganzen Friedhof umschließenden Beinhäuser in Einzelteile gegliedert. Wir wissen aus einer alten Beschreibung, daß der Danse de macabr6 auf zehn Arkaden je sechs Achtzeiler, in den letjten vier Arkaden je acht Achtzeiler beigefügt waren 30 ). Diese Beschreibung weiß also von 68 achtzeiligen Strophen zu berichten, und genau so viel Strophen bringt ja auch die erste Holzschnittausgabe Guyot Marchants! Wir können also auf Grund dieser Angabe genau rekonstruieren, wie das Wandgemälde angeordnet war. Offenbar hat der Berichterstatter bei seiner generellen Angabe nur nicht berücksichtigt, daß in der 7. Arkade nur 7 Achtzeiler, dafür aber in der 10. Arkade 9 Achtzeiler untergebracht waren: es handelt sich hier um geschlossene Szenen mit ungleicher Strophenzahl, die keinesfalls auseinanderM

Faksimile-Ausgabe, hrsg. V. Dufour, Paris 1875; hrsg. P. Champion, Paris 1925. " I m Epitaphier de Paris heißt es bei der 17. Säule der Rue de la Féronnie: Icy commence la danse macabre, qui dure dix arcades; en chacune desquelles il y a six huitains, les quatres dernières en ont huit (nach Dufour, a. a. 0.).

Das Pariser Totentanzgemälde und Mardiants Buchausgabe

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gerissen werden konnten. Vielleicht haben die Arkaden den einheitlichen Reigen nicht in zehn Teilstücke zertrennt, sondern nur die Wand oberhalb der bemalten Wandfläche gegliedert und den Reigen in ununterbrochener Kette geboten. Wir sehen aus dieser Angabe über die Verteilung der Strophen nur, daß die legten Tanzpaare sehr viel mehr zusammengedrängt waren als die vorderen. In der ersten Arkade waren nur der Prediger und Papst und Kaiser mit ihren Tanzpartner abgebildet, in der 10. Arkade wiederum zwei Tanzpaare, jedoch mit drei Totengestalten, dazu die Schlußszene mit dem toten König und dem Schlußprediger. Marchant hat jeweils jede dieser beiden Arkaden auf zwei Holzschnitte verteilt. Der erste Holzschnitt gibt also den docteur oder acteur, aber in einem studierzimmer-ähnlidien Milieu. Das wird nicht das Ursprüngliche sein. Das Pariser Gemälde wird wie fast alle anderen Totentanzbilder am Eingang den Prediger auf der Kanzel gezeigt haben, und gerade auch für den französischen Zweig ist durch den Totentanz von La Chaise Dieu (Abb. 20) und indirekt durch den Lübecker (Abb. 21) und Berliner Totentanz (Abb. 24) belegt, daß unter der Kanzel der Tod saß und mit dem Dudelsack zum Tanz aufspielte, ganz so, wie Abbildungen volkstümlicher Reigentänze zu Seiten einen sitzenden Dudelsackpfeifer zu zeigen pflegen (Abb. 19). Marchant scheint diese wichtige Einzelheit geändert zu haben in dem Bestreben, im ersten Holzschnitt nicht einen Bußprediger, sondern den gelehrten Verfasser des Totentanzes wiederzugeben und durch das Milieu einer spätmittelalterlichen Studierstube als Gelehrten zu kennzeichnen. Die zweite bis siebente Arkade enthielten je drei Tanzpaare, Marchant aber verteilte diese 18 Tanzpaare auf neun Holzschnitte, wie er denn die nächsten beiden Arkaden mit ihren je vier Tanzpaaren ebenso in Holzschnitte zu je zwei Tanzpaaren zerlegte. Der Ubergang von drei zu vier Tanzpaaren in einer Arkade kam nicht zufällig. In der siebenten Arkade war dem Wucherer ein „armer Mann" beigefügt worden, dem der Wucherer gerade Geld in die Hand zählt. So mußte der Maler hier in einer Arkade statt sechs sieben Personen unterbringen, und bei dieser größeren Zusammendrängung blieb er und fügte künftig acht Figuren in den Rahmen einer Arkade. Wir können also wenigstens die Anordnung des 1529 zerstörten Pariser Totentanzes genau rekonstruieren. Marchant hat den gleichsam auf- und abwogenden Fluß des Pariser Reigengemäldes schematisdi in gleichmäßige Stücke zerlegt und so aus den zehn Arkaden des Beinhauses die siebzehn DoppelArkaden seiner Holzschnitte gewonnen. An einigen Stellen ist noch 10

Rosenfeld,

Totentanz

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

zu sehen, d a ß er dabei die ursprüngliche Reigenkette des Gemäldes gewaltsam auseinanderriß, d a er die Gestalten hier (wohl aber nicht überall) getreu kopierte u n d mit dem freiwerdenden A r m nicht fertig wurde. In manchen Fällen drückte er dem Toten in die frei gewordene H a n d ein Gerät. Der T a n z p a r t n e r des Patriarchen bekam einen riesengroßen Pfeil, der des Abtes eine Schaufel, ebenso der des Magisters, u n d diese Zugabe wiederholt sich und sieht meist recht gezwungen aus; ursprünglich haben wohl alle diese Todesgestalten dem V o r d e r m a n n die H a n d gereicht. Der König zum Beispiel streckt die H a n d aus u n d findet die H a n d seines Hintermanns nicht, während der T o t e des Connestable seine H a n d so ausstreckt, wie sie wohl der H i n t e r m a n n des Königs ausgestreckt haben mag — der Vorderm a n n (der Patriarch, der ursprünglich am Rande einer A r k a d e abgebildet war) hat seine H a n d in Überraschungsgeste gehoben u n d der Tote des Connestable faßt deshalb bei ihm einen leeren G e w a n d zipfel! Z u m a l das Attribut des Pfeiles kommt aus einer anderen Welt. Es eignet dem Tod, der auf die Menschen J a g d macht, aber in der Sphäre des Totentanzes u n d des Kirchhofs ist der Pfeil f r e m d ; offenbar ist er von Marchant aus den illustrierten gotischen Stundenbüchern in die Danse de macabre hinübergenommen: von den vier Toten, die Pfeile tragen — es sind die P a r t n e r von Kardinal, Patriarch, Advokat u n d Kleriker — hat nur ein einziger in SS. Innocents am A n f a n g einer A r k a d e gestanden (der P a r t n e r des Kardinals) u n d er mag in Paris eine ganz andere H a l t u n g gehabt haben. Durch die W o r t e des Kaisers: „Bewaffnen muß ich mich mit Pickel und S c h a u f e r S1) ist die ursprüngliche Ausrüstung seines T a n z p a r t n e r s mit Pickel und Schaufel gesichert (Abb. 26): der Tote forderte ihn auf, Schwert und Reichsapfel fallen zu lassen und er weiß nun, d a ß er alle Abzeichen seiner W ü r d e ablegen und wie sein toter P a r t n e r die Totengräber Werkzeuge auf die Schulter nehmen muß. In ähnlicher Weise trägt der T o t e des Papstes einen Sargdeckel. W i r dürfen annehmen, d a ß gerade am A n f a n g der Reigen noch aufgelockert war. W i e im Baseler Totentanz die Toten mit den Musikinstrumenten des Spielmanns T o d aus dem Beinhaus stürzen (Abb. 13/14), so deuten die beiden ersten Toten der Danse macabre durch Sargdeckel, Pickel u n d Schaufel die typisch französische Situation des Kirchhofes als der Stätte des Totengräbers T o d an. In A u f n a h m e dieses Motivs werden auch im G e m ä l d e wie noch in Marchants Holzschnitten der P a r t n e r des Chorherren den Sargdeckel, die Partner von Bischof u n d P f a r r e r v. 43/44: Armer em fault de pic. de pelle et d'ttn linseul.

Der Totentanz in Paris, Kermaria und bei Vérard

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einen Pickel, der des Arztes eine Schaufel getragen haben: sie alle haben im Pariser Gemälde am Anfang einer Arkade gestanden, wie wir auf Grund der oben begründeten Rekonstruktion mit Sicherheit sagen können. Bei Marchant bekamen dann schematisch alle Toten, die am Anfang einer seiner auf siebzehn vermehrten Arkaden stehen, einen Pfeil, einen Pickel, oder eine Schaufel in die Hand. Ich vermute, daß in SS. Innocents die Arkade nicht so weit herunterreichte, daß sie den Reigenzusammenhang zerriß. Sie wird jedoch eine Zäsur begünstigt haben. Der Maler mag deshalb am Anfang einer Arkade bisweilen die Reigenkette dadurch unterbrochen haben, daß er einem Toten Attribute des Totengräbers T o d in die Hand gab. Hat Marchant diesen Tatbestand extrem und sdiematisch durch konsequente Beigabe von Geräten nach der einen Seite getrieben, so tat es der Maler des Totentanzes von Kermaria nach der anderen Seite. In K e r m a r i a (1450) S 2 ) ist in geradezu grotesker Weise jede einzelne Gestalt von einer auf Säulen ruhenden flachen Arkade umrahmt — auch dies schon eine schematisierende Durchführung des in Paris bautechnisch begründeten Motivs der Arkade —, aber troÇ dieser Einrahmung und Isolierung jeder Einzelfigur streckt jeder Tote hinter den umrahmenden Säulen seine Arme weit nach beiden Seiten und ergreift auf beiden Seiten seine Nachbarn, die menschlichen Standesvertreter, am Rotkärmel. Für irgendwelche Geräte haben sie also keinen Arm frei. W i r dürfen vermuten, daß beiden, Marchant wie dem Maler von Kermaria, ein Bilderbogen mit ziemlich getreuer Wiedergabe des Pariser Gemäldes vorgelegen hat: der eine hat diese Vorlage nach der einen, der andere nach der anderen Seite hin schematisiert und übertrieben. An Marchants Darstellung knüpft die für Antoine V é r a r d gedruckte Danse-macabré-Ausgabe an. Ihre Bilder sind dadurch interessant, daß sie Marchants Arkadenmotiv variieren. Marchant gibt eine Doppelarkade. Sie überwölbt jedes einzelne Paar und isoliert und betont es dadurch, sie ist jedoch nur an den Seiten von Säulen gestûÇt, während sie in der Mitte in einem frei in der Luft schwebenden Knauf endet: die statisch erforderliche Mittelsäule ist nicht durchgeführt, um in dem Ineinander beider Tanzpaare den alten langen Reigen andeuten zu können. Bei Vérard ist anstelle der renaissancehaft gegebenen Doppelarkade ohne Mittel-



Die Datierung schwankt, aber die Mehrzahl der Forscher datiert ca. 1450, z. B. E. M â l e : L ' a r t religieux en France 3 (1922), S. 371. — S t a m m l e r (s. Anm. 23) S. 9 bzw. S. 10, möchte jedoch bis zum Anfang des J a h r hunderts hinaufgehen.

10*

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V . Der französische Totentanz und seine Auswirkung

stütje eine gotisch-maurische Doppelarkade mit zierlicher Mittelsäule gegeben. Wie in Kermaria nach beiden Seiten, so greift hier der zweite Tote in der Mitte hinter der Säule hinüber zu den vorangehenden Menschen. Von hier aus ist also nur noch ein Sdiritt zu der Darstellung in Kermaria, wo, wie gesagt, jede Figur einzeln von einer Arkade eingerahmt wird. Wir sehen, wie sich Traditionsstrenge und Variation oder Schematisierung vorhandener Bildmotive miteinander verbinden. Einen ähnlichen Eindruck gewinnen wir beim Totentanz von L a C h a i s e - D i e u (1460)3S), dem einzigen südfranzösischen Totentanz (Abb. 20). Es ist zugleich das einzige Totengemälde, bei dem keine Spur einer Beschriftung zu finden ist. Da das Gemälde jedoch zwei Meter hoch über dem Erdboden gemalt ist, muß mit Bestimmtheit angenommen werden, daß eine Beschriftung unterhalb des Gemäldes beabsichtigt oder ursprünglich vorhanden war, aber später getilgt wurde. Die Reihenfolge der Figuren stimmt völlig mit der Danse de macabre zusammen, nur sind Kartäuser, Chorherr und Mönch bei einer Übermalung in weibliche Ordensschwestern verwandelt und der Arzt und die beiden vorangehenden Toten, vielleicht nach dem Vorbild des Bildes in Bar, umstilisiert: die Toten sind mit Pfeil und Bogen ausgerüstet und schießen von hinten auf die (verkleinert gegebene) Gestalt, die an die Stelle des Arztes getreten ist. Man hat in La Chaise Dieu unbedingt den Eindruck, daß die Vorlage eine illustrierte Handschrift war, die jedes einzelne Tanzpaar isolierte. Daneben muß aber die Tradition des Bilderbogens mit seinem zusammenhängenden Reigentanz noch bekannt gewesen sein, denn der Maler rückte die Einzelpaare so eng zusammen, daß sie sich zum Teil sogar überschneiden und daß auf den ersten Blick der Eindruck einer lückenlosen Reigenkette entsteht. In einzelnen Fällen wurde denn auch, wenn auch sehr ungeschickt, eine kettenartige Verbindung mit dem vorangehenden Tanzpaare versucht. Wir stehen also vor der Frage, ob wir auf Grund der verschiedenen französischen Totentänze uns ein Bild machen können, wie die Vorlage des Pariser Totentanzgemäldes ausgesehen haben mag, deren 33

Datierung meist 1460/70, z . B . E. M â l e (s. Anm. 32) S. 371 ff. — S t a m m 1 e r (s. Anm. 23) S. 8 bzw. S. 10. datiert jedoch 1400—1410, hauptsächlidi auf Grund der langen Tütenärmel des Amoureux. Dieses Argument ist ein Trugschluß, denn der Amoureux wird hier wie auch bei Marchant und wie der Jüngling im Basler Totentanz als Kleidernarr mit Extravaganzen in der Kleidung geschildert, seine Kleidung kann also nicht als Normaltracht gelten und zur Datierung verwandt werden.

Das Bild in La Chaise-Dieu und seine Vorlage

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Spuren wir in der Tendenz zur reigenartigen Zusammenfassung zu begegnen scheinen. Mardiants Holzsdinittbudi von 1485 ist ja wesentlich jünger als die Totentänze von Kermaria (1450) und La ChaiseDieu (1460), aber Marchant hatte die Absicht, die Pariser Danse macabré wiederzugeben, und hat mit den Attributen der Standespersonen, mit Reichsapfel und Sdiwert beim Kaiser, mit dem Szepter des Königs, mit den großen Tragekreuzen bei Papst, Patriarch und Erzbisdiof, mit dem Krummstab bei Bischof und Abt, mit dem hodigeriditeten Ehrenschwert des Connestable offenbar die alten ikonographisdien Elemente gewahrt. In Kermaria trägt der Connestable aufrecht ein Ehrenschwert, der Patriarch sein Doppelkreuz, das schon im lateinischen Totentanz erwähnt wurde, der Papst so wie audi in La Chaise-Dieu einen Schlüssel — sicher ein altes Papstattribut (Marchant hat es nidit mehr), bei den übrigen Figuren sind die Attribute meist weggefallen. Der Maler von La Chaise-Dieu geht darin noch weiter. Wohl trägt der Sergent wie bei Marchant nodi seinen Amtsknüttel und der Arbeiter seine Hacke, und dem Spielmann liegt die Laute vor den Füßen wie bei Marchant die Geige, aber gerade die vornehmsten Stände werden ohne die geläufigen Attribute gegeben. Ein junges ikonographisdies Element ist es wohl auch, wenn der jugendliche Stutjer (Amoreux) Rosen auf dem Hut und in der Hand trägt: es ist dies eine deutliche Anspielung auf die französischen Verse mit ihrem Lebewohl auf Hüte, Bukette und Blumensträuße Der Kaiser hat zwar seinen Reichsapfel behalten, aber er trägt ihn nidit in der Linken wie üblidi, sondern rechts, obwohl die ganze Körperhaltung auf das Sdiultern des Schwertes in der Rechten angelegt ist: der Maler hat die Hand mit dem Reichsapfel unorganisch und ohne Arm fast in Schulterhöhe hingemalt (Abb. 20). Hier liegt also eine nachträgliche und sehr oberflächliche Änderung des ursprünglichen Typus vor. Alt und ursprünglich ist auf dem Bild von La Chaise-Dieu dagegen der Prediger auf der Kanzel, zu Füßen der Kanzel als Dudelsackbläser der Spielmann T o d ' 4 ) und der Dominikaner mit Schriftband in Händen am Schluß, ursprünglich auch, daß der Partner des Papstes einen Grabespickel über der Schulter trägt 8 4 ) wie bei Marchant die Partner von Bisdiof, Mönch und Pfarrer, ursprünglich auch der Tote mit Sarg (beim Kleriker), der in Marchants Partnern von Papst und Chorherr seine Parallele findet, aber auch M

Vgl. Abb. 20, wobei jedoch zu beachten bleibt, daß dies eine Rekonstruktion von mir ist, die die rohen Umrißlinien des schadhaften Gemäldes in Parallele zu ähnlichen Darstellungen mit Inhalt füllt.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

in den drei Toten des niederdeutschen Bilderbogenfragmentes (Abb. 17) und im ersten Toten des Lübecker Totentanzes (Abb. 21), ja auch im Partner des Doctors der Baseler Totentanzhandschrift. Ein neues, noch nie ausgewertetes Zeugnis für die Totentanzikonographie kann ich in einem Bilde des Simon M a r m i o n heranziehen: das 1454-59 gemalte Altarbild mit dem Leben des heiligen Bertin, das Abt Follastre für St. Martin in St. Omer stiftete. Marmion hat die Bildfläche in seiner Gudckastenmamer durch Architekturdarstellung in lauter kleinere Räume aufgeteilt. Man sieht durch ein gotisches Portal auf einen Kreuzgang, der durch Säulenarkaden von einem grasbewachsenen Hof getrennt ist und auf der ungegliederten Innenmauer einen Totentanzfries mit Unterschriften trägt. Man könnte beinahe an die Beinhaus-Arkaden von SS. Innocents denken und die dortige Pariser Danse macabre, denn wie in Paris sind in jeder Arkade drei Totentanzpaare zu sehen, und die durch zehn bis zwölf Linien angedeuteten Unterschriften wollen zweifellos den üblichen Aditzeilertext andeuten. Aber Marmion malte seit 1420 in Amiens, später in Valenciennes und mag einen provinziellen nordfranzösischen Totentanz im Auge gehabt oder auf Grund eines Bilderbogens und der Beschreibung des Pariser Totentanzes seine Darstellung erfunden haben. Sein Kreuzgang hat trotj der Arkaden ein Tonnengewölbe, das erst oberhalb des Gemäldefrieses ansetzt, und nur beim Durchblick durch den Hof wird der gemalte Totentanz durch die Außen-Arkaden gegliedert. Ganz phantastisch ist es, daß die dem Renaissancestil angenäherten Arkaden mit Tonnengewölbe sich an rein gotische Vordergrundarchitektur anschließen. Auch die ganz willkürliche Reihung der Figuren zeigt deutlich, daß Marmion nicht etwa den Ehrgeiz hatte, einen bestimmten Totentanz wiederzugeben. Er läßt sich aber die damalige Totentanzmode nicht entgehen und begnügt sich, bei den wenigen sichtbar werdenden Wandausschnitten beliebige Totentanzpaare sichtbar zu machen. Von Wert ist für uns diese Darstellung besonders deshalb, weil sie den Eindruck unverfälscht wiedergibt, den ein visuell eingestellter Mensch um 1455 vom Totentanz hatte. Der Gesamteindrude ist sehr viel rustikaler und erdverbundener als bei Mardiant und in La Chaise-Dieu! Der Spielmann (menestral), der nach Le F£vre's Text ein ausgesprochener Tanzmusiker ist, wurde bei Mardiant und in La Chaise-Dieu wie ein vornehmer Troubadour auffrisiert. Vermutlich war es auch in SS. Innocents so. Hier bei Marmion ist wirklich der gewöhnliche Tanzmusiker abgebildet, und dementsprechend hat er eine Trompete in Händen: das erinnert an die Spielleute der Baseler Totentänze, die ebenfalls Blasinstrumente

Marinions Bild und Le Fèvres Totentanzbilderbogen

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haben. Der Richter (Baillis) erscheint bei Marchant mit einem bis zum Boden wallenden T a l a r und großem Kopfaufputj, sicher einem höfischen Prachtgewand. Bei Marmion erscheint er als vierschrötiger Landrichter im landläufigen Knierode und mit dem Richterstab als Amtszeichen 35 ). Der Bauersmann (Laboreur) ist bei Marmion ein richtiger nordfranzösischer Bauer germanischen Typs, selbstbewußt und hochgewachsen, mit Schaftstiefeln; er hält zur Kennzeichnung seines Berufes einen Spaten in der Linken (Abb. 35), genau wie der Grever des niederdeutschen Bilderbogenfragments von 1430 (Abb. 17). Der Ritter (Chevalier) tritt nicht in höfischer Galakleidung auf wie bei Marchant und La Chaise-Dieu, sondern so, wie er dem Volk als Typ, als Idealbild einer anderen Welt erscheint: in blinkender Plattenpanzerrüstung und feuersprühendem Helm (Abb. 35). Wieder finden wir die Gestalten zu einem Reigen zusammengebunden, der sich von rechts nach links fortbewegt, die Toten durchwegs als nackte mumifizierte Leithen ohne Geräte (der Eingang des Reigens ist j a nicht zu sehen, wo möglicherweise Beigabe von Geräten ursprünglich ist), die Sterbenden mit der Selbstsicherheit, wie sie ihnen der einstige Stand gab. Ist es zu kühn, angesichts dieser erdhaften Darstellung anzunehmen, daß in der Provinz noch der ursprüngliche Totentanzbilderbogen Le F^vre's nachlebte und nicht das großstädtische, höfisch stilisierte Pariser Bild, wie es uns Marchant im wesentlichen getreu vermittelt? Die Vorstellung des großen Reigentanzes wird j a bei Le F£vre noch überall betont, während bei Marchant davon kaum noch etwas zu finden ist. Le Fevre betont in den Versen 6, 18, 25, 73, 135, 279, 320, 301, 306, 408, 459, 514 und 531 das Tanzmotiv. Zum Reigentanz gehört aber auch der Spielmann, der daneben sitjt und die Musik dazu macht: wir sehen es bei der Darstellung eines ländlichen Tanzes in Poitou in einer Pariser Handschrift des 15. Jahrhunderts (Abb. 19). Zum Totenreigen gehört also der Spielmann Tod, wie er in La ChaiseDieu, Lübeck und Berlin unter der Kanzel si§t. Im Blodcbuch 1465 sitjt so der Tod dudelsadcpfeifend dem Papst gegenüber. Dies wird ein feststehender Bildtyp gewesen sein, schon im lateinischen Totentanzbilderbogen. In den Baseler Totentänzen wurde er nur modifiziert. 35

Menestrel und Baillis sind an der Hinterwand der Arkaden zu sehen. Laboreur und Chevalier in starker perspektivischer Verkürzung an der rechten Arkadenwand; letztere habe ich Abb. 35 rekonstruiert wiedergegeben auf Grund eines Photos des Bildes von Marmion, für das idi der Direktion der Berliner Museen zu danken habe.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Auf der Schwelle des Beinhauses erscheinen bei beiden Gemälden zwei musizierende Totengestalten mit Pfeife bzw. Schalmei und Trommel (Abb. 13/14): zweifellos sind sie eine Verdoppelung des ursprünglichen Spielmannes Tod zu Füßen der Kanzel. Das mittelrheinische Totentanzbuch von 1485 macht aus den beiden Totenmusikanten ein Totenorchester von drei Schalmeibläsern und einem Trompeter (Abb. 27). Dieses Orchester beeindruckte Marchant so stark, daß er 1486 in seinem Miroir salutaire (der erweiterten Dansemacabre-Ausgabe vom 7. 7. 1486) ein ähnliches vierköpfiges Tanzorchester zwischen Prediger und Totenreigen einschob (Abb. 25), nur mit anderen Instrumenten, Instrumenten, die er auf anderen Blättern des deutschen Totentanzbuches vorfand: Dudelsack, Portativ, Harfe, Schalmei und Trommel. Vielleicht übernahm Marchant diese Neuerung deshalb so bereitwillig, weil in SS. Innocents ein Dudelsack spielender Tod unter der Kanzel abgebildet war, aber in der ersten Ausgabe von ihm übergangen war, da diese Bildfigur keine eigenen Verse hatte. Jedenfalls ließ es das Gefühl des Franzosen für Symmetrie nicht zu, daß eine Bildfigur ohne Verse blieb. Wir sahen es bei der Gestalt des Armen Mannes, die bei Le Fevre wohl noch eine stumme Staffagefigur neben dem Wucherer war (jedenfalls gibt es Handschriften der Danse macabre ohne Verse des armen Mannes). Dementsprechend mußte je^t 1486 jeder der vier Totenmusikanten seinen eigenen Aditzeiler bekommen, während der Deutsche sich mit einem generellen Vierzeiler für alle vier begnügt hatte. Wir sehen wieder, daß die musikalischen Motive des Totentanzes deutscher Sentimentalität entstammen und, soweit sie in Frankreich übernommen werden, ihre deutsche Herkunft nie verleugnen. Der Franzose bringt in dem Totengräbermotiv seine eigene Variante. Vermutlich werden in Le Fevre's Totentanzbilderbogen (1375) nur die beiden ersten Toten (die Partner von Papst und Kaiser) mit Sarg, Pickel und Schaufel ausgerüstet gewesen und so gewissermaßen als Führer „zum Grab, dem letjten Haus des Menschen", wie Le Fevre im Respit de la mort sagte, dem unterschiedslosen Reigen der übrigen vorangegangen sein. Aber solch ein Motiv kann wuchern. Der niederdeutsche Bilderbogen gab jedem Toten einen Sarg unter den Arm oder auf den Rücken (Abb. 17), nahm also das französische Motiv mit Inbrunst auf; aber er mochte das hergebrachte deutsche musikalische Motiv nicht missen und gab dem Partner des Junkers außer dem Sarg noch eine Schalmei zum Blasen. Im Lübecker Totentanz trägt nur der Partner des Papstes einen Sarg (Abb. 21): dies wird das Ursprüngliche für den französischen Bilderbogen sein.

Mardiants Buchausgaben und die Totentanzbilderbogen

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W i r werden also immer wieder und wieder auf eine ausgreifende und weitverzweigte Tradition hingewiesen, die ursprüngliche Motive aufnahm, variierte u n d weitergab. Die übliche Behauptung, die Maler hätten in Paris u n d anderwärts, wo ein Totentanz gemalt war, den Totentanz gesehen und dann aus dem Gedächtnis am anderen Ort nachgemalt, müssen wir als unhaltbar endgültig aufgeben. Ohne eine Bilderbogenproduktion sind Weitergabe von Bild und Text nicht denkbar. W i e will man die Übereinstimmung von Haltung, Kostüm oder Geräten der einzelnen Bildgestalten in aller Welt sonst erklären? Der Text selbst erfordert eine schriftliche Weitergabe: was liegt näher, als Bild und Text gemeinsam weiterzugeben? W i e die Maler der Zeit Musterbücher u n d Musterrollen benutzten, so auch die umlaufenden Totentanzbilderbogen; nach Erfordernis wurde der Bildtyp variiert und das Kostüm modernisiert. Das westfälische Bilderbogenfragment, ein stark beschnittenes Pergamentblatt aus der 1. H ä l f t e des 15. Jahrhunderts (1430?) ist ein urkundlicher Beweis für handgemalte Totentanzbilderbogen; der fast wörtlidi aus dem Französischen ins Niederdeutsche ü b e r s e h e Text weist auf handgemalte französische Bilderbogen als Quelle. Die ikonographisdie Verwandtschaft zwischen dem Ackermann auf Marmions Bild (Abb. 35) u n d dem Grever des westfälischen Bilderbogens (Abb. 17) führt ins Nordfranzösische und läßt die Annahme zu, daß wir es mit Ausläufern eines Totentanzbilderbogens Le Fivre's zu tun haben. Einen vollständig erhaltenen T o t e n t a n z b i l d e r b o g e n haben wir erst aus der Druckerzeit. Er wurde 1490 von Pierre L e Rouge für Verard gedruckt, ist aber auf das feinste bemalt, so daß fast der Eindruck eines vollständig mit der H a n d gemalten alten Bilderbogens entsteht '•). Die eigentliche Danse macabre ist (nach dem Vorgang von Mardiants Miroir salutaire von 1486) um die „Legende der drei Lebenden u n d Toten" bereichert und das Ganze so zusammengefügt, daß zwei fortlaufende Streifen übereinander entstehen. Die Holzschnitte sind Kopien von Marchants Bildern, geben aber statt der M

Bibl. Nat. Paris, Cab. des Estampes, Te. 8 rés. (GKW 7946). — Vier farbige Faksimile daraus bei A. C 1 a u d i n : Histoire de l'imprimerie en France au 15. et 16. siècle 2 (1900), Taf. 180; 184; die übrigen Holzschnitte nach späteren Ausgaben von Couteau und Menard (GKW 7951/52) ebda. 2, S. 176—86. D a der ursprüngliche Bilderbogen durch Aufziehen auf Pappe und Gegeneinanderkleben der Seiten in ein vierblättriges Klappbuch mit 8 Seiten verwandelt wurde, war die ursprüngliche Anordnung und Form nur schwer zu eruieren. Nach heutiger Anordnung verteilen sich die Holz-

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V. Der französisdie Totentanz und seine Auswirkung

renaissancehaften Doppelarkade Marchants eine gotisch stilisierte dreisäulige Doppelarkade, scheuen also die bei Marchant vermiedene Mittelsäule nicht. Die von Marchant 1486 eingeschobenen Figuren sind ausgelassen; vielleicht darf man dies wie die äußere Anordnung des Bogens selbst als Hinweis auf eine alte Bilderbogentradition buchen. Bei einer späteren Buchausgabe für Antoine Vérard durch die Drucker Gilles Coustiau und Jean Menart im Jahre 1492 wurden die gleichen Druckstöcke benu^t, aber gänzlich umgestellt und außerdem noch zwei kleinere Gedichte und ein Kolophon zugefügt. Das Ausmaß des Bogens beträgt etwa 50 X 190 cm, eine Größe, für die weder das Ausmaß der Buchdruckerpresse noch das Papierformat ausreichte. Eine Zerlegung in mehrere Teile war deshalb geboten; ein Zusammenkleben so großer Bilderbogen aus mehreren Stücken wird auch vorher schon üblich gewesen sein, da ein so langer Pergamentstreifen nicht aus einem Kalbsfell zu gewinnen war. Le Rouge benutjte drei Papierbogen von der Größe eines Doppelbogens der Gutenberg-Bibel, die mit der Schmalseite aneinandergeklebt wurden. Der letzte Bogen war nur auf der linken Hälfte bedruckt, die freie rechte Hälfte sollte wohl als Schutjblatt dienen. Bei dem Pariser Exemplar ist jedoch noch ein Pergamentbogen von gleicher Größe vorgeklebt, auf dessen rechte Hälfte das königliche Wappen gemalt wurde, während die freie linke Hälfte als Vorspann beim Aufrollen des Bilderbogens dienen sollte. Jedoch wurde der Bilderbogen dann zu bequemerer Aufbewahrung auf die Blattgröße der GutenbergBibel (50 X 36,5 cm) zusammengefaltet und später sogar durch Aufziehen auf Pappe und Zusammenkleben der freien Rückseiten in ein achtseitig"es Buch verwandelt. Das Bücherverzeichnis der Königlichen Bibliothek im Schloß Blois vom Jahre 1518 führt den Bilderbogen bereits (unter Nr. 40 als Danse macabre) auf, aber in die Pariser Nationalbibliothek gelangte er aus dem Besitj des Abbé de Marolies. Er wurde, wohl als man ihn auf Pappe aufzog und zusammenklebte (wobei die alte Bibliothekssignatur auf der Rüdeseite zugeklebt wurde) mit folgender Aufschrift versehen: schnitte folgendermaßen: S. 1: frei, S. 2: königl. W a p p e n , S. 3: Holzsdin. 1/2 und 11/12, S. 4: Holzsdin. 3/4 und 13/14, S. 5: Holzsdin. 5/6 und 15/16, S. 6: Holzsdin. 7/8 und 17/18, S. 7: Holzsdin. 9/10 und 19, S. 8: frei; diese Anordnung ist nur sinnvoll, wenn das Ganze als durchgehender Bilderbogen in zwei Reihen übereinander gesehen wurde! — Idi bin der Bibliothèque N a t i o n a l e in Paris für mehrfache ausführliche Antworten auf meine wiederholten A n f r a g e n zu großem Dank verpflichtet.

Der Pariser Totentanzbilderbogen als Vorlage für Schloß Blois

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Danse macabre, ou l'empire de la mort sur tous les états de la vie humaine, peinte contre le mur de la cour du chateau de Blois vers 1502, temps ou Louis XII., roi de France fit embellir ce lieu, occupé avant ce prince par les seigneurs de la maison de Champagne, ceux de la maison de Chatillon, comtes de Blois et par celles d'Orléans.

Man hat diese Bemerkung zunächst als einen urkundlichen Beleg dafür genommen, daß nach diesem Bilderbogen eine der Hofgalerien des Schlosses Blois ausgemalt war. Als dann wahrscheinlich wurde, daß die ursprüngliche umständliche Bibliothekssignatur Pulpito 1 contre la muraille de devers la court auf diese Formulierung abgefärbt hatte, verfiel man in übergroße Skepsis. Der Totentanz im Schloß Blois ist gut bekundet und Kopien der Kostüme einiger seiner Figuren waren auf Befehl des Königs für den Tragöden Talma angefertigt und noch Mitte des 19. Jahrhunderts in der Bibliothek Leber in Rouen vorhanden 3 7 ). Mag also die Formulierung durch die alte Bibliothekssignatur beeinflußt sein, die Tatsache selbst wird dem hochgelehrten Verfasser aus anderen Quellen bekannt gewesen sein. Eis bleibt also durchaus wahrscheinlich, daß der König 1502 nach Einnahme des Schlosses den Danse-macabré-Bilderbogen nach Blois gab, um dort danach ein Totentanzgemälde malen zu lassen, und nach Fertigstellung des Gemäldes verblieb dann der Bogen in der dortigen Schloßbibliothek. Wir haben also aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Pariser Totentanzbilderbogen nicht nur einen Nachfahren handgemalter Totentanzbilderbogen des 14. und 15. Jahrhunderts, sondern zugleich ein Dokument dafür, daß diese Bilderbogen als Malvorlage für Monumentalgemälde dienten. Der Zusammenfaltung in Buchformat und der Einverleibung in eine wenig benutzte Bibliothek haben wir es zu verdanken, daß dieser kunstvoll gemalte Bogen als ehrwürdiges Zeugnis unzähliger vergangener Bilderbogen der Nachwelt überliefert wurde. 5. D i e W i r k u n g d e r D a n s e d e m a c a b r é der s p a n i s c h e T o t e n t a n z

und

Die monumentalen Darstellungen, die die Danse de macabre in SS. Innocents zu Paris (1424/25), in Kermaria (1450/60), in La ChaiseDieu (1460) und vielen anderen französischen Städten gefunden hat, sind nur bruchstückhaft oder gar nicht erhalten geblieben. Soweit sich Textreste erhalten haben, stimmen sie mit der Danse de macabré der S1

Vgl. E. H. L a n g l o i s : Essai sur les danses des morts, Rouen S. 156; 207 und Anhang (Lettre de C. Leber), S. 4; 72.

1851,

156

V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Handschriften und Bücher überein. Wohl hat Guy Marchant in Ausnütjung des buchhändlerischen Erfolges seiner Buchausgabe von 1485 ein erweitertes Volksbuch Miroir salutaire pour toutes gens 1486 herausgegeben, in dem er in die ursprüngliche Danse de macabre einige Figuren (legat, duc, maistre d'escole, homme d'armes, promoteur, géolier, pèlerin, bergier, hallebardier und sot) einfügte und einen von Marcial d'Auvergne gedichteten Frauentotentanz anschloß. Hier handelt es sich aber um eine bloße Aufschwellung. Der Totentanz wird durch diese Zutaten und durch allerlei andere verwandte Gedichte zu einem Andaciitsbuch aufgeschwemmt. Wie sehr das rein Literarische überwiegt, mag man daraus ersehen, daß von der ganzen Schar der Danse macabré des femmes nur die Königin und Herzogin im Bilde vorgeführt werden, die übrigen Strophen aber ohne Illustration bleiben. Spätere Ausgaben fügen dann auch diesen Versen Bilder bei, aber diese umfangreichen Buchausgaben sind keine Volksbücher mehr, sondern für anspruchsvolle Leser gedacht. Hier reihen sich auch die unzähligen S t u n d e n b ü c h e r mit Totentanz-Bildern ein. Bei der Vigilia mortuorum aller dieser Horae, Officia beatae virginis. Livres d'heures, Ghetiden van onzer liever vrouwe, in den verschiedensten Sprachen gedruckt, leben die Danse macabré des hommes und die Danse macabré des femmes Marchants in zahllosen Randbordüren mit Einzelszenen nach. Es handelt sich vornehmlich um Druckwerke von Simon Vostre, Philipp Pigouchet, Antoine Vérard und Thielman Kerver®8), aber auch andere Drucke, z. B. der Hortulus animae, den M. Reinhardt 1491 in Klein-Troya druckte, bringen diese TotentanzRandbordüren. Meist bleiben die Bilder textlos oder nennen nur den Stand, aber besonders Thielman Kerver fügte gern ganz kurze Texte bei, zunächst einzelne lateinische Hexameter, dann — für niederländische Ghetiden — auch niederländische Reimpaare 39 ). Diese Verse 38

38

Eine Bibliographie dieser „Heures mit Totentänzen" bot bereits H. F. M a s s m a n n , in: Serapeum 2 (1841), S. 219—23, 225—39, sie wäre jetzt um manches zu ergänzen. Der lateinische Text nach einer Horae-Ausgabe von 1517 hrsg. N. C. Kist, in: Ardiief voor kerkelyke gesdriedenis 15 (1844), S. 468. — Der niederländische Text nadi Ghetiden onzer liever vrouwe von 1509 hrsg. F. A. Stoett, in: Noord en Zuid 16 (1893), S. 11—17. — S t a m m l e r s Meinung (Der Totentanz, 1948, S. 47), Kervers lateinische Totentanzhexameter «eien der Totentanzforsdiung bisher entgangen, beruht also auf einem Versehen. — Ich verdanke ein Exzerpt dieser Texte (da die Zeitschriften in Deutschland nicht erreichbar waren) der aufopferungsvollen Hilfe von Frl. Dr. F. Tinbergen (Delft) und Frl. Dr. A. Kiel (Den Haag). Die von S t a m m l e r (s. Anm. 23) S. 29 ff. bzw. S. 43 ff. aus einem humani-

Der Totentanz bei Mardiant und in den Stundenbüchern

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fußen natürlich genau wie die Bilder auf Mardiants Danse-macabreAusgaben, aber begreiflicherweise schimmert in den lateinischen Hexametern die französische Vorlag« stärker durch als in den niederländischen Reimpaaren, die nun wieder den lateinischen Text ins Niederländische umsehen oder eine ausführliche Umsetjung der französischen Achtzeiler in niederländische verkürzen. Die Abhängigkeit der lateinischen Hexameter von der Danse de macabre und die Lösung der niederländischen Verse vom Wortlaut der Vorlage wird an einigen Beispielen ohne weiteres deutlich. Der Papst: Paris v. 26. Le premier qui suis dieu en terre . . . v. 29. et comme autre m o r t me vient querre. (Kerver) Cum deus in terris habear, quid morte cadendum est. (Kerver) Macht heb ic alle banden te ontbinden. Nochtan wil mi die doot verslinden! D e r Astrolog: Paris v. 211/12. N e povez la morte retarder, cy ne vault rien astrologie. (Kerver) Sidera non d u r a m possunt a v e r t e r e mortem. (Kerver) D e n loep des hemels heb ic verstaen ende en kan d e n doot niet entgaen.

Der Erfolg und die literarische Wirkung von Marchants Dansemacabre-Ausgaben ist begründet durch die Blüte der Buchillustration jener Jahrzehnte. Man vergißt aber allzu leicht, daß der Preis dieser frühen Drucke ein sehr hoher war 4 0 ). Billiger war damals immer noch die handschriftliche Vervielfältigung. Die eine Danse-macabre-Handschrift 41 ) ist nicht nur später als Marchants Drucke, sondern hat auch deutlich die Ausgabe von 1486 bei seinen Miniaturen schon benutjt: das Totentanzorchester, das erst 1486 nach deutschem Vorbild der stischen Sammelcodex von 1510 veröffentlichten Baseler Menschenverse bieten eine Auswahl der lateinischen Totentanzverse Kervers, sind also aus einem von Kervers Drucken abgeschrieben. Entsprechende französische T o t e n t a n z verse aus einem Stundenbuch Kervers vgl. im A n h a n g S. 334. 40 F . G e l d n e r : Der Verkaufspreis des G. Zainerschen „Catholicon" von 1469, in: Festschrift E. Stollreither, Erlangen 1950, S. 37—42. 41 Bibl. N a t . Paris, Ms. Fr. 995 ( f r ü h e r : 7310, 3 A), bl. 24 ff. Die T o t e n t a n z p a a r e sind einzeln in einen Innenraum mit Säulen hineingestellt. Eine Abbildung der E i n g a n g s m i n i a t u r bei W . S t a m m l e r : Die Totentänze des MA., 1922, Abb. 6. — Eine genaue Datierung der Handschrift ist nach f r d l . A u s k u n f t der Bibl. N a t . nicht möglich, aber da der linke Totenmusikant der Eingangsminiatur eine ziemlich getreue Kopie des vierten Totenmusikanten in Marchants Druck von 1486 ist, muß der Schreiber der Handschrift diesen Druck gekannt und benutzt haben.

158

V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Danse macabre vorangestellt war, ist von dem Miniaturisten, auf zwei musizierende Tote reduziert, übernommen. Aber man darf wohl sagen, daß der Erfolg der Danse-macabre-Drucke vorbereitet war durch die Verbreitung des Pariser Totentanzes von 1424 in Handschriften und als Bilderbogen. Sehen wir von der literarischen Aufschwellung der Danse-macabre-Drucke ab und von Kervers Reduzierung dieser Verse auf einen einzigen lateinischen Hexameter (sie ist durch die Verwendung des Motivs als Randbordüre bedingt), so können wir bei der Feststellung bleiben, daß Frankreich nur einen einzigen Totentanztext besessen hat, der ohne Veränderung die handschriftliche und die monumentale Tradition wie noch den Drude beherrscht, und dieser eine Totentanztext ist der Le F£vre's vom Jahr 1375. Daß Le Fevre's Danse de macabre aber nicht eine erstmalige Neuschöpfung war, sondern eine Umarbeitung des aus Deutschland herübergekommenen lateinischen Totentanzbilderbogens, glaube ich mit den verschiedensten Argumenten erwiesen zu haben. Zugleich wurde deutlich, daß die Entwicklung vom zwanghaften Kirchhoftanz der Armen Seelen mit den Neuverstorbenen mehr und mehr zu einer allgemeinen Symbolik des Sterbens hinführte, wobei die namenlosen Toten zu Abgesandten und Stellvertretern des Todes wurden. Diese Entwicklung wurde durch Verblassen der ursprünglichen Totentanzvision und durch die volksläufige Verbreitung als Bilderbogen und illustriertes Volksbuch hervorgerufen und brauchte keinen Anstoß von außen. In der bisherigen Totentanzforschung wird ein gänzlich anderes Entwicklungsbild gegeben. Der lateinische Totentanz soll in Frankreich als ein Tanz der Toten entstanden sein. Unabhängig davon soll sich aus dem Streitgedicht von Tod und Leben ein kunstvolles Gedicht entwickelt haben, in dem der Tod nacheinander alle Stände vorlädt, init ihnen diskutiert und sie zum Tanze führt. Dies Gedicht soll in lateinischer Sprache in Deutschland gedichtet sein, aber zuerst in Spanien seine Vollendung erhalten haben. Aus der Vereinigung des französischen Totentanzes und des lateinischen Kunstgedichtes sei dann die Pariser Danse de macabre entstanden, deren Totenstrophen deshalb zwischen der Vorstellung eines tanzenden Toten und der eines allmächtigen Todes schillern. Dieses geistreiche, aber doch sehr unwahrscheinliche Entwicklungsschema hat man noch weiter kompliziert durch Einschaltung des Mors de la pomme in den Totentanzstammbaum. Die Handschriften des Mors de la pomme und die Form des Dreigesprächs stammen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, trotjdem glaubt man sich angesichts

Danse de macabré

und der spanische Totentanz

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der Berührungen mit dem lateinischen Totentanztext und mit der Danse de macabre zu dem Schluß berechtigt, daß eine ältere, nodi dialogische Fassung des Mors de la pomme die gemeinsame Quelle für den lateinischen und französischen Totentanz gewesen sei 42). Der einfachere, philologisch naheliegende Weg, daß der lateinische Totentanz des 14. Jahrhunderts vom Dichter des Mors de la pomme im 15. Jahrhundert benütjt sein könne, wird überhaupt nicht geprüft. Für alle diese Fragen ist wesentlich, in welchem Verhältnis die spanische Danza general de la Muerte4S) zur französischen Danse de macabre steht. Bisher wurde die Danza als indirekte Quelle der Danse de macabre angesehen. Aus dem Streitgespräch zwisdien Tod und Leben sei ein lateinisches Streitgedicht vom Tanz des Todes entstanden, das einerseits als Danza general ins Spanische umgesetjt, andrerseits die eine Hauptquelle für die Danse de macabre geworden sei 44 ). Diese These baut auf einer irrtümlichen Datierung der Danza general auf. Da die Danza general zusammen mit Gedichten des Rabbi Santob überliefert ist, machte die ältere Forschung den Trugschluß, sie sei auch in gleicher Zeit wie die Gedichte des Rabbi Santob, also um 1360, entstanden. Als Werk von 1360 könnte die Danza general die früheste landessprachliche Totentanzdichtung sein, nur wäre es seltsam, wenn unabhängig voneinander zwei in den Formulierungen sich nahekommende Gedichte entstanden wären, deren eines einen Dialog aller Stände mit dem Tod, deren anderes einen ähnlichen Dialog mit namenlosen Toten bringt. Die ganze These wird aber dadurch hinfällig, daß die Danza general stilistisch durchaus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts angehört 45 ). Tro^dem hat man das 42

W . M u l e r t t : Die französischen Totentänze, in: Berliner Beiträge z. rom. Philol. 1 (1929), S. 132—52. 43 M a d r i d Bibl. Escorial Ms. b. IV. 21, bl. 109a—129a. — Hrsg. K a r l A p p e l , in: Beiträge z. roman. u. engl. Philol., Breslau 1902, S. 1 ff. (hier die falsche Datierung der Handschrift des Escorial); hrsg. G. T i c k n o r : Geschichte d. schönen Lit. in Spanien 2 (1867), S. 598—612. " W . S t a m m l e r . Die Totentänze des MA, 1922, und: Der Totentanz 1948. 45 J . L. K l e i n : Geschichte des Dramas 8 (1870), S. 260—83; G. B a i s t , in: G. Gröber: G r u n d r i ß d. rom. Philol. 2, 2 (1897), S. 428; J. H u i z i n g a : Herbst des MA, Münch. 1924, S. 192; J . Fitzmaurice-Kelly. Gesch. d. span. Lit., Heidelb. 1925, S. 84. — Abweichend J u a n H u r t a d o y A n g e l G o n z a l e s P a l e n c i a : Historia de la literatura española, 3. Aufl., Madrid 1932, S. 196/97, Nr. 162. Nach freundlicher Auskunft der Biblioteca de El Escorial vom 15. 5. 1948 ist das Ms. cast. b—IV—21 von einer H a n d und mit der gleichen Tinte geschrieben und damit jede Möglichkeit, die Niederschrift der Danza de la Muerte vor 1480 zu datieren, ausgeschlossen.

160

V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Gedicht dem 14. Jahrhundert zugewiesen, weil die Handschrift, in der es enthalten ist, angeblich vor 1400 entstanden war. Eine ernsthafte Nachprüfung der Handschrift wurde nicht vorgenommen. Nun ist jedoch fast die ganze Handschrift von derselben Hand und mit gleicher Tinte in gotischen Lettern geschrieben und zwar auf Papier mit Wasserzeichen aus den Jahren 1465—14794®), sie kann also erst um 1480 niedergeschrieben sein. Man wird ein stilistisch junges Gedicht in einer Handschrift von 1480 nicht ins 14. Jahrhundert setjen, sondern höchstens ins J a h r 1460. Als direkte oder indirekte Quelle der Danse de macabre von 1375 kommt es also nicht in Frage. Diese späte Datierung würde aber nicht verbieten, einen direkten oder indirekten Zusammenhang mit dem Lübecker Totentanz von 1463 herzustellen, wenn die Gemeinsamkeiten so schwerwiegend wären, wie bisher angenommen wurde. Aber leider besteht diese Gemeinsamkeit überhaupt nicht im Inhaltlichen, sondern nur im Formalen: hier wie dort spricht nicht der Tod als erster, sondern antwortet auf die Worte der Sterbenden und ruft nur in einem legten Vers jeweils den nächsten Menschen zum Totentanz auf. Der Lübecker Totentanz soll also den Inhalt von der Danse de macabre, die Form von der spanischen Danza general oder ihrer angeblichen lateinischen Vorlage haben. Entspricht es der Arbeitsweise mittelalterlicher Dichter, Form und Inhalt aus getrennten Quellen zu beziehen? Da aber keinerlei inhaltliche Gemeinsamkeiten vorhanden sind, wird man für die formale Gemeinsamkeit eine andere Erklärung suchen müssen: voneinander unabhängige Entwicklung aus den Gegebenheiten des Stoffes. Es besteht durchaus die Möglichkeit, daß der spanische wie der niederdeutsche Text die Keime, die in der Danse de macabre für eine solche formale Anordnung des Dialogs lagen, unabhängig voneinander zur Reife gebracht haben. Nur müssen wir erst erweisen, daß die Danza general die Danse de macabre gekannt und verwertet hat. Ehe wir diesen Nachweis führen, muß noch eines Versuches gedacht werden, von musikwissenschaftlicher Seite her Spanien als Ursprungsland des Totentanzes zu erweisen 47 ). Einziges Beweisstück ist das kirchenlateinische Tanzlied Ad mortem festinamus, das mit zwei in der Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen katalanischen Liedern zusammen in einer Montserrater Handschrift überliefert ist. Diese 40

F r . J u l i á n Z a r c o C u e v a s : Catalogo de les manuscritos Castellanos de la Real Biblioteca de El Escorial 1 (1924), S. 57. 47 O t t o U r s p r u n g : Spanisdi-katalanisdie Liedkunst des 14. Jh., in: Zsdir. f. Musikwiss. 4 (1921/22), S. 136—60.

Die Entstehungszeit des spanischen Totentanzes

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Lieder wurden vermutlich von Montserrat-Pilgern bei Reigentänzen gesungen, die vor der Kirche, also auf dem Friedhof, getanzt wurden, und da das Lied mit Wir eilen zum Tode beginnt, sei es ein echtes „Totentanzlied" und der Keim aller Totentänze! Unklar bleibt, wie ein chorisches Reigenlied über den Tod sich weiterentwickelt haben soll zu der Vorstellung, daß jeweils die Vertreter der einzelnen menschlichen Stände mit den Toten einen Reigen tanzen. Dieses sogenannte Totentanzlied hat keine andere Beziehung zum Thema des Totentanzes als das Motiv der Weltverachtung. Die Weltverachtung bildet den Inhalt der Rahmenpredigten des lateinischen Totentanzes, und das wird ausdrücklich betont, wenn es in der Heidelberger Totentanzhandschrift heißt Alius doctor, depictus praedicando de contemptu mundi. Die Predigt der Weltverachtung hat der Totentanz aber mit einer unermeßlichen Zahl anderer Literaturwerke gemein, und man kann diese ganze Contemptus-mundi-Literatur nicht einfach als Totentanzliteratur bezeichnen, vielmehr ist der Totentanz eine ganz spezielle und eigenartige Ausprägung dieses Motivs. Das Lied Ad mortem festinamus ist, auch wenn es von Montserratpilgern zum Reigen gesungen wurde, kein Totentanzlied, sondern ein Bußlied, das in den Gedanken mündet: Peccare desistite! Außerdem ist der Text erst nachträglich der Tanzmelodie untergelegt, denn die zweite Zeile Scribere proposui de contemptu mundano deutet auf rein literarische Haltung des Verfassers. Die erste Zeile Ad mortem festinamus, peccare desistamus fällt völlig aus dem Rhythmus des Liedes heraus und kann erst später unorganisch vorangese^t sein 48 ). Das Lied begann früher gleich mit dem Verse: Scribere proposui contemptu de mundano (so müssen wir statt de contemptu mundano um des Rhythmus willen ansehen). Die Entstehung in Spanien ist überhaupt nicht gesichert, es kann ebenso gut von Pilgern aus Deutschland oder Frankreich nach Montserrat mitgebracht sein, und eine ältere und bessere Fassung des Liedes mit dem Anfang Scribere proposui findet sich auch bereits in einer französischen Handschrift von 1267 49). Hier findet sich auch die in Montserrat fehlende Strophe, 48

D i e s e Z e i l e f ä l l t auch durch die W i r - F o r m , durch den Binnenreim und durch den Widerstreit zwischen metrischem und natürlichem Akzent, den d i e V a g a n t e n p o e s i e nicht kennt, aus dem Rahmen der übrigen Verse heraus.

4t

Hrsg. E d e l s t r a n d d u M e r i l : Poesies populaires latines du m o y e n ä g e , Paris 1847, S. 127. — Vgl. auch E r k - B ö h m e : Dt. Liederhort 3 (1925), S. 488, N r . 1688.

11

Rosenleld,

Totentanz

162

V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

die den weitverbreiteten Contemptus-mundi-Topos auf eine klassische Formel bringt: Ubi sunt, qui ante nos in hoc mundo fuere, Venies ad tumulos, si eos vis videre, cineres et vermes sunt, carnes computruere.

Es ist das also eine Strophe, die später im studentischen Gaudeamus igitur modifiziert wiederklingen sollte. In der französischen Handschrift von 1267 schließt sich jedoch der Kehrreim: Surge, surge, vigila, Semper esto paratus! an und beweist bereits für Frankreich eine Verwendung als religiöses Chor- und Reigenlied. Die an dieses Lied geknüpfte These, Spanien sei die Urheimat aller Totentänze, ist in jeder Beziehung unhaltbar. Es bleibt dabei, daß in Spanien weder alte Totentanzgemälde noch alte Totentanztexte existiert haben. Die Danza general de la muerte ist ohne Bilder überliefert, sie steht nicht nur in einer späten Handschrift von 1480, sie ist auch innerlich jung, höchstens aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, und ist eine rein literarische Kunstdichtung. Hier hat ein Mann mit literarischem Ehrgeiz das alte Thema aufgegriffen und künstlerisch gestaltet. Welche Quellen haben ihm dabei zu Gebote gestanden? In der gesamten Totentanzforschung kann man lesen, daß sidi die Danza general de la Muerte selbst als trasladazion, als Übersetjung bezeichne, und dies war Anlaß, eine lateinische Urform anzunehmen. Dabei steht in der Handschrift keineswegs, daß der Text eine Übersetzung sei, sondern es heißt: Prologo en la trasladazion, „Prolog in Obersetjung", und dann folgt eben dieser Prolog, eine Inhaltsangabe, ein Resümee in spanischer Sprache, etwa 15 Zeilen: Acqui comienfa la d a n j a general, en la qual tracta commo la muerte dise d todas criaturas que paren mientes en la breviedad de su bida e que della mayor cabdal non sea fecho que ella meresfe. E asy me mo les dise e requiere que bean e oyan bien e oyan bien lo que los sabios predicadores les disen e amonestan de cada dia, dando-les bueno e sano consejo que pugnien en faser buenas obras por que hayan conplido perdon de sus pecados. E luego syguiente mostrando por espiriencia lo que dise, llama e requiere a todos los estados del mundo que bengan de su buen grado o contra su boluntad: comenfando dise ansy.

Dann erst beginnt der Text des Totentanzes. Wir dürfen annehmen, daß dieser Prolog, diese Inhaltsangabe in der Vorlage lateinisch gegeben war, und daß die vorliegende Sammelhandschrift diesen lateinischen Text erstmals ins Spanische umgesetzt hat. Audi dem französischen Totentanz gehen in einigen Handschriften lateinische Verse voraus. Eis lag für gelehrte Sdireiber ja nahe, in der allgemeinen Umgangssprache der Gelehrten Bemerkungen vorauszuschicken, gerade

Der spanische Totentanztext Umarbeitung der Danse de macabré

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weil es sidi um ein W e r k in der Spradie des gewöhnlichen Volkes handelt. Über den eigentlichen Text der Dichtung sagt diese Bemerkung nichts aus. Aber wenn die Danza general de la Muerte sich audi nicht als Uberse^ung bezeichnet und auch tatsächlich keine getreue Übersetzung einer vorhandenen Totentanzdiditung ist: daß sie eine freie, souveräne Bearbeitung von Le Févre's Danse de macabré ist, kann sie nicht verleugnen! Deutlich bleibt die Personenfolge von Le Févre's Text die Grundlage. Ausgelassen werden der Richter, der Magister, Bürger, Kartäuser, Polizeisergeant, Liebhaber, Spielmann, Kaplan u n d Kind, eingefügt werden statt dessen außer dem Herzog eine Anzahl geistlicher Würdenträger (Dediant, Ardiidiakonus, Diakonus, Subdiakonus, Sakristan) und einige typisdi spanische Gestalten: der Pförtner des Königs, Kassierer, Steuereinnehmer, jüdischer Rabbi, maurischer Hoherpriester und der Almosensammler, so daß statt der 30 Standespersonen der Danse de macabré 33 Figuren vom T o d e zum Tanze aufgefordert werden. Der Hauptteil der Personen der Danse de macabré, 21 an der Zahl, sind beibehalten, auch die Reihenfolge ist bis auf kleine Umstellungen dieselbe, die Mehrzahl der neu zugefügten Figuren sind lediglidi der letjten Gestalt des französischen Werkes, dem Eremiten, nachgestellt. W e r die Personenfolge bis zum Eremiten an sich vorüberziehen läßt, hat ganz den Eindruck des französischen Totentanzes: Papst, Kaiser, Kardinal, König, Patriarch, Herzog, Erzbischof, Connestable, Bischof, Ritter, Abt, Junker, Dechant, Kaufmann, Ardiidiakonus, Advokat, Domherr, Arzt, Pfarrer, Bauer, Benediktinermönch, Wucherer, Franziskaner, Pförtner, Eremit. Eine für Le Févre so kennzeichnende, ganz der damaligen französischen Geschichtssituation entsprungene Gestalt wie die des Connestable allein verrät, daß der französische Totentanz die Grundlage bildet. In Spanien wurde das Amt des Connestable, des Kronfeldherrn zwar im J a h r e 1382 nach dem Vorbilde Frankreichs eingeführt, blieb aber bedeutungslos. Der Spanier sah sich demzufolge audi veranlaßt, den Herzog, dessen W ü r d e in Spanien die Hauptrolle spielte, in seine Dichtung vor dem Connestable einzufügen. D a der spanische Autor seine Verse nicht zur Erläuterung von Bildern oder zur Verbreitung als Bilderbogen oder Bilderbuch dichtete, sondern als zwedcfreie religiöse Dichtung, kann er die Register voll ziehen und braucht nicht zu kargen u n d sidi auf eine bestimmte Strophenzahl festzulegen. Diese Möglichkeit nutjt er besonders am A n f a n g aus. Der Tote erhält das erste Wort, dann erst kommt wie in der Danse de macabré und allen Totentänzen der Prediger zu

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Wort. Der Tod spricht vier Strophen, der Prediger eine, Bueno e sano consejo zwei Strophen, dann erst folgt der eigentliche Aufruf des Todes zum Tanz an alle Menschen, aber noch einmal schiebt sich ein kleines Intermezzo mit zwei jungen Mädchen ein, ehe endlich mit Strophe 11 die Aufforderung zum Tanz an den heiligen Vater erfolgt und das Gedicht in regelmäßigem Wechsel die Strophen der aufgerufenen Menschen und die Antwort des Todes darauf in 79 Strophen bringt. Nichts kennzeichnet so sehr das freie Schalten des Dichters als die Tatsache, daß die traditionelle Gestalt des Predigers zwar beibehalten, aber gänzlich in den Hintergrund gedrängt wird. Eine Strophe darf er sprechen, nachdem der Tod in drei Strophen die eigentliche Einleitung gegeben hat, und von neuem spricht der Tod dann vier eindrucksvolle Strophen. Aus der seelsorgerlichen Zweckdichtung des Totentanzes wird eine richtige Todesdichtung, und wenn die dialogische Form und die Standesreihung auch beibehalten ist, dem Geiste nach ist es ein Gedicht vom Triumph des Todes. Das Schillern zwischen der alten Vorstellung, daß die Toten mit den Sterbenden tanzen, und der neuen, daß der Tod die Menschen zum Tanze ruft, das im französischen Totentanz noch nicht beseitigt ist, hier in der spanischen Dichtung ist es eindeutig zugunsten des Todes entschieden. Aber es ist nicht der Spielmann Tod, so oft er auch die Mahnung Danzad ausspricht, es ist vielmehr der Triumphator Tod, der in Selbstherrlichkeit und in tönenden Worten „alle Menschen, die in der Welt sind und jeglichen Standes" zu seiner danza mortal aufruft. Id> bin der Tod, der allen Kreaturen gewiß ist, die in dieser W e l t hier leben. W a s folgst du eifrig eines Daseins Spuren, das du, o Mensch, so schnell dir siehst entschweben?

So überseht H. E. Klein die Eingangsworte, in denen der Tod zugleich als Prediger der Weltverachtung, De contemptu mundi, auftritt wie der Prediger am Eingang der übrigen Totentänze. Kann es Zufall sein, daß in der ersten Zeile, in dem eierte ä todas criaturas die erste Zeile von Le Fevre's Text O creature raisonnable wiederklingt? Ist es Zufall, daß der Tod zunächst zwei schöne Jungfrauen zum Tanz auffordert, trotjdem aber (wie bei Le Fevre der erste Tote) zum Papst sagt, er solle den Anfang machen? Ist es Zufall, daß sich hier die Wortanklänge geradezu häufen?

Der spanische Totentanztext Umarbeitung der Danse de macabre

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Man vergleiche v. 88 Danzad sin mas de-tardar mit dem französischen v. 18: Quoi quil tarde ainsi danceres, v. 84 Comienze D sotar mit v. 21 VOM commenceres, v. 81 santo padre es mtiy alto sennor mit v. 21 dam papecomme le plus digne seigneur, v. 82 que en todo el mundo non ay su par mit v. 33 vous le non pareil du monde, v. 92 e non me valer le que dar solia, beneficios e honoras e grand sennoria mit v. 32 peu vault honneur, v. 94 tobe en el mundo, pemando vevir mit v. 30 encore point morir ne cuidasse, v. 113 Emperador muy grande en el mundo potente mit v. 34/33 grant emperiere-non pareil du monde! Überall sind es wörtliche Anklänge, überall zeigt sich, daß das ältere französische Gedicht noch verhältnismäßig verhalten u n d schlicht ist, da der Dichter noch recht stark unter dem Eindruck eigener Todesnot steht, aber in Spanien von einem souveränen Dichter in rauschende Patbetik verwandelt wird. Gegenüber der monologisch-elegischen H a l t u n g der Sterbenden im französischen Totentanz zeigt der spanische Autor sein dichterisches Können u n d den Willen zu individueller Charakterisierung in der Auflockerung u n d Variation der Reden. Der Condestable r u f t Strophe 26 nach seinem Kammerdiener, seine P f e r d e zu satteln, um noch dem T o d e zu entfliehen, que esta es la danza, que disen morir, „denn das ist der Tanz, den m a n sterben heißt". Der Junker r u f t Strophe 34 seine D a m e n zu H i l f e : Duennas e doncellas, aved de mi duelo! Der K a u f m a n n redet Strophe 38 den T o d unmittelbar an — im französischen Totentanz gibt es solche unmittelbare A n r e d e nicht! —: O muerte tu sierra a mi es grand plaga! Der Archidiakonus klagt Strophe 40 emphatisch die trügerische W e l t an: O mundo vil malo e falleszedero! Der König r u f t Strophe 28 seinen Rittern ein Lebewohl zu:

Valia, valia los mis caballeros, Adios mis vasallos, que muerte me tranza! Auch der K a u f m a n n sagt seinen Gildegenossen Adieu (Str. 38): Adios, mercaderos, que voyme d finar. R u f t der Papst den Schutj Christi u n d der J u n g f r a u M a r i a an, so empfiehlt sich der Mesner Str. 76 mit einem Adieu der G n a d e der Heiligen: Adios, me encomi-

endo y a sennor San Helices! G e r a d e diese Adios der Danza general zeigen deutlich, daß der Spanier Le Fevre's Danse de macabre nur zu gut gekannt u n d ihn mit Gewinn ausgeschlachtet hat. L e Fevre hat bei den beiden „Salonlöwen", beim Junker u n d beim Liebhaber (v. 170 und 370 ff.), diese Adieu eingeführt, um die Oberflächlichkeit u n d Galanterie dieser Gestalten herauszuheben. Bei beiden entwickelt sich dieses Adieu durchaus aus der elegischen H a l t u n g : es ist ein Valet an die Welt u n d ihre seichten Vergnügungen: „Adieu Kurzweil, Adieu Vergnügen, Adieu, ihr Damen, ich kann nicht mehr lachen", sagt der Junker

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

v. 171/72. Ganz ähnlidi und doch einen Grad oberflächlicher drückt es der bürgerliche Stutjer, dieser Vertreter der jeunesse doree v. 370 f. aus: „Adieu, Liebeleien, zu früh geht die Jugend zu Ende, Adieu Hüte, Blumensträuße, Blümdien! Adieu, ihr Liebchen und Dirnen, denkt oft an midi!" Dieses Adieu an den Karneval der Welt ließe sich nicht aus den männlichen Abschiedsworten herleiten, die der König an seine Ritter und Vasallen im spanisdien Totentanz riditet. Aber es läßt sich umgekehrt begreifen, wie Le Fivre's Vorgang den Spanier dazu führte, durch diese und andere Anreden und Grüße an die Zurückbleibenden den Text bewegter, lebendiger, kurz: dramatischer zu gestalten. Was bei Le F£vre ein Mittel individueller Charakterisierung war, wird bei dem jüngeren Spanier zu einem durchgängig und überreichlich gebrauchten stilistischen Mittel und Schema. In den Rahmen dieser stärkeren Dramatisierung gehört es auch, daß der Tod in der Dänza general dem Sterbenden antwortet und dann im achten Verse den nächsten Menschen zum Tanz auffordert. Genau wie im spanischen Totentanz, so antwortet auch im Lübecker Totentanz von 1463 der Tod dem Menschen und ruft im achten Vers den nächsten heran an den Tanz. Die Anrufe Danzad, imperante, Venga el cardenal!, Vos, rey poderoso, vcnit ä danzar!, Venit vos, Obispo, d ser mi vasallo!, E vos, Escudere, venit al officio, E vos diacono, venit d leczion!, Venga et que recabda, e danze ayna!, sie klingen ganz ähnlidi wie in den Lübedcer Versen die Aufforderungen: Her kaiser, wi moten dansen!, Du ker nu her, frou keiserinne!. Holt an, volge my, her kardinale!, Her bisdiop, nu holt an de hantl, Kanonik, heb her an den dans!, Volghe na, meister medecin!, Her kappelan, lange her de hant!, Klusenaer, volghe naerl, Kum to min reigen, veltgebur!, Junkvrou, mit di ik dansen beghine!

Muß man diese formale Ähnlichkeit zwischen dem spanischen und lübeckisdien Totentanz, die im Inhalt keinerlei Parallele findet, auf eine gemeinsame Quelle zurückführen? Sicherlich nicht! W a r es wirklich ein so großer Schritt dazu, regelmäßig durchzuführen, was in der gemeinsamen Quelle, in der Danse de macabre, wenigstens in vier Fällen ähnlich vorgeführt wurde? Im französischen Totentanz spricht im allgemeinen der Tote erst, dann der Sterbende. Bei drei Figuren, dem Kaufmann, dem Arbeiter und dem Kaplan antworten jedoch die nachfolgenden Toten, ehe sie sich ihrem Hintermann zuwenden. Wenn man nun in den namenlosen Toten nicht mehr nur die Abgesandten des Todes sah, sondern eine Personifikation des Todes selbst, so lag es nahe, nach dem Muster dieser drei Strophen jetzt ganz konsequent dem Tod zunächst eine Antwort auf die Reden der Sterbenden in den

Der spanische und der Lübecker Totentanz

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Mund zu legen. Gerade wenn es nidit mehr ein Toter, sondern der Tod selbst ist, und wenn seine Opfer jetjt nicht mehr nur ergeben ihr Los bejahen, sondern sidi mit Widerreden und Bitten um Gnade hervorwagen, kann der Tod ihre Reden nidit unbeantwortet und unwidersprochen lassen. Die genannten Strophen der Danse de macabre gaben der Antwort ein, zwei und vier Verse Raum, aber die letjte Totengestalt, die keinen Hintermann mehr hat, konnte bereits alle acht Verse zur Antwort auf die Worte des vorangehenden Eremiten verwenden, wobei es sidi allerdings um Zustimmung zu der todesbereiten Haltung dieses Gottesmannes handelt: v. 505 C'est bien dit ainsi doit on dire, il n'est qui soit de mort délivré. Qui mal vit il aura du pire: sy pense diascun de bien vivre.

Dieu pesera toull a la livre, bon y fait penser soir et main, meilleure science n'a en livre: il n'est, qui ait point de demain.

So konnte das Vorbild dieser Strophen der Danse de macabre den Spanier wie den Niederdeutschen unabhängig voneinander dazu führen, konsequent dem Tod die Antwort auf die Reden der Sterbenden zu geben. Andrerseits war der Aufruf der einzelnen Menschen im französischen Totentanz schon so eindrücklich durchgeführt, daß man sidi diesem Motiv kaum entziehen konnte. Aus der geistreichen elegischen Haltung des sonstigen Textes stechen diese Aufrufe genau so grell und dramatisch heraus wie später im spanischen und hiederdeutsdien Text: Da beißt es: Cardinal, suivons!, Venez, noble royf, Je vous mainne à la danse, gent connestable, Archevesque, vous ventes apres, Chevalier, me suives, Avances nous, gent escuier, dansez, Abbé venez. Baillis, venez, Bourgois, hastez vous, Alez marchant. Usurier venez, Advocat venez, Venez après, homme nourry en hermittnge! Ich meine, man spürt es, d a ß die spanischen Venga und Venit auf die französischen Venez zurückgehen und die niederdeutschen Volghe naer auf die französischen Venez apres und Suivre.

Wir brauchen also keine andere Quelle für die spanische Danza général und den Lübedcer Totentanz von 1463 einzusehen. Die Danse de macabre bot in nuce bereits die Tendenz, eine wirksame Antwort auf die Worte der Sterbenden zu geben und ihnen zuvor durch einen herrischen Anruf das Stichwort zum Sprechen zu geben. Wenn die namenlosen Toten zur Personifaktion des Todes selbst wurden — das ist erstmals im spanischen und im Lübedcer Text der Fall — so lag die konsequente und schematische Durchführung dieser latenten Tendenz der Danse de macabré nahe, und für den niederdeutschen Textdichter um so mehr, als er in Lübeck wahrscheinlich einen älteren

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

niederdeutschen Text vorfand, der noch wie der ursprüngliche Würzburger Totentanz die Rede der namenlosen Toten als Antwort auf die Monologe der Neuverstorbenen bot. Daß hier also keine unmittelbare Beziehung zwischen dem spanischen und dem niederdeutschen Text vorliegt, sondern nur das latente Vorbild der gemeinsamen Quelle, der Danse de macabre, wird zur Gewißheit, wenn man die verschiedene Art des Aufrufs durch den Tod in beiden Texten beachtet. Im niederdeutschen Text schwebt überall die Vorstellung vor, daß der Tod tatsächlich dem Angerufenen die Hand reicht und mit ihm davontanzt. Ganz deutlidi sagt es der Tod zum Papst: Dantse wy voer, ik und du. Dem Spanier, der ja frei von jeder Illustration ein reines Kunstgedicht schuf, liegt diese Vorstellung eines wirklichen Tanzes völlig fern, trotj all der vielen Danzad, die sein Text noch bietet. Bei ihm ist „tanzen" eine reine Metapher für „sterben"! Er erseht es dann j a auch durch „Kommen zum Dienst", „Kommen zur Lektion", und ganz deutlich sagt es der König: Que esta es la danza, que disen morir „Dies ist der Tanz, den man Sterben nennt". W i r denken an Le Fèvre's: La danse de macabre s'appelle, que chacun a danser apprent (v. 5) oder die Stelle im Respit de la mort: Je fis de macabré la danse, qui tout gent maine à sa trecke et à la fosse les adresdie, qui est leur derrière maison. Dem Deutschen war das Tanzmotiv so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er es auch in den Franzosen überall hineinlas. Der spanische Dichter aber kannte es nicht — vielleicht lag ihm eine nicht illustrierte Handschrift des Danse-macabré-Textes vor —, ihm war es eine bloße Metapher, die er unverstanden von dem Franzosen übernahm. Er sieht nicht mehr das Bild des Reigens vor sich, ihm ist die danza de la muerte, wie er in der 8. Strophe sagt, eine danza mortal de los naszidos, que en el mundo sois de qualquiera estado, kurz gesagt: eine Allegorie des Sterbens. So steht die Danza général de la muerte abseits vom lebendigen Strom der religiösen Bilderdichtung des Totentanzes, völlig losgelöst von den volkhaften bildhaften Vorstellungen der ursprünglichen Totentanzvision. Das Werk eines Literaten von hoher Kultur und großem Können, aber eben nur ein Literaturwerk, ohne den tragenden Boden eines ergriffenen Publikums und deshalb ohne Resonanz und tiefere Fortwirkung. Die Erweiterung des Gedichtes von 79 auf 136 Strophen, die im Jahre 1520 in Sevilla erschien, war wiederum nur ein Stüde Literatur. Seit 1485 erschienen j a zahlreiche französische Danse-macabré-Ausgaben, seit 1486 durch FortseÇungen und andersartige Zusätje zu einem Andachtsbuch erweitert. Dieser Konjunktur war Pedro Miguel

Der spanische, der Lübecker und der englisdie Totentanz

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Carbonell etwa 1495 mit seiner katalanischen Übersetzung gefolgt. Er hatte zwischen den Eremiten und den toten König fünf Personen, die die Danse de macabre nicht kannte, eingefügt: Donsella, Monge, Vichia, Maridada, Kotari, während t r sich sonst um wörtliche Übersetzung bemühte. Man sieht dies gleich am Eingang, der wirklich wort-wörtlich den französischen Text gibt: O creatura rahonnable, qui desiges vida terrenal, tu has argi regia notable, per ben finir vida mortal. Dank der verwandten Sprache sind es durchwegs sogar die gleichen Wortstämme. Seiner eignen Phantasie ließ er dann 1497 in einer Fortsetzung die Zügel schießen. Dieser Konjunktur schloß sich also die erweiterte Danza general de la muerte vom Jahre 1520 an. Volkstümlich ist der Totentanzgedanke auch dadurch in Spanien nicht geworden. Des Tuchsdierers Juan de Pedraza Farsa llamada Danga de la muerte von 1551 ist schon nach Art seiner Personen (Papst, König, Dame, Hirt, Vernunft, Zorn und Verstand) keine Dramatisierung des Totentanzes, sondern eine erbauliche Moralität, die sich vom Totentanz kaum mehr als den Titel borgt.

6. D i e D a n s e d e m a c a b r e u n d d e r e n g l i s c h e und italienische Totentanz Hat der Ruhm des Pariser Wandgemäldes den spanischen Dichter um 1460 zu seiner Danza general de la Muerte angeregt, so war es auch die Eindrücklichkeit des Monumentalgemäldes von SS. Innocents, die dem Totentanzgedanken in England Eingang verschaffte. Der Weg von Paris nach England war freilich näher und die Wirkung deshalb intensiver. Entstand doch das Wandgemälde in Paris unter den Augen der Engländer, die in jenen Jahrzehnten diesen Teil Frankreichs erobert hatten und Paris besetjt hielten. Der Möndi John Lydgate sagt es selbst in seinen Versen, daß er das Wandgemälde in SS. Innocents sah und beschloß, die Pariser Danse de macabre nicht zwar-Wort für Wort, aber ihrem Inhalt nach ins Englisdie und nach England zu übertragen. v. 17 Consideret this ye folkes that been wise and it imprinteth in your memorial like then sample widi that at Parisc I found depict ones in a wall full notable as I rehearse shall of a French clerk taking acquaintance I tooh in me to translaten all out of the French Madiabrees Daunce.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung v. 665 Out of the Frendi i drough it of intent not word by word, but following in substance and from Paris to England it sent, only of purpose you to do pleasance.

Von 1422-1436 war Paris in englischer Hand. In dieser Zeit wird Lydgate in Paris gewesen sein und in seiner Begeisterung für das Bild sich eine Kopie verschafft oder einen der umlaufenden Bilderbogen mit der Danse de macabre erworben haben. In England ging er dann an die Überse^ung, und wie die zitierten Verse selbst sagen, sah er es nicht auf eine wörtlidie Übersetzung ab. Daß er in der Einleitung und am Sdiluß alle diese persönlichen Dinge berichtet, zeigt, daß er seine Übersetzung durchaus als eine literarische Leistung ansah, nicht anders als der Spanier seine Danza general. Damit wird die Daunce de Machabree50) in einer Sphäre beheimatet, die durchaus nicht ihrem eigentlichen Wesen entspricht. Trotjdem wurden diese Verse (unter Kürzung um die allzu persönlichen Anfangs- und Schlußstrophen) zur Beschriftung umfangreicher Totentanzgemälde verwandt. Die Voraussetzung dafür ist, daß mit den Versen auch bildliche Vorlagen, wohl in Form eines Bilderbogens, vom Festland herüberkamen und jetjt mit englischem Text weiter verbreitet wurden. Daß die Totentanzidee ein aufnahmebereites Publikum vorfand, erweist auch der lebhafte Widerhall der Totentanzmotive in der religiösen Gebrauchskunst Englands. Gegen 1440 wurde der erste, wohl von Lydgate selbst angeregte Totentanz an die Kirchhofswand des St. Paulsklosters in L o n d o n gemalt. Ein Bildteppich mit dem Totentanz befand sich im Tower. Reste eines Totentanzes im erzbischöflichen Palast zu C r o y d o n waren noch am Anfang des 19. Jahrhunderts zu sehen. Auch in Shakespeares Geburtsstadt S t r a t f o r d befand sich in der Kirche ein Totentanz, und manche wollen im 3. Akt, Szene 1 von „Maß für Maß" eine Anspielung auf diesen Totentanz finden. Heinrich VIII. (1509-1547) ließ im Schlosse von W h i t e h a l l einen Totentanz •• English Verse between Chaucer and Surrey, ed. by E. Pr. H a m m o n d , Durham/London 1927, S. 127—42 nach Oxford Bodl. Seiden supra 531, dessen Text (A) mit 5 anderen Handschriften zusammenstimmt. Eine andere Fassung (B) ohne die 5 einleitenden und 2 abschließenden Strophen und mit anderen Veränderungen, z.B. Einfügung der Gestidt der Kaiserin (unter deutschem Einfluß?) bieten Bodley 686 und 4 andere Handschriften. — Die oben zitierten Verse 17—24, 665—68 werden zu leichterem Verständnis in der geläufigeren Orthographie geboten, in der sie W. Seelmann, Jahrb. d. Ver. f. nd. Spradif. 17 (1891) S. 22 bzw. 55 zitiert.

Der Totentanz in England und Italien

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malen, und von dem Totentanz in W o r t l e y H a l l wird ausdrücklich berichtet, daß Lydgates Verse mit einigen Zufügungen dort als Unterschriften beigegeben waren. Von einem Gemälde in der Kathedrale in S a l i s b u r y sind die Gestalten eines Jünglings und des Todes erhalten und die zugehörigen beiden Siebenzeiler"). Diese zeigen jedoch keine Ähnlichkeit mit dem Totentanze, sondern nähern sich so sehr den Formulierungen der „Legende von den drei Lebenden und drei Toten", daß ich eher annehmen möchte, daß wir es hier nicht mit dem Bruchstück eines Totentanzes, sondern einer Darstellung der Legende zu tun haben. Im ganzen kann man von einer rein rezeptiven Aufnahme des Totentanzes in England sprechen K ). Nicht anders als in England ist auch in I t a l i e n , dem südlidien Nachbarlande Frankreichs, der Totentanz ein aufgepfropftes Reis. Während in Deutschland und Frankreich Wandbilder, Skulpturen, Tafelgemälde, Paramente, Handschriften, Bilderbogen und Bücher den Totentanz vielfältig widerspiegeln und weitertragen, war in Italien die Aufnahme des Totentanzes zögernd und reserviert. Daß die französische Danse macabre in Italien nicht unbekannt blieb, zeigt die Dichtung El ballo della Morte in einem Florentiner Manuskript"). Die Auswahl und Reihenfolge der Figuren entspricht mit wenigen Abweidlungen der Pariser Danse macabri. Nur menestral und eure wurden ausgelassen und andrerseits fünf Figuren (Äbtissin, Amorosa, Senator, Prepositus, Scolare) neu eingefügt, außerdem — wohl durch einen Abschreiber — drei sinnlose Umstellungen vorgenommen, z. B. der Arbeiter (Pauper) statt an fünftletjte Stelle zwischen Bischof und Abt neben den Edelknecht (scuter) eingeschoben. Die achtzeiligen Strophen mit gekreuzten Reimen sind genau dem französischen Vorbild nachgebildet, der Inhalt der Verse ist jedoch durchaus keine wörtliche Übersetzung, sondern eine recht selbständige Wiedergabe der Hauptgedanken des französischen Textes. Eine sehr bezeichnende Veränderung sei erwähnt. Während der französische Text Gottes " H r s g . W. S e e l m a n n , in: Jahrb. d. Ver. f. nddt. Sprathf. 17 (1891), S. 37/38. 5, J . M. C l a r k : The dance of death in the Middle Ages and the Renaissance, Glasgow 1950 (vgl. H. R o s e n f e l d , in: Universitas 7, 1952, S. 84/85) bietet für England neue Denkmäler, die einen Reflex der Totentanzidee darstellen, aber keine eigentlichen Totentänze sind. " Textabdruck bei P. V i g o : Le danze macabre in Italia, Livorno 1878, S. 107 ff. Über das Manuskript der Riccardiana Nr. 1510 vgl. S. M o r p u r g o , I manoscritti della R. Biblioteca Riccardiana di Firenze, Manoscritti italiani 1 (1900) S. 520.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Herrschaft über Leben und Tod überall betont und die Toten nur als Stellvertreter des Todes zum Tanz auffordern, stellt sidi im italienisdien Text der Tod voll Stolz und Selbstbewußtsein selbst als Herr des Totentanzes vor: Ciascuna creatura qual si sia venga a ballare al mio funesto suono, e seguiti ciascun la danza mia, la qual, per nome, Morte detta sono!

Da die in der Danse-macabrd-Ausgabe von 1486 zugefügten Figuren fehlen, dürfte dem Italiener ein älterer Text vorgelegen haben, und zwar vermutlidi eine Handschrift. Auch der Drude von 1485 nennt den Prediger am Schluß Maistre, qui est au bout de la dance, der Italiener nennt ihn jedoch poeta, hat also wohl eine Handschrift vor Augen gehabt, die wie das Pariser Manuskript 14904 hier die Bezeichnung acteur „Verfasser" bot. Die Überschriften poeta, rex jacens in sepolcro, pauper, amorosa, scuter, prepositus usw. nötigen die Frage auf, ob der Italiener wie seinerzeit der deutsche Rolandlieddichter den fremden Text erst ins Lateinische übertrug, ehe er ihn in seine Muttersprache brachte. Jedenfalls haben wir es hier mit einer rein literarischen Arbeit zu tun, die ohne Illustrierung blieb und offenbar nie als Bilderbogen oder volkstümliches Bilderbuch weitergetragen wurde. Die Vorstellung des Totentanzes war Italien fremd, hier wurde der Tod in einem ganz anderen Lichte gesehen. Das Erlebnis der Pestkatastrophe von 1348, das in Deutschland den Anstoß für die Totentanzdichtung gab, hatte auch in Italien einen künstlerischen Niederschlag einzigartigen Gepräges gefunden, und auch hier sind Bild und Vers miteinander verbunden. Ich meine das weltberühmte Wandbild F. Traini's vom Triumph des Todes im Gampo Santo zu P i s a 5 4 ) . Im Mittelfeld des Bildes stürzt sich Frau Tod (La Morte) mit Fledermausflügeln und einer gewaltigen Sense auf Menschen aller Stände und mäht sie, die soeben noch in Weltlust und Sorglosigkeit dahinträumten, unbarmherzig und unerbittlich nieder, während Alte, Kranke und Lahme vergeblich nach dem erlösenden Tod rufen. Nur diesem Chor des Elends ist ©in Spruchband mit dem Schrei nach dem Tode beigegeben. Die eigentlichen Opfer des Todes bleiben stumm (dies ist ein wesentlicher Unterschied zum deutschen und französischen Totentanz, der gerade ihnen den Mund öffnet), und nur Engel und Einsiedler halten Spruchbänder mit frommen Ermahnungen, die den 51

F. T r a i n i : Der Triumph des Todes, hrsg. R. Oertel, Berlin 1948.

Der Totentanzgedanke in italienischer Prägung

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Büßpredigten am Eingang und Ausgang des Totentanzes zu vergleichen wären. Diese kirchliche Auswertung der Todesvision wird auch durch Darstellung eines wilden Kampfes der Engel und Teufel um die Seelen der Sterbenden unterstrichen, eine Bildvision, die Goethe zu der Sterbeszene seines Faust inspirierte. Auf der linken Seite des Pisaner Bildes sieht man aber noch eine andere Kontrastierung von Leben und Tod: die Darstellung der „Legende von den drei Lebenden und drei Toten": drei junge Fürsten, die mit ihrer Jagdgesellschaft unvermutet auf die Sarkophage mit den halbverwesten Leichen ihrer Väter stoßen. Noch R. M. Rilke wurde durch diese eindrucksvolle Darstellung so ergriffen, daß er sie in einem Gedichte wiederzugeben suchte 55 ). Darstellungen des reitenden Todes, der die Menschen aller Stände in der Blüte der Jahre dahinmäht und die Alten verschont, haben wir öfters, z. B. in Lucignano, im Palazzo Sclafani zu Palermo, in Sacro Speco bei Subiaco und auf der Feste Karlstein. Interessant ist die Kombinierung dieser Vorstellung mit der „Legende der drei Lebenden und Toten" (die in Pisa j a noch unverbunden daneben stand) und dem aus dem Norden herüberwirkenden Totentanz zu einer großen Bildkomposition auf dem Giebelfeld der Chiesa dei Disciplini zu C l u s o n e (1486). Die drei Toten der Legende, vor denen links voller Entsetzen die Jagdgesellschaft flieht, sind hier aus dem Sarkophag emporgestiegen, zwei von ihnen haben Bogen und Feuerrohr ergriffen und jagen ihre tödlichen Schüsse hinter der Jagdgesellschaft her und auf die Menschen aller Stände zu ihren Füßen, die vergeblich ihre Schätze anbieten und um ihr Leben betteln (Abb. 12). Die drei Toten sind also zu Stellvertretern des Todes geworden, der dritte, der überlebensgroß und gekrönt zwischen den beiden anderen steht, hält zwei große Spruchbänder, und verkündet als Kaiser Tod unbeirrt von den angebotenen Schätjen sein Gericht und seine Herrschaft über alle Welt: Giunge la morte piena de egrjaleza sole ve voglio e non vostra richeza. Digna mi son de portar Corona e die signoresi ogni persona! ss )

In dem unteren Feld aber formieren sich die Opfer des Todes in bunter Reihe mit ausgebleichten Skeletten zu einer Totentanzpolonaise, die an deutsche Vorbilder gemahnt, zumal ein Koch unter ihnen ist 65

Neue Gedichte, Anderer Teil, in: Rilkes Werke 3 (1930), S. 143. "Textabdruck bei A. W o l t m a n n : Holbein u. seine Zeit, 1 (1874), S. 246 Vgl. auch Abb. 12, wo der Text der Spruchbänder lesbar ist.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

wie schon im lateinischen, im Würzburger und im Baseler Totentanz. Aber die Teilnehmer an diesem Totentanz bleiben stumm, auf den Randleisten werden nur allgemein mahnende oder tröstende Verse gegeben 57 ). Maler und Auftraggeber haben die Wirksamkeit der Totentanzdarstellung als ikonographisches Motiv erkannt, sie ordnen es aber der tief eingewurzelten Vorstellung vom Tod als Kaiser und Triumphator unter. Von den beiden Totentänzen in F e r r a r a wissen wir nichts Näheres; der eine wurde 1499 von Lodovigo da Modena in S. Benedetto gemalt, der andere 1520 von Bernardino dei Flori im Palazzo della Ragione, aber beide sind längst zugrunde gegangen. Die Darstellung auf der Fassade der Chiesa della Madonna della Neve zu P i s o g n e (i486) mag wohl unter dem Eindruck des Gemäldes in Clusone stehen, da hier gewissermaßen das gleiche Bildprogramm auf eine einfachere Formel gebracht ist. Am Eingang steht der gekrönte Tod mit Pfeil und Bogen, und ihm entgegen ziehen Papst, Kardinäle, Bischöfe und andere und bieten ihm Geld und Schätze als Lösegeld 58 ). Merkwürdigerweise sind es lauter weltliche Standespersonen, die unter Führung eines Königs in entgegengesetjter Richtung ziehen. Wie ein Banner führen sie ein Spruchband mit, in dem sie ihre Verachtung gegenüber weltlichen Schäden aussprechen: Noi spregeremo dunque

Ii danari,

perche

per essi non

possumo

camparc.

Sie f o l g e n

Christus, Maria und einigen Heiligen, die vor ihnen gehen, nach. Die Todesgestalt, die diesen Zug empfängt, hat keine Krone, ihr Bogen ist zerbrochen, ihre Bogensehne zerrissen: über Christus und die, die ihm nachfolgen, hat der Tod seine Macht verloren! Mit dieser schlechthin antiklerikalen, die Laien als die wahren Nachfolger Christi kennzeichnenden Tendenz steht dieser Totentanz wohl einzigartig da, ein Zeugnis, mit welcher Erbitterung immer noch Ghibellinen und Guelfen in italienischen Städten gegeneinander standen. Von der Freske an der Fassade der Chiesa di S. Lazzaro fuori zu C o m o aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts haben sich nur Z.B.: 0 ti die serve a dio del hon cora non havire pagura a questo ballo venire, ma alegramento vene e non temire poy dii nase elli convene morire. Vigo (s. Anmerkung 53) S. 29. "Abb. bei G. V a l i a r d i : Trionfi e danza della morte, Milano 1859, S. 15. — Die Sprudibänder eines Jünglings und eines Apostels weisen deutschen Text auf, von dem nodj folgende Worte zu lesen sind: „In dem himmel dessen . . . und . . . er krafft und herrlidikeit" und „Sdiaffer der erd" (W. L. S c h r e i b e r , in: Zsdir. f. Büdierfr. 2,2 [1898/99], S. 800). Das läßt auf einen deutschen Maler schließen.

Deutscher Einfluß bei den Totentänzen v. Pisogne, Carisolo u. Pinzolo

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sieben halb zerstörte Totentanzpaare und geringe Spuren lateinischer Inschriften erhalten 5 »). Die Reihenfolge ist offensichtlich durcheinandergeraten, da die Königin inmitten ungekrönter Gestalten erscheint. Die Frauengestalten (die der französische Totentanz nicht kennt) und die Tanzhaltung der Toten lassen die Vermutung zu, daß hier ein deutsches Vorbild in Art des Baseler Totentanzes vorlag. Zweifelsfrei ist dies bei zwei südtirolischen Totentänzen im Val Rendena. Der Totentanz an der Westfassade der Chiesa di S. Stefano in C a r i s o l o wurde 1519 von Simon de Baschensis (bzw. Simon de Averaria) gemalt. Vom gleichen Maler stammt der Totentanz auf der südlichen Außenwand der Chiesa di S. Vigilo in P i n z o l o aus dem Jahre 1539'°). Das eine Mal werden achtzehn menschliche Stände vorgeführt, das andere Mal deren zwanzig. Sicherlich hat der Künstler beide Male die gleiche Vorlage benutjt und gemäß dem zur Verfügung stehenden Platj daraus ausgewählt. Darauf deutet auch, daß die italienischen Reimpaare in Carisolo (z. B. bei der Gestalt des Mönches) gewaltsam verkürzt wurden. Wenn er in Pinzolo bei sieben geistlichen Personen statt des sonst üblichen einen Reimpaares deren zwei beigibt, so könnte dies ebenso wie die dem Totentanz beigegebenen Szenen mit dem Erzengel Michael und den sieben Todsünden Zutat von 1539 sein. Für den eigentlichen Totentanz muß der Maler in beiden Fällen eine vollständige Malvorlage besessen haben, wahrscheinlich, da es sich um einen ununterbrochenen Streifen handelt, einen Bilderbogen (ca. 1500). Dieser Bilderbogen zeigte bereits ein Ineinander von deutschen und italienischen Elementen. Denn in Pinzolo finden wir am Anfang drei Todesgestalten wie in Clusone, wie in Clusone und Como ist die eine Todesgestalt gekrönt, aber statt der Waffen halten alle drei Musikinstrumente. Der gekrönte Tod spielt si^end eine Dudelsackpfeife, wie dies bereits der lateinische Totentanz vorausseht und wie es noch im Totentanz von La Chaise-Dieu und Lübedc der Fall war. Die beiden anderen Todesgestalten gebrauchen andere Blasinstrumente nach dem Muster deutscher Totentänze, während die im Totenreigen gehenden Todesgestalten nach italienischer Art mit Pfeil und Bogen bewaffnet sind (Abb. 22). Der hinter dem Totenreigen hersprengende Reiter Tod ist wie auf der Freske in

" S c h r e i b e r , a . a . O . , S. 296, Abb. 6. ••Abb. bei T h . F r i m m e l , in: Mitteilgen d. Centralkomm. Wien NF. 12 (1886), S. 22. — Beide Texte abgedr. bei V i g o (s. Anm. 53) S. 167—81. — Beschreibung und Text bei C a r l o C o l l i n i : S. Maria di Campiglio in Rendena, 1876; einen Sonderdruck davon verdanke ich der Güte des Pfarrers von Pinzolo.

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

Palermo und anderwärts ebenfalls mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Unter den Figuren des Totenreigens befinden sich Königin, Herzog, Nonne und ein lahmer Bettler, Gestalten, die für den deutschen Totentanz seit alters charakteristisch sind. Angesichts dieser eindeutigen Beweise deutscher bildlicher Vorlagen ist frappierend, wie stark der beigegebene Text sich von den üblichen Totentanztexten entfernt. In Deutschland und Frankreich war es ja stets ein Dialog zwischen den Mensdien und ihren Tanzpartnern, im ältesten lateinischen Totentanz sogar ein reiner Monolog der menschlichen Standesvertreter. Hier in Pinzolo und Carisolo aber bleiben gerade die Menschen stumm. Tro§ aller nördlichen Vorlagen spricht nur der Tod. Selbstbewußt stellt er sich am Anfang als Herr über die Mensdien vor: lo sont la Morte ehe porto Corona, sonte signora de ognia persona. Dieser Triumphator T o d läßt die Sterbenden gar nicht zu Worte kommen, herrisch fordert er sie zum Tanz: In questo ballo ti convene intrare; mecho balla; danzar teco io intendo, und er rühmt sich seiner Macht, hält er doch dem Mönch z. B. vor: Per lanima tua po esser via secura, ma contra di me non avarai scriptura.

Eigenartig ist, daß zunächst die ganze Reihe der Geistlichkeit, dann die Weltlichen von Kaiser und König bis zum Kinde herab getrennt gegeben werden und daß zwischen dem Totenreigen und dem Spielmann Tod das Kreuz Christi aufgerichtet ist, ja, daß Christus selbst zu Worte kommt und an seinen stellvertretenden Tod erinnert. Beides, die Trennung der Geistlichen und Laien und das Herausstellen des Gekreuzigten als des Erlösers von Sünde und Tod sind das Charakteristikum aller deutschen Totentänze franziskanischer Herkunft. So mag ein franziskanischer Totentanzbilderbogen das Bindeglied zwischen Deutschland und Italien gewesen und in Tirol dem italienischen Empfinden und der italienischen Todestradition angepaßt worden sein. Das einzige wirkliche Zeugnis für einen italienischen Totentanzbilderbogen besitzen wir in einem V e n e t i a n i s c h e n HoJzs c h n i t t aus der Zeit um 1500 (Abb. 18). Es ist ein Blatt mit fünf Totentanzpaaren in einer Größe von 23,7 X 40 cm, das mit fünf anderen Blättern dieser Art zu einem großen, 50 X 120 cm messenden Totentanzbilderbogen zusammengeklebt werden sollte. Hier ist nichts mehr von deutschem Einfluß zu spüren, sondern das Vorbild der französischen Danse macabre, deren 10. bis 14. Tanzpaar hier in umgekehrter Reihenfolge erscheint (Bürger, Astrolog, Richter, Abt, Jun-

Totentanz von Pinzolo und Venetianisdier Totentanzbilderbogen

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ker). Aber die beiden französischen Adhtzeiler jedes Totentanzpaares sind zu einem einzigen Reimpaar zusammengedrängt. Das für Deutschland typische Tanzmotiv, das sdion in Frankreich zurüdctrat, ist hier gänzlich verlassen. Es sind dichtgedrängte Einzelpaare, zu deren Füßen das Grab bereit ist. Damit wird deutlich, daß der Tanzpartner kein beliebiger Toter, sondern der Tod selbst ist. Die offenen Gräber, an die der Tod seine Opfer führt, lassen ihn nach französischer Tradition zum Totengräber werden. Der Tod ist also, wie Le Fèvre im Respit de la mort sagte, derjenige, qui tout gens maine à sa tresche et à la fosse les adresdie, qui est leur derrière maison. Wie in Pinzolo und Carisolo läßt der Tod seine Opfer nicht zu Worte kommen, sondern spricht die Verstummten höhnisch und überlegen an. In seinen an den Astrologen gerichteten Worten klingt der Wortlaut der Danse de macabre deutlich wieder. Sagt dort der Tote zum Magister, der zum Himmel schaut, Vers 211 : Ne pavez la mort retarder, cy ne vault rien astrologie, so faßt der Italiener diese Worte nur kürzer und präziser: Tua astrologia non val segnio, curare ti. Der Bürger ist für den Italiener, den Zeitgenossen unzähliger selbstherrlicher Stadtrepubliken, nicht wie für den Franzosen ein an Geld und Gut hängender reicher Mann, sondern ein signore, ein Herr, der nach Ehre und Ansehen strebt, der, wie der Jagdfalke auf der Hand erweist, dem edlen Sport der Falkenjagd frönt und der nun ein Knecht des Todes werden muß. Beim Richter zeigt sidi besonders deutlich die verschiedene Rolle, die der Tod hier und da spielt. In Frankreich lädt der Tote den Richter vor den Richterstuhl des allmächtigen Gottes, Rechenschaft über sein Leben abzulegen. Der Venetianer macht zwar in gleicher Weise den Richter zum Angeklagten. Aber sich selbst maßt der Tod das Richteramt an, und der schnelle Urteilsspruch ist die Verurteilung zum Tode (Sterben). Wie wenig passen die Bilder, die sich verhältnismäßig eng an das französische Vorbild anschließen, zu diesen markigen selbstbewußten Versen des Italieners! Hinter ihnen steht nicht die Vorstellung des Reigentanzes, die von Deutschland ausging und noch den französischen Totentanz bestimmt. Hinter diesen Versen steht vielmehr der triumphierende Kaiser Tod, derselbe, der auf dem Bilde von Clusone gekrönt und riesengroß auf dem Sarkophag steht, umgeben von bettelnden und sterbenden Menschen. Dieser allmächtige selbstherrliche Triumphator Tod, wie er der italienischen Volkstradition entspricht, ist auch der Sprecher der Verse des Venetianischen Toten-

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Rosenfeld,

Totentanz

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V. Der französische Totentanz und seine Auswirkung

tanzbilderbogens, und es versteht sidi, daß vor seiner Allgewalt die Menschen machtlos verstummen müssen. l . T u c i t t a d i n , die cerdii haver honore, hör mi sei servo et io son tuo signore! 3 . T u a a s t r o l o g i a non vai segnio curatti, che me co ti convien far altri patti! 5 . 0 j u d i c e , die altrui sempre hai judicato, te hor judico e da me sei condannato. 7. E tu, a b b a t e , ministro del tuo clero, afferma il passo; che questo e il sentiero! 9. Tu c a v a l i e r , hor mai raffrena il corso, die ghiotta son col vellenoso m o r s o ! ' 1 l . D u B ü r g e r suchtest Ehre stets und Recht, dodi jetzt bin idi der Herr und du der Knedit! 3. A s t r o l o g i e gibt dir zur Rettung keine Zeichen, denn mir mußt du die Hand zum Pakte reichen! 5. 0 R i c h t e r , andre richten war dein Amt: jetzt ridite idi, und schon bist du verdammt! 7.Du A b t , des Klosterklerus hoher Rat, faß kräftig Schritt: hier geht der rechte Pfad! 9.Du R i t t e r , halte an nun deinen Lauf: mit giftgem Biß freß idi dich gierig auf!

Mit diesen Versen schließt die Entwicklungsreihe des Totentanzes. Am Anfang standen monologische Klagen der neu Verstorbenen, die ins Leere gesprochen wurden und verhallten. Bald antwortete ihnen wie ein Edio der Chor der namenlosen Toten und Partner des grausigen nächtlichen Tanzes. Dann wurden die Partner und Leidensgefährten zu Abgesandten des Todes und schließlich zur Personifikation des Todes selber, vor dem die Sterbenden Sünde und Schuld bekennen. Jetjt machen die Italiener in den Totentänzen von Pinzolo und Carisolo und im Venetianischen Bilderbogen den letjten Schritt: die sterbenden Menschen verstummen, sie stehen klein und ohnmächtig vor dem großen Herrscher und Richter Tod, und mit beißender Ironie zieht er einen nach dem anderen vor seinen Richterstuhl. Eis ist nicht mehr das alte Totentanzmotiv — nur die Bilder " Faksimile des Holzschnittes bei W. L. S c h r e i b e r : Manuel de l'amateur de la gTavure 6 (1899), pl. 64. — Bei Lesung und Übersetzung des Textes war mir dankenswerterweise Dr. E. Forti (München) behilflich. — Das caratti des Holzschnittes wurde als Schreibfehler für curatti = curare ti genommen, bei clero und sentiero wurden die im Holzschnitt abgesplitterten Endungen, bei ghiotta das h ergänzt. Meine Zeichnung Abb. 18 bietet den korrigierten Text. Eine vollständige Übersetzung schien mir für das richtige Verständnis erforderlich.

Der Venetianisdie Totentanzbilderbogen u. die ital. Todesidee

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halten es noch fest —, es ist eine Vergewaltigung des von Frankreich übermittelten Motivcs, eine Unibiegung im Sinne eines RenaissanceMensdientums, das die Allgewalt des Todes erfahren hatte und nun den Tod vom Menschen her überwand, indem es ihn als Triumphator verherrlichte. Es liegt ein Schimmer von Größe und heroischem Pathos über diesem italienischen Renaissance-Menschentum, das sidi noch in Niederlage und Tod die Überlegenheit des mensdilichen Geistes zu wahren vermag. Aber Pathos und Heroik entschädigen nicht für das, was an Innigkeit des Glaubens und Innerlichkeit einer in die Fragwürdigkeit seines Wesens gestellten Kreatürlichkeit dabei verloren ging. Ganz anders mußte die Wirkung des französischen Totentanzes sein, wenn er heimkehrte in das Land, in dem er seine Wurzeln hatte, in das Land seelischen Ringens und seelischer Not. Die niederdeutschen und mitteldeutschen Totentänze stehen im Kraftfeld zwischen Ost und West, zwischen dem Ererbten und der westlichen Mode, und die Auseinandersetjung zwischen den Kräften der Beharrung und des Fortschrittes macht diese Totentänze des 15. Jahrhunderts zu wichtigen Zeugnissen der europäischen Geistesgeschichte des ausgehenden Mittelalters.

12»

VI VERBREITUNG UND ENTWICKLUNG DES TOTENTANZES IN NIEDERDEUTSCHLAND 1. D e r L ü b e c k e r T o t e n t a n z , s e i n e B e z i e h u n g D a n s e de m a c a b r e u n d seine bürgerlich-dramatische Haltung

zur

Deutschland ist das L a n d der Totentänze, nicht nur ihr Ursprungsland, sondern auch Nährboden ihres Geistes und ihrer Gesinnung — und doch stehen die niederdeutschen Totentänze im Banne des f r a n zösischen Vorbildes! Überschaut man vielleicht die Bedeutung des französischen Totentanzes f ü r die niederdeutschen Totentänze oder war Niederdeutschland von Totentanzgedanken nicht erfaßt und gepackt worden, daß es nun gierig aus fremden H ä n d e n nahm, was im Süden längst in deutscher Form wirkte und wucherte? W i r lassen noch einmal die Zeugnisse für die Kenntnis des Totentanzes in Niederdeutschland an uns vorüberziehen. Da ist zunächst in den Niederlanden, im westlichen Flügel des deutschen Sprachgebietes, da, wo sich germanische und romanische Kultur begegnen, die Volksvorstellung vom Tanze der Toten belegt. Bei der Bearbeitung des französischen Gedichtes von Maugis d'Aigrement um 1350 fügte der Niederländer — wir erwähnten es schon — eine merkwürdige Episode ein. Maugis hat seinen Feind, den König Anthenor, gefangen und bindet ihn und seine Ritter völlig nackt an den Mittelpfosten seines Zeltes. Dann heißt es von diesen unglücklichen Gefangenen: E n d e staen recht in een crans, als v a n doden luden een dans war gemaect, bi mire wet

Der Vergleich mit dem „Tanz toter Leute" hat nur Sinn, wenn der Tanz der Toten eine ganz geläufige Vorstellung war. W a s zu 1

R o m a n v a n Malegijs, hrsg. N a p . de P a u w , Gent 1889, S. 67, v. 14/16; vgl. G. H u e t , in: Le Moyen Age 29 (1917/18), S. 162 f. — Die Schlußfloskel bi mirc wet = bi minrc wet „bei meinem G l a u b e n " gibt eine Wahrheits-Beteuerung, wie Prof. J. van D a m (Amsterdam) mir f r e u n d licherweise bestätigte.

Frühe Zeugnisse des Totentanzgedankens in Niederdeutschland

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diesem Vergleich führte, war die Nacktheit der Gefangenen und ihre willenlose, erzwungene Stellung in einem Kreis. Dahinter steht zweifellos die Vorstellung eines regelrechten runden Reigens nackter Leichen, die zum nächtlichen Reigentanz gezwungen sind, eine Vorstellung, die der Totentanzdichtung vorausging und ihr zugrunde liegt. Das Gedicht „ D a s a n d e r e L a n d " , Ende des 14. Jahrhunderts in ein Martyrologium des Klosters St. Anton von Albergen, in der niederländischen Provinz Over Yssel gelegen, eingetragen, gibt in niederländisch-niederdeutscher Mischsprache Gedanken über die Unerbittlichkeit des Todes 2). Das Gedicht war nicht nur in den Niederlanden, sondern in ganz Niederdeutschland verbreitet und mag in der Gegend von Bremen enstanden sein. Hier heißt es v. 5 ff.: Ode en iss-et nicht alle wege mey, w y moten al dansen an den rey, dat uns dat meyen wort untwant unde singen voert in een ander lant.

Damit ist das Motiv des Tanzes der Toten in einer Form zitiert, die nur als eine Anspielung auf die Totentanzdichtung zu verstehen ist. Ja, es scheint sogar der Wortlaut des Würzburger Totentanztextes anzuklingen, und zwar die Verse 21/22: „Mit siner hellischen p f i f e n schrei bringt er iuch. al an einen rey". Wie ein Edio dazu klingt der oben zitierte Vers: Wy moten al dansen an den rey. Deshalb sind wir hellhörig, wenn später der alte Topos der Contemptus-mundiLiteratur Ubi sunt, qui ante nos? nicht nur in die üblidie Frage nach Karl, Hektor, Alexander, Julius Caesar, Artus und anderen Helden ausläuft, sondern auch sehr viel erdennäher in die Verse: v. 53/56. Pawes, keyser, hertoghen ende greven, geistlic, werltlic, nichten ende neven, deser is mennidi voer ghesant sunder keren in eyn ander lant.

Damit steigt unmittelbar die Vision des Würzburger Totentanzes vor unseren Augen auf. Nur im Würzburger Totentanz und seiner latei1

Hrsg. J . F. M o n e , in: Quellen u. Forschungen z. Gesdi. d. dt. Lit. u. Spr. 1 (1830), S. 128/33 (aus einem Martyrologium der Antwerpener Jesuiten). — W . S t a m m l e r : Gesdiidite d. ndt. Lit., 1920, S. 33 gibt Bremen als Heimat an. — Anspielungen auf das Gedieht finden sich verschiedentlich in den niederländischen und niederdeutschen Totentanzversen, z. B. bei Kerver (vgl. Anm. 16), v. 5, Lübedc v. 267, Berlin v. 210, Totentanzbuch von 1520 v. 253 und 334.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

nischen Vorlage finden wir neben Papst und Kaiser audi Herzog und Graf. Der französische Totentanz kennt Herzog und Graf nicht, und es gibt im 14. Jahrhundert schlechterdings keine anderen Totentänze als den deutschen und den französischen. W i r müssen also annehmen, daß am Entstehungsort des Gedichtes (Bremen oder wo er sonst sei) der Würzburger Totentanz gut bekannt war. Er kann nur in Bilderbogen den Weg hierher gefunden haben, und wir dürfen vermuten, daß ein solcher Bilderbogen alsbald in niederdeutsche Sprache umgesetjt und im niederdeutschen Gewand weitergetragen wurde. Einem niederdeutschen Totentanzbilderbogen standen nicht nur die Herzen der geistlichen und weltlichen Leser offen, es eröffneten sich ihm auch die Möglichkeiten monumentaler Verewigung. Der Ernst schwerer Pestzeiten lag über den Totentanzversen, und wo die Pest ihren Einzug gehalten und ihre Opfer gefordert hatte, da linden wir vielerorten den Totentanz in großen Streifen auf den Wänden der Vorhallen, Kreuzgänge, Friedhofsmauern oder Beinhauskapellen. Man malte den Heiligen Christophorus in riesenhafter Größe, um sich vor einem jähen Tode zu schüren. In ähnlicher Weise sollen und wollen die monumentalen Totentanzstreifen nicht nur an schwere Pestzeiten erinnern und zu Buße und Todesbereitschaft ermahnen, sondern zugleich eine magische Beschwörung sein, um neue Pestzeiten zu verhindern. Uraltes magisches Zauberdenken mischt sidi hier mit christlichem Glauben an Buße und Todesbereitschaft und mittelalterlicher Werkgerechtigkeit durch fromme Stiftung. Um die Jahrhundertmitte entstand die Totentanzdichtung in der Würzburger Gegend, im legten Viertel des 14. Jahrhunderts finden wir in dem Gedicht „Das andere Land" ihre Spuren in Niederdeutsdiland. Inzwischen hatte die Pest in periodischen Abständen Deutschland und Europa heimgesucht. Auf die Pestepidemie um die Jahrhundertmitte waren vor allem 1358/59, 1365/67, 1373, 1379, 1381, 1387/88 neue Pest jähre gefolgt, und im 15. Jahrhundert folgten die Pestjahre 1406, 1420, 1427/30, 1437/39, 1451, 1462/64, 1473/74, 1483/85 und 1494 8 ). Als Pfingsten 1464 die Pestepidemie über das Ostseegebiet hereinbrach und Lüneburg, Hamburg, Lübeck, Wismar, Rostode, Sund heimsuchte 4 ), schrieb ein Lübecker Geistlicher das L ü b e c k e r O s t e r s p i e l , das bisher fälschlich „Redentiner Oster» Vgl. G e o r g S t i c k e r : Geschichte der Pest, Giessen 1908. — P. H e i t z / W . L . S c h r e i b e r : Pestblätter d. 15. Jh., Straßb. 1918. 4 Chroniken d. dt. Städte d. 14./16. Jh. 30 (1910), S. 360 Nr. 1885.

Der Würzburger Totentanz in Niederdeutschld.—Lübecker Totentanz 183

spiel" genannt wurde*). Ein Osterspiel in Art des Innsbrucker bildete die Grundlage, aber entgegen aller Osterspieltradition steht nidit der Osterjubel über die Erlösung, sondern das Spiel der Teufel mit den sündigen Seelen am Schlüsse. Luzifer sieht in dem Massensterben eine willkommene Gelegenheit für seine Knechte. Unter drastischgrotesker Ständesatire werden einige Vertreter der in der Frucht ihrer Sünden dahingerafften Lübecker in die Hölle geschleppt. Der Lübecker Geistliche wollte offensichtlich unter dem Eindruck des jähen Todes so vieler unbußfertiger Stadtbürger vor einem sündigen Leben warnen und gab dem besonderes Gewicht dadurch, daß er das Teufelsspiel an den Schluß verlegte, während es im Innsbrucker Osterspiel auf die Höllenfahrt Christi folgte. Die Klage Luzifers über seinen Hochmut, Fall und seine Verdammung, die den Abschluß bildet, ist zugleich ein erschütterndes Klagelied über die bei der Pest der Hölle verfallenen sündigen Seelen 8 ). Ein Jahr früher entstand der L ü b e c k e r T o t e n t a n z 7 ) , also bevor die Pest nach der Ostsee kam, aber unter der Angst der heraufziehenden Gefahr, denn die Lübecker Chronik berichtet über die Pest von 1462 und 1463 und ihr allmähliches Vordringen vom Rhein her nach Speyer, Thüringen, Sadisen und der Mark Brandenburg 4 ). Das Totentanzgemälde wurde nach einer alten Inschrift 8 ) am 15. August 1463 vollendet, also viele Monate, bevor die Pest auch Lübeck überfiel. Keine Chronik berichtet davon, offensichtlich wurde das Malen des Totentanzes nicht als Ereignis von kultureller Geltung angesehen, e

H. R o s e n f e l d : Das Redentiner Osterspiel — ein Lübedcer Osterspiel, in: Beiträge z. Gesch. d. dt. Spr. 74 (1952), S. 485—91. — Der vorliegende Text ist, wie Fehler erweisen, eine Abschrift; die Ortsangabe am Schluß der Niederschrift beweist, daß der Schreiber nur vorübergehend in Redentin weilte. Vgl. H. Rosenfeld: Peter Kalff, in: Verfasserlexikon 5 (1954/55). * H. R o s e n f e l d : Die Entwicklung d. Ständesatire im MA., in: Zsdir. f. dt. Philol. 71 (1952), S. 196—207. ' Text bei W. S t a m m l e r : Mittelndt. Lesebuch, Hamb. 1921, S. 119—27. — Text und Bild bei W. P a a t z : Bernt Notke, Wien 1944, S. 35—40, Abb. 1—15. • Die von Pfarrer Melle überlieferte Sdilußsdirift Anno domini MCCCCLX1II in vigilia Assumptionis Metrie kann wohl nur das Datum der Vollendung angeben. — W. S e e 1 m a n n, Jb. d. Ver. f. ndt. Spr. 17 (1891), S. 44, meint, das Datum bezeichne den Beginn der Pest in Dänemark; das ist eine Verwechslung mit dem Chronikeintrag von 1464. Seelmanns Irrtum ist in viele spätere Totentanzarbeiten übernommen worden, z. B. W. L. S c h r e i b e r , in: Zsdir. f. Bücherfr. 2,2 (1898/99), S. 303 und E. B r e e d e , Studien zu den lat. u. deutschsprachlichen Totentanztexten des 13.—17. Jh., Halle 1931. S. 147.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

auch handelte es sich j a offensichtlich nur um Ersatz für einen verblichenen älteren Totentanz an gleicher Stelle. Die Darstellung des Massensterbens im sakramentalen Raum der Kirche selbst — sonst wurde der Totentanz j a meist an Außenwände gemalt — kann nur aufgefaßt werden als Bildmagie und Opfer, als Mittel, sich vor der drohenden Gefahr zu schüren, den Tod durch Darstellung des Todes zu bannen (Sympathiezauber) und Gott durch das Bild Bußfertigkeit und Opferbereitschaft zu zeigen. Gewiß hat man diese Gedanken und Motive nicht klar ausgesprochen, aber als dunkle Gefühle werden sie insgeheim den Auftrag an den Maler und den Textdichter bestimmt haben. Der Text bietet nun gegenüber allen anderen bis dahin üblichen etwas grundsätzlich Neues. Es ist zum ersten Male vollkommen konsequent und unmißverständlich der Tod selbst, der zum Totentanze aufruft und mit den Mensdien tanzt, und zum ersten Male im Totentanze flöhen die Mensdien den Tod um Aufschub und Gnade an! Es ist deutlich: dasselbe Osterspiel, das ein Jahr später im Lübecker Osterspiel seine Umgestaltung erfuhr, hat auch schon auf den Lübecker Totentanz von 1463 eingewirkt, und die selbstherrliche Gestalt des Todes ist ein Reflex von dem Luzifer des Osterspieles! Die stereotypen Gnadenrufe der Sünder im Innsbrucker Osterspiel Gnade, herre Lucifer!9) sind von dem Totentanzdichter sparsam, aber äußerst wirkungsvoll zu individuell gefärbten Bitten um Aufschub oder Gnade gewandelt. Der Edelmann bittet um Aufschub: Dot, ik bidde di umme respyt, late mi vorholen! (v. 189), der Kardinal um Erbarmen: Ont forme myner, kere, salt sehen, ik kan di niegensins entflen! (v. 77/78). Wenn aber die junge lebenslustige Kaiserin vor der Silhouette des alten Lübeck in den Ruf ausbricht Odi, lat mi noch leven, des bidde ik di! (v. 68), so wird sich darin die Todesangst und Lebensgier der ganzen Stadt komprimiert haben. Trotj solcher dramatischen Zuspitjung unter dem Einfluß des Osterspiels und der realen Situation kann der Lübecker Totentanz von 1463 seine Beziehungen zu der französischen Danse de macabre nicht verleugnen. Direkt oder indirekt über die Niederlande muß durch einen Bilderbogen das französische Vorbild in Lübeck zur Kenntnis gekommen sein. Aber merkwürdigerweise werden statt der 30 Figuren der französischen Vorlage nur 24 gebracht, und unter diesen 24 sind die Gestalt der Kaiserin und des Herzogs, die die französische Vorlage überhaupt nicht kennt, die aber ein integrierender Bestandteil • Das Drama d. MA„ hrsg. E. Hartl, 2 (1937), S. 153 ff., v. 461, 467, 481, 485. 493.

Der Lübecker Totentanz und seine Vorlagen

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des Würzburger Totentanzes sind. Man kann die Reduzierung der Zahl und das Auftaudien der beiden Gestalten aus dem Würzburger Totentanz kaum anders befriedigend erklären als damit, daß an gleicher Stelle bereits ein älteres Bild mit den 24 Gestalten des Würzburger Totentanzes war. Man wünschte zwar einen moderneren, kunstvolleren Totentanz in der Art wie ihn die neue westliche Bilderbogenvorlage bot, aber die nun einmal gewählte Totentanzkapelle gestattete nur 24 Tanzpaare, außerdem wollte man die im deutschen Leben und in der deutschen Tradition verwurzelten Gestalten der Kaiserin und des Herzogs nicht missen. In derselben Linie liegt es, wenn die Verse des Kindes nicht dem Franzosen folgen, sondern sich eng an den alten Würzburger Text anlehnen: Würzburg v. 205/6: W i e wiltu midi also verlän? Muoz ich tanzen und kan nit gän? Lübedcv. 389/90: 0 dod, wo schal ik dat vorstan, Ik schal danzsen unde kan nicht gan

10

!

Da die Gestalt der Mutter ausgelassen ist, kann das Kind nicht wie in Würzburg die Mutter anreden, sondern nur den Tod, aber sonst sind Gedanke und Wortlaut die in Würzburg vorgezeidineten, während der Franzose das Kind stottern läßt: „A a a, ich kann noch nidit sprechen." Dem Franzosen lag das Tanzmotiv ferner, deshalb suchte er eine andere Kennzeichnung der Lebensunbeholfenheit des Kleinkindes, für den Deutschen aber war nach wie vor der Tanz ganz konkret und anschaulich, deshalb beharrte er auf dem Widerstreit, daß das Kind, das noch gar nicht gehen kann, nun den Tanz des Todes mittanzen muß. Die Vorstellung des Spielmanns Tod war j a in der Danse de macabre schon weitgehend verwischt, aus ihr konnte der Niederdeutsche also auch nicht die stolze Feststellung des Todes entnehmen: Gy moten na myner pypen springen (v. 20). Wiederum haben wir ein deutliches Zitat aus dem Würzburger Totentanz vor uns, wo es j a ganz ähnlich hieß: v. 31/32. Her päbst, merkt üf der pfifen dön: ir sult darnach springen schon!

So spricht alles dafür, daß ein älterer Totentanz 1463 durch einen neuen Totentanz nach französischem Muster erseht werden sollte, daß 10

Die Überlieferung dieser zwei Verse ist nicht zweifelsfrei, da die Niederschrift nicht mit den übrigen von Melle seiner Lubeca religiosa einverleibten Versen erfolgte, sondern von anderer Hand nachgetragen wurde, aber gewiß nidit ohne gute Quelle.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

aber der Bearbeiter dabei seiner Vorlage sehr frei gegenüberstand und nicht nur die neue Auffassung vom Tod als Eintänzer zur Geltung brachte und dramatische Elemente aus dem Osterspiel verarbeitete, sondern auch Figuren und Verse aus dem alten Totentanz Würzburger Prägung. Wann dieser ältere Totentanz gemalt war, wissen wir nicht, da die Chroniken davon schweigen, aber angesidits der Anklänge an den Totentanz im „Anderen Land" darf man dies ältere Bild wohl auch ins 14. Jahrhundert versehen. Der Zusammenhang der Totentanzgemälde mit Pestkatastrophen tritt uns immer wieder entgegen, und so möchte man diesen älteren Lübecker Totentanz am liebsten in das Jahr 1388 versetjen. Denn die schlimmste Pestzeit für Norddeutsdiland war zweifellos die von 1387/88: damals starben in Lübeck nach Angabe des Chronisten mehr als 16 000 Personen 11), man darf wohl sagen: der größte Teil der Bevölkerung. Sollte nicht dieses furchtbare Sterben der Anlaß geworden sein, erstmals in der Lübecker Marienkirche als Erinnerungs- und Bußmal und als Bildzaiuber gegen eine neue derartige Katastrophe einen Totentanz anzubringen? Jedenfalls war der Totentanz Würzburger Prägung in Lübeck und Niederdeutschland bekannt und heimisch, ehe Mitte des 15. Jahrhunderts die Dause de macabrd über die Niederlande ihren Einfluß geltend machte. Der westliche Bilderbogen — um einen solchen muß es sich gehandelt haben — brachte nur ein moderneres Gewand und einen kunstvolleren Text, aber keine neuen Vorstellungen und Motive. Wir wissen heute, daß der Lübecker Maler Bernt Notke, der 1489 die St. Jürgengruppe in Stockholm schuf, den Lübecker Totentanz von 1463 als erste Talentprobe gemalt hat. Es kann keinen Zweifel leiden, daß der damals dreiundzwanzigjäihrige Notke für Bild und Text eine genaue Vorlage in die Hand bekam. Seine Leistung besteht nicht in der Erfindung und Einteilung des Totentanzes: das war ja mit der Tradition und der Malvorlage alles gegeben. Seine eigentliche Leistung und Begabung zeigt sich im Ausdruck der Figuren und in der grandiosen schauerlichen Stimmung, in die er seine riesige Darstellung zu tauchen wußte (Abb. 29). Es war kein Wandgemälde im eigentlichen Sinne, sondern — ein Unikum für diese Zeit — auf über hölzernes Rahmenwerk vor die Wand gespannte Leinwand gemalt. Aber technisdi hat sich dies nicht bewährt, denn schon 1588 mußte der Fries von Silvester van Swolle ausgeflickt und erneuert und 1657 abermals ausgebessert werden. So entsdiloß man sich 1700 dazu, von Anton 11

Chroniken d. dt. Städte d. 14./16. Jh. 28, S. 24.

Die Lübecker Totentänze von 1388, 1463 und 1701

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Wortmann eine vollständige Kopie herstellen zu lassen. Diese 1701 vollendete Kopie trägt einen neugedichteten Text, hat aber sonst im wesentlichen das alte Bild möglichst getreu wiedergegeben. Wir können das auf Grund des Revaler Totentanzes beurteilen. Er galt lange Zeit als eine frühe Kopie des Lübecker Gemäldes, umfaßte aber nur die erste Hälfte bis zum Bürgermeister. Erst vor wenig mehr als anderthalb Jahrzehnten wurde die aufsehenerregende Entdeckung gemacht, daß der Revaler Totentanz, von dem jetjt nur noch der Anfang bis zum König erhalten war, Notkes aus dem Rahmen geschnittenes und dabei etwas verkürztes Original ist 12 ): offenbar wurde nach der 1588 vorgenommenen Renovierung der herausgeschnittene erste Teil des Gemäldes (vom Prediger bis zum Bürgermeister) an einen Revaler Handelsherren verkauft und von diesem nach Restauration der St. Nicolai-Kirche zu Reval geschenkt. Bereits 1603 oder kurz vorher mußte eine Ausbesserung an dem Gemälde vorgenommen werden, so daß es 1603 erstmalig in den Revaler Rechnungsbüchern auftaucht. Wir dürfen demgemäß annehmen, daß der Maler Sylvester von Swolle, der 93 Mark 4 Schillinge für seine Renovierung von 1588 forderte, aber nur 69 Mark erhielt, den ersten Teil des Lübecker Totentanzes durch eine getreue Kopie ersetjt hat. Aber diese Kopie war 1700 bereits wieder soweit beschädigt, daß der damalige Pfarrer Melle gerade von diesem Teil des Totentanzes nur noch vier Verse lesen konnte. Das mag den Anstoß dazu gegeben haben, nunmehr den ganzen Totentanz durch eine ziemlich getreue Kopie zu ersehen (nur die Eingangsgestalt und der Hintergrund wurden völlig umgestaltet). Bei dieser Gelegenheit mußten die zum Teil unlesbar gewordenen Verse einer barocken Neudichtung weichen. Der Barockmaler hat die Gestalten durchweg etwas eleganter, höfischer als das Original gegeben, die düstre Stimmung aufgehellt und durdi klarere Silhouetten der Stadt Lübeck nüchterner gestaltet. Die hochdeutschen Verse, die Nathanael Schlott, Präzeptor am St. Annenkloster zu Lübeck, dem erneuerten Gemälde beifügte, haben gewiß dem Geschmack der Zeit entsprochen. Es sind echte barocke Alexandriner. Statt des innigen, elegischen Tones der alten Reime mit ihren dramatischen Lichtern und Gefühlsausbrüchen sind es jetjt llüssige Verse, 12

C. G. H e i s e : Der Lübecker Totentanz von 1463, in: Zschr. d. Ver. f. Kunstwiss. 4 (1937), S. 187 ff.; W. P a a t z : Bernt Notke und sein Kreis, Bln. 1939, S. 172 ff. und: Bernt Notke, Wien 1944, S. 35 ff. - Daß Notke den Lübecker und Revalter Totentanz malte, hat Moltke 1966/1970 bestritten, aber Hasse 1970 erhärtet (Bibliographie III, 2, 37).

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

erfüllt mit dem heroischen Pathos barocker Alexandrinertragödien, effektvoll drapiert, aber unvereinbar mit dem spätgotischen Bild, das noch die ikonographisdie Form des Totenreigens der Armen Seelen weitgehend bewahrt hatte (Abb. 21). Dieselbe Kaiserin, die der Text von 1463 als ein junges lebenshungriges Weib zeigte, das mit einem Och, lat tni noch leven, des bidde ik di der stummen Angst einer ganzen von der Pest heimgesuchten Stadt Stimme gab, sie wird 1701 zu einer Barockheroine, die vom hohen Kothurn herab pathetisch deklamiert: Ist Zeit und Stunde da, so geb ich midi darein und will auch sterbend dir, mein Kaiser, ähnlich sein. Du konntest didi der Welt nicht stets als Sonne zeigen, so muß sidi audi der Mond zum Untergange neigen!

Der Kopist von 1701 hatte an den Anfang eine Todesgestalt gesetzt, die pfeifend wie der Rattenfänger von Hameln dem Reigentanze der Totentanzpaare voransdireitet. Das Revaler Original Ncvtkes dagegen zeigte den Anfang (Abb. 21) so, wie ihn sdion der lateinische Totentanzbilderbogen gegeben hatte und wie er noch in La Chaise Dieu und vielen anderen Totentänzen zu finden war: mit dem Prediger auf der Kanzel, zu dessen Füßen der Tod sitjt und auf einer Sackpfeife zum Tanze aufspielt! Statt des dunkel grundierten Schriftstreifens unter den Bildern, wie ihn das Bild von 1701 bis zur Zerstörung durch Fliegerangriff (28./29. März 1942) zeigte, bietet das Revaler Original ein flatterndes Spruchband (Abb. 29), dessen Falten die Verse der einzelnen Bildfiguren kolumnenweise voneinander abtrennt. Die niederdeutschen Verse dieses Spruchbandes hatte der Pfarrer Jacob von Melle, „so man noch davon hat lesen können", um 1700 aufgezeichnet und seiner Lubeca religiosa einverleibt. Vom ersten Teil des Totentanzes, dessen Original sich, wie gesagt, schon seit etwa 1588 in Reval befand und dessen 1588 gemalte Kopie wohl unter dem Einfluß der feuchten Westwand der Totenkapelle Schäden aufwies, konnte Melle nur noch vier Verse des (als Spielmann unter der Kanzel sitjenden) Todes entziffern. Seine fortlaufende Lesung setjt erst mit den Versen des Todes zum Domherrn wieder ein l s ). In " H e i s e (s. Anm. 12) S. 193/94 meint, als Melle ca. 1700 seine Lubeca religiosa (Lübedc, Stadtbibl. Ms. Lub. 492) verfaßte, habe der Teil des Gemäldes, dessen Original seit 1588 in Reval aufbewahrt wurde, in Lübedc völlig gefehlt und die Kopie von 1701 müsse für diesen Teil auf das in Reval befindliche Original zurückgegriffen haben. Das ist falsch, denn die vier Verse des Spielmanns Tod, die Melle als erste aufzeichnet, gehören ja auch schon zu diesem in Reval befindlidien Stück des Gemäldes, er muß

Der Lübecker Totentanz und seine niederländische Vorlage

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Reval g i n g der Gemäldestreifen aus Lübeck, der Bischof, Herzog, Abt, Ritter, Kartäuser und Bürgermeister umfaßt haben soll, zugrunde, ehe j e m a n d an Aufzeichnung des Textes dachte. Aber der A n f a n g des Gemäldes mit Prediger, Spielmann T o d und Papst, Kaiser, Kaiserin u n d König erhielt sich in Reval bis in unsere T a g e u n d hat uns die schon 1700 in Lübeck nicht mehr lesbaren Verse dieses Streifens erhalten, so daß insgesamt nur 11 Aditzeiler des alten Lübecker Textes verloren gingen. Betrachtet man den W o r t l a u t des Lübecker Textes von 1463 genauer, so wird deutlich, daß nicht der französische T e x t der Danse de macabre die unmittelbare Vorlage gebildet haben kann, sondern ein mittelniederländisches Zwischenglied. Der Reim swar:nar (v. 183/4 und 331/2) hat mit nar ein niederländisches Wort übernommen, das niederdeutsch na lautet, der Reim vlesdi:gest (v. 273/4) spiegelt wohl einen niederländisch möglichen Reim vlees:gheest wieder, der Binnenreim klusenaer:naer (v. 332) hält die niederländische Form fest anstelle der niederdeutschen klusenere, der Reim my:als ik sy (v. 25/6) die niederländische Konjunktivkonstruktion anstelle eines niederdeutschen sie also auf einer 1588 gefertigten Kopie vorgefunden haben. Auch Melles Bemerkung, die alten Reime seien teils verlosdien, teils wegen oftmaliger Reparaturen sehr verstümmelt, so daß seiner Niederschrift die Hälfte der »Zusammensprache" fehle, läßt nur die Deutung zu, daß die Bilder des ersten Teiles an sich vorhanden waren. Die Beschädigungen gerade dieses 1588 kopierten ersten Teiles lassen der Vermutung Raum, daß die Kopie von 1588 nicht sehr sorgfältig gemalt war. Daß aber gerade das Schriftfeld besonders mitgenommen wurde, ist leicht verständlich. Denn hier hat gewiß der Übermut der Jugend, der j a gerade der untere Teil der auf Rahmen gespannten Leinewand besonders leicht zugänglidi war, das seinige getan, um den Zerfall zu beschleunigen. — Wie das Revaler Bild beweist (Abb. 29).. trug das Lübecker Original nicht wie die barocke Kopie von 1701 Überschriften über den Versen. Vielleicht hängen damit die angeblichen Differenzen in der Reihenfolge der Gestalten zwischen Melles Niederschrift und dem Revaler Fragment zusammen. Die heute bei allen Veröffentlichungen des alten Lübecker Textes übliche Reihenfolge stammt von Mantels und Seelmann (s. Anm. 8). Beide nahmen an, das Lübecker Gemälde sei auf einzelne Holztafeln gemalt gewesen und bei Renovierungsarbeiten seien einzelne Holztafeln vertauscht worden. Da aber das Gemälde von Anfang an auf Leinewandbahnen von beträchtlicher Länge gemalt war, scheidet diese Erklärungsmöglichkeit aus. Mclle's bestimmte Aussagen über die von ihm vorgefundene Reihenfolge der Aditzeiler erhalten damit ein ganz anderes Gewicht, während infolgt Fehlens von Überschriften bei der Zuweisung der Aditzeiler an bestimmte Gestalten Irrtümer nicht ausgeschlossen sind. Deshalb bedarf die übliche Reihenfolge der Achtzeiler und ihre Zuweisung an bestimmte Gestalten einer erneuten eingehenden Nachprüfung, die jedoch nicht im Rahmen dieses Buches erfolgen kann.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdhland

als ik bin, endlich hat der Reim syn:meister tnedicin (v. 235/6) das niederländische, aus dem Französisdien entlehnte Wort medicin statt des niederdeutschen arste, arstedin bewahrt. Die Verse des Klausners 333—40 häufen geistliche Fadiworte romanischen Ursprungs conciencie, purgert, tentert, temptacie, die nur durch mittelniederländisches Zwischenglied erklärlich sind. Diesen Kriterien möchte ich vor allem noch den Reim respit:tit (v. 189/90 und 349/50) anfügen, der das französische Wort respit „Aufschub", enthält, das uns aus L e Fêvre's Respit de la mort geläufig ist und aus seiner Danse de macabre v. 112 Contre la mort n'a nul respit und v. 387 Contre la mort n'a respit ne grâce. Im Niederländischen ist respit als Lehnwort häufig, ein Deutscher hätte aus dem französischen Text dies fremde respit niemals übernommen, im Niederländischen ist es aber ein häufiges Lehnwort, und im Reim zu dem auch niederdeutsch geläufigen tit kam es in den Lübecker Text.

In den Niederlanden sind keine Spuren eines alten Totentanzes mehr aufzufinden. Wir wissen nur, daß in Brügge, dem großen Umschlaghafen des Ost-West-Handels, im Jahre 1449 vor dem burgundischen Hofstaat ein certain jeu, histoire et moralité sur le fait de la danse macabré aufgeführt wurde 14 ). Ob es sich dabei um eine dramatische Aufführung gehandelt hat oder um eines der damals so beliebten „lebenden Bilder", bleibt ungewiß. Am wahrscheinlichsten ist das letztere, denn die Rechnung für diese Aufführung kassierte der Maler Nicaise de Cambray ein. Bei lebenden Bildern war ein Maler als Fachmann und Veranstalter am Platje, ausgesprochene Theateraufführungen würde man wohl eher einem Schulmeister anvertraut haben. Schon die Tatsache solcher Schaustellung des Totentanzes spricht für die Popularität des Totentanzes in den Niederlanden, und da der Dood van ypern in Volksliedern eine ähnliche Rolle spielt wie anderwärts der „Tod von Basel", scheint eine dieser literarisch nicht mehr belegbaren Totentanzdarstellungen in Ypern gewesen zu sein l s ). Auch alte Kartenspiele, die neben Tod und Leben 34 männliche und weibliche Figuren aller Stände aufweisen, dürften für eine Verbreitung der Totentanzdichtung in Holland sprechen. Es scheint so, daß der französische Totentanzbilderbogen in den Niederlanden überseht wurde. Als niederländischer Bilderbogen fand er dann nach Niederdeutschland hinüber. Bei den Kostümen des Lübecker Totentanzes, besonders bei den Frauenkostümen, ist die burgundischniederländische Modetracht aus der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts E. H. L a n g l o i s : Essai sur les danses des morts 1 (1851), S. 292. — S e e l m a n n (s. Anmerkung 8) S. 15 f. " H e n r y H y m a n s : Brügge und Ypern, 1900, S. 81, sieht im Dood van ypern nur eine Erinnerung an die Pestkatastrophe von 1349. 14

Spuren niederländischer Totentänze

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unverkennbar. Wirklich greifbar wird »ins dieses niederländische Bindeglied zwischen der Danse de macabre und dem niederdeutschen Totentanz nidit. Die niederländischen Reimpaare, die Thielman Kerver den Ghetyden van onzer liever vrouwe, Paris 1509, beifügte 14 ), können eine Verkürzung einer solchen Übersetzung der Danse de macabre sein. Jedenfalls erinnert der Vers des „Constabel" Menidi stad heb ic verbrant ende worde voirt in en ander lant an den französischen Text: v. 105/8. J'avoye encor intencion d'assaillir chasteau, forteresse et mener a subiection en aquerant honneur, ridiesse.

Aber ebenso gut können alle diese niederländischen Verse freie Wiedergabe der lateinischen Hexameter sein, die Kerver seinen lateinischen Horae beizufügen pflegte. Bei der Gestalt des Connestable stehen zwar die französischen Verse den niederländischen näher als das lateinische Diruta marte mea non obstant menia morti. Die Kurzatmigkeit dieser zweizeiligen Verse ermöglichen keine sichere Entscheidung und keine eindeutigen Rückschlüsse darauf, wie ein niederländisdier Bilderbogen mit der Umsetzung der Danse de macabri in niederländische Aditzeiler ausgesehen hat. Es ist jedodi wahrscheinlich, daß die niederländischen Achtzeiler sidi, soweit der Reimzwang es erlaubte, eng an den französisdien Text gehalten haben, während der Lübecker Text unter dem Einfluß des älteren Textes Würzburger Prägung und gemäß den besonderen deutschen Erfordernissen und den Raumverhältnissen der Totenkapelle die niederländische Vorlage gewiß recht frei bearbeitete. Da sidi keine genauen Anhaltspunkte finden lassen, müssen wir die Frage, wie das niederländische Bindeglied aussah, ganz beiseitelassen und die Lübecker Fassung unmittelbar mit der Danse de macabre vergleichen. Das kunstvolle Reimsdiema der Danse de macabre ist zugunsten von einfachen Reimpaaren aufgegeben. Das war bei dem geringen Reichtum an Reimen im Deutschen das Gegebene. Beibehalten wurde entgegen dem bis dahin üblichen vierzeiligen Totentanz die achtzeilige Strophe. So macht die äußere Form des Lübecker Textes von vornherein eine Beziehung zur Danse de macabre wahrscheinlich. Zur Gewißheit wird sie durch die wörtlichen Anklänge, die unverkennbar sind. Gleich die erste Zeile des Lübecker Textes Och redelike creatuer, sy arm ofte ryke gibt in Wortsinn und Wortklang den "Hrsg. F. A. S t o e t t , in: Noord en Zuid 16 (1893), S. 11—17.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

französischen Eingangsvers O creature raisonnable wieder. Die bisherige Forschung hielt allgemein diesen Wortanklang für den einzigen. Aber gleich die nächsten Verse belehren uns eines besseren: Seet hyr dat spectel, junck unde olden, unde dencket hyr aen ok elkerlike, dat sik hyr nemant kan ontholden, wanneer de doet kumpt, als gy hyr seen.

Diese Verse sind teils sinngemäß, teils wörtlich eine Wiedergabe der französischen Verse 9-14: En ce miroir chacun peut lire, qui le convient ainsi dancer: saige est celui, qui bien se mire. Le mort le vif fait avancer, tu vois les plus grans commencer, car il n'est nul, que mort ne fiere.

Spectel ist offensichtlich an dieser Stelle im Sinne von spéculum ein die Stelle von miroir „Spiegel" getreten. Der französische Druck von 1486 nahm ja daryi als Titel des ganzen Andachtsbuches das miroir von Vers 9 in den Titel als miroire salutaire, indem er zugleich den geläufigen Buchtitel Spéculum humanae salvationis paraphrasierte. Le Fèvre hatte mit dem Spiegelvergleich die ungeschicktere Formulierung des lateinischen Totentanzes v. 12: Haec ut pictura docet exempli figura in eine glattere, geläufigere Metaphorik verwandelt. Der Niederdeutsche sucht jetjt die französische Formulierung in seine Sprache umzusehen. Die sentenzhafte Formulierung Saige est celui, qui bien se mire wird in die altväterliche Mahnung Dencket hyr aen ok elkerlike umgeformt, das Le mort le vif fait avancer, tu vois les plus grans commencer aus der Vorstellung des Totenreigens in die fortgeschrittenere des Todestanzes umgesetzt: Nemant kan sik hyr ontholden, wanneer de doet kumpt, als gy hyr seen. Auch über diese Eingangsverse hinaus ziehen sich wörtliche Anklänge durch den ganzen Text. Mögen sie im einzelnen Falle nichts beweisen: in ihrer Gesamtheit sprechen sie eindeutig für eine enge Verwandtschaft des französischen und des niederdeutschen Textes. Einige Beispiele mögen das im einzelnen erhärten. „Ich war Gott auf Erden" läßt Le Fèvre den Papst sprechen17); klingt das nicht noch durch, wenn in Lübeck der Tod v. 23 zum Papst sagt: AI hevestu in godes stede staen, een erdesdi vater? Le Fèvre's Anrede: „Ihr ohne17

v. 25/26: Hé, faut-il, ttrrel

que la dance mainne

le premier,

qui suis dieu en

Der Lübedcer Totentanz und die Danse de macabri

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gleichen in der Welt, Fürst und Herr, großer Kaiser" 18), klingt sie nidit fast wörtlidi wieder, wenn der Kaiser in Lübeck v. 47 sagt: Ik was mechtidi unde rike, hogest van machte sunder gelike? Beweiskräftiger ist es noch, wenn ein so vom Wege abführender Gedanke, wie ihn Le F£vre den König sprcdien läßt 1 9 ), in Lübeck v. 94 aufgenommen wird. „Ich habe zu tanzen nicht gelernt" heißt es bei Le Fevre, in Lübeck ganz genau so: Dussen dans eil hebbik nicht gelert. Bei Le Ffevre sagt der Domherr: „Pfründner bin idi in mancher Kirdie" 20 ); Van mitten prunden hadde ik genoch to bruken ediot es v. 206 in Lübeck! Der Arzt, der meister medecin rühmt bei Le F£vre wie in Lübeck sein Können, Krankheiten zu heilen. Dann heißt es bei Le Fevre (v. 358): „Nichts hilft mehr Kraut, Wurzel oder anderes Mittel, gegen den Tod gibt es keine Medizin" 2 1 ), in Lübeck aber beinahe gleichlautend: Mer..en helpet nine kunst noch medicin... van dem dode bin ik beseen (240/44). Der ehrgeizige Hilfsgeistliche Le Fevre's, der vorwärts zu kommen dachte (venir en avant, v. 483) wird in Lübeck zum Küster, der vermeinte, noch hogher to kamen vorwar, en grot officium was min sin (v. 304 f.). Bei Le F£vre höhnte der Tod: „Mancher denkt hoch zu steigen, den man herabfallen sieht" (v. 475/ 78), in Lübeck tröstet er den armen Küster, aber der Inhalt dieser Trostworte ist genau derselbe wie jener Hohn im französischen Text, und auch das abschließende Alons ensemble klingt getreulich wieder: v. 309/15. AI werstu hogher geresen, in groter var mustestu wesen, it is diner sele meiste profit, dat gi nicht hogher resen sit! Volghe na in mine partie, wente hoch sin maket hovardie!

Diese wörtlichen Anklänge, die aditzeilige Strophe und die Übernahme einer Anzahl von Figuren beweisen, wie eng die Zusammenhänge zwischen der Danse de macabre und dem Lübecker Totentanz sind. Aber nirgends wird der Versuch gemacht, den französischen Text fortlaufend wörtlich zu übersehen! Wie der Versuch einer einigermaßen wörtlichen Übersetjung ins Niederdeutsche aussieht, zeigt uns das schon mehrfach gestreifte Fragment eines W e s t f ä l i s c h e n 18

V. 33/34: Et vous le non pareil du monde, prince et seigneur grant emperière. " v. 73: Je n'ay point apris à danser. 10 v. 250: Prebendez suis en mainte église. 11 v. 358/60: Plus n'y vault herbe ne racine riautre remède, quoy qu'on die contre la mort n'a medicine. 13

Rosenfeld,

Totentanz

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

T o t e n t a n z b i l d e r b o g e n s * 8 ) , das man der Tracht nach zwischen 1430 und 1450 ansehen kann. Das Bild zeigt in schematischer Übernahme des französischen Totengräbers Tod jede Todesgestalt mit einem Sarg; freilidi mochte der Maler auch nidit auf das Blasinstrument aus der Tradition des deutschen Spielmanns Tod verzichten und hat deshalb der einen Todesgestalt beides, Sarg und Pfeife, gegeben (Abb. 17). Der Laboreur hat nidit den Dreschflegel bei sich wie auf den deutschen Totentänzen, z. B. in Klein-Basel, MetniÇ und im Heidelberger Blockbuch, sondern hält einen Spaten wie auf Marmions Totentanz (Abb. 35) und wird deshalb dem Niederdeutschen zum grever. Der Text, der kolumnenweise unter jede Figur gesetjt ist, schließt sich in den ersten Zeilen jeweils wörtlich an die französische Vorlage an*'). Le Fèvre's Verse 425/27: Laboreur, qui en soing et paine avez vescu tout vostre temps, morir fault klingt genau im Niederdeutschen wieder als Arbeyder, de in groter pyne hebbet gelevet yuwe tijd, hebbet nu an dese stunde begegne to syne to stervenne. Ebenso bieten die Worte des Todes zum Junker eine ziemlich genaue Umsetjung der betreffenden französischen Verse zum escuier: Paris v. 161. Avances vous, gent escuier, qui saves de dancer les tours, lance porties et escu hier et huy vous finires vos jours. Il n'est rien, qui ne prengne cours: dancez et pensez de suirl Westfalen v. 17/21. Komet her, vrissdier junchere, de van elkem danse wet de kere, den speer dreghe gy nummer mere. Van hijr sdieyden, dat dot swere: sprinck hijr an dessen dans! Auch die Antwortverse des Arbeiters folgen der Danse de macabre wörtlich, erhalten aber durch Einfügung eines Wortes eine "Berlin Ms. germ. fol. 735. — Text erstmals bei W. S e e l m a n n , in: Jb. d. Ver. f. nddt. Spr. 11 (1885), S. 126 f. — Im Anhang biete ich einen kritischen Text, dem Besserungen durch William Foerste, Münster, zuteil wurden, wofür hier gedankt sei. W. Foerste und E. Nörrenberg, Münster, untersuchten auch dankenswerterweise die Frage westfälischer Herkunft. Aus dem Rahmen fällt der Reim •entflen: sten; da jedoch stet (3. Pers. sing.) westfälisch belegt ist, halte ich sten nicht für hochdeutsch, sondern für eine unorganisch von stet abgeleitete Nebenform zu stan, wohl südwestfälisdi. — In Abb. 17 veröffentlidie ich erstmals das stark verwischte B i l d nach einer Skizze von mir. " S e e l m a n n , a.a.O., S. 126 f. wies zuerst darauf hin.

Der westfälische Totentanzbilderbogen und seine Vorlage

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etwas andere Nuance. Bei Le F£vre sagt der laboreur (v. 433): La mort ay souhaite souvent, mais volentier je la fuisse, meint also: einst habe er den Tod oft herbeigewünscht, jetjt aber, wo es ernst wird, wäre er ihm doch gerne entflohen. Der Niederdeutsche überseht: v. 9/10: De dot hebbe yk wunsdiet vele, wente ek wolde gherne der werlde entflen. Ghet et hir nu uth dem speie, wer kraft oder madit by my kan sten.

Der Niederdeutsche fügte also für das la der zweiten Zeile de werlde ein und nahm diese Zeile als eine nähere Begründung der ersten, um dann erst in der dritten Zeile den Stimmungsumsdiwung anzudeuten, der eintritt, sobald es wirklich ernst wird. Ob hier Mißverständnis oder Absicht vorliegt: audi sonst fühlt sich der westfälische Übersetzer durchaus als Eindeutscher und meidet alles, was der einheitlichen Stimmung und dem Ernst des Textes hinderlich sein könnte: die allgemeinen Sentenzen der französischen Vorlage und die Auflockerung der starren Haltung durch Blicke in die reale Welt. Nicht nur, daß konsequent die sprichwörtlichen Sentenzen am Schluß jeder Strophe getilgt werden. Aus v. 427 „Sterben muß ich, das ist sicher" macht er v. 4: „Denkt ans Sterben, wo Ihr eures Lohnes sicher seid!" Aus v. 428: „Zurückweichen und Widerstand hilft nicht!" wird v. 5: Volghet nu sunder beyden. Alis v. 429-31 „Ihr müßt mit dem Tod zufrieden sein, denn er befreit euch von großer Sorge! Nähert euch, ich erwarte euch" macht er v. 6-8: Gy moten sterven van stunt. Den rechten weck wyl ik yu leyden, wente he is my wol kunt. Bei Le F£vre sagt der Arbeiter v. 435-39: „Ich möchte lieber bei Wind und Wetter im Weinberg sein und umgraben, idi verliere aus Angst alle Gedanken, niemand fände aus diesem Engpaß!" Der Niederdeutsche tilgt alle Einzelheiten und alles Sentenziöse und lenkt in die herkömmliche Situation des Totentanzes zurück: Kemant kan mi helpen in dessen sahen, de dot hevet my gegrepen; her got, wat schal ik maken? He wyl myt my kenne slepen! Natürlich muß auch das für den höfischen Junker so kennzeichnende Lebewohl an die Tanzvergnügungen und Damen (v. 170 ff.) wegfallen. Der erste Vers des Junkers, daß der Tod ihn in den Schlingen halte (v. 169) wird zwar übernommen (v. 26 de dot hevet my vanghen vast), alles Folgende aber übergangen und erst wieder die religiöse Mahnung Pensez de l'ame . . ne vous chaille plus tant du corps (v. 173 ff.) wörtlich aufgenommen und breit ausgesponnen:

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland (v. 29 ff.): „Bedenket de zele, de wyle gy levet, up den licham nummer mere: de licham wert, dat he wezen hevet, de zele eyn stervet nummer mere!"

Dieses Bilderbogenfragment ist für uns nicht nur als eins der wenigen Dokumente der sonst verschollenen Bilderbogenliteratur und als Beweis für die Verbreitung der Totentänze auf Bilderbogen von größtem Wert. W i r sehen zugleich, wie ein Bilderbogenredaktor einen fremdsprachlichen Text bearbeitet. Audi wo man wie in diesem Falle lediglich eine fremde Vorlage in der Landessprache wiedergeben wollte, verzichtete man keineswegs darauf, alles das auszutilgen, was fremdartig oder ungewohnt schien. Das fremde Produkt wurde nicht bloß überseht und in Reime gebracht, nein, es wird im eignen Geiste gemodelt und dem Pulsschlag des eigenen Herzens angepaßt. Und doch scheidet sich die Haltung dieses Bilderbogenfragmentes sehr wesentlich von der des Lübecker Totentanzes. Auch in ihm sind, wie wir sahen, hier und da die Worte und Gedanken des französischen Vorbildes gewahrt. Aber diese Anklänge und Zitate sind nicht das Wesentliche. Sie beweisen in ihrer Spärlichkeit gegenüber der weitgehenden wörtlichen Übereinstimmung von Vorlage und Übersetjung beim niederdeutschen Bilderbogen, daß der Verfasser eben nicht das fremde Vorbild nur überarbeitete und zurechtstutjte. Für den Verfasser des Lübecker Textes ist das fremde Vorbild nur die Anregung zu einer eigenen Totentanzdichtung, aber weder Muster noch Schema. Das zeigt sich schon im Äußerlichsten, in der Strophenform. Der Redaktor des Bilderbogenfragmentes hatte sich bemüht, die französische Achtzeilenstrophe mit ihrem künstlichen Reimschema a:b:a:b: b:c:b:c wenigstens annähernd durch verschränkte Reime a:b:a:b:c:d:c:d nachzubilden. Der Lübecker Textdichter verzichtet grundsätzlich darauf und begnügt sich mit vier ganz einfachen Reimpaaren, eine Beschränkung, die der Wucht und Eindrücklichkeit des Inhalts zugute kam. Im ganzen verhielt sich der niederdeutsche Bilderbogenredaktor rezeptiv wie ein Überse^er, und das Gleiche können wir von dem niederländischen Bilderbogenredaktor mutmaßen. Ganz anders verfährt der Verfasser des Lübecker Textes. Er wollte nicht oder nicht nur ein neumodisches Literaturprodukt vermitteln, sondern in ihm begegneten sich der sprödere alte deutsche Totentanz und das elegante französischniederländische Muster, und daraus erwuchs etwas durchaus Neues und in seiner Art Kostbares und Einzigartiges — so ist es j a meistens, wenn sich Gegensätje, wenn sich Romanisches und Germanisches in einer schöpferischen Seele begegnen.

Tradition und Modernität im Lübecker Totentanz

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Weshalb bedurfte es einer Anregung aus dem Westen, weshalb drangen die Bilderbogen mit dem französischen Totentanz in ein Gebiet, das längst deutsche Totentänze besaß? Weshalb begeistert sich der Deutsche — manchmal bis zur Würdelosigkeit — für das Fremdländische, weshalb schwankt er so oft zwischen sturer Verkrampfung in sich selbst und völliger Hingabe an das Fremde, weshalb fehlt ihm das sichere Selbstbewußtsein, das weder Selbstverkrampfung noch Selbstaufgabe kennt? Insonderheit die Seefahrerstädte Deutschlands hatten j a alle Fenster nach dem Westen hin offen. Ich erinnere nur daran, daß die Lübecker im 13. Jahrhundert die Marienkirche, in die sie später den Totentanz malen ließen, dreimal abrissen, um sie innerhalb weniger Jahrzehnte wechselnd immer nach den jeweils modernsten Baustilen Nordfrankreichs neu aufzubauen. Das ist gewiß das eine Moment, das für die Übernahme des französisch-niederländischen Totentanzes bestimmend wurde: er war die letjte Mode, und wie man die Kleider möglichst nach burgundisdiem Schnitt trug, so modelte man den Totentanz nach westlicher Mode. Aber bei einer so innerlichen Angelegenheit, wie es der Totentanz ist, blieb es nicht bei äußerlicher Übernahme. Selbst der Redaktor des westfälischen Bilderbogenfragmentes säuberte ja seinen Text von allem, was ihm fremd vorkam und glich ihn deutscher Gefühlshaltung an. Dies tat erst recht der Verfasser des Lübecker Textes. Hier haben wir keine Selbstaufgabe, sondern eine fruchtbare Synthese: das Fremde half, sich von einer erstarrten Tradition zu lösen, half, die eigenen schöpferischen Kräfte zu entbinden. Es war eben so, daß der alte deutsche Totentanztext, die niederdeutsche Fassung des Würzburger Totentanzes, in seiner Verhaltenheit und Starrheit dem Menschen des 15. Jahrhunderts nicht mehr genügte. Deshalb griff man begierig nach den neuen Bilderbogen aus Frankreich. Die große Pest, die Norddeutschland verheerte und sich drohend Lübeck näherte, gab den legten Anlaß, den als veraltet empfundenen Totentanz in die Sprache des 15. Jahrhundert zu bringen. Jene Menschen waren redseliger und trugen ihre Gefühle stärker zur Schau. Die dramatischen Aufführungen schwellen immer mehr an und nehmen im Leben der Bürgergemeinde einen immer größeren Platj ein. Die soziale, geistige und religiöse Verwirrung der Zeit treibt die Menschen um. Die Kirchen füllen sich mit Altären, die Zahl der Bruderschaften nimmt immer mehr zu und im Aufwand von Passionsspielen, Moralitäten und Prozessionen sucht das unruhige Herz Betätigung, um die immer fühlbarer werdende Wirrnis zu bekämpfen. Der Totentanz des 14. Jahrhunderts war noch ganz un-

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

dramatisch, nur Wortwerdung einer unheimlichen Vision: der Tanz der Toten, der neu Verstorbenen, mit den eklen Leichengestalten der Gräber. Eine furditbare Vision von der Ohnmacht des Menschen und der Hinfälligkeit menschlicher Würde, aber eben nur eine durch Bilderverse sprechende und erklärte Vision. Das ausgehende 15. Jahrhundert fordert mehr, fordert Dramatik. Das fremde Vorbild, selbst noch aus dem 14. Jahrhundert stammend, nicht nur seiner Entstehung, sondern seinem ganzen Geiste nadi, aber in der Hand eines französisidien Literaten schon zu bewegterer reicherer Form entfaltet, wird nun in Niederdeutsdiland Anstoß zu einer durchgreifenden Dramatisierung der alten Bildvision. Aber darin geht der niederdeutsche Text weit über das hinaus, was Le Fevre's Hanse de macabre bieten konnte. Der Widerstreit zwischen dem angestammten und dem fremden Totentanztext rief die eigenen Gestaltungskräfte wach und befähigte, dem Drängen der eigenen Zeit und des eigenen Herzens nachzugeben. Zu diesen neuen dramatischen Elementen, die jetjt wirksam werden, gehört es, daß der Tod es jetjt ist, der die Menschen zum Totentanz ruft, der ihnen die Hand reicht und sie tanzen heißt. In der Danse de macabre betonen die Verse des Predigers sowie die Überschrift der betreffenden Strophen mit Le Mort, daß nicht der Tod es ist, sondern einzelne Tote als Abgesandte des Todes, die mit den Verstorbenen zum Reigen antreten. In Lübeck ist es einhellig der Tod selbst, der die Menschen ruft, und so wenden sich auch hier zum ersten Male die Menschen mit Bitten um Aufschub und um Gnade und mit Vorwürfen an den Tod. Wie verträgt sich die Vorstellung des einen herrischen Todes mit dem hergebrachten Bild des Totenreigens, die Vielzahl der Toten mit dem einen Herrn und König Tod? Für den modernen Menschen, der seit der Renaissance zu einer illusionistischen Sehweise und Kunst und schließlich auch zu einem illusionistischen Bühnenbild erzogen wurde, ist allerdings völlig unverständlich, wie der eine Tod in einer Vielzahl von noch dazu reigenmäßig miteinander verknüpften Totengestalten gesehen werden kann. Der Lübecker Text läßt aber keinen Zweifel, daß er den Tod in den einzelnen Totengestalten, wie sie das Bild zeigt, sieht. Der Tod sagt es ausdrücklich zum Papst (v. 26): Du most my volghen und werden, als ik sy und v. 103 zum Konig: Du most in den slik werden geschapen myn gelik, und der Papst erkennt es schaudernd: Ik altohand moet werden gelik als du een slim der erden (v. 31). Der mittelalterliche Mensch war gewohnt, Bilder kontinuierlich abzulesen, und die Vielzahl der Totengestalten in ihrer gleichbleibenden Gestalt Hand in Hand mit den verschiedenen menschlichen Gestalten konnte ihm

Die namenlosen Toten werden zur Personifaktion des Todes

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ebenso gut eine Vielzahl individueller Toter als audi den einen personifizierten Tod widerspiegeln. Dem Menschen jener Tage wäre es gewiß völlig unverständlich, warum de r moderne Mensch Anstoß daran nimmt. Der Tod in vielerlei Gestalten — ist das nicht viel unheimlicher und wirklichkeitsnäher als der eine kleine Tod, der alle nacheinander packt? Das Nebeneinander und das Nacheinander verschwimmt, es bleibt die große, dramatisch bewegte Vision, daß der Tod jeden einzelnen in den großen unheimlichen Tanz der Toten zwingt! Daß dieser Tod den Menschen in der eklen Leichengestalt erscheint, daß er selber wie seine Opfer als Leiche, als slim der erden erscheint, ist dem mittelalterlichen Denken selbstverständlich und bildet die Brücke des Verständnisses zwischen der Darstellung der Toten und der Vision des allmächtigen Todes. Das Bild des durchgehenden Totenreigens also konnte der grundsätzlichen und konsequenten Verwandlung der Totengestalten in den „Herren Tod" — mit herre redet z. B. der Kardinal Vers 77 den Tod an — nicht im Wege stehen. Die Fremdartigkeit des französischen Textes aber gibt den Anstoß zu völliger Neugestaltung. Der Würzburger Text — ihm wird die niederdeutsche Urfassung gefolgt sein — gab die Reden der namenlosen Toten als Antwort, als Echo auf die Monologe der Sterbenden. Die Danse de macabre behielt den monologischen Charakter der Menschenverse bei, stellte aber die Reden der Toten voran und gab ihnen die Funktion einer Aufforderung zum Tanz. Es lag nahe, bei Kombinierung beider Texte, des Würzburger und des französischen, beides zu vereinigen: die Aufforderung zum Tanz durch den Tod und die Antwort des Todes auf ihre Klagen und Bitten, das unerbittliche Nein des unerbittlichen Todes. Dem Tod als Herren des Todestanzes kommt es zu, den Menschen zu rufen, die unwiderstehlichen Pfeifentöne des Spielmanns Tod in die harte deutliche Sprache des Herrn über Leben und Tod zu verwandeln, ihm kommt es aber auch zu, das le^te Wort zu behalten. Schon Le Fevre hatte das gefühlt und in vier Fällen den Worten des Menschen eine Antwort des Toten, bei ihm des im Reigen nachfolgenden Toten, entgegengesetjt. Beim laboreur ist es ein Antwortvers, beim Kaufmann sind es deren drei, beim clerc sind es bereits vier, beim Eremiten am Sdiluß des ganzen Reigens kann der le^te Tote des Reigens einen ganzen Aditzeiler als Antwort geben. Damit hat Le Fevre am Schluß seiner Dichtung fast schon die Paßhöhe erreidit, über die der Weg in das neue Gefilde der Totentanzform geht. In Lübeck ist dieser W e g konsequent zu Ende gegangen. Die Aufforderung zum Tanz, die

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

bei Le F£vre meist noch acht Zeilen einnahm, schrumpft konsequent und überall gleichmäßig zu einem einzigen Vers zusammen; nur am Anfang, beim Papst, spricht der Tod nodi die vollen adit Zeilen wie in der Danse de macabre. Fortan aber fallen sieben volle Zeilen auf die strafende und richtende Äußerung des Todes zu den vorangegangenen Ausflüchten des Menschen. Audi diese gründliche Antwort, diese gründliche Abfuhr des Menschen ist ein Teil der ganz allgemein in Lübeck zu beobachtenden Dramatisierung. Daß auch der spanische Dichter, der gleichzeitig dichtete oder später, unabhängig von dem Niederdeutschen den gleichen Weg ging, ist nicht zu verwundern. Er fand im gemeinsamen französischen Vorbild dazu die Anregung und im Verlangen nach dramatischer Aktualisierung — wie es im Zug der Zeit lag — den Anlaß zu ähnlicher Formwandlung. Wären die spanische und die niederdeutsche Dichtung dagegen nur Übersetzungen einer schon mit dieser Formeigentümlichkeit behafteten Vorlage, sollte man wahrhaftig über dieses formale Element hinaus inhaltliche, j a wörtliche Übereinstimmungen erwarten. Daß die Figurenfolge im Lübecker Totentanz eine Kombinierung aus dem Würzburger Totentanz und der Danse de macabre ist, wurde schon gestreift. Kaiserin, Herzog und Edelmann gibt es nur im Würzburger Totentanz, Kartäuser, Wucherer, Eremit und den Hilfsgeistlichen, das Vorbild des Lübecker „Küsters", nur in der Danse de macabre. D-:r clerc servant, richtiger als „Kaplan" zu dolmetschen, wurde von dem Lübecker als Küster mißverstanden. Daß es dieselbe Figur ist, zeigen wörtliche Anklänge in den Versen, die oben angeführt wurden. Wie der clerc servant hoffte auch der Küster auf ein großes officium, während der Lübecker Kaplan die Rolle des eure in der Danse de macabre übernommen hat. Die Lübecker Verse des Herzogs sind nicht erhalten, aber es ist möglich, daß man Connestahle und Herzog als gleichbedeutend aufgefaßt hat, während der Edelmann durchaus als norddeutscher Landedelmann und Großgrundbesitzer, nicht als escuyer, als Knappe, Junker und Höfling der Danse de macabre aufgefaßt ist. Interessant ist, die Entfaltung der bürgerlichen Welt zu beobachten. Im lateinischen und Würzburger Totentanz war mercator und cives noch als eine Figur gefaßt: mercator sive cives heißt es in der Heidelberger Handschrift. Die Danse de macabre spaltete die Gestalt in bourgois und marckant. In der freien Hansestadt Lübeck wird jetjt der bourgeois zum Patrizier und als „Bürgermeister" zum Oberhaupt der freien städtischen Ständerepublik. Wenn aber alsbald dem Bürgermeister

Die Ständereihe im Lübecker und Pariser Totentanz

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und dem Kaufmann als den Vertretern der Patrizier und Kaufmannsgilden mit dem Handwerker (damals amptmann genannt) das zünftige Gewerbe an die Seite gestellt wird, so ist das typisch für die norddeutsche Stadt mit ihren Rivalitätskämpfen zwischen Patriziern und Zünften. Der Liebhaber, ein jugendlicher Stüter und Vertreter der Pariser jeunesse dorée, wird in Lübeck in kleineren Verhältnissen zum Jüngling schlechthin, der sein Leben genießen will und die Bekehrung aufs Alter verschiebt. Er bildet mit der lebenslustigen Jungfrau und dem Kind den Abschluß des Lübecker Totentanzes. Abgesehen von der Kaiserin, die auf den Kaiser unmittelbar folgt, ist in Lübeck nach französischem Vorbild der regelmäßige Wechsel von geistlichen und weltlichen Ständen bis zum Bauern herunter gewahrt. Mit Jüngling, Jungfrau und Kind wird dieses Schema endgültig aufgegeben: es sind die Altersklassen, die einer Eingliederung in Stand und Beruf vorausgehen. Typisch französische Gestalten wie Connestable oder der königliche Leibgardist (sergent) werden weggelassen: das ist selbstverständlich. Auch geistliche Stände wie Patriarch, Erzbisdiof und Franziskaner mochten entbehrlich scheinen. Dagegen beleuchtet es schlagliditartig die Verhältnisse einer freien Bürgergemeinde gegenüber dem königlichen Paris, wenn die juristischen Stände (Richter und Advokat) ausgeschieden werden. Wo Kaiser, König oder Bischof herrschen, dringt im Mittelalter das römische Recht ein und mit ihm die studierten Juristen. So fanden wir schon im lateinischen und Würzburger Totentanz den Juristen — ein Zeichen, daß beide in Bischofsstädten beheimatet sind! Le Fèvre, selbst procurator am königlichen Gericht in Paris, hatte den e i n e n Juristen seiner lateinischen Vorlage in Richter und Advokat auseinandergefaltet. In den freien Hansestädten und Bürgerrepubliken des Nordens zögerte man mit der Übernahme des römischen Rechts. Hier lag die richterliche Funktion bei dem Rat und den Schöffen, den gewählten Laienrichtern, also bei demselben Kreis,' der mit Kaufmann, Bürgermeister und amptmann vollständig erfaßt war. Der Vorwurf der Bestechlichkeit gegen den Bürgermeister in v. 233 steht also hier für alle die Vorwürfe, die man anderwärts den Juristen zu machen pflegte. Mit diesen Vorwürfen gegen den Bürgermeister kommen wir auf die moralische Haltung des Lübecker Totentanzes. Das ist es ja, was dem Lübecker Text das Gepräge gibt: nicht mehr nur die Ohnmacht des Menschen vor der Allmacht des Todes will er in den Vordergrund

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

stellen, sondern die Sündhaftigkeit jeglichen Standes vor Gott. Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes bei Gott: dies Wort des Apostel Paulus könnte über dem Lübecker Totentanz stehen! Aus der Vision von der Fragwürdigkeit menschlicher Würde und Macht, wie sie noch die Danse de macabre beherrscht, schält sich immer mehr der Gedanke heraus, daß der Tod der Sünde Sold ist. Die Worte des Kaisers lehnen sich noch eng an den Text der Danse de macabre an, aber sie werden im Sinne der Frau-Welt-Allegorie verschärft: Könige, Fürsten und Herren mußten sich vor mir beugen und jetjt kommst du Schreckgespenst und machst aus mir Speise der Würmer! Der Tod in seiner Antwort geht noch weiter. Er spricht als Herr und Richter und stellt der hohen Aufgabe des kaiserlichen Amtes als Schirm der Kirche und der Gerechtigkeit die Unwürdigkeit des Amtsträgers gegenüber (55 ff.): Men hovardie heft de vorblent, du hefst di sulven nicht gekent! In den Worten der Kaiserin durchbricht dann der Menschheit ganzer Jammer die Schranke von Würde und Ansehen und damit auch die legten Hemmnisse der monologischen Verhaltenheit, die den Menschenversen anzuhaften pflegte. Alle Jugend und Macht achtet der Tod für nichts und so bleibt nichts als ein armes jammerndes Menschenkind übrig, das wie ein kleines Kind bittet (v. 68): Odi, lat mi noch leven, des bidde ik di! Aber der Tod ist unerbittlich. Es nütjt auch dem Kardinal nichts, daß er den „Herren Tod" um Erbarmen anfleht (v. 77). Er bekommt nur zu hören, daß er ein Apostel Gottes hätte sein sollen und statt dessen hoffärtig auf stolzen Rossen ausgeritten sei (v. 85 ff.). So bitten sie alle vergeblich um Aufschub, die Menschen, die in irdischer Freude und Sorge aufgegangen sind und nicht an den Tod und das ewige Gericht gedacht haben. Der Tod, so verschieden er antwortet, macht doch im Grunde überall dieselbe Feststellung (v. 329): Up sterven hebbe gi nickt gepast, iuwe sele ser belast, dat wil juwer sele wesen swarl Sicher hat bei diesen Szenen des vergeblichen Bittens um Gnade dem niederdeutschen Totentanzdichter der Eindruck von Osterspielen, in denen der Teufel die bettelnden sündigen Menschen wegschleppt, die Feder geführt: dadurch wird die alte Totentanzidee mit neuem Leben durchdrungen, dramatisch aufgelockert und ins Moralische gewendet. Denn der Tod ist nicht nur ein furchtbarer Mahner für die Ungerechten, er findet auch Worte der Verheißung für die Gerechten. Dem Klausner in seiner Todesbereitschaft und Buße verkündet er als Lohn das himmlische Reich (v. 342), und selbst der Bauer, der doch

Ständekritik und devotio

moderna

im Lübecker Totentanz

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nur an die Arbeit gedacht hat und noch gar nidit gern sterben mag, findet Erbarmen und Trost (v. 357): Grot arbeit hefstu ghedan, God wil di nicht vorsman mit dinem arbeide unde not. It is redit, ik segge di blot,

God wilt di betalen in sinen oversten salen. Vruchte nicht en twink!

Nicht nur die Buße und stetes Ringen um das Seelenheil, abgeschieden von der Welt, auch die Not und Mühsal eines bedrängten, arbeitsreichen Erdenkbens in der Welt findet Gnade vor Gott, vor dem Gott der Mühseligen und Beladenen. Vielleicht fassen wir hier den eigentlichen Quellgrund des niederdeutschen Totentanzes. Hoffart und Geizen nach weltlichen Ehren gefährden die Seele der Großen in der Welt, Papst, Kaiser, Geistlichkeit und Weltleute. Aber der kleinste, der Adeermann, das Urbild des Menschen in seiner Kreatürlichkeit, der im Schweiße seines Angesichts das Brot ißt, wird wie der weltferne Büßer vor Gott durch Arbeit und Not geheiligt. Es ist, im großen gesehen, der Geist der devotio moderna, der Geist der Heiligung in der Mühsal des Alltags, der von den Niederlanden her nadi Deutschland drang. Diese ansteigende Welle innerweltlicher Askese derer, die nicht nur von Natur wie der Bauer arm, mühselig und beladen waren, sondern aus innerem Ratschluß und Ablehnung aller Hoffart und Weltlust, wurde von den Bettelorden ins kirchliche Fahrwasser gelenkt, von ihnen, die selbst sich der Armut Christi verschrieben hatten. W a r die Totentanzdichtung aus dem Geiste des Predigerordens emporgestiegen, der Seelsorge und Predigt auf dem Boden der Wissenschaft aufbaute, so war für die Aufnahme der Volksbewegung des 15. Jahrhunderts ein anderer Orden, der Franziskanerorden, der Barfüßerorden mit seiner innerweltlichen Bruderschaft des dritten Ordens (tertius ordo de poenitentia), den „grauen Brüdern und Schwestern", am ehesten geeignet. Der franziskanische Geist bringt gegenüber der dominikanisch-scholastischen Predigt mehr das Gefühlsmäßige zur Geltung. In dem Lübecker Totentanz, dieser dramatisch bewegten großbürgerlichen Dichtung, ist in der Abrechnung mit den „großen Hansen" und in dem Erbarmen mit den Kleinen, Mühseligen und Beladenen das erste Kräuseln der Welle zu spüren, die dem Totentanz aus dem Franziskanerorden zuströmen sollte. Im Berliner Totentanz überflutet und durchdringt dann franziskanischer Geist die niederdeutsche Totentanzdichtung und gibt ihr ein eigenes Gepräge.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

2. K l e i n b ü r g e r l i c h k e i t u n d f r a n z i s k a n i s c h e F r ö m m i g k e i t im H a m b u r g - Be r 1 i n e r T o t e n t a n z Wann der Totentanz in der Turmhalle der Marienkirche zu Berlin gemalt wurde, ist nidit mit Bestimmtheit festzustellen. Im Jahre 1380 war die Marienkirche völlig niedergebrannt, 1418 war sie noch im Aufbau begriffen, 1490 noch nicht völlig vollendet. Jedoch bereits 1469 wurden die Einkünfte des under dem. torne gelegenen Altars des heiligen Sigismund dem neugegründeten Domstifte überwiesen 24 ). Dieser Altar lag also in derselben Turmhalle, deren Wände den Totentanz tragen. Der Altar des heiligen Sigismund zur Rechten der Eingangstüre war keinem der großen, allgemein anerkannten Heiligen gewidmet. Es ist 'einer jener Volksheiligen, die die Kirche weitherzig mehr duldete als förderte. Deshalb wurde sein Altar wohl audi didit an den Eingang, gewissermaßen in die Vorhalle und abseits von den großen Kirchenheiligen gelegt, aber schnell erreichbar und nahe für das mühselige und beladene Volk, das den heiligen Sigismund gegen das Sumpffieber zu Hilfe rief. Es war eine treffliche und sinngemäße Nachbarschaft, wenn in derselben Turmvorhalle zur Linken des Eingangs der Totentanz gemalt wurde als Mahnung an eine schwere Pestzeit und als Talisman gegen neue Ausbrüche dieser verheerenden Seuche. Dieser Anlaß ist uns nicht überliefert, wie überhaupt keine Nachricht über den Totentanz vorliegt. Aber nach dem Vorgang so vieler anderer Totentänze dürfen wir auch in Berlin einen solchen unmittelbaren Anlaß voraussehen. Die Kostüme erweisen, daß er wesentlich jünger ist. als der Lübecker Totentanz, und auf Grund der ins Bild einbezogenen Kreuzigungsszene (speziell des sehr schmalen Hüfttuches) läßt sich die Datierung ins letjte Viertel des 15. Jahrhunderts rechtfertigen. Genauere Datierung hat bisher keiner gewagt, und doch glaube ich, ein festes Datum nennen zu können. Berlin hatte auch im Jahre 1451 eine schwere Pestzeit durchzumachen, aber die schwerste Pestepidemie des Jahrhunderts war die des Jahres 1484. Damals griff die Pest derartig um sich, daß Kurfürst Albrecht Achilles fluchtartig Berlin verließ und von Schönebeck aus den Berliner Magistrat ersuchte, alle Streitigkeiten bis zum Auf14

W. S e e 1 m a n n : Der Berliner Totentanz, in: Jb. d. Ver. f. ndt. Spr. 21 (1896), S. 81 ff.; S. 95—108 der Text. — Text nebst Umrißzeichnung des Bildes neu hrsg. W. K r o g m a n n , Berlin 1937.

Der Berliner Totentanz und seine Anordnung

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hören der Seuche ruhen zu lassen 8 5 ). W i r werden kaum fehlgreifen, wenn wir annehmen, daß im Anschluß an diese Seuche von 1484 das Berliner Totentanzgemälde ausgeführt wurde. Die Anordnung des Bildes weicht von allen bisher genannten Totentänzen völlig ab. In der Mitte des Totentanzes befindet sich das Kreuzigungsbild, genau auf der abgeschrägten Ecke der Turmwand. Es diente wohl zugleich als Altarbild des Altars, der als Pendant des Sigismundaltars in der rechten Ecke hier errichtet worden sein wird. Dem Maler standen für sein Gemälde die beiden Mauerflächen rechts und links von diesem Kreuzigungsbild zur Verfügung. Dies veranlaßte ihn, den Reigen der Toten nicht wie üblich von rechts nach links ziehen zu lassen, sondern von beiden Seiten zur Mitte, zum Kreuz Christi. Die andere Besonderheit ist, daß die geistlichen und weltlichen Stände von einander geschieden sind: von links ziehen alle geistlichen, von rechts alle weltlichen Stände zum Kreuz Christi, jeder aber in stufenweiser Reihenfolge vom geringsten zum höchsten, so daß Papst und Kaiser zu beiden Seiten des Kreuzigungsbildes zu stehen kommen (Abb. 24). Die Kreuzigungsszene ist meines Erachtens früher gemalt, denn sie steht in keiner organischen Verbindung mit dem Totentanz; ihre Gestalten sind wesentlich kleiner als die des Totentanzes; Maria und Johannes unter dem Kreuz reichen dem danebenstehenden Papst und Kaiser kaum bis an die Brust. Auch die Havelberge des Hintergrundes gehen nicht ineinander über. Der Maler des Totentanzes hat für den Bildstreifen des Totentanzes die gleiche Höhe gewählt, die das Kreuzigungsbild hatte, nütjt aber diese ganze Höhe für die Größe seiner Gestalten voll aus und kommt dadurch zu einem wesentlich größeren Maßstab als das Kreuzigungsbild. Dieses ist erst nachträglich und äußerlich dem Totentanz eingegliedert. Die Ungeschicklichkeit, die der Maler bei der Eingliederung des Kreuzigungsbildes zeigt, ist auch sonst zu beobachten. Der Rangund Reihenfolge nach bildet zwar das Kreuzigungsbild den Mittelpunkt, auf den zu sich die beiden Stände, die geistlichen und weltlichen, bewegen. Richtig läßt er deshalb die geistlichen Stände statt von rechts nach links (wie es üblich ist) von links nach rechts sich in feierlichem Reigentanz zum Kreuz hin bewegen. Dem hätte ein Gegenzug der weltlichen Stände von rechts nach links ebenfalls dem Kreuze " P . H e i t z / W . L. S c h r e i b e r : Pestblätter d. 15. Jh., Straßb. 191S, S. 3 ff. — Damals erschien C. Swestermulner: Regiment und lere wider die swären kranckheit der Pestilentz, Cöln an d. Spree 1484; vgl. auch G. S t i c k e r : Gesch. d. Pest, 1908, S. 86.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

zu entspredien müssen. Statt dessen läßt er auch rechts vom Kreuz den Reigenzug sich nach rechts bewegen, so daß der Kaiser jetjt neben dem Kreuze als der le^te Mann des weltlichen Standes erscheint und der Narr am äußersten Ende als der erste. Wir sehen daraus, daß der Maler ein biederer Handwerksmeister ist und seiner Aufgabe, eine vorhandene Vorlage den besonderen Verhältnissen gemäß umzukomponieren, nicht gewachsen war. Daß eine anders geartete Vorlage umkomponiert wurde, geht auch aus dem Text hervor. Am Anfang, beim Küster, hat man den Text umgedichtet. Der Tod sagt (14 f.) er wolle mit dem Küster als dem Vorbeter auch vor allen den Tanz springen. Aber man ließ aus älterer Vorlage den Tod zu der vierzehnten Figur des Reigens, zum Papst, sagen, er wolle mit ihm den Tanz vor allen anderen beginnen, da er auf Erden an erster Stelle, an der Stelle Gottes gestanden habe (170 £f.): Gy hebben in der stede gades ghestan, darumme schale gy vor an den dantj gan! Wir dürfen also annehmen, daß in der Vorlage die Reihenfolge mit dem Papst als erstem anfing. Noch einen anderen wichtigen Fingerzeig über diese Vorlage bekommen wir. Nach uraltem Totentanztyp beginnt das Gemälde mit einem Prediger auf der Kanzel. Unter der Kanzel sitjt wie in La Chaise-Dieu und in Reval ein Dudelsackbläser, den freilich der verständnislose Maler nicht als Tod, sondern als Teufel gezeichnet hat (Abb. 24). Der Prediger auf der Kanzel ist kein Dominikaner wie einst im Totentanz, aber auch kein Weltgeistlicher; es ist ein Franziskaner, und der Text beginnt entsprechend mit der Überschrift: Hyr steet dy bruder van sunte franciscus orden uppe eyneme predidkstul unde seeth. Die Marienkirche war Stadtpfarrkirche. Schwerlich hätte man hier von sich aus einen Franziskaner als Prediger dargestellt, wenn nicht die Vorlage bereits den Franziskaner gezeigt hätte. Und man hätte auch nicht diese lange Überschrift für ein Wandgemälde erfunden. Der Stil ist der der Bildunterschriften volkstümlicher illustrierter Bücher des 15. Jahrhunderts. Es ist deutlich, daß hier ein Bilderbogen oder Bilderbuch (der zusammenhängende Reigen spricht für das erstere) getreu kopiert wurde, soweit nicht die besonderen Verhältnisse eine Umkomposition verlangten. Der Text zeigt enge Berührungen mit dem Lübecker Text, der Franziskaner weist auf eine Redaktion in Franziskanerkreisen. Nun wissen wir aus Nachrichten des 16. Jahrhunderts, daß die neue Magdalenenkirdie in Hamburg, früher Franziskanerkirche, damals noch ein großes Totentanzgemälde „aus der Mönchszeit" besessen

Ein franziskanischer Totentanzbilderbogen aus Hamburg als Vorlage

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hat 2 6 ). Wir können also mutmaßen, daß die Franziskaner in Hamburg auf Grund des Lübecker Totentanzes sich eine eigene Fassung herstellten, die dann in der Hamburger Franziskanerkirche abgemalt, andererseits aber audi als Bilderbogen oder illustriertes Volksbuch weiter verbreitet wurde. Denn schwerlich haben sich die Berliner in Hamburg den Anfang des Hamburger Totentanzes kopieren lassen und dann „den übrigen Teil nach selbständigem Entwurf ausgeführt" 27). Das dafür gegebene Argument, „an eine Kopie des ganzen als Vorbild dienenden Totentanzes als Muster für den Berliner Maler wird man bei seiner Ausdehnung schwerlich zu denken haben", kann heute, wo wir die Bedeutung des Bilderbogens und der Malvorlagen und Musterbücher für die mittelalterlichen Maler erkennen, keinerlei Gültigkeit mehr haben. Ein vollständiger Bilderbogen konnte unmittelbar als Malvorlage benutjt und beim Aufzeichnen mit Kohle an die W a n d den besonderen Verhältnissen entsprechend umgemodelt werden. Es ist völlig ausgeschlossen, daß ein Maler ohne eine genaue Vorlage Figuren von fast zwei Meter Höhe und eine Komposition von 25 Meter Länge unmittelbar auf die Wand skizzierte, und für die Verse mußte sowieso eine schriftliche Vorlage vorhanden sein. W i r dürfen also wohl annehmen, daß dem Maler ein Bilderbogen mit dem Hamburger Totentanz in die Hand gedrückt wurde, mit der Weisung, an der freien Wandfläche einen Totentanz zu malen, und zwar unter Einordnung des Kreuzigungsbildes und einer entsprechenden Umgruppierung der Figuren. Der Hamburger Bilderbogen hat sicher in der üblichen Weise den Totenreigen unter Führung des Papstes von rechts nach links auf den Prediger zu fortschreitend gezeigt, aber bereits die geistlichen und weltlichen Stände voneinander getrennt. Bei der geschichtlichen Einordnung des Berliner Totentanzes geht es also zugleich um die Erschließung des Hamburger Totentanzes und um seine Stellung innerhalb der gesamten Totentanzliteratur. Völlig unberechtigt ist es, den Lübecker Totentanz von 1463 auf den hypothetischen Hamburger Totentanz zurückzuführen 28 ). Der verhältnismäßig enge Zusammenhang des Lübecker Textes mit dem französischen ist oben dargetän. Der Berliner Text zeigt dagegen keinerlei " E i n e Urkunde von 1541 verweist auf ein den Leinewebern tho der monnicken tyden zugeteiltes Gestühl achter dusser korken an dem steinen pyler vor dem dodendansse; vgl. Zschr. d. Ver. f. hamb. Gesch. 5 (1866), S. 592. tT So S e e l m a n n (s. Anmerkung 24) S. 87. **Dies tat vermutungsweise ohne genauere Untersuchung K r o g m a n n , (s. Anmerkung 24) S. 5.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

Berührungspunkte mit dem französischen Wortlaut, dagegen enge Verwandtschaft mit dem Lübecker Text, demnach kann der Hamburger Totentanz (der in Berlin kopiert wurde) aus dem Lübecker hergeleitet werden, niemals aber umgekehrt. Der Hamburger Totentanz muß also zwischen sein Vorbild, den Lübecker Totentanz von 1463, und sein umgemodeltes Spiegelbild, den Berliner Totentanz von 1484, eingeordnet werden. Vielleicht dürfen wir ihn auf die Zeit um 1473/74 datieren, wo die Pest wiederum Deutschland heimsuchte 29 ). Die Behauptung, daß der Berliner Text eng mit dem Lübecker zusammenhänge, bedarf noch der Begründung. Die Rede des Predigers beginnt in Lübeck im Wortanklang an den französischen Text, um dann ganz mit eigenen Formulierungen den eingeschlagenen Gedanken weiterzuführen. 0 redelike creature, sy arm ofte ryke, seet h y r dat spectel, junck unde olden, unde dencket hyr aen ok elkerlike, dat sik hyr nemant kan ontholden, wanneer de doet kumpt, als gy hvr seen.

Der Beginn des Berliner Textes ist völlig anders, auch inhaltlich. Der Hamburger Text hatte wohl die Worte des Predigers übernommen. In Berlin wurden sie, etwas umgemodelt, dem gekreuzigten Heiland in den Mund gelegt: v. 181/84. Gi cristene lüde, arme unde rike, junge unde olde algelike, vor ju, e[lkerlike] ik ghestorven byn, gy muthen alle [ok des dodes syn]!

Die an die Predigt anschließenden Worte des Todes zum Papst klingen unverkennbar und wörtlich im Berliner Text wieder und beweisen, daß zunächst lediglich eine Bearbeitung der Lübecker Formulierungen vorgenommen wurde. Lübeck v. 23/26. AI hevestu in godes stede staen, een erdesch v a t e r . . du must my volghen. Berlin v. 169/71. Pawes, erdesche vader, volget my na . . gy hebben in der stede gades gestan.

Das köstlich plastische und anschauliche Du bist hogest nu, dantse wy voer, ik unde du (Lübeck v. 21 f.) ist in Berlin verwässert und * * 0 b Hamburg 1483/84 von der Seuche heimgesucht wurde, ist nach Auskunft des Hamburger Staatsarchivs nicht festzustellen. A n l a ß können auch wie in Lübeck die Nachrichten vom Fortschreiten der Pest nadi Norden gewesen sein; sie drang von Basel über das Elsaß nach Norden und erfaßte z. B. Soest.

Vergleich des Berliner und Lübecker Totentanztextes

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auseinandergerissen in die Verse 170 und 172 hineingearbeitet worden: v. 170. Syet, wu schone ik ju nu vor gha! v. 172. Dar umme sdiole gy vor an den dantz gan.

Im Lübecker Text bauen sich die Worte an den Papst von Satj zu Satj auf in einer wunderbaren Architektonik. Erst sehen wir das Bild des gemeinsamen Tanzes, den Papst mit der eklen Todesgestalt, dann die schneidende äußere Diskrepanz: der Stellvertreter Gottes auf Erden muß dem eklen Tode folgen! Endlich der Gedanke der Eitelkeit alles irdischen Tuns und aller irdischen Macht: v. 27 f.: Dyn losent unde bindent dat was vast, der hoecheit werstu nu een gast!

Nidits von dieser weltweiten Spannung geht in den Berliner Text über. Der Tod tanzt voran, der Papst als höchster Würdenträger darf den Tanz anführen. Dann heißt es, ganz dem Äußerlichen des Tanzes nachgehend: v. 173/4. Tredet nu an unde synget gheringhe unde maket neene vortogheringhe!

Man sieht ohne weiteres, was originale Dichtung ist und wo ein geringerer Bearbeiter am Werke war. W i r werden später davon zu sprechen haben, warum der Textredaktor die schöne spannungsreiche Ansdiaulichkeit des Lübecker Textes aufgab. Hier sei nur die Tatsache festgestellt und sei festgehalten, daß der Lübecker Wortlaut noch vielerorts durdisdiimmert. In Lübeck rühmte sidi der Kaiser: v. 47/48. Ik was meditich unde rike, hogest van machte sunder gelike!

In Berlin (v. 193 f.) nimmt der Tod den Gedanken und denselben Reim auf, wendet aber alles ins Kleinbürgerliche: Her keyser stolt, edel unde meditichlik, up erden hebbe gy ghehad dat hemmelrik.

Während der Lübecker das prächtige Bild bringt, wie Könige, Fürsten und Herren sich vor dem Kaiser beugen und neigen, ein wahrhaft fürstliches Gemälde, malt sich der Redaktor des HamburgBerliner Textes das Himmelreich auf Erden in seiner Weise aus (v. 195): „ein gutes, wohlgestaltetes Weib, dazu schöne Pferde"; so nüditern real und mit so beschränktem Blickfeld sieht nur der kleine Mann! Der Domherr bittet in Lübeck den Tod (v. 211): „Laßt mich doch Gott besser dienen, den ich in meiner Jugend vergaß!" und reißt

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

so höchster geistlicher Würde die Larve der Scheinheiligkeit vom Gesicht. Der Berliner Text wandelt das in bloße Rhetorik um und knüpft an die ars bene moriendi, an die Kunst, selig zu sterben, an: v. 129/30. Heidde ik d a t gheleret in jungheren jaren, hedde ik wol stervendes ghedacht to varen.

In Lübeck klagt der Kaufmann (v. 290): Mine rekenscop is nickt klar. In Berlin (v. 297) bekennt er genau so: Doch is myne rekenschopp noch gar unclar. Aber der Satj steht hier und dort in ganz verschiedenem Zusammenhang. In Lübeck spricht der Kaufmann von der Mühsal der Reisen, und es handelt sich um Rechenschaft über das anvertraute Geld und Gut, das er zu verhandeln hatte: das war ein ihm von Gott anvertrautes Amt. Deshalb verheißt der Tod ihm Gottes Gnadenspruch, wenn er als ein getreuer Haushalter erfunden werde (v. 293/99). Anders in Berlin. Wohl spielt der Tod hier fast wörtlich auf die vielen Kaufmannsreisen durch wint, regen und snee (Lübeck v. 287) an, wenn er zum Kaufmann sagt: Gy sparet noch regkenweder edder wynt (v. 290), aber mit der Rechenschaft, die noch nidit klar ist, wird hier seine Rechnung mit dem Himmel gemeint: v. 297/300. Dodi is myne rekensdiop noch gar unclar, dat klaghe ik dy, criste, al apenbar. Wultu se nu clar maken, des hefst du macht. Ik hebb seker nicht vele up dy dacht.

War sich der Kaufmann des Lübecker Textes seines Amtes, seines Standes als eines in Gottes Weltplan eingeschlossenen Berufes bewußt, so sieht der Berliner Text nur die Disharmonie von irdischem Erwerbsleben und ewiger Seligkeit. Die Übertragung der kaufmännischen Rechenschaft auf die Abrechnung vor dem himmlischen Gläubiger ergibt ein symbolträchtiges Bild. Von hier aus finden wir wohl den Zugang zu dem, was den Redaktor des Hamburg-Berliner Totentanztextes zu seiner Umarbeitung des Lübecker Textes bestimmte. Der Lübecker Text weist die ganze Spannweite des menschlichen Lebens auf. Er weiß um die Größe menschlicher Aufgaben in der Welt und weiß vom menschlichen Versagen, vom Abgleiten des Menschen ins rein Irdische. Besonders den großen Herren hält er ihre Hoffart, ihre Hingabe an Genuß und Lebensfreude, ihr mangelndes Verantwortungsbewußtsein vor. Sein Standpunkt ist ein religiös-moralischer, aber er kennt die Welt und sieht sie nicht mit feindlichen Augen und nicht mit der Kleinlichkeit des Asketen.

Der kleinbürgerliche Geist des Berliner Textes

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Anders der Hamburg-Berliner Text. Er sieht die Welt aus einem sehr engen Gesichtswinkel. Er fragt nicht, ob die einzelnen Würdenträger ihre Pflicht getan haben, sondern ob sie Gutes getan, ob sie durch gute Werke ihre Rechnung mit dem Himmel ins Reine gebracht haben. Ist diese Haltung religiös eng, so ist der Blick in die Realitäten der Welt durdiaus kleinbürgerlidi. Das irdische Himmelreich des Kaisers sieht der Verfasser in einem wohlgestalteten Weib und schönen Pferden. Er sieht in der Kaiserin nicht wie der Lübecker die junge, vom Glanz des Hofes und der Macht berauschte Frau der Politik, sondern das kleine, putjsüchtige Weib, das gern alle die neuen Kleider getragen hat (v. 208). Der Herzog hat in seinen Augen nur die Armen unterdrückt (v. 230), und an den Bürgermeister richtet er als erstes die Frage, ob er das Recht der Armen richtig gewahrt habe (v. 256). Dem Wucherer wird vorgeworfen, er habe die Armen um die Hälfte betrogen (v. 267), dem Junker sein Weidwerk und Hofieren (v. 277/81). Den Handwerker läßt er als größte Sünde bekennen, daß er sonntags im Krug gezecht und randaliert habe, und den Bauern läßt er eine fette Kuh bieten, um sich eine Frist zu erkaufen. Alles in allem ist es der asketische Sinn der Barfüßer, der Volksprediger des mittelalterlichen Kleinbürgertums, der stets die Rechte der Armen gegen die „großen Hansen" vertritt und der in einer Welt des Wohllebens die Askese zur Richtschnur des Handelns machen will. Aber dieser enge, kleinbürgerliche Standpunkt kennzeichnet nur die eine Seite des Hamburg-Berliner Textes, erklärt nur, warum der Text an Spannweite und Tiefe hinter dem Lübecker Text zurückbleibt. Der Text ist auch äußerlich vereinfacht. Die kunstvolle Verflechtung der Lübecker Strophen (daß der Tod erst nur in einem Verse zum Tanz ruft und dann dem Menschen auf seine Einwürfe in sieben Versen antwortet, und damit überall das letjte Wort behält) ist wieder aufgegeben und sicher ganz bewußt als zu künstlich beiseite gelassen. Daß der Tod nicht mehr den achten Vers an eine andere Person richtet, mag der Anlaß gewesen sein, den siebenten und achten Vers ganz wegzulassen und die Strophe auf sechs Zeilen zu beschränken. Aber warum wird die Rede des Todes wieder den Gegenreden der Menschen vorangestellt? Ist es nur die Tendenz der Vereinfachung, ist es nur so, daß das Vorbild der Eingangsstrophe, die ja auch in Lübeck mit allen acht Zeilen sich dem Opfer, dem Papste zuwendet, schematisch durch den ganzen Text wiederholt wird? Gewiß ist es das alles, und doch ist es das alles nicht allein! Der „Bruder von Sunte Franciscus Orden", der diesen Totentanz einleitet und sich dabei zum Anwalt der Ärmsten macht, ist doch auch vom

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

Geist des pater seraphicus, vom Geist des hehren schwärmenden Ordensstifters umglänzt. Denken wir nur daran, daß nach der St. Franziskuslegende der Heilige von einem Seraph die Wundmale des Heilands empfängt. Es ist kein Zufall, daß der Berliner Totentanz das Bild des Gekreuzigten in den Mittelpunkt seines Bildes gestellt hat und den Heiland mahnen läßt: „Für euch muß ich tragen von scharfen Dornen den Kranz: kommt alle mit mir in den Totentanz!" (v. 185/86). Steht das Kreuzigungsbild im Berliner Totentanz wegen der besonderen baulichen Verhältnisse in der Mitte und teilt es hier nur rein äußerlich die menschlichen Stände in geistliche und weltliche, im Hamburger Vorbild muß das Kreuz Christi zweifellos am Anfang des Totentanzes und als Ziel der ganzen Totenprozession gestanden haben, wie uns das j a noch der Totentanz von Pinzolo so eindrucksvoll zeigt (Abb. 22). Der Vers Christi Kämet al met my an den dodendanfy! muß ursprünglich in Hamburg den Totentanz eingeleitet haben: anstelle der Aufforderung des Todes zum Totentanz steht die Aufforderung des Heilands, und da die Totenprozession sich auf ihn zubewegte, steht er zugleich am Anfang und am Ende, als das A und O, und zugleich als Zeugnis der christlichen Hoffnung, daß der Tod verschlungen ist in den Sieg, daß der Tod zugleich Gewähr und Voraussetjung der Auferstehung ist. Der biedere Berliner Maler mußte, da das vorgegebene Kreuzigungsbild in der Mitte war, die Todesprozession umkehren und entgegen allen anderen Totentänzen sich von links nach rechts entwickeln lassen. Er hätte die Figuren der rechten Bildseite ebenfalls auf das Kreuz Christi hin ausrichten müssen, aber er behielt nun seltsamerweise die einmal eingeschlagene Richtung bei, so widersinnig es ist, daß nun alle weltlichen Stände, vom Kaiser an, dem Kreuz den Rücken drehen und in umgekehrter Rangordnung hinter dem Narren einherziehen. Nein, ursprünglich stand in diesem Hamburger Totentanze das Kreuz Christi am Anfang als Beginn und Ziel der Totenprozession wie noch im Totentanz von Pinzolo, und aus der Aufforderung Christi Kämet met my an den dodendantj spricht die eigentümlich franziskanische Frömmigkeit, die dem Hamburg-Berliner Totentanz das Gepräge gibt und die kunstlosen, kleinbürgerlichen Verse mit Gefühl und Wärme erfüllt. Im Geiste dieser franziskanischen Frömmigkeit konnte und sollte der Tod nicht das letjte Wort behalten wie in Lübeck. Dem Tod kommt zwar der Anruf zu, er ist aber nur der Vollzieher eines Größeren. Wohl wenden sich die Menschen teilweise an den Tod mit Bitten um Aufschub, aber ihr letztes Wort, ihre letjte Bitte, ihr le^ter Blick

Franziskanische Frömmigkeit im Berliner Text

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gilt nicht dem Tod, sondern dem gekreuzigten Heiland am A n f a n g und Ziel dieser Prozession. Vielstimmig klingt von den Lippen all derer, die zum Totentanz müssen, im legten Verse mannigfach variiert, als cantus firmus der Appell an die H i l f e Christi: Dat lydent jhesu mudite my nu sdieyden! (24) Help my nu, jhesu, Marienn kynt! (48) Help jhesu, dat ik nicht werde verloren! (60) Help my, jhesu, unde den geistliken al! (72) Help nu jhesu, so mag my wol ghelingen! (84) Ik rupe tho jhesu, dat he mi berede! (96) Her jhesu, woldestu myner warten! (108) Help nu, jhesu, wor ik my nu bereyde! (120) So helpe my gades krafft unde jhesu crist! (132) 50 Help nu jhesu . . . (180) O criste jhesu, help my nu, dat ik genese! (264) O criste, laeth my van dy nummer scheidin! (288) O help criste, ed ghelt my hir den kraghen! (324) Help my, criste, uth desser noth, mach dat syn! (336) So quillt aus der N o t des Sterbens, aus der Sünde und Reue eines verfehlten oder doch nicht sündenfreien Lebens der Hilferuf zum Heiland am Kreuz. Nicht der T o d führt hier das große Wort, nicht er behält das letjte Wort. W i e eine W o g e schwillt der Ruf der Menschheit an und aus der Sehnsucht und Hilfsbedürftigkeit der todgeweihten Menschen steigt das Bild des Gekreuzigten mit der Dornenkrone in unwirklichem Glänze empor als le^ter Trost und letjte Glaubensgewißheit. U n d dieses Suchen und Rufen findet letjte Antwort und letztes Gehör bei dem am Kreuz erhöhten Heiland: v. 181/86. Gi cristene lüde, arme unde rike, junge unde olde algelike, vor ju e[lkerlike]ik ghestorven byn! Gy muthen alle ok des dodes syn. Vor ju mut ik draghen van scharpen darne enen krantz, kämet al met my an den dodendantz! 3 1 So stand am A n f a n g und Ende dieses franziskanischen Totentanzes aus Hamburg für die arme bedrängte, bedrückte, von Sünden belastete Menschheit der Sünderheiland, und die schlichte Frömmigi0

I d i lese v. 131 (unter Ergänzung der beiden Schlußworte) Mut ik nu sterven in dese vrist und ergänze entsprechend in v. 1.32 Jhesu Crist. S1 In Berlin folgen als letzte Worte Christi zwei Verse (v. 191/92), die offenbar an den Hamburger Text angeflickt wurden, weil Christus nicht wie in Hamburg am Anfang, sondern inmitten des Totentanzes steht: An den dodendantz ju berede, gy muthen ok dantzen mede!

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

keit, der inbrünstige Glaube, daß der Heiland helfen und retten könne, auch wenn Sünde und Schuld riesengroß vor den Menschen stehen, dieser Glaube adelt audi die unbeholfenen und etwas kleinlichen Verse. Wir verstehen es, daß dieser franziskanische Totentanz nicht nur bei den Franziskanern Anklang fand. Die Berliner Marienkirche war eine Stadtpfarrkirche, in der, soweit wir wissen, niemals ein Franziskaner gepredigt hat (den Franziskanern war die benachbarte Klosterkirche eigen). Aber daß man sich in Berlin nicht der dominikanischen, in scholastischem Sinne an ratio und voluntas gerichteten Bußpredigt des Totentanzes verschrieb, sondern diesem von religiöser Inbrunst, Gefühl und Erlösungsgewißheit getragenen franziskanischen Totentanz, ist für die Situation des damaligen Berlin ungeheuer bezeichnend. Man wußte wohl, worin das Herzstück dieses Totentanzes bestand, wenn man das Kreuz Christi audi äußerlich in der Komposition in den Mittelpunkt des Gemäldes zu stellen sudite. Damit wurde rein äußerlich hervorgehoben, was diesen Totentanz für die Not des jähen großen Sterbens in den Pestzeiten so trostreidi machte, der zuversichtliche Aufblick zum Kreuz Christi, der die Todesnot vorweggenommen und die Sündensdiuld auf sich genommen hatte. Die Vorlage des Berliner Malers, der Hamburger Bilderbogen, aber hat sicherlich eine zweireihige Darstellung geboten, am Anfang den Prediger und den Inhalt seiner Predigt, den gekreuzigten Heiland, dann die Geistlichen, und in der unteren Reihe die weltlichen Stände, alle mit dem Blick zu dem Heiland, der willig war, Todesangst und Sündennot zu tilgen! 3. N i e d e r d e u t s c h e T o t e n t a n z b i l d e r b o g e n und Totentanzbücher Es ist undenkbar, daß der franziskanische Totentanzbilderbogen aus freier Erinnerung an das Lübecker Wandbild entstand. Es handelt sich nicht um eine Reproduktion des Lübecker Textes, bei der Erinnerungslücken beliebig ergänzt wären, sondern um eine bewußte völlige Umarbeitung in einem anderen Geist. Das setjt eine schriftliche Vorlage voraus, und 'bei der Illustrationsfreudigkeit des Spätmittelalters können wir sicher sein, daß es nicht nur eine Abschrift des Textes war, sondern ein mit Bildern versehener Text, und da die Reigenkette nicht in Einzelpaare aufgelöst ist, sicher ein richtiger Bilderbogen. Wie haben wir uns diesen niederdeutschen Lübecker Bilderbogen vorzustellen? Das Lübecker Wandbild hatte nur 24 Totentanzpaare,

Die ursprüngliche Gestalt des nd. Totentanzbilderbogens

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das Berliner jedoch 28, der Lübecker „Spiegel des Todes" von 1489 ebenfalls 28, das Lübecker Totentanzbuch von 1520, das in manchen Dingen sehr viel Älteres bewahrte, sogar 30! Dreißig Tanzpaare hatte auch die Dame de macabre in Paris, und wir können sicher sein, daß der niederländische Toten tanzbilderbogen, auf dessen Spuren wir im Lübecker Text gestoßen waren, sidi bemüht hat, die Danse de macabre möglichst getreu ins Niederländische zu übertragen. Dürfen wir bei dem Niederländer eine ähnliche konservative Haltung- voraussetzen wie bei dem westfälischen Bilderbogen von 1430, so wird er auch alle 30 Figuren der französischen Vorlage geboten haben. In Lübeck erfuhr dieser niederländische Bilderbogen eine freie Eindeutschung, die in den Reimen noch Reste des niederländischen Wortlautes zeigt, während der Berliner Text solche Relikte nicht mehr aufweist, aber eine größere Figurenzahl als das Lübecker Wandbild. Ich möchte deshalb annehmen, daß der Lübecker bei seiner niederdeutschen Umarbeitung des niederländischen Originals die Zahl der Totentanzpaare nicht eingeschränkt hat, sondern nur einige für deutsches Fühlen unentbehrliche Figuren wie Kaiserin, Herzog und Edelmann gegen typisch französische wie Connestable und Sergeant austauschte. Wahrscheinlich war es zunächst nur eine Neuredaktion des niederländischen Bilderbogens, eine Umdichtung im deutschen Geiste unter dem Eindruck der stetig näherkommenden Pest, aber unter Beibehaltung der Bilderbogenform und der Zahl von 30 Tanzpaaren. Als dann der Auftrag erteilt wurde, anstelle des verblichenen Gemäldes in der Totenkapelle der Marienkirche einen neuen Totentanz zu malen, wurde der neue Lübecker Bilderbogen zugrundegelegt, aber da die Wände nur für 24 Tanzpaare Raum boten, mußten 24 Figuren daraus ausgewählt werden. Die Auswahl haben natürlich die Auftraggeber getroffen und nicht der ausführende Maler, der junge Bernt Notke. Der vollzählige Lübecker Bilderbogen lag dann auch dem Hamburger Franziskaner vor. Vielleicht hat er bei seiner Bearbeitung im franziskanischen Sinne noch alle 30 Figuren seiner Vorlage beibehalten. Der Berliner Rat mag dann 1484 auf Grund des Hamburger Bilderbogens einen Malauftrag erteilt haben. Aber wie in der Marienkirche zu Lübeck so zwang auch in Berlin die zur Verfügung stehende Wandfläche zu einer Reduzierung der Figuren, die wiederum selbstverständlich der Auftraggeber, nicht der biedere ausführende Malermeister, bestimmte. Aus den vier eingangs genannten niederdeutschen Totentanztexten lassen sich nun mit ziemlicher Sicherheit folgende 27 Figuren als gemeinsamer alter Besitj herauslesen: Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardi-

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

nal, König, Bischof, Herzog, Abt, Ritter, Kartäuser, Junker. Domherr, Bürgermeister, Arzt, Wucherer, Pfarrherr, Kaufmann, Kaplan. Handwerker, Küster, Bauer, Nonne, Jüngling, Klausner, Jungfrau, Narr und Kind. Bei den weiteren, von den einzelnen Texten gebrachten Personen (Offizial, Augustiner, Dominikaner, Franziskaner, Bürger, Begine, Handwerksgeselle, Student, Reiter, Kirchwerksmeister, Schankwirtin) ist eine solche Entscheidung nicht möglich. Eis ist auch durchaus wahrscheinlich, daß jeder Text von sich aus die eine oder andere Figur ausgetauscht hat, und das Gleiche wird bei nicht mehr greifbaren Zwischengliedern geschehen sein. Es ist abwegig, auf Grund einer gemeinsamen ungeläufigeren Gestalt ohne weiteres Abhängigkeit und Einfluß zu konstatieren. Man hat wegen der Gestalt der Begine einen Zusammenhang zwischen dem Klingentaler Totentanz und dem „Spiegel des Todes" von 1489 konstruiert und wegen der Gestalten des Jünglings und der Jungfrau einen solchen zwischen Basel und Lübeck. Wenn keine textlichen Gemeinsamkeiten anderer Art aufzufinden sind, darf man annehmen, daß hier wie dort aus dem Typenvorrat des realen Lebens die gleiche Figur genommen und der überkommenen Standesreihe einverleibt wurde. Der Hamburger franziskanische Totentanzbilderbogen hat sicher noch nicht die Gestalt der Schankwirtin enthalten. Diese Krügersche ist so unverkennbar berlinisch, daß wir diese Gestalt als einen Sonderbeitrag Berlins zum Totentanz ansehen dürfen, obwohl der Hamburger Bilderbogen sonst als Vorlage diente. Der sogenannte Lübecker Totentanz von 1489 32 ) geht sicher nicht auf das Wandbild in der Marienkirche zurück, sondern, wie die größere Zahl seiner Totentanzpaare nahelegt, auf den ursprünglichen Lübecker Totentanzbilderbogen. Der richtigere Titel ist „Spiegel des Todes", denn es handelt sich gar nicht um einen Totentanz, sondern um ein Andachtsbuch wie den Miroir salutaire Guy Mardiants von 1486; es entstand wie dieser in buchhändlerischer Ausnutzung der Konjunktur. Der Druck ist von 1489 und die Dichtung selbst kann nicht viel älter sein. Mit dem Papst wird deutlich auf den 1484 verstorbenen Sixtus IV. angespielt. Sixtus hatte 1475 einen Ablaß zu gunsten der Türkenkriege ausgeschrieben und dazu fünf Legaten ausgesandt. Deshalb läßt der Dichter v. 166 f. den toten Papst sagen: ' 2 Das dodes danz, hrsg. Herrn. B a e t h c k e , Tüb. 1876 (Text). — FaksimileAusgabe hrsg. M. J. F r i e d l ä n d e r , Berlin 1910. — Die Identifizierung des Verfassers mit dem des ndt. Reinke Voss (H. B r a n d e s , in: Zsdir. f. dt. Altert. 32, 1888, S. 24, und: Dat Narrensdiip des H. van Ghetelen, Halle 1914) entbehrt jeder Beweiskraft.

Der nd. Totentanzbilderbogen u. d. „Spiegel des Todes" von 1489

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Darumme hebbe ick vele legaten utgesant mit aflate umme gelt jegen desse tyrannen to kreten. Odi hadde ik dat wol angeleit, des mochte ik ewich geneten!

Im „Spiegel des Todes" wiederholt sidi, was einige Jahrzehnte zuvor im Bereich der mystischen Volksdichtung geschehen war. Der Bilderbogen von „Christus und der minnenden Seele", ein Bogen mit zwanzig Bildszenen und insgesamt 80 Bildversen, war zunächst zu einer Buchdichtung von etwa 270 Versen, aber mit gleichbleibender Illustrationszahl, aufgeschwemmt worden, etwas später und unabhängig davon mit ungefähr gleichbleibender Bilderzahl zu einem Andachtsbuch für Nonnen mit einem Umfang von 2112 Versen. Die Nachfrage und das Interesse des Publikums an den Bilderbogen von der Minnenden Seele war so groß, daß man es wagen konnte, dasselbe Thema erweitert als selbständiges Buch herauszubringen: zwischen die alten Bilderbogenverse wurden arabeskenartig fromme Betrachtungen eingewoben und damit der Umfang um das Zwanzigfadie vermehrt. Was damit an Eindringlichkeit verloren ging, das wurde an Stoffreiditum gewonnen, und wir wissen, daß das spätmittelalterlidie Lesepublikum Stoffreiditum zu schätjen wußte. Da das Andachtsbuch von der Minnenden Seele sich in sechs Handschriften erhalten hat, sehen wir, daß es durdiaus ein buchhändlerischer Erfolg war. Der Lübecker Totentanzbilderbogen mit seinen 400—500 Versen war an sich schon ein stattliches Werk für den Briefmaler, den spätmittelalterlichen Bilderbogenverleger. Seine insgesamt etwa 60 Gestalten bedeuteten gegenüber den 40 Gestalten des Bilderbogens der Minnenden Seele eine erhebliche Steigerung und stellten hinsichtlich Qualität und Ausdauer an den Briefmaler sehr viel höhere Anforderungen, zumal der Text sich nicht wie die Bilder nur um die Hälfte, sondern um das Fünffache vermehrt hatte. Je^t im „Spiegel des Todes" bemächtigte sich der Buchdruck dieses Themas und vervierfachte den Totentanztext auf 1687 Verse. Die Verse 115 bis 1462 geben die zu erbaulichen Betrachtungen erweiterten Reden des Todes mit den Sterbenden. Die hundert Verse des Eingangs und die zweihundert des Schlusses sind ganz allgemein gehaltene Betrachtungen über den Tod. Wenn der Drucker gleichwohl das Buch 1489 Des dod.es danz, beim Zweitdrude 1496 Dodendanz betitelte, so war es natürlich ein Spekulieren auf die Beliebtheit der Totentänze beim Lesepublikum. Der Verfasser aber, für den der Totentanz nur eine unter vielen anderen Quellen war, hatte seinem Werk einen ganz anderen, viel treffenderen Titel gegeben.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

v. 87/92: Dat sik ein jewelk wol berede to desser saligen stunde, so merke he ut sines herten gründe d e n s p e i g e l d e s d o d e s , de hir navolgende is, alsus halet de dot uns allen, dat is wis, den einen junk, den anderen olt, den dridden in seiner besten tit, alle maket he uns des naturliken levendes quit.

Der Verfasser knüpft seine Dichtung also bewußt an den Titel vieler religiöser Andachtsbüdier an. Wir erinnern uns an das Speculum humanae salvationis, an den „Spiegel des Heils", an das „Spiegelbuch", an den Miroir salutaire und daran, daß auch schon Le Fivre im 9. Vers seiner Danse de macabre seine Totentanzdichtung als einen Spiegel bezeichnet hatte. Wie sehr der Verleger — es ist der berühmte Mohnkopfdrucker Hans von Ghetelen in Lübeck, der mehrere kleine Drucker für sich arbeiten ließ — das Buch vom Standpunkt des Geschäftsmannes betrachtete, zeigen die Illustrationen 33 ). Für das Volksbuch aller Zeiten, vor allem aber das der damaligen Zeit, ist Illustration unerläßlich. Das wußte auch der Mohnkopfdrucker. Der Illustrator gab nun nicht jedem Totentanzpaar eine szenisdie Totentanzdarstellung bei, sondern angesichts dessen, daß die Verse jeder einzelnen Figur bereits eine ganze Seite füllten, bildete er jede Figur einzeln ab. Dem Typ nach ist es also eine sehr primitive Illustration, denn es wird lediglich eine ruhig und isoliert stehende Gestalt bildlich dargestellt, damit das Auge weiß, wie es sich den Sprecher vorstellen soll; auf das Beste, was die bildende Kunst geben kann und was sie auch in allen bisherigen Totentanzbüchern stets gegeben hatte, eine szenisdie Darstellung des Tanzes oder der Unterhaltung zwischen Tod und Mensch, wird damit verzichtet. Der Verleger fand dabei noch insofern seinen Vorteil, als er sich mit vier verschiedenen Todesbildern begnügte, die er in stetem Wechsel an 31 Stellen wiederholte. Von den Kunsthistorikern wird merkwürdigerweise heute die These verfochten, der Zeichner dieser Holzschnitte sei identisch mit demselben Bernt Notke, der nachweislich Schöpfer des St. Jürgenstandbildes in Stockholm (1489) ist und dem man wohl mit Recht die Gemälde des Lübecker Totentanzes von 1463 zuschreibt34). Rein äußerlich ist es unwahrscheinlich, daß Notke, der seit 1483 in Stockholm lebte und dort bis 1497 zugleich das Staatsamt des Münzmeisters

M

A. C. in: W.

S c h r a m m , Bildschmuck der Frühdrucke 12 (1929), Abb. 64—96. G. H e i s e , in: Zsdir. d. Ver. f. Kunstw. 4 (1937), S. 187 ff.; ders., St. Jürgen zu Stockholm von Bernt Notke, Bln. 1943, S. 6 ff.; P a a t z : Bernt Notke und sein Kreis, Bln. 1939, S. 172 ff. — Israel

Die Illustrationen im „Spiegel des Todes" und Bernt Notke

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bekleidete, zwischen 1484 (das früheste Datum für die Entstehung des Textes) und 1489 die Illustrationen für den Spiegel des Todes zeichnete. Hat er doch 1483 bei seinem Weggang nach Stockholm die Zeichnungen für die Lübecker Bibel unvollendet zurückgelassen und die Fortführung einem anderen überlassen, wodurdi das Erscheinen der Lübecker Bibel bis 1494 verzögert wurde. Seine Bibelillustrationen weisen Beziehungen zu Notkes sonstigem bildnerischem Werk auf, nicht aber die vom selben Holzschneider geschnittenen Bilder im „Spiegel des Todes". Ist es denkbar, daß ein Mann, der den Totenreigen 1463 unter sinnerfüllter Aufnahme der alten Totentanztradition in unheimlichem Rhythmus vorwärtstanzender Toter und widerstrebender Sterbender gemalt hatte, bei dem Buch von 1489 sich von r'iöem Bildtyp hätte völlig freimachen und statt dessen die Sterbenden als Statuen vor einem Mäuerdien geben können, den Tod völlig unorganisch auf einem Löwen reitend mit Schwert oder Pfeil, als Grasmäher mit der Sense und als Totengräber mit der Schaufel? Der Sitj des Todes auf dem aufgerichteten Löwen unterscheidet sidi auch sehr wesentlich von dem Sitj des St, Jürgen auf dem aufgerichteten Pferd in Stockholm, und kann man einem Notke zutrauen, daß er den Tod das Schwert mit der Linken schwingen läßt? Und daß er gegen alle Bildtradition den Tod das Schwert von vorn nach hinten wie eine Reitpeitsche um den Kopf herumschlagen läßt, so daß man befürchten muß, er würde sich selbst köpfen? Mag ein Schüler Notkes die Zeichnungen entworfen haben, Notke selbst hätte sich sicher nicht so von der Totenntanzbildtradition gelöst und solche zeichnerischen Schnitjer erlaubt, und das gleichbleibende halbhohe Mäuerdien auf dem Hintergrund der Holzschnitte ist sicher nicht eines Meisters würdig, der 1463 die Totentanzgestalten vor einer offenen Landschaft mit den Türmen Lübecks erscheinen ließ und der auch bei den Bibelillustrationen den Hintergrund ganz anders meisterte. W i r brauchen deshalb kaum auf Einzelheiten zu verweisen, so, daß das Kostüm der Figuren im Totentanz von 1463 und in den Holzschnitten von 1489 sich nirgends ähnelt. Einmal schwingt der Tod auch auf dem Totentanz von 1463 die Sense (beim Kind), aber er packt die Sense mit ihrem langen Stiel an den beiden Quergriffen und holt mit ganzer Körperwendung zu rasendem Schwünge aus: der Holzschnitt von 1489 van Medcenem ließ sidi durch die Holzschnitte mit den Todesgestalten zu Totentanz-Medaillons von 43 mm Größe begeistern, von denen Papst, Kaiser, Ritter und Edelfrau erhalten sind, vgl. W . L. S c h r e i b e r , in: Zsdir. f. Büdierfr. 2 , 2 (1898/99), S. 304 und Abb. 10.

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

gibt dem Tod eine ganz kurzstielige, mit Spatengriff versehene Sense in die H a n d und läßt sie ihn halten, als wollte der Tod sie als Hacke benutzen. Der breitschultrige backenbärtig« Bauer mit großem Hut, Dreschflegel und Beil ist in seiner Kraft und Lebendigkeit 1463 ganz anders gesehen als der verschlafene Michel von 1489, der mit gekrümmtem Rüdken eine Fleischerhacke mit überlangem Stiel in Händen hält. Gerade angesichts der so kümmerlichen Bilderfindungen von 1489 sieht man, was Bernt Notke 1463 aus dem Totentanz gemacht hatte, wie er unter Beibehaltung des übernommenen Bildtyps ein Höchstmaß an Individualität, Lebendigkeit und Spannung herausgeholt hat. Der Gegensatj charakterisiert, was ein Maler trotj Übernahme eines feststehenden Bildtyps aus einer Vorlage machen kann, und wie hilflos ein kleinerer Geist ist, wenn er sich ohne die Hilfe der Tradition sein eigenes Schema zurechtmacht! In diesem Falle hatte die Aufschwellung des Textes den Illustrator dazu verleitet, den Bildtyp des Totentanzes zu verlassen und jedem Sprecher ein Einzelbild beizufügen. Aber gewiß war es auch der Gesichtspunkt, möglichst schnell mit der Arbeit fertig zu werden. Bei szenischer Darstellung hätten dreißig mehrfigurige Bilder gezeichnet und in Holz geschnitten werden müssen. Bei der Methode, den Tod nur in vier Bildern wiederzugeben, war es möglich, die Darstellung des Todes in 24 Fällen einzusparen. W i r werden hinter dieser vereinfachenden Methode weniger die Absicht des Zeichners, als den Wunsch des Verlegers nach schneller und billiger Illustrierung wirksam sehen. Der Verleger war ganz Geschäftsmann, ihm kam es nur darauf an, durch Illustrationen, mochten sie sich auch noch so weit von der Idee des Textes entfernen, den Leser und Käufer anzulocken. Wie in der Illustration der Totentanzgedanke aufgegeben war, so geht letzthin auch bei der Aufschwellung des Textes zu langatmigen Reden der heiße Atem und der erschütternde Anruf des ursprünglichen Totentanzes verloren. Aus der Vision des Totentanzes ist ein Andachtsbuch in Gesprädisform geworden. Viele Verse sind aus dem Boek der profecien (Lübeck 1488), dem Leben des heiligen Hieronymus (Lübeck 1484), dem Henselinbok und dem 1484 in Lübeck gedruckten Zwiegespräch zwischen Tod und Leben übernommen, aber der Lübecker Totentanztext bildet den Grundstock. Um dieses Gerüst hat der Verfasser seine Lesefrüchte herumgeschlungen und dabei natürlich den alten Text auseinandergerissen und gemodelt. Aber immer schimmern die kompakteren Formulierungen des alten Textes durch. Vielleicht ist auch der Titel „Spiegel des Todes" durch den Lübecker Text

Der „Spiegel des Todes" und der Lübecker Totentanz

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angeregt. Die Lübecker Verse des Eingangs: Seet hyr dat spectel, junck unde olden, unde dencket hyr aen ok elkerlike werden 1489 paraphrasiert zu: Sat sik ein jewelk wol berede . . . . so merke he . . . . den speigel des dodes, de hir navolgende is: alsus halet de dot . . . . den einen junk, den anderen olt (87 ff.). Deutlicher läßt sich die Aufnahme und Verwertung des alten Textes an anderen Beispielen zeigen. Idi greife die Verse des Papstes heraus. Die Lübecker Verse 21, 26 und 31 taten es dem Diditer von 1489 an und er komponierte sie zu einer neuen Einheit. Lübeck v. 21. Her pawes, du byst hogest nu . . . v. 26. du most werden, als ik sy v. 3 1 . . . . ik most werden gelik als du . . . Spiegel v. 115 f. H e r pawes, du bist de hogheste nu up erden, tret her, du most min gelik werden!

Die Verse: AI was ik hoch geresen in State (30) und Her pawes, du byst hogest nu (21) und AI hevestu in godes stede staen (23) schmelzen 1489 in die Antwort des Todes zusammen (v. 169/71): H e r pawes, du werest hodi geresen in State, der hilgen cristenheit de hogeste prelate, Sunte Peters stede van Godes w e g e n geholden up erden!

Es kann kein Zweifel sein, daß die Formulierungen in dieser Ballung sich gegenseitig erdrücken und an Wirkung verlieren. Ein andermal werden Sinn und Wortlaut aufgenommen, aber durch Häufung der Adjektiva wird zwar äußerlidi eine Verstärkung' erzielt, in Wirklichkeit eine Schwächung der Eindrücklidikeit. Ich stelle beide Stellen untereinander. Lübeck v. 27: D y n losent unde bindent dat was vast, der hoecheit werstu nu een gast. Spiegel v. 185. Din losent unde bindent was hei, vullenkomen unde gans, nu mostu mit mi in dessen minen gemeinen danz.

An anderer Stelle ist eine Formulierung aufgenommen, aber in ganz anderem Sinne: Lübeck 35/36: N e m e t hir exempel, de na mi siet, pawes, also ik was mint- tit! Spiegel v. 151 ff. D e hilgen vaders, de vor mi in desser stede hebben gewest vul guder hilgen sede und hebben geluchtet in Godes hilgem tempel mi unde minen nachkomelingen to einem exempel.

W i r sehen an solchen Beispielen: was die Verse des Lübecker Totentanzes an Gedanken und Formulierungen boten, wird über-

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VI. Der Totentanz in Niederdeutschland

nommen. War es dort in herzerfrischender Schärfe und Plastik formuliert, so wird es nun breit ausgesponnen. Bisweilen vergißt der Bearbeiter, dabei die Fiktion eines Dialogs zwischen dem Tod und seinem Opfer zu beachten, und wendet sich in allgemeinen Formulierungen an den Leser, zum Beispiel v. 143: Hirumme waket, wente de dot sendet ju nenen bref, he kumt sliken recht so ein def.

Wer könnte diesem Vers entnehmen, daß es ein Wort des Todes an den sterbenden Papst ist? Tatsächlich ist es kein Wort des Totentanzes, sondern eine Stelle aus dem Zwiegespräch zwischen Leben und Tod (1484), die dort noch ausdrücklich als Bibelzitat gekennzeichnet wurde, während sie jetjt ohne solche Kennzeichnung dem Tod in den Mund gelegt wird. Wo der Lübecker Text nichts bot, was man erweitern konnte, mußte der Bearbeiter seine eigene Phantasie spielen lassen. Den Kaiser läßt er v. 191 ff. ausmalen, wie er alle Ärzte umsonst konsultiert habe und was er für Pläne noch ausführen wollte. Dazwischen aber schiebt sich v. 201 ff. unorganisch eine Reminiszenz an die schönen Lübecker Verse 49/50 ein, daß sich alle Könige und Fürsten vor ihm beugen mußten. Dort diente das aber als Kontrast zu der fürchterlichen Erkenntnis: v. 51: Nu kumstu, vreselike forme, van mi maken spise der worme.

Im Text von 1489 steht statt des anschaulichen Bildes nigen unde exen das nüchterne sik alle to minen denste geven; so bleibt es ein Einschiebsel ohne Beziehung und Kontrast. Bei der Antwort des Todes aber konnte er sechs Verse aus Lübeck (v. 53-58) völlig unverändert und nur wenig auseinandergerissen in seinen Text eingliedern (v. 211214, 221-22): hier hatte er wieder den Anschluß an den Gedankengang seiner Vorlage gefunden. Solche wörtlichen Zitate, Anklänge und Umbiegungen des Lübecker Totentanztextes konnten nicht aus dem Gedächtnis gemacht werden. Nicht das Lübecker Gemälde mit seinen Versen ist Quelle für den Spiegel des Todes, sondern eine vollständige Kopie, die der Verfasser neben sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, zusammen mit den Andaditsbüchern der letjten Jahre, denen er besonders die einleitenden und abschließenden Kapitel partienweise entnahm. Ich sehe darin einen indirekten Beweis, daß niederdeutsche Totentanzbilderbogen

Der .Spiegel des Todes" und die Arbeitsweise seines Verfassers

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umliefen. Offenbar brachte die Beliebtheit dieses volkstümlichen Produktes der „Briefmalerei" den Verleger der Mohnkopfdrudce in Lübeck auf den Gedanken, den Totentanzbilderbogen budihändlerisch auszuwerten, indem er ihn zu einem illustrierten Volksbuch auswalzen ließ. Der Bearbeiter, den er mit dieser Aufgabe betraute, konnte dabei die Verlagswerke, die der Verleger ihm mitgab, nach Belieben zu Rate ziehen u n d ausschreiben. Mit dieser echt mittelalterlichen Arbeitsweise ist durchaus ein frommer Eifer vereinbar, das ehrlidie Bemühen, durdi Mahnung an den T o d u n d Belehrung zu einem gottgefälligen Leben aufzurufen. W e n n man sieht, wie eng der Bearbeiter sich meist an das Gerüst seiner Vorlage hielt, so fällt auf, daß die niedere Geistlichkeit, die in Lübeck mit Kaplan und Küster, ursprünglich wohl auch mit dem P f a r r e r vertreten war (der Berliner Totentanz u n d das Buch von 1520 sichern ihn für den ursprünglichen Bilderbogen), 1489 völlig ausfällt. N u r in den Strafworten zum Domherrn werden in zwei verallgemeinernden Versen auch die niederen Geistlichen in eine Reihe mit den höheren gestellt: v. 681/86. Dit wert nicht gesecht to di alleine, men alle de anderen papen ik ôk dârmede meine, he so provest, deken, vicarius efte officiante, cappellân, soccentor, koster efte ein ander slafante, wo gi mit den armen clerken plegen to appelleren mit vôrsate, dat se alle êr gelt scholden vorteren. Aber der darin enthaltene Vorwurf wird sofort wieder halbwegs widerrufen (v. 699): Men vindet mannige innige prêsters van einem reinen leven, vorvullet mit dogeden: van den is dit nidit geschreven. D a f ü r gießt er die ganze Lauge seines Zornes über den Bischof und den vornehmen Domherrn aus. Fast scheint es, daß er mit dem Domherrn eine bestimmte Persönlichkeit bloßstellen will, da er so viele Einzelheiten nennt: Studium bis zum Baccalauréat (Promotion) in Köln, dann Übernahme einer gut bepfründeten Domherrenanwärterstelle in Lübeck, dann Ernennung zum Domherrn unter Zahlung von 300 Dukaten an die Kurie mit Aussidit auf zwei weitere Nebenp f r ü n d e n und die Anwartschaft auf den Bischofsstuhl (v. 650 ff.), dazu Sdilemmen und Prasserei und Fettleibigkeit (v. 676 f.). Sicherlich ist es ein allen Eingeweihten deutlich erkennbares Porträt. Der Tod faßt diese Vorwürfe v. 679 mit den Worten Simonia, hovart unde giridieit zusammen, und die Gierigkeit und Ungerechtigkeit

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VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

wird (unter Einschluß aller anderen Würdenträger) besonders gebrandmarkt, wo sie in der Verklagung und Verurteilung der „armen Kleriker mit dem Vorsat}, ihnen das letjte Geld zu nehmen" (v. 685) geschieht. Einen ähnlichen Vorwurf macht der Tod dem Papst (v. 177): die Präbenden, die vor de armen clerke, für die bedürftige niedere Geistlichkeit, bestimmt sind, die haben die reichen mit Geld, durch ihre Verbindungen und mit List an sich gebracht! Es bedarf keines großen Scharfsinnes, um zu erkennen, daß der Verfasser selbst zu jenen armen clerken, zu jener unterdrückten niederen Geistlichkeit gehört, zu jenen Geistlichen, die für einen Hungerlohn die praktischen Funktionen jener vornehmen geistlichen Pfründeninhaber und Nichtstuer zu erfüllen hatten, aber niemals in den Genuß einer Pfarrstelle kamen. Es taucht hier eines der schwersten sozialen Probleme der spätmittelalterlichen Kirche auf. Der Verfasser von 1489 hatte wahrscheinlich allen Grund, sich zu beschweren, und er konnte in diesem seinem literarischen Werk dem Grimm gegen die bevorrechteten, meist adligen Herren Luft machen — aber er tat es anonym: v. 1681* schließt er eine Fürbitte für sich selbst an, aber er nennt den Namen nicht: de dit heft gedickt unde laten setten, Got mote siner nummermer vorgetten! Wir sehen so im „Spiegel des Todes" von 1489 die persönlichen Motive des Verfassers sich mit dem allgemeinen seelsorgerlichen Anliegen und mit dem buchhändlerischen Konjunkturinteresse eines Inkunabel-Verlegers verbinden. Der Druck des T o t e n t a n z v o l k s b u c h e s v o n 1 5 2 0 S5), also dreißig Jahre später, entsprang in einer veränderten Zeit offenbar allein dem Wunsch, die noch vorhandenen Holzschnitte des „Spiegels des Todes" erneut zu verwerten. Man hat allerdings den abenteuerlichen Gedanken verfochten, das Buch von 1520, das in der Mehrzahl seiner Verse mit dem Spiegel des Todes von 1489 übereinstimmt, müsse die Quelle für den Spiegel des Todes gewesen und mithin bereits vor 1489 zum ersten Mal erschienen sein S8 ). Das einzige Beweisstück für diese These bilden zwei Zitate aus dem 1484 erschienenen Zwiegespräch zwischen Leben und Tod, die im „Spiegel des Todes" abgekürzt, im Totentanzvolksbuch von 1520 aber vollständig und wörtlich erscheinen. Mithin, so wurde geschlossen, muß der „Spiegel des Todes" das Zitat aus dem Text von 1520 entlehnt haben, da das Umgekehrte nicht der Fall sein " H r s g . W. S e e l m a n n , in: Jb. d. Ver. f. ndt. Spr. 21 (1895), S. 108—22. Einziges nachweisbares Exemplar dieses Dodendantzes ist in Oxford. 38 W. S e e l m a n n : Jb. d. Ver. f. ndt. Spr. 17 (1891) S. 34—37.

Der „Spiegel des Todes" und das Totentanzvolksbudi von 1520

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kann. Dies ist ein Trugschluß: warum soll der Verfasser von 1520 nicht neben dem Spiegel von 1489 auch noch das Zwiegespräch zwischen Tod und Leben von 1484 in seiner Bibliothek gehabt und benutjt haben? Er hat j a ebenso kompilatorisch neben dem „Spiegel des Todes" von 1489 den Hamburg-Berliner Totentanztext gekannt und benutjt, also vermutlich ein Exemplar des Hamburger franziskanischen Totentanzbilderbogens besessen. Der Besitzer der Holzschnitte, die für die Ausgaben des Spiegel des Todes von 1489 und 1496 verwandt waren, wollte offenbar Kapital daraus schlagen, fand aber den alten Text zu veraltet und schwerfällig. Inzwischen war die Weltgeschichte etwas weitergerückt: das aufwühlende Erlebnis der Reformation machte ein dreißig Jahre altes Andachtsbuch konkurrenzunfähig. Gefragt waren aber nach wie vor Bilderbücher mit kurzem Text, ja die Vorherrschaft des Bilderbuches ist mit der Renaissancekunst und der Vervollkommnung der graphischen Künste erst vollendet worden. Man brauchte also einen kurzen, lebendigen Text, der das alte Andaditsbuch auf seinen Kern reduzierte und die Erinnerung an das altbekannte Totentanzmotiv wachrief. Es madit durchaus den Eindruck, als sei in erster Linie der Text des „Spiegels des Todes" zugrundegelegt und zu sechszeiliger Strophe zusammengezogen worden: die einzelnen Verse stimmen weitgehend mit dem Text von 1489 zusammen. Ein ganz wesentlicher Unterschied besteht in der äußeren Anlage. Ließ der „Spiegel" im engen Anschluß an den Lübecker Totentanz von 1463 den Tod auf die Selbstanklagen der Menschen antworten, so stellt das Totentanzbuch von 1520 wiederum die Verse des Todes denen der Menschen voran. Der Verfasser steht darin deutlich unter dem Eindruck des Hamburg-Berliner franziskanischen Totentanzes: auch in ihm sind ja die Verse des Todes vorangestellt, und der Tod behält nidit das le^te Wort, sondern das Le^te ist der Blidc auf den Erlöser. Der sechszeiligen franziskanischen Strophe entspricht die sechszeilige Strophe von 1520, und die Gnadenbitten klingen ebenfalls 1520 wieder. Allerdings wenden sich die Sterbenden 1520 meist nicht an Christus, sondern an Gott, den .Herrn aller Herren". Wohl werden auch Maria und die Nothelfer angerufen, und zwar vom Kreuzritter (Deutschordensritter), dessen Ordenspatron ja die Jungfrau Maria war. Das zeigt, daß die Einstellung noch gut katholisch ist und noch nicht reformatorisch. Aber vielleicht liegt, in der auffälligen Hervorkehrung Gottes als des Herren aller Herren ein erster Abglanz des religiösen Ringens, das die Zeit erfüllte. Der Mensch im Zeitalter der Glaubensentscheidung wendet sich zwar nicht ausschließlich, aber oft betont

15

Rosenfeld,

Totentanz

226

VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

genug an die letzte, höchste Instanz. Deshalb mag das franziskanische Help nu, jhesu im Text von 1520 zu einem Gnade my, God geworden sein, oder es ist auch der Tod selbst, der es sagt: So wil sik God diner wedder erbarmen (134). So konsequent und durchlaufend wie im franziskanischen Totentanz sind diese Gnadenbitten und Gnadenhinweise freilich nicht durchgeführt. Allzuviel Gedanken galt es aus dem .Spiegel des Todes" oder anderen Quellen zu übernehmen und in die Kürze von sechs Zeilen hineinzupressen, aber daß tatsächlich der franziskanische Text benutjt wurde, beweist neben einigen belangloseren Einzelszenen die ziemlich wörtliche Übernahme der Verse des Arztes: Berlin v. 103: „Odi almeditige god, gef du my nu rath, wente dat water is utermaten quat!" 1520, v. 147: „Ach God, hir is gantz klene rath, dyt water is vorware gantz quath."

Vor allem wird aber aus der Predigteinleitung des Berliner Textes jene franziskanisch-gefühlsmäßige Wendung von den drei Sängen, die den Totentanz begleiten, in der Schlußrede des Todes wiederverwendet. Berlin v. 9. Bytterlyken sterven ys dy erste sandc, dy ander also dy klokkenklanck, dy drudde van frunden syn vorgeten altydes, dat sulle gy weten!

Der Text von 1520 bringt diese Verse v. 401-404, vermengt sie aber mit einem grob stofflichen Bild: die Freunde teilen sich die irdischen Güter, die Würmer fressen das Fleisch, der Teufel nimmt die Seele. Aus dem reinen Gefühlsklang franziskanischer Frömmigkeit bricht hier drastische Realistik hervor in der Holzschnittmanier der Ars bene moriendi. Der Verfasser knüpft direkt an dies allverbreitete Büchlein des 15. Jahrhunderts an, wo die Teufel mit Spießen und Gabeln den Engeln die menschliche Seele abzuringen suchen, und daß er in die Sphäre dieses illustrierten Sterbekunstbüchleins hinüberglitt, verrät er auch am Schluß seines Textes: v. 419/22. Leret wol sterven unde syd bereyt! Wol sterven allen kunsten boven geyt, Wol sterven is so groten kunst, dar mede men kumpt in Godes gunst.

Der Text von 1520 ist also eine typische Kompilation. Den Grundstock bildet der Spiegel des Todes von 1489, dazu werden der Hamburg-Berliner Totentanztext, das Zwiegespräch zwischen Leben und Tod von 1484 und die Sterbeliteratur herangezogen. Für uns ist recht wesentlich daran, daß neben den gedruckt vorliegenden Quellen

Das Totentanzbudi von 1520, seine Arbeitsweise und Haltung

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1520 unverkennbar auch noch der Hamburg-Berliner Totentanztext benutzt werden konnte. Da er nicht gedruckt vorlag, müssen wohl damals noch Bilderbogen mit diesem Text oder mindestens Textabschriften in Umlauf gewesen sein. Dies wirft ein Schlaglicht auf die Beliebtheit und Verbreitung des franziskanischen Totentanzbilderbogens, aus dem der Druck von 1520 audi das Kreuz Christi übernahm. Das Produkt dieser Kompilation ist natürlich nicht einheitlich. Von dem richtigen Ernst des Lübecker Totentanzes von 1463, der die Sündhaftigkeit aller Menschen dartut, klang im Spiegel des Todes von 1489 noch mancherlei durch: jetjt 1520 ist davon kaum noch etwas zu spüren. Damit fehlt die metaphysische Tiefe und Spannweite, die dem Motiv des Totentanzes ursprünglich eignete. Was bleibt, ist das Jammern der Sterbenden, daß der Tod zu früh komme. Eis überwiegt die Zuversicht, daß dodi wohl im Leben des Menschen alles in Ordnung gewesen sei und daß man sich auf Gottes Gnade verlassen könne. Das Zittern der Kreatur vor der unerforschlichen Heiligkeit Gottes, das Bewußtsein der eignen Sündhaftigkeit und der Schauder vor dem „Zu spät" weicht einem Optimismus, der schon den Renaissancemenschen ankündigt, und dem Glauben, das Gute tun und vor Gott bestehen zu können. W a r der Totentanz ursprünglich eine grausige Vision der Ohnmacht des Menschen, wurde er dann zur Anklage, zum Gericht über die Sündhaftigkeit, so verflacht er hier zu einer bloßen Ständerevue, bei der nur noch einige Reminiszenzen an die Abgründe und die Todesfurcht von einst gemahnen. Wohl wird zum Schluß der Teufel an die W a n d gemalt, aber das eigentliche Gespräch des Todes mit den Menschen ist doch auf die kaum ernstlich in Frage gestellte Zuversicht eingestellt: v. 37/38. Hast du das heilige Amt wohl versehen, so magst du nun fröhlidi zum Herren gehen.

Diese Einstellung mußte das Totentanzmotiv zum Verkümmern bringen. Weshalb die Menschen dem Tode antworten und widersprechen lassen, wenn der Tod selbst als milder Totengeleiter mit einem „Fürchtet euch nicht!" die Bühne betritt? Einst hatte die Disharmonie der Welt, das Bewußtsein der furchtbaren Zerfallenheit der Welt den Dialog gezeugt. Jetyt, wo der Tod mit der Verheißung der Gnade zu den Menschen tritt, kann der Mensch verstummen. Der H a n n o v e r s c h e T o t e n t a n z , der der niederdeutschen Chronik ab orbe condito bis auf 1518 angefügt i s t " ) und also nach 1518 ents:

Hannover Hs. 669, bl. 450a—53a. — Text hrsg. C. B o r c h 1 i n g , in: Jb. d. Ver. f. ndt. Spradif. 28 (1907), S. 25—31.

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228

VI. Der Totentanz in Niederdeutsdiland

standen sein dürfte, verzichtet deshalb ganz auf die Antworten der Menschen und verzichtet auch auf die poetische Form. Das Original scheint den Prosazeilen, die der Tod an die Sterbenden richtet, jeweils das Bild des Angeredeten beigefügt zu haben. Da die Personenauswahl weitgehend mit dem Spiegel des Todes von 1489 und dem Totentanzbuch von 1520 übereinstimmt, könnte man sich vorstellen, daß die Prosareden des Todes den Holzschnitten dieser Drucke zugefügt werden sollten. In den Schlußworten des Todes nach der Anrede an das Kind wird das Motto des „Spiegels des Todes" Bedenke, wor du bist unde wattu nu bist unde wattu werden solt in korter vrist (v. 1629/30) wörtlich aufgenommen, nur wird vrist, um den Reim zu tilgen, durch tyt erseht. Dies beweist die Bekanntschaft mit dem Drude von 1489 zur Genüge, zumal gleich anschließend die Verse 1611-13 und 1662, in Prosa aufgelöst, gebracht werden. Der zuversichtliche Ton stammt jedoch aus dem Totentanzbuch von 1520, und auch die Formel selbst ist offensichtlich von hier übernommen. Man vergleiche etwa die Schlußworte des Todes zum Mönch: Hestu dat geyslike cleyt also gedragen, alse yt dy gemaket is, so gha froliken vor den richter mit den Worten, die im Text von 1520 der Tod zum Papst spricht: v. 37. Hefstu dit hilge ampt wol vorstaan, so madistu nu frolik vor den heren gaen!

Damit ist diese Totentanzprosa, die der Weltchronik bis 1518 j a auch zufällig beigefügt und sehr viel älter sein könnte, auf „nach 1520" zu datieren, also etwa 1521. In einer Zeit, in der die deutsche Welt und darüber hinaus Europa schon aufhorchte auf die religiösen Kämpfe und Entscheidungen, ist in dieser Hannoverschen Totentanzprosa noch unberührt vom Streit des Tages der Totentanzgedanke aus dem Gefühl einer neuen Generation ganz in milde Zuversicht umgewandelt und damit von innen her aufgelöst. Hier wird konsequent und schematisch durchgeführt, was schon viele Strophen des Druckes von 1520 erfüllt: der Aufruf zur Zuversicht auf einen gnädigen Richter, wenn auch unter der wohlwollenden Voraussetzung, daß der Mensch seine Pflicht recht erfüllt habe. Hast de krönen myt eren dragen, so hastu de krönen van dem richter! Hastu dat gemeyne guth wol vorestaen noch gerichtet van gunste na gyft und gäbe, so gha myt frygen herten vor den richter, bistu ane sunde! Hastu dynen heren myt truwen denet alse eyn from knecht synen heren denen schal, so gha myt frolichheyt vor den richter! Nur dem Buschreiter, dem Juden und der tanzwütigen Jungfrau wird ein trauriger Empfang

Der Hannoversche Totentanz und seine zuversichtliche Haltung

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vor dem Richter verheißen, während selbst der Heide der Barmherzigkeit Gottes versichert wird. Wie am Ende der romanischen Totentanzdichtung der venetianische Bilderbogen mit den Monologen des Todes steht, so steht am Ende der niederdeutschen Totentanzdichtung dieser jedenfalls für die Illustration geschaffene Todesmonolog. In Italien fanden wir in den pathetischen Worten des Todes die heroische Todesüberwindung des italienischen Renaissancemenschen in einer triumphalen Todesverherrlichung manifestiert. Auch dieser Hannoversche niederdeutsche Prosamonolog bietet eine Überwindung von Todesschreck und Todesangst und ist darin ein Erzeugnis des Renaissancegeistes, der, um ein Dichterwort des späten Rilke zu gebrauchen, alle Ängste und Bevormundungen beiseiteschiebt mit einem „Erde, du liebe, ich will!" Aber alles Pathos des Italieners geht dem Deutschen ab. Anstelle der Verherrlichung des Königs Tod steht hier ein milder Glaube an die Fähigkeit des Menschen, das Gute zu tun und ohne Sünden leben zu können, und zugleich die feste Zuversicht auf einen gnädigen Gott, vor der der Tod seinen Schrecken verliert. Steht in Italien der Triumphator Tod, ein Idealbild des selbstherrlichen, gewalttätigen Renaissancefürsten ohne Gnade und Erbarmen, so steht dem in Deutschland der christliche Ritter gegenüber, der seiner Aufgabe in der Welt, seines Amtes und Dienstes gewiß, unbeirrt von Teufel und Tod seinen Weg geht. So hebt sich im Bild wie im Wort die religiöse Innerlichkeit des Deutschen noch fühlbar ab vom Pathos der italienischen Renaissance, obwohl der Optimismus der neuen Zeit die religiöse Tiefe überdeckte und den Schauer des Numinosen verscheuchte.

VII DIE MITTELDEUTSCHEN TOTENTÄNZE IM KRAFTFELD ZWISCHEN W E S T UND OST

1. D e r m i t t e l r h e i n i s c h e T o t e n t a n z a l s A u s d r u c k r h e i n i s c h e r S t a d t k u l t u r und f r a n z i s k a n i s c h e r Frömmigkeit Der niederdeutsdie Totentanz löste sich unter dem Einfluß der Danse de macabre vom Würzburger Vorbild. Die Danse de macabre regte über das Inhaltliche hinaus zur Übernahme der achtzeiligen Strophe an und sie gab durch ihre literarische Form den Anstoß, sidi von der starren Traditionsgebundenheit zu lösen und die dramatische Bewegtheit und den moralischen Ernst der spätmittelalterlichen Moralität in die alte Totentanzform einfließen zu lassen. So entstand im Lübecker Totentanz von 1463 unter Beibehaltung des alten Reigenbildes ein Totentanztext von größter Wucht und Dramatik, etwas ganz Eigenes. Die Traditiomsgebundenheit mittelalterlidier Kleindichtung wurde durch die widerstreitenden Vorbilder gemildert, und überdies hatte das französische Vorbild eine doppelte Übertragung erfahren, erst ins Niederländische, dann ins Niederdeutsdie. Auch das Würzburger Vorbild muß bereits durch die niederdeutsche Umsetzung an Schärfe verloren haben. So waren beide Vorbilder durch das Medium der Spradiübertragung hindurchgegangen und hatten dabei an Prägnanz eingebüßt. Sie regten an, beengten aber nicht, als der niederdeutsdie Dichter 1463 daran ging, unter dem neuen schrecklichen Erlebnis der Pestzeit das überkommene Motiv neu zu formen und zu einer dramatisch bewegten Sündenpredigt umzuprägen. Unmittelbar standen die oberdeutsche und die französische Fassung am Mittelrhein in Konkurrenz. Sicher war der Würzburger Totentanzbilderbogen des 14. Jahrhunderts den natürlichen Verkehrswegen gefolgt und hatte sich mainabwärts und rheinauf und rheinab ebenso verbreitet, wie er auf den großen Handelsstraßen über Bayern und Schwaben nach der Schweiz, nach Südosten und andererseits nach Norden zur Nord- und Ostsee gekommen war. Vom Rhein aber — dies

D e r Würzburger und der französische Totentanz am Mittelrhein

231

ist der Unterschied zu den anderen Verkehrswegen und Einflußgebieten — öffnete sich wie nirgend sonst der Weg nach dem Westen. Hier war im 14. Jahrhundert der lateinische Totentanzbilderbogen nach Paris gewandert und hatte in der Zeit des hundertjährigen Krieges mit England dort den französischen Totentanz angeregt. In der Zeit der tiefsten Erniedrigung Frankreichs, in der Zeit der englichen Besetzung von Paris, wurde Le Fevre's Danse de macabre, die bis dahin als Bilderbogen von Hand zu Hand ging, an die Friedhofsmauer von SS. Innocents riesengroß der Menschheit vor Augen gestellt und regle dadurch zu vielen anderen repräsentativen Totentanzgemälden an. Der Ruf und Ruhm des Wandgemäldes von Paris mußte auch die Nachfrage nach Abbildungen, nach Totentanzbilderbogen, steigern, bis dann 1485 der Buchdruck sich dieses Objektes bemächtigte und seinerseits die Nachfrage befriedigte. Totentanzbilderbogen und Totentanzbücher fanden natürlich auch den Weg nach dem Osten, nach Deutschland, über den Mittelrhein und wirkten so ganz unmittelbar ein, während im Norden die Niederlande sich als mittelndes Bindeglied dazwischenschoben. Solange Frankreich freilich mit sich selbst beschäftigt, in Kriegen verwüstet und von Eroberern zertreten ward, war die kulturelle Expansionskraft gehemmt. Der unglückselige Krieg ging gegen Mitte des Jahrhunderts zu Ende. Nach der Schlacht von Chatillon im Jahre 1453, in der Englands letjter großer Feldherr dieser Zeit, Talbot, fiel, verblieb England von seinen französischen Eroberungen nur noch Calais. Diese Schlacht war nur der äußere Schlußpunkt; der Wiederaufbau und die Konsolidierung hatte schon eine Reihe von Jahren vorher begonnen. Die Impulse für eine kulturelle Ausstrahlung französischer Kultur gingen freilich weniger von den im Kriege so stark heimgesuchten Teilen des französischen Königsreiches aus, sondern von dem seit 1363 abgespaltenen burgundischen Herzogtum. Es reichte von der Rhonegegend bis nach Flandern, Brabant und Holland hinauf, lag also wie ein Block zwischen dem französischen Königreich und Deutschland. Es war als Mittler zwischen Ost und West schon dadurch prädestiniert, daß in den nie romanisierten Teilen, besonders Flandern, germanische und romanische Kultur verschmolzen. Hier in Burgund war es, wo der „Herbst des Mittelalters" sich voll und in goldener Pracht entfaltete 1 ). Der ganze Glanz einer auserwählten, reichen ritterlich-höfischen Kultur wird in allen Farben 1

J. H u i z i n g a ,

Herbst des Mittelalters. München

1924; 6. Aufl.

1952.

232

VII. Die mitteldeutschen Totentänze

gespiegelt und ist doch überschattet vom Bewußtsein des nahenden Verfalles. Lebensfreude, Lebenslust und üppigster Festglanz werden begleitet vom Bilde des Todes und der Vergänglichkeit. Der märdienhafte Glanz des burgundischen Hofes, seine Feste und Machtentfaltung unter Philipp dem Guten konnte seine Wirkung auf das angrenzende Deutschland nicht verfehlen. So haben von hier aus sich schon starke französische Kultureinflüsse geltend gemacht, ehe Karl der Kühne, seit 1467 Herzog, seinen politischen Einfluß und seine militärische Macht auf deutsche Gebiete auszudehnen strebte und ehe Maximilian mit der Erbtochter von Burgund 1477 große Teile des burgundischen Reiches für Habsburg gewann. Wie bei Theaterbeleuchtung Pracht und Glanz der Gewänder durch dunkle Schlagschatten gespenstisch erhöht werden, so steht der übersteigerte Glanz der burgundischen Hofkultur neben der Klage um die Vergänglichkeit, neben Todesbewußtsein und Sorge um das Heil der Seele nach dem Tode. Als der skrupellose Söldnerführer Karls des Kühnen, Peter von Hagenbach, in die Hände seiner Gegner fiel, deren Länder er verwüstet, deren Bevölkerung er bis aufs Blut gequält hatte, da bestieg der Verurteilte mannhaft das Blutgerüst. In seinen letjten Worten bedauert er das viele Blut, das, ihn zu rächen, sein burgundischer Herr vergießen werde, — aber er bittet auch um Verzeihung für alle seine Greueltaten und um Fürbitte für seine Seele. So dicht beieinander wohnen Macht und Gewalttat und todesüberschattete Demut. Philipp der Gute, vor dessen Prachtentfaltung der kaiserliche Hof und erst recht der des französischen Königs als ärmlich verblaßte, läßt sich 1449 durch den Maler Nicaise de Cambray und seine Gesellen ein certain jeu, histoire et moralité sur le fait de la danse macabre vorführen, also eine Totentanzdarstellung in dramatischer Form oder — und dies ist wahrscheinlicher — als lebendes Bild. Hier wird neben den anderen Mahnungen an Tod und Vergänglichkeit also auch der Totentanz als dunkler Hintergrund für die Prachtentfaltung des burgundischen Hofes benutjt. Diese Nachricht kennzeichnet nicht nur die burgundische Hofkultur. Sie ist uns ein unschätjbarer Fingerzeig für die Ausbreitung des Totentanzes. Eben damals begann j a der Krieg zwischen Frankreich und England sich dem Ende zuzuneigen. Burgund hatte in diesem Kriege beiseite gestanden und durch Neutralität den Engländer unterstütjt. Erst als Frankreich sich aufzuraffen begann, gab Burgund seine landesverräterische Neutralität auf. Dieser Umschwung, der mit der Befreiung von Paris 1436 begann, ließ Paris aufatmen und machte

Burgund vermittelt den französischen Totentanz

233

diese Stadt wieder zum kulturellen Mittelpunkt. Zu den kulturellen Ausstrahlungen von Paris gehört offenbar auch die Verbreitung des Bilderbogens mit den Bildern und Versen der Danse de macabre. Es kann kein Zufall sein, daß sich jetjt um die Jahrhundertmitte die indirekten Zeugnisse für solche Bilderbogen häufen: um 1450 wird der Totentanz von Kermaria gemalt, 1455 malt Marmion sein Altarbild mit dem Totentanz als Hintergrund, um 1460 entsteht der Totentanz in La Chaise-Dieu. Dieser Ausbreitung innerhalb Frankreichs reihen sidi die Zeugnisse für die Expansion nach außen an: die Totentanzaufführung in Brügge 1449, der Lübecker Totentanz von 1463 nadi einer niederländischen Vorlage, die Entstehung der spanischen Danza general de la muerte um 1460 und als nächste wichtige Etappe der mittelrheinische Totentanz. Das Lübecker Totentanzgemälde zeigte allen Übermalungen und Erneuerungen zum Trotj die französisdi-niederländisdie Modetracht aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wie sie seine niederländische Bildvorlage geboten hatte, insbesondere bei der Kaiserin die in Deutschland unbekannte Hennin-Haube, sogar in ihrer zweiflügligen Komplizierung (Abb. 29). Ebenso und noch viel sorgfältiger sind in der Handschrift des mittelrheinisdien Totentanzes die Modesdinitte der französischen Vorlage, insbesondere der kurze Taillenrock mit seinen Fältelungen und wattierten Schultern (Abb. 28), audi die Henninhaube und anderes gewahrt. Die zahlreichen vieltürmigen Schlösser, die man auf dem Hintergrund der Bilder sieht, haben ihre Urbilder schwerlich auf deutschem Boden; viel eher ist an die zahllosen französischen Chateaux zu denken, die auch in den Miniaturen des Stundenbuches des Herzogs von Berry weiterleben. Auch wo der Künstler zweifellos nicht seiner Bilderbogenvorlage folgt, sondern deutschen Lieblingsgedanken nachgeht, z. B. bei der Hervorkehrung des Tanzmotives, sind es nicht die einfacheren Musikinstrumente allein, und in der Kostbarkeit und Häufung der Instrumente wird dieser Totentanz zu einem grausigen Widerspiel der üppigen Tanzfeste und Musikvorführungen des burgundischen Hofes. Wir haben mit diesen allgemeinen Betrachtungen über die liche und räumliche Bedingtheit des französischen Einflusses auf Mittelrhein vorausgegriffen und den M i t t e l r h e i n i s c h e n t e n t a n z 2 ) in seine Zeit eingeordnet. Die von mir gewählte

zeitden ToBe-

' W. S t a m m l e r hat in seinem Budi ,Der Totentanz, Entstehung und Deutung", München 1948, S. 61—64, die Kasseler Handschrift ebenfalls unter der Bezeichnung „Mittelrheinischer Totentanz" besprochen und ebenfalls auf Mainz als Heimat hingewiesen. Ich freue midi der Übereinstim-

254

VII. Die mitteldeutsdien Totentänze

nennung bedarf der näheren Begründung, die Datierung weiterer Erwägungen. Es handelt sich um einen Text, der bisher unter dem nüchternen, umständlichen N a m e n „Jüngerer achtzeiliger oberdeutscher Totentanz" l i e f 8 ) . Dieser T e x t ist aus einer Pergamenthandschrift der Kasseler Landesbibliothek 4 ) und aus drei Drucken der Inkunabelund der Frühdruckzeit 5 ) bekannt, außerdem wenigstens bruchstückhaft

s 4

5

mung; denn als mir Stammlers Buch zugänglich wurde, war die vorliegende Arbeit bereits abgeschlossen und lag der Philosophischen Fakultät München als Habilitationsschrift vor. Dagegen ist die Datierung Stammlers eine andere (1480—1500), auch hat er auf Heranziehung der Inkunabeln, eine genauere Textinterpretation und auf die Einordnung in den Stammbaum der Totentänze verzichtet. M. R i e g e r , Der Jüngere Totentanz, Germania 19 (1874), S. 257—80. Kassel, Landesbibl., 4 Mss. poet. 5, beschrieben von G. S t r u c k , Die Handsdiriftensdiätze der Landesbibl. Kassel. „Die Landesbibliothek Kassel 1580—1930", 2 (1930), S. 94—98. — Die Handschrift wurde beim Bibliotheksbrand während des zweiten Weltkrieges beschädigt, da sich eine Anzahl der Pergamentblätter in der Hitze am Rande mehr oder weniger zusammenzogen, allerdings ohne Schädigung der Farbe und des Blattgoldes (vgl. Abb. 28 die geringe Zusammenziehung an der rechten unteren Ecke). Zwecks Restauration nadi Berlin gegeben, verlor die aus dem Einband genommene Handschrift bei den Ereignissen des Kriegsendes neun Blätter, Bl. 19 (Jüngling), 20 (Spieler), 29 (Kardinal), 30 (Pfarrer), 31 (Bischof), 32 (Abt), 33 (Schreiber), 34 (guter Mönch), 35 (Dieb). — Eine Textabschrift aus dem 19. Jahrh. bietet die Berliner Handschrift Ms. germ. quart. 960 (Westdt. Bibl. Marburg). — F. K u g l e r , Kleine Schriften u. Studien z. Kunstgeschichte 1 (1853), S. 54—55 berichtete erstmals über die Kasseler Hs, mit Umrißzeichnung von fol. 6 (geistl. Bruder); H. K n a c k f u ß , Dt. Kunstgeschichte 1 (1888), S. 452 gab Abbildung von fol. 21 (Wirt); S t a m m l e r (s. Anm. 2) bringt Fotos von fol. 11 (König) und 28 (Offizial), beides Bilder ohne die für diese Handschrift charakteristischen landschaftlichen Hintergründe. Dotendantz mit figuren, clage und antwort schon von allen staten der werlt, 1. Druck bei Heinrich Knoblochtzer in Heidelberg, von mir 1485 datiert; Faksimileausgabe hrsg. A. S c h r a m m , Leipzig 1922, und A. S c h r a m m , Bildschmuck der Frühdrucke 19 (1936), Abb. 618—59. — 2. Druck bei J. Meydenbach in Mainz 1492. — 3. Druck bei H. Schobser in München nadi 1500. — Reihenfolge der Holzschnitte: Totenorchester, Beinhausszene, Papst, Kardinal, Bischof. Abt, Doktor, Offizial, Domherr, Pfarrer, Kapellan, guter Mönch, böser Mönch, geistlicher Bruder, Nonne, Arzt, Kaiser, König, Herzog, Graf, Ritter, Junker. Wappenträger, Bürgermeister, Ratsherr, Bürger, Fürsprech, Schreiber, Wucherer, Räuber, Spieler, Dieb, Handwerker, Wirt, Jüngling, Kind, Bürgerin, Jungfrau, Kaufmann, Leute von allen Ständen, Kirchhofszene. — Der 3. Druck fügt den Einleitungsversen noch vier sehr ungeschickte Reimpaare zu (Faksimile München 1925). Er hat wie die ersten beiden Drucke kein Impressum, die Zuweisung an Schobser geschah durch Typenvergleich, vgl. K. S c h o t t e n l o h e r , in:

Der mittelrheinische Totentanz, seine Heimat und Datierung

235

in niederländischer (Overijsselscher) Übersetjung aus dem Ende des 15. Jahrhunderts 9 ). D i e Kasseler Handschrift ist von einem guten Künstler sorgfältig illuminiert und enthält den Text in zwei Kolumnen, mit Initialen und Gold verziert, über den Bildern. Auf Grund der Bilder muß die Handschrift auf die Zeit um 1460 datiert werden 7 ). Sie hat also den zeitlichen Vorrang vor den Drudcen, deren erster von dem Straßburger Drucker Heinrich Knoblochtzer nach seiner Übersiedlung nadi Heidelberg als erster oder einer der ersten Drucke, also 1485, herausgebracht wurde. Der zweite Drude ist ein Nachdruck von den gleichen Holzschnitten, aber in einfacherer Aufmachung und wird Jacob Meydenbach in Mainz 1492 zugeschrieben. Für die Heimatbestimmung des Textes lassen sich aus der Sprache folgende Kriterien gewinnen: 1. p im Anlaut unversdioben zehnmal gegen v. 208 phaßen, v. 282 verphant; auslautend nadi l verschoben zu I f ; inlautend in der Gemination unversdioben: v. 87 opper, v. 158 appel (rheinfränkisch und moselfränkisdi). 2. d anlautend stets unversdioben, inlautend meist unversdioben, aber schwankend selbst beim gleichen Wort: v. 14 gud.de, v. 143 gute (mitteldeutsch, rheinfränkisdi). Münchner Charakterköpfe der Gotik, 1938, S. 86. Schobser druckte 1510 das Spiel vom aygen geridit und sterbenden menseken (mit Impressum), das damals in München aufgeführt worden war. Sdiottenloher nimmt ohne Prüfung der Totentanzliteratur an, daß der Totentanz und das Schauspiel eben damals von einem Mündiener Mönch gedichtet worden seien. Dabei wird völlig ignoriert, daß der Totentanz sdion seit 1485 im Drude vorlag und durch die Kasseler Handschrift schon einige Jahrzehnte früher für das Rheingebiet belegt ist. • Pergamentblatt in der Provinrbibl. Leeuwarden mit 5 Strophen (Tod und Bürgerin, Tod und Waldbruder, Tod an alle Stände) hrsg. A. S t o e 11, Noord en Zuid 16 (1891), S. 156 ff. — Beginn: Gy borgerynne mit dydten ransen, gy pleget hoeveren ind toe dansen ind latet u megede nae gaen, dat u nyet en is gebaren aen. — Ich verdanke eine Textabsdbrift der Güte von Frl. Dr. Tinbergen, Delft. Im Anhang S. 335 stelle ich die oberysselschen Strophen dem mittelrheinischen Original gegenüber. 7 S t r u c k (s. Anm. 4) datiert allgemein 2. Hälfte des 15. Jahrh., S t a m m l e r (s. Anm. 4) 1480—1500. — Beweisend für meine Datierung auf 1460 ist vor allem der kurze Taillenrock mit wattierten Schultern und Strumpfhosen. Wir finden ihn als charakteristische Modetracht im Eingangsbild des berühmten, von Jean Fouquet gemalten ,Mündiener Boccaccio" von 1458, wo ein historisches Ereignis des gleichen Jahres dargestellt wurde (Boccaccios Les Cas des nobles hommes et femmes, Mündien Cod. gall. 369, fol. 2 b, Abb. bei P. D u r r i e u , Le Boccacce de Munich, 1909, Taf. 1: Le lit de justice de Vendöme en 1458).

236

VII. Die mitteldeutschen Totentänze

3. t versdioben, audi in daz, ez; diss nur v. 281 gegen düt v. 184, jedodi fehlt v. 184 in der Hs. (rheinfränkisch). 4. 1. Pers. sing. ind. präs. auf n: v. 199, 490 (mitteldeutsch). 5. Umlaut des a vor sdi: v. 168 eschen (alemannisch und westmitteldeutsch). 6. Kontraktion sihet zu sit v. 171 (vorwiegend mitteldeutsch). 7. sal sechsmal gegen v. 410 sol: wol, 433/34 du solt (mitteldeutsch). 8. Bezeichnung der Vokallänge durch eingeschobenes » (mitteldeutsch, vorwiegend mittelfränkisdi). Merkmal 4—7 sind mitteldeutsch, 2—3 rheinfränkisch, 1 rheinfränkisch und mos elf ränkisch, 8 vorwiegend mittelfränkisdi, aber auch allgemein mitteldeutsch.

Die vorliegende Spradiform des Textes darf demnach als rheinfränkisch (nördlicher Teil des Gebietes) bezeichnet werden. Die Reime sprechen nicht dagegen, auch die Dichtung selbst im rheinfränkischen Gebiet zu beheimaten. Zu den sprachlichen Merkmalen paßt es gut, wenn in Vers 353 Bingen genannt wird: Herr Wirt von Bingen wird der Gastwirt angeredet. Diese Anrede hatte nur in der näheren oder weiteren Umgebung von Bingen Sinn als Anspielung auf einen Ort, der den Lesern vertraut sein mußte. Vielleicht war es sogar Anspielung auf eine bestimmte übel beleumdete Persönlichkeit. Damit kommen wir für die Herkunft des Textes auf die Stadt Mainz oder ihre Nachbarschaft, jedenfalls auf das Gebiet des Erzbistums Mainz. Die Pergamenthandschrift gehört wohl der gleichen Gegend an; denn der Todespartner des Grafen führt auf der Wappenfahne seiner Trompete den steigenden Löwen, das Wappenbild der Grafen von Nassau und der Pfalzgrafen bei Rhein 8 ), aber die Farbe des Wappenfeldes stimmt nicht dazu, woraus man schließen kann, daß dem Miniator das Wappen nicht genauer bekannt war. Der Heidelberger Drude, der die rheinfränkische Schreibung im Ganzen beibehält, gibt dem Grafen je§t eine Fahne mit den Hirschhörnern der Grafen von Württemberg in die Hand. Der Holzschnittkünstler stammte wohl aus Schwaben, so daß sich ihm beim Grafen sofort die Erinnerung an die Württembergs Grafen einstellte. • Der steigende goldene Löwe des Grafen von Nassau steht in blauem, mit Sdiindeln belegtem Felde und trägt seit der Verleihung des Pfälzer Löwen als Kleinod eine rote Krone; der Pfälzer steigende Löwe mit roter Krone steht in schwarzem Felde. Daß der steigende gekrönte goldene Löwe der Handschrift in rotem Felde steht, spricht nicht dagegen, daß der Zeichner an die Grafen von Nassau (so Rieger, dagegen Struck) oder die Pfalzgrafen bei Rhein gedacht hat, sondern nur für Willkür oder Mangel genauerer Wappenkenntnis seitens des Illuminators, der ja mit dem Zeichner nicht identisch gewesen sein dürfte. Die heraldisch stilisierte Zeichnung des Wappenlöwen entspricht genau dem rheinpfälzischen Wappen (vgl. Anmerkung 16).

Die Illustration des mittelrheinischen Textes

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Von kunsthistorischer Seite ist der zweite, bessere Teil der Holzschnitte von 1485 (von Nr. 27 an, das ist nach der alten Zählung Nr. 25-38), dem Hausbuchmeister zugeschrieben worden»). Es ist dies eine jener unhaltbaren Zuweisungen unbekannter Werke an einen bekannten Namen wie die der Lübecker Holzschnitte von 1489 an Bernt Notke. Man operiert mit allgemeinen ästhetischen Urteilen, ohne wirklich beweisendes Vergleichsmaterial zu erbringen. Wesentlicher als die Frage der Autorschaft der Holzschnitte erscheint mir ihr Vergleich mit den Miniaturen der Kasseler Handschrift, die von der kunsthistorisdien Forschung bei der Frage nach der Bewertung der Holzschnitte gänzlidi ignoriert wurden. Für uns ist dieser Vergleich nur von Bedeutung, soweit er sich für die Frage der Herkunft und Verbreitung des mittelrheinischen Totentanzes auswerten läßt. Dies ist nur in der ikonographisdien Sphäre möglich — das Ästhetische mag deshalb getrost beiseite bleiben. Ich habe diesen Vergleich 1948 am damaligen Aufbewahrungsort der Handschrift, Marburg, durchgeführt, soweit der fragmentarische Charakter der Handsdirift dies gestattete. Die Handschrift ist beim Brand der Kasseler Landesbibliothek etwas zusammengeschmort und beschädigt worden und deshalb zur Restauration nach Berlin gegeben; während der Kämpfe um Berlin und der Wirren hinterher hat die Handschrift abenteuerliche Schicksale gehabt und dabei neun von den früher vorhandenen 35 Bildern verloren. Zwei Gestalten (Ritter, Kaplan) sind durch Gleichsetjung mit Herzog und Pfarrer ausgefallen und die Eingangs- und Schlußszenen haben der Handschrift jedenfalls schon früh gefehlt. So ist ein Vergleich auf die 25 gemeinsamen Szenen beschränkt. Man sieht sofort, daß die sorgfältigen, mit schönen Hintergrundlandschaften versehenen Miniaturen mit den Holzschnitten kaum etwas anderes gemeinsam haben als den grotesk-wilden Tanz musizierender Todesgestalten mit den verschiedenen Menschen aller Stände. Zur Zeit, als man auf Grund einer unbewiesenen handschriftlichen Jahreszahl im Münchener Exemplar den Druck in das J a h r 1459 setjte, war es noch möglich, die Inkunabel als Vorbild der Miniaturen in Erwägung zu ziehen. Seitdem die Inkunabel als Werk Knoblochtjers aus dem Jahre 1485 oder später erwiesen ist, käme nur die Handschrift als Vorbild der Inkunabeln in Betracht, wenn nicht die Beschränkung der Szenenzahl in der Kasseler Handschrift Schwierigkeiten bereitete. • L e o B a e r , Der Heidelberger Totentanz und die mittelrhein. Buchillustration d. 15. Jahrh., Gutenbergfestsdirift 1925, S. 269—75.

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Zwischen der Entstehung der Handschrift und dem Druck der Inkunabel liegen etwa 25 Jahre. Aber dieser zeitliche Abstand erklärt in keiner Weise die Verschiedenheit der Gestaltung, auch wenn wir eine selbständige, aus eigener Phantasie schöpfende Gestaltungsfreude des Zeichners der Holzschnitte und die verschiedene Technik in Rechnung ziehen. Es fällt auch besonders auf, daß mit e i n e r Ausnahme der Todespartner auf den Holzschnitten bei keiner Gestalt dasselbe Instrument in Händen hat wie auf der entsprechenden Miniatur. Hier kann und soll der Vergleich, der dieses Gesamtbild modifizieren könnte, nicht im einzelnen durchgeführt werden. Wichtig ist nur als Ergebnis, daß trotj der generellen Verschiedenheit nicht nur gewisse Ähnlichkeiten, sondern auch einige schlagende Parallelen zu verzeichnen sind. Der Todespartner des Kaufmanns auf Bild 24 der Handschrift hat gegen sonstige Gewohnheit das Horn, das er bläst, an einem Band über der Schulter, auf dem Holzschnitt 37 des Druckes von 1485 trägt dieser Tod eine Trompete sin einem Band über der Schulter. Der Todespartner des Kaisers (Holzschnitt 10) hält eine Trompete in Händen, deren Wappenfahne einen Reichsadler zeigt. Die gleiche Trompete mit Fahne und Reichsadler schwingt in der Handschrift der Partner des Königs bei seinem grotesk-wilden Tanz (Nr. 11). Der Wappenträger trägt bei beiden (Druck Nr. 16, Hs Nr. 18) drei kleine Wappen auf der Brust. Der Räuber trägt 1485 (Nr. 17) eine Armbrust über der Schulter, in der Handschrift (Nr. 13) liegt sie ihm vor den Füßen. Der Wucherer hat in der Handschrift (Nr. 14) ein offenes Pult mit Geld und Geldbeutel vor sich, 1485 (Nr. 18) steht er vor einer offenen Truhe mit Geld und hält einen Geldbeutel in der Hand. Diese Parallelen, die sich durch viele weniger eindeutige vermehren ließen, machen eine Beziehung zwischen den Miniaturen und den Holzschnitten von 1485 wahrscheinlich, ohne sie wirklich zu beweisen. Beweiskräftig ist jedoch das Bild des Wirtes (Hs Nr. 29, Drude Nr. 23). Hier liegt eine Gemeinsamkeit schon darin vor, daß der Tod hier wie dort die Laute spielt. Auf dem Holzschnitt hält der Tod sie freilich gegen alle Gewohnheit mit der Rechten und spielt mit der Linken, überdies ist die rechte Hand unmittelbar an den Oberarm angesetjt. Der Zeichner der Holzschnitte hat hier also ganz flüchtig gearbeitet und hat offensichtlich dabei eine Vorlage kopiert, ohne sie, was bei der Vorzeichnung für den Holzschnitt Vorbedingung ist, spiegelverkehrt zu geben. Dadurch ist der Holzschnitt selbst Spiegel-

Die Illustration des mittelrheinisdien Textet

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verkehrt geworden. Wichtiger ist der Partner des Todes, der Wirt von Bingen. Die Miniatur zeigt ein Wirtshaus an der Landstraße mit einem herausgesteckten Radkreisstode als Sdiankzeidien. Vor ihm sitjt der Wirt an einem TLsdi und hat einen Becher vor sich. Auf dem Holzschnitt ist das Wirtshaus verschwunden, aber der Wirt sitjt auch hier an einem Tisch und hat einen Becher in der Hand, und hinter ihm ragt ganz unvermittelt und beziehungslos der Radkreisstock, den wir als Schankzeichen des Wirtshauses der Miniatur kennen. In diesem Falle hat also der Zeichner der Holzschnitte bestimmt ein Bild, wie es die Miniatur zeigt, vor Augen gehabt und für den Holzschnitt vereinfacht. Das Wirtshaus ließ er weg, aber das charakteristische Schankzeichen — vielleicht auch ein Zeichen für den Ausschank des ersten Heurigen — mochte er nicht auslassen. Wir müssen auf Grund dieses Bildes im Zusammenhang mit den anderen Parallelen unbedingt den Schluß ziehen, daß die Holzschnitte von 1485 und die Miniaturen von 1460 auf eine gemeinsame Vorlage zurückgehen, die hier wie dort bei der Kopie umgestaltet wurde. In manchen Fällen mögen die Holzschnitte das Ursprüngliche bewahrt haben, in anderen Fällen die Miniaturen. Im Druck von 1485 tragen sämtliche Todesgestalten (mit Ausnahme vom Partner des Kindes, der ein Kinderspielzeug trägt) die verschiedensten Musikinstrumente. Auf den Miniaturen sind fünf Todesgestalten ohne Musikinstrumente, und wenn vier von ihnen wie die Toten der französischen Totentanztradition Sarg, Spaten und Hacke tragen, so kann man mit Bestimmtheit sagen, daß hierin die Miniaturen das Ursprüngliche bewahrten. Wir kommen damit auf eine Vorlage, eine illustrierte Handschrift, die Elemente der französischen Totentanztradition in sich trug, aber das typisch deutsche Tanzmotiv, vielleicht aus überströmendem rheinischen Temperament heraus und unter dem Eindruck höfischer Musikkapellen, verstärkte. Zu der Sackpfeife (Dudelsack), die wir bereits für den ältesten Totentanz als Instrument des aufspielenden Todes annehmen können und die als solche auch in Frankreich geläufig waren, kommen in den Miniaturen Trompete (4mal), Harfe (4mal), Laute (3mal), Trumscheit (2mal), Geige (2mal), Horn, Psalterium und Portativ (kleine Trageorgel) dazu. Diese Instrumente mag die gemeinsame Vorlage schon gehabt haben. Der Zeichner der Holzschnitte aber ließ die Totengräberinstrumente ganz fortfallen, führte das Musikinstrumentenmotiv für sämtliche Todesgestalten durch und bereicherte die Instrumentensammlung der Vorlage noch um Schalmeien, Flöte, Cister, Zinken, Trommel, Triangel,

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Platerspiel, Kastagnetten, Schwegel und Tambourin 10 ). Man ist geradezu versucht, angesichts dieses Instrumentensammelsuriums von einem zu Tode Hetjen des Musikinstrumentenmotivs zu sprechen. Man könnte nunmehr vielleicht durch einen Vergleich mit Guyot Marchants Holzschnitten festlegen, wieweit in den Miniaturen und Holzschnitten sich die einzelnen Elemente der französischen Totentanztradition erhalten haben. Ich begnüge mich mit kurzem Hinweis, um nicht den Rahmen der Arbeit und die Linie der Beweisführung zu sprengen. Der Reichsadler, den wir in den Miniaturen und Holzschnitten auf der Trompetenfahne des Königs oder Kaisers fanden, ist bei Marchant etwas unorganisch auf dem Untergewand des Kaisers angebracht (Abb. 26), und da im zugehörigen Text vom Banner des Kaisers die Rede ist, mag die ursprüngliche Stellung eine andere gewesen sein. Gemeinsam ist Marchant und den deutschen Holzschnitten das Lilienszepter des Königs — hier hat die Miniatur von 1460, die dem König zu dem Dolch noch ein Schwert gibt, sicher das Jüngere. Auch sind Kaiser und König auf den Miniaturen in der burgundisch-niederländischen Modetradit (dem Taillenrock und Strumpfhosen) gegeben, während Marchant und die deutschen Holzschnitte sicher Ursprüngliches bewahren, wenn sie zu Szepter und Krone einen Krönungsmantel mit Hermelinkragen zufügen. Bei Marchant ist der Mantel des Königs kostbarer und mit den heraldischen Lilien des französischen Königtums übersät, während der deutsche Holzschnitt dem König eine Wappenfahne mit den drei heraldischen Lilien in die Hand gibt: die Gemeinsamkeit ist auch darin unverkennbar. Der Kaiser trägt bei Marchant (Abb. 26), in der Kasseler Handschrift (Abb. 28) und in dem deutschen Holzschnitt auch Reichsapfel und Schwert, was wiederum zur französischen Tradition gehört, und Marchant und der deutsche Holzschnitt stimmen darüber hinaus im Vollbart des Kaisers überein. Die Miniatur gibt den Kaiser gegen alle Tradition bartlos (Abb. 28). Wenn wir genau hinsehen, erkennen wir dabei eine deutliche Porträtähnlichkeit mit dem 1452 zum Kaiser gekrönten Friedrich III. — ein niederländisches Bild der Kaiserkrönung 11 ), ein Porträt aus dem Jahre 146812) und die Sarkophag10

Die Identifizierung der Musikinstrumente wurde durchgeführt von Bertha A. W a l l n e r , Die Bilder des achtzeiligen oberdt. Totentanzes, ein Beitrag zur Musikikonographie des 15. Jahrh., Zsdir. f. Musikwiss. 6 (1923/24), S. 65—74. "Abb. in: Neue Propyläenweltgeschichte 2 (1940), S. 447. 12 Porträt der Wiener NationalbAbl., Abb. bei E. B r e i t n e r , Maximilian I Bremen-Wien 1939, S. 24/25.

Mittelrheinisdier, französischer und Würzburger Totentanz

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platte des Nikolaus von Leyden für den Stefansdom in Wien aus dem Jahre 14701S) zeigen die gleichen Züge. Wir finden darin nur bestätigt, was die sorgfältig« Alisführung der Miniaturen, ihr Initialensdimudc und die Goldhöhung der Schrift schon sowieso nahelegen: daß die Kasseler Handschrift durchaus den Typ einer Pradithandsdirift hat und in Wettstreit treten will mit den großen Miniaturmalern der flämischen Kunst und des burgundisdien Hofes. Die gemeinsame Vorlage der Kasseler Handschrift und der deutschen Holzschnittausgabe von 1485 muß sehr viel einfacher und primitiver, muß sehr viel volkstümlicher gewesen sein. Mit diesen Ergebnissen kehren wir zur Betrachtung des Textes zurück. Ehe wir jedoch der auch in den Bildern dokumentierten Beziehung zur französischen Tradition, zur Danse de macabre nachgehen, müssen wir nachprüfen, wie weit der Text mit den deutschen Totentanztexten zusammengeht, wie weit er den Text des Würzburger Totentanzes bewahrt hat. Rein äußerlich legen uns schon die Gestalten von Herzog und Graf, die der französische Text nicht kennt, die Vermutung nahe, daß der Würzburger Text die Grundlage, den Altbesitj bildet, der durch das französische Vorbild modernisiert und bereichert wurde. Dieser erste Eindruck wird durch eine Fülle von Anklängen bestätigt. Dabei mag wieder das einzelne nicht überall beweisend sein, aber die Gesamtzahl der Anklänge stütjt sich gegenseitig und schließt jede Zufälligkeit der Formulierung aus. Eis ist, als habe dem Verfasser überall nodi der Klang und die Formulierung des Würzburger Textes im Ohre gelegen, als er daran ging, den französischen Totentanz einzudeutschen und zu bearbeiten. Gleich am Anfang klingen die Würzburger Verse des Predigers von des gemaeldes figuren (v. 25) und seine Mahnung Darumb solt ir von sünden lan! (v. 235) im mittelrheinischen Text beinahe wörtlich wieder (Einleitung v. 17—19): Merkent nu und sehent an, disse figure, war tzu kommet des mentschen nature, lassent von sunden, das ist myn radt!

Verkündete der Würzburger Tod v. 55: Her künic, iuwer gewalt hat ein ende, ich wil iudi füeren bi der hende, so wird jetjt dem Papst etwas ganz Ähnliches gesagt: Uwer herschaft hait nu ein ende, ir sint komen in mine hende (v. 5/6), und beim Kardinal klingt es hier wie dort: " A b b . in: Propy läenweltgesdiichte 4 (1932), S. 441.

IS

Rosenfaid,

Totentanz

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VII. Die mitteldeutschen Totentänze

Würzburg v. 17 Ir müszt nû mit den töten reien! Mittelrhein v. 17 Nu springent ain dissen reien!

Das Reimpaar angeschriebenUriben aus den Versen des Ritters (Würzburg v. 119) klingt zweimal, beim P f a r r e r (v. 83) und beim G r a f e n (v. 195) wieder, u n d daß das Würzburger edler graf (v. 100) einem grave edler art (v. 193) entspricht, wird ebensowenig Zufall sein wie das gesunt gemachet, das in Würzburg Vers 140, am Mittelrhein Vers 133 in den Versen an den Arzt erscheint, oder daß Schwert und Krone in Würzburg Vers 39/40, am Mittelrhein Vers 147/158 in den Versen des Kaisers genannt werden. Aber mit diesen Anklängen an den Würzburger Totentanz vereinigen sich Gedanken und Sätje aus der französischen Danse de macabre, und auch die achtzeilige Strophe des Franzosen gab das Maß für die paarweise reimenden mittelrheinischen Achtzeiler. Der f r a n zösische Totentanz läßt am Schluß einen toten, von W ü r m e r n zerfressenen König sprechen und darauf hinweisen, daß die menschliche Natur nichts sei als Fleisch f ü r W ü r m e r (v. 515). Den Deutschen hat das so beeindruckt, daß er diese Mahnungen an den A n f a n g seiner Dichtung stellte. Der Holzschnitt zeigt dazu genau wie in Paris einen Leichnam, nur wird er hier von tanzenden Toten umringt (Abb. 27). Der französischen Formulierung Pensez, que humaine nature ce nest que viande a vers (v. 515) entsprechen bis in den Wortlaut hinein die mittelrheinischen Verse: v. 9/10 Nu byn idi inn der würme gewalt, soi ich testament ist myr bestalt. v. 17/18 Merkent nu und sehent an diese figure, wartzu kommet des mentsdien nature.

Die Verse des Todes an den Papst fassen dann das Vous danceres, vous commenceres comme le plus digne seigneur, en ce point serez honoré (v. 18/21/23) ziemlich wörtlich in den Reim: v. 1/2 Dissen dantz must ir beginnen vor allen, die da ere gewinnen.

Aus der Antwort des Papstes wird das so kennzeichnende W o r t Je suis dieu en terre (v. 26) wörtlich festgehalten: Gott was idi uff erden genannt! (v. 11)

Das im französischen Text anschließende J'ai dignité souveraine en l'église comme Saint Pierre (v. 27) wird zu dem Satze umgeformt: Sant Peter stule han ich besessen, (v. 15)

Mittelrheinischer, französischer und Würzburger Totentanz

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Des Kardinals chapeau rouge, robbe de pris (v. 61) taudien als mantel und roder hut (v. 23) auf, des Domherrn Pfründe, Zahlung und Lieferung (v. 241) als prunde, rent, gälte und gut (v. 67), und beide Male heißt es hinterher ganz ähnlich, in Paris (v. 244): tröstet euch, darüber!, am Mittelrhein (v. 69): Troist dich selbs, wan du must sterben! Die Sentenz des Königs (v. 80): En la fin fault devenir cendre wird wörtlich übernommen: sie müssen in der erden wiederumb zu eschen werden (167). Hier wie dort beklagt sich der Arzt, daß er zwar andre heilen konnte, aber wider den dot finden ich kein krudt (v. 140 vgl. Paris v. 358), hier wie dort wirft der Tod dem Wucherer vor, daß er verblendet sei (v. 273, vgl. Paris v. 321), und beim Pfarrer nimmt der Tod das Wort exemplaire aus dem französischen Vers 414 auf und schilt v. 85, er habe bosse exempel geben. Wörtlich nimmt der Kaufmann die Schilderung seiner Handelsreisen ins Deutsche hinüber. v. 265/66 J ' a y este a mont et a val, pour marchander, ou j e povoye.

Das ist Wort für Wort in die deutschen Verse hinübergenommen: v. 585/87 Ich hain gelauffen durch berg und dail, durch alle werlt breit und smail, gesucht gewin, wie ich modit.

Vor allem aber ließ der mittelrheinische Dichter sich von der geistreichen, aber wenig tief gehenden Formulierung in den Versen des Kindes beeindrucken. Statt der deutschen Vorstellung, daß das kleine Kind, das noch nicht laufen kann, bereits tanzen soll im Reigen der Toten, wird von dem Franzosen das Stottern übernommen und selbst die Schlußsentenz wörtlich ins Deutsche übertragen. Paris

v. 465/72: A a a, je ne scay parier . . . hier naquis, huy m'en fault aller . . . Mittelrhedn v. 345/52: A a a, ich kan nodi nit sprechenhude geborn, hudc muss ich ufbrechen . . . als woil stirbt das junge als das aide.

Die aditzeilige Strophe und diese sehr weitgehenden wörtlichen Zitate und Anklänge zeigen, daß der Diditer den Text der französischen Danse de macabre vor Augen hatte. Gleichwohl bestimmt das französische Vorbild die Haltung und Eigenart des mittelrheinischen Totentanztextes so wenig, wie es die Würzburger Urform tat. Dafür waren die französischen Verse viel zu allgemein gehalten, viel zu sentenzenhaft, zu elegisch und nicht tief genug, um einen religiösen Menschen 16*

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VII. Die mitteldeutschen Totentänze

des 15. Jahrhundert in Deutschland wirklich befriedigen zu können. Aber das freie, gelenkige Vorbild löste den Deutschen aus der starren Tradition des Würzburger Totentanzes, er gab ihm den Impuls dazu, den Tod als Sittenprediger auftreten zu lassen, und gab ihm den Mut, diese Idee mit dem fanatischen Ernst des Deutschen durchzuführen. Aber kam dem Niederdeutschen dabei die Beziehung zum Drama, zur Moralität zugute, so bleibt der mittelrhednische Autor in den Gegebenheiten der literarischen Tradition: wie im lateinischen, wie im Würzburger, wie im Pariser Totentanz bleibt die Isoliertheit der Sterbenden gewahrt. Der Tod redet sie an, schilt und belehrt sie, sie selbst aber beharren beim Monolog und wagen keine Anrede an den Tod, keine Widerrede, keine Verteidigung, keine Bitte um Frist oder Gnade. Nur selten ruft einer von ihnen betend Gottes Erbarmen oder die Hilfe der Jungfrau Maria an. Sie sprechen so, wie es die uralte Tradition der Spruchbandtitel war, sie sprechen nur aus, was sie denken und wie sie ihrem Wesen nach sind. Sie können sich nicht verstecken, sie sind gleichsam transparent, sie bekennen offen Sünde und Schuld. Wessen Leben danach gewesen ist, der weiß, daß er von Gott schon verdammt ist. Der kluge, fürstliche Rat, der sich von den Reichen bestechen ließ, weiß es (v. 491/92): Min wing-art, wiesen, ecker und erspartes gut bringent midi in der hellen glut!

Wie diese Menschen um die Schwere ihrer Schuld Bescheid wissen und sich selbst meist härter verklagen als der scheltende Tod, so wissen sie auch, daß es keine Gnadenfrist gibt. Sie betteln nicht darum, sie sagen nur (v. 368/69): Solt ich aber nu nit sterben, ich getruwet mich besseren und genäde erwerben!

Auch der Wunsch um Vergebung und Gnade bei Gott ringt sich meist nicht zum unmittelbaren Anruf des Herrn durch, sondern bleibt Gedanke und frommer Wunsch. Es fehlt also das Dramatische, das dem niederdeutschen Totentanz das Gepräge gibt, in jeder Beziehung, es fehlt die Begegnung des Menschen in seiner Angst und Selbsttäuschung mit der Unerbittlichkeit des Todes. Sie handeln alle nicht aus der lebendigen Situation des Augenblicks, nein, Menschen sind es, vom Tode gezeichnet und hellsichtig und hellhörig geworden für den Stundenschlag der Ewigkeit, Menschen, die nicht mehr heucheln können, sondern sagen müssen, wie es um ihr Seelenheil bestellt ist.

Franziskanische Kritik an Weltgeistlichkeit und hohen Herren

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Der Franzose münzt aus dieser Haltung seine Lebensweisheiten und Sentenzen und bleibt damit bei aller religiösen Ergriffenheit doch mit beiden Füßen in dieser diesseitigen Welt. Der Deutsche aber steht ganz im Transzendenten und sieht nur das Gericht, wenn er für seine Gedanken auch oft nicht die rechten Worte und die tiefsten Klänge findet. Meist ist es so, daß der Tod die Sünde nur andeutet, und daß der Sterbende selbst dann erst nackt und unverhüllt alle Schuld bekennt. Der Kardinal spricht von seiner Gierigkeit nach zeitlichem Gut und vergleicht sidi selbst mit einem Straßenräuber, der Bischof bekennt Simonie und Unterdrückung der Armen, der Domherr, daß er der böseste vom ganzen Domkapitel sei, der Kapellan, daß er zeitlich Gut und Ehre suchte und nicht das Wohl der anvertrauten Seelen. Allermeist aber beklagen sie alle die verpaßten Gelegenheiten, Gutes zu tun: „wenn mir Frist gegeben würde, würde ich mich bessern!" Nicht der Sterbende erhält diese Frist, aber der Lebende hat sie, der diesen Totentanz zu sehen und zu lesen bekommt. E r hat Gelegenheit, in sich zu gehen, die Gefahren seines Standes und Berufes zu meiden und seiner Seele Heil rechtzeitig zu wahren. So zielt denn diese Haltung des mittelrheinischen Totentanzes auf unmittelbare seelsorgerliche Wirkung. Aber die bittere Abrechnung mit der gesamten Weltgeistlichkeit zeigt, daß das Werk aus den Kreisen der Bettelmönche kommt, der Anwälte der Armen. Die Illustrationen (die Miniaturen wie die Holzschnitte) bewahrten offensichtlich das Ursprüngliche, wenn sie den sündhaften Abt als Benediktiner, den diebischen Mönch als Dominikaner kennzeichneten, den frommen Mönch aber als Franziskaner. Nur er, der Franziskanermönch und der Bruder vom dritten Orden der Franziskaner haben ihr Ordensgelübde richtig und treu gehalten und können mit dem Lob Gottes auf den Lippen fröhlich in den Tod gehen. Franziskanisch ist auch, daß die meisten Sterbenden sich trot) alles Sündenbewußtseins mit ihren letjten Gedanken an die Barmherzigkeit Gottes und die Hilfe der Jungfrau Maria klammern. Wie im franziskanischen Totentanz in Berlin hat auch hier nicht der Tod das letjte Wort, sondern das Letjte ist der Gedanke, daß Gottes Barmherzigkeit alle Sünden auslöschen kann. So findet entgegen der grundsätjlichen monologischen Haltung des Textes der eine oder andere der Sterbenden doch die Kraft zu einem Stoßgebet an die göttlichen Personen. Es ist kein Zufall, daß der Dieb, der ärmste aller Sünder, zutiefst von dem Gedanken an den legten Ausweg erfaßt wird und sich völlig dem gekreuzigten Heiland in die Arme wirft:

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VII. Die mitteldeutschen Totentänze v. 393 ff.: Eia lieber herre jhesu crist, wan du vor midi gehangen bist und geliden einen schentlichen doit, hilff mir diebe uss aller noit, dass ich die helle möge vermiden. Das fegefuir wil ich gerne liden. Idi bidden umb gnaid, die entphing der schedier, der an diner rechten syten hing!

Wie im Berliner Totentanz im Mittelpunkt der gnadesuchenden Sterbenden das Kreuz des Erlösers steht, so ragt mit dieser Strophe des mittelrheinischen Totentanzes der Sündenheiland hinein in die sündige Welt. Das Kreuz als leljte Zuflucht der Sünder und Ärmsten hebt sich wie ein Fels erlösender Gnade voll aus dem Meer von Todesnot, Sündenangst und Verzweiflung und weist den letjten Ausweg aus allem Leid. Man sieht, wie hier die franziskanische Predigt nicht wie die dominikanische durch rechte Lehre, Erschütterung der Seele und den menschlichen Willen den Weg zu rechtem Leben und Sterben weist, sondern alle Kräfte des Gefühls mobil macht und als Anwalt der Ärmsten und Elendesten nicht die guten Werke einer hoffärtigen und selbstgerechten Oberschicht, sondern Armut, Gehorsam, christliches Erbarmen mit den Schwachen und gläubige Hingabe an die erlösende Gnade als letztes Heil hinstellt. Die Stätte des Wirkens der Franziskaner ist die große Stadt mit ihren schroffen Gegensätjen von arm und reich. Daß der Bauer, den beide Vorbilder, der Würzburger wie der Pariser Totentanz, als Prototyp der Mühseligen und Beladenen brachten, hier am Mittelrhein wegfällt, ist ein sicheres Kennzeichen der rein städtischen Atmosphäre. Seltsamer ist, daß nicht nur der Patriarch, dessen Gestalt im deutschen Leben keinerlei Bedeutung hatte, sondern auch der Erzbischof weggelassen wird. Mochte man in Lübeck, Hamburg und Berlin sich mit der näherstehenden Macht des Bischofs begnügen: hier am Mittelrhein drängen sich j a die Sitje der Erzbischöfe förmlich zusammen und greifen in das tägliche Leben hinein. Aber vielleicht fehlt gerade deshalb der Erzbischof im mittelrheinischen Totentanz: diese Erzbischöfe waren in erster Linie Territorialherren. Der erzbischöfliche Stuhl war kaum mehr als eine fürstliche Versorgung der jüngeren Söhne all der umliegenden Grafschaften und Herrschaften, der Grafen von Nassau, Isenstein, Pfalz und wie sie alle hießen, die dann als Erzbischöfe ihre Kraft in kleinen Territorialfehden verpufften. Diese geistlichen Fürsten mochten dem eifernden Franziskaner gar nicht als geistliche Würdenträger gelten, und fast möchte es scheinen, als sei der Vers

Franziskanische Frömmigkeit u. Widerspiegelung einer Bischofstadt 247 des Todes zum Grafen diesen gräflichen Erzbischöfen auf den Leib geschrieben (v. 193): Tredt furt, ir grave von edeler art, ich fuir udi gar eyn wilde fart. Vyl hodimuts han ich von udi geschrieben, den ir über p a f f e n und leien hant gedrieben! Des Hochmutes über Pfaffen und Laien konnte man wohl einen der gräflichen Erzbischöfe viel eher beschuldigen als einen regierenden Grafen. Der Personenkreis, der entgegen den Vorbildern in den mittelrheinischen Totentanz einbezogen wurde, zeigt durchaus das Gesicht der großen rheinischen Städte. Der Magister des französischen Totentanzes wurde dem Deutschen zum großen meister von Paris (v. 449); Man mag darin ebensowohl eine Hindeutung auf die französische Vorlage sehen als auch die allgemeine Anschauung, daß Paris die Universitätsstadt schledithin sei. Anstelle des königlichen Richters des Pariser Totentanzes und des Juristen im Würzburger Totentanz tritt am Mittelrhein der Offizial, der bischöfliche oder erzbischöfliche Richter und im Fürsprech der städtische Anwalt. Der besondere Haß richtet sich gegen den fürstlichen Rat, also den Amtsvogt und Stellvertreter fürstlicher Herren, deren Gewinnsucht und Bosheit der Arme wehrlos ausgeliefert war. Demgegenüber tritt die Bedeutimg des Bürgermeisters zurück: nidit das Leben einer freien Stadtrepublik, sondern das einer bischöflichen oder herrschaftlichen Stadt ist das Vorbild. Neben den Kaufmann als Repräsentanten des städtischen Außenhandels, und den Wucherer als Vertreter des aufkommenden Kapitalismus wird der Handwerksmann als Vertreter des Gewerbefleißes und der Schreiber als Vertreter des neu entstandenen spätmittelalterlichen Buchgewerbes gestellt. Wir befinden uns in der Mitte des 15. Jahrhunderts: einige Jahre später wäre wohl in Mainz, wo der Franziskaner seine Verse schrieb, nicht mehr der Schreiber, sondern der Buchdrucker zum Totentanz geladen worden, wie dies dann in einem Drude von 1499 wirklich geschah 14), Die Welt der herrschaftlichen Fehden und gese^losen Überfälle auf die städtischen Kaufmannszüge ist in den Gestalten des Waffenträgers (Kriegsknechts) und des 11

Le grant danse macabre des hommes et des femmes bei Matthias Husz, Lyon 1599, fol. 6; Abb. bei A. C l a u d i n , Histoire de l'imprimerie en France 3 (1904), S. 320.

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VII. Die mitteldeutschen Totentänze

Räubers (Strauchritters) eingefangen. Die Verfallserscheinungen des städtischen Lebens werden in dem betrügerischen Wirt, im Falschspieler und im Dieb widergespiegelt, die Stadtgemeinde als solche in den Mönchen der verschiedenen Orden, in der eitlen Klosterschwester, in dem erwerbssüchtigen Bürger, in der vergnügungssüchtigen Bürgerin, im tanzfreudigen Paar von Jüngling und Jungfrau. Alles in allem ein Abbild der großen rheinischen Bischofsstadt. Über Entstehung und Verbreitung des mittelrheinischen Totentanzes müssen wir die indirekten Zeugnisse der Texte selbst befragen. Die Kasseler Pergamenthandschrift stimmt im Text mit den beiden Wiegendrucken (nach 1485) fast völlig überein, auch darin, daß in Vers 9, 101, 158, 184, 525 und 529 gemeinsame Fehler vorliegen. In v. 101 haben sie alle drei aus „Barett und Stola" uwer berret und uwer solen gemacht, in Vers 9 aus O got, sal und muß eß sin, daß ich enden das leben min ein Ach got, sal ich und muß eß sin, und in den Versen 524-526 liegt eine tiefere Verderbnis, die nicht mehr zu beheben ist. Die Wiegendrucke fügen als Parellele zur Beinhausszene des Anfangs (Abb. 27) eine weitere Beinhausszene als Schluß an, deren Bild und Text sie dem etwa 1450 am Oberrhein entstandenen „Spiegelbuch von der Welt Lauf und der Sünde Fluch" (Vers 552-83) entnahmen. Nicht nur diese unorganisch angestückte Beinhausszene am Schluß fehlt der Kasseler Handschrift, sondern auch die Gestalten des Pfarrers, des Arztes und des Herzogs und die beiden Eingangsszenen. Dagegen ist der Aufruf aller Stände durch den Tod, eine Szene, mit der der mittelrheinische Totentanz zweifellos ursprünglich schloß, in der Handschrift enthalten, und das betreffende Blatt trägt von derselben Hand, die die ganze Handschrift schrieb, die Bezifferung 38. Das ist merkwürdig, denn die Handschrift hatte ja nur 35 Blätter, aber diese Bezifferung stimmt wie die Ziffer 3 auf dem Blatt mit dem Bischof mit der Reihenfolge der Totentanzpaare der Inkunabel von 1485 überein. Das beweist eindeutig, daß dem Schreiber der Kasseler Handschrift eine Handschrift als Vorlage diente, die wie die Inkunabeln 37 Totentanzpaare und die Schlußszene umfaßte. Es scheint, daß diese handschriftliche Vorlage zwedcs Anfertigung einer Abschrift auseinandergenommen war, und da deren Seiten nicht alle beziffert waren, versuchte unser Schreiber nachträglich vergeblich, die vorgefundene Reihenfolge zu rekonstruieren und griff dann schließlich zur Selbsthilfe. Da er die Gestalten des Kaplans und des Ritters für überflüssig hielt (ihre Verse verwandte er unter Änderung der Anrede

Die reidie literarische Tradition des mittelrheinischen Totentanzes

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für den Pfarrer und den Herzog) und aus Nachlässigkeit oder mit Absicht auch den Arzt ausließ, hätte die Schlußszene bei ihm nicht die Ziffer 38, sondern 35 bekommen müssen. Den meisten Blättern aber gab er eigenmächtig Ziffern, und zwar ganz willkürlich; denn man kann es weder für ursprünglich noch für sinnvoll halten, daß der Doktor der Theologie, der Bürgermeister und der fürstliche Rat gegen alle mittelalterliche Ständefolge hinter Wucherer, Handwerker, Jüngling, Kind, Wirt und Spieler eingereiht werden. Der Abschreiber muß gänzlich den Überblick verloren haben. Dem Blatt mit dem Kaufmann gab er erst zwei andere Ziffern, ehe er sich entschloß, ihm mit 37 die Ziffer seiner Vorlage zu geben, die natürlich in diesem Falle auch schon fehlerhaft war. Daß seine Vorlage die geistlichen Stände den weltlichen geschlossen vorangestellt hatte, erkannte er nicht und half sich schließlich mit einer ganz willkürlichen Anordnung. Die Vorlage der Kasseler Handschrift war also beim Auseinandernehmen der Blätter so durcheinandergeraten, daß man die richtige Reihenfolge nicht mehr feststellen konnte, und vielleicht haben ihr auch schon die beiden Eingangsszenen ganz gefehlt. Sie kann also nicht fünfundzwanzig Jahre später als Unterlage für den Frühdruck von 1485 mit seiner Vollständigkeit und im wesentlichen sehr viel richtigeren Anordnung gedient haben. Die gemeinsamen Fehler der Kasseler Handschrift und des Frühdrucks müssen also bereits auf eine Vorstufe der Kasseler Vorlage zurückgehen, und diese Vorstufe muß bereits in einigen Punkten die Reihenfolge verwechselt haben. Am eklatantesten ist das beim Kaufmann: Handschrift und Inkunabel bringen ihn als letjten vor dem Aufruf aller Stände am Schluß; bei dem ausgeprägten Sinn des Mittelalters für sinnvolle Rangfolge kann aber der vornehme Kaufmann niemals als letjter hinter Dieb, Kind und allen Frauen gestanden haben. Diese Betrachtungen zeigen eindeutig, daß eine ausgedehnte literarische Tradition voranging und besonders hinsichtlich der Reihenfolge-der einzelnen Szenen das Ursprüngliche immer stärker verderbt hatte. Das deutet auf eine große Beliebtheit und Aktualität des mittelrheinischen Totentanzes und auf eifrige Nachfrage, die selbst übereilte, fehlerhafte Abschriften willig hinnahm. Da die Kasseler Handschrift etwa 1460 anzusehen ist, kommen wir für die Urfassung mindestens auf die Jahrhundertmitte, also in die Zeit, wo der französisch-englisdie Krieg sich dem Ende zuneigte und die Verbreitung von Bilderbogen mit der Danse de macabre vielerorts spürbar wird.

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VII. Die mitteldeutschen Totentänze

Nicht nur das restlose Durcheinander der Bilderfolge fällt auf, sondern auch die Anordnung von Bild und Text zueinander. Die französischen Totentanzgemälde, der Lübecker, der Berliner, der Metnitjer, der Ulmer Totentanz, auch der niederdeutsche und der Pariser Totentanzbilderbogen bringen die Verse unter den Bildern. Eis ist auch schlecht vorstellbar, daß Verse, die über einem großen Wandbild in Höhe von drei Metern angebracht sind, noch lesbar erscheinen. Gleichwohl haben die Baseler Totentanzbilder den Text über den Bildern angebracht. Folgerichtig sind die Buchstaben hierbei so groß, daß vier Buchstaben die Größe des Totenschädels haben (wie die im Baseler Kupferstichkabinett aufbewahrten Bruchstücke des Klingentaler Totentanzes zeigen). Diese Anordnung der Inschrift über den Figuren finden wir auf dem Venetianisdien Totentanzbilderbogen wieder und ebenso bei allen drei Fassungen des mittelrheinischen Totentanzes. Es ist die Anordnung, wie sie die Bilderbogen der minnenden Seele aus dem 14. oder frühen 15. Jahrhundert im Gegensatj zu denen vom Ende des 15. Jahrhunderts haben. Genau wie die Baseler Bilder diese Anordnung aus einem illustrierten Volksbuch übernommen haben, das noch die Art der älteren Bilderbogen bewahrte, genau so wird die merkwürdige Textanordnung der mittelrheinischen Totentänze auf einen älteren Bilderbogen zurückgehen. In der Tat klärt sich die ganze Verwirrung in der Reihenfolge der Figuren, wenn wir einen Bilderbogen als Urform annehmen dürfen. Da die letjte Szene der Wiegendrucke erst nachträglich aus dem Spiegelbuch herübergenommen ist, haben wir für die Urform des mittelrheinischen Totentanzes zwei Einleitungsszenen und 38 Auftritte, also insgesamt 40 Szenen anzusehen. Der Pariser Totentanzbilderbogen ordnete seine etwa gleich umfangreiche Bilderserie in zwei Reihen übereinander. Dies ist eine sicher sehr geläufige Art der Anordnung, die in der Pergamentrolle ihre Voraussetzung hatte. Wollte man alles zu einem einheitlichen Bogen zusammenfassen, so kam man zu der fünfreihigen Anordnung, die der Bilderbogen von der Minnenden Seele zeigt. Dieser hatte 20 Szenen in fünf Reihen, der mittelrheinische Totentanz hätte also die Zahl der Szenen jeder Reihe und damit die Größe des Blattes verdoppeln müssen, um seine 40 Szenen unterzubringen. Der Hamburg-Berliner Totentanz schied die geistlichen und weltlichen Stände, und dieses franziskanische Einteilungsprinzip ist auch in der verwirrten Reihenfolge der Drucke noch deutlich. Aber bei dem

Rekonstruktion des mittelrheinisdien Totentanzbilderbogens

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Niederdeutschen hielten sich die Zahl der Geistlichen und die der Weltlichen die Waage, so daß sich dort die Teilung in zwei Reihen übereinander von selbst als das Natürlichste anbot. Anders beim mittelrheinischen Totentanz, wo 14 Geistlidie 24 Weltlidien gegenüberstehen. Jedoch mit den Eingangsszenen konnten die geistlichen Stände gerade zwei Reihen zu acht Szenen füllen: die erste Reihe vom Papst über Kardinal, Bischof, Abt, Offizial bis zum Domherrn, die zweite vom Doktor, Pfarrer und Arzt über Kaplan und beide Mönche zum Bruder und zur geistlichen Schwester. Es verblieben dann für die Weltlidien die dritte, vierte und fünfte Bilderbogenreihe, also volle drei Reihen zu je acht Szenen. Die dritte Reihe wird die führenden, kriegerischen Stände (Kaiser, König, Herzog, Graf, Ritter, Junker bis herab zum Soldknecht und Straudiritter) umfaßt haben, während die vierte Reihe die bürgerlichen Stände vom Bürgermeister und fürstlichen Rat über Fürsprech, Bürger, Kaufmann und Wucherer bis zum Handwerker und Sdireiber wiedergab. Die letjte Reihe brachte offensichtlich das niedere Volk: Wirt, Spieler, Dieb, Bürgerin, Jüngling, Jungfrau, Kind und die Schlußszene mit den nicht weiter differenzierten Vertretern aller bisher nicht genannten Stände. Diese Rekonstruktion eines fünfreihigen Bilderbogens löst auf einfachste Weise alle scheinbar unlösbaren Probleme der Anordnung. Daß ein Bilderbogen in Ausnütjung der Konjunktur zu einem illustrierten Volksbuch umgeformt wird, ist ja eine gleichförmig immer wiederkehrende Erscheinung, die uns schon mehrfach begegnet ist. Bei der Kopie des Bilderbogens und der Umgruppierung zu Buchlagen war (zumal bei einem fünfreihigen Bilderbogen) dem Irrtum Tür und Tor geöffnet. Aus der Anordnung der Inkunabel sieht man deutlich, daß zunächst die vierte Reihe mit Bürgermeister und fürstlichem Rat hinter die Bilder der fünften Reihe (Wirt, Spieler, Dieb usw.) geriet, und daß dann durch Vertauschung einzelner Lagen oder Versuche zur besseren Anordnung die Verwirrung nur immer größer wurde. Die erste Reihe ist nahezu, die dritte völlig unverwirrt geblieben, bei den anderen macht sich das natürlich nicht konsequent durchgeführte Bemühen geltend, die niederen geistlichen Würden in die weltlichen Würden einzugliedern. Bei der Kasseler Handschrift hat dann der Buchbinder des 16. Jahrhunderts noch ein übriges getan, so daß schließlich unser Totentanz mit Nonne und Jungfrau begann, dann die Schlußszene und das Kind brachte, aber Kaiser und Papst erst als Nr. 26 und Nr. 27.

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VII. Die mitteldeutschen Totentänze

Die Auswertung der Fehler insbesondere in der Reihenfolge der Bildszen han die edeln herren wert als ein herzog geregieret mit dem swert. Nu bin ich in veher kleider glänz getwungen an des todes tanz. Der tote 87 Hat ir mit frouwen ie hoch gesprungen, stolzer herzog, oder wol gesungen: daz müezt ir an disem reien büezen. Wol her, lät iuch die toten grüezen! 9. Der Bischof 91 Idi bin wirdeclich geeret worden die wile ich lebt in bischofs orden. Nu ziehent midi die ungeschaffen ze dem tanze als einen äffen. Der tote 95 Iuwer wirde und er hat sich verkert, her bisdiof, wise und wol geirrt! Ich wil iuch an den reien ziehen, da ir dem tot nit müget entfliehen. 10. Der Grave 99 Ich was in der weit genant ein edler graf, dem rieh bekant. Nu bin ich von dem tot gefeilet und hie an sinen tanz gestellet. Der töte 103 Her gräf, heizt iu den kaiser helfen! Ich bringe iuch hie ze wilden weifen, mit den müezt ir tanzen bejagen. Der tot wil iu des nit vertragen.

79 in grossen eren KlB — 80 her ertzbischof Berl das ist Ai» Ulm Berl nu vergessen M* — 82 tanezen ouch H1 mit den Ai1 — 2 85 reichen kleidern Ai* leynen kleidern H im fechten worden dirank Ml — 86 betwungen H1 den toten tanz Ai3 — 87 hie mit KlB nu mit M1 ie fehlt Berl — 89 an dem Ulm an dem mal hie Ai1 1 — 90 ab den toten nit grussen Ai wol her wie lust udi hie diser toten grussen Berl — 91 gar hoch geeret KlB — 94 zu dem tod Ml Ais Ai® KlB Berl tanz H1 H* Ulm Fehse — 95 wirdidieit hat KlB — 98 ir türft holt mimer von mir slidxen M 5 ir moegen den doth nyt gefliehen KlB — 100 wie wit bekant KlB wol erkant Ai1 wol bekant Ai1

Der Würzburger Totentanztext v. 107—126

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11. Der Abbet 107 Ich hän vil munich als ein apt gelert, streng gezogen und wol genert. Nu winde ich selber hie getwungen und mit des tödes regel gedrungen. Der tote 111 Tanzt mir nach, her gugel wlt, wie wol daz ir ein abbet sit. Ir müezt des tödes regel halten, der tot wil iuwers libes walten. 12. Der Ritter IIS Ich hän als ein strenger ritter guot der weit gedient in hohem muot. Nu bin ich wider r i t t e n orden an disen tanz getwungen worden. Der töte 119 Her riter, ir sit angesdiriben daz ir nu rittersdiaft müezt triben mit dem tot und sinen knechten. Iu hilfet weder schirmen noch vehten. 13. Der Juriste 123 Ez hilft kein appellieren nit von des tödes letztem strit. Er überwindet mit sinem gesieht daz geistlich und daz weltlich reht. — 101 nun bin ich nem dem todt geselt KIB — 102 in seinen H1 M1 Ai* gezelt H* AP AP Ai> Berl KIB erweit Ulm — 104 hie fehlt M3 uch hat zu Berl zu ewen weifen Ai® — 105 tantzen jagen Berl H1 1 tantzen und jagen Ai Ai® baitzen und jagen KIB — 106 wils uch nit me KIB das nit Ulm euchs nit Ai1 — 107 vil fehlt KIB gehept KIB — 108 gar strenge dirczogen Hl erzogen Ai® gemert HtMtM> gewert Ai1 Berl und in eren lang gelept KIB — 109 nu bin Ulm betwungen Ulm — 110 und fehlt Hl Fehse (gegen HtM,M1Mi Berl Ulm) 109/10 Nemant wolt ich han widerspenig, noch moitz ich letts syn undertenig KIB — 111 nu tanz Berl — 111/12 Her der abt, kumpt mir nodi an doten dantz si veh godi KIB — 112 wie wol ir nu Berl — 113 des dodes reigel moisen ir KIB — 114 der tot M* Ulm der wil H1 Ai1 Fehse er wil M3 KIB — 115 als fehlt Ulm KIB 117 ich fehlt H1 — 118 mit disen AP bezwungen Ai1 — 119 audi angesdiriben M* — 120 nu rittersdiaft H 1 AP da mit ir rittersdiaft Ai® wan ir nu die rittersdiaft Berl rittersdiaft mossen ir triben KIB — 121 und mit Ai1 — 122 sdiirmen nodi Ulm KIB schimpf noch H1 M1 Af® Fehse sdiimpf oder Ai* — 123 kein appellieren czu dessir ezeit H* — 124 für des Berl hilft vor des todis harten streyth H* — 123/24 es hilfft kein fund noch hoffieren, kein uffzug oder appellieren KIB — 125 der tod zwingt alle gesiecht KIB — 126 darzu geistlich

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Der Würzburger Totentanztext v. 127—150 Der tòte 127 Diu urteil ist also gegeben daz ir lenger nit solt leben. Her jurist, daz tuot des tödes kraft: mfigt ir, so bewxrt iuwer meisterschaft! 14. Der Kórherre 131 Idi h i n als ein kórherre fri gesungen manie lieplich melodi. Des tódes pfif stät dem nit glich, sie hat sö sère ersdiredket midi. Der tote 135 Her körpfaff, habt ihr gesungen vor süezen gesang in iuwerm kor, so merket ùf miner pfifen schal: diu verkündet iu des tödes vai. 15. Der Arzàt 139 Ich h i n mit minem harnsdiouwen gesunt gemachet man und frouwen. Wer wil midi nu machen gesunt? Idi bin hie ze tède wunt. Der tòte 143 Her arzàt, tuot iu selber rät durch iuwer meisterliche tàt. Ich füere iudi ze des tödes gesellen, die mit iu hie tanzen wellen. 16. Der Edelman 147 Ich hän mangen man erschreckt, der wol mit hämisch was bedeckt. Nu erschreckt mich hie der tòt und bringt mich in die jungest nöt.

und weltlich KIB das weltlich und das geistlich recht Hl Fehse — 130 so fehlt Af1 bew(e)ist H1 Beri KIB bewert Ai1 M' M> bewaren t Ulm — 132 löblich M lieblich fehlt KIB — 133 ungeleich AP tönet dem ungelich KIB — 134 so ser Hl M1 M* M» Ulm Beri KIB gar ser H1 Fehse — 137 uf der pfiffen schal Beri KIB — 138 din fehlt Ulm kündet KIB euch hie M1 wal M1 — 140 geholfen beyd man KIB — 141 wil nu machen mich Ii1 Ai1 M* Beri nun mich machen Af' 142 czu deme tode H* Ai3 wan ich bin zuo dem tode Beri in den tod Af1 verwunt M1 M1 — 141/42 wer besieh myr nun das wasser myn, ich moitz myt dem todt da hyn KIB — 143 gept auch selber gueten rat M* — 144 durch iuwer meisterliche Ulm mit H* Af1 1 3 M M mit ewr maysterschaft Ai® versuchet uwer kunst getrat KIB — 146 die mit euch M1 mit udì all Beri hie fehlt M1 — 145/46 ganz abweichend KIB — 148 mit harnasdi wol Ai* der wol was H* wol fehlt KIB — 149 hie fehlt Af1 nu hat bezwungen midi der tod

Der Würzburger Totentanztext v. 151—174

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Der töte 151 Komet her, ix edler man, ir müezt der Sterke pflegen an mit dem töt, der niemans schönt. Ligt ir im ob, iu wirt gelönt. 17. Diu Edelfrou 155 Ich solte triben jödizens vil, saehe ich vor mir der vröuden spil. Des todes pfife midi bedringt, diz tanzgesang hie valschlich klingt. Der tote 159 Edelfrou, tanzt nädi iuwerm sin, biz diu pfife rehtcn dön gewin! Sie hät der frouwen vor vil betrogen, die alle der töt hät hingezogen. 18. Der Koufman 163 Ich hät mich ze leben versorget wol, daz kisten und kästen wären vol. Nu hät der töt min gäbe versmäht. Und umbc lip und guot mich bräht. Der töte 167 Her koufman, waz hilft iuwer gewerben? Diu zit ist hie, daz ir müezt sterben. Der töt nimt weder miet noch gäben. Tanzt mir näch: er wil iudi haben. 19. Diu Nunne 171 Ich hän in dein klöster min got gedient als gewiltez nunnelin. Was hilfet mich nu al min beten? Ich muoz des tödes reien treten. Berl nun fiditet myt myr der dodt KIB — 150 yn die engistliche not H* grose not KIB an die M1 — 151 degen KIB Berl — 152 müssent jetz Berl ir moisen he manheit pflegen KIB euer Sterken Ai1 Ai» an fehlt Ai1 AP Berl KIB — 154 legit ir nu oben H' und ligent ir im ob Berl und euch mit einem solichen schimpf lont Ai* seligent u