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German Pages 322 [321] Year 2015
Linguistische Anthropologie
Jacqueline Holzer (Dr. phil.) studierte Germanistik, Ökonomie und Philosophie an der Universität Zürich. Ihre Forschungsinteressen sind Wissenschaftsforschung und Kulturanthropologie.
Jacqueline Holzer
Linguistische Anthropologie Eine Rekonstruktion
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Sommersemester 2004 auf Antrag von Prof. Dr. Angelika Linke und Prof. Dr. Clemens Knobloch als Dissertation angenommen.
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© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Palimpsest on Fairy Rocks, Nova Scotia«, aus: Garrick Mallery: Picture-Writing of the American Indians, 1893 (ETH-Bibliothek Zürich, Sammlung Alte Drucke) Satz & Lektorat: Jacqueline Holzer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-301-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Für Ishi
Inhalt
Vorwort Einleitung Aufbau der Arbeit Zum Forschungsstand Analytische Präliminarien Linguistische Anthropologie? Linguistische Anthropologie! – Probleme bei der Bestimmung eines Untersuchungsgegenstandes Geschichtsschreibung »for the sake of the past« Inkommensurabilität – Kuhns essentialistische Beschreibung von Wissenschaft Relativismus der Rationalität Begriffsrelativismus Ontologischer Relativismus Ahistorische Historie – inkontingentes Paradigma: ein Weg aus der Paradoxie? Neue Metaphern: Thomas F. Gieryn und die Wissenschaft als kultureller Raum Bruno Latour und die Hoffnung der Pandora »Linguistische Anthropologie« – Erste Vernetzungen ›Weiße Quellen‹ American Indians und »The Great Father« American Indians und die U.S.-amerikanische Jurisdiktion Amerikanische Staatsbürgerschaft für American Indians General Allotment Act von 1887 Konsequenzen des General Allotment Act
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Erziehungs- und Bildungsprogramme zur Förderung der Integration Ausblick in das beginnende 20. Jahrhundert Bureau of Ethnology Kurzer Exkurs zur Professionalisierung der (linguistischen) Anthropologie »From the savage into a civilized man« – Verfestigung eines wissenschaftlichen Musters im Bureau of Ethnology Linguistische Studien als Grundlage ethnologischer Forschung Powells Gegenspieler: Daniel Garrison Brinton Inhaber des ersten Lehrstuhls für Anthropologie »Psychic unity of mankind« »Innere Form« – kulturelle Diversifikation – »nationale Weltsicht« Brintons wissenschaftliche Arbeitsweise Konstituierung der American Indian languages als wissenschaftliches Forschungsobjekt Franz Boas – ein Fremder entfremdet Die USA in den 1880er Jahren Franz Boas, ein deutscher, jüdischer Intellektueller mit vielfältigen Ambitionen Der Psychophysiker in Baffinland Geographie? – Ethnologie! Induktion – das Maß aller Dinge Historischer, individualistischer Ansatz in Verbindung mit physikalischer Anthropologie Differenzierung des Boasschen linguistischen anthropologischen Forschungsprogramms Erste Umsetzung der Methoden in der Akademie – Clark University Klassifikation der American Indian languages Powells »Indian Linguistic Families of America North of Mexico« Brintons »American Race« Objektivierung der Native Americans auf der Grundlage der linguistischen Klassifikationen Boas’ Durchbruch – Mögliche Erklärungen Dynamisiertes Netzwerk der linguistischen Anthropologie
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INHALT
Konstituierung der linguistischen Anthropologie als wissenschaftliche Teildisziplin »The Progressive Era« Institutionelle Veränderungen im Kontext anthropologischer Forschung um die Jahrhundertwende The American Anthropological Association University Movement Boas’ studium generale an der Columbia University in New York »The Mind of Primitive Man« – Dissoziation alter Verbindungen Verabschiedung der linearen Evolution als universell gültige Erklärungsgrundlage Linguistische Forschung – entscheidendes Instrument zur Gewährleistung wissenschaftlicher Objektivität »Handbook of American Indian languages« – Konsolidierung der linguistischen Anthropologie Herausgeber: Bureau of American Ethnology »The Characteristics of Language« Linguistik als unverzichtbare Notwendigkeit für die Anthropologie Konsolidierung der Linguistik jenseits der Anthropologie Amerika nach dem Weltkrieg Anthropologie in Kalifornien Alfred L. Kroeber und die University of California Linguistisch-anthropologische Studien in Berkeley Edward Sapirs anthropologische Linguistik Zwischen Germanistik und Anthropologie Germanistische Anfänge Sprachhistorische Rekonstruktionen der American Indian languages Stabilisierung des zirkulären Systems der linguistischen Anthropologie Visualisierung und Objektivierung der American Indian languages »International Journal of American Linguistics« Kristallisierung linguistischer Anthropologie in Sapirs »Language« Erste Autonomisierungsversuche der Linguistik als Wissenschaft Leonard Bloomfield – Professor für komparative Philologie und Deutsche Sprachwissenschaft Die Gründung der Linguistic Society of America und der Zeitschrift »Language« Linguistik als Selbstzweck
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Schluss und Folgerungen
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Bibliographie
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Mr. Okamoto: »But for the purposes of our investigation, we would like to know what really happened.« [Mr. Patel:, Anm. J. H.] »What really happened?« »Yes.« »So you want another story?« »Uhhh... no. We would like to know what really happened.« »Doesn’t the telling of something always become a story?« »Uhh... perhaps in English. In Japanese a story should have an element of invention in it. We don’t want any invention. We want the ›straight facts‹, as you say in English.« »Isn’t telling about something – using words, English or Japanese – already something of an invention? Isn’t just looking upon this world already something of an invention?“ »UUhh...« »The world isn’t just the way it is. It is how we understand it, no? And in understanding something, we bring something to it, no? Doesn’t that make life a story?« »Ha! Ha! Ha! You are very intelligent, Mr. Patel« (Martel 2002: 302).
Vorwort
Um die Geschichte eines wissenschaftlichen Fachgebietes wie der linguistischen Anthropologie zu erzählen, hat man sich in ein komplexes Netzwerk von verschiedenen, für die Disziplin relevanten Akteuren wie Forscher, Institutionen einzubinden sowie Kommunikationsfelder u. a. der staatlichen Politik gegenüber den Native Americans, der Einwanderungspolitik, dem Strukturwandel der Wissenschaftsszene zu rekonstruieren. Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Netzwerkes werden wir als Forscherinnen selbst Teil davon und beteiligen uns in dessen Analyse an diesem, erweitern und verändern es. Für die vorliegende Arbeit spielt aber auch das eigene Netzwerk eine große Rolle; von verschiedenen Seiten habe ich Anregungen und Unterstützung erhalten, die mir in vielerlei Hinsicht geholfen haben, die »Geschichte zu einem Ende zu bringen«. Was die inhaltliche Seite des Buches betrifft, so hat es – am Schnittpunkt von Wissenschaftsforschung beziehungsweise -geschichte und Linguistik – nur entstehen können, weil ich in beiden Wissenschaftsbereichen sowohl fachliche wie auch persönliche Unterstützung und Förderung erfahren habe. Als erstes möchte ich Hansjörg Siegenthaler danken. Durch ihn bin ich überhaupt zu wissenschaftshistorischen Fragestellungen gekommen und habe die Auseinandersetzung mit theoriegeleiteter Forschung kennen und schätzen gelernt. Ebenso Dank schulde ich Steve Woolgar, der mir in zahlreichen Gesprächen die Ansicht näher zu bringen versuchte, theoriegeleitetes Forschen kritisch zu hinterfragen, um doch noch eine ethnographische arbeitende Wissenschaftsforscherin zu werden. Helga Nowotny möchte ich danken für ihren Rat, mich endlich von all diesen theoretischen Überlegungen zu verabschieden, um »eine Geschichte zu schreiben«. IX
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Schließlich gehört mein Dank den Linguisten Clemens Knobloch und Angelika Linke. In Clemens Knobloch fand ich einen Gesprächspartner, der mir das Gefühl gab, mit meiner Arbeit nicht alleine auf weiter linguistischer Flur zu sein. Mein besonderer Dank gilt Angelika Linke. Sie hat mir nicht nur am Deutschen Seminar der Universität Zürich ein anregendes Arbeitsumfeld ermöglicht, mir in etlichen Diskussionen und Lehrveranstaltungen den Zugang zur Linguistik eröffnet, sondern mich auch während des ganzen Forschungsprozesses immer freundschaftlich beraten. In materieller Hinsicht maßgeblich an diesem Buch beteiligt sind der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Bern, der Zürcher Hochschul-Verein, Fonds zur Förderung des akademischen Nachwuchses (FAN), die American Philosophical Society, Philadelphia, und das Collegium Helveticum der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Zürich, die sein Entstehen durch Stipendien ermöglichte. Herzlichen Dank! Und zuletzt möchte ich mich bei denjenigen bedanken, die mich während meiner Arbeit, die nicht immer von absoluter Glückseligkeit geprägt war, intellektuell und emotional unterstützt haben. Ganz herzlich danke ich Tanja Peng und Hans Hartmann, die mein Manuskript gegengelesen und »hart, aber gerecht« kritisiert haben sowie Philip Mani, der mir geholfen hat, die juristischen Fachtermini besser zu verstehen und anzuwenden. Wenn es weniger Fehler und Ungenauigkeiten enthält, ist es ihnen zu verdanken. Ich danke außerdem meinem »Alter Eg(l)o(ff)« Rainer, der mich in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen überzeugt hat, auf dem richtigen Weg zu sein sowie Bill Gilonis, der meine englischen Texte redigierte und immer versucht hat zu verstehen, was mir nicht immer verständlich war. Zuletzt gilt mein Dank denjenigen, die mir während dieser Zeit immer wieder zur Seite gestanden sind: Ursula Bähler, Jane Colling, Monika Dommann, Petra Frey, Romy Günthart, Daniel Müller und Alexandra Rosetti.
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Einle itung
»To reflect on linguistics in relation to anthropology is to reflect on the highest form of the problem of the relation between language and culture« (Hymes 1983: 43). Dieser von Dell Hymes, einem der wichtigsten zeitgenössischen linguistischen Anthropologen, geäußerte programmatische Satz zielt auf die Reflexion des dialektischen Verhältnisses zwischen Sprache und Kultur, zwischen Sprache und gesellschaftlicher Wirklichkeit ab; auf ein Verhältnis also, das in den letzten Jahren in der deutschsprachigen, kulturalistisch gewendeten Soziolinguistik immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Der linguistischen Anthropologie, die sich heute als Teilgebiet der (Kultur-)Anthropologie versteht,1 ist es zu verdanken, dass soziologische Konzepte wie »Schicht«, »biologisches« und »soziales Geschlecht« (»sex« und »gender«), »Rasse« etc. als kulturabhängige, sozial konstruierte Variablen entlarvt worden sind. In der Auseinandersetzung mit Stammesgesellschaften – das heißt mit kleinen, in sich geschlossenen sozialen Gebilden in meist traditionellen, ›nicht-westlichen‹ Gesellschaften – analysierte die linguistische Anthropologie in besonderem Maße die Beziehung zwischen Sprache und Kultur. Sie erkannte, dass Sprache in der Konstitution der Gesellschaft und ihrer kulturellen Symbolisierungen eine entscheidende Rolle spielt. Die linguistische Anthropologie begründete folglich durch ihre Beschäftigung mit Gesprächspraktiken, Alltagsgewohnheiten und den spezifischen sprachlichen Routinen »fremder Kulturen« eine sprachwissenschaftliche Theorie, welche 1 Als Vertreterinnen und Vertreter sind neben Dell Hymes etwa Charles Goodwin, John J. Gumperz, Alessandro Duranti, Michael Silverstein, Elinor Ochs, Susan Gal, Bambi Schieffelin, Peter Auer, Aldo di Luzio, Helga Kothoff etc. zu nennen.
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die Sprache als kulturelle Praxis fasst, die unser Denken und unseren Zugang zur Welt bestimmt und damit auch die Art und Weise, wie wir die Welt konstruieren. Die linguistische Anthropologie, die Sprachspiele als Gegenstand ihrer Wissenschaft bestimmte, unterstellte mit ihrer Konstituierung implizit eine prinzipielle Verschiedenheit des zu untersuchenden »Anderen« vom »Eigenen«. Damit bewirkte die kulturalistische Theorie vor allem eines: die Reflexion der Problematik, in die wir hineingeraten, wenn wir es mit Kommunikationspartnerinnen und -partnern zu tun haben, die nicht auf denselben sozio-kulturellen Hintergrund zurückgreifen – eine Problematik, die in der heutigen globalisierten Welt zusehends an Wichtigkeit gewinnt und eine Neubelebung auch innerhalb des deutschen soziolinguistischen Wissenschaftskontextes erfahren hat (vgl. etwa Auer/ Di Luzio 1992). Es geht letztlich um die Frage nach einer geeigneten Interpretationstheorie kultureller Praktiken, die sich nicht mehr nur auf den semantischen Bedeutungsgehalt beschränkt, sondern sich auf die Kultur als Ganzes richtet. Die unter dem Stichwort der »Krise der Repräsentation« (Berg/Fuchs 1993) geführte Diskussion gewährt einen Einblick in die folgenreichen Probleme einer Beschreibung beziehungsweise Interpretation einer fremden Kultur. Eines ist klar: Eine Interpretation »should not violate the detail by crude classifications alien to what is going on« (Inglis 1993: 94). Fremdverstehen darf sich also nicht darauf beschränken, Fragmente des Anderen in den eigenen Horizont einzurücken. Doch wie ist diese Übersetzungsproblematik – zwei unterschiedlich »gesponnene Bedeutungsgewebe« (Geertz 1987: 9), zwei verschiedene Interpretationsrahmen stehen sich gegenüber – zu lösen? Diese Problematik ist aus heutiger Sicht nicht nur zentral für die Disziplin der linguistischen Anthropologie: Seit längerem beschäftigt sich die Betriebswirtschaftslehre mit Verstehens- und Verständigungsproblemen, die sich einem international tätigen Management in einer zunehmend vernetzten Welt stellen. Auch in den sich in den letzten zehn Jahren etablierten Kulturwissenschaft(en) versucht man zu zeigen, wie Kultur, kulturelle Normen und Werte in Alltagstexten Ausdruck finden, wie Interpretationen und Bedeutungen in einem definierten Rahmen ausgehandelt und verändert werden. Und schließlich ist in den Theorien der Philosophen Richard Rorty und Jürgen Habermas die Frage nach einer kulturübergreifenden möglichen Interpretation und Verständigung von erheblicher aktueller Relevanz. Die amerikanische linguistische Anthropologie war es, die sich in der Auseinandersetzung mit den American Indians, mit Kulturen, die sich von den ›westlichen‹ exorbitant unterschieden, neue, relativistische Konzepte für die Lösung dieser Problematik entwickelt hatte. Sie be2
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schäftigte sich mit Fragen, wie das Verhältnis zwischen Sprache und Kultur gefasst und wie die Interpretation der »anderen« vorgenommen werden soll. Sie entwarf Prämissen, die implizit oder auch explizit für die erfolgreiche Interpretation einer fremden Kultur Gültigkeit beanspruchten. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, nach den Hintergründen der Entstehung und Entwicklung der linguistischen Anthropologie in den Vereinigten Staaten von ca. 1880 bis 1924 zu fragen. In welchem historischen Kontext konnte sich eine kulturrelativistische Perspektive überhaupt ausdifferenzieren? Welche Forscher beschäftigen sich überhaupt mit den American Indian languages? Lässt sich tatsächlich, wie dies in zahlreichen Publikationen (Hymes 1976: 21; Koerner 1990: 113; Bunzl 1996: 17-78; Erickson et al. 1997) nachzulesen ist, eine kontinuierliche historische Ideenentwicklung von Humboldt über Steinthal zu den amerikanischen Sprachwissenschaftlern konstruieren? In erster Linie anhand von publizierten Texten, aber auch unter Zuhilfenahme von verfügbarem Archivmaterial soll der Diskursverlauf, der die Reifizierung eines epistemischen Korpus beziehungsweise einer disziplinären Matrix beinhaltet, diskutiert werden. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf die Konstituierung des Gegenstandes dieses transdisziplinären Forschungsgebietes: auf die Sprachen der »Naturvölker im eigenen Land« (Stagl 1981: 32). Die linguistische Anthropologie – dies eine Prämisse der Arbeit – ist das Produkt eines Forschungsprozesses, der nicht länger als ein linearer, zielgerichteter konzipiert wird. Die Wahl einer geeigneten Methode für die kritische Rekonstruktion der linguistischen Anthropologie erweist sich als schwierig, ist man doch strukturell mit den gleichen Problemen konfrontiert, die auf der Ebene der Analyse des Gegenstandsbereiches auftreten. Die eigene Arbeit ist selbst Teil einer spezifischen wissenschaftlichen Kultur (in diesem Sinne historisch und kontingent), die sich mit einem anderen, ›fremden Diskurs‹ zu beschäftigen hat. Eine erhöhte Reflexivität bezüglich dieser Probleme ist in den Theorien der Science and Technology Studies (STS), allen voran von Bruno Latour gewährleistet. Seine Überlegungen helfen ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, das die Problemkomplexe einer solchen Geschichtsschreibung sichtbar macht und helfen in besonderer Weise, ein geeignetes Modell für die vorliegende Arbeit zu entwerfen. Bruno Latour konzipiert ein von der Semiotik inspiriertes »zirkuläres System«, das in der Konstruktion von Wissenschaft wirksam ist. Die Wissenschaftsforscherin muss die von ihm beschriebenen »fünf« Kreisläufe darstellen, will sie anfangen zu begreifen, worum es in einer gegebenen wissenschaftlichen Disziplin geht. Die fünf Tätigkeitsbereiche 3
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oder Ausschnitte aus dem angelegten Netzwerk umfassen Instrumente, Kollegen, allfällige Verbündete, die in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende Öffentlichkeit und schließlich die sie miteinander verknüpfenden Bindeglieder, den wissenschaftlichen Inhalt. Alle fünf Bereiche sind in ihrer Relevanz gleichgestellt, und, was die Netzwerkmetapher auch vermuten lässt, jede wirkt auf sich selbst und auf die andern vier zurück. Die Rekonstruktion des skizzierten Forschungsprozesses versteht sich also als Versuch, dieses »zirkuläre System«, welches die linguistische Anthropologie ermöglichte, nachzuvollziehen, ohne eine dem Relativismus verpflichtete Perspektive einzunehmen. Es gilt also, die Entwicklung der an der Konstituierung der linguistischen Anthropologie beteiligten Forscher und der von ihnen neu begründeten Institutionen und Zeitschriften, der involvierten Theorien, deren Verflechtung mit europäischen und allen voran deutschen sprachwissenschaftlichen Modellen, der Technologien und der verschiedenen öffentlichen Diskurse, welche die Forschenden in ihre Theorien einzubeziehen verstanden, differenziert nachzuzeichnen. Folgende Fragen stehen dabei im Zentrum: Weshalb differenzierte sich innerhalb der Wissenschaft »Anthropologie« ein Bereich aus, der sich ausschließlich mit linguistischen Phänomenen zu beschäftigen begann? Welche Relationen werden zwischen Sprache, Rasse – um einen damals wichtigen Begriff zu verwenden –, Kultur und Denken geschaffen und mit welchen Konsequenzen für die damalige amerikanische Gesellschaft? Weshalb übernimmt die Sprache überhaupt eine so große Rolle in der Beschreibung und Interpretation der fremden indianischen Kulturen? Ändert sich diese im Laufe der Entwicklung? Welche Theorien finden Eingang in die Konstituierung der neuen Wissenschaft? Kann die linguistische Relativitätstheorie, die sich innerhalb der linguistischen Anthropologie ausdifferenzierte, tatsächlich, wie viele Sprachwissenschaftler glauben, auf Wilhelm von Humboldt und Heymann Steinthal zurückgeführt werden? Eine der grundlegenden Thesen der Arbeit ist es, dass letztlich der Forschungsgegenstand der linguistischen Anthropologie – die American Indian languages – dafür verantwortlich war, dass sich dieses wissenschaftliche Feld bis heute nicht als eigenständige Disziplin ausdifferenzieren konnte. Die wichtigste Erkenntnis, welche die linguistische Anthropologie hervorgebracht hatte – das linguistische Relativitätsprinzip –, erlangte zwar über die Disziplingrenzen hinaus einige Berühmtheit. Doch war das Interesse an der marginalisierten Bevölkerung der Native Americans letztlich zu klein, um die Basis für eine wissenschaftliche, gesellschaftlich legitimierte Disziplin zu etablieren. Es gibt bis heute in den Vereinigten Staaten keinen einzigen Lehrstuhl für linguistische 4
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Anthropologie, der sich konzentriert mit den American Indian languages beschäftigt (Hymes 1976: 17). Die Beziehungen zu den Sprecherinnen und Sprechern der American Indian languages veränderten sich im Laufe der Entwicklung derart, dass sich kaum noch Ressourcen für die Forschung auftrieben ließen. Eine weitere wichtige These der Untersuchung ist, dass die traditionelle Ideenverbindung zwischen Humboldt, Boas und Sapir (sowie Whorf) nicht länger aufrechterhalten werden kann. Humboldts Konzept der »inneren Form« wurde zwar im amerikanischen Wissenschaftskontext aufgenommen, doch ist, wie die Rekonstruktion der Geschichte zeigen wird, eine vorschnell aus einer ex-post-Perspektive gezeichnete Verkettung der sprachwissenschaftlichen Theorien von Humboldt – Boas – Sapir nicht haltbar.
A u f b a u d e r Ar b e i t Das Kapitel »Analytische Präliminarien« beinhaltet die wissenschaftstheoretischen Grundlagen für die vorliegende Geschichtsschreibung. Die »Analytischen Präliminarien« widmen sich einerseits methodischen und theoretischen Grundlagen für die historische Rekonstruktion; andererseits behandeln sie Probleme, die sich aus einer relativistischen wissenschaftstheoretischen Sichtweise ergeben. Von ihrem Vorreiter Thomas S. Kuhn hat die heutige Wissenschaftsforschung die Idee geerbt, dass wir es bei jeder Wissenschaft mit einem »historically rooted, socially and culturally contingent enterprise« (Lenoir 1988: 3) zu tun haben. Diese Interpretation steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem von den linguistischen Anthropologen ausgearbeiteten »Principle of Linguistic Relativity«. Wenn wir für unsere Geschichte der linguistischen Anthropologie eine relativistische Darstellung des wissenschaftlichen Prozesses Kuhnscher Prägung verwendeten, so argumentierten wir mit einer Theorie, die selbst Produkt der zu beschreibenden Theorieprozessierung, i. e. der linguistischen Relativität, ist. Wir erzählten eine Geschichte, in der wir die Theorie Kuhns von der Forschergemeinschaft der linguistischen Anthropologen und deren Denkstil trennten und sie als unabhängiges Konzept, losgelöst von ihrem eigenen situativen sozialen und kulturellen Kontext, behandelten. Wir willigten ein in eine artifizielle Aufrechterhaltung der Trennung von Theorie und Empirie, die, betrachten wir deren Ausdifferenzierung, nicht als solche intendiert ist. Deshalb ist eine Theorie von Nöten, die sich jenseits des Relativismus bewegt. Der Entscheid fiel nach der Auseinandersetzung mit dem in der Wissenschaftsforschung sehr verbreiteten Konzept von Thomas Gieryn, der 5
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meines Erachtens noch immer dem Kuhnschen Relativismus verhaftet bleibt, auf Bruno Latours wissenschaftstheoretisches Konzept. Latours zirkuläres System hat den Vorteil, dass es nicht von einer essentialistischen Wissenschaftsvorstellung ausgeht, sich jenseits eines Relativismus bewegt und die eigene Position mit derselben Terminologie reflektiert. Der erste Teil der vorliegenden Arbeit versteht sich denn auch als Lösungsvorschlag, der akutesten Schwierigkeit, die sich aus einer relativistischen Sichtweise ergibt, der Inkommensurabilität, zu ›entkommen‹. In den nachstehenden Kapiteln folgt die eigentliche Rekonstruktion der linguistischen Anthropologie. Die Anfänge der verschiedenen ›präwissenschaftlichen‹ Diskurse, in denen die American Indian languages eingebunden waren, finden sich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Arbeit befasst sich mit den Beziehungen zwischen der U.S.-Regierung und den Native Americans, den damaligen wissenschaftlichen Institutionen wie dem Bureau of American Ethnology (BAE), der American Association for the Advancement of Science (AAAS), lässt »gentleman scholars« wie John Wesley Powell und Daniel Garrison Brinton, die bis zur ökonomischen Krise 1893-1897 den wissenschaftlichen Diskurs entscheidend mitbestimmten, zu Wort kommen und verfolgt den Verlauf der für die Konstituierung der linguistischen Anthropologie wichtigsten Theorien, allen voran der Evolutionstheorien Darwinscher, Spencerscher und Morganscher Prägung. Die sprachwissenschaftlichen evolutionstheoretisch gewendeten Konzepte halfen den Anthropologen nicht nur Aussagen zur Relation zwischen Kultur und Sprache zu machen, sondern ermöglichten ihnen eine Hierarchisierung der Rassen und damit die Legitimierung der Regierungspolitik (vgl. »›Linguistische Anthropologie‹ – Erste Vernetzungen«). Im Kapitel »Franz Boas – ein Fremder entfremdet« wird dargelegt, wie es zu Verschiebungen innerhalb des zirkulären Systems der linguistischen Anthropologie kommt. Der deutsche Physiker Franz Boas, der einen erstaunlichen Pragmatismus in seiner wissenschaftlichen Handlungs- und Vorgehensweise an den Tag legte, versuchte sich innerhalb des amerikanischen anthropologischen Denkkollektivs Gehör zu schaffen. Bis zu Beginn der 1890er Jahre blieb Boas klar abhängig vom Goodwill der amerikanischen Forscher wie Powell, Horatio Hale oder Frederick Ward Putnam und erst Ende der 1890er Jahre sollte es ihm gelingen, seine der »Cosmographie« verpflichteten Denkansätze, die er für sämtliche anthropologischen Wissenschaftsbereiche – Archäologie, physikalische Anthropologie, Ethnologie und schließlich linguistische Anthropologie – anwendete, durchzusetzen. Eine weitere These dieser Arbeit ist es denn auch, dass die sozio-ökonomischen Hintergründe der frühen 1890er Jahre als Katalysator für den Durchbruch der Sichtweisen 6
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Boas’ wirksam waren. Boas begann sämtliche Konzepte seiner amerikanischen Kollegen in Frage zu stellen und die Rassentheorien einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Seine Position schien gefestigt genug, dass er diese vom Kollektiv akzeptierten wissenschaftlichen Erkenntnisse in Zweifel ziehen konnte, ohne die eigene Stellung zu gefährden. In der Zeit während der »Progressive Era« erfolgte die »Konstituierung der linguistischen Anthropologie als wissenschaftliche Teildisziplin«. An der Columbia University entstand eine Abteilung für Anthropologie, die die zukünftige amerikanische Kulturanthropologie entscheidend mitbeeinflusste. Boas verstand es, die institutionellen Veränderungen, die das University Movement und die Bestrebungen der American Anthropological Association, eine nationale Gesellschaft zu werden, mit sich brachten, für die eigenen Ziele zu nutzen. Er entwickelte eine Anthropologie, die der Linguistik einen neuen Stellenwert einräumte. In seinem berühmten »Handbook of American Indian languages« besiegelte er seine auf der induktiven Methode beruhenden linguistischen Sichtweisen: Linguistik wurde zur unverzichtbaren Notwendigkeit für die anthropologische Forschung erklärt. Im anthropologischen Denkkollektiv förderte Boas diejenigen Studierenden und anthropologisch Interessierten, die seine Vorstellung von Anthropologie weiterentwickelten. Boas begründete nicht eine eigentliche Schule. Doch folgten alle seine Studierenden seinem Misstrauen gegenüber vorgefassten theoretischen Determinationen. Der Boassche Kulturrelativismus – ein Resultat seines induktiven Wissenschaftsverständnisses – wurde zum Denkstil einer ganzen Generation von Anthropologen. Die Gründung des anthropologischen Departements der University of California, das neue »International Journal of American Linguistics«, Edward Sapirs Werk »Language«, die Einigung auf Transkriptionsregeln für die American Indian languages – dies waren Elemente des Systems, die zur Verfestigung der wissenschaftlichen Disziplin beitrugen. Und die Anthropologen fanden Anschluss auch in anderen Kollektiven. Das Denkkollektiv der amerikanischen Philologen, allen voran von Leonard Bloomfield, nahm vor allem Sapirs komparative Sprachstudien mit großem Interesse auf. Die Gründung der Linguistic Society of America 1924 führte schließlich zu einer ersten Autonomisierung der Sprachwissenschaft, zur »Konsolidierung der Linguistik jenseits der Anthropologie«. Das letzte Kapitel mit dem Titel »Schluss und Folgerungen« reflektiert die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeit und schließt mit einigen Bemerkungen zur Arbeit der Wissenschaftsforscher und -historikerinnen. 7
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Zum Forschungsstand Im deutschsprachigen Raum ist die Geschichte der linguistischen Anthropologie kaum als Forschungsgegenstand zur Kenntnis genommen worden. Eine historische Rekonstruktion der »linguistischen Anthropologie« im Rahmen einer wissenschaftstheoretischen Reflexion existiert bis jetzt noch nicht. Im angelsächsischen Raum liegen einige Arbeiten zur Geschichte der linguistischen Anthropologie vor: Zu nennen ist etwa John Does »Speak into the Mirror: A Story of Linguistic Anthropology« (1988). Sie gleicht allerdings eher einem postmodernen Experiment, eine »kleine« Erzählung über die linguistische Anthropologie zu schreiben, als einer kritischen Rekonstruktion der Theoriengeschichte. In den in den letzten Jahren erschienenen Einführungen in die linguistische Anthropologie von Alessandro Duranti (1997), William A. Foley (1997) und Zdenek Salzmann (1998) finden sich Bezüge zu den Begründern der linguistischen Anthropologie. Sie müssen allerdings eher als Kanonisierungen der für die eigene Disziplin relevanten Texte interpretiert werden denn als kritische Relektüren. Die linguistische Anthropologie war immer auch Teil des anthropologischen Wissenschaftsdiskurses. Zur Geschichte der Anthropologie gibt es einige überzeugende Darstellungen, zum Beispiel die Arbeit von Joan Vincent »Anthropology and Politics« (1990), welche die von den Anthropologen hergestellten Verbindungen zwischen Politik und ihrer Wissenschaft in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien herausarbeitet. Die Linguistik kommt in diesem Werk aber nur am Rande vor. Eine Sozialgeschichte der amerikanischen Anthropologie von 1776 bis zur neoliberalen Ära hat Thomas C. Patterson (2001) in seinem Werk »A Social History of Anthropology in the United States« verfasst. Er beschreibt die sich verändernden sozialen und polit-ökonomischen Bedingungen, in denen anthropologisches Wissen produziert und formiert worden ist. Curtis M. Hinsley (1981) richtet sein Augenmerk auf eine der wichtigsten Institutionen innerhalb der Konstituierung der Anthropologie: die Smithsonian Institution. In dieser Institutionengeschichte finden sich wesentliche Informationen zur Gründung des Bureau of American Ethnology und zur Entwicklung der linguistischen Konzepte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Bereich der Geschichte zur amerikanischen Linguistik sind zwei Werke zu nennen: Julie Tetel Andresens (1990) »Linguistics in America, 1769-1924« verfolgt die Entwicklung dreier linguistischer Forschungsbereiche, der »English studies«, der »linguistic science« und 8
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schließlich der linguistischen Anthropologie. Stephen R. Andersons Buch »Phonology in the Twentieth Century« (1985) beschäftigt sich mit der Geschichte der phonologischen Theorie im 20. Jahrhundert. Anderson geht es nicht nur um eine Rekonstruktion dieses sprachwissenschaftlichen Bereiches, er will auch das Verhältnis zwischen Regeln und Repräsentationen als Komponenten einer Sprachtheorie verstehen. Der Kontext der historischen Entwicklung des wissenschaftlichen Feldes findet bei Andresen wie auch bei Anderson Eingang in die Geschichte. Darüber hinaus gibt es verschiedene Biographien zu den Hauptprotagonisten der (linguistischen) Anthropologie. Marshall Hyatt veröffentlichte 1990 eine Biographie mit dem Titel »Franz Boas: Social Activist«, in der er Boas’ Kampf gegen rassistische Vorurteile allem Fremden gegenüber im zeitgenössischen Kontext, im intellektuellen und sozialen Milieu schildert. Des Weiteren sind die von Wallace E. Stegner (1954) und die von William Culp Darrah (1968) veröffentlichten Biographien über John Wesley Powell zu nennen. Sie widmen sich konzentriert den politischen Verhältnissen, in die Powell als Major der U.S. Regierung eingebunden war. Die für die vorliegende Arbeit grundlegendsten Publikationen sind diejenigen von George W. Stocking, Regna Darnell und Stephen O. Murray. Eine Rekonstruktion der Geschichte der wissenschaftlichen Disziplin »linguistische Anthropologie« ohne ihre Untersuchungen vorzunehmen, wäre kaum denkbar. Ihre Arbeiten haben entscheidend dazu beigetragen, dass die Geschichte der (linguistischen) Anthropologie nicht nur als Geschichte zur Bildung einer disziplinären Identitätskonstruktion taugt, sondern dass auch die Absonderlichkeiten und Zufälligkeiten, die in einem solchen Forschungsprozess stattfinden, nicht vergessen worden sind. Auf der Grundlage umfangreicher Archivrecherchen arbeiteten sie unterschiedliche Teile und Perspektiven der Entstehung der wissenschaftlichen Anthropologie heraus. George W. Stocking, der »doyen« (Kuper 1991: 125) der Geschichte der Anthropologie, widmet sich in zahlreichen Publikationen dem Werdegang Franz Boas’ und der Entstehung der nordamerikanischen Anthropologie – vgl. etwa »Race, Culture, and Evolution. Essays in the History of Anthropology« (1968); »A Franz Boas Reader: The Shaping of American Anthropology 1883-1911« (1974); »The Beginnings of Anthropology in America« (1976); »Anthropology as Kulturkampf: Science and Politics in the Career of Franz Boas« (1979); »›Volksgeist‹ as Method and Ethic – Essays on Boasian Ethnography and the German Anthropological Tradition« (1996). George Stocking versteht es in geradezu exemplarischer Weise, Franz Boas’ Werk und Laufbahn mit gesellschaftlichen Faktoren in Verbindung zu bringen und die wissen9
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schaftliche Ausdifferenzierung der Anthropologie im jeweiligen sozialen Kontext nachzuvollziehen. Auch Regna Darnell, eine Schülerin von Stocking, hat eingehend über die Geschichte der nord-amerikanischen (linguistischen) Anthropologie geforscht, wobei sie sich auf die Hauptprotagonisten der amerikanischen Anthropologie konzentrierte: In ihrer Magisterarbeit von 1966 rekonstruiert sie das Leben des im damaligen Wissenschaftskontext fast schon in Vergessenheit geratenen Daniel Garrison Brinton, der neben John Wesley Powell maßgeblich an der Konstituierung der linguistischen Anthropologie mitgewirkt hat (Darnell 1988). In ihrer Doktorarbeit, die sie 1998 unter dem Titel »And along came Boas: Continuity and Revolution in Americanist Anthropology« veröffentlichte, erweitert sie ihren Fokus und erarbeitet die Rolle von Franz Boas in der Professionalisierung der Anthropologie im 20. Jahrhundert. Des Weiteren schrieb sie neben einer Vielzahl von Aufsätzen zum Thema eine Biographie von »Edward Sapir: Linguist, Anthropologist, Humanist« (1990), in der sie sich mit dessen Führungsstil, dessen Einbindung in die unterschiedlichen Organisationen und dessen Einfluss auf die zeitgenössische Methoden- und Theoriendiskussion auseinander setzt. Darnells Arbeiten überzeugen durch ihre immense Quellenkenntnis. In etlichen Briefdokumenten lässt sie die Protagonisten zu Wort kommen und zeigt die Vernetzungen zwischen den wichtigsten Persönlichkeiten auf, die Theorien, mit denen sie arbeiten, und die Institutionen, in die sie eingebunden waren. Stephen O. Murray schließlich beschreibt in verschiedenen Aufsätzen, vor allem aber in seiner 1993 veröffentlichten Studie »Theory Groups and the Study of Language in North America: A Social History« mit einem »third-generation Merton approach«2 die Formation von wissenschaftlichen Gruppen und Institutionen der »anthropological – and not-so anthropological – linguistics in North America« (Murray 1993: xvii). Seine Arbeit widmet sich explizit der Entstehung eines institutionalisierten linguistischen Fachdiskurses, eines Diskurses, der von der allgemeinen Anthropologie nicht zu trennen ist. Alle drei Autoren verorten sich in einer Tradition Thomas S. Kuhns oder, um mit den Worten Darnells zu sprechen, »we all define ourselves in relation to scientific paradigmas which are far from static, holding in tension both continuity and revolution« (Darnell 1998: xvi). Und genau in diesem Punkt grenzt sich die vorliegende Arbeit von den bislang geleisteten Interpretationen zur Geschichte der Anthropolo2 Ich danke Michael Silverstein für diese Formulierung.
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EINLEITUNG
gie ab. Diese Rekonstruktion der Geschichte der linguistischen Anthropologie in den Vereinigten Staaten basiert auf dem Latourschen Wissenschaftsverständnis. Nicht länger wird davon ausgegangen, dass es sich beim Phänomen »Wissenschaft« um einen essentialistisch zu beschreibenden Tatbestand handelt. Wissenschaft ist ungemein komplex. Wissenschaft erklärt sich nicht selbst; der soziale Kontext kann ihre Entwicklung nur fördern oder hemmen, doch nie ihren Inhalt formen oder begründen. Ebenso reicht es nicht aus, die Vorstellung zu vertreten, dass Wissenschaft und deren Inhalte durch die sie umgebende Gesellschaft begründet werden. Bruno Latour weist einen dritten Weg, den die vorliegende Arbeit beschreiten will. Seine Betrachtungen helfen, Interpretationen zur Geschichte der linguistischen Anthropologie zu leisten, die innerhalb eines Kuhn verpflichteten Ansatzes nicht möglich sind.
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Analyt i sch e Prä limin ari en
»Most scientific work is conducted by extremely diverse groups of actors – researchers from different disciplines, amateurs and professionals, humans and animals, functionaries and visionaries. Simply put, scientific work is heterogeneous« (Star/Griesemer 1999: 505).
Wissenschaft ist vielfältig. Und komplex. Wissenschaftliche Felder wie die linguistische Anthropologie entwickeln sich unablässig, in einem fortwährenden nicht-intendierten Transformationsprozess; sie sind dabei in vielfältige soziale und kulturelle Kontexte eingebettet, die sich ebenfalls ständig verändern. Um diese Komplexität adäquat beschreiben zu können, ist ein analytischer Ansatz erforderlich, der dieser Vielschichtigkeit gerecht zu werden vermag, ein Konzept, das sich nicht auf rigide Kategorien, welche die Interpretation der Geschichte anleiten, reduzieren lässt. Das vorliegende Kapitel entwirft die Grundlagen, die versuchen, diesem Anspruch mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit Genüge zu leisten. Anhand der Frage, wie wir ein historisches Phänomen wie jenes der linguistischen Anthropologie überhaupt angemessen erfassen und beschreiben können, diskutieren wir die Gefahren, in die wir uns begeben, wenn wir vorgefertigte, heute gültige Kategorien für die Geschichtsschreibung verwenden. Allzu schnell erzählen wir die Geschichte aus einer heutigen Perspektive, anstatt uns der damaligen linguistischen Anthropologie in ihrer Komplexität anzunähern. Doch ist dies überhaupt möglich? Können wir uns als Wissenschaftler unserer eigenen Kategorien, über die wir, eingebunden in einen lokalen kontingenten historischen Kontext, verfügen, tatsächlich entledigen? Verwenden wir nicht immer bestimmte von unserer wissenschaftlichen Gemein13
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schaft vorgegebene Regeln zur Interpretation der historischen Daten, auch wenn wir die eigenen Kategorien zu reflektieren versuchen? Dieses als relativistisch zu bezeichnende Wissenschaftsverständnis, das in Thomas S. Kuhns Klassiker »The Structure of Scientific Revolutions« dezidiert beschrieben wird, birgt weitreichende Konsequenzen in sich. Nehmen wir die Vorstellung ernst, dass wir als Wissenschaftler immer in einen sozialen und kulturellen Kontext eingebunden sind, der uns in unserer wissenschaftlichen Sichtweise unterstützt und bestärkt und uns vorgibt, wie »gute Forschung« zu betreiben ist, ist es mehr als fragwürdig, ob wir diese ausgebildete Perspektive für die Erforschung eines historischen Phänomens nicht auch nutzen. Um die Frage zuzuspitzen: Besteht überhaupt die Möglichkeit, ein historisches Phänomen tatsächlich unabhängig von eigenen wissenschaftlichen Kategorien zu beschreiben, oder sind wir letztlich stets eingebunden in eine Form von ›Regelglauben‹, mit dem wir sämtliche Erscheinungen, die wir zu untersuchen beabsichtigen, interpretieren? Kurz: Operieren wir nicht immer mit einem wissenschaftlichen Konzept, das in seiner Komplexität mit dem wissenschaftlichen Diskurs, den es zu durchleuchten gilt, nicht zu vergleichen ist? Spätestens seit Thomas S. Kuhns Veröffentlichung seines Werks »The Structure of Scientific Revolutions« sind sich die Wissenschaftsphilosophen dieses Problems – des Problems der »Inkommensurabilität« (Favretti/Sandri/Scazzieri 1999) – gewahr; ein Problem, das sich nicht nur der Wissenschaftsforschung stellt, sondern auch in Denkkollektiven der linguistischen Anthropologie diskutiert wird (Lucy 1992a; Lucy 1992b). Meines Erachtens lohnt sich die Auseinandersetzung mit dieser Problematik der Unvergleichbarkeit zweier Paradigmen aus verschiedenen Gründen, die für die vorliegende Arbeit in besonderem Maße relevant sind: Sie hilft einerseits, die eigenen Konzepte, die wir bei der Erforschung der Geschichte der linguistischen Anthropologie anwenden, kritisch zu reflektieren; andererseits trägt sie dazu bei, die Beziehung der Wissenschaftsforschung zur linguistischen Anthropologie zu klären. Und schließlich: Die Diskussion der Inkommensurabilität eröffnet einen gangbaren Weg für zukünftige Arbeiten der linguistischen Anthropologie – und zwar jenseits einer rigiden Theoriendebatte. Das Vorgehen, um diese Auseinandersetzung zu führen, ist folgendes: Zunächst gilt es, die Frage zu klären, welche Probleme sich ergeben, wenn wir den Gegenstand dieser Untersuchung – die linguistische Anthropologie – definieren wollen. In einem zweiten Schritt sind die Vorteile einer Geschichtsschreibung aus einer ex-ante-Perspektive zu erörtern. Die folgenreichen Konsequenzen eines dem Relativismus verpflichteten Wissenschaftsverständnisses werden detailliert diskutiert, um 14
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im Anschluss mittels neueren Ansätzen von Thomas S. Gieryn und vor allem Bruno Latour einen geeigneten analytischen Rahmen für die Rekonstruktion der Geschichte der linguistischen Anthropologie zu entwerfen.
Linguistische Anthropologie? Linguistische Ant hropol ogi e! – Probleme bei der Bestimmung e i n e s Un t e r s u c h u n g s g e g e n s t a n d e s Beginnen wir unsere Diskussion mit der Frage, wie der Gegenstand »linguistische Anthropologie« – zu definieren ist. Normativ oder empirisch? Idealistisch oder vielmehr realistisch? Allzu schnell begeben wir uns aufs epistemologische Glatteis: Verwenden wir eine Definition, die wir vor der eigentlichen Rekonstruktion der linguistischen Anthropologie festgelegt haben, erzählen wir eine andere Geschichte, als wenn wir uns den Wissenschaftlern und Amateuren anschließen, welche die linguistische Anthropologie etablieren und spezialisieren. Orientieren wir uns an einer heutigen Vorstellung, werden wir andere Aspekte, andere Beziehungen und Fragestellungen als wichtig erachten, als wenn wir versuchen, den Begründern der linguistischen Anthropologie ›vorurteilslos‹ zu folgen. Es wäre etwa eine Möglichkeit, die Konzeption der linguistischen Anthropologie von Alessandro Duranti – einem der bedeutendsten Vertreter der heutigen linguistischen Anthropologie – zu übernehmen. Linguistische Anthropologie ist für ihn ein Teilgebiet der (Kultur-)Anthropologie. Sie befasst sich mit der natürlichen Sprache, »not only as a mode of thinking but, above all, as a cultural practice, that is, as a form of action that both presupposes and at the same time brings about ways of being in the world« (Duranti 1997: 1). Die Begriffsdeutung Durantis grenzt sich klar von einem ausschließlich formalen, deduktiven und idealtypischen Sprachverständnis, wie es die Sprachwissenschaftler in Anlehnung an Noam Chomsky pflegen, ab und erhebt einen umfassenden Erklärungsanspruch bezüglich der Frage, wie Sprache, Denken und Kultur in ihren wechselseitigen Beziehungen zu formen sind. Akzeptierten wir Durantis Konzeption, identifizierten wir uns mit einem heute aktuellen Denkstil,1 der nicht nur innerhalb der linguistischen 1 Ich übernehme diesen Begriff von Ludwik Fleck: »Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen, definieren. Ihn charakteri-
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Anthropologie große Anerkennung (vgl. Pickering 1992) genießt: Die spätestens seit dem »linguistic turn« (vgl. Rorty 1967) akzeptierte Einsicht, dass die »Welt« sprachlich verfasst ist, findet eine Erweiterung, indem Sprache mit dem Begriff der kulturellen Praktiken verbunden wird. Damit lässt sich zweierlei erreichen: Konzentriert man sich auf die konstitutiven und konstruktiven Aspekte der sprachlichen Handlungen, wird die Sprache zum zentralen Analyseinstrument. Zudem zieht Duranti mit der Nennung der »cultural practices« nicht nur den Hochwertbegriff »Kultur« in die Definition des Gegenstandes mit ein, sondern setzt auch, ganz in der Tradition Ludwig Wittgensteins, auf die Sprachspiele, auf die Praktiken. Es geht mir nicht nur darum, mit diesem Beispiel aufzuzeigen, wie der linguistische Anthropologe Duranti sich mit dieser Definition eine wichtige Stellung innerhalb der gegenwärtigen wissenschaftlichen Ideenlandschaft, innerhalb der sich etablierenden Kulturwissenschaft verschafft. Ich möchte vor allem auch darauf hinweisen, dass man, wenn wir Durantis Terminologie der linguistischen Anthropologie benützen, versucht ist, Merkmale, die wir heute als gültige anerkennen, bereits in der Gründungsphase zu suchen – und zu finden: Die Gefahr wäre groß, die Geschichte der linguistischen Anthropologie aus einer ex-post-Perspektive vorschnell als kontinuierliche, auf die Konzeption Durantis hin verlaufende und somit erfolgreiche zu erzählen.
Geschichtsschreibung »for the sake of the past« Das Problem ist wahrlich nicht neu. Bereits Herbert Butterfield hat in seiner Erzählung »The Whig Interpretation of History« von einer Geschichtsschreibung »for the sake of the present« (Butterfield 1937: 16) gewarnt: »[…] when we organize our general history by reference to the present we are producing what is really a gigantic optical illusion; […] a great number of the matters in which history is often made to speak with most certain voice, are not inferences made from the past but are inferences made from a particular series of abstractions from the past – abstractions which by the very principle sieren gemeinsame Merkmale der Probleme, die ein Denkkollektiv interessieren, der Urteile, die es als evident betrachtet; der Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet. Ihn begleitet eventuell ein technischer und literarischer Stil des Wissenssystems« (Fleck 1980 [1935]: 130).
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of their origin beg the very questions that the historian is pretending to answer« (Butterfield 1937: 29f.).
Es ist in den Augen des Historikers ein wichtiger Unterschied, ob wir die Gegenwart als Ausgangspunkt und als Referenzbasis für unsere Untersuchung bestimmen oder ob wir die Geschichte in einer eigentlichen ex-ante-Perspektive als ein prozesshaftes Produkt von Kontingenzen,2 von parallel stattfindenden, manchmal vertrauten, manchmal befremdenden Ereignissen und Gegebenheiten interpretieren. Eine Selektion der historischen Ereignisse, die in Übereinstimmung mit einem gegenwärtigen ideellen Prinzip vorgenommen wird, hat nur zur Folge, dass wir wichtigen Fragen ausweichen und den Ereignissen nur ein aus unserer Perspektive gültiges Muster aufdrängen. Die Historikerin muss sich deshalb, überträgt man Butterfields Konzept auf die vorliegende Arbeit, von den zeitgenössischen Konzepten einer linguistischen Anthropologie, in denen sie eingebunden ist, verabschieden und die für den damaligen Zeitraum und Kontext gültigen Vorstellungen, Ideen, Theorien sowie Methoden des wissenschaftlichen Feldes herauskristallisieren und beschreiben. Damit entgeht sie der Gefahr, durch eigene Kategorisierungen den ›realen‹ Gegenstand zu ›entfremden‹. Ob die Gefahr durch diesen Reflexionsakt auch wirklich gebändigt ist, bleibt offen. Denn ist es nicht letztlich eine Frage der Entscheidung (um nicht zu sagen des Glaubens), ob wir die Eingebundenheit in ein Paradigma (Kuhn 1970: 43-51 sowie 175-187), einen Diskurs (Foucault 1996: 10f.), ein Begriffsschema (Davidson 1984: 183-198), ein kognitives Regelsystem (Siegenthaler 1993: 10), um nur einige mögliche Terminologien zu verwenden, akzeptieren wollen oder nicht? Benutzen wir nicht auch in einem rein deskriptiven historischen Narrativ immer gegenwärtige wissenschaftliche Unterscheidungen, die uns gewisse Aspekte der zu erzählenden Geschichte einer linguistischen Anthropologie
2 Der Begriff der Kontingenz umschreibt in diesem Zusammenhang die Gegebenheit, dass in einer hochkomplexen Situation, in der sich eine bestimmte Wissenschaft befindet, Entscheidungen getroffen werden müssen, die auf unsicherem Wissen beruhen. Es ist also nicht von vornherein zu klären, ob sich eine zu treffende Entscheidung als richtig oder falsch erweisen wird. Obwohl selbstverständlich die Wissenschaftler strategisch bei ihrer Arbeit vorgehen, können sie zukünftige, erfolgversprechende Ergebnisse nicht abschätzen. Mehrere Entscheidungen sind in einem derartigen Szenario möglich und auf der Basis der vorhandenen Informationen haben alle ihre Berechtigung.
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nicht sehen lassen? Können wir tatsächlich annehmen, dass es eine nicht theoretisch präformierte Form geschichtlicher Beschreibung gibt?3
Inkommensurabilität – Kuhns essentialistische Beschreibung von Wissenschaft Falls wir es nicht tun, kommen wir nicht umhin, uns mit dem Problem der Inkommensurabilität4 zu beschäftigen. Die Inkommensurabilitätsthese, wie sie von Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend (Kuhn 1970; Feyerabend 1975: 223-285) in den 1960er und 1970er Jahren in Reaktion auf die damals vorherrschende empiristische, ahistorisch konzeptualisierte Wissenschaftsphilosophie definiert worden ist, attackiert gerade diese Idee, dass wir unsere Wirklichkeit jenseits eines theoretisch präformierten Denkstils wahrnehmen können. Kuhn und Feyerabend bezweifeln die Möglichkeit einer theorieunabhängigen neutralen Beobachtungs- und Beschreibungssprache. Das Beobachtungsvokabular ist in ihren Augen immer theorie- oder – um Kuhns Begriff zu verwenden – paradigmaabhängig.5 »Inkommensurabel« sind folglich wissenschaftliche 3 Adam Kuper widmet sich in seinem Aufsatz »Anthropologists and the History of Anthropology«, in dem er der Frage nachgeht, ob die Historiker oder die Anthropologinnen die besseren Bearbeiter der Disziplingeschichte der Anthropologie seien, demselben Problem: »The historian necessarily brings a knowledge of the present to the study of the past: a knowledge which is perhaps particularly salient in the history of science. Moreover, the historian’s interlocutor must also be allowed to shape history. There is a three-way traffic, between the historian, the evidences of the past and the interests and the knowledge of the reader« (1991: 126). Regna Darnell macht sich in ihrem Buch »Invisible Genealogies. A History of Americanist Anthropology« stark für die Unterscheidung der Kontexte der eigenen theoretischen Position von derjenigen der Vergangenheit (2001: 1). 4 Bildungssprachlich steht der Begriff »inkommensurabel« für nicht vergleichbar. Der Begriff wurde als erstes in der Mathematik verwendet und umschreibt Größen, deren Maßzahlverhältnis keine rationale Zahl ergibt. So verfügen die Seite und die Diagonale eines Quadrates über kein noch so kleines (gemeinsames) Maß; ihr Verhältnis beträgt 1 dividiert durch die Wurzel aus 2. 5 Will man das Konzept des »Paradigmas« in den Erläuterungen Kuhns zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen fassen, sieht man sich 22 differierenden Bedeutungen gegenüber, die eine Definition nicht wirklich erleichtern. Kuhn hat in seinem in der zweiten Auflage der »Structure of Scientic Revolutions« angefügten Postskriptum auf diese Kritik reagiert und den Paradigmabegriff nochmals genauer herausgearbeitet. Er formuliert zwei Bedeutungen: »One the one hand, it stands for the entire constellation of be-
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Theorien, die sich zwar auf denselben Gegenstand beziehen, sich hinsichtlich ihrer unterschiedlich verwendeten Begriffsnetze aber nicht miteinander vergleichen lassen.6 Gehen wir kurz auf Kuhns Überlegungen ein. Kuhn versucht, die Struktur einer wissenschaftlichen »Revolution« konkret am Beispiel des Umbruchs der Newtonschen zur Einsteinschen Physik zu beschreiben. Der ehemalige Physiker Kuhn unterscheidet in seiner Wissenschaftskonzeption zwischen »normal science« und »revolutionary science«. Während des von ihm als »normale Wissenschaft« bezeichneten Unternehmens sind die Forscher beschäftigt, vorhandene Rätsel nach einer vom Forscherkollektiv anerkannten Theorie und nach akzeptierten Regeln zu lösen, quasi Aufräumarbeiten zu erledigen. Je spezifizierter eine Theorie ist, so Kuhn, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich die beobachteten Daten nicht immer innerhalb der vorhandenen verbindlichen Theorie interpretieren lassen. So genannte Anomalien entstehen. Wenn eine Anomalie mehr zu sein scheint als lediglich ein weiteres Rätsel der normalen Wissenschaft, so hat der Übergang zur Krise und zur außerordentlichen Wissenschaft begonnen. Wissenschaftler reagieren auf die Anomalien oft mit einer erneuten sorgfältigeren Durchführung der Experimente, um die Datengewinnung nachzuprüfen, oder mit einer Kontrolle ihrer Messgeräte. Verschwinden diese Anomalien nicht oder vermehren sich diese sogar noch, evozieren sie, so glaubt Kuhn, die wachsende Aufmerksamkeit des Forscherkollektivs. Je mehr Leute diese Abweichungen zu untersuchen beginnen, umso mehr Regelwidrigkeiten entdecken sie. Eine ganze theoretische Perspektive gerät ins Wanken. Die Disziplin stürzt in eine Krise. Erst ein vollständig anderer, neue Konzepte involvierender Ansatz bietet einen Ausweg. Im Lichte dieser neuen Ideen wird das problematisierte Phänomen verständlich. Viele Forscher, vor allem die jüngeren, konvertieren schließlich zum neuen Paradigma. Falls sie damit überzeugende Fortschritte erzielen, verdrän-
liefs, values, techniques, and so on shared by the members of a given community. On the other, it denotes one sort of element in that constellation, the concrete puzzle-solutions which, employed as models or examples, can replace explicit rules as a basis for the solution of the remaining puzzles of normal science« (Kuhn 1970 [1962]: 175). 6 Feyerabends und Kuhns theoretische Ausführungen zur Inkommensurabilität unterscheiden sich nur marginal. Kuhn beschränkt sich im Gegensatz zu Feyerabend nicht nur auf die semantische Sphäre, sondern schließt nichtsprachliche Bereiche wie methodologische Differenzen im Beobachtungsmodus in die Untersuchung zweier divergierender Theorien mit ein. Ich möchte mich im Folgenden auf Kuhns Ansatz konzentrieren.
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gen sie die alten Konzepte – eine Revolution hat sich vollzogen; eine neue »normale Wissenschaft« etabliert sich. Und alles beginnt von vorne. Leistet man diesem Wissenschaftsverständnis Folge, bauen Theorien auf verschiedenen Paradigmen auf. Der beschriebene Gegenstandsbereich und die vom Paradigma abhängigen Begriffe haben folglich unterschiedliche Bedeutungen. Ein Vergleich in einer neutralen Sprache ist damit unmöglich; es gibt keinen unbeteiligten Algorithmus mehr für die Theoriewahl, kein systematisches Entscheidungsverfahren, das bei richtiger Anwendung bei jedem einzelnen in der Wissenschaftlergemeinde zur derselben Entscheidung führen müsste. Doch öffnet Kuhn damit dem Relativismus nicht Tür und Tor? Die Inkommensurabilitätsthese hat schwerwiegende, miteinander verbundene Konsequenzen: Denn die rivalisierenden Paradigmen verwenden zur Lösungen eines Problembereiches unterschiedliche methodologische Normen. Deshalb haben wir uns mit der Inkommensurabilität der Methodologien zu beschäftigen. Zweitens gibt es eine Inkommensurabilität der Begriffsschemata infolge der unterschiedlichen Begriffsnetze, die den ungleichen Paradigmen zugrunde liegen. Und drittens müssen wir uns mit der Inkommensurabilität der Ontologien befassen. Diese besagt, dass wir in der Interpretation der »realen Welt« durch das Paradigma geleitet werden und die Vertreter sich konkurrenzierender Paradigmen sich deshalb in verschiedenen Welten befinden. Die drei Formen der Inkommensurabilität korrespondieren aus wissenschaftsphilosophischer Sicht mit drei verschiedenen Arten des Relativismus.
Relativismus der Rationalität Kuhn hat in seinem bedeutenden Werk »The Structure of Scientific Revolutions« vorgeschlagen, die Rationalität der Wissenschaftler bei der Wahl der epistemischen Theorien relativ zum jeweiligen Paradigma, das für sie Gültigkeit habe, zu begreifen. Dies hat zur Folge, dass Kriterien oder Standards, die bei der Wahl eines neuen Paradigmas angewendet werden, nicht durch die evaluativen Prozeduren, die für die normale Wissenschaft gültig sind, determiniert sein können. Damit gibt es keine neutralen oder ›übergreifenden‹ Normen, keine objektive, rationale Basis für die Wahl eines Paradigmas. Die Kritik an diesem Rationalitätsverständnis blieb nicht aus. Karl Popper betrachtet Kuhn als Befürworter eines »myth of framework« (Popper 1994). Aus Poppers Sicht muss ein gemeinsamer Bezugsrahmen für die Übergangsphase zweier Paradigmen vorhanden sein, ansonsten 20
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versagt rationales Verhalten und die Kommunikation scheitert. Und Imre Lakatos folgert, dass die wissenschaftliche Revolution, wie Kuhn sie beschreibt, in letzter Konsequenz »irrational, a matter for mob psychology« (Lakatos/Musgrave 1970: 178) sei. Kuhn, der seit den frühen 1970er Jahren in verschiedenen Publikationen auf die Vorwürfe seiner Kollegen reagierte, räumt immerhin die Existenz von generell applizierbaren methodologischen Kriterien ein, die eine aktive, allerdings limitierte Rolle in der Wahl der wissenschaftlichen Theorie spielen. Doch ein mechanisches oder algorithmisches Wahlverfahren lehnt er ab. Auch ein übergreifendes Werteset – z. B. Genauigkeit, Konsistenz und Einfachheit – determiniere die Theorienauswahl nicht eindeutig: Die genannten Werte können in Konflikt geraten und Subjekte verschiedener Interpretationen sein und führen deshalb nicht zwingend zu einer nicht-ambigen Theoriewahl.
Begriffsrelativismus Bei einer wissenschaftlichen Revolution verändert sich gemäß Kuhn nicht nur die paradigmaabhängige Rationalitätskonzeption, sondern auch das Vokabular, auf das die Wissenschaftler in ihrer Realitätskonstruktion zurückgreifen: Eine Übersetzung zwischen Theorien ist, weil es, folgt man Kuhn, keine »gemeinsame Semantik« der Theorien gibt, nie vollständig möglich. Doch wenn wir tatsächlich davon ausgehen, dass bei einem Paradigmawechsel zwei unterschiedliche Begriffsschemata vorliegen, die nicht ineinander übersetzt werden können, ist es mehr als fraglich, weshalb es ausgerechnet Kuhn gelingen sollte, uns von diesen inkommensurablen Konzepten zu erzählen. Der amerikanische Sprachphilosoph Donald Davidson beschreibt diese Inkonsistenz überzeugend: »The dominant metaphor of conceptual relativism, that of differing points of view, seems to betray an underlying paradox. Different points of view make sense, but only if there is a common co-ordinate system on which to plot them; yet the existence of a common system belies the claim of dramatic incomparability« (Davidson 1984: 184). Kuhn, schreibt Davidson, ist »just brilliant at saying what things were like before the revolution using – what else? our post-revolutionary idiom« (Davidson 1984: 184).7 7 Hilary Putnam formuliert ein ähnliches Argument, wenn er darlegt, dass »to tell that Galileo had ›incommensurable‹ notions and then to go on to describe them at length is totally incoherent« (Putnam 1981: 144f.).
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Ontologischer Relativismus Kuhn formuliert die These der Theorieabhängigkeit der Beobachtung und verneint, dass empirische Faktoren die Theoriewahl determinieren. Dies lässt den Eindruck entstehen, dass in seinem Modell der Wissenschaft die ›externe Realität‹ offenbar wenig zur Einschränkung beziehungsweise zur Bestimmung der Theorie beiträgt. Damit ergeben sich zwei Formen von Idealismus. Bei der ersten Form handelt es sich um eine Doktrin, welche die Existenz einer unabhängigen Realität jenseits vom Denken und Erfahrung annimmt. Die zweite Form, die meines Erachtens eher der Position Kuhns gleichkommt, ist eine konstruktivistische. Diese setzt zwar eine unabhängige Realität voraus, die Möglichkeit, dass wir einen epistemischen Zugang zu ihr haben, wird aber negiert. Die externe Realität existiert zwar und beeinflusst auch unsere Sinneswahrnehmungen – aber dennoch konstituieren wir die Welt durch unsere eigenen konzeptuellen Leistungen. In dieser Lesart sind die verschiedenen phänomenalen Welten Ausdruck unserer in unterschiedlichen Paradigmen vorhandenen konzeptuellen Schemata. Das heißt, dass in der Transitionsphase zweier Paradigmen die eine phänomenale Welt durch eine andere ›ersetzt‹ wird. Die Auseinandersetzung mit der Inkommensurabilitätsthese sensibilisiert uns für die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn wir annehmen, dass wir uns in einem bestimmten Paradigma befinden, das uns nach Kuhn in der Interpretation historischer Prozesse notwendigerweise anleitet. Doch befinden wir uns nicht bereits auf dem gefürchteten erkenntnistheoretischen Glatteis? Wäre es nicht besser, dieses so schnell als möglich zu verlassen, damit wir uns nicht mit Fragen wie: Was heißt eigentlich ›real‹? Haben wir einen unmittelbaren Zugang zur Realität? etc. zu beschäftigen haben. Oder kommen wir letztlich nicht umhin, uns eben genau diesen Problemkomplexen zu widmen, um eine Rekonstruktion der linguistischen Anthropologie zu leisten? Tatsächlich erscheint es mir möglich, anhand dieser Probleme einen analytischen Rahmen für die vorliegende Rekonstruktion aufzuzeichnen, der uns erlaubt, die heterogene wissenschaftliche Tätigkeit und Konstruktion neuer wissenschaftlicher Tatsachen jenseits eines radikalen Relativismus zu beschreiben. Die Konzipierung eines geeigneten analytischen Rahmens ist jedoch nicht der einzige Grund, weshalb wir uns mit der Relativismus-Problematik zu beschäftigen haben. Kuhn kannte die 1956 von John B. Carroll herausgegebenen Abhandlungen Benjamin Lee Whorfs, eines vor allem 22
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in den 1930er und 1940er Jahren wirksamen Vertreters der amerikanischen linguistischen Anthropologie. Dieser formulierte in Anlehnung an seinen Lehrer Edward Sapir das linguistische Relativitätsprinzip. Kuhn stützte sich in seinen Argumentationen wesentlich auf Whorf ab und bezeichnete sich selbst während Jahren als »unregenerate Whorfian, though one who deplored the shortage of evidence for that position« (Kuhn 1999: 34). Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die vorliegende Arbeit? Wenn wir für unsere Geschichte der linguistischen Anthropologie eine relativistische Darstellung des wissenschaftlichen Prozesses verwenden, argumentierten wir mit einer Theorie, die selbst Produkt der zu beschreibenden Theorieprozessierung, i. e. der linguistischen Relativität, ist und auch als solche behandelt werden müsste. Andernfalls erzählten wir eine Geschichte, in der wir die Theorie Kuhns von der Forschergemeinschaft der linguistischen Anthropologen und deren Denkstil trennten und sie als unabhängiges Konzept, losgelöst von ihrem eigenen situativen sozialen und kulturellen Kontext, behandelten. Wir willigten ein in eine artifizielle Aufrechterhaltung der Teilung von Theorie und Empirie, die, betrachten wir deren Ausdifferenzierung, nicht als solche intendiert ist. Mit andern Worten: Wir setzten die Theorie Kuhns als unhinterfragbare Tatsache, die sich den eigenen Prämissen die Forschungsentwicklung betreffend entzöge.
Ahistorische Historie – inkontingentes Paradigma: ein Weg aus der Paradoxie? »We must think historically while we are thinking theoretically. This simple methodological principle seems laughable obvious; after all, history as diachrony has returned to ethnographic descriptions with a vengeance in recent years« (Darnell 2001: 1).
Halten wir zunächst fest: Wir sind in unserer Argumentation von Butterfields historischem Wissenschaftsverständnis ausgegangen, der uns auffordert, die Geschichte »for the sake of the past« zu studieren. Übernehmen wir die Vorstellung Thomas S. Kuhns einer paradigmengeleiteten Wissenschaft, stellt sich die Frage, ob wir die Vergangenheit als solche überhaupt jenseits der eigenen paradigmatischen Sichtweise rezipieren können. Sind wir nicht immer gefangen in unterschiedlichen kontingenten Paradigmen, die uns in der Konstitution der Realität leiten? Tatsächlich gibt es ein Paradigma, das sich dieser Kontingenz entzieht: jenes von Kuhn selbst. Denn Kuhn definiert den paradigmagelei23
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teten Forschungsprozess als »the structure of scientific revolutions« in sehr absoluter, um nicht zu sagen ahistorischer Weise. Die Wissenschaft wird in ihrer Funktion, Struktur und Prozessualität bestimmt. Nach einer als »normal science« determinierten Phase erfolgt eine »revolutionary science«, die dann wieder übergeht in eine normal geführte Wissenschaft – und alles beginnt von vorne. Kuhn definiert damit nicht nur, was Wissenschaft, normale oder revolutionäre, ist, er legt auch deren sich nach gleichem Muster wiederholende Entwicklung fest. Ein Widerspruch? Den ›historischen‹ Kuhn mit dem ›theoretischen‹ Kuhn zu lesen, wäre ja vorstellbar: Seine eigene Theorie ließe sich problemlos als von einem Paradigma abhängig untersuchen. Wir könnten etwa anführen, dass die von ihm initiierte Debatte bezüglich neuer Wissenschaftsgeschichtsschreibung im Paradigma einer beginnenden Kritik der Technologie- und Fortschrittsgläubigkeit zu verorten und als Kampf gegen die positivistische Auffassung der Naturwissenschaftler zu verstehen ist. Der neue Vorschlag Kuhns, wie Wissenschaft prozessural funktioniert, könnte – betrachtet man die Debatte in ihrem Kontext – als Reflexionsimpetus für die Naturwissenschaftler bezüglich ihrer eigenen Theoriekonzepte gelesen werden. Nur versäumt Kuhn diese Reflexion, und wir kommen nicht umhin, ihn einer inkonsequenten, zumindest lückenhaften Argumentation zu beschuldigen. Denn ist die Forschung von Paradigmen geleitet, müsste auch seine eigene dieser Definition unterzogen werden. Der Anspruch des »tu quoque«8, die Anwendung der Aussagen einer Theorie auf die Theorie selbst, die in Konzepten der Wissenschaftsforschung nicht fehlen darf, wird in seinen Ausführungen nicht eingelöst. Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen setzt er als ahistorisches historisches Faktum; Revolutionen ereignen sich in dieser vorgeschriebenen Art und Weise – unveränderlich in ihren Veränderungen. Kuhns Argument, dass Wissenschaft in der von ihm bestimmten Weise – nach einer als »normal science« bestimmten Phase folgt eine »revolutionary science«, die wieder übergeht in einer normal geführte Wissenschaft – zu funktionieren und zu sein hat, bringt uns in Teufels Küche. Er definiert Wissenschaft als einen bestimmten Regeln folgenden Prozess, von dem er sich selbst, als Wissenschaftler, ausschließt. Indes: Will man reflexive Geschichtsschreibung betreiben, sind die eigenen angewendeten Konzepte zu hinterfragen, um sich so über die Zwänge, in denen man als Forschende eingebunden ist, bewusst zu werden,
8 Ich danke Steve Woolgar für diese Formulierung.
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mit anderen Worten: Eine Wissenschaftsgeschichtsschreibung sollte diesem Reflexionsimpetus genügen (vgl. auch Kuper 1991). Gibt es eine Möglichkeit, diese Folgewidrigkeit aufzulösen? Ein denkbarer Ausweg wäre es, sich von essentialistischen Beschreibungen der wissenschaftlichen Entwicklung zu verabschieden.
Neue Metaphern: Thomas F. Gieryn und die Wissenschaft als kultureller Raum Gegen Bestimmungen, was Wissenschaft in ihrem Kern zu sein hat und immer sein wird, grenzt sich der im Kontext der Wissenschaftsforschung sehr erfolgreiche und viel zitierte Soziologe Thomas F. Gieryn in seinem im »Handbook of Science and Technology« publizierten Aufsatz »Boundaries of Science« (Gieryn 1995) und seinem 1999 erschienenen Buch »Cultural Boundaries of Science« ab. Gieryn bedient sich in seiner Beschreibung von Wissenschaft einer der Kartographie entnommenen Metaphorik. Wissenschaft ist demnach nichts weiter als: »[…] a space, one that acquires its authority precisely from and through episodic negotiations of its flexible and contextually contingent borders and territories. Science is a kind of spatial ›marker‹ for cognitive authority, empty until its insides get filled and its borders drawn amidst context-bound negotiations over who and what is ›scientific‹« (Gieryn 1995: 405). Gieryn interessiert sich nicht nur für die Etablierung dieses historischen beziehungsweise kulturellen Raumes, sondern auch für dessen fortlaufende Ausdifferenzierung; er interessiert sich dafür, wie die an diesem als »Wissenschaft« bezeichneten, kulturellen Raum in irgendeiner Weise beteiligten Menschen die erzielte epistemische Autorität der Wissenschaft mittels geeigneten Rhetoriken aufrecht erhalten und sie gegenüber anderen als nicht-wissenschaftlich deklarierten Forderungen und Praktiken abgrenzen. Die wichtigste Konsequenz dieser Metaphorik ist, dass Wissenschaft ihre vermeintlich universelle epistemische Autorität zu bestimmen, was Realität ist, verliert. Mit andern Worten: Sie ist nicht länger per se die Institution, welche die »Wirklichkeit«, oder um einen anderen für Gieryn entscheidenden Begriff einzuführen, die »Natur«, erklärt,9 sie defi-
9 Gieryn geht es bei der Verwendung des Begriffes »Natur« nicht um die Konstituierung eines Gegensatzes zu »Kultur«. Gieryn beschäftigt sich mit Wissenschaften, die sich vorwiegend mit Naturphänomenen auseinander setzen. Seine »historischen Objekte« sind also die »sciences« und nicht etwa die »social sciences« oder gar die »humanities«.
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niert. – Sie ist nicht länger die Gewährsfrau für die Interpretation der Wirklichkeit. Die Wissenschaft verfügt in seiner Darstellung nicht über eine wesenhafte und universelle Qualität; sie wird zum »hybriden Objekt«, zum sozialen Konstrukt, das in unterschiedlichen kulturellen Räumen verschiedene Ausgestaltungen erfährt. Der wissenschaftliche Raum ist also Gegenstand und gleichzeitig Resultat rhetorischer Konstruktionen, ein Produkt des, wie Gieryn es bezeichnet, »boundary-work«: Der wissenschaftliche Raum ist umgeben von kontingenten und veränderbaren Grenzen, die in Verhandlungen errichtet, verschoben und allenfalls sogar aufgelöst werden in der Verteidigung oder Leugnung ihrer epistemischen Autorität, die sie – betrachten wir die Wissenschaft von heute – in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Recht, Medien, Werbung etc. und alltäglichen Realitätsbestimmungen (noch immer) genießt. Wissenschaft unterscheidet sich in dieser metaphorischen Setzung nicht von anderen kulturellen Phänomenen wie Ökonomie oder Politik. Alle gesellschaftlichen Bereiche umschreiben einen begrenzten Raum, 10 der das Ergebnis des »boundary-work« ist. Fundamental für die Argumentation Gieryns ist es, dass diese Verhandlungen und Auseinandersetzungen nicht unabhängig von bereits geschaffenen Wirklichkeiten stattfinden: Die am Verhandlungsprozess Beteiligten stützen sich ab auf die »everyday pragmatic cultural maps […] that serve as relatively sedentary interpretative frameworks and guides to practical action by people located throughout society« (Gieryn 1995: 416). Der Soziologe führt mit diesen »cultural maps« eine wichtige heuristische Kategorie ein. Sie liefern die interpretative Basis, auf der die Verhandlungen über die Grenzziehungen geführt werden. Sie ermöglichen uns zu beurteilen, ob eine wissenschaftliche Auslegung – in Abgrenzung gegenüber all den unwissenschaftlichen Varietäten, die immer vorzufinden sind – als wahrhaft und vertrauenswürdig zu akzeptieren ist oder nicht. Wie sich also die Wissenschaft etabliert und entwickelt, ist abhängig von diesen »webs of significance«, den »cultural classifications«, »classifications for thinking« oder eben »cultural maps«, wie der Soziologe sie in Anlehnung an Clifford Geertz, Mary Douglas, Roger Chartier, Georges Canguilhem und Michael Serres auch benennt. Sie 10 Es wäre interessant zu fragen, inwieweit sich Gieryns Metaphorik mit der Systemtheorie Luhmanns vergleichen lässt. Handelt es sich um kompatibilisierbare Gedankengebäude? Luhmann spricht von der Autopoiesis einzelner gesellschaftlicher Systeme, die sich in Abhängigkeit ihrer eigenen Struktur selbstreferentiell entwickeln. Die Grenzen zu andern Systemen und ihre Etablierung sind aber letztlich Produkt des einzelnen Systems.
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bedingen die Bedeutungsgenerierung beziehungsweise die Wahrnehmung und Akzeptanz dessen, was wissenschaftliche und auch ökonomische oder politische Realität zu sein hat, sein kann, sein wird, ist. Die kartographische Metapher erweist sich als höchst effektiv. Die Landkarte dient als Mittel, die Wirklichkeit abstrakt zu fassen: »A map is a form of representation, not a category of things that can be put into this form« (Gieryn 1999: 7). Sie repräsentiert einen nur für einen bestimmten Zeitraum gültigen und für die daran Beteiligten ›realen‹ Ausschnitt. Wissenschaftsforscher haben sich nicht mit der Frage, ob Wissenschaft »fehlerlos« ist oder nicht, zu beschäftigen, sondern mit den Interessen und Zielen der kulturellen Kartographen: »The borders and territories of science will be drawn to pursue goals and interest of cultural cartographers, and to appeal to the goals and interests of audiences and stakeholders. […] The sociological question is not whether science is really pure or impure, but rather how its borders and territories are flexibly and discursively mapped out in pursuit of some observed or inferred ambition – and with what consequences, and for whom?« (Gieryn 1999: 23).
In Gieryns Perspektive ist der wissenschaftliche Raum nicht nur das kontingente, lokale Ergebnis von auf der Grundlage kultureller Klassifikationen durchgeführten Grenzziehungen. Er ist als »boundary-work« Produkt strategisch handelnder Akteure, die mit der Konzeption des wissenschaftlichen Raumes bestimmte Interessen verfolgen: »Boundarywork brings social interests and real science together in the mapping, on these cultural maps both get articulated, altered, appreciated, denied, deployed, reconstructed and translated in and through cartographic process« (Gieryn 1999: 23f.). Die kulturelle Kartographie bildet den Drehund Angelpunkt zwischen den bereits ausgehandelten, etablierten Realitäten und den neuen strategischen Repräsentationen (Gieryn 1999: 21). Und die Ergebnisse der Kartographie, die historischen lokalen Situationsdefinitionen, sind für die Beteiligten, das heißt für diejenigen, die in ihren Praktiken an diesen konstruierten Raum anschließen, sich auf ihn verlassen und ihn immer wieder von neuem skizzieren, »real«. Diese Begrenzung und Etablierung des wissenschaftlichen Raumes hat nicht nur die Legitimierung seiner epistemischen Autorität zur Folge. Sie führt zur Sedimentierung dessen, was Gieryn als »tacit space« (1999: 19) bezeichnet; sie wird Teil des kognitiven Schemas, das der einzelne braucht, um im Alltag seine Interpretationsleistungen erbringen zu können.
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Gieryns metaphorische Beschreibung von Wissenschaft als kulturellem Raum ermöglicht eine Veränderung und Öffnung der für eine Wissenschaftsforschung und -geschichte relevanten Fragestellungen. Wissenschaft wird, wie wir gesehen haben, als Resultat von kulturellen Praktiken, von Grenzziehungen selbst ein hybrides Objekt, ein Objekt, das Gegenstand zahlreicher Verhandlungen ist. Deren Grenzen werden versetzt, erweitert, durchbrochen und manchmal in Verteidigung, im Streben nach oder in Verleugnung ihrer erkenntnistheoretischen Geltung aufgelöst. – Und dieses dynamische Gebilde gilt es zu beschreiben. Die Landkarten als Produkt von »boundary-work« zu interpretieren, sie als Ergebnis von Akteuren zu sehen, die selbst versuchen, ihre Interessen, ihre Strategien zu verwirklichen, ist die Aufgabe der Wissenschaftsforschung. Was bedeutet eine bestimmte Wissenschaft für die Menschen in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort? ist die Frage, welche die Wissenschaftsforschung und -geschichte zu beantworten hat. Man muss sich, so fordert es Gieryn, auf eine detaillierte Untersuchung der lokalen und episodischen Konstruktionen der Wissenschaft einlassen, will man die Repräsentationen der Wissenschaft, die selbst in einer kontextuell kontingenten Art und Weise geformt sind, erfassen. Was bringt uns Gieryns Vorschlag zur Wissenschaftsgeschichtsschreibung für die eigene Arbeit? Immerhin hilft er uns in einem der noch offenen Probleme weiter. Sein Theorem eröffnet uns einen Ausweg aus der in Kuhns »Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen« angelegten Schwierigkeit des »tu quoque«. Gieryn positioniert sich jenseits einer essentialistischen Wissenschaftsbeschreibung: Die Wissenschaft hat im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Phänomenen keine sich auszeichnenden, universell gültigen Wesensmerkmale. Egal, ob wir historische Prozesse, die in der Politik, Religion, Ökonomie oder Wissenschaft ablaufen, erforschen, bei allen handelt es sich, schreibt Gieryn in Anlehnung an Geertz (1973) um »historically changing webs of significance« (Gieryn 1995: 416). Gieryns kartographische Metapher ist demnach mühelos mit dem, nennen wir ihn, »reflective turn«, das heißt dem von Steve Woolgar (1988) geforderten und von Malcolm Ashmore (1989) geradezu exzessiv vollführten Reflexionsimpetus des »to quoque« zu vereinbaren. Gieryn, der sich selbst als Mitglied einer der Science Studies11 verpflichteten Ge-
11 Der heute für die Wissenschaftsforschungen allgemein verwendete Begriff der Science Studies soll nicht implizieren, dass es sich um ein homogenes, mit nur einer singulären kohärenten Metaphysik ausgestattetes Feld handelt. Die Heterogenität der unterschiedlichen Ansätze zeigt sich nur schon in den
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meinschaft versteht, anerkennt und erfüllt diesen Anspruch auch gleich selbst: »Boundary-work becomes an inescapable practice, it would seem, for those who study boundary-work« (Gieryn 1999: 28). Gieryn ist konsequenter als Kuhn. Seine Metaphorik beansprucht keine Ausnahmeregelung bezüglich seiner eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit. Was er für das zu beschreibende wissenschaftliche System für gültig erachtet, ist auch für seine wissenschaftliche Arbeit verbindlich. Doch ein Problem besteht noch: Hilft uns Gieryns Wissenschaftsverständnis, eine Lösung für die Schwierigkeiten zu finden, die sich aus der Inkommensurabilität zweier Paradigmen ergeben? Wir wissen, Gieryn setzt die Wissenschaft als hybriden Raum, als ein Produkt etlicher Verhandlungen von Grenzziehungen, als Ergebnis einer kontingenten, diskursiven und pragmatischen Performanz, kurz: als Resultat kultureller Praktiken. Diese Grenzziehungen werden in Abhängigkeit beziehungsweise auf der Basis der kulturellen Klassifikationen, der »cultural maps« getätigt. Die »cultural maps« bilden den inerten Rahmen, der die an der Wissenschaft und anderen sozialen Räumen Beteiligten in ihren Handlungen und Interpretationen anleitet. Die kulturellen Klassifikationen sind signifikant für die Generierung von Bedeutung. Doch auch sie sind Veränderungen unterworfen; sie selbst sind nicht nur Voraussetzung dieser Grenzziehungen, sondern ebenso Ergebnis, Produkt dieser Verhandlungen. Sie fließen ein in die jeweiligen »mental maps of culture« (Gieryn 1999: 19), in das kognitive Schema einzelner, die dann wiederum handlungsanleitend für die Errichtung gesellschaftlicher Räume sind. Gieryns Gedankengebäude verfügt demnach über eine gewisse Zirkularität oder zumindest eigentümliche Interdependenz zwischen den ausdifferenzierten »cultural maps« und den sich etablierenden »cultural maps«. Gieryns dynamisches und dynamisiertes Modell von Wissenschaft verzichtet zwar auf essentialistische Wissenschaftsbeschreibungen. Dennoch wird man den Verdacht nicht los, dass er sich trotz seiner sorgfältigen Metaphernkonzeption in ähnliche Schwierigkeiten begibt wie Kuhn. Die kulturellen Landkarten fungieren bei Gieryn als relativ stabiles, Interpretationen regelndes Gerüst, das die Menschen in ihren Praktiken anleitet. Einen ähnlichen Sachverhalt finden wir bei »The Structure of Scientific Revolutions«. Paradigmen sind während einer Zeit der normalen Wissenschaft sehr stabil; sie weisen die Wissenschaftlerinnen und Aufsätzen der zwei von Sheila Jasanoff (1995) und Mario Biagioli (1999) herausgegebenen Handbücher »Science and Technology Studies« und »Science Studies Reader«.
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Wissenschaftler in ihren Tätigkeiten an. Handelt es sich also um ein und dasselbe Konzept? Sicher, Gieryn unterscheidet den wissenschaftlichen Raum nicht wie Kuhn von andern gesellschaftlich ausdifferenzierten Wirkungsfeldern; Gieryns »cultural maps« dienen nicht nur als Grundlage für die Konstitution des wissenschaftlichen Raumes, sondern auch für andere historische Räume wie Politik etc. Doch die Grundidee bleibt die gleiche. Aufgrund der in der jeweiligen Sozietät ausdifferenzierten »cultural maps«, aufgrund der in einer Wissenschaft gültigen Paradigmen generieren wir unsere Realität. Verfügen wir über andere »cultural maps«, verfügen wir über andere begrenzte Territorien, Bedeutungen, Lebenswelten, die nicht zu vergleichen sind. Das Problem der Inkommensurabilität wird in keiner Weise einer Lösung näher gebracht. Es scheint, dass wir grundsätzlichere Zweifel an der bisherigen Betrachtung, wie Wissenschaft funktioniert, zulassen müssen, um einen gangbaren Weg aus diesem Dilemma zu finden. Ziehen wir in dieser Frage den Anthropologen Bruno Latour zu Rate.
Bruno Latour und die Hoffnung der Pandora Noch immer fehlt ein geeigneter analytischer Rahmen für die zu erzählende Geschichte. Wenn wir davon ausgehen wollen, dass sich die Wissenschaftshistorikerin und die zu untersuchenden linguistischen Anthropologen in geschichtlich und kulturell verschiedenen Kontexten befinden, sind wir gezwungen, einen Ansatz zu ermitteln, der nicht nur die Figur des »tu quoque« erfüllt, sondern sich auch mit dem Problem der Inkommensurabilität auseinander setzt oder – weniger elegant – es umgeht. In der neueren Wissenschaftsforschung findet sich ein diskussionswürdiger Beitrag von Bruno Latour. Er befreit – um nicht zu sagen erlöst – uns von einer paradigmaabhängigen Betrachtungsweise oder von auf der Grundlage von »cultural maps« unternommenen Verhandlungen, wie die Wirklichkeit zu sein hat. In der 1987 veröffentlichten Arbeit »Science in Action« erhalten wir von Latour im Sinne eines programmatischen Pamphlets Anweisungen, wie wir in der Beschreibung historischer oder gegenwärtiger Wissenschaftsprozesse vorzugehen haben, nämlich: alles Wissen über das Wissen zu vergessen oder, wie er es nicht ohne Ironie in Anlehnung an Dantes Höllentor ausdrückt: »ABANDON KNOWLEDGE ABOUT KNOWLEDGE ALL YE WHO ENTER HERE« (Latour 1987: 7). Nichts anderes umschreibt er als die Notwendigkeit, sich bei der Annäherung an fremde Texte nicht von den eigenen gegenwärtigen Konzepten leiten zu lassen – ganz im Sinne Butterfields.
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Latour ist sich der Problematik der Inkommensurabilität bewusst, entscheidet sich aber in seiner Argumentation für eine Lösung, die den Konflikt nicht länger als akut erscheinen lässt. Er interessiert sich nicht für die bereits etablierten, als wahr akzeptierten Fakten, die wir allenfalls aus einer allwissenden ex-post-Perspektive beobachten und beschreiben können; er interessiert sich viel mehr dafür, wie diese Fakten – oder eher Artefakte –, ohne Wissen um das zukünftige Resultat, in Aushandlungsprozessen realisiert worden sind und werden; die »Science in the Making« ist zu studieren und nicht etwa die »Ready Made Science«. Um diese Beschreibung machen zu können und sich nicht gleichzeitig in die Abhängigkeit eines bestimmten Paradigmas zu begeben, verdeutlicht Latour in seiner zwölf Jahre später veröffentlichten Studie »Pandora’s Hope – Essays on the Reality of Science Studies« (1999) die Implikationen, wie sie in einem sozialen, einem Relativismus verpflichteten Konstruktivismus vorzufinden sind und die offen zu legen und zu ersetzen er anstrebt. Er richtet sich in seinem neuesten Werk gegen jene »Absurditäten«, die jemandem »who has the same name as mine« (Latour 1999: 299) unterstellt worden sind, »Absurditäten«, die er selbst seit 25 Jahren zu bekämpfen sich bemüht hat: »[…] that science is socially constructed; that all is discourse; that there is no reality out there; that everything goes; that science has no conceptual content; that the more ignorant one is the better; that everything is political anyway; that subjectivity should be mingled with objectivity; that the mightiest, manliest, and hairiest scientist always wins provided he has enough ›allies‹ in high places; and such nonsense« (Latour 1999: 299f.).
Latour kein sozialer Konstruktivist? Dies mag erstaunen, steht doch der Begriff »social construction« im Untertitel in einem seiner für die Science Studies zentralen Bücher, die er zusammen mit Steve Woolgar verfasst hat (Latour/Woolgar 1979). Am besten wir folgen Latour in der Errichtung seines Lehrgebäudes, um in einem zweiten Schritt seinen neuen Vorschlag für die Betreibung von Wissenschaftsforschung für die vorliegende Arbeit fruchtbar zu machen.
Das Gehirn im Tank und die Angst vor dem Mob Latour beginnt seine Argumentation in »Pandora’s Hope« mit einer tendenziösen Erzählung der Geistesgeschichte der letzten dreihundert Jahre. In einem sehr wirkungsvollen Rundumschlag gegen die neuzeitliche Philosophie greift er insbesondere zwei Denkfiguren der Philosophie an: den »mind in a vat« (Latour 1999: 4ff.) und die, wie wir wissen, auch 31
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von Imre Lakatos geteilte »fear of a mob rule« (Latour 1999: 10ff.; vgl. auch »Relativismus der Rationalität«). In der verhängnisvollen Verbannung des Gehirns in den Tank, das heißt der bestehenden Möglichkeit, dass das Ich kein körperliches, von Dingen und Menschen umgebendes Wesen ist, sondern lediglich das eines an meiner umfassenden Täuschung Vergnügen findenden Wissenschaftlers, sieht Latour das für die Science Studies12 größte Übel. Der Hypothese des »mind in a vat« zufolge stammen die Sinneserfahrungen des vermeintlich wissenden Subjekts nicht aus externen Reizungen seiner Sinnesorgane; das Subjekt verfügt nämlich über keine Sinnesorgane, sondern nur über ein Gehirn, in dessen Innern sich genau dasselbe abspielt wie zum Beispiel in meinem Gehirn, dessen Nervenbahnen aber nicht in Sinneszellen enden. Sie sind vielmehr an einem Simulationscomputer angeschlossen, der dem Gehirn das Dasein einer äußeren Welt, seines Körpers und seiner fünf Sinne nur vorgaukelt. Das Vexierbild, das in der anglo-amerikanischen Welt zu geistreichen Gedankenspielereien (Putnam 1981) Anlass gegeben hat, führt zur fatalen Dichotomisierung zwischen Subjekt und Objekt. Die folgenschwere Ent-Körperlichung und vielleicht auch Ent-Realisierung der Subjekte ist der Beginn einer Beziehung, die zu einer höchst problematischen wird: die Beziehung des Subjektes zu seiner Außenwelt. Die Welt beziehungsweise Realität ist nach dieser Spaltung dem Subjekt nicht länger zugänglich, das Gehirn von der Außenwelt abgeschnitten. Die Philosophie, so Latour, unternahm (und unternimmt) verzweifelte Versuche, um die verlorene Wirklichkeit wiederzufinden: Descartes hoffte auf Gott; die Empiristen verzichteten auf die absolute Gewissheit, die Welt zu erkennen und gaben sich mit einem unklaren Bild, das sich aus den zahlreichen von außen auf den Organismus einwirkenden Reizen zusammensetzte, zufrieden; die Phänomenologen nahmen immerhin, so Latour, einen Teil des Gehirnes aus dem Tank und verliehen ihm einen Körper, ohne jedoch den engen Fokus menschlicher Intentionalität zu verlassen; die Dekonstruktivisten fanden sich endlich ab mit dem Verlust der Welt und rezipierten sich als Gefangene der Sprache; und falls jemand es doch wagen sollte, sich an eine Verbindung der Sprache mit der Welt zu erinnern, werden sie dekonstruiert – »which means destroy[ed] in slow motion« (Latour 1999: 8).
12 Bruno Latour ist sich durchaus bewusst, dass es kein disziplinäres Feld gibt mit einem »homogeneous body of work with a single coherent metaphysics« (1999: viii; vgl. auch Fußnote 11).
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Kant immerhin überließ es dem Geist, anhand seiner vorgefertigten Kategorien ein stabiles Bild der Wirklichkeit zu entwerfen, und die Realität »came in simply to say that it was there, indeed, and not imaginary« (Latour 1999: 5). Kant, so interpretiert Latour, hat eine Form von Konstruktivismus entworfen, in welcher das Gehirn-im-Tank alles selbst, wenn auch nicht vollkommen frei von Zwängen, aufbaut: »What it learned from itself had to be universal and could be elicited only by some experiential contact with a reality out there, a reality reduced to its barest minimum, but there nonetheless« (Latour 1999: 6). Latours Philosophiegeschichte verweilt nicht beim transzendentalen Subjekt Kants. Die Gesellschaft tritt als neue Erklärungsgröße an die Stelle des Subjektes. Nicht länger bestimmt der aus Latours Sicht fiktive Geist die Realität. Jetzt sind es die Vorurteile, Kategorien und Paradigmen einer Gruppe zusammenlebender Menschen, welche die Realitätsvorstellungen eines jeden einzelnen festlegen. Einstellungen, Theorien, Traditionen, Standpunkte, sie sind neu »das beschlagene und milchige Fenster«, durch das die Mitglieder einer Gesellschaft die Realität erblicken – ein Bild, das notabene auch für Kuhns Paradigmabegriff und Gieryns »cultural maps«-Metapher gelten dürfte: »[T]his replacement of the despotic Ego with the sacred ›society‹ did not retrace the philosophers’ steps but even went further in distancing the individual’s vision, now a ›view of the world,‹ from the definitely lost outside world. Between the two, society interposed its filters; its paraphernalia of biases, theories, cultures, traditions, and standpoints became an opaque window. […] People were now locked not only in the prison of their own categories but into that of their social groups as well. […] there were many prisons, incommensurable, unconnected. Not only was the mind disconnected from the world, but each collective mind, each culture was disconnected from the others. More and more progress in a philosophy dreamed up, it seems, by prison wardens« (Latour 1999: 7).
Will man Latours in rasantem Tempo erzählten Philosophiegeschichte Glauben schenken, wird spätestens an diesem Punkt der Argumentation die zweite von ihm attackierte Denkfigur wichtig: die Angst vor der Herrschaft des Mobs. Ist es die Gruppe, die bestimmt, was denn nun Realität zu sein hat, wie diese zu lesen ist, dann haben wir nicht länger die Möglichkeit, uns auf die eigene Vernunft zu verlassen (vgl. »Relativismus der Rationalität«). Vernünftig ist, was die Gruppe als vernünftig erachtet. Der ›Pöbel‹ übernimmt die Herrschaft.
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Eine andere Geschichte Latour dienen diese beiden Denkfiguren zum Entwurf eines »another tale« (Latour 1999: 246) für die Science Studies – denn gegen eine Erzählung hilft nur eine andere Erzählung. Er interessiert sich nicht länger für den Mob »dort unten«, die objektive Welt »dort draußen«, den Geist »dort innen«. Sein von der Semiotik inspiriertes Konzept, mit dem er sich einen Ausweg aus der »tyranny of the dichotomy between subjects and objects« (Latour 1999: 200) verspricht, lässt die problematischen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, zwischen sozialer Gruppe und Welt hinter sich. Latour setzt neu eine Differenz zwischen humans und nonhumans. Die Frage, ob es sich hier nur um ein rhetorisches Stilmittel handelt und die Dichotomie Subjekt/Objekt nur eine andere Ausgestaltung erhält und in keiner Weise aufgehoben wird, ist berechtigt. Doch Latour ist es mit der Befreiung aus der Tyrannei ernst. Die nichtmenschlichen Entitäten wie zum Beispiel Instrumente, Apparaturen, wissenschaftliche Ent-deckungen wie Milchsäurefermente etc. werden aus der hierarchischen Beziehung mit den Menschen befreit; sie werden nicht länger als von den »menschlichen Wesen« konstruierte begriffen. Sie erhalten eine eigene Geschichte, eigene Verantwortlichkeiten, eigene Handlungsspielräume, eine eigene Realität. Menschliche und nichtmenschliche Entitäten verfügen erstmalig über dieselben Funktionen. Die Beziehung ist symmetrisch.13 Menschen und nicht-menschliche Wesen verknüpfen sich gleichermaßen, verflechten sich und erhalten in den entstehenden Netzwerken – in gegenseitiger Abhängigkeit – Identität. Latours Argument darf nicht verstanden werden als Form eines platten Realismus, der die Dinge, die nicht-menschlichen Entitäten als reale zu setzen versucht. Es geht ihm hauptsächlich darum, dass nicht nur die Menschen es allein sein können, die eine Wirklichkeit sozial konstruieren; vielmehr sind die Dinge, die nicht-menschlichen Wesen ebenso Teil dieser Konstruktion; sie sind zusammen mit den Menschen in ein Netzwerk eingebunden, das als Ausdruck einer »relativen Existenz« gelesen werden kann. Latour verabschiedet sich damit von einer a priori-Setzung der Gesellschaft als Ausgangspunkt aller Erklärungen wissenschaftlicher Inhalte. Die Implikation des sozialen Konstruktivismus – die soziale Konstruktion wissenschaftlicher Tatsachen – verwirft er. Wissenschaft ist 13 »In the symmetry between humans and nonhumans, I keep constant the series of competences, of properties, that agents are able to swap by overlapping with one another« (Latour 1999: 182).
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nicht länger Resultat nur sozialer Prozesse, nicht länger nur diskursives Produkt der Menschen, sondern das Produkt pragmatischer und relationaler Beziehungen zwischen humans und nonhumans. Latour kämpft nicht nur gegen den Imperialismus sozialer Erklärungen der Wissenschaft, sondern distanziert sich von zwei Ideen, die in der Wissenschaftsforschung gebräuchlich sind. Erstens: von der externalistischen Geschichtsschreibung, das heißt von der Vorstellung, dass Wissenschaft und deren Inhalte durch die sie umgebende Gesellschaft begründet werden, und zweitens: von der internalistischen Geschichtsschreibung, i. e. dem irrigen Glauben, dass Wissenschaft sich selbst erklärt, dass der soziale Kontext ihre Entwicklung nur fördern oder hemmen, doch nie ihren Inhalt formen oder begründen kann (Latour 1999: 91f.). Latour will den lokalen, profanen und materiellen Einrichtungen, in denen Wissenschaft praktiziert wird, Beachtung schenken. Durch sie verspricht er sich einen unmittelbaren Zugang zur Realität: »[To] talk about scientific practice […] offer[s] a more realistic account of sciencein-the-making grounding it firmly in laboratory sites, experiments, and groups of colleagues […]« (Latour 1999: 15). Für die Erforschung der wissenschaftlichen Praxis, für eine Beschreibung wissenschaftlicher Prozesse jenseits der Subjekt-Objekt-Dichotomie, ist eine Neukonzeption des Vokabulars erforderlich. Latour benötigt eine Vervielfältigung der ›Zwischenbegriffe‹, mit denen er die aus seiner Sicht für die Wissenschaften so typischen Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Aktanten und deren Transformationen in den Blick nehmen kann. Diese Transformationsprozesse, die zu einer eigentlichen Verdichtung beziehungsweise Lockerung der Verflechtungen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Wesen wie Apparaten, Instrumenten etc. führen können, werden mit Begriffen wie »translation«, »articulation«, »proposition«, »association«, »substitution« neu umschrieben. Führen wir im Folgenden die einzelnen, sich gegenseitig bedingenden Konzepte kurz vor: Die »Übersetzung« (»translation«) ist für Latours Netzwerk-Wissenschaftskonzeption der Schlüsselbegriff. Zusätzlich zur sprachlichen Bedeutung (Versionen einer Geschichte in einer Sprache in eine andere übersetzen) beinhaltet der Begriff auch eine geographische: Man kann von einem Ort zu einem anderen gelangen – über-setzen. Der Begriff der Übersetzung ist vor allem im Zusammenhang mit Interessenbildung von Relevanz. Stellen wir uns einen Wissenschaftler vor, der Finanzierungsmittel für seine Forschung benötigt. Er hat den Geldgebern die eigenen Forschungsinteressen so zu unterbreiten, dass diese sein Interesse als ihr eigenes erkennen. Verwenden wir Latours Vokabular, heißt dies, dass 35
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sich verschiedene Netzwerk-Elemente dem Aktor, der bestimmte Interessen lanciert, anpassen und die von ihm zugewiesenen Rollen übernehmen. Oder anders formuliert: Zwei einander fremde Interessen verschmelzen zu einem einzigen, neuen. Ist die Übersetzungsoperation erfolgreich, werden persönliche Interessen zu denen der andern gemacht, die dann bereit sind, eigennützig den ihnen unterbreiteten Vorschlag zu unterstützen und mitzutragen. Als Nebenfolge bewirken die Übersetzungsprozesse eine Einbindung heterogener Akteure in ein Netzwerk. Wissenschaft verstehen heißt denn auch, dieses komplexe Geflecht zu begreifen und nachzuvollziehen. »Proposition« und »articulation« sind zwei weitere Begriffe, mit denen Latour die Verflechtungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten charakterisiert: Wie der Begriff der Übersetzung dienen auch sie dazu, die Lücke, die in der Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen Außenwelt und Geist vorherrscht, zu schließen. Sie beide sind eng miteinander verbunden, ergänzen und bestimmen einander. Latours Konzept der Proposition darf nicht verwechselt werden mit dem in der Sprachwissenschaft verwendeten Fachausdruck, der den den Wahrheitswert bestimmenden Kern einer Satzbedeutung umschreibt. Latour bedient sich Alfred North Whiteheads Begriff von Proposition.14 Propositionen sind in erster Linie Aktanten. Es handelt sich um »Vorschläge«, »Gelegenheiten«, die sich verschiedenen Entitäten bieten, miteinander in Kontakt zu treten. Latour: »They are not positions, things, substances, or essences pertaining to a nature made up of mute objects facing a talkative human mind, but occasions given to different entities to enter into contact. These occasions for interaction allow the entities to modify their definitions over the course of an event […]« (Latour 1999: 141). Propositionen, Aktanten stellen Beziehungen zueinander her, nicht über einen Abgrund hinweg, wie Latour nicht aufhört zu betonen, sondern mittels Artikulationen. Auch hier fasst er den Begriff anders, als wir ihn von anderen Bezugssystemen kennen. Artikulationen sind nicht das Privileg eines von stummen Dingen umgebenen Menschen. Alle Propositionen, ob menschlich oder nicht, besitzen die Eigenschaft der Artikulation, an der verschiedene Arten von Entitäten Teil haben können.
14 »A proposition is an new kind of entity. It is a hybrid between pure potentialities and actualities« (Whitehead 1929: 262).
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Und Artikulationen zwischen Propositionen reichen denn auch tiefer als Sprache: »We speak because the propositions of the world are themselves articulated, not the other way around. More exactly, we are allowed to speak interestingly by what we allow to speak interestingly« (Latour 1999: 144). Die Frage lautet also nicht, wie man in einer Subjekt-Objekt-Welt annehmen müsste, ob sich die Aussagen auf einen Sachverhalt beziehen, sondern, viel abstrakter gefasst, ob eine Proposition so artikuliert ist, dass ein anderer Aktant daran anschließen kann – oder eben nicht. Als letzte Begriffe gilt es, die »association« und die »substitution« einzuführen. Latour orientiert sich an einem der Sprachwissenschaft entnommenen Konzept des Syntagmas und des Paradigmas (de Saussure 1962 [1931]: 147ff.). In der Semiotik versteht man unter einem Syntagma eine Beziehung zwischen Zeichen beziehungsweise sprachlichen Elementen, die miteinander zu komplexen Einheiten verkettet werden und dadurch einen Wert erhalten. Der bekannteste Typus eines Syntagmas ist der Satz, in dem die einzelnen Wörter in einer bestimmten Regelfolge zueinander in Beziehung gesetzt stehen. Es handelt sich also um eine durch Segmentierung gewonnene, strukturierte Folge von sprachlichen Ausdrücken, eine Zusammenstellung von Wörtern respektive Wortgruppen. Das Paradigma ergänzt die syntagmatische Kette insofern, als auch hier Beziehungen zwischen Ausdrücken umschrieben werden, die in dieser Relation zueinander den Wert eines Zeichens, eines Ausdrucks charakterisieren. Das Paradigma umreißt die Menge der Ausdrücke, die auf »vertikaler Ebene« austauschbar sind, oder anders formuliert, die Menge der Wörter, die einander an einer bestimmten Stelle des Satzes ersetzen können. Auf die Netzwerkmetapher von Latour übersetzt bedeutet dies, dass wir nicht nur fragen können, welcher Aktant mit welchen anderen Aktanten verknüpft werden (syntagmatische Beziehung), sondern auch, welcher Aktant durch einen anderen in einer gegebenen Verknüpfung ersetzt werden kann (paradigmatische Beziehung). Will man nun eine Entität – wie zum Beispiel eine wissenschaftliche Theorie oder eine technologische Innovation – beschreiben, offeriert uns Latour mit seinem Vokabular eine Alternative für die Wissenschaftsforschung: »To define an entity, one will not look for essence, or for correspondence with a state of affairs, but for the list of all the syntagms or associations into which one element enters. This nonessentialist definition will allow for a considerable range of variations, just as a word is defined by the list of its usages […]« (Latour 1999: 161). Eine Entität kann also im Denksystem Latours nur an Realität gewinnen, wenn sie mit vielen andern assoziiert ist, mit andern in Verbin37
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dung steht. Was Latour also unter Existenz und Realität begreift, besteht aus der Dichte von Assoziationen und der Stabilität der Verknüpfungen über verschiedene Substitutionen und Perspektivwechsel hinweg. Wir müssen demnach unser Verständnis vom Begriff »Entität« ändern. Es handelt sich nicht um eine feste ahistorische Größe, die es in der wissenschaftlichen Praxis zu entdecken gilt. Wenn sich mindestens einer der Akteure oder Aktanten, aus denen sie besteht, verändert, modifiziert sich auch die Entität selbst. Latour weigert sich deshalb, die Geschichte zu begreifen als die Aktivierung einer bereits vorhandenen, noch nicht sichtbaren Entität: Nichts Neues, so folgert er richtig, würde geschehen; alles wäre bereits zugegen und müsste nur ent-deckt werden. Aufgabe der Wissenschaftsforschung sei es deshalb, dem wichtigsten Aktanten einer Geschichte zu folgen, um zu sehen, wie viele ontologische Stadien diese Entität zu durchlaufen habe, bevor sie zu etwas wie einer anerkannten Substanz werde. »Substanz« bezeichnet in diesem Zusammenhang konsequenterweise nicht, was »darunter liegt«, unzulänglich für Geschichte, sondern ist vielmehr ein Begriff, der die Stabilität der Netzwerke zwischen einer Vielzahl von Akteuren und Aktanten bezeichnet – nichts weiter. Ihre Stabilität muss keineswegs permanent sein. Die Entitäten existieren ein wenig, besitzen ein wenig Realität, nehmen einen umschriebenen Raum und eine umschriebene Zeit ein, haben Vorgänger und Nachfahren. Es sind die typischen Formen für das, was Latour ad hoc als »spatiotemporal envelope for propositions« bezeichnet (Latour 1999: 153ff.). Damit gelingt es Latour, den Graben zwischen den Realisten und Konstruktivisten zuzuschütten. Seine Entitäten sind relative Existenzen, eingebunden in einer »raum-zeitlichen Hülle«. Der Streit zwischen den Realisten und Konstruktivisten wird obsolet: »That there was once a time when a war could be waged between ›relativists‹ […] and ›realists‹ […] will appear to our descendants as strange as the idea of a fight over sacred relics« (Latour 1999: 296). Das begriffliche Instrumentarium Latours gibt uns einen ersten Einblick in sein Verständnis von Wissenschaftsforschung. Er distanziert sich deutlich von vorschnell gefassten Differenzen, von unüberlegten Setzungen, die, überträgt man sie in seine Argumentationsterminologie, als Resultat artikulierter Propositionen zu lesen wären. Latour schafft ein dynamisiertes Netzwerk, in welchem Aktanten eingebunden, verflochten sind, sich ändern, verschieben, durch Delegierte, die ihre Funktion übernehmen können, ersetzt werden. Die Stabilisierung einer einzelnen Entität kann zwar erreicht werden, aber nur, wenn sie von ihrer sie letztlich auch unterhaltenden und unterstützenden Umgebung wieder und wieder bestätigt wird. 38
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Nun, was gewinnen wir mit Latours Begriffsterminologie? Seine Vorstellung von Wissenschaftsforschung basiert auf folgenden Prinzipien: An die Stelle der Subjekt-Objekt-Dichotomie treten Akteure und Aktanten, die nicht länger als vorgefasste Entitäten begriffen werden, sondern in komplexen und kontroversen Transformationsprozessen auftauchen, sich ausbreiten, sich wandeln und allenfalls auch wieder verschwinden. Die Entitäten verändern sich; sie durchlaufen verschiedene ontologische Stadien, bis sie allenfalls zu einer anerkannten Substanz werden. Aktanten sind folglich historisch und nonhumans beginnen wie humans »to have a history, too, and [are] allowed the multiplicity of interpretations, the flexibility that ha[s] been reserved, until then, for humans« (Latour 1999: 16).
Das zirkuläre System der wissenschaftlichen Fakten Für die Praxis der Wissenschaftsforschung und -geschichte eröffnet Latours Vokabular eine neue Perspektive. Anstelle der externalistischen oder internalistischen Geschichtsschreibung schlägt Latour als Alternative »the circulatory system of scientific facts« (Latour 1999: 97) vor. Fünf »loops« müssen von der Wissenschaftsforschung beschrieben werden, will sie anfangen zu begreifen, worum es in einer gegebenen wissenschaftlichen Disziplin geht. Die fünf Tätigkeitsbereiche oder Ausschnitte aus dem angelegten Netzwerk umfassen die Instrumente, die Kollegen, allfällige Verbündete, die in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende Öffentlichkeit und schließlich die sie miteinander verknüpfenden Bindeglieder oder Knotenpunkte (»links and knots« (Latour 1999: 106ff.)) – alles Aktanten, für die die beschriebenen Prozesse wie Proposition, Artikulation, Assoziation, Substitution gelten. Zu bemerken ist, dass alle fünf Tätigkeiten in ihrer Relevanz gleichgestellt sind, und, was die Netzwerkmetapher auch vermuten lässt, jede auf sich selbst und auf die andern vier zurückwirkt. Betrachten wir dieses Arbeitsmodell im Folgenden genauer. Der erste Kreislauf, den Latour als die »Mobilisierung der Welt« bezeichnet, beschreibt die Mittel, durch welche nicht-menschliche Wesen fortschreitend in den Diskurs eingebunden werden. Der Verweis auf die anthropologischen Museen mit den gesammelten, katalogisierten, nummerierten Gegenständen, die als Artefakte die Theorien über andere Kulturen stützen sollen, illustriert Latours Gedanken der Mobilisierung unmissverständlich. Mit anderen Worten: Die Wissenschaftlerin hat, so Latour, dafür zu sorgen, dass sie die Entitäten, die sie für die eigene wissenschaftliche Praxis braucht, um sich versammeln kann. Sie unternimmt zwar Anstrengungen, um an diese zu gelangen, aber nur, um die39
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se in einem zweiten Schritt zu mobilisieren, das heißt, sie dorthin zu führen, wo die wissenschaftlichen Kontroversen stattfinden. Sie braucht sie bei sich, um sie gegebenenfalls als Argument, als Beweis den andern vorzuführen. Die Wissenschaftler schaffen zudem eigene Stätten, an denen sie die mobilisierten Entitäten der Welt ›einberufen‹ können. Je nach Disziplinen beinhaltet der Ausdruck der Mobilisation die Instrumente, die großtechnischen Anlagen, die Expeditionen, Datenerhebungen und Befragungen, durch die Informationen über den Zustand einer Gesellschaft gesammelt werden. Entscheidend ist, dass »[t]hrough this mobilization the world is converted into arguments. To write the history of the first loop is to write the history of the transformation of the world into immutable and combinable mobiles. In brief, it is the study of the writing of the ›great book of nature‹ in characters legible to scientists, or, to put it another way, it is the study of the logistics that are so indispensable to the logics of science« (Latour 1999: 102).
Die zweite Schleife beschreibt Latour als Autonomisierung des wissenschaftlichen Systems. Die Autonomisierung behandelt den Prozess, innerhalb dessen sich ein wissenschaftliches Feld, eine sich etablierende Profession, ein unsichtbares Kolleg15 von anderen sie umgebenden Umwelten unabhängig macht. Es geht um die sich etablierenden Eigenschaften, die es einer Profession im Verlauf der Geschichte gestatten, einen Wissenschaftler von einem Amateur zu unterscheiden. Aufgabe der Geschichte ist es, die Ausdifferenzierung der dafür notwendigen Bewertungs- und Relevanzkriterien zu untersuchen. Die Frage lautet also: Wie gelingt es einer Profession, ihren eigenen Werten Geltung zu verschaffen, die Kontrolle der Zugangsbarrieren und der Vergabe von Titeln zu bewerkstelligen? Die zweite Schleife umfasst neben der Geschichte der Profession und Disziplinen ebenso die Geschichte der Institutionen. Organe, Ressourcen, Reglemente, Statuten sind unabdingbar, um Kollegen zu überzeugen und vor allem für die Verwirklichung eigener wissenschaftlicher Ideen zusammenzuhalten.
15 »Invisible College« beziehungsweise »unsichtbares Kolleg« ist ein von Derek de Solla Price geprägter Begriff, der informelle Gruppen umschreibt, die eng miteinander zusammenarbeiten. Die Gruppen bestehen in der Regel aus etwa hundert Wissenschaftlern – eine Anzahl also, die durch interpersonelle Beziehungen aufrecht zu erhalten ist. Die unsichtbaren Kollegs sind gemäß Price Forschergruppen, die an der wissenschaftlichen Front tätig sind (vgl. Price 1974; Felt/Nowotny/Taschwer 1995: 289).
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Noch nicht in die Geschichte eingeflossen ist die Frage der Finanzierung. Es müssen reiche und mit erheblichen Mitteln versehene Gruppen mobilisiert werden, damit die wissenschaftliche Arbeit an Bedeutung gewinnen kann. Nur wenn die finanziellen Ressourcen vorhanden sind, gedeihen Institutionen und Professionen, werden Lehrstühle und Positionen geschaffen. Das heißt, man kommt als Wissenschaftlerin nicht umhin, finanzkräftige Gruppen für die eigenen Projekte zu interessieren, denen sie bisher unwichtig waren. Wissenschaftler müssen versuchen, ihrer Disziplin einen Kontext zu verschaffen, der gesichert und groß genug ist, damit sie ohne finanzielle Probleme existieren und fortbestehen kann. Latour bezeichnet diese dritte Schleife als die für die Vollführung wissenschaftlicher Großprojekte erforderliche Bildung von Allianzen. Doch damit nicht genug. Die Wissenschaftler, die um die Welt reisen, um die für ihre Wissenschaft relevanten Objekte zu mobilisieren, Forscher, welche ihre Kollegen für ihre Ideen gewinnen, die Regierungen und Verwaltungsgremien bedrängen müssen, haben auch noch ihre Beziehungen zu einer andern »outside world of civilians« (Latour 1999: 105) zu regeln: zu Reportern, zur Frau und zum Mann auf der Straße. Dies ist die vierte, von Latour skizzierte Schleife. Diese Repräsentation in der Öffentlichkeit darf im Übrigen in ihrer Wirksamkeit und Geltung nicht unterschätzt werden, denn Wissenschaftler sind immer selbst Teil dieser einen Öffentlichkeit: »Our sensitivity to the public representation of science must be all the greater because information does not simply flow from the three other loops to the fourth, it also makes up a lot of the presuppositions of scientists themselves about their objects of study. Thus, far from being a marginal appendage of science, this loop too is part and parcel of the fabric of facts and cannot be left to educational theorists and students of media« (Latour 1999: 106).
Die fünfte Schleife schließlich, die Latour mit »Bindeglieder und Knoten« (»links and knots«) bezeichnet, schenkt dem begrifflichen Inhalt Aufmerksamkeit: Wenn die Wissenschaftsforschung die zentrale Rolle des begrifflichen Inhalts verstehen will, hat sie erst zu sehen, für welche Peripherie dieser Inhalt die zentrale Rolle spielt. Denn bis anhin, so Latour, sind wir nur den Arterien und Venen gefolgt und endlich »[we] arrive now, inevitably, at the pumping heart« (Latour 1999: 106). Der begriffliche Kern soll nicht durch die eigentlichen wissenschaftlichen Beschäftigungen definiert werden. Vielmehr ist es der begriffliche Kern, der alle andern, die Wissenschaftler, Politiker, Minister, die Frau und den Mann auf der Straße, zusammenbringt, er ist es, der ihre Verbundenheit verstärkt. Die Frage stellt sich also für die Wissenschaftsfor41
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scher, für welches Netz der begriffliche Inhalt als Knoten fungiert, für welche Wege er die Kreuzung darstellt und für welche Geschäfte er als Verrechnungsstelle dient. Die fünfte Schleife umreißt den Inhalt einer Wissenschaft. Seine Konzepte, Be-griffe sind es, die ein Kollektiv zusammenhalten. Latour zeichnet ein Narrativ, das Kritik am sozialen Konstruktivismus übt. Diesen versucht Latour als Missverständnis, hervorgerufen durch eine der Moderne verpflichteten Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt, zu entlarven. Die Vorstellung von der sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Tatsachen, die Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnisse, die nur von Menschen hervorgebracht wird, hat ausgedient. Die nonhumans erachtet Latour als an den Konstitutionsprozessen beteiligt; sie sind wie die Menschen in ein dynamisches Netzwerk eingebunden, das sich aus unterschiedlichen Aktanten zusammensetzt und die Stabilität einer raumzeitlichen Hülle ermöglicht. Und was gewinnen wir mit Latours Vorschlag? Wir sind auf der Suche nach einem geeigneten analytischen Rahmen, der es uns nicht nur ermöglicht, den »reflective turn« einzulösen, sondern uns auch einen gangbaren Weg aus dem Inkommensurabilitätsdilemma weist. Die Redefigur des »tu quoque« bereitet keine Schwierigkeiten. Wissenschaft beschreibt Latour, wie schon Gieryn, jenseits von essentialistischen Definitionen. Wissenschaft ist wie jede andere Entität auch, eine Liste aller Syntagmen oder Assoziationen, in die sie eingebunden ist. Diese nicht-essentialistische Definition erlaubt ein breites Spektrum von Variationen, was Wissenschaft ist und sein kann. Latours Wissenschaftsverständnis, die Vorstellung einer dynamischen Vernetzung von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, die gleichberechtigt relative Existenzen hervorbringen, lässt sich problemlos auf seine eigene Forschung anwenden. Er selbst, als Aktant, ist Teil einer verbundenen Welt unzähliger Propositionen, die sich in den gegenseitigen Verknüpfungen immer wieder verändern und von neuem artikulieren.16
16 Nicht ohne Ironie betrachtet sich Latour selbst als Teil einer vernetzten Disziplin, die weitaus heterogener ist, als er zugeben möchte. Sicherlich auch um, wie er es in seinen Beschreibungen der Tätigkeitsbereiche vormacht, mehr Verbündete für sein eigenes Projekt zu gewinnen: »Most of my colleagues disagree with my portrayal. As I do not enjoy being isolated and instead thrive on the conversations involved in a collective undertaking, I present science studies as if it is a unified field to which I belong« (Latour 1999: viii).
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Und das Inkommensurabilitätsdilemma? Latour ermöglicht uns einen realisierbaren Ausweg. Fundamental an Latours Gedankengebäude ist es, dass sich seine Definition von Existenz und Realität nicht von einer Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen einer isolierten Aussage und einem Sachverhalt herleitet. Sie umschreibt vielmehr eine »Bewegungsspur«, die Assoziationen und Substitutionen durch den Begriffsraum ziehen. Jede relative Existenz hat eine typische raumzeitliche Hülle – und nur eine. Die Wissenschaftsforschung hat gemäß Latour die Aufgabe, die Modifikationen der Aktanten, aus denen sich eine Entität zusammensetzt, nachzuzeichnen. Der Vorteil dieser Betrachtungsweise ist einerseits, dass wir die verschiedenen in einem Netzwerk vorhandenen Entitäten nicht unterschiedlich behandeln müssen. Egal, ob wir es mit Inuits, Vokabularlisten, Artefakten, körperlichen Fertigkeiten, amerikanischen Gouverneuren zu tun haben, sie sind nicht radikal voneinander verschieden. Sie setzen sich zusammen aus einer Liste heterogener »Assoziationen« und umfassen menschliche und nicht-menschliche Elemente. Damit setzen wir weder die Liste dessen, was die Gesellschaft, noch was die Natur ausmacht, als stabil. Ein anderer Vorteil von Latours Argumentation besteht in der nun unproblematischen Beschreibung zweier inkommensurabler Positionen. Positionen, die anfangs noch im selben Netzwerk eingebunden waren, können sich voneinander zu lösen beginnen. Sie fangen an, weniger gemeinsam zu haben und bilden unterschiedliche Artikulationen aus. Durch die verschiedenen ausgestalteten Serien von Assoziationen und Substitutionen in jeder der beiden Zusammensetzungen zweier Protagonisten können sie sogar inkompatibel werden: »This means that the incommensurability of the two positions – an incommensurability that seems so important for making a moral as well as an epistemological judgment – is itself the product of the slow differentiation of the two assemblages. […] There is no difficulty in recognizing the differences between the two networks once their basic similarity has been accepted« (Latour 1999: 166).
Inkommensurabilitäten sind Produkte unterschiedlicher Verläufe von Netzwerken. Wir können das Netzwerk historisieren und lokalisieren und damit ohne weitere Probleme herausfinden, aus welchen Elementen seine Nachfahren bestehen. Latours Konzept erlaubt es also, uns jenseits eines Relativismus zu bewegen und die eigene Position mit derselben Terminologie zu reflektieren. Der Kuhnsche Begriff des »Paradigmas« wird obsolet; Akteure werden Teil von Verflechtungen zwischen Akteuren und Aktanten, wer43
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den Teil der Übersetzungsketten – oder eben nicht. Latour eröffnet uns damit einen Ausweg aus den im theoretischen Konzept Kuhns angelegten Schwierigkeiten. Die Inkommensurabilität, die Nicht-Übersetzbarkeit zweier Paradigmen, wie wir sie bei Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend kennen gelernt haben, ist noch einem die Subjekt-Objekt-Dichotomie unterstützenden Relativismus verpflichtet: Der Forscher untersucht in Abhängigkeit seines Forschungsparadigmas das ihm letztlich doch immer fremd bleibende Objekt. Latour wendet sich gegen diese Vorstellung und weist allen Propositionen, den Akteuren und Aktanten, gleichberechtigte Rollen zu. Propositionen sind immer Teil eines Netzwerkes, das heißt, sie sind relational eingebunden und durch ihre Artikulationen in ihrer Identität bestimmt. Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte eines Netzwerkes werden wir als Forscherinnen selbst Teil davon; durch die Deskription, durch die Artikulation einer Proposition binden wir uns selbst in das von uns untersuchte Kollektiv ein; in der Analyse eines Netzwerkes beteiligen wir uns selbst am Netzwerk, an einem Kollektiv, erweitern, verändern es – keine Reflexionsschlaufe ist mehr notwendig, wirklich ist, was humans und nonhumans als wirklich setzen. So viel zu den analytischen Präliminarien. Kommen wir nun zur eigentlichen Geschichte: Für die vorliegende Arbeit gilt es, den »spatiotemporal envelope« der relativen Existenz »linguistische Anthropologie« zu beschreiben; es gilt, die verschiedenen Vernetzungen der an der Konstituierung der linguistischen Anthropologie beteiligten Aktanten nachzuzeichnen. Als erstes stellt sich die Frage, weshalb sich überhaupt ein Interesse an den American Indians und an deren Sprachen ausdifferenzierte. Tatsächlich war es die damalige Regierung, die mit ihrer Reservations- und Assimilierungspolitik wissenschaftliche Grundlagen benötigte, um ihr Ziel zu realisieren. Forschenden wie John Wesley Powell gelang es, dieses Interesse in die eigene Forschungslogik zu übersetzen: Finanziert von der U.S.-Regierung begründete er das Bureau of Ethnology, das zu einer Keimzelle der anthropologischen und linguistischen Forschung werden sollte. Als Nebenfolge bewirkte dieser Übersetzungsprozess eine Einbindung unterschiedlicher heterogener Akteure wie der Native Americans und deren Sprachen, neuer Instrumente und Forschungsmethoden und neuer Verbündeter. »Begrifflicher Inhalt«, der all diese Propositionen zusammenhielt, war die damals allgegenwärtige Evolutionstheorie. Die Erforschung der American Indian languages übernahm in diesem sich neu konstituierenden Kreislauf neue wichtige Funktionen: Einerseits diente sie als Grundlage für die Lösung der Probleme in der von der Regierung verfolgten Reservationspolitik und an44
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dererseits verhalf sie zur Einsicht, welchen evolutiven Stand die Native Americans tatsächlich erreicht hatten. Daniel Garrison Brinton war ein weiterer Forscher, der an diesen »begrifflichen Inhalt« anschloss und mittels sprachwissenschaftlichen Untersuchungen die Theorie zu bestätigen versuchte. Er stand in einer »paradigmatischen Beziehung« zu Powells Institut und trug mit seiner Arbeit dazu bei, dass die American Indian languages als Forschungsobjekt zusätzliche Stabilität gewannen. Zu einer eigentlichen Verschiebung in diesem Netzwerk kam es durch den in die USA immigrierten deutschen Physiker Franz Boas. Die unterschiedlichen von ihm formulierten Artikulationen waren in einem von einer gesellschaftlichen Krise gezeichneten Kontext weitaus resonanzfähiger als diejenigen seiner Kollegen. Propositionen wie das University Movement, die zunehmende Verunsicherung einer breiten Bevölkerung die ökonomische und soziale Entwicklung der Gesellschaft betreffend, die institutionellen Veränderungen im Kontext anthropologischer Forschung um die Jahrhundertwende führten dazu, dass sich die linguistische Anthropologie als wissenschaftliche (Teil-)Disziplin zu konstituieren vermochte, an »Realität« gewann und sich letztlich als autonome Wissenschaft etablierte, mit einem »begrifflichen Inhalt«, an den verschiedenen Propositionen anschließen konnten. Es sind also die Sprachen der Native Americans, die Native Americans selbst, die verschiedenen Forscher, welche die Sprachen untersuchen, die Instrumente, die den Forschern zur Verfügung stehen, um die Sprachen zu mobilisieren, die gesellschaftlichen Institutionen, die in irgendeiner Weise an der Reservationspolitik beteiligt sind, die institutionellen Veränderungen, die gesellschaftspolitischen Kontexte, die wissenschaftlichen Theorien und Methoden, die zu einer Konstituierung der »linguistischen Anthropologie« beitragen. Alle diese Aktanten, die mehr oder weniger gut artikulierte Propositionen anbieten, um Vernetzungen zu etablieren, die dieses groß angelegte Netzwerk stabilisieren, verfügen über eine Geschichtlichkeit und erhalten in den Transformationen zwischen humans und nonhumans die unterschiedlichsten Ausprägungen innerhalb dieser Verflechtungen. Diesen vielfältigen und komplexen Prozess gilt es in unserer Geschichte nachzuzeichnen und zu beschreiben. Latours Wissenschaftsverständnis stellt uns den analytischen Rahmen zur Verfügung, der dieser Komplexität gerecht wird.
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»Lingui st is che A nthropolog i e« – Erst e V ern etzungen
»There is, undoubtedly, some danger that, in making the Indian history and languages a topic of investigation, the great practicable objects of their reclamation may be overlooked« (Henry Rowe Schoolcraft zitiert in Hinsley 1979: 15).
»Thief« – so lautet der letzte Eintrag der ersten Vokabularliste »SCHEDULE 1 – PERSONS« der von John Wesley Powell 1777 und, in zweiter erweiterter Auflage, 1880 herausgegebenen »Introduction to the Study of Indian Languages with Words, Phrases and Sentences to be Collected«. Powells Einführung war als Instrumentarium zur Mobilisierung von Fakten im Latourschen Sinne konzipiert – ein Instrumentarium, das sprachwissenschaftlich orientierten Anthropologen dazu dienen sollte, verschiedene American Indian languages im Feld systematisch zu erfassen. Powell, Major im Bürgerkrieg und seit 1879 Leiter des Bureau of (American) Ethnology, erhoffte sich mit diesem Handbuch eine schlüssige Sammlung aller Wortschätze der amerikanisch-indianischen Sprachen, auf deren Grundlage eine Klassifikation und historische Verortung der linguistischen Bestände der von den Native Americans gesprochenen Sprachen vorgenommen werden konnten. Der Begriff »Dieb« erscheint in einer Aufzählung von Personenbezeichnungen, wie »Mann«, »Frau«, »alter Mann«, »alte Frau«, »junger Mann«, »junge Frau«, »Junge«, »Mädchen«, »Kind«, »männliches Kind«, »weibliches Kind« etc. Der Begriff »Dieb« erstaunt in dieser Zusammenstellung; er fällt ganz offensichtlich aus der Reihe. Powells Lehrbuch gibt denn auch nicht nur Aufschluss über das damalige linguistische Forschungsverständnis, auf das noch zurückzukommen sein wird – im ersten Teil der »Introduction« findet sich ein 47
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geeignetes Alphabet zur Transkription, gefolgt von Hinweisen und Erklärungen zur Funktionsweise der American Indian languages; im dritten Kapitel schließlich sind über 150 Seiten Vokabularlisten mit genügend zusätzlichem leerem Raum für die Übersetzung und allfällige Bemerkungen abgedruckt –, sondern es erlaubt gleichermaßen einen Einblick in die von Powell in seinen Vokabularlisten vorgenommenen Kategorisierungen. Diese widerspiegeln, wie dies die Wissenschaftsforscher Geoffrey C. Bowker and Susan Leigh Star zu Recht behaupten, »[…] a juncture of social organization, moral order, and layers of technical integration« (Bowker/Star 1999: 35). »One can read«, so die beiden Soziologen weiter, »a surprising amount of social, political, and philosophical context from a set of categories […]« (Bowker/Star 1999: 5). Die Einführung Powells zeigt nicht nur sein wissenschaftliches Verständnis von Linguistik, sondern auch die (Vor-)Urteile, mit denen der Feldforscher seine Forschungsobjekte, die American Indians,1 interpretierte. Der Eintrag »thief« ist nur ein Beispiel dafür, wie die White Anglo-Saxon Protestants (WASPs) ihre eigenen Wertekategorien als die universell gültigen definierten: Diebstahl setzt Privateigentum, Property Rights, voraus – eine Institution,2 die in den Gemeinschaften der Native Americans so nicht gegeben war. Der Eintrag »thief« ist deshalb eher als ein Ausdruck einer ideologisch besetzten Zuschreibung seitens des Anthropologen, als ein tatsächlich von den Native Americans benutztes sprachliches Konzept zu lesen. Um diese Verflechtungen verschiedener Wertesysteme, die in der Verwissenschaftlichung und der »Disziplinierung« der fremden ›indianischen Objekte‹ sowie deren Sprachen stattfinden, und, als Folge davon, die Professionalisierung der linguistischen Anthropologie beeinflussen,
1 Ich werde für die Beschreibung der unterschiedlichen Gemeinschaften die Begriffe American Indians und Native Americans synonym verwenden. Beide Ausdrücke sind Notlösungen. Der erste beinhaltet die von Kolumbus unternommene geographische Fehlinterpretation »Indian« (vgl. Galloway 1999: vi), der zweite impliziert, dass dieser sozialen Gruppe eine Ahistorizität unterstellt wird. Durch diese Bezeichnung bleiben sie »native«, erfahren keine eigene Geschichtlichkeit. Eine weitere Personenbezeichnung, die in dieser Arbeit keine Verwendung findet, habe ich in einem Aufsatz von Robin Ridington gefunden: »First Nations« – eine Bezeichnung die meines Erachtens von einer westlichen Konstruktion eines Nationalitätenbewusstseins ausgeht (vgl. Ridington 1999: 19). 2 Ich übernehme in diesem Zusammenhang Siegenthalers Definition von Institution, der sie als externalisierte und internalisierte Gebots- und Verbotsnormen fasst (vgl. Siegenthaler 1993: 15).
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aufdecken zu können, gilt es zunächst, mehr über den sozialen und politischen Kontext zu erfahren, in welchen sich die American Indians zur damaligen Zeit befanden. Die Native Americans waren als Untersuchungsobjekte, als Aktanten – um Latours Begriff zu verwenden – und als Sprecher der zu untersuchenden Sprachen Voraussetzung und Teil der sich neu etablierenden Wissenschaft; Interpretationen zur Etablierung der linguistischen Anthropologie müssen deshalb ihren Status in der U.S.-amerikanischen Gesellschaft mitberücksichtigen. Welche Beziehung hatten die verschiedenen Stammesgesellschaften der Native Americans zur amerikanischen Gesellschaft, der die Anthropologen angehörten, vor und während der Systematisierung und Professionalisierung der zu untersuchenden Disziplinierung? Welche gesetzlichen Grundlagen waren für sie gültig und über welche Handlungskompetenzen verfügten sie? Waren sie Teil davon, als gleichwertige Kulturen akzeptiert oder von der ›weißen‹ Gesellschaft in eine Form von Abhängigkeitsverhältnis gezwungen (vgl. »American Indians und ›The Great Father‹«)? Ist die Rolle der Native Americans in der amerikanischen Gesellschaft beziehungsweise der Status, den ihnen die U.S.-Regierung zuschrieb, geklärt, gilt es in einem zweiten Schritt, die Frage zu beantworten, wie sich amerikanische, anthropologisch versierte Wissenschaftler mit diesen American Indians auseinander setzten und diese – auf der Basis dieses von der Regierung zugeschriebenen Status – für die eigene wissenschaftliche Tätigkeit zu funktionalisieren wussten. Gemäß Latour kann man davon ausgehen, dass die Anthropologen eigene Interessen verfolgten und diese nur umsetzen konnten, wenn sie die Geldgeber, in diesem Falle die Regierung, davon überzeugten, dass deren Interesse auch ihre eigenen waren. Oder konkreter: Die Anthropologen erhielten nur dann finanzielle Unterstützung durch die Regierungsvertreter, wenn sie ihnen Lösungsvorschläge zu öffentlichen Problemen präsentierten, – solche, die den Politikern von Nutzen erschienen. Der Begründer des Bureau of Ethnology, John Wesley Powell, verstand es in geradezu exemplarischer Weise unterschiedlichste Akteure in ein vom ihm generiertes Netzwerk einzubinden und eine ethnologische Wissenschaft zu artikulieren, die anschlussfähig an die unterschiedlichsten »Propositionen« war (vgl. »Eine andere Geschichte«). Ein weiterer Abschnitt widmet sich deshalb diesem 1879 neu gegründeten Institut und geht dabei der Frage nach, ob und wie eine Professionalisierung der »New Ethnology« im Rahmen des Latourschen Wissenschaftsverständnisses zu konzipieren ist. Darauf folgen die »Bindeglieder und Knoten«, die von Powell ausgearbeiteten wissenschaftlichen Inhalte und Konzepte, die ein ganzes Kollektiv zusammenzuhalten ver49
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mochten: Powell gelang es, sich im zeitgenössischen Evolutionsdiskurs zu etablieren. Auf der Grundlage des Lehrgebäudes von Henry Lewis Morgan schuf er ein Pendant gegen die allgegenwärtige von Charles Darwin und Herbert Spencer geprägte biologistische Sozialtheorie. Seine unilineare kulturelle Evolutionstheorie räumte der Sprachwissenschaft einen besonderen Stellenwert ein, ja, machte die Sprachwissenschaft zur Voraussetzung jeglicher ethnologischen Forschung. Powell ist nicht der einzige, der sich im neu entstehenden professionalisierten Feld der linguistischen Anthropologie zu konstituieren versuchte. Sein Kontrahent Daniel Garrison Brinton entwarf eine Gegenposition zu Powells linguistischer Anthropologie; er darf in den Ausführungen zu den ersten Vernetzungen der linguistischen Anthropologie nicht fehlen (»Powells Gegenspieler: Daniel Garrison Brinton«). Ihm gilt das Interesse auch deshalb, weil er sich den deutschen Vertretern der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft für den Entwurf seiner rassischen, sprachwissenschaftlichen Konzepte verpflichtet fühlte. Im fünften Teil dieses Kapitels (»Konstituierung der American Indian languages als wissenschaftliches Forschungsobjekt«) schließlich folgt eine Synthese der »syntagmatischen und paradigmatischen Verhältnisse« (Latour 1999: 160f.), die zwischen Forschern und Erforschten, zwischen den ›weißen‹ Anthropologen und den Native Americans, der Regierung sowie den Theorien und wissenschaftlichen Konzepten hergestellt und stabilisiert worden sind.
›Weiße Quellen‹ Bevor die Geschichte der Beziehungen zwischen der U.S.-Regierung und den Native Americans erzählt werden kann, müssen wir auf die in den »Analytischen Präliminarien« ausgeführten Schwierigkeiten zurückkommen, in die wir uns begeben, wenn wir uns mit anderen Denkstilen beschäftigen. Als Hauptinformationsquelle der zu erzählenden Geschichte über die Relationen zwischen der Staatsmacht und den American Indians dienen mir die Arbeiten des amerikanischen Historikers Francis Paul Prucha, insbesondere sein 1984 herausgegebenes zweibändiges Werk »The Great Father«. Gemäß dem Verfasser der »Cambridge History of the Native People of the Americas« Frederick E. Hoxie und den Herausgebern des umfassenden »Handbook of North American Indians« von der Smithsonian Institution ist Pruchas Arbeit die maßgebliche Geschichte der Native Americans. Prucha erarbeitete ein Grundlagenwerk zur Geschichte der Beziehungen zwischen der Regierung der Vereinigten Staaten und den 50
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American Indians anhand folgender Quellen: American State Papers: Indian Affairs, Annual Reports of the Commission of Indian Affairs for the period 1824-1920, Journals of the Continental Congress, Charles J. Kapplers Indian Affairs und schließlich die Records of the Office [Bureau] of Indian Affairs. Diese Quellen veranschaulichen ein grundsätzliches, von Bowker und Star in ihrer Reflexion der Klassifikationssysteme bereits formuliertes Problem der heutigen Geschichtsschreibung über die indianischen Kulturen und deren Beziehungen zur »zivilisierten Welt«. – Bis zum 20. Jahrhundert gab es nur wenige Native Americans, die schreiben konnten. So sind die historischen Unterlagen ihrer Aktivitäten vornehmlich auf Dokumente gegründet, die ›Weiße‹ produziert hatten; indianische Sichtweisen waren, wenn überhaupt, nur indirekt repräsentiert. Neuere historische Arbeiten sind sich dieser Problematik bewusst. In seinem Aufsatz »Ethics and Responsabilities in Writing American Indian History« schreibt der Professor für amerikanisch-indianische Geschichte und Direktor des »Center for Indigenous Nations Studies at the University of Kansas« Donald L. Fixico: »Whether radically prejudiced or guilt-ridden, patronizing, paternalistic, or romantic, Indian history mainly has been perceived from a white perspective, based on the idea, that ›the conquerors write the history.‹ More than 30'000 manuscripts have been published about American Indians, and more than 90 percent of that literature has been written by non-Indians« (Fixico 2001: 3).
Eine ›authentische‹ indianische Vergangenheit aufzufinden und zu beschreiben, ist schlicht unmöglich. Denn, so Richard White, »[…] we are prisoners of the documents. What we have is mixture, impurity, and dirtiness« (1997: 93f.). Ein weiteres Problem, das sich hier anschließt, ist die undifferenzierte Behandlung aller Native Americans als Totalität. Schreibt man die Geschichte der »Indianer«, verkennt man zwangsläufig die Heterogenität der verschiedenen Gemeinschaften mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Religionen, politischen Organisationen. Man charakterisiert sie als zusammenhängendes Ganzes. Dieser Text wird dieses Problem nicht umgehen können. Die Alternative? Seit den 1970ern versuchen Historiker inter- und transdisziplinär zu arbeiten. Methoden der Anthropologen, Literaturwissenschaftlerinnen, Soziologen und Geographinnen werden für die Rekonstruktion der indianischen Geschichte mitberücksichtigt. Die Vertreter der so genannten »New Indian History« oder »Ethnohistory« hoffen durch fieldwork, durch neue Arbeitsweisen wie oral history oder durch 51
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den Miteinbezug traditioneller Narrative nicht nur die Lücken in den Archivmaterialien zu füllen, sondern andere historische Erklärungen für die indianischen Handlungsweisen zu finden. Die Voraussetzung, um eine Geschichte, die eher einer indianischen Perspektive entspricht, zu schreiben, bedingt aber, dass die Historiker lernen, in deren kulturellen, sozialen, metaphysischen Konzepten zu denken. Fixico verlangt deshalb auch eine neue Ethik in der Geschichtsschreibung, die nicht nur »respect for Native Americans« (Fixico 1996: 6) voraussetzt. Denn: »In considering Indian history in this manner, it is necessary to use introspective analysis of how Indians perceive history with regard to tribal language, values, kinship relations, infrastructure, societal norms, tribal beliefs, and worldview« (Fixico 1996: 7). Will die Historikerin Sinn und Ideologie der Gemeinschaften der Native Americans erfassen, muss sie das jeweilige indianische Weltbild und die Realitätskonzeptionen, wie sie durch die indianische Gemeinschaft konstruiert worden sind, einbeziehen und sich von eigenen westlichen Wirklichkeitskonstruktionen distanzieren: »The historian’s last responsibility in achieving a true balance is to ›think like an Indian‹« (Fixico 1996: 8).3 Problematisch bleibt die neue inter- beziehungsweise intradisziplinäre Geschichtsschreibung trotzdem. Sie setzt nicht nur die fremde Kultur als ›andere‹, ihr liegt auch ein Anspruch der Authentizität zugrunde, der meines Erachtens nicht erfüllt werden kann. Die Beziehungen sind diejenigen zwischen der ›weißen Regierung‹ und den Native Americans. Geschichtsschreibung ist ein Konzept der amerikanischen ›zivilisierten‹ Welt. Native Americans erzählen andere Geschichten, die mit diesem nur bedingt kommensurabel sind. Will man also die Geschichte der Beziehungen zwischen der amerikanischen Staatsmacht und den Native Americans schreiben, ist es notwendig, diese Schwierigkeiten immer mit zu reflektieren. Leider sind historische Darstellungen, wie es Historiker wie Fixico einfordern, noch kaum vorhanden. Für die vorliegende Erzählung muss ich mich also – notgedrungen – auf Werke abstützen, die sich vorwiegend auf Dokumente beziehungsweise Quellen stützen, die ›Weiße‹ produziert hatten; indianische Sichtweisen sind, wenn überhaupt, nur indirekt repräsentiert.
3 Letztlich haben die Historiker eine ähnliche Arbeit zu leisten, wie die Anthropologen: »Standards applied to historical documents are not thus different in kind from those for an adequate ethnographic description of a primitive community« (Darnell 1971c: 86f.).
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Die zu erzählende Geschichte reproduziert also in erster Linie ein »westliches Geschichtsverständnis«.
Am e r i c a n I n d i a n s u n d » T h e G r e a t F a t h e r « 4 Powells »Introduction to the Study of Indian Languages with Words, Phrases and Sentences to be Collected« erschien zu einer Zeit, in der die amerikanische Regierung ihrer Reservationspolitik zum endgültigen Durchbruch verhalf: »By 1880 the pattern of reservations was set« (Prucha 1984: 594). Die Reservationspolitik, die ihren Anfang bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahm, war in den Augen der Regierungsvertreter in besonderem Maße geeignet, Kämpfe zwischen ›Weißen‹ und Native Americans zu verhindern. Sie glaubten, dass durch die Zusammenlegung der Native Americans in Gebieten, die sie nur mit Erlaubnis der U.S.-Regierung verlassen durften, ihr Kontakt mit den ›Weißen‹ reguliert werden konnte. »Reservations, it seemed, were the only alternative to the otherwise inevitable extinction of the Indian race. Close containment and control of Indians had the additional benefit of making them available for programs of civilization designed to produce sedentary Christian agriculturalists in the pattern of the idealized yeoman of the idealized yeoman farmer. In this view, reservations were the crucibles of ›civilization‹ out of which new Indian communities and societies would emerge to become part of the expanding Republic« (Leavelle 2001: 336).
Damit verfügte die Regierung über ein ideales Instrument, das Indian Problem – »that is, what should be done about the Indians blocking the Western expansion of the United States« (Sonneburn 2001: 177) – anzugehen. Die Expansion gegen Westen erlaubte es der von verschiedenen Immigrationsströmen aus Europa betroffenen »jungen« Nation, von den aus der Alten Welt bekannten sozialen Problemen wie Armut, Hungersnöte, Überbevölkerung etc. auf Dauer verschont zu bleiben: Stets gab es die Möglichkeit, ungünstigen sozialen Bedingungen zu entfliehen 4 Die folgenden Abschnitte geben einen Einblick in die Geschichte der Beziehungen zwischen den Native Americans und der U.S.-Regierung. Abschnitte, die sich mit Einzelheiten dieser Geschichtsschreibung auseinander setzen und nicht unbedingt für den argumentativen Verlauf der vorliegenden Arbeit nötig sind, sind in »Petit« gesetzt.
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und im Westen ein neues Leben zu beginnen. – Dazu war nur die »fierce race of savages« (Waechter 1996: 101) zu bezwingen. Der Kampf gegen die »wilden Rassen« begann mit dem 19. Jahrhundert5 und sollte sich nach dem Bürgerkrieg noch verstärken: 200 separate bewaffnete Konflikte gab es alleine zwischen den Jahren 1869 und 1874. Und bis in die 1880er Jahre fanden konstant Gefechte zwischen ›Weißen‹ und Native Americans statt. Die traumatischste Auseinandersetzung, welche die Beziehungen zwischen den Native Americans und der U.S.-Regierung noch bis heute belastet, gipfelte in der Schlacht am Wounded Knee (1890). Die U.S.-Regierung verfolgte ihre Reservationspolitik auch im Gebiet der Sioux. Sie hoffte nach der Verkleinerung von deren Reservat auf eine rasche Akkulturierung der Native Americans. Doch das Projekt scheiterte kläglich. Viele Sioux litten bereits ein Jahr nach der Verteilung der Landgebiete Hunger. Ein Schamane der Paiute Indianer namens Wovoka fand für die Verbreitung seiner religiösen Ideen in diesem Kontext günstige Bedingungen vor. Die Sioux übernahmen seine Lehre, eine Mischung aus Christentum und indianischem Mystizismus; sie versprach allen, die in Frieden lebten, ein ehrliches und fleißiges Leben führten und den so genannten »Ghost Dance« praktizierten, ein neues Paradies. Die von der amerikanischen Regierung eingesetzten Indian Agents sahen in dieser Bewegung vor allem eins: eine große Gefahr ihrer Zivilisationsbemühungen und ein Wiederaufleben der »wilden indianischen Identität«. Die Lage geriet außer Kontrolle, als Ende 1890 der Republikaner Daniel F. Royer, von den Indianern »Young-Man-Afraid-of-Indians« genannt, die Position des Indian Agent übernahm. Als sich ihm die »Ghost Dancers« öffentlich widersetzten, alarmierte Royer die Regierung. Diese entsandte militärische Einheiten, um die Führer der »Ghost Dance«-Bewegung, insbesondere den Sioux-Häuptling Sitting Bull, festzunehmen. Sitting Bull und sieben seiner Begleiter wurden erschossen. Big Foot und weitere Anhänger von Sitting Bull flohen Richtung Süden. Als sie die »Bad Lands« erreichten, fingen die Truppen der siebten Kavallerie die Sioux ab und führten sie zu einer Gegend bei Wounded Knee Creek. Weitere Truppen unter Oberst James W. Forsyth, der die Sioux zu entwaffnen versuchte, kamen hinzu. Die Lage war äußerst angespannt – ein Schuss fiel und die Situation eskalierte. 146 Indianer fanden auf dem Schlachtfeld den Tod: 84 Männer und Knaben, 44 Frauen und 18 Kinder. Sieben der insgesamt 51 Verwundeten starben wenige Tage später; wie viele weitere Leichen und Verwun-
5 Im 18. Jahrhundert gab es noch etliche Konzepte, die ein friedliches Zusammenleben mit den Native Americans nicht ausschlossen. Es gab bei den Regierungsvertretern sogar die Vorstellung, dass als Landessprache nicht etwa das Englische, sondern eine der verbreitetsten amerikanisch-indianischen Sprachen in Frage kam (vgl. z. B. Benn 1998).
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dete von den Überlebenden weggetragen worden sind, ist nicht bekannt. Die Armee verlor 25 Männer, 39 wurden verwundet (vgl. auch Mooney 1896: 843).6
Wichtigster Grund für die Zunahme dieser gewalttätigen Konflikte nach dem Bürgerkrieg war gemäß Einschätzung der maßgeblichen Historiographen der 1862 verabschiedete Homestead Act. Dieses Gesetz ermöglichte es allen Bürgern der Vereinigten Staaten – mit Ausnahme der Soldaten, die in der Confederate Army der Südstaaten gedient hatten –, ein Stück Land von 160 Morgen7 in einem von American Indians bewohnten Gebiet (in den heutigen Staaten Kansas und Nebraska) zu erwerben. Abgesehen von einer Einschreibegebühr von US$ 10 hatten die westlichen Siedler keine weiteren Mittel für das Land aufzubringen; sie mussten sich lediglich verpflichten, dieses in den nächsten fünf Jahren zu bewohnen und zu bearbeiten (vgl. Prucha 1984: 660; Hurtado/ Iverson 2001: 312; Dudley 1998: 115). Die amerikanische Regierung hoffte mit dem Homestead Act, rund eine Milliarde Morgen Land an unabhängige Grundbesitzer verteilen zu können. In Wirklichkeit aber erhielten die Farmer nur gerade rund einen Sechstel des Landes. Der Rest wurde an die Meistbietenden verkauft. Die größten Flächen gingen an die Eisenbahnfirmen (rund 180 Millionen Morgen). Diese »Landnahme« führte zu zahlreichen Konflikten zwischen den Native Americans und den Siedlern sowie Eisenbahnangestellten. – Das Indian Problem wurde akut: Der 1868 veröffentlichte Bericht der ein Jahr zuvor vom Kongress eingesetzten Indian Peace Commission gibt einen Einblick in die dama-
6 Das Massaker in Wounded Knee spaltete die öffentliche Meinung. Die einen interpretierten den Kampf als glorreichen Triumph der Truppen über die heimtückischen und verräterischen Indianer; andere sahen die Aktion als eine brutale Revanche für eine von den ›Weißen‹ kurze Zeit vorher erlittene Niederlage. Aus heutiger Sicht plausibler ist eine dritte Perspektive. Der Historiker Robert Utley schreibt dazu: »It is time that Wounded Knee be viewed for what it was […] a regrettable, tragic accident of war that neither side intended, and that called forth behavior for which some individuals on both sides, in unemotional retrospect, may be judged culpable, but for which neither side as a whole may be properly condemned« (Utley zitiert nach Prucha 1984: 729; vgl. auch Hoxie 1996: 694ff.). 7 Im Originaldokument ist von »acres« die Rede. Es handelt sich um ein älteres Feldmaß, das territorial verschieden gehandhabt wurde; in diesem geographischen Kontext entsprach es ca. 2.47 Hektaren (vgl. Morison et al. 1969 [1930]: 123).
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ligen Konflikte und in die Vorstellungen, wie diese gelöst werden sollten: »The white and Indian must mingle together and jointly occupy the country, or one of them must abandon it. If they could have lived together, the Indian by this contact would soon have become civilized and war would have been impossible. […] What prevented their living together? First. The antipathy of race. Second. The difference of customs and manners arising from their tribal or clannish organization. Third. The difference in language, which, in a great measure, barred intercourse and a proper understanding each of other’s motives and intentions. Now by educating the children of these tribes in English language these differences would have disappeared, and civilization would have followed at once. Nothing then would have been left but the antipathy of race, and that too is always softened in the beams of a higher civilization. […] To maintain peace with the Indian, let the frontier settler treat him with humanity, and railroad directors see to it that he is not shot down by employees in wanton cruelty. In short, if settlers and railroad men will treat Indians as they would treat whites under similar circumstances, we apprehend but little trouble will exist« (Report of the Indian Peace Commission 1868, zitiert nach Dudley 1998: 123).
Die Kommission appellierte an die Menschlichkeit der ›weißen‹ Siedler und der Eisenbahndirektoren – ein Aufruf, der im damaligen Amerika, in dem Rassentheorien auf fruchtbaren Boden fielen, kaum eine Chance hatte, gehört zu werden. Das 1832 gegründete Bureau of Indian Affair (vgl. Fixico 2001: 4; Dudley 1998: 20; Prucha 1984: 163f.) verfolgte ein weitaus realistischeres Konfliktmanagement: Zunächst galt es, die bereits begonnene Reservationspolitik abzuschließen und die letzten ›herumziehenden Wilden‹ in den für sie vorgesehenen Gebieten unterzubringen. Erst langfristig sollten die American Indians – ganz im Einklang mit den Zielen der Indian Peace Commission –, »zivilisiert« und »amerikanisiert«, das heißt in die ›weiße amerikanische Gesellschaft‹ integriert werden. Die amerikanische Regierung versuchte noch in den 1870er Jahren, die Durchführung dieser beiden Pläne zu beschleunigen, indem sie die Native Americans in Großreservaten zusammenlegte. Sie ging dabei davon aus, dass die in kleinen Reservaten lebenden ethnischen Gruppen, wenn sie mit anderen, sich auf einer höheren Entwicklungsstufe befindenden Native Americans in Kontakt kämen, schneller begreifen würden, dass »thrift, enterprise, and energy do always produce their legiti-
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mate fruits of civilization and self-dependence« (Report of the Board of Indian Commissioners 1876: 4, zitiert nach Prucha 1984: 566). Die Konzentration der Native Americans auf wenige Großgebiete8 würde, so glaubte zumindest die Regierung, zur Auflösung der einzelnen ›Stammesverbindungen‹ führen und dadurch die Einrichtung eines einheitlichen, für das ganze Gebiet gültigen Gesetzessystems erleichtern. Schließlich erhoffte sich die Regierung durch diese Maßnahmen – nicht ganz uneigennützig – eine Kostenreduktion. Die drei von der Regierung durchgeführten Zwangsumsiedlungen der Ponca Indians,9 der Cheyennes und der Nez Perces (vgl. Prucha 1984: 566-576; Slickpoo 2001: 313-316) hatten ein Massensterben der Native Americans zur Folge. Sie führten zu einem Umdenken und beendeten die »Konsolidierungspolitik« in den Jahren um 1880 (Prucha 1984: 577ff.). Die Behörden kamen unter dem Druck einer neu sich formierenden, kritischen Öffentlichkeit10 zur Einsicht, dass die Native
8 Eines dieser Großgebiete war das Indian Territory, der heutige Staat Oklahoma. Bis 1890 werden sich auf diesem Gebiet 21 Reservate befinden, die rund siebzig ethnische Gruppen umfassen (vgl. Hoxie 1996: 189). 9 Die Zwangsumsiedlung der Ponca Indians aus ihrem Reservat am Missouri River zum Indian Territory erlangte wohl die größte Bekanntheit (vgl. Mardock 1971: 168-191; Prucha 1984: 567ff.). Zur Rezeption der Umsiedlung in der zeitgenössischen Zeitungslandschaft vgl. auch die Publikation Cowards mit dem Titel »The Newspaper Indian: Native American Identity in the Press, 1820-1890« (1999: 201-221). Coward sieht in der öffentlich breit rezipierten Zwangsumsiedlung eine entscheidende Größe für den 1887 im Kongress durchgesetzten Dawes Act (vgl. 1999: 221f.; vgl. zudem Prucha 1984: 566ff. und »General Allotment Act von 1887« sowie »Konsequenzen des General Allotment Act«). 10 Helen Hunt Jackson veröffentlichte 1881 ihr Werk »A Century of Dishonor: A Sketch of the United States Government’s Dealings with Some of the Indian Tribes«, nachdem sie in einem Vortrag von Chief Standing Bear der Ponca Nez von den Ungerechtigkeiten erfahren hatte, die den Poncas seitens der Regierung zugefügt worden waren. Hunts Ziel war es, die amerikanische Bevölkerung auf eine völlig verfehlte, verantwortungslose, gewalttätige Regierungspolitik aufmerksam zu machen: »The history of the United States Government’s repeated violations of faith with the Indians […] convicts us, as a nation, not only of having outraged the principles of justice, which are the basis of international law; and of having laid ourselves open to the accusation of both cruelty and perfidy; but of having made ourselves liable to all punishments which follow upon such sins – to arbitrary punishment at the hands of any civilized nation who might see fit to call us to account, and to that more certain natural punishment which, sooner or later, as surely comes from evil-doing as harvest comes from sown seed« (Hunt zitiert nach Prucha 1984: 627; vgl. auch Dudley 1998: 137-142). Hunts Buch stieß bei zahlreichen Reformern auf offene Ohren
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Americans nicht zu »zivilisieren« waren, wenn sie nicht in ihrem vertrauten, angestammten Gebiet lebten. – Die Idee der Umsiedlungen der American Indians in Großreservate wurde aufgegeben (vgl. Report of the Secretary of the Interior 1880: 3f., zitiert nach Prucha 1984: 577). Die vielen, auf breite Gebiete verstreuten Reservate blieben bestehen.11 Die Regierung konzentrierte sich in den nächsten Jahrzehnten auf das langfristig angelegte Ziel, die »Assimilierung« und »Zivilisierung« der Native Americans. »The logic of events demands the absorption of the Indians into our national life, not as Indians, but as American citizens« (CIA Report 1889: 3, zitiert nach Prucha 1984: 610), heißt es dazu in einem CIA Bericht aus dem Jahre 1889 – ein Ethnozentrismus erschreckenden Ausmaßes, der politische Handlungsmuster festigte, die in der Folge kaum wieder aufzulösen waren (Prucha 1984: 610). Die Native Americans führten in diesen Jahren in den Reservaten ein Dasein, das kaum noch an ihre ursprüngliche Lebensweise erinnerte. Die wilden Büffel, ihre Existenzgrundlage, waren längst von den ›Weißen‹ vernichtet worden – ein eigenständiges Leben war kaum mehr zu führen. Die Native Americans degenerierten zu Schützlingen einer paternalistischen Regierung. – Und die U.S.-Regierung übernahm die Verantwortung für ihre ›Mündel‹. Sie sah es als ihre Pflicht an, ihre »Schutzbefohlenen« auf den Weg zur Zivilisation zu führen. Der Sekretär des Innenministeriums Carl Schurz drückte diese Haltung 1881 mit den Worten aus: »Nothing is more indispensable, than the protecting and guiding care of the Government during the dangerous period of transition from savage to civilized life […]. [The Indian] is overcome by a feeling of helplessness, and he naturally looks to the ›Great Father‹ to take him by the hand and guide him on. That guiding hand must necessarily be one of authority and power to command confidence and respect. It can be only that of the government which the Indian is accustomed to regard as a sort of omnipotence on earth. Everything depends upon the wisdom and justice of that guidance« (Schurz 1881: 8f., zitiert nach Prucha 1984: 595).
Schurz hatte bereits 1879 ein konzises Programm zur Realisierung dieses zentralen Vorhabens der amerikanischen Regierungspolitik skizziert: und erzielte auch in der breiten Öffentlichkeit Resonanz (vgl. Mardock 1971: 198 & 200). 11 Es wäre im Übrigen verfehlt, die Bewohner der Reservationen als homogene Gruppe zu betrachten. Zahlreiche von ihnen hießen die Regierungspolitik gut (vgl. Prucha 1984: 644).
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»1) To set the Indians to work as agriculturists or herders, thus to break up their habits of savage life and to make them self-supporting. 2) To educate their youth of both sexes, so as to introduce to the growing generation civilized ideas, wants, and aspirations. 3) To allot parcels of land to Indians in severalty and to give them individual title to their farms in fee, inalienable for a certain period, thus to foster the pride of individual ownership of property instead of their former dependence upon the tribe, with its territory held in common. 4) When settlement in severalty with individual title is accomplished, to dispose, with their consent, of those lands on their reservations which are not settled and used by them, the proceeds to form a fund for their benefit, which will gradually relieve the government of the expenses at present provided for by annual appropriations. 5) When this is accomplished, to treat the Indians like other inhabitants of the United States, under the laws of the lands« (zitiert nach Prucha 1984: 595).
Die Transformation der Wilden zu zivilisierten Farmern, die Erziehung ihrer Kinder, die Aufteilung ihres Landbesitzes an die einzelnen Individuen, die Zuweisung der nach der Zerstückelung übrig gebliebenen Gebiete an ›weiße‹ Siedler sowie die Anerkennung der Native Americans als Bürger und Rechtssubjekte der Vereinigten Staaten: Schurz’ prägnanter Plan beinhaltete die Strategien, die in den nächsten fünf Jahrzehnten Gültigkeit für die amerikanische Innenpolitik beanspruchten. Die Okkupation indianischer Territorien durch ›weiße‹ Siedler verlief damit in »geordneten Bahnen« und ging ohne Gewaltexzesse weiter. Die Regierung arbeitete in der Folge rechtliche Grundlagen sowie etliche bildungspolitische Programme aus, um die fünf festgelegten Ziele, die letztlich eine vollständige Angleichung der Native Americans an die Lebensführung der ›weißen‹ U.S.-Bürgerinnen und Bürger zum Ziel hatte, zu realisieren. Seit den 1880er Jahren versuchten Regierung und zahlreiche Reformbewegungen die Anwendbarkeit der amerikanischen Gesetze auf die Native Americans sowie die Erteilung der Staatsbürgerschaft an die Native Americans zu klären. Sie bemühten sich um Gesetzesvorlagen, welche die Verteilung der Ländereien regelten, und errichteten zahlreiche Boarding Schools, die eine effiziente Durchführung der Zivilisierungs- und Assimilationspolitik gewährleisten sollten.
American Indians und die U.S.-amerikanische Jurisdiktion Am 17. Dezember 1883 verfügte das amerikanische Bundesgericht die sofortige Entlassung des Brulé Sioux Crow Dog aus der Haft. Crow Dog war von einem Bezirksgericht für schuldig befunden worden, den Häuptling Spotted Tail vorsätzlich getötet zu haben. Das Todesurteil des 59
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Bezirksgerichts entsprach aber gemäß Auffassung des Bundesgerichtes nicht der amerikanischen Verfassung: Vergehen, die Native Americans unter- und gegeneinander verübten, unterstanden nicht der amerikanischen Gerichtsbarkeit – nicht einmal das der vorsätzlichen Tötung. Crow Dog kehrte zu seiner Gesellschaft zurück (vgl. U.S. Reports 557, 1883: 571f., zitiert nach Prucha 1975: 162f.). Die Entscheidung des Bundesgerichts löste in der amerikanischen Öffentlichkeit große Konsternation aus. Doch die rechtliche Ausgangslage war eindeutig. Die amerikanische Regierung akzeptierte die einzelnen indianischen »tribes« als »nations« (Prucha 1984: 676) und dies implizierte deren Autonomie bei der Behandlung »innerer Angelegenheiten«. Die Ermordung von Spotted Tail machte der amerikanischen Öffentlichkeit die bedingte Anwendbarkeit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit schmerzlich bewusst. Bereits seit einigen Jahren versuchten Politiker und Reformbewegungen,12 die Native Indians in das amerikanische Rechtssystem zu integrieren – eine in ihren Augen notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Assimilierung und Zivilisierung. »A serious detriment to the progress of the partially civilized Indians«, so deklarierte schon 1871 der Ausschuss der Beauftragten für indianische Angelegenheiten, »is found in the fact that they are not brought under the domination of law, so far, as regards crimes committed against each other«. Dass die unterschiedlichen Rechtssysteme der verschiedenen »dependent and domestic nations« nicht mit der amerikanischen Legislative kompatibel waren, wusste das Komitee. Doch »when they have adopted civilized costume and civilized modes of subsistence«, so der Ausschuss, »we owe it to them, and to ourselves, to teach them the majesty of civilized law, and to extend to them its protection against the lawless among themselves« (vgl. Report of the Board of Indian Commissioners 1871: 7f., zitiert nach Prucha 1984: 676). 1871 hatte die amerikanische Regierung zwar beschlossen, dass kein indianischer »Stamm« länger als unabhängige Nation und damit als Vertragspartner der amerikanischen Regierung akzeptiert werde – ein erster Schritt, den traditionellen Status der indianischen Nationen zu unterminieren und »a sharp blow at the traditional status of the Indian tribes« (Prucha 1984: 598 & 676). Doch die einzelnen Stammesgesellschaften behielten ihre Autonomie bei »inneren Angelegenheiten«. Die rechtliche Situation in den Vereinigten Staaten war damit in keiner Weise geklärt: Die Native Americans waren weder »citizens, nor aliens, nor foreign nations« (Pancoast 1883, zitiert nach Prucha 1984: 678). Bevor die Frage der Bestrafung von Vergehen der Native Amer-
12 Zu den einzelnen Reformbewegungen ausführlich vgl. Prucha 1984: 611ff.
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icans untereinander bereinigt werden konnte, musste zumindest in der Perspektive der Reformbewegungen der Status der Native Americans als Individuen mit eigenen Persönlichkeits- und Eigentumsrechten vor dem Gesetz durchgesetzt werden. Denn: »When his possessions are secure, his labor will be both profitable and attractive; when he feels himself a man, he will desire his own and his children’s education; when he can be protected by law, the granting of land to him in severalty will be something more than a pretentious form« (Harsha 1882, zitiert nach Prucha 1984: 677). Die Indian Rights Association13 unterstützte diese Forderung als essentielle Komponente des künftigen gesellschaftlichen Kompromisses. Aber erst die Freilassung von Crow Dog, die in der amerikanischen Öffentlichkeit große Resonanz hervorgerufen hatte, nötigte den Kongress, die Native Indians so rasch als möglich in das amerikanische Rechtssystem zu integrieren.
Mit einem Gesetzesbeschluss vom 3. März 1885 unterstellte der Kongress die Native Americans der amerikanischen Gerichtsbarkeit bei Kapitalverbrechen wie Mord, fahrlässiger Tötung, Vergewaltigung, Körperverletzung mit Tötungsabsicht und Brandstiftung sowie bei Diebstahl und leichtem Diebstahl. Auch wenn sich die Erweiterung auf die sieben Tatbestände beschränkte, war sie revolutionär: Die Gesetzgebung der Vereinigten Staaten galt von diesem Datum an auch für Verbrechen, die Native Americans untereinander begingen – ein weiterer Schlag gegen die Autonomie der indianischen Gesellschaften. Allerdings war das Ziel, die Native Americans gänzlich der amerikanischen Gerichtsbarkeit zu unterstellen, mit diesem Gesetzbeschluss noch immer nicht erfüllt.
Amerikanische Staatsbürgerschaft für American Indians Der Kongress war sich einig, dass die amerikanische Staatsbürgerschaft eine unumgängliche Bedingung für eine vollständige Assimilierung der Native Americans war. Umstritten war nur wie und wann die Native Americans alle politischen Rechte und Pflichten erhalten sollten.
13 Die Indian Rights Association war eine der wichtigsten Reformorganisationen, die sich für die Native Americans einsetzten. Sie wurde 1882 in Philadelphia von Herbert Welsh und Henry S. Pancoast gegründet, unmittelbar nachdem sie das Reservat der Great Sioux in Dakota besucht hatten. »This visit«, erinnert sich Herbert Welsh später, »resulted in a revolution of many preconceived opinions and in fixing our minds clearly and firmly in two important truths: 1st. That the Indians were capable of civilization, and 2nd. That is was largely due to the injustice or inefficiency of the government’s dealings with him that the Indian hat attained to civilization so imperfectly« (Welsh 1890, zitiert nach Prucha 1984: 615).
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Bereits 1868, als der Kongress sich mit dem 14. Zusatz der Verfassung auseinander setzte, war der rechtliche Status der Native Americans Gegenstand zahlreicher Debatten. Die Neuregelung sah vor, dass »[a]ll persons born or naturalized in the United States, and subject to the jurisdiction thereof, are citizens of the United States and of the State wherein they reside« (vgl. Prucha 1984: 682). Der Artikel bezog sich auf die nach dem Bürgerkrieg befreiten Sklaven, doch die Formulierung des Textes ließ genügend Interpretationsspielraum offen, um die Native Americans auch miteinzubeziehen. So plädierten einige Senatoren, um Missverständnissen vorzubeugen, die Worte »excluding Indians not taxed« hinzuzufügen; andere dachten, dass diese Formel nicht notwendig war, denn so lange die Native Americans verschiedenen Stammesgesellschaften angehörten, die die U.S.-Regierung zwar nicht als Vertragspartner, doch immerhin als »dependent and domestic nations« (Prucha 1984: 676) akzeptierte, konnten sie nicht als amerikanische Bürger behandelt werden. Die Frage des rechtlichen Status der Native Americans blieb unbeantwortet. Ein eigens dafür gebildetes Komitee verfasste deshalb einen Bericht, der sich den noch offenen Problemen und den Konsequenzen, die sich aus dem 14. Zusatz der Verfassung ergaben, annahm. Waren die Native Americans als amerikanische Staatsbürger zu akzeptieren? Würden damit nicht die Verhandlungen und Verträge, die zwischen der amerikanischen Regierung und den einzelnen indianischen Stammesgesellschaften getätigt worden waren, nichtig? Der Bericht, den das Komitte am 14. Dezember 1870 der Regierung vorlegte, begann mit einer langen historischen Darstellung und gelangte zum Schluss, dass die Native Americans nicht als Staatsbürger gelten durften, da sie (noch) nicht der amerikanischen Gesetzgebung unterstellt waren. Nur diejenigen, die sich freiwillig von ihren Stammesgesellschaften lösten und die amerikanische Lebensart aufnahmen, erhielten die amerikanische Staatsbürgerschaft. Dieser vom Senate Judiciary Committee nur implizit angenommene und behandelte Beschluss war länger als eine Dekade gültig. Am 3. November 1884 erklärte das Bundesgericht diesen Beschluss im Fall Elk versus Wilkins für null und nichtig: Obwohl John Elk, ein American Indian, seit längerem die ›weiße‹ Lebensart führte und den Kontakt zu »seinem Stamm« abgebrochen hatte, erhielt er keine Erlaubnis, sich als Stimmbürger für eine lokale Wahl in Omaha, Nebraska, zu registrieren. Bei der Abstimmung verweigerte man ihm den Zutritt zur Wahlurne. Elk richtete sich an die zuständigen Behörden des Staates Nebraska und der Stadt Omaha – und wurde abgewiesen. Die Begründung lautete, er sei American Indian, nicht aber amerikanischer Staatsbürger (vgl. auch Mardock 1971: 217ff.). Elk klagte vor dem Bundesgericht. Doch die Mehrheit des Obersten Gerichtes stellte sich mit folgender Begründung gegen ihn: Elk sei als Angehöriger eines »indianischen Stammes« geboren und somit nicht den amerikanischen Gesetzen unterworfen:
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»Indians born within the territorial limits of the United States, members of and owing allegiance to one of the Indian tribes (an alien though dependent power), although in a geographical sense born in the United States, are no more ›born in the United States and subject to the jurisdiction thereof‹ within the meaning of the first section of the Fourteenth Amendment, than the children […] born within the Unites States, of ambassadors or other public ministers of foreign nations« (U.S. Reports 98-99 & 102 & 109, 1884, zitiert nach Prucha 1975: 167). Ob dieser Gesetzbeschluss tatsächlich dem Ziel der Innenpolitik, die Native Americans zu assimilieren und zivilisieren, half, blieb eine ungeklärte Frage. War die Staatsbürgerschaft eine Belohnung für die Native Americans, wenn sie bewiesen hatten, dass sie willens und fähig waren, wie ›weiße‹ Amerikaner zu leben? Oder war die Staatsbürgerschaft viel eher ein notwendiges Mittel, das es den Native Americans erst ermöglichte, den Weg zur Zivilisation zu beschreiten?
Ende 1884 schließlich einigte man sich auf folgende Lösung, die es zu erreichen galt: Der Ausschuss der Beauftragten für indianische Angelegenheiten konstatierte: »The solution of the Indian problem is citizenship, and we believe that the time has come to declare by an act of Congress that every Indian born within the territorial limits of the U.S. is a citizen of the U.S. and subject to the jurisdiction thereof« (Report of the Board of Indian Commissioners 1884: 7ff., zitiert nach Prucha 1984: 685). Es sollten noch weitere drei Jahre vergehen, bis die Bedingungen und Grundlagen der Staatsbürgerschaft für die Native Americans per Gesetzbeschluss geklärt sein würden.
General Allotment Act von 1887 1887 verabschiedete die Regierung der Vereinigten Staaten den General Allotment Act (nach ihrem Förderer Henry L. Dawes von Massachussetts auch Dawes Act genannt) (Mardock 1971: 220ff.). Dieses Gesetz war für die Beziehung der ›Weißen‹ zu den Native Americans für die nächsten fünf Jahrzehnte richtungsweisend. Es regelte nicht nur die Auf- und Verteilung der Ländereien, die sich noch im kollektiven Besitz der einzelnen Stammesgesellschaften befanden, sondern auch die noch offenen Fragen bezüglich der Staatsbürgerschaft und der Anwendung der amerikanischen Jurisdiktion auf die von Native Americans begangenen Verbrechen (vgl. Hurtado/Iverson 2001: 349; Dudley 1998: 176; Hoxie 1996: 200f.). Es sah vor, dass die Native Americans nach ihrer Assimilierung den Schutz ihres Eigentums und ihre rechtliche Gleichstellung 63
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vor dem Gesetz durchsetzen konnten. Und in der Frage der Staatsbürgerschaft formulierte der Dawes Act einen Kompromiss: »[…] Every Indian born within the territorial limits of the United States to whom allotments shall have been made under the provisions of this act, or under any law or treaty, and every Indian born within the territorial limits of the United States who has voluntarily taken up, within said limits, his residence separate and apart from any tribe of Indians therein, and has adopted the habits of civilized life, is hereby declared to be a citizen of the United States, and is entitled to all the rights, privileges, and immunities of such citizens, whether said Indian has been or not, by birth or otherwise, a member of any tribe of Indians within the territorial limits of the United States without in any manner impairing or otherwise affecting the right of any such Indian to tribal or other property« (U.S. Statutes at Large, 24, 1887: 388-391, zitiert nach Prucha 1975: 174).
Die Reformer, die sich das Ziel gesetzt hatten, die Gültigkeit der amerikanischen Legislation den Natives Americans vollumfänglich zu garantieren, monierten zwar, dass die American Indians, die sich nicht von ihrer ursprünglichen Lebensweise trennen wollten, von dessen legalen Bestimmungen und damit von der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen waren. Doch für den Kongress waren die Argumente Dawes’ überzeugender (Prucha 1984: 680f.). Der wichtigste Teil des Dawes Act regelte die Auf- und Verteilung der Reservationsgebiete. 1887 war die Expansion gegen Westen, die Ära, in der unermessliche Ressourcen an freiem Land für die Neubesiedlung zur Verfügung standen, beendet. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kontinents war es nicht mehr möglich, die Native Americans auf Gebiete, welche die »Frontier«-Bewegung nicht beeinträchtigten, umzusiedeln (Hoxie 1996: 185f.). Übrig blieben die riesigen Reservate, die sich im Besitz der einzelnen indianischen Gruppen befanden. Das neue Gesetz, das eine Verteilung des von verschiedenen Stammesgesellschaften gemeinsam gebrauchten Landes in gesonderte Parzellen forderte, löste in den Augen der Regierenden das Dilemma. Gegen diese Regelung des Dawes Act gab es kaum kritische Stimmen. Die meisten Kongressmitglieder waren überzeugt, dass die Auf- und Verteilung der Reservationsgebiete die Native Americans zu individuellen Landbesitzern wandeln würde. Privatbesitz war aus der Sicht der Reformer eine unabdingbare und notwendige Voraussetzung für den Zivilisierungsprozess. Und vor allem würde die Landverteilung, so argumentierten sie, die Native Americans vor dem »onslaught of the whites« (Prucha 1984: 669), vor ihrer vollständigen Vernichtung schützen. Zweifel an den Beweggründen der Reformer gab es nur
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wenige. Nur einzelne Kongressmitglieder misstrauten der Argumentation, dass das Gesetz ein Mittel sei, »to help the Indian, or to solve the Indian problem, or to provide a method for getting out of our Indian trouble« (Dudley 1998: 181) und unterstellten als eigentliches Motiv, »[…] to get at the Indian lands and open them up to settlement. The provisions for the apparent benefit of the Indian are but the pretext to get at his lands and occupy them. With that accomplished, we have securely paved the way for the extermination of the Indian races upon this part of the continent. If this were done in the name of Greed, it would be bad enough; but to do it in the name of Humanity, and under the cloak of an ardent desire to promote the Indian’s welfare by making him like ourselves, whether he will or not, is infinitely worse. All of our attempts to encroach upon the Indian, this attempt to manufacture him into a white man by act of Congress and the grace of the Secretary of the Interior is the baldest, the boldest, and the most unjustifiable« (Dudley 1998: 182).
– Die Gegner des Dawes Act blieben deutlich in der Minderheit. Am 8. Februar 1887 signierte Präsident Grover Cleveland die Gesetzesvorlage, die die Aufteilung und die Eigentümerschaft der Reservationsgebiete neu regelte. Jedes Oberhaupt einer indianischen Familie erhielt für die nächsten 25 Jahre 160 Morgen Land zur Pacht. Andere Personen über und Waisenkinder unter 18 Jahren erhielten 80. 40 Morgen wurden allen anderen Personen zugeteilt, die unter 18 Jahren und vor dem Gesetzbeschluss geboren waren. Eignete sich das Land nur für die Viehzucht, fielen die Parzellen doppelt so groß aus. Nach Ablauf der Frist von 25 Jahren sollte das Land den Native Americans als freier Grundbesitz gehören. Die Landgebiete, die nach der Verteilung der Parzellen an die Native Americans übrig blieben, konnten an die westlichen Siedler, die das Land für Ackerbau und Viehzucht verwendeten, zu Parzellen von 160 Morgen verkauft werden. Den Preis legte der Innenminister zusammen mit den einzelnen Stammesgesellschaften fest; der Erlös aus diesen Landverkäufen, verwahrt zu treuen Händen in der Staatskasse der U.S.-Regierung, war ausschließlich für die Erziehung, Ausbildung und Zivilisierung der American Indians vorgesehen (vgl. Pricha 1984: 666ff.).14
14 Bis heute verwaltet das für Indianische Angelegenheiten zuständige Innenministerium diesen Treuhandfonds. 1996 formulierten amerikanische Indianer eine Sammelklage, in der sie vom Staat 137 Mrd. US$ forderten, die ihnen angeblich vertraglich zustehen. Dem Innenministerium werden »systematische Fehler« und die Vernichtung von Akten vorgeworfen. Bisher ha-
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Konsequenzen des General Allotment Act Mit dem Dawes Act führte die amerikanische Regierung eine Politik, die sie bereits mit dem 1862 beschlossenen Homestead Act begonnen hatte, auf nationaler Ebene weiter (vgl. Prucha 1984: 660; Hurtado/Iverson 2001: 312; Dudley 1998: 115). Einzige Ausnahme von diesem Beschluss waren die Ländereien der Five Civilized Tribes.15 Die Auf- und Verteilung der übrigen Reservationsgebiete erfolgte in einem außergewöhnlichen Tempo: 1881 befanden sich 155'632'312 Morgen im Besitze der Native Americans, 1890 104'314'349 und 1900 nur noch 77'865'373 Morgen, wovon einzelne als Farmer tätige Native Americans gerade noch 5'409'530 beanspruchten (vgl. Prucha 1984: 671). Die Regierung verfolgte den aus ihrer Sicht erfolgreichen Prozess der Landverteilung mit einiger Genugtuung, denn sie glaubte, dass sie ihre Betreuungsaufgabe in Kürze nicht länger wahrnehmen müsste. Nur die erhoffte Assimilierung der Native Americans verlief nicht so reibungslos, wie es sich die Reformer vorgestellt hatten. Landbesitz allein transformierte die American Indians nicht augenblicklich zu geschickten, erfolgreichen Farmern. Etliche waren schlicht unfähig, ihr Land zu bewirtschaften; die von der Regierung versprochenen Werkzeuge wurden nie geliefert; Wissen, wie man das Land zu bebauen hatte, fehlte. Viele hungerten. Die amerikanische Regierung erließ anlässlich dieser Misere am 28. Februar 1891 ein neues Gesetz, das den American Natives, die »by reason of age or other disability« (Prucha 1984: 672) außerstande waren, ihr Land zu
ben die Behörden das Verfahren erfolgreich blockiert (vgl. Brüggemann 2004: 15). 15 Die amerikanische Öffentlichkeit und die Regierung charakterisierten die einzelnen »Indian tribes« mit Kategorien wie »savage«, »barbaric«, »halfcivilized« (vgl. Coward 1999: 222; zur Herleitung dieser Kategorienbildung vgl. Kapitel »›Ancient Society‹ – theoretische Grundlage für das Bureau of Ethnology«). Der Dawes Act galt nicht für die »fünf zivilisierten Stämme« (Cherokee, Chickasaw, Choctaw, Creek, and Seminole) im Indian Territory. Allerdings erarbeitete in den 1890ern eine von Henry Dawes geleitete Kommission einen Plan, der die Aufteilung ihrer Gebiete und das Ende ihrer Herrschaft zum Zweck hatte. Delegierte der Cherokees protestierten zwar gegen dieses Vorhaben und hofften durch den Nachweis der Errungenschaften, die sie nach ihrer Zwangsumsiedlung in das Indian Territory erzielt hatten, Dawes Vorhaben zu verhindern, aber ohne Erfolg. 1907 löste sich ihr Traum einer unabhängigen Nation in Luft auf. Der neu gegründete Staat Oklahoma inkorporierte das ehemalige Indian Territory (vgl. Dudley 1998: 178; Hurtado/Iverson 2001: 348; Hoxie 1996: 192; Prucha 1984: 647, 669, 737ff., 745).
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kultivieren, ermöglichte, dieses an westliche Siedler zur Bearbeitung gegen Entgelt weiterzugeben. Die Klausel »by reason of age or other disability« wurde bereits nach zwei Jahren so lose interpretiert, dass die Anzahl der Verpachtungen der Länder stetig stieg. – Kaum mehr ein Native Indian begann ein Leben als Farmer.
Die Bilanz war ernüchternd: »The result of the General Allotment Act and the reforms it spawned was an increase in federal government control over every aspect of Indian life« (Dudley 1998: 20). Eine weitere im Dawes Act angelegte Schwierigkeit war die für die indianischen Gemeinschaften telquel übernommene Registrierung der Besitzverhältnisse und -vererbung nach anglo-amerikanischer Rechtsordnung. Dieses die Vererbungslinie der Besitzer eindeutig kennzeichnende System setzte voraus, dass alle Mitglieder einer Familie denselben Namen hatten. Dies traf auf die traditionellen Systeme der indianischen Personennamen in keiner Weise zu. Es kam zu etlichen Konfusionen und Missverständnissen, als sich die Mitglieder derselben Familie mit unterschiedlichen Namen für den ihnen zugeteilten Landbesitz bewarben. Aus diesem Grunde wurde am 19. März 1890 an alle in Reservaten arbeitenden Beauftragten der amerikanischen Regierung ein Rundschreiben mit folgendem Inhalt versandt: »When the Indians become citizens of the United States, under the allotment act, the inheritance of property will be governed by the laws of the respective States, and it will cause needless confusion and, doubtless, considerable ultimate loss to the Indians if no attempt is made to have the different members of the family known by the same family name on the records and by general reputation. Among other customs of the white people it is becoming important that the Indians adopt that in regard to names« (Prucha 1984: 673f.).
John Wesley Powell unterstützte den Plan. Denn die Umbenennung sei, so der Direktor des Bureau of Ethnology, für die reguläre Vererbung des Landbesitzes und die akkurate unter einzelnen indianischen Stammesgesellschaften durchgeführte Volkszählung unabdingbar. Zudem dürfe der Wert der Neubenennungen für die schon mit dem Dawes Act verfolgte und initiierte Auflösung der Stammesorganisation, »which was perpetuated and ever kept in mind by the Indian’s own system of names« nicht unterschätzt werden. Powell gab denn auch gleich Anleitungen zur Frage, welche neuen Namen für die Native Americans in Frage kämen: »In selecting aboriginal names, I do not think it will be necessary to limit the choice to such names as Indians already bear. Excellent names may frequently be selected from the Indian’s vocabulary of geographic terms, such as the
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names of rivers, lakes, mountains, etc. and where these are suitable and euphonic, I think they may be substituted for personal names which are less desirable« (Powell zitiert nach Prucha 1984: 674).
Das Projekt der Neubenennungen der Native Americans verlief nur langsam. – Wie schon die Landverteilung war dieses Programm ein weiterer paternalistischer Versuch, die Native Americans so schnell als möglich in die eigene als absolut gesetzte amerikanische Gesellschaft zu integrieren; alle ihr fremden Kulturgüter waren aus dieser Sicht von zu geringem Wert und wurden zur Ausmerzung frei gegeben. Die Geschichte der Beziehung zwischen der amerikanischen Regierung und den Native Americans zwischen 1860 und 1887, das Jahr in dem der Dawes Act verabschiedet wurde, sehen die Verfasser des Klassikers »The Growth of the American Republic« zu Recht als: »[…] a melancholy tale of intermittent and barbarous warfare, broken pacts and broken promises, greed and selfishness, corruption and maladministration, of alternating aggression and vacillation on the part of the whites, of courageous defense, despair, blind savagery, and inevitable defeat for the Indians« (Morison et al. 1969 [1930]: 5f.).
Erziehungs- und Bildungsprogramme zur Förderung der Integration Das Ziel der Assimilierung war auch mit dem Dawes Act noch lange nicht erreicht. Den Native Americans fehlte die »richtige« Erziehung: »The Indian must have a knowledge of the English language, that he may associate with his white neighbors and transact business as they do. He must have practical industrial training to fit him to compete with others in the struggle of life. He must have a Christian education to enable him to perform the duties of the family, the State, and the Church« (Prucha 1975: 164).
Der Beschluss der 1884 stattfindenden Lake Mohonk Tagung lautete denn auch: »Education is essential to civilization«. – Die Lake Mohonk Tagung war keine öffentliche institutionelle Einrichtung, sondern eine lose Verbindung von vorwiegend christlichen Indian Commissioners, die alljährlich in einem Ressorthotel in der Nähe von New Paltz, New York, zusammenkamen. Die Konferenz vereinte Männer und Frauen, die sich für indianische Angelegenheiten interessierten und einsetzten. Sie diskutierten Reformen, hörten Vorträge, formulierten Resolutionen, die der Öffentlichkeit unterbreitet und für das Lobbying im Kongress 68
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eingesetzt werden konnten. Das Papier, das von den Teilnehmenden dieser Lake Mohonk Tagung formuliert worden war, bildete die Grundlage für die amerikanische Erziehungspolitik für die nächsten Jahrzehnte.16 Zur Umsetzung des ehrgeizigen Bildungsprogramms forderten die Regierungsbeamten ein allgemeines Schulsystem, das ihren indianischen »Mündeln« in gleicher Weise wie den eigenen Kindern eine fundierte Ausbildung ermöglichte. Konkret hieß dies, dass die indianischen Jungen in Ackerbau unterrichtet wurden; die Mädchen lernten, einen amerikanischen Haushalt zu führen. Das wohl berühmteste Beispiel für diese neue Schulpolitik war die Indian Industrial School in Carlisle, Pennsylvania, der eigentliche Prototyp ähnlicher in den folgenden Jahrzehnten errichteten Schulinstitutionen, der so genannten Boarding Schools. Leiter der Schule war ein junger beflissener Armeeoffizier, Richard Henry Pratt. Seine Ansichten waren simpel: »Left in the surroundings of savagery, he [the Indian, Anm. J. H.] grows to possess a savage language, superstition, and life. We, left in the surroundings of civilization, grow to possess a civilized language, life, and purpose. […] Transfer the savage-born infant to the surroundings of civilization, and he will grow to possess a civilized language and habit« (Dudley 1998: 187).
Zwischen 1880 und 1895 institutionalisierte das U.S. Office of Indian Affairs insgesamt zwanzig Boarding Schools, die sich außerhalb der Reservate befanden, und erweiterte die bereits in den Reservaten vorhandenen Tagesschulen. Während dieser Periode erhöhten sich die staatlichen Ausgaben für die Ausbildung der Indianer von US$ 75'000 auf über US$ 2 Millionen (vgl. Hoxie 1996: 199). Der kulturelle Imperialismus der Reformer zeigte sich neben der Vermittlung ›weißer, zivilisierter‹ Lebensweisen auch in der Wahl der Unterrichtssprache: Nur Englisch war gestattet. Sich in der Muttersprache zu unterhalten, blieb verboten. Carl Schurz, Sekretär des Innenministeriums, begründete dies mit den Worten: »If Indian children are to be civilized they must learn the language of civilization. They will become fare more accessible to civilized ideas and ways of thinking when they are enabled to receive those ideas and ways of thinking through the most direct channel of expression« (Schurz zitiert nach Prucha 1984: 690). 16 Die Vorstellung, die Native Americans zu erziehen, um ihnen die Integration in die amerikanische Gesellschaft zu gewährleisten, war schon damals nicht neu. Sie ist so alt wie die Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents. Die Missionare verknüpften Christianisierung und Erziehung zur zivilisierten Lebensweise untrennbar miteinander.
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Anstrengungen, die Grammatiken der American Indian languages aufzuzeichnen, beurteilte Schurz als »certainly very interesting and meritorious philological work«. Doch für die schnelle Assimilierung der Native Americans war diese philologische Arbeit nicht von Bedeutung (vgl. Hagan 1988: 58). J. D. C. Atkins, Beauftragter für indianische Angelegenheiten von 1885 bis 1888 unterstützte Schurz. Auch er hegte keinerlei Bedenken, die »barbarischen« Sprachen völlig verschwinden zu lassen. »The first step to be taken toward civilization, toward teaching the Indians the mischief and folly of continuing in their barbarous practices, is to teach them the English language« (Atkins zitiert nach Prucha 1984: 690). Atkins Nachfolger, Thomas Jefferson Morgan, Beauftragter von 1889 bis 1893, unternahm schließlich den Versuch, ein umfassendes Ausbildungssystem für die Native Americans einzurichten. Morgan war professioneller Erzieher und vertrat vorbehaltlos die damals die amerikanische Gesellschaft dominierenden Leitgedanken. Sein enthusiastischer Amerikanismus, sein nicht zu erschütternder Glaube an das öffentliche Schulsystem, sein Protestantismus und sein tiefer Humanismus waren Ausdruck des amerikanischen Zeitgeistes. Morgan war absolut überzeugt, dass die Erziehung ein unentbehrliches Instrument für die Assimilierung der Native Americans war. An der Lake Mohonk Konferenz von 1889 formulierte er sein Credo folgendermaßen: »When we speak of the education of the Indians, we mean that comprehensive system of training and instruction which will convert them into American citizens, put within their reach the blessings which the rest of us enjoy, and enable them to compete successfully with the white man on his own ground and with his own methods. Education is to be the medium through which the rising generation of Indians are to be brought into fraternal and harmonious relationship with their white fellow-citizens, and with them enjoy the sweets of refined homes, the delight of social intercourse, the emoluments of commerce and trade, the advantages of travel, together with the pleasures that come from literature, science, and philosophy, and the solace and stimulus afforded by a true religion« (zitiert nach Prucha 1984: 703).
Um seine Bildungspolitik zu verwirklichen, forderte Morgan ein einheitliches Schulsystem, das den öffentlichen ›weißen‹ Schulen entsprach. Er schlug vor, die großen nationalen Schulen wie die Carlisle School, die zahlreichen Schulen in den Reservaten und die Boarding Schools miteinander zu verbinden. Um die Lebensweise der ›weißen‹ Amerikaner auch wirklich adaptieren zu können, müssen, so Morgan, die Native Americans zusätzlich handwerklich ausgebildet werden, 70
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»[that would] fit the Indian to earn an honest living« (Morgan zitiert nach Shoemaker 2001: 238; vgl. auch Hagan 1988: 61). Morgan forderte gleiches Unterrichtsmaterial, gleiche Unterrichtsmethoden und gleiche Unterrichtssprache für alle Kinder der Nation: »The Indian youth should be instructed in their rights, privileges, and duties as American citizens; should be taught to love the American flag; should be imbued with a genuine patriotism, and made to feel that the United States, and not some paltry reservation, is their home« (Morgan zitiert nach Shoemaker 2001: 238). Morgan musste nur nach wenigen Jahren einsehen, dass seine euphorische Überzeugung und seine Arbeit nicht den gewünschten Erfolg garantierten. Die neu begründeten Schulen verwirklichten in keiner Weise die Absichten Morgans. So führte die Konzentration auf die handwerkliche Ausbildung dazu, dass die Studenten im Vergleich zu ihren ›weißen‹ Kameraden in öffentlichen Grundschulen nur sehr langsam in den Hauptfächern wie Lesen, Schreiben und Rechnen vorankamen. Zudem bildete die Altersstreuung in den Klassen eine große Herausforderung für die Lehrer, von denen nur wenige adäquat für diese Aufgabe ausgebildet worden waren. Außerdem befanden sich die neu errichteten Schulgebäude oft in einem mangelhaften Zustand. In den Kreisen der Native Americans formierte sich ein nicht zu unterschätzender Widerstand gegen das staatliche Schulsystem. Eltern, die ihre Kinder nicht in die meist außerhalb der Reservationsgebiete liegenden Schulen schicken wollten, und Führerfiguren, die sich vor der ›weißen‹ Aufklärung fürchteten, stellten sich gegen die neuen Einrichtungen. Die Ziele der ehrgeizigen Reformer blieben unerreicht. Doch der Widerstand gegen das radikale Assimilierungs- und Erziehungsprogramm kümmerte die Regierungsbeauftragten wenig. Sie zweifelten in keiner Weise an der Richtigkeit ihres »humanitären Zieles«. Dieses galt es zu erreichen, wenn nötig mit Gewalt: »In cases where parents, without good reason, refuse to educate their children, we believe that the government is justified, as last resort, in using power to compel attendance. We do not think it desirable to rear another generation of savages« (Prucha 1984: 708).
Ausblick in das beginnende 20. Jahrhundert Von 1887 bis zum Jahr 1934, in dem der Indian Reorganization Act umgesetzt wurde, hielt die U.S.-Regierung an ihrer Assimilierungspolitik fest. Erst Ende der 1920er Jahre war der Misserfolg des Programms so offenkundig, dass Reformbestrebungen einen radikalen Politikwechsel forderten. 71
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1934 stand fest, dass sich die Native Americans trotz der AllotmentPolitik und den damit verbundenen Programmen nicht zu sich selbst versorgenden und eigenverantwortlichen Bauern gewandelt hatten. Das Gegenteil war der Fall: Die meisten lebten in großer Armut, ohne Arbeit, ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft.17 Die Hoffnung der Regierung, nicht länger für ihre »Mündel« aufkommen zu müssen, hat sich als unrealistisch herausgestellt: Die Reservationspolitik hatte riesige Mittel verschlungen (vgl. Prucha 1984: 717). Ebenso erwies sich die auf die »Zivilisierung« der Native Americans ausgerichtete Schulpolitik als Fass ohne Boden. Zwar fand die von Thomas J. Morgan initiierte Bildungsreform eine Fortsetzung. 1900 gab es bereits 25 Indian Industrial Schools mit 7'430 immatrikulierten Studierenden außerhalb der Reservationen. Doch die neuen Anstalten kämpften mit zahlreichen Problemen: Die Native Americans, von der Relevanz der von den ›Weißen‹ initiierten Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen nicht überzeugt, widersetzten sich der Schulpflicht. Die Regierung forderte eine effektive Auslastung aller Internate und industriellen Schulen. Der Druck »to collect students« – um eine damalige Redensart zu verwenden –, das heißt, die Schulen mit geeigneten Studierenden zu füllen, vergrößerte sich. Kinder wurden regelrecht entführt und ohne Einverständnis ihrer Eltern in die Lehranstalten gesteckt. Missbräuche und Misshandlungen durch Lehrpersonen und Reservatsinspektoren waren an der Tagesordnung. Des Weiteren stand binnen kurzem fest, dass die Schüler nach Abschluss ihrer Schulpflicht sich nicht für die ›weiße Lebensführung‹ entschieden, sondern zu ihren Gemeinschaften zurückkehrten (vgl. Prucha 1984: 815). Eine weitere Schwierigkeit bestand in den rasch steigenden Gesundheitskosten. Die Erziehung zur Selbstverantwortung, oberstes Ziel des Lehrprogramms, war eng mit dem Wohlergehen der Schülerinnen und Schüler verknüpft. Doch je mehr Schüler sich in den Schulen einschrieben, wo sie beobachtet, erzogen und geprüft wurden, desto mehr steckten sich mit schweren Krankheiten an. Die Schüler lebten unter miserablen Bedingungen: ohne ausreichende Ernährung, ohne sanitäre Anlagen, ohne funktionierende Belüftungen und auf viel zu engem Raum. Krankheiten wie Tuberkulose und Trachoma (Bindehautentzündung, die zur Blindheit führen kann) verbreiteten sich in Windeseile. Die Sterb-
17 1930 schätzten Regierungsbeamte den Landverlust der Native Americans in der Folge des Dawes Act auf über 36.4 Millionen Hektaren (vgl. Hoxie 1996: 201 & 215).
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lichkeitsrate der Kinder war hoch. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann sich das Indian Office um diese Missstände zu kümmern: »As the 20th century advanced, the Indian Office devoted increasing attention to the problems of health, until that topic became one of the major areas of the federal government’s paternalistic activity in regard to its Indian wards. It was unfortunately the case, however, that both the realization of the magnitude of the problem and the programs adopted to combat it came much too slowly. Despite two decades and more of effort on the part of the Indian Office, and other segments of the federal government and the American public, the picture at the need of the 1920s was still a dismal one. It was a classical example of ›too little and too late‹« (Prucha 1984: 841).
Neue Spitäler wurden gebaut, sanitäre Anlagen eingerichtet und die kranken Kinder von den gesunden getrennt in den Schlafräumen untergebracht. Dennoch verbesserte sich die Gesundheitsversorgung der Native Americans nur langsam. Nie konnte sie mit den medizinischen Fortschritten, die in der ›weißen, zivilisierten Gesellschaft‹ gemacht worden waren, Schritt halten (vgl. Prucha 1984: 863). Die Assimilierungspolitik, die eine Individualisierung, Selbstverantwortung, Unabhängigkeit der Native Americans und deren Integration in die amerikanische Gesellschaft anstrebte, führte letztlich zu einer zunehmenden Abhängigkeit und Resignation der Native Americans. Ein paradoxes Resultat! Eine gewisse Rolle spielte dabei auch die Tatsache, dass die christlich inspirierte Reformbewegung an Bedeutung verlor. Die Reformer waren nicht länger fähig, die Politik legislativ zu kontrollieren und zu steuern. So erfuhr der Dawes Act 1906 durch eine neue Gesetzesvorlage eine die Staatsbürgerschaft betreffende Einschränkung: Mit dem so genannten Burke Act schob die Regierung den Zeitpunkt einer möglichen Staatsbürgerschaft hinaus. Auch wenn Native Americans nachweisen konnten, dass sie die Lebensführung der ›Weißen‹ übernommen hatten, erhielten sie die Staatsbürgerschaft erst nach Ablauf einer 25 Jahre dauernden trust period – eine Umkehrung oder zumindest Verzögerung des individualisierenden Amerikanisierungsprozesses, den der Dawes Act noch impliziert hatte (vgl. Sonneborn 2001: 239). Erst 1924 erhielten alle in den Vereinigten Staaten geborenen Native Americans die Staatsbürgerschaft,18 ohne dass sie die Beziehungen zur 18 »In 1924 Congress ended its policy of giving conditional citizenship to Indians by enacting legislation that granted automatic citizenship to all Native Americans. This did not automatically end their status as wards of the fede-
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eigenen Stammesgesellschaft abbrechen mussten (Sonneborn 2001: 257). Tatsächlich waren es die 1920er Jahre, die das politische Klima grundlegend veränderten. Immer mehr Stimmen machten sich für die Wahrung der indianischen Kulturen, ihrer Lebensweise, Gebräuche und religiösen Riten stark. Die Beauftragten des Indian Office hatten sich scharfer Kritik zu stellen. Ende der 1920 war klar, »[…] that the individualization of the Indians – through allotment and related programs – had not turned the Indians into self-supporting, self-reliant farmers, that the program of education and health care administered by the federal government with increasing expense had not kept pace with those services for the white population, and that those Indians who had been freed from government guardianship hat not risen to prosperity but had fallen instead into poverty and degradation. The policy that had sought to promote individualism, self-support, independence, and hope for the Indians had instead increased government paternalism and Indian dependency and despair« (Prucha 1984: 671f.).
Erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts veränderten sich die Beziehungen zwischen den Native Americans und der amerikanischen Regierung grundsätzlich (vgl. Prucha 1984: 790). Doch bis dahin hielt sie an ihrer Akkulturationspolitik fest. Die Native Americans waren in ihren Augen zu »zivilisieren« und in die amerikanische Lebensweise zu integrieren. In diesem Kontext begann die Professionalisierung der linguistischen Anthropologie.
Bureau of Ethnology 1879 gründete John Wesley Powell (1834-1902), Verfasser der »Introduction to the Study of Indian Languages with Words, Phrases and Sentences to be Collected«, im Auftrag der Regierung das Bureau of Ethnology.19 Er erhielt als Startkapital US$ 20'000 »for completing and ral government, however. […] Even after 1924, the federal government still continued to govern most aspects of life on Indian reservations and to hold their land in trust« (Dudley 1998: 21). 19 John Wesley Powell wurde 1834 im Hinterland New Yorks als Sohn eines methodistischen Predigers geboren. Powells Ausbildung war in keiner Weise gradlinig. Er besuchte kurz das Oberlin College in Ohio und das Wheaton College in Illinois, machte aber nie seinen Abschluss. Zu Beginn des Bürgerkriegs trat er der Armee bei. Er diente in der »20th Illinois Volunteer Infantry«, ein Einsatz, der ihm seinen rechten Vorderarm kostete. Im
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preparing for publication the Contributions to North American Ethnology«.20 Das Büro war der Smithsonian Institution angegliedert, einer Institution, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen entscheidenden Einfluss auf das amerikanische Wissenschaftsverständnis ausübte. Gegründet wurde sie 1846 mit dem Ziel »of stimulating the talent of country to original research – in which it has been most lamentably dificient [sic] – to pour fresh material in the apex of the pyramid of science, and thus to enlarge its base […]« (Hinsley 1994 [1981]: 34). Sie etablierte das Bild des Wissenschaftlers als »gentleman scholar«: »Being a scientist in America was still as much a matter of character and integrity as one of specific academic or laboratory training« (Hinsley 1994 [1981]: 35). – Powell passte in dieses Bild. Der Gesetzesbeschluss zur Gründung des Bureau of Ethnology vom 3. März 1879 kann als Ausdruck der Konsolidierung der von der Regierung verfolgten Reservationspolitik gelesen werden.21 Das Institut übernahm und unterstützte die Ende der 1870er Jahre allgegenwärtige Vorstellung, dass ein Überleben der Native Americans – nunmehr Objekt der amerikanischen Innenpolitik22 – nur möglich war, wenn sie den Weg zur Zivilisation in den für sie vorgesehenen Reservationen beschritten (vgl. Hinsley 1994 [1981]: 146): »Nothing then remains but to remove Januar 1865 dankte er im Rang eines Majors ab. Die Zeit nach dem Bürgerkrieg und vor der Gründung seines Instituts nutzte er für zahlreiche Expeditionen gegen Westen, in denen er direkten Kontakt mit den Native Americans hatte – ein Kontakt, der seine zukünftige Arbeit im Bureau of Ethnology entscheidend mitbestimmte. Er hatte für kurze Zeit einen Lehrstuhl für Geologie an der Illinois State Normal University inne und arbeitete für die Regierung. Zu seiner Biographie vgl. Fowler/Fowler (1971: 2ff.); Wolfart (1967: 160); Darrah (1968) sowie Stegner (1954). 20 Der Originalname war 1879 Bureau of Ethnology; der Zusatz »American« kam erst 1894 hinzu (vgl. Hinsley 1994 [1981]: 182). Zur Position Powells im Bureau of Ethnology vgl. Darrah (1968: 255-284) und Vincent (1990: 39ff.). 21 – letztlich eine konsequente Weiterführung der U.S. Geographical and Geological Surveys, die die finanzielle Unterstützung des Innenministeriums genossen (vgl. Darnell 1998: 40). Zur Geschichte der U.S. Geographical and Geological Surveys vgl. Stegner (1954). Powell fungierte ab 1881 bis 1894 als Präsident des U.S. Geological Survey (vgl. Manning 1967: 69 & 214; Stocking 1976: 65ff.). 22 Diese Verschiebung widerspiegelt sich auch im Verantwortungsbereich der zuständigen Regierungsdepartemente. Anfangs der 1860er Jahre war noch das Kriegsministerium für die »indianischen Angelegenheiten« zuständig; in den folgenden Jahren übernahm das Innenministerium diese Aufgabe (vgl. Hinsley 1994 [1981]: 146; Hinsley 1979: 19).
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them from the country, or let them stay in their present condition, to be finally extinguished by want, loathsome disease, and the dissent consequent upon incessant conflict with white men«, schrieb Powell (zitiert nach Fowler/Fowler 1971: 99), der zukünftige Leiter des Instituts, 1873. Für die Durchführung einer effizienten und nachhaltigen Umsiedlungs- und Assimilierungspolitik fehlte aber das notwendige wissenschaftliche Fundament, das nach Powells Ansicht nur auf der Grundlage von anthropologischen Forschungen erarbeitet werden konnte (vgl. Darnell 1971c: 89; Darnell 1998: 36f.; Hinsley 1994 [1981]: 19 & 151). Powells Forderung fand große Resonanz: In der Zeit nach dem Bürgerkrieg, in der etliche neue staatliche Forschungsinstitutionen entstanden, die für die Regierung praxis- beziehungsweise handlungsrelevante Informationen aufzubereiten hatten, begann sich das Vertrauen in die Resultate wissenschaftlicher Forschung zu festigen.23 Gefordert waren empirische Untersuchungen über die Lebensweise der Native Americans, ihre Sprachen und über ihre Gebräuche, um neue theoretische Erkenntnisse zu ihrer Lebensweise und evolutiven Entwicklung zu generieren, damit die geplante Regierungspolitik so schnell wie möglich umgesetzt werden konnte: »If we are to conduct our Indian affairs wisely and induct our barbarous tribes into the ways and institutions of civilization that the red man may become completely under our government and share in its benefits, the first step to be taken is to acquire a knowledge of the Indian tribal governments, religion, and sociology and industrial organizations« (Powell zitiert nach Darnell 1998: 37).
Powell erwies sich in den Augen der Regierung als der geeignete Mann für diese Aufgabe. Als ehemaliger Major im Bürgerkrieg (vgl. Darnell 1971c: 92), als vormaliger in Naturwissenschaft ausgebildeter Professor der Geologie an der Illinois State Normal University (vgl. Dupree 1957: 199; Darnell 1998: 12; Vincent 1990: 40f.), als Entdecker und Vermesser von noch unbekannten Gebieten im Westen im Auftrag der Regierung (Grand Canyon in Colorado und die Rocky Mountains (vgl. Stegner 1954; Dupree 1957: 199-214; sowie Darrah 1969: Kapitel 8.-11; Darnell 1998: 28)) und als Special Commissioner of Indian Affairs, als der er 1873 die Lebensbedingungen der Numic-Völker im Great BasinTerritorium (vgl. Patterson 2001: 37; Hinsley 1979: 18) untersucht hatte,
23 »The period was one of […] optimism toward the results of science« (Darnell 1971c: 89).
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genoss er das Vertrauen der amerikanischen Regierung voll und ganz (vgl. Hinsley 1994 [1981]: 147; Stegner 1954: 255; Darnell 1998: 36f.). Die Schaffung des Instituts erschien nicht nur der Regierung von großem Nutzen; für Powell selbst war die Gründung die Kulmination seiner wissenschaftlichen und politischen Laufbahn. Bereits in den 1870er Jahren, nach seinen ethnographischen Erfahrungen bei den Numic Peoples, betonte er die Notwendigkeit einer der anthropologischen Forschung dienenden Organisation, die es der Regierung ermöglichen würde, ihre politischen Entscheidungen in indianischen Angelegenheiten auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu fällen: »In pursuing these ethnographic investigations it has been the endeavor as far as possible to produce results that would be of practical value in the administration of Indian affairs, and for those purpose especial attention has been paid to vital statistics, to the discovery of linguistic affinities, the progress made by the Indians toward civilization, and the causes and remedies for the inevitable conflict that arises from the spread of civilization over a region previously inhabited by savages. I may be allowed to express the hope that our labors in this direction will not be void of such useful results« (Annual Report of the Geographical and Geological Survey of the Rocky Mountain Region for 1877, zitiert nach Powell 1881: XIV).
Die Gründung des Büros und dessen Vernetzung im zeitgenössischen Institutionen-Geflecht kann, wie noch zu zeigen sein wird, als Beginn der linguistischen Anthropologie, oder, um Latours Vokabular zu verwenden, als Beginn der Entwicklung einer raum-zeitlichen Hülle »linguistische Anthropologie« interpretiert werden. John Wesley Powell verstand es nicht nur, wie ausgeführt, die Regierungsinteressen glaubhaft als die eigenen darzustellen und so die notwendigen finanziellen Mittel zu beschaffen; ihm gelang es auch, die »New Ethnology«,24 wie er sein wissenschaftliches Projekt nannte, und – in Abhängigkeit davon – die (linguistische) Anthropologie zu professionalisieren. Bevor auf seine theoretischen Konzepte, die er in seinem Institut als Forschungsgrundlage einzubinden vermochte und die Basis seiner linguistischen Sichtweise bildeten, genauer eingegangen wird, sind einige grundsätzliche Überlegungen zum Begriff der »Professionalisierung« anzustellen,
24 Die Begriffe »Anthropology« und »Ethnology« wurden in dieser Zeit gleichwertig verwendet. Erst mit der Begründung der Boasschen Anthropologie wird die Ethnologie als Kulturethnologie Teilbereich der Anthropologie (vgl. »Boas’ studium generale an der Columbia University in New York«).
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um zu rechtfertigen, weshalb ich die Organisationsgründung als Anfang der linguistischen Anthropologie betrachte.
Kurzer Exkurs zur Professionalisierung der (linguistischen) Anthropologie In der heutigen Wissenschaftsgeschichtsschreibung steht die Gründung des Bureau of Ethnology für den Beginn der Professionalisierung der amerikanischen (linguistischen) Anthropologie:25 Die Anthropologin Regna Darnell betrachtet die Professionalisierung der Disziplin als »a series of complex and interrelated changes across American science« (1998: 11). »The watershed year for the professionalization of American Anthropology« (1998: 29) ist für sie 1879, das Jahr, in dem das Bureau of Ethnology gegründet wurde. Sie skizziert ausgehend von diesem Ereignis eine kontinuierliche Entwicklung hin zur Etablierung des von Franz Boas und seinen Studierenden begründeten Denkstils am Ende des 1. Weltkrieges: »American Science, particularly during the 80s, was becoming more professional. […] The Bureau […] constitutes the baseline for both theoretical and institutional developments in American anthropology« (Darnell 1998: 17f.). Thomas C. Patterson (2001), der in seinem Werk »A Social History of Anthropology in the United States« die Professionalisierung der Anthropologie im Kontext der Diskriminierung von Menschen mit dunklerer Hautfarbe, fremder Nationalität, einfacher sozialer Herkunft und weiblichem Geschlecht beschreibt, setzt den Beginn dieses Professionalisierungsprozesses ebenfalls auf 1879, den Abschluss aber erst gegen Ende der 1920er Jahre; die Differenz leitet sich daraus ab, dass Patterson die Entwicklung der physical anthropology, des anthropologischen
25 In der Forschungsliteratur wird die amerikanische Anthropologie von der britischen abgegrenzt. Beide sind heute eigenständige Disziplinen mit unterschiedlichen Entstehungsgeschichten: Die britische Anthropologie versteht sich nicht als Teil einer generellen Anthropologie, sondern vielmehr der Soziologie. Die amerikanische Anthropologie im Gegenzug versteht sich als »non sociological science of man« (Watson 1984: 353). Justin Stagl (1981: 32-37) spricht sogar von einem amerikanischen Sonderfall. Ich möchte in dieser Darstellung der Entwicklung der linguistischen Anthropologie nicht vorgreifen und ex-post-Disziplinklassifikationen vornehmen, sondern wie im Kapitel »Analytische Präliminarien« ausgeführt, den Forschenden folgen und ihre eigenen Selbstbeschreibungen und -konstruktionen miteinbeziehen.
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Fachgebietes, das sich mit Körpervermessungen befasst, stärker berücksichtigt.26 Stephen O. Murray anerkennt in seiner von Thomas S. Kuhn beeinflussten und auf der Grundlage der von Belver C. Griffith und Nicholas C. Mullins konzipierten Organisationslehre weiterentwickelten Sozialgeschichte »Theory Groups and the Study of Language in North America« zwar Powells Institut als »Small Research Center« (Murray 1993: 39) an. Auch wertet er die am Institut durchgeführten Arbeiten als »Early Work in American Languages«. Nur setzt er den Beginn der Professionalisierung mit der Konstitutierung der Gruppe um Boas’ Mitte der 1890er Jahre an (vgl. Murray 1993: 47ff. & 62). Julie Tetel Andersen (1990), um die Reihe der wichtigsten neueren historischen Arbeiten zur Gründung der (linguistischen) Anthropologie abzuschließen, legt in ihrer »critical history« of »Linguistics in America, 1769-1924«, in der sie die Entwicklung der »English studies«, der »American Indian studies« und schließlich der »linguistic science« als drei verschiedene »Arcs of Development« nachzuzeichnen versucht, den Beginn der Institutionalisierung der linguistischen Anthropologie wiederum auf das Gründungsjahr des Bureau of Ethnology. Je nach theoretischem Konzept der Professionalisierung, die Darnell meines Erachtens zu Recht als komplexen, aus verschiedenen Elementen bestehenden Prozess beschreibt, fungiert das Institut als Nukleus oder zumindest, um mit Murray zu sprechen, als »präparadigmatischer« (Kuhn 1970 [1962]: 190) Vorläufer der Disziplin. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich mit dem modernen Konzept der »Professionalisierung« die zeitgenössischen Handlungszusammenhänge überhaupt adäquat erfassen lassen. Der aus heutiger Sicht evidente Professionalisierungsprozess muss für die damaligen Akteure keineswegs eine handlungsleitende Funktion gehabt haben. Eventuell war »Professionalisierung« damals schlicht kein Thema. Und was taugt das Konzept der »Professionalisierung« als Beschreibungskategorie, wenn »Professionalisierung« keine Handlungsdimension der damaligen Akteure war? Der Historiker Curtis M. Hinsley kritisiert denn auch in seinem Werk »The Smithsonian and the American Indian«:
26 Dies verweist auf das Problem, dass »disciplinary categories […] are seldom precise classifications; it is that they are essentially amorphous, flexible, and inherently prone to manipulation in the course of social transactions« (Watson 1984: 356).
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»[i]n order to address the issue of the Bureau’s status in the professionalization of anthropology the question must be rephrased so as to place the institution in historical context: in what way did the BAE mark the culmination of certain trends in nineteenth-century science, including anthropology? On the other hand, in what ways did Powell’s organization, by intention or otherwise, foster patterns of research, communication, personal identity, or institutional growth that are recognizably ›professional‹ in a modern sense? The final judgment here is that Powell’s organization was root-and-branch a nineteenth-century institution – the product of conditions and assumptions of another age – and that to view it as an early form or precursors of modern professional social science ignores Powell’s deeply held commitment to the contrary. Powell never intended to ›professionalize‹ anthropology, though he did hope to organize and systematize research« (Hinsley 1994 [1981]: 152).
Ich arbeite in dieser Geschichte der Entstehung und Entwicklung der linguistischen Anthropologie mit einem Konzept, das sich an dem von Bruno Latour beschriebenen zirkulären System wissenschaftlicher Fakten orientiert und meines Erachtens auch vor unbedachten Zuschreibungen bewahrt. Latour entwirft ein allgemeines Konzept, das es der Wissenschaftsforschung ermöglicht, bereits bestehende Disziplinen in ihrer Arbeitsweise zu beschreiben und zu fassen. Will man die Metapher des »zirkulären Systems« als Grundlage für die Beschreibung eines Professionalisierungsprozesses verwenden, ließe sich eine neue Kategorie in dieses System einführen, die ich als Verdichtung beschreiben möchte. Von einer »Professionalisierung« einer Disziplin kann dementsprechend nur dann die Rede sein, wenn sich beobachten lässt, dass sich die von Latour beschriebenen Kreisläufe im Umfeld eines noch diffusen wissenschaftlichen Feldes zu etablieren beginnen und schließlich verdichten. Das Bureau of Ethnology ist aus meiner Sicht der erste Ort, an dem die von Latour beschriebenen Kreisläufe entstehen, sich verdichten und so einer Disziplinenbildung Vorschub leisten. Das Institut schaffte geeignete Instrumente, wie zum Beispiel die von Powell herausgegebene »Introduction to the Study of Indian Languages«, die es den angestellten Mitarbeitern ermöglichten, linguistische Daten zu sammeln – zu »mobilisieren« –, und sie in einem zweiten Schritt zu klassifizieren und zu synthetisieren, kurz: um sie in den sich ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Diskurs einzubinden. Powell überzeugte die Regierung und die Öffentlichkeit von der Wichtigkeit seiner Arbeit und sicherte so die nötigen finanziellen Ressourcen für die wissenschaftlichen Feldforschungen. Zudem begründete Powell die Anthropological Society of Washington, die die neuen wissenschaftlichen Ergebnisse einer kritischen Reflexion unterzog und sie in einem eigenen Publikationsorgan, dem »American Anthropologist«, veröffentlichte. Insgesamt verstand es 80
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Powell hervorragend, an die unterschiedlichsten Aktanten anzuschließen und diese zu vernetzen. Das zentrale inhaltliche Konzept (der »Knoten«), das die Grundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung in den Human- und Biowissenschaften des 19. Jahrhunderts bildete, war die ›große Erzählung der Evolution‹ (vgl. »›From the savage into civilized man‹ – Verfestigung eines wissenschaftlichen Musters im Bureau of Ethnology«). Powell bezog in diesem Diskurs eine eigenständige Position und grenzte sich wohlbedacht gegen die Darwinsche und vor allem Spencersche Evolutionstheorie ab. Für Powell war es unhaltbar, eine Theorie zu reproduzieren, die Menschen einer nicht näher zu identifizierenden »force« auslieferte. In seinen Augen entschieden die Menschen über ihr eigenes Schicksal, das heißt über ihre eigene Geschichte (vgl. »›The Survival of the Fittest‹ – Herbert Spencer im nordamerikanischen Kontext«). Powell orientierte sich deshalb am Ansatz seines Zeitgenossen Henry Lewis Morgan (vgl. »›Ancient Society‹ – theoretische Grundlage für das Bureau of Ethnology«), der im Gegensatz zu Spencer eine kontinuierliche, aktive Entwicklung der Menschheit postulierte und sie nicht zu einer gefährlichen Passivität verdammte. Der »human mind«, der menschliche Geist war für Powell in Anlehnung an Morgan die generative Kraft, verantwortlich für die Hervorbringung sämtlicher menschlicher Erzeugnisse und Aktivitäten: mit anderen Worten und in letzter Konsequenz, für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. In Abhängigkeit von diesem evolutionstheoretischen Konzept und unter Verwendung zeitgenössischer, amerikanischer linguistischer Literatur konstituierte Powell seine anthropologische Linguistik, die von einer engen Verknüpfung zwischen »mind« und »language« ausging und deren ›Qualität‹ als Ausdruck eines evolutiven Status im Morganschen Sinne interpretierte (vgl. »Linguistische Studien als Grundlage ethnologischer Forschung«). Powell war nicht der einzige, der sich in diesem ethnologischen, linguistischen, von evolutionstheoretischen Theorien geprägten Diskurs zu etablieren bemühte. Zu erwähnen ist insbesondere Daniel Garrison Brinton, der eine Gegenposition entwarf, die in paradigmatischer Beziehung zu Powells Haltung stand. Brinton stützte sich dabei weniger auf die Ergebnisse der in der Feldforschung gewonnenen Daten, sondern auf die damals in der Fachliteratur diskutierten Theorien über die Native American languages. Er kombinierte die sprachwissenschaftlichen Theorien seines Vorbildes und Vordenkers, Wilhelm von Humboldts, mit von Spencer übernommenen Rassenkonzepten (vgl. »Powells Gegenspieler – Daniel Garrison Brinton«). 81
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Der fünfte Abschnitt (»Konstituierung der American Indian languages als wissenschaftliches Forschungsobjekt«) schließlich fasst die »syntagmatischen Verhältnisse« zwischen Forschern und Erforschten, zwischen den ›weißen‹ Anthropologen, ihren Theorien und wissenschaftlichen Konzepten und den Native Americans zusammen und gibt einen Einblick in die Organisation der Disziplinierung.
»From the savage into a civilized man« – Verfestigung eines wissenschaftlichen Musters im Bureau of Ethnology »From the year 1859, when Darwin published his Origin of Species, we can date a revolution in thought as in science. […] [T]he doctrine of evolution spread rapidly, and by the ’eighties had triumphed in most scientific and intellectual circles, and was making heavy inroads on the popular consciousness« (Morison et al. 1969 [1930]: 197).
Eine Institution, die sich mit der Frage beschäftigte, wie die American Indians zu zivilisieren seien, kam gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht umhin, sich mit dem zeitgenössischen evolutionären Diskurs, der die letzten »tumultuous« (Hinsley 1994 [1981]: 125) Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts prägen sollte, auseinander zu setzen. Zwar blieb der Einfluss der Darwinschen Theorie auf das Denken der ersten beiden Generationen von Anthropologen sehr diffus und oft auch oberflächlich (vgl. Kuper 1999: 63), doch kann man mit Sicherheit sagen, dass der Evolutionsdiskurs in der Öffentlichkeit27 sowie in intellektuellen Zirkeln allgegenwärtig war; kaum ein wissenschaftliches Feld war nicht von diesem Denkstil beeinflusst. Bald herrschte auch in anthropologisch interessierten Kreisen die Einsicht vor, dass die historische Entwicklung der Menschheit sich von relativ einfachen Wirtschafts- und Sozialverhältnissen zu relativ komplexen vollzogen haben muss (vgl. Kuper 1999: 59). Entsprechende, wenn auch höchst unterschiedliche Theorien formulierten etwa der britische Anthropologe Edward Burnett Tylor (1832-1917), der britische Staatsmann Sir John Lubbock (1834-1913), der amerikanische Philosoph und Historiker John Fiske (1842-1901) oder der New Yorker Rechtsanwalt Henry Lewis Morgan (1818-1881). Die Theorien 27 Etliche Zeitungen und Zeitschriften behandelten die evolutionären Kontroversen in ihren Kolumnen wie zum Beispiel die North American Review, das Appleton’s Journal, das Popular Science Monthly, die Atlantic Monthly, Nation, die New Yorker World, die Tribune und der Herald (vgl. Hofstadter 1944: 8ff.).
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von Herbert Spencer aber fanden in der amerikanischen Öffentlichkeit den größten Beifall.
»The Survival of the Fittest« – Herbert Spencer im nordamerikanischen Kontext »Mr. Spencer is already a power in the world. […] He has already influenced the silent life of a few thinking men whose belief marks the point to which the civilization of the age must struggle to rise. In America, we may even now confess our obligations to the writings of Mr. Spencer, for here sooner than elsewhere the mass feel as utility what a few recognize as truth. […] Mr. Spencer represents the scientific spirit of the age. He makes note of all that comes within the range of sensuous experience, and declares whatever may be derived therefore by careful induction. As a philosopher he does not go farther. […] Mr. Spencer has already established principles which, however compelled for a time to compromise with prejudices and vested interests, will become the recognized basis of an improved society« (Atlantic Monthly 1864, zitiert nach Hofstadter 1944: 20).
Der Erfolg Spencers spiegelt sich nicht zuletzt in den Verkaufszahlen seiner Publikationen wider: Zwischen 1860 und 1900 wurden insgesamt 368'755 Bücher verkauft (Hofstadter 1944: 23) – eine für einen wissenschaftlichen Autor der Philosophie und Soziologie beeindruckende Zahl. Sich in einem wissenschaftlichen Kontext zu bewegen, ohne sich auf Herbert Spencer, den selbst ernannten Philosophen, einflussreichen Exponenten der Laissez-faire-Doktrin und »assistant editor« der Zeitschrift »Economist« zu beziehen, war in dieser Zeit schlicht unmöglich (vgl. Hofstadter 1944: 20). Spencers Triumph in den Vereinigten Staaten sieht der Historiker Richard Hofstadter in seinem berühmten Werk »Social Darwinism in American Thought« in der Anschlussfähigkeit von dessen Gedankengut an den amerikanischen Diskurs begründet. Denn: »It offered a comprehensive world-view, uniting under one generalization everything in nature from protozoa to politics. Satisfying the desire of ›advanced thinkers‹ for a world-system to replace the shattered Mosaic cosmogony, it soon gave Spencer a broad public influence that transcended Darwin’s« (Hofstadter 1944: 18). Spencers Ehrgeiz bestand darin, ein einziges kosmisches Gesetz der Evolution zu formulieren, das sämtliche Phänomene des Universums erklärte. Er vereinigte in seinem mehrbändigen Werk »Synthetic Philosophy« (1860-1896), dessen wichtigster Band die »First Principles« von 1865 waren, Lyells »Principles of Geology«, Lamarcks Entwicklungstheorie, von Baers Gesetz der Embryologie, Coleridges Konzept der uni83
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versalen Muster der Evolution, von Hodgskins Anarchismus, die Laissez-Faire-Prinzipien der Anti-Corn Law League, die düsteren Prognosen von Malthus, die er in seinem »Essay on the Principle of Population« beschrieben hatte, und schließlich das Energieerhaltungsgesetz (vgl. Hofstadter 1944: 22) zu einer singulären Theorie, die den stetigen Wandel des Universums zu erläutern versuchte. Das Energieerhaltungsgesetz, das Spencer als »persistence of force« bezeichnete, bildete das Ausgangsargument seines deduktiven Gedankensystems: Evolutionärer Wandel entsteht gemäß Spencer aus zwei in unterschiedliche Richtungen wirkenden Kräften – aus der Integration (»evolution«) sowie der Desintegration der Materie (»dissolution«). Evolution verstanden als Fortschrittsprozess bedeutet demnach: »[…] an integration of matter and concomitant dissaption of motion; during which the matter passes from an indefinite, incoherent homogeneity to a definite, coherent heterogeneity; and during which the retained motion undergoes a parallel transformation« (Spencer 1900 [1864]: 407). Dieser Prozess ist für Spencer ein universell gültiges Gesetz. Es begründet die Entwicklung der Sternensysteme aus einer unbestimmten nebelartigen Materie zu einem geordneten Planetensystem, bestimmt geologische Prozesse ebenso wie die biologische Evolution, die Ausdifferenzierung der unterschiedlichen menschlichen Rassen, den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft und die des menschlichen Geistes sowie die historische Entwicklung der Dialekte und Sprachen (Spencer 1900 [1864]: 340-371). Seine Vollendung findet dieses Gesetz, so Spencer, im »Equilibrium«, einem Gleichgewichtszustand als Ausdruck größter Perfektion: »Evolution can only end in the establishment of the greatest perfection and the most complete happiness« (Spencer 1900 [1864]: 530). Die diesen Prozess antreibende Kraft, die »force«, ist für Spencer a priori nicht Gegenstand seines Erklärungsanspruchs. Sie bleibt der menschlichen Erkenntnis verborgen. »[The] Unknowable, [which] is by its very nature inviolable« überließ Spencer den Religionswissenschaftlern und Kirchenvertretern.28 Als distinktives Merkmal des Spencerschen Gedankenguts setzte sich seine biologistische Interpretation der Funktionsweise der menschlichen Gesellschaft durch. Spencer, der die heute berüchtigte Phrase vom »Survival of the Fittest« prägte, ging davon aus, dass sich die Ausdifferenzierung der sozialen Strukturen nur in Analogie zu dem von ihm postulierten natürlichen Gesetz erklären ließ. Für jene, die glaubten, dass 28 Zum Verhältnis Spencers zur Kirche vgl. Hofstadter (1944: 11ff.).
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politische Reformen soziale Zustände tatsächlich zu verändern vermochten, hatte er nur Hohn und Spott übrig. Ja, staatliche Interventionen behinderten den Fortschritt nur, schrieb er in seiner populären Publikation »The Man versus the State« von 1884. Spencers kategorische Ablehnung staatlicher Eingriffe in das »natürliche Wachstum« der Gesellschaft begründete denn auch seinen Widerstand gegen die staatliche Unterstützung armer Bevölkerungsschichten: »The whole effort of nature is to get rid of such, to clear the world of them, and make room for better« (Spencer 1864: 414f.). Die sich neu etablierende Sozialwissenschaft dürfe deshalb auf keinen Fall die Aufgabe übernehmen, gesellschaftliche Bedürfnisse abzuklären, um in einem zweiten Schritt die zur Befriedigung dieser Anliegen notwendigen Rechtsmittel auszuarbeiten und festzulegen. Für den Laisser-faire-Exponenten waren die Reformpläne für den sozialen Ausgleich falsch und vergeblich; er unterstellte ihnen sogar einen gegenteiligen Effekt: »[Y]et an immensity of mischief may be done in the way of disturbing, and distorting and repressing, by policies carried out in pursuit of erroneous conceptions« (Spencer 1874: 401f.).29 Eine soziologisch ausgerichtete Wissenschaft müsse die Menschen vielmehr an ihr unausweichliches, nicht von ihnen zu bestimmendes Schicksal erinnern (Spencer 1874) und ihnen verständlich machen, dass der soziale komplexe Organismus nicht mit sozialpolitischen Heilmitteln verändert oder gar verbessert werden könne (vgl. Hofstadter 1944: 29). John Wesley Powell kannte Spencers Arbeiten gut (vgl. Hinsley 1994 [1981]: 127; Hinsley 1979: 21; Kehoe 1985: 44). Und er teilte auch dessen Hoffnung, ein einziges kausales Prinzip zu finden, das alle Phänomene des Universums erklären konnte. Doch Spencers Apriori einer unergründbaren Kraft, die für den Werdegang aller Phänomene verantwortlich war, hielt Powell für einen fundamentalen Irrtum in dessen Theoriengebäude.30 Spencers Lehre bedeutete in letzter Konsequenz, dass der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft nicht länger in Menschenhand lag. Unabhängig, welche Strategien politische oder soziale 29 Die Überlegungen wurden zum ersten Mal in einer Serie im Popular Science Monthly von 1872 bis 1873 publiziert. 30 Damit stellte sich Powell neben seinen Zeitgenossen Frank Leister Ward, der wie Powell Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft war. Ward bezeichnete die Spencersche Laissez-faire-Philosophie als »gospel of inaction«. Sie ist, so Ward, »distinctly negative by the most advanced science, is contrary to the very law of evolution […]« (Ward 1885: 32; vgl. auch Haller 1971: 107f.; Hofstadter 1944: 52ff.).
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Akteure verwendeten: Sie blieben Objekte dieser nicht näher bestimmbaren Kraft. – Für Powell war dies eine unakzeptable und zu einer gefährlichen Passivität führende Vorstellung: »When men loses faith in himself, and worships nature, and subjects himself to the government of the laws of physical nature, he lapses into stagnation, where mental and moral miasm [sic] is bred« (Powell zitiert nach Hinsley 1994 [1981]: 129). In seinem Vortrag »Three Methods of Evolution«, den er im Dezember 1883 als amtierender Präsident vor der Philosophical Society of Washington31 hielt, richtete er sich implizit gegen den Spencerschen So-
31 Powell war zwischen 1882 und 1883 Präsident der Philosophical Society of Washington, die im Jahre 1871 begründet wurde. Sie war eine Einrichtung, die vor allem Naturwissenschaftlern – Mathematikern, Astronomen, Physikern, Chemikern, Biologen – die Möglichkeit geben sollte, in einem eigens dafür vorgesehenen Rahmen ihre Projekte und Überlegungen einem kritischen Publikum zu präsentieren. Der erste Präsident, Joseph Henry, Leiter der Smithsonian Institution, verlautbarte in seiner ersten Ansprache vor den Mitgliedern die folgenden Ziele und den Zweck der Gesellschaft: »This society was formed by the call for a meeting of a number of gentlemen impressed with the importance of an association of a strictly scientific character in the city of Washington. […] In regard to the name which has been chosen, ›The Philosophical Society of Washington,‹ it is proper to remark that it was adopted not without considerable deliberation. The term ›Philosophical,‹ was chosen not to denote, as it generally does in the present day, the unbounded field of speculative thought, which embraces the possible as well as the actual of existence, but to be used in its restricted sense to indicate those branches of knowledge that relate to the positive facts and laws of the physical and moral universe. The second term ›Washington‹ was selected to denote the fact that the Society is a local establishment; that it arrogates to itself nothing on account of its position at the national capital; makes no claim to any connection with the government, nor to being, in any respect, a special representative of the science of the country« (Bulletin of the Philosophical Society of Washington, 1874: vf.). Die regelmäßig stattfindenden Treffen dienten auch der Suche nach einem gemeinsamen Hintergrund aller Wissenschaften, ganz im Sinne eines Spencers oder Powells. Dazu Henry in seiner Eröffnungsrede: »[T]here is a common bond of union between all branches of science, since they all relate to the existence and laws of the same universe in which the more we extend our knowledge the more we find of ›unity in the midst of infinite diversity.‹ This connection is obvious in the relations of astronomy, mathematics, and physics, as well as in those of geology, chemistry, and biology, which are so closely related in many cases as to be separable only by conventional limits« (Bulletin of the Philosophical Society of Washington, 1874: vii). Aus der »Philosophical Society« ging am 17. Februar 1879 die »Anthropological Society« hervor. 1887 zählte diese bereits 154 Mitglieder (vgl. Gilbert 1887: 2937; vgl. auch »Rahmenbedingungen und Mitarbeiter«).
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zialdarwinismus, als er erklärte: »There is a […] rock on which research is wrecked – the belief which oftimes [sic] takes possession of the mind that the unknown is unknowable, that human research can penetrate into the secrets of the universe no farther. It is the despondency of unrewarded mental toil« (Powell 1884: xxxiv). Powell sah in Spencers Theorie eine krude Metaphysik, die nichts anderem entsprach als »spectral imaginings that haunt the minds of introverted thinkers as devils as possess the imaginations of the depraved« (Powell 1884: xxxiv). Spencers evolutionstheoretische Überlegungen waren aber auch, so glaubte Powell, ein Angriff auf jene Methode, die für ihn die Grundlage des wissenschaftlichen Arbeitens bedeutete: die Empirie. Powell kritisierte Spencer dafür, dass nicht länger die Fakten für eine Verifizierung beziehungsweise Falsifizierung einer Hypothese dienten, sondern vielmehr die wissenschaftliche Hypothese selbst die Untersuchung dominiere: »When an hypothesis gain such control over the mind that phenomena are subjectively discerned, that they are seen only in the light of the preconceived idea, then research but adds to vain speculation. A mind controlled by an hypothesis is to that extent insane; the rational mind is controlled only be the facts, and contradicted hypotheses banish in their light« (Powell 1884: xxxiv).
Powell wendete sich nicht generell, dies ist ausdrücklich festzuhalten, gegen eine wissenschaftliche Hypothesenbildung; diese war für ihn eine unabdingbare Voraussetzung für den wissenschaftlichen Fortschritt. Denn: »[m]en do not go about the earth indiscriminately discerning and grouping« (Powell 1883: 203). Wissenschaftliche Forschung sei nicht zufälliges Beobachten und Vergleichen, sondern »designed discernment and classification; it is research for a purpose, and the purpose is the explanation of imperfectly discerned phenomena« (Powell 1884: xxxiv). Ebenso wenig zweifelte der Leiter des Bureau of Ethnology am Stellenwert der biologischen Wissenschaften. Nur glaubte Powell nicht, dass diese unbesehen – etwa in der Form der von Spencer geprägten Phrase des »Survival of the Fittest« – auf die Handlungsweisen der zivilisierten Menschheit anwendbar seien. Die Menschheit müsse vom Rest der Welt als qualitativ verschiedenes Untersuchungsobjekt getrennt und von einem innerhalb der universellen Evolution vorhandenen Determinismus, wie dies Powell in den Werken Darwins und Spencers wahrnahm, befreit werden (vgl. Powell 1888: 301; Hinsley 1994 [1981]: 125).
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»[W]hen man became superior to the lower animals his course of progress depended no longer on the laws of biotic evolution, namely the survival of the fittest in the struggle of existence, through the fact that by reason of his superiority he no longer came in competition with the lower animals; he then used animals and plants alike for his own purposes. A new method of evolution arose« (Powell 1883: 183; vgl. auch Powell 1884: lii).
Implizit unternahm Powell mit dieser Begründung eine Trennung der anthropologischen von der biologischen Forschung. Die Anthropologie hatte sich in erster Linie mit der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zu befassen, die Biologie mit der der »lower animals«. Einen »alternativen« evolutionstheoretischen Ansatz für seine anthropologische Arbeit fand Powell in Lewis Henry Morgans Werk »Ancient Society« (vgl. Haller 1971: 109f.; Wolfart 1967: 160).
»Ancient Society« – theoretische Grundlage für das Bureau of Ethnology »I have many facts which fit perfectly into the system which you have laid out: the bearing of these facts I did not understand before. […] After reading your book [»Ancient Society«, Anm. J. H.], I believe you have discovered the true system of social and governmental organization among the Indians« (Powell an Morgan, 23. Mai 1877, zitiert nach Hinsley 1994 [1981]: 133). – Powell machte die von Henry Lewis Morgan in »Ancient Society« postulierte Sozialtheorie zur Basis der für die nächsten zwei Jahrzehnte im Bureau of Ethnology praktizierten Anthropologie.32 Für ihn war Morgan der »pioneer investigator into the sociology of the North American Indians« (Powell 1880 [1877]: vii). Der aus Rochester stammende Henry Lewis Morgan (vgl. Stocking 1968: 116; Vincent 1990: 39) – der wohl prominenteste »gentleman scholar« im anthropologischen Denkkollektiv seiner Zeit (vgl. Hinsley 1979: 18; Hinsley 1985: 35; Hinsley 1994 [1981]: 28) – war, wie im Übrigen Herbert Spencer und Charles Darwin auch, kein Akademiker im heutigen Sinne.33 Er arbeitete als Rechtsanwalt, war Abgeordneter in der
32 »The entire staff was expected to have read and assimilated Morgan’s synthetic work« (Darnell 1971c: 94; vgl. auch Darnell 1998: 87f.; Stocking 1968: 116; Stocking 1976: 89; Stegner 1954: 252). 33 Die amerikanische Universitätenlandschaft begann sich erst in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auszubilden: »[T]he American University […] first emerged and matured in the years 1870 to 1900« (Bledstein 1976: 288).
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New York State Assembly und betätigte sich nebenbei als Ethnograph bei den lokalen Iroquois- genauer Seneca-Stämmen. Seine detaillierten empirischen Untersuchungen der sozialen Institutionen dieser American Indians bildeten die Grundlage seiner theoretischen Ideen und ließen ihn zu einem aktiven Interessenvertreter indianischer Angelegenheiten werden (Morgan 2000 [1877]: xvi). Insbesondere die lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit mit Hasanoanda beziehungsweise, um seinen ›zivilisierten Namen‹ zu verwenden, Ely S. Parker, einem jungen, gebildeten Seneca, war es, die Morgan davon überzeugte, dass die »savages« die wesentlichen und notwendigen Voraussetzungen und Fähigkeiten für eine zivilisierte Lebensweise mitbrachten: Hasanoanda war Bauingenieur, die rechte Hand von General U. S. Grant und 1869 Commissioner of Indian Affairs (Prucha 1984: 1213). Morgan konzipierte in seiner ethnologischen Arbeit die Geschichte der Menschheit als »one in source, one in experience, and one in progress« (Morgan 2000 [1877]: lvi; vgl. auch Patterson 2001: 33); für ihn war die zu seiner Zeit gängige Behauptung evident, »that savagery preceded barbarism in all the tribes of mankind, as barbarism is known to have preceded civilization« (Morgan 2000 [1877]: lvf.).34 Nur warum und unter welchen Umständen diese Abfolge eintrat und weshalb einige Völker eine »zivilisiertere Lebensweise« als andere führten, waren offene Fragen, die er zu beantworten hoffte. In seinem umfangreichen Werk »Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family« (1871) zeichnete er die aufeinander folgenden Perioden der menschlichen Geschichte anhand der Entwicklung von Heirats- und Familienformen nach. Der Vergleich von Verwandtschaftsbezeichnungen, die in unterschiedlichen Sprachfamilien – »Aryan, Semitic, Uralian, Ganowanian, Turanian and Malayan families« – vorzufinden waren, führte ihn »to the recovery, conjecturally at least, of the great series or sequence of customs and institutions which mark the pathway of man’s progress through the ages of barbarism; and by means of which he raised himself from a state of promiscuous intercourse to final civilization« (Morgan 1997 [1870]: xxii).
34 Der Historiker Robert E. Bieder führt das teleologische Konzept des Fortschrittes zurück auf die schottische Schule John Lockes: »The belief in stages of social progress beginning with savagism continuing through barbarism and eventually culminating in civilization found a wide acceptance throughout western Europe and indeed proved fundamental to a school of historical writing in Scotland« (Bieder 1986: 9; vgl. auch Vincent 1990: 36; Haller 1971: 112).
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In »Ancient Society« charakterisierte er die aufeinander folgenden Perioden – »savagery«, »barbarism« und »civilization« (alle unterteilt in »lower«, »middle« and »upper planes«35) – anhand der Entwicklung der menschlichen Erfindungen und Entdeckungen sowie der sozialen Institutionen. Jedes Entwicklungsstadium entspricht, so Morgan, einer typischen Form von sozialer Organisation, Familienstruktur und Eigentumsverhältnissen. Neben einem besseren Verständnis der Evolution sozialer Institutionen strebte Morgan mit seinem opus magnum »Ancient Society« vor allem auch eine Erklärungsgrundlage für die geistige Entwicklung des Menschen an. Diese steht, so Morgan, in direkter Abhängigkeit zur Entwicklung neuer Erfindungen und Entdeckungen (Stocking 1968: 116): Institutionen sind Erzeugnisse der vom menschlichen Geist hervorgebrachten Ideen, der so genannten »germs of thought«. »Inventions and discoveries stand in serial relations along the lines of human progress, and register its successive stages; while social and civil institutions, in virtue of their connection with perpetual human wants, have been developed from a few primary germs of thought. They exhibit similar register of progress. These institutions, inventions, and discoveries have embodied and preserved the principal facts now remaining illustrative of this experience. When collated and compared they tend to show the unity of origin of mankind […]« (Morgan 2000 [1877]: lvi).
Um eine lineare evolutionäre Entwicklung der Menschheit argumentativ stützen zu können, benötigte Morgan ein Konzept, das für alle Menschen aller Rassen – um die damalige Terminologie zu übernehmen – gültig ist. Von einer gleichförmigen Entwicklung der Menschheit kann nur gesprochen werden, wenn diese über die gleichen Anlagen, die ver35 Morgan ordnete in seinem Schema den von ihm bestimmten evolutionären Perioden die Entwicklungseigenheiten eines Volkes wie folgt zu: »I. Older Status of Savagery: From the Infancy of the Human Race to the commencement of the next Period. II. Middle Status of Savagery: From the acquisition of a fish subsistence and a knowledge of the use of fire, to etc. III. Upper Status of Savagery: From the Invention of the Bow and Arrow, to etc. IV. Lower Status of Barbarism: From the Invention of the Art of Pottery, to etc. V. Middle Status of Barbarism: From the Domestication of animals on the Eastern hemisphere, and in the Western from the cultivation of maize and plants by Irrigation, with the use of adobe-brick and stone, to etc. VI. Upper Status of Barbarism: From the Invention of the process of Smelting Iron Ore, with the use of iron tools, to etc. VII. Status of Civilization: From the Invention of a Phonetic Alphabet, with the use of writing, to the present time« (Morgan 2000 [1877]: 12f.).
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antwortlich sind für die Generierung kultureller Artefakte, sozialer Institutionen etc., verfügt. Morgan nahm an, dass die Operationen des Geistes bei allen Menschen gleich funktionierten; er nahm an, dass alle Menschen zu Beginn ihrer Entwicklung dieselben Grundgedanken, dieselben »germs of thought« besaßen, die sich in Abhängigkeit der »natural logic which formed an essential attribute of the brain itself« (Morgan 2000 [1877]: 61) entwickelten: »So unerringly has this principle performed its functions in all conditions of experience, and in all periods of time, that its results are uniform, coherent, and traceable in their courses. These results alone will in time yield convincing proofs of the unity of origin of mankind. The mental history of the human race, which is revealed in institutions, inventions [,] and discoveries, is presumptively the history of a single species, perpetuated through individuals, and developed through experience. Among the original germs of thought, which have exercised the most powerful influence upon the human mind, and upon human destiny, are these which relate to government, to the family, to language, to religion, and to property« (Morgan 2000 [1877]: 61).
Diese ursprüngliche Einheit bleibe allerdings, so glaubt Morgan, im Verlauf der Entwicklungsgeschichte der Menschheit nicht unveränderlich. Der Geist entwickle sich, bringe neue Institutionen hervor, die wiederum einen Einfluss auf die Entwicklung des Geistes haben und eine biologische Veränderung des Gehirns (Haller 1971: 111) im Lamarckschen Sinne nach sich zögen:36 »With the production of inventions and discoveries, and with the growth of institutions, the human mind necessarily grew and expanded; and we are led to recognize a gradual enlargement of the brain itself, particularly of the cerebral portion« (Morgan 2000 [1877]: 37). Die zentrale Prämisse in Morgans Werk, die »mental unity«, bezeichnet offensichtlich nicht eine feste Größe. Die »mentale Einheit« der Menschen korreliert mit der jeweiligen Entwicklungsstufe »savagery«, »barbarism«, »civilization«37: »Human wants [were similar] in the same stage of advancement, and […] the operations of the human mind [were uniform] in similar conditions of society« (Morgan 2000 [1877]: vi).
36 Die Hauptthese Lamarcks war, dass erworbene Charakteristiken biologischer Individuen an die Nachkommen weitervererbt werden (vgl. Bieder 1986: 9). 37 »Beginning their growth in the period of savagery, fermenting through the period of barbarism, they have continued their advancement through the period of civilization« (Morgan 2000 [1877]: 61).
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Die Arbeit Morgans lieferte Powell die Grundlage für seine »New Ethnology«. Sie half ihm sein ehrgeiziges Ziel zu erreichen: die Formulierung eines einzigen, universellen Kausalprinzips, das die menschliche Evolution erklärte.38 1880 schrieb Powell im »Popular Science Monthly«: Morgan »[had] laid the foundation for the science of government as it is finally erected by the philosophy of evolution« (Powell zitiert nach Hinsley 1994 [1981]: 136; vgl. auch Haller 1971: 110). Die neue Ethnologie, die Powell zu realisieren hoffte, war in erster Linie ein Versuch, die verschiedenen, bis anhin nur einzeln erforschten menschlichen Erzeugnisse wie Sprachen, materielle Güter, Verwandtschaftsverhältnisse, soziale Institutionen, technische Fertigkeiten, Sitten und Gebräuche etc. in Beziehung zu setzen (vgl. Powell 1884: i): »All the grand classes of human activities are inter-related in such a manner that one presupposes another, and no one can exist without all the other. Arts39 are impossible without institutions, languages, opinions, and reasoning; and in like manner every one is developed by the aid of the others. If, then, all of the grand classes of human activities are interdependent, any great change in one must effect corresponding changes in the others. The five classes of activities must progress together. Art-stages must have corresponding institutional, linguistic, philosophic, and psychic stages« (Powell 1885: 175f.).
Powell ging es nie darum, das konkrete Volk mit den jeweilig spezifischen Lebensweisen zu untersuchen (vgl. Stegner 1954: 269) – und diese als eigentliches wissenschaftliches Objekt zu betrachten. Ihm dienten die in der Feldforschung gesammelten empirischen Daten vielmehr als Fundus, um die von Morgan vorgegebenen Stadien, die kausalen Inter38 Die Suche nach einem universell gültigen Gesetz war erklärter Gegenstand auch der damaligen zeitgenössischen anthropologischen Forschung: »The search for a universal history, the creation of the record of progress, was generally regarded as the task of a science of anthropology; and it was the concern for the history and nature of the species qua species, a deeper and truer understanding of its present through the rebuilding of the past, that provided the stimulus for the rejection of the traditional ethnology which had relied solely upon a natural system of the classification of sub-species units as the goal of its scientific endeavors« (Gruber 1967: 7; vgl. auch Hinsley 1994 [1981]: 125). Powell hatte übrigens Morgan Informationen über die Verwandtschaftsverhältnisse und Vererbungsgebräuche der Hopi geliefert, die Morgan in seiner »Ancient Society« verwendete (vgl. Darrah 1969: 262). 39 Als »arts« bezeichnete Powell »human activities directed to the utilization of the materials of nature and the control of its powers, for the purpose of securing happiness« (Powell 1884: xxxvii).
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dependenzen zwischen verschiedenen menschlichen Erzeugnissen und den von ihm skizzierten Fortschritt40 der menschlichen Kultur zu bestätigen (vgl. Stocking 1968: 128f.).41 Anhand der Artefakte der diversen indianischen Gesellschaften, anhand ihrer Kunstfertigkeiten, sozialen Institutionen, Familienformen, Sprachen und Meinungen (vgl. Darrah 1969: 265) ließ sich nicht nur eine Fortschrittsgeschichte von der »savagery« zur »civilization« eines jeden Volkes erzählen, sondern auch eine Einstufung der Völker in das von Morgan entwickelte Raster vornehmen (Powell 1883: 179). – Dies bedeutete für Powell einen entscheidenden Durchbruch für seine eigene wissenschaftliche Perspektive und letztlich auch die Widerlegung der Spencerschen Metaphysik. Indem es ihm gelang, die von einer indianischen Gesellschaft hervorgebrachten Erzeugnisse in die von Morgan etablierten Entwicklungsperioden einzuordnen, war es ihm auch möglich, ganz im Sinne Morgans, Rückschlüsse zu ziehen über die Entwicklung der großartigen Kraft, die Spencer noch als »unknowable« bezeichnet hatte: Der menschliche Geist – »the human mind« – sah Powell als generative Kraft, die für die Hervorbringung sämtlicher menschlicher Erzeugnisse und Aktivitäten verantwortlich war, mit anderen Worten und in letzter Konsequenz, für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft. Das Bureau of Ethnology hatte einen Regierungsauftrag zu erfüllen. Erwartet wurden wissenschaftliche Untersuchungen, die die reibungslose Zusammenlegung der ethnischen Gruppen in die Reservate gewährleisteten und später die Assimilierung und »Zivilisierung« der Native Americans befördern sollten (Darnell 1988: 42f.). Die Lektüre der Morganschen Theorie führte Powell zur Einsicht, dass Gesetze und administrative Maßnahmen alleine die American Indians nicht zu zivilisierten U.S.-Staatsbürgern zu transformieren vermochten. Fundierte wissenschaftliche Kenntnisse über die von den American Indians erreichte Entwicklungsperiode, die »savagery«, waren von Nöten, um geeignete Strategien zu entwickeln, die den American Indians
40 Das Konzept des Fortschritts wurde in keiner Weise hinterfragt (vgl. Haller 1971: 100). 41 Letztlich ging es auch um den Nachweis, dass die »zivilisierte« Kultur in allen Bereichen der »primitiven« überlegen war. Es handelte sich nicht um ein aktives Urteil, sondern um eine unhinterfragbare Tatsache. Morgans Einfluss auf Powell findet sich in Aufsätzen wie »From Savagery to Barbarism« und »Competition as a Factor in Human Evolution«, beide erschienen 1888 im »American Anthropologist«.
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den Weg zur Zivilisation ebneten. Im November 1878 machte Powell in einem an das Innenministerium adressierten Report42 geltend: »Savagery is not inchoate civilization; it is a distinct status of society with its own institutions, customs, philosophy, and religion; and all these must necessarily be overthrown before new institutions, customs, philosophy, and religion can be introduced. The failure to recognize this fact has brought inconceivable mischief in our management of the Indians. […] The attempt to transform a savage into a civilized man by a law, a policy, an administration, or a great conversion […] in a few months or in a few years, is an impossibility clearly appreciated by scientific ethnologists who understand the institutions and social conditions of the Indians« (Powell zitiert nach Darrah 1969: 256).
1879 war der Forschungsbereich der Ethnologie kaum systematisch organisiert, ja, man könnte rückblickend gar von chaotischen Zuständen sprechen (vgl. Darrah 1969: 257; Hinsley 1979: 19). Powell hoffte mit der Gründung des Bureau of Ethnology die vielen parallel durchgeführten Forschungen sinnvoll zu gliedern und zu ordnen (Darnell 1971c: 94); er hoffte, den ziellosen Sammlungen zahlreicher indianischer Handwerkzeuge, Vokabularlisten, Tonwaren etc. durch wohlmeinende aber inkompetente Amateure ein Ende zu bereiten.43 Er hoffte zu verhindern, dass weiterhin die unterschiedlichsten Gegenstände ohne adäquate Zusatzinformationen in zahlreichen privaten Sammlungen, Museen und auch universitären Mausoleen verschwanden und damit für die wissenschaftlich fundierte Anthropologie ihren Wert verloren. Für Powell waren soziale Institutionen, technische Fertigkeiten, Sitten und Gebräuche, Glaubenssysteme und Sprachen der verschiedenen indianischen Völker in komplexer Weise miteinander verknüpft – dies war die Prämisse seines anthropologischen Denkens.44 Diese Verbindun42 – der von Darrah als unmittelbarer Auslöser für die Gründung des Bureau of Ethnology erachtet wird (vgl. Darrah 1969: 256). 43 Dies bedeutete, dass es kein »[…] anthropological training« gab, das heißt, »everyone could be an expert and there was no possibility of evaluation by a scientific community at the national level« (Darnell 1971c: 92). »[T]here is not one of them had training in anthropoloy, because there was no place they could train. […] Personal knowledge and interest gained them information« (Murray 1993: 40). 44 »The facts in each field of research [arts, institutions, languages, and opinions, Anm. J. H.] throw light upon each other that one cannot be neglected without injury to the others« (Powell zitiert nach Darrah 1969: 265). Und in seinem Aufsatz »The Three Methods of Evolution« schreibt er: »These five great classes of activities [arts, institution, languages (mental intercommunication), opinions, mind, Anm. J. H.] are interdependent in such a manner
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gen wollte er herstellen und in einem groß angelegten Projekt genauer analysieren. Dies bedingte eine – in einer modernen Begrifflichkeit – inter- beziehungsweise transdisziplinäre Vorgehensweise (Hinsley 1994 [1981]: 125). Anthropologie, so wie sie Powell verstand und plante, setzte sich zusammen aus fünf großen, wissenschaftlichen Gebieten, aus »somatology, or the biology of man; […] technology, or the science of the arts; […] sociology, the science of institutions, […] philology, the science of languages, and […] philosophy, the science of opinions […]« (Powell 1883: 182). Powell akquirierte etliche Mitarbeiter für sein Projekt. Er selber widmete sich der seines Erachtens unabdingbaren Voraussetzung und dem für ihn wichtigsten Ziel der anthropologischen Forschung: der Erfassung und Klassifikation der American Indian languages (vgl. Darnell 1988: 45).
Linguistische Studien als Grundlage ethnologischer Forschung In diesem evolutionstheoretisch orientierten wissenschaftlichen Denkkollektiv, in diesem die Regierungspolitik unterstützenden Unterfangen, entwickelte sich ein einmaliges Interesse an den American Indian languages. Die Untersuchung dieser Sprachen war für den Leiter des Bureau of Ethnology aus dreierlei Gründen von Relevanz. Zunächst glaubte er, wie Morgan dies in seinem Werk »System of Consanguinity and Affinity of the Human Family« beschrieben hatte, dass die Sprachwissenschaft ein zweckmäßiges Instrument zur Klassifizierung von Völkern sei (Morgan 1997 [1870]: xxi; vgl. »›Ancient Society‹ – theoretische Grundlage für das Bureau of Ethnology«). Auf der Grundlage linguistischer Analysen der verschiedenen Stammesnamen, die, so glaubte Powell, auf eine genetische Verwandtschaft der Sprachen schließen ließen, hoffte er, eine geeignete, konfliktfreie Einteilung der indianischen Gesellschaften in die Reservate vornehmen zu können – eine Idee, die von General Francis A. Walker (1840-1897), dem Leiter der 1880 durchgeführten Volkszählung aller Angehörigen der indianischen Stammesgesellschaften, voll und ganz unterstützt wurde. Die praktisch-politische Dimension dieses Projektes war also offensichtlich (Darnell 1988: 45; Darrah 1969: 268f.; Patterson 2001: 38f.; Hinsley 1994 [1981]: 149). Nur: Um die Frage »What division of the roaming tribes do their linthat one is not possible without the others; they arise together, and their history proceeds by a constant interchange of effects« (Powell 1884: l).
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guistic and other affinities dictate?« (Fowler/Fowler 1971: 99) zu beantworten, fehlten Powell die richtigen, sprachwissenschaftlich fundierten Grundlagen: »The names by which the tribes are known to white men and the Department give no clue to the relationship of the Indians« (Fowler/Fowler 1971: 101; vgl. auch Hinsley 1979: 19). – Um die richtigen Daten zu generieren, war ein systematisches und funktionales linguistisches Vorgehen von Nöten, das sich wissenschaftlichen Grundsätzen verpflichtet fühlte. Das zweite wichtige Motiv für die Priorisierung linguistischer Forschung bestand in der Tatsache, dass ethnologisches Arbeiten ohne Kenntnisse der American Indian languages nicht möglich war: »Little of value can be accomplished in making investigations in other branches in the field without a thorough knowledge of the languages. Their sociology, mythology, arts, etc. are not properly known until the peoples themselves are understood« (Powell zitiert nach Darrah 1969: 255). Und drittens bot in den Augen Powells nur die Sprache einen Zugang zur generativen Kraft, die für die Entwicklung der Gesellschaft verantwortlich war, zum »human mind«. Powell war also nicht nur davon überzeugt, dass anhand der Sprachen, in denen die »subject-matter[s] of thought« – wie »habits, customs, institutions, philosophy« (Powell 1880 [1877]: vi) – zum Ausdruck kamen, die Evolution der Gemeinschaften beschrieben werden konnte. Er glaubte auch, dass die Sprachen, die er selbst als vom Geist hervorgebrachte Erzeugnisse bewertete,45 einen unmittelbaren Zugang zur Denkweise der jeweiligen Gesellschaft ermöglichten. Dies bedeutete, dass er auf der Grundlage linguistischer Kriterien die verschiedenen Entwicklungsstufen des »mind« nachzuzeichnen vermochte. Powells linguistische Ziele waren ehrgeizig. Er plante eine Standardisierung der linguistischen Nomenklatur, die die Präzision einer zoologischen oder botanischen Systematik haben sollte (Stegner 1954: 262), die Rekonstruktion der ursprünglichen Stammesnamen,46 die Klassifika-
45 »Languages, institutions, and arts have arisen through the action of the mind and the exercise of other corporeal functions. All these activities, therefore, are dependent upon mind« (Powell 1884: l). 46 Die Bezeichnungen für die verschiedenen indianischen Gesellschaften, so wie sie für Regierungsgeschäfte etc. im Gebrauch waren, stammten normalerweise von den ›Weißen‹ selbst. Es handelte sich zum Teil um Fehlinterpretationen beziehungsweise Fehlübersetzungen aus den von den American Indians gesprochenen Sprachen, manchmal waren es auch nur Spitznamen, die die ›Weißen‹ den Native Americans gegeben hatten (vgl. Stegner 1954: 262).
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tion der von den Native Americans gesprochenen Sprachfamilien, deren exakte historisch-geographische Verortung und eine Analyse ihrer Transformation im Zuge der Kolonisierung (Patterson 2001: 38f.; Stegner 1954: 263; Darnell 1998: 38f.).
Rahmenbedingungen und Mitarbeiter John Wesley Powell organisierte für dieses ehrgeizige Vorhaben einen Mitarbeiterstab, der sich aus Fachleuten aus unterschiedlichen Berufsbereichen47 – wie z. B. dem ehemaligen Ornithologen Henry Wetherbe Henshaw (1846-1933), dem Missionar James Owen Dorsey (18481895), dem Lehrer und Straßenbahnschaffner John Napoleon Brinton Hewitt (1859-1937), dem Staatsmann und Weltreisenden Jeremiah Curtin (1835-1906), dem in der Schweiz geborenen, ehemaligen Mitarbeiter der U.S. Geographical Surveys Albert Samuel Gatschet (1832-1907) – zusammensetzte und über Jahre an den ehrgeizigen linguistischen Projekten Powells beteiligt war. Angesichts des knappen Budgets von nur US$ 20'000 pro Jahr48 entschied er sich, die Mitarbeiter auf Teilzeitbasis zu entlöhnen und die von ihnen durchgeführten Feldforschungen extra zu bezahlen. Dieses Organisationssystem erlaubte es ihm, von der Zusammenarbeit mit den verschiedenen Experten zu profitieren und die vielfältigen Forschungsprogramme49 gleichzeitig zu verfolgen. Im selben Jahr, 1879, begründete er gemeinsam mit seinen Mitarbeitern die Anthropological Society of Washington,50 ein Forum, das ihnen die Ge-
47 Die von Powell engagierte Gruppe von Männern und Frauen war äußerst heterogen. Die meisten stammten wie er selbst aus dem mittleren Westen. Ihre Berufserfahrungen waren unterschiedlich. Sie waren u. a. Landvermesser, Künstler, Armeeärzte, Bauern, Journalisten, Lehrer, Missionare, Rechtsanwälte, Schmiede oder Naturforscher, bevor sie ihre Arbeit im Büro aufnahmen (vgl. Patterson 2001: 38; Darrah 1969: 2f.). 48 In den ersten Jahren des Bureau of Ethnology profitierte Powell finanziell von seinem ausgezeichneten politischen Ruf. Er erhielt von der Regierung jedes Jahr US$ 20'000, 1884 gar den doppelten Betrag. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die langfristige Planung der vom Institut übernommenen Arbeiten äußerst schwierig blieb, da die Regierung jedes Jahr neu über die Finanzierung entschied (Darnell 1998: 34ff.). 49 Neben sprachwissenschaftlichen Forschungen führte das Bureau of Ethnology Untersuchungen in Gebieten wie Archäologie (Grabhügelforschungen) durch, betrieb ethnologische Forschung, die sich den Besonderheiten der Kulturen, ihren Religionen, ihrem Handwerk, ihrer Kunst etc. widmete. 50 Die Anthropological Society of Washington beschränkte sich auf ethnologische Arbeiten. Sie wurde mit dem Ziel gegründet, »to encourage the Study of the Natural History of Man, especially with reference to America«. Sie
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legenheit bot, die vom Bureau of Ethnology angefertigten Arbeiten in einem größeren Rahmen zu diskutieren sowie sich mit in einem Gebiet der Anthropologie tätigen Forschern national zu vernetzen.51 Das Institut begann als erstes mit dem ehrgeizigen Projekt einer »synonymy of tribal and stock names« (Hinsley 1981: 155). Das Synonymie-Projekt verfolgte das Ziel, sämtliche verwendeten Bezeichnungen für die indianischen Gesellschaften und deren Sprachen zu sammeln und zu ordnen.52 Des Weiteren begannen die Mitarbeiter des Instituts unter der Leitung von Powell, Datenmaterial zu den amerikanisch-indianischen Sprachen zusammenzustellen und in einem zweiten Schritt zu klassifizieren.53 Die Sprachen, die mit anderen Bereichen des sozialen Lebens in einer wechselseitigen Beziehung standen, fungierten, wie Powell in Anlehnung an Morgans Theorie glaubte, als Schlüssel zu einer ethnischen Klassifikation jenseits von biologistisch-rassistischen Vereinfachungen.
Powells Vorläufer Powell war kein linguistischer Pionier – dies gilt es zu betonen. Es existierten verschiedene Arbeiten zu den American Indian languages, auf die er hätte zurückgreifen können, Studien geschrieben von sprachwis-
beanspruchte »the duty of all members to seek to increase and perfect the materials of anthropological study in the national collections at Washington« (Transactions of the Anthropological Society of Washington 1879: 136 & 141). Die Gründer der Gesellschaft schloss Männer mit ein wie John C. Lang, Altertumsforscher, Miles Rock, Bauingenieur, J. E. Snodgrass, »well-known in Washington« (vgl. Darnell 1998: 13; Patterson 2001: 41; Gruber 1967: 9; Lamb 1906: 564). 51 Damit gründete Powell ein zusätzliches Publikationsorgan, in dem er neben dem Jahresbericht des Büros die wichtigsten Entwicklungen in der Anthropologie veröffentlichen konnte: die »Transactions of the Anthropological Society of Washington«. Die eigene Zeitschrift namens »American Anthropologist« etablierte die Gesellschaft 1888. 52 Das Synonymie-Projekt führte ein stiefmütterliches Dasein. Schon bald kam Powell zur Überzeugung, dass die Klassifikation der Sprachfamilien abgeschlossen sein müsse, bevor er dieses Projekt angehen konnte (Powell 1881a: 76; Darnell 1998: 53; Hinsley 1994 [1981]: 156; zum SynonymieProjekt vgl. auch »Powells ›Indian Linguistic Families of America North of Mexico‹«). 53 – ein Projekt, dem sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts etliche sprachwissenschaftlich interessierte Forscher gewidmet hatten. Ein einheitliches Klassifikationsschema hatte sich aber noch nicht durchgesetzt (vgl. Haas 1969).
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senschaftlich interessierten Forschenden, den »gentlemen scholars« Peter Stephen Duponceau, John Pickering und Albert Gallatin.54 Peter Stephen Duponceau, ein Rechtsanwalt aus Philadelphia (Murray 1993: 30; Stocking 1976: 63), formulierte 1819 als erster die These, dass die American Indian languages sich von den übrigen Idiomen der Welt unterschieden. In einem Bericht für das »History and Literary Committee to the American Philosophical Society« beschrieb er die in allen amerikanisch-indianischen Sprachen existierende »wonderful organization«, »which distinguishes the languages of the aborigines of this country from all other idioms of the known world« – eine Ansicht, die für den Rest des Jahrhunderts Gültigkeit beanspruchen sollte. Alle American Indian languages verfügten über »those comprehensive grammatical forms which appear to prevail with little variation among the aboriginal natives of America, from Greenland to Cape Horn« (Duponceau zitiert nach Haas 1969: 240). Diese ›wundervolle Organisation‹ umschrieb Duponceau mit dem Begriff der »polysynthesis«,55 den er wie folgt fasste: »A polysynthetic or syntactic construction of languages is that in which the greatest number of ideas are comprised in the least number of words. This is done principally in two ways. 1. By a mode of compounding locution which is not confined to joining two words together, […] but by interweaving together the most significant sounds or syllables of each simple word, so as to form a compound that will awaken in the mind at once all the ideas singly expressed by the words from which they are taken. 2. By an analogous combination [of] the various parts of speech, particularly by means of the verb, so that its various forms and inflections will express not only the principal action, but the greatest possible number of the moral ideas and physical objects connected with it, and will combine itself to the greatest extent with those conceptions which are the subject of other parts of speech, and in other languages require to be expressed by separate and distinct words. Such I take to be the general character of the Indian languages« (Duponceau zitiert nach Haas 1969: 240).
Ein weiterer leidenschaftlicher Erforscher der American Indian languages, John Pickering, übernahm die Theorie Duponceaus. In seinem Arti54 Ich folge in diesen Ausführungen dem äußerst aufschlussreichen Aufsatz von Mary Haas (1969) und dem Aufsatz von H. Christoph Wolfart (1967: 156ff.). 55 Duponceau fand Unterstützung für dieses Konzept bei Wilhelm von Humboldt, der die Sprachen der Welt einteilte in »isolierende«, »agglutinierende«, »inkorporierende« und »flektierende« (vgl. auch Haas 1969: 240; Koerner 1990: 111).
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kel für die »Encyclopaedia Americana« von 1831 formulierte er den für die damaligen Sprachforscher aktuellen Forschungsstand (Pickering 1831: 581-900; vgl. auch Stocking 1976: 62f.). Seit 1819 »all the observations which have been made on Indian languages, at that time unknown, have confirmed his [Duponceaus, Anm. J. H.] theory […]. This result has shown that the astonishing variety of forms of human speech, which exists in the Eastern hemisphere, is not to be found in the Western. […] we find […] a uniform system, with such differences only as constitute varieties in natural objects, seems to pervade them all; and this genus of human languages has been called (by Mr. Du Ponceau) polysynthetic, from the numerous combinations of ideas which it presents in the form of words« (Pickering 1831: 581).
Albert Gallatin schließlich, »the grand old man of American philology« (Gruber 1967: 10, vgl. auch Stocking 1976: 65), der in Genf geborene, vielseitig interessierte Staatsmann – er beriet Thomas Jefferson in indianischen Angelegenheiten – und einer der führenden Vertreter der amerikanischen Aufklärung (Murray 1993: 32), verfasste zwei bedeutungsvolle Werke zur Klassifikation der American Indian languages. Das erste, »A Synopsis of the Indian Tribes within the United States East of the Rocky Mountains and in the British and Russian Possessions in North America«, erschien 1836, das zweite, »Hale’s Indians of North-West American, and Vocabularies of North America, with an Introduction«, das er auf der Basis des von Horatio Hale gesammelten Materials (vgl. auch »Historischer, individualistischer Ansatz in Verbindung mit physikalischer Anthropologie« und »Differenzierung des Boasschen linguistischen anthropologischen Forschungsprogramms«) neu verfasste, 1848 (Darnell 1971a: 75). Gallatin stellte seine Erkenntnisse und Klassifikationen allein auf die Untersuchung und den Vergleich des gesammelten Wortmaterials der verschiedenen American Indian languages ab; deren grammatische Formen und Strukturen erachtete er ebenfalls als auffallend gleichartig: »The only object I had in view […] was to ascertain, by their vocabularies alone, the different languages of the Indians within the United States; and amongst these, to discover the affinities sufficient to distinguish those belonging to the same family. […]. The world ›family‹ must, in the Indian languages be taken in its most enlarged sense. Those have been considered as belonging to the same family which had affinities similar to those found amongst the various European languages, designated by the generic term, ›Indo-European.‹ But […] this has been done without any reference to their grammar or structure; for it will be seen […] that, however entirely differing
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in their words, the most striking uniformity, in their grammatical forms and structure, appears to exist in all the American languages, from Greenland to Cape Horn, which have been examined« (Gallatin 1848, zitiert nach Haas 1969: 244).
Gallatin unterschied insgesamt 32 distinktive Sprachfamilien in den Vereinigten Staaten – eine Klassifizierung, die in der Geschichte der genealogischen Klassifikation der nordamerikanischen Sprachen als Markstein gilt. Über die Schriften dieser für die American Indian languages relevanten Sprachforscher hinaus existierten insgesamt 670 Vokabularien der verschiedenen amerikanischen Sprachen und Dialekte, die der Smithsonian Institution gehörten. Powell schienen diese Wortlisten, die zum Teil mit extensiven grammatischen Notizen angereichert waren, für seine linguistischen Projekte von großer Bedeutung. In einem Brief an Joseph Henry,56 den Direktor der Smithsonian Institution, schrieb Powell am 2. Oktober 1876: »Sir: Knowing that the Smithsonian Institution has been for many years making collections of vocabularies of various North American languages and dialects, I beg leave to make the following statement and suggestion. I have myself been collecting vocabularies of many of the same tribes, in which work I have been assisted by several gentlemen who are making studies of North American Indians, and thus I have on hand a large amount of linguistic material, consisting of vocabularies, grammatic notices, &c., which I desire to publish at an early date. In the continuance of this linguistic work it will be of very great advantage to have the material in the hands of the Smithsonian Institution published immediately, so that in the future there will be no duplication of what has already been accomplished. It would also seem wise to consolidate the Smithsonian material with my own. I therefore beg to suggest that the material in your hands may be turned over to me for publication« (Powell 1877: vi).
Joseph Henry folgte der Bitte Powells und überließ ihm die Wortlisten, die bei der Gründung des Bureau of Ethnology 1879 in dessen Besitz übergingen.
56 Joseph Henry hatte im Vorfeld den selbsternannten Linguisten James Hammond Trumbull gebeten, die Listen systematisch durchzugehen und eine Überarbeitung für die Publikation vorzunehmen. Trumbull lehnte ab; der Arbeitsaufwand sei schlicht zu groß (vgl. Darrah 1969: 260). Zur Übergabe der Vokabularlisten vergleiche auch Darnell (1971c: 76 und 1998: 29).
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Powell publizierte 1877 im ersten Band der »Contributions to North American Ethnology« bereits eine erste Auswahl. Doch zu einer Publikation aller Listen kam es nicht. Viele waren höchst lückenhaft und zu esoterisch für eine von der Regierung finanzierte Publikation. Und manche der Vokabularien, so stellte Powell fest, waren offensichtlich ohne jegliches sprachliches, geschweige denn »phonetisches Urteilsvermögen« aufgezeichnet worden – eine Gegebenheit, die die linguistische Anthropologie noch eine Zeit lang beschäftigen wird. So entschied Powell, dass es, um eine wissenschaftlich fundierte Übersicht über sämtliche amerikanisch-indianischen Sprachen zu gewinnen, verlässlichere Aufzeichnungen brauchte. Und diese erhielt man nur, wenn man die Native Americans direkt befragte. In diesem Kontext schrieb Powell eine Anleitung für zukünftige Ethnologen, die:
»Introduction to the Study of Indian Languages« – Instrument zur Mobilisierung der American Indian languages »Powell had created a portable course in ethnology for the untutored but zealous traveler« (Hinsley 1994 [1981]: 161).
Die »Introduction to the Study of Indian Languages« verfasste Powell in der Absicht, ein Instrument zu schaffen, das es selbst Amateuren ermöglichen sollte, linguistisches Material im Feld systematisch aufzuzeichnen und so Datenmaterial für die neue Ethnologie zu generieren: »The field of research is vast; the materials are abundant and easily collected; reward for scientific labor is prompt and generous. Under these circumstances American students are rapidly entering the field. But the area to be covered is so great that many more persons can advantageously work therein. Hundreds of languages are to be studied; hundreds of governments exist, the characteristics of which are to be investigated and recorded. All these peoples have, to a great extent, diverse arts, diverse mythologies, as well as diverse languages and governments […]« (Powell 1880 [1877]: viii).
Viel Zeit blieb den Forschern nicht, denn die Reservations- und Zivilisierungspolitik der U.S.-Regierung begann die Kulturen der Native American bereits zu zersetzen: »[…] while the people are not becoming extinct but absorbed, languages are changing, governments are being overthrown, institutions are replaced, and arts are becoming obsolete. The time for pursuing these investigations will soon end. The assistance of American scholars is most earnestly invoked« (Powell 1880 [1877]: viii). 102
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Powell stützte sich in seiner »Einführung«, die drei Jahre später in zweiter Auflage erschien, direkt auf Arbeiten linguistisch und ethnologisch versierter Zeitgenossen ab. Er übernahm die von George Gibbs 57 1863 verfasste Liste zur Sammlung geeigneter Wörter und erweiterte diese. Und in Zusammenarbeit mit William Dwight Whitney, Professor für Sanskrit und vergleichende Philologie an der Yale University, konzipierte er ein neues standardisiertes Alphabet, das sich auf indoeuropäische Sprachbeispiele abstützte.58 Das Alphabet bestand aus einer Liste von einzeln aufgeführten Lauten mit speziellen Bezeichnungen für Nasalierung, Aspiration und Glottalisierung, die mit den damaligen Druckmöglichkeiten realisiert werden konnten.59 Die Transkriptionsanweisungen sollte es den Feldforschern auch ohne linguistische Ausbildung ermöglichen, eine wissenschaftliche adäquate Aufzeichnung zu erstellen. William Dwight Whitney war der bedeutendste amerikanische Linguist seiner Zeit, der auch in der linguistischen Gemeinschaft Europas des späten 19. Jahrhunderts auf Resonanz stieß.60 In seinen beiden Hauptwerken »Language and the Study of Language« von 1867 und »Life and Growth« von 1875 betonte er die Notwendigkeit, die Sprache als natürliches Phänomen zu betrachten, das bestimmten Gesetzen unterworfen war. Whitney stellte sich gegen die romantische Auffassung der Sprache als göttliches Geschenk. Er sah in ihr eine in der menschlichen Gesellschaft verankerte menschliche Leistung. Für Whitneys wissenschaftliche Kollegen war vor allem sein an Lyells geologische Prinzipien anknüpfender »Entwicklungshistorizismus«61 überzeugend. Für
57 George Gibbs stand im Dienste der Smithsonian Institution und unternahm bereits in den 1850er Jahren Expeditionen in den noch unbekannten Westen. Er verfasste ein Wörterbuch der Chinook-Sprache und entwarf für die künftigen Feldforscher Vokabularlisten, die es zu vervollständigen galt. 58 So zum Beispiel: »a as in far, father; German, haben; Sp., ramo. […] ä as in hat, man. […] ai as in aisle, as i in pine, find; German, Hain, and as ei in mein, Bein; almost like Sp., sayal ayunar« (Powell 1880 [1877]: 14). 59 Die technologischen Druckmöglichkeiten beschränkten die linguistischen Wissenschaftler in ihrer Auswahl an Buchstaben (vgl. Darnell 1998: 50f.). 60 Ferdinand de Saussure schrieb 1909 über Whitney: »Of the different attempts between the years 1860 and 1870, which for the first time began to extract the mass of results accumulated by comparative grammar some generalizations about language, all were frustrated or without general value, except that of Whitney […]« (Saussure zitiert nach Jakobson 1971: xxix; vgl. auch Koerner 1990: 112; Anderson 1985: 194f.). 61 William Dwight Whitney adaptierte Sir Charles Lyells Entwicklungsprinzipien geologischer Phänomene für die Erklärung sprachhistorischer Prozesse. In »Language and the Study of Language« schreibt er: »[…] a noteworthy and often-remarked similarity exists between the facts and methods of
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Whitney, so stellt es der linguistische Anthropologe Michael Silverstein dar, »[…] explanation must be in terms of how the particular items get there, that is, in terms of how they arise, spread, and become productive, and run their course to obsolescence and atavism. Furthermore, this historical explanation deals with change that is gradual and regular; it is free from catastrophes, such as the floods and crumbling towers invoked by defenders of Mosaic chronology […]« (Silverstein 1971: x)
– eine Überzeugung, die Powell mit Whitney teilte, eine Überzeugung, die jegliches Mysterium aus der Wissenschaft ausschloss. In der zweiten Auflage seiner »Introduction«, in der er sich vor allem auf die Untersuchung der Morphologie konzentrierte, stützte sich Powell auf James Hammond Trumbull, einen selbst ernannten Indian language expert.62 Powell druckte einen Text Trumbulls, der bereits 1871 in den »Transactions of American Philological Association« unter dem Titel »On the Best Methods of Studying the North American Languages« erschienen war, in seiner »Introduction« als §31 »On the best Method of Studying Materials Collected« (Powell 1880 [1877]: 59) zu großen Teilen neu ab.63
geology and those of linguistic study. The science of language is, as it were, the geology of the most modern period, the Age of Man, having for its task to construct the history of development of the earth and its inhabitants from the time when the proper geological record remains silent […]. The remains of ancient speech are like strata deposited in bygone ages, telling of the forms of life then existing, and of the circumstances which determined or affected them; while words are as rolled pebbles, relics of yet more ancient formations, or as fossils, whose grade indicates the progress of organic life, and whose resemblances and relations show the correspondence or sequence of the different strata; while, everywhere, extensive denudation has marred the completeness of the record, and rendered impossible a detailed exhibition of the whole course of development« (Whitney 1867: 47; zum Uniformitarismus in der Linguistik vgl. Christy 1983: 78-89). 62 Mary Haas betrachtet Trumbull in ihrem Aufsatz »Grammar or Lexicon?« als Wegbereiter einer neuen Ära der amerikanischen Linguistik (Haas 1969: 246). 63 Powell verzichtete auf die ersten Absätze, in denen Trumbull das vorhandene linguistische Material folgendermaßen beurteilt hatte: »But if we look carefully through the entire collection (excluding, however, from present consideration all additions which have been made to it in the last ten years) we shall be obliged to confess – not without some mortification to the pride of American scholarship – that a great part of it is absolutely worthless to critical students of language, and what is worse, that the real value of origi-
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Trumbull stellte sich als einer der ersten gegen das aus seiner Sicht sinnlose »vocabulary-gathering«. Die Fabrikation von Vokabularlisten, welche die Anthropologen als Hilfsmittel zur Aufzeichnung der Sprachen ins Feld nahmen, und, davon gingen Trumbulls Vorgänger aus, der systematischen Erfassung der wichtigsten Begriffe der amerikanisch-indianischen Sprachen dienten, sei die falsche Methode, um sprachwissenschaftlich gesicherte Kenntnisse zu gewinnen. Denn Eins-zu-einsÜbersetzungen zwischen zwei Sprachen, die sich in ihren »plans of thought« fundamental unterschieden, bringen nichts, konstatierte Trumbull. Das folgende Beispiel, das in seiner Anlage an spätere Ausführungen von Franz Boas erinnert, macht seine Argumentation deutlich: »Every standard vocabulary includes the verb ›to eat,‹ yet this verb has not, so far as I can discover, its equivalent in any American language. The Algonkin has four or five primary and a great many composite verb of eating, but none of these expresses the simple act of taking food, without reference to the manner, mode, subject, or object. One verb, for example, signifies ›to eat animal food‹ (or that which has or has had life); another ›to eat vegetable food;‹ another, ›to eat soft food‹ (that which may be dipped up, spoon-victuals, such as samp, succotash, and the like); others, to ›eat ravenously, to devour like beasts of prey,‹ – ›to graze,‹ or take food from the ground as cattle do, – and so on« (Powell 1880 [1877]: 61f.).
Trumbull, der sich in seinen Publikationen äußerst kritisch mit seinen Vorgängern Gallatin, Pickering und Duponceau auseinander setzte (Powell 1880 [1877]: 76ff.), forderte anstelle der Sammlung einzelner Wörter eine gründliche Analyse der Morphologie der amerikanischen Sprachen: »[…] a constant aim of the student of any of the American languages should be the resolution of synthesis by analysis. What the Indian has so skillfully put
nal materials has in many instances been lost or much depreciated by the method of their exhibition. We shall find many rash generalizations from insufficient data, much ingenious speculation from questionable facts and too frequent resort to the comparative method by writers who had, apparently, very little knowledge of either the vocabulary or the grammatical structure of the languages compared. The materials for the study of a new language or dialect have too often been collected and arranged with constant reference to its supposed likeness to some other languages previously known« (Trumbull 1869-1879: 55f.). Den letzten Teil, in dem Trumbull sich gegen die Arbeiten Duponceaus abgegrenzt hatte, ließ Powell ebenso weg (Trumbull 1869-1879: 76ff.).
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together – ›agglutinated‹ or ›incorporated‹ – must be carefully taken to pieces, and the materials of the structure be examined separately. Every Indian cluster-word is a sentence, – a description, definition, or affirmation« (Powell 1880 [1877]: 64).
Konsequenterweise forderte Trumbull von den Feldforschern, ganze Texte der amerikanisch-indianischen Sprachen aufzunehmen, indem sie zum Beispiel ein einzelnes Kapitel der Bibel oder ein Dutzend Sätze einer familiären Konversation in eine amerikanisch-indianische Sprache übersetzten. Das Ziel jeglicher sprachwissenschaftlicher Analyse war denn auch, so Trumbull: »To single out and fix the primary meanings of the verbal roots should be the ultimate aim in the study of every Indian language. What excessive synthesis has done, searching analyses must undo« (Powell 1880 [1877]: 65). Powell war sich der Wichtigkeit der Ausführungen Trumbulls durchaus bewusst. Als linguistischer Laie, der er nun einmal war, konnte er es sich nicht leisten, Trumbulls Ausführungen in seiner sprachwissenschaftlichen »Introduction« zu übergehen. Trumbull galt damals als einer der führenden Kenner der amerikanisch-indianischen Sprachen, war der Verfasser des Artikels »Indian Languages of America«, der 1876 in der »Johnson’s New Universal Cyclopaedia« erschienen war. Dennoch ließ sich Powell nicht davon abhalten, über 200 Seiten Vokabularlisten abzudrucken, die die Feldforscher auszufüllen hatten. Immerhin berücksichtigte er in der zweiten Auflage der »Introduction« grammatische Kategorien wie »Number and Gender of Nouns – Demonstrative and Adjective Pronouns«, »Personal and Article Pronouns – Transitive Verbs«, »Possession«, »Intransitive Verbs – Adjectives, Adverbs, Propositions, and Nouns used as Verbs«, »Voice, Mode, and Tense«. Für Powell blieb aber der Vergleich der Vokabularien für eine Klassifikation der American Indian languages richtungweisend. »[A] philosophic treatment of the subject of language« beziehunsgweise »a comparative grammar of Indian tongues« (Powell 1880 [1877]: vi) hatte lediglich ergänzenden Charakter. Die Vokabularlisten reichten in seinen Augen völlig aus, um die »linguistic affiliation« (1971a: 77) nachzuweisen und zu spezifizieren. Die »Introduction to the Study of Indian Languages« dokumentiert nicht nur die wichtigsten linguistischen Ansätze von Powells Zeitgenossen, sondern gibt auch einen Einblick in die praktischen Schwierigkeiten der Feldforschung. Die Einführung – als Instrument konzipiert – sollte die jungen Ethnologen auf die widrigen Umstände im Feld vorbereiten. Das zweite Kapitel mit dem Titel »Hints and Explanations« lieferte zahlrei106
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che Informationen »for the purpose of explaining severally the materials called for in the schedules, and to explain the difficulties which the student may encounter« (Powell 1880 [1877]: 17). Die »Hints and Explanations« sowie die »Schedules« dokumentieren den wissenschaftlichen Standpunkt Powells und auch seine ethnozentrischen (Vor-)Urteile gegen die American Indians: Morgan ist mit seinem nicht zu hinterfragenden evolutionären Dreistufenschema in diesem Werk, das eine wissenschaftliche, (vermeintlich) objektive Datensammlung zum Ziel hatte, allgegenwärtig: Powell übernimmt Morgans Ausführungen über die richtige Beschreibung der Behausungen der Native Americans und druckt dessen Listen aus »Consanguinity and Affinity« zur Bezeichnung von Verwandtschaftssystemen mit einigen Erweiterungen ab. Powell ging es, wie erwähnt, nie darum, die einzelnen indianischen Kulturen in ihrer je spezifischen Eigenart zu untersuchen; er wollte vielmehr Datenmaterial sammeln, um das von Morgan vorgegebene Entwicklungsschema der menschlichen Kultur zu bestätigen. Der darin eingeschriebene Ethnozentrismus wird im Kapitel »Hints and Explanations« deutlich, wenn er den von den American Indians erreichten Entwicklungsstand kommentiert. Er spricht von den »primitively used skins of animals«, von den »rude arts before the advent of the white man«, den »primitive dwellings«, den »primitive methods measuring«. Und er grenzt in seinen Ausführungen über die Besonderheiten der Sprachen die American Indian languages von den »civilized tongues« (Powell 1880 [1877]: 18, 20, 23, 26 & 46) ab. Die Ethnologen hatten es in ihrer Feldforschung, daran ließ Powell keinen Zweifel, mit »Primitiven« zu tun. Doch diese »primitiven« Forschungsobjekte waren gleichzeitig diejenigen, die es zu befragen galt, um richtige Vokabularlisten-Einträge zu erstellen und so wissenschaftliche Tatsachen zu entwickeln. Nur wie konnten »Primitive« auf »zivilisierte«, wissenschaftliche Fragen überhaupt adäquat antworten? Powell war sich dieses Problems bewusst. Gleich zu Beginn des zweiten Kapitels seiner Einführung schreibt er: »Care should be taken to obtain words from the Indians themselves […]. To collect from an Indian requires great patience, as it is difficult to hold his attention for any great length of time, and it requires a constant exercise of ingenuity to devise methods by which he may fully understand what is asked by the collector, and that the collector himself may feel that he is working with certainty. Sometimes an Indian in jest will deceive by giving foolish or vulgar words; for this and other reasons everything collected should be carefully verified« (Powell 1880 [1877]: 17f.).
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Dieser Textausschnitt reflektiert nicht nur die persönliche Voreingenommenheit Powells gegen die Native Americans, sondern auch die damals in der ›weißen‹ Gesellschaft vorherrschende Einstellung, dass das eigene Wertesystem das absolut gültige beziehungsweise dem der Native Americans klar überlegen war. Die American Indians galten als undiszipliniert, ungeduldig, begriffsstutzig, kindisch. Für eine wissenschaftliche Erhebung linguistischen Materials durften daher lediglich intelligente Indianer befragt werden (Powell 1880 [1877]: 25, 37, 41). Die Qualifikation der geistigen Fähigkeiten der Native Americans, die als »interpreter« im Dienste der Wissenschaft standen, waren in den ethnologischen Berichten Usus, um nicht zu sagen eine Notwendigkeit.64 Denn die Feldforscher hatten zu beweisen, dass das Material, das sie von ihnen erhielten, ihren ›zivilisierten‹ wissenschaftlichen Kriterien Genüge leistete. Die ›Weißen‹ selbst, egal, ob sie als Pfarrer, Gouverneure, Firmenleiter, Leutnants der amerikanischen Armee etc. tätig waren, standen nie im Verdacht, ungenaue Daten zu liefern, schließlich standen sie auf der höchsten evolutiven Stufe – erst Jahre später wird ein aus einem völlig anderen Denkstil stammender Forscher diese Konstruktion hinterfragen. Doch wenden wir uns nun der von Powell konzipierten Sprachwissenschaft zu.
64 In der ersten Ausgabe der »Contributions to North American Ethnology«, die 1877 im Auftrag des Innenministeriums herausgegeben worden ist, veröffentlichte Powell als »geologist in charge« zahlreiche Wortlisten, die ihm von Joseph Henry, dem Leiter der Smithsonian Institution übergegeben worden waren (vgl. »Powells Vorläufer«). Bei allen Ausführungen finden sich Angaben zu den Sammlern; es handelte sich um Pfarrer, Gouverneure, Firmenleiter, Leutnants der amerikanischen Armee etc. Die Befragten beziehungsweise die Auskunft gebenden American Indians wurden zusätzlich hinsichtlich ihrer geistigen Kompetenz bewertet. So finden sich in der Literatur immer wieder Angaben von folgender Eigenart: »The within vocabulary, a dialect of the T’linkit or Stikine, was obtained at Port Townshend, June, 1857, from Henry Barber, a half-breed, said to be the son of an American shipmaster. He gave the name Skat-tawn as that of his clan, or kwan. According to him, the Sit-ka-kwan and Tan-ta-kwn (Tongas) both speak the same. He was much less intelligent than Ozier, the T’simsian’ half-breed, but the vocabulary is believed to be reliable.« Oder um noch ein weiteres Beispiel zu nennen: »The vocabulary was obtained from an Indian well known as ›Captain Stewart,‹ through the Medium of Frederick Minni, a Canadian, who spoke the language. It may be considered as correct, as I subsequently used it in procuring that of the Bilikula, and was perfectly understood« (Gibbs/Dall 1877: 121 & 144).
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Die linguistischen Ansichten eines Majors Der Leiter des Bureau of Ethnology, der keinerlei linguistische Ausbildung genossen hatte, übertrug Morgans kulturhistorisches Entwicklungskonzept (»savagery, barbarism, civilization«) auf die American Indian languages. Denn Sprachen seien ebenso ein vom menschlichen »mind« hervorgebrachtes Erzeugnis wie die technischen Fertigkeiten und die sozialen Institutionen einer Gesellschaft. Powell formulierte daher »grammatische Prozesse«, linguistische Kriterien, die, so glaubte er, Rückschlüsse auf die verschiedenen Entwicklungsstufen der Sprachen zuließen. Betrachten wir seine linguistischen Konstruktionen genauer.65 In seinen »additional investigations suggested« schreibt Powell: »[I]n the evolution of any language progress is from a condition where few ideas are expressed by a few words to a higher, where many ideas are expressed by the use of many words; but the number of all possible ideas or thoughts expressed is increased greatly out of proportion with the increase of the number of words. […] [I]n all those languages which have been most thoroughly studied, and by inference in all languages, it appears that the few original words used in any language remains as the elements for the greater number finally used« (Powell 1880 [1877]: 55).
Der Entwicklungsfortschritt, das heißt in diesem Zusammenhang die Erzeugung neuer Begriffe, geschieht, so Powell, durch »grammatische Prozesse«. Diese unterteilt er in vier unterschiedliche Modifikationsprozesse: »I. process by combination«, »II. vocalic mutation«, »III. processes by intonation« und »IV. processes by placement«. Der erste Prozess beinhaltet die eigentliche Wortbildung. Powell differenziert hier zwischen »juxtaposition«, »compounding«, »agglutination« und »inflection« (Powell 1880 [1877]: 55f.). Bei der »juxtaposition« werden zwei oder mehrere Einzelelemente, die als distinktive Wörter erhalten bleiben, aneinander gereiht. Bei der »composition« werden »zwei Wörter« (heute würden wir von lexikalischen Morphemen sprechen) zu einem neuen Wort zusammengesetzt, ohne dass sie ihre Form verlieren. Die »agglutination« entspricht einer Vereinigung von
65 Das »ranking« der Sprachen war keine ursprüngliche Idee Powells. Bereits Wilhelm von Humboldt hatte sich in seinen Ausführungen »Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideen-Entwicklung« mit dieser Frage beschäftigt. Nur betrieb Powell dieses »ranking« – in Abgrenzung zu seinen linguistischen Vorgängern – in direkter Abhängigkeit von Morgans Theorie.
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»zwei oder mehreren Elementen« zu einem Wort, wobei die ursprünglichen Wörter noch zu erkennen sind. Bei der »inflection« schließlich verändern sich ein oder mehrere zusammengesetzte Elemente derart, dass eine eindeutige Segmentierung ihrer Wurzeln nicht mehr möglich ist. Als weiteren grammatischen Prozess nennt Powell die »vocalic mutation«. Als Beispiel führt er die englischen Ausdrücke »man« und »men« an. Powell lässt zwar offen, ob es sich bei der Änderung des Vokals »a« zu »e« um einen grammatischen Prozess handelt, doch aufgrund der Wichtigkeit, die er diesen »vocalic mutation« in einigen Sprachen zuschreibt, will Powell diesen Vorgang als distinktiven Prozess der Begriffsbildung definiert wissen. Neue komplexe Begriffe können drittens auch durch die Veränderung der Intonation vorhandener Wörter entstehen. Der letzte von Powell beschriebene Prozess betrifft die Positionierung der einzelnen Wörter in einem Satz. Im Satz »John struck James« wissen wir, so Powell, aufgrund der Position, die die Begriffe »John« und »James« einnehmen, dass John der Aktor ist und James derjenige, an dem die Handlung vollzogen wird – und nicht umgekehrt. Je nach Stellung im Satz erhält der Begriff eine andere Funktion und demnach eine andere Bedeutung. Diese »grammatischen Prozesse« finden, so führt Powell weiter aus, Verwendung für unterschiedliche Zwecke: »First, for derivation, where a new word to express a new idea is made by combining two or more old words, or by changing the vowel of one word, or by changing the intonation of one word. Second, for modification, a word may be qualified or defined by the processes of combination, vocalic mutation of intonation. […] Third, for relation. When words as signs of ideas are used together to express thought the relation of the words must be expressed by some means« (Powell 1880 [1877]: 71).
Diese »Prozesse« nehmen nun in Powells Argumentation eine zentrale Rolle ein: Powell beschäftigte sich nicht mit der Grammatik der American Indian languages wie etwa Trumbull, um sie klassifizieren zu können; er suchte vielmehr nach geeigneten linguistischen Kriterien, um die einzelnen Sprachen auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen einzuordnen. Für Powell sind die Sprachen durch die grammatischen Prozesse »organisiert«. »Organization« steht für ihn als universell gültiges evolutionäres Prinzip, das die »differentiation of organs and their combination into integers« (Powell 1880 [1877]: 70) fördert:
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»Linguistic organization, then, consists in the differentiation of the parts of speech and the integration of the sentence. For example, let us take the words, John, father, and love. John is the name of an individual; love is the name of a mental action, and father the name of a person. We put them together, John loves father, and they express a thought; John becomes a noun, and is the subject of the sentence; love becomes a verb, and is the predicant; father a noun, and is the object; and we now have an organized sentence. A sentence requires parts of speech, and parts of speech are such because they are used as the organic elements of a sentence« (Powell 1880 [1877]: 70).
Der Organisationsgrad einer Sprache ist, so Powell, ein erstes, geeignetes Kriterium für ihre Einordnung in die unterschiedlichen Entwicklungsperioden »savagery«, »barabarism« und »civilization«: »The criteria of rank in languages are, first, grade of organization, i. e., the degree to which the grammatic processes and methods are specialized, and the parts of speech differentiated […]« (Powell 1880 [1877]: 71). Powells Argument läuft darauf hinaus, dass die Differenzierung der grammatischen Prozesse Rückschlüsse auf die von einer Sprache erreichte Entwicklungsstufe erlaube. So seien, wie er dies an einem Beispiel exemplarisch darzustellen versucht, im Englischen die drei grammatischen Prozesse, die in dieser Sprache vorkommen, klar ausdifferenziert: Die Kombination von Begriffen werde hauptsächlich für die Derivation verwendet; die Intonation komme als grammatischer Prozess nur begrenzt vor, i. e. um den interrogativen oder imperativen Modus zu unterstützen. Die Positionierung sei äußerst spezialisiert, komme häufig vor und regle vor allem die syntaktische Beziehung zwischen den Begriffen. Die »vocalic mutation« hingegen spiele in der englischen Sprache keine Rolle. In Powells Augen waren die grammatischen Prozesse im Englischen eindeutig mit bestimmten sprachlichen Entwicklungen (Derivation, Modifikation und syntaktische Relation) verbunden: »Derivation is accomplished by combination. Modification is accomplished by the differentiation of adjectives, and adverbs, as words, phrases, and clauses. Syntactic relation is accomplished by placement« (Powell 1880 [1877]: 72; vgl. auch Powell 1881b). Die amerikanisch-indianischen Sprachen hingegen verfügten nicht über eine derart ›vollendete‹ Systematisierung. Denn, so Powell weiter: »In the Indian tongues combination is used for all three purposes, performing the three different functions of derivation, modification, and relation. Placement also is used for relation, and for both kinds of relation, syntactic and prepositional«. Daraus zieht Powell die Schlussfolgerung, dass die indianischen Sprachen über einen »niederen« Organisationsgrad verfügten: »With regard, then, to the processes and purposes for 111
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which they are used we find in the Indian languages a low degree of specialization; processes are used for diverse purposes; and purposes are accomplished by diverse processes. […] It will thus be seen that by the criterion of organization Indian tongues are of very low grade« (Powell 1880 [1877]: 72 & 74b). Neben dem Organisationsgrad entwarf Powell für die Etablierung seiner linguistischen Theorie ein zweites Kriterium: der »sematologic content, that is, the body of thought which the language is competent to convey« (Powell 1880 [1877]: 71). Powell versuchte nachzuweisen, dass die amerikanisch-indianischen Sprachen aufgrund ihrer unspezialisierten grammatischen Prozesse ungeeignet sind, Gedanken effizient darzulegen. Dieses Sprachökonomie-Prinzip begründete abschließend die Rangordnung der Sprachen und die Überlegenheit des ›weißen‹ Denkens: »Economy in speech is the force by which its development has been accomplished, and it divides itself properly into economy of utterance and economy of thought. Economy of utterance has had to do with the phonic constitution of words; economy of thought has developed the sentence« (Powell 1880 [1877]: 74). Aus diesem Leitsatz folgerte Powell, dass die »paradigmatische Inflektion«, die eine Eigentümlichkeit der amerikanisch-indianischen Sprachen darstellt, letztlich unnötige Überlegungen seitens der Sprecher abverlange. Anhand des englischen Satzes »A man killed a rabbit« und dessen Übersetzung in die Sprache der Poncas untermauerte er sein Sprachökonomie-Argument: »A Ponca Indian […] would have to say the man, he, one, animate, standing, in the nominative case, purposely killed, by shooting an arrow, the rabbit, he, the one, animate, sitting, in the objective case; for the form of a verb to kill would have to be selected, and the verb changes its form by inflection and incorporated particles to denote person, number, and gender as animate or inanimate, and gender a standing, sitting, or lying, and case; and the form of the verb would also express whether the killing was done accidentally or purposely, and whether it was by shooting or by some other process, and, if by shooting, whether by bow or arrow, or with a gun; and the form of the verb would in like manner have to express all of these things relating to the object; that is, the person, number, gender, and case of the object, and from the multiplicity of paradigmatic forms of the verb to kill this particular one would have to be selected. Perhaps one in a million it would be the purpose to express all of these particulars, and in that case the Indian would have the whole expression in one compact word, but in the nine hundred and ninety-nine thousand nine hundred and ninety-nine cases all of these particulars would have to be thought of in the selcetion of the form of the verb, when no valuable purpose would be accomplished thereby« (Powell 1880 [1877]: 74c).
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Powells »Gewinner« in der linguistischen Rangordnung ist offensichtlich: die englische Sprache, die – und dies grenzt an einen logischen Zirkelschluss – den in der amerikanischen Gesellschaft verbreiteten Effizienzkriterien am besten entsprach. Die »Introduction to the Study of Indian Languages« zirkulierte bei zahlreichen Feldforschern, die im Kontakt mit den Native Americans standen. Powells Anleitung wurde für alle während den nächsten Jahrzehnten vom Bureau of Ethnology durchgeführten linguistischen Projekte zum Standard. Powells Mitarbeiter sammelten auf dieser sprachwissenschaftlichen Grundlage Informationen, die Powell als Bausteine einer synthetischen Kulturgeschichte der Menschheit zu benutzen versuchte (Stegner 1954: 269). Trotz Powells Vernetzung mit zahlreichen sprachwissenschaftlichen Autoritäten folgten nicht alle zeitgenössischen Forscher seinem linguistischen Programm. Daniel Garrison Brinton, Powells eigentlicher Gegenspieler, wagte den Alleingang und versuchte in den 1880er Jahren, die wissenschaftliche Gemeinschaft von seinen linguistischen Ansichten zu überzeugen.
P o w e l l s G e g e n s p i e l e r : D a n i e l G a r r i s o n Br i n t o n »How the author of that work, Major J. W. Powell, Director of the Bureau, could have written a treatise on the study of American languages [Introduction to the Study of Indian Languages (1880), Anm. J. H.], and not have a word to say about these doctrines66 the most salient and characteristic features of the group, is to me as inexplicable as it is extraordinary. He certainly could not have supposed that Duponceau’s theory was completely dead and laid to rest, for Steinthal, the most eminent philosophic linguist of age, still teaches in Berlin […]. What is more, Major Powell does not even refer to this structural plan, or include it in what he terms the ›grammatical processes‹ which he explains. This is indeed the play of ›Hamlet‹ with the part of Hamlet omitted!« (Brinton 1890 [1886]: 358).
66 Brinton behandelt in seinem Aufsatz die sprachwissenschaftlichen Theorien von Peter Stephen Duponceau, Wilhelm von Humboldt sowie Heymann Steinthal, die die amerikanisch-indianischen Sprachen als »polysynthetische« oder »inkorporierende« zusammenfassten (Brinton 1890 [1885]: 350358).
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Daniel Garrison Brinton (1837-1898), zur Zeit des Bürgerkrieges als Arzt tätig und bis 1887 Herausgeber medizinischer Fachzeitschriften,67 positionierte sich seit den 1870er Jahren als ausgewiesener Kenner der American Indians in zahlreichen wissenschaftlich interessierten nationalen und internationalen Gesellschaften (so genannte »Learned Societes«) wie der American Philosophical Society (APS),68 der American Association for the Advancement of Science (AAAS),69 der Historical So67 Brinton war Herausgeber der Wochenzeitschrift »Medical and Surgical Reporter« und der medizinischen Vierteljahresschrift »Compendium of Medical Science«. 1887 zog er sich endgültig aus diesen medizinischen Geschäften zurück, um sich als Vollzeit-Ethnologe zu betätigen (vgl. Wolfart 1967: 163; vor allem auch Darnell 1988: 7f. Darnells Publikation ist die einzige, die sich detailliert mit dem Leben Brintons auseinander setzt. Brinton geriet in der Geschichtsschreibung der Entstehung der (linguistischen) Anthropologie beinahe in Vergessenheit – aus Gründen, die es noch zu beschreiben gilt.) 68 Die American Philosophical Society, gegründet 1771, verfolgte, wie dies in der »Einführung ihrer Transactions of the American Philosophical Society« festgelegt worden war, nachstehende Ziele: »The Promoting of useful Knowledge in general, and such branches thereof in particular […] being the express purpose for which the American Philosophical Society was instituted; the publication of such curious and useful Papers as may, from time to time, be communicated to them, becomes of course, one material part of their design.« 1869 nahm die Gesellschaft Brinton als Mitglied auf. Von 1888 bis 1895 arbeitete er als Sekretär der Gesellschaft und bis zu seinem Tod 1899 als Vorsitzender des Publikationskomitees. Brinton selbst publizierte zahlreiche Artikel in den von der APS herausgegebenen »Proceedings of the American Philosophical Society«. 69 Die Formierung der American Association for the Advancement of Science im Jahre 1848 markierte die Entstehung einer national fungierenden wissenschaftlichen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten. Ihre Regeln und Ziele legten sie wie folgt fest: »By periodical and migratory meetings, to promote intercourse between those who are cultivating science in different parts of the United States, to give a stronger and more general impulse, and a more systematic direction to scientific research in our country; and to procure for the labors of scientific men, increased facilities and a wider usefulness.« Die Unterabteilung namens »Ethnology« wurde im Jahre 1869 gegründet. Vier Jahre später erhielt sie die neue Bezeichnung »Anthropology«. Seit 1875 gehörte die Unterabteilung permanent zur »Natural History Section« mit Henry Lewis Morgan als erstem Vorsitzenden. 1882 schließlich wurden die Sektionen neu gegliedert und umbenannt. Die anthropologische Abteilung hieß fortwährend Abteilung H (vgl. Kohlstedt et al. 1999: 43f.; Gruber 1967: 7). Daniel Garrison Brinton amtierte im Jahre 1894 als Präsident der Gesellschaft – dies kann als Auszeichnung für seine Arbeit gelesen werden. (John Wesley Powell war 1888 Präsident, Franz Boas war 1895 Vizepräsident, 1931 Präsident der Organisation) (vgl. Kroeber 1969 [1943]: 21).
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ciety of Pennsylvania,70 wie auch den anthropologischen Gesellschaften in Berlin und Wien. Er opponierte gegen Powells rigiden und mechanistischen Interpretationsrahmen für die Kulturen und Sprachen der American Indians und attackierte ihn wegen seiner marginalen linguistischen Kenntnisse. Im Gegensatz zum Major ging es Brinton nicht um eine praktisch-politisch verwertbare Klassifikation der amerikanisch-indianischen Sprachen; die Politik der Regierung interessierte ihn nicht. Er hegte vielmehr die Absicht, eine Sprachphilosophie zu begründen, in der die American Indian languages als Grundlage dienten, seine These der »psychic unity of mankind« zu beweisen. Brinton orientierte sich in seiner Forschung, die durchwegs kompatibel war mit dem rassistisch-evolutionstheoretischen Diskurs seiner Zeit, an Vorgängern wie Peter Stephen Duponceau, aber auch an den deutschen Sprachwissenschaftlern Wilhelm von Humboldt und Heymann Steinthal.
Inhaber des ersten Lehrstuhls für Anthropologie Der Ruf, den Daniel Garrison Brinton als Fachmann für ethnologische, archäologische und linguistische Studien der amerikanisch-indianischen Kulturen genoss, verhalf ihm zu zwei Professuren, den ersten im Fachbereich ›Ethnologie‹ überhaupt. 1884 übernahm er den Lehrstuhl für Ethnologie und Archäologie an der Academy of Natural Sciences und 1886 denjenigen für amerikanische Archäologie und Linguistik an der University of Pennsylvania, beide in Philadelphia. Die beiden Berufungen hatten im zeitgenössischen Bezugsrahmen, im Kontext der allgemeinen Entwicklungen der akademischen Disziplinen im späten 19. Jahrhundert, allerdings nur eine beschränkte Bedeutung. Der Einfluss dieser Positionen auf das Denkkollektiv der anthropologisch interessierten Forschenden blieb gering: Die Academy of Natural Sciences war eine Gelehrtengesellschaft, die es einer gebildeten Öffentlichkeit gestattete, Kurse in verschiedenen Fachbereichen zu besuchen. Archäologie und Ethnologie waren nur periphere Fächer, die offensichtlich niemanden wirklich zu fesseln vermochten. An der University of Pennsylvania arbeitete Brinton gleichfalls ehrenamtlich (vgl. Murray 1993: 36; Darnell 1970: 80 & 84; Kroeber 1939: 118). Auch hier war das Interesse der Studierenden verschwindend klein. Im Universitätsverzeichnis des Studienjahres 1887-1888 70 Die Historical Society of Pennsylvania wurde 1824 gegründet mit dem Auftrag, das historische Verständnis für die Commonwealth of Pennsylvania anzuregen und zu pflegen.
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sind insgesamt 13 Fachbereiche aufgelistet, in denen Abschlüsse gemacht werden konnten; amerikanische Archäologie und Linguistik war einer von diesen.71 Doch kein einziger Student entschied sich für einen »Degree« in Brintons Spezialgebiet. Auch Brintons Einfluss innerhalb der sich neu etablierenden anthropologischen Akademie der Vereinigten Staaten blieb bescheiden. Nicht, dass er sich nicht bemüht hätte. So legte er dem Bewerbungsschreiben an die Academy of Natural Science ein anthropologisch geisteswissenschaftlich ausgerichtetes Studienprogramm bei, das allerdings in einer Institution, die sich den Methoden und Theorien der Naturwissenschaft verpflichtet fühlte, auf große Skepsis stieß. Brintons eher als erfolglos zu bezeichnenden Versuche Ende der 1880er Jahre, das Fach Ethnologie beziehungsweise Anthropologie72 an den Universitäten zu etablieren, zeigen, wie heterogen die Vorstellungen bezüglich dessen, was Ethnologie, Anthropologie zu sein hatte, waren. Es kann kaum von einer vollendeten Disziplinierung des Faches gesprochen werden. Darauf verweisen auch die unterschiedlichen Bezeichnungen der Lehrstühle Brintons. Die Bereiche Archäologie, Ethnologie und eben auch die Sprachwissenschaft, die Brinton als grundlegendes, leistungsfähiges und unverzichtbares Hilfsmittel der anthropologischen Forschung erachtete (Brinton 1885a: 17), waren im sich neu etablierenden akademischen anthropologischen Kontext der Vereinigten Staaten in den 1880er Jahren noch nicht klar voneinander zu trennen.
»Psychic unity of mankind« Daniel Garrison Brinton formulierte seine theoretischen Vorstellungen über die menschliche Gesellschaft und Natur bereits in seinen ersten Veröffentlichungen in den 1860er Jahren – allen voran in seinen ethnologisch ausgerichteten »Myths of the New World« von 1868 –, die er
71 Von 54 Studierenden der philosophischen Fakultät entschieden sich 21 für die assyrische Sprache, neun für die hebräische, zwei für die arabische, sechs der Studenten machten einen Abschluss in Philosophie, fünf in vergleichender Philologie (ohne American Indian languages), fünf in Englisch, drei in Geschichte, zwei in Chemie, drei in Mathematik, einer in Physik und schließlich sechs in Sozialwissenschaften (ohne Erwähnung anthropologischer Inhalte) (vgl. Darnell 1988: 54). 72 Brinton unterschied 1885 die zwei Begriffe Ethnologie und Anthropologie wie folgt: »Anthropology is the science which studies man as a species; Ethnology, that which studies the various nations which make up the species« (Brinton 1885a: 17).
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Zeit seines Lebens keinen größeren Revisionen mehr unterzog. Seine Arbeit zeugt von einer starken Verbundenheit mit der europäischen Denktradition, die zurückzuführen ist auf sein Studienjahr in Paris und Heidelberg im Jahre 1861 und seine anschließenden zahlreichen Reisen nach Europa. Seine Bibliothek vermag eine Vorstellung davon zu geben, wie weitgefächert und umfassend sein anthropologisches Forschungsinteresse war (Darnell 1988: 20; Wolfart 1967: 164). Die immense Bibliothek, die aus 4'098 Bänden bestand und die er nach seinem Tod der University of Pennsylvania überließ, umfasste neben Werken seiner amerikanischen Vorgänger Duponceau, Pickering, Schoolcraft u. a. auch Publikationen von Wilhelm von Humboldt, Heymann Steinthal, Friedrich Müller und J. C. Adelung. Des Weiteren fanden sich neben den linguistischen Beständen auch Publikationen zu archäologischen Themen und Veröffentlichungen des Geological Survey und des Bureau of Ethnology. Ebenso fehlten nicht, ganz den zeitgenössischen anthropologischen Denkstil bezeugend, die Werke der Evolutionsbiologen Charles Darwin und Herbert Spencer. In seinen beiden 1890 publizierten Hauptwerken, »Races and Peoples« und »Essays of an Americanist« systematisierte Brinton Ideen und Gedanken aus zahlreichen seiner bereits früher erschienenen Publikationen. Brinton interessierte sich in seiner Auseinandersetzung mit den fremden Kulturen der Native Americans vorwiegend für eine theoretische Begründung der Einheit des Menschengeschlechts, die er auf der Basis einer »psychic unity of mankind« zu rechtfertigen versuchte. 73 Brinton war Teil des großen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfindenden Diskurses, der sich mit der Frage beschäftigte, ob das Menschengeschlecht und die vorhandenen unterschiedlichen Rassen – die in einem von Darwins und Spencers Theorien geprägten Kontext Objekte zahlreicher Konstruktionen waren – mehrere Arten darstellten (Polygenismus) oder von nur einer Menschenfamilie (Monogenismus) abstammten (vgl. Stocking 1968: 42-68). Brinton vertrat den monogenistischen Standpunkt; er glaubte, dass die kognitiven Prozesse bei allen Menschen gleich funktionierten; und die Gesetze, die diese regeln, seien beim »mind of the primitive man« (Brinton 1868: 4) ebenso wie beim
73 Oder, wie er es in seinem programmatischen Aufsatz »American Languages, and Why We Should Study Them« von 1885 ausdrückt: »I must appeal to your interest in man as a race, as a member of a common species, as possessing in all his families and tribes the same mind, the same soul« (Brinton 1885a: 17).
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»zivilisierten Geist« wirksam. Auf diese Weise wird das so genannte »primitive Menschengeschlecht«, die »red race«, Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, die, so glaubte Brinton, einen Einblick in den Fortschritt und die menschliche Entwicklung erlaube. Brinton interessierte es nicht, Beweise zu finden für die von Morgan festgelegten und von Powell telquel übernommenen Entwicklungsstufen; er interessierte sich vielmehr für die von Menschen hervorgebrachten Produkte, die Ausdruck der Entwicklung des menschlichen Geistes waren; er interessierte sich für die Erklärung, weshalb einige Erzeugnisse innerhalb derselben Gesellschaft einen höheren Entwicklungsstand einnahmen als andere: »Peoples so low in one point are high in others, they develop along different lines, with scarcely a common measure, and their place in general scheme must be determined by an exhaustive investigation and perhaps a comparison with some other standards than those which we have been brought up to consider the best« (Brinton 1895: 8). Die Morgansche Evolutionstheorie – für Powell das unhinterfragbare Fundament seines linguistisch-anthropologischen Denk- und Lehrgebäudes – war für Brinton bestenfalls eine nützliche Forschungshypothese: »Taken at its real value, as the provisional and partial results of our observations, it is a useful guide; but swallowed with unquestioning faith as a final law of the universe, it is not a whit inspiring than the narrowest dogma of religious bigotry« (Brinton 1895: 8). Die Einführung der für alle Menschen gültigen wissenschaftlichen Kategorie der »psychic unity« machte ethnologische Vergleiche verschiedener Kulturen über Raum und Zeit hinweg möglich. Die angeblich ›einfachen‹ Gemeinschaften wie die der Native Americans ließen Rückschlüsse auf die bereits ausgestorbenen Kulturen zu; schließlich sind es diese anthropologischen Fragestellungen leicht zugänglichen Objekte, welche die »undisturbed evolution of the untrained mind« (Brinton 1885a: 25) enthüllten. Für Brinton war es klar, dass nur ein Studium ihrer Sprachen einen Zugang zu diesen Kulturen und damit zur Entwicklung des menschlichen Geistes möglich machte. In seinem Aufsatz »American Languages, And Why We Should Study Them« formulierte er diesen Gedanken explizit: »[…] we must turn to the naïve speech of savages, there to see in their nakedness those processes which are too obscure in our own« (Brinton 1885a: 25). Im Gegensatz zu Powell, der zwar für seine theoretischen Überlegungen eine mentale Einheit voraussetzte, in Praxis aber eher die Diversität der Kulturen betonte, beschäftigte sich Brinton vorwiegend mit dem Nachweis der Einheit des Menschengeschlechts – sei es bei seinen Un-
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tersuchungen mythologischer Erzählungen, der Religionen und anderer Symbolsysteme oder der Sprachen der Native Americans.
»Innere Form« – kulturelle Diversifikation – »nationale Weltsicht« Gleichwohl kam Brinton nicht umhin, die offensichtlichen kulturellen Unterschiede der von ihm untersuchten Gemeinschaften theoretisch zu begründen. Wie hatte eine vielfältige kulturelle Landschaft entstehen können, obwohl doch alle Menschen über dieselbe mentale Struktur verfügten? Die sprachphilosophischen Überlegungen seines geistigen Vorbildes Wilhelm von Humboldt, die er mit der Veröffentlichung verschiedener Aufsätze wie »The Philosophic Grammar of American languages as Set Forth by Wilhelm von Humboldt« und »The American Languages, and Why we Should Study Them« im amerikanischen linguistischen und anthropologischen Wissenschaftskontext einzuführen und bekannt zu machen versuchte (vgl. Brinton 1885b: 306; Brinton 1885a: 26),74 lieferte ihm die geeignete theoretische Grundlage: Es waren die Sprachen, die mit ihren jeweiligen Spezifika als »living expression of the thinking power of man, as the highest manifestation of that spiritual energy which has lifted him from the level of the brute« (Brinton 1885a: 24) die Entwicklung der Sprachgemeinschaften, der »Nationen« – um den Begriff Humboldts, den Brinton übernahm, einzuführen – fördern oder hemmen konnten. Sprachen verkörperten für Brinton einzelne Weltbilder. Die Verwendung von Humboldts Konzept der »inneren Form« erlaubte es ihm in kongenialer Weise, eine Begründung für die Vielfalt, die in den menschlichen Kulturen vorhanden war, zu finden. Die innere Form, »[…] this is that subtle thing not expressed in words, which even more than the formal parts of the speech, reveals the genius of a nation […], defined as the impression which the language bears of the clearness of the conceptions of those speaking it, and their native gift of speech« (Brinton 1885b: 319f.), ließ ihn Verbindungen zwischen Sprache, Denken, Rasse und Kultur herstellen, die eine Erklärungsgrundlage für die historisch gewachsenen, kulturellen Diversifikationen lieferten. In der »inneren
74 Allerdings ohne großen Erfolg: In seinem Buch »The American Race. A Linguistic Classification and Ethnographic Description of the Native Tribes of North and South America« von 1891 beklagte er sich darüber, dass die amerikanischen Wissenschaftler Humboldt zu Unrecht ignoriert hätten (Brinton 1891: 166; vgl. auch Koerner 1990: 111f.).
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Form« jeder einzelnen Sprache finden sich, so schrieb Brinton in Analogie zu Humboldts Werk »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihrem Einfluss auf die geistige Entwickelung [sic] des Menschengeschlechts«, die Ideen, die »Weltsichten« eines Volkes. Beschäftige man sich also nicht nur wie die Sprachwissenschaftler des Bureau of Ethnology mit dem vorhandenen lexikalischen Wortmaterial, sondern mit den Interdependenzen zwischen Sprache und Geist, i. e. mit den »[…] forms instinctively adopted for the expressions of its thought, and reciprocally, the reaction exerted by those forms on the later intellectual growth of those who were taught them as their only means of articulated speech […]« (Brinton 1890 [1887]: 37), verstehe man erst, wie sich die verschiedenen Kulturen auszudifferenzieren vermochten. Zu untersuchen sei folglich, so forderte Brinton, die Wechselbeziehung zwischen Denkprozessen und den grammatischen Strukturen beziehungsweise Kategorien (Brinton 1890 [1887]: 37). Brinton machte sich Humboldts Auffassung zu eigen, dass Sprachen Organismen seien, die in einer »definite connection with the intellectual and emotional development of the nation speaking it« stehen. Er konstituierte sie damit als »world-thought[s] in tones«, als charakteristische Verbindungsglieder zwischen den Menschen und der objektiven Welt. Jede Einzelsprache sei Produkt der Ideen vorangegangener Generationen und reflektiere dadurch den Geist der Nation, der sie angehöre; umgekehrt sei die Sprache – als »the ever-recurring effort of the mind to make the articulate sound capable of expressing thought« (Brinton 1885b: 308, 311, 313) – eine Energie (»energeia«) mit gestaltendem Einfluss auf den nationalen Geist. Brintons feste Überzeugung war es, dass eine adäquate Beschreibung sämtlicher Einzelsprachen und grammatischer Besonderheiten eine wahre und vollständige Darstellung der menschlichen Evolution ermöglichen würde. Betrachten wir Brintons Argumentation genauer: Um die Weltsprachen auf einer Entwicklungsskala einordnen zu können, übernahm Brinton das linguistische Kriterium Humboldts, das beinhaltete, dass je mehr eine Sprache mit ihrer Struktur mentale Aktionen einer Nation anrege und stimuliere, desto entwickelter sei sie. Sich auf Humboldt berufend postulierte Brinton drei verschiedene Klassen, von denen jede eine Stufe in der progressiven Entwicklung repräsentierte. Auf der ersten und niedrigsten Stufe galten ihm alle sprachlichen Elemente als »material« (Brinton 1885b: 316), das heißt als Wurzeln oder Stämme, als Begriffe mit einer gegenständlichen Bedeutung. Auf der nächsten Stufe konnten die einzelnen Elemente mehr als nur diese eine Bedeutung annehmen. In Abhängigkeit von der Position innerhalb eines Satzes vermochte sich die Bedeutung des Elementes zu verändern. Noch allerdings entsprächen 120
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diese Wörter nicht formalen grammatikalischen Kategorien. Als höchst entwickelte Sprache verstand Brinton diejenige, in der jedes Wort grammatikalischen Gesetzen unterlag und sich »formale Elemente« ausdifferenziert haben, »those which express action, or the relation of the ideas; they make up the affixes of conjugations and declensions, the inflections of words; they indicate the parts of speech, the so-called ›grammatical categories‹ […]«. Erst jetzt sei, so schloss Brinton in Anlehnung an Humboldt, klares und komplexes Denken möglich: »Here, only, does language attain to that specialization of parts where each element subserves its own purpose and no other, and here only does it correspond with clear and connected thinking« (Brinton 1885b: 317; zu Humboldt vgl. auch Bunzl 1996: 33). Wendete man Brintons Kriterien der Hierarchisierung der Weltsprachen an, schnitten die American Indian languages, aber auch die englische und chinesische Sprache schlecht ab. Im Kontext der gegen Ende des 19. Jahrhunderts allgegenwärtigen Spencerschen Evolutionstheorie, die Brinton in seinen ethnologischen Ausführungen guthieß, ließ sich eine solch unvorteilhafte Bewertung des Englischen und damit der »Nation« der White Anglo-Saxon Protestants nicht halten. Das wusste auch Brinton. So betonte er gleich im Anschluss, dass Humboldt dieses »unfavorable judgement« (Brinton 1885:b 320) durch einige mildernde Erwägungen modifiziert habe. Warnend habe Humboldt darauf hingewiesen, so schreibt Brinton, dass es von großer Wichtigkeit sei, dass die »grammatical principles […] rather in the mind of the speaker than in the material and mechanism of his languages« (Brinton 1885b: 320) verankert seien. Wenn die Sprache in vollendeter Harmonie mit der andern Kraft, dem Denken, zusammenarbeite, entfalte sich, so glaubte er, ihre »energeia«, ihre »wirkende Kraft«, am besten: »[…] and entire harmony between the two is only present when the form, structure and sounds of speech correspond accurately to the logical procedure of thought« (Brinton 1885b: 321). Die Bewertung einer Sprache beziehungsweise ihrer Qualität bemaß sich demnach an ihrer Klarheit, Bestimmtheit und der Energie der Ideen, die sie in einer Nation zu erwecken vermochte, an ihrer Eignung, den nationalen Geist zu stimulieren: »Does it inspire and incite their mind? Has it positive and clear tones, and do these define sharply the ideas they represent, without needless accessories? Does its structure present the leasing elements of the proposition in their simplicity, and permit the secondary elements to be grouped around them in subordinate positions, with a correct sense of linguistic perspective?« (Brinton 1885b: 321).
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– Diese Überlegungen bildeten den Hintergrund der Humboldtschen Klassifikation der Sprachen, die Brinton für seine sprachphilosophischen Betrachtungen adaptierte. Brinton unterschied in Anlehnung an Humboldts Schriften zwischen vier Sprachtypologien: »Isolation. The words are placed in juxtaposition, without change. Their relations are expressed by their location only (placement). […] Agglutination. The sentence is formed by suffixing to the word expressive of the main idea a number of others, more or less altered, expressing the relations. […] Incorporation. The leading word of the sentence is divided, and the accessory words either included in it or attached to it with abbreviated forms, so that the whole sentence assumes the form and sound of a word. […] Inflection. Each word of the sentence indicates by its own form the character and relation to the main proposition of the idea it represents« (Brinton 1890a: 339f.; vgl. auch Brinton 1890b: 63; Joseph 2002: 7).
Sowohl Humboldt als auch Brinton sahen, dass keine natürliche Sprache einer dieser Typologien absolut entsprach. Denn alle Formen der Satzkonstruktion sind in fast jeder Sprache zu finden; die jeweilige Klassifikation sei daher nur aufgrund eines quantitativen Übergewichts einer Form vorzunehmen. Auf der Basis dieser Argumentation subsumierte Brinton alle American Indian languages unter dieselbe grammatikalische Kategorie: die Inkorporation75 – eine Sichtweise, die er bereits in seinem Hauptwerk von 1868 beschrieben hatte und in seinen späteren Schriften nie mehr aufgab. Brinton verwendete dieses linguistische Merkmal dazu, sein Argument der Zugehörigkeit der amerikanisch-indianischen Gesellschaften
75 Brinton entwickelte den Begriff der Inkorporation in Auseinandersetzung mit Duponceaus Konzept der Polysynthesis. In seinem Aufsatz »Some Characteristics of American Languages«, der 1885 in den »Proceedings of the American Philosophical Society« erschien, diskutierte er die unterschiedlichen grammatischen Klassifikationen der American Indian languages von Sprachwissenschaftlern wie Peter Stephen Duponceau, Wilhelm von Humboldt, Francis Lieber, Heymann Steinthal, M. Lucien Adam und John Wesley Powell. Brinton selbst stellt sich auf die Seite Duponceaus, Humboldts und Steinthals, die davon ausgingen, dass die American Indian languages dieselben Merkmale in ihren grammatischen Prozessen – die »polysynthesis« und die »incorporation« – aufweisen: »[…] the one (incorporation) applicable to verbal forms of expression, the other (polysynthesis) to nominal expressions« (Brinton 1890 [1885]: 352; vgl. auch Brinton 1885a: 29).
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zu einer rassistisch-biologistisch verstandenen einheitlichen »red race« 76 zu untermauern: »Here the red race offers a striking phenomenon. There is no other trait that binds together its scattered clans, and brands them as members of one great family, so unmistakably as this of language. From the Frozen Ocean to the Land of Fire, without a single exception, the native dialects, though varying infinitely in words, are marked by a peculiarity in construction which is found nowhere else on the globe which is so foreign to the genius of our tongue that it is no easy matter to explain it« (Brinton 1868: 6f.).
Brinton erachtete die dem inkorporierenden Sprachbau zuzurechnenden American Indian languages weder als »perfectly formed«, noch als »rude or savage« (Humboldt zitiert nach Brinton 1885b: 309). Doch sie seien in keiner Weise so gut wie die flektierten Sprachen geeignet, das intellektuelle Wachstum einer Nation zu fördern; schließlich korrespondiere ihre Grammatik kaum mit logischen Denkprozessen. Zur Veranschaulichung dieser These lieferte Brinton ein Beispiel aus der Tupi-Sprache: »The word uba is ›father;‹ with the pronoun of the third person prefixed it is tuba, literally ›he, father.‹ This may mean either ›his father,‹ or ›he is a father,‹ or ›he has a father,‹ just as the sense of the rest of the sentence requires. Certainly a language which thus leaves confounded together ideas so distinct as these, is inferior to one which discriminates them; and this is why the formal elements of a tongue are so important to intellectual growth« (Brinton 1885b: 326).
Brinton forderte von den zukünftigen linguistischen Anthropologen, die logischen und psychologischen Denkprozesse der verschiedenen Gemeinschaften auf der Grundlage ihrer Sprachstrukturen adäquat nachzuzeichnen und zu klassifizieren. Es gehe darum, die grammatischen Prozesse, die inneren Formen der Sprachen zu untersuchen und sie miteinander in Bezug zu setzen und nicht Kolonnen von Vokabularlisten zu vergleichen: »This similarity is not to be looked for in likeness between words, but in the inner structural development of tongues. To ascertain and estimate such identities is a far more delicate undertaking than to
76 Brinton verband linguistische und rassische Konzepte: Die American Indians sprechen nicht nur eine »primitive« Sprache, sondern sind auch von im Vergleich zu den ›Weißen‹ von minderem Körperbau (Brinton 1890: 17ff.).
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compare columns of words in vocabularies; but it is proportionately more valuable« (Brinton 1890 [1885]: 350). Brintons Forderung und Maxime war eindeutig ein Angriff gegen die Arbeiten des Bureau of Ethnology – gegen »the play of ›hamlet‹ with the part of Hamlet omitted«.
Brintons wissenschaftliche Arbeitsweise Daniel Garrison Brintons von Humboldts Sprachphilosophie inspirierte Position blieb während der 1880er Jahre ohne Einfluss auf die Arbeiten des Bureau of Ethnology. Grund dafür war nicht nur die fehlende Anschlussfähigkeit des Humboldtschen Konzeptes an die von Powell favorisierte Morgansche Theorie. Die zentrale Rolle spielten vor allem die unterschiedlichen Arbeitsweisen der beiden Forscher. John Wesley Powell kannte seine »Forschungsobjekte« von Angesicht zu Angesicht. Für ihn war die empirische Vorgehensweise – die Feldforschung – unabdingbare Voraussetzung für die wissenschaftliche Arbeit. Linguistisches Material konnte nur gewonnen werden, in dem die »intelligenten« Native Americans direkt zu ihren Sprachen und Kulturen befragt wurden. Ohne Feldforschung keine wissenschaftliche Anthropologie – so könnte man die Maxime des Bureau of Ethnology zusammenfassen. Brinton, der Lehnstuhl-Anthropologe, hingegen kannte die Native Americans nur aus Archiven, Manuskripten und Publikationen. Dies galt für seine erste größere ethnologische Publikation »The Myths of America« genauso wie für seine späteren Arbeiten. Feldforschung gehörte nie zu seinem wissenschaftlichen Repertoire.77 Mitte der l880er Jahre war die anthropologische Forschung in ihrer Auswahl an Gegenständen sehr heterogen. Brintons Bemühungen um eine akademische Disziplinierung blieben erfolglos. Als »fearless critic of Philadelphia« veröffentlichte er im Alleingang zahlreiche Arbeiten, die inhaltlich und methodisch stark von denjenigen des Bureau of Ethnology abwichen. Er versuchte seine Vorstellungen in Wissens- beziehungsweise Gelehrtengesellschaften wie der Numismatic and Antiquarian Society of Philadelphia, der American Philosophical Society, der American Association for the Advancement of Science, der Historical
77 Regna Darnell schreibt in ihrer Magisterarbeit, dass Brinton für sein Werk »The Myths of the New World« kaum die Nähe zu den American Indians gesucht hatte. Krankheiten und Moskitos hielten ihn davon ab. Er stützte sich in seinen Arbeiten ausschließlich auf schriftliche Quellen (Darnell 1988: 3).
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Society of Pennsylvania, der American Antiquarian Society und der American Folk-lore Society etc. an den Mann und in seltenen Fällen an die Frau zu bringen und damit zu popularisieren. Ende der 1880er Jahren war noch keineswegs klar, ob sich die wissenschaftlichen Ansichten Powells und seines Bureau of Ethnology oder die linguistischen Auffassungen Brintons durchsetzen würden. Doch ein von der Regierung unterstütztes Institut hatte offensichtlich mehr Chancen als ein Einzelgänger, der in zahlreichen Institutionen um Aufmerksamkeit für seine von einer deutschen Denktradition beeinflusste und von ihm rassentypologisch gewendete Theorie kämpfen musste.
Ko n s t i t u i e r u n g d e r A m e r i c a n I n d i a n l a n g u a g e s als wissenschaftliches Forschungsobjekt Die Zeit zwischen 1880 und 1890 kann als Gründungsphase der linguistischen Anthropologie in den Vereinigten Staaten bezeichnet werden. Aus den ersten Vernetzungen entstand – vorsichtig formuliert – ein wissenschaftliches Feld, das heißt eine raum-zeitliche Hülle »linguistische Anthropologie«. Die Darstellung der Regierungspolitik, der Gründung eines neuen ethnologischen Instituts, der Erwerbung finanzieller Mittel, der Schaffung ethnologischer Lehrstühle, der Verbindung evolutionstheoretischer Konzepte mit linguistischen Theorien, der Generierung neuer linguistischer Daten, der Veröffentlichung von ersten wissenschaftlichen Ergebnissen in verschiedenen Fachzeitschriften und der Einbindung zahlreicher Autoritäten sowie Gegenspieler zeigt die Etablierung der fünf von Latour beschriebenen Kreisläufe und so eine erste Verdichtung des wissenschaftlichen Feldes der linguistischen Anthropologie. Powells Gründung des Bureau of Ethnology zeigt, dass er es hervorragend verstand, verschiedene – um Latours Begrifflichkeit zu verwenden – Propositionen (oder Aktanten) wie Regierung, Öffentlichkeit, Native Americans, linguistische Theorien, Evolutionsdiskurse etc. miteinander in Beziehung zu setzen und sie durch neue Artikulationen miteinander zu verbinden. Powell stellte in geradezu exemplarischer Weise mit Hilfe des Bureau of Ethnology und der Anthropological Society seine ethnologischen Arbeiten in einen größeren Kontext. Er rekrutierte Mitarbeiter und gewann Verbündete, die seine Pläne durchführten und an der Konstituierung einer neuen linguistischen Anthropologie mitwirkten. Powell bildete nicht nur Allianzen; er befriedigte auch die Interessen einer der Assimilierungs- und Zivilisierungspolitik verpflichteten Regierung. Im Anschluss an die Evolutionstheorie von Henry Lewis Morgan 125
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entwickelte er eine geeignete wissenschaftliche Grundlage und trug so zur Stabilisierung und Legitimierung der von der amerikanischen Regierung verfolgten Politik bei. Er erfüllte damit die Erwartungen der Regierung, die in der Wissenschaft in erster Linie »a major tool toward the progress of the nation« sah – er fungierte als ihr »public servant« (Darnell 1971c: 93; vgl. auch Hinsley 1979: 29). Die American Indians, die vor der Gründung von Powells Institut in einem von der Spencerschen Rassenlehre virulenten Diskurs als »Primitive« abgetan und in Reservate abgeschoben worden waren und die man im Sinne des »Survival of the Fittest«-Leitsatz auch sich selbst hätte überlassen können, wurden von Powell neu unter Verwendung des unilinearen Evolutionsschemas Morgans als »Vorväter« der Geschichte der zivilisierten Menschheit definiert. Sie dienten ihm nicht nur als Objekte wissenschaftlicher Studien, sondern gestatteten es ihm auch, einer dem »human-interest« verpflichteten Öffentlichkeit entgegenzukommen. Nebenprodukt beziehungsweise Konsequenz dieser wissenschaftlichen Konsolidierung war die endgültige Entmündigung der Natives Americans. – Die asymmetrische Beziehung zwischen den Native Americans und den Forschenden, die, so scheint es, die Basis für die Konstitution einer Verwissenschaftlichung des amerikanisch-indianischen Objektes bildete, war somit noch weiter gefestigt. In den von Powell gegründeten Publikationsorganen wie den jährlich erscheinenden Reporten des Instituts, den »Transactions of the Anthropological Society«, dem »Bulletin of the Bureau of Ethnology« und den »Contributions of the Bureau of Ethnology«, die auch eine propagandistische Funktion für seine »New Ethnology« erfüllten, betonte der Major denn auch immer wieder die innovative Rolle, die er mit seinem Institut einzunehmen sich verpflichtet hatte (Kehoe 1985: 46). John Wesley Powell generierte mit seinem Institut und dessen Publikationen neue (historische) Entitäten; er konzipierte eine neue Ethnologie und – damit verbunden – eine neue empirisch ausgerichtete linguistische Theorie. Er entwickelte geeignete Instrumente, wie die »Introduction to the Study of Indian Languages«, die es ihm möglich machten, neue »authentische Daten« zu mobilisieren und sie in den linguistischen Diskurs einzubinden, dort, wo die eigentliche Kontroverse stattfand. Powells neue Linguistik fasste die American Indian languages als wissenschaftlichen Gegenstand, der Antworten beziehungsweise Artikulationen lieferte für unterschiedlichste Zweckbestimmungen, wie Regierungsarbeit, Assimilierungspolitik, Objektivierung und Disziplinierung der Native Americans, die Beweisführung der Evolutionstheorie etc. In der Konzipierung dieses neuen wissenschaftlichen Forschungsfeldes schuf er einen Kern, an den Wissenschaftler, Politiker und gebildete Be126
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völkerungsschichten anschlossen, einen wissenschaftlichen Inhalt, der ein heterogenes Kollektiv zusammenhielt. Und die American Indian languages bekamen in diesem wissenschaftlichen Kontext eine wichtige Funktion. Die Erforschung der Sprachen diente einerseits als Grundlage für die Lösung der Probleme in den Reservaten; die Klärung der Verwandtschaften der American Indian languages – und damit der Verwandtschaften der ethnischen Gruppen und somit ihrer Affinitäten untereinander – diente, so hoffte man zumindest, der reibungslosen Zusammenlegung der verschiedenen indianischen Stammesgesellschaften. Und darüber hinaus verhalf die Forschung zu den American Indian languages, in denen die »subject-matter[s] of thought« wie »habits, customs, institutions, philosophy« zum Ausdruck kamen, die erreichte Entwicklungsperiode der Kulturen zu erfassen. Powells Verknüpfung von Morgans Theorie mit den zeitgenössischen linguistischen Forschungen und Konzepten von Trumbull, Gibbs und Whitney, dies vorweg, wird in den nächsten Jahrzehnten in der linguistischen Anthropologie Gültigkeit beanspruchen: Er legte linguistische Tatbestände fest, die, wie andere Artefakte der Menschen auch, den Stadien »savagery«, »barbarism« und »civilization« entsprachen. Und weil Powell die Sprachen als vom Geist hervorgebrachte Erzeugnisse verstand, sah er in ihnen einen Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung der Menschen und der menschlichen Gesellschaft. Auf der Grundlage linguistischer Kriterien zeichnete er die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des »human mind« nach und leitete daraus die Entwicklungsgeschichte der »großartigen Kraft« ab, die Spencer noch als »unknowable« bezeichnet hatte. Seine Sprachwissenschaft wurde damit ein Mittel, welches den »human mind« – oder mit anderen Worten, die »generative Kraft«, die für die Hervorbringung sämtlicher menschlicher Erzeugnisse und Aktivitäten und in letzter Konsequenz für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft verantwortlich war – erklären und beschreiben half. Powells Institut wurde zu einem wissenschaftlichen System, zu einem Kolleg, das in den folgenden Jahrzehnten die anthropologische und linguistisch-anthropologische Forschung stark beeinflusste. Anstatt einer mosaikartigen Kosmographie lieferte Powell eine umfassende Theorie. Powells Institut entwickelte sich zum Zentrum eines zirkulären Systems im Latourschen Sinne; die Verdichtung zahlreicher verschiedener Kreisläufe ist Powell damit gelungen; die raum-zeitliche Hülle des noch diffusen Feldes »linguistische Anthropologie« verdichtete sich – eine Professionalisierung im Sinne des »Kurzen Exkurses zur Professionalisierung der (linguistischen) Anthropologie« war erfolgreich gestartet. 127
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Und Brinton? Der Gegenspieler Powells, der »fearless critic of Philadelphia« ging einen anderen Weg; er stand, um Latours Konzept zu verwenden, in einer »substitutiven« oder »paradigmatischen« Konstellation zu Powell und dessen Institut und trug so ebenfalls zur Verdichtung des dynamischen Netzwerkes der linguistischen Anthropologie bei. Brinton hielt an seiner linguistischen und ethnologischen Forschungsauffassung fest, ohne auf die neu entwickelte Methode der Feldforschung, die einen direkten Kontakt mit den eigentlichen Forschungsobjekten, den Native Americans bedeutet hätte, zurückzugreifen. Anhand Humboldtscher Sprachtheorien versuchte er, die Entwicklung der Menschheit jenseits des mechanistischen Evolutionsansatzes eines Morgans zu erklären. Seine im amerikanischen anthropologischen Kontext einzigartige Verbindung zwischen Denken und Sprache, in der er die Ursache für den Fortschritt einer »Nation« sah, war eine ernstzunehmende Konkurrenz zu Powells linguistischen Ansätzen. Zudem konstruierte Brinton mit Hilfe der Humboldtschen Sprachphilosophie ein für alle American Indian languages gültiges linguistisches Faktum, die Inkorporation, das ihm neben den physischen Besonderheiten der American Indians einen weiteren Beweis für die Einheit der »red race« lieferte. Brinton schaffte es so, Sprachwissenschaft und Rassentheorie miteinander zu verknüpfen und damit Darwins oder Spencers Evolutionstheorie in der Linguistik zu reproduzieren. Des Weiteren war Brinton auf die ersten Lehrstühle für das Fachgebiet der Ethnologie – zwar ehrenamtlich und nicht mit weitreichendem Einfluss in der Akademie – berufen worden; aber immerhin galt er als anthropologisch versierter Experte, der sich in zahlreichen Gelehrtengesellschaften einen Namen gemacht hatte – alles Hinweise für seine Popularität und seinen wissenschaftlichen Ruf. Aber haben die Wissenschaftler, die sich damals mit dem neuen wissenschaftlichen Feld auseinander setzten, eine Autonomisierung ihres wissenschaftlichen Systems erreicht, das heißt ein Kolleg unabhängig von andern sie umgebenden Welten geschaffen? Die Frage kann nicht vollständig bejaht werden. Tatsache ist, dass Powell noch immer in Regierungsdiensten stand und auf die finanziellen Zuschüsse seitens der Staatsmacht angewiesen war; und Brinton schaffte es trotz seines wissenschaftlichen Rufes nicht, sein eigenes wissenschaftliches Programm durchzusetzen; die Zahlen der eingeschriebenen Studenten sprechen für sich. Er war zwar Mitglied zahlreicher Ehrengesellschaften, doch ob seine Theorien tatsächlich an Relevanz gewannen, ist unklar. Von einer eigentlichen Akademisierung im Sinne unabhängiger universitärer Forschung kann jedenfalls kaum die Rede sein.
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Unbestritten ist, dass sich die Konstituierung der American Indian languages als wissenschaftliches Objekt Ende der 1880er Jahre im vollen Gange befand. Es bestanden zwar unterschiedliche Ansichten, wie dieses Objekt zu beschreiben, theoretisch zu fassen sei, aber es ist offensichtlich, dass die Sprachen der Native Americans eine Funktion einnahmen, die für eine sich etablierende Forschergemeinschaft von großen Nutzen zu sein versprach. In den kommenden Jahrzehnten führten Daniel Garrison Brinton und John Wesley Powell die von ihnen verfolgten Projekte weiter und legten weitere Publikationen zu den American Indian languages vor. Die vorgegebenen theoretischen Grundlagen veränderten sich nur unerheblich: Morgans Evolutionstheorie blieb auch in den kommenden Jahrzehnten Vorbild und Leitfaden für die linguistisch-anthropologische Forschung des Bureau of Ethnology; die sprachphilosophischen Theorien von Wilhelm von Humboldt und deren Weiterentwicklung von Heymann Steinthal blieben für Brinton wegleitend. Powell und Brinton veröffentlichten zu Beginn der 1890er Jahre ihre Klassifikationen der American Indian languages gleichzeitig. Powells Klassifikation gründete, wie er dies in seiner »Introduction to the Study of Indian Languages« ausgeführt hatte, vorwiegend auf dem Vergleich zahlreicher Vokabularlisten; Brinton plante, seine Einteilung auf grammatischen Kategorien abzustützen. Doch zunächst wird ein anderer Eingang finden in das von Powell und Brinton vorgezeichnete linguistische, anthropologische Denkkollektiv: Franz Boas.
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Franz B o as – ein Fr emd er en t f remdet
Di e U S A i n d e n 1 8 8 0 e r J a h r e n Mitte der 1880er Jahre befand sich die amerikanische Gesellschaft in einer von ihr als äußerst besorgniserregend empfundenen gesellschaftlichen Lage. Ausdruck und Reflexion dieser Krise ist Rev. Josiah Strongs Werk »Our Country: Its Possible Future and Its Present Crisis«. Das Buch von Josiah Strong, dem Generalsekretär der evangelischen Allianz der Vereinigten Staaten, galt – um einen heutigen Begriff zu verwenden – als Bestseller. Bereits 1885 waren 125'000 Exemplare verkauft; 1891 sollte es eine Auflage von 167'000 erreicht haben (zu Strong vgl. Hofstadter 1944: 87 & 153; Wehler 1974: 44-55). Wie ist der Erfolg dieses Werkes zu begründen? Strong formulierte in seinem Text Lösungen für die von der weißen angelsächsischen protestantischen Bevölkerung wahrgenommenen sozialen Schwierigkeiten: Die Vereinigten Staaten, die sich in Zeiten eines radikalen wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs befanden, sahen sich mit Millionen von New-Immigrants, Immigranten aus dem südlichen und östlichen Europa – Italiener, Slaven, und Griechen – konfrontiert (Hyatt 1990: 103), die eine Beschäftigung in den rassisch und ethnisch getrennten Arbeitsmärkten der industriellen Städte im Nordosten und in den Gebieten um die Großen Seen suchten. Die Expansion gegen Westen, die für die von verschiedenen Immigrationsströmen aus Europa betroffene junge Nation eine geeignete Möglichkeit schien, von den aus der Alten Welt bekannten sozialen Problemen wie Armut, Hungersnöte, Überbevölkerung etc. auf Dauer verschont zu bleiben, neigte sich dem unweigerlichen Ende zu. Die Immigrationswelle war in den Augen der White Anglo-Saxon Protestants (WASPs) nicht nur Ursache für die immer dringlicher wer131
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denden Urbanisierungsprobleme; das Elend und die Armut der Unterschichten in den Ballungszentren verschärften sich unaufhaltsam. Die Immigranten aus südlichen europäischen Ländern bedeuteten vor allem aber auch, so Strong (1885: 46ff.), die Gefahr einer Ausbreitung eines die eigenen auf Freiheit beruhenden Institutionen gefährdenden Katholizismus: »The Roman Catholic power is fast becoming an overwhelming evil« zitiert Strong (1885: 58) den Rev. J. H. Warren aus Kalifornien. Strongs Ausführungen und Interpretationen einer gesellschaftlichen Krise trafen den Nerv seiner Zeit. Von Evolutionstheorien Charles Darwins, Lewis Henry Morgans oder Herbert Spencers beeinflusst entwarf Strong eine amerikanische Identität, die den Problemen gewachsen schien: »If human progress follows a law of development, if ›time’s noblest offspring is the last,‹ our civilization should be the noblest; for we are ›the heirs of all the ages in the foremost files of time‹« (Strong 1885: 168). Der angelsächsischen Rasse, darüber bestand kein Zweifel, gehörte die Zukunft: »One great result is, I think, tolerably clear. From biological truths it is to be inferred that the eventual mixture of the allied varieties of the Aryan race, forming the population, will produce a more powerful type of man than has hitherto existed, and a type of man more plastic, more adaptable, more capable of undergoing the modifications needful for complete social life. I think, whatever difficulties they may have to surmount, and whatever tribulations they may have to pass through, the Americans may reasonably look forward to a time when they will have produced a civilization grander than any world has known« (Spencer zitiert nach Strong 1885: 172).
Die vom Sozialdarwinisten Herbert Spencer skizzierte, für das amerikanische Volk äußerst hoffnungsvolle Zukunftsperspektive war für Strong eine entscheidende Referenzgröße zur Begründung der »natürlichen Überlegenheit« der anglo-amerikanischen Rasse. Ihr werde es trotz der Mitte der 1880er Jahre als schwerwiegend empfundenen gesellschaftlichen Probleme gelingen, »to exercise the commanding influence in the world’s future« (Strong 1885: 179). Dennoch: Die gesellschaftlichen Probleme waren akut und mussten so schnell wie möglich gelöst werden. Denn das Schicksal des Landes »[…] has been in […] ›a perilous and dancing balance.‹ Human wisdom could at no time foresee which way the scales would turn. Every day has been a day of crises. Every hour has been an hour of splendid destiny. Every minute has been ›the nick of time‹«. In christlicher Manier, versteht sich, galt es die Krise anzugehen, die – so lautete die von Strong angebotene Lösung – aus seiner Sicht unter132
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legenen Rassen, die Italiener, Griechen, Slaven, die Juden wie auch die Native Americans, sollten die Möglichkeit erhalten, sich der angelsächsischen anzunähern, anzupassen, sich zu akkulturieren. Das Ziel war eine »nationalizing of the alien races« (String 1885: iv). 1887, zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung von Strongs »Our Country«, immigrierte der Deutsche Franz Boas mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten. Er reiste in ein Land ein, dessen Bevölkerung sich trotz der wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die auch Boas betreffen sollten, optimistisch gab und – aufgrund der angenommenen rassischen Superiorität – in keiner Weise daran zweifelte, diese lösen zu können. Franz Boas wird, dies vorweg, einen entscheidenden Impetus für die Weiterentwicklung und Akademisierung der (linguistischen) Anthropologie liefern. Seine methodischen und theoretischen Ansichten dessen, was und wie eine anthropologische und linguistische Forschung zu sein hat, finden allerdings erst in den 1890ern Resonanz. Bis zu diesem Zeitpunkt erlebt Franz Boas, als jüdischer Immigrant, eine von Krisen gezeichnete Zeit, eine Zeit, in der es ihm kaum gelingen wird, im amerikanischen Denkkollektiv Fuß zu fassen, geschweige denn eine feste Stelle zu finden. Es gilt, Franz Boas’ Werdegang nachzuzeichnen und darzulegen, wie er es als Fremder versucht, sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren und sich im Denkkollektiv der Anthropologen Geltung zu verschaffen. Es gilt, den wissenschaftlichen Denkstil, in den Boas in Deutschland vor seiner Emigration eingebunden war und der für die Weiterentwicklung der amerikanischen Anthropologie entscheidend sein wird, vorzustellen. Des Weiteren sind auch die ersten Gehversuche Boas’ im amerikanischen Wissenschaftskontext zu beschreiben: Boas schloss in geschickter Weise an den vorherrschenden Denkstil, an die amerikanischen sprachwissenschaftlichen Begebenheiten an, die sich in den 1890er weiterentwickelten und in ihren jeweiligen Eigenarten noch spezifizierten (vgl. »Franz Boas, ein deutscher, jüdischer Intellektueller mit vielfältigen Ambitionen«). John Wesley Powells »Indian Linguistic Families of America North of Mexico« und Daniel Garrison Brintons »The American Race« wurden 1891 veröffentlicht und waren Weiterführungen ihrer linguistischen Ideen; sie bezogen von Boas gesammeltes Datenmaterial der American Indian languages in ihre Untersuchungen mit ein, verloren aber kein Wort über dessen methodische Überlegungen zur Elizitierung linguistischer Daten (»Klassifikation der American Indian languages«). Dennoch: Franz Boas ging mit seinen in einem deutschen Wissenschaftskontext entwickelten, in Feldforschungen geprüften Methoden als »Sie133
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ger« aus der gesellschaftlichen Krise hervor und übernahm Ende der 1890er an der renommierten Columbia University einen Lehrstuhl für Anthropologie sowie die Leitung des American Museum of Natural History in New York. Die Frage, weshalb sein Durchbruch erst Ende der 1890er Jahre gelang, ist erklärungsbedürftig und Gegenstand des vierten Abschnitts (»Boas’ Durchbruch – Mögliche Erklärungen«). Den Abschluss dieses Kapitels bilden die von Latours Theorie beeinflussten Überlegungen, wie sich durch die Immigration des deutschen Franz Boas und dessen Beteiligung und Inszenierung im amerikanischen Wissenschaftskontext die Propositionen und Artikulationen des dynamisierten Netzwerkes der linguistischen Anthropologie veränderten und sich stabilisierten (»Dynamisiertes Netzwerk der linguistischen Anthropologie«).
Franz Boas, ein deutscher, j üdischer I n t e l l e k t u e l l e r m i t v i e l f ä l t i g e n Am b i t i o n e n Der Psychophysiker in Baffinland Als Franz Boas am 24. Januar 1887 seinen zweijährigen Arbeitsvertrag als Verlagsassistent mit dem Spezialgebiet »Geographie« bei der amerikanischen Zeitschrift »Science« unterzeichnete, blickte der 29-jährige Deutsche bereits auf eine wissenschaftliche und berufliche Laufbahn mit einigen Friktionen zurück. 1882 promovierte er nach Abschluss seines in Heidelberg, Bonn und Kiel absolvierten Physikstudiums in Psychophysik.1 Seine Dissertation mit dem Titel »Beiträge zur Erkenntniss [sic] der Farbe des Wassers« (Boas 1881) beschäftigte sich mit der Absorption des Lichtes, die sich je nach Farbqualität des Wassers unterschiedlich gestaltet. Hauptproblem der Arbeit war für Boas die Beurteilung der sich in Abhängigkeit der Kolorierung verändernden relativen Lichtintensitäten. Letztlich ging es um die Frage, ob die subjektive Beobachtung des Forschers tatsächlich ausreichte, um die Differenzen der vorgegebenen Stimuli objektiv wahrnehmen und beschreiben zu können. Wo lag – um Boas’ eigenen Begriff zu verwenden – der »Unterschiedsschwellenwerth« der für den Physiker erkennbaren Differenzen? – Boas’ Kritik an einer in der damaligen Physik mehrheitsfähigen »materialistischen Welt1 Psychophysik ist eine von G. T. Fechner begründete, physikalische Richtung, die sich mit der Erforschung der Beziehungen zwischen physikalischen Reizen und Sinnesempfindungen beschäftigt.
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anschauung« war Resultat seiner intensiven Auseinandersetzung mit Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart«. Lange (1828-1875) knüpfte in seinem 1866 publizierten Werk an die Kantsche Philosophie an und zog die von den Materialisten postulierte absolute Objektivität in Zweifel. Selbst die Physiker erkennen die Welt nur in Abhängigkeit ihrer eigenen Perzeptionsfähigkeit und Vernunft (vgl. Cole 1999: 56; Stocking 1968: 143; Haas 1976: 59; Kroeber 1969 [1943]: 5). Boas’ Hoffnung, seine psychophysischen Studien nach seiner Dissertation in den Laboratorien von Hermann von Helmholtz (1821-1894), einer maßgeblichen Figur der deutschen Physik, weiterzuführen, sollte sich nicht erfüllen. In sehr pragmatischer und auch karrierebewusster Weise entschied er sich, sich der noch jungen Wissenschaft der Geographie zuzuwenden (Murray 1993: 48). In diesem Gebiet wollte er sich mit der Grundsatzfrage beschäftigen, »in wie weit […] wir die Erscheinungen des organischen Lebens und zumal die des physischen Lebens von mechanistischem Standpunkt aus betrachten [dürfen] und welche Schlüsse […] aus dieser Betrachtungsweise gezogen werden [können]« (Boas an Jacobi, 10. April 1882, Franz Boas Papers). Bereits während seiner Dissertationszeit in Kiel anfangs der 1880er Jahre hatte er Kurse von Theobald Fischer (1846-1910), einem neben Alexander von Humboldt (1769-1859) führenden deutschen Geographen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besucht. Fischer setzte die Tradition Karl Ritters (1779-1859) fort, der sich primär mit dem Problem auseinander setzte, wie die Kräfte der Natur die menschliche Rasse bestimmten. Ritter (1817/1818) formulierte auf dieser Grundlage ein Migrationsgesetz, das die Völkerwanderungen der Vergangenheit erklären sollte – ein Forschungsimpetus, den er mit der damaligen in Deutschland sich ausdifferenzierten vorevolutionären Ethnologie teilte, die ihrerseits den Ursprung und die Diffusion der Nationen nachzuzeichnen versuchte. Fischers Ziel war es, die Beziehung zwischen Mensch und der natürlichen Welt holistisch zu verstehen (vgl. Stocking 1968: 141). Dieses noch kaum disziplinierte wissenschaftliche Feld der Geographie schien Boas in besonderem Maße geeignet, seine psychophysischen Kenntnisse mit denjenigen einer von Kant beeinflussten Philosophie zu verknüpfen. Ganz in der Tradition Ritters stehend plante er »eine Untersuchung über die Wanderungen der Eskimos und ihrer Kenntnis der von ihnen bewohnten Länder, so wie der benachbarten Gegenden [durchzuführen], in der Hoffnung, einen genaueren Zusammenhang mit der Menschenzahl der Stämme, der Verbreitung der Lebensmittel, und der Landesnatur nachweisen zu können« (Boas an Jacobi, 26. Nov. 1882, Franz Boas Papers). Er hoffte, Rückschlüsse zu ziehen über die »Abhängigkeit 135
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der Wanderungen der Eskimo der Jetztzeit von den Configurationen und den physikalischen Verhältnissen des Landes« (Boas an Jacobi, 10. April 1882, Franz Boas Papers). Boas’ Plan, während eines ganzen Jahres alleine ein relativ begrenztes Gebiet zu untersuchen, war für die damalige Zeit außerordentlich. Am 20. Juni 1883 startete Franz Boas zu seiner ersten Feldforschung – nebenbei eine der ersten Feldforschungen in der Geschichte der Anthropologie überhaupt.2 Ziel war Baffinland, die kanadisch-arktische Halbinsel, eine, wie er hoffte, relativ unkomplizierte Umgebungssituation für die Untersuchung seiner Fragestellung (Cole 1999: 65). Boas war bestens vorbereitet; er hatte fachliche Unterstützung gesucht und sie von renommierten deutschen Wissenschaftlern und Experten erhalten – ein Indiz für Boas Vernetzungsfähigkeit, die auch in späteren Jahren von zentraler Bedeutung sein wird: Die beiden wichtigsten Protagonisten der deutschen Ethnologie, der Mediziner und Ethnologe Rudolf Virchow (1821-1902) und Adolf Bastian (1826-1905), Leiter des Berliner Museums für Ethnologie, sowie der Vizepräsident der Berliner Geographischen Gesellschaft Dr. Johann Wilhelm Reiss, der Nordpazifik-Erforscher Aurel Krause, der Führer der Geographischen Gesellschaft in Bremen Dr. Max Lindemann, der Direktor der Königlichen Seewarte George von Neumayer und schließlich Rudolf Mosse, der Besitzer des Berliner Tagblatts, der ihm gegen eine Serie von Reisebeschreibungen einen Großteil der Reise finanzierte, berieten Boas in allen Sachfragen. Nach intensiven Vorbereitungen begann er seine Arbeit (Hyatt 1990: 9). Das Resultat des einjährigen Forschungsaufenthaltes auf der kanadisch-arktischen Halbinsel gab – dies nur als kurzer Exkurs – in der historischen Forschung zur amerikanischen Anthropologie Anlass zu etlichen Diskussionen. Vielfach wurde behauptet, dass Boas durch den Kontakt mit den Inuits – von den 364 Tagen verbrachte er 209 in Tupiks oder Iglus (Cole 1999: 78) – seine wissenschaftlichen Ansichten änderte und seinen kulturellen Relativismus, der für die Weiterentwicklung der amerikanischen Anthropologie wegweisend war, begründete (vgl. Herskovits 1953; Barkan 1992: 80; Kroeber 1969 [1943]: 8; Harris 1968: 266f.). Und sicher, man ist versucht, liest man Boas’ Tagebuch dieser Zeit, in der Auseinandersetzung mit der fremden Kultur der Inuits eine Begründung des kulturellen Relativismus zu finden: 2 Bei seiner Feldforschung bei den Inuits erhielt Boas, so Anderson, von einem Dänen namens H. J. Rink, der bereits mehrere Jahre in diesem Gebiet gelebt hatte, Unterstützung (vgl. Anderson 1985: 198).
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»Ich glaube, wenn diese Reise für mich als denkenden Menschen einen wesentlichen Einfluss hat, dann ist es die Befestigung meiner Anschauung von der Relativität aller Bildung und der Überzeugung, wie der Werth [sic] des Menschen in der Herzensbildung liegt, die ich ebenso hier finde oder vermisse, wie bei uns und dass daher aller Dienst, den ein Mensch der Menschheit erweisen kann, in der Förderung von Wahrheit beruhen muss, die mag süß oder bitter sein. Ja, wer sie fördert, der Suche nach dem Wahren weite Verbreitung giebt [sic], er darf sagen, dass er nicht vergeblich gelebt hat« (Boas 1994: 161).
Doch ich möchte in dieser Frage eher den Ausführungen des Historikers George W. Stocking, dem »doyen of the field« (Kuper 1991: 125), folgen und Boas eine Kontinuität in seinen theoretischen Überzeugungen unterstellen. Stocking schlägt vor, diese Textpassage vor dem sozio-politischen Hintergrund, in den Boas als deutscher Jude eingebettet war, zu interpretieren. Boas verstand sich als 1848er, glaubte an die soziale Gleichberechtigung, an Bildung, politische und intellektuelle Freiheit; er lehnte jegliche Dogmen ab, suchte vielmehr nach wissenschaftlicher Wahrheit; er identifizierte sich mit der Idee der Menschlichkeit und versuchte, deren Fortschritt zu bewirken. Kurz: Boas war der Prototyp eines jüdischen, neo-kantianischen, links-liberalen Freidenkers – eine Überzeugung, die im politisch repressiven, zunehmend anti-semitischen Bismarck-Deutschland kaum resonanzfähig war. Dieser Kontext ist, so Stocking, entscheidend für die Auslegung des Textes: Die Gemeinschaft der Inuits stellt in den Augen Boas’ eine größere Erfüllung einer allgemeinen Menschlichkeit dar, als sie im zeitgenössischen Deutschland überhaupt vorstellbar war (Stocking 1968: 136ff.; Williams 1996: 7). Nach seiner Rückkehr von seiner Expedition hielt sich Boas für kurze Zeit in den Vereinigten Staaten auf, besuchte seinen einflussreichen und vermögenden Onkel Abraham Jacobi (1830-1919) in New York und hoffte, sich in Washington D. C., dem Zentrum der amerikanischen Wissenschaft, mit denjenigen Leuten zu treffen, die ihm bei der Suche nach einer Stelle behilflich sein konnten (Hyatt 1990: 10). Die politische Situation in Deutschland, die zunehmenden illiberalen Tendenzen verbunden mit den Vorurteilen und Diskriminierungen gegen Juden (vgl. Stocking 1979: 33; Stocking 1968: 135-160; Degler 1989: 2) waren für Boas unerträglich; für ihn figurierte Amerika als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, als das Land der Zukunft, auf einem politischen System begründet, das wohl nicht perfekt, aber immerhin auf liberalen und rechtsstaatlichen Prinzipien gebaut worden war (Cole 1999: 85). Und in der amerikanischen Wissenschaft, in seinem Fachgebiet der Geographie erschien ihm vieles noch unbearbeitet, offen und unbedarft. 137
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Boas: »Here I see a possibility of success; at home, in Germany, I see none at all« (Boas an Jacobi, 13. Januar 1885, zitiert nach Cole 1999: 85). In Washington traf er John Wesley Powell. Boas gelang es, mit ihm die Vereinbarung zu treffen, die ethnographischen Resultate seiner Baffinland-Reise als Jahresreport des Bureau of Ethnology zu veröffentlichen (1888). – Nur seine Hoffnungen auf eine Beschäftigung an Powells Institut erfüllten sich nicht.3 Ebenso nicht von Erfolg gekrönt waren seine weiteren Bemühungen: Die Aussicht auf eine Bibliotheksanstellung in New York und eine Beschäftigung bei der meteorologischen Abteilung der Signal Corps lösten sich in Luft auf. Weder bei der Johns Hopkins University (Barkan 1992: 79), noch bei der Smithsonian Institution gab es für ihn eine geeignete Arbeitsstelle. Wenigstens bot sich ihm im Februar 1885 die Chance, zwei Vorlesungen am Columbia College in New York zu halten, eine Chance, die Boas wegen seinen mittelmäßigen Englischkenntnissen nicht zu nutzen vermochte: Nach der ersten Vorlesung blieb die Mehrzahl der Studierenden der zweiten fern, ein eigentliches Desaster. – Am 14. März 1885 reiste Boas nach Deutschland zurück. Kurz nach seiner Ankunft präsentierte er am jährlichen deutschen Geographen-Kongress einige der Resultate seiner Feldforschung. Sein Vortrag »Die Eskimos von Baffinland« erhielt großen Applaus, die Anwesenden waren begeistert. Doch auch in Deutschland gelang es Boas nicht, eine Beschäftigung zu finden, die es ihm ermöglichte, ein Leben ohne die finanziellen Zuschüsse seiner Eltern zu führen. Hoffnungen, beim Perthes Institut, einem Büro für Hydrographie, oder bei Adolf Bastian am neuen volkskundlichen Museum in Berlin zu arbeiten,4 zerschlugen sich. – Boas entschied sich deshalb an der Universität Berlin zu habilitieren und reichte die Ergebnisse seiner Forschungsreise, vorwiegend kartographische Arbeiten, Interviews mit den Inuits über deren
3 Powell war, wie Regna Darnell in ihrem Aufsatz »The Professionalization of American Anthropology« schreibt, »delighted to cooperate with the young German scholar who shared his commitment to professional science and careful research« (1971c: 96). 4 Adolf Bastian lancierte die »Zeitschrift für Ethnologie«. Als Theoretiker wird er identifiziert mit dem Konzept der »Elementargedanken«, ein Konzept, das die Einheit des Menschengeschlechts auf ein Basissubstrat der menschlichen Gedanken zurückführt. Diese Gedanken werden von Völkern unterschiedlich weiterentwickelt und differenzieren sich zu verschiedenen und vielförmigen »Volksgedanken« aus (vgl. Bunzl 1996: 48f.; Benedict 1969 [1943]: 27).
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Migrationen, Niederschriften von Sagen, die frühere Wanderungen beinhalteten, als Habilitationsschrift ein. Das Fachgebiet der Geographie war in der Mitte der 1880er Jahre, wie bereits erwähnt, kaum diszipliniert. Den einzigen Lehrstuhl für Geographie bekleidete der 67-jährige Heinrich Kiepert (1818-1899), der sich in seinen Studien ausschließlich mit der klassischen Antike beschäftigt hatte und neuen Strömungen in seinem Fachgebiet grundsätzlich mit großer Skepsis gegenüberstand. Trotz unangenehmer Querelen mit Kiepert nahm die Fakultät, überzeugt durch die Empfehlungen von Helmholtz, die Habilitationsschrift Boas’ an. Am 27. Mai 1885 präsentierte Franz Boas seine Arbeiten über das arktische Eis vor der Fakultät. Helmholtz, Wilhelm von Dilthey (1833-1911), Theodor Mommsen (1817-1903) waren unter den circa 30 Professoren, die Boas im Anschluss an seine Vorlesung zum Privatdozenten ernannten. Die Arbeitsuche ging weiter; eine feste Stelle schien ein Ding der Unmöglichkeit. Boas hielt einige Vorlesungen an der Berliner Universität und bekam eine befristete Assistentenstelle am ethnologischen Museum in Berlin, an dem er mit Adolf Bastian und Rudolf Virchow zusammenarbeitete (Boas 1886: 218; vgl. auch Hymes 1970: 255; Kroeber 1969 [1943]: 9). Zu dieser Zeit hatte Boas zum ersten Mal Kontakt mit Native Americans. Neun Bella Coola Indianer, die zu Forschungszwecken von British Columbia nach Berlin gebracht worden waren, ermöglichten es ihm, erste linguistische Studien zu einer der American Indian languages vorzunehmen, Studien, die ihm zwar »a terrible headache« (Boas zitiert nach Cole 1999: 97) verursachten, die er aber immerhin in der Zeitschrift »Science« veröffentlichen konnte. Der Artikel, der nur gerade eine Spalte des Journals beanspruchte, beinhaltete wenige Angaben »imperfect though they be« (Boas 1886: 218). Boas beschrieb die Pluralbildung der Nomen, die Personalpronomen 1. bis 3. Person Singular und Plural, die Flexion der Verben, einzelne Namen von Farben und schließlich die Namen von Zahlen – in keiner Weise eine umfassende, linguistische Abhandlung. Trotz seiner engagierten Mitarbeit als Assistent verdiente er zu wenig, um seine Familie zu ernähren. Und die Beschäftigungsaussichten schienen sich für einen jüdischen, liberalen Geographen im damaligen Deutschland nicht zu verbessern. Boas fuhr aus diesem Grunde zurück nach Amerika, zum Jahrestreffen der American Association for the Advancement of Science (AAAS). Dort traf er sich mit dem kanadischen Philologen Horatio Hale (1817-1896), der sich in naher Zukunft für seine professionelle Karriere als äußerst wichtig erweisen sollte, und dem Sekretär der American Association for the Advancement of Science, 139
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Frederic Ward Putnam (1839-1915).5 Nur, eine ihm adäquate Anstellung war nicht zu finden. Boas entschloss sich zu einer weiteren Feldforschung – ermöglicht durch den Kredit von US$ 500 von seinem Onkel Abraham Jacobi. Fasziniert von der Begegnung mit den Bella Coola in Berlin während seiner Arbeit am ethnologischen Museum (Jakobson 1944: 188; Kroeber 1969 [1943]: 11) reiste er zu deren Stammesgebiet in British Columbia (Hyatt 1990: 11; Kroeber 1969 [1943] 1969: 12). Ziel war es, »ethnogeographische« Aufzeichnungen der verschiedenen ethnischen Gruppen durchzuführen, das heißt die Mythen und Sprachen der Native Americans zu protokollieren sowie die geographische Verteilung der »Vancouver Island tribes« zu kartographieren. Die Feldforschung gestaltete sich nicht einfach. Boas entdeckte zahlreiche unterschiedliche Dialekte, die er einzuordnen versuchte; und das soziale Leben der Native Americans war in den Augen Boas’ so komplex, dass er fürchtete, seine Ziele in der kurzen Zeit nicht zu erreichen. Die richtigen Informanten zu finden und diese zum Reden zu bringen, schien ihm ein Ding der Unmöglichkeit: Oft waren sie, folgt man seinen Forschungsnotizen, betrunken oder gehemmt, erwiesen sich als unzuverlässig oder äußerst erfinderisch bei der Erzählung von Stammesmythen, waren störrisch, misstrauisch, unkooperativ und habgierig (vgl. Cole 1999: 101). Inmitten dieser Komplikationen stieß er auf eine dem Forscherkollektiv bis anhin nicht bekannte Sprache, eine Sprache, die nur gerade von drei Familien gesprochen wurde – wenigstens ein kleiner Erfolg.6 Die Rückkehr nach New York brachte neue Enttäuschungen, die Aussicht auf eine Kuratorenstelle beim New York American Museum of Natural History erfüllte sich nicht (vgl. Cole 1999: 84f.). Dann, endlich, als er seinen Artikel »The Study of Geography« beim Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift »Science«, N. D. C. Hodges, abgeben 5 Frederick Ward Putnam, ausgebildeter Zoologe, war seit 1870 Mitglied des Peabody Museum of American Archaeology. An der Harvard University wurde ihm zu Ehren ein Lehrstuhl für Archäologie eingerichtet. Als Sekretär der AAAS unterhielt er nationale Verbindungen zur wissenschaftlichen Welt. Putnam organisierte etliche beständige anthropologische Institutionen wie das Field Museum in Chicago (1893) und das American Museum of Natural History in New York (1894). Zur Geschichte der Rolle der anthropologischen Museen in der Konstituierung der anthropologischen Wissenschaft vgl. Hinsley (1994 [1981]: 83-125), McVicker (1990: 3-8), Darnell (1971c: 96ff.), Darnell (1998: 117-148). In dieser Arbeit wird darauf nicht genauer eingegangen. 6 Seine Ergebnisse publizierte Boas 1887 in der Zeitschrift »Science« (vgl. Boas 1887a: 288-289).
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wollte, hatte seine dreijährige Arbeitssuche ein Ende, endlich: eine Stelle, zwar auf zwei Jahre befristet, aber immerhin eine Stelle als Redaktor mit besonderer Verantwortlichkeit für das Fachgebiet »Geographie« bei »Science« – ein erster Anfang auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt war getan (vgl. Hyatt 1990: 13; Kroeber 1969 [1943]: 11).
Geographie? – Ethnologie! Boas erhoffte sich mittels der Redaktorenstelle bei der 1883 gegründeten Zeitschrift das Interesse an seinem Forschungsgebiet der Geographie im amerikanischen Wissenschaftskontext zu wecken. Am 11. Februar 1887 veröffentlichte er seinen Aufsatz mit dem Titel »The Study of Geography«, in dem er seine methodologischen Ansichten zum ersten Mal dem amerikanischen Denkkollektiv unterbreitete. Boas stellte den historischen, unter anderen von Wilhelm Dilthey formulierten Anspruch, ein Phänomen in seiner Eigenart zu verstehen, dem der Physik, welche die universellen, ahistorisch gültigen Gesetze zur Beschreibung der Relation der einzelnen Dinge untereinander sucht, gegenüber (vgl. Harris 1968: 268f.; Bunzl 1996: 17 & 55; Jacknis 1996: 186f.). Die physikalische Perspektive verband er mit dem Positivismus Auguste Comtes (1798-1857), die historische mit dem »Cosmos« Alexander von Humboldts: »All his [Comtes, Anm. J. H.] Sciences have one aim, to deduce laws from phenomena. The single phenomenon itself is insignificant: it is only valuable because it is an emanation of a law, and serves to find new laws or to corroborate old ones. To this system of sciences Humboldt’s ›Cosmos‹ is opposed in its principle. Cosmography, as we may call this science, considers every phenomenon as worthy of being studied for its own sake. Its mere existence entitles to a full share of our attention; and the knowledge of its existence and evolution in space and time fully satisfies the student, without regard to the laws which it corroborates or which may deduced from it« (Boas 1887b: 138).
Boas ging es in seinem Aufsatz nicht um eine Wertung der beiden Wissenschaftsperspektiven (vgl. Stocking 1974b: 9; Benedict 1969 [1943]: 30f.); beide entsprachen den fundamentalen menschlichen Erkenntnisinteressen, eine Wahl zwischen ihnen war nur auf der Grundlage persönlicher Neigungen zu treffen: »[…] being a confession of the answerer as to which is dearer to him, – his personal feeling towards the phenomena surrounding him, or his inclination for abstractions; whether he prefers to recognize the individuality in the totality, or the totality in
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the individuality« (Boas 1887b: 140). – Boas’ Wahl fiel auf die Kosmographie. Seine Bemühungen, die neue Wissenschaft der Geographie in die richtige Richtung zu lenken, beschränkten sich nicht auf das Propagieren der geeigneten wissenschaftlichen Methode. Unmittelbar nach seinem Stellenantritt setzte er seine systematische Vernetzung in wissenschaftlichen Zirkeln fort. Er wurde Mitglied der American Geographical Society mit der Hoffnung, diese in »something significant« (Boas zitiert Cole 1999: 106) zu transformieren. Des Weiteren plante er, eine ethnologische Gesellschaft zu gründen – eine Gesellschaft, die nicht nur Kurse zu geographischen Themen anbieten, sondern auch über genügend Ressourcen verfügen sollte, um arktische und antarktische Expeditionen durchzuführen. Trotz der schriftlichen Unterstützung der maßgeblichen amerikanischen anthropologischen Denker Frederick Ward Putnam, Daniel Garrison Brinton und John Wesley Powell scheiterte das Experiment bereits nach der zweiten Sitzung – Boas’ Plan schien zu ehrgeizig. Doch möglicherweise war nicht nur Boas’ Eifer Schuld am Misserfolg. Boas’ kosmographische Betrachtungen fanden 1887 keine Anhänger; sie waren an den kohärenten, amerikanischen Evolutionsdiskurs nicht anschlussfähig – ein Diskurs, der für eine Ethnologie die wissenschaftliche Tatsache postulierte, dass eine direkte Progression von der primitiven Gesellschaft über verschiedene Zwischenstufen zur modernen zivilisierten Gesellschaft bestehe, eine Theorie mit umfassenden Erklärungsanspruch für sämtliche von Menschen hervorgebrachten Phänomene, die sich jenseits einer mosaikartigen Kosmographie zu etablieren vermochte. Daniel Garrison Brinton und John Wesley Powell waren, wie wir wissen, in der Konstituierung dieses ethnologischen respektive anthropologischen Denkstiles richtungweisend. Das Institut Powells erreichte, wie im Abschnitt zur »Konstituierung der American Indian languages als wissenschaftliches Forschungsobjekt« ausgeführt, durch die theoretische Abstützung einer von der Öffentlichkeit geforderten Akkulturierung und Zivilisierung der primitiven Rassen, durch die Einbindung zahlreicher renommierter Forscher ins Forscherkollektiv sowie durch die Formulierung einer Theorie, die »evolutionstheoretische Wahrheiten« produzierte, eine Weiterführung und Stabilisierung seiner Arbeit. Es galt gegen Ende der 1880er Jahre bereits als wichtiges Forschungszentrum.7 Brinton war nicht nur gern gesehener Redner in zahlreichen Gelehrtenkreisen, sondern veröffentlichte etliche Artikel zu sei7 Selbst Boas erhielt finanzielle Unterstützung für die eigene Forschungsarbeit vom Bureau of Ethnology (vgl. Stocking 1968: 280).
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nen von einer deutschen Denktradition beeinflussten und rassistisch gewendeten Theorie in Publikationsorganen wie »The Pennsylvania Magazine of History and Biography«, den »Proceedings of the American Philosophical Society« etc. (vgl. »Powells Gegenspieler: Daniel Garrison Brinton«). Sie beide prägten und definierten den Denkstil der amerikanischen Anthropologie. Die reflektierten wissenschaftlichen Argumente von Boas konnten daran nichts ändern.8
Induktion – das Maß aller Dinge Boas gab nicht auf: In der berühmten Museumsdebatte, die Boas mit dem Mitarbeiter des Bureau of Ethnology und Verantwortlichen der anthropologischen Sektion des Smithsonian National Museum in Washington Otis T. Mason (1838-1908) führte, startete Boas 1887 eine erste Kontroverse gegen das amerikanische anthropologische Denkkollektiv (vgl. Hyatt 1990: 18ff.; Bunzl 1996: 56; Jacknis 1996: 185f.). Seine Stellung als Redaktor der Zeitschrift »Science« nutzend kritisierte er in einem Artikel Masons Vorstellungen, wie anthropologische Artefakte in Museen auszustellen seien. Hinter Masons Arbeitsweise stehe, so schrieb Boas, die Hypothese, dass ähnliche ethnologische Phänomene entweder auf eine gemeinsame Ideenquelle zurückzuführen seien oder sich in ähnlichen Kontexten entwickelt haben müssen. Für Mason gelte das Prinzip, dass alle Menschen auf ihre Umwelt in gleicher Weise reagierten, mit andern Worten, dass der menschliche Geist immer dieselben Produkte herstelle »under the same stress and resources« (Boas 1887c: 485-86) – ein Gedanke, der sich unmittelbar aus der Doktrin Powells beziehungsweise des Bureau of Ethnology, dass alle Menschen über dieselbe mentale Logik verfügten, ergab (Stocking 1974b: 2ff.; Benedict 1969 [1943]: 27). Doch für Boas hatte diese Logik zu wenig Erklärungskraft. Seiner Ansicht nach waren die menschlichen mentalen Prozesse zu komplex, um als feste Erklärungsgröße fungieren zu können. Er argumentierte im Gegenzug, dass die Ähnlichkeit zufällig entstanden sein könnte, als ein Resultat ganz unterschiedlicher Ursachen: »Like effects did not necessarily mean like causes« (Boas 1887d: 589; zur Debatte vgl. auch Cole 1999: 127; Hinsley 1994 [1981]: 112ff.). Die Produkte und individuellen
8 Boas selber hielt übrigens nicht viel von seinen amerikanischen Kollegen. Am 26. April 1907 wird er an seine Mutter schreiben, dass es sehr einfach sei, in den Vereinigten Staaten ein führender Anthropologe zu sein (vgl. Cole 1999: 284).
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Lebensstile von spezifischen Völkern müssen, so forderte Boas, in ihrer Ganzheit studiert werden. Für Boas war klar, dass eine Klassifikation, wie sie Mason mit seinen Artefakten vornahm, keine fundierten wissenschaftlichen Erkenntnisse liefern konnte, weder für die Biologie, die sein Gegenspieler Mason als »immovable foundation« (Mason 1887: 534) für die Wissenschaft des Menschen betrachtete, noch für die Ethnologie (Boas 1887c: 485f.). 1887 fand Boas’ Versuch, seine kosmographische Betrachtungsweise durchzusetzen und zu beweisen, dass die wahre Natur eines ethnologischen Phänomens in seinem historischen oder sozialen Kontext und nicht in der gegenwärtigen isolierten Erscheinung zu finden sei respektive dass der Fokus der wissenschaftlichen Untersuchung auf das individuelle Phänomen »in its history and in its medium« (Boas 1887c: 485) gerichtet sein sollte, keine Befürworter. Seine Darlegung, »in ethnology all is individuality« (Boas 1887d: 587), war in einer der unilinearen Evolutionstheorie verpflichteten Anthropologie kein einleuchtendes Argument.9 1887 schien der Graben zwischen den Washingtoner Anthropologen und Franz Boas unüberbrückbar. Powell und Mason legten das Hauptgewicht ihrer ethnologischen Betrachtungen in Anlehnung an die Theorie Henry Lewis Morgans auf die Einheit und deshalb vergleichbare Entwicklung des Menschengeschlechts; Boas betonte die Individualität und die Einzigartigkeit der Völker. Der von Boas vertretene Historizismus und sein auf die Kulturen als Ganzheit gerichtetes Interesse waren in den Augen seiner amerikanischen Kollegen, die die »ever increasing comprehensiveness« der Menschheit, deren »crowning glory« (Mason 1892: 603) zelebrierten, schlicht nicht wissenschaftlich. Zwei Jahre später nahm Franz Boas in seinem Essay »On Alternating Sounds«, der in der ersten Nummer der von der Anthropological Society of Washington gegründeten Zeitschrift »American Anthropologist« veröffentlicht worden war, die Problematik der in Abhängigkeit theoretischer Grundsätze vorschnell vorgenommenen a priori-Klassifikationen oder, wie Boas sie nannte, »premature« oder »arbitrary« Klassifikationen (Stocking 1974b: 2f.) erneut auf. Doch nun ging es nicht mehr um die Frage, wie man anthropologische Artefakte in Museen auszustellen habe, sondern wie die Transkription amerikanisch-indianischer Sprachen – Sprachen, die vom Lautsystem in keiner Weise mit den in9 Selbst John Wesley Powell stellte sich auf die Seite Masons mit den Worten: »The unity of mankind«, antwortete er Boas, »is the greatest induction of anthropology« (Powell 1887: 612).
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doeuropäischen Sprachen zu vergleichen waren –, vorzunehmen sei. Boas schließt damit an die von Morgan beziehungsweise Powell sowie Brinton begründete Forschungsrichtung an, welche die Entwicklung der indianischen Völker anhand von Sprachstudien nachzeichnete. Bis anhin hatte sich Boas kaum eingehend mit Linguistik beschäftigt. Die Aufzeichnungen der Sprachen der Inuits und die der Bella Coola Indianer gehörten nicht zu Boas’ zentralen Forschungstätigkeiten. Gleichwohl nahm er diese Aufzeichnungen als Basis für eine grundsätzliche Kritik an den Forschungsmethoden seiner Kollegen. Boas fiel in der Durchsicht seiner in Baffinland angefertigten Vokabularlisten10 auf, dass er für ein und denselben Begriff mehrere Schreibweisen verwendet hatte: »Operníving, Upernívik, Uperdnívik« beziehungsweise »Kikertákdjua, Kekertákdjuak, Kekertáktuak« (Boas 1889: 49). Er zog daraus den Schluss, dass »[s]ensations are classified according to their similarity and the classification is made according to known sensations« (Boas 1889: 50). Die unterschiedlichen Begriffe seien nicht Ausdruck von, wie seine zeitgenössischen linguistischen Kollegen vermuteten, »alternierenden Lauten« – ein aus deren Sicht vermeintliches Merkmal primitiver Sprachen –, sondern vielmehr Ausdruck der Fehleinschätzung der Wissenschaftler, zurückzuführen auf die mit dem eigenen Lautsystem in Einklang stehenden Wahrnehmungen. »I think […] it is clear that all such misspellings are due to a wrong apperception, which is due to the phonetic system of our native language. For this reason, I maintain, that there is no such phenomenon as synthetic or alternating sounds, and that their occurrence is no way a sign of primitiveness of the speech in which they are said to occur; that alternating sounds are in reality alternating apperceptions of one and the same sound. A thorough study of all alleged alternating sounds or synthetic sounds will show that their existence may be explained by alternating apperceptions « (Boas 1889: 52).
Mit andern Worten: Die linguistischen Aufzeichnungen der American Indian languages stehen in Abhängigkeit der Perzeptionsgewohnheiten
10 Boas’ linguistische Arbeit zu den Inuit-Sprachen – eine Sammlung des Vokabulars des Eskimo-Dialektes, die er mit dem Wortschatz von Labrador und Grönland verglich – wurde erst 1894 veröffentlicht. Er selber schätzte das gesammelte Material als »mangelhaft und unvollkommen« (Boas 1894c: 97) ein. Während seiner Reise war ihm die Bedeutung der linguistischen Studien (noch) nicht bewusst. Er glaubte, dass die Sprachaufzeichnungen der Missionare ausreichen würden.
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der Forschenden (vgl. Jakobson 1944: 191; Hill/Mannheim 1992: 390; Bunzl 1996: 64; Anderson 1985: 208). Boas’ Ausführungen, die man letztlich, wie Stocking in seinem Aufsatz »From Physics to Ethnology« (Stocking 1968: 133-160) argumentiert, in ihrer Anlage als eine Fortsetzung der Überlegungen seiner Dissertation lesen kann – schließlich beschäftigten sie sich erneut mit der Frage, ob die subjektive Beobachtung, hier die auditive Perzeption, des Forschers tatsächlich ausreichend sei, um die Differenzen der vorgegebenen Stimuli, hier Laute, objektiv wahrnehmen und beschreiben zu können (vgl. auch Barkan 1992: 80) –, richteten sich gegen die in der amerikanischen Anthropologie vorherrschenden linguistischen Sichtweisen. Ganz explizit stellte er sich gegen Forscher,11 welche die Theorie der »alternating sounds« vertraten, wie Daniel Garrison Brinton, der diesen vermeintlichen linguistischen Tatbestand der indianischen Sprachen, die »vague and fluctuating […] phonetic elements« (Brinton 1890a [1888]: 397) als Evidenz für deren Primitivität beschrieb, oder John Wesley Powell, der in seiner »Introduction to the Study of Indian Languages« den »synthetic sounds« ein eigenes Unterkapitel widmete (Powell 1880 [1877]: 12f.). Außerdem beanstandete Boas mit diesem Artikel die von Powells Institut ausgearbeiteten Transkriptionsregeln, die eine ›objektive‹ Aufnahme der American Indian languages garantieren sollten (vgl. »›Introduction to the Study of Indian Languages‹ – Instrument zur Mobilisierung der American Indian languages«). Und schließlich beinhaltete Boas’ Aufsatz auch eine implizite Kritik an den linguistischen Lehrgebäuden, die seine amerikanischen Zeitgenossen auf der Grundlage der aus seiner Sicht unzureichenden Daten offenbar bedenkenlos konstituiert hatten. Ende der 1880er Jahre gelang es Boas nicht, die unterschiedlichen linguistischen Theorien, die den allgegenwärtigen rassistischen Evoluti11 Große Ausnahme ist in diesem Zusammenhang Horatio Hale. Hale veröffentlichte bereits 1885 im »Journal of the Anthropological Instituts of Great Britain and Ireland« den Artikel »On Some Doubtful or Intermediate Articulations: An Experiment in Phonetics«, in dem er zum selben Ergebnis kam: »Uncertainty is due to a lack of clear perception in the listener«; er sprach gar von der »Aryocentric fallacy« – ein Argument, das im Denkkollektiv der nordamerikanischen Kontext einer rassischen Superiorität kaum Anschluss fand (vgl. Hale 1885: 240). Douglas Cole geht davon aus, dass Boas Hales Text nicht kannte, weil dieser zur Zeit der Veröffentlichung in Baffinland unterwegs war (1999: 131 & 309). Zu Hales Linguistik vgl. »Differenzierung des Boasschen linguistischen anthropologischen Forschungsprogramms«.
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onsdiskurs empirisch zu stützen und zu belegen versuchten, in Frage zu stellen. Es gelang Boas nicht, seine anthropologischen Gegenspieler zu überzeugen, dass nicht die Ähnlichkeit von anthropologischen und ethnologischen Ergebnissen Ausgangspunkt einer Untersuchung sein dürfe, sondern das historische Einzelereignis im Vordergrund jeglicher Forschung zu stehen habe.12 Die äußerst stabile Forschungslogik der Powellschen Anthropologie, die sich auf der Grundlage evolutionstheoretischer Aussagen von Morgan etabliert hatte, war eng verknüpft mit der politischen Logik des U.S.-Staates, der die Ressourcen für die Untersuchungen lieferte. Die Anthropologie von Powell wie auch von Brinton bestätigte die Sichtweisen der White Anglo-Saxon Protestants – ganz zentral die der Primitivität der indianischen Gesellschaften und die Superiorität der angelsächsischen Rasse –, trug zu einer wichtigen Identitätskonstitution dieser bei und, in einem zweiten Schritt, zur Legitimierung der Zerstörung der amerikanisch-indianischen Kulturen. Franz Boas wehrte sich als klassischer Liberaler gegen diese rassistische Identitätskonstruktion, gegen die Inszenierung eines Hyperamerikanismus – doch (noch) kam er dagegen nicht an.
Historischer, individualistischer Ansatz in Verbindung mit physikalischer Anthropologie Franz Boas’ Stelle bei »Science« war auf zwei Jahre befristet; Hodges reduzierte das Arbeitsverhältnis auf 18 Monate. Nicht dass Hodges unzufrieden mit Boas’ Arbeit gewesen wäre, nur fehlten die Mittel, die Stelle weiter zu finanzieren.13 Die Nachricht ereilte Boas nach seiner Rückkehr von British Columbia – nach einer Forschungsreise, die ihm ein zusätzliches neues anthropologisches Forschungsgebiet eröffnet hatte: Unter der Ägide der British Association for the Advancement of Science (BAAS) war Boas am 31. Mai 1888 nach British Columbia gereist (vgl. Jacknis 1996: 192). Die BAAS verfügte über ein Spezialkomitee, das im Zusammenhang mit der Erstellung der Canadian Pacific Railway mit dem Zweck gebildet worden war, »of investigating and 12 Die Frage, weshalb sich in unterschiedlichen geographischen Gebieten ähnliche kulturelle Sachverhalte ausdifferenzieren konnten, beschäftigen die anthropologisch arbeitenden Wissenschaftler stark. Eine Theorie war die der Diffusion, die besagte, dass sich Sachverhalte über geographische Grenzen hinaus verbreiten, »diffundieren« konnten (vgl. Bunzl 1996: 69). 13 Zur finanziellen Situation der Zeitschrift »Science« in den 1880ern vgl. Kohlstedt et al. (1999: 52).
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publishing reports on the physical characters, languages, industrial and social condition of the North-western tribes of the Dominion of Canada« (Recommendations 1888 [1884]: lxxii). Das Komitee hoffte, die Eigentümlichkeiten und Gegebenheiten der indianischen Stammesgesellschaften noch vor deren vollständigen Absorption und Assimilation aufzeichnen zu können.14 Den Vorsitz des Kollegiums bekleidete der führende britische Anthropologe Edward Burnett Tylor (1832-1917), Professor für Anthropologie an der University of Oxford. Die tatsächliche Leitung des Komitees hatten die drei kanadischen Mitglieder George Mercer Dawson (1849-1901), Direktor des Geological Survey, Sir Daniel Wilson (1816-1892), Historiker von der University of Toronto, und Horatio Hale, Philologe und Ethnologe von Clinton, Ontario, inne (Gruber 1967: 23; Wolfart 1967: 166f.). Boas erhielt vom Komitee den Auftrag, neben einem vollständigen Bericht über die ethnischen Gruppen in British Columbia einen umfassenden Überblick über die Sprachfamilien zu erstellen. Es war vor allem der 71-jährige Hale,15 der dieser Arbeit großen Wert beimaß (Halle 1887: 315); für ihn, wie für Daniel Garrison Brinton, der Hale in besonderem Maße schätzte,16 war die Rekonstruktion der ethnischen Ge-
14 Die Situation der American Indians in Kanada beziehungsweise die von der kanadischen Regierung durchgeführte Politik ihre Zivilisierung und Akkulturierung betreffend unterschied sich während den 1880er Jahren nicht von der der U.S.-Regierung (vgl. Washburn 1988). 15 Hale unternahm seine erste ›ethnologische Feldforschung‹ als Harvard-Student, deren Resultate, Vokabularlisten verschiedener American Indian languages, er 1834 veröffentlichte. Beteiligt an der Wilkes Exploring Expedition, einer Expedition zum Südpazifik, die vom U.S.-Kongress mit dem Zweck unternommen worden war, Handel und Schifffahrt zu fördern, gelang es Hale, ethnologisches und philologisches Datenmaterial zu beschaffen. Sein Bericht, der 1846 publiziert und zur Grundlage von Gallatins Werk »Hale’s Indians of North-West American, and Vocabularies of North America, with an Introduction« wurde (vgl. auch »Rahmenbedingungen und Mitarbeiter«), repräsentiert gemäß Gruber den Klimax der ethnologischen Phase der damaligen amerikanischen Anthropologie. Hale zog sich anschließend von der anthropologischen Forschung zurück, studierte Recht in Chicago, Ontario und nahm seine ethnographischen Studien erst wieder in den 1870er Jahren auf (vgl. Gruber 1967: 11f.). 16 Brinton widmete seine Vorlesungen »Races and Peoples« (1890) dem Philologen mit den Worten: »To Horatio Hale, philologist to the United States exploring Expedition in 1838-42, whose many and valuable contributions to linguistics and ethnography place him to-day among the foremost authorities on these sciences, this volume is inscribed in respect and friendship by the author« (Brinton 1890: 3).
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schichte nur auf der Basis linguistischer Daten (vgl. Hymes 1970: 249) möglich: »A scientific treatise on ethnology will commence […] with the primary elements […] the linguistic stocks. It will determine […] the mother tongue and the original geographical center of each stock. It will describe the moral and intellectual traits and the physical characteristics of the people. It will ascertain their mythology, their social system, their industries and arts. It will trace their migrations, their interminglings with other septs, and the moral and physical changes cased by their wanderings and mixtures, any by climate, soil, food, manner of life, and all other influences. And finally, from ascertaining what has been, it will seek to determine what is to come, and to show us something of the future which the human species, in its various divisions, may expect to attain« (Hale 1888, zitiert nach Jacob W. Gruber 1967: 15)
Hale ging in seinen Überlegungen, wie Brinton auch, von einer Einheit des Menschengeschlechts aus; er glaubte, dass alle Menschen über dieselben Voraussetzungen verfügten und dass selbst in Gesellschaften der Native Americans brillante, den zivilisierten Menschen vergleichbare Charaktere vorzufinden seien – ein Argument, das in einem Diskurs, der die Native Americans als »Primitive« determinierte, kaum auf Resonanz stoßen konnte: »The conclusions to which these facts and reasoning points are of great scientific importance. As there could be no sound astronomy while the notion prevailed that the earth was the center of the universe, and no science of history while each nation looked with contempt upon every other people, so we can hope for no complete and satisfying science of man and of human speech until our minds are disabused of those other delusions of self-esteem which would persuade us that superior culture implies superior capacity, and that the particular race and language which we happen to claim as our own are the best of all races and languages« (Hale 1881: 341).
Doch von dieser im Rassendiskurs nicht anschlussfähigen Idee abgesehen entsprach Hales Vorstellung, dass Sprachstudien die einzige Möglichkeit seien, um eine adäquate Klassifikation der indigenen Völker vorzunehmen, dem amerikanischen, anthropologischen Denkstil voll und ganz (Hale 1887: 315). Das Kollegium verlangte deshalb von Franz Boas ausführliche Aufzeichnungen zum Vokabular sowie zu den Grammatiken einzelner Sprachfamilien. Doch damit nicht genug. Um die Relation zwischen sprachlichen und physischen Begebenheiten genauer zu beschreiben und die gegenseitige Abhängigkeit als solche bestimmen zu können, forderte 149
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Hale neben einer vollständigen ethnologischen Kartographie der Provinz eine systematische körperliche Vermessung der Native Americans (Third Report of the Committee 1888: 173-183). In seinen bisherigen Feldforschungen hatte Boas nie Körper vermessen, geschweige denn sterbliche Überreste für die physische rassische Determination zu beschaffen versucht. Unter Hales Anweisungen begann er sich nun erstmals mit dem Studium der »physical anthropology« auseinander zu setzen. Die aktuelle Situation im Feld und seine Befürchtungen, dass eine solche Forschungstätigkeit das ihm von den Native Americans entgegengebrachte Vertrauen erschüttern und eine weitere ethnologische Befragung erschweren würde, nötigten ihn nach Skeletten in Grabstätten zu suchen – eine aus seiner Sicht notwendige aber »widerliche Arbeit« (vgl. Cole 1999: 118). Bei seiner Rückkehr Ende Juli nach New York umfasste seine physikalisch-anthropologische Kollektion 14 Skelette und 85 Schädel, die er partiell selbst ausgegraben, den Großteil aber an einem »American phrenological market« – einem Markt für Gebeine und Schädel – erstanden hatte. Seine Errungenschaften auf dem Gebiet der physikalischen Anthropologie können als erfolgreich bezeichnet werden: Es gelang ihm, im Widerspruch zu wissenschaftlichen Aussagen einiger Zeitgenossen, darzulegen, dass die Schädelgröße der von ihm untersuchten Native Americans, obwohl sie derselben Sprachfamilie angehörten, beachtlich variierte. Seine linguistischen Ergebnisse? Marginal. In der knapp bemessenen Forschungszeit war es ihm nicht möglich, die gesamte Provinz zu erfassen und die von Hale geforderte Kartographie zu erstellen. Immerhin konnte er die Verwandtschaft zwischen den Sprachen Haida und Tlingit nachweisen. Die Kündigung, die er nach seiner Rückreise anfangs August von Hodges erhielt, zwang ihn, sich erneut nach einer Beschäftigung auf dem für einen jüdischen Immigranten nicht wirklich aussichtsreichen amerikanischen Arbeitsmarkt umzusehen. Er reiste zum Treffen der American Association for the Advancement of Science (AAAS), das am 15. August 1888 in Cleveland stattfand. Die AAAS nahm ihn als neues Mitglied wohlwollend auf. Und in Gesprächen mit dem anwesenden Horatio Hale schien sich die Aussicht auf eine neue Stelle zu festigen: Hale diskutierte mit ihm die Durchführung weiterer Forschungsaufenthalte in British Columbia unter der Ägide der BAAS. Boas entschied sich vor allem auch auf Anraten Hales, einen neuen Projektantrag an Tylor, den Präsidenten der BAAS, zu stellen. Diesen überzeugte er von der absoluten 150
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Notwendigkeit weiterer Feldforschungen in British Columbia, wolle man nicht die letzte Chance verpassen, Erkenntnisse zur »wahren Lebensweise« dieser Völker zu gewinnen. Boas erhielt von der BAAS Jahresbeiträge zwischen US$ 700 und US$ 900 für die Zeit von drei Jahren. Zusätzlich leistete Hale einen Betrag von US$ 600 für das Jahr 1889. Ebenso beteiligte sich auf Antrag des Komitees die kanadische Regierung an den Forschungskosten und erhöhte den Jahresbeitrag auf US$ 1'000. Nach einigen Meinungsverschiedenheiten, Inhalt und Zweck der Forschung betreffend – Boas hatte zum Ziel, das Hauptland Kootenay und das Gebiet Interior Salish im Detail zu studieren; Hale bat ihn außerdem, die Tlingit, Tsimshian und Nootka in seinen Bericht miteinzubeziehen17 – reiste Boas vom 18. Juli bis Ende September 1889 zu den ethnischen Gruppen im nordwestlichen Kanada (Cole 1999: 118). Er setzte sich mit den Nootka auseinander, deren Sprache mit Kwakiutl verwandt war, und erstellte auf der Grundlage von Aussagen seines Informanten George Hunt18 eine fast vollständige Liste der »tribes, septs and gentes« der Kwakiutl (vgl. Rohner 1969: 310; Haas 1976: 59). – Am 28. September 1889 kehrte er nach New York zurück.
Differenzierung des Boasschen linguistischen anthropologischen Forschungsprogramms Die von Boas durchgeführten Forschungen in British Columbia gaben dem noch jungen Wissenschaftler die Möglichkeit, seinen individualistischen und historischen Ansatz im empirischen Feld zu testen. Die Hauptfrage, die es zu klären galt, nämlich, woher die Völker der Nordwestküste kamen, versuchte er auf der Grundlage seiner in Physik, Geographie und schließlich Ethnologie ausgearbeiteten Vorgehensweise zu beantworten. Während diesen von ihm eigenhändig umgesetzten Feldforschungen verwendete er vier verschiedene Forschungsstrategien, um Antworten auf diese Leitfrage zu finden: Er sammelte Artefakte, begann mit den vorerst noch kruden und höchst ungenauen anthropometrischen Vermessungen und sammelte Skelette und Schädel. Er setzte sich intensiv mit mythologischen Erzählungen auseinander, für die er ein spezifisches Einordnungsschema entwickelte, indem er die aus seiner Sicht fundamentalen Elemente der mythischen Erzählung herauskristallisierte und untersuchte, wo und in welchen Zusammenhängen diese in den My17 Die Details zum Konflikt finden sich im Aufsatz von Gruber (1967: 25ff.). 18 Zur Beziehung Boas’ zu Hunt vgl. Cannizzo (1983) und Berman (1996).
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then indianischer Gesellschaften Verwendung fanden.19 Und nicht zuletzt: Boas fing an, sich systematisch mit sprachwissenschaftlichen Studien zu beschäftigen. Von Horatio Hale (1982), der überzeugt war, dass die linguistische Anthropologie die »only true science of man« (vgl. auch Vincent 1990: 70f.) war, lernte Boas, linguistisches Datenmaterial zu sammeln und für ethnologische Zwecke zu verwenden. In einem Brief an Boas schreibt Hale: »A comparative vocabulary will, of course, be important. I think it should contain all the words comprised in the list of Gallatin (which has been followed by myself in Oregon, and by Powell in California) with as many more from Major Powell’s list in his ›Introduction to the Study of the Indian languages,‹ as you think proper. As to the alphabet, that which you are accustomed to use will doubtless be satisfactory, if the sounds are fully explained, so that the readers of your Report can readily transliterate them into any other alphabet, for the purposes of comparison. […] It would be desirable that, if possible, a minute outline of grammar of one language belonging to each linguistic stock, should be given – somewhat after the style of those contained in F. Müller’s ›Grundriss der Sprachwissenschaft‹« (Gruber 1967: 27).
Boas folgte in seinen linguistischen Beschreibungen den Empfehlungen Horatio Hales; er verfasste Vokabularlisten und widmete sich in Anlehnung an die linguistischen Konzepte des Wiener Professors Friedrich Müller den Grammatiken der verschiedenen in British Columbia gesprochenen Sprachen.
Friedrich Müllers »Grundriss der Sprache« Friedrich Müller (1834-1898), der im amerikanischen Wissenschaftskontext nicht nur von Hale, sondern auch von Daniel Garrison Brinton unter anderem in seinen Vorlesungen »Races and Peoples« rezipiert worden war, verfasste 1876-1888 eine vierbändige Einführung mit dem Titel »Grundriss der Sprachwissenschaft«. Die einzelnen Untertitel der vier Bände lauten: »Einleitung in die Sprachwissenschaft«, »Die Sprachen der wollhaarigen Rassen«, »Die Sprachen der schlichthaarigen Rassen«, »Die Sprachen der lockenhaarigen Rassen«. Sie geben einen ersten Hinweis auf die aus heutiger Perspektive eigentümlich anmutende, auch von Hale unterstützte Verbindung zwischen Sprachen und 19 Vgl. etwa den Aufsatz von Boas (1891), in dem er seine Vorgehensweise, Verbindungen zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen auf der Grundlage ihrer Erzählungen nachzuweisen, ausführt.
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Rassenkonzepten. Müller stützte seine rassistischen Argumente auf die Form der Haare ab, das körperliche Element, das sich am konstantesten auf die nächste Generation vererbe. Friedrich Müller räumt der Sprachwissenschaft in seinen Werken einen besonderen Stellenwert ein. Für ihn hängt sie mit der Idee der »Menschheit und des Volksthumes« (Müller 1876: 5) aufs innigste zusammen. Sie habe die Aufgabe zu übernehmen, die Entstehung und Entwicklung der Sprache(n) zu untersuchen. Müller plädiert für eine vergleichende, historische, »wissenschaftliche Grammatik« im Boppschen Sinne. Diese »Grammatik«, so Müller, sei ein Teil der allgemeinen Sprachwissenschaft, welche »I. alle Sprachen der Menschen zum Object ihrer Untersuchung macht, II. von der Betrachtung der Sprachen überhaupt die Frage über das Wesen der Sprache im Allgemeinen aufwirft, III. das Verhältniss der Sprache zum Menschen erörtert, IV. endlich die Frage über den Ursprung der menschlichen Sprachen stellt« (Müller 1876: 10). Sprache wurzelt für Müller »in der jedesmaligen geistigen Thätigkeit des Menschen. Sie hat außerhalb des menschlichen Geistes kein selbständiges Dasein« (Müller 1876: 11). Die geistige Tätigkeit, das Denken verknüpft er also eng mit der Sprache, allerdings nicht in dem Sinne, als dass er die beiden Konzepte als identisch ansieht. Vielmehr »bedeute« das Sprechen das Denken; die Worte stellen mittels der ihnen zu Grunde liegenden Anschauungen die »Andeutungen« der Begriffe dar. »Grammatik« und »Psychologie« sind bei Müller folglich aufs engste miteinander verbunden. Müllers Ansichten haben unmittelbare Konsequenzen für die von ihm verwendete sprachwissenschaftliche Methode. Weil es in der wissenschaftlichen Grammatik um die Gedanken gehe, die in der Sprache aufzufinden seien, sei das Ausgangsmaterial für die sprachwissenschaftliche Analyse der Satz, der kürzeste Ausdruck des Gedankens: Er lässt »das Wort nur als Theil eines Satzes gelten und bestimm[t] ihm aus seinem Verhältnisse zu den anderen Theilen des Satzes seinen eigentlichen Werth« (Müller 1876: 49). Müller setzt sich mit seiner sprachwissenschaftlichen Theorie explizit von der Position August Schleichers ab, der die Sprache als einen selbständigen Organismus fasste und damit wie andere natürliche Organismen als naturwissenschaftlichen Gegenstand beschrieb. Schleicher ginge, so Müller, von der Vorstellung aus, dass »die Sprache mit der durch die Schrift fixirten [sic] Literatursprache […] identisch sei« (Müller 1876: 12). Nur deshalb könne er behaupten, dass es sich beim Gegenstand »Sprache« um einen Naturorganismus handle. Sprache sei aber vielmehr in der »zeugungskräftigen gesprochenen Volkssprache reprä153
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sentiert, die nicht im engen Buche wohnt, sondern im Herzen des Volksgeistes ihren Sitz hat, wo sie jeden Augenblick mit immer neuer Kraft sich erzeugt« (Müller 1876: 12). Müllers sprachwissenschaftliche Konzepte widerspiegeln klar die Ideen Wilhelm von Humboldts und Franz Bopps. Um die Frage der Sprachverwandtschaften zu klären, bedient sich Müller zusätzlich zeitgenössischer Rassenlehren. Die Menschen seien, beginnt Müller seine Argumentation, physische und psychische Wesen. Als physische Wesen seien sie Gegenstand der Anthropologie und einzuteilen in Grundtypen, die Müller »mit einem herkömmlichen Ausdruck als Rasse« (Müller 1876: 51) bezeichnet. Betrachte man die Menschen hingegen als psychische beziehungsweise als »vernünftig-sociale Wesen« (Müller 1876: 51), seien sie Gesetzen unterworfen, welche die Gesellschaft ihnen auferlege. Müller glaubt nun, dass die Menschen, »als es nur Rassen und keine Völker gab«, sprachlos waren – »geistige, auf der Sprachthätigkeit [sic] beruhenden Entwicklung noch völlig ermangelnde Wesen« (Müller 1876: 52). Sprachen hätten sich folglich erst nach der Entwicklung und Etablierung der ethnologischen Charaktere, so Müller, entwickeln können; Müller glaubt denn auch nicht an eine allen Menschengeschlechtern gemeinsame Ursprache: »Eine allgemeine Ursprache für alle Sprachen anzunehmen, ist unmöglich, es gab vielmehr zahlreiche Ursprachen« (Müller 1876: 57). Um die Verwandtschaften zwischen diesen verschiedenen Ursprachen zu bestimmen, bedient sich Müller einer genealogischen Klassifikation, die von einer eigentümlichen Verknüpfung zwischen zeitgenössischer Rassentheorie und linguistischen Ansichten ausgeht. Die rassentypischen Unterschiede bilden den Ausgangspunkt in Müllers Klassifikation: »Da […] für die Sprachen, wie sie jetzt existiren, mehrere von einander grundverschiedene Ursprünge angenommen werden müssen, so umfasst diese Classification eine Reihe von Abtheilungen, die mit einander in keinem inneren Zusammenhange stehen, folglich auch von keinem einheitlichen Princip gebildet sein können. Man muss also, soll eine Befassung dieser Abtheilungen unter einem höheren Princip stattfinden, hinter die Sprache zurückgreifen, welche vor Begründung der Sprachtypen existirten – also auf die Rassen-Typen. Diese bilden aber nur den Ausgangspunkt, nicht die Grundlage des genealogischen Systems« (Müller 1876: 74).
Um die Rassen einteilen zu können, nimmt er das körperliche Element, das aus seiner Sicht am konstantesten vererbt wird, als Grundlage, die Haare. »Nach der Beschaffenheit der Haare zerfallen die Menschen zu154
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nächst in zwei große Abtheilungen, nämlich Wollhaarige und Schlichthaarige« (Müller 1876: 72). Diese wiederum unterteilt er in Büschelhaarige, Vlieshaarige und Straffhaarige und Lockenhaarige – eine Anordnung, die ihm als Kategoriensystem zur folgenden genealogischen Klassifikation der Sprachen und Völker dient: »I. Wollhaarige
A) Büschelhaarige B) Vlieshaarige
II. Schlichthaarige
A) Straffhaarige
B) Lockenhaarige
1. Hottentotten. 2. Papuas. 1. Afrikan. Neger. 2. Kaffern. 1. Australier. 2. Hyperboreer. 3. Amerikaner. 4. Malayen. 5. Mongolen. 1. Dravidas. 2. Nubas. 3. Mittelländer«
(Müller 1876: 73).
Nach diesen theoretischen Überlegungen beginnt Müller mit der linguistischen Beschreibung der einzelnen »Weltsprachen«. Er baut diese immer nach demselben Muster auf: Als erstes reflektiert er den »allgemeinen Charakter der [einzelnen] Sprache«. Dieser Beschreibung folgen die Ausführungen zu den sprachlichen Elementen: die vorkommenden Laute, kurze Abschnitte zur Betonung, zum Bau der Silbe und der Wurzel. Dann widmet er sich differenziert der Wortbildung und versucht zu erklären, wie in der einzelnen Sprache die Wortbildungsprozesse funktionieren. Den Ausführungen zu Nomen und Verben, der Beschreibung der Zahlenausdrücke folgen schließlich Sprachproben, die mehrere Sätze umfassen. Betrachtet man Boas’ linguistische Arbeiten zu den Sprachen British Columbias, fällt auf, dass er sich nicht für Müllers aus heutiger Sicht krude Rassentypologie interessierte. Er hatte bereits in seiner Feldforschung darauf hingewiesen, dass die Verbindung zwischen Rasse und Sprache höchst zweifelhaft sei (vgl. »Historischer, individualistischer Ansatz in Verbindung mit physikalischer Anthropologie«). Was er aber übernahm, war Müllers Muster der linguistischen Beschreibung. Er scheint Hales Aufforderung Folge geleistet zu haben (Stocking 1974a: 455).
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Boas’ linguistisch-anthropologische Studien in British Columbia Boas’ anthropologisches Vorgehen in British Columbia erwies sich als vielversprechend. Die anfängliche Vorstellung, dass es sich bei den an der Nordwest-Küste angesiedelten Gesellschaften um eine uniforme Kultur handle, bestätigte sich nicht. Die Ähnlichkeit der Kulturen war vielmehr darauf zurückzuführen, dass sie seit längerer Zeit intensive Handelsbeziehungen untereinander pflegten. Boas fand bei seinen Feldforschungen eine große Anzahl von Dialekten und Sprachen vor, die er in Sprachfamilien zu unterteilen vermochte: Im südlichen Abschnitt wurde Salish, Kwakiutl und Nootka gesprochen, im zentralen Tsimshian und in nördlichen Gebieten Tlingit und Haida. Seine Sammlung der mythologischen Erzählungen, die er aufgrund seiner neu geschaffenen Systematisierung gruppierte, ergab eine regionale Einteilung, die mit der linguistischen Klassifikation korrespondierte. Die Feldforschungen unter der Ägide der British Association for the Advancement of Science (BAAS) führten Boas zu einer differenzierten Betrachtungsweise dessen, was anthropologische Forschung zu sein hatte. Schrieb er noch 1887 in einem Artikel der Zeitschrift »Science«, dass die Ethnologie beziehungsweise Anthropologie versuchen müsse, »to outline the early history of mankind and to work out the psychology of the nations« (Boas 1887e: 231),20 definierte er zwei Jahre später folgendes Forschungsziel: »[…] the study of the history of mankind; not that of civilized nations alone, but that of the whole mankind, from its earliest traces found in the deposits of the ice age, up to modern times« (Boas 1982 [1889]: 627f.). Und dieses Ziel konnte nur erreicht werden, wenn »the history and distribution of every single phenomenon relating to the social life of man and to the physical appearance of tribes« (Boas zitiert nach Cole 1999: 136) untersucht werden würde. Für Boas war klar, dass »civilization is not something absolute, but that it is relative, and that our ideas and conceptions are true only so far as our civilization goes« (Boas 1887e: 231). Und weiter: »The data of ethnology prove that not only our knowledge, but also our emotions are the result of the form of our social life and of the history of the people to whom we belong. If we desire to understand the development of human culture we must try to free ourselves of these shackles […]. It is impossible to determine a priori those parts of our mental life that are common to mankind
20 In den Augen Boas’ sind übrigens die Briten in der Erreichung dieses Zieles weitaus erfolgreicher als die Amerikaner.
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as a whole and those due to the culture in which we live. A knowledge of the data of ethnology enables us to attain this insight. Therefore it enables us also to view our own civilization objectively« (Boas 1888, zitiert nach Jakobson 1944: 190).
– Der Grundstein für die Boassche Kulturanthropologie war gelegt. In den nächsten zwölf Jahren wird Boas seine Methode verfeinern, Ambiguitäten ausmerzen und seine Forschungsagenda zu etablieren verstehen.
Erste Umsetzung der Methoden in der Akademie – Clark University Die erste Möglichkeit bot sich bereits nach seiner Rückkehr von seiner zweiten Feldforschung in British Columbia. Der Psychologieprofessor Granvill Stanley Hall (1844-1924), der in Leipzig bei Wilhelm Wundt studiert hatte, unterbreitete ihm das Angebot, in Worcester einen Lehrstuhl für Anthropologie an der Clark University zu übernehmen. Boas zögerte nicht. Er begann am 4. November 1889 als Dozent mit seinen Vorlesungen zur »nordamerikanischen Ethnologie« und zu »anthropologischen Methoden« (vgl. Darnell 1970: 86f.; Kroeber 1969 [1943]: 12). Die Clark University, eine forschungsorientierte »postgraduate-university«, die wie die Stanford, Johns Hopkins und Cornell University von einem privaten Mäzen gegründet und finanziert worden ist (vgl. auch »University Movement«), ermöglichte es Boas, sich als Professor zu profilieren, sich in Fächern wie Hirnanatomie und experimenteller Psychologie weiterzubilden und groß angelegte anthropometrische Vermessungen in einem eigens dafür eingerichteten Labor durchzuführen. Doch bereits nach drei Jahren kam es zum irreparablen Zerwürfnis zwischen Boas und dem Universitätsleiter Hall: Auslöser war ein Artikel in der lokalen Presse, der sich gegen Boas und seine physikalisch-anthropologischen Vermessungen richtete. Boas beschränkte sich in seinen empirischen Untersuchungen nicht auf die dort ansässigen American Indians, sondern bezog Schulkinder aus Worcester mit ein – ein absoluter Fauxpas; körperliche Vermessungen, die eine Objektivierung der Individuen implizierten, waren den so genannt Primitiven »vorbehalten«. Der Worcester Daily Telegraph, der nicht das erste Mal einen Angriff auf die Clark University startete, bezichtigte Boas, an jungen Mädchen Schenkelvermessungen vorgenommen zu haben. Das Blatt rief die Bürger auf, nicht länger untätig zuzusehen, »while their children at school have their anatomies felt of and the various portions of their bodies measured for no reason established in science, and by a man unknown to Worcester, either personally or by established reputation, ex157
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cept as the representative of an institution under a blood red cloud« (Worcester Daily Telegraph, 5. März 1891, zitiert nach Cole 1999: 142). Der Skandal gibt nicht nur die damaligen rassistischen Vorurteile der Presse und ihrer Leser gegen die Native Americans wieder, er zeigt auch den geringen Status, den die physikalische Anthropologie in der breiteren Bevölkerung genoss. Boas erhielt während dieser Attacke, die die Zeitung gegen ihn führte, keine Unterstützung von der Universitätsleitung. Im Gegenteil. Hall behauptete sogar, dass Boas eigenständig, ohne sein Wissen, die Vermessungen durchgeführt habe, was nicht der Wahrheit entsprach. Die Beziehungen zwischen den Beteiligten verschlechterten sich in den nächsten Monaten noch; Hall erschien in den Augen der Fakultätsmitglieder aufgrund seiner intransparenten Handlungen und Intrigen immer unglaubwürdiger. 1892 verließen wegen Hall zwei Drittel der Fakultät und 70 % der Studierenden die Clark University. Boas war einer davon (Darnell 1971c: 98). Boas hatte seine Zeit an der Clark University genutzt, um sich mit dem amerikanischen Universitätssystem vertraut zu machen. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen, sich in physikalischer Anthropologie weiterzubilden. Er hatte Studierende betreut und zusammen mit Daniel Garrison Brinton als Ko-Examinator die erste anthropologische Dissertation, welche sich den Mississauga-Sprachen in Ontario widmete, begutachtet. Verfasser war Alexander F. Chamberlain (1865-1914). Boas’ sprachwissenschaftliche Untersuchungen beschränkten sich während dieser Zeit auf die Niederschrift seiner Feldforschungsergebnisse in British Columbia. Die Linguistik war für Boas nur ein Teilgebiet von vielen innerhalb der sich neu etablierenden Wissenschaft. Die beiden führenden zeitgenössischen Sprachwissenschaftler der American Indian languages John Wesley Powell und Daniel Garrison Brinton (vgl. Darnell 1971a: 80; Wolfart 1967: 162f.) zitierten dieses von Boas gesammelte Datenmaterial in ihren groß angelegten Klassifikationsprojekten: Die »Indian Linguistic Families of America North of Mexico« und »The American Race. A Linguistic Classification and Ethnographic Description of the Native Tribes of North and South America«. Die 1891 veröffentlichten Publikationen gelten als Meilensteine in der Geschichte der linguistischen Anthropologie.
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Kl a s s i f i k a t i o n d e r Am e r i c a n I n d i a n l a n g u a g e s John Wesley Powell und Daniel Garrison Brinton verfolgten ihre in den Anfängen der 1880er Jahre gestarteten Projekte ohne die Schwierigkeiten, die der junge deutsche Boas in seinem Aufsatz »On Alternating Sounds« dem amerikanischen Denkkollektiv nahe zu bringen versuchte, zu reflektieren. Ihr Ziel war es, die American Indian languages anhand der vorhandenen und auch neu elizitierten Daten zu klassifizieren und mittels der linguistischen Affinitäten die Verbindungen zwischen den indianischen Gesellschaften nachzuweisen. Die Klassifikationen widerspiegeln die wissenschaftlichen Methoden und Theorien, die im damaligen amerikanischen linguistisch-anthropologischen Denkkollektiv Gültigkeit beanspruchten.
Powells »Indian Linguistic Families of America North of Mexico« Im Jahrbuch 7 des Bureau of Ethnology veröffentlichte John Wesley Powell 1891 seine bereits seit längerer Zeit angekündigte Klassifikation und Kartographie der American Indian languages. Die Klassifikation ist Ausdruck von Powells theoretischen Konzepten, die er bereits in seiner »Introduction to the Study of Indian Languages« in Abhängigkeit der evolutionstheoretischen Überlegungen seines Vorbildes Henry Lewis Morgan formuliert hatte. Powell verstand seine Klassifikation nicht als »final paper«. Die Absicht dieser linguistischen Arbeit sei es vielmehr, »[…] to give an account of the present status of the subject and to place before the workers in this field of scholarship the data now existing and the conclusions already reached, so as to constitute a point of departure for new work« (Powell 1891b: xxxvi; vgl. auch Powell 1891a: 139ff.). Powells Klassifikation basierte auf einer konservativen Vorgehensweise, das heißt, »[w]here relationships between families are suspected, but can not be demonstrated by convincing evidence, it has been deemed wiser not to unite them, but to keep them apart until more material shall have accumulated and proof of a more convincing character shall have been brought forward« (Powell 1891a: 26f.). Powell versuchte in seiner Einteilung der American Indian languages trotz der zahlreichen unmittelbaren Probleme, die sich den Forschenden des Bureau of Ethnology stellten – wie zum Beispiel die Einordnung der zahlreichen neu entdeckten Sprachfamilien, die Lehnwörter, die oberflächlich auf eine Verwandtschaft zwischen den Familien schließen ließen, und die »intertribal jargons« (Powell 1891a: 7) –, Fehler und Konfusionen früherer Klassifikationen zu vermeiden. Powell 159
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strebte danach, die Ethnien ausschließlich auf der Grundlage linguistischer Kriterien zu ordnen. Auf Merkmale wie biologische Eigenheiten, technische Fertigkeiten, Gewohnheiten, Gebräuche etc. galt es zu verzichten. Powell wollte vor allem eine Gleichschaltung einer auf linguistischen Kriterien fundierten Klassifikation mit biologischen Rassenkonzepten vermeiden. Des Weiteren entwarf Powell eine der Linnéschen Biologie verpflichtete Nomenklatur für die Bezeichnung der verschiedenen Sprachen und ihrer Sprecher, die, so hoffte der Major, vergangene Bezeichnungskonfusionen verhindern sollte.21 Die rund 670 Vokabularlisten, die sich im Besitz des Bureau of Ethnology befanden, die bereits publizierten und von Institutsmitarbeitern bibliographierten Arbeiten sowie die von den Feldforschern des Instituts neu gesammelten linguistischen Materialien bildeten die Grundlage für Powells Klassifikation, die, so glaubte der Leiter des Bureau of Ethnology, »[…] a new era in the investigation of the subject by making available the vast body of material scattered broadcast through the literature relating to the North American Indians« (Powell 1891b: xxxvif.) einleiten werde. In der Forschung ist man sich einig, dass es John Wesley Powell war, der »the conception of the necessity of some classification, and of the inevitability of this being on a linguistic basis« erfasste, um in einem zweiten Schritt dann das Projekt »rigorously, systematically, and completely« (Kroeber 1905: 579) durchzuführen. Unterstützt wurde er in dieser Arbeit von James Constantine Pilling (1846-1895), einem
21 Die Regeln Powells lauten im Detail: »I. The law or priority relating to the nomenclature of the systematic philology of the North American tribes shall not extend to authors whose works are of date anterior to the year 1836. II. The name originally given by the founder of a linguistic group to designate it as a family or stock of languages shall be permanently retained to the exclusion of all others. III. No family name shall be recognized if composed of more than one word. IV. A family name once established shall not be cancelled in any subsequent division of the group, but shall be retained in a restricted sense for one of its constituent portions. V. Family names shall be distinguished as such by the termination »an« or »ian.« VI. No name shall be accepted for a linguistic family unless used to designate a tribe or group of tribes as a linguistic stock. VII. No family name shall be accepted unless there is given the habitat of tribe or tribes to which it is applied. VIII. The original orthography of a name shall be rigidly preserved except as provided for in rule III., and unless a typographical error is evident« (Powell 1891a: 10f.).
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ehemaligen Mitarbeiter des Geological Survey, der die Verantwortung für die »Bibliography of North American Philology«,22 die Bibliographie der zahlreich vorhandenen Werke zu den American Indians trug, und Henry W. Henshaw, ausgewiesener Spezialist und Kenner der American Indian languages, der für die Zusammenstellung und die administrativen Arbeiten die Klassifikation betreffend besorgt war (Darnell 1971a: 82ff.; Hodge/Merriam 1931). Henshaw hatte bereits 1885 zusammen mit dem Journalisten James Mooney (1861-1921) ein Manuskript mit dem Titel »Linguistic Families of the Indian Tribes North of Mexico, with a Provisional List of the Principal Tribal Names and Synonymy« veröffentlicht, um das vorhandene Wissen über die Native Americans zu verdichten.23 Die linguistischen Feldforschungen für die »Indian Linguistic Families« führten J.
22 Die »Proof-sheets of a bibliography of the language of the North American Indians« von James Constantine Pilling (1885) erhielt eine umfassende, erstklassige Kritik in der Zeitschrift »Science«: »Every lover of systematic, and accurate work owes a dept of thankfulness to the bureau of ethnology and the compiler of this formidable volume; and he owes his debt, not because the work is complete (for it is still incomplete), and not because it is free from inaccuracies (though these are neither important nor numerous), but he is grateful for this monument of systematic, thorough-going research, and for a persistent devotion to a lofty ideal of bibliographic work« (Anonymous 1886: 358). 23 Das Manuskript umfasst zwei Teile, eine Klassifikation der American Indian languages und das Synonymie-Projekt. Das Synonymie-Projekt war ein seit den Anfängen des Bureau of Ethnology bestehendes Projekt, das James Mooney bearbeitete (vgl. auch »Rahmenbedingungen und Mitarbeiter«). Die Klassifikation des 1885 veröffentlichten Projekts selbst wird Henshaw zugeschrieben – gemäß Regna Darnell eine zu starke Vereinfachung, denn schließlich hatte sich Powell bereits seit längerem mit dieser linguistischen Arbeit befasst (vgl. Darnell 1998: 62). Die definitive Fertigstellung und Publikation des Synomynie-Projektes wurde in den Jahresberichten immer wieder von neuem angekündigt. Die Bewerkstelligung der Klassifikation war für Powell eine unabdingbare Voraussetzung, um das Projekt endgültig abschließen zu können. »It has been the intention of the Director to prepare a work on tribal names, which so far as possible should refer their confusing titles to a correct and systematic standard. Delay has been occasioned chiefly by the fundamental necessity of defining linguistic stocks or families into which all tribes must be primarily divided; and to accomplish this, long journeys and laborious field and office investigations have been required during the whole time since the establishment of the Bureau« (Powell 1891b: xxxiv). Das Synonymie-Projekt wird sich in seiner Form noch einige Male verändern und erst 1907 als »Handbook of the Indians North of Mexico« zur Veröffentlichung gelangen (vgl. Stegner 1954: 263).
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Owen Dorsey (1848-1895), Col. Garrick Mallery (1831-1894), James Mooney, Walter J. Hoffmann (1846-1899), Jeremiah Curtin (18351906) und schließlich Albert S. Gatschet24 durch (vgl. Powell 1891b: xxxvf.). Die Basis der vom Bureau of Ethnology veröffentlichten Klassifikation bildete der von Albert Gallatin 1836 in den »Transactions of the American Antiquarian Society« publizierte zweibändige Klassiker »A Synopsis of the Indian Tribes within the United States East of the Rocky Mountains and in the British and Russian Possessions in North America« (vgl. »Powells Vorläufer«). Für Powell war Gallatin der »Linné der systematischen Philologie«. Ihm sei, so Powell, das Verdienst zuzusprechen, als erster komparative Methoden in das Studium der American Indian languages eingeführt und so die wichtigsten – damals insgesamt 32 – Sprachfamilien gegeneinander abgegrenzt zu haben (Stegner 1954: 261). Powell folgte in seiner Klassifikation Gallatins linguistischen Vorgehensweisen und orientierte sich an lexikalischen Kriterien – und nicht etwa an »grammatischen Strukturen«, die Trumbull im Aufsatz »On the Best Methods of Studying the North American Languages«, den Powell in seiner »Introduction to the Study of Indian Languages« fast vollständig abgedruckt hatte (vgl. »›Introduction to the Study of Indian Languages‹ – Instrument zur Mobilisierung der American Indian languages«), noch gefordert hatte. Powell: »A single language is called a stock or family when it is not found to be cognate with any other language. Languages are said to be cognate when such relations between them are found that they are supposed to have descended from a common ancestral speech. The evidence of cognation is derived exclusively from the vocabulary. Grammatic similarities are not supposed to furnish evidence of cognation, but to be phenomena, in part relating to stage of culture and in part adventitious. It must be remembered that extreme peculiarities of grammar, like the vocal mutations of the Hebrew or the monosyllabic separation of the Chinese, have not been discovered among Indian tongues. It therefore becomes necessary in the classification of Indian languages into families to neglect grammatic structure, and to consider lexical elements only« (Powell 1891a: 11).
Powell war also nach wie vor überzeugt, dass der originäre Charakter einer Sprache im Vokabular, das er als stabilstes Element einer Sprache 24 Gatschet betrachtete sich als Co-Autor der Klassifikation (vgl. Darnell 1998: 61).
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betrachtete, konserviert sei. Die Grammatik diene lediglich dazu, um die (Morgansche) Evolutionsstufe, die eine Sprache und damit die mentale Entwicklung ihrer Sprecherinnen und Sprecher erreicht hätte, zu bestimmen: »Grammatic structure is but a phase or accident of growth, and not a primordial element of language« (Powell 1891a: 12; vgl. auch Powell 1891a: 140f.; Darnell 1971a: 87). Powell interessierte sich für die kulturellen und linguistischen Unterschiede und nicht, wie Brinton dies in seiner Klassifikation darlegt (vgl. »Brintons ›American Race‹«), für die Beweisführung der Einheit der amerikanisch-indianischen Rasse respektive deren Sprachen. Die verschiedenen Sprachfamilien führte Powell denn auch nicht auf eine gemeinsame Ursprache zurück: »[…] they are as distinct from one another in their vocabularies and apparently in their origin as from the Aryan or the Scythian families« (Powell 1891a: 26). Powells Schlussfolgerungen, die er nach der alphabetischen Auflistung aller Sprachfamilien, in der er sämtliche Synonyme von den in der Literatur verwendeten Namen für die Sprachen und ethnischen Gruppen aufführt und ein kurzes Statement zum geographischen Gebiet, in dem die Sprachfamilien vorkommen, und zu den wichtigsten Stammesgesellschaften, die diese Sprachen sprechen, abgibt, lauten wie folgt: Als erstes hält er fest, dass Lehnwörter in sämtlichen Sprachen vorkommen; einige dieser Begriffe können sogar zu ihrer ursprünglichen Quelle zurückgeführt werden, häufiger aber sei die Herkunft solcher sprachlichen Entlehnungen, so Powell, nicht zu rekonstruieren. Zweitens geht Powell davon aus, dass es in der Vorzeit mehr Sprachfamilien gegeben haben müsse, als jetzt auf dem Kontinent vorzufinden seien – eine Auffassung, mit der sich Powell gegen die damalige Forschungshypothese stellt, die von einer Ursprache mit wenigen elementaren Wurzeln, die in allen Sprachen zu finden seien, ausging: 25 »The opinion that the differentiation of languages within a single stock is mainly due to the absorption of materials from other stocks, often to the extinguishment of the latter, has grown from year to year as the investigation has proceeded. […] The processes of borrowing known in historic times are those which have been at work in prehistoric times, and it is not probable that any
25 Hier argumentiert er gegen die unter anderem von Brinton vertretene These, dass in der ersten und niedrigsten Stufe die sprachlichen Elemente Wurzeln oder Stämme sind, welche bloße Ideen ausdrücken, Begriffe mit gegenständlichen Bedeutungen sind (vgl. »›Innere Form‹ – kulturelle Diversifikation – ›nationale Weltsicht‹«).
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simple language derived from some single pristine group of roots can be discovered« (Powell 1891a: 141).
Schließlich wendet sich Powell gegen die Vorstellung, dass sich die primitiven Sprachen mit großer Schnelligkeit änderten: »The author has everywhere been impressed with the fact that savage tongues are singularly persistent, and that a language which is dependent for its existence upon oral tradition is not easily modified. The same words in the same form are repeated from generation to generation, so that lexic and grammatic elements have a life that changes very slowly« (Powell 1891a: 141).
Powell widersetzte sich mit diesen Ergebnissen den damaligen wissenschaftlichen Vorurteilen, die Brinton in mancher Hinsicht in seiner Klassifikation »The American Race« auf der Grundlage Darwinistischer Theorien zu beweisen versuchte.
Brintons »American Race« Brintons Klassifikation »The American Race. A Linguistic Classification and Ethnographic Description of the Native Tribes of North and South America« differierte in verschiedenen Belangen von der vom Bureau of Ethnology im selben Jahr publizierten. Die Unterschiede reflektieren nicht nur die evolutionstheoretischen Denkstile, in denen die beiden Autoren Powell und Brinton eingebunden waren, auch ihre linguistischen Vorbilder waren nicht dieselben. Powell, der sich an der »Synopsis« Gallatins als Ausgangsbasis seiner Klassifikation orientierte, steht ein selbstbewusster Brinton gegenüber, der in seiner Einführung behauptet, dass es sich bei seinem Werk um »as far I know […] the first attempt of a systematic classification of the whole American race on the basis of language« (Brinton 1891: x.) handle. Gallatins Synopsis erwähnt er mit keinem Wort, obwohl er dessen Klassifikation für den östlichen Part der Vereinigten Staaten eins zu eins übernimmt (Darnell 1988: 117; Wolfart 1967: 165). Das Werk »The American Race«, das Brinton nicht nur als linguistische Klassifikation, sondern auch als ethnographische Beschreibung der amerikanisch-indianischen Gesellschaften verstanden haben wollte, beginnt mit einem belangreichen Abschnitt, der sich mit der Geschichte der »roten Rasse«, wie Brinton die American Indians zu nennen pflegt, beschäftigt. Brinton geht, wie bereits ausgeführt, von einer »psychic unity« der Menschheit aus. Die offensichtlichen Unterschiede zwischen den menschlichen Gemeinschaften versucht er, mit Ergebnissen seiner 164
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evolutionstheoretischen Vorbilder Charles Darwin und Herbert Spencer zu begründen: So eröffnet Brinton sein Werk mit der Frage nach der eigentlichen Herkunft der Native Americans. Er spricht sich gegen die damals noch gängigen Mutmaßungen aus, dass es sich um den »Lost Tribe of Israel« handle oder dass die American Indians gar Abkömmlinge des »Lost Atlantis« seien. Ebenso bestreitet er, dass die American Indians von Polynesien, Japan oder China stammten oder gar über die »Aleutian Islands« oder die »Behring Strait« vom nordöstlichen Asien nach Nordamerika gewandert seien. Auch haben sich die American Indians nicht, wie manche Vertreter der polygenistischen Theorie behaupteten, in der »New World« als eigene Spezies entwickelt. Brinton orientiert sich in dieser Frage an Charles Darwin, der in »The Descent of Man« schreibt: »Our progenitors diverged from the catarhine stock of the anthropoids; and the fact that they belonged to this stock clearly shows that they inhabited the Old World« (Darwin zitiert nach Brinton 1891: 28). Und, so legt Brinton weiter aus: »In fact, all the American monkeys, whether living or fossil, are platyhrine, have thirtyfour teeth, and have tails, characteristics which show that none of the higher anthropoids lived in the New World« (Brinton 1891: 28f.). Um Darwins Theorie bestätigen zu können, zieht Brinton geologische Überlegungen, die sich auf das Zeitalter der Eiszeit beziehen, mit ein. Er stützt sich auf Aussagen von »Professor Spencer« und übernimmt dessen Behauptung, dass man von einer »elevation of the northern portions of American and the north Atlantic, about the early Pliocene times« ausgehen könne. Spencer folgerte denn auch, dass »it proves beyond a doubt that it must have reached from 2000 to 3000 feet above the present level« (Spencer zitiert Brinton 1891: 30). Europa beziehungsweise Eurafrika müsse also, so glaubt Brinton, in früheren Zeiten mit dem amerikanischen Kontinent übers Festland verbunden gewesen sein, was den Schluss zuließe, »that the ancestors of the American race could have come from no other quarter than western Europe, or […] Eurafrica […] as the most probable location of the birth-place of the species« (Brinton 1891: 32). Damit gelingt es Brinton, die »psychic unity«, das Argument der Einheit des Menschengeschlechts mittels geologischen und anthropologischen Betrachtungen in seinem wissenschaftlichen Bezugssystem zu ›beweisen‹. Um noch die heutigen Unterschiede der Rassentypen erklären zu können, formuliert er ein umweltdeterministisches Argument: Er geht davon aus, dass die Menschen, die während der Eiszeit über die Landverbindung von Europa beziehungsweise Eurafrika nach Amerika ausgewandert seien, ihre körperlichen Charakterzüge erst in den geogra165
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phischen Gebieten, in den so genannten »areas of characterization« kontinuierlich entwickelt und gefestigt hätten: »Racial peculiarities are slowly developed in certain ›areas of characterization,‹ but once fixed are indelible« (Brinton 1891: 34). Für die »rote Rasse« beschreibt Brinton die folgenden körperlichen Eigenheiten: Sie erträgt weder die Hitze der Tropen, noch ist sie immun gegen die in diesen Gebieten vorhandenen Krankheiten wie »hepatitic disorder« (Brinton 1891: 35). Aufgrund dieser körperlichen Dispositionen folgert er, dass sich das »area of characterization« östlich der Rocky Mountains, zwischen der zurückweichenden kontinentalen Eisdecke und dem Golf von Mexico befunden haben müsse. Diese aus Europa beziehungsweise Eurafrika immigrierten, in ihren körperlichen Eigenschaften ein für alle Mal festgelegten Individuen seien die Vorfahren aller heutigen auf dem Kontinent lebenden Native Americans. Um seine Aussage zu erhärten, benutzt Brinton einerseits den Vergleich der kulturellen Errungenschaften der Native Americans: »The culture of the American race, in whatever degree they possessed it, was an indigenous growth, wholly self-developed, owing none of its germs to any other race, ear-marked with the psychology of the stock« (Brinton 1891: 44) – und andererseits die der Rassentheorie verpflichteten Körpervermessungen und -charakterisierungen. Brinton beschreibt in Anlehnung an Dr. Washington Matthews (1843-1905) und Paul Topinard (1830-1911) die Schädel der Native Americans als »meso- or brachycephaly« (Brinton 1891: 38) und verwendet sie als Zeugnis für den gemeinsamen Ursprung. Weitere Beweise sieht er in der Hautfarbe, die zwischen »reddish, or coppery, or cinnamon […] or burnt coffee« (Brinton 1891: 39) variiere, in der Beschaffenheit der Haare, die entweder »straight and coarse« oder auch »fine and silky, and even slighly wavy or curly« (Brinton 1891: 40) seien, allerdings nie ganz schwarz, denn, »when examined by reflected light it will also show a faint undercolor of red« (Brinton 1891: 39f.) und in der Statur und Muskelkraft der »roten Rasse«. Hände und Füße seien im Vergleich zu gleich großen Europäern kleiner, die Arme länger – alles anatomische Evidenzen, die Brinton schließlich zur Aussage verleitet, dass es sich bei der »roten Rasse« im Vergleich zur europäischen um eine inferiore handelt. Auf der Grundlage dieser dem zeitgenössischen Evolutionsdiskurs verpflichteten »Fakten« glaubt Brinton folgern zu können, dass: »[o]n the whole, the race is singularly uniform in its physical traits, and individuals taken from any part of the continent could easily be mistaken for inhabitants of numerous other parts« (Brinton 1891: 41). Evidenz für die »psychic identity« der amerikanischen Rasse findet Brinton wie bereits in früheren Abhandlungen in den linguistischen Be166
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sonderheiten der American Indian languages (vgl. »›Innere Form‹ – kulturelle Diversifikation – ›nationale Weltsicht‹«). Zwar, so Brinton, gebe es problematische Diskrepanzen im Lexikon und in ihrer oberflächlichen Morphologie, doch, so nimmt er sein Argument, das er bereits an anderer Stelle angeführt hat, auf, in ihrer »logical substructure« (Brinton 1891: 55f.), in dem was Wilhelm von Humboldt als »inner form« bezeichnet habe, seien sich die American Indian languages auffallend ähnlich: »The points in which this is especially apparent are in the development of pronominal forms, in the abundance of generic particles, in the overweening preference for concepts of action (verbs), rather than concepts of existence (nouns), and in the consequent subordination of the latter to the former in the proposition« (Brinton 1891: 56). Kurz, die amerikanisch-indianischen Sprachen seien »inkorporative« Sprachen: »they formally include both subject and object in the transitive concept, and its oral expression« (Brinton 1891: 56). Nach dieser auf der Grundlage der zeitgenössischen Literatur hergeleiteten Beweisführung für seine monogenistische Perspektive und für die »psychic identity« der »red race« kommt Brinton zur eigentlichen Klassifikation der American Indian languages: Er behauptet nunmehr, dass trotz dieser strukturellen Gemeinsamkeit in den amerikanisch-indianischen Sprachen, wie bekannt sei, große Unterschiede bestehen. Und wenn bei zwei Sprachen aufgrund des Vokabulars und der Grammatik unter Verwendung der Gesetze der linguistischen Wissenschaft keine Verwandtschaft anzunehmen sei, müssen sie, fordert Brinton, als unabhängige Sprachfamilien klassifiziert werden. Brinton geht von ungefähr achtzig Sprachen in Nordamerika und genauso vielen in Südamerika aus. Die Klassifikation dieser Sprachen – und hier ist Brinton mit Powell einig – stellen die beste Basis, um eine ethnische Klassifikation der indianischen Gesellschaften vorzunehmen: »The linguistic is the only basis on which the subdivision of the race should proceed. Similarity of idioms proves to some extent similarity of descent and similarity of psychic endowments« (Brinton 1891: 57). Die rund 160 Sprachen unterteilt Brinton weiter in fünf geographische Gruppen: die nordatlantische, die nordpazifische, die zentral-amerikanische, die südpazifische und die südatlantische und misst dieser Einteilung ethnographische Bedeutung zu. Es gebe, ziehe man deren Temperament, Kultur, deren körperlichen Eigenheiten in die Betrachtung mit ein, eine eindeutige Ähnlichkeit zwischen den beiden atlantischen Gemeinschaften; und ein ebenso eindeutiger Gegensatz bestehe zwischen diesen beiden und der pazifischen Gruppe. Jede dieser Gruppe habe, so Brinton, sich extensiv innerhalb ihrer eigenen, aber kaum außerhalb dieser Grenzen vermischt. Zudem sei jede Gruppe den Bedin167
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gungen der Temperaturen, der Höhe und der Luftfeuchtigkeit unterworfen gewesen, die definitiv Einfluss gehabt hätten auf die Konstitution und die Geschichte der Bewohner der jeweiligen Landgebiete. Diese Unterteilung der Rasse sei deshalb, so schließt Brinton, anthropologisch gerechtfertigt. Nach diesen einführenden Bemerkungen folgt die Klassifikation der nordamerikanischen und südamerikanischen Stämme. Brinton nennt zu jeder Sprachfamilie die Etymologie der für die Stämme und Sprachen verwendeten Begriffe, er zeigt, wo die Sprecherinnen und Sprecher leben und woher sie kommen, beschreibt deren Naturell, ihre Ernährung, die Produkte, die sie herstellen, sowie deren Religion und charakterisiert die von ihnen gesprochenen Sprachen. Im linguistischen Appendix finden sich schließlich etliche Vokabularlisten als Beweismaterial, aber keine Grammatiken. Denn, so Brinton, noch gebe es keine, die er für seine Klassifikation hätte verwendet können: »And it is in these grammatical aspects that we are peculiarly poorly off when we approach American dialects« (Brinton 1891: 333). Brintons Klassifikation, die rassentheoretische sowie auch auf kulturelle und geographische Kriterien miteinbezog, unterschied insgesamt 13 Sprachfamilien für Nordamerika.
Objektivierung der Native Americans auf der Grundlage der linguistischen Klassifikationen Die Klassifikationssysteme Powells und Brintons, die mit dem Ziel, Ordnung ins Chaos der seit Jahrzehnten gesammelten linguistischen Datenmenge zu bringen, produziert worden sind, widerspiegeln nicht nur die Fluidität der jeweiligen linguistischen Wissenschaftskonzepte, der alternativen realisierbaren linguistischen Herangehensweisen, eine Klassifikation durchzuführen. Sie verdeutlichen ebenso die soziale Ordnung der Verhältnisse zwischen ›weißen‹ Anthropologen und ihren Forschungsobjekten, den Native Americans.
Fluidität linguistischer Wissenschaftskonzepte Powell, der sich jenseits einer biologistisch-rassistischen Klassifikation auf eine nur auf Sprachen fundierte Einteilung konzentrierte, stand einem Brinton gegenüber, der versuchte, die zeitgenössischen wissenschaftlichen Theorien seiner Vorbilder – Wilhelm von Humboldt, Charles Darwin und Herbert Spencer – in seine Klassifikation einzubinden. Powell stützte sich auf lexikalische Daten, die Grammatik spielte für ihn nur eine untergeordnete Rolle; sie übernahm die Funktion, Wachs168
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tum und Entwicklungsstand einer Sprache sowie ihrer Sprecherinnen und Sprecher zu bestimmen. Powell sah in der linguistischen Klassifikation der American Indians die einzig gültige Arbeitsmethode, um Verwandtschaften zwischen den Stämmen überhaupt festlegen, die Diversität der Kulturen Nordamerikas organisieren zu können. Er verließ sich nicht, wie Brinton, auf Rassenkonzepte eines Darwins oder Spencers, die zu seiner Zeit, wie ausgeführt (vgl. »›The Survival of the Fittest‹ – Herbert Spencer im Kontext Nordamerikas« und »Die USA in den 1880er Jahren«), nicht nur im wissenschaftlichen Kontext auf große Resonanz stießen. Powell orientierte sich vielmehr an den in der Feldforschung gewonnenen Daten, die es ihm ermöglichten, zu Erkenntnissen zu gelangen, die in einem offensichtlichen Widerspruch mit zeitgenössischen »Wahrheiten« standen – wie zum Beispiel, die von Brinton in seinem Werk »The American Race« konzipierte Vorstellung, dass die American Indian languages einer Ursprache angehörten. Powell mobilisierte für die »Indian Linguistic Families of America North of Mexico« ein ganzes Kolleg von Mitarbeitern. Feldforscher und Philologen erarbeiteten mit Powell eine eigenständige Klassifikation, die Maßstäbe für die zukünftige Gilde der linguistischen Anthropologen setzte und zur »conservative baseline for Amerindian linguistics« (Darnell 1971c: 95) wurde. Und sie bestand den »test of time« »remarkably well« (Haas 1969: 253). Brintons »linguistische Klassifikation und ethnographische Beschreibung« widerspiegelte seine Vorstellung einer »psychic unity of mankind«, seine enge Verbundenheit mit der europäischen klassischen Philologie (Kroeber 1960: 4) und vor allem auch mit den damaligen rassistisch-biologistischen Theorien. Brinton war kein ›Revolutionär‹ in dieser Angelegenheit. Er bezog, wie auch bei seinen linguistischen wissenschaftlichen Darstellungen, die theoretischen Erkenntnisse zeitgenössischer Wissenschaftler mit ein und versuchte, diese kohärent in das von ihm erstellte wissenschaftliche Bezugssystem einzufügen. Die Grundlage und der Ausgangspunkt seines Denkens für sein Werk »The American Race« ist die Einheit des Menschengeschlechts. Er glaubte aber dennoch, dass die »rote Rasse« sich anders entwickelt hatte als die ›weiße‹ und ihr klar unterlegen war. Diese »Fakten« gestatteten ihm schließlich, die Konsequenz zu ziehen, dass »[…] the receptivity of the race for a foreign civilization is not great. Even individual instances of highly educated Indians are rare; and I do not recall any who have achieved distinction in art or science, or large wealth in the business world« (Brinton 1891: 43). Diese ethnographische Beschreibung ist nicht zu trennen von seiner linguistischen Klassifikation. Ja, Brinton setzte die linguistische mit der 169
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rassischen in eine direkte Beziehung: »Of course, there has been large imposition of one language on another in the world’s history; but never without a corresponding infiltration of blood; so that the changes in language remain as evidence of nation and race comminglings« (Brinton 1891: 57). Brintons Klassifikation, die im Gegensatz zur Arbeit des Bureau of Ethnology zahlreiche – aus heutiger Sicht kaum noch haltbare – Beispiele zur Untermauerung seiner Klassifikation anführte, ist eigentliches Konkurrenzprodukt zu Powells Werk. Brinton war an der Konstitution dieser Rivalität nicht ganz unschuldig. Er bedauerte in seinem Vorwort zu »The American Race«, dass das Bureau of Ethnology ihn die unterschiedlichen Manuskripte nicht hätte einsehen lassen: »I regret that I have not been able to avail myself of the unpublished material in the Bureau of Ethnology in Washington; but access to this was denied me except under the condition that I should not use in any published work the information this obtained, a proviso scarcely so liberal as I had expected« (Brinton 1891: xii). – Ein Vorwurf, der ungerechtfertigt war. Die Mitarbeiter des Instituts hatten ihm gar offeriert, einen Einblick in die eigene Klassifikation zu nehmen. Er selbst entschied sich dagegen, weil er befürchtete, dass man ihm einen Plagiatsvorwurf hätte machen können.26
Soziale Ordnung zwischen Wissenschaftlern und Objekten Die Klassifikationen Brintons und Powells sind beides von langer Hand geplante Bemühungen, Ordnung in die von ihnen gesammelten und produzierten Daten zu bringen. Es war in gewisser Weise auch ein Kampf gegen die Zeit. Die Akkulturierungsversuche der Native Americans seitens der Regierung, die letztlich eine Auslöschung der Lebensweisen der Native Americans zum Ziel hatten, waren im vollen Gange. Zivilisierungs- und Erziehungsprogramme, gesetzliche Neuerungen, insbesondere der Dawes Act, wurden realisiert (vgl. »American Indians and ›The Great Father‹«). Brinton und Powell versuchten anhand des vorhandenen sprachlichen Materials, Verbindungen zwischen den indianischen 26 In einem Brief an Henshaw wird klar, dass Brinton selbst auf die Einsicht der Manuskripte verzichtet hatte: »It would […] for this reason, be better for me not to see the map; as even I confined my publication to matters already in my possession, some members of the Bureau might think I had learned them by the facilities you offer, and I had refrained from giving credit« (Brinton zitiert nach Darnell 1998: 60; vgl. auch Darnell 1971a: 94f.).
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Kulturen herzustellen und eine »objektive wissenschaftliche« Einteilung der zahlreichen amerikanisch-indianischen Stämme vorzunehmen, solange dies noch möglich war (vgl. Bunzl 1996: 64). Die Klassifikationen spiegeln in diesem Sinne auch »Ordnungssysteme«, die das Feld des Empirischen konstituierten – damit gehören sie zu den grundlegenden Operatoren der Wissenserzeugung und fungieren als Instrument, die American Indians und deren Sprachen ins wissenschaftliche System einzubinden: Durch die Objektivierung ihres primitiven Status, der sich besonders auf der Basis des sprachlichen Materials als »wissenschaftliche Tatsache« herausstellte, gelang den beiden Anthropologen eine Determinierung ihres Objektes, die weitreichende Konsequenzen hatte. Die Native Americans waren durch das »Mapping« in die ›weißen‹ wissenschaftlichen Schemata eingeordnet, an ihren Platz verwiesen, mit andern Worten, als ahistorische Objekte als »die Anderen« konzipiert – und diszipliniert. Die Arbeit der Anthropologen erhält damit auch eine neue Funktion: Sie übernehmen die Verantwortung für die »Archivierung« und Geschichtsschreibung der amerikanisch-indianischen Kulturen sowie für die Konstruktion der Identität der Native Americans. Die linguistischen Klassifikationen beleuchten aber nicht nur das Verhältnis zwischen den ›weißen‹ Anthropologen und ihren Objekten. Letztlich sind die beiden Werke auch Ausdruck der Etablierung linguistisch-anthropologischer Fragestellungen und Arbeitsweisen. Die Klassifikationen sind Schauplätze einer umkämpften Bedeutungsproduktion. Im Denkkollektiv der Anthropologen dieser Zeit waren die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen als Klassifikationsprinzip der verschiedenen Ethnien akzeptiert. Sie sind demnach auch Ausdruck einer Verdichtung, einer Bestärkung der linguistischen Forschung trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen und bedeuten hierdurch auch eine Sicherung und Festigung ihres eigenen Arbeitsgebietes.
Boas’ Durchbruch – Mögliche Erklärungen Ende der 1880er Jahre, anfangs der 1890er Jahre – aus einer ex-postPerspektive im Vorfeld der ökonomischen Krise von 1893 bis 1896 – sollte sich die von Rev. Josiah Strong beschriebene gesellschaftliche Krise (vgl. »Die USA in den 1880ern«) gewaltig zuspitzen; es ist eine klare Verschiebung und vor allem Verschärfung der von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Problemkreise festzustellen: Der Haymarket Riot von 1886 (Morison et al. 1969 [1930]: 88ff.; vgl. auch Jones 1983: 311ff.), der von nun an als prototypischer gewalttätiger Arbeiteraufstand im kulturellen Gedächtnis der Amerikaner haften bleibt, schürte die 171
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Angst der WASPs vor politischer Radikalisierung. Die sich gegen Ende der 1880er, anfangs der 1890er Jahre noch vergrößernde Immigrationswelle – rund eine Million Menschen wanderten aus dem südlichen und östlichen Europa in die Vereinigten Staaten ein27 – führte zur Formation von nationalistischen Interessengruppen mit klaren Zielen: Die 1887 gegründete American Protective Association versuchte etwa die Immigration weiterer Katholiken zu verhindern, um die althergebrachten amerikanischen Traditionen nicht zu gefährden. Neben der Expansion der industriellen Produktion und der vollständigen Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents (vgl. Waechter 1996) waren zahlreiche Berichte von brutalen von der amerikanischen Regierung geführten Kämpfen gegen einzelne indianische Stammesgesellschaften (vgl. »American Indians and ›The Great Father‹«) und die Erniedrigung und Ausbeutung von Schwarzen und Immigranten Gegenstand des allgemeinen Krisendiskurses (Morison et al. 1969 [1930]: 267). Die amerikanische Öffentlichkeit begann sich zunehmend für die sozialen Missstände, die in der eigenen zivilisierten Gesellschaft Realität waren, zu sensibilisieren (Egloff 1997: 72ff.; Hofstadter 1985 [1944]: 188ff.). Es formierten sich immer mehr Reformgruppen, welche die gegen die Indianer, Schwarzen und Immigranten verübten Ungerechtigkeiten anprangerten (Prucha 1984: 611ff.). Und die neuen Erzeugnisse der Presse leiteten über regionale Grenzen hinweg, bei rasch anwachsender Abonnentenzahl, ihre Leserinnen und Leser an, sich ein Urteil zu bilden über die schwer verständlichen Manifestationen des modernen Lebens. Kurz: Im Ausgang der 1880er Jahre, zu Beginn der 1890er intensivierten sich die sozialen Auseinandersetzungen (Morison et al. 1969 [1930]: 268ff.; Cole 1999: 157). Und mit steigendem sozialem Bewusstsein beziehungsweise mit der Angst vor den sozialen Entwicklungen stieg die Nachfrage nach entsprechenden Informationen, nach Analysen und Lösungsvorschlägen. »Yet many Americans felt that something was radically wrong and groped for remedy« (Morison et al. 1969 [1930]: 170). Die »Survival of the Fittest«Haltung erhielt als Lösungsrezept vor allem in reformorientierten Kreisen der Bevölkerung keine bedingungslose Unterstützung mehr. Nicht länger gab man sich mit der Vorstellung zufrieden, dass ein an Spencer
27 Eine Tabelle über die Zahlen der Immigranten findet sich in Morison et al.: Zeitrahmen Nord- und Westeuropa Süd- und Osteuropa 1881-1890 3'778'633 (72.0%) 958'413 (18.3%) 1891-1900 1'643'492 (44.6%) 1'915'486 (51.9%) (Morison et al. 1969 [1930]: 108).
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anknüpfender Laissez-faire-Sozialdarwinismus die Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme lieferte. Die Krise machte auch nicht vor dem anthropologischen Denkkollektiv Halt. Die Reaktionen auf die Verschiebung der Inhalte des öffentlichen Krisendiskurses fielen höchst unterschiedlich aus und spiegelten letztlich die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Ambivalenz wider. Powell glaubte, dass die bislang geführte Assimilierungspolitik der Native Americans die richtige Lösung sei und auf jeden Fall fortgesetzt werden müsse. Er selbst geriet als Direktor der U.S. Geological Survey allerdings immer mehr unter Beschuss (vgl. Hinsley 1979: 30). Seine machtvolle Position, die er genoss und manchen Regierungsvertretern in keiner Weise genehm war, konnte er nicht länger aufrechterhalten. Sein Budget für die Geological Survey wurde 1891 um US$ 90'000 gekürzt. Er konnte seine Forschungsprogramme nicht länger rechtfertigen, den Vorwurf der gesellschaftlichen Unbrauchbarkeit (Stegner 1954: 338ff.) nicht widerlegen. Er gab 1894 seinen Posten beim Survey auf, enttäuscht und deprimiert. Er behielt zwar sein Direktorium im Bureau of American Ethnology, zog sich aber von den täglichen Arbeiten immer mehr zurück. Er überließ seine Aufgaben seinem Protegé William John McGee (1853-1912), der bis zum Tode Powells im Jahre 1902 als »ethnologist in charge« tätig war (Hinsley 1994 [1981]: 236). Die Verunsicherung zeigte sich auch in der Frage nach der Funktion und dem Zweck anthropologischer Forschung – ein Gegenstand zahlreicher Diskussionen und Artikel. Dies zeigt, dass die anthropologische Forschung noch in keiner Weise als konsolidiert galt, und die Suche nach einer professionellen Identität noch nicht beendet war. 1892 formulierten Brinton und Powell vor der American Association for the Advancement of Science in Washington ihre jeweiligen Vorstellungen, was Anthropologie zu sein habe. Sie waren sich einig, dass Anthropologie nicht länger nur ein spezifischer Inhalt sein könne; vielmehr habe sie sich als Wissenschaftsdisziplin an Universitäten zu etablieren. Die Unterabteilungen dieser neu zu akademisierenden Disziplin bildeten den Kern der Auseinandersetzungen. Brinton verteidigte seine Ansichten explizit, befand er sich in Washington doch eher in Powells Forschungskontext: Anthropologie erachtete er als »Study of Man«, »embracing all his nature and all the manifestations of his activity, in the past as well as in the present, the whole co-ordinated in accordance with the inductive methods of the natural sciences – this study must in the future unfailingly come to be regarded as the crown and completion of all others – and this is anthropology« (Brinton 1892a: 3). Brinton unterteilte das Gebiet der zukünftigen, an Universitäten zu lehrende Anthropologie, das aus seiner Sicht nicht in die Hände von 173
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»persons of elegant leisure and retired old gentlemen« (Brinton 1895: 1) gehörte, in vier Bereiche: in Somatologie (»physical and experimental anthropology«), Ethnologie (»historic and analytic anthropology«), Ethnographie (geographic and descriptive anthropology«) und Archäologie (»prehistoric and reconstructive anthropology«).28 Brinton intendierte keine direkte Umsetzung seiner Ideen, vielmehr ging es ihm darum, zukünftige institutionelle Möglichkeiten für die anthropologische Wissenschaft aufzuzeigen (Darnell 1971c: 98).29 Powell, der im Anschluss an Brinton das Wort ergriff, stellte sich gegen Brintons anthropologisches Wissenschafts- und Konzeptionalisierungsverständnis. Brinton orientiere sich zu wenig an einer der Linnéschen biologischen Nomenklatur verpflichteten Systematik,30 die Powell bereits in seiner Klassifikation verwendet hatte (vgl. »Powells Indian ›Linguistic Families of America North of Mexico‹«). »Anthropology is the science of man«, begann Powell seine Ausführungen und sie sei zu unterteilen in folgende Bereiche: »The first is the biology of man, which is called Somatology in the constitution of this Society […]; The second science of Anthropology is Psychology, or the science of mind, sometimes called the science of soul […]; The third department of Anthropology is Ethnology […] a term which I have used for many years, namely, the Humanities. These are as follows: Technology, or the sci-
28 Daniel Garrison Brinton unterteilt die vier Bereiche noch weiter: »Somatology […]: a. Internal somatology – embracing osteology, craniology, myology, and splanchnology; b. External somatology – embracing anthropomometry, color, hair, canons of proportions, etc. c. Psychology – experimental and practical. d. Developmental and comparative somatology – including embryology, teratology, human biology, medical geography, vital statistics, etc. II. Ethnology […]: a. Definitions and methods – stages of culture, ethnic psychology, etc. b. Sociology – governments, marriage relations, laws, institutions c. Technology – embracing the development of the utilitarian and the fine arts. d. Science of religion – primitive religions, mythology, symbolism, religious arts, teachers and doctrines, special religions. e. Linguistics – gesture and signs language, spoken and written language. III. Ethnography […]: a. General ethnography. b. Special ethnography – monographs, etc. IV. Archaeology […]: a. General archaeology – geology of the epoch of man, prehistoric botany and zoology, ages of stone, bronze, and iron. B. Special archaeology – description of special periods and nations« (Brinton 1892c: 265f.; vgl. auch Brinton 1892b: 257-258; Brinton 1892a: 9-14). 29 Die University of Pennsylvania, für die Brinton das Programm geschrieben hatte, verwarf es, ohne es eingehend geprüft zu haben (vgl. Darnell 1998: 106; Darnell 1970: 86). 30 Brinton lehnte diese Nomenklatur entschieden ab (Brinton 1892b: 285).
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ence of the industrial arts, the decorative arts, and the arts of amusement. Second. Philology, sometimes called Glottology, sometimes Linguistics; it is the science of languages. Third. Sociology, or the science of institutions. […]. Fourth: The fines arts, or Esthetology. […]. Fifth. […] the science of lore. It records the opinions of people in all times and in all lands, and the investigator compares them for the purpose of discovering the evolution of opinion or the development of concepts. […] I propose the name Sophiology. […] Sixth […]. Natural Religion« (Powell 1892: 268ff.).
– Die Diskussion zwischen Brinton und Powell machte vor allem eines klar: Der Begriff der Anthropologie und die Unterteilung der neu zu konzipierenden Wissenschaft war noch immer umstrittener Gegenstand zahlreicher Diskussionen, noch in keiner Weise geregelt. – Und die Debatte ging weiter. Zu Beginn der 1890er Jahre orientierte sich Daniel Garrison Brinton in seinen theoretischen Ausführungen zum Gegenstand der Anthropologie immer mehr an den in der Anti-Immigrations-Debatte gebräuchlichen Kategorien, die bereits während zweier Jahrzehnte die politischen Auseinandersetzungen bestimmt hatten. 1895 machte er vor der American Association for the Advancement of Science sein polygenistisches Argument geltend »[that] the black, brown, and the red races differ anatomically so much from the white […] that even with equal cerebral capacity they never could rival its results by equal efforts« (Brinton 1896: 12; vgl. auch Patterson 2001: 48) – eine Aussage, die als deutliche Kritik gegen die von der Regierung unternommenen Zivilisierungs- und Akkulturationsversuche gelesen werden kann. Franz Boas, der nach seinem kurzen Universitätsengagement an der Clark University an der Weltausstellung in Chicago als wissenschaftlicher Assistent von Frederic Ward Putnam (McVicker 1990: 3; Darnell 1998: 134)31 arbeitete und hoffte, im Anschluss die Kuratorenstelle des Field Columbian Museum in Chicago übernehmen zu können, aber auch hier eine weitere berufliche Enttäuschung hinnehmen musste,32 engagierte sich weiterhin für die Institutionalisierung und Akademisierung ›seiner‹ Anthropologie und verdeutlichte seine Kritik an seinen Gegenspielern Brinton und Powell. Ebenfalls anlässlich eines Meetings der
31 Zur Weltausstellung vgl. auch Hinsley (1994 [1981]: 110f.). 32 Statt seiner wurde der Archäologe William Henry Holmes bevorzugt (vgl. Cole 1999: 162ff.). Zu den Gründen, weshalb Boas das Museum verließ vgl. Donald McVicker (1990: 3ff.); zu den Schwierigkeiten eine sichere Position zu finden vgl. auch William (1996: 8), Jacknis (1996: 190), Hinsley/Holm (1976: 311).
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American Association for the Advancement of Science stellte er sich gegen die von Daniel Garrison Brinton formulierten Überlegungen in dessen Aufsätzen »On Various Supposed Relations between the American and Asian Race« (1894a) und »›The Nation‹ as an Element in Anthropology« (1894b). Boas glaubte nicht an die Verwendung von »Rasse« als wissenschaftliche Kategorie, denn »the variations inside any single race are such that they overlap the variations in another race so that a number of characteristics may be common to individuals of both races« – das Konzept »Rasse« verliert damit aus Boas’ Sicht als analytische Kategorie ihren Nutzen.33 Für Boas waren es die geschichtlichen Ereignisse, die für ihn weitaus wirksamer waren »in leading races to civilization […], and it follows that achievements of races do not warrant us to assume that one race is more highly gifted than the other« (Boas 1894a: 308). Boas kritisierte mit seinem Vortrag vor der amerikanischen wissenschaftlichen Elite Powells und vor allem Brintons Auffassung, dass Sprache, Rasse, Kultur sich unmittelbar beeinflussende, vom jeweiligen Entwicklungsstand einer Gesellschaft abhängige Größen seien – damit ließ sich die einfache Formel »primitive Sprache = primitiver Geist = primitive Rasse = primitive Kultur« nicht länger aufrecht erhalten. Er zweifelte zudem auch grundsätzlich an deren Konzept, die Rassen einer hierarchischen Ordnung zu unterziehen (Patterson 2001: 48).34 In seiner zwei Jahre später vor der AAAS gehaltenen Rede verschärfte er seine Attacke auf die methodologischen Voraussetzung der »modernen« – sprich evolutionären – Anthropologie noch und formulierte grundsätzliche Bedenken gegenüber der hegemonialen kulturellen Evolutionstheorie.35 Er betonte, dass Brinton und andere in ihrer Suche
33 »Boas attributed the cultural superiority of Europeans to the circumstances of their historical development rather than to inherent capacities« (Hofstadter 1944: 167; vgl. auch Hyatt 1990: 112). 34 Boas’ egalitäre Einstellung gegenüber den Rassentypologien wird seine Arbeit bis buchstäblich zum letzten Moment seines Lebens bestimmen. In einer Diskussion des Columbia Faculty Club, die die Frage zum Gegenstand hatte, wie rassistische Sichtweisen am besten zu bekämpfen seien, fiel der 85-jährige »with a comment on the need to press its exposure […] without further sound, […] over backwards in his chair, dead« (Herskovits 1953: 120f.; vgl. auch William 1996: 10f.; Hyatt 1990: 113; Harris 1968: 266). 35 Matti Bunzl unterstellt Boas, dass er sich von seiner historischen Wissenschaft abgewendet hatte und erst 1896 gegen die Evolutionstheoretiker öffentlich auftrat, da er ab 1896 eine feste Anstellung an der Columbia University hatte. Dieses Argument ist meines Erachtens falsch, eine ex-post-
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nach universellen Gesetzen, welche die Entwicklung der Gesellschaft steuerten, von Wesensmerkmalen ausgehen müssen, die für alle Gesellschaften einer bestimmten Entwicklungsstufe charakteristisch seien. Aufgrund des Argumentes des »uniform working of the human mind« (Boas 1896: 901) finden sie Hinweise dafür, dass sich alle Gesellschaften, die sich in derselben Situation befinden, auch gleich entwickelten, »that the same ethnological phenomena are always due to the same causes« (Boas 1896: 904). Bevor solche Vergleiche überhaupt gezogen werden können, müsse, so Boas, erst die Vergleichbarkeit des Materials geprüft werden. Boas widersetzte sich damit einer anthropologischen Vorgehensweise, welche die gewonnenen Daten nur als Beweise für die von den amerikanischen Anthropologen bevorzugten Theorien verwendete und nicht jenseits jeglicher Theoriebildung die Daten zu interpretieren versuchte. Boas ging es letztlich um eine eingehende Betrachtung der einzelnen Phänomene, ein Argument, das er schon gegen Otis T. Mason ins Feld geführt hatte (vgl. »Induktion – das Maß aller Dinge«). Ab 1896 lehrte Boas als »lecturer« an der Columbia University und erhielt eine befristete Beschäftigung am American Museum of Natural History in New York unter der Auflage, dass »the anthropological research of the two institutions would be connected« (Darnell 1970: 83). Er war verantwortlich für die 1897 initialisierte »Jesup North Pacific Expedition« (Benedict 1969 [1943]: 34).36 1899 übernahm er schließlich den Lehrstuhl für Anthropologie an der University of Columbia.37 1900 wurde er zum Mitglied der National Academy of Science in einer »almost unanimous vote« (Cole 1999: 222) gewählt. 1901 trat er die Kuratorenstelle des American Museum of Natural History an. Seine bereits in den 1880er vorbereiteten und in den 1890ern ausformulierten methodischen Grundlagen bildeten den Kern der zukünftigen kulturrelativistischen Schule. Boas hatte sich in der Konstituierung einer amerikanischen anthropologischen Wissenschaft gegenüber seinen Gegenspielern Brinton und Powell durchgesetzt. Die Frage ist nur: Warum? Ich möchte zum Abschluss dieses Kapitels folgende Überlegungen formulieren. Interpretation. 1896 hatte Boas nur einen Jahresvertrag an der Columbia University. Seine Situation konsolidierte sich erst um die Jahrhundertwende (Bunzl 1996: 33). 36 Zur Geschichte dieser Expedition vgl. Cole (1999: 189ff.), Hyatt (1990: 7ff.). 37 Sein Onkel Abraham Jacobi unterstützte ihn mit finanziellen Mitteln (vgl. Cole 1999: 213).
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Das Bureau of American Ethnology und Brinton befriedigten im Zeitraum von 1879 bis anfangs der 1890er Jahre mit ihren ›anthropologischen Wahrheiten‹ die Bedürfnisse der amerikanischen Regierung und auch der amerikanischen Bevölkerung. Sie generierten und stabilisierten die Identitätskonstruktion einer überlegenen angelsächsischen Rasse und stellten die wissenschaftliche Grundlage für eine wahre Assimilierungsmaschinerie der Native Americans an die ›weiße‹ Lebensweise zur Verfügung. Den Zeitraum von 1879 bis anfangs der 1890er Jahre können wir als Konstituierungs- und Professionalisierungsphase der linguistischen Anthropologie interpretieren. Die beiden wichtigsten Vertreter, John Wesley Powell und Daniel Garrison Brinton, verstanden es in exemplarischer Weise, die Verknüpfung evolutionstheoretischer und linguistischer Konzepte zu leisten und sie einer breiteren Öffentlichkeit mittels von ihnen gegründeten Zeitschriften oder mittels Publikationsorganen von Organisationen, denen sie vorstanden, zugänglich zu machen. Ende der 1880er, anfangs der 1890er Jahre begann eine die Gesellschaft tief verunsichernde Krise, auf die weder Powells, noch Brintons angelsächsische Identitätskonstruktionen eine Lösung für die breite Bevölkerung bereithielten; die vom Bureau of Ethnology und von Brinton formulierten Ansichten über die »primitiven« Native Americans gerieten ins Wanken. Sicher, nach wie vor gab es Sozialdarwinisten, die sich, überzeugt von einer angelsächsischen Superiorität, optimistisch gaben bezüglich ihrer gesellschaftlichen Entwicklungspotenz. Doch die Zahl der Reformwilligen, die sich für eine Intervention zur Verbesserung der gesellschaftlichen Missstände auch der Native Americans aussprachen und das Paradigma der superioren Rasse nicht länger akzeptierten, vergrößerte sich.38 Eine konsensfähige Interpretation der gesellschaftlichen Zustände war nicht zu erreichen. Unklar blieb, welche der Strategien zur Verbesserung der Misere angewendet werden sollte. Powell und Brinton schlossen sich der einen beziehungsweise der anderen politischen Logik 38 Auch Frank Lester Ward (1841-1912) stellte sich gegen die Auffassung, den Darwinismus als theoretisches Erklärungskonzept für die Entwicklung menschlicher Gesellschaften zu übernehmen: »We are told to let things alone, and allow nature to take its course. But is not civilization itself, with all it has accomplished, the result of man’s not letting things alone, and of his not letting nature take its course. […] Every implement or utensil, every mechanical device […] is a triumph of mind over the physical forces of nature in ceaseless and aimless competition. All human institutions – religion, government, law, marriage, custom – together with innumerable other modes of regulating industrial and commercial life are only so many ways of meeting and checkmating the principle of competition as it manifests itself in society« (Ward zitiert nach Morison et al. 1969 [1930]: 204f.).
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an, lieferten aber keine Rezepte für die in der Gesellschaft zunehmende Verunsicherung. Powell wurde gar als Vorsteher des U.S. Geological Survey und des Bureau of American Ethnology von den Regierungsvertretern als zu mächtig empfunden und geriet unter starken Beschuss (Stegner 1954: 345). Und Boas? Boas war äußerst geschickt, sich in alle vorhandenen Institutionen einzubinden, sich mit den wichtigsten Persönlichkeiten der amerikanischen Anthropologie auseinander zu setzen, sich von verschiedenen Institutionen bezahlen zu lassen. Boas’ Wissenschaftssystem gewinnt durch die zahlreichen »Assoziationen«, die er zu etablieren fähig war, an Stabilität (vgl. Bunzl 1996: 65). Und er wagte es, sich gegen die vorschnell gesetzten Kategorien zu erheben. Boas übernahm keine der beiden polarisierenden Positionen, von denen keine in der amerikanischen Öffentlichkeit resonanzfähig genug war, um als Lösung für die gesellschaftlichen Missstände (nicht nur der American Indians) akzeptiert zu werden. Boas lieferte aber auch keine neue Theorie, welche die evolutionären Theorien eines Morgans oder Spencers ersetzen konnte.39 Vielmehr umging er den rassistischen Diskurs, indem er eine Lösung anbot, die nicht länger von einer absolut gesetzten Theorie ausging. Seine Hauptkritik richtete sich gegen die von einer universell gültigen Theorie geleitete Methode, die seine Kollegen benutzten: »This method of starting with a hypothesis is infinitely inferior to the one in which by truly inductive processes the actual history of definite phenomena is derived. The latter is no other than the much ridiculed historical method« (Boas 1896: 905). Für Boas war für die Beschreibung der komplexen kulturellen Zusammenhänge der amerikanisch-indianischen Kulturen – und letztlich der eigenen – nur die der Historizität verpflichtete, induktive Methode anwendbar. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, sei es absolut notwendig, sich nicht auf vorgefasste Theorien abzustützen, sondern vorurteilslos empirisch zu arbeiten, um eine adäquate Interpretation der kulturellen Zustände zu liefern.40 Konkret heißt dies, dass ethnographi-
39 Boas war auch nicht grundsätzlich gegen die Vorstellung einer evolutionären Entwicklung (vgl. Boas 1896: 905). 40 Eine parallele Entwicklung findet sich in der Geschichte der amerikanischen Soziologie und Philosophie (für die Soziologie vgl. Egloff (1997)). Die Pragmatisten Charles Sanders Peirce (1839-1914), William James (1842-1910) und John Dewey (1859-1951) formulierten für die Philosophie diesen »shift from the deductive to the inductive, from the intuitive to the experimental […]« (Morison et al. 1969 [1930]: 198f.; vgl. auch Hofstadter 1944: 19 & 35). Regna Darnell setzt diese Wende erst in den zwanziger
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sche und soziale Begebenheiten nur in ihrer Historizität der jeweiligen kulturellen Gruppe, von denen sie Teil waren, interpretiert und verstanden werden konnten. Dieser egalitäre Anspruch, diese vorurteilslose Haltung war für Boas unabdingbare Voraussetzung für eine anthropologische Untersuchung. Boas entwickelte sein Konzept einer kosmographischen, historischen, induktiven Arbeitsmethode in einem deutschen Wissenschaftskontext. Obwohl er von der Physik zur Geographie und letztlich zur Anthropologie wechselte und wir deshalb eine Veränderung seines wissenschaftlichen Standpunktes vermuten könnten, bestand eine eigentliche Kontinuität in seiner Arbeitsweise. Als er 1887 emigrierte, fand seine Wissenschaftsinterpretation in den Vereinigten Staaten keine Beachtung. Erst in einer fundamentalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise setzte sich seine Methode durch. Und dies ist erklärungsbedürftig. Boas’ Methode beinhaltete keinen unmittelbaren Lösungsvorschlag für die akuten gesellschaftlichen Probleme. Im Gegenteil. Boas konstruierte keine neue theoretische Doktrin, die an die Stelle der von ihm kritisierten deterministischen Evolutionstheorien treten konnte. Doch er lieferte, so meine These, mit seiner induktiven Methode eine an den sozialen und wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähige Größe, die der damals empfundenen gesellschaftlichen Komplexität gerecht zu werden vermochte. Systematische Untersuchungen waren gefragt, die den tatsächlichen Ursachen der Probleme auf den Grund gingen – eine parallele Entwicklung finden wir übrigens im gleichen Zeitraum für die amerikanische Soziologie (Egloff 1997). Ich glaube, dass Boas’ Versuch, die jeweiligen Kulturen als Ganzes zu sehen, deren Teile man in ihrer historischen Entwicklung zu interpretieren hatte, einen für alle Kulturen gültigen methodischen einheitlichen Zugang ermöglichte. Die Methode war in Zeiten fundamentaler Verunsicherung konsensfähig und lang-
Jahren fest. »At about the same period [during the 1920’s and 30’s, Anm. J. H.], the presence of cross-cultural diversity seemed so overwhelming as to virtually preclude the search for general laws holding for all cases. The empirical orientation, which paralleled that in sociology, was a response to a previous period of over-facile theorizing on the basis of limited data« (Darnell (1971c: 86). Zu Unrecht. Bereits in den 1890er Jahren waren die im soziologischen Denkkollektiv tätigen Wissenschaftler bemüht, nur noch empirisch zu arbeiten und lieferten damit auch Antworten für die gesellschaftlich als akut empfundenen Probleme (vgl. »University Movement«).
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fristig besonders geeignet, die gesellschaftlich empfundene Disparatheit anzugehen.41 Boas widersetzte sich gegen vorschnell gesetzte Kategorien, gegen theoriengeleitete Forschung; die einzige Wahrheit für den liberalen Boas war die historische Methode, die Induktion, der Einzelfall – eine Vorgehensweise, die für seine an der Columbia University gelehrte Anthropologie charakteristisch sein wird.
Dy n a m i s i e r t e s Ne t z w e r k d e r l i n g u i s t i s c h e n Anthropologie John Wesley Powell, der Leiter des Bureau of Ethnology, und Daniel Garrison Brinton, der erste Professor für anthropologische Wissensgebiete, schafften in den von ihnen in den 1880er Jahren und 1890er Jahren etablierten Kreisläufen Vernetzungen, die das wissenschaftliche Gebiet der linguistischen Anthropologie verdichteten. Die Sprachen der Native Americans wurden in diesem Kollektiv zum legitimen Untersuchungsobjekt mit der Funktion, Aussagen zu machen über die Zusammenhänge zwischen den einzelnen amerikanisch-indianischen Völkern, über deren erreichten Entwicklungsstand und auch über deren Verbindung zu anderen Rassen. Durch die Generierung zahlreicher Daten, die über die verschiedenen Kulturen und Sprachen der Native Americans gesammelt worden waren, erreichten die Anthropologen auch eine Disziplinierung ihrer Objekte, die die Machtverhältnisse zwischen U.S.-Regierung und Native Americans stabilisierten. Die Frage, die es hier zu stellen gilt, und die sich nicht abschließend beantworten lässt, ist sicherlich, inwieweit die neu zu konstituierende Wissenschaft durch die Objektivierung ihrer »Untersuchungsgegenstände« ihren Anteil an der Schaffung von gesellschaftspolitischen Ungleichheiten hatte. Die 1891 erstellten Klassifikationen von Brinton und Powell reflektieren die zu dieser Zeit gültigen Vorstellungen, wie Ordnungssysteme auf der Grundlage linguistischer Kriterien vorzunehmen seien. Brinton 41 »Since late nineteenth-century society witnessed an implicit rejection of materialism and naturalism in interpreting the world, it is not surprising that social sciences such as anthropology followed the particularist approach advanced by Boas and James. Anthropology, especially, adhered to Boas’s method not because of his dynamism as a leader of scientific thought, but because his theories meshed with the existing zeitgeist. Boas became a spokesman for society’s current beliefs« (Hyatt 1990: 21).
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verknüpfte die linguistischen mit rassistisch-biologischen Konzepten und versuchte mittels Humboldtscher sprachphilosophischer Kategorien, die Einheit der »roten Rasse« zu beweisen. Er synthetisierte das zeitgenössische publizierte Material, um seine Thesen zu bekräftigen. Powell, der seine Klassifikation der American Indian languages auf die Morgansche Theorie abstützte, sah in den linguistischen Besonderheiten eine Möglichkeit, unabhängig von anderen wissenschaftlichen Konzepten wie Rasse die Native Americans einzuteilen. Für ihn war es unverzeihlich, linguistische Kriterien nicht von biologischen Rassenkonzepten zu trennen. Er vertraute ganz auf die von ihm in der »Introduction to the Study of Indian Languages« erstellten Vokabularlisten, die ihm als Gliederungsschema für die Sprachfamilien ausreichten. Beide Wissenschaftler bauten in ihren Klassifikationen, so ihr Selbstverständnis, auf die empirische Methode: Brinton, der unter dieser die Auswertung unpublizierter Manuskripte verstand und Powell, der von einer Datengewinnung im Feld ausging. Im anthropologischen Denkkollektiv entwickelte sich in diesen letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Konsens, dass der »wirkliche Anthropologe« als Feldforscher zu arbeiten habe. Brinton, der nie eine eigene Feldforschung durchgeführt hatte, nahm mit seiner philosophisch basierten Auffassung innerhalb des sich formierenden wissenschaftlichen akademisierten Denkkollektives eine Sonderstellung ein (Darnell 1988: 127). Er betrachtete die Native Americans als derselben Sprachgemeinschaft angehörige, kulturelle und rassische Einheit. Er interessierte sich nicht für die existierende Diversität ihrer Lebensformen. Boas, der bereits 1883 in eigener Regie eine Feldforschung in Baffin-Land durchführte, und auch in späteren Jahren bei seinen Reisen nach British Columbia nie daran zweifelte, dass diese Methode die einzig richtige war, um die Diversität der Kulturen der Native Americans in ihren bestehenden Situationen zu erfassen – eine Überzeugung, die ihn zu einem ausgewiesenen, international anerkannten Experten machten –, entsprach ganz der vom Kollektiv des Bureau of Ethnology propagierten Vorgehensweise. Franz Boas und John Wesley Powell waren sich einig, dass nur mittels Feldforschung ein wissenschaftlich gesichertes Wissen von den verschiedenartigen Kulturen der Native Americans zu erzeugen war. Nicht ohne Grund gab Powell, der es immer schon verstanden hatte, Experten als Mitarbeiter für sein Institut zu gewinnen, Boas schon früh die Möglichkeit, seine Feldforschungsergebnisse in den Publikationsorganen des Instituts zu veröffentlichen. Nur die von Powell und seinen Mitarbeitern vorgenommene Auswertung der Daten, deren Konvertierung in wissenschaftliche Argumente, entsprach in keiner Weise dem Wissenschaftsverständnis von 182
FRANZ BOAS – EIN FREMDER ENTFREMDET
Boas. In seinen in den 1890ern verfassten Ausführungen wusste Boas die vom Institut praktizierte Vorgehensweise zu demontieren. Er wies den Mitarbeitern des Instituts nach, wie sie die empirischen Daten in ein Prokrustesbett ihrer Theorien zwängten. Boas, der den Einzelfall ins Zentrum seiner Forschung stellte, widersetzte sich einer Anthropologie, die sich nur mit den American Indians beschäftigte, um diese in eine krude Entwicklungsgeschichte der Menschheit einordnen zu können respektive um Erkenntnisse über die eigene ›westliche‹ Superiorität zu gewinnen. Boas leistete Widerstand gegen die aus seiner Sicht »premature classifications«; Klassifikationen mussten, so seine Sichtweise, unabhängig von eigenen kulturellen Wahrnehmungsmustern vorgenommen werden. Boas glaubte an seine kosmographische, historische, induktive Arbeitsmethode, die es ihm ermöglichte, sich in den unterschiedlichsten Denkkollektiven zu bewegen und eine ihm eigene wissenschaftliche Flexibilität zu konstituieren. Sie war für ihn die Basis jeglichen wissenschaftlichen Arbeitens, egal, ob er sich mit der Physis der Native Americans, mit deren Mythen, Gebräuchen, ihren überlieferten Artefakten oder mit ihren Sprachen beschäftigte. Immer ging es ihm darum, die Besonderheiten einer ethnischen Gruppe in Relation zu ihrer ganzen Kultur zu erfassen. Boas änderte die Fragestellungen. Ihn interessierte die Besonderheit, wie dies bereits seine Auseinandersetzung mit Otis T. Mason gezeigt hatte, die individuelle Kultur. Boas setzte sich durch, und damit verschieben sich auch die Propositionen, die noch Mitte der 1880er Jahre Gültigkeit hatten. Boas entwickelte in diesen ersten Jahren in Nordamerika die Vorstellung, dass die Anthropologie viergeteilt werden müsse; sie habe zu bestehen aus Archäologie, Ethnologie, linguistischer und physikalischer Anthropologie. So gewinnt die Linguistik eine andere Funktion, sie ist nicht mehr wie bei Brinton und Powell, die einzige Möglichkeit, um Erklärungen für die Entwicklung der Nationen beziehungsweise Rassen und für die die Gesellschaft hervorbringende Kraft zu finden. Boas’ Werdegang bis zur Übernahme des Lehrstuhls in Anthropologie an der Columbia University war von zahlreichen Enttäuschungen und unerfüllten Hoffnungen gekennzeichnet. Dennoch gelang es ihm, sich im amerikanischen Denkkollektiv zu vernetzen und sich zu positionieren: Er wurde Mitglied der wichtigsten anthropologischen Forschergemeinschaften, und er lernte in Clark das amerikanische Universitätssystem kennen. Er schloss an die Arbeitsweisen seiner Zeitgenossen an. Die Forderungen eines Horatio Hales galt es bei seiner von der BAAS finanziell unterstützten Feldforschung zu erfüllen. Er hatte grammatikalische Besonderheiten zu beschreiben, Körpervermessungen vorzuneh183
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men, auch wenn dies nicht von Anfang an in seinem eigenen Forschungsverständnis angelegt war. Boas war ungemein lernfähig und handelte außerordentlich pragmatisch.42 Er vermochte eigene Vorstellungen bezüglich wissenschaftlicher Vorgehensweisen mit den im nordamerikanischen Kontext vorhandenen Sichtweisen zu verbinden und schuf damit eine Form der anthropologischen Forschung, die sich im Krisenkontext als besonders erfolgreich herausstellen sollte. Er integrierte Krisenphänomene, die sich abzuzeichnen begannen, in seine Forschungstätigkeit und wirkte in der tatsächlichen Krise orientierungsstiftend innerhalb des anthropologischen Denkkollektivs und trieb den Gang der Dinge ohne weitere Probleme voran. Es gilt zu betonen, dass nicht die Rede davon sein kann, dass Boas eine komplette Änderung des im anthropologischen Kollektiv gültigen Denkstils herbeiführte, eher, um mit Latour zu sprechen, veränderte sich die »raumzeitliche Hülle von Propositionen«. Indem Boas neue methodische Überlegungen in das amerikanische Denkkollektiv einzubinden versuchte, entstanden neue Assoziationen mit den bereits im wissenschaftlichen Kreislauf der Anthropologie bestehenden Propositionen. Aktanten wie die American Indian languages, die beteiligten Forschenden, die für die Ethnologie beziehungsweise Anthropologie wichtigen Theorien, der sozio-historische Kontext erfuhren unterschiedliche Artikulationen, die zu verschiedenen anders gestalteten Verbindungen führten. Daniel Garrison Brintons aus heutiger Sicht verqueren Verbindungen zwischen Sprache und Rasse konnten sich nicht halten. Der innerhalb des anthropologischen Denkkollektivs eine Sonderstellung einnehmende Brinton, der ganz in Spencerscher Manier der »roten Rasse« den Untergang voraussagte – »[t]he American Indian, as such, is destined to disappear before European civilization. If he retains his habits he will be exterminated; if he aims to preserve an unmixed descent, he will be crushed out by disease and competition; his only resource is to blend his race with the whites, and this infallibly means his disappearance from the scene […]« (Brinton 1890b: 295).
– fand sicherlich auch keine Unterstützung bei Reformgruppierungen, die sich für die Probleme der sozial schwächeren Gruppen einsetzten. Seine Klassifikation »The American Race« wird im künftigen anthropologischen Kontext kaum mehr für weitere Klassifikationsversuche der
42 »Boas had to please several masters in addition to his own sense of scientific integrity« (Hinsley/Holm 1976: 310; vgl. auch Barkan 1992: 78).
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American Indian languages rezipiert. Brinton verpasste es, trotz seiner Versuche, die Akademisierung der Anthropologie mitzubestimmen, sich vor seinem Tode 1899 in den sich verdichtenden Kreisläufen, die die linguistische Anthropologie konstituierten, vollständig einzubinden. Er war nicht wie Boas Teil des Netzwerkes von persönlichen Verbindungen und Verpflichtungen. Oder wie Regna Darnells es ausdrückt: »Brinton failed to meet many of the developing criteria for professonalization. He was self-styled anthropologist having no training in the discipline. He never earned his living by his anthropological labors. He had no institutional affiliation and received no salary for his nominal teaching position at the University of Penn. He did not train a new generation of anthropologists or establish a ›school‹ among his contemporaries. His ideas were not substantially modified in response to the newer perspectives available later in his career. Consequently, he was perceived by many of his contemporaries as an anachronism« (Darnell 1988: 41 & vgl. auch 122f.).
Powell war diesbezüglich erfolgreicher. Seine Arbeiten gerieten nicht, wie dies mit Brintons Veröffentlichungen geschehen sollte, in Vergessenheit. Powell vermochte sich in die sich ausdifferenzierende Struktur der Disziplin einzubinden: Seine exemplarische Institutsbildung und die gelungene Indienstnahme zahlreicher Autoritäten für seine Projekte sind sicherlich die wichtigsten Erklärungen für diese Stabilität.43 »The Bureau, supported by the Anthropological Society of Washington, which included government scientists from a range of related disciplines, constituted the greatest mobilization of men and resources toward the pursuit of ethnology available in the late nineteenth century America« (Darnell 1988: 42). Auch Boas arbeitete für Powell und seine Institution. Nach Powells Tod war er sogar von 1902 bis 1919 als »Honorary Philologist« (Darnell 1990a: 129; vgl. auch Hinsley 1979: 26) am Institut tätig und veröffentlichte die eigenen vor allem linguistischen wissenschaftlichen Erkenntnisse in den Publikationsorganen des Büros.
43 Koerner geht in seinem Aufsatz (1990: 112) davon aus, dass die Todesfälle Brintons (1899) und Powells (1902) die Durchsetzung von Boas’ Agenda erleichtert hätten. Meines Erachtens missachtet diese Interpretation die Komplexität der raum-zeitlichen Hülle »linguistische Anthropologie«. Die Konsolidierung einer wissenschaftlichen Disziplin darf nicht ausschließlich personengebunden betrachtet werden, sondern ergibt sich aus einer Fülle von verschiedenen Faktoren, die gleichzeitig wirken (vgl. »Ahistorische Historie – inkontingentes Paradigma: ein Weg aus der Paradoxie?«).
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In den nächsten Jahren gelang es Boas, sich in einem »center of a network of men and institutions« (Darnell 1988: 63) zu platzieren, dass kein Wissenschaftler, der sich mit Anthropologie beschäftigen wollte, es sich leisten konnte, sich nicht mit seinen Sichtweisen auseinander zu setzen. An der Columbia University und am American Museum of Natural History in New York kreierte er eine national ausgerichtete professionelle akademische anthropologische Disziplin. Keiner der drei in der Anfangsphase der linguistischen Anthropologie wichtigen Akteure – Powell, Brinton, Boas – hatte sich vor einer nationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft als Anthropologe beweisen müssen. Dies veränderte sich nun grundlegend. (Linguistische) Anthropologie betreiben durften nur noch diejenigen, die eine entsprechende Ausbildung bei Boas absolviert hatten. Für sein groß angelegtes Projekt »Handbook of the American Indian languages« etwa, das das Bureau of American Ethnology finanzierte, verpflichtete er nur Wissenschaftler, die seine Forschungsmethode zu übernehmen bereit waren. Diese Etablierung des autonomen »Invisible College« wird uns im folgenden Kapitel beschäftigen.
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Konstituierung d er ling uisti s chen Anthropologie als wi ss en sch aftliche Teildi sziplin
»In order to understand these clearly, the student must endeavor to divest himself entirely of opinions and emotions based upon the peculiar social environment into which he is born. He must adapt his own mind, so far as feasible, to that of the people whom he is studying. The more successful he is in freeing himself from the bias based on the group of ideas that constitute the civilization in which he lives, the more successful he will be in interpreting the beliefs and actions of man. He must follow lines of thought that are new to him. He must participate in new emotions, and understand how, under unwonted conditions, both lead to actions. Beliefs, customs, events of daily life, give us ample opportunity to observe the manifestations of the mind of man under varying conditions« (Boas 1901: 1).
»The Progressive Era« Als Franz Boas Ende der 1890er Jahre den Lehrstuhl für Anthropologie an der Columbia University sowie die Leitung des American Museum of American History in New York übernahm, hatten sich die Vereinigten Staaten von der wirtschaftlichen Depression nahezu erholt. Industrie und Handel nahmen einen unerhörten Aufschwung. Gab es Anfang der 1890er Jahre in den USA 86 Industriekonzerne mit einem Kapitel von insgesamt 1,5 Milliarden Dollar, waren es 1904 bereits 318 mit einem 187
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Kapital von sieben Milliarden (Sautter 1991: 290; vgl. auch Morison et al. 1969 [1930]: 266ff.). Nordamerika entwickelte sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in denen Franz Boas die (linguistische) Anthropologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin zu konsolidieren wusste, zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Staat, der sich auf dem Weltmarkt zu etablieren verstand. Dazu gehörte auch, dass die lange Tradition des amerikanischen Isolationismus durch die Hinwendung zum Imperialismus in Frage gestellt und die nationale Ambition der USA als Weltmacht neu definiert wurde (Sautter 1991: 307; Guggisberg 1993 [1975] 1993: 159ff.). Nicht länger beschränkten die Vereinigten Staaten ihre Machtansprüche auf die eigenen territorialen Grenzen (Avery/Steinisch 1990: 109ff.; Vincent 1990: 78f.). Sie weiteten ihre ökonomische und politische Position gegenüber Staaten Lateinamerikas (Venezuela, Kuba) und Staaten im pazifischen Raum (Philippinen und Hawaii) aus – ein Ausdruck ihres zunehmenden Selbstverständnisses und -vertrauens.1 »The nation had advanced to the rank of a world power«, schreiben die Historiker Morison, Commager und Leuchtenberg in ihrem Klassiker »The Growth of the American Republic« (Morison et al. 1969 [1930]: 266). Die beiden Jahrzehnte, die von diesem wirtschaftlichen und geopolitischen Aufstieg geprägt waren, ließen aber auch die Widersprüche des Landes deutlich zu Tage treten. Die Lebenshaltungskosten, die bis Ende des 19. Jahrhunderts stetig gefallen waren, stiegen von 1897 bis 1913 um rund 35 Prozent an. Dies bedeutete für Millionen von Amerikanern den sozialen Abstieg. In den Augen vieler waren die »Monopolherren« für die Misere verantwortlich. Und die Fakten sprechen für sich: 1910 besaß ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung 47 Prozent allen Besitztums im Land und verwendete 15 Prozent des Nationaleinkommens (Sautter 1991: 291). Das Missverhältnis zwischen arm und reich ist sicher einer der bedeutendsten Gründe für die Ausdifferenzierung einer neuen, gewichtigen Reformbewegung, einer Reformbewegung, der es gelang, zwischen 1900 und 1920 Sozialreformen durchzusetzen und zu institutionalisieren. Die Rede ist von der »Progressive Movement«. Die »fortschrittliche Bewegung« vertrat die Überzeugung, dass der Staat nicht länger eine Laissez-faire-Haltung einnehmen dürfe, wie dies Spencer noch propagiert hatte (vgl. »›The Survival of the Fittest‹ – Herbert Spencer im nordamerikanischen Kontext«), sondern bei der dringlich benötigten 1 Zur Außenpolitik Nordamerikas vgl. Jones (1983: 347ff.) und Avery/Steinisch (1990: 109ff.).
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Veränderung und Neugestaltung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik eine entscheidende Rolle zu tragen habe. Sie stellte sich damit klar gegen die Industriebosse, die noch Ende des 19. Jahrhunderts eine Vorrangstellung bezogen und freie Hand bei ihren Monopolisierungstendenzen, Konsolidierungen und Zusammenschlüssen hatten und so den Markt beherrschten. Die Gruppe der Progressiven setzte sich nicht, wie zu vermuten wäre, nur aus dem »gemeinen Volk«, das die Kehrseite der Industrialisierung und die Folgen der Konzentration ökonomischer Macht in den Händen weniger vor allem zu spüren bekam, zusammen. Es handelte sich vielmehr um Angehörige der gehobenen städtischen Mittelschicht: um Unternehmer, Politiker, Journalisten, Sozialreformer, Wissenschaftler, Intellektuelle und Idealisten wie Thorstein Veblen (1857-1929), Oliver Wendell Holmes Jr. (1841-1935), Jane Addams (1860-1935), Florence Kelley (1859-1932), Henry Demarest Lloyd (1847-1903), Theodore Dreiser (1971-1935), Lincoln Steffens (1866-1936) sowie die Pragmatiker William James und John Dewey.2 Der Preisanstieg traf sie im neuen Jahrhundert besonders stark – sie waren denn auch für Reformgedanken besonders empfänglich. Die Grundmotive der Bewegung lassen sich über die unterschiedlichen, zu reformierenden gesellschaftlichen Bereiche festmachen (Hofstadter 1986 [1963]: 3f.): Die Reformisten verlangten eine staatliche Regulierung der Wirtschaft, den Kampf gegen die Korruption in der Politik, eine Reduktion der Zölle, die Prohibition, das Frauenwahlrecht, Stadtreformen, die zur Verbesserung der Lebensumstände der Bewohner beitrugen, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die Unterbindung von Kinderarbeit, die Einrichtung eines öffentlichen Gesundheitswesens, die Bekämpfung der zunehmenden Kriminalität, ein Sozialwesen, das die zunehmende Armut in den Städten in den Griff bekam – und schließlich: den Erhalt der natürlichen Ressourcen (Jones 1983: 368; Morison et al. 1969 [1930]: 267f.). Zudem forderte die Bewegung eine genaue empirische Analyse und akkurate Beschreibung der gesellschaftlichen Probleme (Hofstadter 1944: 145; Wax 1956: 64). Die »Progressive Movement« war geprägt von einem klaren Optimismus, und überzeugt, dass die gesellschaftlichen Missstände, die Auswüchse des Laissez-Faire und des ungehinderten Individualismus, in
2 »[P]ragmatism, which rapidly became the dominant American philosophy in the two decades after 1900, breathed the spirit of the Progressive Era« (Hofstadter 1944: 103).
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den Griff zu kriegen sind, wenn man nur versuche, sie aktiv zu beseitigen. Unterstützung gewannen sie aus dem in den 1890er Jahren neu etablierten Enthüllungsjournalismus, dem »Muckraking«, der in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts den Höhepunkt erreichte (Hofstadter 1986 [1963]: 5; Morison et al. 1969 [1930]: 275ff.) Die Journalisten beschrieben die korrupten Machenschaften der Politiker sowie die sozialen Verhältnisse, die in Städten wie Chicago, Detroit, New York, Cleveland, Buffalo, Atlanta – »centers of vice and poverty, ugly, full of crowded slums, badly administered« (Hofstadter 1986 [1963]: 2) – vorherrschten. Die Bevölkerungsdichte in den Städten nahm in den beiden Jahrzehnten nach 1900 stetig zu: Rund zwei Millionen Amerikaner hofften, in den Großstädten Arbeit zu finden; Millionen von Immigranten strömten noch immer in die Vereinigten Staaten (Vincent 1990: 84).3 Die Städte waren auf diese Bevölkerungsexplosion in keiner Weise vorbereitet. Die meisten ihrer Bewohner lebten in slumähnlichen Zuständen, oft ohne Trinkwasser, ohne Kanalisation, ganz zu schweigen von hinreichenden Gesundheits- und Hygienebedingungen. – Diese politische Stoßkraft aus der klassen- und schichtumgreifenden Suche nach politischer und gesellschaftlicher Erneuerung führte, so Hofstadter in seiner Schrift »The Progressive Movement«, zur ersten Entwicklung von »a type of realistic journalism and social criticism that has become a permanent quality of American thinking« (Hofstadter 1969 [1963] : 14). Die Präsidenten dieser Zeit Theodor T. Roosevelt (1858-1919), der im September 1901 die Präsidentschaft übernahm und einen in diesem Amt bislang ungekannten politischen Aktivismus zutage brachte, sowie William Howard Taft (1857-1930) und insbesondere auch Woodrow Wilson (1856-1924) legten eine politische und kulturelle Basis für eine rasche Durchsetzung von wirtschaftspolitischen Reformen, für eine Veränderung der Bankenpolitik, eine Neuregelung der Arbeitergesetzgebung, für ein Verbot der Kinderarbeit etc. (Morison et al. 1969 [1930]: 336ff.). Die »Progressive Era«, eine Bewegung, von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen und bis zum Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg wirksam, war eine Zeit, in der eine große 3 Die Zahlen der Immigranten aus Süd- und Osteuropa nimmt nach 1900 noch zu: Zeitrahmen Nord- und Westeuropa Süd- und Osteuropa 1901-1910 1'910'035 (21.7%) 6'225'981 (70.8%) 1911-1920 997'438 (17.4%) 3'379'126 (58.9%) (Morison et al. 1969 ([1930]: 108).
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Gruppe von Aktivisten überzeugt war, dass sie die gesellschaftlichen Probleme angehen und lösen konnte. Hofstadter sieht in den Männern und Frauen der »Progressive Era« sogar die »pioneers of the welfare state« (Hofstadter 1986 [1963]: 15). Denn sie waren nicht, wie noch die Vertreter des »Gilded Age«, des »Goldenen Zeitalters« der Industriebosse, in erster Linie an der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse interessiert, sondern sahen sich bestimmt, die dringenden Probleme der industriellen Gesellschaft mit der Hilfe der staatlichen Macht zu beseitigen – oft mit großem Erfolg. Franz Boas gelingt es, während der auch ihn beeinflussenden »Progressive Era« (Hyatt 1990: 118) seine Vorstellung der (linguistischen) Anthropologie so zu positionieren, dass sie selbst, als es nach dem großen Krieg, 1919, zum offenen Streit mit der mächtigen American Association for the Advancement of Science kam, von der er unmittelbar danach ausgeschlossen wurde, nicht in Frage gestellt wird. Seine Macht und sein Konzept wissenschaftlicher (linguistischer) Anthropologie sind 1919 definitiv etabliert. Im Folgenden ist diese Konsolidierung der Boasschen Anthropologie genauer zu fassen. Boas kann nicht als Einzelgänger bezeichnet werden, der unabhängig von anderen Propositionen seine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren verstand. Er profitierte auch nach der Jahrhundertwende von institutionellen Veränderungen, die im anthropologischen Denkkollektiv stattfanden. Ebenso waren die fundamentalen, zukunftsweisenden Umgestaltungen, die sich im amerikanischen Universitätssystem durchsetzten, eine notwendige Bedingung für die Errichtung der Boasschen kulturrelativistischen Anthropologie (»vgl. Institutionelle Veränderungen im Kontext anthropologischer Forschung um die Jahrhundertwende«). Ein zweiter Grund für Boas’ raschen Erfolg war sein Umgang mit den Artikulationen seiner anthropologischen Zeitgenossen. Er knüpfte an diese an, indem er sie weiterführte oder neue an deren Stelle setzte (vgl. »Boas’ studium generale an der Columbia University in New York«). Diese von Boas formulierten Artikulationen räumen der linguistischen Anthropologie eine neue Rolle im anthropologischen Denkkollektiv ein; sie umfassen Vorarbeiten zu seinem linguistischen Grundlagenwerk, der »Charta« der amerikanisch-indianischen Linguistik: dem »Handbook of American Indian languages« – die letztlich die Konsolidierung der raum-zeitlichen Hülle »linguistische Anthropologie« bedeutete (vgl. »›Handbook of American Indian languages‹ – Konsolidierung der linguistischen Anthropologie«).
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Instituti onelle Veränderungen i m Kontext anthropologischer Forschung um die Jahrhundertwende The American Anthropological Association Franz Boas übernahm 1899 den Lehrstuhl für Anthropologie an der New Yorker Columbia University und die Leitung des American Museum of Natural History. Boas’ Erfolg, die Anthropologie zu akademisieren, ging einher mit unterschiedlichen institutionellen, am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts stattfindenden Veränderungen, welche die zukünftige Anthropologie beeinflussten, ja gar erst ermöglichten. Bis Ende des 19. Jahrhunderts war die (linguistisch-)anthropologische Forschung vor allem Sache verschiedener lokaler Forschungsgemeinschaften (Boas 1902b: 804). John Wesley Powell und Daniel Garrison Brinton arbeiteten in ihren räumlich begrenzten Kontexten, in Washington und Philadelphia (vgl. »Boas’ Durchbruch – mögliche Erklärungen«). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erkannten beide, dass, um die (linguistische) Anthropologie längerfristig als selbständige Wissenschaftsdisziplin zu etablieren, neue Einrichtungen auf nationaler Ebene unumgänglich waren. Ein erster Schritt, dieses Ziel umzusetzen, war die Erweiterung des Journals »American Anthropologist«, das seit 1888 offizielles Publikationsorgan der Anthropological Society of Washington war. 1898 gelang es Daniel Garrison Brinton, William John McGee, Franz Boas und dem ersten amerikanischen Professor für Psychologie James McKeen Cattell (1860-1944) (Murray 1981a: 8) überzeugend darzulegen, dass die Zeitschrift einem nationalen Publikum zugänglich zu machen sei. Sie sollte der Sektion H der American Association for the Advancement of Science (AAAS) und allen anderen anthropologischen Institutionen so dienen, wie sie seit 1888 der Anthropological Society of Washington gedient hatte: als Publikationsorgan, das neue, objektive, anthropologische Erkenntnisse wiedergab und eine unangreifbare Etablierung der wissenschaftlichen Disziplin möglich machte. Der Erweiterung lag explizit das Ziel zu Grunde, »to set the groundwork for a future independent professional organization« (Darnell 1998: 247; vgl. auch Darnell 1988: 65f.; Darnell 1971c: 100; Lamb 1906: 575f.; Patterson 2001: 50). Die American Association for the Advancement of Science (AAAS) wählte die wichtigsten Vertreter der zeitgenössischen anthropologischen Forschung, um die ganze Differenziertheit, die dieses neue wissenschaftliche Feld ausmachte, repräsentiert zu wissen: Boas, McGee, Brinton, 192
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Putnam und Frank Baker (1867-1942) Vertreter der Georgetown University und der Anthropological Society of Washington (AAA) (Cole 1999: 210f.). Vier Jahre später kam es, nachdem 1897 bereits ein erster Versuch wegen finanziellen Schwierigkeiten fehlgeschlagen war, zur Gründung der erhofften »unabhängigen nationalen Gesellschaft«, der American Anthropological Association (Cole 1999: 211f.). McGee, der eigentliche Initiator dieser Idee, schreibt in seinem Artikel von 1903 »The American Anthropological Association: Antecedent conditions«, der einen chronologischen Ablauf der Verhandlungen, die zur Institutionalisierung der Gesellschaft führten, beinhaltet, dezidiert, dass »the dignity and importance of the science, as well as the convenience of its devotees […] a definite national organization« (1903: 179) verlangten. Die Schrift McGees ist aus einem Grund von besonderem Interesse. Sie spiegelt, wie bereits George W. Stocking 1960 festgehalten hat, eine »lengthy and occasionally quite bitter controversy over the character and the aims of the Association« (Stocking 1960: 1). Zwar waren alle »more or less heartily in favor of organizing«, aber es bestanden klare Meinungsunterschiede »to the mode of procedure and the basis of organization, and also as to the urgency of the need« (McGee 1903: 181). McGee befürwortete eine von der AAAS unabhängige Vereinigung. Boas hingegen favorisierte eine »technical society«, die mit der AAAS in enger Beziehung stand. Boas argumentierte in seinem Artikel »The Foundation of a National Anthropological Society« (1902b), den McGee in seiner Schrift von 1903 sogar zur Lektüre empfahl, gegen die neue, von McGee bevorzugte Gesellschaft. Diese Organisation, die noch immer einem Laienpublikum offen stehe, erfülle die Bedingungen, die für eine Professionalisierung der amerikanischen Anthropologie notwendig seien, nicht und verzögere letztlich nur diesen Prozess. Erforderlich sei vielmehr: »[…] a movement originating in the American Association for the Advancement of Science, by which the Section of Anthropology should be authorized to take the name of a national anthropological society, and to levy assessments for their own particular purposes, and by which only such members of the American Association should become members of the Section as fulfill the requirements set by a special council selected by the section« (Boas 1902: 808).
Die Gründung einer professionellen Gemeinschaft mit klaren Zulassungsbeschränkungen war nur die eine Seite der Medaille der angestrebten Effizienzsteigerung der eigenen Wissenschaft. Boas hoffte, den wissenschaftlichen Fortschritt in der Anthropologie durch eine Zentrali193
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sierung der Publikationsarbeiten, die noch immer Sache einzelner Gesellschaften war, zu beschleunigen: »[A] vast saving of money and energy may be effected by the proper coordination of the work of mixed societies, and […] the publications may be made infinitely more effective« (Boas 1903: 575). Gesellschaften und Institutionen sollten ihre »narzisstischen Verhaltensweisen« vergessen und vermehrt miteinander zusammenarbeiten, um Synergien zu schaffen. Für Boas war klar, dass nur durch die Gründung einer zentralen Gemeinschaft, die nicht Einzelinteressen vertrat, eine professionelle Anthropologie eine Zukunft hatte. – Doch McGee, der »ethnologist-in-charge« des Bureau of American Ethnology setzte sich durch und übernahm das Amt des ersten Präsidenten der neuen Organisation (Harris 1968: 254). Die Differenzen zwischen Boas und McGee zeigen, wie offen es anfangs des 20. Jahrhunderts noch immer war, ob und wie sich die Anthropologie als Wissenschaft beziehungsweise Forschungsdisziplin weiterentwickeln würde. Viele der »self-trained« Ethnologen, die an wichtigen, die Zukunft der Anthropologie betreffenden Entscheidungen beteiligt waren, versuchten die Anthropologie weiterhin einem breiten nationalen Laienpublikum zugänglich zu machen – nur schon aus finanziellen Beweggründen. Boas’ Ziel, das er in naher Zukunft auch zu erreichen verstand, war indes, die Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin zu stärken und sie nicht länger Amateuren wie »gentlemen scholars« und Missionaren zu überlassen. »[…] he hoped to establish the type of association which he believed would best fit the needs of the growing science: one in which the amateurs who had participated in an earlier period would be rigorously excluded from the professional proceedings, but in which they might still maintain a general interest, and presumably, to which they might continue to make a financial contribution« (Stocking 1960: 12).
Obwohl Boas’ Konkurrenten seinen Vorschlag verwarfen, blieb er beharrlich und setzte auf die professionelle Ausbildung an den Universitäten: Er hoffte, seine Vorstellung einer holistischen Anthropologie an der Columbia University zu institutionalisieren; er hoffte, die Anthropologie auf ein akademisches, wissenschaftliches Fundament zu stellen, sie unabhängig vom Einfluss der Museen neu zu charakterisieren und zu begründen – hier argumentierte er aus persönlichen Motiven: Er musste 1905 die Leitung als Kurator der anthropologischen Abteilung des Museum of Natural History in New York nach einem Streit mit dem Direk-
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tor Herman Carey Bumpus aufgeben (Hyatt 1990: 67f.)4 – und schließlich den Untersuchungsfokus zu erweitern.
University Movement Boas nutzte die Gunst der Stunde. Die institutionellen, Ende des 19. Jahrhunderts stattfindenden Reformen an den Universitäten Nordamerikas – das so genannte University Movement – eröffneten ihm für seine Pläne einen äußerst erfolgsversprechenden Rahmen. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam es zu grundlegenden Umgestaltungen im amerikanischen Bildungssystem. Wachstum und Modernisierung förderten und verlangten neue Formen von Wissen 4 In einem Brief an seinen Freund Karl von den Steinen, Berlin, schreibt er die Situation wie folgt: »The Museum difficulties about which I spoke to you last summer have finally come to a head, and I have resigned from the curatorship of the Anthropological Department. […] I briefly repeat what happened for your information. Last November I told the director, Professor Bumpus, that I desired to restrict my administrative work in the museum, and to concentrate my work rather at the University; and it was agreed that Farrand should become responsible for the administration of the ethnological work. In January Farrand was offered a very good position outside of the Museum, which he accepted. It seemed quite difficult to find any one who could take up the work of the Department, and I yielded to the urgent requests of Bumpus and Mr. Jesup to continue in the Museum. I then formulated as conditions of my continuance that I should have absolute control of the whole Anthropological Department, including the archaeological work, which, as you are aware, was very much disorganized during the last few years, and also made the condition that I should have a regular appropriation for the development of the Department. I received my appointment on this basis the last February. Very soon after, Bumpus began to interfere with the details of my administration: and finally, at the end of April, he demanded of me that before doing any special work in the Department, even as much as installation in a small part of any particular case, the plan should be submitted to him for his approval. I protested against this to the President, and the result of a three weeks’ discussion is my resignation from the curatorship. In the discussion such a fundamental difference of opinion regarding the work of the Museum developed, that it did not seem to me profitable to continue. The director developed the opinion that the growth of the Anthropological Department must stop, that collections must not be made from scientific points of view but only for the purpose of instructing the uneducated, and that every thing that is not readily intelligible to the uneducated must be sold of exchanged. I presume the statement in this form would hardly be carried out even by the director, but the whole spirit exhibited by him was such, that further cooperation in administration seemed to me entirely impossible« (Boas an von den Steinen, 25. Mai 1905, Franz Boas Papers; vgl. auch Barkan 1992: 80).
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und Fertigkeiten. Die Nachfrage nach technologischem Wissen stieg in der Industriegesellschaft ebenso wie sozialtechnische Bedürfnisse angesichts der wachsenden Perzeptionen von negativen gesellschaftlichen Folgen des industriellen Wachstums (Guggisberg 1993 [1975]: 140; Vincent 1990: 80f.). Eine neue Generation von Akademikern, durch Studien im damals punkto Universitätsbildung hoch überlegenen Europa gut ausgebildet, drängte in die wachsenden Märkte der Wissensvermittlung. Gleichzeitig waren reich gewordene ›Wachstumsgewinner‹ zunehmend geneigt und in der Lage, Universitäten in noch nie da gewesener Weise mit Stiftungen zu alimentieren. Das alte Liberal Arts College – vormals Krönung amerikanischer Bildung – wurde durch reformfreudige Neugründungen zunehmend verdrängt oder selbst modernisiert (Ross 1990: 63f.). In den Stiftungsräten und Fakultäten wurde die frühere Vorherrschaft der Geistlichen zurückgedrängt; »businessmen« und andere »professionals« auch aus nicht-akademischen Berufen, die dem neuen säkularen Ideal »Erfolg durch Wissen von Nützlichem« besser entsprachen, kamen zum Zuge (Hinkle 1980: 37). Das pragmatische Ideal der »utility« von Wissen verband individuelle und soziale Nützlichkeit in der Überzeugung, professionelle Ausbildung individueller Berufung nütze gleichermaßen dem Individuum und der Gesellschaft. Die typische amerikanische Universität fungierte als professionell strukturierte und marktbezogene Firma, geführt von einem akademisch gebildeten, mit hohen Kompetenzen ausgestatteten Manager-Präsidenten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bauten die Universitäten mit großer Energie Graduierten-Studien, Ph. D.- und Forschungsprogramme aus (Hinkle 1980: 38). Die überarbeiteten Lehrpläne sollten »more relevant to vocational possibilities and aspirations of modern, urban, industrial, secular life« (Hinkle 1980: 38) sein. Noch zu Beginn der 1890er Jahren vertraten die meisten der amerikanischen Universitäten (z. B. die Harvard und Yale University sowie die University of Pennsylvania) die Auffassung, dass ein »graduate training« für eine akademische Laufbahn keine Notwendigkeit sei. Die Ausdifferenzierung verschiedener neuer, vor allem auch sozialwissenschaftlicher Forschungsgebiete und die immer lauter werdende Forderung nach einer grundlegenden wissenschaftlichen Ausbildung verlangten jetzt aber eine rasche Einführung von »advanced studies«,5 die ein 5 C. Wright Mills unterteilt das Wachstum der »graduate instruction« in drei Phasen: (1) between 1642 and 1860 the M.A. degree was supreme and in the main it was an honorary affair. (2) The period from 1860 to 1900 is
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Fundament für zukünftige, in einem internationalen Kontext konkurrenzfähige Wissenschaftler bereitstellen sollte. Als Vorbild für die »neuen« Universitäten diente das europäische, genauer, das deutsche Universitätsmodell.6 Viele amerikanische Akademiker lebten und studierten nach Abschluss ihrer amerikanischen universitären Grundausbildung während ein bis zwei Jahren in Deutschland, um eine weiterführende wissenschaftliche Ausbildung zu erhalten.7 Selbstredend brachten diejenigen, die in Deutschland studiert hatten, einen erheblichen ideologischen Einfluss in die Vereinigten Staaten zurück. Es waren diese Akademiker, die nach ihrer Rückkehr aus Europa das deutsche universitäre Bildungssystem an den amerikanischen Hochschulen erfolgreich institutionalisierten. Gleichzeitig mit dieser Reformierung der amerikanischen Universitäten differenzierte sich Ende des 19. Jahrhunderts die Ideologie aus, dass die Bildungsstätten sich einem »pure-science ideal« zu verpflichten haben. Nicht länger war die Wissenschaftlergilde bereit, sich in den Dienst des amerikanischen Staates, der bis dato ein großer Förderer und finanzieller Unterstützer wissenschaftlicher Forschung gewesen war, zu stellen. Sie forderten unabhängige Forschung jenseits von politischen Nützlichkeitserwägungen (Daniels 1967: 1703). Franz Boas war Teil dieser akademischen Professionalisierung. Gleich nach der Übernahme seines Lehrstuhls an der Columbia University begründete er eine akademische Graduierten- und Doktoratsausbildung in Anthropologie nach deutschem Vorbild – ein Schritt, der es möglich machen sollte, Amateure von den »professionellen Anthropologen« zu unterscheiden, Laien aus der anthropologischen Gilde auszuschließen (Harris 1968: 251; Darnell 1998: 100f.; Darnell 1971c: 99). Boas trat also seine Professur zu einer Zeit an, in der ein allgemeiner Akademisierungs- und Professionalisierungsprozess in den Sozialwissenschaften an den Universitäten der Vereinigten Staaten im Gange war. Dieser Akademisierungsprozess war einer der wichtigsten Gründe für
made up of the ›growth and development of the Ph.D. degree‹. (3) The period from 1900 to the present day [1943], which continues the second while adding a further diversification of degrees« (1966: 70). 6 Auch nach dem Aufbau des modernen Universitätssystems in den USA gehörten Doktoratsstudien in Deutschland noch zum guten Ton (Morgan 1970: 163; Darnell 1971c: 7). 7 Die Zahl der an deutschen Universitäten immatrikulierten amerikanischen Studierenden stieg von unter 200 in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf über 2000 in der Dekade zwischen 1890 und 1900 (Morgan 1970: 163).
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die Professionalisierung der amerikanischen Anthropologie (Stocking 1960: 14).
Bo a s ’ s t u d i u m g e n e r a l e a n d e r C o l u m b i a U n i v e r s i t y i n Ne w Y o r k Anthropologische Programme gab es bereits an anderen Universitäten, allerdings boten sie keine weiterführende akademische Ausbildung an. Wir kennen die ersten, nicht von Erfolg gekrönten Versuche von Daniel Garrison Brinton an der University of Pennsylvania (vgl. »Inhaber des ersten Lehrstuhls für Anthropologie«). Frederick Ward Putnam lehrte seit 1887 Archäologie an der Harvard University, Franz Boas von 1889 bis 1892 an der Clark University (vgl. »Erste Umsetzung der Methoden in der Akademie – Clark University«). 1892 eröffnete die neu gegründete University of Chicago das Department of Social Science and Anthropology. Fredrick Starr unterrichtete Anthropologie in Verbindung mit Soziologie, »a great disappointment, particularly to Boas« (Darnell 1971c: 98; vgl. Egloff 1997: 100). In einem 1902 in »Science« veröffentlichten Artikel ist gar die Rede von 31 Universitäten beziehungsweise Colleges, die Kurse in Anthropologie offerierten.8 Doch ein holistisches, von anderen Disziplinen unabhängiges Ausbildungsprogramm fehlte. Erst Franz Boas verstand es, in exemplarischer Weise ein akademisches Lehrprogramm zu schaffen, das für die zukünftige amerikanische Anthropologie richtungweisend sein sollte. Ihm gelang es, seine Studenten an die wichtigsten neu gegründeten anthropologischen »Departments« berufen zu lassen und so in den nächsten zwei Dekaden ein soziales Netzwerk einzurichten, das die ganze anthropologische Forschung in seinem Sinne zu entwickeln vermochte. Boas’ Ziel war ein umfassender, ein von politischen Regierungsinteressen unabhängiger Studiengang (Darnell 1971c: 97), der alle anthropologischen Bereiche – Archäologie, physische Anthropologie, Ethnologie und linguistische Anthropologie9 – berücksichtigte, eine Ausbil8 »In the thirty-one universities and colleges offering anthropology, it is found to be an adjunct of sociology in nine, of philosophy in five, of psychology in three, of geology and zoology in five, and of medicine in one; while in five instances it stands practically alone (Chicago, National University of Washington, Harvard, Columbia, Clark University, Anm. J. H.) and in three it is unclassified« (MacCurdy 1902: 216). 9 Die beiden Kurse, die Boas seit seiner ersten Anstellung während rund vierzig Jahren Lehrzeit an der Columbia University lehrte, war »Statistical
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dung, die in anderen Universitäten, falls überhaupt, nur partiell angeboten wurde. Boas orientierte sich in der Konstruktion seiner Anthropologie an im amerikanischen Denkkollektiv vorhandenen wissenschaftlichen Konzepten und integrierte sie bis zum einem gewissen Teil in sein Gedankengebäude. Boas stellte sich aber auch ganz klar gegen Ansichten, die ihm aufgrund seiner empirischen Studien schlicht als falsch erschienen.10 Für Boas war die Anthropologie ein »studium generale«. Ihn interessierte die Frage, weshalb es verschiedene Ethnien, die unterschiedlich dachten und handelten, auf der Welt gab. Und: Er hoffte, mittels geeigneter Methoden die Antwort ›vorurteilslos‹ generieren zu können. Ich möchte mich im Folgenden auf die Entwicklung der kulturrelativistischen Ansichten Boas’ konzentrieren, um den neuen Status, der die Linguistik in der Anthropologie einnimmt, herausarbeiten zu können. Ich beginne mit seinem 1901 in der Zeitschrift »Science« und der Zeitschrift »The Journal of American Folk-Lore« veröffentlichten Aufsatz »The Mind of Primitive Man«, mit dem er die von Powell und Brinton geführte Debatte bezüglich der Frage, ob die Menschheit als Einheit zu fassen sei, aufnahm. Anschließend ist sein Standpunkt zur unilinearen Evolutionstheorie Gegenstand der Ausführungen. Für Boas waren die evolutionstheoretischen ›Glaubensbekenntnisse‹ eines Darwins, Spencers oder auch Morgans, die von der für alle Menschen geltenden Entwicklungsgeschichte – »savagery«, »barbarism«, »civilization« – ausgingen, zu simpel. Diese aus seiner Sicht rassistischen Einteilungen hatten für ihn, wie er in seinem Vortrag »The History of Anthropology« konstatierte, zu wenig Erklärungskraft, um die Unterschiede, die offensichtlich zwischen den verschiedenen Kulturen bestanden, theoretisch fundieren zu können. Den Anthropologen dürfe nicht länger eine »Supertheorie« – wie es die Evolutionstheorie darstellt – in seinen UntersuTheory« und »American Indian languages« (Kroeber 1969 ([1943]: 14). Das Seminar »Statistical Theory« verweist auf eine interessante Wende innerhalb der Sozialwissenschaften zu dieser Zeit, auf die in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen wird: den »Statistical Turn« (vgl. Camic/Xie 1994). 10 Regna Darnell operiert in ihrer Theorie noch immer mit der Vorstellung von revolutionären Ideen: »Great men with revolutionary ideas not only develop these ideas over long years; they also convince others of the validity of these ideas and develop an institutional and social structure for their implementation« (Darnell 1971c: 85). Meines Erachtens waren die Ansichten Boas’ nicht revolutionär. Er machte eher, ganz im Sinne Latours, neue Verknüpfungen, allenfalls Modellierungen der bereits vorhandenen Ideen.
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chungen anleiten; er müsse vielmehr, so wiederholt er seine wissenschaftliche Doktrin, die einzelnen Ethnien ohne jegliche Voreingenommenheit in ihrem Kontext – ganz im Sinne seiner kosmographischen beziehungsweise historischen Methode – untersuchen und sämtliche Aspekte der Anthropologie (Archäologie, Ethnologie, Linguistik, Körpervermessungen) miteinbeziehen. Die linguistischen Untersuchungen dienten Boas hierbei als Grundlage, um die objektive Datengewinnung zu garantieren.
»The Mind of Primitive Man« – Dissoziation alter Verbindungen »One of the chief aims of anthropology is the study of the mind under the varying conditions of race and of environment« (Boas 1901: 1). – Mit diesem Satz beginnt Franz Boas seinen Artikel, der die maßgeblichen Gedanken seiner Anthropologie beinhaltet. Der für das Boassche Wissenschaftsverständnis zentrale Aufsatz verbindet die wichtigsten im anthropologischen Denkkollektiv virulenten Konzepte wie »mind«, »race« und »language« neu und begründet den zukünftigen Sonderstatus der Linguistik der American Indian languages. Boas widmet sich in diesem Aufsatz einem Gegenstand, den er 1887 noch als zu komplex erachtet hatte, um als feste Erklärungsgröße für die Entwicklung der Menschheit zu dienen: dem »mind« (Boas 1887d: 589; vgl. auch »Induktion – das Maß aller Dinge«). Boas schließt mit dieser Auseinandersetzung an die von Brinton und Powell geführte Debatte, wie die mentalen Prozesse der Menschen zu konzipieren seien (vgl. »Linguistische Studien als Grundlage ethnologischer Forschung« und »›Psychic unity of mankind‹«), an und entwickelt ein Argumentarium, das die offensichtlich vorhandenen Unterschiede zwischen den Denkund Handlungsweisen verschiedener Ethnien jenseits rassistischer und biologistischer Begründungen erklären kann. Boas startet seinen Artikel mit der Vermutung,11 dass »the organization of mind is practically identical among all races of man; that mental activity follows the same laws everywhere, but that its manifestations depend upon the character of individual experience that is subjected to the action of these laws« (Boas 1901: 2). Für Boas funktioniert der menschliche Geist also nach bestimmten universellen Gesetzen. Die Erscheinungsformen des Geistes aber, die Denkweisen und Handlungen, 11 Barkan sieht in diesem egalitären Ansatz eine Grundvoraussetzung der anthropologischen Wissenschaft (1992: 81).
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setzt er in Abhängigkeit der individuellen Erfahrung des einzelnen, die wiederum abhängig sind vom Verfahren dieser Gesetze. Was heißt das genau? Boas geht zunächst davon aus, dass die kognitive Organisation Gesetzen folgt, die die Art und Weise, wie die einzelnen Menschen denken und handeln, determinieren (Boas 1901: 2, vgl. Hill/Mannheim 1992: 383). Diesen Gesetzen unterworfen sind: »the manner of discrimination between perceptions, the manner in which perceptions associate themselves with previous perceptions, the manner in which a stimulus leads to action, and the emotions produced by stimuli« (Boas 1901: 2). In einem zweiten Schritt zieht er die individuelle Erfahrung des einzelnen in sein Konstrukt mit ein. Der Großteil der menschlichen Erfahrung basiere, so Boas, auf oftmalig wiederholten Eindrücken. Ja, für ihn ist es ein grundlegendes psychologisches Gesetz, dass die »repetition of mental processes increases the facility with which these processes are performed, and decreases the degree of consciousness that accompanies them. The law expresses the well-known phenomena of habit« (Boas 1901: 2). Um seine Hypothesen der Einheit des Menschengeschlechts und damit der für alle Menschen in gleicher Weise wirkenden mentalen Prozesse zu beweisen, bedient sich Boas einerseits der theoretischen Aussagen von Theodor Waitz, der von einer Einheit der menschlichen Spezies ausgeht (vgl. Mackert 1993: 341), andererseits formuliert er eine enge Beziehung zwischen den sprachlichen Konzepten und der Abstraktionsfähigkeit des menschlichen Geistes. Grammatische Kategorien, die wir in jeder Sprache vorfinden, sind, so Boas, Beweis für die Fähigkeit der Sprecher, abstrakt zu denken: »A developed language with grammatical categories presupposes the ability of expressing abstract relations, and, since every known language has grammatical structure, we must assume that the faculty to forming abstract ideas is a common property of man« (Boas 1901: 4).12 Sicher, das gibt Boas auch zu, unterscheiden sich diese grammatischen Kategorien je nach Sprachfamilie: In indoeuropäischen Sprachen sei etwa die Kategorie zur nominalen Klassenbildung das grammatikalische Geschlecht; in andern Sprachen gäbe es Nominalklassifikationen nach semantischen Aspekten wie Belebtheit oder Material. Aber, so
12 Die Prozesse der Abstraktion sind, so Boas, in allen Sprachen dieselben. Darüber müsse nicht weiter diskutiert werden, außer man sei dazu geneigt, die Klassifikationssysteme unterschiedlich zu beurteilen – ein möglicher Hieb gegen Powells vorschnelle Bewertung.
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Boas: »It is […] clear, that every classification of this kind involves the formation of an abstract idea« (Boas 1901: 4).13 Boas hütet sich davor, diese unterschiedlichen Kategorisierungen beziehungsweise die Resultate dieser Abstraktionsprozesse einer Wertung zu unterziehen – Powell sowie Brinton hatten ja genau solche grammatische Prozesse zur Bewertungsgrundlage ihrer (rassistischen) Einteilungen des Menschengeschlechts verwendet (vgl. »Linguistische Studien als Grundlage ethnologischer Forschung« und »›Innere Form‹ – kulturelle Diversifikation – ›nationale Weltsicht‹«). Er widmet sich vielmehr der Frage, welchen Einfluss die »Denkgewohnheiten« auf die Formierung von Gedanken und Handlungen haben. Boas ist der festen Überzeugung, dass wir Menschen unsere Wahrnehmungen und auch unsere neuen Erkenntnisse immer in Abhängigkeit unserer bereits gemachten Erfahrungen interpretieren. Wir stützen uns auf Altbekanntes, Altbewährtes oder wie er es nennt: auf das »traditional material«, das uns zur Verfügung steht.14 Unterschiede zwischen den Handlungsweisen eines »primitiven Stammes« und denen der »zivilisierten Welt« sind also nur auf der Basis des ungleichen »traditionellen Materials« zu erklären: »When a new experience enters the mind of primitive man, the same process which we observe among civilized men brings about an entirely different series of associations, and therefore results in a different type of explanation« (Boas 1901: 7). Nur weshalb sich diese Erfahrungswerte trotz der gleichen Funktionsweise des menschlichen Geistes verschieden ausdifferenzierten, bleibt in dieser Argumentation noch offen. Boas’ Antwort: »[T]he wide differences between the manifestations of the human mind in various stages of culture may be due almost entirely to the form of individual experience, which is determined by the geographical and social environment of the individual« (Boas 1901: 11). Boas sieht in den geographischen und sozialen Umwelten, in denen die einzelnen Ethnien leben, einen Erklärungsansatz, um die genuin unterschiedlichen Traditionen zu begründen. Ein Volk, das in einer Eiswüste lebt, macht andere Erfahrungen, als Menschen auf dem europäi13 Damit kritisiert er implizit seine Zeitgenossen Herbert Spencer und Wilhelm Wundt, die beide den »primitiven Völkern« die Fähigkeit absprachen, abstrakt denken zu können (vgl. Mackert 1993: 341). 14 Michael Mackert (1993) versucht Boas’ Argument mit Theorien Herbert Spencers in Verbindung zu bringen, meines Erachtens zu Unrecht: Denn Boas nimmt hier letztlich sein Argument, das er in »On Alternating Sounds« vertreten hat, wieder auf (vgl. Cole 1999: 272f.; vgl. »Induktion – das Maß aller Dinge«).
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schen Kontinent. Die Umwelt wird auf diese Weise zu einer wichtigen analytischen Erklärungsgröße. Boas kritisiert in seinem Aufsatz »The Mind of Primitive Man« außerdem zwei im amerikanischen Denkkollektiv verankerte »Wahrheiten«. Als erstes verabschiedet er sich von der Vorstellung seiner Zeitgenossen, dass verschiedene Denk- und Handlungsweisen der Ethnien auf der Grundlage biologischer Divergenzen erklärt werden können. Für Boas ist die Variabilität der Körper- und Gehirnvermessungen in jeder Rasse so ausgeprägt, dass man nicht von einer rassentypischen Größe oder einem rassentypischen Gewicht eines Gehirns ausgehen kann15 – ein Argument, das er bereits 1894 in seinem Aufsatz »The Human Faculty as Determined by Race« (vgl. »Boas’ Durchbruch – mögliche Erklärungen«) vertreten hatte. Das Konzept »Rasse« verliert für ihn damit an Erklärungskraft. Zum zweiten distanziert er sich von der Idee, dass der Entwicklungsstand einer Kultur dem Entwicklungsstand der »Organisation des Geistes« gleichgesetzt werden kann (Barkan 1992: 82): »Culture is an expression of the achievements of the minds, and shows the cumulative effects of the activities of many minds. But it is not an expression of the organization of the minds constituting the community, which may in no way differ from the minds of a community occupying a much more advanced stage of culture« (Boas 1901: 11). Damit unterzieht er die Werteskala, welche die amerikanischen Anthropologen auf der Basis der unilinearen Evolutionstheorie etabliert hatten, einer weiteren Kritik: Den Wert, den sie ihrer Gesellschaft zuschrieben, sei nicht das Produkt eines logisch hergeleiteten, »objektiven«, rationalen Denkvermögens; vielmehr sei er ein Produkt, den sie in Abhängigkeit und auf der Grundlage ihres »traditional material« herstellten, das heißt aufgrund der Tatsache, dass sie in dieser so genannten zivilisierten Welt und in keiner anderen lebten: »[…] it is certainly conceivable that there may be other civilizations, based perhaps on different traditions and on a different equilibrium of emotion and reason, which are of no less value than ours, although it may be impossible for us to appreciate their values without having grown under their influence« (Boas 1901: 11). Der Kulturrelativismus ist etabliert. Boas ist sich durchaus bewusst, dass er von seinen Zeitgenossen (noch) nicht verlangen kann, dass sie die anderen Gesellschaften wie die eigene wertschätzten. Aber er fordert 15 »Boas concluded that from an anatomical perspective a basic equality of mental capacity exists among races« (Barkan 1992: 87).
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vom anthropologischen Forscher, dass er sich, um ein Verständnis für andere Kulturen entwickeln zu können, »entirely of opinions and emotions based upon the peculiar social environment into which he is born« lösen müsse: »He must adapt his own mind, so far as feasible, to that of the people whom he is studying« (Boas 1901: 1). Es ist diese Setzung einer relativistischen Position, die der Linguistik innerhalb der Anthropologie eine entscheidende Rolle zuwies und der linguistischen Anthropologie zur breiten Akzeptanz innerhalb des Denkkollektivs verhalf. Wie wir wissen, nahmen sprachwissenschaftliche Studien in der Erklärung der Diversität der Ethnien bereits bei Powell und bei Brinton eine Sonderrolle ein. Nur, so konstatiert Boas, hätten es beide versäumt, sich von Vorurteilen zu befreien, die sie in Abhängigkeit ihrer sozialen Position, ihres »traditional material«, der linearen Evolutionstheorie, konstituiert haben. Die unilineare Evolutionstheorie bedeutete für den Kulturrelativisten Boas ein Denkstil, der nicht länger allumfassende Gültigkeit beanspruchte; es galt, sich von ihm zu verabschieden.
Verabschiedung der linearen Evolution als universell gültige Erklärungsgrundlage Der Aufsatz »The History of Anthropology«, den Boas 1904 in der Zeitschrift »Science« veröffentlichte, diente ihm – aus heutiger Sicht – zu einer »whig interpretation« (vgl. »Geschichtsschreibung ›for the sake of the past‹«) der anthropologischen Disziplinengeschichte.16 Boas distanziert sich darin von einer naturwissenschaftlich gewendeten Anthropologie, die einer unilinearen Evolutionstheorie verpflichtet ist, und propagiert erneut die »historische Methode« – ein Phänomen in seiner Eigenart zu verstehen –, die er seit 1887 im amerikanischen Denkkollektiv zu etablieren versuchte (vgl. »Geographie? – Ethnologie!«). Die unilineare Evolutionstheorie und – damit verknüpft – der Glaube, dass jegliche menschliche Entwicklung auf die »germs of thought« (siehe »›Ancient Society‹ – theoretische Grundlage für das Bureau of Ethnology«) oder, wie Boas sie nennt, Elementarideen zurückzuführen sei, haben die Anthropologen, so Boas, innerhalb ihres Denkkollektivs
16 Regna Darnell schreibt zu recht, dass »[t]he article had to be written at that time […] to influence a development of the discipline which was already in progress. By singling out what was valid in the past, Boas was able to partially define both present and future« (Darnell 1971c: 88; vgl. auch Cole 1999: 285).
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fälschlicherweise zur unumstößlichen Wahrheit stilisiert. Für Boas ist diese Ansicht, »that one definite system can be found according to which all culture has developed, that there is one type of evolution from a primitive form to the highest civilization which is applicable to the whole mankind« (Boas 1904a: 516), wenig plausibel und stellt für ihn eine unverzeihliche Vereinfachung der Sachlage dar. Die Evolutionstheorie, seinen Kollegen als »generalizing method« zur Erklärung sämtlicher menschlicher Erzeugnisse dienend, fördere ein deduktives Wissenschaftsverständnis – ein Wissenschaftsverständnis, das seiner bevorzugten »historischen Methode« diametral entgegengesetzt war. Denn, egal, ob sich die Anthropologen mit Gebräuchen, Traditionen, Religionen oder mit den Körpern ihrer Untersuchungsobjekte befassten, immer ging es ihnen darum, die Grundlagen der Evolutionstheorie eines Darwins, Spencers oder Morgans zu bestätigen und die Phänomene in die vorgegebene, subjektive Werteskala, in welcher die zivilisierte Welt den höchsten Rang einnahm, einzuordnen. Die Etablierung dieser Werteskala durch die Evolutionstheoretiker widerspiegelte für Boas vornehmlich eins: ein subjektives Element, äußerst emotional in seinem Ursprung, »which leads us to ascribe the highest value to that which is near and dear us« (Boas 1904a: 515). Die Anthropologen müssten sich, wie er bereits in seinem Aufsatz »The Mind of Primitive Man« gefordert hatte, endlich ihrer »Culturbrillen« (Boas 1904a: 516) entledigen. Boas kritisiert nicht nur die einer unilinearen Evolutionstheorie verpflichteten ethnologischen Untersuchungen oder biologischen Analysen seiner Kollegen; er richtet seine Bedenken auch gegen die sprachwissenschaftlichen, evolutionstheoretisch begründeten Annahmen seiner Kollegen Hale, Brinton und Powell (vgl. Hymes 1976: 14; Hyatt 1990: 117). Sie alle gingen davon aus, dass Sprachstudien die einzige Möglichkeit seien, um eine adäquate Klassifikation der indigenen Völker vorzunehmen, womit sie eine direkte Abhängigkeit zwischen Sprache und Menschentypen auf der Grundlage evolutionstheoretischer Überlegungen konstruierten (vgl. »Klassifikation der American Indian languages«). Eine primitive Rasse spricht eine primitive Sprache; eine zivilisierte Sprache verweist auf einen zivilisierten Menschentypus. Um Missverständnissen vorzubeugen: Boas spricht sich nicht gegen die Vorstellung aus, dass es Verbindungen zwischen der gesprochenen Sprache und der Psychologie eines Volkes gibt. Er zitiert sogar Steinthal, der auf die »intimate ties between language and ethnic psychology« explizit hingewiesen hat, »who perceived that the form of thought is molded by the whole social environment of which language is part« (Boas 1904: 518; vgl. auch Joseph 2002: 51). Nur widerspricht es seiner 205
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Vorstellung von Wissenschaftlichkeit, eine Klassifikation von Ethnien auf dem Fundament von linguistischem Material durchzuführen. Denn die Resultate seiner empirischen Untersuchungen zeigen schließlich deutlich, dass »peoples genetically connected by language, or even the same in language, were found to be diverse in type, and people of the same type were found to be diverse in language« (Boas 1904a: 518). Boas rückt in seinem Aufsatz vom unilinearen evolutionstheoretischen Konzept, das für ihn absolut unglaubwürdig geworden ist, ab und verlangt nunmehr eine empirische Revision (Cole 1999: 265): »The grand system of the evolution of culture, that is valid for all humanity, is losing much of its plausibility. In place of simple line of evolution there appears a multiplicity of converging and diverging lines which it is difficult under one system. Instead of uniformity the striking feature seems to be diversity. […] The brilliant theories in which the whole range of problems of a science appears simple and easily explorable have always preceded the periods of steady empirical work which make necessary a complete revision of the original theories and lead through a period of uncertainty to a more strictly inductive attack of the ultimate problems. So it is with anthropology. Later than the older sciences it has outgrown the systematizing period and is just now entering upon the empirical revision of its theories« (Boas 1904a: 522).
Boas, dessen Worte in eigentümlicher Manier an Kuhns Ausführungen von 1962 erinnern (vgl. »Inkommensurabilität – Kuhns essentialistische Beschreibung von Wissenschaft«), gibt am Schluss seines Aufsatzes zu bedenken, dass die Anthropologen verpflichtet seien, sich mit Domänen auseinander zu setzen, mit denen sich bis jetzt keine andere Wissenschaft habe beschäftigen wollen: mit der biologischen Geschichte der Menschheit in all ihren Varietäten, der Linguistik, die sich den Sprachen ohne Schriftkultur widmet, mit der Ethnologie der Völker, die keine historischen Zeugnisse besitzen, und schließlich mit der prähistorischen Archäologie. Obwohl man vermuten dürfe, dass die ersten beiden Bereiche bald Gegenstand der biologischen beziehungsweise der linguistischen Wissenschaft werden (vgl. auch Hymes 1970: 255), müsse der zeitgenössische Anthropologe mit der biologischen, linguistischen und ethnologisch-archäologischen Methode vertraut sein. Denn das ultimative Ziel der Anthropologie sei es, »to make us understand the roots from which our civilization has sprung, that it impresses us with the relative value of all forms of culture, and thus serves as a check to an exaggerated valuation of the standpoint of our own period, which we are only too liable to consider the ultimate goal of human evolution, thus depriving ourselves of the benefits to be gained from the teachings of
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other cultures and hindering an objective criticism of our own work« (Boas 1904a: 524).
Boas wird im Laufe seiner Karriere in verschiedenen Aufsätzen seine Kritik an der unilinearen Evolutionstheorie und seine Überlegungen zur kulturrelativistischen Position weiterführen (Boas 1908; Boas 1911b). So schreibt er noch im selben Jahr im »Journal of American Folk-Lore« seinen Aufsatz mit dem Titel »Some Traits of Primitive Culture«, der das Vorurteil zu widerlegen sucht, dass nur der zivilisierte Geist als rational bezeichnet werden könne. Diese Aussage sei, so reflektiert Boas, ebenso eine Frage des Standpunktes. Denn: »To the mind of primitive man, only his own associations can be rational. Ours appears to him just as heterogeneous as his to us, because the bond between the phenomena of the world, as it appears after the elimination of their emotional associations, which is being established with increasing knowledge, does not exist for him, while we can no longer feel the subjective associations that govern his mind« (Boas 1904b: 253; vgl. auch Benedict 1969 [1943]: 27).
Und 1911 konsolidiert er seine anti-rassistischen Ansichten in seiner Monographie mit dem gleichnamigen Titel »The Mind of the Primitive Man«, in der er seine kulturrelativistischen Argumente wiederholt in der Hoffnung, dass die Amerikaner »learn to look upon foreign races with greater sympathies« (Boas 1911b: 24).17
Linguistische Forschung – entscheidendes Instrument zur Gewährleistung wissenschaftlicher Objektivität Nur die Frage bleibt offen: Wie ist es möglich, sich den eigentlichen Charakteristika anderer Kulturen anzunähern?18 Ist man nicht immer, wie Boas selbst schreibt, in seinen Interpretationen abhängig von den »bias based on the group of ideas that constitute the civilization in which [one] lives« (Boas 1901: 1)? Boas ist sich der Problematik bewusst und
17 »The Mind of Primitive Man consisted largely of essays published years before, rearranged, partly rewritten, and brought together between covers« (Degler 1989: 3; vgl. auch Hyatt 1990: 113ff.). 18 Die Frage erinnert an die Ausführungen bezüglich der Relativität der eigenen Forschungsposition, erläutert im Kapitel »Analytische Präliminarien«, was nicht weiter verwundert. Benjamin Lee Whorf stützte sich in seinen theoretischen Ausführungen auf die Schriften Edward Sapirs, einem Schüler Franz Boas’ ab.
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weiß, dass es nicht genügen kann, sich der eigenen Voreingenommenheit zu entledigen (siehe »›The Mind of Primitive Man‹ – Dissoziation alter Verbindungen«; vgl. auch Wax 1956). Auch wenn der Forscher noch so erfolgreich ist, vorurteilslos, frei von eigenen Weltkonzepten auf die zu erforschenden Individuen zuzugehen, trifft er in der konkreten Situation der Feldforschung ebenfalls auf Personen, die selbst wiederum eingebunden sind in ihre eigene vertraute soziale Umgebung, in der nur die eigenen Konzepte die zweck- und sinnvollsten sind. Traditionen, Gebräuche, Glaubenssysteme etc. werden in einer Gesellschaft in der Regel nicht kritisch hinterfragt und schon gar nicht reflektiert. Sie sind eine Selbstverständlichkeit. Will der Forscher etwas über diese Wirklichkeitskonstruktionen erfahren, ist er angewiesen auf Interpretationen, die, so Boas, letztlich nichts anderes sind, als Spekulationen: »With the moment that activities and thoughts rise into consciousness they become the subject of speculation; and for this reason the peoples of the world, primitive as well as more advanced, are ever ready to give explanations of their customs and beliefs. The importance of the constant occurrence of such secondary explanations cannot be overrated. They are ever present. The investigator who inquires into the history of institutions and of customs will always receive explanations based on such secondary interpretation, which, however, do not represent the history of the custom or belief in question, but only the results of speculation in regard to it« (Boas 1908: 24).
Diese »sekundären Rationalisierungen«, die gemäß Boas letztlich eine Elizitierung objektiver ethnologischer Daten verunmöglichten, ließen ihn der Sprachwissenschaft eine neue, gewichtigere Funktion innerhalb der Anthropologie zuschreiben, 19 eine Funktion, die Roman Jakobson 1944 als »one of the most daring, most fertile and innovatory ideas ever uttered by Boas« (Jakobson 1944: 189) bezeichnete. Bis anhin dienten Boas die linguistischen Untersuchungen vor allem dazu, Verbindungen beziehungsweise Verwandtschaften zwischen Dialekten und Sprachen nachzuweisen (Darnell 1998: 184; Stocking 1974b; 19 Letztlich sind die sekundären Rationalisierungen eine Weiterführung seiner Theorie, dass Erklärungen nur in Abhängigkeit des eigenen traditionellen Materials gefunden werden können. Die Wahrnehmung ist gesteuert durch die eigenen Erfahrungen: »Boas throughout his long career, defined the ultimate problems of anthropology as psychological. His successive interests in physics, geography and ethnology were integrated by his persistent concern with the nature of perception and its implications for successful scientific experimentation. Every anthropologist is concerned with how to evaluate informants’ actions and judgments« (Darnell 1971c: 88).
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vgl. »Differenzierung des Boasschen linguistischen anthropologischen Forschungsprogramms«) oder Kritik an den Forschungsmethoden und gesammelten Daten seiner Kollegen zu üben. Sein Aufsatz »On Alternating Sounds« von 1889 war letztlich nichts anderes als ein Versuch, die eigene kulturelle ›Beschränktheit‹ zu reflektieren, ein Versuch aufzuzeigen, dass die linguistischen Transkripte der American Indian languages immer in Abhängigkeit von den Perzeptionsgewohnheiten der Forschenden verfasst worden waren (vgl. »Induktion – das Maß aller Dinge«). Diese Eingrenzung der Funktion linguistischer Forschung sollte sich entscheidend verändern. An dem am 28. Dezember 1905 stattfindenden Gemeinschaftstreffen der American Anthropological Association mit dem Archaeological Institutute und der Philological Association nahm Boas die Gelegenheit wahr, sein anthropologisches Wissenschaftskonzept vorzustellen, in der Hoffnung, neue Verbündete zu gewinnen. Denn die Kooperation der Gesellschaften, so beginnt Boas seinen Vortrag, zeuge von einem »radical change« (Boas 1906: 641) innerhalb der Anthropologie: Die historische, induktiv operierende Methode habe endlich Einzug gehalten und die sich der Naturwissenschaft verpflichteten Konzepte der Evolutionstheorie annähernd verdrängt. Es gelte nun, »a much more thorough and detailed knowledge of primitive culture« (Boas 1906: 642) zu erzeugen und sich nicht länger auf Fragmente abzustützen. Nur wie kommt man zu diesem Wissen? Boas erklärt das bis anhin gesammelte anthropologische Material kurzerhand für wertlos. Bei allen bisherigen Aufzeichnungen, die mit Hilfe von »interpreters« (Boas 1906: 642) angefertigt worden seien, handle es sich um »sekundäre Rationalisierungen«, kurz: um Spekulationen (Mackert 1993: 344). Um einwandfreies, wissenschaftlichen Kriterien genügendes Datenmaterial zu gewinnen, müssten sich die Feldforscher endlich die American Indian languages aneignen,20 um zu verstehen »what the people whom they study speak about, what they think, and what they do« (Boas 1906: 642). Boas ging es nicht nur darum, neu elizitiertes Datenmaterial unabhängig von den sekundären Zuschreibungen der Interpreten anzufertigen; es ging ihm maßgeblich um die Begründung einer geeigneten Me-
20 »Boas […] was firmly convinced that all anthropologists should do linguistics, because of its centrality to the study of culture itself« (Darnell 1990a: 130). Boas sprach übrigens nie eine der American Indian languages fließend (Cannizzo 1983: 47).
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thode, um das Kernproblem der sekundären Rationalisierungen in den Griff zu kriegen. Er war der festen Überzeugung, dass nur die Untersuchung der linguistischen Besonderheiten der American Indian languages, der grammatischen Kategorien, objektive Aussagen über die authentischen Denk- beziehungsweise Handlungsweisen verschiedener Ethnien gewährleistete (Hill/Mannheim 1992: 385). Die Sprache, genauer: die grammatischen Kategorien, sind deshalb für die Anthropologen von größter Bedeutung, weil sie den Sprecherinnen und Sprechern nicht unmittelbar bewusst sind. Sie verhelfen den Wissenschaftlern, die diese grammatischen Kategorien in einer sorgfältigen linguistischen Analyse zu entdecken versuchen, zu einem klareren Verständnis der ethnischen Besonderheiten. Denn in jeder Sprache, so Boas, ist eine ihr eigene Interpretation der Welt enthalten, die – von einer anderen Sprache aus gesehen – willkürlich ist. Diese Klassifikationen, diese sprachlichen Phänomene ermöglichen es den Forschern deshalb, ›objektive‹ Erkenntnisse über eine fremde Kultur zu gewinnen. Aus diesem Grund darf auch nicht auf eine Beteiligung der Philologen verzichtet werden – eine »philological accuracy of the record« (Boas 1906: 643) war in den Augen Boas’ eine absolute Notwendigkeit für die zukünftige anthropologische Forschung. Ende 1907, in einem Vortrag mit dem Titel »Anthropology« an der Columbia University, nimmt er diesen Kerngedanken nochmals auf und begründet die Sonderstellung der Linguistik explizit: »The study of language promises to point the way in which many of our problems may find their solution. […] the languages of primitive tribes are, on the whole complex, and differentiate nicely between categories of thought. It is very remarkable to find that these categories of thought, which have been discovered only by an analytical study of the languages, and which are unknown to the speakers of these languages, although they are constantly used, coincide with categories of thought which have been discovered by philosophers. It would be possible to find in the languages of primitive people grammatical forms corresponding to a variety of philosophical systems; […] We infer from these linguistic facts that the categories of thought, and the forms of action, that we find among a people, do not need to have been developed by conscious thought, but that they have grown up owing to the fundamental organization of the human mind. Linguistic evidence is of such great value, because grammatical categories and forms have never risen into the consciousness of the speaker, while in almost all other ethnological phenomena people have come to observe what they think and what they do« (Boas 1908: 23f.).
Nur die grammatischen Formen erlauben einen »objektiven« Zugang zu den Denkkategorien einer einzelnen Sprachgemeinschaft. Auf diese 210
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Weise etabliert Boas die Sprachwissenschaft als ein geeignetes Analyseinstrument für eine der grundlegenden Fragen der Anthropologie, der Frage nach den unterschiedlichen Denkkategorien der menschlichen Spezies. Vier Jahre später, 1911, veröffentlicht Franz Boas sein »Handbook of American Indian Languages«. Es handelt sich um eine Weiterführung der von John Wesley Powell vorgenommenen Klassifikation der American Indian languages von 1891 unter Berücksichtigung der neuen Erkenntnisse (Darnell 1998: 182; Anderson 1985: 201f.), die Boas seit der Jahrhundertwende im amerikanischen Denkkollektiv zu festigen verstand. Das Handbuch kann als Konsolidierung der linguistischen Grundsätze der von Boas fundierten Anthropologie interpretiert werden.
» H a n d b o o k o f Am e r i c a n I n d i a n l a n g u a g e s « – Ko n s o l i d i e r u n g d e r l i n g u i s t i s c h e n Anthropologie Herausgeber: Bureau of American Ethnology Boas’ »Handbook of American Indian languages« erschien 1911 als vierzigstes Bulletin des »Bureau of American Ethnology«. Die Entstehungsgeschichte des Handbuchs reflektiert einerseits die Festigung von Boas’ Macht innerhalb des amerikanischen anthropologischen Denkkollektivs, andererseits die Etablierung eines »American Indian linguistics establishment« (Stocking 1974a: 259). Franz Boas, der seit Mitte der 1890er eine enge, wenn auch nicht immer freundschaftliche Beziehung zum Bureau of American Ethnology pflegte, plante etwa seit dieser Zeit21 die Veröffentlichung eines systematischen Überblicks über die American Indian languages, die – aus heutiger Sicht ein Gemeinplatz – die »Charta« (Stocking 1974a: 454;
21 Wann die eigentliche Arbeit genau anfing, bleibt unklar. Boas selbst setzt den Beginn Mitte der 1890er Jahre mit der Begründung, dass Powells »Introduction to the Study of Indian languages« vergriffen und auch nicht mehr den Kriterien der professionellen linguistischen Feldarbeit genügte. Fakt aber ist, dass Boas noch 1898 zwei Exemplare für die eigenen Feldforscher beim Büro verlangte und auch erhielt. Ein anderes Indiz ist ein Brief, der beinhaltet, dass Powell einige größere linguistische Projekte plante, die Boas unternehmen sollte (Stocking 1974a: 457).
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Emeneau 1968 [1943]: 35) der amerikanisch-indianischen Linguistik werden sollte. Die erste schriftliche Erwähnung des Projektes findet sich in einem Brief Boas’ an McGee, in dem er konstatiert, dass er nun endlich »a sufficient number of young men« ausgebildet habe, »to make it possible to take up work of this kind [Publikation eines Handbuchs über die North American languages, Anm. J. H.] systematically« (Boas an McGee, 4. April 1901, zitiert nach Stocking 1974a: 457f.). In Zusammenarbeit mit dem American Museum of Natural History, der Columbia und Harvard University sowie der University of California sei es möglich, das Projekt innerhalb von fünf bis sechs Jahren fertig zu stellen. McGee stand hinter Boas’ Plänen und stellte ihn 1901 als »honorary philologist« im Büro ein (Stocking 1974a: 458; Kroeber 1969 [1943]: 16). Nach dem Tod Powells, 1902, erlitt nicht nur das groß angelegte Projekt einen empfindlichen Rückschlag. Das Büro selbst verlor seine Vorreiterrolle innerhalb des anthropologischen Denkkollektivs endgültig. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend: Erstens büßte die evolutionäre Synthese, die Powell zum eigentlichen Programm des Büros erhoben hatte, an Relevanz ein (siehe »Boas’ Durchbruch – mögliche Erklärungen«). Gefragt waren in der akademischen Welt nunmehr (siehe »University Movement«), ganz im Sinne Boas’, detaillierte Einzelstudien, neue Erkenntnisse, die nicht länger nur die »Wahrheiten« der Supertheorie reproduzierten.22 Zweitens veränderten sich die Beziehungen zur Regierung, dem Geldgeber des Bureau of American Ethnology. Die Publikationen des Bureau of American Ethnology rechtfertigten in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Assimilierungs- und Zivilisierungspolitik der amerikanischen Regierung (vgl. »American Indians and ›The Great Father‹«). Kurz vor dem Tode Powells stellten die Vereinigten Staaten ihre lange Tradition des amerikanischen Isolationismus in Frage und definierten ihre nationalen Ambitionen der USA als Weltmacht neu. Die in Reaktion auf diese neue Ausrichtung unternommenen Versuche des Büros, ihre Forschung nicht nur auf den amerikanischen Kontinent zu beschränken, um ihre beratende 22 Boas machte Powell selbst für den Niedergang des Instituts verantwortlich. Powell, der sich auf die linguistischen Untersuchungen beschränkte, habe es verpasst, sich mit anderen anthropologischen Methoden, die der Regierung zum Vorteil hätten gereichen können, zu beschäftigen. »Powell’s wellknown antipathy to physical anthropology had kept the BAE from the developing into the ›ethnological survey‹ of Americans – including blacks, mestizos, and mulattoeas – that Boas foresaw« (Hinsley 1979: 26; Darnell 1998: 43).
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Funktion der Regierung beizubehalten, scheiterten kläglich (Darnell 1971c: 95f.). Immerhin: Die laufenden Projekte fanden auch nach dem Tode Powells eine Fortsetzung. Als neuen Leiter des Bureau of American Ethnology bestimmte der Sekretär der Smithsonian Institution Samuel P. Langley (1834-1906) den Archäologen William Henry Holmes (18461933)23 – und nicht etwa McGee, wie die Mitarbeiter des Instituts erwartet hatten. Boas’ persönliche Beziehungen zu Holmes waren, gelinde gesagt, distanziert.24 McGee, den Boas öffentlich unterstützt hatte,25 hätte eine Kontinuität der linguistischen Arbeiten garantiert (Hinsley 1979: 28). Unter der neuen Führung musste der »honorary philologist« bedeutende finanzielle Kürzungen für seine Projekte in Kauf nehmen und erneut Überzeugungsarbeit leisten.26 Erst Ende des Jahres 1903 genehmigte der neue Leiter die überarbeiteten und spezifizierten Pläne Boas’. Die linguistischen Feldforschungen, die für die Publikation des Handbuchs notwendig waren, konnten endlich beginnen. Boas berücksichtigte bei seiner Wahl von Feldforschern nur Personen, die eine akademische linguistische Ausbildung genossen hatten; beschäftigte also nur Studierende (Stocking 1974a: 457; Murray 1993: 51), die er von seinen eigenen, an der Columbia University angebotenen, sprachwissenschaftlichen Seminaren kannte. Missionare, die bis anhin in den Diensten des Bureau of American Ethnology gestanden waren, aber, so Boas, über kein philologisches Grundlagenwissen verfügten, schloss
23 Details zu den Nachfolgequerelen Powells finden sich in Cole (1999: 237ff.), McVicker (1990: 5), Hinsley (1981: 251). 24 Nicht Boas, sondern Holmes erhielt 1894 die Kuratorenstelle am Field Columbian Museum in Chicago (vgl. »Historischer, individualistischer Ansatz in Verbindung mit physikalischer Anthropologie«). 25 Boas nahm 1902 in einem offenen Brief, publiziert in der Zeitschrift »Science«, Stellung (Boas 1902; vgl. auch Hyatt 1990: 77f.). In einem Brief an McGee schrieb er am 3. August 1903: »[…] to give you no opportunity to develop your own plans after Powell’s death was a great injustice« (Franz Boas Papers). 26 Der Brief Holmes’ an Boas weist auf Boas’ Überzeugungsarbeit hin. »My dear Dr. Boas:- Your note of May 1st reached this office during my absence in the south, and your letter of ay 9th containing a statement of your plans for the ›Introduction to American Languages‹ is now at hand. I have glanced it over and have submitted it to McGee and we are agreed that the scheme is an excellent one and that the work should be completed and published at an early date. The question of allotting funds to aid in this work cannot be considered for the present, but we will make every effort to aid you. Sincerely yours, W.H. Holmes Chief« (16. Mai 1903, Franz Boas Papers).
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er systematisch aus. Damit kontrollierte er ein kleineres »invisible college« und legte fest, wer zum »American Indian linguistics establishment« gehörte und wer nicht. Nicht in das Projekt miteinbezogen waren etwa: der langjährige Mitarbeiter des Bureau of American Ethnology Albert Gatschet, der aus der Sicht Boas’ noch zu sehr der von Powell propagierten unilinearen Evolutionstheorie verpflichtet war; John Napoleon Brinton Hewitt (18591937), »a slightly eccentric part-Tuscarora Indian« (Stocking 1974a: 459f.), der nicht das von Boas geforderte Material produzierte; Alexander F. Chamberlain, der erste Doktorand Boas’ an der Clark University, den Boas schlicht als unfähig bezeichnete, linguistische Studien sorgfältig durchzuführen; H. H. St. Clair, der nicht, »regularly on the progress of his work« (Stocking 1974a: 460) berichtete, weswegen Boas ihn kurzerhand entließ (Darnell 1998: 187ff.). Sogar die Arbeiten seines ersten Ph. D.-Studenten an der Columbia University Alfred L. Kroeber (19761960), der eine eigenständige Publikation der kalifornischen Sprachen ohne Boas’ Einbindung plante, erachtete Boas als »not quite satisfactory« (Boas an Hodge, 7. Februar 1910, zitiert nach Darnell 1998: 188) (siehe »Alfred L. Kroeber und die University of California«). In die erste amerikanisch-indianische Sprachwissenschaftsgilde hingegen aufgenommen waren: seine vier Doktoranden Edward Sapir (1884-1939) (sein aus Boas’ Sicht exzellenter Beitrag zur TakelmaSprache wird allerdings erst im zweiten Band abgedruckt, weil er der Boasschen Standardisierung nicht entsprach27), John Swanton (18371958) (Dakota, Tlingit und Haida), Williams Jones (1871-1909) (Fox) und William Thalbitzer (1873-1930) (Eskimo) sowie Pliny Earle Goddard (1869-1928) (Hupa), der sein Doktorat an der University of Cali-
27 Das Handbuch unterteilt sich in insgesamt vier Bände. Das erste erschien 1911, das zweite 1922. Der zweite Band umfasst die Beiträge von Edward Sapir (Takelma), Leo Frachtenberg (1883-1930) (Coos und Lower Umpqua) und Waldemar Bogoras (1865-1936) (Chukchee). Das dritte, das aufgrund der finanziellen Kürzungen des Büros bei der Columbia University Press zwischen 1933 und 1938 erschien, beinhaltet Tonkawa, verfasst von Harry Hoijer (1904-1976), Quileute von Manuel J. Andrade (1885-1942), Yuchi von Gunter Wagner, Zuni von Ruth Benedict (1887-1948) und Couer d’Alene von Gladys Reichard (1893-1955). Volume 4, das 1941 publiziert worden ist, beinhaltet eine einzige Grammatik: Tunica von Mary Haas (1910-1996) (vgl. auch Kroeber 1969 ([1943]: 16). Das Handbuch, das eine linguistische Untersuchung der Psychologie sämtlicher Völker der Welt plante, war ein sehr ambitioniertes Programm und konnte in dieser von Boas vorgesehenen Art und Weise nicht realisiert werden (vgl. Haas 1976: 60; Mackert 1993: 334).
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fornia absolvierte, Roland B. Dixon (1875-1934) (Maidu), der seine Doktorarbeit bereits bei Boas verfasst hatte und nun Mitglied der Harvard Fakultät war, und schließlich Truman Michelson (1879-1938) (Fox), Philologe des Bureau of American Ethnology und ab 1917 Professor für Ethnologie an der George Washington University, Washington (Darnell 1998: 182; MacCurdy 1919: 51). Boas verpflichtete mit dieser Auswahl Forscher, welche die Daten so elizitierten, wie er es forderte. Sie übernahmen das von Boas standardisierte Format der grammatischen Beschreibungen (Darnell 1990a: 129) telquel und trauten ihm auch die eigenen Arbeiten blind zur allfälligen Überarbeitung an. Boas selbst veränderte die eingereichten »illustrative sketches« kaum. Seine Rolle als Herausgeber, will man Stocking folgen (Stocking 1974a: 464; Darnell 1998: 183), beschränkte sich lediglich auf die Uniformierung einer einheitlichen Titelsetzung und Darstellung der Texte, »a uniform method of treatment, without, however, sacrificing the individual conception of each investigator« (Boas 1911a: 81). Boas’ wichtigster Beitrag war die Einführung des »Handbook of American Indian languages«.
»The Characteristics of Language« Boas’ Einführung in das Werk »Handbook of American Indian Languages« konsolidierte die Boassche Linguistik. Franz Boas fasste in diesem Text die in den letzten Jahren formulierten Überlegungen zu Rasse, Kultur und Sprache zusammen und schuf somit eine wissenschaftliche Grundlage, auf der sich die zukünftigen linguistischen Untersuchungen abstützten. Franz Boas beginnt in seiner Einführung, wie schon oft, mit den in der Forschung vorhandenen Leitsätzen, konfrontiert diese mit neueren empirischen Daten und entlarvt sie als falsch, das heißt, er macht deutlich, dass eine »revision of its theories« (Boas 1904a: 522) für den wissenschaftlichen Fortschritt gefordert sei. Sein erstes Kapitel der »Introduction« trägt den Titel »Race and Language«. Das Konzept »Rasse« hatte auch 1911 im amerikanischen Wissenschaftskontext nicht an Erklärungskraft verloren; noch immer gab es etliche naturwissenschaftlich ausgerichtete Theorien, die von einer Einteilung der Menschentypen auf der Grundlage rassistischer Kategorien ausgingen (Barkan 1992: 67 & 75; Hyatt 1990: 117; Voegelin 1952: 439). Boas musste sich folglich dieser wissenschaftlichen Kategorie annehmen, wollte er sich im amerikanischen Wissenschaftskollektiv Gehör verschaffen.
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Boas interessiert sich im ersten Abschnitt seiner Einführung für die Klassifikationen, die Korrelationen zwischen den wissenschaftlichen Kategorien »Psychical Type«, »Language« and »Customs« (Boas 1911a: 7) herzustellen versuchen – ein Gegenstandbereich, mit dem er sich bereits in seinem Aufsatz »The History of Anthropology« von 1904 beschäftigt hatte (Boas 1904a). Klassifikationen, die gleichförmige Entwicklungen zwischen Rasse und Sprache, Rasse und Kultur oder Sprache und Kultur zu begründen versuchten, sind aus seiner Sicht nie konsistent:28 »Anatomical type, language, and culture have not necessarily the same fates; […] a people may remain constant in type and language and change in culture, […] they may remain constant in type, but change in language; or […] they may remain constant in language, and change in type and culture. If this is true, then it is obvious that attempts to classify mankind, based on the present distribution of type, language, and culture, must lead to different results, according to the point of view taken« (Boas 1911a: 11).
Jede Klassifikation der Menschheit sei letztlich eine Konstruktion, die in Abhängigkeit eines ganz bestimmten Standpunktes vorgenommen werde, kurz: ein artifizielles Produkt (Boas 1911a: 14). Wolle man eine Lösung auf die Frage finden, weshalb sich die Ethnien so unterschiedlich ausdifferenziert haben, müsse man die Entwicklungsgeschichte der Rassentypen, der Sprachen und der Kulturen je einzelnen rekonstruieren – ein Vergleich sei ansonsten schlicht unmöglich. Im zweiten Kapitel »The Characteristics of Language« widmet sich Boas den »essential traits of human speech« (Boas 1911a: 15) und wiederholt seine Kernideen seiner Vorlesung »Anthropology« von 1907: Für Boas, den »self-taught linguist« (Darnell 1990a: 129), ist die Sprache eine der wichtigsten Manifestationen des geistigen Lebens überhaupt. In jeder Sprache finde man eine ihr eigene Klassifikation der Welt. Diese Kategorisierungen, diese »grammatical categories« geben den Forschern Einsichten in deren Kultur (Jakobson 1944: 189; Hymes 1970: 256; Emeneau 1968 [1943]: 36; Anderson 1985: 202f.). Die Sprache wird damit zu einem der »most instructive fields of inquiry in an investigation of the formation of the fundamental ethnic ideas« (Boas 1911a: 70, zur Diskussion der sekundären Rationalisierungen vgl. 67ff.).
28 Boas löste sich von der Vorstellung, dass in der Sprache und deren Organisiertheit ein Bezug zur Zivilisiertheit der Sprache gemacht werden konnte (vgl. Murray 1993: 60).
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Boas entwickelt in seinem »Handbook of American Indian languages« auf der Grundlage der von ihm so angenommenen, für alle Menschen gleichen Gesetze der geistigen Prozesse ein Konzept, das die Relation zwischen den grammatischen Kategorien und den »mental images« wiedergibt. Er geht davon aus, dass in jeder Sprache nicht nur eine beschränkte Anzahl von Lauten (Boas 1911a: 15f.), sondern auch eine limitierte Zahl von phonetischen Gruppen – heute würden wir vereinfacht von Morphemen sprechen – vorhanden ist.29 Diese dienen dazu, bestimmte »ideas« auszudrücken. Da die menschlichen Erfahrungen an sich unbegrenzt sind, und diese dennoch, um sie überhaupt sprachlich zu vermitteln, in einer beschränkten Anzahl von phonetischen Gruppen ausgedrückt werden müssen, schließt Boas, dass eine umfassende Klassifikation aller Erfahrungen der Sprache zugrunde liegen muss. Nehmen wir zur Veranschaulichung ein Beispiel. Die grammatikalische Form, der einzelne s-Laut, der im Englischen an ein Stammmorphem gehängt wird, drückt einerseits die »idea of plurality« aus, findet aber auch Verwendung als »possessive, and third person singular of the verb« (Boas 1911a: 24). Die grammatikalischen Funktionen dieses Suffixes sind der Sprecherin und dem Sprecher in der Regel nicht bewusst, sind ein Resultat einer linguistischen »secondary analysis« (Boas 1911a: 24). Die »Ideen«, die durch eine spezifische phonetische Gruppe ausgedrückt werden, zeigen je nach Sprache große materielle Differenzen; sie befolgen in keiner Weise dieselben Klassifikationsprinzipien: Boas’ Beispiel: Im Englischen finden wir für die Idee »Wasser« verschiedene einzelne Wörter:30 »[T]he idea of WATER is expressed in a great variety of forms: one term serves to express water as LIQUID; another one, water in the form of a large expanse (LAKE); others, water as running in a large body or in a small body (RIVER and BROOK); still other terms express water in the form of RAIN, DEW, WAVE, and FOAM. It is perfectly conceivable that this variety of ideas, each of which is expressed by a single independent term in English,
29 Roman Jakobson dazu: »This two-sided selection converts foreign bodies into linguistic values; it creates fixed PHONEMIC units from the sound matter and fixed SEMANTIC units from the conceptual matter« (Jakobson 1944: 190). 30 Als Wort definiert Boas »a phonetic group which, owing to its permanence of form, clearness of significance, and phonetic independence, is readily separated from the whole sentence« (Boas 1911a: 28).
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might be expressed in other languages by derivations from the same term« (Boas 1911a: 25).
Um ein Exempel zu geben, in dem die Begriffe, die wir im Englischen mit einzelnen Wörtern bezeichnen, unter ein grammatisches Konzept zusammengefasst werden, bedient sich Boas der Dakota-Sprache: »The terms naxta’ka to KICK, paxta’ka TO BIND IN BUNDLES, yaxta’ka TO BITE, ic’a’xtaka TO BE NEAR TO, boxta’ka TO POUND, are all derived from the common element xtaka TO GRIP, which holds them together, while we use distinct words for expressing the various ideas« (Boas 1911a: 25f.). Selbstverständlich gestalte sich die Bestimmung dieser sprachlichen Einheiten, die sekundäre Analyse, nicht einfach. In den indoeuropäischen Sprachen habe man sich auf die Unterscheidung zwischen den »materiellen Inhalten« eines Satzes – Gegenstand der Lexikographie – und den »modifizierenden Elementen« – Gegenstand der Grammatik – einigen können. In den amerikanisch-indianischen Sprachen könne diese Demarkationslinie zwischen Lexikographie und Grammatik nicht immer aufrechterhalten werden. Die Anzahl der modifizierenden Elemente, die in den formalen Kompositionen Verwendung finden, könne so groß sein, argumentiert Boas, dass es zweifelhaft werde, welches Element zur limitierten Zahl von phonetischen Gruppen, die dazu dienen, bestimmte Ideen auszudrücken, gehöre, und welches Element zur fast unbegrenzten Anzahl von Wörtern, zum Vokabular gerechnet werden müsse. Die von Sprachwissenschaftlern analysierten grammatischen Kategorien (Geschlecht, Plural, Kasus, Tempus, Pronomen etc.) beanspruchen also in keiner Weise Gültigkeit für die amerikanisch-indianischen Sprachen. Diese Ausführungen implizieren, so Boas, dass in jeder Sprache nur ein bestimmter Teil des ganzen (Welt-)Konzeptes, das wir als Mensch im Geist haben, ausgedrückt wird. Und jede Sprache habe eine eigentümliche Tendenz, diesen oder jenen Aspekt als »mental image« auszuwählen. Um noch ein Beispiel Boas’ zur Verdeutlichung heranzuziehen: Wenn wir den Ausdruck The man is sick betrachten, äußern wir in diesem englischen Satz die Idee a definite single man at present sick aus. In der Kwakiutl-Sprache drücke dieser Satz »in the vaguest possible form that could be given to it«, so argumentiert Boas vorsichtig, die Idee definite man near him invisible sick near him invisible aus. (Boas 1911a: 43). Grammatische Kategorien sind somit, folgen wir Boas, eine Selektion dessen, was wir im Geiste als »complete concept« vorfinden, eine Klassifikation sämtlicher Erfahrungen, die ein Mensch machen kann.
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Für Boas ist es offensichtlich, dass die Selektion solcher einfacher Begriffe zu einem gewissen Ausmaß abhängig von den Hauptinteressen eines Volkes ist. Boas’ Schlussfolgerung lautet denn auch: »Thus, it appears that […] the study of language must be considered as one of the most important branches of ethnological study, because […] the fundamental concepts illustrated by human languages are not distinct in kind from ethnological phenomena; and because, further more, the peculiar characteristics of languages are clearly reflected in the views and customs of the peoples of the world« (Boas 1911a: 43).
Einige der grammatischen Konzepte, die wir in den unterschiedlichen Sprachen vorfinden, decken sich, andere lassen sich nicht einmal vergleichen. Damit werden die »categories of thoughts«, die im unbestechlichen Medium der Sprache aufzufinden sind und je nach individueller Erfahrung sowie geographischer und sozialer Umgebung divergieren, fundamentale Differenzierungsgröße für die Unterscheidungen der Denk- und Handlungsweisen der einzelnen Ethnien.31 Die linguistische Analyse des Lautsystems, der Charakteristik des Vokabulars und der grammatischen Kategorien der verschiedenen Sprachen benötigt, glaubt Boas, für jede Sprache eine eigene grammatische Terminologie, die es ermöglicht, »each language its proper place« zuzuweisen (Boas 1911a: 43). Boas konstatiert, dass in jeder Grammatik: »the psychological groupings which are given depend entirely upon the inner form of each language. In other words, the grammar has been treated as though an intelligent Indian was going to develop the forms of his own thoughts by an analysis of his own form of speech« (Boas 1911a: 68).32 Damit stellt er sich klar gegen die älteren Grammatiken, die sich dem »[quasi-] Latin scheme« strikt verpflichtet fühlten, ein Schema, »which obscures the characteristic psychological categories of Indian languages« (Boas 1911a: 48; vgl. Mackert 1993: 346; Jakobson 1944: 191; Hill/Mannheim 1992: 384f.; Darnell 1998: 185). Eine Uniformität 31 »Boas carving out an intellectual rationalization for anthropology as a science, argued for attention to the ›unconscious patterning‹ in language as a guarantee of objectivity regarding ›fundamental ethnic ideas,‹ as a source of relatively pristine evidence of areal-geographic connections between peoples, and as evidence for the organization of categories in thought itself, in both culturally specific and universal senses« (Hill/Mannheim 1992: 385). 32 »[E]ach language had to be studied in and for itself« (Haas 1976: 60; vgl. auch Kroeber 1969 [1943]: 15; Emeneau 1968 [1943]: 37; Mackert 1993: 334).
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zwischen einzelnen Sprachen dürfe man nur in den Fällen unterstellen, »where it can be obtained without artificially stretching the definition of terms« (Boas 1911a: 82). Auf diese Weise distanziert er sich von dem von Brinton in Anlehnung an Humboldt unternommenen Versuch, die amerikanisch-indianischen Sprachen unter der Kategorie »polysynthetisch« bzw. »inkorporierend« zu subsumieren. Für Boas ist eine solch’ generalisierende Bezeichnung nicht haltbar (Boas 1911a: 75).33
L i n g u i s t i k a l s u n v e r z i c h t b a r e No t w e n d i g k e i t f ü r d i e An t h r o p o l o g i e Boas, Mitglied eines bereits vorhandenen amerikanischen anthropologischen Denkkollektivs, kreierte keine neue Wissenschaft. Vielmehr verdichtete er während des Progressive Movement sämtliche für die Konstituierung und das Funktionieren der akademischen linguistischen Anthropologie notwendigen Kreisläufe. Waren seine Bemühungen zur Gründung einer nationalen wissenschaftlichen Organisation zu Beginn des Jahrhunderts noch erfolglos, gelang es ihm an der Columbia University auf dem Hintergrund der University Movement, den wissenschaftlichen Prozess der Anthropologie zu »automatisieren«; die Anthropologie, ein studium generale, das sich mit der Frage auseinander setzte, weshalb es verschiedene Ethnien, die unterschiedlich denken und handeln, auf der Welt gab, verlangte, so Boas’ Ansicht, nach biologischen, linguistischen und ethnologisch-archäologischen Methoden, die den nunmehr akademisch ausgebildeten Anthropologen helfen sollten, Antworten ›vorurteilslos‹ zu generieren. Mit dieser Akademisierung der Anthropologie trennte Boas die Amateure von den Wissenschaftlern und begründete ein akademisches anthropologisches Denkkollektiv.34 Die Professionalisierung setzt sich also fort (Stocking 1974a: 458f.).
33 Regna Darnell dazu; »Languages were selected to represent the range of psychological variation across the continent, a direct challenge to the single American Indian pattern taken for granted by the eighteenth-century evolutionist savants« (Darnell 2001: 10). 34 Ein erstes Opfer dieser Professionalisierung war – nicht ohne Ironie – der von Boas unterstützte McGee. Er musste das Bureau of American Ethnology verlassen, weil er selbst ein »self-trained« Ethnologe war. Die Forderung nach akademisch ausgebildeten Anthropologen machte auch nicht vor der Smithsonian Institution Halt (vgl. Hyatt 1990: 81; vgl. »Herausgeber: Bureau of American Ethnology«).
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Boas konsolidierte durch seine sozialen und institutionellen Vernetzungen, die er als Herausgeber des »American Anthropologist« zur American Anthropological Association und zum Bureau of American Ethnology pflegte, in der amerikanischen anthropologischen Gilde seine Macht. Er verfügte über genügend finanzielle öffentliche wie auch private Mittel, seine Bewertungs- und Relevanzkriterien durchzusetzen. Boas baute in der Festlegung dessen, was Anthropologie zu sein hat, auf der Arbeit seiner Vorgänger auf; er formulierte eine anthropologische Vision, an die andere anschließen konnten. Es gelang ihm, die Reichweite dieser anthropologischen Sichtweise zu erweitern. Seiner wissenschaftlichen, kulturrelativistischen Anthropologie verhalf er zum Durchbruch, indem er zahlreiche Studierende für das neue Fach zu begeistern und sie für die Verwirklichung seiner wissenschaftlichen Ideen zusammenzuhalten vermochte. Es kam zur Gründung neuer Institutionen, neuer Lehrstühle und Positionen, die mit ehemaligen Studierenden Boas’ oder mit Personen, die seine Überzeugungen für die eigene Arbeit übernommen hatten, besetzt wurden. – Boas und seine Schüler bildeten Allianzen und verschafften ihrer Disziplin einen Kontext, der nunmehr gesichert genug war, ohne größere finanzielle Probleme weiterexistieren und fortbestehen zu können. Der »begriffliche Inhalt«, der dieses soziale Netzwerk zusammenhielt, war die Skepsis gegenüber jeglichen theoretischen Determinierungen (Harris 1968: 283f.; Cole 1999: 265; Wax (1956): 63). Die von Brinton wie auch Powell propagierte unilineare Evolutionstheorie lehnten Boas und seine Schüler ab; Anthropologie war keine naturwissenschaftlich gewendete Disziplin, sondern nahm die historische Methode als Ausgangspunkt sämtlicher Forschung. Boas versuchte die Vorstellung, dass die Entwicklungen von Rasse und Sprache, von Rasse und Kultur Hand in Hand gingen, ein für allemal aus der anthropologischen Wissenschaft zu verabschieden. An deren Stelle trat der Kulturrelativismus, der den Rassismus und die Evolutionstheorie ablehnte (Cole 1999: 263). Von nun an galt jede Kultur als gleichwertig. Die in diesem Zusammenhang berechtigte Frage, die sich nicht abschließend beantworten lässt, ist, ob der Boassche Kulturrelativismus letztlich ein Produkt seiner methodischen Überlegungen war35 und nicht,
35 Douglas Cole folgt dieser Ansicht, wenn er schreibt: »Boas’ cultural relativism, already enunciated in his debate with Mason in 1887, was a methodological device, directed against a priori judgments« (1999: 275). Ebenso scheint Cove diesem Argument zu folgen, wenn er schreibt: »Boas couched his view of cultural relativism in terms of research concerns […]. Boas as-
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wie zeitgenössische Historiker zu zeigen versucht haben, ein Produkt seiner liberalen politischen Überzeugung (Hyatt 1990). Denn vertritt man die Position, dass alle Interpretationen, auch die wissenschaftlichen, immer auf der Grundlage des »traditional material« (vgl. »›The Mind of Primitive Man‹ – Dissoziation alter Verbindungen«) vorgenommen werden, hat man keine Gewissheit mehr, ob diese Interpretationen auch tatsächlich für eine andere Kultur sinnstiftend sein können. Will man nicht länger eine allgemein gültige, dem eigenen Denkkollektiv verpflichtete »Supertheorie« voraussetzen, müssen auch die Realitätskonzeptionen einer anderen Ethnie zur Beantwortung der wissenschaftlichen Frage, weshalb es unterschiedliche Denk- und Handlungskategorien gibt, herangezogen werden. Der Kulturrelativismus wäre demnach eine logische Folge der von Boas gelieferten Erklärung der Erkenntnisgewinnung. Die Linguistik übernimmt in dieser einem Kulturrelativismus verpflichteten Wissenschaft jedenfalls eine neue zentrale Funktion als »recurrent methodological model for anthropologists« (Hymes 1970: 255) und verändert so auch ihr Verhältnis zur Ethnologie: Das Problem der sekundären Rationalisierungen ist nur durch die Analyse der American Indian languages zu lösen. Will die Anthropologie »objektive Daten« über die Denkstile der unterschiedlichen Ethnien entwerfen, kann sie dies nur durch die Auswertung linguistischer Daten realisieren (Hymes 1970: 255). – Weder Powell noch Brinton hatten es geschafft, sprachwissenschaftlichen Studien diese Relevanz zuzuweisen. Damit etablierte Boas die Sprachwissenschaft als eine »unavoidably necessity« (Mackert 1993: 343), als ein geeignetes Analyseinstrument für eine der fundamentalen Fragen der Anthropologie, der Frage nach den verschiedenen Denkkategorien der menschlichen Spezies. Die Linguistik verhilft der Wissenschaft zu einem klareren Verständnis der ethnologischen Besonderheiten. Denn in jeder Sprache ist eine ihr eigene Klassifikation der Welt enthalten. Die Linguistik wird zu einer für die Anthropologie unverzichtbaren Disziplin, zur Voraussetzung und Grundlage aller ethnologischen Interpretationen. Boas, dem linguistischen Autodidakten, ging es also im Wesentlichen darum, ein praktisches methodologisches Forschungsproblem zu lösen, nämlich objektive ethnologische Daten jenseits sekundärer Rationalisierungen zu gewinnen. Indem er die »grammatical categories« mit den »categories of thought« verknüpfte, war durch die linguistischen Studien ein Zugang zu den Denkkategorien der Native Americans mögserted the ›relative autonomy‹ of cultures to avoid distortions inherent in applying a priori theoretical approaches like evolution« (Cove 1999: 110).
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KONSTITUIERUNG
lich, und zwar unabhängig von ihren eigenen Interpretationen der Untersuchungsobjekte. In seiner sprachwissenschaftlichen Theorie bedient sich Boas neben Konzepten von Theodor Waitz und Adolf Bastian auch solcher von Heymann Steinthal. Den Begriff der »inneren Formen« – »das eigenthümliche System der grammatischen Kategorien einer Sprache«, die »Formen, in welchen ein Volk sich seine Anschauung zur Vorstellung bringt« (Steinthal 1860: 316) – verwendet er in seiner Einführung explizit. Dies ist bekannt.36 Nur ist meines Erachtens Vorsicht geboten, vorschnell »a continuing line« (Koerner 1990: 113;), eine direkte historische Ideenentwicklung von Humboldt über Steinthal zu Boas zu konstruieren, wie wir in verschiedenen »whig histories« zur linguistischen Relativität nachlesen können (Hymes 1976: 21; Koerner 1990: 113; Bunzl 1996: 17-78; Erickson et al. 1997; Werlen 2002); vorschnell deshalb, weil man nicht davon ausgehen kann, dass Boas deren sprachliche Konzepte eins zu eins für seine anthropologischen Ansichten übernommen hat. Boas’ Verbindung zur deutschen Sprachwissenschaft war eher oberflächlich, sicherlich nicht systematisch (Stocking 1974a: 457). Und, wie die bis hierher erzählte Geschichte zeigt, handelte Boas nicht nur in beruflichen, sondern auch in wissenschaftlichen Belangen außerordentlich strategisch: Das amerikanische Forscherkollektiv hatte deutsche Sprachwissenschaftler wie Humboldt und Steinthal bereits als renommierte Linguisten akzeptiert. Boas brauchte nur an deren unumstrittenen »Wahrheiten«, dass die menschliche Sprache »mit dem Volksthum des Menschen auf innigste zusammenhängt«, anzuschließen, um das Problem der sekundären Rationalisierungen zu lösen.37 Und Steinthal, den er bereits 1904 in seinem Aufsatz »The History of Anthropology« zitiert hatte, diente ihm in geradezu exemplarischer Weise dazu, ein Argument zu formulieren, dass von den »intimate ties between language and ethnic psychology« (Boas 1904a: 518) ausgeht: Er konstatierte damit eine Verbindung zwischen den unbewussten geistigen Prozessen, die in der Spra-
36 Michael Mackert versucht in seinen Aufsatz Boas’ Denken auf die deutsche Tradition zurückzuführen (Mackert 1993). 37 Wie die Menschen eine Idee der Welt entwickeln, welche Rolle die Sprache in diesem Prozess spielt, sind letztlich Fragen, die nicht endgültig beantwortet werden können. Aber darum ging es Boas meines Erachtens auch nicht, wie seine deskriptiven Beschreibungen der amerikanisch-indianischen Sprachen auch beweisen. Die von ihm konzipierte Linguistik war für ihn die Gelegenheit, das Problem der sekundären Rationalisierungen zu lösen – nicht mehr und nicht weniger (vgl. auch Bonvillain 1985: 119).
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che aufzufinden sind, und den Denk- und Handlungsweisen einer bestimmten Kultur. Andere von Humboldt und Steinthal propagierte Argumente, die Brinton rassentheoretisch wendete, ließ er nicht gelten: Die Vereinheitlichung der amerikanisch-indianischen Sprachen unter dem Label »polysynthetisch« beziehungsweise »inkorporierend« verwarf Boas ebenso, wie eine Hierarchisierung der Sprachen – und damit der Menschentypen – die auf der Grundlage evolutionstheoretischer Modelle vorgenommen worden waren (Mackert 1993: 339). Der theoretische Grundstein war gelegt, die praktische Umsetzung harrte der Vollendung.
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Konsolidi erung d er Lingui st i k j ens eits d er Anthropologie
»[Boas] was able, because of this freedom of approach, to admit that in linguistics anything is possible and, consequently, to analyze exotic material without forcing it into the straitjacket of the familiar. This was perhaps the most valuable single lesson in analysis that he taught his pupils and they theirs« (Emeneau 1968 [1943]: 37).
Am e r i k a n a c h d e m W e l t k r i e g Amerika trat im April 1917 auf Seiten der Alliierten in den Weltkrieg ein, was eine nachhaltige Veränderung der wissenschaftlichen Beziehungen zu Deutschland bedeutete (Schwabe 1990: 128; Hyatt 1990: 123ff. & 129; Vincent 1990: 152; Morison et al. 1969 [1930]: 357ff.; Guggisberg 1993 [1975]: 167ff.). Nicht länger orientierten sich die amerikanischen Wissenschaftler an ihren deutschen Vorbildern, nicht länger gehörte ein Studienaufenthalt in Deutschland zur Bedingung für eine akademische Karriere (Joseph 2002: 16 & 53). Die amerikanischen Universitäten probten den Alleingang. Mit Erfolg. Die Zeit nach dem Krieg war geprägt durch den »Return to ›Normalcy‹« – zunehmender Konservatismus bestimmte Politik und Sozialphilosophie, die Dekade »[was] characterized by a decline in liberalism and an ardent nationalism« (Morison et al. 1969 [1930]: 413). Amerika sollte, so hoffte der Großteil der Bevölkerung, sich zu einem Land von Gleichgesinnten verwandeln, zu einem kulturell homogenen Volk. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit waren an der Tagesordnung. 1921 begrenzte der Kongress zu einer Zeit, in der die wirtschaftliche Entwick225
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lung durch eine anhaltende Prosperität gekennzeichnet war (Guggisberg 1993 [1975]: 178), die Einwanderung auf 357'000 Immigranten pro Jahr. 1924 wurde ein striktes Quotensystem eingeführt, das festlegte, dass jährlich aus jedem Land nicht mehr Menschen einwandern durften, als einer Quote von 2 % der Amerikaner ihres Ursprungslandes im Jahr 1890 entsprach – ein Gesetz, das klar gegen die Einwanderer aus Südund Osteuropa abzielte (Morison et al. 1969 [1930]: 438; Hyatt 1990: 134 & 136; Guggisberg 1993 [1975]: 175 & 186). Franz Boas geriet als Deutscher und als Jude in diesem fremdenfeindlichen und rassistischen Milieu stark unter Druck. Und als er sich nach Kriegsende, 1919, in der American Association for the Advancement of Science öffentlich gegen den während des Krieges gängigen Spionageeinsatz von Wissenschaftlern, allen voran Anthropologen, ausgesprochen hatte,1 kam es zum Bruch mit der Institution und zum zeitweiligen Ausschluss. Doch die Boassche Anthropologie hatte bereits eine gesicherte Position innerhalb der amerikanischen Wissenschaftslandschaft bezogen.2 Boas vermittelte nicht eine eigentliche Doktrin, die zur Begründung einer »Boas School« hätte führen können; Boas und seine Studierenden betrachteten sich nie als kohärente Forschungsgruppe. Doch seine Auffassung wissenschaftlicher Anthropologie, seine propagierte Form des Kulturrelativismus, seine ablehnende Haltung gegenüber deterministischen Theorien und eines wissenschaftlichen Rassismus fanden bei all seinen Studierenden Anklang.
1 »A person […], who uses science as a cover for political spying, who demeans himself to pose before a foreign government as an investigator and asks for assistance in his alleged researches in order to carry on, under this cloak, his political machinations, prostitutes science in an unpardonable way and forfeits the right to be classed as a scientist« (Boas 1919a: 797; vgl. auch Hyatt 1990: 132ff.; Patterson 2001: 53; Barkan 1992: 89f.). 2 »[His] dominance was a fact by 1920« (Hinsley/Holm 1976: 314; vgl. auch Darnell 1971c: 91). Franz Boas blieb auch zu dieser Zeit in der Akademisierung der Anthropologie führend. Bereits 1916 einigte er sich bei einem Zusammentreffen mit den wichtigsten Protagonisten der Anthropologie auf das folgende gemeinsame wissenschaftliche Ziel: »the reconstruction of mankind as a whole. This aim is pursued along biological, geological, archaeological, linguistic and general cultural lines; and according to historical methods in the narrower sense of the term« (Boas 1919b: 42). Die von ihm in Auftrag gegebene Umfrage, an welchen Departementen der Universitäten Anthropologie gelehrt wird, geht ebenso von Boas’ AnthropologieVerständnis aus: George Grant MacCurdy (1919) fragt in seinem Rundschreiben nach Kursen in »Physical Anthropology, Ethnology, Indian Languages, and Prehistoric Archaeology«.
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Franz Boas war Experte für Archäologie, Ethnologie und physikalische Anthropologie ebenso wie für amerikanisch-indianische Linguistik. Keinem seiner Studierenden wird es je gelingen, »his stature in all of these fields« (Haas 1976: 59; vgl. auch Darnell 1977: 16) zu erlangen. Sie spezialisierten sich, knüpften an die sprachwissenschaftlichen Ideen Boas’ an, modifizierten sie, generierten neue Methoden, die sie ab 1917 im von Boas gegründeten Organ »International Journal of American Linguistics« verbreiteten. Alfred L. Kroeber, Edward Sapir, Robert Lowie (1883-1957), Paul Radin (1883-1959) und andere etablierten so die »Americanist tradition«, das heißt die »orientation toward American Indian cultures and languages, to demonstrate the respect in which they embodied the powers universal of man, and at the same time the experience and creativity specific to particular peoples, as against a priori prejudice and rash generalization of whatever kind« (Hymes 1976: 23). Die Entwicklung der linguistischen Anthropologie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch verschiedene »Assoziationen«, die zur weiteren Verdichtung und Autonomisierung der linguistischen Anthropologie führten: Die Gründung eines anthropologischen Departements in Kalifornien, Edward Sapirs neue sprachhistorischen Methoden, die nun auch auf die American Indian languages angewendet wurden, die Einigung auf eine längst fällige, geeignete Transkription der American Indian languages, die Herausgabe des »International Journal of American Linguistics« und schließlich, 1924, die Begründung der Linguistic Society of America. An der University of California lehrte und forschte Alfred L. Kroeber, Boas’ erster Ph. D.-Student der Columbia University. Ihm gelang es ein anthropologisches Forschungs- und Lehrinstitut in Berkeley zu etablieren, das mit Ausnahme der »physikalischen Anthropologie« der Boasschen Anthropologie verpflichtet war. Kroeber verstand sich in erster Linie als Ethnologe. Die linguistischen Studien betrieb er, um die Powellsche Klassifikation von 1891 zu überarbeiten. Er leitete daraus die Verbindungen zwischen den Völkern Kaliforniens ab. Kroeber folgte damit – sehr zum Unverständnis seines Doktorvaters Franz Boas – noch immer der impliziten Verbindung zwischen Sprache und Kultur, glaubte daran, dass linguistische Untersuchungen einen Nachweis für die Migrationsbewegungen der Native Americans erbringen (vgl. »Anthropologie in Kalifornien«). Doch Kroeber war nicht der einzige, der sich in dieser Sache, wenn auch aus anderen Gründen, gegen Boas stellte. Edward Sapir, ausgebildeter Germanist, der sein Ph. D.-Studium ebenfalls bei Franz Boas an der Columbia University absolviert hatte, war zwar von den sprachwis227
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senschaftlichen Grundgedanken und Kenntnissen seines Mentors begeistert, blieb aber immer auch Teil des Denkkollektivs von Sprachwissenschaftlern, die überzeugt waren, dass die historisch-vergleichende Sprachforschung Aussagen über Migrationsbewegungen und die Kulturgeschichte einzelner Völker ermöglichte. Sapir entwickelte in diesem Spannungsfeld zwischen linguistischer Anthropologie und indoeuropäischer Philologie neue Denkansätze, neue Methoden, die nicht nur bei seinen Kollegen in der Anthropologie, sondern auch bei anderen Sprachwissenschaftlern außerhalb des anthropologischen Denkkollektivs Anklang und Unterstützung fanden (vgl. »Edward Sapirs anthropologische Linguistik«). Trotzdem arbeiteten Kroeber, Sapir und Boas zusammen, standardisierten gemeinsam mit Pliny Earle Goddard die Transkription der American Indian languages und schrieben für das »International Journal of American Linguistics« zahlreiche Artikel. 1921 veröffentlichte Edward Sapir seinen Klassiker »Language«, die Konsolidierung der anthropologischen Linguistik (vgl. »Stabilisierung des zirkulären Systems der linguistischen Anthropologie«). Sapir erhielt große Bewunderung für sein Werk nicht nur von Anthropologen, sondern auch von komparativen Sprachwissenschaftlern wie Leonard Bloomfield (vgl. »Erste Autonomisierungsversuche der Linguistik als Wissenschaft«). In diesem dynamisierten Netzwerk kam es 1924 durch die neue Generation amerikanischer Philologen zur Gründung der Linguistic Society of America, einer internationalen Gesellschaft, die einen unabhängigen Status der Linguistik als wissenschaftliche Disziplin forderte (vgl. »Linguistik als Selbstzweck«).
A n t h r o p o l o g i e i n Ka l i f o r n i e n Alfred L. Kroeber und die University of California Alfred L. Kroeber arbeitete nach Abschluss seiner anglistischen Studien (Steward 1973: 5; Hymes 1983: 245) von 1899 bis 1901 unter der Aufsicht von Franz Boas am American Museum of Natural History in New York.3 1901 promovierte er als erster Ph. D.-Student von Boas an der
3 Hier untersuchte er eine kleine, vom Antarktisforscher Robert Peary nach New York ›deportierte‹ Gruppe von Inuits, über deren rituelle Bestattung er im Bulletin des Museums einen Bericht abfasste (Kroeber 1899; vgl. auch Holzer 2003).
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Columbia University. Der Titel seiner 28-seitigen Arbeit lautete »Arapaho Decorative Symbolism« (Kroeber 1901; vgl. auch Hymes 1983: 249; Buckley 1996: 262 & 269). Gleich nach seiner Dissertation übernahm er – unterstützt vom »Chairman« des Advisory Committee zur Entwicklung eines anthropologischen Departements und Museums an der University of California in Berkeley Frederick Ward Putnam – die Stelle als »executive officer« (Dexter 1989: 92) für ein neu konzipiertes Lehr- und Forschungsprogramm des von der reichen Senatorenwitwe Phoebe Apperson Hearst gesponserten anthropologischen Departements und Museums an der University of California4 – trotz der Bedenken seines Lehrers Boas. Boas erachtete ihn schlicht als zu unerfahren für diese Position. Kroeber gelang es, den Zweifeln seines Mentors zum Trotz in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein anthropologisches Forschungs- und Lehrinstitut in Kalifornien zu etablieren (Kroeber 1970: 63). Kroeber blieb Zeit seines Lebens an der University of California und absolvierte dort seine akademische Karriere: 1906 wurde er zum Assistant Professor, 1911 zum Associate Professor und 1919 schließlich zum Professor gewählt (Hymes 1983: 245f.). Kroebers Forschungsinteresse galt den lebenden Sprachen und Kulturen der kalifornischen American Indians. Für die Aufzeichnungen der sehr disparaten Kulturen beschäftigte er während seiner Lehr- und Forschungszeit (1901-1946) zahlreiche Mitarbeiter (Steward 1973: 14). Er bildete in gewisser Weise ein Pendant zur Columbia University in New York. Die Beziehung zwischen Boas und Kroeber war während diesem Zeitraum von einigen Spannungen geprägt. Boas war Kroebers Mentor und verlangte von ihm, wie von anderen Studierenden letztlich auch, ›loyalen Gehorsam‹. Bereits als es um die Grammatik der Yokuts-Sprache für das »Handbook of the American Indian languages« ging, stellte sich der »rebelling Boasian« (Murray 1993: 67; vgl. auch Darnell/Hymes 1986: 206) quer (vgl. »Herausgeber: Bureau of American Ethnology«). Er hoffte auf eine eigenständige Publikation seiner kalifornischen ethnologischen und linguistischen Forschungsergebnisse. Gleichwohl verfasste Kroeber zahlreiche seiner linguistischen Arbeiten im »Boas4 Phoebe Apperson Hearst hatte sich Zeit ihres Lebens mit der amerikanischindianischen Kultur beschäftigt und wollte die systematische Erforschung der zahlreichen Stämme in Kalifornien unterstützen (vgl. Kroeber 1970: 60; Darnell 1993: 148ff.; Dexter 1989: 91). Zur Geschichte von Phoebe Apperson Hearst und ihre Verbindungen zur University of California vgl. auch Thoreson (1975: 257).
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sian style« (Darnell 1998: 188). Zum 25. Jahrestag von Boas’ Promotion publizierte er die vergleichenden Studien der kalifornischen Sprachen Yuki und Yokuts in der Festschrift für seinen Doktorvater (Laufer 1906; vgl. auch Cole 1999: 286). Die University of California war trotz einiger Differenzen bezüglich Forschungsinhalten zwischen Boas und Kroeber Teil der Boasschen Anthropologie. Das Institut trug zur Festigung des amerikanischen anthropologischen Netzwerkes bei. Boas selbst schreibt 1918 in einem Brief an Lowie: »[T]he future of California and of New York seem to be welding together« (Boas an Lowie, 8. März 1918, zitiert nach Darnell 1998: 202).
Linguistisch-anthropologische Studien in Berkeley Das kalifornische Gebiet und die dort lebenden ethnischen Gruppen und deren Sprachen waren zur Jahrhundertwende, als Kroeber seine Studien an der University of California aufnahm, größtenteils noch unerforscht – bis 1903 gab es nur gerade zwei grammatische Lehrbücher der Sprachfamilien Kaliforniens. Kroeber plante deshalb als langfristiges Projekt einen linguistischen Sprachatlas ganz in der Tradition Powells (Darnell/ Hymes 1986: 205; Hymes 1983: 250). Sein erklärtes Ziel war es, einen Überblick über die diversen gesprochenen Sprachen – Powell legte in seiner Publikation »Indian Linguistic Families of America North of Mexico« insgesamt 22 Sprachfamilien mit ca. 135 verschiedenen Dialekten (Kroeber 1913: 396) fest – zu gewinnen. Für dieses Projekt engagierte er nicht nur zahlreiche seiner Studierenden, sondern auch Wissenschaftler wie Robert Harry Lowie, Edward Sapir, Pliny Earle Goddard, Roland B. Dixon sowie Paul Radin. Bis zur Veröffentlichung des »Handbook of California Indians« (1925)5 sollten noch einige Jahre vergehen. Kroeber publizierte in diesem Zeitraum etliche Arbeiten zu den verschiedenen kalifornischen Kulturen. Ganz im Stile Boas’ war er stets bemüht, die im anthropologischen Diskurs formulierten unhinterfragten, konsensfähigen Forschungsergebnisse mit eigenen in der Feldforschung gewonnenen empirischen Resultaten zu konfrontieren und sie als ungenau, ja oft sogar als falsch zu entlarven (Wax 1956: 63).
5 Theodora Kroeber, Kroebers Frau, geht davon aus, dass er das Handbuch bereits 1917 fertiggestellt hatte (1970: 1).
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Bereits in einem 1903 mit Roland B. Dixon6 publizierten Aufsatz unterzieht Kroeber die zeitgenössischen linguistischen Studien zu den kalifornischen Sprachen einer grundsätzlichen Kritik. Die beiden Autoren distanzieren sich in ihrem Aufsatz »The Native Languages of California« von Powells Methode (vgl. »Powells ›Indian Linguistic Families of America North of Mexico‹«), die kalifornischen Sprachen auf der Grundlage lexikalischen Materials zu klassifizieren; die strukturellen Affinitäten der Sprachen, die grammatischen Strukturen, seien zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Sie übernahmen damit explizit dieselbe Vorgehensweise, die Boas für die Klassifikation der Sprachen an der nord-pazifischen Küste (Dixon/Kroeber 1903: 3; vgl. auch Hymes 1983: 252) angewendet hatte. Kroeber und Dixon ging es nie darum, die »definite genetic relationships« festzulegen oder die im Denkkollektiv der Anthropologen ›belegten‹ Eigenheiten der American Indian languages (Dixon/Kroeber 1903: 3; vgl. auch Steward 1973) zu bestätigen; sie wollten vielmehr die linguistischen Besonderheiten der kalifornischen Sprachen herauskristallisieren und sie in »Typen« von Sprachfamilien einteilen. Ihnen gelang es denn auch anhand der neu elizitierten Datenmaterialien, ganz im Sinne Boas’, sich vom Vorurteil, die Inkorporation sei »the most characteristics and fundamental feature of American languages« (Dixon/ Kroeber 1903: 3), zu verabschieden; in einigen kalifornischen Sprachen kommt dieses Merkmal schlicht nicht vor (Dixon/Kroeber 1903: 17).7 1905 war Powells Werk »Indian Linguistic Families of America North of Mexico«, das Kroeber zwar explizit als »the work which has been of greatest importance and influence in the development of American Anthropology« (Kroeber 1905: 579) akzeptierte, erneut Gegenstand seiner Kritik. Dieses Mal ging es um die von Powell unternommene »Systematic Nomenclature in Ethnology«. Kroeber bezichtigte Powell, eine ›imperialistische Nomenklatur‹ anzuwenden. Der Major suggeriere durch die Verwendung einer künstlichen Taxonomie die »Realität« einer »linguistischen Familie«, eines »Stammesnamens«, auch wenn, so Kroeber: »[t]here was no native name in existence which could be taken over into ethnology without a change of denotation to designate these 6 Roland B. Dixon promovierte 1900 an der Harvard University mit der Arbeit »The Language of the Maidu Indians of California«. Von 1906 bis 1915 war er Assistant Professor in Anthropologie an der Harvard University, seit 1915 Professor (vgl. Tozzer/Kroeber 1936: 292; Murray 1999: 650). 7 Dasselbe Argument findet sich in Kroeber (1910: 205) und in Dixon/Kroeber (1919).
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people as a whole. The linguistic unity of the group was recognized in print […]« (Kroeber 1905: 582). Die von Powell erstellte, der Linnéschen biologischen Nomenklatur verpflichtete Begriffsregelung war, so Kroeber, lediglich eine ideologisch besetzte Zuschreibung seitens des Majors. Er missbilligte diese »Disziplinierung« der fremden, ›indianischen Objekte‹ und drängte die Anthropologen zur kulturrelativistischen Reflexion: «The principle which seems the only safe and wise one to follow is to regard every name, once it is used ethnologically, as part of the scientific civilized language in which the work in which it occurs is written, and to treat it accordingly, irrespective of its original meaning or its original form« (Kroeber 1905: 587). Die verschiedenen ethnischen Gruppen und Nationalitäten, mit denen sich die Anthropologen beschäftigten, dürften nicht im gleichen Sinne objektiviert werden, wie die »inanimate objects and animals« der Biologie, denn: »They are men like ourselves, – men with whom we trade and converse and intermarry, with whom we make treaties, and for whom we make laws. Mankind will therefore always have names for tribal and national and linguistic divisions, irrespective of what organized professional anthropology may or may not do« (Kroeber 1905: 589; vgl. auch Hymes 1983: 257f.; Degler 1989: 12f.). Kroeber verlangte von den Anthropologen, auf die artifizielle Taxonomie zu verzichten und die von den Native Americans benutzten Begriffe zu verwenden. Kroebers Dekonstruktion der ›anthropologischen Wahrheiten‹ bezog sich nicht nur auf die Methode linguistischer Klassifikationen und auf die ›imperialistische Nomenklatur‹. In seinem Aufsatz »Classificatory Systems of Relationship« von 1909 unterzog er die im amerikanischen Denkkollektiv Ende des 19. Jahrhunderts gängige Vorstellung Henry Lewis Morgans (vgl. »›Ancient Society‹ – theoretische Grundlage für das Bureau of Ethnology«), dass man Verwandtschaftsbezeichnungen als Material verwenden könne, »from which conclusions as to the organization of society and conditions of marriage could be inferred« (Kroeber 1909: 82), einer grundsätzlichen Kritik. Kroeber verdeutlichte anhand von Beispielen der englischen Sprache, dass die Ansicht, dass es für eine klar definierte Verwandtschaftsbeziehung nur einen Namen gebe und damit Rückschlüsse auf die soziale Organisation einer Kultur möglich seien, nicht länger aufrecht erhalten werden könne. Untersuche man beispielsweise das englische Wort »brother«, habe man nicht nur eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen genau zwei Personen, sondern vier Verwandtschaftsbeziehungen zu differenzieren: »Brother« beschreibt die Beziehung zu einem jüngeren wie auch zu einem älteren 232
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Bruder; den Bruder eines Mannes ebenso wie den Bruder einer Frau. Die Forscher haben es also, so folgerte Kroeber in kulturrelativistischer Manier, verpasst, »to discriminate certain relationships between which the languages of civilized Europe distinguish« und »in the enthusiasm of formulating general theories from such facts, [they] have forgotten that their own languages are filled with entirely analogous groupings or classifications which custom has made so familiar and natural that they are not felt as such« (Kroeber 1909: 77). Kroeber übernahm auch in dieser Argumentation Boas’ Sichtweise (siehe »›The Characteristics of Language‹«), dass in jeder Sprache die an sich unbegrenzten menschlichen Erfahrungen in einer beschränkten Anzahl von phonetischen Gruppen ausgedrückt werden. Kroebers Konklusion lautete: »[T]erms of relationship are determined primarily by linguistic factors, and are only occasionally, and then indirectly, affected by social circumstances […]. Nothing is more precarious than the common method of deducing the recent existent of social and marital institutions from a designation of relationship« (Kroeber 1909: 82). Kroebers sprachwissenschaftlich fundierte Kritik orientierte sich stark an den »Glaubenssätzen« seines Mentors Franz Boas. Die empirischen Untersuchungen, die im Feld elizitierten Sprachmaterialien, dienten Kroeber als wissenschaftliches Fundament, um Konzepte John Wesley Powells oder Henry Lewis Morgans in Frage zu stellen. Doch in einem folgte Kroeber seinem Lehrer nicht. Linguistische Untersuchungen waren für Kroeber keine absolute Notwendigkeit für die Anthropologie: »[I]n the last resort ethnology does not require for its successful prosecution an absolute understanding of the structure of the language spoken by the people who are being studied« (Kroeber an Swanton, 22. Dez. 1908, zitiert nach Darnell 1998: 200). Linguistik, insbesondere die »historisch vergleichende Sprachwissenschaft«, die Boas aufgrund der nicht vorhandenen linguistischen Quellen als wenig aussagekräftig beurteilte, war für Kroeber ein Mittel zur Klärung kulturgeschichtlicher Fragen. Es ging ihm um das nicht ganz unproblematische Verhältnis zwischen Sprache und Kultur. Kroeber glaubte wie Powell (vgl. »›Introduction to the Study of Indian Languages‹ – Instrument zur Mobilisierung der American Indian languages« sowie »Powells ›Indian Linguistic Families of America North of Mexico‹«) daran, dass eine Klassifikation der Sprachen Aussagen über die ehemaligen Beziehungen der amerikanisch-indianischen Völker untereinander zuließe (Hoijer 1960: 31f.). In seinem Handbuch, das unabhängig von Boas’ Einfluss 1925 als Bulletin Nr. 78 des Bureau of American Ethnology publiziert worden war, verdeutlichte Kroeber seine Ein233
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stellung zur Linguistik: »I have considered speech only insofar as the accumulated knowledge of the languages of California has led to their classification on a genetic or historical basis and thus contributes to the insight of the origin, movements, and relationship of the several nations« (Kroeber 1925: vii). Kroeber verstand sich ausdrücklich als Ethnologe. Linguistik war in seinem anthropologischen Verständnis vorwiegend ein Mittel zum Zweck (Hymes 1983: 250). Nach 1910 überließ er, weil er auf einem Ohr taub geworden war, linguistische Feldforschungen anderen. Er beschäftigte sich mit anderen anthropologischen Forschungsbereichen. Die Untertitel – »Race, Language, Culture, Psychology, Prehistory« – seines umfassenden Grundlagenwerkes »Anthropology« von 1923 zeigen denn auch die Bandbreite seines Schaffens. Linguistischen Überlegungen widmet er in seinem 850 Seiten umfassenden Werk nur gerade fünfzig Seiten. Darin diskutiert er zeitgenössische linguistische Erkenntnisse wie die Definition einer Sprachfamilie, Lautgesetze, publiziert verschiedene Sprachatlanten der Weltsprachen, beschreibt die verschiedenen Sprachtypen (isolierend, agglutinierend, flexivisch und inkorporierend), widersetzt sich einer Hierarchisierung der Sprachen auf der Grundlage einer unilinearen Evolutionstheorie und formuliert explizit: »It is clear that language and culture are one« (Kroeber 1948 [1923]: 225). Kroeber fand in Edward Sapir Unterstützung und war auch gerne bereit, diesem aus seiner Sicht in linguistischen Belangen weit kompetenteren, in indoeuropäischen Sprachstudien ausgebildeten Kollegen die komparative Forschung zu überlassen (Hymes 1983: 250 & 267f.). Für Sapir war es offensichtlich, dass linguistische Daten sehr wohl Aussagen über die Geschichte, die Migrationsbewegungen und die Verbindungen der Native Americans zuließen. Nur brauche es die richtige Methode, um diese Verbindungen offen zu legen: die Methode der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft.
Edward Sapirs anthropologische Linguistik Zwischen Germanistik und Anthropologie Edward Sapir begann 1905, gleich nach Abschluss seines Master of Arts Degree in Germanistik, bei Franz Boas sein Ph. D.-Studium an der Columbia University. Schon in seiner undergraduate-Zeit hatte er bei Boas den Kurs »Anthropology 5«, in dem »selected languages […] representing different types« auf dem Programm standen, besucht. Sapir war fasziniert von den American Indian languages, war fasziniert vom Wissen 234
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seines Lehrers, der ihm für jegliche in der indoeuropäischen Sprachforschung etablierte Generalisierung ein Gegenbeispiel nennen konnte (Murray 1985: 267; Murray 1993: 77; Mandelbaum 1949: vii; Mandelbaum 1941: 131; Darnell/Hymes 1986: 205; Darnell 1990a: 130; Anderson 1985: 217f.). Bis zum Abschluss seines Ph. D. in Linguistik mit der Grammatik zur Takelma-Sprache, die im zweiten Band von Boas’ »Handbook of American Indian languages« publiziert worden war (vgl. »›Handbook of American Indian languages‹ – Konsolidierung der linguistischen Anthropologie«), besuchte Sapir neben den ethnologischen und linguistischen Seminarien bei Boas die von Berthold Laufer (18741934) angebotenen Kurse in »Asian/Western Pacific Culture«.8 Während seiner Studienzeit unternahm Sapir bereits etliche Feldforschungen – »a challenge to the dry scholasticism of Germanic philology« (Darnell 1990a: 130). Im Sommer 1905 verbrachte er zwei Monate im Yakima Reservat im Washington State, um sich mit der Wishram Chinook-Sprache zu beschäftigen. Ein Jahr später verfertigte er Aufzeichnungen zur Lower Takelma-Sprache. 1906 publizierte er seinen ersten Aufsatz in der Festschrift zum 25. Jahrestag von Boas’ Doktorarbeit, eine Analyse eines Textes in Kwakiutl, den George Hunt für Boas aufgezeichnet hatte (Darnell 1990a: 130; Darnell 1990b: 16ff.). Die Zeit nach seinem Abschluss gestaltete sich für Sapir nicht leicht; Stellen im anthropologischen Bereich waren nach wie vor nicht einfach zu finden. Das Fellowship an der University of Pennsylvania begann erst 1908. So reiste der von Boas als »born linguist« (Darnell 1990a: 131) gepriesene Akademiker vorderhand nach Kalifornien, um unter Aufsicht Kroebers Studien zur Yana-Sprache durchzuführen und an der University of California zu unterrichten.9 In Philadelphia erhielt er im Rahmen seines Fellowship die Gelegenheit während zwei Jahren einige wenige Studierende zu den grammatikalischen und phonologischen Besonderheiten der American Indian languages zu unterrichten. Daneben sam8 Details zu Sapirs Studium finden sich in Murray/Dynes (1986). 9 Das anthropologische Departement der University of California war erst seit wenigen Jahren begründet und Gelder waren nicht in Unmengen vorhanden. Das Niveau der Studierenden ließ denn auch oft zu wünschen übrig. Sapir beschrieb Lowie die Erfahrung seiner Lehrzeit wie folgt: »As for university teaching, you will have the extraordinary inspiration of lecturing to a batch of youths and maidens of a degree of sophistication that most readily classes them with Jersey cows, lambs and other peaceful varieties of domestic animals. Be sure to take a carload of lantern slides […]. Only have no illusions about the material out there. They are not Harvard or Columbia grade« (Sapir an Lowie, 26. Juni 1917, zitiert nach Darnell 1998: 151f.; vgl. auch 199ff.; Hoijer 1960: 31).
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melte er zusammen mit seinem besten Studenten J. Alden Mason (18851967) sprachwissenschaftliches Material zur Ute-Sprache und arbeitete im Frühjahr 1910 intensiv mit Tony Tillohash, einem Absolventen der berühmt-berüchtigten Indian Industrial School in Carlisle, Pennsylvania (vgl. »Erziehungs- und Bildungsprogramme zur Förderung der Integration«), einem Southern Paiute, der fließend Englisch sprach.10 Die Beziehung zwischen Tillohash und Sapir war für die anthropologische Forschung der damaligen Zeit typisch. Tillohash, dem Sapir eine Stelle am Museum der University of Pennsylvania besorgte, fungierte noch etliche Jahre als sein linguistischer Informant (Darnell 1990a: 134). Diese Form ›linguistischer Feldforschung‹, das Interview eines »analytically-inclined« (Murray 1993: 80) Native American in urbaner Umgebung, setzte sich als exemplarische Feldforschungsmethode im anthropologischen Kollektiv durch, »in which native speaker intuition served to test the adequacy of a grammar – or phonemic analyses of a language« (Darnell 1990b: 34; vgl. auch Hymes 1983: 249). Trotz allem: Die verschiedenen ›Feldforschungen‹ nützten Sapir wenig, um eine feste Stelle zu kriegen. Franz Boas, der seinen Schüler tatkräftig unterstützte, schlug ihn als seinen Nachfolger für die Position als »official linguist« dem Vorsteher des Bureau of American Ethnology Frederick Ward Hodge vor. Ohne Erfolg. Im Anschluss daran glaubte Boas, für ihn eine neue Stelle in New York kreieren zu können: Sapir sollte an der Columbia University unterrichten und gleichzeitig für das American Museum of Natural History forschen. Doch auch dieses Vorhaben missglückte. Schließlich versuchte Boas Sapir davon zu überzeugen, eine Position als »assistant ethnologist« beim Philippine Government Survey anzunehmen. Sapir, der auf eine Anstellung in New York, San Francisco, Philadelphia oder Chicago hoffte, empfand Boas’ Vorschlag schlicht als Demütigung; er plante seine Karriere auf dem Gebiet der American Indian languages fortzusetzen (Darnell 1990b: 40f.). 1910 erhielt der 26-jährige Edward Sapir – wiederum vermittelt von seinem Lehrer Boas – die Stelle als »chief ethnologist« der neu gegründeten anthropologischen Abteilung des Geological Survey of Canada in Ottawa mit dem Auftrag »a thorough and scientific investigation of the native races of Canada, their distribution, languages, cultures, etc.« durchzuführen und »to collect and preserve records of the same« (Re-
10 Zu den Lebensdaten von Sapirs Informanten Fowler/Fowler (1986). Zu Sapirs Feldforschungen findet sich ein genauer Überblick in Darnell (1990b: 17&18) und Darnell (1990a: 134).
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ginald Walter Brock, Geologieprofessor und Direktor des Survey, an Sapir, 3. Juni 1910, zitiert nach Murray 1993: 80). Von 1910 bis 1925 gelang es Edward Sapir, das erste anthropologische Forschungszentrum in Kanada zu institutionalisieren und die kanadische Anthropologie ganz im Sinne seines Lehrers Franz Boas zu professionalisieren, eine Anthropologie, die 1910 noch immer von Amateuren und »learned societies« geprägt war (Darnell 1990b: 43; Mandelbaum/Harris 1968: 9). Die Jahre in der kanadischen Hauptstadt waren eine äußerst fruchtbare Zeit. Als Leiter der anthropologischen Abteilung – »a position [that] was one of the most secure bases anywhere in North America for the pursuit of professional linguistics research and consequent publication« (Darnell 1976: 116; vgl. auch Mandelbaum 1941: 132) – veröffentlichte Sapir über hundert Abhandlungen zu Sprache, Kultur und Stilistik in diversen Journalen, Zeitungen, Magazinen wie im »American Anthropologist«, ab 1917 im »International Journal of American Linguistics«, im »Dial«, in der »Nation« sowie in den Jahresreporten des »Geological Survey«; er publizierte seine Monographie »Time Perspective in Aboriginal American Culture: A Study in Method« (1916) und schließlich seinen Klassiker »Language« (1921).11 Widmen wir uns Sapirs Schriften im Folgenden genauer.
Germanistische Anfänge 1905 schloss Edward Sapir seine germanistischen Studien mit der master thesis, seiner ersten linguistischen Arbeit, ab – das Thema: »Herder’s prize essay ››On the Origin of Language‹«.12 In Sapirs äußerst kritischer Beschäftigung mit Herders von der Berliner Akademie 1770 preisgekrönten Schrift lässt sich Boas’ Einfluss klar ausweisen. Sapir benutzte die Auseinandersetzung mit Herders Abhandlung als Plattform, alte, überholte sprachwissenschaftliche Konzepte mit neuen der »modern linguistic research« (Sapir 1907: 134) zu ersetzen – mit Konzepten, die wir bereits aus den Schriften von Franz Boas kennen. Sapir widmet sich der von Herder geführten Diskussion gängiger Vorstellungen des 18. Jahrhunderts, wie der Mensch zur Sprache ge11 Einen Überblick über Sapirs Karriere hat Fred Eggan (1984) zusammengestellt, vgl. auch Murray (1981b: 63) und selbstverständlich Regna Darnell (1990b). 12 Koerner äußert die Vermutung, dass das Thema, das Sapir für seine Abschlussarbeit wählte, gar von Boas vorgeschlagen worden war (vgl. Koerner 1990: 114).
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kommen sei, en detail. Gleich zu Beginn seines Aufsatzes dankt er dem Deutschen für zwei nicht nur für die zeitgenössische Linguistik wichtige Einsichten: a) dass der Sprachursprung nicht länger mit göttlichen Interventionen zu erklären sei und b) dass es sich bei der Sprachentwicklung um einen langsamen und graduellen Prozess handle. Dann beginnt er seine fundamentale Kritik am linguistischen Verständnis Herders: Sapir bezeichnet dessen Ansichten zum Sprachursprung und zur Evolution der Sprachen als naive Vorstellungen, ja: »The philosophers of the eighteenth century, relying very heavily on pure reason unfettered by hard facts, proceeded, with admirable courage, to attack and solve the most obscure and intricate problems in the history of human culture« (Sapir 1907: 136). Sapir liefert die »harten Fakten«, Fakten, die Boas während seiner Feldforschung in Baffin-Land zusammengetragen hatte (Murray 1985: 268). Er dekonstruiert Herders Ansicht, dass die »primitiven Sprachen« Nordamerikas über keine entwickelte Grammatik verfügten, ebenso wie die Vorstellung, dass in ursprünglichen Sprachen mehr Synonyme als in zivilisierten aufzufinden seien. Die neu elizitierten Datenmaterialien bewiesen auch, dass sich die »primitiven Sprachen« nicht schneller als andere wandelten – ein Vorurteil, dass viel eher auf die Unfähigkeit der Feldforscher, welche die angeblich »alternating sounds« (siehe »Induktion – das Maß aller Dinge«) nicht zu differenzieren vermochten, zurückzuführen sei: »The oft-asserted and oft-repeated statement of the incredibly rapid change of the languages of the primitive tribes is founded chiefly on the untrustworthy reports of linguistically insufficient missionaries« (Sapir 1907: 134). Sapir distanzierte sich auf diese Weise explizit von den vermeintlich sprachwissenschaftlichen »Wahrheiten« des 18. Jahrhunderts; Herders linguistische Darstellungen zur Entwicklungsgeschichte verschiedener Sprachen, die er abschließend als »confused and antiquated« (Sapir 1907: 129), ja sogar als »absurdly untrue« (Sapir 1907: 134) bezeichnete, dienten ihm dazu, neues sprachwissenschaftliches Wissen der Boasschen linguistischen Anthropologie auch einem breiteren linguistisch interessierten Publikum – der Aufsatz erschien 1907 in der Zeitschrift »Modern Philology« – zugänglich zu machen. In einem aber löst sich Sapir von seinem Lehrer Boas. Boas propagierte Zeit seines Lebens die deskriptive Methode für sprachwissenschaftliche Studien und forderte von seinen Schülern detaillierte synchrone Studien zu den verschiedenen Sprachen Nordamerikas. Sapir nimmt in dieser Frage eine neue, elaborierte Position ein. Er wollte die monogenistische Perspektive – die Vorstellung, dass alle Menschen auf einen Ursprung zurückzuführen seien (siehe »›From the savage into a civilized man‹ – Verfestigung eines wissenschaftlichen Musters im Bu238
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reau of Ethnology«) – bestätigen. Für ihn wäre es für die Einheit des Menschengeschlechts Beweis genug, wenn es ihm gelänge, in allen Sprachen fundamentale Übereinstimmungen vorzufinden. Für Sapir war klar, dass nur eine Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte der Weltsprachen, dass nur »[…] a very extended study of all the various existing stocks of languages« helfen würde, »to determine the most fundamental properties of language […]« (Sapir 1907: 142).
Sprachhistorische Rekonstruktionen der American Indian languages »If there is one point of historic method rather than another that the scientific study of language may teach other historical sciences, it is that changes of the greatest magnitude may often be traced to phenomena or processes of a minimal magnitude« (Sapir 1911a: 58).
In seinem Aufsatz »The History and Varieties of Human Speech« schreibt Sapir dezidiert: »language must have its history« (Sapir 1911a: 45). Und um diese Geschichte habe sich die moderne Linguistik zu kümmern. In dieser Sache waren sich Sapir und Boas uneinig: Boas glaubte nicht daran, dass eine historische Rekonstruktion vorgenommen werden könne, wenn kein schriftliches überliefertes Sprachmaterial vorhanden war und zweifelte an einer endgültigen Beweisführung genetischer Verbindungen (Boas 1920).13 Schließlich ließen sich Ähnlichkeiten zweier Sprachen immer auch als »Lehnmaterialien« interpretieren. Für Sapir, der an der Columbia University eine solide philologische Ausbildung genossen hatte, war es indessen augenfällig, »that the various phonetic and grammatical features of a language at any given time are of unequal antiquity, for they are the resultants of changes that have taken place at very different periods« (Sapir 1911a: 47). Auf der Grundlage dieser »internen Evidenz«, wie Sapir sie nannte, hoffte er eine historische Rekonstruktion des Sprachmaterials vorzunehmen. Sapir unterschied dabei zwei Vorgehensweisen: Einerseits ging er von der Hypothese aus, dass linguistische Merkmale, die irregulär vorkommen, als relativ archaisch betrachtet werden dürfen, »for they are
13 »[Boas] simply disliked and deplored all historical problems, such as those of relationship necessarily are« (Kroeber 1940: 7; vgl. auch Murray 1993: 84).
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in the nature of survivals of features at one time more widely spread«. Die zweite äußerst erfolgbringende Methode zur Rekonstruktion der Sprachgeschichte sei, so Sapir, der Vergleich von »genetically related languages« (Sapir 1911a: 47), das heißt von Sprachen, die man auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen könne: »If all the forms of speech that can be shown to be genetically related are taken together and carefully compared among themselves, it is obvious that much information will be inferred as to their earlier undocumented history« (Sapir 1911a: 48). Sapir studierte während seiner Zeit in Ottawa verschiedene American Indian Languages wie Hopi, Nootka, Comox, Mohawk, Seneca, Tutelo, Delaware, Abenaki, Malecite, Micmac, Montagais, Cree, Chilcat Tlingit, Nass River, Yana (Yahi),14 Kootenay, Skidegate Haida, Tsimshian, Sarcee, Kutchin, Ingalik. In zahlreichen Aufsätzen versuchte er die genealogischen Verbindungen zwischen den Sprachen auf der Grundlage phonologischer, morphologischer, grammatischer wie auch lexikalischer Ähnlichkeiten zu beweisen: 1913 verfasste er im »American Anthropologist« einen Aufsatz, in dem er Wiyot und Yurok der Algonkin Sprachfamilie zuordnete (1913a); im selben Jahr schrieb er im »Journal de la Société des Américanistes de Paris« einen Aufsatz zu »Southern Paiute and Nahuatl: A Study in Uto-Aztekan« (1913b). 1915 veröffentlichte er einen Aufsatz zu den Na-Dene Sprachen, in dem er die genetische Verbindung zwischen Athabaskan, Haida und Tlingit nachzuweisen versuchte, und 1920 publizierte er einen Artikel zu »The Hokan and Coahuiltecan Languages«, zwei Jahre später schließlich einen zu »A Characteristic Penutian Form of Stem« (1921a). Sapir verfolgte mit seinen sprachvergleichenden Arbeiten ein bestimmtes Ziel: Er plante, wie dies Kroeber für die kalifornischen Sprachen bereits tat, die Powellsche Klassifikation zu konsolidieren (Darnell 1998: 62f.). Powells Klassifikation, so Sapir, »needs to be superseded by a more inclusive grouping based on an intensive comparative study of morphological features and lexical elements. The recognition of 50 to 60
14 1915 interviewte Sapir Ishi, einen letzten Überlebenden der Yahi-Kultur in Nordkalifornien. Die Zusammenarbeit war gelinde gesagt frustrierend; Ishi sprach kaum English und war Sapir bei der Übersetzung der Texte in keiner Weise hilfreich: Sapir konnte sich nicht darauf verlassen, dass seine grammatischen Analysen richtig waren (vgl. Darnell 1990a: 82 & 134; Berman 1996: 215ff.). Ishi lebte als ein »living exhibit« an der University of California und starb 1916 an Tuberkulose. Kroeber machte Sapir, der 1915 für Sprachstudien nach Kalifornien reiste und Ishi extensiv zur Yana-Kultur und -Sprache befragte, für Ishis Tod verantwortlich (Buckley 1996: 258f.).
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genetically independent ›stocks‹ north of Mexico alone is a tantamount to a historical absurdity« (Sapir 1921b: 408). Bereits in seiner programmatischen Schrift »Time Perspective in Aboriginal American Culture, A Study in Method« (1916) versuchte Sapir die Relevanz der Linguistik für eine historische Rekonstruktion der amerikanisch-indianischen Kulturen (Olmsted 1950: 1; Mandelbaum 1941: 133; Mandelbaum/Harris 1968: 10) zu beweisen: In dieser Monographie beschäftigte er sich detailliert mit den methodologischen Problemen, die eine von Boas im amerikanischen Denkkollektiv etablierte kosmographische Betrachtungsweise, i. e. eine wissenschaftliche Analyse, die ihren Fokus auf das individuelle Phänomen »in its history and in its medium« (Boas 1887c: 485f.) richtet (siehe »Induktion – das Maß aller Dinge«), mit sich bringt: »Assuming […] that we are desirous of adopting as thoroughly historical a method of interpretation of aboriginal American culture as circumstances permit, the question immediately suggests itself: how inject a chronology into this confusing mass of purely fact« (Sapir 1916: 2)? Wie ist es möglich, eine Geschichte für die Native Americans zu rekonstruieren, wenn das sine qua non der traditionellen Geschichtswissenschaft, die »literary monuments« (Sapir 1911a: 47), fehlen? Neben den Methoden der physikalischen Anthropologie und der Ethnologie argumentiert Sapir ausdrücklich für die Linguistik, denn »a language is not a disconnected complex apart from culture, on the contrary, is an important part of the culture of a particular people living at a definite time and place« (Sapir 1916: 51f.). Die Sprache sei wie die Kultur auch »a composite of elements of very different age, some of its features reaching back into the mists of an impenetrable past, others being the product of a development or need of yesterday« (Sapir 1916: 52). Um die Kulturgeschichte anhand sprachwissenschaftlichen Materials zu beschreiben, wiederholt Sapir in den Grundzügen seine Vorgehensweisen, die er bereits in seinem Aufsatz von 1911 formuliert hatte, spezifiziert sie allerdings: We may either take a single element […] and study its cultural associations and geographical distribution; or we may take a language or linguistic group as such and work out its geographical distribution, and, in most cases, differentiation into smaller units with a view to deducing from this certain historical facts. […] linguistic elements correspond to culture elements and complexes, linguistic groups to culture areas« (Sapir 1916: 54).
Sapir war, wie Regna Darnell in ihrer Biographie zu Recht schreibt, »caught up in a vision of the culture history of North America, revealed 241
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by archaic traces of the common ancestry of tribes and languages« (Darnell 1990b: 107). 1921 schließlich präsentierte Sapir an einem Meeting der American Association for the Advancement of Science in Chicago seine neue »extremely tentative« Klassifikation, die Powells 58 Sprachfamilien auf insgesamt sechs reduzierte, in Form einer Landkarte. Noch im selben Jahr veröffentlichte er dazu einen Artikel in der Zeitschrift »Science«.15 Sapir geht von einer eindeutigen Verbindung zwischen Sprache und Kultur aus. Und das ist erklärungsbedürftig: Faktisch gesehen hatte »der große Meister« Franz Boas mit der Veröffentlichung seines Handbuches (1911a) die Wechselbeziehungen zwischen den wissenschaftlichen Kategorien »Psychical Type«, »Language« and »Customs« (Boas 1911a: 7) kritisiert: Rasse, Sprache, Kultur sind keine sich unmittelbar beeinflussende, vom jeweiligen Entwicklungsstand einer Gesellschaft abhängige Größen (siehe »›The Characteristics of Language‹«). Im linguistischanthropologischen Denkkollektiv – bestehend aus Alfred L. Kroeber und Roland B. Dixon, die durch ihre Studien der kalifornischen Sprachen erstmals Powells Klassifikation zu überarbeiten begannen, John Swanton, John Peabody Harrington, Frank Speck (1881-1950), Leslie Spier (1893-1961), Paul Radin, der sogar glaubte, alle Sprachen Nordamerikas auf eine Sprachfamilie zurückführen zu können – hatte die Ansicht Powells, dass Sprachstudien Aussagen über die Migrationsbewegungen und die Kulturgeschichte der American Indians zuließen und einer ethnischen Klassifikation dienten, dennoch Bestand. Eine Erklärung für die Konzentration auf die sprachhistorischen Studien liegt sicher in Sapirs wissenschaftlichem Hintergrund. Der erste Schüler Boas’, der eine solide linguistische Grundausbildung genossen hatte, verfügte über die Kompetenz, komparative Forschung durchzuführen. Die indoeuropäische Forschung, die sprachhistorische Studien zur Grundlage ihrer Wissenschaft gemacht hatte, sah die Ursache sprachextern motivierter Veränderungen im Sprachkontakt und in der Sprachmischung aufgrund von Migrationsbewegungen, politischem und gesellschaftlichem Wandel, kulturellen Austausch- und Überformungsprozessen. Sapir verstand sich als Teil dieser Tradition. Er brachte damit eine neue, nicht von der Boasschen Anthropologie entwickelte wissenschaft-
15 Sein Beweismaterial publizierte er erst acht Jahre später in der renommierten Enzyklopädie »Britannica« (Sapir 1929; vgl. auch Eggan 1984: 4f.; Golla 1986). Zur genauen Aufgliederung der Sprachfamilien vgl. auch die Analyse von Darnell/Hymes (1986).
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liche Arbeitsweise in die linguistische Anthropologie:16 die komparative Methode (Goddard 1996: 201).17 Franz Boas behielt seine Skepsis gegenüber dieser Verbindung zwischen Kultur und Sprache und der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Zeit seines Lebens aufrecht (Boas 1925b: 3). 18 Aber trotz dieser inhaltlichen Differenz arbeiteten Boas, Sapir, Kroeber in linguistischen Belangen weiterhin eng zusammen (Mandelbaum/Harris 1968: 12). 1916 verfassten sie gemeinsam mit Pliny Earle Goddard den Artikel »Phonetic Transcription of Indian Languages«, der sich mit den Schwierigkeiten beschäftigte, die Boas in seinem Aufsatz von 1889 formuliert, aber nie gelöst hatte: Wie ist es möglich, die American Indian languages objektiv aufzuzeichnen, wenn die Laute immer in Abhängigkeit des phonetischen Systems der eigenen Sprache gehört werden? Und ab 1917 veröffentlichten sie zahlreiche Artikel im von Boas und Goddard herausgegebenen neuen »Journal of American Indian languages«. Und Sapirs »Language« von 1921 kann trotz dieser methodischen Differenzen als durch und durch »Boasian« interpretiert werden. Sie alle trugen mit ihrer Arbeit zur Stabilisierung der linguistischen Anthropologie bei.
Stabilisierung des zirkul ären Syst ems d e r l i n g u i s t i s c h e n An t h r o p o l o g i e Visualisierung und Objektivierung der American Indian languages 1889 hatte Boas in seinem Artikel »On Alternating Sounds« das erste Mal darauf hingewiesen, dass Sprachen immer in Abhängigkeit des eigenen Lautsystems aufgezeichnet werden. Dass alle Sprachen über eine bestimmte limitierte Anzahl von Phonemen verfügen, war Mitte der 16 »Sapir was applying the Indo-European distinction between snychronic and diachronic reconstruction to new vistas« (Darnell 1990b: 93). 17 Sapir wird diese Überzeugung nie aufgeben. Seine Schülerin Mary R. Haas: »Sapir […] held to his conviction that since the problems of the historical relationships of American Indian languages were going to have to be solved by Americanists, such linguists should have sound training in the methods of Indo-European comparative linguistics« (Haas 1953: 448f.). 18 Sogar an der Gründungsveranstaltung der Linguistic Society of America (siehe »Die Gründung der Linguistics Society of America und der Zeitschrift ›Language‹«) sprach sich Boas gegen eine vorschnelle Konstruktion von Sprachfamilien aus (Boas 1925a: 18f.; vgl. auch Boas 1929; Haas 1976: 67; Emeneau 1956: 3; Harrington 1945: 98; Darnell 1998: 221).
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1910er Jahre im anthropologischen Denkkollektiv eine ›wissenschaftliche Tatsache‹. Nur blieb die Frage nach der richtigen Methode, diese niederzuschreiben, bestehen. Wie transkribiert man Sprachen, die in keiner Weise dem eigenen Lautsystem entsprechen? Wie »übersetzt« man Schallwellen in das Medium »Schrift«? Die aufgezeichneten Datenmaterialien waren Ausgangspunkt aller weiteren sprachwissenschaftlichen Analysen, Fehler waren deshalb unbedingt zu vermeiden. Die Frage nach einem geeigneten Alphabet beschäftigte den jeglichen Determinismen gegenüber kritisch eingestellten Gründer der amerikanischen Kulturanthropologie seit längerem. In einem Brief an McGee, 1903, schrieb er: »The question of the alphabet is not an easy one. It ought to be discussed very fully and carefully. […] I do not believe that it can be settled in a very short time. The essential question that has to be decided will be, whether it is at all desirable to adopt a general scheme for all languages. On the whole, I am not on favor of such a plan, because it unnecessarily increases the number of diacritical marks to be used. If, for instance, it so happens that a language uses a certain r that, according to a general plan, ought to be marked with one or two diacritical marks; but if any other r occurs in that language, I do not see why it cannot be printed without any diacritical marks« (Boas an McGee, 28. Mai 1903, Franz Boas Papers).
Erst zehn Jahre später nahm sich Boas dieser Frage nochmals an. Zusammen mit den linguistischen Anthropologen Pliny Earle Goddard, Edward Sapir und Alfred L. Kroeber plante er eine Standardisierung und eine ›Qualitätssicherung‹ der Transkriptionsmethoden, die Verfassung eines geeigneten phonetischen Alphabets, das alle in diesen Sprachen vorkommenden Laute erfasste, kurz: eine Grundlage für sämtliche Niederschriften der American Indian languages. Bereits 1905 hatte sich Pliny Earle Goddard,19 ehemaliger Doktorand des Linguisten Benjamin Ide Wheeler (1842-1927), seines Zei19 Pliny Earle Goddard begann seine akademische Karriere 1901 an der University of California mit einer Stelle als »instructor«. 1906, zwei Jahre nach Vollendung seines Doktorats, erhielt er eine Position als »Assistant Professor«. 1909 zog er nach New York, wo er am American Museum of Natural History als »Assistant Curatorship« beschäftigt war, 1914 wurde er zum »Curator of Ethnology« ernannt. Ab 1915 lehrte er an der Columbia University als »Lecturer in Anthropology«, von 1915 bis 1920 war er Herausgeber des »American Anthropologist« und Mitherausgeber des »International Journal of American Linguistics« (Kroeber 1929: 2ff.; Hymes 1983: 269).
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chens Präsident der University of California (Kroeber 1929: 2), in einem Vortrag mit dem Titel »Mechanical Aids to the Study and Recording of Language« (1905) vor der American Anthropological Association mit dem Problem beschäftigt, wie Sprachen am besten schriftlich festzuhalten seien. Sprache, so beginnt er seine Abhandlung, sei von zweifacher Natur, »consisting of spoken sounds and mental concepts« (Goddard 1905: 613). Und diese »spoken sounds« müssen zur Erfassung der »mental concepts« einwandfrei aufgezeichnet werden. Nur leider gäbe es bis dato kein Alphabet – »however ingenious« (Goddard 1905: 613) –, das eine adäquate Niederschrift der Sprachen ermögliche. Und zudem seien die Sprachwissenschaftler schlicht nicht fähig, die Laute korrekt zu hören. »To remedy this fault«, so schließt Goddard, »the ears must be aided by some means« (Goddard 1905: 614). Die Mittel beziehungsweise Techniken, die Goddard dem anthropologischen Denkkollektiv vorstellt, sind: die Photographie der Lippenstellungen bei bestimmten Lautäußerungen; die so genannten Palatogramme, Kontaktdiagramme, welche die Zungenbewegungen am Gaumen bei der Artikulation von Sprachlauten bildhaft umsetzen; der »Rousselot apparatus«, der die exakte Zeit des Anfangs, der Kulmination und des Endes einer Zungenbewegung aufnimmt und die während der Aussprache ausgeatmete Luft sowie den Druck der Zunge in zwei verschiedenen »synchronos tracings« (Goddard 1905: 616) visualisiert; die Aufnahme der Laute mit dem Phonographen, der damals noch mit Wachszylindern funktionierte. Die von Goddard präsentierten neuen Techniken hatten also eine entscheidende Aufgabe zu übernehmen: Sie sollten das, was die Forscher nicht hören konnten, visualisieren und einer wissenschaftlichen Analyse zugänglich machen. Tatsächlich war es zu Beginn der Anthropologie Usus, technische Apparaturen zur Aufnahme von Sprachen ins Feld mitzunehmen.20 Im Laufe der Ausdifferenzierung der linguistischen Anthropologie kamen die »Experten«, die American Indians selbst, in die Laboratorien der Universitäten, um Sprachaufnahmen vorzunehmen (Kroeber 1929: 5; Rowe 1953: 917). Nur ein Problem konnten auch die neuen Techniken nicht lösen: Wie teilt man die Laute einer fremden Sprache in Wörter auf und wie bestimmt man deren Bedeutung?
20 Franz Boas hatte für seine Reise in British Columbia einen Phonographen dabei (Jacknis 1996: 204; Rowe 1953: 914).
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Die Anthropologen Boas, Goddard, Sapir, Kroeber hielten an der Verschriftung der American Indian languages fest. Nur ein Transkript konnte die Basis für weitere Analysen bereitstellen. Sie erklärten das der zweiten Auflage der von Powell herausgegebenen »Introduction to the Study of Indian Languages« beigelegte Heftchen mit den Transkriptionsregeln Whitneys, der seine phonetischen Regeln auf indoeuropäische Sprachbeispiele abstellte, als überholt (vgl. »›Introduction to the Study of Indian Languages‹ – Instrument zur Mobilisierung der American Indian languages« und »Induktion – das Maß aller Dinge«) und entwarfen ein eigenes. Als Mitglieder des Komitees der American Anthropological Association veröffentlichten Boas, Goddard, Sapir und Kroeber21 einen Bericht mit dem Titel »Phonetic Transcription of Indian languages«. Der Aufsatz war ein Resultat zahlreicher Sitzungen, die sie zwischen 1913 und 1915 mit dem Ziel abgehalten hatten, um ein »phonetic system for transcribing Indian languages« (Report 1916: 1) zu verfassen: Der Artikel beginnt mit den »allgemeinen Prinzipien«: Grundlage jeder Transkription ist die Darstellung eines Lautes mit immer demselben Symbol. Die verwendeten Symbole sollen, wenn immer möglich, denen entsprechen, die bereits in der Vergangenheit benutzt worden sind. Auf die Mischung von verschiedenen Druckschriften und ungewöhnlichen Zeichen, wie auch auf Zeichensetzungen wie Grossbuchstaben, Kommata und Punktzeichen, die nicht einer grammatischen Analyse dienen, ist zu verzichten. Um die Kosten für die Druckerstellung zu verringern, sind diakritische Zeichen und Akzente nur wenn unbedingt nötig zu gebrauchen. Falls für eine Sprache bereits ein einheitliches phonetisches Inventar entwickelt worden ist, sind, um Missverständnisse zu vermeiden, keine Neuerungen einzuführen (Report 1916: 1). Dieser von den Autoren ausgearbeitete Vorschlag kann man als Kompromisslösung charakterisieren. Vorhandene und verwendete phonetische Systeme wurden teilweise übernommen; zudem galt es, den Beschränkungen, die das zeitgenössische Druckereisystem und die damit verbundenen Kosten ihnen auferlegte, sowie der Varietät der American Indian languages gerecht zu werden. Das Ergebnis war denn schließlich ein zweigeteiltes System: ein einfaches phonetisches Inventar, das die »ordinary purposes of recording and printing texts« befriedigte und andererseits ein detailliertes und komplexes Verfahren »for the recording 21 An den ersten Sitzungen war auch noch John Peabody Harrington dabei, der dann später ausgeschlossen wurde, weil er kein Mitglied der AAA war (Darnell 1998: 195).
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and discussing of the complex and varied phonetic phenomena encountered in American linguistics. […] By its aid it is hoped that the phonetic features of all of the extant North American languages may be discussed and compared« (Report 1916: 2). Boas, Sapir, Goddard und Kroeber verfügten 1916 über genügend Autorität, das von Whitney konzipierte Alphabet zu ersetzen. Die Transkriptionsregeln sind denn auch als Ausdruck einer neuen selbstverständlichen Professionalität zu lesen (vgl. Darnell 1998: 196); sie entschieden darüber, wie eine wissenschaftliche »Vergegenständlichung« der mündlichen American Indian languages vorzunehmen war. Den Autoren war es nunmehr gelungen, die American Indian languages endgültig in ihren wissenschaftlichen Kontext zu integrieren und sie Theorien der komparativen Tradition, die sich ausschließlich mit schriftlichen Quellen beschäftigte, zugänglich zu machen; die Transkripte der American Indian languages werden zur Grundlage neuer linguistischer Analysen und Theoriebildungen (vgl. auch Lynch/Woolgar 1991). Sie bilden letztlich einen weiteren Akt der Disziplinierung indianischer Sprachen. Oder mit Jane H. Hill und Bruce Mannheim zu sprechen: [T]he act of transcription itself is […] the political imposition of our own ›language games‹ in the forms of life of speakers of other languages« (Hill/Mannheim 1992: 384).
»International Journal of American Linguistics« 1917 kam es zu einem weiteren Autonomisierungsschritt innerhalb des linguistisch-anthropologischen Denkkollektivs. Boas gründete das »International Journal of American Linguistics« – eine Zeitschrift, die sich ausschließlich der linguistischen Analyse der »American aboriginal languages« (Boas 1917: 1; vgl. auch Joseph 2002: 15f.) widmete. Das Journal gab den linguistischen Anthropologen die Möglichkeit, die neuesten Erkenntnisse ihrer Wissenschaft zu publizieren und trug wesentlich zur Konsolidierung und Stabilisierung der linguistischen Anthropologie bei. Boas’ einführende Bemerkungen zur ersten Nummer des »International Journal of American Linguistics« reflektieren beispielhaft den zeitgenössischen Diskurs: Neben der Forderung nach einer verbesserten Qualität der gesammelten Sprachmaterialien – Vokabularlisten allein, so Boas, reichten nicht aus, gefragt sind Studien, die sich mit den strukturellen Besonderheiten der American Indian languages auseinander setzten – mahnt er seine Kollegen, die Schwierigkeiten, die bei einer Transkription von mündlichen Sprachen auftreten können, zu bedenken: Der interviewte Native American greife etwa, weil die Aufnahme von Texten langsam und mühselig verlaufe, oft auf verzerrte, einfache syntaktische 247
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Konstruktionen zurück, um das Verfahren zu beschleunigen. Auch dürften, so argumentiert Boas weiter, die schriftlich verfassten Texte eines einzelnen, des Schreibens kundigen Native American, nicht als Grundlage für weitere linguistische Analysen übernommen werden. Denn in jedem Text fänden sich stilistische Besonderheiten, die nur Ausdruck seines individuellen Schreibstils und nicht für die gesamte Sprache gültig seien. Des Weiteren verlangt Boas, wie er dies bereits in seinem »Handbook of American Indian languages« getan hatte, die Untersuchung der »characteristic psychological categories of Indian languages« (Boas 1917: 5): »The unconsciously formed categories found in human speech have not been sufficiently exploited for the investigation of the categories into which the whole range of human experience is forced« (Boas 1917: 5). Fast auf drei Seiten des Textes schließlich setzt sich Boas mit dem von Sapir in das linguistisch-anthropologische Denkkollektiv eingebrachten Vorschlag auseinander, historisch-vergleichend zu arbeiten – für ihn nach wie vor eine Unmöglichkeit: »[I]n America […] we cannot trace the development of languages by means of historical documents. The results of the historical and comparative studies of Indo-European languages show very clearly that languages that have sprung from the same source may become so distinct, that, without documents illustrating their historical development, relationships are difficult to discover; so much so, that in some cases this task might even be impossible« (Boas 1917: 3).
Die Suche nach den genealogischen Verbindungen der Sprachen, so formuliert Boas abschließend, bleibe auf der Grundlage des vorhandenen Datenmaterials schwierig: »We do not mean to say that the investigation may not satisfactorily prove certain genealogical relationships; but what should be emphasized is, that, in the present state of our knowledge of primitive languages, it is not safe to disregard the possibility of a complex origin of linguistic groups, which would limit the applicability of the term ›linguistic family‹ in the sense in which we are accustomed to use it. […] The proof of genetic relationship, however, can be considered as given, only when the number of unexplained distinct elements is not over-large, and when the contradictory classifications […] have been satisfactorily accounted for. It is quite evident, that, owing to the lack of knowledge of the historical development of American languages, convincing proof of genealogical relationship may be impossible, to obtain, even where such relation exists […]« (Boas 1917: 4f.).
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Boas ist nicht gegen eine Klassifikation per se, doch glaubt er, dass es besonders wichtig ist, »to attempt to carry through these classifications without prejudging the question as to the genealogical position of the various groups« (Boas 1917: 4). Das »International Journal of American Linguistics« verstand sich als Diskussionsforum für die linguistische Anthropologie. Noch im selben Heft veröffentlichte Sapir in der Sparte »Reviews« denn auch seine Position: In seiner Rezension der Publikation C. C. Uhlenbecks »Het Passive Karakter van het Verbum Transitivum of van het Verbum Actionis in Talen von Noord-Amerika« distanziert er sich von voreiligen Verbindungen zwischen sprachlichen und psychologischen Konzepten und entlarvt Uhlenbecks Beschreibung der Passivverbformen in den American Indian languages mit dem Label »primitiv« als reine Spekulation: »To Uhlenbecks’ speculations […] I am not inclined to attach much importance. Such questions must be attacked morphologically and historically, not ethno-psychologically« (Sapir 1917a: 85). Und in einer kritischen Würdigung der vom Bureau of American Ethnology herausgegebenen Publikationen unterbreitet er seine eigenen Ansätze für eine zukünftige linguistische Anthropologie: »Comparative work in linguistics, if it is to be of any scientific value, requires a keenly sensitive historical consciousness on the handling of linguistic phenomenon. It is precisely the historical interpretation of cultural elements, however, that has up to the recent past been most consciously absent in Americanistic work. The lack of linguistic studies of a comparative nature is merely a symptom of this general defect« (Sapir 1917b: 81).
Boas, der nie eine fundierte linguistische Ausbildung wie sein Schüler genossen hatte, und seine im anthropologischen Denkkollektiv propagierte Skepsis gegenüber Sapirs Ansicht, dass komparative Untersuchungen der American Indian languages Aussagen über deren kulturelle Entwicklung zuließen, Zeit seines Lebens aufrecht erhielt – und letztlich auch mitverantwortlich war für den von Sapir beschriebenen Mangel – hatte dementsprechend auch dieser Generalisierung gegenüber große Bedenken. Er führte sie auf die »Indo-European experience« zurück, die nicht anders konnte als »to seek for a common origin for all those languages that have a far-reaching morphological similarity« (Boas 1917: 4). Das »International Journal of American Linguistics« war nicht nur Plattform für die im linguistisch-anthropologischen Diskurs erörterten Forschungsprobleme und -methoden; es war auch ein Publikationsforum für 249
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Texte, die sich mit den Spezifika der American Indian languages beschäftigten. Das ganze »American Indian linguistics establishment« war denn auch im Autorenkollektiv vertreten: Leo J. Frachtenberg, John R. Swanton, Truman Michelson, J. Alden Mason, Frank G. Speck, Pliny Earle Goddard, Alfred L. Kroeber, Leslie Spier und ab 1924 Leonard Bloomfield. Sie publizierten zu Themen wie »A Siletz Vocabulary« (Frachtenberg 1917), »Unclassified Languages of the Southwest« (Swanton 1917), »Notes on Algonquian Languages« (Michelson 1917), »Tepecano Prayers« (Mason 1918), »Penobscot Transformer Tales« (Speck 1918) etc. Edward Sapir veröffentlichte von 1917 bis 1925 die meisten Artikel im neuen Journal. Er entwickelte sich zum »most brilliant student« (Darnell 1990b: 102) der verschiedenen American Indian languages. Dieses Wissen eröffnete ihm nicht nur die Möglichkeit, das anthropologische Denkkollektiv mit neuen Methoden bekannt zu machen, sondern auch Fragestellungen und Probleme, die in der klassischen, indoeuropäischen Sprachwissenschaft diskutiert worden waren, aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Die »neuen Materialien« dienten ihm dazu, bisherige Erkenntnisse, Generalisierungen der klassischen komparativen Forschung in Frage zu stellen.
Kristallisierung linguistischer Anthropologie in Sapirs »Language« 1921 erscheint Edward Sapirs Monographie mit dem schlichten Titel »Language«. »Language« gilt heute als Klassiker; bereits mehr als 180'000 Exemplare (Darnell 1990b: 97) sind verkauft worden. Sapir konsolidierte mit dieser Publikation seine linguistischen Ansichten, knüpfte an Thesen Boas’ an, führte sie weiter und verband sie mit Erkenntnissen aus der indoeuropäischen vergleichenden Sprachwissenschaft. Mit »Language«, einem Werk, das er für »linguistic students« ebenso wie dem »outside public« geschrieben hatte, gelang es ihm einerseits, das aus seiner Sicht linguistisch nur schlecht ausgebildete Denkkollektiv der Anthropologen zu überzeugen, dass: »[a] good linguist can find out more […] in five hours’ honest work than the average ethnologist in six months of weary questioning« (Sapir an Clark Wissler (1870-1947), 3. Okt. 1920, zitiert nach Darnell 1990a: 131). Er lieferte andererseits aber auch den indoeuropäischen Linguisten verschiedene Daten zu den American Indian languages – zum Beispiel zu Nootka, Sioux, Paiute, Haida, Eskimo, Nass, Chinook, Iroquois, Nahuatl, Yana, Tsimshian, Navaho, Hupa, Carrier, Chipewyan, Loucheux, Athabaskan, 250
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Fox, Takelma, Navaho, Tlingit, Kwakiutl –, die die vermeintlich gültigen Gesetze der traditionellen Sprachwissenschaft in Zweifel zogen. Sapirs Ziel war es letztlich, »to promote a better understanding between anthropological linguists and other linguists« (Haas 1953: 449). Gegenstand von Sapirs Werk ist das Studium von »speech«, das heißt der mündlichen Sprache, die er als »a purely and non-instinctive method of communicating ideas, emotions, and desires by means of a system of voluntarily produced symbols« (Sapir 1921c: 7; vgl. auch Anderson 1985: 223) definiert. Die Essenz der Sprache besteht aus Sapirs Sicht »in the assigning of conventional, voluntarily articulated sounds, or of their equivalents, to the diverse elements of experience« (Sapir 1921c: 10). Der Gegenstand der Linguistik hat sich, so fordert Sapir, auf die »function and form of the arbitrary system of symbolism« (Sapir 1921c: 10) jenseits psychologischer Mechanismen zu konzentrieren. Sapirs Ausführungen erinnern sehr an Ferdinand de Saussures zentrale, im »Cours de Linguistique Générale« hervorgebrachte Ideen. Sapir spricht in seinen Ausführungen denn auch von einer rein symbolischen, willkürlichen Assoziation zwischen einem Wort und seinem »image« und setzt als notwendige Bedingung für die Kommunikation voraus, dass die Elemente einer Sprache mit einer letztlich unlimitierten Anzahl von Erfahrungen assoziiert werden müssen. »It would be impossible for any language to express every concrete idea by an independent word or radical element« (Sapir 1921c: 88). Sapir kannte die von Charles Bally (1865-1947) und Albert Sechehaye (1870-1946) herausgegebene Vorlesungssammlung nicht. Die Erstausgabe war in Amerika während des Krieges nicht erhältlich (Murray 1993: 90). Man darf also annehmen, dass Sapir seine Ansichten unabhängig vom Genfer Linguisten entwickelt hat. In Wirklichkeit knüpft Sapir an die Aussagen seines Mentors an: Boas geht, wie bekannt ist, in seinem »Handbook of American Indian languages« davon aus, dass man menschliche, an sich unbegrenzte Erfahrungen nur vermitteln kann, wenn man diese klassifiziert und in einer beschränkten Anzahl von phonetischen Gruppen zusammenfasst (Contini-Morava 1986: 343) (siehe »›The Characteristics of Language«‹). Und diese Argumentation Boas’ bleibt nicht die einzige, an die Sapir in seiner Monographie anschließt: Sapir verabschiedet sich von der Vorstellung, dass primitive Sprachen nicht über eine vollständig entwickelte Grammatik verfügen (Sapir 1921c: 22) – »grammar«, so schreibt er, sei »a universal trait of language« (Sapir 1921c: 39) –; er glaubt, dass jede Sprache zwischen Nomen und Prädikat unterscheidet (Sapir 1921c: 126); er betrachtet die linguistischen Kategorien als dem Bewusstsein nicht zugänglich (Sapir 1921c: 105); er spricht von der »inner form« der 251
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Sprachen (Sapir 1921c: 115); er enthüllt die linguistischen, rassischen und kulturellen Gruppierungen als inkongruent;22 er distanziert sich von den »tyrannical« (Sapir 1921c: 130), evolutionstheoretisch begründeten Bewertungen verschiedener Sprachtypen; er diskutiert Boas’ Idee, dass in jeder Sprache nur eine beschränkte Anzahl von Lauten vorhanden ist, und schließlich propagiert er den Boasschen Kulturrelativismus: »Yet destructive analysis of the familiar is the only method of approach to an understanding of fundamentally different modes of expression. When one has learned to feel what is fortuitous or illogical or unbalanced in structure in his own language, he is already well on the way towards a sympathetic grasp of the expression of the various classes of concepts in alien types of speech« (Sapir 1921c: 94).
– »Language« ist durch und durch »Boasian«, nur profunder – und »indoeuropäischer«.23 Sapir gelingt es mit seinen empirischen Analysen unglaublich kreativ und detailliert die morphologischen und phonetischen Besonderheiten einzelner Sprachen aufzuzeigen24 und insgesamt sechs grammatische 22 Es ist falsch anzunehmen, dass Boas und Sapir Sprache und Kultur in allen Belangen als getrennt erachten. Es ging ihnen in erster Linie darum, dass die Vorstellung, dass ähnliche Kulturen auch ähnliche Sprachen sprechen, falsch ist: »It is wrong to believe that the idea of language, culture, and thought as separate variables is somehow validated by the well-known insistence of Boas and Sapir on the separation of race, language, and culture. Statements like Sapir’s [vgl. Sapir 1921c: 218f.] that ›the drifts of language and culture [are] noncomparable and nonrelated processes‹ have no direct relevance to any hypothetico-deductive ›operationalizing‹ of a hypothesis of linguistic relativity. Instead they argue against a contemporary tendency to naively assign ›language‹ and ›race‹ to archaeological remains« (Hill/ Mannheim 1992: 386). 23 »We must appreciate the characteristically Boasian form of argumentation that Sapir employs in all his theoretical writing, even down through such major pieces as Language (1921) […]« (Silverstein 1986: 71). 24 Um ein kurzes Beispiel in die doch sehr einleuchtende Analyse Sapirs zu geben: Illa alba femina quae venit and illi albi homines qui veniunt, conceptually translated, amount to this: that-one-feminine-doer one-femininewhite-doer feminine-doing-one-woman which-one-feminine-doer otherone-now-come; and: that-several-masculine-doer several-masculine-whitedoer masculine-doing-several-man which-several-masculine-doer otherseveral-now-come. Each word involves no less than four concepts, a radical concept (either properly concrete – white, man, woman, come – or demonstrative – that, which) and three relational concepts, selected from the categories of case, number, gender, person, and tense. Logically, only case (the relation of woman or man to a following verb, of which to its antecedent, of
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Prozesse – »word order; composition; affixation, including the use of prefixes, suffixes, and infixes; internal modification of the radical or grammatical element, whether this affects a vowel or a consonant; reduplication; and accentual differences, whether dynamic (stress) or tonal (pitch)« (Sapir 1921c: 64) – zu unterscheiden. Die Frage der genealogischen Beziehungen zwischen den Sprachen gibt er auch in »Language« nicht auf. Die von ihm beschriebenen grammatischen Prozesse eignen sich allerdings kaum, so gibt er zu, für eine Klassifikation der Weltsprachen. Schließlich kommen sie in allen Sprachen vor. Im darauf folgenden Kapitel »Types of Linguistic Structure« handelt er die Humboldtschen Sprachtypen ab und kritisiert die mit »preconceived values« operierende, »still popular classification of languages into an ›isolating‹ group, an ›agglutinative‹ group and an ›inflective group‹« als zu ungenau: Sprachen seien »exceedingly complex historical structures. It is of less importance to put each language in a neat pigeon-hole than to have evolved a flexible method which enables us to place it, from two or three independent standpoints, relatively to another language« (Sapir 1921c: 149).25 Sprachen sind historische Produkte, wiederholt Sapir auch in »Language«. Die einzige Möglichkeit, wissenschaftlich fundierte Aussagen über die genealogischen Verbindungen der American Indian languages zu machen, sei, so erklärt Sapir, die Untersuchung des Sprachwandels auf der phonetischen Ebene. Er formuliert die These, dass jede sprachliche Veränderung einer bestimmten Richtung folge. »Language move down time in a current of its own making. It has a drift« (Sapir 1921c:
that and white to woman or men, and of which to come) imperatively demands expression, and that only in connection with the concepts directly effected (there is, for instance, no need to be informed that the whiteness is a doing or doer’s whiteness). The other relational concepts are either merely parasitic (gender throughout; number in the demonstrative, the adjective, the relative, and the verb) or irrelevant to the essential syntactic form of the sentence (number in the noun; person; tense). An intelligent and sensitive Chinaman, accustomed as he is to cut to the very bone of linguistic form, might well say of the Latin sentence, ›How pedantically imaginative!‹« (Sapir 1921c: 101f.). 25 In der Forschung wurde bereits des Öfteren versucht, Sapirs Grundgedanken auf Wilhelm von Humboldt zurückzuführen (vgl. etwa die Arbeit von Erickson et al. 1997). Meines Erachtens negieren diese Arbeiten den zeitgenössischen Kontext, in dem Edward Sapir arbeitete. Unterstützung für dieses Argument findet sich bei Joseph (2002: 73). Zur Klassifikation vgl. auch Anderson (1985: 224f.).
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160; vgl. auch Emeneau 1956: 4; Mandelbaum/Harris 1968: 14). Könne man diese Richtung festlegen, seien historische Rückschlüsse möglich. Sapir wollte mit diesem Postulat einer Entwicklung demonstrieren, dass nur mit der komparativen Methode systematische phonetische Korrespondenzen zwischen zwei verschiedenen Sprachen analysiert werden können. Sapir verzichtete allerdings darauf, wie bis anhin, zu betonen, dass durch die linguistischen Untersuchungen viel über die Kulturgeschichte der American Indians gelernt werden könne und folgte in dieser Sache der Boasschen Entkoppelung von Sprache und Kultur. Sapir, offensichtlich sehr unzufrieden mit seinem zehnten Kapitel »Language, Race, and Culture«, das in seiner Anlage sehr an die Einführung »Handbook of the American Indian languages« erinnert, scheute, so Regna Darnell, den Konflikt mit Boas,26 »[who] was not able to accept that sound correspondences in language provided irrefutable evidence of genetic relationship« (Darnell 1986: 562). Sapirs Werk wurde vom anthropologischen Denkkollektiv wohlwollend aufgenommen und trug zusammen mit der Standardisierung der Transkription, der Begründung des »International Journal of American Linguistics« zu einer Verfestigung der linguistischen Anthropologie bei. Aber Sapir erhielt auch Reaktionen außerhalb des anthropologischen Kollektivs: Der germanistische Philologe Leonard Bloomfield pries in einer Rezension Sapirs Gewichtung der synchronischen linguistischen Arbeit, die methodologisch gesehen untrennbar mit den diachronischen und historischen Problemen verbunden war – ein Prinzip, das für Sapir wie auch für Leonard Bloomfield nicht nur für die linguistische Anthropologie galt, sondern unbedingt Einzug halten sollte in die klassische Sprachwissenschaft.
E r s t e Au t o n o m i s i e r u n g s v e r s u c h e d e r L i n g u i s t i k als Wissenschaft Edward Sapir erhielt mit seinem Buch »Language« von einem Vertreter der deutschen Philologie, von Leonard Bloomfield, große Wertschätzung. Und dies ist bemerkenswert. Tatsächlich hoffte Sapir auf die Anerkennung vom philologischen Denkkollektiv, versuchte die ›klassischen‹ Linguisten zu überzeugen, dass genealogische Verknüpfungen
26 Sapir beschrieb das Kapitel als »too negative in result and too much along our continual Boasian lines« (Sapir zitiert nach Darnell 1990b: 99).
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mittels der komparativen Methode auch bei den »illiterate languages« aufgezeigt werden können.
Leonard Bloomfield – Professor für komparative Philologie und Deutsche Sprachwissenschaft Leonard Bloomfield (1887-1949) arbeitete ab 1908 am germanistischen Institut der University of Chicago als graduate assistant. Gleichzeitig nahm er Kurse in indoeuropäischer Philologie (Haas 1976: 63f.; Anderson 1985: 251f.; Hall 1949). 1909 reichte er seine Doktorarbeit mit dem Titel »A Semasiological Differentiation in Germanic Secondary Ablaut« ein. Als ausgebildeter komparativer Linguist war er ab 1913 als Assistant Professor of Comparative Philology and German an der University of Illinois tätig. Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges studierte er von 1913 bis 1914 in Göttingen und Leipzig beim Junggrammatiker August Leskien sowie dem ›Psychologen‹ Wilhelm Wundt (1832-1920), um seine akademische Karriere zu besiegeln. Bloomfields linguistische Arbeiten, die er vor dem Ausbruch des Weltkrieges schrieb, waren denn auch stark mit diesem philologischen Denkkollektiv, in dem es darum ging, diachrone wie auch synchrone Sprachstudien mit Referenz zur psychologischen Doktrin auszuarbeiten, verbunden. Allen voran war es das Werk Wundts, das den jungen Philologen stark beeindruckte und auch für eine gewisse Zeit prägte. 1913 schrieb er zur Monographie »Elemente der Völkerpsychologie« eine Rezension, die im »American Journal of Psychology« veröffentlicht wurde. 1914 erschien sein linguistisches Werk, das die sprachwissenschaftlichen Ansichten seines Denkkollektivs wiedergab, »An Introduction to the Study of Language«. Darin schreibt er explizit: »It will be apparent, especially, that I depend for my psychology, general and linguistic, entirely on Wundt; I can only hope that I have not misrepresented his doctrine. The day is past when students of mental sciences could draw on their own fancy or on ›popular psychology‹ for their views of mental occurrence« (Bloomfield 1983 [1914]: VI; vgl. auch Joseph 2002: 49f.; R. Anderson 1985: 252f. & 254). In der Psychologie Wundts, der sich für die Untersuchung der Regularitäten von bestimmten mentalen Verhaltenweisen in einer spezifischen experimentellen Situation interessierte, nahm die Sprache einen wichtigen Stellenwert ein. Seine Arbeit »Die Sprache« von 1900 (überarbeitet in 1904 und 1911/12) leitete sein zehnbändiges Werk »Völkerpsychologie« ein (1900-1920). Wundt akzeptierte in seinem völkerpsychologischen Ansatz die philologische Prämisse, dass man zu jeder sozialen Gruppe einen Zugang erhalten kann, »through the analysis of its 255
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language, believing that the very vocabulary and grammar of a people reveal its psychic constitution« (Wundt zitiert nach Kess 1983: xxii). In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts kam man als Philologe oder Ethnologe nicht umhin, sich mit dem völkerpsychologischen Ansatz Wundts27 auseinander zu setzen. Egal, ob man für oder gegen ihn war, man hatte sich mit seinen Argumenten, die er auf insgesamt 53'735 Seiten (Kess 1983: xxiii) zum Besten gab, zu beschäftigen. Bloomfield gehörte bis zum Weltkrieg zu den Befürwortern Wundtscher Sprachtheorie und stellt sich in seiner »Introduction« hinter dessen ethnolinguistische Ansätze: »[P]sychology makes a wide use of the results of linguistics […]. Such mental processes, then, as those involved in the utterance of speech cannot find their explanation in the individual, – he receives his speech-habits from others, – but must be traced for explanation from individual to individual ad infinitum. They are products of the mental action not of a single person, but of a community of individuals« (Bloomfield 1983 [1914]: 323; vgl. auch Haas 1976: 65; Hill 1955: 253).
Nach dem Weltkrieg änderte sich das intellektuelle Klima entscheidend. Die Wundtsche Psychologie wurde als »deutsche« Psychologie aus dem amerikanischen Denkkollektiv verbannt. Die deutsche intellektuelle Hegemonie verlor im wissenschaftlichen Diskurs an Macht (vgl. »Amerika nach dem Weltkrieg«). In Nordamerika begann sich unter den Psychologen ein neuer, von deutschen Traditionen unabhängiger Denkstil auszudifferenzieren: der Behaviorismus. Bloomfield gab nach seiner Rückkehr aus Deutschland die germanistischen Studien auf und begann sich mit Tagalog, der heutigen Nationalsprache der Philippinen, zu beschäftigen. Ein Student namens Antonio Viola Santiago (Murray 1993: 117), der an der University of Illinois Architektur studierte, diente ihm als Informant. In dieser ersten deskriptiven Arbeit attackiert er zum ersten Mal den Ethnozentrismus der »distorting imposition« der indoeuropäischen Kategorien (Murray 1993: 117). Um 1919 folgten weitere deskriptive Sprachstudien. Er begann die Algonquian languages miteinander zu vergleichen. Und während der
27 Auch Boas rezipierte Wundt. Nur war er gegen dessen Vorstellung, dass »primitive Völker« nicht abstrakt denken können (vgl. Mackert 1993: 341; vgl. auch »›The Mind of Primitive Man‹ – Dissoziation alter Verbindungen«).
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Sommermonate in den Jahren 1920 und 1921 sammelte er Daten der Menomini (Murray 1993: 119; Darnell 1990b: 268f.). 1921 erhielt Bloomfield an der Ohio State University eine Stelle als Professor of German and Linguistics.28 Ein Jahr nach seinem Stellenantritt schrieb Leonard Bloomfield in der philologischen Zeitschrift »Classical Weekly« eine durchwegs positive Rezension zu Sapirs »Language« und empfahl das Buch dem allgemeinen Leser zur Lektüre. Es sei »dependable« und stütze sich auf eine »wide study and scientific experience« (Bloomfield 1922: 142). Die Spezialisten müssten, so Bloomfield, Sapirs Monographie aus zwei Gründen lesen. Sapir konsolidiere nicht nur das zeitgenössische linguistische Fachwissen, sondern reflektiere auch die zwei im linguistischen Denkkollektiv diskutierten neuesten Trends, die den Fortschritt der Sprachwissenschaft garantierten: 1) Die linguistische Wissenschaft dürfe sich nicht länger nur auf dokumentiertes historisches Material beschränken. Mit Bloomfields Worten: »Dr. Sapir deals with synchronic matters (to use de Saussure’s terminology)29 before he deals with diachronic, and gives the former as much space as to the latter« (Bloomfield 1922: 142). Und 2) Die Linguistik sei als autonome Wissenschaft zu etablieren: »We are casting off our dependence on psychology, realizing that linguistics, like every science, must study its subject matter in and for itself, working on fundamental assumptions of its own; that only on this condition will our results be of value to related science. […] In other words, we must study people’s habits of language – the way people talk – without bothering about the mental processes that we may conceive to underlie or accompany these habits. We must dodge this issue by a fundamental assumption, leaving it to a separate investigation, in which our results will figure as data alongside the results of the other social sciences. Dr. Sapir is here again in the modern trend; his whole presentation deals with the actualities of language rather than with hypothetical mental parallels« (Bloomfield 1922: 142).
28 Dort traf er auf den Behavioristen Albert Paul Weiss (1879-1931), einen ehemaligen Schüler Wundts. Weiss beeindruckte Bloomfield durch seine Konzeption von Wissenschaft. In der Forschung geht man davon aus, dass Bloomfields Entscheidung, die Linguistik als autonome Wissenschaft, als Wissenschaft jenseits psychologischer Doktrinen zu etablieren, mit Weiss’ Ansichten zusammenhängt (vgl. Kess 1983: xix; Joseph 2002: 55; Anderson 1985: 254). 29 Leonard Bloomfield schrieb die erste amerikanische Rezension zu Ferdinand de Saussures »Course de Linguistique Générale« (1924).
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Sapir war nunmehr für Bloomfield ein Verbündeter, der die Linguistik als eigenständige Wissenschaft jenseits »psychologischer Theorien« zu etablieren versuchte. – Die beiden Sprachwissenschaftler trafen sich vermutlich das erste Mal am Organisationsmeeting für die Linguistic Society of America in New York City am 28. Dezember 1924 (Murray 1993: 113f.).
Die Gründung der Linguistic Society of America und der Zeitschrift »Language« Die jungen Sprachwissenschaftler hatten eine Ausbildung genossen, die sie mit komparativen Methoden für die Analyse historischer Quellen ausgestattet hatte. Zu Beginn der 1920er begann diese Generation sich gegen die Ansicht, dass sich Sprachwissenschaftler nur mit schriftlichen Dokumenten auseinander zu setzen haben, zur Wehr zu setzen. Für sie war es offensichtlich: Die gesprochene Sprache musste als gleichwertiges Untersuchungsobjekt in die Linguistik einbezogen werden; synchrone Analysen haben die diachronen zu ergänzen und schließlich: die Sprachwissenschaft müsse endlich von der »Tyrannei der Apriori-Kategorien«, welche die indoeuropäischen Sprachwissenschaftler bei der Analyse ihrer Studien anwendeten, befreit werden. Die Gründung einer nationalen Gesellschaft für Sprachwissenschaftler, die diese neuen Prinzipien umsetzten, war das Ziel von George Melville Bolling (1871-1963), Professor für Altphilologie an der Ohio State University, Edgar H. Sturtevant (1875-1952), Professor für Altphilologie an der Yale University und Leonard Bloomfield. Mit ihrem Plan stießen sie bei linguistischen Anthropologen wie Edward Sapir, Franz Boas, Alfred L. Kroeber, Pliny E. Goddard, Truman Michelson auf große Resonanz. Für die Anthropologen war die Datenelizitierung und die Analyse der gesprochenen Sprachen der Native Americans schon längst wissenschaftlicher Alltag. Für sie waren die Sprachen keinesfalls, wie es die damaligen Philologen oft glaubten, nur »›dialects‹ or ›jargons‹ of small extent and subject to no fixed rules« (Bloomfield 1925b: 2). Am 15. November 1924 versandten Sturtevant, Bloomfield und Bolling den »Call for the Organization Meeting« an unterschiedliche Personen und Organisationen. Die einleitenden Worte lauteten: »Dear Colleague: The undersigned students of language believe that the time has come to form a society which will enable us to meet each other, give us opportunity for the exchange of ideas, and represent the interests of our studies. The existing learned societies in related fields have shown hospitality to linguistics; they have patiently listened to our papers and generously printed
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them. For these and other reasons, students of language will, it is hoped, maintain their allegiance to such societies. Nevertheless, the present state of things has many disadvantages. The most serious, such societies as the American Philological Association, the American Oriental Society, the Modern Language Association (whose several sections are, in this regard, vitually [sic] distinct societies), the American Anthropological Association, and so on. This divides us into groups across whose boundaries there is little acquaintance. No one can tell how much encouragement and inspiration is thereby lost. Other considerations will suggest themselves. The standing of our science in the academic community leaves much to be desired. A medium of publication devoted entirely to linguistics might, at some future time, be very helpful« (Erstausgabe von »Language« 1925: 6).
Unter den unterzeichnenden »students of language« befanden sich Franz Boas, Pliny E. Goddard, Alfred L. Kroeber, Truman Michelson, John R. Swanton und Edward Sapir. Am 28. Dezember 1924 wurde die Linguistic Society of America »for the advancement of the scientific study of language« (Klappentext »Language« 1925) gegründet. Am Organisationstreffen im American Museum of Natural History in New York30 nahmen ca. siebzig sprachwissenschaftliche Interessierte teil.31 Als Präsident der neuen Gesellschaft gewählt wurde Professor für Germanistische Philologie Hermann Collitz (1855-1935), Johns Hopkins University, als Vizepräsident Professor für Sanskrit und indoeuropäische komparative Philologie Carl. D. Buck (1866-1955), University of Chicago, als Sekretär und Kassier Professor für komparative Philologie Ronald G. Kent (1877-1952), University of Pennsylvania. Im Vorstand saßen Professor Franz Boas, Columbia University, Professor für Anglistik Oliver Farrar Emerson (18601927), Western Reserve University, Professor Edgar Howard Sturtevant, Yale University; im Publikationsausschuss Professor George Melville Bolling, Ohio State University, Professor für Romanistik Aurelio M.
30 Offenbar hatte auch hier Franz Boas seine Finger im Spiel. Martin Joos (1986 [1976]) behauptet, dass Boas den Ort zwecks Gründung einer neuen Gesellschaft organisiert habe. Stephen O. Murray (1991: 2) optiert eher für Pliny Earle Goddard als Veranstalter. Schließlich hat Boas das Museum 1905 unter unerfreulichen Umständen verlassen (vgl. »›The Characteristics of Language‹«). 31 Über die genaue Anzahl der Teilnehmer herrscht keine Klarheit. Joos spricht von 69 Personen und der LSA-Sekretär Roland G. Kent (18771952) spricht von ca. 75 Personen am Morgen und über 50 am Nachmittag und gibt eine Mitgliederzahl von »somewhat over 200« an (Murray 1991: 5; vgl. auch Leeds-Hurwitz 1985: 144).
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Espinosa (1880-1957), Stanford University, und Dr. Edward Sapir, Victoria Museum, Ottawa. In seiner Rede an die versammelte Gemeinschaft formulierte der neu ernannte Präsident Collitz in seiner Rede mit dem Titel »The Scope and Aims of Linguistic Science«, die wichtigsten drei Forschungsbereiche, die eine zeitgenössische linguistische Forschung abzudecken habe. Der erste Bereich befasse sich einerseits mit der allgemeinen Phonetik, die sich eher naturwissenschaftlichen Theoriekonzepten verpflichtet fühle, und andererseits die allgemeine beziehungsweise philosophische Grammatik, die sich mit der Beziehung zwischen den grammatischen Formen und den mentalen Kategorien beschäftige. Als zweiten Forschungsbereich nannte Collitz die historische Linguistik, die sich mit der Entwicklung und dem Fortschritt der Sprachen auseinander setze. Und als letzten Bereich schließlich bestimmte Collitz die »practical« oder »applied« Linguistik, die nicht nur die Beziehung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache regle, sondern auch eine Reformierung der Orthographie und die Verbesserung des Schulunterrichts als Ziel habe (Collitz 1925: 14ff.). Die erste Ausgabe der neuen, vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift der Gesellschaft mit dem schlichten Titel »Language« erschien 1925. Darin finden wir eine Mitgliederliste, die auch deren Affiliierung zu anderen Gesellschaften transparent macht: 17 Mitglieder sind mit der American Anthropological Association verbunden, 61 mit der American Oriental Association, 77 mit der American Philological Association und 88 mit der Modern Language Association (Murray 1991: 5; Darnell 1990b: 264). Die neue Zeitschrift ermöglichte also nicht nur den linguistischen Anthropologen, ein größeres Publikum für ihre Forschungsergebnisse zu erreichen. Die Linguistic Society of America fungierte als Nukleus für sprachwissenschaftlich interessierte Forscher über die Disziplinengrenzen hinaus. Die amerikanische Linguistik wurde endgültig autonom, zum Selbstzweck, jenseits der Methoden und Erkenntnisse anderer Disziplinen (Murray 1981: 10; Joseph 2002: 16). Neu propagiert wurde die strukturelle Beschreibung der Phoneme mündlicher Sprachen wie der American Indian languages, wie dies Edward Sapir in seinem in der ersten Ausgabe des Journals »Language« veröffentlichten Aufsatz »Sound Patterns in Language« (1925) exemplarisch zum Besten gab, sowie die Untersuchung der Dialekte des amerikanischen Englisch.
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KONSOLIDIERUNG
Lingui stik al s Sel bstzw eck In den Jahren nach 1911, nach Franz Boas’ Veröffentlichung des »Handbook of American Indian languages«, der theoretischen Grundsteinlegung linguistischer Anthropologie, kam es zu deren praktischen Umsetzung. Seine Studierenden führten seine Ansätze weiter. Die von Boas Zeit seines Lebens geforderte kosmographische Methode setzten seine Studierenden um; Kroeber wie auch Sapir übernahmen das kulturrelativistische Denken ihres Mentors und lehnten die unilineare Evolutionstheorie unisono ab. Boas, Kroeber, Sapir und Goddard verwirklichten die Standardisierung des phonetischen Alphabets, das als Ausdruck einer neuen selbstverständlichen Professionalität gelesen werden kann; Boas begründete ein neues Journal, das sich ausschließlich dem Studium der American Indian languages widmete und die im linguistisch-anthropologischen Denkkollektiv verfestigten Wahrheiten konsolidierte. 1921 schließlich schrieb Sapir sein Werk »Language« für ein breites Publikum – die linguistische Anthropologie war ein eigenständiges Forschungsgebiet. Zwar wagten die ehemaligen Studierenden Boas’ in einigen Fragen den Alleingang. Doch zeigt dies eher die Festigung des linguistischanthropologischen Kollektivs; unterschiedliche Fragen konnten diskutiert werden, ohne dass es etwa zu einer Fragmentierung der wissenschaftlichen Disziplin gekommen wäre. Die Vertreter des »American Indian linguistics establishment« (Stocking 1974a: 259) modifizierten die im anthropologischen Kontext vorhandenen ›Wahrheiten‹. Kroeber vertraute etwa in seiner Klassifikation noch immer der von Powell propagierten Verbindung von »Sprache« und »Kultur«. Sapir erhielt diese ebenfalls aufrecht, wenn auch aus anderen Gründen; als historisch-vergleichender Sprachwissenschaftler war er überzeugt, anhand seiner linguistischen Untersuchungen Rückschlüsse über die Migrationsbewegungen und die Kulturgeschichte einzelner Völker ziehen zu können. Sapir versuchte letztlich mit seiner sprachhistorischen Forschung, die Boassche kosmographische Methode umzusetzen; für Boas blieb seine Methode eher ein Mittel zur Analyse und Kritik damaliger Forschungsansätze. Sapir distanzierte sich von der Boasschen deskriptiven Linguistik und er blieb auch gegenüber Boas’ Wunsch nach detaillierten Studien der unterschiedlichen grammatischen Kategorien, welche die »categories of thoughts« offen legen sollten, skeptisch (siehe »Linguistische Forschung – entscheidendes Instrument zur Gewährleistung wissenschaftlicher Objektivität«). Tatsächlich verfassten die jungen Anthropologen synchrone linguistische Studien, produzierten eine Standard261
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grammatik mit Vokabularlisten, publizierten die »ideas expressed by grammatical categories«32 und druckten ganze in Originalsprache verfasste Texten mit der zugehörigen englischen Übersetzung ab. Doch ein Vergleich der unterschiedlichen »Weltsichten«, wie er dies in seiner Einführung des Handbuchs erhofft hatte, kam nicht zustande. Es blieb ein programmatischer Wunsch. Sapir nahm in der Frage der Verbindung von Linguistik und Psychologie eine ambivalente Stellung ein. Bereits in seinem 1911 publizierten Artikel »The History and Varieties of Human Speech« warnte Sapir vor dem »rather fruitlessly ›psychological‹ approach to the study of American languages« (Sapir 1911a: 51) und forderte die historische vergleichende Studie der American Indian languages. 1917 distanzierte er sich vom Boas begründeten Journal von voreiligen Verbindungen zwischen sprachlichen und psychologischen Konzepten in seiner Rezension von Uhlenbecks »Het Passive Karakter van het Verbum Transitivum of van het Verbum Actionis in Talen von Noord-Amerika« und in seinem Werk »Language« von 1921 postulierte er schließlich die Untersuchung der »function and form of the arbitrary system of symbolism« (Sapir 1921c: 10) jenseits psychologischer Mechanismen (Joseph 2002: 73f.). Allerdings war seine Kritik gegenüber der psychologischen Interpretation nicht konstant. In einem Artikel von 1924 schrieb er: »To a far greater extent than the philosopher has realized, he is likely to become the dupe of his [native language’s] speech-forms. The mould of his thought, which is typically a linguistic mould, is apt to be projected into his conception of the world« (1924: 155). Hier folgt er wieder der Boasschen Vorstellung, dass mittels Sprache auch Rückschlüsse auf die Denkkategorien gemacht werden können. Das zeigte sich auch bei seiner Konzeption der Beziehung zwischen Kultur und Sprache. Einerseits ging er davon aus, dass die Sprache die Kultur forme, dann wiederum trennte er sprachliche von kulturellen Phänomenen und schließlich betrachtete er die Kultur als Produkt der Sprache (Joseph 2002: 83; Anderson 1985: 226). In »Language« distanzierte er sich etwa von voreiligen Korrelationen zwischen Sprache und Kultur, folgte also Boas’ Ansichten, die dieser im »Handbook of American Indian languages« formuliert hatte. In seiner Monographie von 1916 aber ging Sapir davon aus, dass auf der Grundlage linguistischer Studien Aussagen zu den kulturellen Entwicklungen gemacht werden können. 32 Mit Ausnahme von William Thalbitzer beschrieben alle Autoren die »ideas« (vgl. Boas 1911: 101-106, 166f., 215-217, 296-298, 441-445, 572f., 690f., 759-762, 890f.).
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KONSOLIDIERUNG
Sapir stand zwischen zwei Disziplinen. Einerseits sah er sich verpflichtet, die Aussagen seines Mentors Boas zu übernehmen, andererseits hoffte er auf Anerkennung seiner philologischen Kollegen. Mit seiner Skepsis gegenüber psychologischen und ethnologischen Ableitungen, mit seiner Konzentration auf das Objekt »speech« fand Sapir Anschluss im Denkkollektiv der jungen Philologen, die nach dem Weltkrieg einen neuen Weg unabhängig der deutschen sprachwissenschaftlichen Tradition suchten (Joseph 2002: 15). Sapirs Arbeiten weckten das Interesse der jungen komparativen Philologen an den mündlichen Sprachen, an den American Indian languages. Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg bedeutete für die historisch-vergleichende Sprachforschung die Abwendung von deutschen Vorbildern, allen voran der psychologisch gewendeten Sprachwissenschaft Wilhelm Wundts. Es folgte eine Zeit der Neuorientierung, eine Zeit, in der die jungen Wissenschaftler für die Autonomisierung ihrer Wissenschaft plädierten, einer Wissenschaft unabhängig von Disziplinen wie Psychologie, Literaturwissenschaft etc. Die Aussagen eines Sapirs, der davon überzeugt war, dass die sprachhistorische Untersuchung gesprochener Sprachen sehr wohl Aussagen bezüglich deren Entwicklung zuließ und sich von psychologischen Ansätzen abgrenzte, kamen diesem Denkkollektiv gerade recht (Haas 1976: 65f.). Die Gründung der Linguistic Society of America und der neuen Zeitschrift »Language« zeigt denn auch, dass zwei Denkkollektive näher rückten, die in dieser Zeit nach dem Weltkrieg ähnliche Interessen verfolgten und sich gegenseitig befruchteten. Die mündlichen Sprachen waren ein Gegenstand der Linguistik und die linguistischen Anthropologen verfügten über die Erfahrung und Kompetenz mündliche Sprachen zu erfassen. Die Linguistik war auf dem Weg, sich zu einer autonomen Wissenschaft zu entwickeln. Es ist ein eigentlicher »Übersetzungsprozess« (siehe »Eine andere Geschichte«) im Gange, der eine weitere Einbindung heterogener Akteure in das Netzwerk der linguistischen Anthropologie und die Dichte von Assoziationen über verschiedene Perspektivwechsel hinweg ermöglichte. Für die linguistische Anthropologie beziehungsweise deren Gegenstand, die American Indian languages, bedeutete dies eine neue Identität unabhängig des anthropologischen Denkkollektivs. 1927 bildeten Boas, Sapir und Bloomfield das Committee on Research in Native American Languages, das weitere Aufnahmen der aussterbenden amerikanisch-indianischen Sprachen zum Ziel hatte. Von der American Council of Learned Societies (ACLS) erhielten sie finanzielle Unterstützung für die nächsten zehn Jahre (Leeds-Hurwitz 1985: 129). Die Einbindung hatte sich gelohnt.
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Schlu ss und Folg erungen
»Keinem unter uns ist es gegeben, sich frei zu machen von dem Bann, in den das Leben ihn geschlagen. Wir denken, fühlen und handeln getreu der Überlieferung, in der wir leben. Das einzige uns zu befreien ist die Versenkung in ein neues Leben und Verständniss für ein Denken, ein Fühlen, ein Handeln, das nicht auf dem Boden unserer Zivilisation erwachsen ist, sondern das seine Quellen in anderen Kulturschichten hat« (Boas 1904c: vf.). »Many native people have told me over the years that they hate telling stories to white people because the stories have to be so long« (Darnell 2001: 20).
Wissenschaft ist vielfältig. Und komplex. Die Geschichte der linguistischen Anthropologie auf der Grundlage des Latourschen Wissenschaftsverständnisses verdeutlicht, dass die Etablierung und Konsolidierung einer Wissenschaft von unterschiedlichsten Faktoren abhängig ist. Es reicht nicht, davon auszugehen, dass Wissenschaft sich selbst erklärt, dass der soziale Kontext ihre Entwicklung nur fördern oder hemmen, doch nie ihren Inhalt formen oder begründen kann; es reicht auch nicht sich nur auf die Interdependenzen zwischen Gesellschaft und Forschung zu konzentrieren, zu glauben, dass Wissenschaft und deren Inhalte durch die sie umgebende Gesellschaft begründet werden; es reicht nicht anzunehmen, dass Forschende Institutionen schaffen, mit denen sie eine bestimmte Forschungsstrategie verfolgen. Latours Vorschlag verhindet solche a priori-Zuschreibungen, was Wissenschaft zu sein und wie sie zu funktionieren hat. Es sind immer die verschiedensten Akteure und Aktanten in das Netzwerk, das eine Wissenschaft ausmacht und konstituiert, eingebunden und diesen gilt es zu folgen. 265
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Betrachten wir die Entwicklung des Gegenstandes der linguistischen Anthropologie – die American Indian languages –, zeigt sich, dass diese Entität im Zeitraum zwischen 1879 und 1924 unterschiedliche Transformationsprozesse durchlaufen hat. Er hat sich in und mit dem Netzwerk der linguistischen Anthropologie stetig verändert, verschoben und seine Position innerhalb dieses Netzwerkes nicht unabhängig von anderen Propositionen des Netzwerkes ausgefüllt. So fungierten in der Forschungspolitik des Bureau of American Ethnology die amerikanisch-indianischen Sprachen in erster Linie dazu, die effiziente und nachhaltige Umsiedlungspolitik der U.S.-Regierung wissenschaftlich zu untermauern. Das Studium der American Indian languages lieferte den Forschern einerseits Hinweise auf die Verbindungen der einzelnen ethnischen Gruppen untereinander, die für eine reibungslose Zusammenlegung der American Indians in den Reservaten von großer Bedeutung war, andererseits stabilisierte und legitimierte es eine Regierungspolitik, die eine Akkulturierung und Zivilisierung der so genannt »Primitiven« zum Ziel hatte: Indem John Wesley Powell, der Leiter des Bureau of American Ethnology, die American Indian languages in die Evolutionstheorie Henry Lewis Morgans einbettete, der von einer kontinuierlichen Evolution der Menschengeschlechter von »savagery« über »barbarism« zu »civilization« ausging, und so eine direkte Verknüpfung zwischen Sprache, Geist und Gesellschaft herstellte, meinte er Rückschlüsse auf die von einer Kultur erreichten Entwicklungsstufe ziehen zu können. Für seine Sprachwissenschaft entwarf er denn auch Kategorien, wie diejenigen der »grammatischen Prozesse«, deren Organisiertheitsgrad die Einteilung der einzelnen Sprachen auf unterschiedliche Entwicklungsstufen ermöglichte. Die American Indian languages und damit die Native Americans positionierte er am Ende der hierarchisierten Rangordnung und bestätigte so die (Vor-)Urteile der U.S.-Regierung und -Gesellschaft gegen ihre Ureinwohner. Bei Brinton, der den Evolutionstheorien Charles Darwins wie auch Herbert Spencers Folge leistete, dienten die American Indian languages ebenfalls zur Beweisführung der eigenen absoluten Superiorität. Das Konzept der »innern Form«, das Brinton von seinem Vorbild Wilhelm von Humboldt übernahm, um es in seine Sprachwissenschaft zu integrieren, erlaubte es ihm, die Sprache mit dem »Geist der Nation« zu verbinden. Die »innere Form« der American Indian languages, die man unter derselben grammatischen Kategorie, der »Inkorporation«, subsumieren könne, so Brinton, liefere denn auch den Beleg, dass die American Indian languages in keiner Weise so gut geeignet seien, das intellektuelle Wachstum einer Nation zu fördern, geschweige denn zu potenzieren, wie es die flektierten Sprachen täten. Durch das linguistische 266
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»Faktum« der Inkorporation gelang es Brinton einerseits, ein im damaligen sprachwissenschaftlichen Diskurs konsensfähiges Merkmal für die »Primitivität« der American Indian languages und damit deren Sprecher zu konstruieren, und andererseits ein Charakteristikum zu entwickeln, das die Zugehörigkeit der amerikanisch-indianischen »Stämme« zu einer rassistischen, biologisch verstandenen einheitlichen »red race« festigte. Die Evolutionstheorie, die eine Hierarchisierung der Menschengeschlechter ermöglichte, egal ob Morganscher, Spencerscher oder Darwinscher Prägung, war in diesem Zeitraum allmächtig. Linguistische Untersuchungen – wollten sie als »wissenschaftlich« gelten – hatten an dieses Verständnis anzuschließen und die American Indian languages auf ihren Platz zu verweisen, um so die asymmetrische Beziehung zwischen den ›Weißen‹ und den ›Wilden‹ zu bestätigen. Brinton und Powell hatten Erfolg mit ihren wissenschaftlichen Auffassungen und erhielten Unterstützung von der Regierung, von verschiedenen »learned societies« wie der American Philosophical Society (APS), der American Association for the Advancement of Science (AAAS), der Historical Society of Pennsylvania etc., bekamen neue wichtige Funktionen in den zum Teil von ihnen selbst begründeten Institutionen und riefen neue Publikationsorgane wie die »Transactions of the Anthropological Society«, das »Bulletin of the Bureau of Ethnology«, die »Contributions of the Bureau of Ethnology« oder den »American Anthropologist« ins Leben, die ihre »Wahrheiten« auch einer größeren Öffentlichkeit zugänglich machten. Als Franz Boas in die Vereinigten Staaten immigrierte, genossen die American Indian languages als Forschungsgegenstand also bereits eine gewisse »verdichtete« Legitimation, wenn auch mehr als Mittel, die ›große Erzählung‹ der Evolutionstheorie zu bestätigen, denn als autonomes wissenschaftliches Objekt. Franz Boas begann sich unter anderem mit dem Gegenstand der American Indian languages auseinander zu setzen, um im anthropologischen Denkkollektiv Fuß fassen zu können. Seine im deutschen Kontext entwickelte, kosmographische, historische, induktive Arbeitsmethode half ihm, ethnologische und auch linguistische Tatbestände jenseits vorgefasster »Supertheorien« zu betrachten. Boas entlarvte die von seinen Kollegen rezipierte Evolutionstheorie denn auch als eine höchst subjektive Konstruktion, die nur dazu diene, der eigenen Gesellschaft den höchsten Wert zuzuschreiben. Wolle der Anthropologe Erkenntnisse gewinnen, die nicht nur die Ansichten seiner eigenen Kultur widerspieglen, müsse er sich der eigenen Konzepte entledigen, formulierte Boas seine kulturrelativistische Sichtweise. Die American Indian languages übernahmen in diesem Kontext eine entscheidende neue Rolle. Sie dienten nicht länger als »Beweisstück« für 267
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die evolutionstheoretischen Ansätze, sondern wurden zur fundamentalen Bedingung einer anthropologischen Forschung, die objektive Erkenntnisse über die fremden Kulturen gewinnen wollte. Denn in jeder Sprache, so Boas, sei eine ihr eigene Interpretation der Welt enthalten, die – von einer anderen Sprache aus gesehen – willkürlich ist. Boas verband die Sprache mit den Denkkategorien der Menschen. Das war nicht neu. Schon Brinton hatte eine solche Konstruktion in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt und Heymann Steinthal vorgeschlagen. Nur kann man nicht davon ausgehen, dass Boas diese sprachlichen Konzepte eins zu eins für seine anthropologischen Ansichten übernahm. Brinton, der sich in seinen Schriften als ausgewiesener Kenner Humboldts und auch Steinthals zu inszenieren verstand, hatte dem amerikanischen Denkkollektiv eine Humboldt-Interpretation vorgelegt, die in eigentümlicher Manier Sprachwissenschaft und Rassentheorie miteinander verknüpfte, um damit Darwins oder Spencers Evolutionstheorie in der Linguistik zu reproduzieren. Boas, der sich gegen jegliche rassentheoretische Argumentationen stellte, weigerte sich, diese Interpretation zu übernehmen. Boas, dessen Verbindung zur deutschen Sprachwissenschaft eher oberflächlich als systematisch war, brauchte für das Problem der »sekundären Rationalisierungen« – das Problem, das es sich bei den Interpretationen von Wirklichkeitskonstruktionen wie Traditionen, Glaubenssystemen etc. durch die Angehörigen einer bestimmten Kultur immer um Spekulationen, sicherlich nicht um objektive Beschreibungen handelt – einen »Beweis«, dass die menschliche Sprache »mit dem Volksthum des Menschen auf innigste zusammenhängt«. Und, wie die in dieser Arbeit erzählte Geschichte zeigt, handelte Boas nicht nur in beruflichen, sondern auch in wissenschaftlichen Belangen außerordentlich strategisch: Das amerikanische Forscherkollektiv hatte deutsche Sprachwissenschaftler wie Humboldt und Steinthal bereits als renommierte Linguisten akzeptiert. Boas musste nur an deren unumstrittenen »Wahrheiten« anschließen, um sein Problem der »sekundären Rationalisierungen« zu lösen. Und Steinthal, den er bereits 1904 in seinem Aufsatz »The History of Anthropology« zitiert hatte, diente ihm in geradezu exemplarischer Weise dazu, ein Argument zu formulieren, das von einer Verbindung zwischen den unbewussten geistigen Prozessen, die in der Sprache aufzufinden sind, und den Denk- und Handlungsweisen einer bestimmten Kultur ausgeht. Andere von Humboldt und Steinthal übernommene und von Brinton rassentheoretisch gewendete, im amerikanischen Denkkollektiv propagierte Argumente ließ Boas in keiner Weise gelten: Die Vereinheitlichung der amerikanisch-indianischen Sprachen unter dem Label »polysynthetisch« beziehungsweise »inkorporierend« verwarf Boas ebenso, wie eine Hierarchisierung der Sprachen – und damit der Men268
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schentypen – die auf der Grundlage evolutionstheoretischer Modelle vorgenommen worden waren. Eine direkte ideengeschichtliche Linie von Humboldt über Steinthal zu Boas lässt sich nicht ziehen. Die Linguistik übernimmt in dieser kulturrelativistisch ausgerichteten Wissenschaft eine neue zentrale Funktion als methodologisches Modell für die Anthropologen und verändert so auch ihr Verhältnis zur Ethnologie: Das Problem der »sekundären Rationalisierungen« war nur durch die Analyse der American Indian languages zu lösen. Wollte die Anthropologie »objektive Daten« über die Denkstile der unterschiedlichen Ethnien entwerfen, konnte sie dies nur durch die Auswertung linguistischer Daten realisieren. – Weder Powell noch Brinton schrieben sprachwissenschaftlichen Studien diese Relevanz zu. Auf diese Weise begründete Boas einen Kulturrelativismus, der auch eine Reflexion der eigenen »categories of thoughts« zuließ. Die American Indian languages entwickelten sich zu einem legitimen wissenschaftlichen Objekt innerhalb der neuen akademischen Disziplin »Anthropologie«. Boas’ Verständnis von Anthropologie vermochte sich erst in den 1890ern endgültig durchzusetzen. Die induktive Methode, die er für sämtliche anthropologische Forschungsbereiche – Ethnologie, Archäologie, physikalische und linguistische Anthropologie – propagierte, kann nicht das ausschlaggebende Motiv gewesen sein, sonst wäre er bereits Ende der 1880er Jahre erfolgreich gewesen: Boas hatte sein Konzept einer kosmographischen, historischen, induktiven Arbeitsmethode im deutschen Wissenschaftskontext entwickelt. Obwohl er von der Physik zur Geographie und letztlich zur Anthropologie wechselte und wir deshalb eine Veränderung seines wissenschaftlichen Standpunktes vermuten könnten, bestand eine eigentliche Kontinuität in seiner Arbeitsweise. Als er 1887 emigrierte, fand seine Wissenschaftsinterpretation in den Vereinigten Staaten keine Beachtung. Erst in einer fundamentalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise setzte sich seine Methode durch. Und dies ist erklärungsbedürftig. Boas’ Methode beinhaltete keinen unmittelbaren Lösungsvorschlag für die akuten gesellschaftlichen Probleme. Im Gegenteil. Boas konstruierte keine neue theoretische Doktrin, die an die Stelle der von ihm kritisierten deterministischen Evolutionstheorien treten konnte. Doch er lieferte, so meine These, mit seiner induktiven Methode eine an den sozialen und wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähige Größe, die der damals empfundenen gesellschaftlichen Komplexität gerecht zu werden vermochte. Der Krisendiskurs zwang die Forscher zu systematischen Untersuchungen, die den tatsächlichen Ursachen der gesellschaftlichen Probleme auf den Grund gehen wollten – eine parallele Entwicklung finden wir übrigens im gleichen Zeitraum für die amerikanische Soziologie. 269
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Wissenschaftler begannen nun ihre Beziehungen zur »outside world of civilians« (Latour 1999: 105) in einer Art und Weise zu regeln, wie es vorher und auch in den nächsten Jahrzehnten nicht zu beobachten war. Damit lässt sich auch Latours These bestätigen, dass eine Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nicht a priori vorhanden ist. Denn schließlich hängt die »Existenz oder Nichtexistenz einer solchen Verbindung davon ab, was die Beteiligten unternehmen, um sie zu knüpfen« (Latour 1999: 104). Ich glaube, dass Boas’ Versuch, die jeweiligen Kulturen als Ganzes zu sehen, deren Teile man in ihrer historischen Entwicklung zu interpretieren hatte, einen für alle Kulturen gültigen methodischen einheitlichen Zugang ermöglichte. Die Methode war in Zeiten fundamentaler Verunsicherung konsensfähig und langfristig besonders geeignet, die gesellschaftlich empfundene Disparatheit anzugehen. Seine Methode setzte sich durch und damit auch seine Form der (linguistischen) Anthropologie. Die Etablierung der Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin an der Columbia University wirkte sich für die Sprachwissenschaft Boasscher Prägung äußerst stabilisierend aus. Boas’ ehemalige Schüler und an den amerikanisch-indianischen Sprachen Interessierte wie Edward Sapir, Alfred L. Kroeber, Leo Frachtenberg, Robert Harry Lowie, Pliny Earle Goddard, Roland B. Dixon, John Swanton, John Peabody Harrington, Frank Speck, Leslie Spier und Paul Radin übernahmen seine historische, induktive Forschungsdevise jenseits evolutionstheoretischer Erklärungsansätze und entwickelten sie weiter. Die American Indian languages etablierten sich so zum legitimen wissenschaftlichen Forschungsobjekt eines Denkkollektives, zu einem Forschungsobjekt, das nicht nur dazu benutzt wurde, einen Zugang zu den Denkkategorien eines Volkes zu ermöglichen, sondern auch, wie dies Sapir auf der Grundlage seiner philologischen Ausbildung ausführte, zu deren Geschichte. Das so konstruierte Forschungsobjekt stieß auch außerhalb des anthropologischen Denkkollektivs auf Interesse. Die junge Generation von Philologen integrierte die mündlichen Sprachen – unter anderem eben auch die American Indian languages – in ihre Wissenschaft und übernahm die beschriebene Konzeptionalisierung für die von ihnen angestrebte autonome, neue Linguistik eins zu eins. Dieser »Übersetzungsprozess« gestattete eine weitere Einbindung heterogener Akteure in das Netzwerk der linguistischen Anthropologie und die Verdichtung der Assoziationen über verschiedene Perspektivenwechsel hinweg. Für die linguistische Anthropologie beziehungsweise deren Gegenstand, die American Indian languages, bedeutete dies eine neue Identität auch unabhängig vom anthropologischen Denkkollektiv.
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Die Geschichte der unterschiedlichen Funktionen, die der Gegenstand der linguistischen Anthropologie durchlief, zeigt vor allem eins: Das Studium der American Indian languages beinhaltete immer auch Aussagen über deren Sprecherinnen und Sprecher. Die Sprachen lieferten bei Powell und Brinton einen Hinweis für die Primitivität der Sprecher. Bei Boas erlaubten sie einen nicht hierarchisierenden Zugang zu den Denkkategorien der Sprachgemeinschaft. Beiden Auffassungen liegt eine eigentümliche Identifikation der Sprecher mit einem sprachlichen Konzept zugrunde: Spricht jemand Chinook, lebt er eine Chinooksche Kultur oder hat eine Chinooksche Sichtweise auf die Welt. Diese Anschauungsweise verhalf den Anthropologen, die Native Americans als kulturelle Einheit(en) zu fassen. Mit Ausnahme von Brinton, der sich auf Archiv- und publiziertes Material abstützte, befragten die linguistischen Anthropologen – zu Beginn der Anthropologie noch im Feld, später in den für diese Erhebungen mit technologischen Apparaturen vorgesehenen Labors – nur jeweils einen »intelligenten« Native American zu seiner Sprache und Kultur. Ein einzelner Sprecher wurde so zum Vertreter einer ganzen Kultur. Boas hat in seinem Artikel in der ersten Ausgabe des »International Journal of American Linguistics« noch vor dieser vorschnellen Kollektivierung gewarnt, dennoch interviewten die linguistischen Anthropologen in der Regel nur gerade eine Person je Kultur. Die (linguistischen) Anthropologen identifizierten die Native Americans jenseits einer (möglichen) individuellen Heterogenität. Diese Zuschreibung zeigt, wie weit die »Objektivierung« der Ethnien bereits fortgeschritten war. Individuen wurden nicht mehr als Individuen wahrgenommen, sondern, ganz im Sinne der konstruierten »wissenschaftlich fundierten Wahrheit«, als ein homologer Teil eines Ganzen. Die American Indian languages und ihre Sprecherinnen und Sprecher waren eingebunden in das dynamische Netzwerk der linguistischanthropologischen Wissenschaft und entwickelten sich so zu einer Entität »westlichen« Zuschnitts. Durch die Transkribierung und Archivierung wurden sie einer sekundären Analyse zugänglich gemacht und so eingebunden in die Kreisläufe der wissenschaftlichen Welt. Sie mutierten zum Objekt eines von ihnen doch sehr unterschiedlichen Wertesystems. Diese Verdichtung der American Indian languages als Untersuchungsobjekt einer relativ überschaubaren Forschergruppe mit der bedeutenden Implikation, dass sie auch immer mit ihren Sprecherinnen und Sprechern in Relation gesetzt und identifiziert worden waren, ist denn auch der Grund, weshalb dieser Zweig sich nie vollständig als autonomer wissenschaftlicher Bereich ausdifferenzieren konnte. Bis heute gibt es in den ganzen Vereinigten Staaten keinen einzigen Lehr271
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stuhl für amerikanisch-indianische Linguistik.1 Ein Grund, weshalb sich dieser relative Entität letztlich nicht stabilisieren konnte, ist, dass keine unterhaltende und unterstützende Umgebung diese wieder und wieder bestätigte, mit andern Worten: Das Interesse an den Native Americans und damit deren Sprachen nahm im Kontext nach dem Weltkrieg, der von Rassismus und Fremdenhass geprägt war, rapide ab. Zudem erhielten die Native Americans 1924 die Staatsbürgerschaft und wurden so zu politisch eigenständigen Subjekten, die während des New Deal anfingen, selbst die Interpretationsmacht für ihre Kultur einzufordern. Damit treten die Machtaspekte des Wissens und der Wissensproduktion, die über die kulturelle Hegemonie bestimmter Diskurse und Sprachen hinaus die Interpretationsmacht, die sich ihrem Gegenstand aufprägt, und allgemein die herausgehobene Stellung dieser Wissenschaft betreffen, ins Bewusstsein. Die linguistische Anthropologie archivierte und objektivierte die American Indian languages auf der Grundlage ihrer Kategorien. Der Kulturrelativismus war einem westlichen Diskurs verpflichtet, mit Konsequenzen nur für die anthropologische Wissenschaft und, wenn auch marginal, für die amerikanische Bevölkerung. Wir sind wieder am Anfang unserer Geschichte, bei der Frage, ob eine Beschreibung einer anderen Kultur, einer anderen Wissenschaft jenseits eigener Kategorien überhaupt möglich ist. Das Problem entstand letztlich aufgrund der Festschreibung durch die linguistische Anthropologie, dass in jeder Sprache eine ihr eigene Klassifikation der Welt vorhanden sei. Diese Sichtweise determinierte auch die Vorstellung der Andersartigkeit der fremden Kulturen, die der Wissenschaftler zu beschreiben hat. Prinzipien, die auf der Ebene der Analyse von anderen »Sprachsystemen« ansetzen, bringen uns wieder dieselben Schwierigkeiten, die wir bereits in den analytischen Präliminarien diskutiert haben: die Inkommensurabilität, den reflexiven Forschungsimpetus der eigenen Kategorien und die Charakterisierung einer Kultur jenseits essentialistischer Beschreibungen. Wie in den analytischen Präliminarien ausgeführt plädiere ich für die Vernetzung mit den eigenen Forschungsobjekten, seien es historische oder anthropologische. (Vielleicht bin ich nunmehr zu sehr Teil, das heißt eingebunden in die von Latour etablierte Vernetzung?) Ich bin
1 Dell Hymes schrieb 1976: »It ought to be embarrassing, shocking, that there is not a minimum of one chair in Native American languages at each of the state universities. (I am not sure that there is one such chair in the entire country)« (Hymes 1976: 17). Die Situation hat sich bis heute nicht geändert.
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davon überzeugt, dass historische wie auch linguistisch-anthropologische Forschung sich dieser letztlich ethischen Dimension bewusst zu werden hat. Das Ungleichgewicht zwischen Forscher und Erforschten ist Teil der asymmetrischen Forschungssituation und sollte auch als solcher wahrgenommen werden. Es gibt eine »inherent moral tension between investigator and subject« (Geertz 2000: 37). Sich dieser »moralischen Spannung« zu entziehen, kann nicht das Ziel der Forschung sein, doch die Positionsbestimmung des Wissenschaftlers gegenüber seinen Objekten ist als ethischer Impetus unbedingt einzufordern, die Reflexion der eigenen Eingebundenheit in das mitkonstruierte Netzwerk unbedingt zu vollführen. Wie diese Moral auszusehen hat, nun, »this is another story«.
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Bibliographi e
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Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) Industrialisierung Technologisierung von Kunst und Wissenschaft Mai 2005, ca. 250 Seiten, kart., zahl. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-317-8
Michael Guggenheim Organisierte Umwelt Umweltdienstleistungsfirmen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik März 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-296-1
Corinna Bath, Yvonne Bauer, Bettina Bock von Wülfingen, Angelika Saupe, Jutta Weber (Hg.) Materialität denken Studien zur technologischen Verkörperung – Hybride Artefakte, posthumane Körper
Jacqueline Holzer Linguistische Anthropologie Eine Rekonstruktion Januar 2005, 322 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-301-1
Bettina Heintz, Martina Merz, Christina Schumacher Wissenschaft, die Grenzen schafft Geschlechterkonstellationen im disziplinären Vergleich April 2004, 320 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-196-5
Theresa Wobbe (Hg.) Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2003, 312 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-118-3
Peter Weingart Wissenschaftssoziologie 2003, 172 Seiten, kart., 13,80 €, ISBN: 3-933127-37-8
März 2005, ca. 180 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-336-4
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Titel zum Thema Wissenschaftsforschung/ Science Studies Sabine Maasen, Matthias Winterhager (eds.) Science Studies Probing the Dynamics of Scientific Knowledge
Sabine Maasen Wissenssoziologie 1999, 94 Seiten, kart., 10,50 €, ISBN: 3-933127-08-4
2001, 304 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-933127-64-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de