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German Pages 184 [180] Year 2014
Kay Biesel, Reinhart Wolff Aus Kinderschutzfehlern lernen
Gesellschaft der Unterschiede | Band 16
Für Lea-Sophie
»Zwischen zu früh und zu spät liegt immer nur ein Augenblick.« FRANZ WERFEL »The complexity of things – the things within things – just seems to be endless. I mean nothing is easy, nothing is simple.« ALICE MUNRO »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.« L. TOLSTOI, Anna Karenina
Kay Biesel (Dr. phil.) ist Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kinderschutz an der Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Kinder- und Jugendhilfe. Reinhart Wolff (Dr. phil. habil.) war Professor und Rektor an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Heute arbeitet er als Dialogischer Qualitätsentwickler und Praxisforscher.
Kay Biesel, Reinhart Wolff
Aus Kinderschutzfehlern lernen Eine dialogisch-systemische Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie
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Inhalt
Danksagung | 7 1.
Der Anlass der Untersuchung | 11
2.
Der theoretische Rahmen der Untersuchung | 17
2.1 Das Systemverständnis | 17 2.2 Das Praxisverständnis | 21 2.3 Das Fehlerverständnis | 32 3.
Das Design der Untersuchung | 39
3.1 Methodologische Ausgangspunkte | 39 3.2 Fallauswahl und Fragestellung | 45 3.3 Erhebung und Analyse der Daten | 47 4.
Die Ergebnisse der Untersuchung | 57
4.1 Die Hilfesystemgeschichte im Rückblick | 57 4.2 Die Jugendamtsgeschichte im Rückblick | 65 4.3 Die Familiengeschichte im Rückblick | 93 5.
Der Ertrag der Untersuchung | 137
5.1 Die Fallgeschichte in der Zusammenschau – wesentliche Gründe des Scheiterns | 137 5.2 Die Falluntersuchung – persönliche Erfahrungen und Schlussfolgerungen | 155 Literatur | 16 3 Abbildungen und Tabellen | 177
Danksagung
Soziale Arbeit gelingt nur als Ko-Produktion. Das gilt in noch viel stärkerem Maße für die Rekonstruktion einer misslungenen, fehlerhaften Fachpraxis, um zu klären, was warum falsch gelaufen ist. Expertinnen und Experten für Qualitätsentwicklung und Risikomanagement, die von außen dazukommen, können zwar helfen, einen unvoreingenommenen Blick auf schwierige Fallprozesse zu werfen. Sie sind jedoch darauf angewiesen, nach Möglichkeit alle wichtigen Akteure, die im Geschehen eine Rolle gespielt haben, nicht nur zu beteiligen, sondern sich mit ihnen auf Augenhöhe und in kritischer Solidarität zusammenzuschließen, um zu learning companions in einer mehrseitigen partizipatorischen Lern- und Forschungsgemeinschaft zu werden. Dazu braucht man Menschen und Organisationen, die bereit sind, aktiv mitzumachen, zu helfen und zu unterstützen und mit Rat und Tat die Arbeit zu begleiten. Wir sind froh, dass wir diesen Menschen in den fallbeteiligten Familien und im professionellen Kontext begegnet sind. Ohne deren Mitwirken wäre das dialogisch-systemische Fall-Labor zur Aufarbeitung des Falles LeaSophie, das uns mehr als drei Jahre, von 2010 bis 2013, intensiv beschäftigt hat, nicht möglich gewesen. Dafür danken wir insbesondere den Eltern und Großeltern von Lea-Sophie: dass sie bereit waren, uns zu begegnen und mit uns zu sprechen und gemeinsam zu fragen, wie es zur Katastrophe hat kommen können und warum es nicht gelang, Lea-Sophie zu schützen. Die Begegnung mit ihnen, im Versuch, das Rätsel dieser erschütternden Tragödie zu verstehen, gehört zum Wertvollsten, was wir in unserem beruflichen Leben bisher erlebt haben. Ihre Mitwirkung hat das Fall-Labor überhaupt erst zu der außergewöhnlichen Erfahrung gemacht, die auch andere – Fami-
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lien wie Fachkräfte – in ihrem Nachdenken über die Aufgaben im Kinderschutz beflügeln wird. Wir danken aber auch unseren Kolleginnen und Kollegen im Jugendamt der Landeshauptstadt Schwerin – und vor allem der Leiterin des Sozialpädagogischen Dienstes I, Birgit Habecker – und den Teilnehmenden aus dem Kreis der freien Träger der Jugendhilfe und des Jugendhilfeausschusses, dass sie alle sich mutig ihrer Verantwortung gestellt haben, die eigene Praxis kritisch zu untersuchen, um sich fachlich und persönlich weiterzuentwickeln und zu lernen, wie man Eltern und Kinder in verzweifelten Notlagen besser unterstützen kann. In diesen Dank schließen wir aber auch die beteiligten Leitungsebenen der Stadt Schwerin ein, nicht zuletzt den Dezernenten für Finanzen, Jugend und Soziales, Dieter Niesen, dessen Unterstützung von großer Bedeutung war. Dass die Ärzte der Kinderklinik, Dr. Kannt und Dr. Böttcher, und der Vorsitzende des zeitweiligen Untersuchungsausschusses, Prof. Klammt, ihre Erfahrungen mit uns teilten, hat uns wichtige neue Einsichten vermittelt, für die wir sehr dankbar sind. Dies gilt auch für all die anderen, mit denen wir Rückblickgespräche führen konnten oder die uns den Zugang zu Gesprächspartnern ermöglichten, nicht zuletzt den Leitungs- und Fachkräften der beiden Justizvollzugsanstalten in Bützow und Waldeck. Hilfreich war auch die methodische Unterstützung von Dr. Sheila Fish vom Londoner Social Care Institute for Excellence (SCIE). Mit unserem Dank verbinden wir die Hoffnung auf einen regelmäßigen Austausch. Ohne die finanzielle Unterstützung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH), des Landes Mecklenburg-Vorpommern und der Landeshauptstadt Schwerin hätte das Fall-Labor nicht durchgeführt werden können. Dafür sagen wir unseren Dank. Dass wir außerdem für die Fertigstellung des Manuskripts unserer Studie ergänzende Mittel vom Förderfonds der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) nutzen konnten, war eine wichtige Hilfe, für die wir uns bedanken. Und natürlich hat uns – wie so oft in den letzten Jahren – der Dialog mit unseren Freundinnen und Freunden im Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung e.V., insbesondere Kira Gedik, Timo Ackermann, Felix Brandhorst, Stefan Heinitz und Hans-Ullrich Krause, angeregt und weitergebracht. Dass die ganze Unternehmung – mit dem sich immer mehr ausweitenden Zeit- und Arbeitsaufwand – überhaupt gelang, verdanken wir nicht zuletzt dem Verständnis und der Solidarität unserer Frauen, Angela
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Bernecker-Wolff und Juliane Biesel, die mit Herz und Verstand unseren Weg mitgegangen sind und kritisch mitgedacht haben. Berlin und Basel, im Dezember 2013
1. Der Anlass der Untersuchung
Nicht in jedem Fall kann die Familie oder ein Professionssystem dafür verantwortlich gemacht werden, wenn ein Kind eine Verletzung erlitten hat oder auffällig geworden ist. Dennoch werden in den Medien solche Anschuldigungen gerne und schnell erhoben, bevor diese Fälle untersucht und geklärt worden wären. Und dann kann beobachtet werden, dass ein Kinderschutzfall mit dem Etikett problematisch verlaufen versehen und auch skandalisiert wird. Ohne dass der Fall genau untersucht worden wäre, werden oftmals schnell Vorwürfe laut, und es werden Fehler einzelnen Fachkräften zugeschrieben. Oder aber die Eltern selbst stehen im Fokus der Kritik und werden als Monster oder Ungeheuer öffentlich an den Pranger gestellt. Ob und inwieweit tatsächlich Fehler der Fachleute bei solchen öffentlich skandalisierten Kinderschutzfällen eine Rolle spielten, bleibt zumeist ungeklärt. Dies ist bedauerlich, weil dadurch Gerüchte in der Auseinandersetzung um Schuld und Verantwortung von Fachkräften und politischen Leitungskräften die Oberhand gewinnen und ursächliche Zusammenhänge im Dunkeln bleiben. Insbesondere wissenschaftliche Untersuchungen von spektakulären Kinderschutzfällen, die in den Medien immer wieder breit aufgegriffen und skandalisiert werden, sind davon belastet, dass vordergründig schnell Schuldige ausfindig gemacht bzw. Bauernopfer präsentiert werden. Dadurch werden jedoch Lernprozesse blockiert, sodass die Praxis des Kinderschutzes nicht strukturell verbessert und weiterentwickelt werden kann. Das Lernen aus Fehlern wird auf diese Weise verhindert, und eine Praxis der Absicherung und des Selbstschutzes im Kinderschutz wird befördert (Biesel 2009a). Wissenschaftliche Untersuchungen von problematisch verlaufenen Kinderschutzfällen stehen darum auch nicht von ungefähr im Ver-
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dacht, im Rückblick komplexe Handlungs- und Entscheidungszusammenhänge zu vereinfachen und die Schuld und Verantwortung für Irrtümer und Fehler bzw. gesetzes- und verfahrenswidrige Handlungsweisen (professional violations) einzelnen Fachkräften zurechnen zu wollen, anstatt systemischen Erklärungsmodellen zu folgen (Fish/Munro/Bairstow 2008, 2009; Munro 2009; Reason 2008). Es ist insofern nicht erstaunlich, dass die Kinder- und Jugendhilfe und auch andere Professionssysteme, die im Kinderschutz tätig sind, nur begrenzt dazu bereit sind, an der wissenschaftlichen Aufarbeitung problematisch verlaufener Kinderschutzfälle mitzuwirken. Dies hängt zum einen mit bis dato ungeklärten oder auch widersprüchlich aufgefassten, handlungsleitenden Rechts- und Haftungsfragen zusammen (Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. 2013; Meysen 2011), zum anderen mit einer bislang nur unterentwickelten (inter-)organisational ausgebildeten Kultur der Fehleroffenheit (Biesel 2009b). Vor allem aber stehen immer wieder ethische Bedenken im Raum, die mit der Frage verknüpft sind, ob Forschungsinteressen höher wiegen als der Schutz einzelner Familienmitglieder und Fachpersonen (insbesondere Schutz vor Strafverfolgung und Schutz der Anonymität bzw. der Privatsphäre). Jedenfalls zeigt sich, dass es in Deutschland einen Mangel an wissenschaftlichen Untersuchungsberichten über problematisch verlaufene Kinderschutzfälle gibt. Zwar ist eine Reihe von Publikationen in Reaktion auf öffentlich skandalisierte Fälle wie zum Beispiel die gescheiterten Kinderschutzfälle in Osnabrück, Stuttgart, Saarbrücken, Bremen und Schwerin entstanden (Bremische Bürgerschaft 2007; Pfeifle 2011; Stadtverband Saarbrücken 2004; Wolf 2011; Zeitweiliger Ausschuss 2008j). Die in den Veröffentlichungen enthaltenen Schlussfolgerungen und Empfehlungen basieren aber nicht auf umfassenden wissenschaftlichen Fallrekonstruktionen, die vor dem Hintergrund eines systemischen Praxis- und Fehlerverständnisses (vgl. Kapitel 2) vorgenommen wurden. Sie sind insofern nicht das Resultat gemeinsamen Forschens und Reflektierens im Verbund mit Organisationen und Personen, die von einem problematisch verlaufenen Kinderschutzfall betroffen und als Akteure daran beteiligt waren. Auch in Schwerin, wo es am 20. November 2007 zu einer Zuspitzung einer bis dahin sich für die Fachkräfte des Jugendamtes so nicht abzeichnenden familialen Tragödie kam, zum Tod der damals fünfjährigen LeaSophie, wurde eine differenzierte wissenschaftliche Untersuchung zuerst
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ebenso unterlassen wie bei allen anderen Fällen, die bis heute in Deutschland öffentlich skandalisiert wurden. Wir sind insofern noch nicht, wie in Großbritannien, in einem »Untersuchungszeitalter« angekommen – einem »Age of the Inquiry« (Stanley/Manthorpe 2004). Angesichts dieser Tatsache war es umso überraschender, dass die Mitarbeitenden des Jugendamtes der Landeshauptstadt Schwerin im Jahr 2010 beschlossen, sich im Rahmen eines Pilotprojekts der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland an der Entwicklung und Erprobung eines Verfahrens zur Untersuchung schwerwiegender bzw. problematischer Kinderschutzfälle unter Berücksichtigung internationaler Erfahrungen zu beteiligen.1 Sie erklärten sich dazu bereit, den Fall Lea-Sophie mit der Methode des dialogisch-systemischen Fall-Labors wissenschaftlich aufzuarbeiten, knüpften daran jedoch die Bedingung, dass an der Untersuchung wichtige Fallbeteiligte aus dem Hilfe- und Familiensystem mitwirken sollten. Des Weiteren sollten die Ergebnisse der Falluntersuchung der Erarbeitung von weiteren Vorschlägen zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität des Kinderschutzes dienen und nur dann veröffentlicht werden dürfen, wenn dazu die Genehmigung der an der Untersuchung beteiligten Fachkräfte ebenso wie der Familienmitglieder des verstorbenen Kindes Lea-Sophie vorliegt. Vor allem aber sollten die Ergebnisse nach Möglichkeit nicht zu einer erneuten öffentlichen Diskreditierung des Jugendamtes und/oder der inhaftierten Eltern führen (Biesel/Wolff 2013b, S. 116f.).
1
Ausschlaggebend für die Bereitschaft, sich an der Untersuchung des Falles LeaSophie zu beteiligen, war die Tatsache, dass wir bereits im Vorfeld Kontakt zum Jugendamt hatten und mit der Falluntersuchung verbundene Befürchtungen, Ängste, Belastungen und Sorgen bereits in dieser Phase offen ansprechen und erörtern konnten. Das Jugendamt war nämlich bereits vor der Falluntersuchung an der Auseinandersetzung über Fehler im Kinderschutz interessiert. Es war an einem Fehlerforschungsprojekt (Biesel 2011) und am Bundesmodellprojekt »Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz« beteiligt (Wolff et al. 2013a). Außerdem hatten wir das große Glück, dass die Fachkräfte des Jugendamtes nach der Verurteilung und Inhaftierung der Eltern von Lea-Sophie Kontakt zur Kindesmutter und zum Kindesvater aufnahmen und sie regelmäßig besuchten. Auf diese Beziehung konnten wir aufbauen, wodurch es uns gelang, die Eltern ebenso wie die Großeltern für die Mitwirkung an der Falluntersuchung zu gewinnen.
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Synopse des Falles Lea-Sophie
Am 12. November 2007 wird dem Jugendamt der Stadt Schwerin aus der Nachbarschaft eine anonyme Kindeswohlgefährdungsmeldung übermittelt. Sinngemäß wird mitgeteilt, dass man sich Sorgen um einen drei bis vier Wochen alten Säugling mache. Er sei draußen kaum zu sehen. Die Mutter gehe nur abends mit dem Kind in der Babywiege und zwei Hunden spazieren. Das größere Kind scheine nicht mehr im Haushalt zu leben. Bei einem sich an die Aufnahme und Bewertung der Meldung unmittelbar anschließenden Hausbesuch treffen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes niemanden an. Sie hinterlassen daraufhin eine bereits vorbereitete Einladung zu einem Gespräch für den Folgetag um 9 Uhr. Die Eltern folgen der Einladung und erscheinen am 13. November 2007 zur vorgegebenen Zeit im Jugendamt. Sie kommen zu dem Gespräch mit ihrem Säugling, aber ohne die fünfjährige Lea-Sophie. Das Kind sei bei Bekannten, erklären die Eltern. Der Säugling macht einen gepflegten Eindruck. Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung sind für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes nicht erkennbar. Weitere Schritte werden zunächst nicht eingeleitet, obwohl die Fachkräfte ein komisches Gefühl haben. Am 20. November 2007 kommt es schließlich zur Zuspitzung: Die Eltern gehen wie immer mit ihrem Säugling und den beiden Hunden am Abend spazieren. Lea-Sophie ist nicht dabei. Kurz nach 19 Uhr kehren die Eltern nach Hause zurück. Die Kindesmutter findet Lea-Sophie mit hängendem Kopf bewusstlos auf einem Stuhl in ihrem Zimmer. Das Kind reagiert nicht mehr. Der Kindesvater wählt den Notruf. Lea-Sophie wird vom Rettungsteam unter Beisein eines Notarztes ins Krankenhaus gebracht. Die Eltern sollen in der Wohnung verbleiben, wo die Ermittlungen beginnen. Um 22.30 Uhr versagt Lea-Sophies Herz. Sie wird reanimiert. Um 23 Uhr ist sie tot. Bei ihrem Tod wiegt das Mädchen bei einer Körpergröße von 95 Zentimetern nur noch 7,4 Kilogramm. Bereits ab November 2006 hatte sich der Großvater mütterlicherseits mehrfach ans Jugendamt gewandt. Er hatte zur Mutter von Lea-Sophie, seiner Adoptivtochter, unter der Woche fast täglich telefonischen Kontakt gehalten. Der Mann teilte den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes mit, dass Lea-Sophie nicht wachse, nicht zunehme, sprachlich unterentwickelt sei und dass er sich Sorgen um die Entwicklung seiner Enkeltochter mache. Sie besuche schon seit Längerem keine Kindertagesstätte
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mehr und sei seit geraumer Zeit auch nicht mehr einem Kinderarzt vorgestellt worden. Daraufhin war der Großvater von den Fachkräften gefragt worden, ob bei Lea-Sophie eine Kindeswohlgefährdung vorliege, nur dann würde man nämlich mit »brachialer Gewalt« in die Familie gehen. Er antwortete, das müsse »ein Fachmann« beantworten. Auch die Großmutter väterlicherseits kontaktierte das Jugendamt im Sommer 2007. Im Juni 2007 sprach der Großvater mütterlicherseits ein weiteres Mal beim Jugendamt vor. Er habe zu diesem Zeitpunkt das Jugendamt dazu gedrängt, das Mädchen von einem Arzt untersuchen zu lassen. Auch habe er darauf hingewiesen, dass sich die Eltern »einigeln« und auf schriftliche Aufforderungen seitens des Jugendamtes nicht reagieren würden. Trotz dieser Hinweise griffen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes – aus Sicht der Öffentlichkeit und der Medien –nicht rechtzeitig ein. Sie hätten die Gefährdungssituation verkannt, heißt es später in Medienberichten, worauf sich heftige Kontroversen um den Fall entwickelten. Aufbau des Buches
Wir gehen im Weiteren zunächst auf den theoretischen Rahmen der Untersuchung ein und erläutern, welches System-, Praxis- und Fehlerverständnis uns bei der Untersuchung des Falles Lea-Sophie leitete (Kapitel 2). Darauf aufbauend, beschreiben wir im dritten Kapitel das Design der Untersuchung. Wir legen dar, welche Erhebungsmethoden wir zur Beantwortung der mit der Falluntersuchung verbundenen Fragestellungen genutzt und wie wir das Fallmaterial in Zusammenarbeit mit wesentlichen fallbeteiligten Personen und Organisationen ausgewertet haben. Im vierten Kapitel wenden wir uns den Ergebnissen der Untersuchung aus drei Perspektiven zu: aus der Perspektive des Hilfesystems, aus der Perspektive des Jugendamtes der Landeshauptstadt Schwerin und aus der Perspektive der Familie von Lea-Sophie. Im fünften Kapitel bündeln wir schließlich den Ertrag der Untersuchung. Wir heben wesentliche Gründe für das Scheitern im Fall LeaSophie hervor und schildern, welche persönlichen Erfahrungen und Schlussfolgerungen die unterschiedlich am Fall Beteiligten mit der Falluntersuchung verbinden.
2. Der theoretische Rahmen der Untersuchung
2.1 D AS S YSTEMVERSTÄNDNIS In der Diskussion problematischer Kinderschutzfälle lässt sich ein deutlicher Trend zur Individualisierung beobachten. Dabei werden nicht nur die betroffenen Kinder oft unabhängig von ihren realen Lebenszusammenhängen als isolierte Individuen betrachtet. Es werden auch die Misshandlungen und Vernachlässigungen sowie die fehlerhafte Praxis der Fachleute gern einzelnen Akteuren zugeschrieben. So sehr die einzelnen Akteure in der Lebensgeschichte eines Kindes und in der beruflichen Praxis des Kinderschutzes eine Rolle spielen, so sind sie doch alle stets kontextuell eingebunden. Beide Systeme, Familien- wie Professionssystem, organisieren sich als Interaktions- und Kommunikationszusammenhänge und bilden dabei bestimmte Muster aus (beispielsweise im Paar- und Generationenverhältnis oder zwischen der Leitungsebene und den Teams an der Fachbasis bzw. im interorganisationalen Feld des lokalen Kinderschutzsystems). Sie konstituieren sich als System, indem sie sich vor allem zuerst einmal von den sie umgebenden Umweltsystemen abgrenzen: Sie ziehen eine Grenze zur Außenwelt oder »schließen« sich operativ, wie die Systemtheorie sagt (Luhmann 1997, S. 92ff.). Zugleich wirken die anderen Systeme in ihrer Umwelt auf sie ein, sind sie mit ihnen (mehr oder weniger lose oder strikt) gekoppelt. Auch Familie als primäres Mikrosystem ist insofern keine »Gegenstruktur zur Gesellschaft« (Rosenbaum 1973), sondern sie ist auf vielfältige Weise auf die nachbarschaftlichen, medizinischen, pädagogischen und so-
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zialen Systeme in ihrer Umwelt (die Mesosysteme) bezogen. Urie Bronfenbrenner (1981) hat dazu ein ökologisches Entwicklungsmodell ineinandergreifender Systeme entworfen, das Räume und Zeit miteinander verbindet und vor allem die Notwendigkeit eines kontinuierlichen, die Entwicklung fördernden intersystemischen Brückenbaus betont (Wolff 2010b). Er hat dabei die große Bedeutung der wechselseitigen Abhängigkeit zwischen dem wachsenden menschlichen Organismus und seiner Umwelt als Prinzip herausgestellt und ausgeführt: »Dieses Prinzip nämlich besagt, dass Verhalten sich als Funktion des Zusammenspiels von Person und Umwelt entwickelt, wie Kurt Lewins klassische Gleichung V = f (P, U) formalisiert (Lewin 1935, S. 73). Man würde demnach erwarten, dass die Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten beiden Elementen der unabhängigen Seite der Gleichung echte, noch besser gleiche Bedeutung zumisst, dass sie Person und Umwelt und vor allem die Interaktion zwischen beiden erforscht. Doch in der Praxis ist die Aufmerksamkeit asymmetrisch verteilt, finden wir ein Übermaß von Theorie und Untersuchungen über die Eigenschaften der Person, aber nur sehr rudimentäre Vorstellungen und Charakterisierungen ihrer Umwelt.« (Bronfenbrenner 1981, S. 32; Herv. i. Org)
Man kann das ökologische Entwicklungsmodell wie folgt veranschaulichen:
Abbildung 1: Bronfenbrenners ökologisches Entwicklungsmodell
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Das ökologische Entwicklungsmodell unterstreicht das in der Moderne sich durchsetzende Konzept »Niemand ist eine Insel«, das Johannes Mario Simmel in den 1970er Jahren als Titel zu einem erfolgreichen Roman gedient hat.1 Soziale Differenzierung (mit der Folge hochgradiger Arbeitsteiligkeit und Versäulung der Professionssysteme) bei gleichzeitig wachsender Vergesellschaftung privater Lebenszusammenhänge (von Familie und Kindheit (vgl. Andresen/Hurrelmann 2010; Donzelot 1980; Fried et al. 2003; Hagemann-White/Wolff 1975) kennzeichnen die zwiespältige Entwicklung in der modernen Gesellschaft. Die Balance zwischen Öffnung und Schließung – die Wahrung der Eigenständigkeit und zugleich der Brückenbau zu den Umgebungssystemen – wird darum zu einer wichtigen Entwicklungsaufgabe jeder Familie. Ihr Misslingen bzw. ein Schicksal der Exklusion (aufgrund eigener Abschottung mit inneren Spaltungen im familialen Mikrosystem und/oder wegen sozialer, ökonomischer und kultureller Ausgrenzung aus den Exo- und Makrosystemen) oder die Erfahrung von zwangsweiser Inklusion (z.B. von repressiver Hilfe und Intervention im Zwangskontext des Hilfesystems) werden darum auch zu wesentlichen Ursachenbedingungen für Konflikt und Scheitern von Familien, mit der Folge, dass sie für ihre Kinder nicht mehr gut sorgen können und sie in ihrer Entwicklung gefährden. Wer einen problematischen Kinderschutzfall untersucht, hat es daher immer mit einer Ökologie gesellschaftlicher, familialer und organisationaler Kontexte zu tun, die auf komplexe Weise miteinander zusammenhängen. Bei Fällen von Kindeswohlgefährdung sind sie regelrecht miteinander verstrickt. Diese Verstrickung in ihren Verästelungen und Mustern zu verstehen, ist Aufgabe unserer Untersuchung. Mit der dialogisch-systemischen Rekonstruktion eines problematischen bzw. gescheiterten Kinderschutzfalles öffnen wir insofern »ein Fenster auf das gesamte System« (Vincent 2004, S. 242; unsere Übersetzung) und nehmen dabei Anregungen der englischen Fehlerforscherinnen Sheila Fish, Eileen Munro und Sue Bairstow
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Simmel nutzte im Übrigen – wie interessanterweise auch Hemingway in »Wem die Stunde schlägt« – ein berühmtes Gedicht des englischen Dichters John Donne, »No Man Is an Island«; vgl. dazu den Beitrag von Dieter Hildebrand: Warum niemand eine Insel ist, in der Zeit vom 29. August 1975, abrufbar unter: http://www.zeit.de/1975/36/warum-niemand-eine-insel-ist/komplettansicht [21.11.2013].
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auf, die ebenfalls ein systemisches Untersuchungskonzept für sinnvoll halten. Dieses Konzept charakterisieren sie wie folgt: »Kurz: Ein Systemansatz ist bestrebt, ein differenziertes Verständnis der Praxis an der Basis zu ermöglichen, indem man hinter das, was Fachleute tun, zurückgeht und erhellt, warum sie das tun, was sie tun. In der Untersuchung einer vergangenen Praxis läuft dies darauf hinaus, die Situation, in der sie sich befanden, die Aufgaben, die sie ausführten, und die Instrumente, die sie nutzten, usw. zu berücksichtigen, um herauszuarbeiten, welche Faktoren im System dazu beitrugen, dass ihnen ihre Aktionen zur damaligen Zeit als sinnvoll erschienen. Auf diese Weise wird ein Verständnis möglich, auf welche Weise es dazu kommt, dass sowohl gelungene als auch problematische Praktiken mehr oder weniger von Faktoren im Arbeitsfeld abhängen. Und dann können Ideen hervorgebracht werden, wie man die Arbeitsbedingungen verändern oder die Aufgaben neu fassen könnte, sodass es für die Fachleute leichter ist, ihre Aufgaben gut, und schwerer, sie schlecht zu machen.« (Fish/Munro/Bairstow 2008, S. 1; unsere Übersetzung)
Wie wir bereits im Methodenbericht zum dialogisch systemischen FallLabor ausgeführt haben, richtet sich unser Blick in der Falluntersuchung darum auf die verschiedenen, miteinander verschränkten Ebenen des Gesamtsystems: • • •
auf das Makrosystem (Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Staat), auf die Mesosysteme der professionellen Dienstleistungsorganisationen und auf das familiale Mikrosystem mit seinen Subsystemen der Eltern und der Kinder (vgl. Biesel/Wolff 2013a und 2013b).
Diese Sichtweise ermöglicht ein komplexeres Verständnis von Kausalzusammenhängen (wie und warum Akteure und Systeme in ihrer Aufgabenwahrnehmung scheitern oder auch Erfolg haben), wie Eileen Munro unterstreicht: »Eine systemorientierte Herangehensweise sucht nach Erklärungen für Fehler in allen Teilen des Systems, nicht nur beim Individuum. Wenn eine traditionelle Untersuchung menschliches Versagen als die Ursache des Problems identifiziert, geht man davon aus, dass die Person, die den Fehler begangen hat, anders hätte handeln
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können und dass sie für den Fehler – die Vernachlässigung eines wichtigen Schrittes oder die Fehlinterpretation einer Information – verantwortlich gemacht werden kann. Die systemorientierte Methode hat ein komplexeres Bild der Kausalzusammenhänge. Der handelnde Mensch ist in dieser Sichtweise nur ein Faktor unter vielen: Das Endergebnis wird als Produkt der Interaktion zwischen dem Individuum und dem Rest des Systems betrachtet. Es hat sich gezeigt, dass menschliches Versagen selten zufällig auftritt, sondern verstanden – und damit auch vorhergesagt2 – werden kann, wenn es in einem größeren Kontext betrachtet wird.« (Munro 2009, S. 107f.)
2.2 D AS P RAXISVERSTÄNDNIS Um beurteilen zu können, ob Kinderschutzfachleute in ihrer Arbeit etwas falsch gemacht haben, muss man natürlich vor allem erst einmal verstehen, was ihre professionelle Arbeit überhaupt ausmacht. Es ist dies eine Kernfrage jeder Profession, denn Professionen sind stets »an eine bestimmte Anzahl von Aufgaben gebunden, für die sie rechtlich zuständig sind, wobei die Stärke oder Schwäche dieser Bindungen sich im Prozess der tatsächlichen professionellen Arbeit herausbildet. Da aber keine dieser Verbindungen absolut oder auf Dauer besteht, bringen die Professionen ein System von Interaktionen hervor, eine Ökologie […]. Sie existieren als System.« (Abbott 1988, S. 33; unsere Übersetzung) Der Anspruch von Professionellen läuft nun darauf hinaus, dass sie sich als Experten für die Bearbeitung von gesellschaftlichen und humanen Problemen zuständig erklären, wobei sie allerdings – in den öffentlichen Arenen des Rechtssystems, der Politik, der Öffentlichkeit und nicht zuletzt der beteiligten Organisationssysteme mit ihren spezifischen Arbeitsplätzen – mit anderen Professionellen konkurrieren. Immer geht es dabei aber grundsätzlich um dreierlei: (1) um das Wissen und Können zur Herausarbeitung von Problemkonstruktionen (um das Stellen von Problemdiagnosen); (2) um das Wissen und Können zur Erarbeitung von daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für den Umgang mit den erfassten Problemen (um die Bewältigung der sich stellenden Inferenz- oder Vermittlungsprobleme); und schließlich
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Unter strukturellen Unsicherheitsbedingungen (s.u.) sind Vorhersagen natürlich nur begrenzt möglich sind.
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(3) um das Wissen und Können zur Umsetzung der Schlussfolgerungen in eine passende »Behandlung« (treatment) (wie z. B. Unterstützung, Hilfe, Intervention, Beratung oder auch Therapie) (vgl. Abbott 1988; Hörster 2004; Müller 2012b). Kinderschutzarbeit als humane Dienstleistung in der Form helfender Beziehung und organisationalen Handelns zu beschreiben (wobei es im Kern um die Schaffung und Gestaltung von Entwicklungs-, Konfliktbewältigungs-, Behandlungs- und Beratungsräumen sowie von Erziehungs- und Bildungsräumen und -prozessen geht), ist aber nicht nur eine programmatische und methodische, sondern vor allem auch eine praxistheoretische Aufgabe. Kinderschutzarbeit ist nämlich eine besondere Praxis, die spezifische Merkmale aufweist. Diese lassen sich wie folgt charakterisieren: •
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Kinderschutzpraxis bezieht sich grundsätzlich auf Konflikte, Gefahren und Gefährdungen. Sie ist selbst immer wieder gegenübertragungsmäßig konfliktreich, gefährlich und gefährdend. Kinderschutzpraxis hat es mit einem hoch dynamischen Feld ständiger multikausaler Veränderungen, einem regelrechten Durcheinander von familialen Lebensgeschichten und soziokulturellen Lebensverhältnissen zu tun und geschieht in einem dynamischen, multikausal bestimmten organisationalen System. Kinderschutzpraxis ist ein mehrpersonales, offenes, interaktives Geschehen in einem sich verändernden lebendigen Beziehungsfeld und einem konfliktreichen sozialen Raum (mit politischen, ökonomischen, sozialen, geschlechtsspezifischen, kulturellen Macht- und Interessenkonflikten). Kinderschutzpraxis ist ein lebendes Interaktionssystem und keine Maschine. Als interpersonales Geschehen ist sie ein Tun (Sprechen, Handeln, Gestalten), ein Verstehen (eine Wahrnehmung und kommunikative Konstruktion) und nicht zuletzt ein emotionaler Austauschprozess. Kinderschutzarbeit ist eine Praxis unter großen Unsicherheitsbedingungen in einem Feld struktureller Kontingenz mit diskontinuierlichen, konfliktreichen, in der Regel unvorhersehbaren, spontanen und auf gleiche Weise nicht wiederholbaren Prozessen, die sich darum in der Regel nicht sicher steuern lassen (Wolff 2010, S. 453ff.).
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Als »offen«, »ungewiss«, das heißt als »kontingent« (zufallsabhängig), wird sozialwissenschaftlich etwas bezeichnet, »was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.« (Luhmann 1984, S. 152) Das Kontingenzkonzept für ein Verständnis der Kinderschutzpraxis zu nutzen, heißt daher, herauszustellen, dass damit gerechnet werden muss, dass die organisationalen Rahmenbedingungen und Strukturen der im Kinderschutz aufeinandertreffenden Familien- und Professionssysteme sowie die jeweiligen Problemwahrnehmungen, Verstehens- und Handlungsweisen der Fachleute wie der betroffenen Familienmitglieder und der zahlreichen anderen Akteure so oder auch ganz anders hätten ausfallen können und dann auch gelegentlich anders ausfallen als gedacht oder vermutet (Alberth/Bode/Bühler-Niederberger 2010). Jedenfalls ist weder im Rückblick wissenschaftlich sicher (evidenzbasiert) bestimmbar, warum sich die Dinge so entwickelten, wie sie sich dann tatsächlich entwickelt haben, noch auch kann man präventiv mit Genauigkeit (kriterienscharf) vorhersehen oder voraussagen, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden. Nicht überraschend wird die Kinderschutzpraxis darum inzwischen auch gern als Risikofeld oder sogar als »Risikogeschäft« (Wolff 2008, S. 110) bzw. als »Umgang mit riskanten Umwelten in Organisationen« (Böwer 2012, S. 61ff.) charakterisiert. Organisationen und ihre Fachleute sehen sich in modernen Professionssystemen ständig mit Risiken konfrontiert; dies läuft darauf hinaus, dass sie ganz grundsätzlich ständig die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines positiven bzw. vor allem eines negativen Ereignisses einschätzen oder kalkulieren müssen, um in Verhältnissen großer Komplexität und Unsicherheit auf der sicheren Seite zu sein. Denn wo mit dem »Ende von Natur und Tradition« (Giddens 1999, S. 3) Schicksal, Glaube oder Mythos nicht mehr zählen, sondern nur noch selbstverantwortete Rationalität infrage kommt,3 müssen die Menschen – und insbesondere die Fachleute – den eigenen Verstand gebrauchen und selbstverantwortlich handeln. Im günstigsten Fall können sie auf empirische Daten zur Wahr-
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»Wo Schicksal nicht existiert, wird alles zur juristischen Verantwortung.« (Schirrmacher 2010, S. 27)
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scheinlichkeit von Risiken (im Kinderschutz: dass Fälle eintreten, die zu Gefährdungen oder Schädigungen von Kindern führen und die darum zu vermeiden sind) zurückgreifen. um dann entsprechend evidenzbasiert die richtigen Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Das ist allerdings leichter, wenn die Risiken bekannt sind. Das ist in der Kinderschutzpraxis aber in der Regel nicht der Fall. Obwohl in den letzten Jahrzehnten Kindesmisshandlungen, ihre Ursachen und auch das expandierende Kinderschutzsystem national und international in wachsendem Maße erforscht worden sind (Cicchetti/Calrson 1989; Deegener/Körner 2005; Gilbert/Parton/Skiveness 2011; Kindler et al. 2006; Lindsey/Shlonsky 2008; Macdonald 2001; Munro 2008; Wolff et al. 2013a), gibt es im Kinderschutz – genauso im Übrigen wie in anderen Bereichen humaner Dienstleistungen – einen großen Mangel an verlässlichen empirischen Daten. Wir kennen noch nicht einmal mit Sicherheit die Grundverteilungsrate (die Inzidenzrate) der verschiedenen Formen der Kindesmisshandlung. »Das tatsächliche Ausmaß von Vernachlässigung und Kindesmisshandlung kann […] nur geschätzt werden, da die wenigen vorliegenden Schätzungen auf älteren, nicht hinreichend aussagekräftigen Forschungsbefunden beruhen und neuere repräsentative und auf der Basis valider Erhebungsinstrumente gewonnene Ergebnisse fehlen.« (Bundesministerium für Familie 2009, S. 89) Wir können uns daher bei der Erfassung und Diagnose von Situationen der Kindeswohlgefährdung weder auf verlässliche Grunddaten noch auf naturwissenschaftlich objektive Labortests beziehen (vgl. auch: Frances 2013). Nun hat man zwar inzwischen eine klarere Vorstellung davon, welche gewichtigen Anhaltspunkte (Anzeichen, Merkmale) das vielgestaltige Syndrom der Kindesmisshandlung und Vernachlässigung ausmachen und welche Kontextbedingungen und Handlungszusammenhänge häufig bei Kindeswohlgefährdungen ursächlich eine Rolle spielen. Im konkreten Fall müssen aber immer wieder neu – unter Berücksichtigung von mündlichen und schriftlichen Informationen, Beobachtungen, Gesprächen, Befragungen und Untersuchungen, und nicht selten unter Zeitdruck – komplexe anamnestisch-diagnostische Überlegungen angestellt werden, um zu einer alle diese Befunde zusammenfassenden Problemkonstruktion zu kommen. Auf der Grundlage einer solchen Problemkonstruktion kann man schließlich beurteilen und entscheiden, ob im vorliegenden Fall Kinder misshandelt oder vernachlässigt wurden bzw. ob
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es ein Risiko gibt, dass ihr Wohl jetzt bzw. in der Zukunft gefährdet ist, oder ob das weniger oder gar nicht der Fall ist. Es ist bei der vorherrschenden Problemdiffusität und in Anbetracht einer großen Zahl von professionellen, familialen und weiteren Akteuren innerhalb und außerhalb der konfliktbelasteten Familien nicht überraschend, dass es über solche dann vorgenommenen Risiko- bzw. Gefährdungseinschätzungen immer wieder schnell Streit gibt. Es werden nämlich in der Regel unterschiedliche Wertmaßstäbe angelegt, um zu beurteilen, ob eine bestimmte Situation eines Kindes als Gefährdung bzw. als Misshandlung oder Vernachlässigung einzustufen ist. Es stehen sich schnell unterschiedliche Einschätzungen von Eltern, Kindern, Verwandten oder auch von Nachbarn sowie von Fachleuten der fallbeteiligten Berufssysteme bzw. von Gutachtern gegenüber, manche Facetten des Geschehens werden herausgestellt oder auch ausgeklammert, andere möglicherweise aber als normal und unproblematisch beurteilt. In einem solchen Stimmengewirr ist es nicht einfach, zu einer professionell zuverlässig begründeten und rechtlich korrekten und fairen Beurteilung zu kommen. Dennoch sind die Fachleute in Wahrnehmung ihres Wächteramtes verpflichtet, tatsächlich Kinder gefährdende Situationen genau zu erkennen, gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung zu erfassen und sie von nicht gefährdenden Situationen sicher abzugrenzen. Um das Risiko einer bereits geschehenen, einer aktuellen oder einer drohenden und in Zukunft wahrscheinlichen Kindeswohlgefährdung einzuschätzen, reicht es insofern nicht aus, wenn man sich auf das verlässt, was andere sagen oder melden. Immer, wenn es einen Hinweis auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung gibt, müssen die Fachleute im Jugendamt oder der freigemeinnützigen Träger der Kinder- und Jugendhilfe und anderer Professionssysteme im lokalen Kinderschutzsystem vielmehr den Kontakt mit betroffenen Eltern und Kindern aufnehmen, sie in ihren Lebensverhältnissen aufsuchen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Das ist natürlich leichter, wenn Familien selbst initiativ geworden sind und Hilfe freiwillig gesucht haben. Bei schweren Konflikten und sich zuspitzenden Misshandlungs- und Vernachlässigungssituationen ist dies jedoch in der Regel nicht der Fall. Sie werden zumeist von Dritten (in der Regel von Fachleuten der Kindertageserziehung, der Schule oder auch der Polizei und von Ärztinnen und Ärzten) gemeldet. Die gemeldeten Familien werden dabei schnell zu Beobachtungsobjekten und erleben die Hinweise auf ihre Notlage nicht sel-
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ten als Denunziation. Oft haben sie auch Angst vor Strafverfolgung und staatlichem Eingriff. Sie errichten daher hohe Mauern der Abwehr und des Widerstands. Und dann wollen Eltern, Kinder und Jugendliche – obwohl sie sich möglicherweise in großen Notlagen befinden und eigentlich auch Hilfe brauchten – meist ungern zu Klientinnen und Klienten des Hilfesystems werden. Sie sehen sich schnell bedroht und verfolgt, zumal wenn soziale Fachkräfte des Jugendamts, das heißt einer kommunalen Behörde, Kontakt mit ihnen aufnehmen wollen, die eine Doppelrolle haben, nämlich sowohl unterstützen und helfen als auch untersuchen und prüfen und dann möglicherweise auch eingreifen wollen und müssen. Die Kinderschutzfachkräfte stehen daher vor einer großen Herausforderung: (1) Sie müssen eine Rollen- und Aufgabenklarheit gewinnen. (2) Sie müssen über eine professionelle Handlungskompetenz verfügen. (3) Sie müssen eine Haltung der Aufrichtigkeit und Großzügigkeit entwickeln und bewahren (Frank 2005). (4) Sie müssen schließlich achtsam und zukunftsoffen sein – und dies unter strukturellen Unsicherheitsbedingungen (vgl. auch: Winkler 2011). Das verlangt nüchternen Realismus und Kompromissbereitschaft, vor allem die Fähigkeit, an Konflikten zu arbeiten, anstatt einfach zu entscheiden und mit aller Macht (und nicht selten mit Gewalt) einzugreifen (vgl. insbesondere: Müller 2011). Dazu neigen nicht-reflexive soziale Fachleute öffentlicher Träger der Kinder- und Jugendhilfe jedoch häufig, vor allem, wenn sie von den Medien und der Politik in eine sicherheitsideologische Interventionsrolle gedrängt worden sind. Dann werden schnell andere Saiten aufgezogen, wie es gerne heißt. Neuere Untersuchungen belegen solche Vereinseitigungen, und sie stellen heraus: »Jugendämter sind hybride Organisationen, die – als professionell kodierter und zugleich bürokratisch gesteuerter wohlfahrtsstaatlicher Interventionsapparat – permanent Schwierigkeiten haben, sich zwischen ihren Dienstleistungs- und Kontrollfunktionen zu entscheiden.« (Alberth/Bode/BühlerNiederberger 2010, S. 428) Auf jeden Fall müssen sie zwischen diesen unterschiedlichen Rollen – ambivalenztolerant und selbstbewusst – balancieren. Auf diese Weise können sie autoritativ ihre Rolle wahren und ein Entgleisen in eine autoritäre Dominanz- und Verfolgerrolle vermeiden, in der sie aktuell von nicht wenigen Eltern (und nicht zuletzt von langjährigen Klientinnen und Klienten Sozialer Arbeit) gesehen werden. Daraus entsteht eine regelrechte Paradoxie: Gerade mit Bezug auf die seltenen tödlichen Kindesmisshandlungs-
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und Vernachlässigungsfälle wird heutzutage von den Kinderschutzeinrichtungen ein härteres und vor allem früheres Eingreifen gefordert. Gleichzeitig wird ihnen vorgehalten, sie würden unter Missachtung der grundgesetzlich gesicherten Elternrechte in die familiale Privatsphäre zu früh einbrechen und Kinder unbegründet aus ihren Familien herausreißen. Ähnlich spielen in den Erwartungshaltungen Hilfe benötigender, aber häufig Hilfe ablehnender Familien sowohl interventionistische Staatsmachtsfantasien als auch Ängste, verurteilt, verfolgt und sogar zerschlagen zu werden, eine Rolle (vgl. auch: Hutz 2011). Unterschiedliche Erwartungen und Haltungen der beteiligten Akteure prägen darum die Kinderschutzpraxis von Anfang an. Sie überlagern und verdecken sogar in manchen Fällen das konkrete Geschehen und die familialen Lebensumstände, die nach einer entsprechenden Meldung daraufhin untersucht werden müssen, ob hier Kinder (und eventuell auch Eltern) gefährdet sind. Um das anamnestisch-diagnostisch zu klären, müssen die Fachkräfte vorurteilsfrei und in Ruhe eine Reihe von Untersuchungsfragen stellen, um zu einer differenzierten fachlichen Problemeinschätzung zu kommen. Dazu die inzwischen überall im Kinderschutz propagierten teilstandardisierten Diagnoseverfahren mit (wissenschaftlich aber in den meisten Fällen auf ihre Zuverlässigkeit hin nicht überprüften) Risikoeinschätzbögen zu verwenden, führt freilich schnell zu einer »risikomanagerielle(n) Steuerungslogik« (Bastian et al. 2013, S. 173). Sie läuft darauf hinaus, den Eltern und Kindern in Notlagen bestimmte Faktoren zuzuschreiben, die häufig in Misshandlungsfamilien beobachtet worden sind, die aber auch in der übrigen Bevölkerung vorkommen. Insofern fehlen diesen Instrumenten verlässliche Angaben zur generellen Häufigkeit der jeweiligen Risikomerkmale in der Bevölkerung (gibt es keine verlässliche base rate), was für wahrscheinlichkeitsmathematische Risikoprognoseinstrumente aber entscheidend ist. Solche Risikofaktorenlisten – das bayerische Landesjugendamt schlägt in seinen Diagnosetabellen beispielsweise 664 Merkmale (items) zu Risiko- und Schutzfaktoren vor (vgl. Macsenaere/Paries/Arnold o.J., S. 243) – haben in der Regel nur eine mittlere Prognosevalidität, denn sie werden auch generell in der Bevölkerung beobachtet und nicht nur, wenn auch häufiger, in Misshandlungsfamilien. Eileen Munro (2008, S. 64) hat diesen Tatbestand folgendermaßen veranschaulicht:
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Abbildung 2: Merkmale mit einem moderaten Vorhersagewert
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Als gewichtige Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung sind von englischen Forschern die folgenden Risikomerkmale herausgestellt worden: »Täterbezogene Indikatoren für Gefährlichkeit mit relativ sicherer empirischer Begründung, dass das Gewaltrisiko erhöht ist: • Frühere Gewalttätigkeit • Ausmaß früherer Delikte unterschiedlicher Art • Vorgeschichte psychischer Krankheitsprobleme (vor allem verbunden mit Krankenhausaufenthalten) • Persönlichkeitsstörungen • Nicht-Übereinstimmung/Nichtbeachtung fachlicher Ratschläge (insbesondere bei der Verschreibung und Nutzung von Medikamenten) • Persönliche Erfahrungen mit Misshandlungen und Vernachlässigungen • Kognitive Störungen in Bezug auf die Anwendung von Gewalt
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Faktoren mit unzureichender Forschungsbestätigung • Gebrauch und Verfügbarkeit von Waffen • Drogen- oder Suchtmittelabhängigkeit • Vorliegen aktueller psychiatrischer Symptome • Fehlwahrnehmungen kindlichen Verhaltens In keinem Fall sind hier die Zusammenhänge absolut gegeben bzw. sind die kausalen Vermittlungen oder Mechanismen eindeutig. Opferbezogene oder situationsbezogene Risikofaktoren Risikofaktoren beim gefährdeten Opfer (Kind) • Junges Kind (vor allem unter 5) • Frühgeborenes oder untergewichtiges Kind • Schwer zu kontrollierendes Kind • Kind, das von Verletzungen und Gewalt berichtet Situationelle Risikofaktoren • Vorliegen von Familienproblemen • Geringes Ausmaß sozialer Unterstützung • Hohes Ausmaß sozioökonomischer Belastungen • Zugang [des Misshandlers] zum Kind • Organisationale Gefährlichkeit und schlechte Entscheidungspraxis« Quelle: Hagall 1998, S. 57 und 66; nach: Munro 2008, S. 75f.; unsere Übersetzung
Jedenfalls kann die Nutzung teilstandardisierter Erfassungs- und Dokumentationsbögen zur Einschätzung solcher mehr oder weniger risikoträchtigen Faktoren – hinter der die konkreten Menschen und ihre Lebensgeschichte und -realität leicht verschwinden, womit sie zu bloßen Trägern von Risikomerkmalen werden (vgl. Castel 1983) – die Erarbeitung eines differenzierten Fallverstehens nicht ersetzen. Differenziertes Fallverstehen, wie zum Beispiel nach dem Konzept multiperspektivischer Fallarbeit (Müller 2012a), vollzieht sich in einem Dreischritt: (1) Es wird gefragt, worum es sich überhaupt handelt, was warum geschehen ist, was in der Familie – unter Einbeziehung des weiteren sozialen Kontextes – der Fall ist (Fall von). (2) Es wird gefragt, ob das, was beobachtet und zugleich bewertet und beurteilt wird – »Description as Choice« (nach Sen 1980) –, den Fachkräften
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Anlass gibt zu überlegen, ob sie zuständig sind und ob und wie (das heißt mit welchen Schlussfolgerungen, siehe oben) sie eventuell eingreifen müssen (Fall für). Und schließlich (3) wird gefragt, mit wem und wie (in welcher Rolle und Beziehung) man im Hilfeprozesse zusammenarbeiten muss, und vor allem: in welchem Setting (mit einzelnen Kindern, mit Eltern, der ganzen und der weiteren Familie, der Nachbarschaft bzw. mit den anderen beteiligten oder ebenfalls zuständigen anderen Professionellen, um Möglichkeiten der Problembewältigung, des Schutzes und der Entwicklungsförderung zu erschließen und einen »Raum des Möglichen« zu öffnen, wie Burkhard Müller in Anknüpfung an Winnicotts »potential space« formuliert (Müller 2012a, S. 63). Ein solche Untersuchung braucht erfahrene und kompetente Fachkräfte, mit genügend Zeit und Ressourcen, mit reflexiver Unterstützung und einem sicheren und kommunikativ offenen organisationalen Raum, um in der zugewandten und aufmerksamen Begegnung bestimmen zu können, ob es überhaupt um körperliche und seelische Kindesmisshandlung, um Vernachlässigung bzw. sexuelle Misshandlung und Ausbeutung geht, was ihre Ursachen sind, wie erheblich sie sind, wie die weitere Entwicklung eingeschätzt wird, inwieweit die Eltern und Kinder mit dieser Problemsicht übereinstimmen und ob sie bereit sind, Hilfe anzunehmen; und schließlich muss herausgearbeitet werden, wie im Zusammenwirken mit den Betroffenen und eventuell unter Einbeziehung der Falldarstellung weiterer Fachkräfte Hilfe oder Nothilfe gestaltet werden kann (vgl. auch: Heiner 2004, S. 91-108; Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V. 2009, S. 28-98). Eine Vorabsortierung eines Falles mit Zuweisung zum »Leistungsbereich mit Unterstützungsmanagement« (grüner Bereich), zum »Kinderschutz-Gefährdungsbereich«, wo es um die Klärung möglicher und die Abwendung drohender Kindeswohlgefährdung geht (grauer Bereich), oder zum »Kinderschutz-Gefährdungsbereich«, wo es in Wahrnehmung des »Wächteramtes« zur Abwendung vorhandener Kindeswohlgefährdung geht (roter Bereich) (Lüttringhaus 2010; Lüttringhaus/Streich 2007), führt – wie sich inzwischen zeigt – zu einem risikomanagerialen Interventionismus, mit der Folge autoritärer Kontrollaufträge und häufiger Verhaltensauflagen an die betroffenen Eltern, schneller Inobhutnahmen und außerfamilialer Unterbringungen von Kindern, was »gleichbedeutend mit einer zunehmenden Entdemokratisierung und der Abkehr deliberativen Handelns ist« (Bastian et al. 2013, S. 170; Herv. i. Org).
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Bei der Untersuchung einer möglicherweise vorliegenden Kindeswohlgefährdung hat sich ein mehrseitiger Assessment-Rahmen zur Einschätzung kindlicher Grundbedürfnisse und familialer Lebensumstände bewährt, der bereits 2007 in der inzwischen weltweit genutzten Anleitung des englischen Gesundheitsministeriums (Framework for the Assessment of Children in Need and their Families) erarbeitet und vom Kinderschutz-Zentrum Berlin in die deutsche Fachdiskussion 2009 eingebracht wurde (KinderschutzZentrum Berlin e.V. 2009, S. 25). Hier wird vorgeschlagen, den Untersuchungsblick auf drei Ebenen zu richten: (1) die Situation und Entwicklung des Kindes, (2) die Fähigkeiten und Kompetenzen der Eltern und (3) die familialen und Umgebungs-Faktoren: Abbildung 3: Assessment-Rahmen zur Einschätzung kindlicher Grundbedürfnisse und familialer Lebensumstände
Quelle: Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 25
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Wenn dann noch klare Prinzipien die Untersuchung orientieren, wird die Fehlerrate bei der Gefährdungseinschätzung reduziert. Der englische Untersuchungsrahmen stellt die folgenden Handlungsprinzipien heraus: »Prinzipien, die dem Assessment-Rahmen zugrunde liegen Die Kindeswohlgefährdungs-Untersuchungen • sind kindzentriert • haben zentral die Kinderentwicklung im Blick • sind ökologisch in ihrem Ansatz • stellen gleiche Entwicklungschancen sicher, sind nicht diskriminierend • beziehen Kinder und Familien in die Arbeit ein • berücksichtigen die Stärken und identifizieren zugleich Schwierigkeiten • nutzen einen interorganisationalen Ansatz im Untersuchungsprozess wie in der Durchführung der Dienstleistungen • sind ein kontinuierlicher Prozess und keine Einzelaktion • werden parallel zu anderen Handlungen und zur Hilfegewährung durchgeführt; sie gründen auf evidenzbasiertem Wissen« (Department of Health 2000, S. 10; unsere Übersetzung) Dass solch prinzipielle Orientierungen hierzulande nicht immer eine Rolle spielen, belastet natürlich die Praxis der Untersuchung von Kindeswohlgefährdung ebenso wie die Hilfeprozessgestaltung und erhöht die Fehleranfälligkeit des lokalen Kinderschutzsystems. Wie man professionelle Fehler im Kinderschutz verstehen kann, arbeiten wir im folgenden Abschnitt heraus.
2.3 D AS F EHLERVERSTÄNDNIS Immer, wenn ein schwerer Unfall geschieht (etwa als im Sommer 2013 ein zu schnell fahrender spanischer Zug in der Kurve vor dem Hauptbahnhof von Santiago de Compostela entgleiste) oder wenn etwas nicht funktioniert (wie etwa das Stellwerk vor dem Mainzer Hauptbahnhof), wird gefragt, wie es dazu hat kommen können, ob ein technisches System versagt oder ob jemand etwas falsch gemacht hat. Vor allem werden schnell Vorwürfe erhoben. Das gilt natürlich auch für unsere Erfahrungen im Alltagsleben, wenn uns etwas danebengeht, wenn wir zum Beispiel in den falschen Zug einsteigen, unsere Tasche mit dem Geld und den Ausweisen zu Hause ver-
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gessen, die Suppe versalzen, einen gerade fertiggestellten Text nicht richtig in unserem Computer abspeichern und alles noch einmal schreiben müssen. Dann ärgern wir uns, sind irritiert und beschämt. Wir sehen uns mit Kritik und moralischen Vorwürfen konfrontiert und wollen am liebsten im Boden versinken. Manchmal wollen wir auch gar nicht wahrhaben, dass etwas misslungen ist. Oder wir wollen die Verantwortung dafür nicht übernehmen, ducken uns weg und weichen aus. Wesentlich dafür sind natürlich vor allem die eigenen Fehlererfahrungen in der Schule, vor allem wenn sie mit Scheitern und Schande verbunden waren. Darum können viele Menschen den eigenen Fehlern nichts abgewinnen. Sie können ihre Fehler nicht wertschätzen und verfehlen dabei eine der wichtigsten Chancen zu lernen, worauf die kritische amerikanische Journalistin Kathryn Schulz mit Recht aufmerksam macht: »Von allen Dingen, die wir falsch machen, könnte diese Fehleridee an der Spitze stehen. Das ist nämlich unser Super-Fehler: Wir irren uns, was es heißt, einen Fehler zu machen (›we are wrong about what it means to be wrong‹). Weit entfernt davon, ein Anzeichen intellektueller Minderwertigkeit zu sein, ist die Fähigkeit, einen Fehler zu machen, entscheidend für menschliche Erkenntnis. Weit entfernt davon, eine moralische Schwäche zu sein, sind Fehler unlöslich verbunden mit einigen unserer menschlichsten und ehrenvollsten Eigenschaften: Empathie, Optimismus, Fantasie, Überzeugungskraft und Mut. Und weit entfernt davon, ein Anzeichen von Indifferenz und Intoleranz zu sein, ist das Fehlermachen ein Kernelement, wie wir lernen und uns verändern. Wir verdanken es unseren Fehlern, dass wir unser Selbstverständnis überprüfen und unsere Ideen über die Welt erweitern können.« (Schulz 2010, S. 5; unsere Übersetzung)
Eine solch offene und lernorientierte Einstellung zu Fehlern ist allerdings selten. Vielmehr werden, wenn Fachleute und professionelle Organisationen Fehler machen, gern erst einmal Vorwürfe erhoben. Dann stehen Angst und Abwehr im Vordergrund, und die beteiligten Professionellen können ihren Fehlern nichts abgewinnen. Das dialogisch-systemische Fall-Labors ist – wie wir bereits im Methodenbericht dazu ausgeführt haben (Biesel/Wolff 2013a) – vom Grundgedanken getragen, dass Fehler in der Kinderschutzpraxis zur Normalität gehören. Diese erweisen sich aber als problematisch, wenn sie unerkannt bleiben und verschwiegen, nicht reflektiert und dann auch nicht korrigiert
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werden (Biesel 2011). In Anknüpfung an den von Eileen Munro (Munro 2005, 2009) vorgeschlagenen und von Sheila Fish u.a. (Fish/Munro/ Bairstow 2008) im Londoner Social Care Institute for Excellence (SCIE) entwickelten systemischen Ansatz zur Untersuchung von problematischen Kinderschutzfällen (s.o.) gehen wir davon aus, dass Kinder insbesondere dann durch professionelle und organisationale Fehler gefährdet sind, wenn es im Kinderschutz an einer Kultur der Fehleroffenheit, des Vertrauens, der Anerkennung und des Lernens mangelt (vgl. Munro 2008, S. 128). Erst dann kommt es nämlich zur Herausbildung »intersystemischer Fehlerkreisläufe« (Biesel 2011, S. 69), zu gegenseitig sich bedingenden, regelbasierten, situations- und fähigkeitsbasierten oder wissensbasierten Fehleinschätzungen und Fehlhandlungen (Rasmussen 1983), zur Entstehung von latenten, das heißt lange Zeit unbemerkten professionellen wie organisationalen Fehlern im Kinderschutz (Biesel 2011). Diese Fehler können folglich nicht nur einer einzelnen Fach- oder Führungskraft zugeschrieben werden. Sie sind in der Regel eher das Resultat unhinterfragter Routinen und blinder Flecke. In einem multiprofessionellen und oftmals hierarchischen Kinderschutzsystem sind Fachkräfte aufgrund von Kommunikationshindernissen, Verstehensbarrieren, Autonomiebestrebungen und Konkurrenzen und nicht zuletzt aufgrund der situativen Einzigartigkeit von Praxiskontexten und Hilfeprozessen oftmals daran gehindert, in zugewandter und fairer Perspektive wenigstens die am wenigsten schädliche Alternative zur Sicherstellung des Kindeswohls zu finden (vgl. Goldstein et al. 1996). Anstatt nur Zuwiderhandlungen einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufzudecken, geht es daher bei der Durchführung eines dialogischsystemischen Fall-Labors um die Erforschung systembedingter und interaktiver Faktoren, die zu Fehleinschätzungen und kommunikativen Missverständnissen, zu professionellen und organisationalen Fehlern im Kinderschutz führen. Denn Fachleute, wie Menschen überhaupt, setzen ihre Handlungspläne nicht einfach um oder treffen bestimmte Entscheidungen mehr oder weniger überlegt aus sich heraus. Vielmehr handeln sie in spontaner, beziehungsmäßiger Improvisation. Das heißt, sie »produzieren Pläne und finden Begründungen dafür im Verlauf situationeller Handlungen« (Suchman 1994, S. 50; unsere Übersetzung). Handlungspläne oder methodische Verfahrensweisen werden insofern eher verstanden als »Ressourcen für situationelle Handlungen, aber sie determinieren – in einem strengen Sinne – nicht ihren Verlauf« (ebd., S. 52; unsere Übersetzung).
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Vor dem Hintergrund dieses ethnomethodologischen Grundverständnisses (vgl. Garfinkel 1967) können zentrale Handlungs- und Kommunikationsmuster der einzelnen Systembeteiligten und deren gute Gründe (situationelle Rationalitäten) (s. o. Suchman 1994) für ihre Entscheidungen und Handlungen untersucht und wechselseitig als sich bedingende und verschärfende »intersystemische Fehlerkreisläufe« (Biesel 2011, S. 69) herausgearbeitet werden: Abbildung 4: Untersuchungsperspektive bei der dialogisch-systemischen Rekonstruktion eines problematisch verlaufenen Kinderschutzfalles
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Nicht das Fehlverhalten einzelner Fachkräfte steht somit im Mittelpunkt des Untersuchungsprozesses, sondern die dialogisch-systemische Rekonstruktion eines problematisch verlaufenen Kinderschutzfalles aus unterschiedlichen Erfahrungs- und Praxisperspektiven. Dabei ist die wesentliche Aufgabe des dialogisch-systemischen Fall-Labors, Entwicklungsetappen,
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Probleme, Krisen, Konflikte, Schlüsselereignisse, Wendepunkte und schließlich die Ergebnisse eines Fallgeschehens im Kinderschutz herauszuarbeiten, mit den folgenden Schritten: • • • •
die Untersuchung der Familiengeschichte im mehrgenerationalen Zusammenhang (familienbiografische Perspektive), die Untersuchung der Organisationsgeschichte im Zeitverlauf (organisationschronologische Perspektive), die Untersuchung der Hilfesystemgeschichte (aus kurativer/therapeutischer/helfender/intervenierender Perspektive) und schließlich die Untersuchung des Kindes (entwicklungspsychologische, bedürfnisorientierte und kindesrechtliche Perspektive).
Auf dieser Grundlage können schließlich verschiedene Formen mangelhafter Fachpraxis (fachlicher Fehler) empirisch erfasst werden, wie sie von der neueren Fehlerforschung unterschieden werden:
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Tabelle 1: Professionelle Fehler (unsafe acts) Irrtümer
Fehler
Zuwiderhandlungen
= Man wollte eigentlich das Richtige tun – das, was angebracht oder vorgeschrieben war –, macht aber etwas anderes oder unterlässt, was eigentlich geplant war.
= Was man macht, ist nicht geeignet, das Handlungsziel zu erreichen, und hat negative Folgen.
= Gegen bestehende Regelungen und Verfahren bzw. Gesetze oder ethische Grundprinzipien wird verstoßen.
Ausrutscher/Aussetzer – aufmerksamkeitsbasiert: Man war in Eile, nicht konzentriert, gestresst, abgelenkt, mit anderen Dingen beschäftigt.
Regelbasiert: = Eine für den Fachprozess unangebrachte Methode wird verwandt. = Eine sinnvolle und indizierte Methode wird nicht angewandt. = Eine sinnvolle und indizierte Methode wird schematisch angewandt.
Routinemäßig: = Es wird von vorgeschriebenen Verfahren/Methoden (z.B. von der Notwendigkeit einer umfassenden anamnestischdiagnostischen Problemklärung oder vom Hilfeplanverfahren) abgewichen und eine »Abkürzung« genommen.
Wissensbasiert: = Eine sinnvolle und indizierte Methode ist den Fachkräften nicht bekannt = Eine sinnvolle und indizierte Methode wird falsch angewandt.
Situationsbedingt: = Die notwendigen und vorgeschriebenen methodischen Ansätze und Tätigkeiten werden – aufgrund von Stress und Ressourcenmangel oder wegen persönlicher Gründe – nicht erledigt, auf die lange Fähigkeitsbasiert: Bank geschoben oder = Eine sinnvolle und der eigenen Organisatiindizierte Methode on oder den Klientinwird falsch oder gar nen/Klienten gegennicht angewandt, über verweigert. weil die notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen dazu fehlen. Quelle: Biesel 2011, S. 73; Fegert/Ziegenhain/Fangerau 2010, S. 151; Reason 1990; Reason 1997
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Diese Formen sind in der humanen Hilfepraxis häufig miteinander vermischt. Wenn wir anerkennen, dass sie immer wieder vorkommen, ist das der erste Schritt, aus Fehlern zu lernen. Denn weder professionelle Organisationen noch deren Fachkräfte sind in der Lage, Fehler immer auszuschließen. Eine Null-Fehler-Abweichung von der Norm bester Fachpraxis ist nämlich unter strukturellen Ungewissheitsbedingungen (was die Normfestlegung wie den Praxisprozess und -erfolg betrifft) unmöglich.
3. Das Design der Untersuchung
3.1 M ETHODOLOGISCHE A USGANGSPUNKTE Ausgehend von der Annahme, dass die Sicherstellung des Schutzes von gefährdeten Kindern eine riskante und hoch fehleranfällige Aufgabe ist (vgl. Kapitel 2), ging es uns bei der Erarbeitung unserer Methode des dialogischsystemischen Fall-Labors darum, mittels eines flexiblen, partizipatorisch ausgerichteten Forschungsdesigns der Komplexität humaner Hilfepraxis möglichst gerecht zu werden und nicht voreilig die Bemühungen fallzuständiger oder fallbeteiligter Fachpersonen im Kinderschutz als gut oder schlecht bzw. falsch oder richtig zu bewerten. Mit unserer Methode wollten wir darauf Rücksicht nehmen, dass es in der konkreten (und deshalb auch immer einmaligen) Praxissituation oftmals gute Gründe gibt, warum Fachkräfte, aber auch Klientinnen und Klienten sich für oder gegen bestimmte Handlungsoptionen entscheiden. Unsere Methode sollte zudem sozial- und organisationswissenschaftlich abgestützt sein und der Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen und dem (inter-)organisationalen Lernen (Argyris/Schön 1996; Senge 1998) sowie dem Aufbau einer reflexiven und achtsamen Organisationskultur dienen (Biesel 2011; Böwer 2012; Weick/ Sutcliffe 2010). Ansätze zur Analyse von Fehlern im Kinderschutz mit Serious Case Reviews, die solche Zielstellungen verfolgen, waren zum Zeitpunkt unserer Auseinandersetzung mit Verfahren und Methoden zur Untersuchung problematischer Kinderschutzfälle in Deutschland rar. Zwar gab es auf der Ebene des Bundes Bemühungen, das Lernen aus problematischen Kinderschutzverläufen voranzutreiben (Bundesministerium für Familie 2008; Fegert et al. 2010) und die Qualität im Kinderschutz weiterzuentwickeln
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(Wolff et al. 2013a). Dennoch gab es kaum Erfahrungen mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung von gescheiterten Kinderschutzfällen. Und auch im Ausland lagen nur wenige weiterführende methodische Ansätze vor, von denen wir hätten profitieren können (Axford/Bullock 2005). In diesem Kontext begannen wir im Jahr 2010 damit, die Methode des dialogischsystemischen Fall-Labors für die Aufarbeitung des Falles Lea-Sophie im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen vom Londoner Social Care Institute for Excellence (SCIE) und mit Unterstützung durch das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) zu entwickeln und zu erproben (Biesel/Wolff 2013a). Vor allem der systemische Untersuchungsansatz (»the SCIE model«) von Fish/Munro/Brainstow (2008, 2009) aus Großbritannien deckte sich mit unseren theoretischen Basisannahmen (vgl. Kapitel 2). Mit Bezug auf Überlegungen von Eileen Munro (2009), wonach die Qualität und Wirksamkeit der Kinderschutzarbeit von individuellen Faktoren (z.B. Wissen, Können, Aufmerksamkeitsdynamiken, Handlungsstrategien), von Ressourcen und Beschränkungen (z.B. Budget, Ausstattung, Hilfeoptionen) und von organisatorischen Rahmenbedingungen (z.B. Organisationskultur, Führungsstil, Solidaritäten) abhängt, und basierend auf Arbeiten von Woods und Cook (2001), haben Fish und ihre Kolleginnen (2009, S. 7ff.) ein systemisches Ursachen-Faktoren-Modell entwickelt, das auf sechs Ebenen angesiedelt ist: • • • •
• •
Operationen auf der Ebene der Mensch-Methoden- (oder Werkzeug-) Beziehung, Operationen des personenbezogenen Managementsystems, Kommunikation und Zusammenarbeit in der multiorganisationalen Arbeit in Reaktion auf Einzelfälle und Krisen, einrichtungsübergreifende Kommunikation und Zusammenarbeit bei der Problemeinschätzung und im weiteren gemeinsamen Arbeitsprozess, Interaktion zwischen der Familie und den Fachleuten, Formen menschlicher Urteilsbildung und Prozessüberlegungen.
Grundannahme des Modells ist, dass Fachpersonen bei der Wahl zwischen einer guten und schlechten Praxis nicht völlig frei sind. Vielmehr sind sie beeinflusst – von den fachlichen Aufgaben, die sie zu erfüllen haben, von
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den methodischen Werkzeugen, die sie nutzen, und den Umwelten, in denen sie agieren (ebd., S. 2). In der Folge bilden sie mentale Modelle bzw. lokale Rationalitäten aus, die wiederum darüber entscheiden, wie und ob Fälle von Kindeswohlgefährdung von weiteren daran beteiligten Fachleuten, Organisationen und Familienmitgliedern verstanden werden. Im Mittelpunkt des systemische Untersuchungsansatzes stehen daher folgende Fragen, die mithilfe von Interviews mit wichtigen Systembeteiligten und Dokumentenanalysen einer Beantwortung zugeführt werden (ebd., S. 9): • • • • •
Welche Informationen waren für die am Fall beteiligten Fachleute verfügbar? Welche Informationen und Gegebenheiten lenkten ihre Aufmerksamkeit? Welches Wissen und welche Erfahrungen waren für die Plausibilisierung ihrer Fallannahmen handlungsleitend? Welche Ziele versuchten sie zu erreichen? Welche in Konflikt zueinander stehenden Prioritäten versuchten sie zu jonglieren?
Durch die Herausarbeitung von Schlüsselepisoden aus der Perspektive verschiedener am Fall beteiligter Dienste und Behörden und der Bedingungsfaktoren, die dabei eine Rolle spielen, werden schließlich generative Muster identifiziert und priorisiert. Sie gehen in einen Untersuchungsbericht ein, der mit den betroffenen Fachleuten besprochen wird. Die unmittelbare Auseinandersetzung der Fachleute mit den Untersuchungsergebnissen soll dem (inter-)organisationalen Lernen dienen (ebd., S. 13ff.), also dazu beitragen, Praxis zu verändern. Der systemische Untersuchungsansatz von SCIE basiert im Wesentlichen auf fünf aufeinander aufbauenden Phasen (ebd.):
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Tabelle 2: Ablauf einer Falluntersuchung nach dem SCIE-Modell Untersuchungsphasen
Aufgaben
Vorbereitungsphase
– Identifikation des Falles, der untersucht werden soll – Bildung des Review-Teams, das die Untersuchung durchführt – Klären und entscheiden, wer teilnehmen soll – Vorbereitung der Teilnehmer
Erfassung der Daten
– Festlegen der zu untersuchenden Dokumente – Einzelgespräche (zur Rekonstruktion der Erfahrungen, Sicht- und Erklärungsweisen – der lokalen Rationalitäten der Fachkräfte – und von Wendepunkten im Fallgeschehen)
Organisation und Analyse der Daten – Erarbeitung einer narrativen Darstellung des Geschehens aus einrichtungsübergreifender Perspektive – Identifikation und Erfassung von Schlüsselszenen in der Praxis und ihren ursächlichen Faktoren – Gesamtanalyse der Daten/Herausarbeitung wesentlicher Ursachenmuster Erörterungsphase
– Feedbackgespräche mit der Fallgruppe und anderen Beteiligten
Schlussphase
– Schreiben des Berichtes und Erarbeitung von Empfehlungen
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In Deutschland wurden mittlerweile Methoden zum Lernen aus Fehlern und Erfolgen (Heinitz/Claassen-Hornig 2013; Maschke 2013; Wolff et al. 2013a, S. 98ff.) sowie für die Herausarbeitung von Risikomustern (Schrapper/Schnorr 2012) im Kinderschutz entwickelt. Sie wurden allerdings nicht speziell dafür konzipiert, problematisch verlaufene Kinderschutzfälle wissenschaftlich aufzuarbeiten. Schrapper (2013) hat jedoch eine Methode zur Analyse und Rekonstruktion von fachlichen Arbeitsweisen und organisatorischen Bedingungen im Kontext der Aufarbeitung des Falles Anna vorgelegt, an die sich neben der Methode des dialogisch-systemischen Fall-Labors in Deutschland weiter anzuschließen lohnt. Sie basiert im Wesentlichen auf der Annahme, dass sich Fälle in Jugendämtern nicht losgelöst von deren organisationaler und konzeptueller Ausrichtung bearbeiten lassen. Zur Begutachtung des fachlichen Handelns, der Qualifikation der Mitarbeitenden und der Organisation zwischen 2004 und dem 23. Juli 2010 wählte Schrapper einen Zugang, der ihm einerseits Aufschluss gab, ob das Jugendamt der Stadt Königswinter aufgabengerecht organisiert und ausgestattet war, ihm anderseits aber auch ermöglichte, »nachvollziehend zu verstehen, warum die Fachkräfte in Königswinter so gehandelt haben, wie sie es taten« (ebd. , S. 2). Die Ergebnisse seiner Untersuchung stützen sich auf die dokumentierte Fallarbeit der Fachkräfte und auf Unterlagen, die den Aufgabenzuschnitt des Jugendamtes und den Umgang mit Kindeswohlgefährdung beschreiben. Mit seinem Zugang gelang es Schrapper, die Familien- und Hilfegeschichte im Rückblick chronologisch mit den organisatorischen und konzeptionellen Rahmenbedingungen des Jugendamtes in Beziehung zu setzen, sie ihnen gegenüberzustellen und darauf aufbauend eine zusammenfassende Analyse und Bewertung vorzunehmen. Auf Gespräche mit fallzuständigen und fallbeteiligten Mitarbeitenden verzichtete er jedoch. Ebenso suchte er nicht das Gespräch mit den inhaftierten Pflegeeltern. Dies lag zum einen daran, dass die strafrechtlichen Ermittlungen zum Zeitpunkt seiner Untersuchung noch nicht abgeschlossen waren, zum anderen wollte Schrapper nur solche Informationen und Sachkenntnisse bewerten, »die zum jeweiligen Zeitpunkt den Fachkräften verfügbar waren oder bei entsprechender Anstrengung zugänglich gewesen wären« (ebd., S. 3). Die Methode des dialogisch-systemischen Fall-Labors geht über die Ansätze der Kolleginnen und Kollegen von SCIE (Fish et al. 2008; Fish et al. 2009) und von Schrapper (2013) deutlich hinaus (Biesel/Wolff 2013a
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LERNEN
und 2013b). Sie ist dialogisch ausgerichtet (Bohm 1998; Isaacs 2002), hat eine mehrseitige Beteiligungsarchitektur und nimmt Ansätze unterschiedlicher Traditionen rekonstruktiver Sozial-, Familien-, Organisationsforschung (Bohnsack 2010; Glaser/Strauss 1998; Hildenbrand 2005; Strauss/ Corbin 1996; Vogd 2009) sowie partizipativer Praxis- und Evaluationsforschung auf (Bergold/Thomas 2012; Chaskin/Rosenfeld 2008). Ihr Ziel ist die dialogisch-systemische Rekonstruktion von Entwicklungsetappen, Problemen, Krisen, Konflikten, Schlüsselereignissen und Wendepunkten im Dialog und im Austausch mit fallbeteiligten Familienmitgliedern und Fachkräften. Auf dieser Grundlage können zentrale Kommunikations- und Handlungsmuster der einzelnen Systembeteiligten und deren gute Gründe für ihre Entscheidungen und Handlungen im Rückblick untersucht und wechselseitig sich bedingende »intersystemische Fehlerkreisläufe« (Biesel 2011, S. 69) herausgearbeitet werden. Vor allem aber können damit in respektvoller und achtsamer Atmosphäre die Umstände erhellt werden, die dazu führten, dass ein Kind zu Schaden oder sogar zu Tode gekommen ist, obwohl der Versuch unternommen wurde, familial und professionell zu helfen. Ziel des dialogisch-systemischen Fall-Labors ist es insofern, Fachkräfte und Familienmitglieder dabei zu unterstützen, den problematischen Kinderschutzfall noch einmal umfassend aufzurollen, neu verstehen zu lernen und darauf aufbauend die Praxis des Kinderschutzes weiterzuentwickeln und zu verbessern. Problematische Kinderschutzfälle werden dabei als sich verfestigende, sich zuspitzende soziale Ordnungen verstanden, die sich erst im Nachhinein erschließen lassen. Sie können im Verständnis der Grounded Theory »als ein transaktionales System« (Strauss/Corbin 1996, S. 133; Herv. i. Org.) aufgefasst werden (siehe hierzu auch: Hildenbrand 2010, S. 8ff.). Solche Systeme sind das Resultat von miteinander verbundenen Handlungen bzw. Interaktionen, die Bedingungen und Konsequenzen verursachen, die wiederum auf sich wechselseitig bedingenden Interpretationen beruhen. Sie können Entwicklungspfade zur Folge haben, welche zum Tod eines Kindes führen können.
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Abbildung 5: Problematisch verlaufene Kinderschutzfälle als transaktionale Systeme
3.2 F ALLAUSWAHL
UND
F RAGESTELLUNG
Mit der Untersuchung des Falles Lea-Sophie waren die folgenden forschungsleitenden Fragestellungen verbunden: • •
•
Warum konnte dem Kind nicht rechtzeitig geholfen werden? Welche familialen, organisationalen und interorganisationalen Entscheidungen und Handlungen trugen zur Gefährdung des Kindes bei und führten schließlich zu dessen Tod? Welche Kontextfaktoren spielten hintergründig eine Rolle?
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Wie reagierte die Familie auf die Kontakt- und Hilfebemühungen der Fachleute (insbesondere des Jugendamtes) und von Personen aus dem familialen und sozialen Umfeld und umgekehrt? Weshalb konnten die Eltern und das Kind nicht rechtzeitig Hilfe in Anspruch nehmen? Welche Handlungs- und Kommunikationsmuster der am Fall beteiligten Personen und Organisationen (speziell der Kernorganisation Jugendamt) führten zu welchen Fehlern?
Diese Fragen können auch zur wissenschaftlichen Untersuchung anderer problematisch verlaufener Kinderschutzfälle mit der Methode des dialogisch-systemischen Fall-Labors herangezogen werden. Hierzu muss jedoch vorab geklärt sein, • • •
ob es sich um einen Fall handelt, bei dem ein Kind beinahe zu Schaden gekommen ist – Grenzfall, ob es sich um einen Fall handelt, bei dem ein Kind zu Schaden gekommen ist – Schadensfall; ob es sich um einen Fall handelt, bei dem ein Kind zu Tode gekommen ist – Todesfall.
Weiter muss abgeklärt werden, ob am Fall das Jugendamt oder andere Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder anderer Professionssysteme beteiligt waren und ob gegebenenfalls noch strafrechtliche oder zivilrechtliche Verfahren anhängig sind, welche die wissenschaftliche Untersuchung eines problematisch verlaufenen Kinderschutzfalles belasten, wenn nicht sogar verhindern könnten (Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. 2012). Eine Falluntersuchung sollte jedoch immer dann vorgenommen werden, wenn ein Kind zu Tode gekommen ist oder schwer vernachlässigt, misshandelt oder sexuell ausgebeutet wurde und wenn der Verdacht besteht, dass dabei professionelle wie organisationale Fehler den Ausschlag gaben. Oder aber es existieren Hinweise darauf, dass Fachleute gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung nicht angemessen genug nachgegangen sind oder aber dass sie gegen bestehende Gesetze und Richtlinien verstoßen und methodische Prinzipien verletzt haben. Auch dann sollte eine Untersuchung vorgenommen werden, nicht allein, um Zuwiderhandlungen einzelner Fachkräfte aufzudecken, sondern um im
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Rückblick besser verstehen zu können, welche Beweggründe in der gegebenen Situation für die Fachkräfte wie für die Familienmitglieder entscheidungs- und handlungsleitend waren und wie diese in ihrer Verschränkung zur Herausbildung »intersystemischer Fehlerkreisläufe« (Biesel 2011, S. 69) führten, zu zentralen Handlungs- und Kommunikationsmustern, zu gegenseitig sich beeinflussenden regel-, wissens- und aufmerksamkeitsbasierten professionellen Fehlern oder auch zu latenten, organisationskulturell bedingten Fehlern. Regelhafte wissenschaftliche Untersuchungen von problematisch verlaufenen Kinderschutzfällen sind, wie bereits weiter oben dargelegt, in Deutschland bislang jedoch nicht Praxis, obwohl sie einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung zu leisten imstande sind, zumal, wenn sie dialogisch ausgerichtet, flexibel und partizipatorisch angelegt sind – wie eben ein dialogisch-systemisches Fall-Labor.
3.3 E RHEBUNG
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Bevor wir mit der Erhebung und Analyse fallrelevanter Daten im Zusammenhang mit der Untersuchung des Falles Lea-Sophie mit der Methode des dialogisch-systemischen Fall-Labors beginnen konnten, galt es, einige Aufgaben im Vorfeld zu erledigen. Es musste geklärt werden, wer die Kosten für die Durchführung der Falluntersuchung übernahm, wer die Untersuchung federführend durchführen würde, welche datenschutzrechtlichen Bestimmungen beachtet werden mussten, ob der Fall Lea-Sophie überhaupt für eine Untersuchung geeignet war, ob die Bereitschaft zur Mitwirkung aufseiten der Fachkräfte wie der Familienmitglieder gegeben war, wer an der Untersuchung unmittelbar beteiligt werden sollte, wer zu den Fachkräften wie den Familienmitgliedern Kontakt aufnahm und welche fallrelevanten Dokumente vorhanden waren. Nachdem diese Aufgaben bewältigt waren, begannen wir damit, stufenweise die Falluntersuchung zu realisieren. Vorbereitung und Realisierung der Falluntersuchung • Wir erläuterten in Vorabgesprächen den Fach- und Führungskräften des
Jugendamtes sowie den betroffenen Familienmitgliedern, welche Fragestellungen wir mit der Falluntersuchung zu beantworten beabsichtigten und welche theoretischen Grundannahmen dabei für uns handlungsleitend waren (Frühjahr 2010 bis Spätsommer 2010).
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Wir nahmen eine selektive Medienanalyse (für den Zeitraum von November 2007 bis Mai 2010) vor, um den Fall Lea-Sophie in den Gesamtzusammenhang der zum damaligen Zeitpunkt (November 2007) veröffentlichten Berichterstattung über das Jugendamt der Stadt Schwerin und die daran anschließenden politischen Reformbemühungen einordnen zu können. Wir analysierten schrittweise (im Oktober 2010) – parallel zu den gemeinsam mit den fallbeteiligten Fachkräften durchgeführten Forschungswerkstätten – die uns übermittelten Falldokumente und verwaltungsinternen Untersuchungsberichte und die einzelnen gutachterlichen Stellungnahmen; im Nachgang konnten wir mit Einverständnis der Eltern der verstorbenen Lea-Sophie noch weitere, für die Aufarbeitung des Fallgeschehens wichtige Dokumente beschaffen. Wir führten vier zweitägige Forschungswerkstätten in Zusammenarbeit mit den damals am Fall beteiligten Fach- und Leitungskräften des Jugendamtes und der freigemeinnützigen Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie mit einzelnen Jugendhilfeausschussmitgliedern zur gemeinsamen Untersuchung des Falles Lea-Sophie durch (Oktober 2010 bis April 2011). Wir nahmen Kontakt zu ehemaligen fallverantwortlichen Fach- und Leitungskräften und zu den betroffenen Familienmitgliedern (die allerdings selbst nicht an den Forschungswerkstätten teilnahmen) auf, um mit diesen Personen insgesamt fünf Rückblickgespräche (narrativteilstrukturierte Interviews) zu führen; weitere für die Falluntersuchung bedeutende Rückblickgespräche (n = 3) konnten wir allerdings aus organisatorischen und zeitlichen Gründen erst nach Abschluss des FallLabors durchführen. Wir unternahmen schließlich gemeinsam mit den Teilnehmenden der Forschungswerkstätten in Unterarbeitsgruppen sowie im Plenum eine Auswertung der vorliegenden Falldokumente, Berichte, Stellungnahmen und der Rückblickgespräche vor; die drei weiteren Rückblickgespräche, die wir erst nach Abschluss der Forschungswerkstätten realisierten, konnten allerdings nicht mehr zum Gegenstand eines partizipatorischen Deutungs- und Verstehensprozesses im Rahmen der Forschungswerkstätten gemacht werden; wir konnten sie aber im zusammenfassenden Auswertungsprozess nutzen.
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Wir trugen die auf diese Weise rekonstruierten Untersuchungsergebnisse in einem vorläufigen Ergebnisbericht zusammen, den wir den Teilnehmenden der Forschungswerkstätten in einer sich anschließenden Feedbackrunde im Mai 2011 präsentierten und aushändigten, damit von ihnen am Text Veränderungsvorschläge und Korrekturen gemacht werden konnten. Nach erneuter kritischer Analyse unserer bisherigen Ergebnisse ermöglichten wir den betroffenen Familienmitgliedern des verstorbenen Kindes Lea-Sophie eine Erörterung der bis dahin vorliegenden Hauptkapitel des Ergebnisberichtes. Wir baten sie darum, am Text Veränderungsvorschläge und Korrekturen anzubringen; hierfür besuchten wir die Eltern in den Justizvollzugsanstalten und verbrachten mit den Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits ein Wochenende in einem Seminarhotel (August/September 2011). Danach beschafften wir weitere Unterlagen und Dokumente, die uns zum Zeitpunkt der Durchführung des dialogisch-systemischen FallLabors zur Aufarbeitung des Falles Lea-Sophie noch nicht vorlagen. Ebenso führten wir weitere Rückblickgespräche mit Fachleuten aus der Kindertagesstätte und der Kinderklinik von Lea-Sophie (Herbst 2011 bis Frühjahr 2012). Schliesslich arbeiteten wir die Erkenntnisse der uns erst nach Abschluss vorliegenden Dokumente und von uns nachträglich geführten Rückblickgespräche in den Ergebnisteil ein und nahmen, wo notwendig, Korrekturen und Richtigstellungen oder aber auch Erweiterungen vor (Frühjahr 2012 bis Herbst 2013).
Mit der Realisierung der Falluntersuchung waren insofern folgende Schritte verbunden, die sich in einem Phasenmodell systematisieren und veranschaulichen lassen:
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LERNEN
Tabelle 3: Phasenmodell des dialogisch-systemisches Fall-Labors Untersuchungsphasen 1. Klärungsphase
2. Recherchephase
Untersuchungsschritte 1. Schritt: Organisation von Vorabgesprächen zur Klärung der mit dem Fall-Labor verbundenen Ziele und Aufgaben 2. Schritt: Durchführung von Vorabgesprächen 3. Schritt: Zusammenstellen vorhandener Falldokumente, gutachterlicher Stellungnahmen und Medienberichte 4. Schritt: Vorauswertung vorhandener Falldokumente, gutachterlicher Stellungnahmen und Medienberichte
3. Forschungsphase
5. Schritt: Organisation und Durchführung von Rückblickgesprächen, um die Sichtweisen der unmittelbar am problematischen Kinderschutzfall beteiligten Personen einzubeziehen 6. Schritt: Vorauswertung der vom Untersuchungsteam erhobenen Rückblickgespräche 7. Schritt: Organisation von vier zweitägigen Forschungswerkstätten zur gemeinsamen Rekonstruktion eines problematisch verlaufenen Kinderschutzfalles
4. Analysephase
5. Feedbackphase
8. Schritt: Durchführung von vier zweitägigen Forschungswerkstätten unter Einbezug der bereits vom Untersuchungsteam erhobenen und vorausgewerteten Daten 9. Schritt: Verschriftlichung der während der Recherche- und Forschungsphase gewonnenen Erkenntnisse, Anfertigung eines vorläufigen Untersuchungsberichtes 10. Schritt: Organisation von Feedbackrunden mit den Teilnehmenden der Forschungswerkstätten und den betroffenen Familienmitgliedern zur
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6. Disseminationsphase
7. Nachbetreuungsphase
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Überprüfung, Ergänzung und Veränderung der erzielten Untersuchungsergebnisse 11. Schritt: Durchführung der Feedbackrunden 12. Schritt: Fertigstellung des Untersuchungsberichtes mit Vorschlägen und Empfehlungen zur Qualifizierung der Kinderschutzarbeit 13. Schritt: Vorbereitung einer eventuellen Veröffentlichung des ausführlichen Untersuchungsberichtes 14. Schritt: Nachgespräche und wenn nötig Vermittlung weiterführender Hilfen für die von der Untersuchung betroffenen Familienmitglieder und Fachkräfte
Forschungswerkstätten als Herzstück des Fall-Labors
Speziell die Forschungswerkstätten, die von einem externen Untersuchungsteam (von mindestens zwei Sozial- und Organisationswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern mit sozialpädagogischer und/oder familientherapeutischer Ausbildung und Praxiserfahrung) geleitet werden (und in dieser Studie aus vier zweitägigen Veranstaltungen bestanden), sind das Herzstück unseres Ansatzes. Sie gestatten die gemeinsame Erörterung und Rekonstruktion eines problematischen Kinderschutzfalles unter Beteiligung von etwa 25 bis 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der öffentlichen und freigemeinnützigen Kinder- und Jugendhilfe (mit unmittelbarer und mittelbarer Fallbeteiligung). In solchen Werkstätten kann auf gleicher Augenhöhe miteinander geforscht und gelernt werden. Sie können einen Raum der Begegnung und offenen Reflexion bieten, in dem Untersuchende und Untersuchte sich nicht einfach gegenüberstehen, sondern sich auf gemeinsame Formen des Sich-Erinnerns, Sprechens, Hörens, Lesens, Analysierens und Deutens im Dialog einlassen. Ein Dialog ist »eine ganz andere Art des gemeinsamen Gesprächs«. Es ist »ein Gespräch mit einem Zentrum, aber ohne Parteien« (Isaacs 2002, S. 29; Herv. i.Org. ). In einem solchen Setting können Annahmen, Deutungen und Erkenntnisse über den Fall behutsam miteinander erörtert werden. Dadurch lässt sich sicherstellen, dass einzelne Fachkräfte, die unmittelbar am Fall beteiligt waren, für vergangene Ent-
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scheidungen und Handlungen nicht ausgegrenzt, angeklagt oder allein verantwortlich gemacht werden. Freilich gab es auch im Kontext der Untersuchung des Falles LeaSophie Situationen, in denen Anklagen und Unverständnis gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes im Vordergrund standen und wir dazu aufgefordert waren, einzelne Fachkräfte zu schützen und zu stützen. Aus diesem Umstand heraus hat sich eine Praxis der Vor- und Nachbereitung etabliert, die wir zu Beginn der Arbeit in Forschungswerkstätten in dieser Form so nicht vorgesehen hatten. Aber es hat sich gezeigt, dass diese Werkstätten mit emotionalen Belastungen einhergehen, die aufgefangen und in produktive Energien umgeleitet werden müssen. Das Programmkonzept der Forschungswerkstätten muss darauf Rücksicht nehmen und dafür Sorge tragen, dass Formen des Kennenlernens, des Sich-Zurückerinnerns und des Verarbeitens ebenso ihren Platz finden wie theoretische Vertiefungen und gemeinsame Deutungs- und Erkenntnisprozesse. Bei der Untersuchung des Falles Lea-Sophie hat sich folgendes Programmkonzept bewährt, das je nach Struktur und Problematik des untersuchten Falles auch variiert werden kann: Forschungswerkstatt I: sich kennenlernen, sich zurückerinnern und verarbeiten • Vorstellung des theoretischen und forschungsmethodologischen Rahmenkonzepts des dialogisch-systemischen Fall-Labors • Dialogrunden zum Fall und seiner persönlichen Bedeutung • Entwicklung erster Fehlerhypothesen • Ereignisweganalysen auf der Grundlage vorliegender Falldokumente und gutachterlicher Stellungnahmen oder Berichte • Auseinandersetzung über die Berichterstattung in den Medien • Ergebnissicherung, Evaluation und Schluss Forschungswerkstatt II: vertiefen, dialogisieren und theoretisieren I • Rückblick auf die erste Forschungswerkstatt • Theoretische Vertiefungen zu familialen Konfliktmustern, zum Auftreten und zu Ursachen von Kindeswohlgefährdungen • Genogrammanalyse, familienanamnestische Strukturanalyse • Auswertung von Rückblickgesprächen • Ergebnissicherung, Evaluation und Schluss
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Forschungswerkstatt III: vertiefen, dialogisieren und theoretisieren II • Rückblick auf die zweite Forschungswerkstatt • Theoretische Vertiefungen zu (inter-)organisationalen Konfliktmustern, Fehlern und Risiken im Kinderschutz • Organisations- und Hilfesystemanalyse • Auswertung von Rückblickgesprächen • Ergebnissicherung, Evaluation und Schluss Forschungswerkstatt IV: verstehen, lernen und verändern • Rückblick auf die dritte Forschungswerkstatt • Theoretische Vertiefungen zu unterschiedlichen Konzepten des Fallverstehens und solchen zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen • Vorstellung und Diskussion erster Untersuchungsergebnisse • Entwickeln von ersten Empfehlungen zur Verbesserung der kommunalen Kinderschutzarbeit • Beratung über Veröffentlichungsstrategien, Ergebnissicherung, Evaluation und Schluss Datengrundlage und Auswertungsstrategie
Zur Beantwortung unserer forschungsleitenden Fragestellungen lagen uns unterschiedliche Datensorten vor, die wir gemäß den genannten Analyseschritten erhoben, vorausgewertet, in die vier zweitägigen Forschungswerkstätten für gemeinsame Analysesitzungen eingebracht, abschließend ausgewertet und zur Abfassung eines vorläufigen Ergebnisberichtes hinzugezogen haben: • • • •
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52 Medienberichte (Zeitungsartikel, Berichte aus Magazinen und Zeitschriften usw.), diverse verwaltungsinterne Untersuchungsberichte, Ausschussprotokolle, gutachterliche Stellungnahmen und Falldokumentationen, 19 Mikroartikel zum Thema »Meine Fehlerhypothese – warum musste Lea-Sophie sterben?«, eine auf Basis vorliegender verwaltungsinterner Untersuchungsberichte und gutachterlicher Stellungnahmen mit den am Fall unmittelbar und mittelbar beteiligten Fachkräften entwickelte fallbezogene Ereignisweganalyse, acht Rückblickgespräche,
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eine auf der Grundlage öffentlich bekannter Familiendaten erstellte mehrgenerationale und weiter überprüfte Genogrammanalyse, eine teambezogene Rekonstruktion der Organisationsgeschichte des Jugendamtes auf der Grundlage einer organisationsbezogenen Ereignisweganalyse.
Wir haben in unserem Bericht über die Methode des dialogisch-systemischen Fall-Labors (Biesel/Wolff 2013a) ausführlich dargelegt, wie wir die Erhebung und Auswertung der Daten zur Identifizierung von Entwicklungsetappen, Problemen, Krisen, Konflikten, Schlüsselereignissen, Wendepunkten und Prozessergebnissen und die daran sich anschließende Zusammenführung von zentralen Handlungs- und Kommunikationsmustern vorgenommen haben. An dieser Stelle wollen wir einige weitere wichtige Aspekte hervorheben, die im Kontext der Auswertung des Fallmaterials wesentlich waren: •
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•
Bei der Analyse und Rekonstruktion des Falles verfolgten wir eine partizipatorisch-dialogische Auswertungsstrategie. Sie war durch einen Wechsel zwischen eigenständig und gemeinsam durchgeführten Datenerhebungen und -auswertungen geprägt und gestattete so eine sich allmählich verdichtende »Fallstrukturhypothese« (Hildenbrand 2005, S. 13). Bei der Auswertung der Daten ging es nicht darum, herauszufinden, wer zum gegebenen Zeitpunkt Informationen übersehen oder fehlinterpretiert hatte. Unser Interesse richtete sich vielmehr darauf, zentrale Handlungs- und Kommunikationsmuster zu identifizieren und sie aus Sicht der mittelbar und unmittelbar beteiligten Personen und Organisationen zu einer kohärenten und im Rückblick als miteinander verschränkten Geschichte zusammenzuführen. Nicht Anklage, Verurteilung und Vorwürfe dominierten demnach den Untersuchungsprozess, sondern eine verstehende und verständnisvolle Haltung, die von der Annahme getragen war, dass niemand gerne Fehler begeht, schon gar nicht mit Absicht und erst recht nicht, wenn dadurch das Leben eines Kindes auf dem Spiel steht. Es ging uns darum, die lokalen (situationellen) Rationalitäten bzw. guten Gründe der am Fallgeschehen unmittelbar und mittelbar beteiligten Personen und Organisationen zu identifizieren, Schwachstellen und we-
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sentliche professionelle wie organisationale Fehler aufzudecken und für die Weiterentwicklung der Kinderschutzpraxis, für einen Prozess interorganisationalen Lernens und für die Entwicklung einer achtsamen, zuverlässigen und fehleroffenen Kinderschutzarbeit fruchtbar zu machen. Entscheidend hierfür war, dass die unmittelbar und mittelbar am Fall beteiligten Personen und Organisationen einbezogen wurden. Denn nur sie können dazu beitragen, im Rückblick neu zu verstehen, welche familialen, organisationalen und interorganisationalen Entscheidungen und Handlungen zur Gefährdung des Kindes beitrugen, welche Kontextfaktoren hintergründig eine Rolle spielten, wie und in welcher Art und Weise die Familie auf Kontakt- und Hilfebemühungen von außen reagierte und warum Hilfe nicht in Anspruch genommen wurde oder nicht in Anspruch genommen werden konnte. Es ist für das Gelingen der Methode des dialogisch-systemischen FallLabors insofern zwingend erforderlich, Annahmen, Deutungen und Erkenntnisse über einen problematisch verlaufenen Kinderschutzfall miteinander zu teilen, damit man Hypothesen prüfen, nötigenfalls fallen lassen und zu neuen interpretativen Schlüssen kommen kann. Es hat sich in diesem Zusammenhang als ertragreich erwiesen, verschriftlichte Untersuchungsergebnisse von den Personen, die an der Falluntersuchung beteiligt waren, kommentieren zu lassen. Dadurch konnten gravierende inhaltliche Fehler oder Passagen korrigiert werden, was zur Akzeptanz der Untersuchungsergebnisse und der daraus resultierenden Empfehlungen beitrug.
4. Die Ergebnisse der Untersuchung
4.1 D IE H ILFESYSTEMGESCHICHTE IM R ÜCKBLICK In den letzten Jahren sind viele Jugendämter öffentlich in die Kritik geraten. Ihnen wurden Fehler im Kinderschutz oder Unzulänglichkeiten bei der Beurteilung und Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungsfällen vorgeworfen. Schnell wurden in diesem Zusammenhang Stimmen laut, die auf eine stärkere Kontrolle der Fachkräfte wie der Familien drängten, auf verlässlichere Verfahren, Methoden und Instrumente der Risikokontrolle. Übersehen wurde dabei jedoch, wie komplex Fälle von Kindeswohlgefährdung sind, zumal, wenn sie lange Zeit in den beteiligten Familiensystemen verborgen bleiben, die zwar auf Hilfe angewiesen sind, aber Hilfe abwehren. Früh zu helfen, ist darum nicht von ungefähr inzwischen zum Leitspruch vieler kommunaler Kinderschutzinitiativen geworden. Sie wollen belastete Kinder und Familien bereits unterstützen und schützen, ehe es zu akuten Gefährdungen gekommen ist. Auch das Jugendamt der Stadt Schwerin war in der Vergangenheit darum bemüht, seiner Gesamtverantwortung in der Kinder- und Jugendhilfe gerecht zu werden. In Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und des Gesundheitswesens wollte es Eltern bei der Erziehung und Bildung ihrer Kinder früh und ganzheitlich helfen. Von Bedeutung bei der Umsetzung einer solchen Hilfepraxis sind vor allem die organisatorischen Rahmenbedingungen, die zur Gestaltung tragfähiger Kooperationsstrukturen benötigt werden. An solchen Strukturen hat es aber bei der Bearbeitung des Falles Lea-Sophie in der Stadt Schwerin gemangelt. Zwar hatten bereits Ärzte der Schweriner Kinderklinik, die behandelnde Kinderärztin und die Kindertagesstätte von Lea-Sophie frühzeitig Kontakt zum
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familialen Umfeld. Das Kind in seiner Not wurde jedoch erst dann zu einem Fall von Vernachlässigung und akuter Unterernährung für das Jugendamt, als es bereits zu spät war und dem Kind nicht mehr geholfen werden konnte. In der Rekonstruktion der Geschichte des Hilfesystems wird ersichtlich, dass vor dem Jugendamt bereits andere Einrichtungen frühzeitig Kontakt zum Kind und zur Familie hatten. Insbesondere zeigt sich, dass Lea-Sophie in ihren ersten beiden Lebensjahren mehrmals in stationärer medizinischer Behandlung war, u.a. aufgrund ihrer Frühgeburt und eines damit einhergehenden Frühgeborenen-Apnoe-Bradykardie-Syndroms, einer akuten Gastroenteritis und einer Angina Follicularis (Helios Kliniken Schwerin 2002a; Helios Kliniken Schwerin 2002b; Helios Kliniken Schwerin 2003c; Helios Kliniken Schwerin 2003a; Helios Kliniken Schwerin 2003b; Helios Kliniken Schwerin 2007). Beim Studium der Klinikunterlagen fällt auf, dass Lea-Sophie zu Beginn ihres Lebens mit einer Sonde ernährt werden musste, nach vierwöchigem Klinikaufenthalt vom 7. August 2002 bis zum 11. September 2002, dann aber zur Kindesmutter (die zu dieser Zeit bei ihren Eltern wohnte) entlassen wurde – mit dem Hinweis, dass das Kind dem Personal des sozialpädiatrischen Zentrums vorgestellt werden sollte. Die Ärzte der Kinderklinik empfahlen den Kindeseltern außerdem, dass sie nach dem Klinikaufenthalt einen Kinderarzt aufsuchen, die Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, eine Hebammennachsorge in Anspruch nehmen und eine anschließende physiotherapeutische Behandlung aufgrund einer zentralen Koordinationsstörung von Lea-Sophie organisieren sollten. Ob und inwieweit die Kindeseltern diesen Empfehlungen nachgegangen sind, konnte anhand der Unterlagen nicht rekonstruiert werden und war auch im Kontext der von uns geführten Rückblickgespräche nicht vollständig aufzuklären.1 Deutlich wird aber, wie ein Arzt der Klinik uns gegenüber in einem Rückblickgespräch berichtete, dass Lea-Sophie
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Als gesichert gilt, dass Lea-Sophie letztmalig am 28. Juli 2004 medizinisch untersucht wurde (U-7-Untersuchung). Die Mutter berichtet hierzu im Kontext einer psychiatrischen Beurteilung, die zur strafrelevanten Urteilsbegründung herangezogen wurde: »Das ist dem geschuldet, weil Lea-Sophie gesund gewesen ist und es aus meiner Sicht auch nicht Pflicht ist, diesen Untersuchungen (U-8, U9) nachzugehen.« (Staatsanwaltschaft Schwerin 2008, S. 7)
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»ein besonders unauffälliges Frühgeborenes war. […] ein glatter Durchläufer. Also, das heisst, das ist ein Frühgeborenes, sie hat gewogen, muss ich schauen, 1985 Gramm, hat sich gut angepasst und brauchte außer der Wärmebehandlung und der, also dem […], außer der Sondenernährung nichts Zusätzliches.«
Aufgrund ihrer Unauffälligkeit fiel Lea-Sophie im Rahmen ihrer mehrmaligen stationären medizinischen Behandlungen nicht als besonderes, entwicklungsgefährdetes oder gar vernachlässigtes Kind auf. Zwar wurde sie wegen einer Nahrungsverweigerung im Kontext einer akuten Gastroenteritis vom 24. bis zum 28. März 2003 und einer Angina vom 28. November bis zum 2. Dezember 2003 stationär in der Kinderklinik behandelt, ein Vorgang, der erst im Kontext des weiteren Fallgeschehens zunehmend an Bedeutung gewinnt (vgl. Kapitel 4.2 und 4.3). Sie fällt aber in der Klinik nicht aufgrund einer Vernachlässigung oder Kindesmisshandlung auf. Auch die Kindeseltern werden nicht als problembelastet wahrgenommen, sodass Ansätze Früher Hilfen, die zur Zeit von Lea-Sophies Geburt in Schwerin noch nicht umfassend entwickelt waren, nicht hätten greifen können. Aus den Klinikunterlagen (»Anamnese zur Familiengeschichte«) wird aber ersichtlich, dass Lea-Sophie bei ihren Großeltern mütterlicherseits unter der Woche und bei ihrer Mutter am Wochenende lebte (vgl. Helios Kliniken Schwerin 2003b), und zumindest in zwei dokumentierten Fällen waren es nicht die Kindeseltern, sondern die Großeltern mütterlicherseits, die LeaSophie zur Klinik brachten (vgl. Helios Kliniken Schwerin 2003c; Helios Kliniken Schwerin 2003a), was einen sozialarbeiterisch oder sozialpädagogisch relevanten Hinweis auf die Aufwachsbedingungen und familiale Einbindung von Lea-Sophie hätte geben können (vgl. Kapitel 4.2).
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Tabelle 4: Stationäre Klinikaufenthalte von Lea-Sophie in der Kinderklinik Zeitraum
Medizinischer Behandlungsgrund für die stationäre Aufnahme
7.8.–11.9.2002
Preterm-eutrophes Neugeborenes (33 vollendete SSW) Frühgeborenen-Apnoe-BradykardieSyndrom
21.–22.10.2002
Polysomnografie aufgrund von ApnoeSyndrom
27.-30.1.2003
Untersuchung (nach Aufnahme wegen Unruhe und Nahrungsverweigerung) wegen des Verdachts einer Invagination (Darmeinstülpung), was ausgeschlossen wird.
24.–28.3.2003
Akute Gastroenteritis (Rotaviren), stationäre Einweisung wegen Nahrungsverweigerung
9.–10.5.2003
Polysomnografie aufgrund von ApnoeSyndrom
28.11.–2.12.2003
Angina Follicularis, isst und trinkt nicht
Insgesamt wird deutlich, dass es keinen fallbezogenen Anstoß zur Kooperation zwischen Kinderklinik und Jugendamt gab und die Kinderklinik sich auch trotz mehrerer stationärer Aufenthalte von Lea-Sophie nicht dazu veranlasst sah, eine sozialmedizinische Nachsorge für das Kind und seine Familie zu organisieren, auch nicht unmittelbar nach ihrer Behandlung als Frühgeborene. So berichtet uns der Arzt der Kinderklinik in einem Rückblickgespräch auf Nachfrage, ob die Klinik nach dem Fall Lea-Sophie in der Behandlung und Nachsorge frühgeborener Kinder und deren Familien Konsequenzen gezogen hätte, Folgendes: »Ja, aber nicht wegen Lea-Sophie, sondern allgemein. Also, wir haben jetzt eine neue Versorgungsform. Die nennt sich sozialmedizinische Nachsorge, das ist auch nach SGB V Kassenleistung. […] Das Prinzip ist es, dass Schwestern, die das Kind stationär versorgen, die Familie in die Häuslichkeit begleiten und dort noch mal auftauchen, noch mal schauen, ob alles in Ordnung ist. Und zwar medizinisch und sozi-
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al. Deswegen ist da beides drin. […] Und das ist eine zeitweilige Leistung, auf zwanzig Stunden begrenzt, es geht praktisch nur darum, dass der Übergang von der stationären Zeit in die ambulante Zeit besser gestaltet wird für die Familien. Das ist neu. […] Ob Lea-Sophie in dieses Raster passt, weil, sie war ja gar kein so extrem kleines Frühgeborenes? Ich weiß gar nicht, ob sie jetzt, wo wir diese Versorgungsform haben, auch in diese, also auch versorgt werden würde mit dieser Versorgungsform. Weil der Fall, medizinisch gesehen, nach der Aktenlage, gibt es keinen Grund.«
Unregelmäßiger Besuch der Kindertagesstätte
Eine zweite Einrichtung, zu der die Kindeseltern regelmäßig Kontakt hatten, war die Kindertagesstätte von Lea-Sophie, die sie ab dem 1. September 2003 besuchte, allerdings unregelmäßig, bis ihr Platz im Jahr 2004 schließlich von der Einrichtung anderweitig vergeben wurde. Die Kindertagesstätte bemühte sich zwar zu klären, was die Gründe dafür waren, dass LeaSophie die Einrichtung zuweilen sehr unregelmäßig bis gar nicht besuchte. Sie setzte in diesem Zusammenhang am 14. September 2004 einen Brief an die sorgeberechtigte Kindesmutter auf, mit der Bitte um Stellungnahme bis zum 15. Oktober 2004, da ansonsten der Platz anderweitig vergeben würde. Vonseiten der Kindesmutter erfolgte allerdings keine Reaktion auf den Brief, sodass mit 31. Oktober 2004 Lea-Sophies Betreuung in der Kindertagesstätte endete. Die Kindeseltern führen hierzu zwei Gründe an: Einerseits sei es ihnen nicht möglich gewesen, das Essensgeld für Lea-Sophies Aufenthalt in der Kindertageseinrichtung zu bezahlen. Andererseits befürchteten sie, nachdem sie das Kind im Jahr 2004 aus dem Haushalt der Großeltern mütterlicherseits genommen hatten, dass die Leiterin der Kindertagesstätte, die vor allem mit den Großeltern mütterlicherseits bekannt gewesen war, sie gegenüber ihren Herkunftsfamilien als schlechte Eltern bloßstellen würde (vgl. Kapitel 4.3). Im Rückblick berichtet uns die Leiterin der Einrichtung dazu Folgendes: »Wissen Sie, wir haben, ich hatte ja damals diesen Brief geschrieben. Also, als LeaSophie sehr, sehr selten in die Einrichtung gekommen ist. […] Und ich hatte sie [die Eltern] ja dann mehrmals angesprochen und auch sie zum Gespräch eingeladen. Aber sie machten beide einen sehr reservierten Eindruck. Sehr reserviert. Also so, ließen gar nichts an sich rankommen.«
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Von besonderer Relevanz ist allerdings einer andere Erinnerung der Leiterin der Kindertagesstätte, da sie auf eine Fallbeteiligung des Jugendamtes bereits im Jahr 2004 hinweist; eine Begebenheit, die in den Unterlagen, die uns vonseiten des Jugendamts zur Verfügung standen, nicht dokumentiert ist, die uns aber zur Annahme führt, dass das Jugendamt nicht erst im Jahr 2006 in Kontakt mit der Familie kam: »Und dann kam aber noch zu dem Zeitpunkt, bei uns in der Einrichtung, das Jugendamt war damals noch in der [Straße] oben. Und da sind einige Kollegen dann immer bei mir in der Einrichtung zum Mittagessen gekommen. So. Und dann habe ich mal mit [einer Kollegin/einem Kollegen] gesprochen. […] Und habe gesagt, irgendetwas stimmt da bei der Familie nicht. Ich sagte, ob [die Kolleginnen und Kollegen des Jugendamtes] sich nicht mal kümmern können. Sie kommt zu selten in die Einrichtung. Sie ist immer sauber und ordentlich gewesen. Gepflegt, also wirklich, die Lütte war immer niedlich angezogen und so. Ich sagte, aber irgendetwas stimmt da nicht. Und da hat [sie/er] gesagt, sie würde sich kümmern. Und dann ist [sie/er] auch da gewesen, hat [sie/er] mir hier gesagt.«
Ob das Jugendamt die Familie tatsächlich bereits im Jahr 2004 aufsuchte, können wir im Rückblick nicht mit Sicherheit sagen. Wir wissen aber, nachdem wir den offiziellen Einladungsbrief des Jugendamtes ausfindig machen konnten, dass die Kindesmutter (der Kindesvater hingegen nicht, da er kein Sorgerecht hatte) zu einem Gespräch am Freitag, dem 17. September 2004, um 8.30 Uhr ins Jugendamt eingeladen wurde, dass sie den Termin aber nicht wahrnahm. Danach gerät das Schicksal von Lea-Sophie den am Hilfesystem beteiligten Fachkräften und Organisationen aus dem Blick, die im Fall Lea-Sophie aufgrund fehlender Indikation und Konzeption ohnehin keinen Anlass zur interorganisationalen Kooperation sahen. Weitere Einrichtungen, die mit der Familie im Fall Lea-Sophie Kontakt hatten
Neben der Kinderklinik und der Kindertagesstätte waren noch andere Einrichtungen mit der Familie von Lea-Sophie im Kontakt, bis schließlich die Polizei und die Staatsanwaltschaft am 21. November 2007 strafrechtliche Ermittlungen gegen die Kindeseltern wegen Mordes in Tateinheit mit der Misshandlung von Schutzbefohlenen aufnahmen:
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Abbildung 6: Das Hilfesystem um Lea-Sophie
Frauenarzt (unbekannt)
Jugendamt (2004(?);2006bisheute)
Kinderarztpraxis (2002Ͳ 2004)
LeaͲ Sophie Wohnungsbaugesellschaft (2006Ͳ 2007)
Kinderklinik (2002Ͳ 2003)
ARGE(2005Ͳ 2007)
Kindertageseinrichtung (2003Ͳ 2004)
Vor allem die Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (ARGE) spielte im Leben der Kindeseltern und von Lea-Sophie eine wichtige Rolle. Sie sanktionierte ab März 2006 fast monatlich Leistungen zur Grundsicherung nach SGB II für die Kindeseltern, sah sich aber nicht veranlasst, dem Jugendamt gegenüber darüber Meldung zu machen, da von den Sanktionierungen – wie angenommen wurde – Lea-Sophie nicht unmittelbar betroffen war: »In den Jahren 2006 und 2007 findet sich kaum ein Monat, in dem die Kindeseltern volle Leistungen von der ARGE erhalten haben. Entweder waren die Leistungen für die Kindeseltern komplett eingestellt, oder sie erhielten nur gekürzte Leistungen.
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Widerspruch gegen Sanktionsbescheide wurde nur selten eingelegt, waren aber, sofern die eingelegt wurden, zumindest teilweise erfolgreich. […] Leistungen für LeaSophie sind immer ohne Kürzungen gewährt worden.« (Verwaltungsinterne Untersuchungsgruppe 2008, S. 8)
Während dieser Zeit erfolgte von den Großeltern mütterlicherseits eine materielle und finanzielle Unterstützung, ohne die die Familie nicht hätte existieren können. Auch im Wohnumfeld war es nicht einfach. So hatten die Kindeseltern nach ihrem Umzug in eine Drei-Raum-Wohnung mit der Wohnungsbaugesellschaft im Februar 2006 Konflikte, vor allem deshalb, weil sie offenbar nicht in das Umfeld des Mehrfamilienhauses passten, in dem es kaum junge Leute gab und wo mit Argwohn betrachtet wurde, dass die Familie so viele Haustiere hatte. Unverbundene Kooperation ohne Indikation und System
Wie dargelegt, waren viele Einrichtungen mit der Familie von Lea-Sophie in Kontakt. Sie waren jedoch nicht miteinander vernetzt. Sie tauschten sich nicht hinreichend über Auffälligkeiten und Probleme von Lea-Sophie und ihrer Familie aus. Es fehlte eine Kerneinrichtung, die sich dafür verantwortlich fühlte, Kooperationsstrukturen für eine bessere Förderung und einen verlässlicheren Schutz von Kindern aufzubauen und zu koordinieren. So überrascht auch nicht, dass weitestgehend unklar bleibt, ob und inwieweit vor der ersten Kontaktaufnahme seitens des Großvaters mütterlicherseits am 2. November 2006 im Fall Lea-Sophie überhaupt ein offizieller Anlass zur Kooperation zwischen den Einrichtungen bestand und wie es passieren konnte, dass Lea-Sophie im Jahr 2004 durch das Raster des Hilfesystems fiel. Medizinisch wird sie letztmalig am 28. Juli 2004 untersucht. In der Kindertagesstätte ist sie nur unregelmäßig, ab 1. November 2004 überhaupt nicht mehr. Nach versuchter oder vermuteter Intervention des Jugendamtes am 17. September 2004 sorgt sich – außer den Kindeseltern und den Großeltern – niemand mehr um die Förderung und Entwicklung von Lea-Sophie (vgl. Kapitel 4.3). Insbesondere die Großeltern mütterlicherseits sind es aber, die sich schließlich Sorgen machen, dass sie ihre Enkelin so selten sehen und dass das Kind von den Eltern nicht mehr in eine Kindertageseinrichtung und auch nicht mehr zu den Vorsorgeuntersuchungen gebracht oder einem Kinderarzt vorgestellt wird. Es sind diese Sorgen, die dazu führen, dass die Großeltern mütterlicherseits und später auch die Großmut-
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ter väterlicherseits ihr Anliegen in den Jahren 2006 und 2007 dem Jugendamt mehrmals, wenn auch nur andeutungsweise und ambivalent, vortragen – ohne Erfolg allerdings, wie sich im Nachhinein herausstellt (vgl. Kapitel 4.2).
4.2 D IE J UGENDAMTSGESCHICHTE
IM
R ÜCKBLICK
Die Geschichte und Entwicklungsphasen des Jugendamtes, mit ihren besonderen Wendepunkten, beeinflussten die Kooperationsstrukturen ebenso wie das Arbeitsumfeld der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie führten – eingebettet in soziokulturelle Kontexte – zur Herausbildung von spezifischen Handlungs- und Kommunikationsmustern. Sie bestimmen im Übrigen bis heute die organisationale, programmatische, konzeptuelle und methodische Ausrichtung des Jugendamtes mit. Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen wie Jugendämter können als verfestigte soziale Erwartungsstrukturen verstanden werden (Klatetzki 2010, S. 8ff.; Walgenbach/Meyer 2008). Ihre institutionelle Verankerung wird im Wesentlichen durch die folgenden Faktoren bestimmt: die gesellschaftliche Selbstbeschreibung, die daraus resultierenden institutionellen Strukturen und Praktiken und die darauf fußenden reflexiven Selbstbilder der Fach- und Leitungskräfte (Hildenbrand 2010, S. 30). Für die Herausbildung solcher professionellen Grundorientierungen sind in Schwerin in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere die folgenden Umbruchsituationen maßgebend gewesen: •
•
der gesellschafts- und wirtschaftspolitische Umbruch – von der staatssozialistischen zur demokratischen und spätkapitalistischen Gesellschaft – und der kinder- und jugendhilfepolitische bzw. rechtliche Umbruch – von der Kinder- und Jugendhilfe als »›Schönheitsfehler‹ des Sozialismus« (Mannschatz 1994, S. 32) zum umfassenden sozialstaatlichen Leistungs- und Unterstützungsangebot (vgl. hierzu auch: Hildenbrand 2010), wie es im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG/SGB VIII) und dann weiterführend im Bundeskinderschutzgesetz verankert ist.
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In der Folge dieser Umbrüche mussten sich auch die gesellschaftlichen, politischen und fachlichen Vorstellungen darüber, was zum Kernbestand guter Kinder- und Jugendhilfe gehört, verändern. Darum stand das Jugendamt der Stadt Schwerin vor neuen, aber auch durch organisationale Konflikte gefährdeten Entwicklungsaufgaben. Man musste neue professionell ausgebildete Fach- und Leitungskräfte finden und einstellen, man musste die vorhandene Mitarbeiterschaft der Schweriner Kommunalverwaltung mit der konzeptuellen Aufgabenveränderung und neuen methodischen Ausrichtung, wie sie mit der Einführung des KJHG notwendig geworden waren, bekannt machen und für Nachqualifizierungen sorgen. Nicht zuletzt mussten umfassende Kinder- und Jugendhilfeangebote in Zusammenarbeit mit den allmählich sich organisierenden freigemeinnützigen und privaten Trägern entwickelt werden. Aber auch die Bürgerinnen und Bürger mussten – gegenläufig zu ihren Jugendhilfeerfahrungen aus der DDR – mit einer neuen demokratischen Kultur des Helfens und einer konzeptuellen Neuausrichtung des Jugendamtes der Stadt Schwerin bekannt gemacht werden. Öffentliche Fehlervorwürfe
Vor diesem Hintergrund haben die politisch Verantwortlichen der Stadt Schwerin und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes einen von der Gesellschaft, der Politik und den Medien entscheidend bestimmten Weg der Institutionalisierung eingeschlagen, mit dem oftmals unbewusste Handlungs- und Kommunikationsmuster verbunden waren und zugleich organisationskulturelle Risiken und die Gefahr latenter Fehler (Munro 2009; Reason 2008) einhergingen. Damit konstellierte sich eine regelrechte Zwickmühle der Krisenbewältigung: nämlich zwischen organisationaler Sicherung und notwendiger Entwicklungsdynamik. Die Situation verschärfte sich, als es schließlich Ende 2007 in der öffentlichen Auseinandersetzung über die Mitverantwortung des Jugendamtes am Tod von Lea-Sophie explizit zu öffentlichen Fehlervorwürfen kam. Diese können nur mit Blick auf die Geschichte der Organisation zum einen, der Familie zum andern verstanden und einer nüchternen Erörterung zugeführt werden. Denn was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist immer auch mitvermittelt über gesellschaftliche Entwicklungen, wie sie nicht zuletzt in den Medien – zum Teil mit skandalisierender Tendenz – aufgegriffen und thematisiert werden. In der öffentlichen Erörterung spielt dabei ein widersprüchliches Vorwurfsmuster gegenüber Jugendämtern eine Rolle. Sie würden im Fall von Kin-
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deswohlgefährdungen zu früh, zu spät oder überhaupt nicht reagieren. Im Zusammenhang mit dem Fall Lea-Sophie stellten die Medien zudem kritisch heraus, dass das Jugendamt gegen die eigenen Vorschriften im Umgang mit Kindeswohlgefährdungsfällen verstoßen habe. Insbesondere wurden dem Jugendamt der Stadt Schwerin von den Medien die folgenden Fehler vorgehalten: •
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Protokollnotizen mit Hinweisen auf eine Gefährdung des Kindes seien nicht gesondert von den Fachkräften in eine Akte aufgenommen worden. Nach Gesprächen mit den Großeltern (insbesondere dem Großvater mütterlicherseits) und den Kindeseltern hätten drei Mitarbeiter des Jugendamtes Monate vor dem Tod des Mädchens unabhängig voneinander notiert: »Lea-Sophie habe Angst, die Familie igele sich ein, die sprachliche Entwicklung des Kindes sei verzögert, es sei nicht zu den ärztlichen U-Untersuchungen gebracht worden und sehr mager.« (Berliner Morgenpost 2008) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes hätten schließlich nach einem anonymen Hinweis auf Kindeswohlgefährdung am 12. November 2007 (in Bezug auf das neugeborene Kind der Familie) nicht darauf bestanden, auch die Schwester Lea-Sophie sofort persönlich in Augenschein zu nehmen, weil die Familie angeblich bei einem gemeinsamen Gespräch kommunikativ und zur Zusammenarbeit bereit gewesen sei.
Bereits zu Beginn unserer wissenschaftlichen Untersuchung des Falles LeaSophie, bei der Sichtung von 56 exemplarisch ausgewählten und im Internet frei verfügbaren Presseartikeln und von fachlichen Stellungnahmen zur öffentlichen Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie, die sich über einen Zeitraum von November 2007 bis Juni 2010 erstreckten, war uns aufgefallen, dass es in den von uns untersuchten Beiträgen in der Hauptsache um die folgenden Gesichtspunkte ging: •
um die familialen Hintergründe, die Motive und die Art und Weise der Misshandlung und Vernachlässigung von Lea-Sophie durch ihre Eltern (in 15 von 56 Beiträgen);
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um die Frage, ob das Jugendamt den Tod von Lea-Sophie hätte verhindern können, ob es eine Mitschuld am Tod des Kindes trage (in 13 von 56 Beiträgen); um die Verantwortungsübernahme durch die dafür politisch Verantwortlichen (in sieben von 56 Beiträgen).
Eine geringere Rolle spielte die differenzierte, journalistische bzw. wissenschaftliche Aufarbeitung der widersprüchlichen Organisationsgeschichte des Jugendamtes der Stadt Schwerin mit ihren Wendepunkten und daraus resultierenden organisationalen wie professionellen Handlungs- und Kommunikationsmustern,2 wie bereits in einem weiter zurückliegenden, im Rahmen einer organisationalen Evaluations- und Fehlerstudie (Biesel 2011) geführten Interview aus dem Jahr 2008 von einer Fachkraft eindrucksvoll dargelegt wird: »Also, ich glaube, dass die Politik keine wirkliche Fehleranalyse gemacht hat. Deswegen glaube ich, also es ist zwar eklatante Fehler, das Wort ist zwar gefallen, aber ich glaube, um Fehler benennen zu können, muss man eine Fehleranalyse machen. […] Also ich glaube nicht, dass hier das Thema Fehler eine Rolle gespielt hat, sondern sehr schnell die Schuldfrage zu klären. Durch die Staatsanwaltschaft ist ja sozusagen die Schuldfrage geklärt worden, jedenfalls die rechtliche Schuld. […] Die Politik hat keine Fehleranalyse unternommen, auch nicht die Behördenleitung. Die Behördenleitung hat dann ja sozusagen der Politik, um sozusagen Ruhe reinzukriegen, hat dann ja von diesen eklatanten Fehlern [gesprochen], die haben das ja sozusagen reingebracht, die Formulierung, ohne hinreichend zu klären, was sind denn eigentlich die Fehler. Also das ist, glaube ich, ein Unterschied: Es sind nicht Fehler benannt worden, sondern die Schuldfrage ist vorzeitig geklärt worden. Dann wäre der Umgang, glaube ich, der Jugendamtsmitarbeiter, da schließe ich mich mit ein, dann hätte man einen anderen Umgang damit finden können, wenn man also sozusagen klar gesagt hätte, das waren die Fehler. Dann wäre möglicherweise auch meine Haltung zu Fehlern eine andere gewesen. Dann hätte man etwas zum Auseinandersetzen mit der Schuldfrage. Wie soll ich mich damit auseinandersetzen, außer für mich zu klären, was tue ich jetzt eigentlich: Nehme ich mir jetzt einen Strick, oder arbeite das irgendwie für mich auf?«
2
Was im Übrigen auch für die Familiengeschichte gilt.
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So kann man aus den Medien zwar erfahren, dass die damalige Jugendamtsleiterin bereits vor dem Tod von Lea-Sophie im Jahr 2006 vor den Mitgliedern des Jugendhilfeausschusses öffentlich darauf hingewiesen hatte, dass das Jugendamt durch Mittelkürzungen völlig überlastet sei und sie nicht länger garantieren könne, dass man nicht auch in Schwerin (wie zuvor in Bremen –Fall Kevin) bald ein totes Kind haben werde. Diese Information wurde in den Medien allerdings nur am Rande aufgegriffen, wie überhaupt festgestellt werden kann, dass die Entwicklungsphasen und die damit eng im Zusammenhang stehenden organisationalen Wendepunkte und daraus resultierenden Handlungs- und Kommunikationsmuster der Fach- und Leitungskräfte in der Öffentlichkeit kaum eine Erwähnung fanden. Sie müssen aber für eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Fallgeschehens herangezogen werden, will man nachvollziehen, wie es zu einer bestimmten Praxis im Jugendamt kam und welche guten Gründe die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes für ihr Handeln im Kontext des Falles Lea-Sophie hatten. Ergebnisse der verwaltungsinternen Untersuchungsgruppe und des zeitweiligen Ausschusses
Fegert, Ziegenhain und Fangerau haben 2010 eine Publikation zu problematischen Kinderschutzverläufen und deren medialer Skandalisierung vorgelegt. Was dort zur Untersuchung des Falles Lea-Sophie (Fegert/ Ziegenhain/Fangeau 2010, S. 283-287) gesagt wird, lässt ebenfalls nur den Schluss zu, dass dieser Fall bislang nur vordergründig und nur in ersten Ansätzen einer sozial- und organisationswissenschaftlichen Reflexion unterzogen worden ist. Der Fall wurde aber von zwei verschieden zusammengesetzten Gremien untersucht: von einer verwaltungsinternen Untersuchungsgruppe und von einem sogenannten »zeitweiligen Ausschuss«, der aufgrund eines Beschlusses der Stadtvertretung vom 10. Dezember 2007 konstituiert wurde (ebd., S. 285). Aufgabe der verwaltungsinternen Untersuchungsgruppe, der drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung (aus dem Rechtsamt und dem Jugendamt) sowie eine externe Fachkraft eines Jugendhilfeinstituts angehörten, war es, »zu untersuchen, ob es aufseiten der Beschäftigten des Jugendamtes der Landeshauptstadt Schwerin im Zusammenhang mit dem Tod von Lea-Sophie vorwerfbare Versäumnisse oder dienstliche Verfehlungen gab« (Verwaltungsinterne Untersuchungsgruppe 2008, S. 4). Für die mit Organisationsverfügung des Oberbürger-
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meisters vom 27. November 2007 – sechs Tage nach dem Tod von LeaSophie – in Auftrag gegebene Untersuchung standen der Gruppe die Akte des Sozialpädagogischen Dienstes 13 und die nachfolgenden Unterlagen zur Verfügung: • • • • • •
Vorgang der Unterhaltsvorschusskasse, Vorgang des Bereichs Kindertagesförderung, Unterlagen der Kita gGmbH inkl. Stellungnahmen, Vorgang des Amtes für Soziales und Wohnen, Vorgang nach dem Unterhaltsicherungsgesetz, Leistungsakte der Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (ARGE) in der Landeshauptstadt Schwerin (ebd., S. 4f.).
Nach knapp achtwöchigem Studium der Unterlagen kamen die Mitglieder der verwaltungsinternen Untersuchungsgruppe zu folgenden Ergebnissen:4 »Eine eigene Bewertung der Mitarbeiter, ob eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen ist, ist zu keinem Zeitpunkt ausreichend dokumentiert worden. […] Es gab keine Überprüfungen, ob die angebotene Hilfe, bei durchaus erkennbarem Hilfebedarf, angenommen wurde. Es wurden keine Wiedervorlagen notiert. […] Das größte Problem ist jedoch die fehlende Verknüpfung der einzelnen Kontaktaufnahmen miteinander. Dadurch, dass sämtliche Gesprächsvermerke nur als lose Vorgänge in den Ordnern der einzelnen Mitarbeitern aufgenommen wurden und keine zentrale Erfassung erfolgte, fehlte es den Mitarbeitern an den notwendigen Informationen, um in der gebotenen Weise den Fall nachhaltig mit der erforderlichen Aufmerksamkeit zu verfolgen.« (Ebd., S. 35)
3
»Diese Akte wurde angelegt, nachdem der ebenfalls im Haushalt der Kindeseltern lebende Sohn […] durch einen Mitarbeiter des Jugendamtes in Obhut genommen wurde. Zuvor existierte keine Akte Lea-Sophie.« (Verwaltungsinterne Untersuchungsgruppe 2008, S. 4)
4
Ein Zwischenbericht lag bereits am 28. Dezember 2007 vor, in dem von den Mitgliedern der Gruppe in einem Zwischenfazit fett und unterstrichen hervorgehoben wurde: »Die einzige Feststellung, die die Untersuchungsgruppe zum jetzigen Zeitpunkt treffen will, ist die, dass Lea-Sophie sich nicht von Tapeten ernähren musste.« (Verwaltungsinterne Untersuchungsgruppe 2007, S. 7; Herv. i. Org.)
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Im letzten Abschnitt des Berichts der verwaltungsinternen Untersuchungsgruppe zum Tod von Lea-Sophie, der die Überschrift »Ergänzungen« (ebd., S. 36) trägt, werden weitere, unserer Ansicht nach ebenso wichtige Untersuchungsergebnisse nur beiläufig erwähnt: So spielten während des Fallgeschehens beispielsweise Arbeitsüberlastung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und eine als unzureichend anzusehende sächliche Ausstattung des Jugendamtes eine Rolle. Auch habe es keine Möglichkeit zur Fort- und Weiterbildung sowie Supervision gegeben (ebd.). Auf dieser Grundlage und unter Nutzung der von der Landeshauptstadt Schwerin in Auftrag gegebenen gutachterlichen Stellungnahmen (Freigang 2008; Fritsch 2008; Institut für systemische Arbeit - MV GmbH 2008; Penkert 2008) legte eine verwaltungsinterne Arbeitsgruppe schließlich Anfang März 2008 einen Bericht zur Weiterentwicklung des Jugendamtes Schwerin mit kurz- und mittelfristigen Maßnahmen vor. Er beinhaltete u.a. folgende Entwicklungsvorschläge (Verwaltungsinterne Arbeitsgruppe 2008, S. 28ff.): • • • • • • • • • •
Änderung der Arbeitsanweisung im Umgang mit Kindeswohlgefährdung, sofortige personelle Verstärkung des Sozialpädagogischen Dienstes, Verbesserung der organisatorischen Arbeitsbedingungen, Einsatz eines Kinderschutzkoordinators, Erarbeitung eines Indikatorenmodells Kindeswohlgefährdung, Einführung eines Frühwarnsystems Familienprävention, Erarbeitung eines Qualitätshandbuches für den Sozialpädagogischen Dienst, Durchführung einer Organisationsuntersuchung im Bereich der Jugendhilfe, Verbesserung der Abstimmung mit der ARGE und den Kindertagesstätten, Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Kinderschutz.
Die Aufgabe des zeitweiligen Ausschusses, in dem vor allem Kommunalpolitikerinnen und -politiker vertreten waren, war breiter angelegt. Die Mitglieder sollten den Tod von Lea-Sophie aufklären und auf dieser Grundlage dem Jugendamt Vorschläge zur Optimierung des Verfahrens bei Kindeswohlgefährdungen unterbreiten (einheitlicher Beschluss aller Fraktionen der Stadtvertretung vom 10. Dezember 2007; vgl. Zeitweiliger Ausschuss
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2008j, S. 1). Hierfür kamen sie von Dezember 2007 bis Januar 2009 zu elf, teils öffentlichen, teils nicht öffentlichen, Sitzungen zusammen (vgl. Zeitweiliger Ausschuss 2007, 2008a, 2008b, 2008c, 2008d, 2008e, 2008f, 2008g, 2008h, 2008i, 2009). Ohne Nennung der für die Untersuchung herangezogenen Materialien und Unterlagen trafen die Vertreterinnen und Vertreter des Ausschusses auf ihrer 10. Sitzung am 27. März 2008 »nach ausführlicher Analyse und Diskussion«, wie es im dreiseitigen Bericht (Zeitweiliger Ausschuss 2008j, S. 1) heißt, schließlich die nachstehende, jedoch kontrovers diskutierte Feststellung: »Der qualvolle Tod von Lea-Sophie wäre vermeidbar gewesen. Trotz der unbestrittenen Hauptschuld der Eltern am Tod von Lea-Sophie muss festgestellt werden, dass in diesem Fall erhebliche, zum Teil eklatante Mängel in der Bearbeitung durch das Jugendamt vorlagen. Es ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass bei sachgerechter Arbeit des Jugendamtes das tragische Ende des kleinen Mädchens hätte verhindert werden können.« (Ebd.)
Darüber hinaus bestätigte der zeitweilige Ausschuss im Wesentlichen die Einschätzung der verwaltungsinternen Untersuchungsgruppe und der hinzugezogenen Sachverständigen. Auf dieser Grundlage wurden in dem im Internet frei zugänglichen Bericht5 acht Schwachpunkte/Fehler, die bei der Bearbeitung des Falles Lea-Sophie wesentlich waren, von den Mitgliedern des zeitweiligen Ausschusses herausgestellt (vgl. ebd., S. 1ff.): • • • •
•
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unzureichende dienstliche Handlungsanweisungen, zu strenge Unterscheidung zwischen Kindeswohlgefährdung und Beratungsbedarf im Kontext der Risikoabschätzung, lückenhafte und unsystematische Dokumentation, mangelhafte Kommunikationsprozesse und Informationsflüsse innerhalb des Jugendamtes zwischen den verschiedenen am Fall beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Unterlassung einer wirksamen Kontrolle und Steuerung von Entscheidungsprozessen und Fehlen von deren kollegialer Beratung im Team und durch Vorgesetzte,
Vgl. z.B. www.dbsh-bund.de/Untersuchung_Lea-Sophie.pdf [28.6.2013].
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Übertragung der Kindeswohlgefährdungs-Einschätzung auf die Großeltern, fehlende Wiedervorlagen zur weiteren Bearbeitung des Falles, Verzicht auf rechtliche Mittel zur Durchsetzung von Hilfen zur Erziehung (HzE) auch ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten.
Diese Schwachpunkte/Fehler resultierten, so die Meinung des Ausschusses, aus organisationalen Struktur- und Leitungsproblemen innerhalb des Jugendamtes. Sie betrafen vor allem die Dokumentation, den Informationsfluss, die Kommunikation und die fallbezogene Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen. Aus diesem Grund stellte der Ausschuss fest, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes entsprechend weitergebildet und angeleitet (Fachaufsicht) sowie für ihre Tätigkeiten die notwendige personelle, räumliche und sächliche Ausstattung zur Verfügung gestellt bekommen müssten (vgl. Zeitweiliger Ausschuss 2008j, S. 3). Außerdem sei »eine Vernetzung von Informationen zu möglicher Kindeswohlgefährdung aus verschiedenen Quellen (z.B. Hebammen, Tagesmütter, Kinderärzte, Kita, ARGE) anzustreben« (ebd.). Eine Stellungnahme zu Fragen der Optimierung des Verfahrens bei Kindeswohlgefährdung blieb der zeitweilige Ausschuss indes schuldig. Ebenso blieb weitestgehend unbeantwortet, wie es zum Tod von Lea-Sophie kam. Der angekündigte Teil 2 des Berichts wurde bislang nicht veröffentlicht. Im Kontext der Arbeit des Ausschusses kam es aber zu, wie es im Protokoll über die 11. öffentliche Sitzung am 21. September 2009 heisst, »besondere[n] Ereignisse[n]«: • •
•
•
»25.02.2008 Abstimmung zum Antrag auf Abberufung des Beigeordneten H. Junghans in der 42. Stadtvertretung (TOP 9) 31.03.2008 Herbeiführung eines Bürgerentscheids zur Abberufung von Oberbürgermeister Norbert Claussen 43. Stadtvertretung am 31.03.2008 (TOP 7) 31.03.2008 1. Bericht des zeitweiligen Ausschusses zur Aufklärung des Todes von Lea-Sophie und zur Optimierung des Verfahrens bei Kindeswohlgefährdungen in Schwerin 43. Stadtvertretung am 31.03.2008 (TOP 8) 17.07.2008 Landgericht verurteilt die Eltern von Lea-Sophie.« (Zeitweiliger Ausschuss 2009)
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Die Ergebnisse der verwaltungsinternen Untersuchungs-/Arbeitsgruppe, des zeitweiligen Ausschusses und der bestellten Gutachter zeigen deutlich: Den Fachkräften des Jugendamtes wurde eine Vielzahl an Versäumnissen, Schwachpunkten und Fehlern vorgeworfen. Zugleich wurden, wenn auch nur ergänzend, deren schwierige Arbeitsbedingungen zum Zeitpunkt des Fallgeschehens kritisiert. Es wurde aber versäumt, mit den Fachkräften einen offenen Dialog zu suchen, sie fair und ohne schnelle Schuldzuweisungen mittels eines dialogisch-systemischen Untersuchungsansatzes an der Aufarbeitung des Falles Lea-Sophie überhaupt zu beteiligen und mit ihnen zu klären, welche guten Gründe sie für ihre Entscheidungen und für ihr Handeln gehabt hatten und welche Fehler aus ihrer Sicht im Rückblick vermeidbar und welche unvermeidbar gewesen wären. Organisationale Entwicklungsetappen und Wendepunkte
Mit Herbert Simon (1968) kann behauptet werden, dass Fachkräfte des Jugendamtes nicht dem Ideal des rationalen Entscheiders entsprechen. Sie unterliegen dem Phänomen begrenzter Rationalität und treffen ihre Entscheidungen auf der Grundlage oftmals unvollständiger und widersprüchlicher Informationen. Sie können deshalb nur auf jene Handlungsroutinen zurückgreifen, die ihnen in der konkreten Beratungs- und Fallbearbeitungssituation kognitiv verfügbar sind. Sie selbst stehen nur am spitzen Ende einer sozialen personenenbezogenen Dienstleistungsorganisation, verstanden als komplexes kognitives und kulturelles System (Biesel 2011; Klatetzki 2010; Merchel 2007a; Merchel 2007b; Merchel 2008; Munro 2009), in dem Fragen der öffentlichen und politischen Legitimität, des effektiven und effizienten Ressourceneinsatzes nicht selten vor dem Hintergrund einer oftmals unverstandenen Organisationsgeschichte die sozialpädagogische Fallarbeitspraxis beeinflussen. Im Rahmen unserer dialogisch-systemischen Aufarbeitung des Falles Lea-Sophie in Zusammenarbeit mit den unmittelbar und mittelbar betroffenen Fachkräften aus dem Handlungsfeld der Kinder- und Jugendhilfe konnten wir herausarbeiten, dass das Jugendamt in den Jahren 1995 bis 1997 eine erste große strukturelle Veränderung erfahren hatte und in ein »Amt für Jugend, Soziales und Wohnen« integriert wurde. Zuvor war es in einem »Referat Jugendhilfe« organisiert, einem Vorläufer aus der DDR, in dem Jugend- und Gesundheitsfürsorger zusammengearbeitet hatten, die in Schwerin auch nach der Wende noch zuständig für Aufgaben der öffentli-
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chen Kinder- und Jugendhilfe waren (Transkript Fachseminar Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung e.V. 2012): »Und die haben, ja, bis 1993 quasi schon in zwei verschiedenen Orten gesessen. […] Und 1995 gab es die erste Umbenennung dann in Amt für Jugend, Soziales und Wohnen. Und 1995 hatten wir quasi auch den zweiten Wendepunkt. Also bis dahin war so alles im Aufbau, Schulung, Weiterbildung, Sozialarbeiter ausgebildet und die Einführung von Spezialdiensten, also Jugendgerichtshilfe, Vormundschaften. Das wurde alles aufgebaut. Genau. Und 1995 gab es dann die sogenannte NOSD, die Neue Organisation Sozialer Dienste.«
In den Folgejahren kam es also, angestoßen durch einen Personalwechsel im Jugendhilfedezernat, zur Neuorganisation der Sozialen Dienste. Das Jugendamt wurde regionalisiert, und es wurden Hilfen aus dem Leistungskatalog des BSHG und des KJHG von unterschiedlichen und neu zusammengesetzten Teams bürgernah angeboten. In den Jahren 2002 bis 2004 erfolgte jedoch ein abrupter Kurswechsel. Es wurden nach einer Veränderung der kommunalpolitischen Mehrheitsverhältnisse sukzessive die vier bestehenden Regionalbüros wieder aufgelöst. Das Jugendamt wurde zentralisiert, und zugleich wurden ausgelaufene Stellen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in den Ruhestand gegangen waren, nicht wieder besetzt (Transkript Fachseminar Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung e.V. 2012): »Der eigentliche Umbruch letztendlich war, dass politische Entscheidungen sich verändert haben, die Machtverhältnisse in der Stadtvertretung sich verändert haben, neue Oberbürgermeister und Dezernenten letztendlich Führungsverantwortung hatten, die die Philosophie der Regionalbüros und die Philosophie der Neuorganisation nicht mehr mitgetragen haben. Unter einem sicherlich nicht fachlich-inhaltlichen Aspekt. Also eine fachliche Begründung hat es dafür nie gegeben. Es gab auch keine Evaluationen dieses Prozesses mit den Mitarbeitern und uns Mitarbeitern […]. Es war eine reine fiskalische Entscheidung, die getroffen wurde aus dem Gesichtspunkt, dass es erst einmal unter personalpolitischer Sicht natürlich einfacher ist, zentralisiert zu arbeiten, was mit gegenseitiger Vertretungsregelung zu tun hatte. Spare ich Personal. Das heißt also Geld. Und eine zentralisierte Verwaltung an einem Standort, in einem großen Haus, ist natürlich anders. […] Da kann man auch Bewirtschaftungskosten sparen.«
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Nach dieser organisationalen Neuausrichtung ohne klares Konzept und Programm (eine faktische Rückabwicklung) kam es im Jahr 2005 aufgrund einer politisch gewollten und eng an haushaltspolitischen Kalkülen orientierten sogenannten »Standardreduzierung« schließlich zur Zuspitzung einer sich schleichend andeutenden organisationalen Krise: Einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des nun aus zwei Teams bestehenden Sozialpädagogischen Dienstes stellten vermehrt Überlastungsanzeigen, ohne dass das mittlere und obere Leitungsmanagement darauf zeitnah reagierte. Anders gesagt: Der sich zunehmend als unpraktikabel erweisende Haustarifvertrag (Absenkung der Wochenarbeitszeit von 40 Stunden auf 36,5 Stunden ohne Personalkompensation) und die Notwendigkeit, das Jugendamt rund um die Uhr offen zu halten (Ausweitung der Öffnungszeiten von 20 auf 38 Stunden bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 36,5 Stunden), wurden nicht infrage gestellt, bzw. es wurde das dafür erforderliche Personal einfach nicht eingestellt. In der Folge gerieten die Fachkräfte des Jugendamtes in eine über zwei Jahre anhaltende Überlastungssituation (2006– 2007), wie in einem Rückblickgespräch deutlich wird: »Interviewer 1: Und wenn Sie so die Arbeitssituation des Jugendamts damals – und vor allem des sozialpädagogischen Teams – beurteilen, was würden Sie sagen? Gesprächspartner: Katastrophal! Interviewer 1: Was heißt katastrophal? Gesprächspartner: Völlig überlastet! … was natürlich zu Dokumentationsschwächen, zu Kommunikationsbrüchen … Interviewer 1: Und woran kann man das festmachen? Überlastung? Gesprächspartner: Also, dazu haben die Leitungskräfte ausführlich Stellung genommen, zu der Fallbelastung – auch die Auswirkungen, das, das haben die also schon vor L-S., weit vor L-S. deutlich verschriftet, für beide Dienste. Das war also ein Grundthema; […] bestimmte fachliche Kommunikationen oder Weiterentwicklungen haben nicht mehr stattfinden können; ich sag nur: Evaluation ambulanter Hilfen – wäre ja ein Thema – in dem Zusammenhang – auch gewesen. Die Themen sind offiziell ständig vertagt worden, weil für diese Kommunikation und die inhaltliche Auseinandersetzung, auch fürs Qualitätsmanagement, keine Zeit war – alleine Fälle bearbeiten.«
An dieser Interviewpassage kann exemplarisch verdeutlicht werden, dass das Jugendamt der Stadt Schwerin ab dem Jahr 2005 durch ein organisati-
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onales Handlungs- und Kommunikationsmuster des bürokratischen Abwartens bzw. durch parteipolitische Entscheidungen in seiner Funktion als sozialpädagogische Fachbehörde von den politisch Verantwortlichen und Leitungskräften des oberen und mittleren Managements der Kommunalverwaltung durch fachfremde und gedankenlose, dem New-PublicManagement entspringende Reorganisationsmaßnahmen in seiner Professionalität eingeschränkt war. Fehlende Weiterbildungs- und Supervisionsangebote sowie eine sich als ungenügend erweisende Kinder- und Jugendhilfeplanung waren ebenso Ausdruck dieses organisationalen Handlungs- und Kommunikationsmusters wie der bewusste Verzicht auf ein tragfähiges Personal- und Qualitätsmanagementkonzept. So stellten auch die an der wissenschaftlichen Untersuchung des Falles Lea-Sophie beteiligten Fachkräfte heraus, dass die organisationalen Rahmenbedingungen im Jugendamt der Stadt Schwerin nicht adäquat, sondern dass sie, wie es in der Interviewpassage heißt, »katastrophal« waren. So ist verständlich, dass die am Fallgeschehen beteiligten Fachkräfte weder für sich noch im Team klären konnten, wann überhaupt ein Fall zu einem Fall wird bzw. ab wann ein loser Beratungsfall (bei dem es, wie beim Fall Lea-Sophie, scheinbar nur um Fragen einer Kindertagesstättenbetreuung geht) zu einem Kindeswohlgefährdungsfall wird. Stattdessen kam es aufgrund von anhaltenden Überlastungen einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes zur oberflächlichen Verwaltung ganzer Arbeitsbereiche (vgl. Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2006; Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2007; Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2008b; Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2008a; Arbeitssituationsdarstellung SpD 2 2006; Arbeitssituationsdarstellung SpD 2 2007; Arbeitssituationsdarstellung SpD 2 2008b; Arbeitssituationsdarstellung SpD 2 2008a). Es wurden relevante Fallinformationen von mehreren Fachkräften in unterschiedlichen Zeitabständen entgegengenommen, und fachliche Entscheidungen wurden allein und ohne Abstimmung getroffen, sodass die schwachen Hinweise des Großvaters mütterlicherseits auf Entwicklungsprobleme von Lea-Sophie nicht differenziert im Sinne einer möglichen Kindeswohlgefährdung erfasst und untersucht wurden und dann in Vergessenheit gerieten. Insofern haben die Autorinnen und Autoren der von der Stadt Schwerin in Auftrag gegebenen Untersuchungsberichte und gutachterlichen Stellungnahmen nicht unrecht, wenn sie bei den Fachkräften des Jugendamtes in erster Linie methodische Fehler beobachten. So
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wird im Bericht der verwaltungsinternen Untersuchungsgruppe (2008, S. 35) beispielsweise Folgendes ausgeführt: »Zwar haben die Mitarbeiter jeweils das Verfahren bei drohender Kindeswohlgefährdung erläutert, allerdings entsteht der Anschein, dass die Beantwortung der Frage, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliege, dem Ratsuchenden überlassen wurde. Zumindest aber ist im Nachhinein nicht erkennbar, ob deren Ausführungen nicht bzw. nicht ausreichend hinterfragt wurden.«
Wie es aber passieren konnte, dass die für den Fall zuständigen Fachkräfte einzelne Informations- und Beratungsgespräche nicht dokumentierten und kollegial reflektierten, wurde erst im Verlauf der dialogisch-systemischen Aufarbeitung der Organisationsgeschichte umfassend deutlich. Danach waren, wie bereits angedeutet, die folgenden organisationalen Entwicklungsetappen und Wendepunkte für die Herausbildung eines Entwicklungspfades verantwortlich, der schließlich in einer organisationalen und persönlichen Katastrophe endete, dem Tod von Lea-Sophie. Aufbauphase (1990 bis 1994)
Diese Phase war gekennzeichnet durch den Aufbau neuer Kinder- und Jugendhilfestrukturen. Ein Jugendamt neuen Typs mit entsprechenden Spezialdiensten wie zum Beispiel der Jugendgerichtshilfe und dem Pflegekinderdienst musste etabliert werden. Aber auch die Fach- und Leitungskräfte aus der Schweriner Kommunalverwaltung im »Referat für Jugendhilfe« mussten sich allmählich nachqualifizieren und lernen, was es heißt, die Ansprüche des in Ost und West neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes in der Praxis umzusetzen. Differenzierungsphase (1995 bis 2001)
Diese Phase war gekennzeichnet durch die Entwicklung eines eigenständigen und politisch unterstützten Fachkonzeptes der Neuorganisation Sozialer Dienste. Sie wurde maßgeblich von einem fachpolitisch interessierten Dezernenten angestoßen, konnte aber schließlich organisational nicht durchgehalten werden. Zwischen 1995 und 2001 waren für das »Amt für Jugend, Soziales und Wohnen« allein drei Jugendamtsleiterinnen oder -leiter verantwortlich, die zum Teil für ihre Leitungsaufgaben im Bereich der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nicht ausreichend qualifiziert waren,
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manchmal in ihr Amt regelrecht gedrängt werden mussten oder zwischenzeitlich sogar schwer erkrankten. Sie blieben jedenfalls den Fachkräften von der Basis nicht lange erhalten und gingen manchmal, so schnell wie sie kamen, wieder verloren. Desorientierungsphase (2002 bis 2007)
Diese Phase war gekennzeichnet durch eine Abkehr von der bis dahin ausgebildeten und professionell begründeten Fachkonzeption einer regionalisierten Kinder- und Jugendhilfe. Das »Amt für Jugend, Soziales und Wohnen« wurde infolge neu sich ergebender kommunalpolitischer Machtkonstellationen in ein »Amt für Jugend, Schule und Sport« umbenannt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden dabei zu stummen Zeugen einer durch Haushaltszwänge provozierten parteipolitischen Einsparungs- und Deprofessionalisierungspolitik. Fachliche Standards mussten reduziert, sozialräumliche Arbeitsansätze eingeschränkt, reflexive Fallbearbeitungsmethoden und die Zusammenarbeit mit den freigemeinnützigen und privaten Trägern der Kinder- und Jugendhilfe und den anderen Kooperationspartnern aus dem Bildungs- und Gesundheitsbereich sukzessive aufgegeben werden. Zwar trug auch die damalige Leitung des Jugendamtes diese Politik der Standardreduzierung mit, wollten aber das Konzept einer sozialpädagogischen Fachbehörde trotzdem erhalten, konnte sich damit aber gemeinsam mit den Leitungskräften aus dem mittleren Management und den politischen Vertreterinnen und Vertretern aus dem Kinder- und Jugendhilfeausschuss nicht durchsetzen. Stattdessen spielten die politisch Verantwortlichen und die Leitungskräfte des Jugendamtes, aber auch die zuständigen Dezernate und der Verwaltungschef gemeinsam gewissermaßen »russisches Roulette«. Sie pokerten mit dem bedingungslosen Engagement der Fachkräfte des Sozialpädagogischen Dienstes, mit ihrem immer wieder einfach vorausgesetzten Stressbewältigungspotenzial. Auch reagierten sie nicht zeitnah genug auf die Arbeitsüberlastungsanzeigen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Hierzu ein Beispiel (Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2006; Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2007): »Im Jahre 2001 haben 8 Sozialarbeiter (7,5 Sozialarbeiter; 0,5 Sachgebietsleitung – SGL) in 310 Wochenstunden 274 Fälle bearbeitet. Das entsprach einer Fallbelastung von rund 36 Fällen (HzE, SR, Umgang) pro Sozialarbeiter.
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Im Jahre 2006 (Stichtag 31.10.2006) haben 6 Sozialarbeiter (5,5 Sozialarbeiter; 0,5 SGL) in 202 Wochenstunden 266 Fälle zu bearbeiten. Das entspricht einer Fallbelastung von rund 48 Fällen pro Sozialarbeiter. […] Durch den Umzug erhöhten sich die Öffnungszeiten des Sachgebietes von wöchentlich 20 Stunden auf 38 Stunden, was einer ständigen Erreichbarkeit des SpDs gleichkommt und eine Steigerung um 90% darstellt. […] Beratungen gemäß § 27 SGB VIII vor Einleitung einer Hilfe sind nicht mehr möglich, d.h. schnellere Verfügung von Hilfen, die Kosten verursachen. […] Am Stichtag 31.12.2007 bearbeiteten 5,5 Sozialarbeiter 310 Fälle, das entspricht einer Fallbelastung von 56 Fällen pro Sozialarbeiter, im Vergleich zum Dezember 2006 eine Steigerung von 8 Fällen pro Sozialarbeiter, d.h. Überlastung kennzeichnet seit Monaten die Arbeitssituation im Team.«
Zentrale Handlungs- und Kommunikationsmuster
Im Rückblick zeigt sich, dass diese Entwicklungsetappen mit ihren jeweiligen Wendepunkten mehr oder weniger einem Hin und Her organisationaler Umbauversuche geschuldet waren, die allerdings kaum fachlich, sondern vornehmlich haushaltspolitisch motiviert waren. Sie provozierten einen organisationalen Entwicklungspfad, durch den sich ein organisationales Handlungs- und Kommunikationsmuster des bürokratischen Abwartens und ein professionelles Handlungs- und Kommunikationsmuster des Wegschickens, Delegierens, Sortierens, Verwaltens und Vergessens etablieren konnte. Beide Muster waren für die Bearbeitung des Falls Lea-Sophie wesentlich. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes gingen vor dem Hintergrund ihrer eigenen organisationalen Gefährdungssituation deshalb – still, also nicht explizit verbalisiert – von zwei Hypothesen aus: •
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Sie gingen davon aus, dass es neben den Eltern von Lea-Sophie offenbar Familienmitglieder gab, die sich um das Kind kümmerten: die engagierten Großeltern mütterlicherseits, die zwar als sich einmischend erlebt, aber – da ohne Sorgerecht – nicht als Klienten bzw. als verdeckte Eltern wahrgenommen wurden. Sie gingen davon aus, dass die Eltern, die ja durch die Großeltern mütterlicherseits und durch einen Brief über die Angebote der Kinder- und
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Jugendhilfe informiert worden waren, ein Grundrecht auf die eigenständige Pflege, Erziehung und Bildung ihres Kindes hatten und dieses Recht nur dann infrage gestellt oder ihnen sogar gerichtlich hätte aberkannt werden können, wenn eine akute Kindeswohlgefährdung vorgelegen hätte. Da eine Gefährdung des Kindes Lea-Sophie von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes auf den ersten Blick aber als nicht wahrscheinlich angesehen wurde, reichte es ihnen, den Großvater mütterlicherseits niedrigschwellig über die Möglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe (vor allem in Hinblick auf einen Kindertagesstättenplatz) zu beraten und ihn dann nach Hause zu schicken. Er wurde nicht als besorgter Klient wahrgenommen; deshalb wurde auch nicht mit ihm über das eventuell hintergründig bestehende Familienproblem gesprochen, wie es sich in dem, was er als Anliegen vortrug, andeutete – die Beziehung zur Tochter und zur Enkelin. Denn dies hätte einen offeneren und komplexeren Beratungsansatz notwendig gemacht, der allerdings nicht dem organisationalen Handlungsund Kommunikationsmuster des bürokratischen Abwartens entsprach. Dies war auch nicht in der Arbeitsanweisung für den Umgang mit Kindeswohlgefährdung vorgesehen (Jugendamt Schwerin o.J.). Ein solcher Ansatz wäre auch nicht mit der organisational vorgeschriebenen Standardreduzierung vereinbar gewesen. Er hätte einen Personal- und Zeiteinsatz erfordert, der mit der Konzeption eines Jugendamtes, das auf administrativen Minimaleinsatz ausgerichtet war, nicht in Einklang zu bringen war. Wie in den Darstellungen zur Arbeitssituation der beiden Sozialpädagogischen Dienste gegenüber den Leitungskräften innerhalb und außerhalb des Jugendamtes in regelmäßigen Abständen betont worden ist (vgl. Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2006; Arbeitssituationsdarstellung SpD 1 2007; Arbeitssituationsdarstellung SpD 2 2006; Arbeitssituationsdarstellung SpD 2 2007), waren viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Zeitraum von 2006 bis 2007 dauerkrank, ja regelrecht ausgebrannt. Es war für sie deshalb eine Selbstschutzmaßnahme, wenn nicht gar lebensrettend, •
dass sie – ohne dass es jemanden vom oberen und mittleren Management störte – Klientinnen und Klienten mit diffusen und uneindeutigen Problemlagen, die nicht sofort Antrag auf Hilfen zur Erziehung (HzE)
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stellten, je nach Arbeits- und Fallaufkommen nach Hause schickten (Wegschicken); dass sie HzE-Fälle ohne kollegiale Beratungen und differenzierte Problemkonstruktionen durch die Verfügung von schnellen Hilfen an die freigemeinnützigen und privaten Träger der Kinder- und Jugendhilfe abgaben (Delegieren); dass sie Kindeswohlgefährdungsfälle – entsprechend den von ihnen erwarteten und in der Dienstanweisung zum Umgang mit Kindeswohlgefährdung formulierten Signalwörtern (explizite Gefährdungsindikatoren) – einsortierten bzw. auch wegsortierten (Sortieren); dass sie HzE-Fälle bei einem hohen Krankenstand nurmehr verwalteten, dabei aber zumindest auf die Fortführung bestehender Leistungsvereinbarungen achteten, um nicht in Konflikt mit der wirtschaftlichen Jugendhilfeabteilung und den freigemeinnützigen und privaten Trägern als Leistungserbringer zu geraten (Verwalten); dass sie lose Beratungsfälle auch einfach liegen ließen oder vergaßen, solange daran keine familiengerichtlichen Umgangs- und Sorgerechtsverfahren und Erziehungshilfen geknüpft waren (Vergessen).
So kam es, dass am Fall Lea-Sophie immer wieder unterschiedliche (noch nicht erkrankte) Fachkräfte beteiligt waren, Behandlungskontinuität und gemeinsames Fallverstehen sich nicht entwickeln konnten. Im ersten dokumentierten Beratungsgespräch, das mit dem Großvater mütterlicherseits am 2. November 2006 geführt wurde, wurden beispielsweise gewichtige Anhaltspunkte für eine mögliche Gefährdung des Kindes Lea-Sophie weder vorgetragen noch wahrgenommen und auch im Nachhinein nicht erkannt, obwohl sie zwischen den Zeilen anklangen. Danach soll der Großvater mütterlicherseits folgende Äußerungen gegenüber einer Fachkraft aus dem Jugendamt gemacht haben (Verwaltungsinterne Untersuchungsgruppe 2007, S. 5): »Lea-Sophie sei 4 Jahre alt und sehr zierlich, seiner Einschätzung nach wiege das Kind nur ca. 10 Kilogramm, allerdings sei auch die Kindsmutter sehr zierlich. Das Kind gehe nicht in die Kita, und auch die U-8-Untersuchung beim Kinderarzt habe noch nicht stattgefunden. Die Familie lebe in einer 3-Zimmer-Wohnung, welche vollständig in Ordnung und gepflegt sei.«
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Die Hinweise des Großvaters mütterlicherseits zur Situation seines Enkelkindes und der Kindesmutter oder auch zur prekären finanziellen Situation der Familie wurden, obwohl sie ansatzweise dokumentiert wurden, nicht weiter untersucht. Sie wurden unter Verwendung der wenigen Protokollnotizen nicht ausgewertet und vor allem nicht kollegial reflektiert, um einen tieferen Sinnzusammenhang zu erschließen. Und auch in dem sich daran anschließenden Beratungsgespräch am 14. November 2006, bei dem der Großvater mütterlicherseits gegenüber einer anderen Jugendamtsmitarbeiterin oder einem Mitarbeiter äußerte, »dass er die im Gespräch vom 02.11.2006 aufgezeigten Hilfemöglichkeiten mit seiner Tochter besprochen habe, diese jedoch von ihr nicht angenommen worden seien […] und aus seiner Sicht […] die Entwicklung des Kindes gestört [sei; d. A.], dies bezöge sich auch auf die sprachliche und körperliche Entwicklung. Aus seiner Sicht sei das Kind sehr mager, aber dies sei schon immer gewesen, sie sei ja ein Frühchen« (Verwaltungsinterne Untersuchungsgruppe 2007, S. 6),
ließen die Fachkräfte des Jugendamts nicht hellhörig werden. Im Gegenteil: Nachdem die sorgeberechtigte Kindesmutter (der Partner und nicht sorgeberechtigte Kindesvater aber nicht) zu Gesprächen für den 23. November 2006 und dann abermals für den 7. Dezember 2006 ins Jugendamt eingeladen wurde, der Einladung aber nicht nachkam, geriet der Fall Lea-Sophie bis zum 26. Juni 2007 völlig aus dem Blick. Er wurde, wie von allen am Fall-Labor beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes im Rückblick herausgestellt wurde, nicht zu einem Fall von Kindeswohlgefährdung gemacht, vielmehr als ein loser Beratungsvorgang unter vielen anderen angesehen, als normaler Verwaltungsvorgang, der nicht aus dem kognitiven Rahmen der üblichen Zuständigkeiten und Arbeitsprozeduren fiel, sondern entsprechend dem professionellen Handlungs- und Kommunikationsmuster des Wegschickens, Delegierens, Sortierens, Verwaltens und Vergessens bearbeitet wurde. Dies wird in der nachfolgenden Tabelle ersichtlich:
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Tabelle 5: Kontaktaufnahmen zum Jugendamt seitens der Großeltern von Lea-Sophie
Zeitpunkt
Anlass, Informationen, Reaktionen
2. November 2006, 9 Uhr: Besuch des Großvaters mütterlicherseits im Jugendamt
»Kind verängstigt v. LP = KV, Kind ist 4 J., sehr zierlich, KM m. sich unzufrieden, U-8-Untersuchung noch nicht stattgefunden, m. LP (KV) zusammengezogen, igeln sich ein, KV kümmert sich kaum um Arb., Ki. geht nicht in Kita, Ki. wiegt ca. 10 kg (nach Einschätzung v. KV), KM auch sehr dünn, Eltern beide zu Hause, Eltern v. KM, bes. KV hat 1u wöchentl. Kontakt, […] KM mangelndes Selbstbewusstsein, KV groß. Einfluss auf KM, […], kein Freundeskreis, KV schon 3u v. Amt gesperrt Opa Hilfsmglk. Aufgezeigt: Kitapltz. (Befürw. v. Amt), Beratg.stelle, HzE Opa bespricht es m. seiner Tochter Fam. (Opa bzw. KM) meldet sich i. Amt bzw reicht Unterlagen ein«
14. November 2006: »Vater kommt an Kind und Enkelkind Erneuter Besuch des Großvaters nicht ran, KV arbeitslos, KV ALG II, mütterlicherseits im Jugendamt Krippe bis 2004, finanzielle Probleme, Fam. igelt sich ein, KV hat Kindergartenplatz organisiert Tochter hat das platzen lassen, Untersuchungen wurden ausgelassen, Entwicklung des Kindes ist gestört, sehr mager (?) Frühchen (10 Kilogramm), Vater hat regelmässig sonntags Kontakt, Kind hat verstärkt Angst/Respekt v. KV, Wohnung ist vollkommen i.O., Entwicklung (sprachlich) d. Kindes verzögert« Einladung vom Jugendamt zum Gespräch adressiert an KM für Donnerstag, 23. November 2006 um 11 Uhr
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23. November 2006: geplanter Gesprächstermin mit KM im Jugendamt
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»Zum vereinbarten Termin nicht erschienen.« 27. November 2006: erneute Einladung von Jugendamt zum Gespräch adressiert an KM für Donnerstag, 7. Dezember 2006 um 14 Uhr
7. Dezember 2006: geplanter Gesprächstermin mit KM im Jugendamt
»Termin nicht wahrgenommen«
26. Juni 2007: Besuch Großmutter väterlicherseits im Jugendamt
»Ki. soll in Kindergarten gehen, Ki.gartenplatz für Ki. Angeblich in […]; Opa wird draußen [vom Jugendamt] abgefertigt, Opa u. Kind hatten intensiv Kontakt […]
Keine Reaktion seitens des Jugendamtes
Üb. Hilfsmöglk. aufgeklärt, auch Bedeutg. KWG. Abspr.: GM bespricht sich noch mal mit Opa u. meldet sich ggfls. zurück« 6
Quelle: Akte Lea-Sophie; nachträglich angelegt
Auf der einen Seite gibt es also den Großvater mütterlicherseits mit seinen Sorgen und Befürchtungen, der sich jedoch scheut, sein wirkliches Beratungsanliegen eindeutig zu formulieren. Er versucht zwar, gegenüber dem Jugendamt die Dringlichkeit des Falls plausibel darzulegen, und nimmt hierfür auch mehrmals Kontakt auf. Aber in letzter Konsequenz ist er sich unsicher, ob und inwieweit seine Enkelin tatsächlich gefährdet ist und ob es nicht ein Risiko ist, das Jugendamt überhaupt einzuschalten und ihm offen und ehrlich Rede und Antwort zu stehen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes können diese Ambivalenz als Problemmuster nicht entziffern. Sie fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf ein Kind, das offenbar nicht in eine Kindertageseinrichtung geht, und vernachlässigen dabei, weitere für das Fallverstehen wesentliche Informationen zu deuten. Sie haben aber ein Gefühl, dass in der Familie vielleicht doch nicht alles zum Besten
6 Ob es eine Akte im Jugendamt für den Zeitraum von 2004 bis 2006 gegeben hatte, konnten wir im Verlauf unserer Untersuchung nicht aufklären.
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bestellt ist. Jedenfalls erläutern sie der Großmutter väterlicherseits am 26. Juni 2007, was es bedeuten würde und worauf es hinausliefe, wenn eine Kindeswohlgefährdung vorläge. Was sie ihr konkret sagen, ist allerdings nicht dokumentiert. Es ist aber zu vermuten, dass mit einer klaren, professionellen Kindeswohlgefährdungsdiagnose zu diesem Zeitpunkt eine Eingriffsschwelle überwunden worden wäre, die, so erinnert sich zumindest der Großvater mütterlicherseits im Rückblick, mit der Anwendung von »brachialer Gewalt« verbunden gewesen wäre: »So – und dann kam der [ein Mitarbeiter des Jugendamtes] mir gleich und sagte: ›Ja, sehen Sie denn eine Kindeswohlgefährdung?‹ Sag ich: ›Wie soll ich die Kindeswohlgefährdung sehen? Ja, was machen Sie denn, wenn ich das jetzt sage?‹ ›Jo, dann gehe ich mit brachialer Gewalt in die Familie – und hol das Kind raus!‹ ›Ja‹, sag ich: ›dann sehe ich das nicht!‹ Richtig, so knallhart hat er mir das an den Kopf geknallt […], ›gehe ich mit brachialer Gewalt in die Familie und hole das Kind da raus‹. ›Ja‹, sag ich, ›das ist doch nix, deswegen bin ich doch nicht hier!‹«
Auf der anderen Seite gibt es die überlasteten und zugleich engagierten Fachkräfte, die sich der Sache annehmen, aber zu deren professionellen Handlungs- und Kommunikationsmustern es nicht passt, Fälle dialogischsystemisch differenziert anamnestisch zu bearbeiten und zu beraten, um den Stellenwert von familiengeschichtlichen Erzählungen im Kontext ihrer Fallbearbeitungspraxis differenziert verstehen zu können. Da aber »Sinnzusammenhänge des menschlichen Lebens geschichtenförmig organisiert sind« und es darauf ankommt, einen »Zugang zu den im kollektiven Gedächtnis der Familie bewahrten routinehaften Handlungs- und Orientierungsmustern« (Hildenbrand 2005, S. 28) zu finden, wären die Fachkräfte auf eine Fachkonzeption angewiesen gewesen, die den Qualitätsvorstellungen einer sozialpädagogischen Fachbehörde und nicht etwa dem Selbstverständnis eines von oben verwalteten Restjugendamtes entsprochen hätte. Denn man kann von Klienten nicht erwarten, dass sie »ihre Geschichten als eine kohärente, konsistente Einheit erzählen« (ebd.), geschweige denn, dass sie ihre vorgebrachten Anliegen in die Form von widerspruchsfreien Selbstdiagnosen fassen. Ihre Texte und Geschichten müssen darum dialogisch-systemisch rekonstruiert und zu einem Fallgeflecht unterschiedlich miteinander zusammenhängender Erzählungen verbunden werden (s. auch: Heiner 2004, S. 91ff.). Kindeswohlgefährdungen verstehen sich insofern
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nicht von selbst. Sie liegen nicht einfach als evidente Aussagen, als kommunikative Prädikate vor; sie können nicht einfach anhand von einprägsamen Signalwörtern oder Signalsätzen (wie z.B.: Das Kind wird vernachlässigt, das Kind wird geschlagen, das Kind ist unterversorgt, die Eltern sind überfordert, die Eltern streiten sich, die Eltern nehmen Drogen, sind psychisch krank) erfasst werden (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin e.V. 2009, S. 29f.), auch wenn im Zuge der überall aufkommenden Ablaufverfahren mit ihren Diagnoseinstrumenten in der Kinderschutzpraxis mittlerweile so getan wird, als seien Kindeswohlgefährdungen objektive Tatsachen, die man einfach als gewichtige Anhaltspunkte an bestimmten Indikatoren oder Faktorenbündeln ablesen und ohne weitere beraterische Kompetenz (vgl. Hörster 2004, S. 109ff.) verstehen könne. Am Fall Lea-Sophie wird insofern deutlich, wie kompliziert es für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes gewesen ist, aus den ihnen zur Verfügung stehenden und ansatzweise dokumentierten Beratungssequenzen, aus den Erzählungen des Großvaters mütterlicherseits und den Andeutungen der Großmutter väterlicherseits sich ein klares Bild eines im Zugang erst einmal uneindeutigen Kindeswohlgefährdungsfalles zu machen; vielmehr wurden sie durch die Nebenfolgen einer »Maschinenbürokratie« par excellence (Mintzberg 1992, S. 223ff.) in den Strudel einer überbürokratisierten und verkrusteten Kommunalverwaltung gezogen, in der kommunikative Störungen zum Alltag gehörten und wo die einzelnen Abteilungen und Fachkräfte des Jugendamtes ganz unabhängig voneinander vordergründige lokale Lösungen für komplexe kommunalpolitische Probleme suchen mussten. Konkret bedeutete dies für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass sie von ihren Vorgesetzten innerhalb und außerhalb des Jugendamtes und den politisch Verantwortlichen faktisch als Maschinen angesehen wurden, als Scharniere oder Rädchen einer funktionierenden Verwaltung, in der stets alles nach Plan verlaufen musste und in der Abweichungen nicht geduldet bzw. einfach überhört wurden. Vor diesem Organisationsparadigma einer sich als »Maschinenbürokratie« (ebd.) verhaltenden Stadtverwaltung erhielt das Jugendamt am 12. November 2007 schließlich erstmals eine richtige Kindeswohlgefährdungsmeldung durch einen anonymen Anrufer aus der Nachbarschaft der jungen Familie, die folgendermaßen erfasst wurde:
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»Älterer Herr ruft an aus der Nachbarschaft. Er macht sich Sogen. In dem Haus […] bei [KM] lebt ein 3–4 Wochen alter Säugling. Dieses Kind sieht man nie am Tag draußen. Die Mutter geht nur am Abend im Dunkeln mit dem Kind in der Babywippe und den zwei Hunden spazieren. Dort gibt es noch ein größeres Kind, das aber wohl nicht mehr im Haushalt der Mutter lebt. Ein Mann lebt ebenfalls dort. […] Bearbeitungshinweise: zügig, umgehend.« (Akte Lea-Sophie; nachträglich angelegt)
Daraufhin machen sich die sozialpädagogischen Fachkräfte unverzüglich auf den Weg zur Familie, um nach dem Bruder von Lea-Sophie zu sehen. Sie treffen aber niemanden an, oder es wird ihnen nicht die Tür geöffnet. Sie hinterlassen einen bereits vorbereiteten Brief, der von den Kindeseltern sogar geöffnet und gelesen wird (wie uns später in den Rückblickgesprächen berichtet wird). In der Tat erscheinen die Kindeseltern am nächsten Tag, dem 13. November 2007, mit ihrem kleinen Säugling – aber ohne LeaSophie – im Jugendamt. Im Gesprächsvermerk heißt es u.a.: »[…] seit sie eingezogen sind, gibt es Streit im Haus, bei der [Wohnungsbaugesellschaft] liegen mehrere Beschwerden vor, Haus liegt voller Hundehaare, Hundefutter im Haus, Kinderwagen darf nicht im Haus stehen, z. Zt. leben zwei Hunde in der Wohnung, Familie wird von den anderen nicht begrüßt, durch die [Wohnungsbaugesellschaft] wurde ein Schlichtungsgespräch angeboten, die anderen Mieter sind nicht gekommen, auf Nachfrage nach dem letzten Streit im Haus wurde das letzte Wochenende benannt […], die Vorwürfe, dass sie erst im Dunklen das Haus verlassen, wurden zurückgewiesen, nach Aussage [Kindesvater] gehe die Familie regelmäßig an die frische Luft […], der Kinderwagen wird selten genutzt, besonders wenn die Familie mit dem Auto unterwegs sei, würde die Babywippe genutzt, wie auch heute, auf Nachfrage zum größeren Kind, ob es die Kindereinrichtung besucht, wurde dieses verneint; Hauptgrund dafür sei, dass nicht genügend Geld vorhanden ist, […] die Eltern wurden darauf hingewiesen, dass es besser wäre, wenn ihre Tochter in eine Kindereinrichtung gehe, da sie auf den Besuch der Schule im nächsten Jahr vorbereitet werden müsste, zur Frage, wo sich ihre Tochter im Moment aufhalte, da sie nicht in einer Kindereinrichtung sei, wurde geantwortet: bei Bekannten. […] Das Baby hinterließ einen gut versorgten Eindruck, die Genehmigung zur Rücksprache beim Vermieter wurde erteilt.« (Akte Lea-Sophie; nachträglich angelegt)
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Schließlich werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes am 21. November 2007 mit der Katastrophe konfrontiert, als sie von der Polizei vom Tod Lea-Sophies in der Nacht vom 20. November 2007 informiert werden. Erste Schlussfolgerungen
Mit Blick auf die Organisationsgeschichte des Jugendamtes der Stadt Schwerin zeigt sich, dass der Konflikt zwischen den jungen Eltern und ihren Herkunftsfamilien von den Jugendamtsfachleuten nicht erkannt wurde, da die Familie bzw. das sich andeutende Mehrgenerationen-Familiensystem nicht differenziert und durchgängig im Fokus der Beratungsarbeit des Jugendamtes war. Es kam vielmehr zu einer Aneinanderreihung unverbundener Einzelperspektiven, gewissermaßen herrschte ein – arbeitsökonomisch nicht unbegründetes – Schubladendenken vor, das zwischen der Schublade der Kindeswohlgefährdung und einer offenen Beratung unterschied. Nicht zuletzt aufgrund ungünstiger Organisationsbedingungen und einer programmatisch-konzeptionellen und methodischen Schwäche wurde diese Form des Schubladendenkens forciert. Es kam aufgrund einer von oben verordneten Standardreduzierung und damit verbundenen Einsparvorgaben zu einer Nichtberücksichtigung fachlicher und kollegialer Fallreflexion. In den Köpfen vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurde darum zwischen Kindeswohlgefährdung und offener Beratung schematisch unterschieden. Es galt, in einer permanenten Überlastungssituation Prioritäten in der Fallbearbeitung zu setzen. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter musste sich gewissermaßen selbst einen praktikablen Verstehens- und Handlungsrahmen schaffen, da es keine Auseinandersetzung mehr über die vorhandenen expliziten und impliziten fachlichen Standards gab und es an einem engagierten mittleren und oberen Leitungsmanagement mit ausgeprägtem Kinder- und Jugendhilfeprofil mangelte. Hinzu kam, dass das Jugendamt mit anderen fallrelevanten Einrichtungen (den Kindertagesstätten, den Schulen, den Kliniken, dem Jobcenter usw.) nicht vernetzt war und ein Programm Früher Hilfen für Schweriner Familien damals noch fehlte. So schildert eine Fachkraft des Jugendamtes der Stadt Schwerin in einem bereits im Jahr 2008 im Kontext einer organisationalen Evaluations- und Fehlerstudie (Biesel 2011) erhobenen Interview, dass dem Jugendamt
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»nicht nur zu wenig, sondern keinerlei Beachtung [in der Stadtverwaltung; d. A.] geschenkt wurde. Dass sozusagen […] zu keinem Zeitpunkt, […] hat man sich sozusagen mit den Inhalten von Jugendhilfe auseinandergesetzt. […] Es gibt hier so was wie eine Dezernentenberatung, wo man mit Vorlagen rein kann. Ich hatte aber zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, dass die Themen […] also auch wirklich da angekommen sind. Dass es also auch [leise] wirkliches Interesse gab. Ja und dann glaube ich, dass ein Riesenfehler ist, die gesamte Personalpolitik in der Stadtverwaltung, nicht nur bezogen auf das Amt, aber im Besonderen auch bezogen auf das Amt. […] Das Thema Personalentwicklung ist benannt, es wird aber seit Mitte der 1990er Jahre in keinster Weise in Angriff genommen. […] Es gibt ein Rahmenkonzept, […], das also das Papier nicht wert ist. […] Diese Stadt hat kein Leitbild. Diese Stadt hat also keine gemeinsame Philosophie, keine gemeinsame Strategie. […] Das Jugendamt hat sich zwar so ein paar Strategien mal gesetzt. Mit den Papieren, die da erarbeitet wurden, sie sind aber nie Teil des Ganzen, und damit sind sie auch nie […] Wirklichkeit geworden, umgesetzt worden. Also es gibt keine (.) gemeinsame Philosophie. […] Das sind Fehler. Davon ist letztlich auch das Jugendamt betroffen. […] Das Jugendamt ist nur Symptomträger, dieser, ich sag jetzt mal wirklich, dieser, ja dieser, ich will nicht sagen kranken Stadtverwaltung, das wäre vielleicht zu viel, aber: dieser doch gestörten Stadtverwaltung.«
So kam es, dass der Großvater mütterlicherseits und später die Großmutter väterlicherseits im Kontext ihres Hilfeersuchens auf ein Jugendamt trafen, das sich in einer strukturellen Entwicklungs- und Kompetenzkrise befand. In der Konfrontation mit dem Fall Lea-Sophie präsentierten die Großeltern den Fachkräften eines nach außen hin funktionierenden Jugendamtes ihre Version einer komplexen, aber nur zum Teil angedeuteten familialen Konfliktgeschichte, bei der das Kind Lea-Sophie und dessen Eltern im Fokus ihres Hilfebegehrens standen (vgl. Kapitel 4.2). Aus den wenigen, aber anamnestisch bedeutsamen Protokollnotizen, die erst nachträglich in einer Akte zusammengeführt wurden, ist zu erfahren, dass nach Meinung des Großvaters mütterlicherseits seine Enkelin »zu zierlich« bzw. »in ihrer Entwicklung verzögert« gewesen sei, zumindest in sprachlicher und körperlicher Hinsicht – was ihn aber nicht weiter verwundert habe, da die Kindsmutter selbst eine zierliche Person und Lea-Sophie ein »Frühchen« gewesen sei. Zugleich wurde von den Fachkräften des Jugendamtes aber auch dokumentiert, dass der Großvater mütterlicherseits die Wohnverhältnisse der Familie, trotz finanzieller Schwierigkeiten, als »völlig in Ordnung«
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eingeschätzt hatte, und darüber hinaus, dass er und seine Frau wöchentlich im Kontakt zur Familie stehen würden. Ihm sei es vordergründig um die Sicherstellung der Kindertagesbetreuung gegangen (vgl. Akte Lea-Sophie; nachträglich angelegt). In einem Rückblickgespräch wird in diesem Zusammenhang von einer Fachkraft des Jugendamtes deshalb nicht von ungefähr hervorgehoben, im Jugendamt seien die mit dem Fall vertrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unbewusst davon ausgegangen, dass die junge Familie über genügend informelle Hilfenetzwerke (z.B. die Großeltern mütterlicherseits) verfügte und es deshalb nicht notwendig gewesen sei, Hilfen offensiv anzubieten, zumal diese von den Eltern auch nicht beim Jugendamt aktiv eingefordert worden waren. Es habe schlichtweg keinen Auftrag der Kindeseltern für eine durch das Jugendamt zu organisierende Hilfe gegeben. Die beteiligten Fachkräfte hätten sich nicht vorstellen können, dass das Wohl des Kindes Lea-Sophie gefährdet sei, was sich im Rückblick als fataler Fehlschluss erwies. So kann Werner Freigang (2008, S. 1ff.), der von der Stadt Schwerin als Gutachter beauftragt worden war, begründet Folgendes herausstellen: »Auffällig ist ein […] binäres Verständnis von Kindeswohlgefährdung, das dem Agieren der MitarbeiterInnen und auch dem Tenor des Untersuchungsberichts zu entnehmen ist. Nach einem breiten Fachverständnis ist Kindeswohlgefährdung nicht etwas, was entweder vorliegt und dann eindeutige, fallunabhängige Reaktionen nach sich zieht oder das eben nicht vorliegt, sondern die Beschreibung des Zustandes, der mehr oder weniger schwerwiegend sein kann, der fallbezogen abgewogen werden muss, zu dessen Beurteilung sowohl gefährdende wie auch protektive Faktoren herangezogen werden müssen. […] Wäre der Kontakt seitens der Großeltern als Meldung und nicht als Beratung eingestuft worden, wäre der verwaltungsinterne Umgang ein anderer gewesen. Das Problem im Fall Lea-Sophie liegt nicht so sehr in den Verfahrensweisen bei Meldungen von Kindeswohlgefährdungen, sondern in der Schwelle, die zu überwinden gewesen wäre, damit Lea-Sophies Fall als ein solcher betrachtet worden wäre.«
Das Problem bestand also darin, dass im Jugendamt zwischen losen Beratungsfällen, HzE-Fällen und Kindeswohlgefährdungsfällen unterschieden wurde. Vor allem Beratungsfälle ohne anfängliche klare Indikationen wur-
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den darum wegdelegiert oder aussortiert. Beratung hätte jedoch auch bedeuten können, sich offen dem Anliegen des Großvaters mütterlicherseits und später der Großmutter väterlicherseits zuzuwenden und auf das zu hören, was nicht gesagt bzw. was nur angedeutet wurde. Hierfür wären freilich familienanamnestisches Wissen, methodische Kompetenzen und zeitliche Kapazitäten notwendig gewesen, die im Jugendamt in den Jahren 2006 und 2007 nicht oder nur teilweise zur Verfügung standen. Im Rückblick können deshalb die methodischen Fehler im Fall Lea-Sophie bzw. die situationelle Rationalität, die guten Gründe, warum so gehandelt, wurde, wie gehandelt worden ist, schnell ausgemacht werden. So wurde es unterlassen, den Fall ausführlich zu dokumentieren und kollegial zu reflektieren. Insbesondere versäumte man es, eine Akte anzulegen und für Wiedervorlagen im Umgang mit dem offenen Fallgeschehen zu sorgen. Weitaus gravierender war allerdings, dass der lose Fall von jeweils verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Jugendamtes bearbeitet wurde und es deshalb nicht gelungen war, eine Beziehung zu den Großeltern, den Eltern und zu Lea-Sophie aufzubauen. Dadurch konnte auch keine wirkliche Problemdiagnose gestellt werden, kam es nicht zur Konstruktion eines Falls von Hilfe zur Erziehung oder eines Kindeswohlgefährdungsfalls, obwohl die Protokollnotizen über die Gespräche mit den Großeltern genug Anlass zur Sorge geben konnten. Man ging unabhängig voneinander davon aus, dass die Eltern, wenn sie Hilfe benötigen würden, selbst auf das Jugendamt zugehen würden. Eine Kindeswohlgefährdung lag außerhalb des Vorstellbaren. Dem Anliegen der Großeltern wurde zum Teil zwar nachgegangen, jedoch nicht konsequent genug. So kam es, dass das Jugendamt den Vorgang als offensichtlich harmlosen, alltäglichen Fall einer bisher nicht gelungenen Kindertagesstättenbetreuung fehldeutete und innerhalb des Zeitraums, in dem Lea-Sophie akut vernachlässigt wurde und in Lebensgefahr war (September 2007 bis November 2007), keinen Kontakt mehr zur Familie fand und diesen auch nicht aktiv suchte. Eine selbstbezogene und zusammenfassende Erklärung, warum es so weit kommen konnte, gibt uns eine Fachkraft des Jugendamtes, die auf der ersten Forschungswerkstatt in einem Mikroartikel zum Thema »Warum musste Lea-Sophie sterben? Was ist falsch gelaufen – meine Fehlerhypothese« folgende Antworten notierte:
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»Wir haben uns zu schnell auf das Verfahren nach §8a SGB VIII eingelassen und die Bewertung der Gefahr zum Teil dem Großvater überlassen; auf die Selbstregulation in der Familie gebaut. Wir haben es versäumt, über mögliche Zugänge zu den Eltern zu sprechen, außer über KWG. Entscheidungen wurden mangelhaft dokumentiert und konnten somit von Außenstehenden nicht nachvollzogen werden. Wiedervorlagen wurden nur unzureichend verfügt. Personalmangel und Überlastung führen dazu, dass alle Informationen verschiedener Sozialarbeiter nicht miteinander vernetzt werden, sodass es zu einer Fehlbewertung der familiären Situation kommt. Die Vorgeschichte der Familie war zu wenig bekannt. Der positive Eindruck der Eltern und der gute Zustand [des Säuglings] führten dazu, dass Lea-Sophie nicht in Augenschein genommen wurde. Obwohl der Großvater einen Hilfebedarf angezeigt hat, haben wir die ablehnende Haltung der Eltern zu lange akzeptiert. Der Eindruck der Überversorgtheit der jungen Familie durch die Großeltern hat den Gedanken an ›weitere Hilfen‹ völlig verdrängt.«
Um solche Fehler zu vermeiden, bedarf es vor allem erfahrener Fachkräfte, die in einer zuverlässigen, fehleroffenen und achtsamen Organisation arbeiten (Biesel 2011; Böwer 2012). Eine solche Organisation ist geübt im Umgang mit fachlichen Risiken. Sie vermeidet es, Beratungsprozesse im Kinderschutz zu vereinseitigen und vorschnell in Fälle von Kindeswohlgefährdung bzw. Fälle außerhalb von Kindeswohlgefährdung zu spalten. Stattdessen setzt sie auf den Dialog, auf differenziertes Fallverstehen im Kontakt und in der Begegnung mit ihren Klientinnen und Klienten (vgl. Wolff 2007). Fälle werden immer vor dem Hintergrund bestehender Organisations- und Teamkulturen erzeugt; so entspringt der Fall Lea-Sophie auch der Organisationsgeschichte, die freilich nicht erst mit dem Jahr 1990 beginnt, sondern ihre Ursprünge in der DDR hat. Daneben spielt der Familienkontext eine zentrale Rolle, kann auch der Fall Lea-Sophie nur mit Blick auf die viel weiter zurückliegende Familiengeschichte differenziert verstanden werden, die im nächsten Abschnitt nun weiter entfaltet wird.
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4.3 D IE F AMILIENGESCHICHTE
IM
R ÜCKBLICK
Eine dialogisch-systemische Fallanalyse schaut zurück auf ein komplexes Geschehen. Sie untersucht eine Lebensgeschichte unter spezifischen Umständen, die man als »Ort sozialisatorischer Interaktion« bzw. als »Milieu« (Hildenbrand 2005, S. 11) verstehen kann, als Generationenzusammenhang von Erwachsenen und Minderjährigen, von Eltern(paaren) und Kindern, von Geschwistern und anderen Personen im erweiterten Familiensystem (der Großeltern-, Onkel- und Tantenfamilien) unter bestimmten Milieubedingungen. Dieser Zusammenhang handelnder Personen, diese Welt (mit spezifischen Selbst-, Fremd- und Umweltverständnissen) folgt in der Moderne keinem festen Muster. Insofern ist »Familie« eigentlich zu einem »leeren Begriff« geworden (Buchholz 1993, S. 67). Lebensgeschichten und Lebensverhältnisse werden heutzutage vielmehr in einer großen Vielgestaltigkeit hervorgebracht. In diesem Sinne sprechen wir auch von Familien als selbstkonstruierten Systemen (vgl. Luhmann 2005). Was man als Familie sein und leben will, was im Innen- und Außenverhältnis gelten soll, wie man das Spannungsverhältnis von Abhängigkeit und Autonomie, von Nähe und Distanz, von Liebe und Hass, Entwicklung und Erziehung miteinander balanciert, nicht zuletzt, wie man die notwendigen materiellen Ressourcen beschafft und nutzt, all dies sind familiale Konstruktionsleistungen; sie werden unter den jeweils herrschenden soziokulturellen und politisch-ökonomischen Ausgangsbedingungen von den Familienmitgliedern freilich mehr oder weniger erfolgreich erbracht. Familien gibt es insofern nicht einfach. Familien werden vielmehr gemacht, das heißt begründet, gestaltet, verändert und erweitert oder auch wieder aufgelöst. Von solchen Konstruktionsleistungen hängen Glück und Leid, Gelingen oder Scheitern des Familienlebens entscheidend ab (vgl. auch Bauriedl 1984). Dabei haben sich inzwischen über das immer noch wichtige triadische Grundmuster der Vater-Mutter-Kind-Familie (Kernfamilie genannt) viele andere, neue Muster herausgebildet – sogenannt »unkonventionelle Familien« (Funcke/Hildenbrand 2009) –, die ebenso Geltung beanspruchen. Sie werden wie die klassische Kernfamilie mit mehr oder weniger Erfolg gelebt: •
alleinerziehende Familien (ohne Vater oder – weniger häufig: ohne Mutter),
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neu zusammengesetzte Familien bzw. Stieffamilien (mit abwesenden leiblichen und anwesenden nicht leiblichen Elternteilen sowie mit abwesenden und anwesenden Geschwistern und Stiefgeschwistern), Pflegefamilien (mit abwesenden leiblichen Eltern und neu anwesenden nicht leiblichen Kindern), Adoptivfamilien (mit abwesenden leiblichen Eltern und eventuell auch Geschwistern), kinderlose Paare (mit abwesenden Kindern) und gleichgeschlechtliche Inseminationsfamilien (mit abwesenden Vätern, bekannten oder anonymen Samenspendern) (vgl. ebd.).
Bei allen diesen Familienformen kommt es jedoch immer darauf an, wie die auf personelle Unaustauschbarkeit, absehbare Dauer, emotionalen Bezug, fortwährende Interaktion und ein gemeinsames Werte- und Wissenssystem hin angelegten persönlichen Beziehungen gestaltet werden. Sie drehen sich strukturell um eine »rotierende sozialisatorische Triade« (Buchholz 1993, S. 111ff.). Dazu haben Funcke und Hildenbrand Folgendes ausgeführt: »Überall dort, wo drei zusammen sind, kommt es zu unvermeidlichen Strukturierungsprozessen, in denen es um Gegensätze geht – sei es, dass diese Gegensätze erzeugt, sei es, dass sie aufgehoben werden. Die elementare Zahl des Sozialen ist die Zahl 3 (Simmel 1908). In der Familie heißt 3: Vater, Mutter und Kind. In diesem Beziehungsgeflecht, das bereits vor der Geburt des Kindes in Gestalt einer ›Triade der Fantasie‹ (Buchholz 1990) zu wachsen beginnt, kommt es kontinuierlich zu 2:1Konstellationen in wechselnden Zusammensetzungen: Mutter + Kind: Vater; Vater + Kind: Mutter; Vater + Mutter (= Paar): Kind … Zu diesen drei 2:1-Konstellationen kommt noch eine vierte: alle drei zusammen.« (Funcke/Hildenbrand 2009, S. 25)
Familie ist insofern ein Balanceakt in sich verändernden Beziehungskonstellationen: zwischen Nähe und Distanz, Zusammenhalt und Abgrenzung bzw. Offenheit und Anpassung, zwischen Struktur und Veränderung, Abhängigkeit und Unabhängigkeit und überhaupt zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Bei der Re-Konstruktion solcher Konstruktionen von Familiengeschichte geht es daher darum, ein empirisches Material (möglichst umfassend und systematisch erfasste Familiendaten) im Hinblick auf Entwicklungsetappen,
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Probleme, Krisen, Konflikte, Schlüsselereignisse und Wendepunkte, Muster und Entwicklungspfade zu untersuchen. Sie geben Aufschluss über typische Beziehungsausformen und Beziehungsdynamiken, über sich im Entwicklungsverlauf ausprägende Beziehungskonstellationen, über zentrale Handlungs- und Kommunikationsmuster. Auf diese Weise kann herausgearbeitet und verstanden werden, wie es zu bestimmten Konfliktstrukturen und letztlich zu einer Gefährdung oder sogar zum Tode eines Kindes, zu einem tödlichen Kinderschutzfall, kommen kann, wie im Fall Lea-Sophie. In der Gesellschaft, in der Öffentlichkeit und in der Politik und nicht zuletzt in der Kinder- und Jugendhilfe selbst ist in Reaktion auf den Tod von Lea-Sophie immer wieder gefragt worden: Wie konnte es geschehen, dass Lea-Sophie keine Nahrung und Getränke mehr annahm und dann verhungerte und verdurstete und schließlich starb? Wer ist schuld am Tode dieses Kindes? Warum konnten die Fachkräfte des Jugendamtes LeaSophie nicht schützen? Uns sind demgegenüber bei den Rückblickgesprächen mit Familienmitgliedern und bei unserer Rekonstruktion der Familienund Fallgeschichte die folgenden Fragen wichtig gewesen: • • •
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Wie beschreiben Familienmitglieder ihre familialen Beziehungsmuster und Lebensgeschichten? Was stellen sie im Rückblick auf ihre eigene Kindheit und Jugend in ihrer eigenen familialen Lebensgeschichte als wichtig heraus? Wie beschreiben Familienmitglieder, was in der besonderen Fallgeschichte überhaupt passiert ist, um was für einen Fall es sich ihres Erachtens handelt? Welche Rolle haben sie selbst dabei gespielt? Welche wichtigen Entscheidungen, zentralen Punkte im gesamten Fallverlauf, die gewissermaßen zu Wendepunkten im Geschehen führten, stellen sie heraus? Wie erklären sie sich die Umstände, wie es überhaupt dazu gekommen ist, das heißt, welche Gründe sehen sie, die zum Tod des fünfjährigen Kindes Lea-Sophie im November 2007 geführt haben? Was meinen sie, warum es dem Jugendamt Schwerin nicht gelang, LeaSophie, dem Elternpaar und den Großeltern zu helfen? Was ist nach ihrer Meinung damals schiefgelaufen? Was hätten das Jugendamt oder auch andere fallbeteiligte Einrichtungen ihrer Meinung nach anders machen sollen?
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Antworten, die wir auf diese Fragen erhielten, kontrastieren wir in einem zweiten Schritt mit unseren eigenen sozial- und organisationswissenschaftlichen Fragestellungen, mit denen wir die Auskünfte der Familienmitglieder, das vorliegende und das von den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe im Prozess der Falluntersuchung eingebrachte Material aus dialogischsystemischer Forschungsperspektive erschlossen haben (vgl. Kapitel 3). Das Geschehen/der Fall und die eigene Rolle
In den Rückblickgesprächen mit Familienmitgliedern wird auf die Frage, was das überhaupt für ein Fall sei, zuerst einmal zurückhaltend reagiert. So heißt es beispielsweise eingangs: »Also, was ganz genau passiert ist, das kann ich natürlich nicht beschreiben« (FAM 1)7. Oder: »Das ist nicht so einfach zu sagen …« (FAM 2/3). Dann aber wird doch ein erster Hinweis gegeben: »Mhm. Ja, es ist auf alle Fälle die Geschichte des Paares als Eltern von Lea-Sophie. Dann spielt eine ganz wichtige, große Rolle eben … die Familie von der Mutter von Lea-Sophie, die Gesellschaft, das Umfeld, die Mitbewohner im Haus … Also, in der Endfolge war es ja so, dass die beiden [das Paar bzw. die Kindeseltern] sich dermaßen abgegrenzt haben und abgeschottet haben und versucht haben, ihr Ding alleine zu machen, also ihr Leben alleine auf die Reihe zu kriegen, was aber so, wie sie es gemacht haben, nicht funktionierte und … das Bild, was ich mir aus den Verhandlungen gemacht habe, ist, … die hatten … eben sehr vordergründig einfach Angst, den Eltern [der Kindesmutter – also den Großeltern] gegenüber einzugestehen, wir versagen, und wir schaffen’s nicht.« (FAM 1)
Und ein anderer Gesprächspartner aus der Familie äußert: »… das ist … im Prinzip eine Geschichte, wo [die Kindesmutter mit ihrem Partner] sich eigentlich immer weiter von uns abgewandt haben, eingeigelt haben und, sagen wir, wo wir so langsam – zwar den Kontakt hatten, äußerlich – aber wir sie irgendwo nicht mehr richtig ansprechen konnten … das war das in der Situation, wo wir dann im Jahre 2006 mit ihnen immer gesprochen haben; sie sollten endlich einmal zum Arzt gehen, und Lea ist klein, ist klein und zierlich für ihr Alter, quasi eigent-
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FAM wird im Folgenden als Abkürzung für Familienmitglied verwendet.
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lich sehr klein, sehr zierlich gebaut, und sie sollten endlich mal zum Arzt gehen. Und dann kam natürlich dazu, dass sie diese U-Untersuchungen nicht wahrgenommen haben und sich immer mehr abgeigelt haben und, sagen wir, ja, wie soll man das beschreiben, das war halt so, eine... Wir haben dann versucht, sie noch immer weiter zu unterstützen, und das Geld fehlte ja auch überall, so mit Essen und allem Drum und Dran. Das wurde auch angenommen, aber es ist …, man hat es gemerkt; sie haben eine Distanz aufgebaut, eine innerliche so, und da kam man auch nicht gegen an, auch mit normalem Reden nicht.« (FAM 2/3)
Hier wird deutlich: Es handelt sich um die Geschichte eines Beziehungsabbruchs im Verhältnis einer jungen Familie zu den Herkunftsfamilien. Es geht es um eine »Einigelung«, eine »Abschottung«, eine »Isolation«, eine »Distanz« – aus »Angst den Eltern gegenüber«. Ein anderes Familienmitglied charakterisiert den Fall ebenfalls als eine »Beziehungsgeschichte«, die allerdings auf eine beeindruckende Selbstverantwortung im Fallprozess hin zugespitzt wird, dass es sich nämlich bei dem Fallgeschehen um die »eigene Geschichte« gehandelt habe (FAM 4). Die ersten Hinweise aus der Familie deuten aber auch an, dass es hintergründig um Armut gegangen sei, dass es an Essen gefehlt habe. Vor diesem Hintergrund wird in einem Rückblickgespräch auch auf die physischen, psychischen und intellektuellen Entwicklungsprobleme von LeaSophie aufmerksam gemacht und ausgeführt: »Sie ist klein und zierlich für ihr Alter, quasi eigentlich sehr klein, sehr zierlich gebaut, [… und darum sollten die Eltern] endlich mal zum Arzt gehen [bzw.] für mich ist sie zu klein, sie ist eingeschüchtert, oder wirkt eingeschüchtert auf mich, sie ist zu zierlich mit ihren – was weiß ich – zehn oder elf Kilo, damals mit vier Jahren, war klein und leicht, und sie spricht auch nicht oder hat nicht den Wortschatz, den eigentlich ein Kind in ihrem Alter schon haben müsste. So – und das Eingeschüchterte, das gefiel mir auch nicht …« (FAM 2/3)
Die eigene Rolle der Familienmitglieder wird von den Kindeseltern im Rückblick deutlich gesehen. Während der Kindesvater - wie oben bereits angedeutet – im Rückblick ausführt: »Das ist meine Geschichte!« (FAM 4), stellt die Kindesmutter noch stärker das »Wir« des Elternpaares heraus und formuliert: »Ich suche ja jetzt nicht die Schuld bei anderen. Wir haben den
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Fehler gemacht, nicht meine Eltern, nicht jetzt irgendwer, wir haben den Fehler gemacht. Es ist ja nun mal so.« (FAM 5) Die anderen Familienmitglieder, mit denen wir sprechen konnten, sind in ihren Beobachtungen stärker außenorientiert. Sie sehen sich selbst eher am Rande des Geschehens. Sie erleben sich in ihrem Handeln als »behindert« oder »abgeblockt« und weniger im Zentrum stehend; selbst wenn sie sich vor allem Sorgen um Lea-Sophie machten, materiell halfen oder auch den Kindeseltern Vorschläge machten, was eigentlich geschehen müsste (Lea-Sophie in den Kindergarten schicken oder einem Arzt vorstellen) oder wenn sie schließlich sogar zum Jugendamt gingen, was sich einem familialen Gesprächspartner im Rückblick als entscheidender Wendepunkt darstellt. Vor allem kann die eigene familiale Vorgeschichte mit der Jetztgeschichte nicht verbunden werden. Die anderen Familienmitglieder erleben sich zwar als am (Fall-)Geschehen beteiligte Akteure, aber zugleich in ihren Möglichkeiten zu helfen geschwächt. Sie fühlen sich gelähmt, mitten drin und zugleich am Rand, außen vor – aneinander interessiert und dennoch ohne Kontakt und handlungsunfähig. Entscheidende Wendepunkte im Geschehen
Natürlich werden Familiengeschichten in der Regel »nur in der Schau nach vorwärts gelebt« und erst im Rückblick, das heißt »in der Schau nach rückwärts verstanden« (Sören Kierkegaard). Dabei deutet sich ein Entwicklungspfad der Ereignisse an, eine Bündelung von Geschichten im Zeitverlauf, die von der rekonstruktiven Familienforschung nach Strauss (1993, S. 56) als »Entwurf« bzw. »Wurf- oder Flugbahn« (»trajectory«) bezeichnet werden, als eine Gestaltung von Ereignissen mit der Möglichkeit, »dass Folgen von Handlungen ihrerseits Bedingungen für weiteres Handeln werden, die dann wiederum weitere Folgen erzeugen« (siehe auch Hildenbrand 2010). In den Rückblickgesprächen mit den familialen Gesprächspartnern werden unterschiedliche Wendepunkte im Handlungsverlauf markiert; sie beziehen sich allerdings allesamt auf den Entwicklungspfad des jungen Paares und dann der jungen Familie und werden nicht als ein »mehrgenerationaler Entwurf« (»trajectory«) gesehen. So heißt es zum Beispiel: »So – und das war eigentlich der ausschlaggebende Punkt, wo ich dann im Oktober oder Anfang November [2006] gesagt habe, ich gehe jetzt mal zum Amt [Jugendamt] – wir kommen an die beiden so nicht ran! So – und ich bin heute noch der
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Meinung, wenn damals ein bisschen reagiert worden wäre, das hätte einer kleinen Korrektur bedurft, an dieser Stelle, einer kleinen Korrektur, dass sie einen Dämpfer gekriegt hätten, da ist eine Aufsicht, nicht Papa, nicht Mama, sondern eine Aufsicht von außen hätte gereicht! Nix wäre da passiert, gar nix! So – und diese kleine Korrektur wollte ich eigentlich haben, beim Amt [Jugendamt]; das war der Sinn, weshalb wir gesagt haben, ich geh mal hin!« (FAM 2/3)
Während hier der Wendepunkt an der Öffnung der Großelternfamilie mütterlicherseits nach außen in Form einer Kontaktaufnahme des Großvaters mit dem Jugendamt als »korrigierender Aufsichtsorganisation« festgemacht wird, stellt ein anderer familialer Gesprächspartner die Geburt des zweiten Kindes im Jahr 2007 als entscheidenden Wendepunkt heraus: »Das ist immer so entlanggegangen und dann das, das wirklich Gravierende war dann als [das zweite Kind] geboren wurde, dass Lea-Sophie dichtgemacht hat. LeaSophie hat, sie hat schon vorher, also das hat mir im Nachhinein die [andere] Großmutter einmal erzählt, hat sie gesagt … Oma, was soll ich noch ein Geschwisterkind haben, ich habe doch meine Puppen …« (FAM 1)
Mit der Geburt des zweiten Kindes ist die – wie sich im Verlauf der Untersuchung herausstellte – ohnehin fragile Paarbeziehung der Kindeseltern herausgefordert, da sich zeigt, dass einfach so »entlanggehen«, ein Weiterso-wie-bisher, nicht mehr länger tragfähig ist. Denn nicht nur Lea-Sophie hat Bedürfnisse, die es zu befriedigen gilt, sondern jetzt müssen sich die Kindeseltern auch noch um einen Säugling kümmern und Lea-Sophie davon überzeugen, dass Geschwisterkinder keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung für eine Familie sein können. So erstaunt auch nicht, dass der entscheidende Wendepunkt im familialen Entwicklungspfad bereits am Beziehungsanfang des jungen Paares ausgemacht werden kann. Die Beziehung der Kindeseltern erweist sich nämlich nicht als »selbst gestaltete Aktion«, sondern als von außen mit angestoßene Beziehungsanbahnung (wörtlich sogar als »Verkupplung«). Sie kann als etwas ausgemacht werden, das sich »so ergeben hat«, wie in der folgenden Interviewpassage deutlich wird:
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»Interviewer 1: Was würden Sie denn sagen, wann die Geschichte anfängt? FAM 4: (atmet tief aus) … Viel früher. Einen genauen Zeitpunkt kann ich nicht sagen, aber bedeutend früher. Und nicht unbedingt, dass es so mit Lea zu tun hatte, sondern überhaupt mit der Beziehung an sich. Interviewer 1: Mit der Beziehung!? FAM 4: Ja. Interviewer 1: Wie ist es denn überhaupt dazu gekommen, dass Sie mit der Kindesmutter zusammengekommen sind? FAM 4: Na, eigentlich durch Verkuppeln von den Eltern. Interviewer 2: Wie verstehen Sie das? FAM 4: Na ja, das war 2001 gewesen; ich wurde gerade einberufen zur Bundeswehr, meine damalige Freundin hat die Zeit genutzt, als ich nicht da war; hat sich jemand anderen gesucht … und, ja, wir waren bei meinem Vater – meine Eltern sind ja geschieden – und haben eigentlich normal zusammengesessen, und dann kam es mit einmal ›Ja, wir haben ja noch eine Tochter, und du könntest ja mal mit ihr telefonieren!‹ Und … dann hat sich das so ergeben, ja, Stück für Stück.«
Im Rückblickgespräch geht es der Kindesmutter nicht so sehr um die Wendepunkte. Sie macht vielmehr deutlich, dass es um eine »Ganzgeschichte« gehen sollte: »Also von Anfang an, über das ganze Leben.« (FAM 5) Es geht ihr gewissermaßen um die gesamte Lebensgeschichte. Im dabei deutlich werdenden Entwicklungspfad lassen sich die folgenden Etappen herausstellen: • • • • •
die schöne Kindheit als Nesthäkchen; die Aufdeckung des Adoptionsgeheimnisses als Schlüsselerlebnis und die Hintergründe der leiblichen Herkunftsfamilie; auf dem Weg in eine unkonventionelle Paar- und Familienbeziehung; vom schwierigen Anfang über den familialen Integrationsversuch zur Konfliktzuspitzung in Lea-Sophies Entwicklungspfad; das Scheitern der familialen Wunschvorstellung in der Tragödie des mehrgenerationalen familialen Scheiterns.
Die erste Etappe wird von der Kindesmutter als »schöne Kindheit«, ja sogar als »perfekte Kindheit so mit meinen Eltern. Habe alles bekommen« erinnert. Und es wird betont:
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»Wie gesagt, so gab es keine Streitereien, keine Schläge oder so, wie manche kriegen. Ja, mit meinem Papa kam ich schon immer richtig gut klar, also ich war schon eine Papakind mehr.« (FAM 5)
Von der Adoptivmutter wird gesagt, sie sei »ein bisschen anders« gewesen, wie folgende Interviewpassage verdeutlicht. »Interviewer 1: Sie sagen, mit der Mutter war es anders? Wie war das anders? FAM 5: Ja, wie war das anders? Interviewer 1: Das sind ja zwei unterschiedliche Menschen. FAM 5: Ja, das ist klar. An sich schon. Ja, ich weiß nicht, wie soll man das erklären? Meine Mutti hat auch so viel gemacht, so für mich. Wir kamen auch gut klar. Aber viel auf das Materielle so. Interviewer 1: Aha. Essen, Anziehen, oder was meinen Sie jetzt mit materiell? FAM 5: Na, ja das Essen, gut anziehen, überhaupt so Sachen kaufen, genieß das, so in dem Punkt hatten wir … Aber das ist halt eben verschieden. Interviewer 2: Also sie war für das Materielle zuständig? FAM 5: Ja, überwiegend, ja. Na ja, vielleicht kann sie auch die Liebe nicht so zeigen, also legt sie auf die materiellen Dinge mehr Wert. Weiß ich nicht. Es war auf jeden Fall nie, dass wir uns groß gesagt haben, also ich habe dich lieb oder so. Ja.«
Jedenfalls sieht sich die Kindesmutter im Rückblick als »Jüngste« und als »Nesthäkchen« und beschreibt: »Ja, na, ich war ja die Jüngste. So das Nesthäkchen. Und meine anderen beiden Geschwister sind ja auch im Heim gewesen. Die haben ja nicht mit bei uns da gelebt.« (FAM 5)
Die zweite Etappe Diese »schöne Kindheit« als »Nesthäkchen« wird jedoch durch ein Schlüsselerlebnis erschüttert, als die Kindesmutter etwa dreizehn Jahre alt ist. Zu diesem Zeitpunkt erfährt sie eher zufällig durch eine Bemerkung ihrer Großmutter väterlicherseits, dass sie gar nicht das leibliche Kind ihrer Eltern sei. Im Rückblickgespräch wird nachvollziehbar, dass damit das gesamte bisherige Bedeutungsgefüge der Familie ins Wanken gerät. Wir zitieren den gesamten Abschnitt:
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»FAM 5: Ja, das Schlimmste, dass man nachher erfahren hat, dass es nicht die leiblichen Eltern sind. Das war so ein Punkt. Was ja ziemlich spät war. Interviewer 1: Wie haben Sie das erfahren? Und wann war das? FAM 5: Ja, wann war das? Wie alt war ich da? Vielleicht dreizehn, zwölf, dreizehn. Also ziemlich spät. Ja und auch nur durch Zufall. Interviewer 1: Wie war der Zufall? FAM 5: Ja, durch meine Oma dann damals. Interviewer 1: Aha. Das war die Mutter vom Vater? FAM 5: Genau. Interviewer 1: Aha. FAM 5: Ja, ich weiß noch, da war ich alleine im Garten. Meine Eltern waren kurz weg, einkaufen oder so. Und, ja, meine Oma und mein Opa kamen dann vorbei zu Besuch. Und dann haben wir so ein bisschen geredet. Und dann sagte sie: ›Na ja, auch wenn es nicht deine richtigen Eltern sind‹, jedenfalls irgendwie so. Ja – und dann hatte ich erst einmal ›Stopp mal‹, so gesagt, ja. Aber noch nichts weiter dazu gesagt. Also ich hatte mir das in dem Moment nicht so anmerken lassen. Ja. Interviewer 1: Was haben Sie da empfunden? FAM 5: Ja, das konnte man gar nicht glauben, so. Interviewer 1: Aha, konnte man nicht glauben. FAM 5: Ja. Ach Gott, was hat sie denn jetzt erzählt? Was hat sie jetzt gesagt? Interviewer 1: Und hat sie dann was darauf gesagt? Haben Sie – FAM 5: Gar nicht erst einmal zu mir. Nein. Interviewer 1: Und erinnern Sie sich noch, wie sie das gesagt haben, wenn sie sagen, das sind ja eigentlich nicht deine Eltern? Wie kamen die darauf? FAM 5: Nein, das weiß ich nicht mehr genau. Aber irgendwie im Gespräch hatte sie das da nebenbei erzählt. Weil, sie dachte wohl, ich weiß das schon. Aber ich weiß es nicht. Interviewer 2: Und dann kamen die Eltern zurück vom Einkaufen? FAM 5: Genau. Da habe ich auch erst einmal noch nichts gesagt. Also ich weiß, ich habe es ein paar Tage noch so für mich behalten. Und irgendwann dann mal, ja, habe ich es rausgehauen. Interviewer 1: Und was haben Sie dann gesagt? Oder haben Sie was gefragt? Oder haben Sie einen Vorwurf gemacht? Oder wie haben Sie darauf reagiert? FAM 5: Ja, ich weiß nicht mehr. Ich glaube, es war irgendwo ein kleine Streiterei oder so damals im Garten. Und da habe ich das dann in irgendeinem Zusammenhang auch gesagt, ihr seid ja nicht meine richtigen Eltern. Irgendwie war das einmal. Aber genau weiß ich es auch nicht mehr.
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Interviewer 1: Aber Sie haben im Kopf noch so als Erinnerung, Sie haben was ›rausgehauen‹? FAM 5: Ja, ja. Ja, ja. Und da kamen sie auch wirklich erst einmal raus. Denn vorher konnte ich das ja noch gar nicht so richtig glauben. Ich dachte, wer weiß, vielleicht hat sie irgendwas Falsches jetzt gesagt. Interviewer 1: Aha. Hatte Ihr Vater eher was gesagt oder Ihre Mutter? Oder haben die Ihnen das erklärt? FAM 5: Ja, nicht wirklich. Also, viel haben sie erst einmal damals nicht gesagt. Interviewer 1: Aber sie haben gesagt, ja, das stimmt? FAM 5: Das kam alles erst nach und nach heraus. Interviewer 1: Und haben Sie dann irgendwas unternommen? Ich sage mal, ich will jetzt meine Eltern kennenlernen, die leiblichen? Oder wollten Sie eher das nicht so? FAM 5: Ja, irgendwann kamen wir auch mal auf das Thema. Wie gesagt, es ging alles nach und nach, dass ich erfahren habe, wer was ist und, ja, also, wer meine richtigen Eltern sind und, na ja. Interviewer 1: Haben Sie überhaupt mit denen Kontakt gehabt oder Kontakt aufgenommen? FAM 5: Mit meinen richtigen Eltern? Da hatte ich Kontakt, ja. Aber das wusste ich ja damals nicht, schon als Kind. Weil, das wurde ja von meinem Papa – Interviewer 1: Ja, wie würden Sie das nennen? Ist Ihr …? FAM 5: Onkel, also mein Onkel war es wohl. Interviewer 1: Ja, das heißt, sie kannten die als Onkel und Tante? FAM 5: Onkel und Tante, genau. Interviewer 1: Und als Sie das dann wussten, das sind meine Eltern, haben Sie mit denen gesprochen? Oder gefragt, wieso ist das so gekommen? FAM 5: Konnte ich nicht. Mein richtiger Vater ist ja schon gestorben. Der war ja schon tot. Ja, und meine Mutter war irgendwo abgehauen, irgendwann. Keiner weiß genau, wohin. Interviewer 1: Die ist auch jetzt noch abgehauen, irgendwohin? FAM 5: Ja. Ich weiß auch nicht, ob sie überhaupt noch lebt. Ich weiß gar nichts.«
In der Rückerinnerung wird herausgestellt, dass die leibliche Mutter (»also die richtige Mutter«) die Tochter nicht haben wollte oder überhaupt mit ihren Kindern generell wahrscheinlich nicht zurechtgekommen war, denn die Weggabe der Kinder war offenbar ein Muster. So führt die Kindesmutter im Rückblick aus:
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»FAM 5: Ja, dieses Warum. Warum war sie so? Ich meine, das war ja nicht nur mit mir so. Mein Bruder ist ja zum Beispiel, mein älterer Bruder ist zum Beispiel aufgewachsen bei meiner Oma und meinem Opa. So wie ich jetzt bei meinen Eltern. Ja und die Große damals, die ist ja früh schon ausgezogen, weil sie auch nicht klarkam dort. Die hat eine eigene Wohnung gehabt, auch ein Kind, einen Mann. Ja und die anderen beiden sind ja später ins Heim gekommen. Interviewer 1: Aha. Das heißt, – FAM 5: Weil sie mit allen nicht klarkam wahrscheinlich. Interviewer 1: Sie kam mit allen nicht klar. FAM 5: Das denke ich mir heute. Meine Mutter.«
Vom Vater – also dem leiblichen Bruder des Adoptivvaters – vermutet die Kindesmutter aber eine andere Haltung: »Also, bei ihm denke ich, bei meinem richtigen Vater, dass er uns haben wollte. Das sind meine Gedanken.« (FAM 5–9) Und in einer bewegenden Wendung führt Lea-Sophies Kindesmutter aus, dass sie auch den Tod ihres leiblichen Vaters (an ihrem siebten Geburtstag im Dezember 1990) im Zusammenhang des Scheiterns ihrer eigenen Herkunftsfamilie sieht: »Interviewer 1: Und dann sagen Sie, Sie sind ein Papakind? Wobei der erste Papa nicht so richtig eine Chance gehabt hat mit Ihnen? Gibt es da irgendwelche Ideen, warum er zu Tode gekommen ist? Oder wurde irgendetwas erzählt? Oder haben Sie irgendetwas im Kopf, was Sie so denken? Denn 1990 ist ja vieles passiert. FAM 5: Na ja, sie haben ihn damals gefunden im See … Ja, und da wurde erst immer gesagt, ob Mord oder Selbstmord, das wurde ja nie so richtig geklärt. Ja und da habe ich auch darüber gesprochen mit meinem Papa jetzt über damals so. Aber, ich denke, er wollte mich. Ich kann es mir nur so vorstellen, dass er sich vielleicht ums Leben gebracht hat oder so, weil er damit nicht mehr klarkam, mit ihr, dass sie die ganzen Kinder weggeben hat. Ja und weil es auch auf dem Geburtstag war sogar. Vielleicht ist er da so lang und hat über alles nachgedacht oder so an dem Tag so gerade. Ich weiß es nicht. Ist schon merkwürdig.«
Mit dieser Unsicherheit in der Herausbildung einer familialen Sinnstruktur muss sich die spätere Kindesmutter nun am Beginn der Pubertät und Jugendzeit auseinandersetzen, und man wird vermuten können, dass dies viel emotionale Kraft gekostet hat. Immerhin konnte sie dennoch auf die Erfah-
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rung als »Nesthäkchen«, Lieblings- und »Papa-Kind« in der »BruderAdoptivfamilie« zurückgreifen. Den Beginn der dritten Etappe beschreibt die Kindesmutter – ähnlich wie der Kindesvater – als einen wenig selbstständigen Paarbildungsprozess, denn auf die Frage, wie sie denn mit ihrem Partner zusammengekommen sei, wird der Anfang eher als ein »Arrangement« der Eltern gesehen: »FAM 5: Durch meine Eltern, meine Mutti. Durch meine Mutti und seinen, ja, seinen Papa, der auch eine Lebensgefährtin, sein Papa. Ja und durch die beiden so. Interviewer 1: Wie kommt das durch die beiden? FAM 5: Also wir haben uns durch die beiden so kennengelernt. Weil sie mich da mitgenommen hat zum Geburtstag und gesagt hat und ja. Interviewer 1: Ja und wie kommt das? Sie waren ein junges Mädchen. Und Sie sagen jetzt, Ihre Adoptivmutter und der Vater von [ihrem späteren Partner]. Wie haben die, also die haben Sie irgendwo eingeladen? Und dann haben Sie den [späteren Partner] getroffen? FAM 5: Genau. Er war auch da. Genau. Interviewer 2: Und hat die Mutti gesagt vorher, da gehen wir jetzt hin, zu einer Feier? FAM 5: Ja, ja, er ist auch da. Und ja, ja. Man kannte ihn ja so schon. Und aus der Kindheit kannte ich ihn ja auch schon vom Sehen, damals. Ja, und dann kam das alles so. Dann hat man sich ein bisschen unterhalten. Interviewer 1: Es gibt da so eine berühmte Frage. Wir nennen es die Millionenfrage. Wie ist es dann gekommen, dass Sie zusammengekommen sind? … FAM 5: Nein, nein. Das ist schon von alleine so, was heißt, von alleine? Das hat sich so ergeben, so in Telefonaten. Denn wir haben noch telefoniert und geschrieben, SMS und so. Ja. Bis dann mal die Frage kam von ihm. Interviewer 1: Die Frage? FAM 5: Ja, und ob man zusammen ist oder irgendwas.«
Da zeigt sich deutlich: Eine – eigenmotivierte – Liebesgeschichte wird hier nicht erzählt. Es kam dann eher alles so, »das hat sich so ergeben«, »bis dann mal die Frage kam von ihm« (und von ihr?), »ob man zusammen ist« und noch unbestimmter – »oder irgendwas«. Jedenfalls scheint in diesem Anfang der Paarbeziehung vieles unklar und unbestimmt zu sein, Telefonate werden geführt, SMS-Botschaften werden ausgetauscht, und dann ist »man eben zusammen«, was freilich keine sichere Grundlage für die weite-
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re Entwicklung ist; zumal alles »ziemlich rasch ging«, wie die Kindesmutter betont: »FAM 5: Nein, ganz genau weiß ich es nicht mehr. Ja. Na ja. Ja, weil er ja in der Woche nicht da war, und dadurch hatten wir telefoniert. Ja, es ging auch alles ziemlich rasch. 2001 sind wir so zusammengekommen, im November so oder Mitte Dezember. Ja und 2002 ist Lea dann schon zur Welt gekommen. Interviewer 2: Und war das geplant oder Zufall? FAM 5: Nein, geplant war es nicht. Kein geplantes Kind. Aber es war gleich gesagt, dass ich es bekommen möchte. Keine Abtreibung oder so. Das kam nicht infrage. Interviewer 2:Und [der Partner]? FAM 5: Ja, hm, er hat nichts groß dazu gesagt damals. Ich hatte ihm das auch am Telefon damals erzählt, so ist es. Interviewer 1: Und erinnern Sie sich noch, was er gesagt hat? FAM 5: Ich weiß nicht genau. Aber ich glaube, ja, dass er sich das auch schon gedacht hat, dann so, weil es mir vorher schon schlecht ist und hier und da. Aber nicht … Also, es war jetzt hier nicht die Riesenfreude. Ja.«
Das junge (unverheiratete) Paar, das zudem im ersten Jahr des Beziehungsaufbaus getrennt voneinander lebt (die schwangere junge Frau lebt bei ihren Adoptiveltern, der werdende Vater ist bei der Bundeswehr und reist an den Wochenenden an), bekommt also »ziemlich rasch« »kein geplantes Kind«. Die Kindesmutter – die nicht selbst entscheidet, ob das Kind zur Welt kommt, sondern »es war gleich gesagt«, dass sie »es bekommen möchte. Keine Abtreibung oder so« – und der Kindesvater beginnen die Gründung ihrer eigenen Familie ohne »Riesenfreude«. Das erwartete Kind, Lea-Sophie, wird dann am 7. August 2002 »acht, sieben Wochen zu früh« nach Kaiserschnitt geboren und elf Wochen mit Sondenernährung in der Frühgeborenenstation der Klinik versorgt (vgl. Kapitel 4.1). Die Kindesmutter erinnert sich im Rückblickgespräch, dass dies keine einfache Situation war, und kommt gleich darauf zu sprechen, dass dieser Anfang (anders als beim fünf Jahre später geborenen zweiten Kind) beziehungsmäßig nicht einfach war. Sie sagt: »FAM 5: Ein Frühchen. Ja, waren das, acht, sieben Wochen zu früh. Interviewer 1: Und dann waren Sie in der Klinik und die Lea auch? Wie ging es Ihnen damit?
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FAM 5: Ja, so war es jetzt erst einmal ein Kaiserschnitt bei Lea. Weil sie zu früh, sie musste ja geholt werden. Und, na gut, da war natürlich auch nicht gleich so eine feste Bindung. Weil, ja, man gleich getrennt war. Weil, auf die Kinderstation kam sie dann in den Brutkasten. Interviewer 1: Und Sie waren gleich getrennt? FAM 5: Genau. Ja. Da konnte man natürlich immer herüberfahren. Von außen erst, dann konnte man nur Händchen ein bisschen halten oder so. Es ging ja so noch nichts … Interviewer 1: Und konnten Sie das Kind dann relativ bald schon sehen? Oder waren Sie mehrere Tage – FAM 5: Nein, den nächsten Tag. Interviewer 1: Den nächsten Tag? FAM 5: Ja. Aber auch erst viel später, also einmal dann. Ich musste ja dann auch erst einmal langsam wieder aufstehen und so. Es ging ja gar nicht gleich. Ja. Ja und zuerst wurde sie durch eine Sonde halt so ernährt, eine Spritze. Da hat man auch nicht viel machen können. Und ein bisschen später fingen sie dann an mit Fläschchen und so geben. Interviewer 1: Ja. Wie lange war die Lea denn in der Klinik damals? FAM 5: Elf Wochen. Interviewer 1: Elf Wochen. Aha. Und dann waren Sie aber schon zu Hause bei Ihren Eltern? FAM 5: Ich war schon zu Hause. Interviewer 1: Und der [spätere Partner] war noch bei der Bundeswehr und kam dann immer zu Besuch? FAM 5: Genau. Ja, der war ja bei der Bundeswehr dann. Interviewer 1: Aha. FAM 5: Ja, und er kam immer am Wochenende. In der Woche war er weg, und am Wochenende kam er, auch zu meinen Eltern. Ja. Na gut, zuerst lief es alles auch noch ein bisschen. So, wir sind immer hingefahren ins Krankenhaus. Habe meine Lehre zu Ende gemacht, auch noch weitergemacht nach den Wochen.«
Hier wird ein besonderes Familienmuster deutlich: Das junge Paar lebt nicht zusammen, und es kommt zu einer Integration des Enkelkindes in die Adoptivfamilie der Kindesmutter, die dort auch weiter bleibt, obwohl sie eine eigene kleine Wohnung hätte, wo sie aber erst nicht wirklich wohnt. Lea-Sophie hat es also faktisch mit zwei Mutterfiguren (der Adoptivgroßmutter und der Kindesmutter) und mit einem anwesenden Adoptivgroßvater
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und einem zumeist abwesenden Kindesvater zu tun. In der Tat bleibt die Kindesmutter in der Rolle des (Adoptiv-)Kindes, und der Kindesvater wird, wie die Adoptivgroßmutter erinnert, gewissermaßen ebenfalls »adoptiert«: »Der war auch wie unser Kind.« (FAM 3) Und damit ergibt sich ein kompliziertes Beziehungsgefüge, in dem sich allerdings ein innerer Konfliktkern zwischen dem Einbezug in die Herkunftsfamilie der Kindesmutter und einer selbstständigen Familiengründung des jungen Paares immer mehr verdichtet. Irgendwann, so heißt es im Rückblick, werden die daraus entstehenden Spannungen »zu viel«: »Interviewer 1: Erinnern Sie sich noch, wie es Ihnen damit ging? Also nach elf Wochen kommt die Lea in das Haus Ihrer Eltern. Und Sie sind da auch. Der Vater ist aber nicht da. Der kommt nur auch am Wochenende. Und Sie sagen aber, der kommt auch in das Haus hinein? FAM 5: Ja. Interviewer 1: Und was war Ihre Rolle? Waren Sie die Mutter? Oder? FAM 5: Ja, eigentlich habe ich das schon gemacht. Also ich habe Fläschchen dann gegeben. Ich habe das Windelnwechseln gemacht. Zumindest, wenn ich da war. Ja. Auch nachts dann aufgestanden. Gut, das war jetzt nicht oft, nur einmal so, weil sie es ja schon vom Krankenhaus so drin hatte, diesen Rhythmus damals. Aber das ging eigentlich alles. Es war alles so leicht, das Fläschchen geben. Und so hat sie auch gut geschlafen. Aber irgendwann wurde das, ich weiß nicht, zu viel, das mit meinen Eltern und mit meiner Mutti besonders dann auch. Interviewer 1: Was wurde der – FAM 5: Na, dass man selbst auch so machen wollte, selbst für sich auch. Interviewer 1: Aha. Sie sagen ›man‹. Sie wollten selbst etwas machen? Hatte ›man‹ das Gefühl, das konnte ›man‹ nicht so gut? Oder? FAM 5: Ja, es war ein bisschen, ich meine jetzt mit Oma und Opa unter einem Dach dann leben, na klar. Interviewer 2: Das wurde Ihnen dann zu viel? FAM 5: Ja, viel Reingerede nachher, so nach und nach. Ja. Nebenbei hatte ich ja auch schon eine Wohnung, eine Zwei-Raum-Wohnung. Die hatte ich ja schon eine Zeit länger. Und ich weiß nicht mehr genau, an welchem Tag es war, aber irgendwie hatte ich mich mit meiner Mutti gestritten. Und da hat sie mich dann auch eigentlich rausgeworfen.«
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Die Kindesmutter verlässt – aber ohne Lea-Sophie – ihre Adoptivfamilie, obwohl sie Lea-Sophie eigentlich mitnehmen wollte, was die Adoptiv(groß)mutter jedoch zunächst nicht zulassen kann – möglicherweise aus der Sorge heraus, dass die junge Mutter nicht in der Lage sei, Elternverantwortung zu übernehmen: »FAM 5: Das wollte sie nicht. Na, meine Mutti. Mein Papa war ja nicht da zu dem Zeitpunkt. Ja, wollte ich mitnehmen. Ich wollte, und sie sagte nein. Lea bleibt hier. Interviewer 1: Und erinnern Sie sich noch, worüber der Streit ging? FAM 5: Ich weiß es nicht mehr genau. Vielleicht wegen der Lehre oder so. Ich weiß nicht mehr so genau. […] FAM 5: Na, wie gesagt, zum Anfang hat man ja gemacht, nachdem ich dann rausgeflogen bin und Lea den Tag ja nicht mitgenommen habe oder nicht durfte. Da war ja auch gar kein Rankommen. Meine Mutti hat sie ja damals gleich weggezogen aus der Schale von mir so. Interviewer 1: Sie hatten sie schon in der Schale? FAM 5: Ja. ja, ich wollte ja dann los. Interviewer 1: Das hat noch niemand erzählt. FAM 5: Wie bitte Interviewer 1: Das hat noch nie jemand erzählt. FAM 5: Nee? Interviewer 1: Nein. Also Sie hatten die Lea in der Schale. FAM 5: In so einer Autoschale, ja. Weil ich ja auf dem Flur, ich wollte ja los, in meine Wohnung. Interviewer 1: Und da hat sie das genommen? FAM 5: Ja, genau. Da hat sie die Schale, ›nein, Lea nimmst du nicht!‹ Interviewer 1: Das Kind bleibt hier. FAM 5: Genau. Ja. Interviewer 2: Und Sie sind? FAM 5: Da bin ich los erst einmal. War ja auch nichts zu machen. Ich konnte ja rumdiskutieren, aber na ja. Dann bin ich erst einmal los … Aber dadurch fing das ja an, wie gesagt, weil Lea da geblieben ist. Ja, bis wir sie wieder zu uns geholt haben, nachher, [der Partner] und ich, das waren zwei Jahre ungefähr. Interviewer 2: Und in den zwei Jahren wollten Sie eigentlich nicht, dass das so war, dass die Lea da wohnt?
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FAM 5: Ja, eigentlich, ich weiß auch gar nicht, warum man da nicht noch mal so. Aber dadurch ist das ja alles so gekommen, dass sie erst einmal da bis zum zweiten Lebensjahr erst einmal aufgewachsen ist. Und dass wir dann, ich meine, zu Besuch und so war man ja da. Auch jeden Tag, mal so. Interviewer 1: Und wenn Sie sich erinnern, wie war Ihr Verhältnis zu dem Kind? Denn man kann sich ja vorstellen, die denkt, mein Zuhause ist bei [der Adoptiv(groß)mutter] und [dem Adoptiv(groß)vater]. FAM 5: Ja, ein bisschen war es so. Ich meine, sie wusste ja auch immer, das sind Oma und Opa da, und das ist Mama. Aber es war anders. Ja. Klar, nicht ganz so fest, nicht ganz eng, das ist normal. Aber ich weiß auch gar nicht, warum wir das nie irgendwie früher gemacht haben.«
Der Adoptiv(groß)vater gibt schließlich – nachdem Lea-Sophie fast zwei Jahre bei den Adoptiv(groß)eltern aufgewachsen ist –, mit diskontinuierlicher Anwesenheit und konkurrenter Mitverantwortung der eigenen Eltern – den Anstoß, doch die eigene Familiengründung zu wagen, was sich aber alsbald als ein außerordentlich schwieriges Unterfangen darstellt. Während die Kindesmutter mit der sich nur langsam entwickelnden Tochter – die als ruhiges, ja, als passives Kind, das immer schon wenig isst, beschrieben wird – ein eher geschwisterliches Verhältnis entwickelt (mit gemeinsamem Spielen, Erzählen und auch Rumalbern), bleibt der Kindesvater deutlich am Rand, in einer Rolle als »Fremder« (FAM 4), vor dessen disziplinierenden Erziehungspraktiken (schimpfen, ärgerlich werden) sich die Tochter angstvoll zurückzieht und der keinen wirklichen Zugang und warmherzigen Kontakt zu seiner Tochter herstellen kann. Hinzu kommt, dass in der Paarbeziehung offenbar schnell das gegenseitige Vertrauen verloren geht und sich Streit entwickelt – und dann »ist das Vertrauen weg irgendwann« (FAM 5). Und die ganze Abschottung gegenüber den Herkunftsfamilien stellt sich als nicht tragfähige Notlösung heraus, zumal mit der Arbeitslosigkeit auch die materielle Not der jungen Familie zunimmt. Im Innenverhältnis des Paares und in der Eltern-Kind-Beziehung ist diese unkonventionelle, prekäre Familie gespalten. Im Verhältnis zur Außenwelt abgeschottet und zugleich auf widersprüchliche Art und Weise abhängig, scheitert sie mit ihrer Fantasie, um Lea als »kleine Prinzessin, eine liebe… Ja, so eine kleine Süße. So ein kleines Püppchen« (FAM 5) eine »richtige Familie« zu werden. Und so lautet auch die bilanzierende Feststellung der Kindesmutter im Rückblick, die mehrmals wiederholt wird: »Ja, wir waren nie eine rich-
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tige Familie. Wir waren nie eine richtige Familie, wie das normal sein sollte … Wir waren auch nie so eine glückliche Familie, wie es so sein sollte: Vater, Mutter, Kind.« (FAM 5) Darum gerät diese Nicht-Familie mit zwei noch nicht erwachsenen, einander kaum noch liebenden und vertrauenden jungen Eltern und der nur unsicher an die Mutter gebundenen, aber eigentlich allein auf sich gestellten, einsamen, faktisch vaterlosen Tochter LeaSophie in eine ausweglose Situation. Nach einem über Jahre hinweg sich schleichend zuspitzenden Prozess der emotionalen Vernachlässigung sieht Lea-Sophie nach der Geburt des zweiten Kindes im September 2007 offenbar keinen anderen Ausweg mehr als die Flucht in eine lebensgefährliche Essensverweigerung. Völlig allein auf sich gestellt, ohne sichere und verlässliche Bindung zu ihren leiblichen Eltern und abgeschottet von ihren Großeltern mütterlicherseits, die ihr in den ersten beiden Lebensjahr sozialen Halt, Nähe und Geborgenheit gegeben hatten, tritt sie eine Fluchtbewegung in den Tod an. Als emotional vernachlässigtes Kind weiß sie nicht anders auf sich aufmerksam zu machen, als jegliche Nahrung und Flüssigkeit zu verweigern. Sie hofft zwar auf die Liebe und das Verständnis ihrer leiblichen Eltern. Diese erkennen und verstehen jedoch nicht rechtzeitig, in welch einer lebensgefährlichen Situation sich ihr Kind befindet. Sie sind, miteinander und mit der Außenwelt im Konflikt, in eine regelrechte Zwickmühle geraten, die sie handlungsunfähig werden lässt. Sie bemühen sich zwar, Lea-Sophie davon zu überzeugen, wieder normal zu essen, schaffen es aber nicht, sie emotional zu erreichen. Zudem verpassen sie den richtigen Zeitpunkt, um in die Außenwelt zu gehen und professionelle Hilfe zu holen. In der Folge überlassen sie LeaSophie ihrem Schicksal. Die Kindeseltern (insbesondere die Kindesmutter) versuchen zwar noch, das Kind zum Trinken und Essen zu bewegen, und kümmern sich auch um die notdürftige Versorgung ihrer Wunden (Durchliegegeschwüre), flüchten sich aber immer mehr in eine Scheinwelt und verdrängen, wie es tatsächlich um Lea-Sophies Gesundheit steht. Auf diese Weise kommt es zur fünften Entwicklungsetappe, die vor dem Hintergrund eines mehrgenerational nicht verstandenen und darum auch nicht zu bewältigenden Konflikts mit dem Tod Lea-Sophies durch Verdursten und Verhungern in die Tragödie des familialen Scheiterns führt. LeaSophies Not wird von beiden Eltern durchaus wahrgenommen, aber nicht verstanden. Nach der Geburt des jüngeren Kindes ist die Mutter mit ihren schwachen Lösungsversuchen und den Kräften am Ende. Der Vater – in ei-
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ne körperlich-hygienische Selbstverwahrlosung zurückgefallen – ist faktisch abwesend und zieht sich immer mehr in eine adoleszente Traumwelt zurück. Beide können einander keine Hinweise und Hilfen geben, wie sie Lea-Sophie erreichen könnten. Sie sind ratlos, und Hilfe von außen würde – wie sie befürchten – nur noch ihr öffentliches Scheitern besiegeln. Und so schildert die Kindesmutter die letzten Wochen seit der Geburt des zweiten Kindes bis zu Lea-Sophies Tod. Wir zitieren die wesentlichen Passagen: »Interviewer 1: Und nach zwei Tagen sind Sie nach Hause gegangen? FAM 5: Ja, weil ich keine Ruhe hatte, auch so. Im Krankenhaus da ewig. Interviewer 1: Weil Sie unruhig waren, dass es sonst – wie sagen Sie? – ›drunter und drüber‹ geht? FAM 5: Drunter und drüber, ja. Zu Hause, ja. Genau. Interviewer 1: Dass [der Partner] … FAM 5: Na, nicht alles so packt. Genau. Interviewer 1: Aha. FAM 5: Ja, weil er ja sonst auch nie groß, ja und deswegen. Interviewer 2: Und wie war es dann nach zwei Tagen? FAM 5: Wo ich nach Hause kam? Da musste ich erst einmal alles machen. Die ganze Wohnung, alles so. Interviewer 1: War Chaos, oder? FAM 5: Ja, das war das Erste. Erst einmal alles groß aufräumen damals. Interviewer 1: Und plötzlich zu viert? FAM 5: Und dann zu viert sogar. Interviewer 2: Und war es dann eine richtige Familie? FAM 5: Nee. Es hatte sich ja so nichts geändert. Dadurch wurde es ja noch mehr alles. Ja, irgendwann so Eifersucht von Leachen auf [das zweite Kind]. Interviewer 1: Wie hat sich das gezeigt? FAM 5: Ja, wie hat sich das gezeigt? Mit Essensverweigerung. Interviewer 1: Hat sie gleich da aufgehört oder nicht mehr gegessen, als Sie mit dem Kind? FAM 5: Sofort, als ich heimkam nicht, nein, nein. Das kam ein paar Tage, dann ging es los. Kaum was essen, war schwierig. Also, da saß ich manchmal stundenlang. Interviewer 1: Und Sie hatten den Säugling? FAM 5: Den [Säugling] habe ich im Arm gehabt. Interviewer 1: Okay.
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FAM 5: Den musste ich ja fast immer, ein paar Minuten, dann hat er wieder geschrien und na ja. Na ja, komplett verändert. Wir haben nicht mehr so gespielt halt zusammen, wie vorher, wo ich noch mit Lea. Ja. Interviewer 1: Und haben Sie sich Gedanken gemacht, dass sie nicht mehr essen wollte? FAM 5: Natürlich, man hat ja immer versucht. Man hat ja, klar, man weiß ja, jeder Mensch muss essen. Oder jedes Lebewesen muss essen. Interviewer 1: Die meisten Menschen essen von alleine. FAM 5: Genau. Eigentlich. Aber es war mehr wie ein Kampf. Dass sie mal so ein Stullchen dann auch isst und, und, und. Dann hat man nachher schon versucht mit Pudding oder so. Aber es wurde immer schwieriger. Ja, da habe ich auch gesagt: ›Komm [Partner], nun mach doch mal was. Oder sage doch mal was. Tu doch mal bitte irgendwas, irgendwie, ja!‹ Interviewer 1: Und dass Sie die Idee gehabt hätten, irgendwie jemanden zu fragen, wir stehen hier vor einem Rätsel mit Lea. Wir versuchen ihr irgendwie, wie sagen Sie, Pudding oder ihr was zu essen zu geben. Aber sie isst nicht. FAM 5: Ja und das war der größte Fehler, wenn man jetzt zurückdenkt. Dass man sich keine Hilfe geholt hat, rechtzeitig. […] Ja. Entweder den Mund gar nicht aufgemacht oder wenn, dann das wieder ausgespuckt. Und ja, alles draufgelassen auf dem Teller. Interviewer 1: Das heißt, Lea hat nichts angenommen von Ihnen. FAM 5: Genau. Interviewer 2: Und was hat das gemacht zwischen Ihnen und Ihrer Tochter, in der Beziehung? Da war dann der Säugling, der hat auch viel Zeit gekostet. So wie Sie erzählen, hat er viel geschrien, musste viel herumgetragen werden. FAM 5: Immer da, also man ist total überfordert in dem Moment. Total überfordert. Das eine Kind, klar, kriegt in dem Moment Fläschchen oder was auch immer. Zuerst habe ich auch noch gestillt. So, dann Lea will nicht essen und sitzt dann da, Kind im Arm, den [Säugling]. Dann so: ›Komm Lea, iss bitte!‹ Ja, dann ist man total am Ende. Und dann noch hier [Partner]: ›Komm, mach mal was, bitte!‹ ›Nee!‹ und: ›Ich kann das auch nicht!‹ Ja, und man stand da. Interviewer 1: Und haben Sie sich beraten miteinander und haben gesagt, was machen wir denn jetzt? Oder? Oder es wird kompliziert. FAM 5: So richtig nicht. […] Interviewer 2: Das heißt, Sie waren auch ein Stück weit gelähmt?
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FAM 5: Ja. Und dann komm, sie soll eigentlich wieder essen. Es wurde in der Zeit nur schlimmer und schlimmer. Interviewer 1: Und waren Sie verzweifelt oder haben Sie geweint? Oder haben Sie mit [dem Partner] dagestanden und haben gesagt, das geht jetzt alles nicht oder geht den Bach runter? FAM 5: Na, wie gesagt, oft so, ja, ich habe ihm oft gesagt: ›Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht, was wir machen sollen.‹ Das habe ich ihm auch oft gesagt: ›Na, jetzt versuch du mal!‹ Dann: ›Nee, du weißt doch, ich kann das nicht. Und das macht sie bei mir, bei mir isst sie auch nicht hier.‹ Und da … Interviewer 2: … gab es irgendwann den Punkt … FAM 5: Und dann habe ich gesagt: ›Dann nimm wenigstens mal den [Säugling] kurz.‹ Aber das war auch nur kurzzeitig dann und ja. So kümmerte man sich, dann waren auch noch die Tiere. Von denen wusste man ja auch, die Tiere, die warten, musste man ja auch noch alles nebenbei und ja. […] Ja, man hat gedacht, man kriegt das selber hin und hat probiert. Ja. Interviewer 1: Irgendwie? FAM 5: Dann hat man auch schon probiert mit Traubenzucker noch, auch in die Getränke dann, rein so und ja, nachher wollte man sogar noch mit so einem Milchfläschchen versuchen von dem [Säugling]. Interviewer 1: Aha. Interviewer 2: Und wie war das dann? FAM 5: Um überhaupt irgendwie was – Interviewer 1: Und hat sie das zurückgestoßen? Oder hat sie die Flasche gar nicht mehr genommen? FAM 5: Nein, das haben wir ja gar nicht mehr. Das war mir nachher auch schon so ein bisschen, als das weiter schon war, immer noch so erst einmal versucht und hier und da. Interviewer 2: Und warum war das nicht mehr? Dann haben Sie es komplett aufgegeben gehabt, oder? FAM 5: Na, das mit dem Fläschchen, das haben wir nicht mehr gemacht. Das wollten wir, das hatten wir geplant. Interviewer 2: Und wie war das dann, als Sie gemerkt haben, dass es dann doch nicht geklappt hat mit der eigenen Lösung? FAM 5: Der war richtig, also der Abend war Horror. Das war alles wie ein schlechter Alptraum. Interviewer 1: Ja. Das war schon der Abend davor, ehe sie starb oder so?
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FAM 5: Wir sind ja direkt den Abend, ja, eigentlich saß sie auch so, saß sie noch auf ihrem Stuhl. Und wir wollten noch kurz mit den Hunden raus, so eine Runde um den Block gehen schnell, was man manchmal abends noch kurz gemacht hat, wenn es schon später war. Sie lag dann im Bett von uns, auch manchmal kurz. Ja, und als wir dann hochkamen, saß sie schon irgendwie so zusammengesackt in dem Stuhl. Blau angelaufen, komplett. Interviewer 1: Wie ging es Ihnen damit? FAM 5: Schrecklich. Ich bin sofort, ich habe erst einmal alles stehen und liegen gelassen. Den [Säugling] hatten wir ja auch mit dabei in der Schale. Der ist nur rein und gleich angerufen. Aber der war ja noch in der Küche irgendwie und dann: ›[Partner], komm her, hier ist, ja.‹ Und zuerst haben wir damals immer noch gedacht, na, wir wollten es noch irgendwie schönreden. Erst haben wir ja damals immer noch gedacht, sie hat sich irgendwie abgeschnürt am Hals, weil sie auch so blau angelaufen war. Ja, und mit ihrer Hose. Ja, ich wollte sie noch in den Arm, halt gerufen: ›Komm mal her und mach irgendwas, tu was!‹ und Zittern, ja. Interviewer 1: Ja, kann man gut verstehen. FAM 5: Wusste ich gar nicht mehr. Ich hatte sie dann im Arm. Er ist dann irgendwann runtergelaufen zum Auto, weil das Handy noch im Auto lag. Ja. Hat er dann den Notarzt gerufen. Und dann, ja. Dann hat man immer noch versucht, sie wach zu machen, weil, die Augen waren alles noch ein bisschen so und angesprochen. Versucht auch mit Wasser irgendwie und ja. Das war Horror, alles ein Alptraum.«
Gelähmt von ihren eigenen Ängsten, beide Kinder zu verlieren oder als gescheiterte Eltern dazustehen, wenn sie Hilfe holen würden, können die Kindesmutter und der Kindesvater den Hungertod ihrer verzweifelten Tochter nicht verhindern und driften in die Tragödie des Scheiterns ihres eigenen Familienprojekts. Und so werden sie unschuldig (weil emotional verstrickt und handlungsunfähig) schuldig. Man sieht, in den Rückblickgesprächen werden unterschiedliche Zeitabschnitte als wesentlich markiert: • • •
die Vorgeschichte mit ihrer Kette traumatischer Lebenserfahrungen und struktureller Beziehungskonflikte von 1983 bis 2007; der von Dritten arrangierte bzw. angestoßene Beginn der Paarbeziehung (2001); die ersten beiden Kindheitsjahre von Lea-Sophie im Haus der Großeltern (2003–2004);
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der schwierige Versuch, mit Lea-Sophie zusammen eine Familie zu werden (mit der Herausnahme des Kindes aus der Krippe); den Kampf der Großeltern mütterlicherseits um einen Zugang zur jungen Familie (2005–2007) und die Kontaktaufnahme des Großvaters mütterlicherseits mit dem Jugendamt (November 2006 und Mitte 2007); die Geburt des zweiten Kindes (September 2007).
Damit werden unterschiedliche Geschichten erzählt: • •
• • •
die Geschichte einer unkonventionellen (neu zusammengesetzten) Familie mit verschwiegenen Adoptionsverhältnissen; die Geschichte eines sich ergebenden Paarbeziehungsarrangements und konfliktreichen Familiengründungsprozesses, die beide schließlich scheitern, die Geschichte der erfolglosen Einschaltung einer staatlichen Behörde (des Jugendamts), die Geschichte eines lebensgefährlichen Eltern-Kind- und Geschwisterkonflikts, die Geschichte eines an der eigenen Eifersucht scheiternden Paares.
Dementsprechend werden auch die Gründe gefasst, mit denen sich unsere familialen Gesprächspartner das Geschehen erklären. Gründe und Erklärungen für das Geschehen
Der Kindesvater folgt in seinen Erklärungen dem Entwicklungspfad des Beziehungskonflikts. Er wird allerdings nicht nur als Paarkonflikt entfaltet. Anfangs stehen vielmehr Spannungen mit der Mutter seiner Partnerin (der faktischen Schwiegermutter) im Vordergrund, die den Freund der Tochter im Laufe der Zeit als deren Lebenspartner mit seinen Lebens- und Erziehungsvorstellungen nur bedingt anerkennen und annehmen kann. Der daraus entstehende Konflikt schaukelt sich nach und nach hoch und kann in der Folge nicht bearbeitet und gelöst werden. So heißt es zum Beispiel im Rückblickgespräch: »FAM 4: Ja! Na ja, anfangs lief das eigentlich auch alles ganz gut. Und dann im Laufe der Zeit habe ich dann mal Ärger gehabt mit der Mutter, also mit der Mutter
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meiner Partnerin, und … danach war eigentlich mit ihr [der Mutter der Partnerin] direkt nur noch Streit und, na ja … das hat sich denn alles noch weiter hochgeschaukelt … Interviewer 2: Erinnern Sie noch, worum es bei dem Streit ging? … mit der Mutter ihrer Partnerin – der Adoptivmutter? FAM 4: Genau weiß ich das nicht mehr; ich denke mal, dass wir verschiedener Meinung waren und dass ich halt – nicht nachgegeben hab, war der ausschlaggebende Punkt!«
Der sich daraus entwickelnde Konflikt mit der Adoptivmutter der Partnerin gefährdet auch, überhaupt in der Familie der Partnerin anzukommen. So bleibt der spätere Kindesvater – wenn auch die Beziehung zum faktischen Schwiegervater weniger konfliktreich ist – ein Außenseiter, wie in der folgenden Textpassage anklingt: »FAM 4: … ich wurde da ja nicht ernst genommen! Überhaupt nicht! Interviewer 1: Von wem nicht? FAM 4: Von, von der Familie meiner Partnerin! Ich war ja nur – zu dem Zeitpunkt schon – nur der Erzeuger! Als Vater wurde ich ja die gesamte Zeit nicht angesehen! Interviewer 2: Aha. Von allen nicht, oder nur von den beiden? FAM 4: Zu dem Zeitpunkt nur von der Mutter meiner Partnerin, also von dem Vater nicht! Und zum späteren Zeitpunkt hat meine Partnerin diese Meinung dann auch angenommen, und dann hatte ich dann ja gar nix mehr zu melden!«
Es sind diese beiden Handlungs- und Kommunikationsmuster – die grundlegende Beziehungsunsicherheit und die Beziehungsspaltung mit einer Außenseiterrolle des Kindesvaters –, die dann, als die jungen Eltern schließlich nach zwei Jahren ihre kleine und sich nur langsam entwickelnde Tochter Lea-Sophie im Versuch einer verspäteten Familiengründung zu sich nehmen, zu einer familialen Konstellation führen, die nicht mehr zu managen und zu bewältigen ist. Der Kindesvater hat dies im Rückblick so formuliert: »Interviewer 2: Aha. Und Lea war aber weiter bei den Großeltern? Wie ging es Ihnen damit? FAM 4: Ein bisschen komisch, weil eigentlich hätte sie ja bei uns sein sollen, aber ich wusste auch ganz genau – bei Familie …, also bei den Eltern – geht’s Lea gut,
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und da sind wir ja auch noch regelmäßig hingefahren! Das war ja denn, wo die Streitereien angefangen und intensiver wurden, da haben wir uns dann, ja, abgekapselt und hatten auch nicht mehr so viel Kontakt zu Lea – eine Zeit lang, und haben uns dann aber besonnen und haben dann gesagt: ›Jetzt ist es egal, jetzt holen wir sie nach Hause und dann … bauen wir die Familie auf!‹«
Und in einer anderen Passage heißt es: »Interviewer 2: Und … weil Sie … das beenden wollten, … also faktisch eine Familie gründen wollten – haben Sie gesagt, die Lea soll doch zu Ihnen kommen? FAM 4: Ja. Interviewer 2: Hat es darüber eine Einigung gegeben? Oder war das sehr schwierig? Oder kontrovers? FAM 4: Es war s c h w i e r i g ! Weil, wir hatten das die ganze Zeit über immer mal wieder versucht. Dann hieß es: Ja, und sie wissen nicht und: ›Kommt ihr denn mit ihr zurecht und kriegt ihr das hin?‹ Und dann haben wir gesagt: ›Na gut, passt auf, dann lassen wir es so, wie es jetzt ist, … Lea geht’s ja so gut‹ Und dann hieß es aber auch immer wieder: ›Ja, ihr müsst sie aber auch mal zu euch nehmen, wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten!‹ Also, das war, generell, was wir gemacht haben, war falsch! Und dann kam der Punkt nachher, wo wir gesagt haben: ›So, jetzt ist uns egal, was ihr sagt!‹ Interviewer 2: Wann war das? FAM 4: … Viel zu spät! Interviewer 2: Viel zu spät!«
Ebenso wichtig scheint die andere Seite des Beziehungskonflikts zu sein, wie vor allem die Kindesmutter deutlich herausstellt: der Konflikt in der Paarbeziehung der beiden jungen Leuten, die am Anfang ihrer Beziehung sich nur an den Wochenenden – in der Herkunftsfamilie der Partnerin – sehen können, da der spätere Kindesvater von Lea-Sophie bei der Bundeswehr außerhalb Schwerins stationiert ist; dabei bleibt es auch, als das gemeinsame Kind Lea-Sophie als Frühgeburt am 7. August 2002 geboren wird, aber – nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in der Frühgeborenenstation der Geburtsklinik – keine Aufnahme in der neuen Familie ihrer beiden Eltern findet. Stattdessen wird das Kind in den Haushalt der Großbzw. Adoptiveltern integriert.
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Der Eifersuchtsstreit, der sich zwischen den jungen Partnern entwickelt, signalisiert, dass es auch im Paarverhältnis um eine grundlegende Unsicherheit geht. So heißt es im Rückblickgespräch: »FAM 4: … aber dann gab es ja im Laufe der Schwangerschaft auch noch Streitereien und … na ja. Interviewer 2: Worum gingen die? FAM 4: Ja, das ging eigentlich darum, dass meine Partnerin gedacht hat, ich würde sie betrügen! Und dass ich wieder Kontakt zu meiner, mmh, vorigen Freundin hätte, weil ich die Nummer wieder drinnen hatte, bei mir im Telefon, weil ich noch was zu klären hatte mit ihr und, ja, mein Fehler, ich habe sie damals angelogen, weil ich Stress vermeiden wollte, und das war so ein Knackpunkt. Da gab es dann öfter mal Streit.«
Es fällt den jungen Leuten ersichtlich schwer, ein gegenseitiges Grundvertrauen und zuverlässige Loyalitätsgefühle zueinander zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Beide Partner wünschen sich zwar eine von Liebe und Anerkennung getragene Beziehung, sind jedoch kaum in der Lage, dem Partner oder der Partnerin Halt zu geben und an ihm bzw. ihr festzuhalten. So untergräbt die frei flottierende Beziehungsangst die unbefriedigten Beziehungswünsche, und es bleibt nur Klammern oder Spaltung, zumal ihnen unter der Woche nur sehr wenig Zeit zur Verfügung steht, um sich wirklich kennen-, lieben und akzeptieren zu lernen. Das Handlungs- und Kommunikationsmuster des Klammerns und des Spaltens gilt auch für die Eltern-Kind-Beziehung. Der Versuch, eine Familie zu werden, kann nur in einer zur »Festung« (Richter 1972, S. 90ff.) abgekapselten Notgemeinschaft realisiert werden. In der Folge kommt es nach innen zu einer rigiden Aufgaben- und Beziehungsspaltung zwischen Vater und Mutter, und im Verhältnis zur Tochter Lea-Sophie zu einem unsicheren und konfliktreichen Eltern-Kind-Verhältnis. Schließlich scheint die Beziehung des jungen Paares (nach einem erneuten Eifersuchts- und Vertrauenskonflikt) zum Jahreswechsel 2006/2007 endgültig zu scheitern, und der Kindesvater will sich von der Kindesmutter trennen. Dennoch kommt es noch einmal zu einer Versöhnung, weil der Kindesvater an der Utopie einer »glücklichen Familie« festhält und nicht will, dass Lea-Sophie zu einem Trennungskind wird (eine Erfahrung, die er selbst gemacht hat); dies führt
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ungeplant zu einer erneuten Schwangerschaft und schließlich zur Geburt des zweiten Kindes im Herbst 2007. Lea-Sophie, bereits seit Jahren am Rande dieser vom Zerfall bedrohten Kleinfamilie, zieht sich daraufhin immer mehr zurück. Sie verweigert schließlich überhaupt, noch etwas zu trinken und zu essen, und weist jegliche Nahrungsaufnahme von sich, obwohl sie, da emotional vernachlässigt, vermutlich bereits an einer chronischen Unterernährung leidet (vgl. Institut für Rechtsmedizin 2008). Das Einzige, was ihr in dieser von mehrfachen Spaltungen zerrissenen »kleinen Welt« ihrer Eltern bleibt, die einander fremd und unerreichbar geworden sind, ist der totale Rückzug in den stummen Protest, der in die Katastrophe führt. Es ist dies eine verzweifelte, selbstgefährdende Aktion, die die irritierten, hilflosen und in ihren Gefühlen befangenen Eltern (die alle Brücken zur Außenwelt abgebrochen haben) als »Bocken«, als »Trotz«, das heißt (ganz richtig) als eine gegen sie gerichtete Aggression wahrnehmen. Zugleich können die Eltern aber nicht verstehen, wie sehr die Essensverweigerung Lea-Sophies mit ihnen selbst zu tun hat, mit ihrer Beziehung zur Tochter, mit ihnen als Paar und als Eltern sowie mit ihrem Unverständnis, wie es um sie selbst und ihre Tochter bestellt ist. In ihrer strukturellen Überlastungssituation und Hilflosigkeit verlieren sowohl die Kindesmutter als auch der Kindesvater jeglichen emotionalen Kontakt zu Lea-Sophie. Sie verleugnen (während sie damit beschäftigt sind, das neugeborene Kind zu versorgen) die sich innerhalb von wenigen Wochen zuspitzende lebensbedrohliche Gefährdung Lea-Sophies, zu der sie in ihrer Ohnmacht und Unfähigkeit unwissentlich beitragen. Und dann ist es zu spät, gibt es keinen Weg zurück. Anfangs merken die Eltern, dass Lea beginnt, »ruhiger« zu werden, empfinden sie aber nicht als »schwächer«, nehmen aber wahr und sprechen dann auch darüber, dass Lea immer weniger isst, wie im Rückblickgespräch genau beschrieben wird. Wir zitieren noch einmal die Einschätzung des Kindesvaters, die die Beobachtungen der Kindesmutter noch einmal unterstreicht: »FAM 4: Wir haben darüber gesprochen, dass sie weniger zu sich nimmt. Und dass sie auch verweigert. Also, ich persönlich war dabei, als sie denn einen Happen gegessen hat und denn aber auch – ›ÄCH!‹ – nicht so, dass sie es rausgewürgt hat, sondern halt so, wie eine ›Bockreaktion‹, eine, so: ›Das mag ich nicht!‹ So ungefähr. Und … Ich weiß, dass [die Mutter] ihr dann noch Pudding zu Stullen dazu gegeben hat, so, im Wechsel, damit es ein bisschen rutscht, vielleicht, aber … war nicht so.
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Interviewer 1: Dann haben Sie die ganze Zeit immer versucht, ihr so Essen zu geben? FAM 4: Ja, Wasser mit Traubenzucker angereichert haben wir ihr gegeben, oder auch Saft, angereichert mit Traubenzucker, sodass sie ein bisschen was kriegt. Aber, dass es so … akut … ist, hab ich persönlich nicht wahrgenommen. Und dass sie diese … Sitzgeschwüre am Hintern hat und auch an die Beine, das hab ich gar nicht gewusst, das wurde mir erst auf dem Polizeirevier denn als Fotos gezeigt. Und … Interviewer 2: Das heißt: Sie waren doch in einer anderen Rolle als die Mutter? Aber wenn man dann sieht, Sie mit der Mutter zusammen, und wenn das so ein paar Wochen geht, dass die – eigentlich – die Nahrung zurückweist, haben Sie dann darüber gesprochen, dass jetzt was geschehen müsste? Oder dass Sie Hilfe holen? Oder hat jemand mal so eine Idee gehabt, irgendwie: Wir gehen jetzt zu … Freunden … oder? FAM 4: Wir hatten keine Freunde! Interviewer 2: Ihr hattet keine Freunde! Aha! FAM 4: Wir waren komplett … Interviewer 2: [einwerfend] allein … FAM 4: … unsere kleine Welt! Ja.«
Dieser Rückzug in die innere und äußere Isolation ist die ratlose Antwort auf die ungelösten Konflikte in der familialen Lebensgeschichte: • • •
auf die eigenen nicht bewältigten Trennungstraumata in beiden Herkunftsfamilien; auf den Verlust eines tragfähigen Vatermodells in der väterlichen Herkunftsfamilie; auf die in der mütterlichen Herkunftsfamilie erst zufällig und verspätet ans Licht gekommene Adoption der Kindesmutter von Lea-Sophie mit der Folge einer Identitätsverunsicherung im mehrgenerationalen Beziehungszusammenhang.
Vor diesem Hintergrund entwickeln sich – mütterlicherseits und väterlicherseits – familiale Lebenszusammenhänge, die für die Kindeseltern nicht immer förderlich sind. Zwar sind beide Herkunftsfamilien darum bemüht, mit den jungen Eltern in Kontakt zu bleiben und sie bei der Pflege, Bildung und Erziehung von Lea-Sophie zu unterstützen. Ihre Hilfebemühungen führen trotzt bester Absichten aber nicht zur Verselbständigung der Kindesel-
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tern, die im Paarverhältnis und im Verhältnis zu Lea-Sophie nicht wirklich beziehungsfähig werden können. So bleibt den Kindeseltern nur der Ausweg in eine Familienwelt symbiotischer Verklammerung und eifersüchtiger Trennungsangst, in der gegenseitige Unterstützung erhofft, eine Verselbstständigung und Loslösung aus den Herkunftsfamilien jedoch misslingt. Daraus folgt: Jugendliche mit Erfahrungen von Trennungen und Neuzusammensetzungen von Familien haben es ohne reflexive Klärung schwer, zu beziehungsfähigen Erwachsenen zu werden. Gefangen und damit abhängig, aber zugleich alleingelassen in ihrer Angst und Unsicherheit, verfügen sie über keine konsistenten inneren Bilder und Modelle, was es heißt, selbstständig und sozial erwachsen zu werden, ein Paar und Vater und Mutter zu werden und dann auch beherzte und kompetente Eltern zu sein. So kommt es zu einer von Dritten mit arrangierten Paarbildung und einer überstürzten Elternschaft, findet eine »Geburt der Eltern« (Schülein 2002) eigentlich nicht statt, fehlt der Familiengründung Plan und Fundament. Wie die – hier nicht weiter aufgegriffene – Genogrammanalyse erhellt, gehen im vorliegenden Fall auf beiden Seiten des mehrgenerationalen Familiensystems den jungen Eltern Lea-Sophies in deren Kindheit leibliche Eltern verloren, der Kindesmutter die leibliche Mutter und der leibliche Vater, dem Kindesvater der leibliche Vater. Als Kinder werden sie mit einer neu zusammengesetzten bzw. einer Adoptivfamilie konfrontiert, deren tatsächliche Hintergründe aber lange Zeit verdeckt sind. Emotionale und kognitive Unsicherheit beeinträchtigt darum die Entwicklungs- und Sozialisationsprozesse der jungen Leute bis hin zu schulischen und dann auch beruflichen Schwierigkeiten. Auch werden die Fähigkeiten nicht entfaltet, die man braucht, um selbstständig zu werden, für sich und andere – in materieller und soziokultureller Hinsicht – gut zu sorgen, persönlich und sozial sich weiterzuentwickeln und im Leben, in der Liebe und der Arbeit nicht zu scheitern. Diese Schwächen wahrnehmend, entschließt sich die mütterliche Adoptivfamilie das Enkelkind Lea-Sophie zusammen mit der Kindesmutter erst einmal bei sich aufzunehmen, ohne zu wissen, dass daraus dann schließlich fast zwei Jahre werden sollten. Dass der primäre Familienzusammenhang für Lea-Sophie am Lebensanfang aber faktisch die Großelternfamilie ist, unterminiert allerdings die eigenständige Konstruktion der jungen Familie, deren verspätete Gründung und immer gefährdete Verselbstständigung nur
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um den Preis einer dreifachen Spaltung und Entfremdung (zu ihren beiden Herkunftsfamilien, in der Paarbeziehung und im Eltern-Kind-Verhältnis) zu bewerkstelligen ist. Mit der Geburt des zweiten Kindes wird schließlich eine katastrophale Zuspitzung der familialen Krise heraufbeschworen, in der Lea-Sophie im stummen Protest einer radikalen Nahrungsverweigerung zur sich selbst gefährdenden Akteurin wird, in der sie selbst, aber auch die jungen Eltern in ihrer Ohnmacht zu Opfern einer über mehrere Generation hinweg angelegten, tragischen familialen Verstrickung werden. Zusammenfassend wird in den Rückblickgesprächen mit fünf wichtigen Familienmitgliedern verständlich, wie die Familiengeschichte den Beteiligten entglitt und nicht mehr beeinflussbar war, was dann auch im Umgang mit dem Jugendamt und anderen pädagogischen, gesundheitlichen und sozialen Einrichtungen zu einer Abwehr des Kontakts und eventuell möglicher professioneller Hilfeleistungen führte. In allem, was erzählt wird, wird ein zentrales Handlungs- und Kommunikationsmuster deutlich. Es sei nämlich aus Angst zu einer Abschottung der Kindeseltern gekommen – sowohl gegenüber den Herkunftsfamilien als auch gegenüber dem Jugendamt wie überhaupt gegenüber der gesamten Außenwelt. In den Gesprächen wird auch deutlich, dass es in beiden Herkunftsfamilien wichtige Trennungen im elterlichen Paarverhältnis und damit auch im Eltern-Kind-Verhältnis gab. Auf dieser Grundlage kam es zu intensiven und durch Abhängigkeiten strukturierten Vater-Tochter- bzw. Mutter-SohnBeziehungen, aus denen die jungen Leute sich offenbar nur schwer, nämlich vermeintlich nur mit einem Bruch, lösen konnten. Vor dem Hintergrund der familialen Beziehungsstruktur und -dynamik setzte sich das Muster der symbiotischen Verstrickung durch. Auf diese Weise bildeten die beiden jungen Leute quasi eine Notgemeinschaft enger Verbundenheit bei gleichzeitiger unsicherer Bindungsstruktur, in der es nur das Modell der Anpassung oder der Spaltung gibt. Das Muster scheiterte jedoch spätestens ab dem Zeitpunkt, als das zweite Kind zur Welt kam und Lea-Sophie keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich zu verweigern und sich dem Einfluss ihrer Eltern vollends zu entziehen. Insgesamt ist insofern eine dreifache Beziehungsproblematik zu konstatieren:
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Die junge Mutter verliert die stützende Hand ihrer Adoptiveltern; sie beschreitet den Weg eines Verselbstständigungsversuchs über eine sich von außen ergebende, aber von Anfang an bedrohte und durch Eifersucht gekennzeichnete Paarbeziehung. Sie wird, ohne darauf seelisch, moralisch und kognitiv vorbereitet zu sein schnell schwanger, was sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zusätzlich beeinträchtigt. Der junge Vater gibt im Zuge seiner Paar- und Familiensuche seine Autonomie auf und opfert dafür seine persönliche und berufliche Weiterentwicklung. Er entfernt sich konfliktreich von seiner Herkunftsfamilie (vor allem von seiner Mutter), flüchtet regelrecht aus seinem Elternhaus, geht eine neue Partnerschaft auf den Fundamenten einer zuvor gescheiterten Paarbeziehung ein (die nicht hielt – wie er selbst im Rückblickgespräch erinnert – weil er nicht da, sondern unter der Woche bei der Bundeswehr war), ohne in eine Rolle als erwachsener Partner und als verantwortlicher Vater von Lea-Sophie zu finden. Lea-Sophie zieht sich im Hin und Her ihrer frühen Kindheit, in der sie immer wieder auch die Erfahrung einer emotionalen Vernachlässigung machen muss, die vermutlich zu einer chronischen Unterernährung führt, immer weiter – wie in ein Schneckenhaus – zurück und bricht schließlich die Beziehung auch zu ihrer Mutter ganz ab. Zum Vater, der sie weder annehmen noch lieben kann, kann sie überhaupt keine tragfähige Beziehung entwickeln. Am Ende versinkt sie in einer sich lebensgefährlich zuspitzenden kindlichen Anorexie (vgl. auch Cooper/Stein 1992; Fox/Joughin 2002; Kunde-Trommer/Mangelsdorf/Rösch 2001), nachdem ihr passiver Widerstand gegen ihre Entwurzelung und Marginalisierung nichts gefruchtet hatte. Von Geburt an gerät sie in ein unsicheres Familienarrangement eines konfliktreichen, mehrgenerationalen Familiensystems (mit zwei Adoptivgroßeltern, einer nur punktuell anwesenden und nur teilverantwortlichen Mutter und einem randständigen Vater, der nurmehr als »Erzeuger« (FAM 4) gesehen wird. Hier kann sie als Subjekt mit eigenen Gefühlen, Wünschen und Interessen nicht recht wachsen und beginnt, sich allmählich auf ein zurückgenommenes Leben in Einsamkeit einzustellen. Es ist dies ein Muster, das sich aber mit der Geburt des zweiten Kindes – wodurch sie den letzten Rest der Unterstützung durch die Mutter zu verlieren glaubt – nicht mehr aufrechterhalten lässt; und dann kommt es, weil Dritte von außen nicht
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eingreifen können, mit der Nahrungsverweigerung zur selbstgefährdenden Wendung gegen das eigene schwache Selbst. In den Rückblickgesprächen wird darüber hinaus Folgendes deutlich: •
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Zwischen beiden Herkunftsfamilien spielen offenbar auch unterschiedliche soziokulturelle Einstellungen und Haltungen eine Rolle, vor allem was das Bindungsverhalten und die Versorgung bzw. die Bindung durch Versorgung betrifft. Auch ist ein Muster von Großelternschaft als übernommener Elternschaft – wobei die leiblichen Eltern außen vor bleiben (dislokale leibliche Parentalität) – von Bedeutung. Anders formuliert: Mit der fürsorglichen Unterstützung der Großeltern mütterlicherseits zur besseren Lebensgestaltung ihrer drei Kinder (Kindesmutter, Kindesvater und Lea-Sophie) gefährden sie zugleich die Familiengründung und eine gelingende Elternschaft des jungen Paares, eine Entwicklung, die sie nicht beabsichtigt hatten, die aber mit ihrer berechtigten Sorge zusammenhing, dass die Kindeseltern nicht in der Lage wären, für Lea-Sophie gut zu sorgen.
Im Kontakt mit dem Jugendamt wird von allen Gesprächspartnern eine zentrale Hürde herausgestellt: Ihrer Meinung nach hätten die Sorgebekundungen des Großvaters mütterlicherseits, aber auch die generellen Bemühungen um Unterstützung – wie ambivalent sie auch immer gewesen sein mögen – nicht ausgereicht, um das Jugendamt zu einem »drastischen Eingriff« (FAM 2) aufzufordern. Von den Großeltern wollte jedoch niemand eine »Anzeige« wegen einer »Kindeswohlgefährdung« beim Jugendamt machen (FAM 1 und FAM 2/3). Sie wollten die jungen Eltern nicht grundlos (nämlich in Anbetracht ihrer für sie selbst lebensgeschichtlich bedeutsamen Erfahrungen mit den Behörden als Adoptiveltern, die zu einer Skepsis gegenüber der staatlichen Jugendhilfebehörde führte) beim Jugendamt als Eingriffs- und Kontrollbehörde anschwärzen. Vor allem die Großeltern mütterlicherseits befanden sich dabei in einer für sie unlösbaren Situation: Auf der einen Seite wollten sie ohne Zweifel, dass Lea-Sophie geholfen würde. Auf der anderen Seite hatten sie offenbar aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Adoptionsfamilie in der DDR Angst davor, ihr Enkelkind und ihre Adoptivtochter an das für sie immer noch als bedrohlich empfun-
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dene Jugendamt zu »verraten« (FAM 2/3). Darum wollten sie auch nur »anregen« (FAM 2/3), dass das Jugendamt bei den jungen Eltern gewissermaßen korrigierend von außen eingreift, als »Aufsicht« (FAM 2), die die jungen Eltern mit ihrer staatlichen Macht als Ordnungs- und Kontrollbehörde nur hätte dazu bringen sollen, dass sie mit Lea-Sophie einen Arzt aufsuchten und sie in die Kindertageseinrichtung brachten. Die jungen Eltern waren aus Sicht aller Gesprächspartner ratlos und in einer verzweifelten Situation, zumal sie sich bei niemandem mehr Hilfe geholt und auch nicht gewusst hätten, wie sie mit dem Rückzug und der Nahrungsverweigerung ihrer Tochter hätten umgehen sollen. Den dringlichen Rat, zum Arzt zu gehen, konnten sie offenbar nicht mehr annehmen. Das Jugendamt sei als »Kinderwegnahmebehörde« und nicht als Hilfeeinrichtung wahrgenommen und verstanden worden. Allenfalls hätte man sich gewünscht, dass einmal jemand von außen den jungen Eltern einen Rat geben würde. Den drastischen Eingriff aber wollten jedenfalls die Großeltern (sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits) nicht. Diese durchgängige Ambivalenz kommt prägnant im Rückblickgespräch des einen Großvaters zum Ausdruck. In allen seinen Worten wird deutlich, dass er sich mit einem Konflikt konfrontiert sah: nämlich zwischen seinem Wunsch nach einem hilfreichen Rat und dem ihm angebotenen aggressiven Eingriff des Jugendamtes, den er als nicht hilfreich ansah: »FAM 2: … dann war ich dann ja nach vierzehn Tagen, oder so, noch mal da und hab dann gesagt – ›Ernsthaft, es muss, es muss mal was passieren, das geht so nicht!‹ So – und dann kam der mir gleich und sagte: ›Jaaaa, sehen Sie denn ’ne Kindeswohlgefährdung?‹ Sag ich: ›Wie soll ich die Kindeswohlgefährdung sehen? Ja, was machen Sie denn, wenn ich das jetzt sage?‹ – ›Jo, dann gehe ich mit brachialer Gewalt in die Familie – und hole das Kind raus!‹ ›Ja‹, sage ich: ‹dann sehe ich das nicht!‹ Richtig, so knallhart hat er mir das an den Kopf geknallt […] ›gehe ich mit brachialer Gewalt in die Familie und hole das Kind da raus‹. ›Ja‹, sag ich, ›das ist doch nix, deswegen bin ich doch nicht hier!‹ ›Ja, dann ist es keine Kindeswohlgefährdung!‹ ›Ja‹, sag ich, ›ich hatte Ihnen gesagt, ich möchte, dass das Kind einem Arzt vorgestellt wird, dass, dass man einen Psychologen zurate zieht, dass man das Kind beurteilt, ob es körperlich in Ordnung ist, ob es geistig entwickelt ist und dass man der Familie ein bisschen hilft, dass sie auf die Bahn und, im Prinzip – ich sag mal – diese Sachen alleine können; das ist der Sinn der Sache; nicht das Rausneh-
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men oder das Wegnehmen, sondern das bisschen Lenken!‹ So – und das Lenken, das ich, oder das wir nicht hinkriegen – als Familie praktisch, das wollte ich von außen haben! Ne! Dass sie eben sehen, da ist Aufsicht, da kommt mal einer, der zeigt mal die Keule – sag ich mal – oder nicht mal die Keule, bloß das Gespräch, ich interessiere mich dafür, ich möchte mal sehen, wie es dem Leachen geht! So! – Mehr, mehr wollt’ ich ja gar nicht! So! und klar, dann haben die natürlich ein Anschreiben gemacht. So! Und dann gab es natürlich hier Weihnachten Zoff, weil ich beim Amt hingewesen bin – Weihnachten waren sie dann mal hier –, und da gab es natürlich mächtig Zoff, dass ich beim Amt war. So! Und was ich nicht verstanden habe – und das war eben das, diese ganze gravierende Sache: Ich habe dann den auch gefragt damals ›Was ist denn, wie wollen wir jetzt weitermachen miteinander?‹ ›Wir sind, ich bin jetzt hier und so; ich sage Ihnen, was aus meiner Sicht zu tun ist, und wir können ja wieder in Kontakt kommen.‹ Und dann guckt er mich ganz entgeistert an und sagt: ›Wieso, was wir hier machen, geht Sie gar nix an, das unterliegt dem Datenschutz! Wir machen hier gar nichts, und Sie brauchen auch gar nicht wieder zu kommen, ich gebe Ihnen eh keine Auskunft mehr darüber!‹ So! Und dann war ich wie vorn Kopf, wo ich nach Hause kam. Das kann doch nicht sein, der Datenschutz steht höher wie das, wie das Kind. Da bietet man eine Zusammenarbeit an, und was kommt raus? ›Ja, das geht Sie gar nix an!‹ So, so – und das, das war eben das, was mich so schockiert hatte, damals.«
Hier zeigt sich, wie es aufgrund unterschiedlicher mentaler Modelle den Gesprächspartnern nicht gelingt, das, was der andere sagt, zu verstehen und eine gemeinsame Sicht zu entwickeln, die die Grundlage für eine Verständigung hätte abgeben können. So reden beide aneinander vorbei, und die Anbahnung einer wirksamen professionellen Hilfe kommt nicht zustande. Im Rückblick plädiert Lea-Sophies Vater allerdings für mehr Mut, auch gegen die Abwehr und das Ausweichen betroffener Eltern in großer Not zu handeln. Er meinte auf unsere Frage, was er denn gemacht hätte, wenn beim Gespräch im Jugendamt am 13. November 2007 die Mitarbeitenden des Jugendamtes einfach aufgestanden und zu einem Hausbesuch aufgebrochen wären, um nach Lea-Sophie zu sehen: »FAM 4: ……… Ja – wie gesagt – ich … Also jetzt grade bei, bei dem, was bei uns passiert ist, was hätte das Amt [Jugendamt] tun können? – Ich habe keine Ahnung! Es gab nur, gab nur diese eine Situation und ich, … Sicherlich, wenn er jetzt, der Beamte, den Tag direkt darauf bestanden hätte: ›Egal, was Sie sagen, wir wollen
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j e t z t Lea sehen!‹, wäre es anders gelaufen. Aber, ich glaube nicht, dass er da die rechtlichen Möglichkeiten gehabt h ä t t e und, da würde ich ihm auch keinen Vorwurf machen – definitiv nicht! Interviewer 2: Im Rückblick, hätten Sie das verhindert? Oder: Stellen Sie sich vor, der wäre aufgestanden und hätte gesagt: ›Das scheint mir zu unsicher zu sein, ich gehe jetzt mit Ihnen nach Hause!‹ FAM 4: Ich weiß es nicht! Interviewer 2: Wären Sie dem in den Arm gefallen? Oder hätten sich vor die Tür gestellt, oder? FAM 4: Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich wäre ich s o perplex gewesen, … Interviewer 2: Dass Sie das nicht gemacht hätten …. FAM 4: … dass ich reaktionslos dagestanden hätte … Interviewer 2: Würden Sie den Sozialen Diensten, die ja im Zusammenhang Ihrer Geschichte sehr angeklagt worden sind, irgendwelche Ratschläge geben? … Mitarbeitern oder dem Jugendamt insgesamt? FAM 4: Ja, was für einen Ratschlag! Interviewer 2: Wie man mit Ihnen oder mit solchen Familien umgehen sollte!? FAM 4: Wenn jemand nicht möchte, dass etwas zutage kommt, also, ich hätte ja sicherlich auch bei dem Gespräch sagen können ›Hören Sie mal zu, wir brauchen … Hilfe!‹ Habe ich nicht getan, woher sollte er das wissen!? Wenn jemand nicht möchte, dass sie etwas erfahren? Interviewer 2: Offenbar haben die aber irgendetwas gespürt, ne? FAM 4: Ja, vielleicht hätte er ja auf sein, auf seine Intuition hören sollen, hätte durchgreifen sollen. Aber ich weiß nicht, ob das, ob er rechtlich dazu in der Lage gewesen wäre. Es hätte ja auch sein können, dass wirklich alles in Ordnung ist. Und dann hätte es wieder geheißen … das böse Jugendamt … ich weiß nicht, was da die … Mitarbeiter hätten anders machen können …. Ich weiß es nicht!«
Die Kindesmutter ist im Rückblick auf die eigenen Erfahrungen im Kontakt mit dem Jugendamt der Meinung, das Amt »sollte sich vielleicht nicht gleich abwimmeln lassen« (FAM 5). Und auch der Kindesvater meint: Bei mutigem Eingreifen, um eine vermutete Kindeswohlgefährdung zu überprüfen, müssten die Fachleute offenbar nicht in jedem Fall mit einer aggressiven Reaktion aufseiten der betroffenen Eltern rechnen, sondern eventuell auch mit einer »Überraschung« (FAM 4), denn die Eltern sind möglicherweise nur »perplex« (FAM 4). Und dann wird man sehen, was los ist und was man tun kann.
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Der zweite Hinweis ist noch wichtiger: Die Fachleute könnten lernen, auf ihre »Intuition zu hören« (FAM 4), also auf das, was ihnen ihr Bauchgefühl, ihr Unbewusstes, ihre Einfühlung in die von den Beteiligten vermittelte Szene und das vor ihnen liegende Rätsel sagt, anstatt darauf zu warten, auf eine Kindeswohlgefährdung wortwörtlich hingewiesen zu werden. Zentrale Handlungs- und Kommunikationsmuster
Im Rückblick fallen bei der Untersuchung der familialen Entwicklungsgeschichten eine Reihe von Handlungs- und Kommunikationsmustern auf, die sowohl das konkrete Handeln im Lebenslauf als auch das familiale Sinnverstehen (das familiale sense-making) als Rahmenkonzepte orientieren – und die wir nun zusammenfassen können: Die mütterliche Herkunftsfamilie • In der erweiterten mütterlichen Herkunftsfamilie spielt ein Konzept einer – vertikal wie horizontal generationenübergreifenden – starken gegenseitigen Verantwortung und Unterstützung eine Rolle, das aber auch die Grenzen der Großeltern-, der Eltern- und Geschwisterfamilien verschwimmen lässt (generationenübergreifende Verantwortung bei diffusen Familiengrenzen). • So werden Kinder ohne wirkliche Klärung abgegeben, aufgenommen und versorgt, deren eigenständige Entwicklung jedoch durch die einbindende Sorge des aufnehmenden Familiensystems nicht sicher gewährleistet werden kann. (Kinderabgabe und -aufnahme bei gleichzeitiger ungewollter Autonomiegefährdung). • Gegenüber der Außenwelt (der Gesellschaft wie dem Staat) hat sich ein Muster der Ambivalenz entwickelt, in dem sich Abwehr und Erwartungen mischen: (a) Abwehr einer institutionellen und gesellschaftlichen Einschränkung der eigenen Autonomie, wobei Erfahrungen mit den »Staatsorganen« in der DDR (in der Form der Jugendhilfekommissionen) eine Rolle gespielt haben mögen; (b) Erwartungen in Hinblick auf die Inanspruchnahme von Unterstützung und Regelungskompetenz von Fachleuten in komplizierten Lebenslagen, ohne dabei allerdings vor allem staatliche Eingriffe in das Familienleben provozieren zu wollen (fachliches Institutioneninteresse bei gleichzeitiger Eingriffsskepsis). • In diesem Familiensystem ist es nicht leicht, Gefühle offen auszudrücken und zu spüren, sie anzuerkennen und zu erwidern. Umso wichtiger
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werden die materielle Versorgung, die Gestaltung der familialen Ordnung und die Anerkennung des vorgegebenen moralischen Wertesystems, nicht zuletzt, um nicht von den eigenen tieferen Gefühlen überwältigt zu werden (materielle Sicherheit, häusliche Ordnung und moralische Festigkeit bei gleichzeitiger Gefühlskontrolle). Die väterliche Herkunftsfamilie In dieser Familie, die wir freilich nur in Ausschnitten kennenlernen konnten, spielen wechselnde elterliche Paarverhältnisse mit der Folge von Trennungserfahrungen eine Rolle, die allerdings im Eltern-KindVerhältnis zu einem kompensatorischen, wenn auch nicht sicheren Bindungsmuster führen (Bindungsunsicherheit durch traumatische Trennungs- und Verlusterfahrungen bei gleichzeitiger beziehungsmäßiger Abhängigkeit des Sohnes von der Mutter). • Auf der Vaterseite gibt es demgegenüber eine emotionale Unsicherheit, wird der Verlust des eigenen Vaters vom Sohn schmerzhaft erlebt, ist die Identifikation mit dem Vater gefährdet, was sich gerade auch in der Pubertät in einer schulischen Entwicklungsstörung zeigt. Sie wird durch die konfliktreiche Beziehung zum neuen Partner der Mutter noch verschärft, wenn es auch während der Berufsausbildung und dann später bei der Bundeswehr gegenläufige, stützende Identifikationserfahrungen als Mann gibt (Beschädigung des väterlichen Identifikationsobjekts und damit eines tragfähigen Modells von Väterlichkeit). • Das eigene Fortkommen im Blick zu haben und nicht von anderen abhängig zu werden, vor allem auch die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen, haben einen hohen Stellenwert im familialen Wertesystem. Gegenüber der Außenwelt propagiert die schließlich neu zusammengesetzte Herkunftsfamilie daher auch eher, auf Distanz zu bleiben, was sich später auch in der Vorsicht gegenüber dem Jugendamt zeigt. (Selbstversorgung und Institutionendistanz). •
Der scheiternde Familienversuch der jungen Leute Auf der Basis einer von außen angestoßenen Paarbildung und einer schnellen Schwangerschaft kommt es nach der Frühgeburt des Säuglings mit anschließendem längeren Klinikaufenthalt zu einer Integration von Lea-Sophie in die mütterliche Adoptivfamilie, in die auch die junge Mutter eingebunden bleibt und in der der junge Wochenendvater, der entfernt seinen Bundeswehrdienst ableistet, in eine marginalisierte Rol-
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le als bloßer »Erzeuger« (FAM 4) gerät. Die unsichere Paarbildung und das Muster der generationenübergreifenden Verantwortungsübernahme der mütterlichen Herkunftsfamilie verhindern in den ersten zwei Lebensjahren Lea-Sophies eine überlegte und von allen Beteiligten getragene eigenständige Familiengründung (Nicht-Familie aufgrund basaler familialer Konstitutionsschwäche). Zwei durch ungeklärte Trennungserfahrungen verunsicherte, noch nicht erwachsene junge Leute unternehmen – ohne konturiertes Paar- und Familienmodell – den Versuch einer Paarbildung, der von Anfang an und dann immer wieder durch eine strukturelle Bindungsschwäche und durch ständige Eifersuchtskonflikte gefährdet ist. Offenbar glückt gelegentlich die Regression im körperlichen sexuellen Kontakt, nicht aber eine gelebte Balance von Autonomie und Abhängigkeit, von Nähe und Distanz, von gegenseitiger Anerkennung und gemeinsamer Verantwortung, als Partner ebenso wenig wie als Eltern (Paarbildung und Elternschaft ohne Modell/strukturelle Bindungsschwäche). Bei fortbestehender emotionaler und materieller Abhängigkeit von den Herkunftsfamilien wird schließlich aus einer sich zuspitzenden Konfliktsituation – vor allem mit der mütterlichen Herkunftsfamilie – der verzweifelte Versuch einer verspäteten Familiengründung gemacht, die ihren Zusammenhalt nur um den Preis einer schrittweise immer schärfer werdenden sozialen Isolation und Abschottung gegenüber den Herkunftsfamilien, der Nachbarschaft und der weiteren Umwelt allenfalls notdürftig aufrechterhalten kann, nicht zuletzt, als sich parallel mit dem Ausbildungsabbruch und der Arbeitslosigkeit der soziale Abstieg in eine chronische Armutssituation der kleinen Familie verstärkt (verspäteter Familiengründungsversuch durch allmähliche Abschottung bei gleichzeitigem sozialem Abstieg). Die beziehungsunsicheren und konfliktreichen jungen Partner werden zu einem schwachen und zugleich in ihren Rollen aufgespaltenen Elternpaar: Die Mutter entwickelt zu ihrer Tochter, die sie als faktisch einzige primäre Bezugsperson versorgt, eine besondere Beziehung, die keine typische Mutter-Tochter-Beziehung ist. (Später sagt die Mutter dazu einmal in einem Gespräch: »Es war etwa so wie zwischen einem kleinen Kind und einer unreifen jungen Frau.«) Zugleich übernimmt die Kindesmutter die Haushaltsführung. Der Vater kommt eigentlich gar nicht in eine gleichberechtigte Vaterrolle, bleibt ganz am Rande und
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wird allenfalls zur gelegentlichen Disziplinierungsfigur. Emotional bleiben beide Eltern (der Vater stärker als die Mutter) in einer großen emotionalen Distanz und Abwehr zu ihrer Tochter Lea-Sophie stecken, von der wir in den Rückblickgesprächen im Übrigen nur wenig anschauliche Geschichten und Beschreibungen hören, zum Beispiel wie Lea-Sophie eigentlich war, wie und was sie sprach, was sie interessierte, was sie unternahm und was sie gerne mochte, wie sie Beziehungen aufnahm, wen sie liebte oder ablehnte und warum, und nicht zuletzt, wie sie sich in Konflikten verhielt. In den uns zur Verfügung gestellten Fotos ist sie zumeist allein und wie ein als kleine Prinzessin aufgeputztes Mädchen zu sehen, mit einer sorgfältig arrangierten, rosafarbenen Spielwelt im Hintergrund. Jedenfalls deuten die knappen Erzählungen der Familienmitglieder aber darauf hin, dass die Eltern zu Lea-Sophie als Kind mit Lebensbedürfnissen und Entwicklungsinteressen kein wirklich offenes und verständnisvolles Verhältnis entwickeln konnten. Lea-Sophie wird vielmehr (jedenfalls auf der Seite der Kindesmutter, auf der Seite des Kindsvaters bleibt eine völlig Leerstelle) zu einem narzisstischen Selbstobjekt stilisiert, ohne sie emotional halten, lieben und fördern zu können. So können die Eltern Lea-Sophies wachsende Depression und Entwicklungsverzögerung auch nicht verstehen, die sich symptomatisch als »frühe Essstörung […] eines Kleinkindes« fassen lässt, »ohne organische Ursache mit Verweigerung der Nahrungsaufnahme und mit Erbrechen, demzufolge eine mehr oder weniger ausgeprägte Dystrophie oder sogar Atrophie mit Untergewicht (auch frühkindliche Anorexie bezeichnet) eintritt« (Stork 1995, S. 356); (siehe auch: Freud 1980). Sie deutete sich allerdings bereits im ersten Lebensjahr an, in dem Lea-Sophie mehrmals in der Kinderklinik krankheitshalber aufgenommen wird (einmal, weil sie nicht mehr aß! – wie wir im Rückblickgespräch mit dem Leiter der Kinderklinik erfahren (vgl. auch Kapitel 4.1) (schwache und zugleich in ihren Rollen aufgespaltene Kindeseltern/Lea-Sophie als narzisstisches Selbstobjekt/Unverständnis gegenüber kindlichen Bedürfnissen). Vor dem Hintergrund einer Kette traumatischer Trennungen und vor allem emotionaler Vernachlässigungen durch die Eltern kommt es zu einer chronischen körperlichen, seelischen und intellektuellen Entwicklungsbeeinträchtigung des Kindes, deren Ursachen die Kindeseltern nicht begreifen können. Sie erleben die Passivität, den Rückzug Lea-
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Sophies und ihre Verweigerung, zu trinken und zu essen, darum (infantil) als gegen sie selbst gerichtete Aggression (nämlich als »Bocken«; FAM 4 und FAM 5). Mit der Geburt ihres zweiten Kindes entgleist die prekäre Beziehung zwischen den Eltern und Lea-Sophie völlig, kommt es schließlich zum Kontaktverlust und zur völligen Ratlosigkeit, wie man die tödliche Gefährdungssituation abwenden könnte, in die LeaSophie sich selbst mit ihrer Nahrungsverweigerung in einer verzweifelten Eifersuchtsreaktion auf die Geburt des Säuglings, des zweiten Kindes der Familie, hineinmanövriert; aufseiten der Kindeseltern spielt da freilich auch die Verleugnung der realen Gefahr eine Rolle (vgl. dazu Edelstein/Nathanson/Stone 1989). Selbst in ihrer eigenen Entwicklung blockiert durch unbewältigte Verlusterfahrungen und schwere emotionale Traumata, sehen die Eltern keinen Ausweg mehr, und es kommt zur Katastrophe, die beide Eltern schlagartig erwachsen werden lässt und sie zurück in die Realität katapultiert. So ruft der Vater zwar noch den Rettungsdienst an. Aber für eine Rettung des Kindes ist es bereits zu spät (vollständiger Kontakt- und Realitätsverlust/Verleugnung der realen Gefahr). Auf dieser Basis lässt sich nun eine zusammenfassende multidisziplinäre Problemkonstruktion bzw. Diagnose formulieren: Beim Fall Lea-Sophie handelt es sich diagnostisch um eine chronische und nach der Geburt des zweiten Kindes sich schließlich zuspitzende Fütterstörung im frühen Kindesalter (ICD-10 – F98.2) bzw. um eine in der Kindheit persistierende frühkindliche Essverhaltensstörung bzw. infantile Anorexie (siehe auch: Dunitz-Scheer et al. 2007; Kunde-Trommer et al. 2001; Polansky et al. 1981; Thiel-Bonney/Hofacker 2012; Wolff 2002). Sie hat sich vermutlich bereits im ersten Lebensjahr nach der Frühgeburt des Kindes manifestiert. Die daraus folgende Entwicklungsstörung Lea-Sophies konnte nach einem knapp zweijährigem Aufwachsen des Kindes in der Großelternfamilie und einem prekären Neuanfang im Familiengründungsversuch der leiblichen, aber nicht miteinander verheirateten Kindeseltern nicht bewältigt oder behandelt werden, weil sich eine tragfähige Beziehung im Eltern-Kind-Verhältnis (mit der ambivalenten Kindesmutter und dem völlig marginalisierten Vater) nicht entwickeln konnte. Die Eltern waren zudem als junge, noch nicht erwachsene Eltern eifersüchtig in einem kollu-
4. D IE E RGEBNISSE
DER
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siven Paarkonflikt miteinander verstrickt, der sich auf dem Hintergrund unverarbeiteter Belastungen, Konflikte und Krisen in den Trennungs- und Adoptionskonflikten ihrer Herkunftsfamilien entwickelt hatte. Diese innerfamiliale doppelte Spaltung (im Paar- und im Eltern-Kind-Verhältnis) führte zu einer angstvollen Abschottung und Isolation der Familie im Verhältnis zur Umwelt, sodass eine notwendige professionelle (ärztliche, psychotherapeutische und sozialpädagogische) Hilfe zur Abwendung der strukturellen emotionalen Vernachlässigungssituation und lebensgefährlichen Notlage des Kindes von den Eltern nicht mehr in Betracht gezogen und gesucht werden konnte. Es handelt sich insofern um eine in der konfliktreichen Entwicklungsgeschichte der Herkunftsfamilien und der Kindeseltern gründende emotionale Kindesvernachlässigung in Verbindung mit einer sich aktualisierenden Ess-Störung (eating disorder psychopathology)8 mit Todesfolge, die aufgrund einer organisationalen Entwicklungskrise des zuständigen, aber fachlich gefährdeten Jugendamts professionell nicht verhindert werden konnte.
8
Wie eine neuere retrospektive Studie mit einem Sample von 308 Fällen zeigen konnte, hingen frühe Kindheitstraumata und Bindungsstörungen unmittelbar mit dem Entstehen späterer Ess-Störungen zusammen; vgl.: Tasca, G. A. et al. (2013).
5. Der Ertrag der Untersuchung
5.1 D IE F ALLGESCHICHTE IN DER Z USAMMENSCHAU – WESENTLICHE G RÜNDE DES S CHEITERNS Um die Fallgeschichte im Rückblick in ihrem Verlauf, mit ihren Entwicklungsetappen, Problemen, Krisen, Konflikten, Schlüsselereignissen und Wendepunkten zu verstehen, ist es notwendig, eine Ereignis- oder Krisenweganalyse durchzuführen und das Ineinander von Hilfesystem- und Familiengeschichte im Zeitverlauf übersichtlich zu rekonstruieren. Tabelle 6: Der Fall Lea-Sophie im Zeitverlauf1 Zeitverlauf
Familiengeschichte Die familialen Lebenszusammenhänge mütterlicherseits und väterlicherseits spielen eine Rolle: (1) die leibliche Herkunftsfamilie der KM (2) die Adoptivfamilie der KM
Hilfesystemgeschichte Zwei institutionelle Hilfesystemgeschichten spielen eine Rolle: (1) Das Jugendhilfesystem des Rates der Stadt Schwerin bis 1990 mit der »Abteilung Volksbildung – Referat Jugendhilfe«,
1 Zur tabellarischen Darstellung des Falles im Zeitverlauf werden folgende Abkürzungen verwandt: sKV = späterer Kindesvater, sKM = spätere Kindesmutter, AS = Adoptivschwester, GVm = Großvater mütterlicherseits, AGV = Adoptivgroßvater mütterlicherseits, AGM = Adoptivgroßmutter mütterlicherseits, GMv = Großmutter väterlicherseits, GVv = Großvater väterlicherseits, StiefGV = Stiefgroßvater väterlicherseits, AGE = Adoptivgroßeltern, KM = Kindesmutter, KV = Kindesvater.
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(3) die leibliche Herkunftsfamilie des KV (4) die junge Familie mit KM/KV und Lea-Sophie
der »Jugendhilfekommission« und den verschiedenen Einrichtungen der Kindertageserziehung, der Heimerziehung und des Schulwesens (2) Nach dem Beitritt der DDR zur BRD, ab 1990: das Jugendamt der Landeshauptstadt Schwerin und andere soziale und gesundheitliche Einrichtungen in Schwerin
09/1981
12/1983
01/1984
11/1984
1987
03/1988
Frühjahr 1989
* Geburt des späteren Kindesvaters (sKV) – besucht in der Kindheit Krippe und Kindergarten * Geburt der späteren Kindesmutter (sKM) – besucht in der Kindheit Krippe und Kindergarten. Übernahme der sKM wenige Wochen nach der Geburt in die Pflege der Bruderfamilie des leibl. Vaters (GVm), in der bereits seit 1977 ein adoptierter Sohn (+ 12 J.) und seit 1980 eine Pflegetochter (+ 8 J.) bei dem kinderlosen Ehepaar (dem späteren Adoptivvater und der späteren Adoptivmutter der sKM = AGV + AGM) lebte Die sKM und die Pflegetochter (AS) werden vom AGV und der AGM adoptiert. sKV + sKM besuchen jeweils eine Krippe und dann den Kindergarten sKV zieht sich bei einem Sturz von einer Steintreppe im Kindergarten einen Schädelbasisbruch zu, mit der Folge späterer belastungsabhängig immer wieder auftretender Kopfschmerzen. Adoptivschwester (AS – + 8 J.) der sKM verlässt die Adoptivfamilie. Die verheirateten Eltern (GMv + GVv) des sKV trennen sich; es kommt im gleichen Jahr im
Die Jugendhilfekommission stimmt dem Adoptionsantrag zu.
Unfall im Kindergarten
Beschluss der Jugendhilfekommission zur Aufnahme der AS in einer Heimerziehungseinrichtung
5. D ER E RTRAG
Frühjahr 1989
12/1990
September 1989 zur Scheidung. Der sKV sieht sich in der Folge mit einem neuen Vater konfrontiert (StiefGV) – dem neuen Lebenspartner der GMv. sKV bricht sich bei einem Sturz von einer Wärmeversorgungsleitung, auf die er verbotenerweise hinaufgeklettert war, im Frühjahr 1989 beide Handgelenke. GVm ertrinkt in einem See (am Geburtstag der sKM).
1990–1994
1998
2000
U NTERSUCHUNG | 139
Unfall beim Spielen mit anderen Kindern
Schaffung der neuen Kommunalverwaltung – zuerst im »Referat Jugendhilfe« und später mit einem »Amt für Jugend, Soziales und Wohnen« (Aufbauphase mit Nachqualifizierung der Fachkräfte/erste Schritte zur Umsetzung des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes) Beginn der »Neuorganisation Sozialer Dienste« (mit einer Regionalisierung der Sozialpädagogischen Dienste), die aber nicht zuletzt aufgrund einer Fluktuation auf der Leitungsebene nicht durchgehalten werden konnte
1995
Ende 1997
DER
Die sKM erfährt durch Zufall von ihrer GMv, dass sie adoptiert worden sei. Ihr »Onkel« sei ihr leiblicher Vater, und sie habe noch vier leibliche Geschwister. Die 13-Jährige ist »geschockt« und »kann es gar nicht glauben«. »Ich dachte, ich wäre die einzige richtige Tochter!« sKV schließt die Hauptschule ab und beginnt am 1.9.1998 eine Lehre als Industrie- und Kfz-Lackierer. sKM erwirbt – nach Schulabbruch in der 9. Klasse der Gesamtschule – den Hauptschulabschluss im Rahmen eines Berufsvorbereitungsjahres.
140 | A US K INDERSCHUTZFEHLERN LERNEN
2001 11/2001 11/2001
Weihnachten 2001
02/2002
sKM beginnt eine überbetriebliche Ausbildung zur Bürokauffrau. sKV geht als »freiwillig Längerdienender« zur Bundeswehr. sKM + sKV (Sohn eines Nachbarn) begegnen sich, nachdem die Eltern den Kontakt »eingerührt« hatten. Nach Telefonaten und einem SMS-Austausch werden die beiden jungen Leute während eines Familienurlaubs in einem Ferienhaus in Dänemark ein Paar. Die sKM erfährt, dass sie schwanger ist. »Aber es war gleich gesagt, dass ich es bekommen möchte. Keine Abtreibung oder so. Das kam nicht infrage.« Die Reaktion des sKV, wie die sKM erinnert, wird so geschildert: »Also, es war jetzt hier nicht die Riesenfreude. Ja.« Die jungen Leute treffen an Wochenenden im Haus der Adoptiveltern der sKM zusammen. Es gibt aber auch bereits erste »Streitereien« in der Beziehung, es kommt zu Eifersuchtskonflikten, weil die sKM vermutet, dass sich ihr Freund mit der früheren Freundin noch heimlich treffe. sKM hat eine Zwei-Raum Wohnung in der M-Straße, ist aber in der Regel bei ihren Adoptiveltern.
7.8.2002
sKM bricht die Lehre zur Bürokauffrau wegen der Schwangerschaft ab. * Frühgeburt von Lea-Sophie nach Kaiserschnitt – 1985 gr./Auslöser für die Frühgeburt (33 SSW) wahrscheinlich ein Streit tags zuvor zwischen der KM und dem KV
Aufgabe des Konzepts der Neuorganisation Sozialer Dienste/Umbenennung des »Amtes für Jugend, Soziales und Wohnen« in »Amt für Jugend, Schule und Sport«
5. D ER E RTRAG
11.9.2002
DER
U NTERSUCHUNG | 141
Entlassung von Lea Sophie (mit 2500 gr) zur KM in den Haushalt der AGroßeltern. Die AGMm als die primäre mütterliche Bezugsperson und die KM in einer ergänzenden Mutterrolle; die KM setzt ihre Berufsausbildung fort, beide sorgen gemeinsam für LeaSophie. KV kommt an Wochenenden gelegentlich mit dazu, bleibt aber randständig und wird allenfalls in seiner Rolle als »Erzeuger«, nicht aber als »Vater« akzeptiert.
21.– 22.10.2002
Lea-Sophie wächst in der Familie der AGM und des AGV auf (wo sie bis Anfang 2004 verbleibt). Krankhausaufenthalt von LeaSophie
27-30.1.2003
Krankenhausaufenthalt von Lea-Sophie wegen Unruhe und Nahrungsverweigerung
24.–28.3.2003
Krankenhausaufenthalt von Lea-Sophie/stationäre Einweisung wegen Nahrungsverweigerung KV bricht mit dem Motiv, endlich Vater für Lea-Sophie sein zu wollen, seinen Dienst bei der Bundeswehr ab und arbeitet zuerst in einem Abrissunternehmen und dann in diversen 1-Euro-Jobs – wird schließlich Hartz-IV-Empfänger. Lea-Sophie wird in der Kinderklinik aufgenommen.
04/2003
9.–10.5.2003
Kinderärzte der HeliosKlinik behandeln LeaSophie/Polysomnografie aufgrund Apnoe-Syndrom (diagnostisches Verfahren zur Messung physiologischer Funktionen, insbesondere zur Diagnose von Schlafstörungen). Untersuchung in der Kinderchirurgie wegen des Verdachts einer Invagination (Darmeinstülpung), was ausgeschlossen wird. Kinderärzte der HeliosKlinik behandeln LeaSophie wegen akuter Gastroenteritis (Rotaviren). KV wird vom Jobcenter erfasst und in den nächsten Jahren häufig wegen Nichterfüllung von Auflagen und Terminen sanktioniert.
Behandlung durch die Kinderärzte der HeliosKlinik/Polysomnografie aufgrund von ApnoeSyndrom
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Mitte 2003
1.9.2003 28.11.– 2.12.2003 Anfang 2004
Sommer 2004
KM + KV ziehen in die Wohnung in der M-Straße ein, während Lea-Sophie weiter bei den Großeltern (AGMm/AGVm) bleibt. Es ergeben sich Konflikte um die Herausgabe von Lea-Sophie – vor allem mit der AGMm. Lea-Sophie besucht von diesem Zeitpunkt die nahe gelegene Krippe Lea-Sophie hat Angina Follicularis, isst und trinkt nicht.
Erzieherinnen der Kindertageseinrichtung betreuen Lea-Sophie. Lea-Sophie wird in der Helios-Kinderklinik aufgenommen und behandelt.
KM und KV nehmen schließlich Lea-Sophie zu sich, damit das Kind weiterhin bei ihnen aufwächst. Lea-Sophie wird nur unregelmäßig zur Kita gebracht und dann ab August gar nicht mehr. Eltern haben den Eindruck, dass die Kita-Leiterin sie kritisch sieht und mit den Großeltern unter einer Decke steckt.
14.9.2004
Kita-Leiterin wendet sich an KM und teilt mit, dass der Kita-Platz verloren gehen würde, wenn LeaSophie nicht gebracht werde.
15.9.2004
Gleichzeitig informiert die Kita-Leiterin das örtliche sozialpädagogische Team, dass sie sich Sorgen um Lea-Sophies Kindergartenbesuch mache. Fachkraft des Sozialpädogischen Teams des Jugendamts schreibt der KM, »dass man sich Gedanken um die Entwicklung Ihres Kindes macht«, und bietet einen Gesprächstermin für den 17.9.2004, 8.30 Uhr an. Sie betont: »Ich würde mich freuen, wenn Sie dieses Gespräch nicht als Einmischung empfinden, sondern als Angebot annehmen könnten.«
15.9.2004
Brief des Jugendamtes erreicht die KM. KM nimmt Termin beim Jugendamt nicht wahr. Lea-Sophie wird nicht mehr in die Kita gebracht, als Grund geben die Kindeseltern an, dass ihnen das Essensgeld zu teuer sei. Gleichzeitig nehmen sie Lea-Sophie auch aus der vom AGVm bezahlten musikalischen Früherziehung.
5. D ER E RTRAG
2005
DER
U NTERSUCHUNG | 143
Die junge Familie ist mit LeaSophie oft bei den AGE, die auch in finanzieller Hinsicht den jungen Eltern unter die Arme greifen. Andererseits verschärfen sich die Auseinandersetzungen mit den AGE, die dem KV vorwerfen, dass er sich nicht hinreichend um Arbeit kümmere, und überhaupt meinen, dass die jungen Eltern – und insbesondere der KV – mit Lea-Sophie falsch umgehen würden, sodass beide befürchten, dass die AGE ihnen Lea-Sophie wieder wegnehmen wollten. Zwischen dem KV und der KM entwickeln sich parallel aus Eifersucht immer wieder Paarkonflikte, sodass die KM die eingegangene »Verlobung« mit dem KV nach einem Streit auflöst.
2005/2006
Im Jugendamt wird eine »Standardreduzierung« eingeführt, mit einer Erweiterung der Öffnungszeiten ohne Personalkompensation und einer Abkehr von bis dato als sicher geglaubten fachlichen Prinzipien – Fachkräfte reagieren mit anhaltenden Überlastungsanzeigen.
Anfang 2006
KM, KV und Lea-Sophie ziehen dennoch zusammen in eine Drei-Raum-Wohnung in der KStraße.
Im Laufe des Jahres 2006
Die ökonomische Lage der jungen Familie verschlechtert sich. AGVm macht sich in wachsendem Maße Sorgen um die Entwicklung seiner Enkeltochter Lea-Sophie.
ARGE verhängt Sanktionen gegen den KV. Nachbarn aus dem Haus beschweren sich über die junge Familie bei der Wohnungsbaugenossenschaft, beklagen sich über die zahlreichen Haustiere der Familie. Es kommt zu einem Vermittlungsgespräch mit ei-
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2.11.2006
14.11.2006
27.11.2006
AGVm sucht das Jugendamt auf und teilt mit: »Lea-Sophie sei 4 Jahre alt und sehr zierlich, seiner Einschätzung nach wiege das Kind nur ca. 10 Kilogramm, allerdings sei auch die Kindsmutter sehr zierlich. Das Kind gehe nicht in die Kita, und auch die U-8Untersuchung beim Kinderarzt habe noch nicht stattgefunden. Die Familie lebe in einer 3Zimmer-Wohnung, welche vollständig in Ordnung und gepflegt sei.« AGVm kommt erneut ins Jugendamt und berichtet, »dass er die im Gespräch vom 02.11.2006 aufgezeigten Hilfemöglichkeiten mit seiner Tochter besprochen habe, diese jedoch von ihr nicht angenommen worden seien […] und aus seiner Sicht […] die Entwicklung des Kindes gestört [sei; d. A.], dies bezöge sich auch auf die sprachliche und körperliche Entwicklung. Aus seiner Sicht sei das Kind sehr mager, aber dies sei schon immer gewesen, sie sei ja ein Frühchen.« KM reagiert auf die Einladung der Mitarbeiterin des Jugendamtes nicht und erscheint auch nicht zum vorgeschlagenen Termin am 23. November 2006. KM nimmt beide Termine nicht wahr.
7.12.2006 Weihnachten 2006
Großer Streit ergibt sich anlässlich eines Besuches zu Weihnachten zwischen den Adoptiveltern (AGVm + AGMm) und der KM und dem KV wegen
nem Mitarbeiter der Wohnungsbaugenossenschaft. Fachkraft um Sozialpädagogischen Dienst hört den Großvater an und zeigt Hilfemöglichkeiten auf (insbesondere in Hinblick auf einen Kitaplatz und Hilfen zur Erziehung).
Mitarbeiterin des Jugendamtes schreibt an KM und bietet Gespräch an.
Jugendamtsmitarbeiterin schickt ein weiteres Schreiben an die KM und lädt sie zum 7. Dezember 2006 erneut ein. Im Weiteren geht der Vorgang verloren und wird nicht weiter aufgegriffen.
5. D ER E RTRAG
Anfang 2007 Ostern 2007
26.6.2007
7.8.2007
Ende September 2007
der Einschaltung des Jugendamtes durch den AGVm. Die Paarkonflikte des KV und der KM eskalieren, die jungen Leute wollen sich trennen. Sie versöhnen sich jedoch wieder und wollen zusammenbleiben. KM ist erneut (ungeplant) schwanger. AGE sehen zum letzten Mal Lea-Sophie, die zum damaligen Zeitpunkt etwa 12 kg gewogen haben soll. GMv spricht im Jugendamt vor und teilt mit, dass sie sich Sorgen um Lea-Sophie mache, vor allem, dass sie nicht in den Kindergarten gehe; außerdem sei die KM erneut schwanger. AGVm und GVv dürfen Geschenke zum Geburtstag von Lea-Sophie nicht selbst übergeben. Die AGE sollen auch kein Essen mehr bringen, was sie lange Zeit gemacht hatten. *Geburt des zweiten Kindes (ohne Komplikationen) Lea-Sophie will nicht mit ins Krankenhaus gehen, um die Mutter und das Geschwister zu sehen.
10/11.2007
KM kommt nach einem Tag wieder nach Hause, weil sie sich Sorgen macht, ob LeaSophie gut versorgt ist. Lea-Sophie nässt und kotet wieder ein und weigert sich zu essen und dann auch zu trinken, räumt alle Schränke aus und wirft alle Sachen im Raum herum. Die Eltern sind ratlos und enttäuscht, dass Lea-Sophie weder Essen noch Trinken annehmen will, und wissen nicht weiter. Der Vater ist völlig hilflos und bleibt am Rande. Die KM versucht immer wieder, Lea-Sophie zum Essen und Trinken zu bewegen, stellt
DER
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überall etwas Essen und Trinken in Reichweite des Kindes hin. Lea-Sophie zieht sich immer mehr zurück, immoblisiert sich regelrecht, will das Zimmer nicht mehr verlassen, sitzt stundenlang auf ihrem Stuhl und wird immer schwächer. Mit wachsender Ratlosigkeit und Enttäuschung kann die KM aber auch die pflegerische Versorgung Lea-Sophies nicht mehr aufrechterhalten, ganz abgesehen davon, dass sie zugleich für den kleinen Säugling sorgen muss. KM und KV nehmen wahr, dass Lea-Sophie immer schwächer wird und sterben könnte, haben aber Angst, Hilfe zu holen, und glauben, man würde ihnen sowohl Lea-Sophie als auch das zweite Kind wegnehmen. Irgendwie hätten sie den Zeitpunkt, Hilfe zu holen, verpasst. 12.11.2007
Anruf aus der Nachbarschaft der jungen Familie beim Jugendamt. Im Aktenvermerk heißt es: »Älterer Herr ruft an aus der Nachbarschaft. Er macht sich Sorgen. In dem Haus […] bei [KM] lebt ein 3–4 Wochen alter Säugling. Dieses Kind sieht man nie am Tag draußen. Die Mutter geht nur am Abend im Dunkeln mit dem Kind in der Babywippe und den zwei Hunden spazieren. Dort gibt es noch ein größeres Kind, das aber wohl nicht mehr im Haushalt der Mutter lebt. Ein Mann lebt ebenfalls dort.«
5. D ER E RTRAG
12.11.2007, 14.25 Uhr
13.11.2007
KM und KV erscheinen mit dem Säugling – aber ohne LeaSophie (die angeblich von Bekannten betreut werde) – im Jugendamt.
20.11.2007
KM und KV finden nach 19 Uhr nach der Rückkehr von einem kurzen Gang nach draußen Lea-Sophie ohnmächtig, mit hängendem Kopf in ihrem Sitz vor.
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Zwei Mitarbeiter des Jugendamtes brechen sofort zu einem Hausbesuch auf, und da niemand öffnet, hinterlassen sie einen Brief mit einer Einladung zu einem Gesprächstermin am nächsten Tag. Jugendamtsfachkräfte haben den Eindruck, dass akut keine Kindeswohlgefährdung vorliegt, holen aber die Zustimmung der Eltern ein, bei der Wohnungsbaugesellschaft zwecks weiterer Recherchen nachzufragen, und kündigen einen Hausbesuch an.
Der KV ruft den Notarzt. Der Notarzt trifft kurz danach ein, ebenso die Polizei, die zu ermitteln beginnt.
21.11.2007
Lea-Sophie wird ins Krankenhaus gebracht, wo sie um 23 Uhr verstirbt Die Eltern werden inhaftiert.
Kriminalpolizei teilt dem Jugendamt mit, dass in der vergangenen Nacht LeaSophie verstorben ist. Das zweite Kind wird in Obhut genommen.
Im Rückblick der dialogisch-systemischen Rekonstruktion des Falles LeaSophie wird deutlich, dass die familialen wie die professionellen Akteure in der Fallgeschichte des Kindes Lea-Sophie mit einer mehrgenerationalen Komplexität und einer institutionellen Systemtransformation konfrontiert waren, in die die Fallgeschichte eingebettet war. Diese Geschichte konnte von den am Fall beteiligten Akteuren jedoch nicht verstanden werden. Es gelang im von zahlreichen Umbrüchen irritierten Hilfesystem nicht, die
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sich nur vage andeutende Familien- und Entwicklungsproblematik zu entschlüsseln und die Vorgeschichte, den aktuellen Konflikt und die Interessen und Bedürfnisse der Beteiligten, die im Hintergrund eine Rolle spielten, in einer das komplexe Geschehen bündelnden, multidisziplinären Problemkonstruktion bzw. Diagnose zusammenzufassen. Vielmehr kam es stattdessen zu unverbundenen Überlegungen und zu schwankenden Hilfebemühungen, die angeregt und dann aber auch wieder fallen gelassen, nicht weiterverfolgt oder ganz aufgegeben wurden. So konnte sich eine konsistent erbetene und gewollte Hilfepraxis nicht entwickeln, zumal die Akteure in ihren Systemzusammenhängen gefangen und an der Oberfläche blieben. Weder die Familienmitglieder noch die Fachkräfte konnten sich mit ihren Erfahrungen, Anliegen und Fragen wirklich artikulieren und einbringen. Allenfalls andeutungsweise wurde über das Kind Lea-Sophie gesprochen, jedoch nicht mit ihm. Auf dieser Grundlage wurden dann Entscheidungen getroffen, Hilfen angeboten oder auch abgewehrt. Zu dem im Zentrum des Falles stehenden Kind und seinen jungen Eltern konnte kein Kontakt hergestellt werden. Es kam nicht zu einem tragfähigen Arbeitsbündnis, auf dessen Grundlage hätte geklärt werden können, ob das Kindes- und Elternwohl gefährdet war und ob Hilfe notwendig gewesen wäre. Anstatt das Kind selbst kennenzulernen, mit ihm selbst den Dialog zu suchen, es mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen nach Anerkennung, Liebe und Geborgenheit ernst zu nehmen, wurde Lea-Sophie dreifach objektiviert: Die Großeltern mütterlicherseits machten es, ohne dies zu wollen, zu einem Objekt der Sorge; sie waren aber nicht zu einem erfolgreichen Handeln in der Lage. Die Kindeseltern stilisierten es zu einem narzisstischen »Prinzessinnen-Phantasma« und machten es zu einem »Objekt ihres pädagogischen Unverständnisses und beziehungsmäßigen Versagens«, und das Jugendamt sah in ihm ein Objekt der Nicht-Gefährdung, einen gewöhnlichen Fall unter vielen. Zu solch objektivierenden Handlungs- und Kommunikationsmustern kommt es in der Kinderschutzpraxis nicht selten. Immer wieder wird versäumt, die Interessen von Kindern ins Zentrum der Hilfebemühungen des Kinderschutzes zu stellen (Wolff et al. 2013b). So wurde auch Lea-Sophie kaum gesehen, geschweige denn angehört. In ihrem kurzen Leben geriet sie in den Sog einer organisationalen und familialen Konflikt- und Krisendynamik, die sie an den Rand der Verzweiflung und in einen stummen Protest trieb, der in eine tödlich verlaufene Fütterstörung und Essensverweigerung mündete. Und so kam es, wie es tragischer nicht hätte
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kommen können: Das über Jahre hinweg emotional vernachlässigte Kind protestierte mit seiner Verweigerung gegen eine Welt, in der es keine hinreichend verlässlichen Bezugspersonen, keine wirklich tragfähige, liebevolle Zuwendung fand. Und es wurde offenkundig, was lange Zeit im Verborgenen gebliebenen war: die unverstandene Geschichte des Kindes LeaSophie, eines vernachlässigten Mädchens, das als Frühchen zur Welt kam, bei ihren Großeltern mütterlicherseits wie auch bei ihren Kindeseltern nicht kontinuierlich jenen sozialen Ort fand, der für seine Entwicklungsbedürfnisse notwendig gewesen wäre. Einen Ort, an dem Lea-Sophie ein Gefühl des Urvertrauens und, darauf aufbauend, einen autonomen Willen entwickeln und schließlich Initiative ergreifen und nach Leistung und Unabhängigkeit hätte streben können, einen Ort, an dem es Menschen gab, die sie liebten und mit denen sie sich identifizieren konnte (vgl. Erikson 1973), kurz: Menschen, die für sie da waren, nicht ab und an, sondern: immer, und zwar als Eltern, die ihrer Aufgabe gewachsen und sich ihrer Verantwortlichkeit bewusst waren und die im Notfall auch nicht davor zurückschreckten, familiale oder professionelle Hilfe zu holen. So gilt, was bei vielen problematisch verlaufenen Kinderschutzfällen mit Todesfolge in der Vergangenheit gegolten hat: Gefährdungen von Kindern sind oftmals das Resultat familiengeschichtlicher Ohnmachts- und Gewalterfahrungen (Bernecker/Merten/Wolff 1982). Sie sind freilich gesellschaftlich zurückgebunden und können auch über eine lange Zeit für die Außenwelt (für Bildungs-, Erziehungs- und Gesundheitseinrichtungen, für Nachbarn, aber auch für Bekannte, Freunde und Verwandte) unbemerkt und unverstanden bleiben, zumal wenn junge Eltern, wie im Fall LeaSophie, ihren Kontakt zur Umwelt verlieren, sich abschotten und in die soziale Isolation flüchten, in eine Welt, in der sie völlig auf sich allein gestellt sind und keine Hilfe mehr akzeptieren können. Und dies in einer Welt, in der »die Ökologie menschlicher Entwicklung« (Bronfenbrenner 1981) strukturell gefährdet ist, in der es grundsätzlich darauf ankommt, den eigenen Familienzusammenhang überhaupt erst einmal herzustellen und eigenständig Brücken zu anderen Umweltsystemen zu bauen. In der modernen Gesellschaft wird es nämlich für alle Familien zunehmend wichtig, dass sie auf ein gut ausgebautes Unterstützungsnetzwerk zugreifen können: auf vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen zu Menschen und Einrichtungen, die wissen, dass junge Eltern Hilfen aus den sie umgebenden Umweltsystemen brauchen, um überhaupt einen Platz in der von Konkurrenzen,
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sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung geprägten globalisierten spätkapitalistischen Gesellschaft zu finden. Wenn man verstehen will, warum es den Eltern von Lea-Sophie, den Großeltern und den Fachkräften (insbesondere des Jugendamtes der Stadt Schwerin) nicht gelungen ist, den Tod des Kindes Lea-Sophie zu verhindern, muss man erst einmal innehalten und zurückblicken und sich dann vergegenwärtigen, dass die Hilfebemühungen der Großeltern und der Fachkräfte von Anfang an nicht zusammenpassten, weil aufgrund unterschiedlicher Verstehenskonzepte (situationeller Rationalitäten) bzw. mentaler Modelle die Hilfenachfrage mit den Hilfeangeboten nicht in Übereinstimmung gebracht werden konnten. Für beide war der Zugang zueinander verstellt, der Zugang zu den Fachkräften im Jugendamt ebenso wie der Zugang der Fachkräfte zu den Eltern (den Hilfesuchenden wie den Nicht-Hilfesuchenden). Bei doppelt verstelltem Zugang gelang es darum auch nicht, eine Brücke zum betroffenen Kind Lea-Sophie zu bauen, den Großeltern ebenso wenig wie den involvierten Fachkräften des Jugendamtes. Im Rückblick wird deutlich, wie abhängig und entwertet sich die jungen Eltern durch die zahlreichen sorgevollen Hilfebemühungen der Großeltern und der Außenwelt fühlten, wie sehr sie aber zugleich auf die Liebe und Anerkennung ihrer Herkunftsfamilien und auf ein beherztes Eingreifen der Fachkräfte und des Umfeldes angewiesen waren, denen gegenüber sie sich aber nicht öffnen konnten. Dass diese Widersprüchlichkeit im Fallverstehen auf beiden Seiten nicht aufgelöst werden konnte, verwundert jedoch kaum: Denn in der Begegnung der Familien mit den Fachkräften verschränkte sich die Organisationsgeschichte des Jugendamtes mit der Familiengeschichte der Herkunftsfamilien und der jungen Eltern. Die beteiligten Systeme und Akteure scheiterten an einer nicht auflösbaren Ambivalenz. Die Großeltern mütterlicherseits suchten Hilfe und Unterstützung beim Jugendamt, als sie selbst nicht mehr weiterwussten, waren aber zugleich skeptisch, ob sie mit ihrem Gang zum Jugendamt die junge Familie nicht zugleich einem harten staatlichen Eingriff ausliefern würden (Hilfesuche bei gleichzeitiger Hilfeskepsis). Die Fachkräfte des Jugendamtes boten ihrerseits den Großeltern (vor allem mütterlicherseits) und brieflich den jungen Eltern Hilfe und Unterstützung in Form einer allgemeinen Beratung und nicht zuletzt von ambulanten Erziehungshilfen an, schlossen aber zugleich eine umfassende fallanamnestische und -diagnostische Beratungsarbeit mit der Folge eines eventuellen
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Eingreifens im Falle einer Kindeswohlgefährdung aus (Hilfeangebot ohne Problemklärung bei gleichzeitigem Hilfeausschluss). Das Schwanken zwischen widersprüchlichen Handlungsmustern und Handlungslogiken verhinderte ein gemeinsames Fallverstehen in der Begegnung (Welter-Enderlin/ Hildenbrand 2004). Das reale Leben ging jedoch weiter, und die Akteure auf beiden Seiten drifteten wieder auseinander, bis sich eine regelrechte Familien- und Organisationstragödie entwickelte, ein Todesstück, das außerhalb aller Vorstellungen lag und auch uns, je mehr wir uns wissenschaftlich damit auseinandersetzten, emotional berührte und mit erheblichen Verstehensproblemen konfrontierte. In der Begegnung mit den Familienmitgliedern und den unmittelbar und mittelbar beteiligten Fachkräften und im gemeinsamen Versuch einer dialogisch-systemischen Fallrekonstruktion ist uns deutlich geworden, wie zwei isolierte und gefährdete Umweltsysteme (das Jugendamt und die junge Familie) durch Dritte aufeinander aufmerksam gemacht wurden, es beiden Umweltsystemen aber nicht gelang, sich gegenüber der Außenwelt zu öffnen, sich aus ihren pathologischen und historisch, soziokulturell und mehrgenerational bedingten Handlungs- und Kommunikationsmustern zu lösen. Auf diese Weise konnten sie nicht miteinander in Kontakt kommen und kein tragfähiges Arbeitsbündnis miteinander entwickeln. Die Fachkräfte des Jugendamtes neigten aufgrund ihrer Arbeitsüberlastung dazu, Klientinnen und Klienten, deren Anliegen sie – ohne weitere Untersuchung – nicht als ernsthaft identifizierten, wegzuschicken, ihre Fälle schematisch in Gefährdungs- und Hilfe-zur-Erziehung-Fälle zu sortieren, Fälle nurmehr zu verwalten oder zu delegieren, und, wenn es gar nicht mehr anders ging, sie sogar zu vergessen. Die Fachkräfte waren (genauso wie die Kindes- und Großeltern) ratlos und wussten (insbesondere in den Jahren 2006 und 2007) nicht mehr ein und aus. Sie bekamen keine Unterstützung von ihren Leitungskräften aus dem oberen und mittleren Management. Sie konnten ihre fachliche Autonomie schließlich nicht mehr aufrechterhalten und resignierten in der Folge. Die Kindeseltern ihrerseits hielten gegen alle Evidenz ihres Scheiterns in der Paarbeziehung ebenso wie im Verhältnis zu Lea-Sophie am Phantasma einer selbstbestimmten und unabhängigen Familie fest. Sie machten sich selbst und ihrer Umwelt etwas vor und wollten insbesondere ihren Herkunftsfamilien beweisen, dass sie es mit dem erst nach eineinhalb Jahren in ihre kleine Familie aufgenommenen Kind Lea-Sophie schafften, eine
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Familie zu werden. Dabei gerieten sie trotz aller Warnungen und Hilfeversuche vonseiten der mütterlichen Herkunftsfamilie und trotz der vorsichtigen Kontaktangebote vonseiten des Jugendamtes in eine regelrechte Zwickmühle: Trotz erheblicher Entwicklungskonflikte im Verhältnis zu Lea-Sophie wiesen sie die Hilfe von außen zurück und schotteten sich ab, hielten an Lea-Sophie als Pfand ihrer Autonomie fest. Denn sie rechneten damit, dass ihre Unfähigkeit, für Lea-Sophie gut zu sorgen, erkannt worden wäre, wenn sie sich geöffnet und Hilfe gesucht hätten, und sie Lea-Sophie dann an die Großeltern mütterlicherseits bzw. an das Jugendamt hätten abgeben müssen. Hilfeannahme – so glaubten sie – hätte insofern geheißen, sich das Scheitern ihres eigenen Familienprojekts einzugestehen; möglicherweise ahnten sie, dass sie als Paar und als Familie keine Chance hatten, ihr Leben gemeinsam und mit ihren Kindern zu meistern. Alle Akteure waren in ihrer Identität und Autonomie beschädigt und damit in ihrer Selbstwirksamkeit (als Partner, als Eltern, als Großeltern, als Fachkräfte) eingeschränkt. Sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und unterlagen regelrechten Wahrnehmungsverzerrungen. Insbesondere die Kindeseltern – selbst in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefährdet – waren gefangen in ihrer Unterschätzung der tatsächlichen Gefährdung ihres Kindes. Sie zogen sich zurück, verloren schließlich auch ganz den Kontakt zu Lea-Sophie, und es gelang ihnen nicht mehr, ihre Tochter zu versorgen, weil sie sie in ihrer verzweifelten Nahrungsverweigerung nicht mehr verstehen und sie dann auch nicht mehr emotional erreichen konnten, bis sie ihnen regelrecht entglitt – ganz abgesehen davon, dass die Mutter (ohne Unterstützung durch den Kindesvater und Partner) mit der Versorgung des im Herbst 2007 geborenen Säuglings, des zweiten Kindes der Familie, völlig überlastet und auch am Ende ihrer Kräfte war. Verstrickt in die eigenen lebensgeschichtlichen und organisationalen Konfliktstrukturen unterlagen alle Akteure, die am Fall beteiligt waren, erheblichen Wahrnehmungsverzerrungen und Handlungsblockaden. Dabei reduzierte sich ihr Handlungsvermögen immer weiter: •
Die Großeltern mütterlicherseits konnten nicht ausreichend wahrnehmen und verstehen, wie sehr sie mit ihren gut gemeinten Unterstützungsversuchen ihre Beziehung zur jungen Familie gefährdeten, die sie auf diese Weise unbewusst und ungewollt immer mehr in die soziale Isolation drängten. Obwohl sie um das Wohl von Lea-Sophie besorgt
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waren, schafften sie es nicht (vor dem Hintergrund ihrer eigenen Familiengeschichte), den Kindeseltern zu helfen, ohne damit nicht zugleich die eigenen Erwartungen und Befürchtungen (z.B. Lea-Sophie ans Jugendamt zu verlieren) zu verknüpfen. Die Fachkräfte des Jugendamtes konnten vor dem Hintergrund ihrer eigenen Organisationsgeschichte nicht wahrnehmen und verstehen, wie sehr sie mit ihrer Fallschematisierung in Gefährdungsfälle und NichtGefährdungsfälle bzw. HzE-Fälle das Dilemma der Ambivalenz der Großelternfamilien – väterlicher– wie mütterlicherseits - nur verstärkten und es dabei zugleich verfehlten, die Mitteilungen aus dem familialen Umfeld differenziert zu lesen und zu deuten.
Gründe des Scheiterns
Zusammenfassend lassen sich im Rückblick auf das gesamte Fallgeschehen die folgenden Gründe des Scheiterns herausstellen, warum weder die Familie noch die Fachkräfte des Jugendamtes in der Lage waren, Lea-Sophie zu schützen: •
•
Eine mangelhafte interorganisationale Zusammenarbeit im Kinderschutz: Es gab im gesamten Fallverlauf keine verlässlich institutionalisierte Zusammenarbeit im Kinderschutz. Zwischen der Klinik, dem Kinderarzt, der Kindertagesstätte, der Wohnungsbaugesellschaft, dem Jobcenter, der Stadtkasse, den Stadtwerken (deren Rolle und Bedeutung im Fall weder thematisiert noch verstanden wurden) und dem Jugendamt fehlte der Austausch. Es wurden mögliche frühe Hinweise auf eine Entwicklungsproblematik Lea-Sophies und Beziehungsschwierigkeiten zwischen der Kindesmutter und Lea-Sophie, von den familialen Konstitutionsproblemen einmal ganz abgesehen, nicht dem Jugendamt mitgeteilt. Zudem gab es kein verlässliches Angebot Früher Hilfen. Ein organisational und fachlich gefährdetes Jugendamt mit wechselnden Leitungen, diffusen Programmen und Methoden: Während des gesamten Fallverlaufs befand sich das Jugendamt in einer katastrophalen Überlastungssituation. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren auf sich allein gestellt, konnten sich auf ihre Leitungskräfte aus dem oberen und mittleren Management nicht verlassen, verfügten weder über ausgearbeitete Hilfeprogramme oder Methoden noch über ein differenzier-
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tes Fallbearbeitungskonzept. In der Konsequenz neigten sie zu einer schematischen Fallsortierung und reaktiven Fallbearbeitungspraxis. Eine fürsorgliche und stark einbindende Großelternfamilie: In der Großelternfamilie mütterlicherseits hat sich ein Muster generationenund familiengrenzenüberschreitender Integration und Versorgung von Kindern herausgebildet, mit dem jedoch zugleich familiale Abhängigkeitskonflikte und Geheimnisse verknüpft waren, die, unbewusst und unbearbeitet, die Autonomie der jungen Eltern gefährdeten. In der Konsequenz solcher unbewussten Bindungen hatten es die Kindeseltern schwer, sich eigenständig als Eltern zu entwickeln. Eine von Dritten mitarrangierte Paarbeziehung der jungen Leute und eine überstürzte Elternschaft: Die jungen Leute sehen sich als ein »verkuppeltes Paar«, das relativ früh ein Kind bekam, ohne es wirklich gewollt bzw. geplant zu haben. In Reaktion auf die Einmischung und Verantwortungsübernahme der Großelternfamilie mütterlicherseits wurde die Elternrolle der jungen Leute gefährdet, die trotz der von Anfang an virulenten Paarkonflikte den Versuch unternahmen, eine Familie zu werden und für ihr Kind Lea-Sophie selbstständig zu sorgen, was ihnen jedoch misslang. Eine misslingende, in die soziale Isolation und Armut führende Elternschaft mit der Folge eine strukturellen Familienkrise: Die jungen Leuten scheiterten mit dem Projekt ihrer Partnerschaft ebenso wie mit dem Aufbau einer tragfähigen Eltern-Kind-Beziehung. Je mehr sie miteinander und mit ihrem Kind Lea-Sophie in Konflikte gerieten, umso mehr schotteten sie sich verzweifelt von der Außenwelt ab. Sie wehrten die Unterstützung ihrer Eltern ab und sahen sich von einer feindseligen Nachbarschaft und von einer für sie nicht akzeptablen Welt der Behörden und Institutionen umstellt. In der Konsequenz kam es zu einer dreifachen Isolation: zwischen dem Paar und den Herkunftsfamilien, zwischen den Partnern selbst und zwischen den Eltern und Lea-Sophie, was schließlich mit der Geburt des zweiten Kindes zur Zuspitzung der familialen Krise führte: Lea-Sophie hörte aus Eifersucht auf zu essen. Sie entwickelte vor dem Hintergrund emotionaler Vernachlässungserfahrungen und einer sich vermutlich schleichend entwickelnden chronischen Unterernährung eine »frühkindliche Essverhaltensstörung« bzw. »Fütterstörung im frühen Kindesalter« (ICD-10 – F98.2) (infantile Anorexie) und geriet völlig an den Rand. Die Eltern sahen sich nicht in der
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Lage, die tödliche Gefährdung ihres Kindes zu verstehen und dann auch helfend einzugreifen oder Hilfe zu holen.
5.2 D IE F ALLUNTERSUCHUNG – PERSÖNLICHE E RFAHRUNGEN UND S CHLUSSFOLGERUNGEN Während der Durchführung des bundesweiten Projekts »Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz« (Wolff et al. 2013a), an dem das Schweriner Jugendamt als regionaler Modellpartner zusammen mit Fachkräften aus den Landkreisen Parchim und Ostvorpommern teilnahm, fiel uns bei der Erörterung von Kinderschutzfällen auf, wie sehr der Fall Lea-Sophie die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer noch ganz persönlich berührte und beschäftigte. Zugleich wurde die Schwierigkeit deutlich, sich offen damit auseinanderzusetzen, selbst wenn völlig klar war, dass Lea-Sophies Tod den wesentlichen Anstoß dafür gegeben hatte, am Modellprojekt »Aus Fehlern lernen« teilzunehmen und dann auch das dialogisch-systemische Fall-Labor zur Rekonstruktion des Falles Lea-Sophie durchführen zu wollen. Jedenfalls erlebten sich alle Teilnehmenden mit ihren Erfahrungen und Gefühlen, Haltungen und Überlegungen als ganz persönlich Betroffene, spielten der Wunsch nach Klärung ebenso wie irritierende Gefühlsreaktionen und fachliche Unsicherheiten eine Rolle. Bei der inhaltlichen Planung der ersten Forschungswerkstatt im Rahmen des dialogisch-systemischen Fall-Labors im Oktober 2010 hatten wir daher Dialogrunden vorgesehen und luden die Teilnehmenden ein, im Tandem, das heißt in Zweiergesprächen, erst einmal zwei Fragen zu sondieren: • •
Welche Bedeutung hat der Fall Lea-Sophie für mich persönlich? Welche Erwartungen habe ich an das Schweriner Fall-Labor?
In der Auswertung wurde deutlich: Auch diejenigen, die gar nicht unmittelbar »fallführend«2 am Fall beteiligt waren, entdeckten sofort persönliche
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Wir sehen hier einmal davon ab, dass das Konzept der fallführenden Fachkraft unterschlägt, dass in der Regel bei problematischen Kinderschutzfällen eine Vielzahl von Personen und Organisationen involviert sind.
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Bezüge, sahen sich, wie ausgesprochen wurde, »mit dem Thema Tod und Sterben konfrontiert«. Vor allem unter den teilnehmenden Frauen war der persönliche Bezug zentral. Einige betonten zum Beispiel: »Meine ganz persönliche Betroffenheit ist: Ich habe auch eine kleine Tochter.« Eine andere empfand eine tiefe Betroffenheit, »weil sie selbst ein Enkelkind im gleichen Alter wie Lea-Sophie« hatte, sie fragte sich – identifiziert mit den Akteuren im Fall: »Was geht in einer Mutter vor? Wie kann sie zulassen, dass es so weit kommt?«, und hoffte, »einen neuen, anderen Blick zu bekommen auf das gesamte Familiensystem«. Die persönliche Betroffenheit führte aber auch zu neuem Engagement, wie ein männlicher Teilnehmer berichtete: »Ich selber bin Vater, und da ist man ja betroffen, wenn in derselben Stadt ein Kind verhungert. Nach dem Fall habe ich mich auf die Leitungsstelle beworben.« Immer wieder gab es aber auch einen Bezug zum eigenen Arbeitsfeld, und die Fachkräfte fragten sich, »wie ein solcher Fall passieren konnte«. Vor allem stellten sie heraus, dass sie betroffen waren, »wie mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sozialpädagogischen Dienstes umgegangen wurde«. Sie unterstrichen: »Es gab keinen Schutz.« Oder sie sahen sich selbst betroffen, auch wenn sie nicht beteiligt waren: »Aber wenn eine Kollege betroffen ist, sind alle davon betroffen. Das Jugendamt war Angriffspunkt für alles. Das Jugendamt war das Erste, was man erschossen hat. Sie waren die Buhmänner. Es war kein Schutz da.« Den Mitarbeitern blieb nichts anderes, als sich selbst untereinander zu stützen. »Da wurde niemand alleingelassen.« Verständlicherweise erhoffte man sich, »dass das Bild des Jugendamtes geradegerückt wird.« Und man hoffte, nun »mit einem zeitlichen Abstand fachlich auf den Fall schauen zu können«, »um mehr Hintergrundwissen zu bekommen«, »mehr Handlungs- und Rechtssicherheit für seine Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen«, »die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt und den freien Trägern zu intensivieren«. Oder sie wollten im Fall-Labor »das Familiensystem anschauen, die Mutter-Kind-Bindung, die Beziehung zwischen den Eltern und Großeltern und neue Formen der Zusammenarbeit herausarbeiten bei Fällen, die keine Hilfen zur Erziehung sind und eher im präventiven Bereich liegen«. Überhaupt ging es immer wieder um Fragen der Schuld und Verantwortung, der man sich stellen musste, ohne sie einfach auf einzelne Akteure abzuladen. Viele wollten auch ihr professionelles Rollen- und Organisationsverständnis klären, Möglichkeiten und Grenzen des eigenen fachlichen
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Handelns tiefer ausloten, nicht zuletzt Familien in ihren mehrgenerationalen Verstrickungen besser verstehen. Insofern bestimmten ganz einfache Fragen die gemeinsame Arbeit im Fall-Labor: • • • • •
Wer bin ich selbst? Was ist meine Aufgabe? Was kann ich? Was sind meine Fehler? Was ist in meiner Organisation los? Was muss oder will ich selbst, was muss und will meine Organisation lernen?
Wir wollen am Schluss dieses Fallberichts nicht auf die ausgewerteten Ergebnisse der Evaluationen des Fall-Labors eingehen. Wir haben aber den Fachkräften im Herbst 2013 noch einmal ein paar Fragen unterbreitet: • • •
Welches sind rückblickend Ihre wichtigsten Erfahrungen und Erkenntnisse? Was ist/war für Sie prägend? Was hat sich seit dem Fall-Labor verändert? Welche Entwicklungen sind seitdem angestoßen worden?
Drei Antworten von Fachkräften aus dem Jugendamt bringen die Erfahrungen prägnant auf den Punkt und machen deutlich, welche Entwicklungen in Gang gesetzt wurden. Wir zitieren sie ungekürzt: Persönliche Erfahrungen und Schlussfolgerungen von Birgit Habecker Frage 1: Welches sind rückblickend Ihre wichtigsten Erfahrungen und Erkenntnisse? Was ist/war für Sie prägend? »Unmöglich sind nur Dinge, denen man sich verschließt.« Wenn man verstehen will, warum es nicht gelungen ist, den Tod des Kindes zu verhindern, muss man zunächst die Betroffenheit, die Trauer, die Verunsicherung und die Sprachlosigkeit überwinden, um zurückblicken zu können.
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Um den Fall zu verstehen, ist es notwendig, die eigene Fachpraxis auf Fehler, aber auch die Familien-, Organisations- und Hilfesystemgeschichte zu untersuchen. Für die Durchführung eines dialogisch-systemischen Fall-Labors braucht man Unterstützung von der Leitungsebene, von den Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe, Vertrauen zu den Forschern und zuständige Fachkräfte, die wertschätzend und respektvoll im Team Ohnmacht mit Fachlichkeit begegnen und miteinander lernen wollen. Nur so ist es möglich, die unvorhersehbaren Hürden, die Zweifel und die Widerstände zu überwinden und die emotionalen Belastungen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Die gemeinsame Analyse der Falldokumente, vor allem aber die Rückblickgespräche und Interviews mit den Eltern und Großeltern von Lea-Sophie haben uns sehr berührt, uns den Zugang zur Familie ermöglicht, viele Fragen beantwortet und wertvolle Anregungen für die ganzheitliche Unterstützung in Not geratener Familien gegeben. Es ist wichtig, alle am Fall Beteiligten in die Rekonstruktion einzubeziehen und das Kind in den Fokus der Untersuchung zu nehmen. Hypothesen müssen immer wieder kritisch hinterfragt werden. Auch wenn Familien über genügend informelle Netzwerke verfügen, ist es notwendig, Hilfen offensiv anzubieten, auch gegen die Abwehr und das Ausweichen betroffener Eltern. Die gemeinsame Fallaufarbeitung im Fall-Labor hat das Team gefestigt und die Mitarbeiter fachlich qualifiziert, ihr Selbstbewusstsein gestärkt und dazu beigetragen, Prozesse, Sicherheiten und Strukturen regelmäßig zu hinterfragen. Ein Fall-Labor braucht vertrauliche Arbeitsbeziehungen zu den Forschern – wir haben Prof. Reinhart Wolff und Prof. Kay Biesel kennen- und schätzen gelernt – ihnen gilt unser besonderer Dank. Frage 2: Was hat sich seit dem Fall-Labor verändert? Welche Entwicklungen sind seitdem angestoßen worden? »Je weiter du zurückblicken kannst, desto weiter wirst du vorausblicken.« (Winston Churchill) Das Jugendamt der Landeshauptstadt Schwerin möchte sich zu einer multiprofessionellen, lernenden Organisation entwickeln und die Kinderschutzarbeit dialogischdemokratisch gestalten. Dabei stehen die Stärkung und Erweiterung der fachlichen Kompetenzen der Fachkräfte im Mittelpunkt, vor allem das gemeinsame Lernen, das Fallverstehen und die
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verbindliche kollegiale Fallreflexion. Durch die Optimierung des Hilfeplanverfahrens gemeinsam mit den Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe wollen wir Familien stärker beteiligen, auf sie zugehen, ihnen offen begegnen, die Situation erfassen, die Geschichte verstehen unter Beachtung der belastenden Lebensumstände und aus der Betrachtung unterschiedlicher Blickwinkel. Wir wollen wissenschaftlich gut fundierte Weiterbildungsangebote nutzen, wie die Werkstatt für dialogische Familienarbeit mit dem Kronberger Kreis für dialogische Qualitätsentwicklung und Fortbildungen im Umgang mit resistenten Klienten. Durch die Neubesetzung der Stelle Qualitätsentwicklung/Frühe Hilfen können wir nun den begonnenen Qualitätsentwicklungsprozess fortsetzen und akzeptable Kriterien im Kinderschutz und verbindliche Standards in den Hilfen zur Erziehung entwickeln. Unser Augenmerk liegt nach wie vor auf dem Thema »Teamentwicklung« zur Schaffung einer Teamkultur des Respekts und der Wertschätzung, des gemeinsamen Lernens und der Stärkung der Selbstverantwortung. Dabei schauen wir aber auch auf unsere Fehler und reflektieren sie. Indem wir die Ergebnisse des Fall-Labors vielen Fachkräften zugänglich machen, nutzen wir die Möglichkeit des fachlichen Austauschs und profitieren von den Lernerfahrungen anderer Fachkräfte und Kooperationspartner.«
Persönliche Erfahrungen und Schlussfolgerungen von Babeth Janitz Frage 1: Welches sind rückblickend Ihre wichtigsten Erfahrungen und Erkenntnisse? Was ist/war für Sie prägend? Rückblickend war es eine gute fachliche Entscheidung, aus Kinderschutzfehlern zu lernen und den Prozess zur Durchführung einer dialogisch-systemischen FallRekonstruktion mitzugestalten. Die fachliche Auseinandersetzung unter Beteiligung anderer Fachkräfte sowie die Einbeziehung der geführten Interviews mit den Familienmitgliedern war eine Erfahrung, von der ich auch heute noch in meiner täglichen Arbeit profitieren kann. Mit der gemeinsamen Erarbeitung der Wendepunkte innerhalb der Organisation sowie innerhalb des Familiensystems haben sich für mich unter anderem wichtige Erkenntnisse ergeben: auch an das Unmögliche zu denken, alle Familienmitglieder zu erreichen, in den Beratungsgesprächen die Perspektive der Beteiligten erkennen, die Geschichte zu verstehen, aber auch auf die Formulierung in den Anschreiben zu ach-
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ten, um den Adressaten zu erreichen, die Hürde der Kontaktaufnahme zu minimieren und/oder selbst wieder aktiv zu werden. Frage 2: Was hat sich seit dem Fall-Labor verändert? Welche Entwicklungen sind seitdem angestoßen worden? Wir haben den Prozess der Optimierung zur Hilfeplangestaltung begonnen. Im Mittelpunkt dieser Veränderungen stehen wieder die Familien mit ihren Anliegen. Wir haben die fachliche Verständigung sowie den Austausch zur Gestaltung des Hilfeplanprozesses mit den freien Trägen der Stadt Schwerin wieder aufgenommen. Wir nehmen uns die notwendige Ruhe und Zeit, Fälle zu reflektieren. Diesen Prozess muss man als Ganzes verstehen und in kleinen Schritten umsetzen, damit alle Beteiligten involviert werden können.
Persönliche Erfahrungen und Schlussfolgerungen von Andreas Graske Frage 1: Welches sind rückblickend Ihre wichtigsten Erfahrungen und Erkenntnisse? Was ist/war für Sie prägend? Das Fall-Labor brachte mir viele Erfahrungen. Prägend waren dabei die gemeinsame Aufarbeitung mit den Fachkräften der Jugendhilfe und immer wieder die Einbeziehung der Sichtweise der Familie. So wurde der Verlauf der familiären Ereignisse und Wendepunkte verknüpft mit der institutionellen Entwicklung des Jugendamtes. Auf diese Weise hatten wir die Möglichkeit, auf mehreren Ebenen uns weiterzuentwickeln, da wir zum einen ein Verstehen des Falles an sich erlangten und zum Zweiten ein Bewusstsein dafür, warum sich das Jugendamt in dieser Zeit durch äußere, aber auch interne Umstände in diese Richtung entwickelt hat. Eine weitere Erfahrung ist zudem, dass ein Fall-Labor kein einmaliges Ereignis, sondern in doppelter Hinsicht als Prozess zu verstehen ist. Einmal betrifft dies den Aufbau; so wurden viele Vorgespräche, Interviews geführt, um ein Gefühl für die Befindlichkeiten und Arbeitsbelastungen der Mitarbeiter zu bekommen, und es wurde im Austausch miteinander besprochen, welcher nächste Schritt gegangen werden kann. Zum Zweiten betrifft dies auch den Prozess der eigenen Bewusstseinsbildung und der Auseinandersetzung mit der eigenen Berufseinstellung, der Philosophie des Arbeitsplatzes und den persönlichen Befindlichkeiten und der Betroffenheit.
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Frage 2: Was hat sich seit dem Fall-Labor verändert? Welche Entwicklungen sind seitdem angestoßen worden? Aus meiner Sicht haben sich seit dem Ende des Fall-Labors drei wesentliche Dinge verändert: Die Auseinandersetzung um vorhandene Fachlichkeit, Anspruch und Wirklichkeit setzte einen Prozess in Gang, die professionellen Möglichkeiten und die Rahmenbedingungen der Arbeit zu hinterfragen. Dieser Prozess setzte bereits vor dem Fall-Labor ein und wurde durch dieses weiter bestärkt. Dabei ist es auch wichtig, dass wir nie auf einem Stand bleiben, sondern diesen immer wieder hinterfragen und evaluieren. Des Weiteren habe ich mich persönlich darin bestärkt, dass es in meinen Einzelfällen wichtig ist, mit Familien und Fachkräften immer wieder im Gespräch darüber zu bleiben, wie die Arbeit wahrgenommen wird, was sich ändern muss und wie zufrieden alle mit dem Verlauf und den Möglichkeiten der Sozialarbeit sind. Dabei ist mir schon bewusst, dass aufgrund meiner Position dieser Prozess nicht immer auf Augenhöhe verlaufen kann, was für mich nicht bedeutet, dass ich mich im Dialog mit den Familien und anderen Fachkräften nicht partnerschaftlich verhalten kann. Der dritte Punkt, der sich in meinen Augen verändert hat, ist die Zusammenarbeit mit den Fachkräften der freien Jugendhilfe bzw. sozialen Einrichtungen, die am FallLabor mitgewirkt haben. Dadurch, dass durch das Fall-Labor diese gemeinsam mit uns ein besseres Verständnis für die Arbeitsbedingungen und -abläufe im Jugendamt bekommen haben, sind teilweise gemeinsam schnellere und flexiblere Handlungen möglich.
Fazit
Als Entwickler und Gestalter des Fall-Labors, vor allem aber als Praxisforscher und Qualitätsentwickler sind wir dankbar, dass sich die Eltern und Großeltern von Lea-Sophie und die Fachkräfte aus Schwerin zusammen mit uns auf den Weg gemacht haben, gemeinsam diesen gescheiterten Kinderschutzfall zu verstehen und neuen Mut zu fassen, in der eigenen Lebensgeschichte und in der Arbeit neu anzusetzen. Dass das Fall-Labor sich mit seinem mehrseitigen, dialogisch-systemischen Ansatz als geeignete Methode der Untersuchung gescheiterter Kinderschutzfälle herausgestellt hat, müssen wir hier nicht noch einmal betonen, wohl aber, das man mit dem Fall-Labor gerade auch die betroffenen Familien erreichen kann, wie in einer E-Mail des beteiligten Großvaters
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von Lea-Sophie deutlich wird, deren Botschaft uns auch in unserer weiteren Arbeit trägt. Er schreibt: »Auch vielen Dank für die Übermittlung des Standes zu den Büchern. Wenn diese zur Verfügung stehen, werden wir sie aufmerksam studieren. Abschließend möchten wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Umgang, Ihre Art der Aufarbeitung und besonders der Dialog mit den Betroffenen der tragischen Familiengeschichte uns persönlich sehr geholfen hat. Sie sind Einzigen, die bereit waren, einen echten Dialog mit den Beteiligten, besonders aber auch den Eltern, aufzubauen und durchzuführen. Das gab uns das Gefühl, als Menschen (und nicht nur als Fall) wahrgenommen zu werden.«
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Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1 Abbildung 2 Abbildung 3 Abbildung 4
Abbildung 5 Abbildung 6 Tabelle 1 Tabelle 2 Tabelle 3 Tabelle 4 Tabelle 5 Tabelle 6
Bronfenbrenners ökologisches Entwicklungsmodell | 18 Merkmale mit einem moderaten Vorhersagewert | 28 Assessment-Rahmen zur Einschätzung kindlicher Grundbedürfnisse und familialer Lebensumstände | 31 Untersuchungsperspektive bei der dialogischsystemischen Rekonstruktion eines problematisch verlaufenen Kinderschutzfalles | 35 Problematisch verlaufene Kinderschutzfälle als transaktionale Systeme | 45 Das Hilfesystem um Lea-Sophie | 63 Professionelle Fehler (unsafe acts) | 37 Ablauf einer Falluntersuchung nach dem SCIE-Modell | 42 Phasenmodell des dialogisch-systemischen Fall-Labors | 50 Stationäre Klinikaufenthalte von Lea-Sophie in der Kinderklinik | 60 Kontaktaufnahmen zum Jugendamt seitens der Großeltern von Lea-Sophie | 84 Der Fall Lea-Sophie im Zeitverlauf | 137
Gesellschaft der Unterschiede Susanna Brogi, Carolin Freier, Ulf Freier-Otten, Katja Hartosch (Hg.) Repräsentationen von Arbeit Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen 2013, 538 Seiten, kart., 42,99 €, ISBN 978-3-8376-2242-3
Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter Leben im Ruhestand Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft April 2014, 464 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2277-5
Johanna Klatt, Franz Walter Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement (unter Mitarbeit von David Bebnowski, Oliver D’Antonio, Ivonne Kroll, Michael Lühmann, Felix M. Steiner und Christian Woltering) 2011, 254 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1789-4
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Gesellschaft der Unterschiede Oliver Marchart Die Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung 2013, 248 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2192-1
Oliver Marchart (Hg.) Facetten der Prekarisierungsgesellschaft Prekäre Verhältnisse. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Prekarisierung von Arbeit und Leben 2013, 224 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2193-8
Monika Windisch Behinderung – Geschlecht – Soziale Ungleichheit Intersektionelle Perspektiven Oktober 2014, ca. 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2663-6
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Gesellschaft der Unterschiede Kay Biesel Wenn Jugendämter scheitern Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz
Nancy Richter Organisation, Macht, Subjekt Zur Genealogie des modernen Managements
2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1892-1
2013, 344 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2363-5
Christian Brütt Workfare als Mindestsicherung Von der Sozialhilfe zu Hartz IV. Deutsche Sozialpolitik 1962 bis 2005
Kathrin Schrader Drogenprostitution Eine intersektionale Betrachtung zur Handlungsfähigkeit drogengebrauchender Sexarbeiterinnen
2011, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1509-8
Adrian Itschert Jenseits des Leistungsprinzips Soziale Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2233-1
Alexandra Krause, Christoph Köhler (Hg.) Arbeit als Ware Zur Theorie flexibler Arbeitsmärkte 2012, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1984-3
Alexandra Manske Kapitalistische Geister in der Kultur- und Kreativwirtschaft Zur widersprüchlichen unternehmerischen Praxis von Kreativen (unter Mitarbeit von Angela Berger, Theresa Silberstein und Julian Wenz)
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Anne von Streit Entgrenzter Alltag – Arbeiten ohne Grenzen? Das Internet und die raumzeitlichen Organisationsstrategien von Wissensarbeitern 2011, 284 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1424-4
Peggy Szymenderski Gefühlsarbeit im Polizeidienst Wie Polizeibedienstete die emotionalen Anforderungen ihres Berufs bewältigen 2012, 454 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1978-2
Mai 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2088-7
Dorit Meyer Gewerkschaften und Leiharbeit Über den aktiven Umgang mit Leiharbeit bei der IG Metall 2013, 398 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2334-5
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