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German Pages 232 Year 2014
Peter Faulstich Menschliches Lernen
Theorie Bilden | Band 30
2013-03-22 17-01-32 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028b330390432374|(S.
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) T00_01 schmutztitel - 2425.p 330390432382
Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag der erziehungswissenschaftlichen Fachbereiche der Universität Hamburg.
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Peter Faulstich
Menschliches Lernen Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie
2013-03-22 17-01-33 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028b330390432374|(S.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Peter Faulstich Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2425-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Vorwort und Überblick | 7 1.
Horizonte und Perspektiven des Nachdenkens über Lernen | 21
2.
Lernthemen und -systematiken | 27
3. 3.1 3.2 3.4 3.4 3.5
Kritische Reflexion reduktionistischer Lerntheorien | 35 Kritik verhaltenswissenschaftlicher Lerntheorien | 36 Kognitivismus in der Lerntheorie | 42 Handlungsregulationstheorie | 48 Konstruktivistische Lerntheorie | 51 Kritik neurophysiologischer Lernkonzepte | 57
4. 4.1 4.2 4.3 4.4
Relationale Lerntheorien | 63 Phänomenologische Lerntheorien | 64 Pragmatistische Lerntheorie | 71 Subjektwissenschaftliche Lerntheorie | 79 Kritisch-pragmatistische Lerntheorie | 88
5.
Emergenz des Lernens – Dialektik der Lerntheorien | 97
6.
Tätigkeit und Lernen | 103
7.
Lernen: Erfahrung – Wahrnehmen und Erinnern | 113
8.
Lernen: Intentionalität und Interesse | 121
9.
Lernwiderstände | 133
10. 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
Lebensführung als Lernvoraussetzung | 141 Leibgebundenheit des Lernens | 143 Lernzeiten und -räume | 152 Biographizität des Lernens und Habitus | 162 Lernalter | 169 Sprachgebundenheit menschlichen Lernens | 172
11. 11.1 11.2 11.3
Selbst Lernen in Gesellschaft | 179 Lernen mit Anderen | 183 Lernen in Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen | 188 Lernen in Gesellschaft | 197
12. Lehren | 201 13. Lerntheorien, Identitätskonzepte und Bildung | 207 Literatur | 217
Vorwort und Überblick
„Lernen“ ist zu einem Allerweltsbegriff geworden. Die Debatte geht weit über wissenschaftsimmanente Diskurse und Bezüge hinaus und hat ökonomische und politische Dimensionen erreicht. Lernen wird sogar als effektives Instrument zu wirtschaftlichem Wachstum angepriesen. Gleichzeitig gilt es als Garant demokratischer Legitimation. Auch die Statuszuweisung in hierarchisch gegliederten Gesellschaften unterstellt im meritokratischen Modell den Erwerb von durch Lernen erworbenen Abschlüssen und Zertifikaten als zentrales Kriterium der Ungleichheit rechtfertigenden Leistung. Als Resultat praktischer Verwirrung und theoretischer Verunklarung gibt es vielfältige Irritationen. Es kommt daher darauf an, grundlegende Kategorien zu klären, um Chancen und Risiken einzuschätzen. Kern ist die Entwicklung eines angemessenen Lernbegriffs, welcher es ermöglicht, praktische Konzepte zu verorten. „Lernen“ ist zu einem Schlüsselbegriff in einer Gesellschaft geworden, die im hegemonialen Verständnis über Wandel bestimmt wird. Wo sich alles dynamisch, rapide und permanent verändert, sei beschleunigtes und umfassendes Lernen angesagt. Nach herrschender Meinung sollten und müssten alle Individuen, Organisationen und gesellschaftlichen Systeme dauernd und immer noch schneller, überall und immer wieder neu lernen. Lernen scheint synonym mit Verändern. Im Kern des sich überdrehenden Wirbelwindes stehen die Institutionen des Bildungswesens. Sie sollen Impulse für individuelles, organisationales, regionales und systemisches Lernen liefern. Aber auch informell, an vielfältigen Lernorten von der Familie, über Freundschaftsgruppen, bis zum Theater und im Museum, sogar noch im Bett wird gelernt. Entsprechend ist eine Vielzahl konkurrierender Lerntheorien entworfen worden und angesichts ihrer Vielfalt ist es schwierig, sich zu orientieren. Hier kann es nicht darum gehen, Praxis aus Theorie abzuleiten, sondern einen Rahmen der
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Reflexion aufzuspannen, der begründetes Handeln in konkreten Situationen ermöglicht. Dafür sind verschiedene Theorien unterschiedlich sinnhaft und brauchbar. Auch kann es nicht um blanke Machbarkeit und instrumentelle, eh illusionäre Herstellbarkeit gehen, wie es ein verkürzter behavioristischer Instruktionismus oder ein missverstandener pragmatistischer Utilitarismus unterstellen würden. Schon der Versuch, sich einen groben Überblick über vorliegende Lernkonzepte, -modelle und -theorien zu verschaffen, fällt durchaus schwer. Der Theoriebauplan behavioristischer, kognitivistischer, handlungsregulatorischer, situativer, konstruktivistischer, phänomenologischer, pragmatistischer und subjektwissenschaftlicher Konzepte ist bunt, vielfältig und ungeordnet. Es besteht die Gefahr, dass „Lernen“ beliebig wird und zum Omnibus-Begriff, bei dem jeder mitfahren kann, degeneriert. Gleichzeitig droht dann nahezu alles, was an gesellschaftswissenschaftlichen Ansätzen vorliegt, in den Untiefen eines begrifflichen Bermuda-Dreiecks zwischen Subjekt, Struktur und Praxis zu versinken. Deshalb sollte man sich – jedenfalls wenn wir ausgehen von einer kritischpragmatistischen Position, wie ich sie vertrete – zunächst darüber klar werden, was denn überhaupt an Anforderungen an eine angemessene Theorie des Lernens gestellt werden kann. Darauf aufbauend erst können die verschiedenen theoretischen Konzepte gesichtet und beurteilt werden. Es kommt darauf an, die verschiedenen Lerntheorien in ihrer Reichweite und ihrem Stellenwert einzuschätzen, ihre tragfähigen Elemente zu identifizieren und sie zu reinterpretieren. Dabei können Gemeinsamkeiten und Unterschiede, jeweilige Begrenztheiten und zugleich Weiterführendes aufgezeigt werden. Es kann jedoch selbstverständlich nie eine abschließende, fertige Lerntheorie vorgelegt werden, die sich in Definitionen fixiert. Ein solches Denken in abgeschlossenen Systemen ist ein Versuch, Ordnungen herzustellen; diese drohen aber sich zu verfestigen, sogar zu versteinern. Es werden dann – wie im heutigen Wissenschaftsbetrieb öfters – untergeordnete Anschlussfragen verkettet, ohne die empirischen Fundamente und kategorialen Prämissen zu reflektieren. Das wäre der Tod jeder Wissenschaft, die gerade lebt von der Entdeckung des Neuen. Lernen ist nicht denkbar, ohne Neues zuzulassen; das Problem selbst sperrt sich gegen Geschlossenheit und feststehende Antworten. Wenn man dagegen gezielt die verschiedenen Sprachspiele durcheinanderbringt und aufeinanderprallen lässt, öffnen sich Lücken und Brüche, aus denen – vielleicht – Wahrheit blitzt. Das könnte im Fall „Lernen“ geschehen, wenn phänomenologische, pragmatistische und kritische Konzepte gegeneinander stoßen. Gemeinsam ist diesen vorab – im Unterschied zu behavioristischen, kognitivistischen und konstruktivistischen Analysestrategien – mindestens, dass sie die
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Sichtweise des externen Beobachters verlassen, dass sie die Denkweise eines naturwissenschaftlich orientierten, analytisch zergliedernden Reduktionismus, des Zurückführens auf das scheinbar Einfache aufgeben und einen Standpunkt innerhalb der Welt einnehmen, der berücksichtigt, dass die Lernenden – ebenso wie die Wissenschaftsbetreibenden – selbst dem zu untersuchenden Feld angehören und somit aktiv in dessen Wandlung und Gestaltung einbezogen sind. Dabei ist es hilfreich, dass besonders dann, wenn man das Lernen Erwachsener betrachtet, der gesamte Verlauf menschlichen Lernens vom Kleinkind bis zum Alter in den Blick kommt. Außerdem wird dabei die Besonderheit gegenüber Prozessen der Reifung, der Entwicklung und der Erziehung deutlich. Insofern sind Lerntheorien, welche vorrangig auf Erziehungsprobleme von Kindern und Jugendlichen, d.h. die Weitergabe von Wissen und Werten von der älteren zur jüngeren Generation, fokussieren, von Anfang an unangemessen. Wenn wir uns vergewissern, welche Anforderungen an eine angemessene Lerntheorie zu stellen sind, gibt es zum einen Kriterien bezogen auf die Thematik Lernen, zum andern müssen adäquate Lerntheorien aber auch Grundbedingungen wissenschaftlichen Denkens einlösen, welche gegenstandsübergreifend gelten. Eine entsprechende Systematik der Kriterien ist zweifellos anspruchsvoll, muss sich aber gleichzeitig vor der Illusion hüten, einen Punkt außerhalb der Welt zu finden, von dem her gesehen alles transparent und letztbegründbar wäre. Dabei unterliegt dieser Argumentation selbstverständlich ein spezifischer Wissenschaftsbegriff, den wir – im Folgenden zu erläutern – praxistheoretisch nennen können. Davon ausgehend können „Qualitätskriterien“ für Lerntheorien benannt werden – mit dem Risiko, dass sie auf den vorliegenden Text rückbezogen werden: Eine angemessene Lerntheorie sollte begrifflich hinreichend geklärt und möglichst konsistent sein. Begriffe bilden Knoten in einem Netz, welches über die Wirklichkeit geworfen wird. Dies muss entsprechend engmaschig sein, damit die konkreten Gegenstände nicht durch die Löcher der Abstraktion entfliehen. Der Begriff Reiz z.B. – als zentrale Kategorie des Behaviorismus –, der oberflächlich so sinnlich Erfahrbares wie Sichtbares, Hörbares, Fühlbares zu benennen scheint, ist Ergebnis extremer Abstraktion: Was aus der Vielfalt von Wahrnehmungen als Reiz empfunden wird, setzt einen Auslesevorgang voraus, der keineswegs mechanisch von außen nach innen abläuft, sondern zugleich Resultat aktiver Konstruktion darstellt. Eine tragfähige Theorie des Lernens sollte hinreichende Komplexität aufweisen, welche den Gegenstand nicht vorschnell vereinfacht und ihn unangemessen begrenzt. Dies gilt in der Dialektik von kategorialen und empirischen Bezügen. Die Fokussierung auf einzelne Lernaspekte führt dazu, dass Modelle unterkom-
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plex oder überpointiert gefasst und dass wesentliche Perspektiven verloren gehen. Das gilt z.B. beim Behaviorismus, der auf äußere Reize abstellt, oder beim Modelllernen, das an Vorbildern orientiert. Jede Theorie sollte gegenstandsadäquat sein. Eine Lerntheorie, welcher es um ein Erfassen menschlichen Lernens geht, ist einzubeziehen in Konzepte der gesellschaftlichen Tätigkeit bzw. des bewussten Handelns und setzt sich ab gegen generalisierende Theorien, welche Veränderungsprozesse abstrakter Systeme beschreiben. Lerntheorie ist deshalb sinnvollerweise gekennzeichnet durch Offenheit. Sie verfehlt ihren Gegenstand, wenn sie versucht, diesen kausalistisch oder gar mechanistisch zu modellieren. Vielmehr muss sie die bedingte Freiheit menschlichen Handelns berücksichtigen, bei dem Aneignung immer auf die je eigene Entscheidung zurückzuführen ist. Lernen ist nicht lückenlos von außen bedingt. Menschen haben Gründe zu lernen – oder eben nicht. Oder, um einen rationalistischen bias zu vermeiden, allgemeiner gefasst: Es macht Sinn zu lernen – oder eben nicht. Insofern stehen im Fokus angemessener Lerntheorie immer konkrete Fälle menschlichen Lernens. Diese zu interpretieren und auf ihren Kontext zu reflektieren, ist Aufgabe theoretischer Modelle und empirischer Konzepte menschlichen Lernens. Dabei ist auch klar, dass der konkrete Lernfall immer mehr umfasst als in kategorial angeleiteter Empirie aufscheint. „Menschliches Lernen“ hat zwei Mitklänge. Zum einen hebt es die Besonderheit des Lernens der Menschen hervor – im Unterschied zu dem Lernen von Elefanten oder Maulwürfen (beides Tierarten, die ich sehr mag). Sicherlich lernen Tiere auch, aber wir interpretieren ihr Verhalten ausgehend von unseren eigenen Schemata. Ein Erfassen des Lernens von Exemplaren der Gattung Mensch muss davon ausgehen, dass diese ihrem Handeln einen Sinn zuweisen. Dies macht die Besonderheit menschlichen Lernens aus. Zum andern betont der Begriff die Menschlichkeit als moralische Kategorie, die sich orientiert an Gemeinsamkeit, Anerkennung und Verantwortung bezogen auf Andere. Humanität ist unverzichtbare Grundlage unseres Zusammenlebens und verweist auf gegenseitige Angewiesenheit. Wenn man die Unmenschlichkeit bestehender Gesellschaftsformen erlebt, mitleidend erfährt und dafür eintritt, Verhältnisse zu beseitigen, in denen Menschen ausgebeutet und unterdrückt oder gar vernichtet werden, schließt dies notwendig eine Vorstellung menschlicher Möglichkeiten ein, die verachtet, geleugnet und beschränkt werden, und die sich unter besseren Bedingungen entfalten könnten. Im Kern geht es darum, dass individuelle wie kulturelle Entfaltung nur möglich ist in Gemeinschaft, im Horizont der Verständigung über ein
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„gutes Leben“. Dies setzt Grenzen der Anpassbarkeit und begründet Widerständigkeit. Es geht mir um Lernen für ein „besseres Leben“. Eine solche Aussage provoziert im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb allerdings reflexhaft das Verdikt der Unwissenschaftlichkeit wie einen Bannfluch. Auf der Bühne verbreiteter Lebenslügen spielen Wissenschaftler eine Rolle der Neutralität und der Autonomie. Dagegen aber ist der Verweis auf schon in den Entdeckungszusammenhang wissenschaftlicher Resultate eingehende Erkenntnisinteressen ehrlicher. Sicherlich erfordert das gerade auch, sich abzulösen von unmittelbaren Einflüssen. Dadurch erst kann eine relative Autonomie der Wissenschaft gegenüber Macht freigesetzt werden, die sie zur Wahrheit verpflichtet. Zugleich erhält Wissenschaft damit eine ethische Rückbindung. Sie funktioniert nicht mehr als Anpassung an das Bestehende und wiederholt nicht eine scheinbar unverrückbare Ordnung. Kritische Wissenschaft reflektiert die Gestaltung des Möglichen, ohne allerdings Rezepte für die Zukunft zu liefern, sondern indem sie diese immer wieder neu in Frage stellt. Wenn es darum geht, Lernen zu betrachten im Hinblick auf die damit angeeigneten und erweiterten oder aber auch eingeschränkten Möglichkeiten menschlichen Lebens, so steht dies im Fokus der Anschlussfähigkeit an bildungstheoretische Diskussionen um Entfaltung von Persönlichkeit und die Entwicklung von Identität. Eine angemessene Lerntheorie muss eine solche Entfaltungsperspektive stützen und erweitern, nicht abschneiden. Sie gerät sonst in den Verdacht, Instrumente bereitzustellen für beliebige Manipulationsstrategien des Lernens für unhinterfragte Zwecke der Ausübung von Macht – gar als Gehirnwäsche. Die Kritik am Zustand der Lerntheorien gemessen an den Anforderungen Konsistenz, Komplexität, Angemessenheit und Offenheit ist demgemäß Ausgangspunkt meiner weiteren Argumentation. Für einen Überblick über die verschiedenen Lerntheorien ist es unabdingbar, zunächst den Reflexionshorizont wieder zu öffnen (Teil 1). Lange – spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts – wurde die wissenschaftliche Debatte über Lernen dominiert von der Traditionslinie Behaviorismus – Kognitivismus – Konstruktivismus. Demgegenüber kann die Reichweite philosophischen Denkens viel weiter zurückverfolgt werden bis zu den Vorsokratikern und den – wenn auch marginalen – Äußerungen bei Kant, Fichte, Hegel oder Marx. Außerdem ist eine hermeneutisch-phänomenologische Denkrichtung von Dilthey über Husserl belegbar. Zwangsläufig schließt sich dem unterschiedlichen Umgang mit der Kategorie Lernen der Versuch an, zunächst wenigstens eine vorläufige Begriffssystematik zu klären (Teil 2). Da es nicht nur eine, sondern viele Arten des Lernens gibt, muss ihre Gemeinsamkeit aufgedeckt werden.
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Die Diskussion über „selbstbestimmtes Lernen“ hat dazu geführt, die Reichweite des Lernbegriffs zu erweitern und ihn aus Schule und Unterricht herauszuführen. Dabei wurde auch die Enge der Instruktionskonzepte, die Lernen machen, erzeugen, herstellen wollen, durchbrochen. Dabei kommt zunächst die Differenz zwischen institutionellem und informellem Lernen in den Blick. Wichtiger noch ist die Unterscheidung zwischen gewolltem, intendiertem und beiläufigem, inzidentellem Lernen. Schwierig ist es angesichts der Komplexität dieser Begrifflichkeiten, den Rahmen und die Inhalte von Lerntheorie zu bestimmen. Wenn wir über uns selbst nachdenken und erinnern, was wir alles gelernt haben, wird uns die Vielfalt bewusst. Wir lernen zu essen und zu trinken, zu laufen, zu sprechen, zu schreiben und zu lesen, zu rechnen, fremde Sprachen, zu singen und zu tanzen, wissenschaftliches Wissen, technische Fähigkeiten, moralische Einstellungen und Überzeugungen, mit Menschen umzugehen und uns auszutauschen, auch Gefühle zu entwickeln, zu hoffen und zu trauern. Wir lernen Wissen, Können, Leben und Lernen. Ohne zu lernen, könnten wir nicht leben. Entsprechend weit gespannt sind auch die wissenschaftlichen Lerntheorien (Teile 3 und 4). Sie versuchen, Prozesse und Themen des Aneignens von Motorik bis zu Moral zu beschreiben, zu erklären, zu verstehen oder zu begreifen. Entsprechend weit sind auch Untersuchungsansätze und Methodenkonzepte gefasst. Diese reichen vom Beobachten, über das Nachvollziehen von UrsacheWirkungsketten, dem Verstehen von Sinn bis zum Begreifen von Erfahrung im Zusammenhang von Weltentwürfen. Lernen als menschliches Lernen ist nur oberflächlich aus einer Beobachtungsperspektive zu beschreiben. Um einen angemessenen empirischen Zugang zu finden, brauchen wir Ansätze, welche die bedingte Freiheit der Subjekte einbeziehen. Gründe und Sinn des Lernens können nur die Lernenden selbst artikulieren. Und diese werden erst transparent im Diskurs, im gemeinsamen, zweckentlasteten Gespräch. Wichtig ist es vorauszuschicken, dass es mir nicht darum geht, zu behaupten, die einzelnen, von mir knapp charakterisierten Konzepte (besonders in Teil 3, vgl. dazu auch Holzkamp 1993, Kapitel 2) seien schlicht falsch. Sie setzen aber ausgewählte, meist verengte Sichtweisen absolut und beschränken so jeweils ihre Horizonte. Deshalb klingt die theoretische Diskussion manchmal wie ein Spiel mit vielen Ismen. Der Nachweis der Verkürztheit und Begrenztheit macht die Kritik der einzelnen Konzepte des Lernens aus, auch deshalb, weil der Begriff des Lernens selbst sehr weit gefasst ist und somit zur Engführung drängt. In knappen Thesen skizziert ergibt sich daraus eine Folge der kritischen Reinterpretation:
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Die traditionell immer noch dem Behaviorismus (Watson, Skinner) verhaftete, verhaltensbezogene „Pädagogische Psychologie“ verfolgt aber dagegen weiter naturalistische Denkmuster (Teil 3.1) und setzt sie, wenn auch zunehmend komplexer, fort. In ihrer Reinform beruht sie auf kausalistischen Linien, die das physikalische Gesetz der Kopplung von Impuls und Reaktion auf eine psychische Verbindung von Stimulus und Response überträgt. Was aber als Reiz wirkt, bleibt unbestimmt und ist dem dominanten Methodenparadigma des Beobachtens, das sich gegen Introspektion absetzt, unzugänglich. Schrittweise erst hat sich die Lerntheorie aus der „black-box“ der ReizReaktions-Systeme befreit. Kognitivistische Lerntheorien (Teil 3.2) wagen es, „interne“ psychische Prozesse erklären zu wollen. Dazu wird die Linearität der Kausalketten aufgebrochen und auf kybernetische und systemische Zusammenhänge rekurriert. Allerdings bleibt auch hier noch der Lernbegriff formal und „un-menschlich“, weil für physikalische, organische und psychische System „gleich-gültig“. Erst die aus der Tätigkeitstheorie der „Kulturtheoretischen Schule“ (Wygotski; Leontjew) entwickelte Handlungsstrukturtheorie (Hacker; Volpert; Teil 3.3) bezieht Lernen auf menschliches Handeln im gesellschaftlichen Zusammenhalt. Allerdings verbleibt sie immer noch in der Außensicht: Sinn und Bedeutung des Handelns und also auch des Lernhandelns werden zwar betont, aber nicht vom Standpunkt der lebenden Subjekte verstanden. So erhält die Theorie, besonders in ihrer arbeitswissenschaftlichen Umsetzung bei Winfried Hacker und Walter Volpert einen kognitivistischen Bias. Zugleich ist durch die alle Wissenschaftsbereiche erfassenden Irritationen des „Radikalen Konstruktivismus“ die eigene Aktivität der Individuen als Welterzeugung betont worden. Die These von der Konstruktion der Wirklichkeit durch das Denken hat auch „Lernen“ in einen veränderten Horizont gesetzt (Teil 3.4). Erstaunt muss man jedoch konstatieren, dass nun auf einmal die Welt als „black-box“ erscheint. Anschlussfähigkeit, Ko-konstruktion und Viabilität sind Versuche, Bedeutungsanker auszuwerfen, von denen her Lernen für die Systeme relevant wird (Beispielhaft bei Glasersfeld). Mit dieser Entwicklungsstufe ist die Leistungszunahme der traditionellen Lerntheorien zu einem vorläufigen Ende gekommen. Erreicht wurde eine Komplexität, die auf eigene Aktivität und Konstruktion durch die Individuen abstellt. Allerdings fehlt immer noch das „missing link“ zwischen Subjekt und Struktur. Alle Versuche, die Psyche aus der Psyche zu begreifen, drehen sich im Kreis. Erst wenn man das Ich-Welt-Verhältnis nicht mehr nur als psychisches Problem, sondern als Resultat eingreifender Praxis auffasst, durch Hinwendung zu Praxistheorie, kann der Zirkel durchbrochen werden.
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Dagegen vollzieht seit den 1990er Jahren die neurophysiologische Debatte um die Hirnforschung, die sich als absolut modern, weil naturwissenschaftlich basiert, darstellt, einen Rückfall auf biologistische Reduktion. Neurophysiologische Lerntheorien (Teil 3.5) ausgehend von Pawlow bis Roth setzen reduktionistisch auf der organischen oder gar physischen Ebene an und führen psychische Prozesse darauf zurück. Sie vollziehen einen Kurzschluss zwischen Gehirn und Geist. Gedanken und Gefühle sollen erklärt werden auf der Grundlage von physikalisch/chemischen Prozessen in Nervenbahnen und zwischen Gehirnregionen, Damit wird die Jahrhunderte alte Debatte über den Leib-Seele-Dualismus als gelöst unterstellt. Wie genau diese Auflösung aber erfolgen soll, bleibt unbeantwortet. Der neurophysiologische Reduktionismus verschärft das Problem, anstatt es zu beenden. Damit erhalten Ansätze hermeneutischer, pragmatistischer und kritischer Theorie, die einem nicht-reduktionistischen, kontextorientierten Ansatz folgen, einen hohen Stellenwert (Teil 4). Sie öffnen schrittweise den begrenzten Horizont der Beobachterperspektive und gehen über zu einer Begründungslogik in der Beteiligtenperspektive. Zunächst haben phänomenologische Konzepte am Begriff des Verstehens festgehalten. Allerdings ist in der Tradition Wilhelm Diltheys und Edmund Husserls eine internalistische Variante des Natur-Geist Problems bezogen worden, die das alte cartesianische Schisma, obwohl Dilthey dagegen anrennt, eher noch vertieft (Teil 4.1). Eine nicht-dualistische, relationale Lerntheorie, welche die Spaltung von Ich und Welt nicht verfestigt, muss also nicht die Trennung, sondern die Verbindung betonen. Nichtsdestoweniger verfängt sich das Alltagsdenken immer wieder im Leib-Seele-Problem. Weiter aufgebrochen wird dies im Pragmatismus (Teil 4.2), der mit der zentralen Kategorie des Handelns den Umkreis bloßen Denkens verlässt und reine Innerlichkeit überschreitet. Bei John Dewey kann ein Ansatz gefunden werden, rezeptive Erfahrung durch aktive Gestaltung von Welt zu ersetzen. Trotzdem sind die kritischen Einwände, Lernen als Problemlösen habe eine utilitaristische Schlagseite, nicht ganz abzuweisen. Es fehlt hier außerdem ein hinreichend reflektiertes Bild der fortbestehenden kapitalistischen Gesellschaft. Die „subjektwissenschaftliche“ Lerntheorie Klaus Holzkamps (Teil 4.3) unterstellt den Einbezug der Lernenden in die historisch-konkrete Gesellschaftsformation und unterlegt einen Begriff des Handelns, der aufgespannt ist in die dadurch jeweils vorgegebene Dimension zwischen „restriktiver“ und „erweiterter“ Handlungsfähigkeit, Dies wird für das Lernproblem übersetzt in die Kategorien „defensives“ bzw. „expansives“ Lernen.
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Erst in einer kritischen Theorie des Lernens (Teil 4.4) öffnet sich das Gefängnis eines adaptiven Instruktionismus, der aus dem Erbe des Behaviorismus errichtet worden ist. Das Denken von Möglichkeiten für veränderndes Handeln und ein darauf bezogenes bedeutsames Lernen erhält hier eine Grundlage. Statt der Bezugnahme auf die scheinbare Faktizität des Gegebenen wird der Blick geöffnet auf die unausgeschöpfte Potentialität des Möglichen. Lernen in der Welt ermöglicht Gestalten von Welt. Wenn wir vom Lernen reden, wird immer mitgedacht, dass vieles auch anders sein könnte. Wir lernen in bedingter Freiheit. „Lernen“ steht im Konjunktiv und im Futur: Wir wollen etwas können, was sich uns im Indikativ und im Präsens nicht öffnet. Und wir möchten, dass es uns besser geht, nachdem wir gelernt haben. Damit erhält die Lerntheorie erst ein hinreichendes Fundament. Für einen angemessenen Entwurf müssen die sinnhaften Aspekte vorhergehender Theorien des Lernens aber nicht schlicht aufgegeben werden. Der Behaviorismus ist nicht einfach bloß falsch, sondern extrem verengt, beschränkt auf Ausnahmekonstellationen im Labor und zugleich ungeheuer abstrakt bezogen auf verschiedenste Systemtypen. In der Komplexität der Lebenswelt muss er notwendig scheitern. Sogar im Radikalen Behaviorismus finden sich Elemente, die – anders eingeordnet – Sinn ergeben. Dies entspricht dem Gedanken einer Emergenz der Theorien des Lernens, die fortschreitend ihre Grenzen aufheben (Teil 5). Wir stehen immer noch vor dem Rubikon-Problem, das bereits Caesar bei seinem Marsch auf Rom hatte: Wo und wie kann der Grenzfluss (In unserem Fall das Verhältnis von Körper und Psyche) überschritten werden? Abgelöst von der Metapher handelt es sich um das altbekannte Leib-Seele-Problem. Es gibt dafür verschiedene Strategien: • einen Determinismus, der Denken als zwingende Folge körperlicher Vorgänge
ansieht, dagegen • einen Autonomismus, der glaubt, den Geist ablösen zu können vom Körper, • einen Reduktionismus, der psychische auf physische Prozesse zurückführen
will, und im Gegenzug • einen Holismus, der von einer Ganzheitlichkeit her denkt und Einzelerscheinungen einer Gestalt unterordnet, • einen Parallelismus, der Gleichlauf und Gleichzeitigkeit von Physischem und Psychischem postuliert. Das Emergenz-Konzept, das unterscheidet zwischen Ebenen der Wirklichkeit, wobei die untere Ebene jeweils nur die Rahmenbindungen für höhere Prozesse festlegt, versucht sich diesen Alternativen zu entziehen.
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Es könnte sein, dass alle diese Lösungsstrategien einem Scheinproblem aufsitzen: Zusammenzubringen, was vorher geteilt wurde. Dies wird aufgenommen in einer sechsten Strategie, der Identitätsthese, welche den Leib-Seele-Dualismus aufhebt und von der Einheit von Körper und Geist im Leib ausgeht. Die Varianten bleiben formal und lassen die konkreten Prozesse der Vermittlung unterbestimmt. Statt passiver Determination geht es jedoch um aktives Eingreifen. Eine Reinterpretation vorliegender Lerntheorien kann diese nach Komplexitätsstufen ordnen. Hilfreich als Ordnungsprinzip ist dabei der Gedanke der Emergenz, dass nämlich aufsteigende Systemebenen zu unterscheiden sind, wobei die jeweils unteren Ebenen den Rahmen für die oberen abgeben, diese aber nicht vollständig bestimmen. Mit der Idee der Emergenz erhalten die verschiedenen Theorien systematisch, aber immer noch formal ihren Platz. Die Logik der Begriffe legt ein weitergehendes dialektisches Denken nahe, das die Nicht-Identität des Gegenstandes auf höhere Systemebenen hebt. Für eine angemessene Lerntheorie ist es notwendig Einseitigkeiten der gegenläufigen Perspektiven von Reduktion und Emergenz zu vermeiden, die Dialektik von Wahrnehmen und Denken im Schweben zu halten und Lernen zu begreifen als Art und Weise des Umgangs mit Erfahrung im Zusammenspiel von eigenem Selbst und Weltbezug. Lernen kann dabei einbezogen werden in Handeln. Einen Rahmen dafür bietet die Tätigkeitstheorie Alexeji Nikolajewitsch Leontjews welche den Zusammenhang von Handeln, Denken und Lernen modelliert (Teil 6). Die Sackgasse des Leib-Seele-Dualismus könnte verlassen werden, wenn man dem tätigkeitstheoretischen Ansatz Leontjews folgt, der diese Trennung aufhebt und Tätigkeit als Verbindung von Innen und Außen begreift, also nicht das Gegensätzliche, sondern das Vermittelnde aufnimmt und als zentral fokussiert. Auch Pierre Bourdieu macht im Habituskonzept deutlich, dass die Frage, wie die Welt in das Ich kommt, falsch gestellt ist. Sie ist immer schon drin. „Habitus“ verbindet Ich und Welt. Die Bezugnahme auf Tätigkeit und Habitus steht im Zentrum meiner Argumentation, wobei allerdings auch deutlich wird, dass die Verbindung nicht bruchlos aufgeht, weil die Perspektiven zum einen vom Subjekt (bei Leontjew und Holzkamp), zum andern von der Struktur (Bourdieu) ausgehen. Es geht darum, Kreisläufe zu öffnen und Neues zuzulassen. In den Routinen menschlicher Aktivitäten brechen Lücken auf, aus denen Widersprüche hervordrängen. Lernen wird angestoßen durch Irritationen, Diskrepanzen, Krisen, welche die Reflexion dieser Erfahrungen (Teil 7) und das Denken verändern. Durch neue Erfahrungen erhält auch das Handeln neue Gründe und Tätigkeit eine veränderte Bedeutung.
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Dies ist keineswegs nur ein kognitiver Prozess. Impulse zu Lernen werden provoziert durch emotional unterlegte Intentionen. Lernen beruht auf Interessen (Teil 8), den „Trieben“ Bedürfnisse zu befriedigen, den „Motivationen“ Probleme zu lösen, den Wünschen mehr zu können. Interessen – als angemessene Kategorie – sind Impuls, Prozess und Resultat gesellschaftlich gerahmter Ich-WeltVerhältnisse. Sie sind nicht gegeben, sondern entstehen. Sie sind historisch und kulturell vergänglich. Wo keine Sinnhaftigkeit erfahren werden kann, wird Lernen lästig. Anforderungen zu lernen, erzeugen dann Widerstände. Diese sind berechtigt und begründet, wenn wir nicht erwarten, dass es uns, nachdem eine Lernschleife abgeschlossen ist, besser geht oder wenn sogar droht, dass wir unsere Lage verschlechtern. Gegen fremde, außengesetzte Lehrzwänge als nicht mitvollzogene Lernaufgaben entwickeln wir verständliche Lernwiderstände (Teil 9). Diese sind die deutlichsten Hinweise darauf, dass Freiheitsspielräume beim Lernen bestehen: Widerständig ist nicht unbegründet. Berechtigte Lernwiderstände kann es in der Logik der Instruktionspsychologie gar nicht geben, bzw. müssen sie ausgeräumt werden. Lernen ist demgemäß einbezogen in Strategien sinnvoller, handelnder Gestaltung des eigenen Lebens. Und umgekehrt werden Lebensverhältnisse zu Lernvoraussetzungen (Teil 10). Menschliche Individuen begreifen sich in Lernräumen und Lernzeiten. Sie nehmen Platz ein. Damit sind sie in Raum und Zeit einbezogen, Lernen hat immer lokale und temporale Aspekte. Es ist niemals ortsoder zeitlos. Dies gilt schon deshalb, weil wir nicht nur Geistwesen sind, sondern als Körper anwesend, formelhaft: Wir sind nicht Geister, die einen Körper haben, wir sind Körper. Es folgt daraus eine Körpergebundenheit allen Handelns, also auch des Lernens. Auch darüber verständigen wir uns durch Sprache. Menschliche Verhältnisse sind aufgespannt im Raum der Sprache, der uns als Muttersprache im Vaterland bindet. Es gibt eine Sprachgebundenheit des Lernens, die sich allerdings nicht nur auf verbale Kommunikation bezieht, sondern Körpersprache, Blicke der Augen, Bewegen der Hände, Züge des Gesichts, Halten des Kopfes umfasst. Diese leiblichen Erfahrungen sammeln sich über den gesamten Lebenslauf. Wobei die offiziellen Daten nur den Rahmen abgeben für unsere Geschichten. Wir erzählen uns selbst. Dies erst macht unsere Biographie aus mit ihren Ereignissen, Trauern und Hoffen. Die Biographizität des Lernens entfaltet sich als Art und Weise, den eigenen Lebenslauf in der Biographie selbst zu gestalten. Verdichtet erleben wir das mit wachsendem Alter. Was wir noch aufgreifen, als neu zulassen und uns zumuten, hängt davon ab, wie wir selbst die eigene
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Lernfähigkeit und die Sinnhaftigkeit eines Lernbemühens für uns einschätzen. Lernalter ist demgemäß kein chronologischer Prozess, sondern ein sinnbezogener Ablauf, in dem wir uns einordnen und den wir erzählen. Was nicht bedeutet, dass wir vollkommen selbstbestimmt lernen. Das Selbst, das lernt, lebt immer schon in Gesellschaft (Teil 11). Die Person ist Sprachrohr der Gesellschaft und ruft in diese hinein. Es ist nicht vollständig außengeleitet. Freiheit des Handelns und Lernens meint nicht Willkür oder umgekehrt Bedingtheit; Freiheit entsteht durch Spielräume in veränderbaren Rahmen. Lernen beruht auf Interaktionen in Zweier-, Gruppen- und Gesellschaftsbeziehungen. Diese sind immer schon institutionell und strukturell gerahmt in den Konstellationen der Gesellschaft. Auch die Robinson-Situation hat biographische und kulturelle Prämissen, die auf der einsamen Insel in der Südsee nicht abgeschüttelt werden. Die Aktionen der Subjekte bewegen sich innerhalb konkreter ökonomischer, politischer und sozialer Strukturen. Wir stoßen dann auf das Konzept des Habitus als strukturierender Struktur im Hinblick auf Prozess und Resultat des Lernens. Die Subjekte versuchen für sich Identität zu finden und zu sichern. Darin steckt auch Renitenz gegen beliebige Manipulation. Auch in einem solchen weitgespannten Feld des Lernens wird Lehre (Teil 12) keineswegs überflüssig. Lerntheorie braucht ein angemessenes Konzept von Lehre. Nachdem wir gelernt haben, dass Lehre nicht darin bestehen kann, Wissen in die Köpfe anderer zu schütten, ist zu fragen, was eine sinnvolle Strategie des Vermittelns von Gegenständen sein kann. Dies betrifft unmittelbar das eigene Selbstverständnis der Lehrenden, da man sich, ausgehend von einer solchen Position weder nur als Trainer oder Coach, noch als bloßer Animateur oder gar als „Facilitator“ begreifen kann. Lehrende helfen den Lernenden durch Vermitteln der Thematik mit ihren Problemen, Brüchen und folgenden Zweifeln. Allerdings meint Lehren in einem reflektierten Sinn eben nicht Belehren. Lehre weist mögliche sinnvolle Lernwege durch die Berge des Wissens. Gehen müssen die Pfade aber die Lernenden selbst. Es geht um Vermitteln von Lerninteressen und Lernproblematiken. Dabei spielen Personal und Institutionen des Lehrens wichtige Rollen. Die im Durchgang reinterpretierten Theorien des Lernens können abschließend daran gemessen werden, inwieweit sie Identität stützen (Teil 13) und Bildung entwerfen. Diese Anforderungen sind selbstverständlich selbst schon begründet in dahinter stehenden Entscheidungen beruhend auf einem hartnäckigen Festhalten an der Idee von Bildung, welche Lernen misst an den Möglichkeiten der Entfaltung des Einzelnen in und mit der Gesellschaft. Angemessene Konzepte des Lernens schließen damit an die alte Idee von Bildung an, in der Ich und Welt in Beziehung treten und sich auf einen Fluchtpunkt hin verbinden.
V ORWORT
UND
Ü BERBLICK
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In dieser Argumentation werden die traditionellen Dualismen zwischen Körper und Geist, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Ich und Welt, zwischen Theorie und Praxis vermittelt, unterstellt und zugleich aufgelöst. Meine Intention richtet sich auf die Begründung einer praxeologischen, subjekt- und gleichzeitig kontextorientierten Lerntheorie. Als vorab genanntes Resümee: Es geht nach wie vor um Bildung. Sie ist die Art und Weise, wie Lernen sich bezieht auf die Wirklichkeiten und die Möglichkeiten der gegenwärtigen Gesellschaft.
1. Horizonte und Perspektiven des Nachdenkens über Lernen
Für die Rekonstruktion eines nicht-reduktionistischen Lernbegriffs ist es angebracht, hinter die Trennung „erklärender“ und „verstehender“ Theorie, von Natur- und Geisteswissenschaft zurückzugehen und sich der gemeinsamen Quellen zu vergewissern. In der philosophischen und pädagogischen Tradition spielte der Begriff „Lernen“ allerdings keine grundlegende Rolle. Erstaunlich ist aber eine Weite des Anspruchs, die bereits in den Fragmenten der Vorsokratiker nachzuweisen ist (Lorenz/Schröder 1980, 242). Lernen wird verstanden als Akt der Erkenntnis, als ein Zur-Kenntnis-nehmen eingespannt in das Verhältnis von Erfahren und Begreifen. Angelegt ist schon hier eine Parallelität des individuellen Lernens und der gattungsgeschichtlichen Perspektive des Forschens. Dies setzt sich bis heute fort – z.B. in der Nachfolge John Deweys, der Lernen nach dem Muster des Forschens konzipiert. Folgt man einschlägigen philosophischen Begriffsbestimmungen (z.B. Lorenz/Schröder 1980), dann findet sich eine systematische Betrachtung zum Lernen erstmals schon bei Platon: „Kenntnisse zu erwerben und festzuhalten und so besser zu werden“ (Platon 1957, Bd. IV, Theaitetos 153b). Sie ist eingebunden in seine Anamnesis-Theorie des Erkennens und Lernens als Wiedererinnerung: „Denn das Suchen und Lernen ist demnach ganz und gar Erinnerung“ (Platon 1957, Bd. II, Menon 81d; ähnlich Bd. III, Phaidon 75e). Lernen wird gefasst als ein Wiedererinnern an schon vorher als Idee gehabte Erkenntnis. Bei Aristoteles (1995, Bd. 5, 19-35) wird im Gegenzug der Stellenwert des Vorherwissens in der Annahme angeborener Ideen verworfen. Vielmehr gründet sich Lernen auf die Aneignung des „Sinnlichen“. Schon der erste Satz der „Metaphysik“ wirft dieses Problem auf: „Alle Menschen streben von Natur nach Wissen“ (ebd. Buch 1, 1). Dies beruht auf „Sinneswahrnehmungen“, besonders durch das Sehen. „Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkennt-
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nis gibt und viele Unterschiede aufdeckt“ (ebd.). Die sinnliche Wahrnehmung – das Sehen – schließt an Vorgewusstes und Erinnertes an. Wahrnehmung und Erinnerung begründen gemeinsam die Erfahrung durch Lernen. „Aus der Erinnerung entsteht nämlich für die Menschen Erfahrung; denn viele Erinnerungen an denselben Gegenstand bewirken das Vermögen einer Erfahrung, und es scheint die Erfahrung der Wissenschaft und Kunst fast ähnlich zu sein“ (ebd. 2). Hier sind zwei weiter wirkende Grundeinsichten benannt: Der Stellenwert von Erfahrung und die Ähnlichkeit von Lernen und Forschen. Damit ist in den Positionen der griechischen Klassiker schon das Spannungsfeld aufgemacht zwischen Begreifen und Erfahren, zwischen Kategorie und Empirie. Beim Schnelldurchgang durch die Geschichte der Philosophie ist für die weitere Diskussion um Lernen vor allem die von René Descartes hochgehaltene Relevanz der Methode wichtig (Descartes 1637/2001). Er betont den Stellenwert von Selbsttätigkeit beim Entdecken. Dem wird Lernen als Nachvollzug gegenübergestellt – es wird also auf Weitergabe vorhandenen Wissens beschränkt. Außerdem und vor allem steht Descartes an der Schwelle neuzeitlicher Subjektkonstruktion. Seine Auffassung der Existenz zweier miteinander wechselwirkender, voneinander verschiedener „Substanzen“ – Geist und Materie – ist bis heute grundlegend für die Alltagsvorstellungen, nach denen wir uns selbst begreifen (Descartes 1641/1993). Eingeschlossen sind auch die Trennungen von Körper und Seele und die erkenntnistheoretische Spaltung von Welt und Ich. Damit erst wird das, was es zu erkennen gilt, nach außen verlegt. Es wird fremd. Deshalb muss es nach innen zurückgeholt werden – bei Descartes durch Denken. Korrigiert wird die Perspektive durch Immanuel Kant, der eigenständiges Hervorbringen betont: „Man lernt das am gründlichsten, und behält am besten, was man gleichsam aus sich selbst lernt“ (Kant 1964, Bd. XII, 736). Bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel werden die Aspekte von Aktivität und Rezeptivität zusammengefasst, wenn er nahe legt, dass die Gedanken anderer nur durch Denken aufgefasst werden können, und dass Nach-Denken „Lernen“ sei. Häufig zitiert bei Abiturfeiern wird die Aussage aus der Gymnasialrede von 1810: „Schränkte aber das Lernen sich auf bloßes Empfangen ein, so wäre die Wirkung nicht viel besser, als wenn wir Sätze auf das Wasser schrieben“ (Hegel 1970, Bd. 4, 332). Mit der Betonung von Erkenntnis im Verhältnis von Erfahren und Begreifen sowie von Vermitteln als Nachdenken und Selbsttätigkeit in der philosophischen Tradition ist die Perspektive geöffnet für eine hermeneutisch-phänomenologische Sichtweise auf Lernen (s. u. Teil 4.1), welche abstellt auf einen umfassenden Begriff von Erfahrung, der über Beobachtung hinausgeht, und sowohl die
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erschließende Kraft von Sprache als auch den Rückbezug auf Leiblichkeit einbezieht (Buck 1967/1987; Koch 1988; Meyer-Drawe 1982, 2003), die wir mit den anderen teilen. Sie werden uns vertraut und wir können sie verstehen. Die hegemoniale verhaltenswissenschaftliche Lerntheorie, die sich erst Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte, entstand allerdings aus der naturwissenschaftlichen Grundlegung der experimentellen Psychologie unter der Devise Beobachten und Messen, wie sie z.B. bereits von Ebbinghaus vertreten wurde. Für diese war Verstehen des Eigenen und des Fremdem gerade kein adäquates Erkenntnismittel. Vielmehr setzte sie auf die Beobachtung von Verhalten. Entstanden ist daraus der Behaviorismus in seinen unterschiedlichen Formen. Letztlich unterstellt die Ahnenreihe ausgehend von Pawlow und Watson über Skinner, Bandura bis Glasersfeld naturwissenschaftliche Denkformen – und als reduziertestes Muster das lineare physikalische Impuls-Gesetz, das dann kybernetisch erweitert wurde. Um die konträren Denkmuster von Erklären und Verstehen ging es auch schon in der berühmt-berüchtigten Ebbinghaus-Dilthey-Kontroverse 1894-1896, in der sich die naturwissenschaftlich orientierte, experimentelle Psychologie gegen geisteswissenschaftliche Ansätze des Verstehens zunächst – jedenfalls für die folgenden 100 Jahre – durchgesetzt hat. Begonnen hat der Streit mit einem Ausfall des Experimentalpsychologen und Gedächtnisforschers Herrmann Ebbinghaus (1850-1909) – Professor und Leiter der Laboratoriums für experimentelle Psychologie an der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin – gegen seinen Kollegen, den Lehrstuhlinhaber für Philosophie Wilhelm Dilthey (1833-1911) (Galliker 2010, 61). In dieser Diskussion werden die kontroversen Positionen bezogen, die die wissenschaftstheoretischen Konfliktstandpunkte kennzeichnen: Dilthey hatte gegen die naturwissenschaftlich orientierte „erklärende“ eine „verstehende“ Psychologie entwickelt, die er selbst „beschreibende“ Psychologie nannte. Vor jeder Analyse sollten die Phänomene genau beschrieben werden. Ebbinghaus veröffentlichte in der „Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane“ (1896) einen Beitrag mit dem Titel „Über erklärende und beschreibende Psychologie“. Kern des folgenden Streits, der auch gekennzeichnet ist von Un- und Missverständnissen, ist der Ausgangspunkt Diltheys: „Das Seelenleben wächst nicht aus Teilen zusammen; es bildet sich nicht aus Elementen; es ist nicht ein Kompositum, nicht ein Ergebnis zusammenwirkender Empfindungsatome oder Gefühlsatome: es ist ursprünglich und immer eine übergreifende Einheit. Aus dieser Einheit haben sich seelische Funktionen differenziert, bleiben aber dabei an ihren Zusammenhang gebunden“ (Dilthey 1894/1990, 211).
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Gegen die reduktionistische, zergliedernde naturwissenschaftliche Denkweise setzt Dilthey also ein ganzheitliches, lebensphilosophisches Paradigma: Diese Grunddifferenz kennzeichnet die Konfliktlinie des wissenschaftlichen Disputes, bei dem sich die Streitenden teilweise nicht verstehen. Ebbinghaus kennzeichnet Diltheys Argumente als pauschal, veraltet und ungenau. Dilthey lehnt zwar die Analyse psychischer Prozesse nicht ab, beharrt jedoch darauf, dass ihr Zusammenhang kein rein neurologischer sein kann, und er verweist auf den hohen Stellenwert institutioneller und historischer Kontexte, „der Zusammenhang zwischen diesen verschiedenartigen, nicht miteinander verbundenen Bestandteilen ist sui generis“ (ebd. 213). Ein wesentlicher Punkt seiner Kritik ist, dass ein psychischer Prozess einmal durchlaufen, nie wieder der gleiche sein kann, die Suche nach Gleichförmigkeit als Kennzeichen naturwissenschaftlichen Denkens sich also bricht an der Historizität der Ereignisse. Dies setzt unüberwindbare Grenzen sowohl für die Reliabilität des Experiments als Methode in den Gesellschaftswissenschaften als auch für die Objektivität durch externe Beobachtung. Die Einschränkung der Methode in der Folge der experimentellen Psychologie hat zugleich eine Verschiebung des Gegenstandes in Kauf genommen. Menschliches Lernen in seiner Leiblichkeit wurde verallgemeinert und zugleich verkürzt auf tierisches Lernen von Katzen, Ratten und Tauben. Interpretative Horizonte wurden ausgeblendet. Das Konzept richtete sich gegen Introspektion, traf aber auch Reflexion als Nachdenken, sich und andere zu verstehen. Erst in der Interaktion erhalten Versuche zur empirischen Erfassung des Lernens ihre Tragfähigkeit durch Verschränkung der Sichtweisen. Wir verstehen einen Gegenstand, indem wir darüber reden. Basis der Empirie ist dann das Gespräch. (Deshalb haben wir (Faulstich/Grell 2005; Grell 2006; Faulstich u.a. 2012) vorgeschlagen, den Austausch im Diskurs von Gruppendiskussionen als methodisches Konzept zu stärken und den Ansatz zur „Lernwerkstatt“ weiterentwickelt.) Die Psychologie in der Nachfolge Wilhelm Wundts (1832-1920), der 1879 das „Institut für experimentelle Psychologie“ an der Universität Leipzig gegründet hatte, versuchte nichtsdestoweniger den Anschluss an die triumphierenden, sich zur Basis des imperialen Kapitalismus entwickelnden Naturwissenschaften zu gewinnen. Gegen die Dominanz der siegreichen Naturwissenschaften nutzte es nichts – wie Dilthey es versuchte – auf der Besonderheit der Geisteswissenschaften in ihrer Einmaligkeit und Geschichtlichkeit der Fälle zu beharren. Nichtsdestoweniger blieben phänomenologische Ansätze weiter virulent. Besonders in Deutschland wurde unter dem Einfluss Edmund Husserls ein phänomenologischer Lernbegriff immer wieder reaktiviert – Ansätze finden wir z.B. bei Friedrich Copei (1930), in Hamburg bei Martha Muchow (Muchow/Muchow 1935;
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vgl. zur Einordnung Faulstich-Wieland/Faulstich 2012) und nach dem zweiten Weltkrieg z.B. bei Günther Buck (1967), bei Lutz Koch (1988, 1991), bei Wilfried Lippitz (Lippitz/Meyer-Drawe 1982) und bei Käte Meyer-Drawe. Diese schreibt 1982: „Lernen ist in dieser Bedeutung kein linearer Prozess der Integration von Wissenselementen, sondern ein Prozess der Konfrontation zwischen unausdrücklich leitendem Vorwissen und neuer Sicht, neuen Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten, d. h. die Produktivität des Lernprozesses liegt in seiner Negativität: Lernen ist Umlernen“ (Meyer-Drawe 1982, 34). Während dies aber immer noch in der Immanenz des Psychischen verbleibt, setzt der Pragmatismus in der Folge von Peirce (1878) und besonders von Dewey (1905, dt. 2002a) auf den Stellenwert des Lernens beim eingreifenden Handeln (s. u. Teil 4.2). Lernen ist demgemäß angeeignete Erfahrung bei verändernder Gestaltung. Es geht um ein Orientieren des Handelns, um Probleme zu lösen. Entsprechend ist Denken Problemlösen, in das Lernen eingebunden als korrigierende Erfahrung und Verarbeitung beim aktiven Handeln. Einen wesentlichen Beitrag zur veränderten Perspektive hat Klaus Holzkamp in seiner Lernen-Studie (Holzkamp 1993) geliefert. Er setzt an der Tradition der kulturhistorischen Schule an, die vor allem bei Wygotski die Entwicklungsbedingtheit menschlicher Tätigkeit und Fähigkeiten hervorgehoben hat und in der Tätigkeitstheorie bei Leontjew entfaltet worden ist. Holzkamp hat, um die Besonderheit der Lernhandlung herauszuarbeiten, seine Interpretationsperspektive auf „intentionales“ Lernen begrenzt und vor allem auf Begründung des Lernens vom Standpunkt der Subjekte verwiesen. Daneben wird versucht, einen kritisch-pragmatistischen Ansatz stark zu machen (Faulstich 1999; Faulstich 2005). Dieser greift zurück auf John Dewey, aber auch auf Klaus Holzkamp – zwei Positionen, die lange Zeit als unvereinbar kontrastiert worden sind. Mitgedacht ist dabei ein Bezug zu Pierre Bourdieu, dessen praxistheoretischer Ansatz im Konzept des Habitus einen nicht-dualistischen, nicht-reduktionistischen Bogen über Ich und Welt spannt.
2. Lernthemen und -systematiken
Einige Schwierigkeiten, einen sinnvollen und angemessenen Begriff des Lernens zu finden, liegen darin begründet, dass das Wort für sehr viele und unterschiedliche Phänomene verwendet wird, wenn etwa alle erfahrungsbedingten Veränderungen menschlicher Aktivitätspotentiale darunter gefasst werden. Lernen meint auch Unterschiedliches, je nachdem, ob einzelne Lernakte, Lernsequenzen oder umfassende Dispositions- und Kompetenzsysteme betrachtet werden (Weinert/ Mandl 1997). Ordnungsversuche finden wir bei Gagné, Piaget oder Bateson. Diese verbleiben aber im formalen Rahmen von Lernprozessen und abstrahieren von unterschiedlichen Lernthematiken. Robert Gagné (1916-2002) unterscheidet in seinem systematisierenden, kategorial allerdings nicht durchgearbeiteten Ordnungsversuch acht Komplexitätsstufen der Lernproblematiken: Signallernen, Reiz-Reaktionslernen, Kettenbildung, sprachliche Assoziation, multiple Diskrimination, Begriffslernen, Regellernen, Problemlösen (Gagné 1969). Diese Systematik versucht die Komplexität des Lerngeschehens einzufangen, folgt aber unterschiedlichen Ordnungsmustern. Einerseits wird die aufsteigende Komplexität der Prozesse nachverfolgt, anderseits werden unterschiedliche Thematiken – z.B. Motorik, Sprache und Moral – auf die Stufen eingewiesen, was zu einer Inkonsistenz der Systematik führt: Die Gagnéschen Lernstufen erscheinen zwar als logisch und genetisch aufeinander aufbauend. Menschliches Lernen sogar in der Phase des Säuglingsalters umfasst aber immer schon die Ebene des Problemlösens. Insofern muss man sich davor hüten, die logischen Stufen als reale Schritte anzusehen. Menschliches Lernen ist nicht auf Signal- und Reizreaktionsverhalten reduzierbar, sondern erfolgt vor allem auf der Ebene von Bedeutungszuweisungen.
28 | MENSCHLICHES LERNEN • Signallernen: Auf ein Signal hin antwortet das Individuum mit einer diffusen
Reaktion. • Reiz-Reaktionslernen: Auf einen spezifischen Reiz erfolgt eine präzise Reak-
tion. • Kettenbildung: Gelernt wird eine Kette mit mehreren Reiz-Reaktions-
Verbindungen. • Sprachliche Assoziation: Interne Verknüpfungen zwischen Ereignissen und
sprachlichem Repertoire finden statt. • Multiple Diskrimination: Unterschiedliche Reaktionen auf ebenso viele diffe-
renzierte Reize werden erlernt. • Begriffslernen: Eine Klasse von Reizen wird zusammengefasst und mit einer
einheitlichen Reaktion beantwortet. • Regellernen: Verhalten wird nach der sprachlichen Vorschrift „Wenn A, dann
B“ kontrolliert. • Problemlösen: Mehrere Regeln werden im Denken kombiniert und eine opti-
male Lösung ausgewählt. Andere Ordnungsvorstellungen ergeben sich im Rekurs auf eine konsekutive Stufentheorie des Lernens bei Jean Piaget und auf die Ebenentheorie Gregory Batesons. Intention ist es, Grundzüge komplexer Lerntheorien zu entwerfen und zugleich zu ordnen. Im Lernen geht es beiden um eine sich prinzipiell verändernde Haltung zur Welt. Im Rahmen seiner Entwicklungstheorie stellt Jean Piaget (1896-1980) ein Lernkonzept eher implizit vor, das eine temporale, individual-genetische Konstruktion und logische Entwicklungsstufen parallelisiert (Piaget 1975 a und b). Das Ordnungsschema Piagets folgt einem logisch-genetischen Hintereinander. Er zeigt, dass die Entwicklung einer konkreten, anschaulichen Denklogik notwendig jeder Abstraktion vorausgeht. Die Entwicklung der logischen Strukturen menschlichen Denkens durchläuft – nach Piaget – fünf Stufen, die allerdings nicht im Sinne einer vollständigen Ablösung einer Denkform durch die andere interpretiert werden dürfen, sondern vielmehr aufeinander aufbauend und in Wechselwirkung verstanden werden: • • • • •
Sensomotorische Stufe Symbolische, vorbegriffliche Stufe Stufe des anschaulichen Denkens Stufe der konkreten Operationen Stufe der formalen Operationen
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Damit wird eine temporale Konstruktion von logischen Entwicklungsstufen referiert. Dem müsste m.E. eine – bei Piaget nicht ausgeführte – weitere Stufe folgen, welche die Interaktion zwischen den Individuen einbezieht und somit zu Gesellschaftlichkeit öffnet. Piaget zeigt, dass die Entwicklung einer konkreten, anschaulichen Denklogik notwendig jeder Abstraktion vorausgeht. Das Ordnungsschema folgt einem logischen Stufenmodell und entwickelt daraus ein zeitliches Nacheinander. Anstelle der diachronen Stufentheorie entwirft Gregory Bateson (1904-1980) eine synchrone Ebenentheorie (Lutterer 2011, 55-86) hierarchischer Typen (Bateson 1982; 1985). Pointiert werden Komplexitätsniveaus der Lernebenen. In seiner letzten Fassung unterscheidet Bateson fünf Ebenen des Lernens, bezeichnet als Lernen 0 bis Lernen IV. Lernen 0 meint die Bestätigung der Routine, Lernen I die instrumentelle, zielgerichtete Veränderung des Verhaltens, Lernen II die Veränderung der Lernstrategien; Lernen III kann als Veränderung der Lernintentionen gefasst werden – und denkbar möglich ist Lernen IV als Bezugnahme auf einen evolutionären Möglichkeitsraum. Es gibt bei Bateson aber vielfältige Übergänge und Verknüpfungen der Lernebenen. Die oberste Ebene wirkt nach unten. Lebensentwürfe rahmen das zielgerichtete Erlernen einzelner Themen. Diese Ebenenentwicklung kann verknüpft werden mit Jack Mezirows Idee transformativen Lernens, die breite Wirkung entfaltet hat (Mezirow 1978, 1997; zur Rezeption: Taylor 2007). Allerdings ist „die Transformationstheorie keine Stufentheorie, sondern betont die Bedeutung einer im Erwachsenenalter erfolgenden intentionalen Hinwendung zur Reflexivität, die durch eine größere Fähigkeit und Erfahrung gekennzeichnet ist“ (Mezirow 1997, 136) – sie begeht also die oberste Ebene. Durchgängige Linie über die Stufen und Ebenen hinweg ist in Piagets und Batesons Konzepten die Höherentwicklung abstrakten Denkens. Dieser Konstruktion unterliegt ein deutlich kognitivistischer bias: Formal-logisch fundierte kognitive Erkenntnis erscheint als oberste, deshalb auch höchste Form menschlicher Genese. Konsequent setzt das eine Vorherrschaft des Bewusstseins, des Geistes, bzw. – naturalistisch gewendet – des Kopfes, des Gehirns über den Körper voraus. Die Konstruktionen Gagnes, Piagets und Batesons bleiben letztlich systemisch-abstrakt und formal. Der Verweis auf sinnenbezogene, handlungsleitende Weltbilder könnte weitergehend ausgebaut werden in einer Argumentation, die nicht von unten nach oben – also doch wieder reduktionistisch – verfährt, sondern umgekehrt die entwickeltste Form, menschliche Sinnentwürfe, die eben
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nicht nur bewusst, sondern immer schon sinnlich fundiert sind, als Grundlage nimmt. Es macht nichtsdestoweniger Sinn, sich der verschiedenen Lernarten systematisch in ihrer Multidimensionalität zu vergewissern (Faulstich 1999; vgl. Abb. 1) – wobei die Kritik der Formalität und Abstraktheit auch hier gilt. Immerhin verfügt die kategoriale Systematik über hinreichende Konkretheit, um eine empirische Analyse zu ordnen: Abb. 1: Lernstern: Dimensionen von Lernarten
erfahrungsbezogen
intentional
informell
separiert
fremdbestimmt
selbstbestimmt
integriert
institutionell
wissenschaftsbezogen inzident
So gibt es zunächst einen Grad der Ausgliederung von Lernen aus anderen Tätigkeiten im Verhältnis von Integration und Separation – Lernen kann mit Arbeiten oder Spielen verbunden sein – selbstverständlich lernt man beim Einschlagen von Nägeln Nageleinschlagen; selbstverständlich lernt man beim Spielen mit Bällen Ballspielen. Das Anwenden mathematischer Modelle der Ballistik kann dagegen die fangende Hand lähmen. Die Spannung ermöglicht verschiedene Formen von Erfahrungs- bzw. Wissenschaftsbezug – manches ist theoretisch zu fassen, anderes nur sinnlich wahrnehmbar. Immer gibt es eine Verflechtung von erfahrungsbezogenem und wissenschaftlichem Wissen. Demgemäß kann Lernen mehr zielbezogen intentional oder mehr zufällig inzident geschehen – wir können gezielt lernen, aber auch unbeabsichtigt; Ziele und Abläufe können dann eher fremd- oder eher selbstbestimmt erfolgen – nach den Vorgaben eines Lehrplans oder nach eigener Auswahl.
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Lernprozesse sind stärker in Institutionen einbezogen – in Schule oder andere Lehranstalten – oder eher beiläufig und informell – im Gespräch, beim Reisen oder im Arbeiten. Es ist wichtig, sich die Differenz dieser Dimensionen klar zu machen und außerdem, dass es zwischen den Polen vielfältige Ausprägungsformen gibt. So ist es keineswegs schlüssig, selbstbestimmtes Lernen mit tätigkeitsintegrierten, erfahrungsbezogenen und informellen Lernformen – z.B. Lernen am Arbeitsplatz – gleichzusetzen. Vielmehr kann auch wissenschaftsbezogenes, institutionelles und separiertes Lernen – z.B. im Universitätsstudium – einen hohen Grad an Selbstbestimmtheit zeigen, wenn die Studierenden Wahlmöglichkeiten erhalten. In Lehrveranstaltungen wird keineswegs nur das offizielle, intentionale Programm gelernt, sondern auch sich zu präsentieren, zu flirten, Eindruck zu schinden usw. Praktika versuchen sowieso Wissenschaftsbezüge durch Erfahrungsbezüge zu ergänzen. Ein Schauspiel kann der Unterhaltung, aber auch der Bildung dienen. So vermischen sich Lernformen und Tätigkeitsabsichten. Außerdem ist die Komplexität des Lernens nicht dual kodiert. Vielmehr sind konkrete Lernfälle immer auf den jeweiligen Dimensionen relational verortet. So gibt es z.B. kein vollständig fremdbestimmtes Lernen, in dem nur Zwang herrscht, ebenso wenig nur selbstbestimmtes Lernen. Lernen unterliegt wie jedes Handeln dem Spannungsfeld von Rahmen und Spielraum und ist bedingt frei. Die Lernarten lassen sich in diesem mehrdimensionalen Koordinatenraum differenzieren. Es ist eine Vielzahl von Kombinationen möglich. So ist am Arbeitsplatz z.B. intentionales, integriertes, aber auch begrenzt selbstbestimmtes, wissenschaftsbezogenes Lernen möglich, im Unterricht kann inzidentes, erfahrungsbezogenes, selbstbestimmtes Lernen stattfinden. Immer gibt es in sozialen Konstellationen nicht-intendierte Lerneffekte und -resultate: Im MathematikUnterricht kann ein Schmetterling im Klassenzimmer Lernen über Natur und Schönheit anstoßen. In einer Vorlesung entstehen Gruppenstrukturen und es werden auch soziale Interaktionen gelernt, die mit dem offiziellen Lehrplan nichts zu tun haben. Institutionell eingebundenes Lernen ist keineswegs immer fremdbestimmt, Lernen im sozialen Kontext nicht per se offen, sondern vielfältigen Zwängen unterworfen. Auch die engen Formen frontalen Unterrichts weisen immer erhebliche Spielräume für die Lernenden auf und „offene Räume“ können als Zwang erlebt werden. Prägnant wird dies formuliert in dem Kinderspruch: Müssen wir schon wieder lernen, was wir wollen, oder dürfen wir lernen, was wir sollen. Es kommt immer darauf an, inwieweit die lernenden Subjekte selbst externe Zwänge oder eigene Interessen als Lernanlässe für sich unterlegen und diese selbst als sinnvoll annehmen.
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Wenn aber jedes Lernen immer Lernen von etwas ist, kommen wir nicht umhin, den Bezug zu unterschiedlichen Lerngegenständen zu beachten. Phylogenetisch steht wohl das Lernen als Reaktion auf Sinneswahrnehmung am Anfang. Schon Empfinden – Sehen, Riechen, Hören, Fühlen und Schmecken – muss gelernt werden. Es muss die Fähigkeit erworben werden ordnende Muster im informationellen Chaos des Rauschens der Signale wahrzunehmen. Auch „sinnliche Erkenntnis“ (Holzkamp 1973) ist keineswegs gegeben, sondern anzueignen. Die Ontogenese des Ausdrucksverstehens, das Verstehen der Gebärden und Gesten der anderen, ist ein langdauernder Prozess. Dies setzt sich fort im Bewegungslernen, das motorisch zu besseren Fertigkeiten hinstrebt; Lernen vermittelt durch Sprache wählt Abkürzungen durch von Anderen schon beschrittene Wege und nutzt die Landkarten symbolischer Strukturen; letztlich erscheint alles menschliche Lernen eingebettet in den Sinn, Urteilskraft zu entwickeln und Leben zu lernen. Ist diese Entwicklungsstufe aber erst einmal erreicht, kann die Treppe sich umkehren. Die scheinbar anspruchvollste Form des Lernens, z.B. die Habitustransformation im sozialen Kontext, wird zur einfachsten, weil einzelne Lernthematiken eingebettet sind in Grundeinstellungen. Neue Lernergebnisse werden nicht auf ein weißes Blatt gemalt, sondern ihre Thematik trifft auf schon vorhandene Vorzeichnungen. Der jeweils erreichte Sinnentwurf lenkt die Bedeutung des Lernens und setzt die Ziele konkreter Lernbemühungen. Nachdenken über Lernen landet damit in Abgründen des Denkens über Sinn, über moralische Konstruktionen. Es erreicht einen Horizont, der dazu zwingt, gnoseologische und ethische Probleme mit aufzugreifen. Die verschiedenen Lerntheorien sind Versuche, die Totalität durch neue Erfahrung immer wieder offener Fragen zu begrenzen und zu ordnen. Die Prozesse menschlichen Lernens sind also wesentlich komplexer als sie in den traditionellen psychologischen Theorien unterstellt und modelliert werden. Zudem ist Lernen keineswegs beschränkt auf individuelle, intentional gesteuerte Prozesse in spezifischen Institutionen. Lernen erfolgt immer schon im Kontext sozialer Aktivitäten und Strukturen (s.u. Teil 11). Das isolierte Individuum ist keineswegs der Kern und der Ausgangspunkt des Begreifens der Welt. Individuation erfolgt als Realabstraktion. Sie ist eingebettet in eine spezifische Formation der Gesellschaft. Die Isolation der formal Einzelnen und fiktiv Gleichen erfolgt als Generalisierung und Universalisierung der scheinbar gerechten, auf abstrakten Äquivalenten basierenden Tauschverhältnisse. Das Individuum der bürgerlichen Gesellschaft resultiert aus der Kristallisation als vereinzelter, scheinbar gleicher Marktteilnehmer in einer Tausch-
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wirtschaft. Das reine Selbst ist eine geschichtlich erst möglich gewordene und dann zugleich notwendige Abstraktion. Daraus entspringt die Illusion, das organische Vereinzelte gehe dem gesellschaftlichen Zusammenhang voran. Dem ist nicht so. Ab dem Stadium möglicher Reflexivität entfaltet sich der Dominanzwechsel von natürlich Notwendigem zu gesellschaftlich Möglichen und damit eine Priorität des Sozialen. Vor der Folie des Lernsterns (Abb.1) und eines kritisch-pragmatistischen Ansatzes können die verschiedensten Lerntheorien auf ihre Reichweite und Interpretationspotentiale geprüft werden. Dabei ist nicht zu vergessen, dass wir, wenn wir über Lernen reden, immer über uns selbst reden. Dies setzt jeder Perspektive des Beobachtens von außen ihre Grenzen. Der „externe Beobachter“ psychischer Prozesse muss verzweifeln an der Unsichtbarkeit der Gedanken. Methodisch verweist das auch auf die Beschränktheit von Beobachtung und Messung der Prozesse des Lernens, konzeptionell auf die Begrenztheit empirisch –analytischer Modelle der Lerntheorie. Um Lernen trotzdem in einen Erfahrungsbezug zu stellen, sind also Versuche methodischen Erfassens auf Anstrengungen des Verstehens und Begreifens verwiesen – was nicht heißt, dass quantitative empirische Methoden der Lernforschung falsch wären. Sie sind aber in ihrem Interpretationshorizont befangen und einzubeziehen in ein umfassendes Methodenspektrum. Deshalb haben wir in verschiedenen empirischen Projekten Lernwerkstätten durchgeführt, welche die Lernenden an der Interpretation, was denn Lernen sei und wie sie es selbst erleben, beteiligten (Faulstich/Grell 2005; Grell 2005; Umbach 2011; Faulstich u.a. 2012). Diese an Geschichten oder Bildern orientierte Form der Werkstatt als Forschungsansatz öffnet den Blick für die Komplexität des Lerngeschehens und die unterschiedlichen Sichtweisen. Eine solche empirische, erfahrungsbezogene Sichtweise auf Lernen treibt zu einer entsprechenden Komplexität der Theorie. Der empirische Bezug erfordert zugleich eine tragfähige kategoriale Rückbindung. Wenn man diese mit einem Etikett versehen will, geht es im Folgenden um eine kritisch-pragmatistische Theorie des Lernens. Es interessieren mich die Besonderheiten menschlichen Lernens und die Frage, wann Lernen als menschlich gelten darf. Wenn wir daraufhin zunächst die vorliegenden Ansätze zur Theorie des Lernens sichten, können wir diese grob in zwei Hauptgruppen einteilen: Zum einen wurden – orientiert am naturwissenschaftlichen Paradigma – ausgehend von den Studien des Mediziners und Physiologen Pawlow, der berühmt geworden ist durch seine Untersuchung des bedingten Reflexes der Darbietung von Futter, Klingelton und Speichelfluss bei einem Laborhund, Grundlagen des behavioristischen Modells gelegt, das in einer reduktionistischen Logik Psyche
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auf Physis zurückführen will. Dieser Denkansatz ist in der „pädagogischen Psychologie“ nach wie vor virulent, wenn nicht gar dominant und findet in der „Hirnforschung“ eine Wiederauferstehung (Teil 3.5). Zum andern gab es von Anfang an Gegenstimmen zu dem deterministischen, generalisierenden und zugleich reduktionistischen Modell. Eine sich selbst als „geisteswissenschaftlich“ bestimmende Denkform, z.B. bei Dilthey, betont das Verstehen des ganzheitlichen – relationalen – Zusammenhangs von Ich und Welt. Fortgesetzt wird dieses Konzept in phänomenologischen, aber auch pragmatistischen und kritischen Ansätzen (Teil 4).
3. Kritische Reflexion reduktionistischer Lerntheorien
In der langen Reihe der „Lerntheorien“ treten diese teilweise als sich ergänzend, teilweise konkurrierend auf. Ich verfolge eine kritisch reflektierende Diskussion verschiedener, ausgewählter lerntheoretischer Ansätze in der Abfolge ihrer wissenschaftlichen Konjunktur (vgl. Faulstich 2008; auch Künkler 2011). Dabei soll keineswegs behauptet werden, dass alle diese Positionen schlicht falsch oder gar dumm wären, sondern es soll belegt werden, woraus ihre Schieflagen resultieren, und wo sie einzelne Aspekte des Lernens unzulässig ausblenden oder verallgemeinern, indem sie spezifische Konzepte zum grundlegenden Modell erheben. Erst wenn die jeweils eingegrenzten Perspektiven universalistische Hegemonie beanspruchen, werden sie beschränkt, weil sie den Horizont ihrer Geltung überdehnen. Sie bleiben befangen in ihrem historischen Kontext und bezogen auf ihre Entstehungszeiten. So ist beispielsweise die Konjunktur des konditionierenden Behaviorismus auch im Zusammenhang der Manipulationsstrategien des „Kalten Krieges“ zu sehen; in kognitivistische Konzepte fließen die gleichzeitig entwickelten kybernetische Modelle mit ein; konstruktivistische Ansätze wurden modisch als neue Strategien der Unternehmensführung auf „soziale Kompetenzen“ und Selbststeuerung abstellten. Aber sicherlich gibt es dabei keine unmittelbare oder einlinige Ableitung. Allerdings kann man darauf hinweisen, dass auch die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien nicht frei vom gesellschaftlichen Kontext erfolgt. Auch für die verschiedenen Lerntheorien gilt, dass ihr sozialer Einbezug immer auch Rückbezüge und Schleifen öffnet. Erörtert werden zunächst behavioristisch-verhaltenswissenschaftliche, kognitivistische, handlungsregulationstheoretische und konstruktivistische (insgesamt Teil 3), sowie der Aufstieg neurowissenschaftlicher „Lerntheorien“ (Teil 3.5). Am letzten Beispiel lässt sich zeigen, wie Theoriekonjunkturen entstehen und
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wie weit das Alltagsdenken sich schon an naturwissenschaftliche Denkweisen, die als selbstverständlich erschienen, angeglichen hat. Dabei geht es in der Reinterpretation darum, nachzuspüren, ob die Theoriekonzepte den Ansprüchen einer angemessenen Theorie menschlichen Lernens genügen. Die Entwicklung vom Behaviorismus über den Kognitivismus bis zum Konstruktivismus kann dargestellt werden als schrittweise Erweiterung und Wiedergewinnung von Komplexität. Ausgehend von der behavioristischen Reduktion auf externe Verhaltensbeobachtung von Reiz-Reaktionsimpulsen können drei Schritte nachvollzogen werden: von passiver Reaktion zu aktiver Konstruktion, von Beobachten zum Verstehen, von der Immanenz des Denkens zur Interaktion im Erfahren in der Tätigkeit.
3.1 K RITIK VERHALTENSWISSENSCHAFTLICHER L ERNTHEORIEN Es gibt in der Lernpsychologie des Mainstream (Überblick bei Edelmann 2000) immer noch einen Vorrang einer naturwissenschaftlichen Perspektive und ein Nachwirken, sogar Fortsetzen des Behaviorismus, der menschliche Aktivitäten als beobachtbares Verhalten (behavior) betrachtet. Der Urvater des Behaviorismus, der russische Physiologe Iwan P. Pawlow (1849-1936) und die Väter, die amerikanischen Psychologen John B. Watson (1878-1958) und später Burrhus F. Skinner (1904-1990) modellierten die Komplexität menschlicher Aktivitäten als Mechanismus von Reiz (stimulus: S) und Reaktion (response: R), wobei die peripheren Prozesse beobachtbar scheinen, während die interne Verarbeitung ausgeblendet und als „black-box“ behandelt wird. John B. Watson begründet den Behaviorismus als einen naturwissenschaftlichen Denk- und Forschungsansatz: „Der Behaviorismus ist dann […] eine Naturwissenschaft, die das ganze Gebiet menschlicher Anpassungsvorgänge umfaßt“ (Watson 1919/1968, 43) Das Modell stützt sich auf ein theoretisches Programm, das ausschließlich durch einen externen Beobachter sichtbares und messbares Verhalten als Gegenstand wissenschaftlichen Vorgehens anerkennt. Ein Konzept von Lernen, das als innerer Vorgang verstanden wird, der also nur durch Selbstbeobachtung zugänglich ist, wird abgelehnt. Watson fordert, die Forschung rein auf beobachtbares Verhalten zu beziehen und somit zu beschränken: „Psychologie, wie sie der Behaviorist sieht, ist ein vollkommen objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft, der der Introspektion genauso wenig bedarf, wie etwa Chemie oder Physik“ (Watson 1919/1968, 27).
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Theoretisches Ziel ist Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens. Watson kritisiert Introspektion, die er dafür verantwortlich macht, dass sich die Psychologie in spekulativen Fragen verfangen habe: „Ich bin der festen Überzeugung, daß die Psychologie, falls die introspektive Methode nicht aufgegeben wird, sich in zweihundert Jahren immer noch um die Frage streitet, ob es bei auditiven Empfindungen die Qualität der ‚Ausdehnung‘ gibt, ob die Intensität ein Attribut ist, das sich auf Farben anwenden läßt, ob es einen Unterschied in der ‚Textur‘ bei Vorstellungen und Empfindungen gibt und über viele hundert Dinge dieser Art“ (ebd. 18) […] „das heißt, nie wieder Begriffe wie Bewußtsein, Bewußtseinszustände, Seele, Bewußtseinsinhalt, introspektiv verifizierbar, Vorstellung und ähnliches zu gebrauchen“ (ebd. 20). Watson will die zweitausendjährige Stagnation des Nachdenkens über die Seele beenden und setzt auf Erfahrungsbezug als Grundlage wissenschaftlichen Fortschritts. Darauf gründet er sein Programm: „Die Psychologie, die ich versuchen würde aufzubauen, nähme als Ausgangspunkt erstens die beobachtbare Tatsache an, daß Organismen – Menschen und Tiere – sich mit Hilfe einer ererbten und gewohnheitsmäßigen Ausstattung an ihre Umwelt anpassen. […] Zweitens ginge ich davon aus, daß es bestimmte Reize sind, welche die Organismen zu einer Reaktion veranlassen“ (ebd. 20). Empirisch gelten für den Behaviorismus pur also nur die exakt beobachtbaren Reize und die ebenso messbaren Reaktionen als Indikatoren für mögliches Lernen als tragfähige Basis der Lerntheorie. Alles, was zwischen Reiz und Reaktion liegt, ist „black-box“. Gedanken und Gefühle entziehen sich der Sichtbarkeit. Die behavioristische Forschung konzentriert sich deshalb auf Assoziationen in Vorher-Nachher-Konstellationen oder auf experimentelle Reiz-ReaktionSituationen. Untersucht werden Organismen, die sich äußeren Anforderungen anpassen. Ausgangspunkte der Lerntheorie des „Radikalen Behaviorismus“ sind also ihr Externalismus – Einnehmen des Außenstandpunktes, ihr Organizismus – Gleichsetzung von Menschen und Tieren, ihr Passivismus – Anpassung an Umwelt sowie ihr Determinismus – bedingendes Reiz-Reaktionsschema (Watson 1930/1968, 20). Grundlegend ist das Reiz-Reaktionsschema. Daher muss geklärt werden, was denn als Reiz betrachtet werden soll. Und: Wie sich Reize in Reaktionen umsetzen, ist nicht die Antwort, sondern die Frage. Die Anfänge des Behaviorismus können in den psychophysiologischen Theorien der russischen Reflexeologie gefunden werden. Ivan Petrowitsch Pawlow, 1904 Träger des Nobel-Preises für Medizin, hatte in Petersburg das „Physiologische Labor für experimentelle Medizin“ gegründet, in dem er den größten
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Teil seiner berühmten Forschungsarbeiten durchführte (Pawlow 1972). Er zeigte in seinen Experimenten, dass z.B. Welpen über einen angeborenen Speichelreflex verfügen, der ausgelöst wird, sobald Futter in ihr Maul gerät. Eine Beobachtung, die jeder Hundebesitzer an seinem Tier feststellen kann. Wir kennen das auch von uns selbst – weil wir, da wir körperlich leben, in dieser Hinsicht Tiere sind: Wenn wir Appetit bekommen, beginnt die Sekretion von Speichel – allerdings und das ist nicht unwichtig, je nach den besonderen Geschmacksvorlieben, die wir gelernt haben. Pawlow nannte die Speichelabsonderung eine psychische Sekretion, weil er die Reaktion als einen vom Gehirn gesteuerten Prozess ansah. Er versuchte, psychische Vorgänge von außen zu beobachten, ohne sich dabei auf innere. seelische Zustände zu beziehen. Seine klassisch gewordenen Experimente führte Pawlow schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch: Ein Hund wurde in einen bewegungsbeschränkenden Apparat gestellt, in dem die Intensität des Speichelflusses als Reaktion auf bestimmte Reize gemessen werden kann. Dem Hund wurde ein unbedingter Reiz (Unbedingter Stimulus US: Futter) präsentiert, woraufhin er den angeborenen Reflex (Unbedingte Reaktion UR: Speichelfluss) zeigte. Auf das Läuten einer Glocke (Konditionierter Stimulus CS) zeigte der Hund keinerlei Reaktion, außer einer gewissen Neugier. Pawlow kombinierte die beiden Reize (US (Futter) + CS (Glocke)), worauf der Hund mit Speichelfluss reagierte (UR). Nach mehrmaligem Wiederholen dieser Reizdarbietung reagierte der Hund schon auf das Glockenläuten mit Speichelfluss. Diese Reaktion nennt Pawlow bedingte Reaktion (CR). Der entscheidende Punkt in diesem Experiment ist, dass nach der erfolgreichen Konditionierung ein vorher neutraler Stimulus (Glockenläuten) eine spezifische Reaktion (Speichelfluss) hervorruft, die vorher nur durch einen unbedingten Reiz (Futterdarbietung) ausgelöst wurde. Auch das kennen wir von uns selbst: Die Erwartung des Essens erzeugt Speichelfluss; wenn wir in der Nähe einer Kirche wohnen wird das gekoppelt mit mittäglichem Glockenläuten; im Resultat regt (möglicherweise) das Speichelfluss an. Man sieht spätestens hier, dass die verallgemeinernden Gesetzmäßigkeiten nicht tragen, besonders, wenn es um menschliches Lernen geht. Das laute Dröhnen der Glocken lenkt mich vom Essen ab. Es fehlt im Modell vor allem das entscheidende Vermittlungsglied: der Hunger. Essen besteht nicht nur aus Futtersehen und Speichelfluss. Hunger ist nicht nur ein neurophysisches (Glykoseniveau oder Magenknurren), sondern vor allen ein psychisches Phänomen (Hungergefühl). Und über die Essensvorlieben eines Gourmets sagt uns die Untersuchung des Pawlowschen Hundes fast gar nichts.
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John B. Watson hat dann Reiz-Reaktions-Experimente am Menschen durchgeführt. Er wurde berühmt aufgrund seines Ende 1919 durchgeführten Experiments mit dem 11 Monate alten „kleinen Albert“, das die Möglichkeit emotionaler Konditionierung und deren Generalisierung belegen sollte (Watson 1968, 170-178). „Little Albert“ reagierte zunächst positiv auf Pelztiere, also auch auf Ratten. Dann aber wurde gleichzeitig mit dem Auftauchen der Ratte hinter ihm mit einem Hammer auf eine ca. 90 cm lange und 1,9 cm dicke Eisenstange geschlagen (wir bemerken den Exaktismus dieser Angabe), sodass er sich erschreckte. Ergebnis war, dass sich Albert dann schon beim Anblick der Ratte erschrak. Die Furcht wurde generalisiert, sodass Albert vor allem Pelzigen, so auch beim Anblick bärtiger Männer, Angst bekam. Weil Albert B. jedoch kurz darauf von einer Familie außerhalb der Stadt adoptiert wurde, konnten keine weiteren Tests durchgeführt werden und die Konditionierung nicht mehr gelöscht werden (ebd. 178). Der Logik des Behaviorismus folgend, muss Albert also lange Zeit Angst vor bärtigen Männern gehabt haben. Betrachtet man die weitreichenden Schlüsse, die Watson aus dem Experiment zieht und dazu die intensive Rezeption in inzwischen fast 100 Jahren, so kann dies auf dem Hintergrund der mehr als bescheidenen methodischen Qualität des Little-Albert-Experiments nur verwundern: Der Behaviorismus unterläuft seine eigenen methodischen Prinzipien. Furcht ist kein beobachtbares Phänomen. Sehen oder Hören kann man lediglich Weinen, Wimmern, Zittern, Verziehen des Gesichts und ähnliches Verhalten. Das Stimulus-Response-Schema ist wie das physikalische Impuls-Gesetz modelliert. Das Billardkugel-Modell behavioristischer Lerntheorie wirft hinter der scheinbar einsichtigen Argumentation zahlreiche Probleme auf: Welcher Reiz wirkt als Anstoß? Wie werden Reize in der Reaktion wirksam? Wie können erwünschte Reaktionen hergestellt werden? Daran kann sich die grundsätzliche Kritik festmachen, die für organismisches Lernen greift: Aktivität scheint als erst durch Reize initiiert. Ein Organismus befindet sich aber nie in einem Zustand der völligen Ruhe; sonst ist er tot. Er gibt Anstöße nicht einfach nur weiter, ist also nicht passiv. Interne Prozesse verändern die Verhaltensweisen. Also ist schon auf der Ebene des organismischen Verhaltens das Modell übervereinfachend und nur im künstlich isolierten Experiment herstellbar. Der behavioristische Ansatz folgt einem Anpassungsmodell und er verfährt insofern reduktionistisch, als „komplexeres Verhalten“ auf „elementares Verhalten“, das durch das Reiz-Reaktionsschema durch letztlich physikalische, kausale Impulse gefasst wird, zurückgeführt werden soll. Das empiristische Modell
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versucht zunehmende Komplexität zu erreichen, indem durch Addition singulärer Reaktionen eine Brücke zu vielfältigerem Verhalten hergestellt wird. Dies gilt auch für die Erweiterungen des Behaviorismus durch Burrhus Frederic Skinner (1904-1990). Er prägte den Begriff „operante Konditionierung“ und begründete das „programmierte Lernen“. Skinner untersuchte nicht nur reflexive Verhaltensweisen, sondern bezog Umwelteinflüsse, die auf eine Reaktion folgenden Konsequenzen – zum Beispiel durch Futterbelohnung – mit ein. Skinner prägte für die durch Manipulation der Umwelteinflüsse beim Testtier (Ratten, Tauben, Waschbären) aufgebauten Bewegungsabfolgen die Kennzeichnung als „operantes Verhalten“. Den Manipulationsprozess bezeichnete er als „operante Konditionierung“. Während die klassische Konditionierung auf einem bereits weitgehend vorhandenen Verhaltensrepertoire aufbaut und dieses im Grunde nur variiert, können mit Hilfe der „operanten Konditionierung“ neue Verhaltensmuster erzeugt werden. Das Trainieren von Pferden – der weltberühmten Lipizzaner in der Spanischen Hofreitschule in Wien – und das Absolvieren einer „Hundeschule“ basiert auf den von Skinner systematisch entwickelten Techniken der Verhaltensformung. Gaukler haben ihre Tanzbären durch heiße Metallplatten mit gleichzeitiger Musik schon lange zum Wackeln gebracht, ohne die behavioristische Grundlage zu kennen. Der Behaviorismus ist zum Fundament aufbauender Instruktionsmodelle geworden als Methode, Verhalten zu steuern: „Das Effekt-Gesetz wird endlich ernsthaft angewandt. Wir sorgen dafür, daß Wirkungen im Sinne von positiven Nacheffekten tatsächlich eintreten und unter solchen Bedingungen eintreten, die besonders günstig sind für die Verhaltensänderungen, die wir ‚Lernen‘ nennen. Wenn wir erst einmal die besondere Art einer Folgeerscheinung, die wir Verstärkung nennen, hergestellt haben, erlauben es unsere Methoden, das Verhalten eines Organismus fast beliebig zu formen“ (Skinner 1971, 17). Gefährlich für eine an Demokratie orientierte Gesellschaft ist dann die Übertragung von organismischem auf humanes Lernen. Schüler werden behandelt wie Ratten oder Waschbären. Verhaltensformung durch Verstärkung ist die Zielsetzung. Skinner ist überzeugt, dass sich durch gezieltes Lernen bessere Individuen und – so seine Utopie in dem Roman „Futurum 2“ (Skinner 1970), der das Leben in einer durch operantes Konditionieren geformten Gesellschaft schildert – zugleich gerechte Sozialität herstellen lassen. Über die Kriterien Lernziele und die notwendigen Lehrmittel entscheiden die Psychologen.
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„Operatives Konditionieren läßt sich einfach und unmittelbar auf die Erziehung anwenden. Lehren bedeutet die Anordnung von Verstärkungszusammenhänge, unter deren Einwirkung Schüler lernen“ (Skinner 1971, 61). In den verhaltenswissenschaftlich orientierten psychologischen Theorien stellt sich der verwendete Begriff von Lernen als geschichtslos selbstverständlich dar. Er verschleiert, dass seine vorherrschende Fassung eigentlich erst mit der experimentellen Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts aufgetaucht ist. In zahlreichen psychologischen Theorien, wie sie gegenwärtig die Debatte bestimmen, herrscht – dem immer noch folgend – ein instrumenteller, zumindest verengter Lernbegriff vor, welcher auf Änderung von Verhalten abstellt. Die scheinbar selbstverständliche Begrifflichkeit von Reiz und Reaktion wird aber beim Nachdenken immer fragwürdiger. Es bleibt völlig unklar, was aus dem Rauschen der Welt als Reiz isoliert wird, es ist unerfindlich, wie eine Zurechenbarkeit der Reaktion begründet werden kann. Nichtsdestoweniger sind die nach wie vor dominant verbreiteten Lerntheorien orientiert an Definitionen wie der von Ernst R. Hilgard und Gordon Bower, Lernen sei „Veränderung von Verhalten, oder im Verhaltenspotential von Organismen in einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Erfahrungen des Organismus in dieser Situationen zurückgeht“ (Hilgard/Bower 1971, 31). Ihr Begriff von Lernen ist gekennzeichnet durch seinen externalistischen und passivistischen, deterministischen, generalisierten, universalistischen und instruktionistischen Charakter. Erstens begreifen sie menschliche Aktivität als von außen veranlasstes Verhalten: Sie unterschlagen die Möglichkeit „innen“ nachzudenken, abzuwarten und zu entscheiden. Vielmehr unterstellen sie – zweitens – ein deterministisches Kausalitätsmodell: Lernen erscheint als verursacht. Drittens verfehlen sie die Besonderheit menschlichen Lernens: Menschen erscheinen nur als Spezialfall reagierender Organismen oder Systeme, welche durch externe Umweltveränderungen angeregt werden. Unbegriffen bleibt, dass menschliches Handeln sich orientiert an individuellem Sinn, einbezogen in gesellschaftliche Bedeutungen. Viertens wiederholen sich Situationen im sozialen Kontext nie: Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Fünftens sind behavioristische Lerntheorien eigentlich Lehrtheorien. In resultierenden Instruktionskonzepten werden Wenn-dann-Kausalitäten des Reiz-Reaktionsmodells umgedreht zu Um-zu-Finalitäten, die Lernresultate erzeugen sollen. Geleugnet wird die Unverfügbarkeit und Eigensinnigkeit menschlicher Individuen. Obwohl „Behaviorismus pur“ der Linie Watson bis Skinner mittlerweile oft kritisiert worden ist, ist zu fragen, ob die Grundzüge der in diesem Theoriekonzept vorherrschenden Denkweise nicht auch in kognitivistischen und konstrukti-
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vistischen Öffnungen und Erweiterungen noch weitervererbt werden. Solche Ansätze beherrschen nicht nur die disziplinären Diskurse der Psychologie, sondern auch der Pädagogik und der Andragogik. In fast allen Lehr- und Wörterbüchern finden sich Beiträge, die durch diese Denkweise dominiert oder zumindest infiziert sind (Steiner 1996; Edelmann 2000; Seel 2000; Mielke 2001; Bednorz/Schuster 2002; Mazur 2004). Reicht aber die Außensicht auf isolierte, singuläre Operationen aus, um menschliches Lernen zu erfassen? Wie kann eine Modellierung der internen psychischen Prozesse beim Lernen erfolgen?
3.2 K OGNITIVISMUS IN
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Die weitere Entwicklung der Lerntheorien kann als stufenweise Erweiterung und Auflösung des Reiz-Reaktionsmodells aufgefasst werde. Die black-box wird aufgebrochen und zunächst mit einem Gedächtnis versehen und dann in eine Umwelt gestellt. Kognitivistische Lerntheorien gehen davon aus, dass das Lernen nicht nur durch externe Anstöße, sondern auch durch interne Konstellationen, die zwischen Reiz und Reaktion liegen, beeinflusst wird. Handeln wird dann gesehen als Prozess und Resultat der Regulation durch Informationen sowohl aus der Umwelt und als auch aus dem Körperinnern. Es ergibt sich folglich ein kybernetischer Regelkreis. Die intrapsychischen Prozesse und Strukturen werden als Informationsverarbeitungsprozesse betrachtet, mit denen sich Vorgänge wie Informationsaufnahme, Informationsspeicherung und Informationsauswertung erklären lassen. Wenn wir den informationstechnisch-kybernetischen Sprachgebrauch verlassen, geht es also um Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Entscheiden. Ist damit anderes oder mehr gemeint? Erstens: Schon was als Aufnahme von Informationen zugelassen wird, unterliegt der Auswahl. Informationstechnisch gesprochen: Nicht alle Informationen werden aufgenommen und dringen in uns ein. Es gibt Filter: Die Sinnesorgane rezipieren nur einen Teil der möglichen Reize. Übersetzt: Was wir nicht sehen wollen, sehen wir nicht. Zweitens: Man kann auch nur weiter lernen, wenn man etwas behält und erinnert. Das Gedächtnis sammelt zahllose einzelne Erfahrungen zu einem Ganzen des Wissens und Bewertens. Die kognitivistische Gedächtnisforschung redet generalisierend meistens vom Speichern (Überblick bei Markowitsch 2009). Allerdings ist – um es vorab zu sagen – das Gedächtnis, wenn man diese Metapher überhaupt verwenden will, zumindest ein durchlässiger, unsicherer und
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unzuverlässiger Speicher. Gedächtnisinhalte werden verändert, umgeformt, angepasst, verdrängt oder vergessen. Die kognitivistische Gedächtnisforschung erhielt wesentliche Anstöße durch die Computeranalogie und ein reifizierendes Konzept im Drei-Speicher Modell (Ultra-Kurz-, Kurz- und Langzeit-Speicher) (Atkinson/Shiffrin 1968). Drittens: Die Informationen werden reorganisiert und nach Relevanz geordnet. Übersetzt: Unsere Gefühle bewerten Handlungsmöglichkeiten. Die vielfältige Verwobenheit von Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Entscheiden wird im kognitivistischen Modell des Lernens reduziert auf ein zwar durchaus komplexes System von Regelkreisen, letztlich aber auf immer noch vereinfachende technizistische Konstrukte. Weitergehend wird die black-box in Beziehung zur Umwelt gesetzt. In der Erwartungs-mal-Wert-Theorie der Motivationstheorie von Julian B. Rotter (Rotter 1982) wird das Auftreten eines Lernerfolgs gewichtet durch Verstärkung, welche die Lernenden durch die Ergebnisse erwarten. Noch einen Schritt weiter bei der kognitiven Erweiterung des SR-Modells geht Albert Bandura mit seinem Konzept des „operational learning“ bzw. des Modell-Lernens (Bandura 1976). Diese auf das Verhalten anderer Menschen rückbezogene Lerntheorie unterstellt die Bereitschaft zur Verhaltensangleichung. Modelllernen ist die von Bandura eingeführte Bezeichnung für einen kognitiven Lernprozess, der vorliegt, wenn ein Individuum als Folge der Beobachtung des Verhaltens anderer Individuen sowie der darauf folgenden Konsequenzen sich neue Verhaltensweisen aneignet oder schon bestehende Verhaltensmuster weitgehend verändert. Der Lernende wird dabei Beobachter (observer) genannt, der Beobachtete Modell oder Leitbild. Wichtig für diesen Lernprozess, der nur unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. weitgehende Identifikation des Beobachters mit dem Modell) stattfindet, ist die stellvertretende Verstärkung. Für Bandura ist das Model-Lernen ein Prinzip, das gleich wichtig und bedeutend wie die klassische (Pawlow) und di operante (Skinner) Konditionierung ist. Er bezeichnet den Vorgang des Lernens am Modell als Auftreten einer Ähnlichkeit zwischen dem Verhalten eines Modells und des Observers, bei denen das erfolgreiche Verhalten des Modells als der entscheidende Hinweisreiz für die Nachahmungsreaktionen wirkt. Eine die aktive Rolle des Lernenden betonende Lerntheorie finden wir bei Jean Piaget (1896-1980), Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe. Piaget hat keine explizite Lerntheorie ausformuliert, sie findet sich aber implizit in seiner Entwicklungsvorstellung. Als Kognitionspsychologe geht Piaget vom Menschen als einem erkennenden Organismus aus, der sich ständig in kultureller und sozialer Interaktion mit seiner Umgebung befindet. Erkenntnis
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kommt nach Piaget nur zustande, wenn der Mensch mit den Dingen und Symbolen seiner Welt operiert, d.h. durch eigene Tätigkeit aktive Beziehungen zu ihnen herstellt. Er setzt sich damit dezidiert vom klassischen Behaviorismus ab und kritisiert das simplizistische Reiz-Reaktionsschema und die Konzeption des Lernens als Konditionierung und Habituation. Piaget stellt in seiner impliziten genetischen Lerntheorie (Piaget 2003a) zwei komplementäre funktionale Prozesse dagegen: Assimilation auf der einen und Akkommodation auf der anderen Seite. Beide sind Aspekte der kognitiven Anpassung (Adaptation) des Individuums an seine Umwelt: Assimilation bedeutet die kognitive Integration von Umwelteinflüssen in kognitive Schemata der eigenen, verfügbaren und bevorzugten Art, über diese Dinge zu denken. Beispiel: Wenn für das Kind ein Holzstück zum Schiff wird, so assimiliert es das Holzstück an sein kognitives Schema von Schiff. Akkommodation meint die Modifikation der Interpretation der Umwelt durch deren Einflüsse. Akkommodation tritt dann auf, wenn es eine Diskrepanz oder Störung der Auseinandersetzung mit der Welt gibt, für die der Organismus noch kein bewährtes Schema besitzt. Dann muss der lernende Mensch gewissermaßen denkend „im Kopf" umräumen, d.h. seine bisherigen kognitiven Schemata neu ordnen. Beispiel: Ein Säugling hat irgend ein visuelles Element in das invariante Muster einer Rassel assimiliert (Schütteln ergibt Lärm) und ergreift nun gerade ein ähnlich geformtes Holzstück, doch bleibt das auditive Element des Rasselns aus. Nun wird der Säugling seine Aufmerksamkeit auf vorhandene taktile oder visuelle Schemata richten, die eine Unterscheidung zwischen Rassel und Holzstück ermöglichen. Ist diese Unterscheidung getroffen, dann werden die neuen Elemente mit den alten in der Akkommodation zu einem erneuerten Schema verknüpft, das dann seinerseits Ausgangspunkt für weitere Assimilationen zukünftiger Erfahrungen darstellt. Akkommodation kann nicht getrennt und unabhängig von Assimilation auftreten. Beide sind komplementär. Sie sind aber auch gegenläufig. Durch den Organismus wird eine Äquilibration, also ein Gleichgewicht dieser beiden Prozesse angestrebt – angeregt ist dies auch durch entsprechende Konzepte der Kybernetik. Piaget betrachtet die Menschen als „offene Systeme“. Darunter versteht er Organismen, die sich wandeln, auf Einflüsse der Umwelt reagieren, sich anpassen und die Umwelt beeinflussen. Somit gliedern die Menschen ihre Welten. Die Systeme bleiben unabgeschlossen. Dazu gehören interne Denkstrukturen und Gefühlsaspekte, die für andere Menschen nicht ohne weiteres erkennbar sind. Wissen entsteht in der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die aufgebauten Strategien regulieren den Austausch zwischen System und Umwelt. Wäh-
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rend so der Passivismus behavioristischer Konzepte überwunden wird, bleibt jedoch ein Organizismus, der die Systeme, welche lernen, kaum in ihrer Besonderheit hervorhebt. Die Frage bleibt ungeklärt, was menschliches vom tierischen Lernen unterscheidet. Die anspruchsvollste Variante kognitivistischer Lerntheorie findet sich in der Systemtheorie bei Gregory Bateson (1904-1980), der sieben Prämissen einer hinreichend komplexen Lerntheorie formuliert (Bateson 1982, 1985): • Wissenserwerb erfolgt schrittweise; • Lernen ist ein aktiver Prozess; • Anpassungsprozesse beinhalten Veränderungen der Umwelt ebenso wie seiner
selbst; • Egozentrierung ist zunächst eine notwendige Komponente der Persönlich-
keitsentwicklung, • kausale Erklärungsmuster generieren grundlegende Annahmen über die Welt; • Lernerfahrungen vollziehen sich kontextuell und auf mehreren Ebenen zu-
gleich; • Lernen erfolgt vor dem Hintergrund von Weltwahrnehmung und Selbstbestäti-
gung. Ein solches immer noch kognitivistisches Lernmodell betont zwar die Aktivität des Lernenden und die Offenheit des Austauschs zur Umwelt. Es bleibt allerdings individualistisch (bei Rotter) bzw. interpersonal (bei Bandura) begrenzt und bezieht konkrete soziale Kontexte nicht mit ein. Es argumentiert abstrakt auf einer Systemebene (bei Piaget und Bateson). Die kognitivistischen Lerntheorien wollen die Denkprozesse beim Lernen erkennen und erklären. Man kann auch sagen, dass die Kognitivisten sich im Gegensatz zu den Behavioristen mit dem Inneren der „black-box" befassen. Entwicklung ist ein aktiver Prozess eines Systems, das mit Erkenntnisfähigkeit ausgestattet ist, die es durch Lernen erweitert. Ein solches System baut Erkenntnis durch die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt auf. Seine Aktivität wird von internen Vorgängen der Informationsverarbeitung bestimmt und nicht nur von äußeren Gegebenheiten. Das Bindeglied zwischen Reiz/Umwelt einerseits und Reaktion/Verhalten andererseits ist die kognitive Repräsentation. Sie umfasst eine nicht unmittelbar an die Wahrnehmung gekoppelte Kodierung und die Integration von Informationen/Reizen/ Umweltfaktoren in ein Denksystem. Also werden Reize nicht nur aufgenommen, sondern auch einer Bewertung und Verarbeitung unterzogen. Jede geistige Entwicklung ist somit nicht nur eine
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reine Ansammlung von Fakten, sondern ermöglicht die verbesserte Anpassung an die Umwelt. Fortgeführt wird die kognitivistische Lerntheorie in der „humanistischen Psychologie“. Der Therapeut Carl Rogers (1902-1987) geht weiter und führt den Begriff des „signifikanten Lernens“ (1969/dt. 1974, 12) ein. Ein solches bedeutungsvolles, auf eigener Erfahrung beruhendes Lernen schließt persönliches Engagement ein; es ist selbstinitiiert; es durchdringt den ganzen Menschen; es wird vom Lernenden selbst bewertet und sein wesentliches Merkmal ist Sinn (ebd. 13). Mit dieser Bezugnahme sind Ansätze vorhanden, Lernen aus dem Käfig des Individualismus zu befreien. Im Überblick erscheint Rogers Lehren von geringer Bedeutung und Lernen ungeheuer wichtig. „Meine Erfahrung ist gewesen, dass ich einen anderen Menschen nicht lehren kann, wie man lehrt. Es zu versuchen, ist für mich – auf lange Sicht hin – sinnlos. Mir scheint, dass alles, was man einen andern lehren kann, relativ belanglos ist und wenig oder keinen signifikanten Einfluss auf sein Verhalten hat“ (ebd. 153). Für signifikantes Lernen gibt Rogers zehn Prinzipien an: 1. Menschen besitzen ein natürliches Potential zum Lernen. 2. Signifikantes Lernen findet statt, wenn der Lerninhalt von Lernenden als für eigene Zwecke relevant wahrgenommen wird. 3. Lernen, das – in der eigenen Vorstellung – eine Veränderung in der Organisation des Selbst einschließt, wird als bedrohlich empfunden und hat die Tendenz, Widerstand hervorzurufen. 4. Solche Lernprozesse, die für das Selbst bedrohlich sind, werden leichter verstanden und assimiliert, wenn äußere Bedrohungen minimal sind. 5. Wenn die Bedrohung des Selbst gering ist, kann eigene Erfahrung in differenzierter Weise wahrgenommen werden und der Lernprozess kann voranschreiten. 6. Signifikantes Lernen wird sehr oft durch Tun erreicht. 7. Lernen wird gefördert, wenn der Lernende den Lernprozess verantwortlich mitbestimmt. 8. Selbstinitiiertes Lernen, das die ganze Person des Lernenden – seine Gefühle wie seinen Intellekt – mit einbezieht, ist am eindringlichsten und in seinen Ergebnissen am dauerhaftesten. 9. Unabhängigkeit, Kreativität und Selbstvertrauen werden gefördert, wenn Selbstkritik und Selbstbeurteilung von grundlegender Bedeutung sind, während Fremdbeurteilung zweitrangigen Charakter hat.
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10. Das sozial brauchbarste Lernverhalten in der modernen Welt ist jenes, bei dem das Lernen als Prozess gelernt wird; darin drückt sich aus, dass man ständig für Erfahrungen offen ist und Wandlungsprozesse verarbeitet. (ebd. 156-163). „Signifikantes Lernen“ wird also gemessen an den Entfaltungsmöglichkeiten des „Selbst“. Bei Rogers geht es endlich um Menschen. Unabhängigkeit, Kreativität und Selbstvertrauen sind die Stichworte, die sein positives, „humanistisches“ Menschenbild (Rogers 2007; 2008) begründen. Gesellschaftliche Abtrennung und Hervorhebung des Selbst führen aber zu einer Vorstellung von Selbstverwirklichung, in der sich gesunde und schöpferische Persönlichkeiten entfalten sollen. Diese durchzieht auch die – spätere – Diskussion um selbstorganisiertes, -gesteuertes und -bestimmtes Lernen, in der der Stellenwert der von außen gesetzten Lernbedingungen skeptisch, meist negativ bewertet wird. „Persönliche Freiheit“ wird als Gegensatz zur „wissenschaftlichen Welt“ gesehen: „Eines der schwierigsten Probleme für das moderne Leben, für den modernen Menschen, ist die Frage, ob der Begriff der persönlichen Freiheit in unserer gegenwärtigen wissenschaftlichen Welt noch irgendeine Bedeutung hat“ (Rogers 1974, 250). Zur Klärung setzt sich Rogers ausführlich mit Skinner auseinander. Er zitiert ihn mit der Behauptung, dass der Gedanke, es gäbe einen freien inneren Menschen, der für sein Verhalten verantwortlich sein solle, nur ein vorwissenschaftlicher Ersatz für die Klärung jener Ursachen seines Verhaltens sei, die wir im Verlauf wissenschaftlicher Analyse entdecken, sei. Die Unterstellung von Bedingtheit widerstrebt der langjährigen Erfahrung des Therapeuten und Begründers der Gesprächstherapie. Rogers zitiert Sätze aus Therapiekontexten, welche verantwortliche Freiheit hervorheben: „Wenn einige von denen es geschafft haben, vielleicht kann ich es auch“; „Ich werde jetzt mehr von den Dingen tun, von denen ich weiß, dass ich sie tun sollte“; „Jetzt sehe ich das; jetzt kommt es eigentlich nur noch auf mich an“ (ebd. 256/257). Die Verantwortung für Krankheit trägt also der Einzelne, das kann er aber nur, wenn vorher Befreiung erfolgt. Rogers fragt also weiter: „Wie können wir […] überhaupt von Freiheit sprechen? In welchem Sinn ist irgendeiner von uns frei? Welche Definition von Freiheit kann in der modernen Welt noch möglich sein?“ (ebd. 259). Sein Versuch geht nach innen: „Zuallererst ist die Freiheit, von der ich spreche, wesentlich etwas Inneres, etwas, das im lebendigen Menschen da ist, ziem-
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lich unabhängig von der äußeren Wahl zwischen Alternativen, die wir so oft mit Freiheit gleichsetzen“ (ebd. 259). „Die Freiheit, von der ich spreche .liegt meiner Ansicht nach in einer andern Dimension, als die determinierte Folge von Angebot und Wirkung. Ich betrachte sie als eine Freiheit, die in der subjektiven Person besteht – eine Freiheit, die sie mutig nutzt, um ihr Potential zu entfalten“ (ebd. 260). Rogers setzt auf Aktivität, Humanität und betont die Bedeutung innerer Autonomie (ebd. 262). Es unterliegt ein Individualismus, gegenüber einem strukturell unbestimmten „modernen Leben“. Insofern sperrt er den Sinn doch wieder ein und lässt das Problem gesellschaftlicher Bedeutung offen. Die humanistische Psychologie kehrt zum abstrakten Individuum zurück. Lernen in Freiheit ist in dieser Fassung nur möglich, wenn sich die Individuen zurückziehen und sich ihrer Gesellschaftlichkeit nicht stellen. Es käme also darauf an, noch weiterzugehen und die Perspektive durch den nächsten Schritt zu öffnen: Nicht nur der individuelle Sinn, sondern immer schon die gesellschaftliche Bedeutung orientieren menschliches Lernen.
3.3 H ANDLUNGSREGULATIONSTHEORIE In der Betonung der Handlungsfreiheit verlässt die Lerntheorie deterministische, naturwissenschaftliche Modelle. Es geht dann nicht mehr um Verhalten, als beobachtbare, außenerzeugte Aktivität, sondern um Handeln auf der Grundlage sinnbezogener Entscheidungen. Die Handlungsregulationstheorie stellt ein Modell bereit, das auf Zielen beruht, Pläne zur Umsetzung unterstellt und in das Rückmeldungen aus der Umwelt einfließen, die zur Korrektur der Ziele und Pläne führen. Handlungen sind dabei hierarchisch aufgebaut, d.h. sie bestehen aus Teilhandlungen, Bewegungen usw. Darüber hinaus wird zwischen mehr oder weniger unbewussten (automatisierten) und bewussten, durch das Denken gesteuerten Handlungen unterschieden. Grundgedanke der Theorie ist, dass Handeln eingebunden ist in einen Zyklus der Regulation. Die Ergebnisse von Handlungen werden rückgemeldet zu neuer Erfahrung. Die unterlegten Konzepte (Tätigkeit, Handlung bzw. Teilhandlung, Operationen) basieren auf der hierarchisch-sequentiellen Tätigkeitsorganisation, die bereits in der allgemeinen Tätigkeitstheorie Alexej Leontjews als Vertreter der kulturhistorischen Schule formuliert worden ist (s.u. Teil 6). Der Arbeitspsychologe Walter Volpert (geb. 1942) prägte 1974 den Begriff der „Handlungsstrukturanalyse“ (Volpert 1974). Volpert systematisierte ein
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Modell der „hierarchisch-sequentiellen Organisation des Handelns“. Dies wurde später weiterentwickelt, indem eine sensomotorische, eine perzeptivbegriffliche und eine intellektuelle Ebene unterschieden werden. Volpert kennzeichnet Handeln als „bewußt, zielgerichtet und rückgemeldet“ (ebd. 1). Es umfasst also nur ein Niveau menschlicher Tätigkeiten. Handeln ist gekennzeichnet durch seine Bewusstheit – insofern als es „im Kopf“, als Plan intern repräsentiert ist. Oft wird in diesem Zusammenhang auf Marx verwiesen, der bildhaft die Aktivitäten der Bienen mit denen eines menschlichen Baumeisters verglichen hat, um den Unterschied hervorzuheben: „Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“ (Marx MEW 23, 193; zit. z.B. bei Volpert 1974, 18). Am Ende der Handlung entsteht ein Ergebnis, das der Handelnde schon zu Beginn in seiner Vorstellung geplant hatte. Diese Antizipation des Resultats macht ihre Zielgerichtetheit aus. Wesentlicher Anstoß für dieses Konzept des Lernens ist das von Miller, Galanter und Pribram 1960 eingeführte Modell der Rückmeldung, die über Schleifen schrittweise zur Korrektur der Planungen und Handlungen führen kann. Es orientiert sich am Modell der Kybernetik, das in den 1960er Jahren verschiedenste Wissenschaftsbereiche überschwemmte. Muster ist das Schema der TOTE-Einheit (Test-Operation-Test-End) (ebd.). Volpert nennt als Beispiel Nageleinschlagen. Die Feststellung, dass der Nagel noch heraussteht (Test) und der Hammerschlag (Operation), solange der Nagel noch nicht vollständig versenkt ist, erfolgt bis eine Kongruenz zwischen Sollzustand und Istzustand erreicht ist: Nagel drin (End) (ebd. 20). Mit diesem Schema wird zunächst die lineare Verkettung von Handlungen als Zusammenfügen von Folgeschritten erfassbar. Ein nur sequentielles Modell reicht aber zur Erfassung planmäßigen Verhaltens nicht aus. Auch hier erfolgt in der Handlungsregulationstheorie ein Rückgriff auf die technische Sprache der Kybernetik: „Die kybernetische Systemtheorie betont, daß kompliziertere Regulationsvorgänge durch ‚Vermaschung‘ von Regelkreisen zu größeren Systemen erreichbar sind. Das Verhalten eines solchen Systems ist dann durch Regelvorgänge auf verschiedenen Ebenen gekennzeichnet, die alle ohne direkten Rückgriff auf andere Ebenen beschreibbar sind. Die höheren Regulationsebenen wirken gegenüber den jeweils niedrigeren als Steuer-, Überwachungs- und Kontrollinstanzen; die niedrigeren Ebenen behalten aber eine relative Autonomie“ (ebd. 26). Der DDR-Ingenieurpsychologe und Arbeitswissenschaftler Winfried Hacker übertrug das kybernetische Rückkopplungsmodell, indem er es als eine VVR-
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Einheit (Vergleichs-Veränderungs-Rückkoppelungs-Einheit) kennzeichnete, und stellte drei Hauptebenen der psychischen Regulation von Arbeitstätigkeiten dar (Hacker 1973) Schon Leontjew als Vertreter der kulturhistorischen Schule (s.u. 6) hatte in einem ebenfalls hierarchisch-sequentiellen Modell der allgemeinen Tätigkeitstheorie, drei Regulationsebenen: Operation – Handlung – Tätigkeit unterschieden. Das von der Handlungsregulationstheorie bereitgestellte Handlungs-Modell versucht einerseits den Zusammenhang von Denken (Planen) und Handeln zu erklären, andererseits soll es aber auch so unterschiedliche Handlungen wie automatisierte Bewegungen und komplexes, planvolles Verhalten erfassen. Lernen tritt in solchem Modell als reguliertes Lernhandeln auf. Lernen erfolgt im und durch Handeln. Es soll effektiv gestaltet werden. Im Handeln stellen sich komplexe Aufgaben die durch neues Wissen bearbeitet werden. Aus den Handlungen entstehen rückschließende Probleme bezogen auf die Aneignung von Fähigkeiten. Volpert kennzeichnet Lernen als Weiterentwicklung von Handlungssystemen – „sozusagen Handeln in zweiter Dimension: Handeln dessen Ziel unmittelbar oder mittelbar die Verbesserung gegenständlicher Handlungen ist. Damit würden die bisherigen Überlegungen zur Handlungsstruktur auch für das Lernhandeln gelten, dieses wäre aber noch durch zusätzliche Merkmale zu kennzeichnen, welche eben den Aspekt der individuellen Entwicklung von Handlungen akzentuieren“ (Volpert 1974, 106). Lernen erfolgt in vollständigen Handlungen von Wahrnehmen, Denken und Handeln. Über Wahrnehmen und Denken wird Handeln erklärt und gesteuert. Das Handeln wirkt rückkoppelnd auf Wahrnehmen und Denken, indem es beides verändert und erweitert. Wahrnehmen und Denken werden durch Handeln weiterentwickelt. Wichtig ist die innere Beteiligung des Lernenden durch die verfolgten Ziele bzw. Interessen und die Korrektur der Pläne. Die Handlungsregulationstheorie öffnet die Lerntheorie zum Feld des Sinns (der Ziele). Sie bezieht sich auf den bewussten Anteil lernender Aneignung. Damit wird aber zugleich eine Reduktion auf Intentionalität vorgenommen und das Modell erhält einen kognitiven Bias. Es konzentriert sich im Spektrum menschlicher Aktivitäten – auch des Lernens – auf den Ausschnitt bewussten, zielgerichteten und rückgekoppelten Verhaltens. Es geht Hacker und Volpert vorwiegend um Arbeitshandeln, Außerdem verbleibt das Denkmuster in der Position des externen Beobachters. Die subjektive Seite der Intentionalität des Handelns, die individuelle Bedeutsamkeit und der zugewiesene Sinn, werden – was durch den arbeitswissenschaftlichen Verwendungszusammenhang der Arbeiten Hackers und Volperts naheliegt – gegenüber der Produktion verwendbarer Resultate vernachlässigt.
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Der Bezug auf Arbeit fokussiert die Perspektive auf bewusstes Handeln, diskutiert also vorrangig eine Ebene im Spektrum menschlicher Tätigkeit. Die Handlungsregulationstheorie richtet sich auf den Außenbezug von Arbeitsaufgaben. Auf diese bezieht sie auch Lernen. In diesem Ausschnitt des Problemspektrums tauchen Fragen der Sinnhaftigkeit, der Bedeutsamkeit und der Freiheit im Tätigkeitsspielraum – trotz des Rückbezugs auf Leontjew – nicht auf. Damit fällt die implizierte Lerntheorie zurück auf Determinismus und Externalismus.
3.4 K ONSTRUKTIVISTISCHE L ERNTHEORIE Demgegenüber – an Stelle des zentralen Fokus auf Arbeit – baut sich die Position des „radikalen Konstruktivismus“ auf, welche gänzlich auf externe Stützen und Brücken zur „Wirklichkeit“ verzichten will. Aus dem Bruch mit der illusionären Vorstellung einer unmittelbar erkennbaren Welt, wie man sie einem naiven Realismus unterstellen kann, werden „radikale“ Konsequenzen gezogen: Ernst von Glasersfeld (1917-2010) – einer der Hauptexponenten des Radikalkonstruktivismus – beruft sich explizit auf Piaget als Ahnherren und dessen zentrale Prinzipien der Assimilation und Akkomodation (Glasersfeld 1997; 1998, 505). Grundprinzipien seiner Lerntheorie sind: Wissen wird nicht passiv aufgenommen, weder durch die Sinnesorgane noch durch Kommunikation; es wird vielmehr aktiv vom denkenden Subjekt aufgebaut; die Funktion des Denkens zielt auf Passung oder Viabilität (Gangbarkeit); Kognition dient der Organisation der Erfahrung des Subjekts und nicht der Erkenntnis der Wahrheit gegenüber einer letztlich unbestimmbaren, scheinbar objektiven, unbegreifbaren ontischen Realität: „Radikaler Konstruktivismus“ geht lerntheoretisch in der individualistischen Konzeption des Lernens als Wissensaufbau am weitesten – bis an die Grenze eines Solipsismus. Die Welt bleibt unerkennbar: Die Wahrheit sei die Erfindung eines Lügners. Das Denkmuster dreht sich: Die Welt (nicht mehr das Ich) wird zur black-box. Lernen wird nicht von außen angestoßen, sondern von innen. „Radikaler Konstruktivismus“ wurde in verschiedenen Wissenschaftsbereichen, in der Soziologie, der Psychologie und auch in der Pädagogik und der Erwachsenbildungswissenschaft breit rezipiert und wurde zu einer einflussreichen Tendenz in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft stilisiert (Arnold/ Siebert 1995). Gleichzeitig gibt es eine manchmal polemisch vorgetragene Skepsis, die sich – mit Ausnahmen – in kurzem Schlagabtausch erschöpft (Faulstich 1996). Die Schwierigkeit der Diskussion resultiert aus der, dass die auftauchen-
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den Fragen keineswegs oder höchstens teilweise fachimmanent einzelwissenschaftlich klärbar sind, sondern zwangsläufig generelle wissenschaftstheoretische Probleme aufwerfen. Es ist auch deshalb schwierig, sich mit „dem“ „Konstruktivismus“ auseinanderzusetzen, weil er sich als Konglomerat verschiedenster Theoriefragmente zusammensetzt. Es ist kennzeichnend, dass beansprucht wird, ein neues „Paradigma“ als Basis verschiedenster Disziplinen konzipiert zu haben. Behauptet wird, der „Radikale Konstruktivismus“ habe „sich als Ferment zur Entwicklung einer empirisch begründeten Alternative zum neuzeitlichen Wissenschaftspositivismus erwiesen“ (Schmidt 1987, 7/8). Es wird hohe Ambition entfaltet, nämlich die zentralen Forschungsinteressen der Einzelwissenschaften in einem interdisziplinären Diskurs zu bündeln. Die Themen allerdings stammen zunächst vorrangig aus Biologie und Psychologie sowie einer dahinterstehenden Systemtheorie. Deren Schlüsselbegriffe sind Selbstreferentialität und Selbstorganisation, Evolution und Autopoiesis, Kontingenz und Viabilität. Es ist durchaus zu konzedieren, dass die Übersetzung alter Fragen in neue Begriffe veränderte Sichtweisen und auch Einsichten ermöglicht. Glasersfeld bezieht einen „engagierten Gesichtspunkt“ und bekennt sich dazu „der Konstruktivismus wolle einen [...] großen Teil der herkömmlichen Weltanschauung untergraben“ (Glasersfeld 1995, 16). Riskant wird es aber, wenn sich die Wörter des Sprachspiels ablösen von den realen Problemen der Wissenschaften und versehen mit dem Pathos des „Neuen“ zu theorieimmanenten Themenkonjunkturen aufschäumen: Die großem Wörter – Autopoiesis, Viabilität – klingen anspruchsvoll, verdecken allerdings eher die schon lange diskutierten Fragen von Selbstbestimmtheit und Sinnhaftigkeit. (Allerdings wäre eine solche – wie die hier genannte – Kritik „radikalkonstruktivistisch“ eigentlich so gar nicht formulierbar, weil die Diskrepanz zwischen „realen Problemen“ und „theorieimmanenten Themen“ streng genommen nicht durchhaltbar ist, sondern gerade in Frage gestellt wird.) Im Kern ist Konstruktivismus ein erkenntnistheoretisches Programm. Glasersfeld konzentriert sich konsequenterweise auf eine „epistemologische Stellungnahme“ (Glasersfeld 1998, Punkte 1-22). Er durchstreift „vier Quellgebiete“ – den epistemologischen Untergrund, die Evolutionstheorie, die Kognitionstheorie und die Kybernetik – die in seiner Sicht konvergieren. Schon hier wäre zu fragen, ob hinter einem solchen Eklektizismus tatsächlich eine Theoriekonvergenz konstruiert werden kann.
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Es wird aber zunächst noch grundsätzlicher, indem der Erkenntnisbegriff aufgegriffen wird. Dabei setzt sich Glasersfeld ab gegen repräsentationstheoretische Positionen, welche eine „Welt an sich“ erkennen wollen: „Wissen soll nicht als Widerspiegelung oder ‚Repräsentation“ einer vom Erlebenden unabhängigen, rational strukturierten Welt betrachtet werden, sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts“ (Glasersfeld 1998, 503). In dieser Formel und vor allem in dem rigorosen „nicht [...] sondern“ stecken alle komplizierten Probleme einer zweieinhalbjahrtausende alten Debatte um das Verhältnis von Sein und Bewusstsein und diese verworrenen Knoten scheinen nun mit dem Schwert radikal-konstruktivistischer Pose durchgehauen. Spätestens hier wäre zu fragen, ob dies nicht die Subjekt-Objekt-Dichotomie auf neuer Ebene reproduziert, indem man sich auf die Seite des Subjekts schlägt und damit das eigentliche Problem, nämlich das der Vermittlung, ausblendet. Jede Wissenschaft ist „konstruktivistisch“, wenn sie nicht bei einem naiven Realismus stehen bleibt. Das scheinbar Selbstverständliche bricht auf. Der Bruch mit dem Unmittelbaren, das Staunen, ist Ursprung aller Philosophie, unbestritten in der von Glasersfeld pointierten Diskussionslinie von Xenophanes, über Locke, Hume und Berkeley bis Kant (ebd. Punkte 6-20). Diese werden umstandslos in der Ahnenreihe des Radikalkonstruktivismus inventarisiert. Ausgeblendet bleiben in der weitgreifenden historischen Rekonstruktion konsequenterweise alle hermeneutischen oder gar dialektischen Positionen. Damit wird bei genauerem Hinsehen Erkenntnistheorie ersetzt durch Erkenntnisbiologie. Zunächst wird hart darwinistisch konstatiert: „Kurz, alles, was überlebt, war schon im Vornherein an die Bedingungen angepasst, durch die die natürliche Auslese nun das Nichtangepasste vernichtet“ (ebd. Punkt 26). Die Konstruktivität dieser These liegt auf der Hand. Überlebensfähigkeit wird als allgültige Zielgröße eingeführt. Zwar wird dies für kognitive Systeme relativiert und anstelle des Begriffs Auslese das Prinzip Viabilität eingeführt (ebd. Punkt 27). Unter der Hand aber wird die „Gangbarkeit“ weiterer Systemevolution doch zu einer formalen, quasi-ontologischen Zielgröße. „Viabilität“ scheint naturgegebenes Systemprinzip. Hier zeigt sich eine Fatalität, welche aus der Abstraktheit systemtheoretischer Begrifflichkeit resultiert: In den durch die Metapher ermöglichten Analogien zwischen Systemen unterschiedlichster Art verschwindet deren Qualität. Das Wesen menschlichen Handelns, seine ungeheure Differenz gegenüber Verhalten von Organismen wird unterschlagen. (Die Begriffe Qualität und Wesen sind selbstverständlich radikal-konstruktivistischer Terminologie fremd.) Der
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Mensch kann bewusst sterben wollen; die organische Überlebenswahrscheinlichkeit wird dann dem Individuum gleichgültig und nichtig gegenüber humanem Sinn. „Der Begriff der Viabilität ersetzt jenen der ontischen Wahrheit“ (ebd. Punkt 58). Damit sind wir also bei des Pudels Kern: „Im konstruktivistischen Denken wird der Begriff der ontischen Wahrheit aufgegeben“ (ebd. Punkt 57). Daraus werden dann durchaus moralische und politische – schon radikalkonstruktivistisch immanent äußerst fragwürdige und eigentlich unhaltbare – Schlüsse gezogen, als sei das Viabilitätsprinzip die epistemologische Basis von Toleranz und Demokratie (ebd. 62, 63). Vielmehr ist umgekehrt zu fragen, ob nicht der radikalkonstruktivistische Utilitarismus und der ihm implizite Sozialdarwinismus durchaus ins neoliberalistische Konzept passen, das mit einem radikalisierten Individualismus als Legitimation universeller Konkurrenz die Fundamente der demokratischen Gesellschaften zerstört. Dies könnte einen Grund liefern für die Konjunktur konstruktivistischer Programme. Der Konstruktivismus – jedenfalls in Glasersfelds Variante – unterstützt eine Hypertrophie des individualistisch gedachten Subjekts. Es fehlt ein Begriff der Gesellschaftlichkeit des Individuums. Es gibt höchstens noch „intersubjektive Viabilität“ (Glasersfeld 1997, 209). Kollektive Vernunft und praktische Wahrheit werden ausgeblendet. Viabilität wird zum Richtziel des Lernens. Die Gangbarkeit von Aktivitätsstrategien soll erhöht werden, um dadurch über-lebensfähiger und flexibler zu werden, andere Perspektiven einzunehmen und zu neuen Wegen gelangen. Auf störende, beunruhigende „Perturbationen“ reagiert das lernende System durch „Reframing“, indem es den Rahmen umdeutet in neuen Passungen. Lernen ist in dieser Perspektive immer Resultat von Selbstorganisation Letztlich aber verbleibt der Radikalkonstruktivismus ein individualistischer Reduktionismus. Glasersfeld dazu: „Die Analyse sozialer Phänomene kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich vollkommen der Tatsache bewußt bleibt, daß der Verstand, der viable Begriffe und Schemas konstruiert, unter allen Umständen der Verstand eines Individuum ist“ (Glasersfeld 1997,199). Demgegenüber ist jedoch richtig, dass der individuelle Verstand immer schon menschliche Sozietät voraussetzt. Die Kennzeichnung des Radikalkonstruktivismus spitzt sich, wenn man die Probleme der Erziehungs- und Bildungswissenschaft und besonders der Erwachsenenbildung im Auge hat, zu in der Frage nach der „Viabilität“ des Konzepts für die Theorie dieses Wissenschaftsbereichs. Die Argumentationsfiguren unterstützen im Wissenschaftsbereich die „Gangbarkeit“ von Theorievarianten, wel-
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che auf die Begriffe Bildung und Aufklärung explizit verzichten. Zu fragen ist dann, was in der aktuellen ökonomischen und politischen Situation mit dem radikal-konstruktivistischen Programm bezogen auf die Chancen persönlicher Identität und die Zukunft von Mündigkeit angerichtet wird. „Viabilität“ von Theoriekonzepten hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Chancen menschlicher Entfaltung ist aus „radikal-konstruktivistischer Sicht“ als Relevanzkriterium wohl noch zulässig. Gleichzeitig wird der „Subjekt“-Begriff ausgeweitet auf „Lernende Organisationen“ und „Lernende Systeme“. Mit der Überziehung des Begriffs Lernen auf überindividuelle Akteure wie Unternehmen, Regionen, Gesellschaften resultiert ein anti-humanistisches Konzept, das Systeme auch auf Kosten von Individuen lernen lässt. Mit der Ausweitung der Lernmetapher auf Organisationen und Systeme wird die Frage nach der Besonderheit menschlichen Lernens aber noch zugespitzt: Ein solches Lernmodell – wie das konstruktivistische – betont zwar die Aktivität der Systeme beim Lernen. Menschen messen aber darüber hinaus ihren Aktivitäten Sinn zu; sie haben Gründe, warum sie etwas tun, und unterscheiden sich insofern deutlich von Organismen oder Systemen. Sie verhalten sich nicht nur. Sie können bewusst und gezielt handeln. Die drohenden Paradoxien des Radikalen Konstruktivismus haben deshalb dazu geführt, dass „gemäßigte“ Positionen bezogen wurden. Der US-amerikanische Psychologe Kenneth J. Gergen (geb. 1934) hat die Position des – von ihm so benannten „Sozialen Konstruktivismus“ entwickelt. Er zeigt, dass die Interpretationen von Empirie von der sozialen Einbettung abhängen und kritisiert die kausale Ableitung von Gesetzmäßigkeiten. Demgegenüber betont er „Social Construction in Context“ (Gergen 2001). Für eine gemäßigte Sichtweise, einen „pragmatischen, moderaten Konstruktivismus“, bezogen auf die kognitionstheoretische Problematik plädieren Gerstenmaier und Mandl (1995, 882). Ihr Vorschlag lautet nach einem Durchgang durch Konzepte über „Wissenserwerb und konstruktivistische Perspektive“: „Versteht man den Konstruktivismus als eine Perspektive und verzichtet man auf einen fundamentalistischen Geltungsanspruch, dann bietet er gegenwärtig den vielleicht vielversprechendsten theoretischen Rahmen für eine Analyse und Förderung von Prozessen des Wissenserwerbs in den unterschiedlichsten sozialen Kontexten“ (ebd. S. 883 f.). Reinmann-Rottmeier und Mandl nennen weiterführend „Prozessmerkmale des Lernens“: „Lernen ist nur über die aktive Beteiligung des Lernenden möglich. Dazu gehört, daß der Lernende zum Lernen motiviert ist und daß er an dem, was er tut und wie er es tut, Interesse hat oder entwickelt. Bei jedem Lernen übernimmt der
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Lernende Steuerungs- und Kontrollprozesse. Wenn auch das Ausmaß eigener Steuerung und Kontrolle je nach Lernsituation variiert, so ist doch kein Lernen ohne jegliche Selbststeuerung denkbar. Lernen ist in jedem Fall konstruktiv. Ohne den individuellen Erfahrungs- und Wissenshintergrund und eigene Interpretationen finden im Prinzip keine kognitiven Prozesse statt. Lernen erfolgt in spezifischen Kontexten, so daß jeder Lernprozeß auch als situativ gelten kann. Lernen ist immer auch ein sozialer Prozeß: Zum einen sind der Lernende und all seine Aktivitäten stets soziokulturellen Einflüßen ausgesetzt, zum andern ist jedes Lernen ein interaktives Geschehen“ (Reinmann-Rottmeier /Mandl 1995, 193). Mit den Verweisen auf Interesse, Selbststeuerung, Konstruktivität, Erfahrungs- und Wissenshintergrund, Kontextualität und besonders Sozialität gehen Gerstenmaier, Mandl und Reinmann an die Grenze reduktionistischer Theorien des Lernens. Die Lernenden sind nicht mehr passive Reizempfänger, sondern sie konstruieren aktiv Lernmotive; sie werden nicht fremdgesteuert, sondern sie entfalten Selbsttätigkeit; sie lernen nicht mehr in Experimentallabors, sondern in sozialen Situationen. Allerdings beziehen auch die „gemäßigten Konstruktivisten“ immer noch einen Beobachterstandpunkt. Sie versuchen Sinnverstehen und Handlungsbezüge zu unterlaufen und verkennen so die Besonderheiten menschlichen Lernens. Etikettierend kann man unterstellen: der „Konstruktivismus“ verbleibe ein Externalismus, also auf einem Außenstandpunkt, und zugleich ein Instrumentalismus, der Illusion der Machbarkeit und Herstellbarkeit verhaftet. Lernimpulse werden zwar nicht mehr als einlinig erzeugt angesehen, sondern auf komplexe Lernarrangements verlagert. Allerdings verläuft der Zuwachs an Komplexität der Theoriekonstruktion keineswegs in logischen Stufen, sondern viel eher im diskursiven Streit zwischen divergierenden und kontroversen Positionen. Die Ausweitung der lerntheoretischen Horizonte bleibt gefährdet durch Rückwendungen auf eigentlich schon als überholt unterstellte Debatten. Insofern ist die Linie Behaviorismus – Kognitivismus – Konstruktivismus, die als Öffnen des Horizontes aufgefasst werden kann, abgebrochen – zumindest unterbrochen worden – durch neurophysiologisch auftretende neue Varianten von Interpretationen des Lernens.
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L ERNKONZEPTE
Die extremsten Konzepte des Reduktionismus bezogen auf Lernen sind ein Biologismus, der abstellt auf durch Reagibilität und Intentionalität gekennzeichnete Lebewesen und dann sogar noch weitergeht zu einem Physio-Chemikalismus, der auf Strukturen und Prozesse zwischen Atomen und Molekülen gegründet werden soll. Diesen finden wir ausgeprägt in der neurophysiologischen Diskussion. Nur das gilt als wissenschaftlich belegt, was messbar ist. Es gibt „Hirnforscher“, die glauben geistige Vorgänge auf molekulare Prozesse zurückführen zu können. Psychische Phänomene sollen auf eine darunter liegende Ebene physischer Systeme zurückgeführt werden. Dies aber wäre naiv, d.h. schon vorliegende Präzisierungen und Differenzierungen vernachlässigend und die notwendige Komplexität der Theorie leugnend. Schon historisch wurde das Verhältnis von Geist und Gehirn physiologisch zu lösen versucht, als René Descartes den Sitz der Seele besonders in der Zirbeldrüse vermutete (Descartes: Les passions de l'âime. 1649, art. 30-34)). Sie sei das Organ, das für die Koordination von Geist und Körper zuständig ist. Neuere neurophysiologische Thesen sind manchmal nicht weniger verschroben: „Das Gehirn soll nicht nur der Sitz unseres Denkens sein, sondern auch das neue Metasubjekt, der Denker unseres Denkens, der Täter unseres Tuns, ja der Schöpfer unserer Welt“ (Fuchs 2006, 185). Vor allem auf Descartes geht der Sündenfall neuzeitlicher Subjektkonstitution zurück. In seiner Trennung von Geist und Körper lieferte er einerseits die Grundlage für die Spaltung von Ich und Welt und riss damit andererseits den Graben auf, der Leib und Seele zwei Welten zuordnet. Seitdem verbreitete sich das Krankheitssyndrom des Leib-Seele-Problems, an dem die Psychologie immer noch laboriert. Offen bleibt, wie Körper und Geist interagieren. Gerhard Roth (geb. 1942), Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, gilt als einer der einflussreichsten Exponenten der Theorie des Lernens „Aus Sicht des Gehirns“ (Roth 2003 b, 2009:2) beansprucht die Umrisse eines Menschenbildes zu kennzeichnen, das naturwissenschaftlich begründet ist (ebd. 2). Er greift die Frage „Wie das Gehirn unser Verhalten steuert“ Fühlen, Denken, Handeln (Roth 2003 a) auf und bezieht sich explizit auf das „Gehirn-Geist-Problem: Gelöst? Lösbar? Unlösbar“ (ebd. 241). Roth vollzieht einen Durchgang durch die Positionen eines „eliminativen Materialismus“ als stärkste Form des „logischen Reduktionismus“ (ebd. 241, 241), eines „Dualismus“ (243), eines „psycho-physischen Parallelismus“ (ebd. 245) sowie eines „Epiphänomenalismus“, der eine signifikante Kopplung von Gehirn und Geist leugnet (ebd. 246). Er beantwortet dann die Frage: „Wie hängen also geistig
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bewusste und neuronale Prozesse zusammen?“ mit der durchaus differenzierenden Feststellung: „Dieser Zusammenhang fällt ganz unterschiedlich aus, je nachdem welche Hirnleistungen und Hirnregionen wir betrachten“ (ebd. 250). Auf die Unterstellung einer „fundamentalen Erklärungslücke“ (ebd. 252) konzediert er eine „partielle Eigengesetzlichkeit“ (ebd. 253) von Geist und Bewusstsein. Und dann flüchtet er sich auf eine erkenntnistheoretische Ebene und bezieht die Position des radikalen Konstruktivismus, das „erkenntnistheoretische Faktum“, „dass unsere gesamte Erlebniswelt das Konstrukt eines Gehirns ist (ebd. 254). Es greift dann doch wieder das reduktionistische „Nichts-weiter-als“: Die Seele wäre demnach letztlich nichts weiter als ein Haufen geordneter Neurone und der zwischen ihnen bestehenden Austauschverhältnisse und Felder. Nun ist nicht zu bezweifeln, dass die Neurophysiologie faszinierende Resultate vorzuweisen hat. Was jedoch fragwürdig und letztlich abwegig bleibt, ist der Anspruch auf die Deutungshoheit über andere Wissenschaftsgebiete als NeuroPsychologie, Neuro-Pädagogik, Neuro-Psychotherapie, usw. Dies darf nicht verwechselt werden mit einer Auseinandersetzung mit der Neurophysiologie. Es geht nur um deren Überdehnung und unzulässige Verallgemeinerung. Reflektierte Vertreter des Fachs wissen das und vermeiden, ihre eigene Kompetenz zu überschreiten, indem sie sich davor hüten, Alltagswissen mit Neuro-Terminologie zu überformen und zu verschleiern. Gerhard Roth jedoch lässt sich dazu hinreißen und schreibt über die Fragen „Wie lernen gelingt“ „Bildung braucht Persönlichkeit“ (Roth 2011). So fließen Vorstellungen von einer Geschlossenheit und Herstellbarkeit des Lernens und Wissens in die Diskussion ein. Im Umgang mit uns selbst bleiben wir aber immer im Vorläufigen, Unverfügbaren und Offenen. Einflussreich, fast schon dominant in der Lernforschung ist die Neurophysiologie seit der Jahrtausendwende geworden. Manfred Spitzer (geb. 1948), Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, setzt als Anfang: „Lernen findet im Kopf statt“ (z.B. Spitzer 2002, XIII). Er vertritt einen psychophysischen Parallelismus: „Was der Magen für die Verdauung, die Beine für die Bewegung oder die Augen für das Sehen sind, ist das Gehirn für das Lernen“ (ebd.). Die wichtigste Einsicht, welche die Neurophysiologie für das Lernen gebracht hat, ist der Beleg der enormen Plastizität des Gehirns. Spitzer berichtet über den Fall eines Mädchens, dem im Alter von 3 Jahren wegen einer ansonsten tödlich verlaufenden Gehirnentzündung die linke Hirnhälfte operativ entfernt
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worden war (ebd. 15). „Das Kind war mit sieben Jahren praktisch völlig normal“ (ebd.). Ein Kernsatz Spitzers lautet: „Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungsstärke. Solche Modifikationen finden nur an Synapsen statt, die aktiv sind. Je aktiver neuronales Gewebe in einem bestimmten Bereich der Gehirnrinde ist, desto eher findet in ihm Veränderung von Synapsenstärken und damit Lernen statt“ (ebd. 147.). Feststellbar ist hier ein sprachlicher Sprung und Bedeutungswechsel zwischen Übertragungsstärke der Synapsen und Lernen, indem diese beiden auf unterschiedlichen Ebenen ablaufenden Prozesse gleichgesetzt werden. Spitzer kommt zu durchaus sinnvollen Aussagen. Auf die Frage „Wie wir lernen“ (ebd. 19) verweist er auf Neuigkeit und Bedeutsamkeit. Dies hat aber mit den – anschließend ausgeführten – „Repräsentationen“ im Hippokampus nur insofern etwas zu tun, als neuronale Aktivitätsmuster feststellbar sind. Die Sprache der „Hirnforschung“ steckt voller Metaphern, die verschleiern, dass das Übersetzungsproblem zwischen Gehirn und Geist immer noch voller unbeantworteter und m. E. unbeantwortbarer, weil falsch gestellter Fragen steckt. Resultat ist eine unglückliche Verbindung von naturwissenschaftlicher Denkweise und Zeitgeist. Die Debatte in Presse und Journalen wird überschwemmt von Berichten und Artikeln über das Verhältnis von Gehirn und Lernen. Es wird nach „gehirngerechtem Lernen“ gefragt. Es gibt bezogen auf Lernen eine Reihe von Neuromythen, Hirngespinsten (Becker 2009): • Die Trennung von linker und rechter Hirnhälfte in zwei funktional streng
unterschiedene Hemisphären. In einer stark „intellektualisierten“ Gesellschaft dominiere die linke für die Kognition zuständige Hirnhälfte die rechte, die für kreative und emotionale Leistungen zuständig sei. Brain-Gym soll dem abhelfen. Auf solchen Plattitüden beruhen viele Vermarktungserfolge. • Die Behauptung brachliegender Hirnkapazitäten, die aktiviert und besser genutzt werden sollten. Übungseffekte lassen sich neurophysiologisch messen, die konstatierenden Beschreibungen können aber nicht erfassen, woher Lernerfolge kommen. Und dass Üben Lernergebnisse festigt, wussten schon die „alten Griechen“. • Die Vorstellung typengerechten – visuellen, auditiven, kinästhetischen oder reflexiven – Lernens, im Anschluss an Frederic Vesters Bestseller „Denken, Lernen, Vergessen“, der auf einer 1973 ausgestrahlten Fernsehreihe beruht und der 2012 in 35. Auflage mit einer Gesamtauflage von weit über 750.000 Stück verbreitet wurde. (Ich gebe zu, dass ich für das vorliegende Buch davon nicht zu träumen wage. 1.000 wäre schon gut.) Die Vorstellung genereller Ty-
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pen ist schon für den einzelnen Lernenden zu pauschal. Wir lernen manchmal, indem wir etwas sehen, manchmal indem wir zuhören, manchmal indem wir nachdenken. Entscheidend ist, wie die Lernanlässe in unsere Tätigkeiten eingebunden sind. Alle diese Behauptungen müssen bei genauerer Betrachtung zumindest relativiert werden. „Diese Tendenz wird aber von zahlreichen Lehr-Lern-Forschern – und nicht nur von diesen – skeptisch bis sorgenvoll beurteilt. Die bisher vorliegenden Befunde der neurophysiologischen Lernforschung sind nämlich nur selten eindeutig interpretierbar“ (Stern u.a. 2005, 5). Wenn wir genauer nachfragen, was wir finden im Gehirn, so sind dies physikalische, chemische oder physiologische Prozesse, wie sie mit den bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften (technisch hoch aufgerüstet: PositronenEmissions-Tomographie, Magnetresonanztomographie, Infrarot-Spektroskopie u.a.) sichtbar dargestellt werden können. Dies liefert zweifellos faszinierende und spannende Einblicke. Überzogen scheinen sie als Abbild des Geistes: „Die Bilder aus dem Tomographen werden zur Epiphanie des Absoluten, das Gehirn zum Mythos“ (Fuchs 2006, 198). Das neurophysiologische Sprachspiel wird überschwemmt von Metaphern. Keineswegs aber können wir dem Gehirn beim Denken zusehen. Gehirne denken nicht, sondern verknüpfen Signale über Synapsen zwischen Neuronen. Die Psyche entzieht sich dem sezierenden Zugriff. Wenn überhaupt, lassen sich mit der Strategie eines neurophysiologischen Reduktionismus nur allgemeine Schlussfolgerungen über Rahmenbedingungen für Lernen herleiten, die über den individuellen Prozess beim Lernen kaum etwas sagen. Es gibt unhintergehbare, ungelöste Probleme: eine Nicht-Reduzierbarkeit psychischer Prozesse auf neurophysiologische Analysen und eine Unterdeterminiertheit neurophysiologischer Konstellationen bezogen auf konkrete, situative Prozesse des Lernens. Lernfähigkeit ist in erster Linie ein psycho-soziales Problem. Die körperliche Ausstattung schafft nur die Voraussetzungen für Wahrnehmung, Erfahrung und Aneignung. Neurophysiologische Untersuchungen beschreiben nur die körperlichen Rahmenbedingungen, unter denen Lernen stattfinden kann. Eine selbstkritische Einschätzung der „Hirnforschung“ kann vor Allmachtphantasien bewahren und so wissenschaftlich seriös bleiben. Gegen überzogene Erwartungen wendet sich „Das Manifest – Hirnforschung im 21. Jahrhundert“, in dem elf führende Neurowissenschaftler 2004 die beanspruchte Reichweite, aber auch die Grenzen ihrer Disziplin abstecken:
K RITISCHE R EFLEXION
REDUKTIONISTISCHER
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„Eine vollständige Erklärung der Arbeit des menschlichen Gehirns, das heißt eine durchgängige Entschlüsselung auf der zellulären oder gar molekularen Ebene, erreichen wir dabei dennoch nicht. [...] Das macht es generell unmöglich, durch Erfassung von Hirnaktivität auf die daraus resultierenden psychischen Vorgänge eines konkreten Individuums zum schließen“ (Elger u.a. 2004, 36). Neurophysiologische Forschungen suchen Antworten auf ganz andere Fragen als sie die Erziehungs- und Bildungswissenschaften beschäftigen – jedenfalls wenn es darum geht, die psychischen Prozesse des Lernens zu begreifen. Wenn die Hirnforschung bildungswissenschaftliche Antworten gibt, bleiben diese meist im Bereich neuro-terminologisch überformten Alltagswissens. Sie schweben in der Gefahr, hinter den in der Konstruktivismus-Debatte erreichten Stand zurückzufallen und als überholt geglaubte naiv-behavioristische Positionen zu reaktivieren.
4. Relationale Lerntheorien
Die behavioristische, kognitivistische – einschließlich der Handlungsregulationstheorie –, bis konstruktivistische Traditionslinie der Lerntheorie ist im „Radikalen Konstruktivismus“ zu einem Ende gekommen. Die schrittweise Erweiterung der Modelle vom Passivismus zum Aktivismus und vom Analytischen zum Systemischen bleibt aber immer noch naturwissenschaftlichem Denken in Kausalitäten verhaftet. Es kann die Freiheit menschlichen Handelns nicht fassen. Um den Horizont wieder zu erweitern, ist es deshalb notwendig, beim Nachdenken zurückzugehen in die ältere philosophische Diskussion, um einen dem menschlichen Lernen angemessenen Begriff zu finden und zu entwickeln. Somit wird die besondere Stellung des Menschen durch seine Möglichkeit des „Dominanzwechsels“ von einer Außen- zur Selbstbestimmung verkannt. Es findet ein Sprung von Natürlichkeit zu Gesellschaftlichkeit statt. Allerdings bleibt die Tierhaftigkeit der menschlichen Gattung erhalten. Menschen können ihr Handeln entscheiden. Sie können wählen, ob und wann sie lernen oder auch sich begründet verweigern. Sie handeln in „bedingter Freiheit“ (Bieri 2003; s.u. Teil 4.4). Es gibt immer Spielräume menschlicher Aktivität – und seien sie noch so beschränkt. Diese Spezifität menschlichen Lernens wird in einer hermeneutischen Sichtweise, die Gründe für Lernen begreifen will, berücksichtigt (Teil 4.1). Sie wird weitergeführt bis zu einer subjektorientierten, kritischen Lerntheorie, die den Widerspruch von natürlicher und gesellschaftlicher Bedingtheit einerseits und individuellen Begründungen andererseits aufnimmt (Teil 4.3). Aufgebrochen wird die Lerntheorie durch die Einsicht, dass ein System sich nicht aus dem System, Denken sich nicht aus dem Denken erklären lässt. Lernen ist nicht hinreichend als interner Prozess des Denkens zu modellieren, sondern als Aspekt menschlicher Tätigkeit in ihrem Bezug zur Welt. Das Subjekt setzt sich gegen die Welt ab, braucht aber immer die anderen um sich selbst zu bestimmen.
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So bedeutet Lernen Aneignen von Erfahrung und Verbinden mit der eigenen Weltauffassung in der Spannung von Subjekt und Struktur und somit eine Vermittlung von Innen und Außen durch Handeln. Individualität grenzt sich ab gegen die als historische Gesellschaftsformation jeweils relativ fixierte Struktur, die sich jedoch zugleich in die Subjekte einschreibt. Verstehen erfolgt als ein wechselseitiges durch Handeln In-Bezug-Setzen und das Erschließen von Sinn. Damit wird die Sichtweise geöffnet zu eingreifendem Handeln, für das die Theorie des Pragmatismus paradigmatisch steht (Teil 4.2).
4.1 P HÄNOMENOLOGISCHE L ERNTHEORIEN Mit der Betonung des Verhältnisses von Erfahren und Begreifen als Nachdenken und Selbsttätigkeit ist die Perspektive auf Ich und Welt, die lange auf den engen Spalt behavioristischer Tradition verengt war, wieder geöffnet für eine phänomenologisch-hermeneutische Sichtweise auf Lernen, welche abstellt auf einen umfassenden Begriff von Erfahrung, der über sinnliche Wahrnehmung und Beobachtung hinausgeht, und sowohl die erschließende Kraft von Deuten und Verstehen als auch einen Rückbezug auf Leiblichkeit einbezieht (Buck 1967; Meyer-Drawe 2003). Es geht um die Kategorien des Leibes, des Raumes und der Zeit, sowie Eigenheit und Fremdheit. Als Großvater hermeneutischer und dann phänomenologischer Lerntheorie kann Wilhelm Dilthey (1833-1911) gesehen werden, der die Geisteswissenschaften gegen die Naturwissenschaften stark machen wollte. Bei genauerem Hinsehen ist Hermeneutik bei Dilthey – von einigen Irritationen psychologistischer Art abgesehen – keine Interpretationsmethode, sondern grundsätzlich bezogen auf das Konstitutionsproblem der Geisteswissenschaften in Konfrontation mit den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hegemonial werdenden Naturwissenschaften. Haupteinsicht nach dem Zerbrechen der Fortschrittshoffnungen des Bürgertums und dem Zerfall der großen philosophischen Systeme war, dass Vernunft keine reine, sondern immer eine historische, das heißt endliche, von Zeit und Umständen abhängige ist. Deren Prinzipien und Regeln können im Prozess der gesellschaftlich-geschichtlichen und wissenschaftlichen Erfahrung revidiert, verbessert und ergänzt werden. Gleichwohl mündet die vielfach abhängige, kontextuelle Vernunft nicht in Relativismus, sondern kann reflexiv im fortschreitenden Erkenntnisprozess kritisch auf sich selbst bezogen, sich berichtigen und ergänzen. In Diltheys Absicht einer „Kritik der historischen Vernunft“ (Dilthey 1910; 1970) ist der Dreiklang von Leben, Auslegen und Verstehen zentral. Diesen – von anderen zum herme-
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neutischen Zirkel ausgebauten bzw. verkürzten – Argumentationsbogen hat er seit der „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883) immer wieder vollzogen, in Bruchstücken wiederholt; und dieser hat im „Aufbau der geschichtlichen Welt der Geisteswissenschaften“ (1970; zuerst erschienen in den Abhandlungen der preußischen Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1910) seine letzte Fassung erhalten: „Lernen“ war für Dilthey kein direktes Thema. Es kann aber eingeordnet werden als eine Form des Erlebens, das zu verstehen ist. „Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinaus führt in die Region des Ganzen und des Allgemeinen“ (Dilthey 1970, 173). Angestrebt wird also nicht die isolierende Interpretation von Individualität, sondern ein immer vollständigeres und methodischeres Herausheben von Zusammenhängen und Gemeinsamkeiten. Zwar geht es immer um persönliche Erlebnisse, wenn von Lebenserfahrungen geredet wird. Die Beschränktheit des Individualerlebnisses soll aber aufgehoben und der Horizont des Einzellebens erweitert werden, um so durch das Gemeinsame zum Allgemeinen zu führen. „Das gegenseitige Verstehen versichert uns der Gemeinsamkeit, die zwischen den Individuen besteht“ (ebd. 171). Kern für Diltheys Auffassung ist somit die Grunderfahrung, eine Gemeinsamkeit, „in welcher Bewusstsein des einheitlichen Selbst und das der Gleichartigkeiten mit den anderen, Selbigkeit der Menschennatur und Individualität miteinander verbunden sind“ (ebd. 171). Der Zusammenhang und die Gemeinsamkeit sind gegeben durch das Leben. „Leben ist der Zusammenhang, der unter den Bedingungen der äußeren Welt bestehenden Wechselwirkungen zwischen Personen, aufgefasst in der Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den wechselnden Zeiten und Orten“ (ebd. 281/282). Dieser Begriff des Lebens wird – mit vielfältigen romantizistischen und irrationalistischen Konnotationen – immer wieder umkreist. Letztlich ist das Erleben unergründlich und nach Dilthey kann kein Denken hinter dasselbe kommen (ebd. 277). Insofern bleibt die Aufgabe des Verstehens „unendlich“ (ebd.). Sie kann aber in der Hermeneutik (ebd. 278) vorangetrieben werden, aber als ein Versuch des Bestimmens in einem nie zu Ende kommen, im Wechsel zwischen Teil und Ganzem. „Das Verstehen wird also ein intellektueller Prozess von höchster Anstrengung, der doch nie ganz realisiert werden kann“ (ebd. 280).
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In diesem Zirkel, bzw. eigentlich in einer Spirale, die nach oben offen aufsteigt, werden Sinn und Bedeutung von Zusammenhängen und Gemeinsamkeiten aufgedeckt. Zunächst geht es um ein Verstehen des Lebens. „Wir verhalten uns gegenüber dem Leben, dem eigenen so gut als dem fremden, verstehend“ (ebd. 242). Das Verstehen des Eigenen ist Voraussetzung für das Verstehen des Fremden. „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären“ (ebd. 278). Die Interpretation der eigenen Existenz ist gekennzeichnet durch eine besondere Intimität, da der, welcher seinen Lebenslauf versteht, identisch ist mit dem, der ihn hervorgebracht hat (ebd. 246). Dieses Selbstverstehen ist aber immer schon in Beziehung zu dem Fremdverstehen, das heißt dem Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen. „Das Verstehen erwächst in den Interessen des praktischen Lebens. Hier sind die Personen auf den Verkehr miteinander angewiesen. Sie müssen sich gegenseitig verständlich machen. Einer muss wissen, was der andere will“ (ebd. 255). Die elementaren Formen des Verstehens beruhen auf der Deutung einzelner Lebensäußerungen. Sie ist nur möglich aufgrund des Wissens um Gemeinsamkeiten und von einer in ihr gegebenen Beziehung auf ein Inneres (ebd. 257). Wir verstehen andere aufgrund unserer Verwandtschaft untereinander, der Gemeinsamkeit mit ihnen. Die Aufgabe des Verstehens besteht in einem Sich-hineinversetzen, sei es in einen Menschen oder in ein Werk. Es erfolgt eine Übertragung des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen (ebd. 264). Dies steigert sich im Nacherleben durch das Schaffen einer Linie des Geschehens in Beziehung auf den eigenen Lebenszusammenhang. Die Verstehensleistung bezogen auf solche Lebensäußerungen nennt Dilthey Auslegung (ebd. 267). Sich hineinversetzen und nacherleben verweist auf die Totalität des Seelenlebens, wenn es um ein Innewerden der seelischen Wirklichkeit geht. Zu Wilhelm Dilthey – dem Großvater – hatte der Vater der Phänomenologie Edmund Husserl (1859-1938) ein gebrochenes Verhältnis. Angesichts drohendem Historismus und naheliegendem Relativismus verschiedener Weltanschauungen antwortete Husserl 1911 mit dem Aufsatz „Philosophie als Strenge Wissenschaft“ (Husserl 1911). Er verfolgt die Idee einer wissenschaftlichen Wesenserkenntnis und fordert, sich vorschneller Weltdeutungen zu enthalten und sich bei der Betrachtung der Dinge an das zu halten, was dem Bewusstsein unmittelbar (phänomenal) erscheint. Wahrheit ist folglich Übereinstimmung von Gegebenem und Gemeintem. Das Erlebnis der Übereinstimmung ist Evidenz in
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unmittelbarer Erfahrung. Auf einmal verstehen wir etwas. Dann haben wir gelernt. Beim Lernen gibt es manchmal ein Aufblitzen der Wahrheit, – ein AhaErlebnis, – das schlagartige Erfassen von Gestalten, – die plötzlich auftretende Einsicht in die Lösung eines Problems, – ein eigenartiges im Lern- und Denkverlauf auftretendes lustbetontes Erlebnis, das sich als plötzliche Einsicht in einen zunächst undurchsichtigen Zusammenhang einstellt: „Der Groschen ist gefallen“. Wir haben den Gegenstand erfasst. Alles Bewusstsein ist nach Husserl gekennzeichnet durch seine Intentionalität, durch Gerichtetheit auf einen Gegenstand. Subjekt und Objekt sind nicht getrennte Einheiten, sondern stets verbunden durch den Akt des Bewusstwerdens, in dem zugleich die Gegenstände konstituiert werden. Ein transzendentes, eigentliches An-sich der Dinge (wie es noch in der Transzendentalphilosophie Kants gedacht wird) zu unterstellen, ist demgemäß sinnlos. Um den Wesensgehalt eines Gegenstandes zu erkennen, müssen wir unsere Einstellung zu ihm fragend verändern. Wir müssen uns jeglicher (Vor-) Urteile enthalten. Dies nennt Husserl „Phänomenologische Reduktion“. Erst durch Ausschaltung aller Setzungen erscheint die Welt in ihren tatsächlichen Strukturen. Dieses Sich-zurück-nehmen nennt Husserl „Epoché“ beziehungsweise Einklammerung. Aus der durch die Enthaltung gewonnenen Reflexivität heraus ist es in „Eidetischer Reduktion“ möglich, zum Wesen einer Sache, beziehungsweise „zu den Sachen selbst“ vorzudringen. Der gegebene Gegenstand enthält über die rein sinnliche Wahrnehmung hinaus einen Überschuss an Intentionalität und ist mit Zufälligkeit behaftet. Um zu seinem Wesen vorzudringen, muss das Notwendige in ihm erfasst werden. Wesensgesetze machen den Sinn eines Gegenstandes aus. Damit werden die Bewusstseinsakte selbst Gegenstand der Betrachtungshorizonte. Die Verbindung zwischen Ich und Welt wird hervorgebracht durch die Gerichtetheit des Mentalen, durch seine „Intentionalität“ sowohl unter kognitiven als auch unter emotionalen Aspekten. Psychische Akte sind auf etwas „gerichtet“ (man denkt, erstrebt, will, hasst „etwas“). Gedanken und Wünsche verweisen auf etwas anderes: Der Gedanke bezieht sich auf etwas zu Verstehendes; der Wunsch richtet sich auf etwas zu Genießendes. Die Probleme, auf die sich psychische Akte richten, brauchen gar nicht zu bestehen. Man kann sich Gedanken über Einhörner machen, und man kann sich etwas wünschen, das nicht erfüllbar ist – Weltrekordler im 100-Meter-Lauf werden. Lernen bezieht sich auf etwas, das man wissen oder können möchte, selbst wenn man es nie lernen kann. Lernen bedeutet in diesem Zusammenhang Ver-
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stehen des Erfahrenen. Ausgangspunkt ist ein Erlebnis, in dem Wahrnehmungen zu Erfahrungen geordnet wird. Der schon bei Dilthey zu findende Dreischritt von Erleben, Auslegen und Verstehen kann als Grundmuster des Lernens aufgefasst werden. Seit Beginn der 1980er Jahre verbreitet sich in der wissenschaftlichen Debatte eine Renaissance phänomenologischer Lerntheorien (Buck 1967; Koch 1988, 1991; Meyer-Drawe 1982; Göhlich/Zirfas 2007), die sich explizit gegen verhaltenswissenschaftliche Konzepte der „pädagogischen Psychologie“ absetzen. Diese Ansätze sind wesentlich angeregt worden durch phänomenologisches Denken und wichtige Initiatorin war von Anfang an Käte Meyer-Drawe (1982), die in dem Werk „Diskurse des Lernens“ (2008) eine Zusammenfassung und eine Verortung im Kontext diverser Lerntheorien und deren philosophischer Grundlegung vorgelegt hat. Was man darin findet ist eine grundlagentheoretische Fundierung phänomenologischer Lerntheorie vor allem in der Auseinandersetzung mit neurophysiologischen Modellen. Im Mittelpunkt steht der Begriff der Erfahrung: „Etwas Neues in Erfahrung zu bringen, heißt aber Lernen“ (Meyer-Drawe 2008, 14) und nochmals unterstrichen: „Lernen ist in pädagogischer Perspektive und im strengen Sinne eine Erfahrung“ (ebd. 15). Es geht Meyer-Drawe um die „Rückgewinnung von Komplexität“ (ebd. 31). Der reduktionistisch-instrumentalistische Lernbegriff, gegen den sie antritt, ist eingebettet in organologische und technologische Weltbilder (ebd. 41-87). Der „Neue Mensch aus Menschenhand“ (ebd. 44) ist die dominierende Vision. Das gelte auch für Lernpostulate. „Lernen meint auf gewisse Weise stets einen Weg zum Neuen Menschen“ (ebd. 44). Hier treffen sich die Hoffnungen der Pädagogik und der Politik, sowie der Lernenden selbst. Mit dem Stichwort „lebenslanges Lernen“ werde – so Meyer-Drawe – eine Zukunftsformel verbreitet. Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel wird als Hauptinteresse ausgemacht. Wenn alles in Bewegung und Veränderung ist, hilft nur noch Lernen. Flexibilität heißt die dominante – von Meyer-Drawe kritisierte – Devise. „Es kommt nämlich gar nicht mehr darauf an, was man lernt, sondern, dass man lernt“ (ebd. 46). Dies wird aufgenommen mit der These: „Der Neue Adam der Zeit ist die neuronale Maschine, die ein Leben lang lernt“ (ebd. 71). Den unterschiedlichsten Maschinenbildern des Menschen von der Räder-Uhr über die Rechenmaschine bis zum Computer stellt Meyer-Drawe – in kritischer Intention – den „Zauber von Ganzheit“ (ebd. 103-121) gegenüber – eingeleitet durch Platons berühmtes Gleichnis vom Zerteilen des Kugelmenschen. Die Einheit wird zum Abbild der verlorenen Zeit und zum Vorbild für Zukünftiges.
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Gesucht wird nach einem Abglanz des Ursprünglichen. Ganzheit verheißt Geborgenheit (ebd. 104/105). Meyer-Drawe spürt den dahinterstehenden Eskapismus, die Suche nach der heilen Welt, das Hoffen auf Nähe und die Illusion eines Schonraums. Sie warnt vor irrationalistischen Wünschen nach dem Ursprünglichen, dem Unverfälschten und dem Unmittelbaren. „Nur unter dem Verdacht romantischer Wissenschaftskritik kann man an die gelebte Welt erinnern“ (ebd. 112). Veränderungen im Erfahrungsraum werden als Ereignis wahrgenommen, und so landet die Argumentation bei Merleau-Ponty und seinem Begriff der Erfahrung. Allerdings gibt es keine schlichte Unmittelbarkeit des Erfahrens. Das scheitert am „Einspruch der Dinge“ (ebd. 159-183). Die „Beinahe-Kameraden“ „teilen mit uns die Materie und leisten uns Widerstand“; wir können sie begreifen; wir zerstören sie; wir bewundern sie; sie gehen uns etwas an; sie bezaubern und verraten uns (ebd. 159). In Sprachverliebtheit und heideggerndem Verbalismus formuliert Meyer-Drawe: „Die Dinge sind im Wege und sie sind zur Hand“ (ebd. 160). Hier greift nun die Phänomenologie als Philosophie der Erfahrung (ebd. 161), die gekennzeichnet ist durch vielfältige Bruchlinien. Die Vernunft stößt an die Widerständigkeit des Leibhaftigen: Der Mensch ist nicht ein Denker, der auch einen Körper hat, sondern er ist ein leibhaftiges Wesen, das denkt. Im Erkennen – Lernen – sind die Dinge nicht passiv gegeben, sondern werden aktiv aufgenommen. Deshalb kommt schließlich keine Theorie des Lernens ohne eine angemessene Vorstellung von Erfahrung aus. „Lernen als Erfahrung“ (ebd. 187-214) lautet Käte Meyer-Drawes Schlussformel. Dabei ist Erfahren etwas anders als Denken oder Erleben. Streng genommen sollte nur da die Rede von Erfahren sein, wo etwas Neues, Unvorhergesehenes oder Überraschendes erlebt wird und zu Bewusstsein gelangt. Es weist auf Bruchstellen im Denken hin. Angeknüpft wird an den Reichtum des Begriffs Erfahrung, wie er von Günther Buck (1925-1983) in „Lernen und Erfahrung“ (Buck 1967, 1989) entfaltet worden ist. Erfahrung meint dann Belehrung – aber nicht durch die Kunde eines Lehrenden, sondern die Dinge selbst sind es, die sich uns kundtun und uns über sie belehren (ebd. 189). Phänomenologischen Betrachtungen des menschlichen Lernens geht es nicht um Lernen aus Erfahrungen, sondern um Lernen als Erfahrung. Um diese Kernthese zu begründen, geht Käte Meyer-Drawe einem Argumentationsmuster nach, das das Spannungsfeld zwischen den Heroen des griechischen Geistes bis zur Neurophysiologie umfasst. Die Pflöcke sind gesetzt durch die Überväter der phänomenologischen Tradition – angelehnt an Nietzsche,
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Husserl und Heidegger, sowie Merleau-Ponty und dessen Theorie der Wahrnehmung. Dadurch entsteht allerdings eine Hermetik der Begrifflichkeit, die sich manchmal fortreißen lässt durch die Lust an der schönen Formulierung. Als Resultat droht eine kategoriale Isolation des Theoriekonzepts, das den Dialog mit anderen Diskursen des Lernens nicht ernsthaft aufnimmt. Zugleich sind methodisch abgesicherte, wissenschaftliche Zugriffe auf die empirische Buntheit der Lernwelten in der Phänomenologie noch unterentwickelt. Es käme darauf an, das besondere Sprachspiel für erfahrungswissenschaftlich begründete Empirie zu öffnen. Ein Ansatz findet sich z.B. bei dem von mir schon öfters zitierten Pierre Bourdieu, der sich immer wieder gegen MethodenSchulen gewehrt hat (z.B. Bourdieu/Wacquant 1996, 259-261). Eine Verschränkung der Diskurse steht aus. Über die methodologischen Grenzen hinaus gibt es für die phänomenologische Lerntheorie auch theoretische Schranken. Das Ich-Welt-Verhältnis bleibt ein theoretisches. Damit geraten die phänomenologischen lerntheoretischen Ansätze in die Kritik sowohl pragmatistischer als auch kritischer Konzepte. Erfahrungen werden aus deren Sicht gemacht im aktiven Umgang mit einer Realität, in der Praxis an den handlungsleitenden Intentionen scheitern können. Diesen Schritt, Verstehen zu begreifen als eingreifendes, gestaltendes Handeln, vollzieht die Phänomenologie nicht mit. Daher fehlt ihr ein angemessener Begriff von Tätigkeit und von Handeln. Dies gilt dann auch für die wissenschaftliche Praxis der empirischen Verfahren. Wissenschaft bleibt in phänomenologischer Perspektive im Denken eingeschlossen. In Husserls „Logischen Untersuchungen“ wird Theorie „als in sich geschlossenes Sätzesystem einer Wissenschaft überhaupt“ bezeichnet. Wissenschaft heißt „ein gewisses Universum von Sätzen […] wie immer aus theoretischer Arbeit erwachsen, in deren systematischer Ordnung ein gewisses Universum von Gegenständen zur Bestimmung kommt“ (Husserl 1929, 89, 79 und 91). Dass alle Sätze durchgängig und schlüssig miteinander verknüpft sind, ist eine Grundforderung, die jedes theoretische System befriedigen sollte. Einstimmigkeit, welche Widerspruchslosigkeit einschließt, sowie das Fehlen überflüssiger, dogmatischer Bestandteile, die ohne Einfluss auf die beobachtbaren Erscheinungen sind, bezeichnet in dieser Denklinie eine unerlässliche Bedingung. Diese Vorstellung von wissenschaftlichem Wissen übergeht jedoch die Eingebundenheit in den gesellschaftlichen Zusammenhang und verfehlt daher einen angemessenen Begriff von Praxis. Auf den Kontext der „Welt“ wird nur abstrakt rekurriert. Gesellschaftlichkeit wird nur als Weltbezug thematisiert. Die Phänomenologie – das ist fast eine Plattitüde – kennt den Begriff Kapitalismus nicht.
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Sie operiert mit dem Schein der Selbstständigkeit gegenüber Arbeitsprozessen und der scheinhaften Freiheit der Wirtschaftssubjekte (Horkheimer 1970, 29). Nichtsdestoweniger verlässt die Phänomenologie den Subjekt-ObjektDualismus und öffnet das Ich zur Welt. Gerade Lernen lebt vom Widerspruch, der sich im Ich-Welt-Verhältnis immer wieder neu herstellt. Die phänomenologische Lerntheorie verweist auf Krisen als Impulse des Lernens: Wäre alles in Übereinstimmung, was sollte dann noch gelernt werden? An die Stelle von Konsistenz im Denken setzt John Dewey entsprechend Probleme beim Handeln (Teil 4.2), die Lernen auslösen. Auch Klaus Holzkamp geht aus von Diskrepanzen, die Lernen überhaupt erst anstoßen (Teil 4.3).
4.2 P RAGMATISTISCHE L ERNTHEORIE Der Einbezug der Lernproblematik in Handlungstheorie pointiert die Frage nach der Besonderheit menschlichen Lernens: Menschen nämlich messen ihren Aktivitäten Sinn zu; sie haben Gründe, warum sie handeln, und sie unterscheiden sich insofern deutlich von reaktiven Organismen oder Systemen. Sie können handeln – d.h. sie können intentionale Aktivitäten entfalten. Begriffsstrategisch ist dann, wenn man dem handlungstheoretischen Paradigma folgt, die Frage nach der zu fokussierenden Sequenz im schnell fließenden Strom menschlicher Aktivitäten zu klären. Reicht der Fokus auf singuläre Operationen aus, um menschliches Lernen zu erfassen? Wer nur die Eisscholle sieht, begreift den Fluss nicht. Genau dies ist Kern einer scharfsinnigen Kritik am extremen Reduktionismus des in der empirischen Psychologie früh diskutierten Reiz-Reaktions-Modells, welche John Dewey (1857-1952) bereits 1896 in einem programmatischen Aufsatz über „Das Reflexbogenkonzept in der Psychologie“ (1896, dt.: 2003, 230-244; dieser Hinweis auch bei Neubert 1998, 142-153) vorgelegt hat. Er fragt nach der „Elementareinheit“ (ebd. 230). Der „Reflexbogen“ war das zentrale Erklärungsmuster der Ende des 19. Jahrhunderts im Entstehen begriffenen experimentellen Psychologie. Die Komplexität menschlicher Aktivitäten wird auf einen einfachen Mechanismus von Reiz und Reaktion reduziert, wobei die peripheren Prozesse beobachtbar scheinen, während die interne Verarbeitung ausgeblendet wird. Die Implikationen des Modells sind offensichtlich: Zum einen wird ein primär passiver Organismus unterstellt, der einer äußeren Stimulation unterliegt und darauf reagiert. Zum anderen fällt Verhalten in einerseits sensorische und andererseits motorische Aktivitäten auseinander (ebd. 237). Diese sind für den äußeren Beobachter letztlich nur zufällig, nachträglich aneinander gekoppelt. Der sensorische Reiz
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scheint eine Sache zu sein, die innere Aktivität eine andere und die motorische Reaktion eine dritte (ebd. 231). In seinem Reflexbogen-Text unterstützt Dewey zunächst die von den Empirikern erhobene Forderung nach Erfahrungsbezug als einem gegenüber der Introspektion neuen Prinzip der Forschung; er bezweifelt aber die Tauglichkeit ihres Modells. Seine Kritik deckt im Dualismus von Reiz und Reaktion das alte Schisma von Sinnesempfindung und Denkvorgängen und den weiterwirkenden cartesianischen Antagonismus von Körper und Seele auf. Die bloße Aufeinanderfolge von Wahrnehmung gefolgt von Bewegung, kann deren Zusammenwirken nicht erklären. Um diesem Dilemma zu entgehen, stellt Dewey dem sein Konzept des „Organischen Zirkels“ entgegen, mit dem er den Gesamtprozess der Handlungssequenz betont. Diese hebt ab auf die Einheit einer komplexen sensorischen, psychischen und motorischen Koordination von Aktivitäten. Ein „sensorischer Reiz“ trifft niemals voraussetzungslos auf einen Organismus. Dieser befindet sich vielmehr immer schon in komplexen Situationen, welche er wahrnimmt, dabei auswählt und äußere Umstände sowie den eigenen Zustand bearbeitet. Was als Reiz und Reaktion erfahren wird, sowohl die Empfindung als auch die Bewegung, liegt innerhalb, nicht außerhalb des Handlungszusammenhangs. Handeln richtet sich nach außen – auf den Kontext. Nur weil neue, anregende Erfahrungen in den sich entwickelnden Kreislauf einbezogen werden und in diesem Zusammenhang Bedeutung erhalten, kann man überhaupt etwas Neues lernen, den Kreis zu einer Spirale auflösen. Lernen ist dann die im Denken entwickelte Herstellung einer Koordination und Integration von Handlungen. In seiner Behandlung des Reflexbogenkonzepts verbleibt Dewey allerdings noch in einer immanenten Kritik der dominanten psychologischen Tradition. Diese betrachtet einzelne Operationen. Erst in der Folge wird dieses Konzept einbezogen in die Kontinuität von Erfahrungen, die entstehen durch Sequenzen von Handlungen. Ebenfalls später erst – am deutlichsten 1929 in „Die Suche nach Gewissheit“ – hat Dewey die Explikation des Lernens eingebunden in das pragmatistische Konzept von Erfahren, Denken und Handeln. Im Zentrum steht Erfahrung als Grundlage aller Erkenntnis (Dewey 2004 a). Dewey betont die aktive Seite der Erfahrung durch Ausprobieren und Versuchen beim Handeln. „Durch Erfahrung lernen heißt das, was wir mit den Dingen tun, und das, was wir von ihnen erleiden, nach rückwärts und vorwärts miteinander in Verbindung bringen“ (Dewey 1993, 187) – also den Kontext zu erfassen.
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Demgemäß ist Denken Problemlösen, in welches das Lernen eingebunden ist als korrigierende Erfahrung beim aktiven Handeln. Die Annahme eines lediglich betrachtenden Geistes wird ersetzt durch die handelnden Menschen, und es vollzieht sich „ein radikaler Wechsel vom kontemplativen zum aktiven Wissenschaftsbegriff“ (ebd. S. 170). Für-wahr-halten mit unterschiedlicher Sicherheit ist Ausgangs- und Endpunkt des Denkens. Denken ist ein Ordnen gemeinsamer und miteinander geteilter Erfahrungen, welche das Zusammenleben ermöglichen. Erfahrungen sind aber nicht nur bloße Anschauungen oder Wahrnehmungen, sondern immer schon gefüllt mit Bedeutungen, sie werden gemacht im aktiven Umgang mit einer Realität, in der handlungsleitende Interessen auch scheitern können. Wirklichkeit erschließt sich nicht durch die Rezeption durch die Sinne und nicht durch abstraktes Denken, sondern praktisch konstruktiv im Zusammenhang des Vollzugs von Handlungen. Wenn man überlegt „Wie wir denken“ (Dewey 1910, dt.: 2002 a) nimmt das seinen Ausgang in der Erfahrung einer Situation, die mehrdeutig ist, Alternativen enthält, ein Dilemma darstellt. Schwierigkeiten und Hindernisse veranlassen dazu, anzuhalten. (Solche Lernanstöße werden in anderen Theorien „Krisen“, „Widerfahrnisse“ (Meyer-Drawe) oder „Diskrepanzerfahrungen“ (Holzkamp) genannt). Im Handeln tauchen Probleme auf, welche Unsicherheit erzeugen, Erstaunen machen und das Suchen anspornen. Der Wunsch, dem Zustand der Beunruhigung ein Ende zu bereiten, leitet den Reflexionsprozess. „Das Denken nimmt seinen Ausgang von einer Beunruhigung, einem Staunen, einem Zweifel“ (ebd. 14-15). Es ist die „Auseinanderlegung der Beziehungen zwischen dem, was wir zu tun versuchen, und dem, was sich aus diesem Versuche ergibt“ (Dewey 1993, 193), das „Bemühen, zwischen unserem Handeln und seinen Folgen die Beziehungen im Einzelnen aufzudecken, so dass die beiden zu einem Zusammenhange verschmelzen“ (ebd. 195). Verändertes Denken folgt dem Lernen des Neuen angestoßen durch Erfahren des Überraschenden. Daraus erst entsteht die Möglichkeit des Handelns auf der Grundlage intendierten Sinns. Denken entwickelt die Möglichkeit, rein impulsive oder rein gewohnheitsmäßige Aktivitäten zu unterlassen, zu vermeiden bzw. auszusetzen. „Ein Wesen, das nicht die Fähigkeit zu Denken besitzt, wird nur von seinen Instinkten und Begierden, von äußeren Verhältnissen und inneren Organzuständen zu Handlungen getrieben. Es handelt gleichsam, als würde es von hinten gestoßen“ (Dewey 2002 a, 17).
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Menschen dagegen können überlegen, nachdenken, nach Begründungen suchen, verschiedene Möglichkeiten abwägen. Handeln braucht den Spielraum des Möglichen, setzt also bedingte Freiheit voraus. „Ein denkendes Wesen kann daher auf der Basis des Nichtgegebenen und des Künftigen handeln“ (ebd.). Der Prozess des Lernens und Denkens ist der Logik des Forschens nachgebildet. Beides folgt dem pragmatistischen Grundprinzip der Korrektur einer Idee durch die Erfahrung als „Experiment mit der Welt zum Zwecke ihrer Erkennung“ (Dewey 1993, 187). Gefragt wird danach, wie die Welt nach dem Versuch aussehen wird, also nach dem Zukünftigen: „Denken heißt nach etwas fragen, etwas suchen, was noch nicht zur Hand ist“ (ebd. 198). Phylogenetische und ontogenetische Prozesse werden parallelisiert: „Alles Denken ist jedoch Forschung, alle Forschung ist eigene Leistung dessen, der sie durchführt, selbst wenn das, wonach er sucht, bereits der ganzen übrigen Welt restlos und zweifelsfrei bekannt ist“ (ebd.). Wir alle erforschen unsere Welt. Es geht um ein Orientieren des Handelns, um Probleme zu lösen. Dabei lernen wir aus Erfahrung. Erfahrungen sind dabei nicht nur bloße Wahrnehmungen und Anschauungen, sondern immer gefüllt mit Bedeutungen. Erfahrungen werden gemacht im aktiven Umgang mit einer Realität, an der handlungsleitende Intentionen scheitern können. Wirklichkeit erschließt sich den Handelnden nicht durch die Rezeption durch die Sinne, sondern konstruktiv im Zusammenhang von Handlungsvollzügen. Dabei sind Handlungen immer eine Einheit von Kenntnissen, Gefühlen und Bewertungen. Allerdings ist die Spannbreite des Denkens weit: „zwischen einem sorgfältigen Prüfen der Beweise und einem bloßen Spiel der Gedanken“ (Dewey 2002 a, 11). Auslöser für Reflexionsprozesse sind „(a) ein Zustand der Beunruhigung, des Zögerns, des Zweifelns und (b) ein Akt des Forschens oder Suchens“ (ebd. 13). Ohne anregende, dem gewohnten Denken entgegenstehende Erfahrungen, kann nichts Neues gelernt werden. Lernanlässe sind, wenn sie vom Denken begleitet werden, nicht Reaktionen auf Impulse, sondern als Intentionalität gerichtet auf Sinn. Für Dewey ist Lernen eingespannt zwischen Erfahren und Denken. Lernprozesse sind Teil der Denkprozesse und sind zugleich gekennzeichnet durch ihre Besonderheit. Im Denken wird Bekanntes reorganisiert oder es wird neu Erfahrenes und bisher Nichtverfügbares durch Lernen angeeignet. Hier greift der von dem Pragmatisten Charles Sanders Peirce (1839-1914) in der Logik des Schließens eingeführte Begriff der Abduktion. „Abduktion ist der
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Vorgang, in dem eine erklärende Hypothese gebildet wird“ (Peirce 1931-1958. Bd. 5, 171). Darunter versteht Peirce ein Schlussverfahren, das sich von Deduktion und Induktion dadurch unterscheidet, dass es die Erkenntnis über eintretende Fälle aufgrund neuer Erfahrungen erweitert. Alte Regeln gelten nicht mehr. Das Überraschende durchbricht das Selbstverständliche: Ein überraschendes Ereignis tritt auf, welches die als Regel vorgefasste Meinung in Frage stellt; wenn die alte Regel jedoch wahr wäre, würde es eine Selbstverständlichkeit, eben nichts Neues sein; dem folgt im zweiten Denkschritt eine Als-ob-Annahme. Vermutet wird folglich ein Grund, weshalb das Ereignis wahr ist. Nicht eine bekannte, feststehende Regel steht am Anfang erweiterter Erkenntnis, sondern ein überraschendes Ereignis, das Zweifel an der Richtigkeit bestehender Meinungen aufkommen lässt. Entscheidend für die Denkform der Abduktion ist, dass nicht die Beseitigung der Überraschung, sondern das Unterstellen und Prüfen einer neuen Regel. Je weiter der Abstand des Erfahrenen von der Regel, desto größer die Aufgabe zu lernen. Lernen öffnet sich durch Überraschung und wird erweitert durch Erfahrungen. Denken wird als der interne Reorganisationsprozess beim Lernen aufgefasst. Denken und Lernen sind aber nicht trennbar. Wenn man neu gelernt hat, hat man gedacht; wenn man neu gedacht hat, hat man gelernt. Übergreifende Aktivitäten sind Tätigkeit und Handeln. Die Lerntheorie Deweys ist eingebunden in die vom Pragmatismus entwickelte alternative handlungs- und erkenntnistheoretische Grundposition. Sein Begriff von Lernen umfasst zwei Kernpunkte: zum einen die zentrale Relevanz aktiver Erfahrung (experience) beim Handeln, zum anderen eine Verallgemeinerung des experimentellen Forschens (inquiry) als Grundform des Lernens. So ist man bei der Auseinandersetzung mit dem Lernbegriff unmittelbar konfrontiert mit einem weitreichenden Versuch einer epistemologischen Neubegründung von Wissenschaft. In der „Erneuerung der Philosophie“ von 1926 (dt.: Dewey 1989) und der „Suche nach Gewissheit“ von 1929 (dt.: 1998) stellt Dewey der traditionellen philosophischen Sichtweise einen neuen – konsequenterweise als Hypothese gekennzeichneten – Zugang gegenüber, der zugleich die allseits erfahrenen Krisen lösen soll: „Die hier angebotene Hypothese lautet, daß die Umwälzungen, die in ihrer Gesamtheit die Krise ausmachen, in der sich die Menschheit heute überall auf der Welt, in allen Aspekten ihres Lebens befindet, auf dem Vordringen von Prozessen, Materialien und Interessen in die Praxis des Alltagslebens beruhen, deren Ursprung in der Arbeit von Naturforschern in relativ abgesonderten und fernen technischen Arbeitsstätten, die man Laboratorien nennt, liegt“ (ebd. 25).
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Deweys Philosophie der Handlung und der Erfahrung vollzieht einen entschiedenen Angriff gegen Kontemplation als Modus der Theorieproduktion und, wie er es nennt, das Zuschauermodell des Wissens. Um dies zu überwinden, ist eine Abkehr von dem traditionellen Zuschauermodell notwendig hin zu einem modernisierten Künstlermodell. „Wir neigen dazu, (Wissen) nach dem Modell eines Zuschauers aufzufassen, der ein fertiges Bild betrachtet, statt dem eines Künstlers, der das Gemälde hervorbringt“ (ebd. 168). Das Künstlermodell wird getragen durch einen gegenüber traditioneller Theorie völlig anderen Begriff von Wissen. Die Annahme eines lediglich von außen betrachtenden Geistes wird ersetzt durch die in der Welt handelnden Menschen. „Wissen bedeutet für die experimentellen Wissenschaften eine bestimmte Art des intelligent vollzogenen Handelns; es hört auf, kontemplativ zu sein und wird im wahren Sinne praktisch“ (ebd. 167). Diese Grundhaltung zu Wissenschaft beansprucht gegenüber dem abendländischen Dualismus von Denken und Sein eine alternative Strategie des Umgangs mit Wahrheit zu begründen. Ausgangspunkt ist eine „Destruktion der Barrieren, die Theorie und Praxis getrennt haben“ (Dewey 1998, 29). Die Folgerung, die sich daraus ergibt, ist, „die Suche nach Sicherheit durch praktische Mittel an die Stelle der Suche nach absoluter Gewissheit durch kognitive Mittel zu setzen“ (ebd. 29). In dieser Auffassung von Erkenntnis und Wahrheit steht „Pragma“, also die Handlung, im Mittelpunkt der Theorie. Die Prüfung dessen, was eine Wahrheit bedeutet, bezieht sich auf das Handeln, das sie inspiriert. Damit werden Zweifel beschwichtigt. Für-wahr-halten mit unterschiedlicher Sicherheit ist Ausgangs- und Endpunkt des Denkens als ein Ordnen gemeinsamer und miteinander geteilter Erfahrungen, welche das Zusammenleben ermöglichen. Es vollzieht sich ein Wandel von kontemplativer zu operativer Erkenntnis. Die Annahme eines lediglich betrachtenden Geistes wird ersetzt durch diejenige handelnder Menschen, und es vollzieht sich „ein radikaler Wechsel vom kontemplativen zum aktiven Wissenschaftsbegriff" (ebd. 170). Wissenschaft erhält einen sehr hohen Stellenwert, indem sie zum Entwurf allen menschlichen Zusammenlebens, des Handelns und des Lernens stilisiert wird. Verbunden damit ist eine grundsätzliche Neubestimmung wissenschaftlichen Arbeitens. Der philosophische Pragmatismus beansprucht gegenüber dem abendländischen Dualismus von Denken und Sein, in dem sogar noch der „radikale Konstruktivismus“ verharrt, eine alternative Strategie des Umgangs mit Wahrheit zu begründen. Er propagiert eine Umkehr aus der Weltflucht der Kontem-
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plation zu innerweltlichem Engagement. Ausgangspunkt ist eine Destruktion der Barrieren, die Theorie und Praxis getrennt haben. Pragmatismus ist demnach einzuordnen als Form der Praxisphilosophie. Das Konzept geht aus von der Grundannahme, dass die menschliche Fähigkeit, Theorien zu entwerfen, ein Bestandteil reflektierter Praxis ist. Theorie und Praxis sind also keine separierten Sphären; vielmehr sind Theorien und Distinktionen Karten und Wegweiser, sich in der Welt zurechtzufinden. Es gibt, John Dewey folgend, kein Problem des Gegensatzes von Theorie versus Praxis, sondern des Verhältnisses von intelligenter Praxis versus desinformierter, stupider Praxis. Es geht den Vertretern des Pragmatismus um den Prozess des Begründens von Wahrheit im Handeln. Denken und Lernen haben eine Aufgabe im Lebenszusammenhang. Sie liefern Meinungen und Überzeugungen. Ein bestimmtes „Fürwahrhalten“ (believe) ist vorangehend, es beschwichtigt Zweifel und legt Regeln des Handelns fest. Fürwahrhalten mit unterschiedlicher Sicherheit ist Ausgangs- und Endpunkt des Denkens, das selbst eine Form des Handelns ist. Geschlossene Systeme verwandeln sich in offene Hypothesen und Philosophie nimmt einen experimentellen Charakter an. Erkenntnis ist kein fixiertes Resultat, sondern entsteht in einem dynamischem Prozess, der sich im Lernen vollzieht: Der Mensch ist, indem er beständig lernt. Pragmatismus mit seinen verschiedenen Vertretern bekämpft die Dualismen von Geist und Materie, Gesellschaft und Natur, Finalismus und Kausalismus, Theorie und Praxis. Auf dieser Grundlage konzipiert George H. Mead (18631931) seine Theorie von der Innerweltlichkeit des Geistes. Geist und Identität (Mead 1978) entstehen im gesellschaftlichen Prozess. Mead gibt die „Auffassung auf, die Seele sei eine Substanz, die bereits bei der Geburt die Identität des Individuums ausmacht“ (Mead 1973, 39). Es geht ihm darum, zu „versuchen, die Entwicklung des Geistes innerhalb eines Verhaltens herauszuarbeiten“ (ebd.). „Der Mensch hat eine Persönlichkeit, weil er einer Gemeinschaft angehört, weil er die Institutionen dieser Gemeinschaft in sein eigenes Verhalten hereinnimmt. [...] Die Struktur der Identität ist also eine allen gemeinsame Reaktion, da man Mitglied einer Gemeinschaft sein muss, um eine Identität zu haben. [...] Er (der Mensch - PF.) versetzt sich an die Stelle des verallgemeinerten Anderen, der die organisierten Reaktionen aller Mitglieder der Gruppe repräsentiert“ (ebd. 204, 205). Ausgangspunkt der Mead’schen Überlegungen, die ihn als Urheber des „Symbolischen Interaktionismus“ kennzeichnen, ist geteilte Bedeutung. Das reflexive Selbstbewusstsein hat einen intersubjektiven Ursprung. Es entsteht aus sozialen Interaktionen. In menschlichen Kooperationen besteht ein Wechselverhältnis, „where the act of the one answered to and called out the act of the oth-
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er“ (Mead 1964, 101). Die Handlungen sind Träger von Bedeutungen und daraus erst entsteht die Möglichkeit des Denkens und des Selbstbewusstseins. Vermittelt werden die Bedeutungen über Gebärden in ihrer Referenz zu anderen Individuen. So werden sie zu Symbolen. Menschliche Aktivität ist dabei immer eingebunden in sozialen Kontext: „Die Tätigkeiten, aus denen Denken erwächst, sind gesellschaftliche Handlungen“ (Mead 1973, 407). Mead hat die Genese der Identität eingespannt in die Differenz von „Ich“ („I“) und „Mich“ („Me“). (Diese Terminologie stammt ursprünglich von William James.) Das Ich reagiert auf das Selbst, das sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt. Indem wir diese Haltungen übernehmen, bildet sich das reflexive „Me“ und darauf reagieren wir impulsiv als „I“. Wir lernen in Interaktion mit dem „generalisierten Anderen“ und eignen uns aktiv eine Welt an durch Austausch von gestischen oder sprachlichen Symbolen. Es geht um wechselseitige kulturelle Aneignung gesellschaftlicher Erfahrungen im „Me“ in körperlicher Besonderung des „I“; dazu bedarf es des Austauschs von „Meinungen“. Schon John Dewey hatte als bedeutsame Frage erklärt, „wie diese beiden Arten von Meinungen am wirksamsten und fruchtbarsten miteinander interagieren können“ (Dewey 1998, 23) und in praktisches Handeln umgesetzt werden. Dies, das Verhältnis von „Fakten“ und „Normen“, von Sach- und Werturteilen, ist zentral für eine Bildungswissenschaft als Handlungswissenschaft. Resultat ist dann, dass „die Suche nach Sicherheit durch praktische Mittel an die Stelle der Suche nach absoluter Gewissheit durch kognitive Mittel“ gesetzt werden muss (ebd. 29). Menschliche, individuelle Aktivität ist eingebunden in sozialen Kontext: „Die Tätigkeiten, aus denen Denken erwächst, sind gesellschaftliche Handlungen“ (Mead 1978, 407). Lernen besteht in erster Linie in der Übertragung durch symbolische Interaktion. Mit der Bezugnahme in Interaktionen überschreiten Dewey und Mead individualistische Barrieren (s.u. Teil 11). Für Interaktionen müssen mindestens zwei Entitäten auftreten. Dies kann die Basis liefern für eine soziale Lerntheorie. Mit der Bezugnahme auf Handlung und Erfahrung durchbricht pragmatistische Lerntheorie die kontemplative Attitude und die Position des externen Beobachters. Lernen erfolgt mittendrin im Leben, nicht in der Isolation und nicht im Labor – das sind hochkünstliche Extremsituationen. Dewey verweist auf die Kontextualität des Lernens, und Mead macht besonders die soziale Interaktion stark. Lernen ist für die Pragmatisten ein Aspekt des Handelns in Gesellschaft.
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4.3 S UBJEKTWISSENSCHAFTLICHE L ERNTHEORIE Damit ist der Ausgangspunkt erreicht für eine fortgeschrittene Fassung von Lerntheorie, die sich in der Position von Klaus Holzkamp in seinem Werk „Lernen“ (1993) findet. Er entwickelt seinen Ansatz, Lernen zu begreifen vom Standpunkt des handelnden Menschen. „Mit diesem Standpunkt stehe ich nicht neutral in der Welt, sondern verhalte mich zu ihr als ein sinnlich-körperliches, bedürftiges, interessiertes Subjekt“ (ebd. 21). Daraus resultiert ein Perspektivwechsel der wissenschaftstheoretischen Position: Lernen erfolgt nicht von außen bedingt, sondern als vom Subjekt begründet. Es ist nicht also durch Beobachten äußerer Anstöße hinreichend erklärbar, sondern erst durch die vom Individuum selbst hergestellten Bedeutungszusammenhänge zu verstehen. Eine Bezugnahme zwischen den eigenen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten erfolgt durch die Zuweisung von Bedeutungen als Lernbegründungen. Holzkamp bezeichnet dies als Wechsel vom Bedingtheitsmodell zum Begründungsdiskurs (ebd. 31). Der Übergang von einer auf Bedingungen abstellenden zu einer auf Begründungen zentrierten Perspektive ergibt sich aus der Unmöglichkeit, Aktivitäten von Individuen vollständig anhand äußerlich feststellbarer Merkmale zu bestimmen. Die Subjekte haben immer die Möglichkeit sich zu den Bedingungen bewusst – und dann eben anders – zu verhalten und mit Begründungen zu handeln. Dahinter steht die einfache Vorstellung, dass jedes „Außen“ nur wirkt, indem es „Innen“ bedacht und bewertet wird. Nichtsdestoweniger bestehen die Bedingungen weiter: „Menschliche Handlungen/Befindlichkeiten sind also weder bloß unmittelbar-äußerlich ›bedingt‹, noch sind sie Resultate bloß ›subjektiver‹ Bedeutungsstiftungen u. ä., sondern sie sind in den Lebensbedingungen ›begründet‹“ (Holzkamp 1985, 348). Lernbegründungen und reziprok dazu Lernwiderstände, lassen sich außerdem rückbeziehen auf Wünsche und Interessen der Personen. Wir können diese verstehen, weil und insofern wir uns selbst verstehen. Dabei gibt es Grenzen der Verständlichkeit aufgrund mangelnder Einsicht in die Prämissen, mit denen die Intentionen „begründet“ sind. Dies meint nicht, alle Interessen seien „kognitiv expliziert“, vom Außenstandpunkt „rational“. Kritik vorwegnehmend schränkt Holzkamp ein: „Von uns wird lediglich angenommen, dass ich von meinem Standpunkt aus nicht begründet gegen meine eigenen Interessen (wie ich sie wahrnehme) handeln kann“ (Holzkamp 1993, 26).
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Der Übergang von einer auf äußere Bedingungen abstellenden zu einer auf je eigene Begründungen zentrierten Perspektive ergibt sich aus der Unmöglichkeit, Aktivitäten von Individuen vollständig anhand äußerlich feststellbarer Merkmale zu bestimmen. Die Subjekte haben immer die Möglichkeit, sich zu den Bedingungen bewusst – und dann eben anders – bezogen auf Begründungen zu verhalten. „Der Charakter dieses Konzepts als ‚Vermittlungskategorie‘ liegt darin, dass [...] ‚Bedingungen‘ und ‚Gründe‘ hier nicht äußerlich gegenübergestellt, sondern Begründungszusammenhänge im ‚Medium‘ von Bedeutungsstrukturen und deren Repräsentanz in Denk- und Sprachformen als ‚subjektiv‘-handlungsrelevanter Aspekt der Bedingungszusammenhänge gefasst sind. Menschliche Handlungen/Befindlichkeiten sind also weder bloß unmittelbar-äußerlich ‚bedingt‘, noch sind sie Resultate bloß ‚subjektiver‘ Bedeutungsstiftungen u. ä., sondern sie sind in den Lebensbedingungen ‚begründet‘“ (Holzkamp 1983, 348). Menschliches Handeln orientiert sich an individuellem Sinn eingebunden in gesellschaftliche Bedeutungen: Wir nehmen etwas als wichtig für uns – oder eben nicht. Wenn man aber Menschen zugesteht, über Handlungsspielräume zu verfügen und deshalb für ihr eigenes Handeln verantwortlich zu sein, ergeben sich unüberschreitbare Grenzen der Instruktion oder gar Manipulation. Bedeutsamkeit ist derjenige Aspekt von Welt, durch den diese für das Individuum, für seine Lebensinteressen und damit als Lernthematik relevant wird. Die Bedingungen werden wichtig, wenn sie von den Subjekten mit Bedeutsamkeit für sich selbst aufgenommen werden. Tätigkeits-, also auch Lernproblematiken, verbinden sich mit den Interessen der Akteure. Dies umfasst nicht nur kognitive Aspekte. Keineswegs ist die eigene Lage den Subjekten in allen ihren Aspekten bewusst. Und sie entzieht sich der unmittelbaren Erfahrung. (Bourdieu dazu: „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen“ (Bourdieu 1979, 179)). Lernen ist im Begründungsdiskurs also nicht durch die äußeren Verhältnisse zu erklären, sondern über die inneren Gründe der Lernenden selbst zu verstehen und zu begreifen. Der „Begründungsdiskurs“ ist notwendig immer „erster Person“, impliziert also einen, wie Holzkamp es, obwohl sich dahinter eines der wissenschaftstheoretischen Kernprobleme verbirgt, formelhaft nennt: „Subjektstandpunkt“. Interessen sind, so die Erläuterung dieses schwierigen Begriffs, immer gebunden an Subjekte: Gründe für mein interessengeleitetes Handeln kann immer nur jeweils ich haben, aber niemals jemand anders. Oder anders herum: Wenn ich von den Gründen eines anderen rede, dann rede ich immer von seinen Gründen, für sein Handeln, also nehme daher seinen Subjektstandpunkt
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ein – hermeneutisch gesprochen: Ich versuche, ihn zu verstehen bzw. zu begreifen. Also ist ein „verallgemeinerter Subjektstandpunkt“ die in einer Kommunikationsgemeinschaft gemeinsame Form des Weltaufschlusses. Dabei erscheinen die Weltgegebenheiten den Individuen nicht einfach als „Bedingungen“, die irgendwelche „Folgen“ nach sich ziehen, sondern als „Bedeutungen“ im Sinne von Handlungsmöglichkeiten (Holzkamp 1996, 118). Holzkamp (1997, 260) setzt sich allerdings ab gegen hermeneutische Positionen und den Vorwurf, er wiederhole lediglich die Ebbinghaus/Dilthey- Debatte. Es geht ihm nicht nur um Verstehen des Anderen, des Fremden. Der Subjektstandpunkt wird „verallgemeinert“, also einbezogen in gesellschaftliche, wissenschaftlich begreifbare Verhältnisse. Insofern wechselt die wissenschaftliche Arbeit nicht bloß von der Beobachtersicht zur Akteursperspektive, vom Erklären um Verstehen, sondern Holzkamp versucht im Begründungsdiskurs eine Perspektivenverschränkung durch eine Vermittlungskategorie. Die Subjekte sind eingebunden in konkrete gesellschaftliche Verhältnisse, ihr Handeln kann also nicht nur verstanden, sondern auch begriffen werden. Damit lösen sich die Bedingungen nicht auf: wenn sie zu Begründungen werden, orientieren sie handlungsleitend. Die durch den Kapitalismus gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen wirken weiter, aber als Rahmen, nicht als Notwendigkeit für das Handeln, das erst über eigene Begründungen die Spielräume schließt. So gesehen kann man die Lernenden als Intentionalitätszentren (Holzkamp 1993, 21) kennzeichnen, die von ihrem Standpunkt aus Perspektiven und Interessen entwickeln. Intentionalität bezieht sich auf Handlungshorizonte und -perspektiven ausgehend von eigenen Lebensinteressen. Diese sind artikulierbar und kommunizierbar in der Sprache individueller Handlungsbegründungen. Solche Gründe sind die jeweils eigenen Gründe. Dabei gehen äußere Anlässe zwar in Begründungsmuster mit ein, allerdings nur als Prämissen der jeweiligen eigenen Aktivität. Diese sind – wie gesagt – keineswegs vollständig und eindeutig von außen determiniert, sondern vom Subjekt aus dem Kontext seines Handelns aktiv selektiert. Begründungsmuster überführen kurzschlüssige Wenn-Dann-Hypothesen in die komplexe Argumentationsfigur: „Bedingungen/Bedeutungen – Handlungsprämissen – intentionale Zwischenglieder – Handlungsvorsatz – Handlung“ (Holzkamp 1993, 35). Die Welt erschließt sich in ihrer intentionalen Bezogenheit nicht im mentalen Akt, sondern im Zusammenhang realer Handlungsmöglichkeiten. Im handelnden Weltzugriff, indem das Individuum seine Lebensbedingungen aktiv umgestaltet und erweitert, erhalten die Handlungsprämissen ihre Bedeutung. Lernen ermöglicht ein Eindringen der Individuen in historisch-konkret gegebene Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen. Die damit entstehenden und erfahrenen
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Handlungsspielräume führen zum schrittweisen Dominanzwechsel im Spektrum von Festgelegtheit und Lernfähigkeit (Holzkamp 1985, 151) menschlicher Aktivität. Holzkamp versucht nach der wissenschaftstheoretischen Explikation seines Verfahrens der Problementwicklung, „Lernen pur“ zu modellieren. Das hat ihm vielfältige Kritik eingetragen (vgl. z.B. Haug 2003). Es geht ihm um Handlung, also um Intentionalität und darum, die Besonderheiten des Lernens gegenüber anderen Tätigkeitsformen herauszustellen. Das macht es möglich, es von anderen Aktivitäten wie Routinen des Verhaltens, aber auch von Reifung und Erziehung zu unterscheiden. Allerdings löst sich Lernen in diesem Sinn nicht in bewusstes Handeln – in intentionales Lernen – auf. Selbstverständlich kann man alle Tätigkeiten auch unter Lernaspekten sehen: Beim Arbeiten, beim Spielen, sogar beim Schlafen kann gelernt werden. Dies ist inzidentelles Lernen: Mitlernen. „Mitlernen begleitet nämlich mehr oder weniger jeden Handlungsvollzug und ist demnach auch bei der Bewältigung jeder Handlungsproblematik auf die eine oder andere Weise involviert“ (Holzkamp 1993, 183) Lernen im eigentlichen (engeren) Sinn als spezifische Tätigkeitsform fasst Holzkamp als intentionales Lernen. Es wird – so die logisch/systematische Struktur – ausgelöst, wenn Routinen nicht greifen, wenn Diskrepanzen entstehen zwischen einer Handlungsproblematik und individuellem Lösungspotenzial. Zum Lernen kommt es dann, wenn die Individuen in ihren Handlungsvollzügen auf Hindernisse oder Widerstände stoßen. Handlungsproblematiken, die durch vorhandene Kompetenzen nicht zu bewältigen sind, werden zu Lernproblematiken (ebd. 182). „Lernproblematiken wären mithin gegenüber primären Handlungsproblematiken dadurch ausgezeichnet, daß hier auf der einen Seite die Bewältigung der Problematik aufgrund bestimmter Behinderungen, Widersprüche, Dilemmata nicht im Zuge des jeweiligen Handlungsverlaufs selbst, [...] möglich erscheint: Auf der anderen Seite aber, [...] daß in (mindestens) einer Zwischenphase aufgrund einer besonderen Lernintention die Behinderungen, Dilemmata etc., die mich bis jetzt an der Überwindung der Handlungsproblematik gehindert haben, aufgehoben werden können, so daß daran anschließend bessere Voraussetzungen für die Bewältigung der Handlungsproblematik bestehen“ (ebd. 183). Holzkamp hat die „Verlaufsformen“ (ebd. 206-218) von Lernhandlungen in einem Prozess dargestellt, der heuristisch formalisiert und modelliert werden kann (Abb. 2): Lernanlässe entstehen aus Diskrepanzerfahrungen zwischen Intentionalität und Kompetenz. Man kann nicht so, wie man will. Aus einer Handlungsproblematik wird intentional eine Lernhandlung ausgegliedert, um im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten beizukommen.
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Daraus entstehen Lernthemen, die sich aber nicht auf Gegenstände an und für sich, sondern auf ihre jeweilige Bedeutung für das lernende Individuum beziehen. Abb. 2: Grundbegrifflichkeiten der Theorie lernenden Weltaufschlusses Lebensinteressen Problemsituation Handlungsproblematik Diskrepanz Lernschleife Lernproblematik Lernen Inzident
Bewältigungshandlung
intentional
Lernhandlung
defensiv
expansiv
Weltverfügung
Wenn man – so fährt Holzkamps Prozessmodell fort – nicht so kann, wie man will; wird eine Lernschleife eingebaut. Wenn man weiter fragt, warum wir lernen, gibt es eine Alternative: Entweder ich treffe auf ein Problem und will es von mir aus lösen, das heißt, ich will oder aber es wird von außen – z.B. in einem Weiterbildungsprogramm – eine Aufgabe gestellt, d.h. ich soll. Damit kann ich auch wieder in doppelter Weise umgehen, entweder ich mache diese Aufgabe zu meinem eigenen Problem, d.h. ich will dann doch; oder ich lehne diese Aufgabe ab, beuge mich ihr aber, d.h. ich muss. Holzkamp kodiert diese Möglichkeiten
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dual mit den Begriffen „expansiv“ oder „defensiv“ (ebd. 216, 246), wobei diese keine Pole, sondern Grade des Umgangs mit Lernproblematiken darstellen. Wenn handelnde Menschen ihre Interessen auf „Welt“ richten, „expansiv“ lernen wollen, setzt das ein antizipatorisches Moment voraus. Der Lernende hofft, dass nach gelungenem Lernen seine Handlungsmöglichkeit erhöht sein wird. Verfügungserweiterung bezeichnet aus Sicht des Subjekts projizierte Situationsinterpretationen, die neue Handlungsoptionen erschließt. Welche der ihm in derartigen Möglichkeitskonstellationen als Handlungsalternativen gegebenen Bedeutungsaspekte das Individuum im Interessenzusammenhang seiner eigenen Lebenspraxis tatsächlich in Handlungen umsetzt, hängt von den dafür sprechenden Gründen ab. Sie können sie ergreifen, sich ihnen verweigern, sie unterlaufen, sie nur teilweise umsetzen oder aber auch verändern. So gibt es auch vielfältige Gründe, nicht zu lernen, berechtigte Lernwiderstände (s. a. Faulstich/Grell 2005; s.u. Teil 9). In Bedeutungskontexten werden Wissen und Kompetenzen aufgebaut, welche eine erweiterte Weltverfügung ermöglichen. Damit ist allerdings nicht eine instrumentelle Kontrollillusion gemeint, sondern ein Rückbezug auf die Bedeutsamkeit der eigenen Tätigkeit. Zusammenfassend: Menschliches Lernen als eine gegenüber anderen Tätigkeiten besondere Form ist also gekennzeichnet durch seine Intentionalität, welche mit einer Diskrepanz zwischen verfügbaren und gewünschten Kompetenzen beginnt. Wenn ich in meiner Routine nicht weiterkomme, kann ich lernen. Die Erfahrung einer Handlungsdiskrepanz führt zur Herausbildung einer Lernproblematik. Intentionalität wird durch Begründungsmuster orientiert. Dies wirft ein neues Licht auf Probleme der Motivation, wenn damit das Warum und Wozu von Handeln bezeichnet wird (Heckhausen 1989; s.u. Teil 8). Handlungen werden psychisch reguliert durch Interessen unter dem Aspekt der Gerichtetheit des Subjekts, durch die Werthaltigkeit, die es einem Handlungs- bzw. Lerngegenstand zumisst (s.a. Krapp/Ryan 2002). Daraus ergibt sich das Zusammenspiel von Individuum und Situation im jeweiligen Kontext. Es geht um die Auswahl von Alternativen. Entscheidend für den Prozess und die Resultate des Handelns, also auch des Lernens, sind für die Individuen der selbst wahrgenommene Handlungsgrund und der Grad eigener Kontrolle bei der Entscheidung. Man muss allerdings, wenn man einen kognitivistischen Bias vermeiden will, betonen, dass Handlungsselektivität keineswegs nur kognitiv erfolgt und immer emotional belegt ist. Holzkamp redet von der emotional-motivationalen Qualität von Handlungsbegründungen (Holzkamp 1993, 189)
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Es lässt sich zeigen, dass auf einem höheren Maß von Selbstbestimmtheit die auf eigenen Begründungsmustern beruhenden Lernformen zu besseren Lernleistungen führen und das Gelernte dauerhafter gespeichert wird (ebd. 201; Deci/Ryan 1993, 230). Erst wenn Lernthematiken mit den Lebensinteressen der Individuen vermittelt sind, findet expansives Lernen statt. Je weitreichender die Entscheidungsmöglichkeiten der Lernenden über Ziele und Aktionsprogramme sind, desto größer ist der Grad der Selbstbestimmung im Handeln wie im Lernen. Expansives Lernen erfordert Kontrolle über Intentionalität, Thematiken und Methoden des eigenen Lernens. Wahlmöglichkeiten werden in der Regel als autonomiefördernd und motivationssteigernd wahrgenommen. Dabei geht es immer auch um das Verhältnis von individuell erlebtem und real vorhandenem Entscheidungsraum. Motivationstricks und Manipulationsstrategien sind begrenzt durch den als sinnhaft erfahrbaren Kontext, in dem die Person steht. Spätestens hier muss die Vorstellung aufgegeben werden, man könne – ausgehend von feststehenden Lehrzielen – ein bestimmtes Lernverhalten erzeugen. Klaus Holzkamp kritisiert dies als Lehr-Lern-Kurzschluss, als die Unterstellung, Lehren würde automatisch Lernen bei den Belehrten implizieren (Holzkamp 1996, 23). Was Lehrende lehren und was Lernende lernen, liegt – zumindest teilweise – in unterschiedlichen Welten. Spätestens dies zwingt auch zu der Einsicht, „dass die Vorstellung, man könne etwa durch Lehrpläne, Lehrstrategien, didaktische Zurüstung die Lernprozesse eindeutig vorausplanen, also Bedingungen herstellen, unter denen den Betroffenen nichts anderes übrig bleibt, als in der gewünschten Weise zu lernen, eine Fiktion darstellt: Tatsächlich erzeugt man durch derartige Arrangements über die Köpfe der Betroffenen hinweg vor allem Widerstand, Verweigerung, Ausweichen“ (ebd. 23/24). „Um diesem Dilemma zu entkommen, ist es zunächst erforderlich, Arbeitsbedingungen und Kommunikationsformen zu schaffen, innerhalb derer die wirklichen Lerninteressen der Betroffenen systematisch geäußert und berücksichtigt werden können“ (ebd. 24). Selbstverständlich sind die realen Prozesse des Lernens wesentlich komplexer als das schematische Modell. Holzkamp verweist auf Lernsprünge, die einzelne Lernschritte überwinden (Holzkamp 1993, 239). Gleichzeitig kann aus „der Überwindung der initialen Lernproblematik eine neue Lernproblematik" (ebd. 242) angestoßen werden. Auch wenn mich der Deutschunterricht langweilt, kann ich mich beteiligen, um die Deutschlehrerin zu beeindrucken, und so dann auf einmal Gefallen an Deutsch entwickeln.
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Damit wird eine verglichen mit traditionellen Lerntheorien vollkommen andere Perspektive auf Lernprozesse eingenommen: Lehren – in einem veränderten Sinn – ist zwar Teil eines integrierten Lehr-/Lernprozesses; Lernbezug ist aber die grundlegende Perspektive (s.u. Teil 12). Unterstrichen wird damit die eigene Aktivität des Individuums. Dieser Sichtwechsel von der passiven Herstellungszur aktiven Aneignungsperspektive hat lerntheoretisch gravierende Konsequenzen. Menschliches Lernen ist ohne Einbezug des Selbst nicht denkbar. Holzkamp geht über die Konzepte der „Konstruktivisten“ hinaus, durch die Konzentration auf das Subjekt und dessen Unverfügbarkeit und Eigensinnigkeit. Damit wird der entscheidende Schritt, um die Beschränktheiten traditioneller verhaltenswissenschaftlicher Lerntheorien aufzubrechen, vollzogen: Es geht beim Lernen um Aneignungsprozesse mit Anderen in der gemeinsamen Teilhabe in einer sozialen Praxis, die historisch-spezifisch geprägt ist. Lernende Menschen sind keine abstrakten Intentionalitätszentren, sondern als Körper gebunden in den situativ konkretisierten Kontexten praktischer Lebenszusammenhänge. Die Individuen sind als Körper raumzeitlich und mental/kommunikativ über Sprache in die Gesellschaft einbezogen und bewegen sich in ihrer vorausgelaufenen Biographie. Holzkamp fasst diese Zusammenhänge mit dem Begriff der Situiertheit in den Perspektiven auf Körperlichkeit, Sprachlichkeit und Biographie: Mit „körperlicher Situiertheit“ (s.u. Teil 10.1) ist der Umstand gemeint, „dass mein Standort und meine Perspektive an jeweils meinen sinnlichstofflichen Körper gebunden sind“ (Holzkamp 1993, 253). „Auch meine scheinbar bloß mentalen oder verbalen Lernhandlungen werden stets an einen bestimmten Ort, zu dem ich mich irgendwie hinbewegt haben muss, von mir vollzogen; auch sind darin stets körperliche Bewegungen oder mindestens Handlungen beteiligt“ (ebd. 246). Die Situiertheit durch Körperlichkeit ist durch Lernen nicht aufhebbar. Vielmehr ergeben sich Behinderungen, Grenzen der Verfügung, Undurchschaubarkeiten und Widerständigkeiten. Aber auch diese sind zu verstehen, weil Fühlen, Vorstellen und Wollen rückgebunden sind an die je eigene Körperlichkeit. Die eigene Körperlichkeit bleibt letztlich unverfügbar. Lernprozesse sind durch unseren Leib beeinträchtigt oder angeregt: Denken und Üben, Schreiben, Zuhören und Lesen beanspruchen immer auch den Körper, Sättigung, Durst und Müdigkeit hindern am Lernen usw. Körperlich bleibt eine Unverfügbarkeit, welche Klaus Holzkamp in seiner eigenen Krankheit – er ist 1995 an Krebs gestorben – selbst tief erfahren hat.
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„Ein Grenz- und Extremfall der Fremdheit meines Körpers als Inbegriff bloßer, unzugänglicher 'Bedingungen', ist jedoch der schwere körperliche Schmerz, durch den ich jeweils in meinem Körper eingeschlossen bin, meine Machtlosigkeit und Hilflosigkeit einerseits mit aller Brutalität erfahre und gleichzeitig aus der intersubjektiven Kommunikation alltäglicher Lebensführung ausgeschlossen, ja sogar von meinem Selbstumgang, der ja (wie gesagt), seine potentielle Kommunizierbarkeit einschließt, abgeschnitten. [...] Ich kann nicht mehr mit menschlichen Zungen sprechen, sondern nur noch stöhnen oder schreien. Schmerz ist die brutalste Negation der Subjektivität/Intersubjektivitäten meiner Existenz“ (Holzkamp 1996, 73). Spätestens hier, in einer in jeder Beziehung „unter die Haut gehenden“ Grenzerfahrung, stößt Vernünftigkeit auf ihre Grenze. Eine weitere Form des Einbezugs ist die „sprachliche Situiertheit“ (s.u. Teil 10.5). Unsere Gedanken bewegen sich weitgehend innerhalb der Sprache. Wir kommentieren unsere Aktivitäten beim „inneren Sprechen“ (Holzkamp 1993, 258) unaufhörlich selbst. Das bedeutet, dass wir beim Denken auch still und leise ständig unseren Wortschatz verwenden. Auf diese Weise gelingt die jeweils aktuelle Handlungssteuerung. Zur mental-sprachlichen Situiertheit des Lernens gehören ebenfalls die denkende Vorausschau auf Kommendes und das Nachdenken über Vergangenes und den Austausch mit anderen. Die körperliche und die sprachliche Situiertheit gehören zu den Elementen, die sich in einem Menschenleben zu einer Biographie (s.u. Teil 10.5) fügen. Momentane körperliche Verfassung und momentane leibliche Gerichtetheit und Aufmerksamkeit sowie die Beherrschung von Sprache reihen sich aneinander zu einem Menschenleben als selbst erzählte Geschichte in seiner Biographie. Um Lernen zu beschreiben, zu erklären und zu verstehen müssen wir mindestens diese Komplexität der körperlichen, der sprachlichen und der biographischen Situiertheit empirisch und kategorial erfassen. Daher liegt es nahe, den Fokus auf das einzelne Individuum aufzugeben und dessen Einbezug in soziale Kontexte in den Mittelpunkt weiterer Überlegungen zu stellen. Holzkamp führt den Lerndiskurs – schon in seiner „Grundlegung“ (Holzkamp 1983) – über die individualistische Grenze hinaus. Gleichzeitig schließt eine solche Vorstellung von Lernen an die historische Humanperspektive an, wie sie sich im Begriff Bildung artikuliert hat. Auch die Phylogenese wird interpretierbar als kollektive Lerngeschichte, in der menschliche Aktivität Natur und Gesellschaft gestaltet und historisch akzeptierte, als wahr unterstellte Wissensbestände aufgebaut werden. Lernen kann in diesem Zusammenhang gesehen werden als Überführung kulturellen Wissens in individuelles – wobei damit nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Aspekte gemeint sind. Bei Holzkamp
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findet sich ein gegenüber traditionellen Konzepten grundlegend veränderter wissenschaftlicher Zugang zum Lernen. Zum einen bezieht er sich auf menschliche Subjekte, zum andern öffnet er die Sicht auf die Individuen zu ihrer Gesellschaftlichkeit hin.
4.4 K RITISCH - PRAGMATISTISCHE L ERNTHEORIE Um den Bezug von individueller Situiertheit und sozialer Struktur aufzuzeigen, verknüpfen sich in der von mir weiter verfolgten Argumentation Denkstränge, welche noch unverbunden nebeneinander liegen: Phänomenologie, Pragmatismus und „Kritische Theorie“ wurden von ihren je eigenen exponierten Vertretern als unvereinbar angesehen und daraus hat sich ein Gegeneinander „kritischen“ und „pragmatistischen“ Denkens entwickelt. Die Theorietraditionen haben sich voneinander eher abgesetzt (bis zu Habermas 1998), obwohl ihnen – was zu zeigen ist – trotz Differenz der Erkenntnisinteressen ähnliche Denkbewegungen unterliegen. Eine klärende Auseinandersetzung kann eine erweiterte Sicht auf das Lernen öffnen, welche den Diskurs voranbringt. Allerdings darf dies nicht als Herausarbeiten von Ähnlichkeiten, als Gleichmacherei betrieben werden, sondern als Bewahren der Differenz, die das andere braucht, um sich selbst klarer zu werden. Es geht um einen Begriff des Lernens, der empirische Zugänge öffnet und zugleich theoretisch anschlussfähig ist an die Diskussion um Bildung (Faulstich 2003; Faulstich 2008; Faulstich/Ludwig 2004; Grell 2006; Grotlüschen 1999; Ludwig 1999). In der hier gezogenen Ausgangslinie wurden vor allem die Akzente auf die Sicht des Lernens als Handlung aufgrund von Erfahrung sowie die Gesellschaftlichkeit des Individuums hervorgehoben. Diese Perspektive kann weiterverfolgt werden im Horizont des in bedingter Freiheit zukünftig Möglichen. Besonders Pragmatismus und kritische Theorie stehen sich allerdings in ihrer Tradition wechselseitig durchaus skeptisch gegenüber. Den Grundton hat Max Horkheimer vorgegeben. „Traditioneller Theorie“ stellt Horkheimer „kritische Theorie“ entgegen, welche ihren Namen erhalten hat in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1937 mit genau dieser Überschrift: „Traditionelle und kritische Theorie“ (Horkheimer 1970). Dieser Text dient der Selbstverständigung und ist zugleich eine Kampfansage gegen den herrschenden Wissenschaftsbetrieb. Als „traditionelle Theorie“ kennzeichnet Horkheimer die Auffassung von Theorie als ein in sich geschlossenes System einer Wissenschaft (ebd. 13). Wis-
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senschaft wäre demgemäß ein Operieren mit Hypothesen, angewandt auf gegebene Situationen. „Was die Wissenschaftler auf den verschiedenen Gebieten somit als das Wesen der Theorie ansehen, entspricht in der Tat ihren unmittelbaren Aufgaben. Sowohl die Handhabung der physischen Natur wie auch diejenige bestimmte ökonomischer und sozialer Mechanismen erfordert eine Formung des Wissensmaterials, wie sie in einem Ordnungsgefüge von Hypothesen gegeben ist. Die technischen Fortschritte des bürgerlichen Zeitalters sind von dieser Funktion des Wissenschaftsbetriebs nicht abzulösen. Einerseits werden durch ihn die Tatsachen für das Wissen fruchtbar gemacht, das unter gegebenen Verhältnissen verwertbar ist, andererseits das vorhandene Wissen auf die Tatsachen angewandt“ (ebd. 17). Der hegemoniale Wissenschaftsbetrieb beruht also aus Horkheimers Sicht auf einem Dualismus von Wissen und Tatsachen, von Denken und Handeln, von Theorie und Praxis. Daraus resultiert ein wissenschaftliches Selbstbewusstsein, in dem unbegriffen bleibt, dass wissenschaftliche Tätigkeit selbst Moment gesellschaftlicher Arbeit, der geschichtlichen Aktivitäten der Menschen ist, und insofern auch gesellschaftlicher Praxis. Diesem Wissenschaftsansatz tritt „kritische Theorie“ entgegen: „Die Selbsterkenntnis des Menschen in die Gegenwart ist jedoch nicht die mathematische Naturwissenschaft, die als ewiger Logos erscheint, sondern die vom Interesse an zukünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft“ (ebd. 20/21). Kritische Vernunft richtet sich dem entsprechend nicht auf die Faktizität des Bestehenden, sondern auf Potentiale des Möglichen. „Das kritische Denken enthält einen Begriff des Menschen, der sich selbst widerstreitet, solange diese Identität nicht hergestellt ist. Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum Menschen gehört, ist die gegebene gesellschaftliche Praxis, welche das Dasein bis in die Einzelheiten formt, unmenschlich und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück, was sich in der Gesellschaft vollzieht“ (ebd. 30). Horkheimer aktiviert die „Idee einer zukünftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen“ (ebd. 36) als Erkenntnisinteresse kritischen Denkens. „Die Begriffe, die unter ihrem Einfluss entstehen, kritisieren die Gegenwart“ (ebd. 37). Bemerkenswert ist nun, dass in der kritischen Kategorie des Möglichen – von der Denkfigur her – manches sich wiederholt, was John Dewey mit dem Begriff des „Zukünftigen“ skizziert (s.o.). „Ideen“ sind für ihn Grundlagen für die Organisation zukünftiger Beobachtungen und Erfahrungen. Er verortet sich selbst
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affirmativ im progressiven und offenen Charakter der „amerikanischen Lebensweise und Zivilisation“ (Dewey 2003, 34) und unterstützt einen Optimismus, der „die Welt als die kontinuierliche Bildung von Begriffen ansieht, wo es immer noch Platz für Indeterminismus, für das Neue und für eine wirkliche Zukunft gibt“ (ebd. 34). Hier liegt wohl eine Hauptdifferenz der Vertreter pragmatistischer und kritischer Theorielinien. Jürgen Habermas hat kritisiert, dass John Dewey sich zu viel von technischen Erfolgen erhoffe (Habermas 1998, 27). Max Horkheimer, der zutiefst geprägt von den Erfahrungen der Barbarei des Nationalsozialismus und resultierendem Pessimismus ist, betreibt dagegen eine Kritik der Instrumentalitätsillusion und der Utilitätsstrategie eines verkürzten Pragmatismus. Kritische Theorie bestimmt sich demgegenüber aus der Position der Negation. Diese wendet sich auch gegen die offizielle Ideologie des „Sozialismus“. „Die kritische Theorie ist weder ‚verwurzelt‘ wie die totalitäre Propaganda noch ‚freischwebend‘ wie die liberalistische Intelligenz“ (Horkheimer 1970, 41). Diese doppelte Ablehnung ist allerdings nicht bei allen Vertretern kritischer Theoriepositionen in gleicher Weise zu finden. Deren Wiederbelebung vor allem im Kontext der Studentenbewegung war auch geprägt durch vielfältige Ambivalenzen, Dogmatismen und Engführungen. Der Gründervater „Kritischer Psychologie“ Klaus Holzkamp ist dafür selbst ein Beispiel. Die Abwehrstellung aufgrund der Ausgrenzung gegenüber dem hegemonialen, nur kurzfristig durch die „Hochschulreform“ irritierten Wissenschaftsbetrieb führte zu scharfen, auch begrifflich zugespitzten Positionen, die manchmal geschlossen klingen und ein hermetisches Vokabular nahelegen. Nichtsdestoweniger finden wir bei Holzkamp die bisher kategorial entwickeltste Fassung von Lerntheorie – was keineswegs bedeutet, dass sie abschlossen oder kritikimmun ist (vgl. dazu bezogen auf die Subjektkategorie und die Bewusstseinsdominanz z.B. Künkler 2011, Exkurs I.5, 262-287; Straub 2010, bes. 47-84): Die grundlegenden Kategorien des Psychischen werden entfaltet im Nachvollzug historisch-genetischer Prozesse der Onto- und Phylogenese, in den Kontext des Sozialen gestellt und auf die Situation des Individuums bezogen. Während bei Organismen passive Modifikationen als Lernen gefasst werden können, vollzieht sich durch den Einbezug der individuellen Hineinentwicklung in menschliche Sozialverbände der „Dominanzwechsel“ von Festgelegtheit zu Lernfähigkeit (Holzkamp 1983; 151). Durch die gesellschaftliche Vermitteltheit individueller Aktivitäten vollzieht sich ein Umschlag vom Organischen zum Psychischen. Der biotisch-genetische Prozess der Phylogenese setzt sich fort auf einer neuen Stufe als gesellschaftliche Entwicklung.
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Menschliche Individuen stehen in gesellschaftlichen Verhältnissen in einer doppelten Beziehung: Auf der einen Seite gibt es gesellschaftliche Voraussetzungen individueller Aktivitäten und auf der anderen Seite wird die individuelle Existenz jeweils selbst produziert und reproduziert. Daraus resultiert ein Durchbrechen der Unmittelbarkeit des Zusammenhangs zwischen Individuum und Umwelt, bzw. diese wird zur sinnhaft erfahrenen und entworfenen Welt. Die personale Lebensgestaltung ist eingebunden in Bedeutungszusammenhänge des Weltbezugs der handelnden Individuen. Damit erhält auch der Begriff Lernen, wenn er auf menschliche Individuen bezogen wird, eine Verschiebung. „Lernen“ wird dann zu einem kritischen Begriff, indem er nicht mehr wie in der Reiz-Reaktions-Konstruktion auf Anpassung zielt, sondern auf Gestaltung setzt. Lernen impliziert immer einen Vorgriff aus Zukünftiges und gleichzeitig die Irritation von Routinen. Die aus der Sinnhaftigkeit und Wahlfreiheit menschlichen Handelns resultierende Unverfügbarkeit menschlichen Entscheidens, Denkens und Handelns hat Holzkamp (1993) aufgenommen. Damit öffnet er auch die Spielräume der Handlungsfreiheit. Im Rahmen der Festgelegtheit des Verhaltens öffnet sich die Möglichkeit der Freiheit des Handelns. Dies ist der Kern kritischer Theorie, dass sie nicht bestehende „Tatsachen“ abbildet, sondern nach Möglichkeiten fragt, die als Potentiale „guten Lebens“ die Faktizität des Vorgegebenen überschreiten. Nicht, wie es ist, ist zu untersuchen, sondern, wie es sein könnte. Allerdings zielt dies nicht auf Blaupausen der Zukunft, auf abstrakte Fiktionen, sondern auf Gestaltungsmöglichkeiten, auf konkrete Utopien, deren Wurzeln schon jetzt wachsen und treiben. Lernen ist in Entwürfe des Möglichen in der Zukunft einbezogen: Ich kann etwas nicht, will es aber können; also lerne ich, damit ich es danach kann. Ich frage danach, was anders sein könnte, also nach den Möglichkeiten. Um diese zu ergreifen erweitere ich meine Handlungsspielräume, lerne also. Zugleich besitze ich die Freiheit innerhalb bestehender Verhältnisse zu lernen oder aber nicht zu lernen. Ich lerne in bedingter Freiheit. Unter dem Horizont des Möglichen und Zukünftigen stoßen wir hier unausweichlich auf den wissenschaftlich, politisch und philosophisch hoch belasteten Begriff der Freiheit. Die kontroversen Positionen sind immer noch von der Alternative zwischen Determination und Autonomie dominiert. Dieser Streit ist im Zusammenhang mit der Debatte über die Neurophysiologie und die vollständige Bedingtheit menschlichen Verhaltens durch Prozesse im Gehirn wieder aufgebrochen. Rundum – besonders auch in der Bildungsdiskussion – wird einerseits von der Freiheit des „Selbst“ – als selbstgesteuertes, selbstorganisiertes, selbstbestimmtes, autonomes, freies Lernen geredet, andererseits feiern instrumentelle
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Trainingsprogramme große Erfolge und erzielen hohe Umsätze: Auf der einen Seite wird Freiheit als Fahne eines individualistischen Neoliberalismus als Wahlmöglichkeit der Marktteilnehmer hochgehalten, auf der andern Seite wird sie neurophysiologisch geleugnet und weggeredet, weil angeblich das Gehirn für das Ich entscheidet. So behauptet Gerhard Roth (s.o. Teil 3.4) „Aus Sicht des Gehirns“: „Das bewusste, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ‚perfiderweise‘ dem Ich die entsprechende Illusion verleiht“ (Roth 2003 b, 180). Der neuronale Determinismus behauptet Verantwortung, Schuld und Sühne, Lob und Tadel seien antiquierte, jedenfalls unwissenschaftliche Begriffe. Damit würde unsere Frage nach der Sinnhaftigkeit menschlichen Lernens im Spannungsfeld von Aneignung und Verweigerung außer Kraft gesetzt. Mit dieser Problematik gerät man aber in tiefe Abgründe philosophischer Traditionen und dem mehr als zweitausend Jahre alten Streit um die Frage nach der Willensfreiheit. Um nicht alle Argumente dieser Diskussion ausbreiten und wiederholen zu müssen, beziehe ich mich auf eine Position des Schweizer Philosophen Peter Bieri (geb. 1944), der das Konzept einer „bedingten Freiheit“ ausbreitet (Bieri 2003). Dabei wendet er sich gegen eine Vorstellung vollkommener Freiheit als Willkür oder als Zufall. Gleichzeitig aber setzt er sich ab gegen Modelle externer Determination. Die Kernthese zum „Handwerk der Freiheit“ – so Bieris bekanntestes Werk neben seinem Roman „Nachtzug nach Lissabon“ – ist: Auch wenn Naturgesetze bestimmen, was wir tun und denken, so können wir uns doch unter Berücksichtigung der jedem Menschen gegebenen Bedingtheiten dennoch als frei verstehen. Frei sind wir dann, wenn wir unseren eigenen Überzeugungen gemäß handeln können. Ein solcher Freiheitsbegriff, der sowohl bewusste Reflektion als auch eine bedingte Entscheidung voraussetzt, aber auch für möglich hält, steht nicht im Gegensatz zu Determiniertheit. Im Gegenteil: Bieri hält die Idee einer „absoluten“ Freiheit für widersprüchlich. Fokus des Argumentes ist es, dass überlegt werden muss, wer, welches Intentionalitätszentrum, entscheidet. Menschen sind keine im Weltall schwebenden Monaden, sondern immer schon verwoben in gesellschaftliche Kontexte. „Dass ein Wille selbständig ist, kann nicht bedeuten, dass er sich in innerer Abgeschlossenheit entwickelt und ein Monadendasein führt“ (ebd. 419). Bieri führt uns zunächst in den Irrgarten, der aus dem Konflikt erwächst „zwischen zwei Gedankengängen, die aus unterschiedlichen Provinzen unseres Denkens schöpfen: Auf der einen Seite die Überlegung, die sich an der Idee einer verständlichen, bedingten und gesetzmäßigen Welt orientiert; auf der an-
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deren Seite die Erinnerung an unsere Freiheitserfahrung, die in den Ideen der Urheberschaft, der Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten und der Verantwortung ihren Ausdruck findet“ (ebd. 21/22). Erst wenn wir in dieser vertrackten und tückischen gedanklichen Situation einen Schritt zurück treten und nach denken, können wir hoffen, unser eigenes Handeln zu begreifen. Dabei greift Bieri immer wieder auf Beispiele zurück: Dostojewskis Romanfigur Raskolnikow in „Schuld und Sühne“ kennzeichnet die Erfahrungen eines Getriebenen, eines Mitläufers, eines Unbeherrschten, eines Zwanghaften. Ausgangspunkt ist die Handlung: „Wenn Raskolnikow die Pfandleiherin mit der Axt erschlägt, so ist das etwas, was er tut. Es ist eine Handlung“ (ebd. 31). Diese ist gekennzeichnet durch Urheberschaft, zugewiesenen Sinn und entscheidenden Willen. Aus einer Vielzahl von Möglichkeiten und Wünschen wird ein Wille geformt, der handlungswirksam wird. Es muss ein Spielraum vorhanden sein: Er könnte auch etwas anderes tun. Raskolnikow – so können wir nachlesen – beichtet der Prostituierten Sonja: „Ich wollte damals erfahren, so schnell wie möglich erfahren, ob ich eine Laus bin, wie alle, oder ein Mensch“. „Ein Mensch“ bedeutet für ihn frei zu sein und handeln zu können, zugleich lebt er in einer Mischung aus Armut und Überlegenheitsdünkel, die sein Verhalten bedingen. Unser Wille entsteht nicht im luftleeren Raum (ebd. 49). So hängt, was ich will, von dem ab, was mir begegnet, also von den äußeren Umständen. Unser Wille wird durch körperliche Bedürfnisse, Gefühle, Geschichte und Charakter beeinflusst. Als Ergebnis dieser Konstellationen bildet sich der Wille heraus, etwas Bestimmtes zu tun. „Entscheidend ist Willensbildung durch Überlegen“ (ebd. 61). Während nun aber „instrumentelle Entscheidungen“ dazu dienen, einem vorgegebenen übergeordneten Ziel zur Verwirklichung zu verhelfen, geht es bei „substantiellen Entscheidungen“ darum, was ich will und warum. „In einer substantiellen Entscheidung geht es stets um die Frage, welche meiner Wünsche zu einem Willen werden sollen und welche nicht“ (ebd. 62). Es ist die Phantasie, die uns dabei hilft. „Sie ist die Fähigkeit, im Innern Möglichkeiten auszuprobieren“ (ebd. 65). Ich entwickle eine Vorstellung davon, wie meine Empfindungen sein werden, wenn ich meine Wünsche erfülle. „Wir müssen uns mit uns selbst gut auskennen, um substantielle Entscheidungen treffen zu können, die wir nicht bereuen werden“ (ebd. 66). Hier taucht der Begriff der Identität auf und ebenso der der Reflexivität. „Zu der Fähigkeit des Entscheidens, [...], gehört die Fähigkeit, einen Schritt hinter sich zurückzutreten um sich selbst zum Thema zu machen“ (ebd. 71). Soweit wurde der „Freie Wille“ als ein Wille beschrieben, der sich unter dem Einfluss von Gründen, also durch Überlegen bildet. Dies liefert den Sinn von Entscheidungen und Handlungen, die durch einen Willen bedingt sein müs-
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sen, um nicht nur bloßes Geschehen zu sein. „Freiheit in diesem Sinn ist nicht nur mit Bedingtheit verträglich und braucht sie nicht zu fürchten; sie verlangt Bedingtheit und wäre ohne sie nicht denkbar“ (ebd. 166). Aber, so fragt Bieri weiter: Ist das Freiheit genug? Er verfolgt die Idee des unbedingten freien Willens, als Abwesenheit von Bedingtheit bis zu der Konsequenz, es handele sich „bei der Rede von der unbedingten Freiheit um eine rhetorische Fata Morgana“ (ebd. 373). Bieri stößt darauf, dass die Idee von Urheberschaft fortentwickelt und genauer gefasst werden muss, wenn von einem „Selbst“ die Rede ist, welches nicht in die begriffliche Falle eines „heimlichen Homunkulus“ gerät, noch sich als einen „inneren Fluchtpunkt als reines Subjekt“ deutet. Die Fähigkeit, einen inneren Abstand zu uns aufzubauen, innezuhalten zurückzutreten. die Reflexivität des eigenen Selbstbildes erlaubt es überhaupt erst einen Willen als unseren eigenen zu ergreifen. In dem wir die Freiheit der Entscheidung ausüben, stehen wir zu uns selbst. Das heißt auch, dass „die Freiheit des Willens etwas ist, das man sich erarbeiten muss“ (ebd. 383). Dies nennt Bieri die „Aneignung des Willens“ (ebd. 382 f.). Dabei geht es darum, den „eigenen Willen“ zu klären, zu verstehen und zu bewerten. „Es ist erstaunlich schwierig zu wissen, was man will“ (ebd. 385) – eben weil man Unterschiedliches will und dann auswählen muss zwischen Fisch oder Fleisch oder Vegetarisch. Das Intentionalitätszentrum vermengt ein Konglomerat unterschiedlicher, teils gegensätzlicher Interessen. Ausgangspunkt ist zunächst der Versuch, sich durch sprachliche Artikulation über sich selbst Klarheit zu verschaffen. Weiter geht es um den Überblick über die innere Landschaft der Wünsche, um zunächst Unverständliches zu verstehen. Und schließlich um die Identifikation mit einem eigenen Willen, zu dem man steht. Dabei ist das eigene Verstehen und Bewerten des Selbst im Sinne eines „Gravitationszentrums“ (ebd. 413), Kern der eigenen Erfahrung und Erzählung. Durch den angeeigneten Willen, ist es überhaupt erst möglich Identität zu entwickeln. Lernen steht also, wenn wir Bieri folgen und seine Argumentation übertragen, in einer Spannung zwischen Bedingtheit und Freiheit. Es ist nur möglich, weil wir etwas ändern können, und weil wir hoffen, dass es besser werden kann. Auch wenn nicht alles jetzt und sofort verfügbar ist: Wir lernen in bedingter Freiheit. Zu einer kritischen Theorie wird dieser Ansatz dann, wenn er die Perspektiven der Möglichkeiten betont. In der Antizipation des Zukünftigen steckt die Hoffnung auf ein „gutes Leben“, zu dem hin Lernen als Erweiterung der Weltverfügung führen kann.
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Wer zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auswählt, entscheidet vor dem Hintergrund seiner eigenen biographischen und situativen Kontexte. Mit dieser Denkfigur des gerahmten Spielraums kommt man zu einer reflexiven Perspektive, welche mögliche Aktivitäten differenziert in Routinen, die als Verhalten ablaufen, einerseits und in bewusste Entscheidungen, welche sinngebendes Handeln erfordern, andererseits. Dies betrifft selbstverständlich auch Lernhandlungen, welche intentional vom Individuum selbst aufgegriffen werden. Es kann aber auch Lernwiderstände entwickeln oder entscheiden nicht zu lernen. Gegen bestehende Einschränkungen wird kritisch die Erwartung von Verfügungserweiterung für die eigenen Handlungen gestellt. Vor dem Hintergrund einer solchen reflexiven Lerntheorie stellt sich auch die Frage nach auftretenden Lernwiderständen wieder neu und anders (Teil 5). Mit den Begriffen Verfügungserweiterung und Handlung wird ein Konzept gekennzeichnet, das man als kritisch-pragmatistische Theorie des Lernens etikettieren kann (Faulstich 2005). Die Suche nach dem „missing link“ zwischen Subjekt und Struktur muss also weitergehen. Die Vermittlung geschieht im Bezug auf Tätigkeit als gesellschaftliche Praxis (Teil 6). Lernen folgt den darin stattfindenden Erfahrungen (Teil 7) und Bewertungen (Teil 8). Banale Einsicht ist es, dass die Lernenden sich selbst verändern, dass sich ihre Identität verschiebt. Darauf beruht die Kontinuität der Entfaltung der Individuen über einzelne Lernereignisse hinaus.
5. Emergenz des Lernens – Dialektik der Lerntheorien
Wenn wir nach dem Durchgang, der Reflexion und Reinterpretation der verschiedensten Lerntheorien (Teile 3 und 4) einen Zwischenhalt einlegen und zurückblicken, haben wir gelernt, dass sie zu eng und gleichzeitig zu weit gefasst sind. Wir haben es mit vielen Ismen zu tun, wobei solche wissenschaftlich immer schon unter dem Verdacht stehen, spezifische d.h. oft verengte Perspektiven zu verfolgen. Diskutiert wurden Behaviorismus, Kognitivismus, Handlungsregulationstheorie, Konstruktivismus in radikaler und moderater Variante, Phänomenologie, Pragmatismus sowie Kritische Theorie. In der neueren Geschichte der Lerntheorien gab es im Gegensatz zu externalistischen und instruktionistischen Konzepten, die sich auf Beobachten, Beschreiben und Messen beziehen, immer auch Ansätze in einer hermeneutischen Tradition, ausgehend vor allem von Wilhelm Dilthey, denen es um das Verstehen von Handeln – also auch von Lernhandeln – geht. Wissenschaftstheoretisch erfolgte damit eine Wendung von einem isolierenden Reduktionismus zu einer relationalen Perspektive gesellschaftlich verorteter Subjekte. Weitergeführt aufgebrochen sind solche Denkweisen von Klaus Holzkamp mit seinem Ansatz, von struktureller Bedingtheit auf subjektive Begründung überzugehen. Damit werden externe Faktoren zwar nicht unwichtig, sie werden aber erst bedeutsam im Durchgang durch die Psyche menschlicher Subjekte. Es wird nicht mehr gefragt, wie Lernen verursacht wird, sondern welche Gründe die Individuen heranziehen, zu lernen – oder nicht. Grundgedanke dabei ist, dass Menschen nicht funktionieren wie extern kontrollierte Systeme, sondern dass sie über gerahmte Spielräume verfügen (Wittpoth 1994), die man als bedingte Freiheit bezeichnen kann (s.o. Teil 4.5). Wer Handlungsmöglichkeiten auswählt, macht dies vor dem Hintergrund seiner eigenen biographischen und situativen Kontexte. Mit dieser Denkfigur kommt man zu einer reflexiven Perspektive, welche mögliche Aktivitäten diffe-
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renziert in Routinen, welche als Verhalten ablaufen, einerseits und bewusste Entscheidungen, welche sinngebendes Handeln erfordern, andererseits. Dies betrifft selbstverständlich auch Lernhandlungen, welche intentional vom Individuum selbst aufgegriffen werden. Gegen bestehende Einschränkungen wird kritisch die Erwartung von Verfügungserweiterung für die eigenen Handlungen gestellt. Mit den Begriffen Verfügungserweiterung und Handlung wird ein Konzept gekennzeichnet, das man als kritisch-pragmatistische Theorie des Lernens fassen kann (Faulstich 2005). Folgt man dem bis hierher vorgelegten Rückgriff auf die Spannweite der Lernproblematik und der damit gewonnenen reflexiven Lerntheorie, ist es möglich, die Besonderheit menschlichen Lernens gegenüber Veränderungsprozessen andersartiger Systeme herauszuarbeiten und den Wirrwarr der Lernbegriffe gegenstandsangemessen zu klären. Neurophysiologische und verhaltenswissenschaftliche Ansätze werden in ihrer Tragfähigkeit einordenbar; sie sind nicht einfach falsch, sondern begrenzt in ihrer Reichweite. Sie erklären physiologische Abläufe bzw. Verhaltensroutinen. Sie sagen wenig über aktive Lerntätigkeit oder gar intentionale Lernhandlungen. Hier können dann als Möglichkeit der Ordnungsfindung für die unterschiedliche Reichweite der Lernbegriffe das Konzept der Emergenz und die Denkform der Dialektik greifen: die Vorstellung, dass die Welt in Komplexitätsniveaus gliederbar sei und so eine Hierarchie komplexer Entitäten entsteht, wobei sich die Eigenschaften des Gesamtsystems nicht aus dem Zusammenwirken der Einzelelemente herleiten lassen, sondern neue Systemeigenschaften hervorgebracht werden, die dann auch von „oben“ – der Ganzheit des Systems – nach „unten“ – den einzelnen Elementen wirken (Überblick bei Johnson 2002). „Emergenz“ beinhaltet ein naheliegendes Denkmuster, das zum einen das Konzept hierarchischer Komplexitätsniveaus, zum andern eine wissenschaftstheoretische Perspektive beinhaltet. Michael Polanyi (1966, dt. 1985) hat diese Figur für die Probleme des „impliziten Wissens“ aktiviert: Wissen ist nicht nur eine Menge gespeicherter Daten. Das Ganze ist nicht vollständig bedingt durch seine Einzelteile; es tauchen komplexe Phänomene auf, die erst durch Zusammenwirken entstehen. Schon bei Aristoteles (1995, Bd. 5. Metaphysik, Buch 8.6. 1045a: 8-10) findet sich die Grundidee, Materielles und Immaterielles, Biologisches und Psychologisches auf verschiedenen Ebenen zu unterscheiden. Entsprechende EmergenzKonzepte stehen konträr zum vorherrschenden Reduktionismus, bei dem versucht wird, die Strukturen und Prozesse der höheren Systemebene auf die Vorgaben der unteren zurückzuführen. Demgegenüber wird die Irreduzibilität und Unvorhersehbarkeit komplexer System hervorgehoben.
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Allerdings kann die „bottom-up-Denkweise“ des nach „unten“ herleitenden Reduktionismus nicht einfach durch eine gegenläufige top-down-Ableitung eines „abwärts“ gerichteten Emergentismus ersetzt werden. Vielmehr wird durch Aufnahme des Emergenzdenkens der alte Gedanke der Dialektik in einem neuen Sprachspiel reformuliert. Der Gedanke der Emergenz ist – wenn auch nur entfernt – verwandt mit einer Logik der Dialektik, welche Widersprüche auf jeweils höherer Ebene aufhebt und zugleich bewahrt. Die bisherige Entwicklung der menschlichen Welt ist in der Marx/Engels’schen Fassung kennzeichnet durch eine aufsteigende Tendenz vom Einfachen zum Komplexen. Sie umfasst auch die Herausbildung des Bewusstseins, indem die Menschen gegenüber der Natur als dem Objekt zu tätigen Subjekten werden. Die Phylogenese ist die gattungsgeschichtliche Ausprägung dieses Prinzips. Sie nimmt ihren Fortgang in Stufen der praktischen Tätigkeit, d.h. vor allem in der Aneignung der Natur durch Arbeit. Zugleich aber kann, wenn man dem Gedanken des „Dominanzwechsels“ folgt, Kultur die weitere Perspektive leiten. Allerdings liefert Emergenz nur eine gezähmte Form der Dialektik. Widersprüche – als Grundform dialektischen Denkens – werden ausgebügelt und beruhigt. Emergenz konstruiert letztlich ein harmonisierendes Modell, das ein Zusammenschwingen der Ebenen erzeugt. Dialektische Denken öffnet Gegenhorizonte und verweist auf das Nicht-identische im Thema Lernen. Die Denkform der Dialektik, die sich als zentrales Prinzip durch die Ansätze von Marx und Wygotski zieht, verbindet die Ebenen der Emergenz in historischgenetischer und integral-konfliktärer Perspektive. Sie betont die Dynamik der Systemtransformationen. Damit kann auch die Abfolge der Lerntheorien als Prozess der Komplexitätssteigerung und Komplexitätsreduktion interpretiert werden. Das Emergenz-Konzept kann nichtsdestoweniger zunächst für eine Systematik der Probleme des „Lernens“ genutzt werden. Demgemäß können verschiedene Ebenen des Lernens von physikalischen, organismischen, physiologischen, psychischen bis zu intentionalen Prozessen unterschieden werden. Zwischen diesen Ebenen gilt das Prinzip der „marginalen Kontrolle“ (Polanyi 1985), die jeweils nur Randbedingungen festlegt und Prozesse der nächsten Stufe der Hierarchie indeterminiert lässt. „So impliziert schon die logische Struktur der Hierarchie, dass eine höhere Ebene nur durch einen auf der niedrigeren Ebene nicht auffindbaren Prozess entstehen kann. Einen Prozess, den man folglich als Emergenz beschreiben kann“ (ebd. 46). Diese Vorstellung macht es möglich, Aussagen über Lernen zu ordnen und z.B. neurophysiologische oder behavioristische Theorien entsprechend ihres
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(begrenzten) Stellenwerts einzuordnen. Zum Begreifen intentionalen Lernens tragen diese (fast) nichts bei. Neurophysiologische Untersuchungen können lediglich Rahmenbedingungen beschreiben, unter denen erfolgreiches Lernen stattfinden kann. Behavioristische Instruktionsmodelle schließen „bedingte Freiheit“ aus (Nichtsdestoweniger funktionieren Trainingsprogramme in beschränkter Reichweite). Schon kognitionswissenschaftliche und besonders subjektwissenschaftliche Theorien betreten aber eigenständige Erklärungsebenen, die sich grundsätzlich nicht auf deterministische Zugriffe reduzieren lassen (Stern u. a. 2005, 7, 24-34). Insofern ist der Stellenwert von Lernen in seiner besonderen Bedeutung für die Entwicklung der Gattung Mensch nur zu begreifen in genetischer Rekonstruktion sich aufschichtender, überlagernder und zurückwirkender Entwicklungsniveaus. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte tritt die genetische Evolution gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend in den Hintergrund. Lernen bei Tieren beruht auf Reaktionen bei Umweltveränderungen, wird also von außen veranlasst und erzeugt Verhaltensänderungen. Auf dem Niveau menschlichen Lernens ist dies immer schon eingebunden in Denken und Handeln. Während bei Organismen passive Modifikationen als Lernen gefasst werden können, vollzieht sich durch den Einbezug der individuellen Hineinentwicklung in menschliche Sozialverbände ein „Dominanzwechsel“ von Festgelegtheit zu Offenheit, also Lernfähigkeit. Menschen verfügen über eine Wahlfreiheit zu lernen oder nicht zu lernen. Nichtsdestoweniger umfasst menschliches Lernen nach wie vor alle Niveaus des Lernens, die auch bei anderen Organismen vorhanden sind. Geht es bei den Emergenzniveaus des Lernens – in einer groben Systematik – erstens um unbedingte Reflexe, welche Reaktionen für unmittelbar lebenserhaltende Koordinationen des Organismus hervorrufen, so geht es zweitens um vielfältige bedingte Reflexe, welche Erfahren und Gedächtnis mit einbeziehen. Auf einem dritten Emergenz-Niveau – das streng verhaltenswissenschaftliche Ansätze schon überschreitet – werden im Denken Symbole bearbeitet, welche in Modelle der Welt einbezogen sind. Viertens ist das individuelle Denken immer schon einbezogen in gesellschaftliche Verhältnisse und Bedeutsamkeit. Dabei macht diese Ebene erst die Besonderheit des Lernens bei Menschen aus, nämlich Reflexivität auf die eigene Situation im sozialen Kontext. Entscheidendes Spezifikum menschlichen Lernens ist der Anstoß zu sinnhaftem Handeln durch individuell aufgenommene gesellschaftliche Bedeutsamkeit. Diese ist – einmal erreicht – dann in der Umkehrung sogar dem Wahrnehmen vorgeordnet. Wir richten unser Augenmerk auf das, was wir für wichtig halten.
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Unwichtiges wird ausgeblendet und übersehen. Lernen beginnt erst, wenn die Schwelle der gewohnten Bilder überschritten wird. Der Dreisprung phänomenologischer, pragmatistischer und kritischer Lerntheorien aus der Enge externalistischer, passivistischer, kausalistischer und intellektualistischer Modelle hin zu einem kritisch-pragmatistischen Konzept (Faulstich 2005) ist zu prüfen, inwieweit ein solcher Ansatz in der Lage ist, Reduktionismen zu vermeiden und sowohl kategoriale Klarheit zu schaffen, empirische Zugänge zu öffnen als auch Anschlussfähigkeit an „Bildung“ herzustellen. Was also ist der Gewinn, den wir nach dem Durchgang durch die verschiedensten Lernkonzepte bisher erstritten haben? Wir haben menschliches Lernen abgesetzt vom Lernen von abstrakten Systemen oder biotischen Organismen. Wir haben die Eigentätigkeit gegenüber passiver Reaktion auf Impulse betont. Wir haben die Fiktion völliger Bedingtheit ebenso wie die Illusion vollständiger Freiheit menschlicher Aktivitäten aufgelöst durch den Gedanken der bedingten Freiheit. Wir haben methodologisch die Position des externen Beobachters verlassen und finden uns selbst im Kontext des Handelns und Lernens wieder. Wir haben die individualistische Isolation aufgebrochen und den Horizont gesellschaftlicher Verhältnisse geöffnet. Allerdings könnte es sein, dass dieser über weite Strecken tragfähige Ansatz auch wieder seine eigenen Reduktionen produziert, welche „Bildung“ verstellen. Nach der Arbeit der Reinterpretation vorliegender Ansätze muss deshalb das eigene Konzept systematisch ausgearbeitet werden. Dazu werden die Begriffe Tätigkeit, Erfahrung, Interesse, Widerstand, Kontext und Gesellschaftlichkeit aufgenommen und – wenigstens ansatzweise und vorläufig – entfaltet.
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Angestoßen wird mit der Bezugnahme auf pragmatistische und kritische Konzepte ein Versuch, das Begreifen des Lernens aus den Zirkeln des Denkens zu befreien und in die Kontinuität menschlicher Aktivität einzubeziehen. Traditionell wird die aneignend/gestaltende Tätigkeit der Menschen in Gesellschaft mit dem Begriff Praxis belegt. Schon Karl Marx (1818-1883) kritisierte am Sensualismus Ludwig Feuerbachs (1804-1872), dass er die Wirklichkeit nur in der Form der Anschauung und nicht als Form menschlicher sinnlicher Tätigkeit, als Praxis sehe (1. und 2. These über Feuerbach (MEW 3, 543). „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage“ (ebd. These 2, Satz 1). Aber auch der Versuch diesen Ansatz gedanklich wiederzugeben und sprachlich zu fassen, verweist und stößt wiederum auf einen Zirkel höherer Ebene und verfängt sich, da sich nämlich der Bezug zum Handeln kommunikativ eben nur durch Sprechen darstellen lässt. Auch das Nachdenken über die Grenzen des Denkens landet unausweichlich wieder beim Denken – jedenfalls dann, wenn darüber geredet, also kommuniziert werden soll. Nichtsdestoweniger ist der Verweis auf Handeln im Zusammenhang der Diskussion um Lernen unausweichlich. Zum einen wird Lernen nur sinnvoll im gesellschaftlichen Zusammenhang menschlicher Tätigkeit, zum andern ist Lernen selbst eine Form der Tätigkeit. Auch wenn das Nachdenken über Lernen und Handeln notgedrungen ein Denken bleibt, sprengt ihr Verhältnis zwangsläufig den Rahmen. Dabei führt auch der dem Denken anhaftende Dualismus von Theorie und Praxis, obwohl er sich denknotwendig immer wieder herstellt, in eine Sackgasse. Theoretisches Denken ist eine Form der Praxis und praktisches Handeln stößt Theorie an. Wissenschaft lässt sich nicht vollständig von der Lebenswelt ablö-
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sen. Sie folgt keiner formalen Ableitung, sondern einer dialektischen Beziehung. Erkennen ist demnach eine Einordnung verschiedener Praktiken in unterschiedliche Theorien. Daraus folgt ein Wechsel der Perspektive, den Hans Blumenberg (19201996) in der Metapher „Schiffbruch mit Zuschauer“ (1979) nachvollzieht: Wer am Ufer sitzend einen Schiffsuntergang beobachtet – also eine theoretische Außenperspektive einnimmt – sieht die Katastrophe völlig anders, als der, der sich am Steuerrad festklammert – also einbezogen ist in das praktische Desaster. Lernen – so eine theoretische Aussage mit praktischer Konsequenz – kann man vorwiegend durch Handeln und nicht durch bloßes Anwenden von Denken und Wissen. Allerdings ist auch das Wissen Ergebnis phylogenetisch gewonnener Erfahrung, d.h. des Lernens von dem Wissen der Gattung. Besonders die „Kulturhistorische Schule“ in der Nachfolge Lew Semjonowitsch Wygotskis – über Leontjew bis Holzkamp – und die „Philosophie der Praxis“ bzw. der praxeologische Ansatz Pierre Bourdieus verfolgen – in unterschiedlicher Weise das Konzept des Vermittelns zwischen Denken und Handeln, zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Versuche zum „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (Bourdieu 1979), wie sie Pierre Bourdieu im Zusammenhang von „Sozialer Sinn“ fortgesetzt hat (Bourdieu 1987, bes. 147 ff.), wenden sich verschiedenen Praktiken zu, um sie auszulegen. Es geht darum, diesen einen Sinn zuzugestehen, der sich sprachlich nicht vollständig auflösen lässt, aber dem wir uns nähern können (ebd. 157). Diese Denkweise unterläuft den abstrakten Theorie-Praxis-Dualismus. Die Reflexion einzelner Praktiken öffnet eine Perspektive, welche das Lernen einbindet in die weiteren Horizonte des Handelns. Pierre Bourdieu (Bourdieu 1979, 137) steht damit in der Denklinie von Marx, nämlich derjenigen einer menschlichen Konstitution durch und in gesellschaftlicher Praxis, welche die Gegensätze von Idealismus und Materialismus, zwischen Naturalismus und Humanismus, Tradition und Utopie schrittweise überwindet. Unser Sein ist demnach Praxis. Sie ist zu fassen als sinnlich menschliche Tätigkeit. Marx hat dies komprimiert in der 8. Feuerbachthese: „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis“ (MEW 3, 45). In kritisch-pragmatistischer Konzeption wird Lernen begründet als eine Form der Tätigkeit und rückgebunden an eine solche Praxistheorie und in die Theorie der Tätigkeit, wie sie von dem Begründer der kulturhistorischen Schule Lew Semjonowitsch Wygotski (1896-1934) vor der „Praxeologie“ Bourdieus entwickelt worden ist.
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Dieser Wissenschaftsansatz umfasst eine Arbeitsgruppe russischer Psychologen, zentral die „Troika“ Wygotski, Leontjew, Lurija, die – wie später dann auch Bourdieu – die Marxsche Auffassung als Ausgangsannahme aufnehmen. Hauptpunkt ist die Unterstellung, dass gesellschaftliche Strukturen durch äußere bzw. „gegenständliche“ Tätigkeiten schrittweise in innere, geistige Strukturen umgewandelt werden. Tätigkeit steht im Begriffszentrum des Ansatzes. Wygotskis Grundidee ist, dass höhere geistige Funktionen durch tätigkeitsvermittelte Verbindungen zwischen verschiedenen niederen Funktionen z.B. im sinnlichen Empfinden entstehen. Alle höheren psychischen Aktivitäten, eingeschlossen Sprechen und begriffliches Denken, haben gesellschaftlichen Ursprung (Wygotski 1985, 1987). Sie entstehen als Mittel, um gegenseitige Beziehungen, Arbeitsteilung und Hilfeleistung zu sichern, und sie werden Teil des alltäglichen Lebens. Diese Verbindungen entspringen einem kulturellen Kontext, nämlich der tätigen Interaktion und sprachlichen Kommunikation mit Anderen. Da Kommunikation unter Verwendung kulturell gewachsener Zeichensysteme geschieht, fällt ihnen der Aufbau von Verstehensleistungen zu. Zeichen und ihre Einbettung in den ökonomischen, sozialen und kulturellen Zusammenhang, in dem ein Mensch aufwächst, sind deshalb laut Wygotski von zentraler Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Bei der phylogenetischen Entstehung funktionaler Denksysteme organisieren Zeichen zunächst das Verhältnis zwischen Menschen und sie werden später erst – z.B. durch inneres Sprechen – zum Mittel der Selbstregulation. Das Verhältnis von Denken und Sprechen entsteht zunächst in der Beziehung zu anderen. Wygotski betont das Primat des sozialen Prozesses vor dem der individuellen Entwicklung; er formulierte als Voraussetzung der Entwicklung des Psychischen, dass die höheren psychischen Funktionen in gestufter Form auftauchen, zunächst interindividuell, dann erst intraindividuell. Dabei verläuft das Intramentale nicht unmittelbar parallel zum Intermentalen. Das innere Sprechen ist eine rückbezügliche, besondere Form des Sprechens. Die gegenseitigen Hinweise innerhalb von Zeichenbeständen konstituieren das Denken; das Intermentale ist dem Intramentalen, der Zuruf ist dem Nachdenken vorgängig. Wygotski entwickelt seine These, dass gesellschaftliche Bedingungen das Bewusstsein „bestimmen“, im Widerspruch zu Annahmen, die von der Genese der Psyche, besonders der Kognition, innerhalb eines Individuums ausgehen, und die den Kontext der Tätigkeiten – also auch des Lernens – nicht beachteten. Individuelles Lernen ist immer schon in soziale Verhältnisse eingeordnet und setzt diese voraus.
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Die Grundprinzipien des Konzepts der „kulturhistorischen Schule“, die den jeweiligen Kontext, d.h. das Verhältnis von Ich und Welt einbezieht, wurden von Alexei Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) fortgeführt. Leontjew wendet sich gegen die Spaltung in eine geisteswissenschaftliche und eine naturwissenschaftliche, in eine beschreibende und eine erklärende Richtung der Untersuchung des Psychischen und vor allem gegen die methodologische Fahrlässigkeit, mit der in vielen Untersuchungen das Problem der Verbindung zwischen den physischen und psychischen Prozessen nur unterlaufen oder kurzgeschlossen wird. „Die theoretischen Alternativen einer solchen direkten Inbezugsetzung sind gut bekannt: Der psychophysischen Parallelismus, wonach die Psyche als ein Epiphänomen erscheint; der naive physiologische Determinismus, der zu einer Reduzierung der Psychologie auf die Physiologie führt; die dualistische Hypothese von der psychophysiologischen Wechselwirkung, wobei die Einwirkung eines nichtmateriellen Geistes auf materielle Hirnfunktionen angenommen wird“ (Leontjew 1977, 11). Tätigkeit vermittelt zwischen Geist und Körper – das ist Leontjews zentrale Idee. Tätigkeit ist eine ganzheitliche, von kognitiven wie emotionalen Aspekten begleitete Aktivität. Sie „stellt keine Reaktion und auch keine Menge von Reaktionselementen dar, sondern ein System mit einer eigenen Struktur, mit eigenen inneren Übergängen und Umwandlungen, mit eigener Entwicklung“ (ebd. 23). Tätigkeiten sind doppelt bezogen: auf konkrete Individuen und sozialen Kontext. Sie werden durchgeführt unter den Bedingungen „offener Kollektivität“, unter denen das Individuum sich durch Interaktion ins Verhältnis zu den koagierenden Menschen oder in Konfrontation mit der Welt setzt. „Unter welchen Bedingungen und in welchen Formen die Tätigkeit des Menschen jedoch auch immer erfolgt, welche Struktur sie auch immer aufweist, niemals kann sie isoliert von den sozialen Beziehungen, vom Leben der Gesellschaft betrachtet werden. Bei all ihren Besonderheiten stellt die Tätigkeit des menschlichen Individuums ein in das System der gesellschaftlichen Beziehungen integriertes System dar. Außerhalb dieser Beziehungen existiert keine menschliche Tätigkeit“ (ebd. 23). Leontjew betont die Gesellschaftlichkeit aller menschlichen Tätigkeiten: „Besonders sei davor gewarnt, die menschliche Tätigkeit als etwas aufzufassen, das im Gegensatz zur Gesellschaft steht“ (ebd.). Er beruft sich letztlich ebenfalls auf Marx und die „Deutsche Ideologie“ (Marx, MEW 3, 21), in der es einen engen Zusammenhang zwischen menschlicher Aktivität und menschlicher Psyche gibt. Formelhaft hat Marx schon 1845 das festgehalten in der 6. These über Ludwig Feuerbach:
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„Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (MEW 23, 6. These 6, Satz 2). Dagegen hat sich in der westlichen Psychologie und Soziologie vielfacher Widerspruch artikuliert. Die 6. Feuerbach-These verlagere – so die oberflächlich berechtigte Kritik an Marx’ Feuerbach-Kritik – das Wesen des Menschen vollständig in das Gesellschaftliche – was gegenüber einem grassierenden Individualismus durchaus berechtigt ist – sie grenze aber das Körperliche aus. Marx sagt aber hier nicht, wie oft unterstellt, die Menschen seien Resultat der Gesellschaft, sondern er fragt nach dem Spezifikum – dem Wesen und der Praxis – der Wirklichkeit – menschlicher Aktivität. Auch proklamiert er einen Perspektivwechsel von der gattungsanalogen Auffassung – der Mensch, die Menschheit – bezogen auf das abstrakte Individuum zu einem historischen, formationsspezifischen Verständnis der Entwicklung der Menschen. Die 6. Feuerbachthese ist keine Aussage über den Menschen, sondern über sein „Wesen“, also über seinen Kern, das Besondere. Und sie stellt ihn in „seine Wirklichkeit“, also in die gemeinsame Praxis. Diese Gefahr des Missverständnisses droht bei Leontjew jedoch nicht, da Tätigkeit immer zugleich innere, geistige wie äußere, eingreifende Aktivität umfasst. Er gliedert die Reichweite menschlicher Aktivität in einer Dreistufigkeit von Tätigkeit, Handlung, Operation: Tätigkeit ist das übergreifende Konzept, das eine Aktivitätsperspektive auf gesellschaftliche Interessen ausrichtet. Sie konstituieren die Strukturen von Interaktion und Kommunikation. Die subjektiven Aktivitäten erfolgen als Handlungen. „Ein zur Struktur der menschlichen Tätigkeit gehörender Prozeß ist die Handlung. Die Handlung ist ein zielgerichteter Prozeß, den nicht sein Ziel, sondern das Motiv jener Tätigkeit, welche durch diese Handlung verwirklicht wird, insgesamt stimuliert“ (Leontjew 1977, 23). Operationen sind dann die Verfahren des zielgerichteten Handlungsvollzugs (1977, 36). In den Operationen erscheinen soziale und personale Kontexte aufgehoben; sie stellen sich als effiziente Zweck-Mittel-Relationen dar. Leontjew verwendet in der Unterscheidung der Aktivitätsebenen explizit ein emergentistisches Argumentationsmuster: „Das allgemeine Prinzip, dem die Beziehungen zwischen den Ebenen folgen, besteht darin, daß die jeweilige höhere Ebene stets die führende bleibt, sie sich aber nur mit Hilfe der tiefer liegenden Ebenen realisieren kann und darin von ihnen abhängt. Somit besteht die Untersuchung der Übergänge zwischen den Ebenen in der Erforschung der mannigfaltigen Formen dieser Realisierungen,
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wodurch die Prozesse der höheren Ebene nicht nur konkretisiert, sondern auch individualisiert werden“ (Leontjew 1982, 221). Entsprechend sind die Ebenen der Aktivitätsregulation gegliedert in Bedeutung, Sinn und Zweck. (Dies ist auch eingegangen in die Handlungsregulationstheorie. s.o. Teil 3.3). Der Begriff Sinn ist der übergreifende Hauptbegriff, der in seinem Unterschied zu Bedeutung und Zweck geklärt werden muss, damit er einen angebbaren Inhalt erhält und von verhüllendem idealistischen Flair befreit wird. „Im gewöhnlichen Sprachgebrauch werden oft die Begriffe Sinn und Bedeutung nicht unterschieden. Zum Beispiel spricht man vom Sinn eines Wortes oder seiner Bedeutung und meint in beiden Fällen ein und dasselbe“ (ebd. 256). Bedeutungen verweisen auf soziale Relevanz repräsentiert in der individuellen Psyche: „Die Bedeutungen haben keine andere Existenz als im Bewusstsein der konkreten Menschen. Es gibt kein selbständiges Reich der Bedeutungen, keine platonische Welt der Ideen“ (ebd. 258). Der Begriff Bedeutung drückt jedoch nicht den gesamten Gehalt aus, der hinsichtlich der bezeichneten Erscheinungen der Realität im Psychischen angeeignet wird und vorliegt. „Bedeutung, das ist jene Verallgemeinerung der Wirklichkeit, die in ihrem sinnlichen Träger, gewöhnlich im Wort oder in der Wortverbindung kristallisiert, fixiert ist. Das ist eine ideelle, geistige Form der Kristallisierung der gesellschaftlichen Erfahrung, der gesellschaftlichen Praxis des Menschen. Der Vorstellungskreis einer Gesellschaft, ihre Wissenschaft, ihre Sprache selbst – das alles sind Bedeutungssysteme. Somit gehört die Bedeutung vor allem zur Welt der objektiv-historischen ideellen Erscheinungen. Davon muß man auch ausgehen. Die Bedeutung existiert jedoch auch als Fakt des individuellen Bewusstseins. Der Mensch nimmt die Welt wahr, denkt sie sich als gesellschaftshistorisches Wesen, er ist mit den Vorstellungen, dem Wissen seiner Epoche, seiner Gesellschaft ausgerüstet und zugleich durch sie begrenzt“ (ebd.). Leontjew setzt den Begriff Bedeutung vom Begriff Sinn ab: „Prinzipiell anders erscheint der Begriff Sinn, geht man an das Bewusstsein von der Analyse des Lebens selbst, von der Analyse jener Beziehungen aus heran, die die Wechselwirkung des realen Subjekts mit der es umgebenden objektiven Realität charakterisieren“ (ebd. 260). Sinn fungiert in der menschlichen Psyche als das, was die eigentlichen Lebensbeziehungen und Erfahrungen des Menschen aufnimmt und in sich trägt. Sinn – das ist stets der Sinn von etwas. Es gibt keinen losgelösten, „reinen“ Sinn. Der Sinn ist jedoch auch keineswegs in der Bedeutung bereits enthalten und kann nicht allein aus der Bedeutung entstehen. Sinn wird nicht durch Bedeutun-
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gen hergestellt bzw. erzeugt, sondern durch das gesellschaftliche Leben der Einzelnen. Sinn und Bedeutung stehen im Wechselverhältnis und bezeichnen zugleich einen Unterschied. „Das Bewusstsein als Beziehung zur Welt entsteht psychologisch betrachtet eben als ein Sinnsystem und die Besonderheiten seiner Struktur sind die Besonderheiten der Beziehung von Sinn und Bedeutung. Die Entwicklung der Sinne ist das Entwicklungsprodukt der Tätigkeitsmotive. Inwieweit sich die Tätigkeitsmotive selbst entwickeln, wird jedoch durch die Entwicklung der realen Beziehungen des Menschen zur Welt bestimmt, die durch seine objektiv-historischen Lebensumstände bedingt sind. Das Bewusstsein als Beziehung – das ist auch der Sinn, den für den Menschen die in seinem Bewusstsein widergespiegelte Wirklichkeit hat. Also wird die Bewusstheit der Kenntnisse gerade durch den Sinn charakterisiert, den sie für den Menschen erlangen“ (ebd.). Bedeutungen bestehen also als sinngebend für das Handeln und zwecksetzend für Operationen. Erst auf dem instrumentellen Niveau der Aktivität gehorchen Operationen unmittelbaren Zwecken. Damit wird noch einmal deutlich, dass die übergeordneten Bezugspunkte des Lernens auf gesellschaftliche Bedeutungen hinweisen. Der Sinn von Handlungen – auch von Lernhandlungen – richtete sich auf konkrete Gegenstände. Dann erst folgen ausgegliedert Zwecke. Auf der Ebene einzelner gerichteter Operationen erst werden Bedeutungen und Sinn transformiert in Zwecke. Die Reichweite instrumenteller Aktivitäten ist daher eng. Erst einbezogen in umfassende Sinnzusammenhänge werden die Bedeutungen der Zwecke verstehbar. Nur so wird verständlich, wie – nämlich auf der Grundlage geteilter Erfahrungen – gesellschaftliches Wissen angeeignet werden kann. Der Mensch lernt und erkennt die Welt nicht wie Robinson, der auf einer unbewohnten Insel selbständig Entdeckungen macht – obwohl selbstverständlich auch der – im Roman von Daniel Defoe – schon vorgängige Erfahrungen als weltreisender Kaufmann besitzt. Der Mensch eignet sich im Laufe seines Lebens vorliegende Erfahrungen der Menschheit an, die Erfahrung der vorausgehenden Generationen, und das erfolgt eben in Form der Aneignung und Übersetzung von Bedeutungen in individuellen Sinn. Somit ist die Bedeutung jene Form, in der der einzelne Mensch sich die verallgemeinerte und gespeicherte menschliche Erfahrung als Sinn zu Eigen macht. Der Reichtum gesellschaftlicher Erfahrung reduziert sich keineswegs auf die Vielfalt persönlicher Kompetenzen. Die phylogenetische Akkumulation von Wissen und Können reicht weit über den Horizont ontogenetischer Aneignung hinaus. Individuelles Lernen erfolgt demnach immer auch im Rückgriff auf gesellschaftlich kumuliertes, legitimiertes und akzeptiertes Wissen.
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Die Grundannahmen der „Kulturhistorischen Schule“, dass nämlich die menschliche Psyche entsteht und sich stets weiterentwickelt, werden in der Tätigkeitstheorie aufgenommen. Tätigkeit kann demgemäß nur verstanden werden im Kontext bedeutungsvoller, sinnbezogener Interaktionen zwischen Menschen und ihrer Umgebung. Dieser Theorieansatz enthält zusammenfassend fünf Basisannahmen: Vermitteln durch Tätigkeit; hierarchische Struktur von Aktivitäten; Gegenstandsbezogenheit; Spannung von Internalisierung versus Externalisierung; Kontinuität der Entwicklung. Diese Prinzipien durchziehen jede Aktivität und bilden die Grundlage für das Verständnis ihrer komplexen Dynamik. Die Aspekte stehen in wechselseitiger Abhängigkeit. Die Aktivität bildet das Gerüst, in dem die einzelnen Elemente und Niveaus interagieren. Seit Mitte der 1980er Jahre differenzierten sich mehrere Hauptzweige der Theorieentwicklung, die das Anwenden der Aktivitätstheorie auf Lernprobleme verfolgten: Die Ursprünge der Tätigkeitstheorie wurden fortgeführt in einer institutionenbezogenen Lerntheorie – insbesondere für die Zielgruppe Kinder (Lompscher 1970; zusammenfassend 2004). Als weiterer Zweig entwickelte sich als Methode zur Analyse von Lernprozessen besonders in Arbeitsumgebungen (Engeström 1987). Menschliche Tätigkeit wird fokussiert auf Arbeit als grundlegende menschliche Aktivität. Zentrale methodische Prämisse ist, dass Tätigkeiten sowohl auf der individuellen und als auch auf der sozialen und kulturellen Ebene analysiert werden müssen. Einer der wichtigsten Lerntheoretiker, der sich auf die Tätigkeitstheorie rückbezieht ist Yrjö Engeström (geb. 1948), Professor an der Universität Helsinki. Seine Arbeiten basieren auf der Kulturhistorischen Schule. Er brachte den Begriff des Expansiven Lernens in die wissenschaftliche Diskussion ein. Schon in seiner Dissertation, „Lernen durch Expansion“ von 1987, wird der Ausdruck eingeführt, also bevor ihn Klaus Holzkamp 1993 subjektwissenschaftlich ausarbeitete. Lernen geschieht für Engeström nicht, indem Menschen passiv Wissen in sich aufnehmen, sondern in der tätigen, aktiven Veränderung ihrer Welt und ihrer Lebensbezüge. In den Forschungsprojekten des „Center for Activity Theory and Developmental Work Research“ in Helsinki wird untersucht, wie „expansives Lernen“ in institutionellen oder betrieblichen Zusammenhängen gefördert werden kann. Die Interaktionsbezüge – besonders in der Arbeit – werden als „Tätigkeitssystem“ verstanden, in welchem die Subjekte mit Hilfe von Artefakten, Werkzeugen, Maschinen, Medien und Informationssystemen oder anderen Instrumenten auf ihre Welt einwirken. Dies vollziehen sie nicht als isolierte Individuen, sondern als Mitglieder einer Gemeinschaft, die durch normative Regeln und arbeitsteilige Strukturen gerahmt ist.
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Die Tätigkeitstheorie in der Fassung von Engeström gewinnt an Komplexität zurück, was in der Handlungsregulationstheorie bei Winfried Hacker und Walter Volpert (s.o. Abschnitt 3.4) verloren gegangen ist. Aber auch hier finden sich wieder Kurzschlüsse: Die von Leontjew vorgenommene Differenz von Tätigkeit, Handlung und Operation – sowie entsprechend von Bedeutung, Sinn und Zweck – wird nicht durchgehalten und das für Klaus Holzkamp zentrale Konzept des Übergangs vom Bedingtheits- zum Begründungsdiskurs wird nicht ausgeführt. Ausgehend vom Tätigkeitsansatz bleiben zunächst zwei Problemkomplexe offen: Erstens: Was bedeutet „Erfahrung“ als individuelles Aufschichten von Wissen und Können, sowie als kulturelles Gedächtnis hinsichtlich Lernen? Hier entsteht das Transzendenzproblem: Was kann ich wissen – in der Nachfolge von Kant – und wie kann ich das aneignen bzw. lernen? (Teil 7). Zweitens: Wie wird Lernhandeln durch Bedürfnisse, Motive und Interessen vorangetrieben? Hier ergibt sich das Intentionalitätsproblem: Was will ich tun und wie erwerbe ich entsprechendes Können? (Teil 8).
7. Lernen: Erfahrung – Wahrnehmen und Erinnern
Menschliches Lernen findet statt, indem in Handlungen Erfahrungen gewonnen werden. Phänomenologische und pragmatistische Konzepte verwenden den Begriff Erfahrung zwar durchaus überschneidend, aber auch unterschiedlich. Wenn Husserl oder gar Merleau-Ponty von Erfahrung sprechen, verweist dies vor allem auf Wahrnehmung; wenn Dewey den Begriff gebraucht, steht er in Bezug zur Handlung. Lernen wird in der Fortsetzung der „Kulturhistorischen Schule“ eingebunden in den Kontext gesellschaftlicher Tätigkeit, welche die Grundlage gesammelter Erfahrung liefert. Erfahrung ist eingespannt zwischen sinnlicher Wahrnehmung und gedanklicher Vorstellung. Schon Wahrnehmen – als logischer, nicht als prozessualer Ausgangspunkt genommen – ist ein aktives, hoch selektives Geschehen, das immer schon auf ein vorhandenes Gedächtnis und darin enthaltene Vorstellungen trifft (s. die Kritik Deweys am Reflexbogen-Konzept; s. o. Teil 4.2). Sehen z.B. erfolgt schon auf der physischen Ebene nicht als passives Abbilden auf der Netzhaut. Die Erregung der Sinneszellen wird geordnet zu einer Gestalt. Aus dem Rauschen der Welt werden beim Hören Töne und Melodien identifiziert. Deren psychische Auswahl wird teils kognitiv gesteuert, teils emotional reguliert und das ist keineswegs nur eine Funktion des Gehirns. Wir nehmen wahr, denken und lernen mit unserem ganzen Leib, der sich miterinnert und mitfühlt. Es gibt kein reines, vom Kontext abgelöstes Wahrnehmen. Aus dem unauslöschlichen Zusammenhang von Wahrnehmen, Erinnern und Vorstellen folgt der Aufbau der Erfahrung. Wegen der Vielfalt der Bezüge ist „Erfahrung“ nicht nur einer der wichtigsten, sondern auch einer der schwierigsten Begriffe in einer Theorie des Lernens. Ein angemessener Begriff von Wahrnehmung ist logischer Ausgangspunkt für das Erfassen kritischer – d.h. hier an den unabgegoltenen Möglichkeiten orientierter – Praxis der Menschen in der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft.
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Dies ist kein individualistischer Akt, sondern einbezogen in einen historischkonkreten sozialen Kontext. Ihr Anstoß erfolgt durch Wahrnehmen als sinnliches Auswählen und Aufnehmen. Eine rigide, tradiert behavioristische Fassung als Reiz jedoch kann die Frage nicht beantworten, was überhaupt als relevant akzeptiert und rezipiert wird. Der Mensch nimmt Wirkliches wahr. Sogar die Erfahrung, dass Scheinbares als Wirklichkeit täuschen kann, verweist zwingend darauf, dass sich Wahrnehmen auf die „wahre“ Beschaffenheit des Wirklichen richtet (Holzkamp 1973, 23). Wahr-nehmen unterstellt die Wahrheit des Wirklichen und zugleich seine Möglichkeiten. Wirklichkeit wirkt und zugleich stellen wir sie her; und wir verändern und gestalten sie. Die wirkliche Wirklichkeit ist nicht unmittelbar erfahrbar; sie wird in Tätigkeit angeeignet, als Annahme bestätigt – oder widerlegt. Wahrnehmung als unhintergehbares Innewerden der Evidenz ist für Husserl immer verbunden mit dem Bewusstsein und Denken des Wahrnehmenden. Es wird immer etwas Bestimmtes wahrgenommen, indem es in den Sinnen auftaucht, angenommen wird und erscheint. Geöffnet wird das Wahrnehmen der Welt durch die Sinne. Es gibt einen Empfindungsimpuls des Wahrnehmungsprozesses. Logisch steht die Empfindung am Anfang, sie ist aber nicht offen, sondern immer schon durch Einstellungen ausgewählt. Auch die Sinn-lichkeit, diesen Mitklang hat sie schon in der Sprache erhalten, ist nicht unschuldig. Sie enthält Vorstellungen und Deutungen. Sie nimmt eine ästhetische, d.h. sinnlich bewertende Perspektive ein. Sie bezieht sich auf eine Gestalt und deren Einheit: „Wahrgenommen wird […] nicht das isolierte Ding, sondern das Ding in einer jeweils bestimmten Wechselwirkungskonstellation mit anderen Dingen“ (ebd. 24). Das Aufnehmen von Wahrnehmungen kommt ohne Rückbindung und Weiterverarbeitung im Erinnern und im Denken nicht aus. Wir könnten nicht weiterlernen, ginge das Gelernte sofort wieder verloren. Lernen und Gedächtnis sind im alltäglichen Leben nicht voneinander zu trennen. In der Gedächtnispsychologie (Überblick bei: Markowitsch 2009) lassen sich verschiedene Perspektiven des Erinnerns voneinander unterscheiden. Generell können wir ein Gedächtnis für die Vergangenheit – das reproduktive Gedächtnis – von einem Gedächtnis für die Zukunft – dem prospektiven Gedächtnis – differenzieren. Mit dem retrospektiven Gedächtnis hat sich die psychologische Forschung schon früh auseinandergesetzt (Thorndike 1930/1970). Bereits die Funktionen des Speicherns aber sind ebenfalls keine passiven Prozesse. Es ist vielmehr z.B. oft so, dass Lernfortschritte bei neuen Tätigkeitsgegenständen anfangs mit großen Schritten vorangehen, die später immer kleiner werden. Prospektiv dient das Gedächtnis, den Fortgang der Tätigkeit zu orientieren.
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Aber das Gedächtnis besteht nicht aus harten Kristallen. Nichts Festes ist vorgegeben – sonst könnten wir nicht lernen. Erinnerungen verändern sich, sie werden zurechtgelegt – bis es passt. Sie lassen sich nicht in Schachteln sammeln und in Schubladen ordnen. Sie fließen davon. Das Gedächtnis verbindet und verflechtet unauflöslich die Erfahrungen des Vergangenen mit den Wahrnehmungen des Gegenwärtigen und filtert diese vorab schon durch die Erwartungen des Zukünftigen. Die Identität schützt sich vor überwältigenden Einbrüchen und bewahrt ihre überlebensnotwendige Stabilität durch Vergessen. Das Gedächtnis wird andauernd gereinigt. Zu klären ist immer wieder neu: Wie ist Erfahren gebunden an Tätigkeit? – Wie unterscheiden sich Erfahren und Erleben und welchen Stellenwert hat das Vorwissen? – Und: Wie vermitteln sich individuelle und kulturelle Ebene? Gibt es soziale Erfahrungen und wie werden diese individuell angeeignet? Die Antworten auf solche Fragen unterscheiden sich in rationalistischen, empiristischen und kritischen Positionen: sie haben verschiedene Bezüge zur Praxis und sie variieren in stärker individuell oder mehr sozial orientierte Konzepte. Sie erhalten in „subjektwissenschaftlichen“, phänomenologischen und „pragmatistischen“ Kontexten spezifische, unterschiedlich anschlussfähige Ausprägungen. Dabei geht es auch um das Verhältnis von Neu-Erfahrenem und Vor-Wissen. Diese Problematik findet sich in Varianten wieder in den Positionen von Husserl, Dewey und Holzkamp. In der transzendentalen Phänomenologie bei Edmund Husserl unterliegt eine der komplexesten Strategien der Verbindung und Öffnung von Vorgemeintem und Neuerfahrenen. In dieser Theorielinie steht der Begriff der Erfahrung im Zentrum der philosophischen Reflexion. Im Argumentationsmuster seiner „Phänomenologie der Wahrnehmung“ betont Maurice Merleau-Ponty (1966) eine Argumentationsspirale als Grundlage, Sinn neu zu fassen: Die Beziehung zwischen Wahrnehmen und Wissen wird hergestellt durch Intentionalität. Alle Erfahrung verweist zurück auf Welt, aus der sie ihren Sinn erhält. Das Ich hat seinen Boden für alles Seiende in der Welt. Das Denken ist gerichtet. Erweiterte Welthabe setzt sinnvolle Weltnahme voraus. Allerdings bricht sich die Selbstverständlichkeit, mit der das Sein – in phänomenologischer Perspektive – immer schon hingenommen wird, im Fortbestehen des Zweifels. Der Bruch mit dem Selbstverständlichen bleibt allen Letztbegründungsversuchen zum Trotz unaufhebbar und im Denken unlösbar. Impulse zu Lernen kommen aus den Brüchen und Rissen der Routine.
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Lernen bedeutet, die Welt neu – zumindest anders – zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken sowie zu fühlen, sich zu erinnern und anders zu denken und entsprechend zu handeln. Erfahrung als Grundbegriff der Phänomenologie vermittelt zwischen Wahrnehmung und Bedeutung. Wahrnehmungen werden dann nur als Erfahrung zugelassen, wenn sie in die bisherigen Bedeutungen eingearbeitet werden können, sonst entstehen Lernwiderstände. Im Pragmatismus John Deweys werden die Themenfelder Wahrnehmen, Erfahren sowie Wissen und Können bezogen auf Handeln bearbeitet. Hier geht es um die Frage, wie – empirisch oder hermeneutisch – Wissen generiert wird und welches Wissen Relevanz beanspruchen kann. Entsprechend ist Deweys Explikation des Erfahrens und Lernens eingebunden in das pragmatistische Konzept des Handelns. Er betont die aktive Seite der Erfahrung durch Ausprobieren und Versuch beim Handeln. Es ist die „Auseinanderlegung der Beziehungen zwischen dem, was wir zu tun versuchen, und dem, was sich aus diesem Versuche ergibt“ (Dewey 1993, 193), das „Bemühen, zwischen unserem Handeln und seinen Folgen die Beziehungen im Einzelnen aufzudecken, so dass die beiden zu einem Zusammenhange verschmelzen“ (ebd. 195). Vorab allerdings muss geklärt werden, was unter Erfahrung zu verstehen sei – auch im Unterschied zu der behavioristischen Kategorie des Reizes. Dewey verweist darauf, dass der Begriff Erfahrung – und gleichlaufend der wissenschaftliche Versuch – nicht selbsterläuternd sind: „But experience and experiment are not self-explanatory ideas. Rather, their meaning is part of the problem to be explored“ (Dewey 1938, 13; dt. 2002b). Auch ist für ihn keineswegs jede Erfahrung positiv: „Each experience may be lively, vivid and ‚interesting‘, and yet their disconnectedness may artificially generate dispersive, disintegrated, centrifugal habits“ (ebd. 14). Dies kennzeichnet auch die Grenzen eines Erfahrungslernens, wenn seine Einordnung in Kontext und Systematik unterlassen wird. Dewey unterstreicht den nicht abreißenden Fluss der Erfahrungen. Sie sind – erstens – gekennzeichnet durch ihre Kontinuität: „Moreover, every experience influences in some degree the objective conditions under which further experiences are had“ (ebd. 30). Dewey unterlegt – zweitens – von Anfang an ein soziales, interaktionistisches Konzept von Erfahrung und dann auch von Lernen. Jedes Lernen findet in einem gesellschaftlichen Zusammenhang statt. Er konstatiert, „that all human experience is ultimately social, that it involves contact and communication“ (ebd. 32). Neben Kontinuität ist Interaktion jeder Erfahrung implizit: „The word ‚in-
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teraction‘ […] expresses the second chief principle for interpreting an experience“ (ebd. 38). Leben – Erfahren, Fühlen, Erklären und Verstehen, sowie Handeln – vollzieht sich als temporale Serie in situativen Konstellationen von Interaktionen: „The statement, that individuals live in a world, means, in the concrete, that they live in a series of situations. […] It means, once more, that interaction is going on between an individual and objects and other persons. The conceptions of situation and of interaction are inseparable from each other“ (ebd. 41). Erfahrung ist also eingebunden in den sozialen Kontext der Kontinuität von Interaktionen: „The two principles of continuity and interaction are not separate from each other. They intercept and unite. They are, so to speak, the longitudinal and lateral aspects of experience“ (ebd. 42). Das Verhältnis von Handlung und Erfahrung steht also im Mittelpunkt von Deweys Pragmatismus. Durchaus verwandt – vom Denkmuster her – wird „Erfahrung“ als Begriff subjektwissenschaftlicher Theorie bei Klaus Holzkamp eingeführt. Bei seiner Modellkonstruktion der Verlaufsformen des Zugangs zum Lerngegenstand steht für Holzkamp die „Erfahrung einer ‚Lerndiskrepanz‘“ am Ausgangspunkt (Holzkamp 1993, 211). Dabei ist der Lerngegenstand „Aspekt der widerständigen Welt, wie sie dem Subjekt von seinem Standpunkt aus gegeben ist“ (ebd. 206). Eingebunden ist die Diskrepanzerfahrung in den Kontext des Vorgelernten und die damit implizierten Erwartungen. Das lernende Subjekt erfährt seine Unzulänglichkeit: „Das Subjekt muß [...] – da das Vorgelernte zu deren Bewältigung nicht ausreicht – aus einer Handlungsproblematik eine spezifische Lernproblematik ausgliedern. […] Damit stellt sich aber die Frage, wie das Lernsubjekt erfahren kann, dass und ggf. in welcher Hinsicht es sich dabei um unvollständige, oberflächliche Strukturmerkmale des Lerngegenstandes […] handelt. Es besteht demnach nicht nur objektiv eine Diskrepanz zwischen dem Stand des Vorgelernten und dem Lerngegenstand, sondern diese Diskrepanz muss mir im Zusammenhang einer Lernproblematik auch erfahrbar werden können, ich muss also bemerken, dass es mit Bezug auf den jeweiligen Gegenstand mehr zu lernen gibt, als mir jetzt schon zugänglich ist [...]“ (ebd. 212). Die erfahrene Unzulänglichkeit des erreichten Gegenstandsaufschlusses wird also zum Lernanstoß durch die Erwartung des zukünftig Möglichen. „Die der Lernproblematik zugrunde liegende und den aktuellen Lerngegenstand ausgliedernde Diskrepanzerfahrung muss also als spezifische Erlebnisqualität des primären Handlungszusammenhangs, durch welche sich aus diesem für
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das Subjekt eine Lernproblematik/ein Lerngegenstand ausgliedert, theoretisch fassbar werden“ (ebd. 214). Zu klären bleibt die Aneignung systematischen, kulturellen Wissens als Lernanforderungen, die der einzelne Lernende nicht antizipieren kann. Auf einer andern Ebene – in seiner Auseinandersetzung mit der phänomenologischen Psychologie – stößt Holzkamp auf den Begriff Erfahrung „als Horizont allseitig unabgeschlossener Möglichkeiten“ (Holzkamp 1984, 8). Erfahrung bezieht sich auf die mir vorgegebene Welt, wie „sie mir von meinem Standpunkt aus in meiner Perspektive zugänglich ist“ (ebd.). Er deckt das zentrale Problem phänomenologischer Analyse auf, inwieweit nämlich solche Bestimmungen „wissenschaftlich verbindlich“ zu machen sind. (ebd. 10). Deshalb geht er von der „Skizzierung phänomenologischer Strukturanalyse unmittelbarer Erfahrung“ weiter zu seinem Konzept „historischer Kategorialanalyse“. Er deckt dann ein „widersprüchliches Verhältnis zwischen Unhintergehbarkeit und handelnder Überschreitung der unmittelbaren Erfahrung bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz“ (ebd. 46) auf. Es resultiert der „Aufweis, dass die Strukturen unserer Erfahrung von uns zwar nicht ‚hintergangen‘ werden können, aber ‚überschritten‘ werden müssen, weil der Mensch ja nicht nur ‚erfährt‘, sondern handelnd die Bedingungen schaffen oder kontrollieren muss, unter denen er überhaupt erst einmal leben und sodann erst als Lebender auch Erfahrungen (mit der und der Struktur) machen kann“ (ebd. 48). Handelndes Überschreiten macht den kritischen Impetus der Theorie aus. Handlung ist also der Erfahrung vorgeordnet. So weit, so gut. Was aber ist denn nun eine Erfahrung und was unterscheidet diese vom Erlebnis? Holzkamp setzt seine Argumentation bezogen auf Lernen fort in Richtung Emotionalität und Motivation und legt damit in der Tendenz einen individualistischen Erfahrungsbegriff nahe – auch wenn der Begriff Interesse aufgenommen wird (s.u. Teil 8). Sein Erfahrungsbegriff lässt das Problem zwischen individuell Erlebtem und systematischem Wissen offen – allerdings gilt dies nur bezogen auf den Argumentationskontext zu „Lernen“ (1993). Wenn jedoch die „Grundlegung der Psychologie“ (1983) mit berücksichtigt wird, wird Holzkamps Rückbindung an marxistische Positionen deutlich. Handlung als zentrale Kategorie ist kritisch-psychologischen und pragmatistischen Konzepten – im Unterschied zu phänomenologischen Ansätzen – gemeinsam. Erfahrung ist Impuls für praktische Konsequenzen bzw. auslösende Diskrepanzen bezogen auf mögliche Weltverfügung und in beiden Fällen Anstoß zum Lernen. Erfahrungen öffnen den Begründungshorizont durch Bedingungs-
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impulse. Wichtig ist, dass dies keinen Automatismus auslöst. Lernen sammelt Erfahrungen, nimmt sie auf oder verwirft sie. Festzuhalten ist, dass Erfahrung zwischen Wahrnehmung und Vorstellung zu verorten ist. Wahrnehmung kennzeichnet die sinnliche Seite erfahrungsbegründeter Erkenntnis; Vorstellungen regeln ihre Auswahl und Einordnung. Umformen des vorgängig Erfahrenen durch Wahrnehmen des Neuen bedeutet dann Lernen. Weiter zu fragen bleibt, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgt. Was ist zum Vorwissen passendes Erfahren? Wann und warum wird vermeintes Wissen umgeformt oder ersetzt? Damit stoßen wir auf die Kategorien Emotion, Motivation und Interesse.
8. Lernen: Intentionalität und Interesse
Bei der Suche nach einer Antwort, wieso welche Themen Bedeutsamkeit erhalten, tauchen als mögliche Selektionsperspektiven die Begriffe Emotion, Motivation und Interesse auf. Diese sind rückbezogen auf die Intentionalität der Subjekte. Angesichts der Vielfalt möglicher Themen muss es Relevanzkriterien geben, die eine Auswahl ermöglichen und das Handeln ausrichten. Auf dem Weg zu einer erweiterten Erfüllung unserer Interessen wird gelernt, wie das Mögliche in das Zukünftige überführt werden kann. Der Pfad ist gerichtet auf zukünftig Besseres. Die Welt wird erschlossen durch gestaltende Eingriffe, die unsere Wünsche erfüllen sollen. Wünsche und Bedürfnisse, Motivation und Interesse erschöpfen sich nicht im Zugang über Kognition und sind gestützt auf Emotionen; sie sind sinnlich gerichtet. Als genuss- und leidensfähige, als verwundbare Körper stehen wir in der Natur, die aber nicht nur das Andere, sondern auch das Eigene ausmacht. Wir verstehen die Natur, weil wir selbst auch Naturwesen sind. Wir können unseren Körper nicht ablegen – es wäre gar nicht wünschbar. Wir wären arm ohne Sinnlichkeit. Das Beschreiben eines Apfels ersetzt nicht das Pflücken und Essen des Apfels. Wir leben in der Welt als bedürftige Wesen ausgestattet mit Erfahrungen und Erwartungen. Wir messen Ereignisse an unseren Bedürfnissen, unsere Erfahrungen an unseren Erwartungen. Würden wir die Zustände der Welt nicht bewerten, würden wir nicht eingreifen, also auch nicht lernen. Wäre alles gleich-gültig, gäbe es auch keinen Sinn. Erst in einem als negativ oder positiv erlebten Kontext begründet sich Intentionalität als gefühlsbegründete, wünschende und gestaltende Gerichtetheit der Tätigkeiten. Erst weil wir Lust oder Leid empfinden, treibt das zum Handeln. In den Fokus gestellt wurde Intentionalität als Grundmerkmal der Psyche vor allem durch Edmund Husserl (1913, 1999) in seinen „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“. (Husserl redet allerdings einengend von Bewusstsein.).
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Merleau-Ponty (1966, 475) hat dies erweitert und den ebenfalls von Husserl stammenden Begriff der „fungierenden Intentionalität“, die sich hinter dem Rücken der bewussten Ausrichtung auf Gegenstände vollzieht, ausgeführt. Dieses – hier vollzogene – theoretische In-Beziehung-Setzen grundlegender Begriffe treibt das Spiel relationalen Denkens (Bourdieu 1987, 13) weiter. So auch hier, wenn ausgehend vom Knoten „Lernen“ ein Netz geknüpft wird, das Tätigkeit, Handlung, Erfahrung und Erwartung einfängt und weitergesponnen wird zur Bewertung. Also gilt für Lernen: Erfahrungen konstituieren Erwartungen, die Bewertungen unterworfen werden. Veränderte Erwartungen resultieren aus neuen Erfahrungen und ändern Bewertungen. Bedürfnisse verschieben sich; sie werden wichtiger oder weniger bedeutsam; sie richten sich auf wechselnde Gegenstände oder lösen sich sogar auf. Um sie zu befriedigen, handeln wir bzw. lernen wir Handlungsfähigkeit. Dabei erfordert das Einlegen einer Lernschleife immer auch einen Befriedigungsaufschub, es sei denn, Lernen wird selbst als befriedigend und lustvoll erfahren. Bei jeder Tätigkeit – also auch beim Lernen – kann sich eine Verlaufslust einstellen, die sich vom erwarteten Ergebnis ablöst. Keineswegs ist Lernen immer erste Priorität beim Handeln. Angesichts fehlender Fähigkeiten kann man auch ausweichen, verweigern, Widerstand entwickeln. Statt über die Hochsprunglatte zu springen kann man darunter durchschlüpfen, drum herumgehen oder den Sportplatz verlassen (vgl. a. Holzkamp 1993, 294). Die Frage ist dann, warum wird eine erfahrene Diskrepanz zwischen Interesse und Kompetenz – über die Latte springen zu können – durch Lernen zu lösen versucht: Wann ziehe ich Lernen anderen Handlungsmöglichkeiten vor? Wann entwickle ich Lust am Lernen? Die traditionelle Psychologie versteht Lernbereitschaft bezogen auf den Anlass und den Grad der Motivation, weiter zu lernen. Antriebe werden auf Instinkte, Triebe oder Bedürfnisse zurückgeführt. Die Skala reicht von lustlos bis hin zu extrem motiviert – hingerissen. Welche Handlungskonsequenzen der Einzelne in der jeweiligen Lernsituation entwickelt, hängt von seinen vorhergegangenen persönlichen Lernerfahrungen bezogen auf Erfolgserwartungen und Ergebnisbewertungen ab. Eingefahren ist die Unterscheidung von extrinsischer und intrinsischer Motivation. Dies unterstellt aber, dass Motivation irgendwo „Innen“ (oder eben nicht) verortet werden könne. Man ist aber nicht irgendwie für Irgendwas motiviert, sondern immer nur in einem Tätigkeitsbezug gerichtet auf angestrebte Erfolge. Die Gerichtetheit des Handelns erst führt zu Antrieben. Motivationen schlummern nicht tief unten und brechen dann plötzlich unvermittelt aus. Sie begleiten vielmehr von Anfang an jede Aktivität.
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Die Begrifflichkeiten, mit denen Antriebsregulation gefasst werden soll, streuen über die verschiedenen Wissenschaftsbereiche. Biologisch wird von Instinkten und Trieben gesprochen, physiologisch von Reizen, zoologisch von Bedürfnissen, psychologisch von Motivationen, psychosozial von Interessen und ethisch von Werten. Diese Wörter haben je unterschiedlich gestimmten Mitklang: Bei „Trieb“ ist ein übergewichtiger Bezug zum Körper vorherrschend. Es unterliegt ein scheinbar natürlicher, deshalb vorgegebener und hinzunehmender, deshalb scheinbar unveränderlicher Grundton. „Reize“ unterstellen ein außengeleitetes Antriebsgeschehen, das die Psyche letztlich in die black-box einsperrt. Aber auch im Begriff Bedürfnis schwingt eine naturalistische Konnotation mit. Bedürfnisse scheinen letztlich körperlich verankert. Durch Maslow (1954/dt. 1977) erhalten sie die Konstruktion einer stabilen Pyramide ruhend auf 1. Grundbedürfnissen wie Nahrung und Wärme, 2. auf Sicherheitsbedürfnissen, auf der 3. Stufe als soziale Bedürfnisse nach Liebe, Zuneigung und Zugehörigkeit, 4. auf Bedürfnissen nach Achtung und Anerkennung und 5. gekrönt durch ein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Aber auch die – inhaltlich gefüllten – Content-Modelle liefern kaum mehr als eine Klassifikation von „Bedürfnissen“. Menschen versuchen demnach, die Bedürfnisse der unteren Stufe zu befriedigen, bevor die nächste Stufe begangen wird. Solange „niedrigere“ Bedürfnisse nicht erfüllt sind, bleiben – so wird unterstellt – Motive der höheren Stufen prinzipiell latent. Die Motivationspsychologie in ihren Hauptrichtungen – der Lewinschen Feldtheorie (Lewin 1926; 1963), McClellands Konzeption der Leistungsmotivation (McClelland u.a.1953) und Maslows „humanistischem Ansatz“ (Maslow 1954, dt. 1977) – betrachtet meist nur Ausschnitte des komplexen Bedürfnisgefüges, das der Intentionalität zugrunde liegt. Alle diese Begriffsfassungen sind Strategien, um mit dem Intentionalitätsproblem umzugehen. Die Fragestellung wird auf einzelne physische, psychische oder soziale Aspekte heruntergebrochen und verkürzt. Was aber ist eine angemessene wissenschaftliche Strategie, um dieses Problem anzugehen? Ute Holzkamp-Osterkamp (geb. 1935) hat in ihren „Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung“ (Holzkamp-Osterkamp 1975) drei Stufen der Herausarbeitung der menschlichen Psyche betont: Erstens die naturgeschichtliche Gewordenheit in der Phylogenese, zweitens die allgemeine Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur und drittens die Besonderheit der Entwicklung der Psyche in gegenwärtigen Gesellschaften (ebd. 45). Diese Stufen bauen aufeinander auf, sie brechen nicht nach dem Durchlaufen weg, sondern sie führen zu einem Sockel individueller und sozialer Bedürfnisse im Spektrum organismi-
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scher und moralischer Intentionen. Sie begründen jeweils konkret ein spezifisch ausgerichtetes „Bevorzugungsverhalten“ (ebd. 33). Die Neurobiologie – auf der ersten Stufe einzuordnen – dagegen versucht in ihrer popularisierten Form, wie sie so vereinfacht von reflektierten Fachvertretern kaum unterstellt wird, Erklärungen direkt über die körperliche Seite der Antriebe zu finden und zu erschließen. Ergebnisse stammen ursprünglich hauptsächlich aus der Suchtforschung, der Untersuchung hirngeschädigter Menschen und aus Tierversuchen. So ist z.B. zielgerichtetes Handeln beim Menschen nur feststellbar, wenn entsprechende, lokalisierbare Sektoren im Gehirn intakt sind. Sind diese Regionen geschädigt, können, je nach Schweregrad, Störungen der Motivation, z.B. Apathie, auftreten. Neben neurophysischen Strukturen können auch hormonelle Impulse als Erklärung herangezogen werden. Lust am Lernen würde demnach als angenehme Reize oder körperliches Wohlbefinden entstehen. Diese Vorstellung unterliegt einem naiven physio-psychischen Parallelismus, der wenig erklärt, aber Fragen verdeckt. Immerhin kann daraus der berechtigte Hinweis auf die körperliche Rahmenbindung von Motivationen entnommen werden. Solche eindimensionalen Modelle halten einer Reflexion über die Komplexität menschlicher Interessenstrukturen nicht stand. In der grundsätzlichen, komplexen und dynamischen Spannung zwischen Ich und Welt stehen die Individuen jeweils immer wieder neuen Lernanforderungen gegenüber, welche sie aufgreifen – oder eben nicht. Sie bewerten jeweils, ob diese als Lernaufgaben für sie selbst wichtig sind. Erst im Rückgriff auf Interessen wird das Intentionalitätsproblem in seiner Komplexität fassbar. Dabei werden Interessenkonstellationen zwischen eigenen und fremden Anforderungen abgewogen und gewichtet. Es gibt ein unaufhebbares Spannungsfeld zwischen individueller Handlung und gesellschaftlichen Anforderungen. Zentraler Referenzpunkt dabei ist – folgen wir Holzkamp (s.o. Teil 4.3) – die Frage nach der Verfügung über die eigenen, relevanten, gesellschaftlichen Lebensbedingungen als Chance zur Erhöhung der Lebensqualität. Die Individuen prüfen, inwieweit Handlungen, also auch Lernhandlungen, für sie selbst einen Vorteil bringen oder eher Schaden erzeugen. Erst im Diskurs über Interessen liegt eine adäquate Konzeption, die physiologische oder psychologische Verkürzungen vermeidet, vor. Der Begriff betont das Zwischenverhältnis und die doppelte Rückgebundenheit von eigenem Verhalten und Handeln und gesellschaftlichen Verhältnissen. Während „Erfahrung“ abstellt auf Transzendentalität des Lernens, kann „Interesse“ die dahinter stehende Intentionalität begreifbar machen. Ebenso wie der Erfahrungsbegriff ist aber der Interessenbegriff historisch und theoretisch hoch belastet und er ist ebenso kontrovers und uneinheitlich. Sinnvoll erscheint bei
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einer ersten Herangehensweise eine Differenzierung verschiedener Ebenen des Interessenbegriffs. Interessentheorien des Lernens basieren auf einer Person-GegenstandsKonstellation, welche als permanente Austauschbeziehung interpretiert wird (Lewin 1963; Deci/Ryan 1993). Das Spektrum wissenschaftlicher Zugänge reicht von der Psychologie (Krapp 1992) bis zur Sozialphilosophie (Neuendorf 1973) und zur politischen Ökonomie. Bei einer Betonung des Subjektes kommen zunächst individuelle Interessen ins Blickfeld: Im Vordergrund steht die Person mit ihrem Interesse an einem Gegenstand, einer Situation oder Konstellation. Man kann weitergehend unterscheiden zwischen akuter subjektiver Interessiertheit – also Motivation – und langfristiger, ggf. latenter Interessantheit (vgl. Grotlüschen 2010). Individuelles Interesse begründet Engagement und setzt Tätigkeit in Gang. Bei einem Blick auf strukturelle Interessenkonstellationen bzw. -konflikte richtet sich das Augenmerk auf kollektive Kontexte: Diese Sichtweise stellt gesellschaftliche Verhältnisse in den Vordergrund. Dazu gehören auch eine individuelle Vorteilsnahme und die Vertretung von Partikularinteressen auf Kosten des Gemeinwohls. Aber erst ein solcher strukturell orientierter Interessenbegriff ermöglicht kritische Distanz. Interaktionistische Interessenkonzepte greifen auf die Etymologie des Wortes zurück. Das Wort inter-esse steht für die Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Ich und Welt. Auf Seiten der Subjekte findet sich jeweils konkrete Interessiertheit. Die Objekte, die „Sache“, ein „Gegenstand“ oder eine „Thematik“ zeichnen sich in ihrer Interessantheit aus. Politisch-ökonomische Interessenmodelle gehen von der „objektiven“ gesellschaftlichen Struktur aus und schließen von daher auf subjektive Motivationen. Die Subjekte entwickeln demgemäß ihre Interessen bezogen auf ihre soziale Lage in gesellschaftlichen Klassen, Schichten bzw. Milieus. Interessen sind aber nicht einfach da und vorgeben. Es geht darum, Interessen zu entwickeln, von einer Sache gepackt zu werden (Grotlüschen 2010). Das ist nicht nur Resultat der konkreten Situation der Lernenden, sondern rückgebunden an den Habitus des eigenen gesellschaftlichen Milieus. Diese Problematik wird in den Konzepten bei John Dewey und Klaus Holzkamp unterschiedlich ausgeführt (vgl. zum Folgenden: Faulstich/Grotlüschen 2005). Dewey formuliert zunächst einen personalistischen Interessenbegriff: „Interest is personal“ (Dewey 1913, 16). So bringt er zum Ausdruck, dass für verschiedene Subjekte unterschiedlich Wichtiges auf dem Spiel steht. Die Fragen nach dem unterschiedlichen Stellenwert jeweiliger Interessen beantwortet Dewey
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in „Interest and Effort in Education“ (1913) mit dem Hinweis auf die Weiterentwicklung des Einzelnen und seine Beziehung zur Thematik, die Entfaltung anstoßen oder aber Beschränkung erzeugen kann. Interessen z.B. an Musik verlieren ihre Attraktivität, wenn durch sie keine fortschreitende Entwicklung mehr möglich ist (ebd. 40/41). Ein Pop-Song wird langweilig, wenn die Zuhörenden ihn kennen und satt haben. Die längerdauernde Bevorzugung einer Aktivität, die zunächst lediglich einer aktuellen Motivation geschuldet war, ist somit von den in ihr liegenden Entwicklungsmöglichkeiten abhängig. Es ist subjektiv – nach Dewey – sinnvoll, solchen Interessen nachzugehen, solange sie „growth or development“ ermöglichen (ebd. 41). Jedoch gilt auch: „Interest is illegitimately used in the degree in which it is either a symptom or a cause of arrested development in an activity“ (ebd. 41/42). Er bewertet Interessen als illegitim, wenn sie nicht der weiteren Entfaltung dienen: Hierunter fallen z.B. zerstreuende Unterhaltung (amusement) und kurzzeitige Aufregung (excitement), welche nach Deweys Ansicht für bildende Prozesse illegitim sind. Man sieht den Zeigefinger des Reformpädagogen. Auffallend ist, dass Dewey von konkurrierenden oder gar konfligierenden Interessen nicht redet: Eine Person, die im eigenen, partiellen Interesse ihre Mitmenschen schädigt, kommt in seiner Vorstellung der Mitbürgerlichkeit nicht vor. Er unterstellt funktionierende Demokratie der Gleichen und nimmt die Möglichkeit zur Artikulation aller individuellen Interessen als gegeben, betreibt somit auf struktureller Ebene politische Affirmation. Besonders deutlich wird das durch den fehlenden Begriff von Interessenkonflikten – in Deweys Demokratie-Modell wird gewählt und verhandelt, jedoch lässt es strukturelle Interessenskonstellationen und Machtverhältnisse außer Acht. Nichtsdestoweniger kann Dewey auf individueller Ebene zur Erklärung der Entstehung von Interessen beitragen und die Unterschiedlichkeit menschlicher Interessensperspektiven und -horizonte erläutern. Zunächst konzipiert er Interesse als Dazwischen-Sein im Spannungsfeld zwischen Mensch und Welt. Sein Begriff von Interesse schließt eigennützige Partikularinteressen („selfish motive“) (ebd. 17) aus: „The root idea of the term seems to be that of being engaged, engrossed, or entirely taken up with some activity because of its recognized worth. […] Interest marks the annihilation of the distance between the person and the materials and results of his action“ (ebd.). Dewey argumentiert also ausgehend von einem dynamischen Interessemodell, das im Horizont der Aktivitäten von angeregt sein bis zur vollständigen
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Hingabe reicht. Der Abstand zwischen Person einerseits und Thematik und Resultat seiner Aktivität löst sich auf. Dewey benennt drei Charakteristika des Interesses: handlungsbezogen: „activ“, gegenstandsbezogen: „objectiv“ und personenbezogen „personal“. Er begreift Interesse also zunächst als „active“ (ebd. 16). Damit vollzieht er eine Abgrenzung von kontemplativ passivem Schauen eines Gegenstands bzw. Lerninhalts und betont den Einbezug in praktisches Handeln. Er kennzeichnet den Menschen als immerwährend aktiv (ebd.18): „In this primitive condition of spontaneous, impulsive activity we have the basis of natural interest. Interest is no more passively waiting around to be excited from the outside than is impulse“ (ebd. 19). Ungeklärt bleibt, wie solche Impulse ablaufen und warum – mit welcher Begründung – das Subjekt manchmal seinem impulsiven Interesse folgt und es ein andermal ignoriert. Der Hinweis auf ein zweites Charakteristikum „objective“ meint, dass Interesse an die Welt gebunden ist. Interesse bezeichnet also die Ausrichtung auf Gegenständliches. Dabei ist die Bindung von Interesse an jeweilige Objekte nicht per se vorgegeben, sondern „whatever furthers action, helps mental movement, is of interest“ (ebd. 20). D.h.: die Bedeutung des Objekts für das lernende Subjekt ist daran gebunden, ob nachfolgendes Handeln erweitert bzw. ob geistige Weiterentwicklung ermöglicht wird – also legitim ist. Die zentrale Unterscheidung zwischen langweiligen und anregenden Objekten liegt also in der Ausweitung bisherigen Handlungsraumes. Die Fortschritts-, Bewegungs- und Wachstumsidee, die bei Dewey grundlegend ist, wird hier mit Bezug auf den Einzelnen umgesetzt. (Bei Klaus Holzkamp heißt das Verfügungserweiterung und ist – weitergehend – bezogen auf gesellschaftliche Verhältnisse.) Interesse ist – drittens – nicht abstrakt, sondern immer an das interessierte Subjekt – bei Dewey die Person – gebunden, was er als „personal“ (ebd.) bezeichnet. Interesse ist nur möglich, wo das Subjekt am Ergebnis beteiligt oder davon betroffen ist: „It signifies a direct concern, a recognition of something at stake, something whose outcome is important for the individual“ (ebd. 16). Zudem liefert Dewey eine Unterscheidung in unmittelbare und vermittelte Interessen: „There are cases where action is direct and immediate. It puts itself forth with no thought of anything beyond. […] The end is the present activity, and so there is no gap in the mind between means and end. All play is of this immediate character. Purely aesthetic appreciation approximates this type“ (ebd. 21).
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Unmittelbare Interessen bleiben an den Gegenstand gebunden, der – wie im reinen Fall im Spiel und bei Kunstwerken – in sich bedeutungsvoll ist. Die Frage nach dem Entstehungsverlauf vermittelter Interessen (indirect interest) betrifft ebenfalls die – anders geartete – Beziehung zwischen Gegenstand und Lernenden. „On the other hand, we have cases of indirect, transferred, or technically speaking, mediated interest. Things indifferent or even repulsive in themselves often become of interest because of assuming relationships and connections of which we were previously unaware“ (ebd. 22). Indirekte Interessen werden somit durch Gegenstandsbezüge hergestellt, die den Handelnden zuvor nicht bewusst waren. Ob eine Sache von Interesse wird, entwickelt sich im Lebenslauf. Dabei sind die Horizonte zunächst begrenzt: sie öffnen sich im Verlauf der Biographie: „While the little child takes only a near view of things, as he grows in experience he becomes capable of extending his range, and seeing an act, or a thing, or a fact not by itself, but as part of a larger whole“ (ebd.). Somit kann Dewey einen „lack of interest“ (ebd. 93) begrifflich konzipieren. Warum ist oder wird ein Gegenstand für den Lernenden nicht interessant? Oder anders gefragt: Wie kann etwas interessant werden? Desinteresse bei Lernenden hat seinen Grund darin, dass die jeweiligen Sichtweisen unterschiedlich weitreichend bzw. beschränkt und verschieden dauerhaft verknüpft sind. Bei allem, was Menschen tun oder lassen, greifen Verschachtelung, Verzweigungen und Verschiebungen von Sinn und Bedeutung, von Motivation und Interesse. Was zunächst nur Mittel zum Zweck war, erfährt eigene Wertschätzung: Deutsch-Lernen, um der Deutsch-Lehrerin zu gefallen, wird zum Interesse an Germanistik. Doch auch die Trennung in Mittel und Zweck ist, so Dewey, eine künstliche und nachträgliche: „The end really means the final stage of an activity, its last or terminal period; the means are the earlier phases [...] Afterwards, we tend to separate the result from the process; to regard the result [...] as the end and the whole process as simply a means to the external result“ (ebd. 28). Auch Neben- und Seitenwege können entstehen durch die Vertiefung in Wissensgebiete: Deweys Interessenkonzept erreicht einen hohen Grad an Komplexität. Es macht es möglich, den Bezug von Person und Struktur deutlich zu machen, den dynamischen, aktiven Charakter der Interessengenese offenzulegen und die Personorientierung der Interessen herauszuarbeiten. Weil er aber gesellschaftliche Strukturen ausblendet, bleibt sein Interessenbegriff individuell akzen-
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tuiert. Blind bleibt Dewey für die polit-ökonomischen Strukturen hinter den Handlungsmöglichkeiten und Chancen der Interessenartikulation. Bezogen auf die von Holzkamp-Osterkamp zusammengefassten drei Stufen der Herausarbeitung der menschlichen Psyche (s.o.) liefert der Pragmatismus zwar eine allgemeine Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur bzw. später eine interaktionistische Variante mit Bezug auf George Herbert Mead. Eine Klärung für die Besonderheit der Entwicklung der Psyche in gegenwärtigen Gesellschaften – und bezogen auf unterschiedliche Themen des Lernens – bleibt er jedoch schuldig. Aussagen dazu sind zu finden in der marxistisch rückgebundenen Konzeption bei Klaus Holzkamp. Bei der Suche nach „Interesse“ als Begriff subjektwissenschaftlicher Theorie fällt auf, dass dem Subjekt Absichten, Pläne und also Interesse am lernenden Weltaufschluss zugesprochen werden. Wenn man bei Holzkamp nach der Begründung der im „Lernen“ (1993) genannten „genuinen Lebensinteressen“ (1993, 11) sucht, führt der Weg zurück zur „Grundlegung der Psychologie“ (1983) und vorwärts weiter bis zu dem erst posthum veröffentlichten Beitrag „Alltägliche Lebensführung als subjektwissenschaftliches Grundkonzept“ (1995). Holzkamp deutet auf die Verstricktheit menschlicher Interessen im Spannungsfeld zwischen restriktiver und verallgemeinerter Handlungsfähigkeit hin. Diese sind letztlich bezogen auf Handlungsperspektiven unter kapitalistischen Verhältnissen im Spektrum von Anpassung und Widerstand. Eine gestaltende Herangehensweise wird als „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ bezeichnet. „Restriktive Handlungsfähigkeit“ ist dagegen gekennzeichnet durch „Übernahme der bürgerlich-ideologischen Identifizierung der allgemeinen/eigenen Interessen mit den herrschenden Interessen“ (Holzkamp 1983, 380). Insofern sind Handlungen, die sich gegen die eigenen Interessen zu richten scheinen, aus einer spezifischen Perspektive subjektiv begründet. „Es kann und darf, wenn das Streben nach restriktiver Handlungsfähigkeit als subjektiv funktional begründbar sein soll, keine Allgemeininteressen und intersubjektiven Beziehungen, sondern nur konkurrierende Partialinteressen und instrumentelle Beziehungen geben“ (ebd.). Zugleich wird als „einziges ‚materiales Apriori‘“ (1993, 27) des „subjektwissenschaftlichen“ Konzepts bezeichnet, „dass der Mensch sich nicht bewusst selbst schaden kann“. „Handlungen, durch welche man bewusst seine eigenen Lebensinteressen verletzt, sind ja […] in sich ein Unding“ (Holzkamp 1983, 379, ähnlich 1993, 27). Bezogen auf Lernhandeln wird die Dimension „restriktiv“ vs. „verallgemeinertes“ Handeln gespiegelt im Begriffspaar „defensives“ vs. „expansives“ Ler-
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nen. Expansives Lernen führt zur Offenlegung tieferer Strukturen. Diese deutet die „Kritische Psychologie“ in einer dualen Grundbegrifflichkeit, die auf „das Begriffspaar ‚Unmittelbarkeitsverhaftetheit‘ vs. ‚Unmittelbarkeitsüberschreitung‘“ (Holzkamp 1995, 835) zurückzuführen sind. In diesem Spannungsfeld findet sich der gesellschaftliche Interessenkonflikt: „nämlich der Widerspruch zwischen meinem Interesse, in Durchdringung des ‚Naheliegenden‘ die Verfügung über meine eigenen Daseinsumstände und damit meine subjektive Lebensqualität zu erhöhen und dem ‚herrschenden‘ Interesse, dies zur Sicherung bestehender Machtverhältnisse zu verhindern“ (ebd.). Hier zeigt sich die Doppelrelation des Interessenbegriffs, der einerseits als subjektives Interesse auf Verfügungserweiterung und andererseits als objektives herrschendes Interesse auf Machterhalt orientiert ist. In einem solcherart zugleich individuell wie strukturell aufgebauten Interessenbegriff sind somit immer auch Konfliktanlässe und -verhältnisse enthalten. Eine Verleugnung der Konflikt- und Machtstrukturen sowie die Übernahme „herrschender Interessen“ als „eigene Interessen“ werden als „restriktive Handlungsfähigkeit“ auf den Begriff gebracht (und damit im Sinne Deweys illegitim). Wie aber vermitteln sich strukturelle und individuelle Interessen? Wodurch kommt Lernen in Gang? Inwiefern kann „Interesse“ als Anstoß des Lernens gedacht werden? Auf der individuellen Ebene wird hier ein grundsätzlich schon vorhandenes Interesse unterstellt, bei dem nicht weiter klärt, warum und wie ungleich starke und ungleich dauerhafte Lebens- und Lerninteressen entstehen. Wie richtet sich ein Interesse auf einen konkreten Gegenstand? Mit Holzkamps Interessebegriff lässt sich nicht herausfinden, wieso Interesse wächst bzw. zu stärken wäre, da er annimmt, dass ein solches – restriktiv oder verallgemeinert – schon vorhanden ist bzw. dies nur abstrakt gesellschaftsstrukturell verortet. Um diese Lücke zu überbrücken, wäre es notwendig, sich der konkreten-historischen Konstellationen zu vergewissern, eine Aufgabe, die ebenso leicht zu benennen wie schwer zu lösen ist. Im Zusammenhang von „Lernen“ wird der Begriff Interesse schnell auf „Gründe“ hingeführt. Dies ist intern schlüssig, weil eben nur intentionales Lernen betrachtet wird. Damit schieb sich der kognitive Aspekt in den Vordergrund. Durch den Verweis auf Körperlichkeit und Biographie als „Situiertheiten“ (Holzkamp 1993, 252) wird dies zwar aufgebrochen, es verbleibt aber ein kognitiver Bias der Argumentation. Sowohl Dewey als auch Holzkamp fassen Interesse als grundlegend für Lernen auf. Sie schlagen Konzeptionen vor, welche die Intentionalität der Weltbezüge als Interessen fasst (genuine interest/genuine Lebensinteressen). Diese Sicht auf das spezifische Niveau menschlichen Handeln und Lernens als absichtsvoll
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und interessegeleitet ist schlüssig. Jedoch fehlt Dewey eine Erklärung struktureller Desinteressen. Diese kann Holzkamp durch den Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit fassen. Der Beitrag Deweys zum Interessenkonzept besteht darin, die Entstehung, Entwicklung und Wandlung von Interessen zu differenzieren. Interesse ist nicht gegeben und festgelegt, sondern findet ihren Keim im Zweck einer Handlung. Handlungen sind nicht einlinig, sondern verschachtelt. Interesse kann unmittelbar sein, jedoch kann es auch vermittelt sein. Lerninteressen sind nicht zufällig und spaßgerichtet, sondern sie folgen der Logik der Sache und stehen am Ausgangspunkte für Lernen. Der Begriff Interesse koppelt Mensch und Welt, die innerpsychischen und die gesellschaftsstrukturellen Gegebenheiten. Anke Grotlüschen (2010) hat versucht die Komplexität des Begriffs zusammenfassend zu systematisieren. Sie geht der Fragen nach, warum jemand lernt, oder anders gefasst: Wodurch entsteht Interesse, wie verläuft es und wie kann man es adäquat fassen? Das beinhaltet, dass Lerninteressen nicht allein im Subjekt zu verorten sind, sondern – wie Lernwiderstände (s.u. Teil 9) – ein Ergebnis der rahmenden Strukturen sind. Das handelnde Subjekt muss mit Problemen und Themen in Berührung kommen, um Interesse an diesen entwickeln zu können. Auch die Möglichkeiten, von Konsequenzen betroffen zu sein und zugleich gestaltend einwirken zu können, sind gesellschaftlich ungleich verteilt. Anke Grotlüschen verortet Interesse in einem formalen zweidimensionalen Modell (ebd. 291): Setzt man Interesse in den Mittelpunkt, so kann man es durch zwei Achsen charakterisieren: Einerseits richtet sich Interesse auf etwas Zukünftiges und gründet sich in einer Vergangenheit („pragmatische Achse“) (ebd.). So wird Interesse dynamisiert als Interessegenese: Interesse ‚ist‘ nicht, sondern es entsteht und vergeht. Andererseits entstehen Interessen in Auseinandersetzung mit einer sozialen und sachlichen Welt, der Klassenlage („habituelle Achse“). Sie werden im Rahmen des Möglichen individuell anerkannt (oder eben nicht). Mit „Interesse“ wird ein dynamischer Bezug von Person, Sache und gesellschaftlichen Verhältnissen hergestellt. Interessen verorten den Menschen als Intentionalitätszentrum in historischem und kulturellem Kontext. Nach wie vor bleibt aber offen, woher die Urteilskraft kommt, einige Weltzustände zu bevorzugen und andere überwinden zu wollen. Eine Antwort kann sein, dass Interesse eben nicht von außen eingepflanzt wird, sondern in menschlichem Handeln immer schon eingebettet ist. Der Subjektbegriff wird mit diesem Gedanken relationiert. Wir sind selbst Teil der Zustände, die wir gestalten. Tätigkeiten und also auch Lernen – das ist vorläufiges Resultat – implizieren emotionale und motivationale, bewertende Kontexte. Die alltägliche Trivialität zeigt z.B., dass Adressaten Lernaufgaben vermeiden, falls sie negative Konse-
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quenzen des Lernens für die eigene Lebensführung in Kauf zu nehmen müssten. Es gibt Risiken durch Lernen, eigene Möglichkeiten einzuschränken: Z.B. waren „Weiterbildungsmaßnahmen“ in den „neuen Ländern“ oft erfolglos, hatten hohe Abbruchquoten und geringen Prüfungserfolg. Die Teilnehmenden entzogen sich, ließen die Dozenten auflaufen und die Kurse scheitern. Dies galt vor allen Dingen dann, wenn formal hoch qualifizierte Teilnehmende eine Bedrohung darin sahen, dass ihre Abschlüsse entwertet und ihre Ansprüche begrenzt würden. Es wurden also vernünftige Strategien der Lernwiderständigkeit entwickelt. Dies gilt im Bereich der beruflichen Weiterbildung immer dann, wenn von außen gesetzte Verwertungszusammenhänge sich gegen die eignen Lernerwartungen richten. Zusammenfassend: Menschliches Lernen findet statt, wenn die Subjekte konfrontiert werden mit Brüchen und Zweifeln in der Handlungsroutine. Man stößt auf Unerwartetes und Überraschendes, nicht Bewältigtes. Die Subjekte entwickeln Interessen, welche ihre Intentionalität ausrichten. Das Neue soll verfügbar gemacht werden. „Ich will das können.“ Eine Handlungsproblematik wird in Lernstrategien umgeformt (Lernschleife). „Ich will das Lernen.“ Brüchig ist allerdings die Hoffnung, dass das Interesse der Kinder „groß zu werden“, eine ganze Schullaufbahn durchhält. Die Lernresultate erweitern das Aktivitätsspektrum der Subjekte. Dies impliziert die Zukunftsgerichtetheit des Lernens als Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten. Das neu Gelernte wird einbezogen in die verfügbaren Handlungsstrategien. Ich kann aber auch entscheiden: Das will ich nicht lernen. Es schadet mir nur. Dann entsteht ein Nichtlern-Interesse. Lernwiderstände sind Belege für das Fehlen von Gründen zu lernen und Ausweis der Unverfügbarkeit des eigenen Selbst. Interesse zu handeln und Interesse zu lernen, kann in Widerspruch geraten. Lerninteressen setzen Interessen zu handeln und damit zu gestalten voraus.
9. Lernwiderstände
Im bisher verfolgten Diskursstrang wird das individualistische und am naturwissenschaftlichen Modell orientierte Konzept des Lernens in drei Schritten aufgebrochen: beim Versuch das Handeln anderer zu verstehen durch Wilhelm Dilthey in seiner Hermeneutik und der anschließenden Phänomenologie Husserls, beim Einbezug gesellschaftlicher Erfahrung im Pragmatismus durch John Dewey und beim Rückgriff auf „Situiertheit“, um die Begründung des Lernens der Subjekte im lebensweltlichen Kontext zu begreifen durch Klaus Holzkamp. Hier liegen die Wurzeln für ein kritisch-pragmatistisches Konzept von „Lernen“, das abzielt auf die bedingte Freiheit des Lernens für mögliche Zukünfte. In der vorherrschenden Bedingtheitsvorstellung bezogen auf die Ursachen von Lernen bleibt rätselhaft, wieso, weshalb und warum überhaupt Nicht-Lernen stattfinden kann. Klärend für die weitere Argumentation kann es sein, in komplementärer Perspektive nachzudenken, weshalb Lernen nicht stattfindet, also nicht nach Lernerfolgen zu suchen, sondern zu fragen, welche Lernwiderstände auftauchen und entgegenstehen. Lernwiderstände sind Ausdruck bedingter Freiheit – Nicht-zu-Lernen (Faulstich/Grell 2005). In den Institutionen und beim Personal des Lernens und Lehrens ist die Klage über Widerständigkeit, Faulheit und Widerborstigkeit der Lernenden weit verbreitet. Aus Sicht des Personals und der Institutionen scheint es nahe liegend, dieses Ärgernis zu bekämpfen. Lernwiderstände erscheinen als Störgrößen im Instruktionsprozess. Es wird dann nach Rezepten gefragt, nach Methoden, um solche Probleme instrumentell zu lösen. Dies folgt aber einer technokratischen Herstellungsillusion – man könne Lernwiderstände verhindern, umgehen oder sogar beseitigen und dann Lernerfolge durchzusetzen. Man sucht nach Instrumenten-Koffern, um die Krankheit des Nicht-Lernens zu heilen. Bekämpft werden allerdings dann nicht die Widerstände, sondern die Nicht-Lernenden. Letztlich erweisen sich solche Ansätze aber als hilflos: Die Lernenden entziehen sich – zumindest zum Teil.
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In den Lernanstalten erscheinen Widerstände als Übel, deren Ursachen aufgespürt, verfolgt und beseitigt werden müssen. Eigensinnigkeit der Lernenden kann nicht zugelassen werden. Diese sind jedoch nicht technisch-instrumentell auflösbar: Instruktionstheorien und Trainingsstrategien greifen zu kurz, und erst, wenn man die Lernenden als handelnde Subjekte versteht, werden ihre Widerstände beim Lernen für sie selbst bearbeitbar. Es gibt Grenzen des Belehrens. Jean Lave hat die alte Vorstellung des „Nürnberger Trichters“, eines Vollfüllens des Gedächtnisses mit Wissen als pipe-line Modell des Lehrens karikiert (Lave 1997, 121) und Klaus Holzkamp hat Illusionen des Belehrens als Lehr-Lern-Kurzschluss kritisiert (Holzkamp 2004): Es bleibt letztlich den Lernenden selbst überlassen, was sie sich wie aneignen. Lernen kann man nur selbst. Insofern gibt es grundsätzlich keine Garantie dafür, dass Vermittlungsstrategien auch die geplanten Resultate erbringen: die Teilnehmenden stellen sich den Aufgaben nicht, sie verweigern sich den Anforderungen, sie unterlaufen, verweigern und mogeln sich durch. Sie lernen eben nicht – jedenfalls nicht, was sie sollen. Es geht dann nicht darum, effiziente Lernprozesse zu postulieren, sondern um die Analyse konkreter Konstellationen, welche Lernen behindern. Wenn wir nach einer tragfähigen Theorie des Lernens fragen, müssen wir die Illusion einer herstellbaren optimalen Lernsituation aufgeben. Dies gilt noch für die raffiniertesten Arrangements. Die Subjekte behalten immer die Möglichkeit, sich dem Lerndruck zu entziehen, auszuweichen und abzudrehen. Als Weg aus der Sackgasse kann man die Forschungsrichtung auf Lernwiderstände umlenken. Unsere Hamburger Studie über „Selbstgesteuertes Lernen und soziale Milieus“ setzte deshalb an bei der Frage nach den Gründen – d.h. den kognitiven Aspekten des Sinns und der lenkenden Interessen – der Personen nicht zu lernen (Faulstich/Grell 2005; Grell 2006). Dabei sind externe Faktoren keineswegs unwichtig. Sie werden allerdings erst bedeutsam, indem sie für die Lernenden relevant werden – sozusagen beim Durchgang durch die Individuen. Auf Seiten der Personen existieren Gründe, zu lernen oder nicht zu lernen; diese Gründe sind eng an die biographischen Erfahrungen und Erwartungen sowie Interessen gebunden. An einem banalen aber einsichtigen Beispiel veranschaulicht, bei dem ich mich „oute“: Ich selbst bin – jedenfalls in meiner Außendarstellung – unfähig im Büro mit der vorhandenen Maschine Kaffee zu kochen. Wenn ich das nämlich könnte, müsste ich Kaffee kochen. Wenn ich es aber nicht kann, wird für mich erfreulicherweise der Kaffee mitgekocht. Ich kann also auch Interesse bzw. „gute Gründe“ haben, etwas nicht zu lernen (Faulstich/Grell 2003), also Lernwiderstände zu entwickeln. In unserer eige-
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nen Selbsterfahrung erzeugt „Lernen“ durchaus ambivalente Gefühle. Einerseits kann Lernen Freude machen und Erfolg bringen. Wir entfalten uns. Wir eignen an. Wir lernen lebenslang. Wobei die letzte Formulierung schon ins Zwiespältige, sogar Negative kippt. Im Kontext „lebenslangen Lernens“ tauchen Probleme auf: „Jetzt soll ich ja schon wieder lernen.“ „Hören die Lernzumutungen nie auf?“ oder „Mit Lernen wird man nie fertig“. Lernen wird dann als von außen gesetzte Anforderung erfahren. Insofern schwingen andrerseits Angst, Druck, Last, Überforderung, Fremdbestimmung und Anpassung mit. Lernaufgaben unterliegen dem Zwang „lebenslänglich“ zu lernen. Die Institutionen des Lernens und ihr Personal erzwingen Disziplin hin zu Anpasserei und Strebertum und erzeugen Repression durch Prüfen und Auslesen. Opponierend zur offiziell positiven Lesart, ist „Lernen“ gleichzeitig negativ besetzt. Wenn wir an die eigene Schulzeit denken, ist mit Lernen oft die Erfahrung von Unsinnigkeit, von Willkür, auch von Gewalt, von Versagen verbunden. Negative Erfahrungen mit Lernanforderungen beziehen sich auf die Lernschranken, die durch die Institutionen und das Personal errichtet werden. Ein Abschnitt aus den „Flüchtlingsgesprächen“ von Bertolt Brecht ist vortrefflich geeignet, dies zu illustrieren. Die Situation ist folgende: Zwei Deutsche befinden sich im Exil, einer ist ein Intellektueller, Ziffel, und der andere ein Vertreter der Arbeiterbewegung, Kalle. Ziffel hat seine Schulerinnerungen aufgeschrieben: „Ich weiß, dass die Güte unserer Schulen“ – oder Weiterbildungseinrichtungen oder Hochschulen – „oft bezweifelt wird. Ihr großartiges Prinzip wird nicht erkannt und nicht gewürdigt. Es besteht darin, den Menschen sofort in die Welt, wie sie ist, einzufügen. Er wird ohne Umschweife, und ohne dass ihm viel gesagt wird, in einen schmutzigen Tümpel geworfen: schwimm, oder schluck Schlamm! Die Lehrer“ – auch Weiterbildungsdozenten und Professoren – „haben die entsagungsreiche Aufgabe, Grundtypen der Menschheit zu verkörpern, mit denen es der junge Mensch später im Leben zu tun haben wird. Er bekommt Gelegenheit, vier bis sechs Stunden am Tag Rohheit, Bosheit, Ungerechtigkeit zu studieren. Für solch einen Unterricht wäre kein Schulgeld zu hoch, er wird aber sogar unentgeltlich, auf Staatskosten geliefert. Groß tritt dem Menschen in der Schule in unvergesslicher Gestaltung der Unmensch gegenüber. Dieser besitzt eine fast schrankenlose Gewalt. Ausgestattet mit pädagogischen Kenntnissen und langjähriger Erfahrung erzieht er den Schüler zu seinem Ebenbild. Der Schüler lernt alles, was nötig ist, um im Leben vorwärts zu kommen. Es ist dasselbe, was nötig ist, um in der Schule vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschung von Kenntnissen, Fähigkeit, sich ungestraft zu rächen, schnelle Aneignung von Gemeinplätzen, Schmeichelei, Unterwürfigkeit, Bereitschaft, seinesgleichen an Höherstehende zu verraten usw. usw. Das wichtigste ist doch
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die Menschenkenntnis. Sie wird in Form von Lehrerkenntnis erworben“ (Brecht 1967, Bd.14. 1401-1402) Wir erinnern uns bei dieser Karikatur vielleicht an unsere eigenen Lehrer, vielleicht jedoch auch daran, dass unsere Lehrer das Gegenteil des Unmenschen waren, sondern hilfsbereit, unterstützend, anregend, herausfordernd und klug. Pauker-Sein ist keine feststehende Eigenschaft eines Lehrers, sondern vor allem Konsequenz des Lernens in institutionalisierten und selektiven Lehranstalten. Aber bei den Lernenden, die durch diese Schule gegangen sind, gibt es eben vielfach und ganz offensichtlich Lernwiderstände – und zwar berechtigt (vgl. Faulstich/Grell 2005). Erst die Flucht aus der Anstalt entzieht die Gefangenen – das sind Lehrende und Lernende – unterwerfenden Machtverhältnissen. Um die verschiedenen Erscheinungsformen von Lernwiderständen zu fassen, kann man die Phänomene zunächst plausibel systematisieren: bezogen auf Medien und Materialien, bezogen auf Dozenten und Betreuende, bezogen auf die Gruppe, bezogen auf den Lernraum und bezogen auf den Zeitrahmen. Zu den Lernwiderständen, die sich an Medien, Materialien oder den Gegenständen entzünden, gehören bspw. Phänomene wie Blockieren („Da hab ich das Gefühl, ich verstehe gar nichts!“), schlagartige Müdigkeit bei der Zuwendung zum Stoff („Da denke ich, ich kann noch was tun, aber kaum guck ich in die Hefte, bin ich sofort müde.“), angstvolles Ablehnen eines Mediums („Mit dem Computer, da hab ich immer Angst, was kaputt zu machen.“) oder Konzentrationsverlust („Meine Gedanken fangen immer an herumzuflattern, wenn ich in die Bücher schaue.“) oder als Alternativtätigkeiten („Jedes Mal wenn ich lernen soll, geht der Kühlschrank auf.“). Gemeinhin gilt die Aufmerksamkeit den Widerständen, die sich in der Interaktion mit Lehrenden zeigen. Hierzu gehören bspw. Ignorieren des Dozenten; auflaufen lassen; dasitzen und überhaupt nichts mehr sagen; wütende Beschimpfungen; Streit, der offen ausbricht oder verborgen bleibt; aber auch der entgegengesetzte Versuch, Vertraulichkeit aufzubauen. Ein weites Feld von Lernwiderständen sind Interaktionen in der Lerngruppe. Erscheinungsformen sind hier: Ablenken anderer Teilnehmenden; bewusstes Behindern des Lerngeschehens in der Gruppe oder Abspalten in Teilgruppen; die Gruppe anstiften; die Lerngruppe als Widerpart zu Lehrenden aufzubauen: „Lehrer sind natürliche Feinde der Schüler“. Ebenfalls als Widerstandsphänomene sind solche Handlungen zu begreifen, die sich auf den Raum beziehen, bspw. das Zerstören von Inventar; Schütten von Kaffee auf die neuen Teppiche; auch das bewusste oder auch das beiläufige Beschädigen richtet sich gegen die festgesetzte Ordnung.
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Im Kontext von Zeit und Zeitstrukturen erscheinen Lernwiderstände in Form von Zu-spät-Kommen, Verlängern der Pausen, am vorgegebenen Ende einer Veranstaltung den Stift lärmend fallen lassen usw. Es ist wichtig, dies – wie all die anderen Phänomene auch – nicht lediglich als fehlende Disziplin oder gar Unfähigkeit zu interpretieren, sondern als möglichen Ausdruck von sich entzündendem Widerstand zu sehen. Die Redeweise, „Lernwiderstand entzündet sich“, trifft. Denn tieferliegende Gründe und aufscheinende Phänomene fallen nicht zusammen. Das Material, der Dozent, der Raum usw. sind nicht die Begründungen der Widerstände. Sie entstehen durch mangelnde Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit sowie fehlende Gründe – auch wenn diese durch auslösende Bedingungen von den Personen, Medien oder Materialien erst provoziert werden. Bei Lernenden, die durch eine von Lehrtyrannen beherrschte Schuldisziplin gegangen sind, gibt es eben vielfache, berechtigte Lernwiderstände. Die Lehrerschelte ist vielfach einbezogen in Institutionenkritik, wenn man sich Zustände in Schulen, Lehrlingsausbildung, Hochschulen oder Weiterbildungseinrichtungen vor Augen hält. Die Disziplinanlagen des Lernens – deren Prototyp die Schule ist, deren Zwangscharakter sich aber zum Beispiel in „Maßnahmen“ beruflicher Weiterbildung sogar noch potenziert – kontrollieren die Lernenden, indem sie diese in Zeit und Raum fixieren: Gleichlauf von Lernzeiten und Lerngeschwindigkeiten wird vorgegeben, um Ordnungen durch Dressur zu erzwingen; Schulungsräume und Trainingszentren erzeugen Klausur und Isolation, indem sie Lernen und Anwenden trennen; zwischen Unterrichtenden und Lernenden besteht eine Hierarchie durch Vorwissen und Status; Noten bezwecken Selektion. Für Michel Foucault – auf den auch Holzkamp (1993) zurückgreift – sind dies in „Überwachen und Strafen“ Beispiele für „eine Mikrophysik der Macht, die von den Apparaten und Institutionen eingesetzt wird“ (Foucault 1977, 38). Angesichts dieser radikalen Kritik institutionell und personell kontaminierter Lernverhältnisse wird es unabwendbar, nach den Begründungen von Lernwiderständen (Faulstich/Bayer 2006) zu fragen. Egal ob am Lernort Schule oder beim Lernen am Arbeitsplatz: Es spielen beim „lebenslangen Lernen“ keineswegs alle mit. Die Zahl der Schulschwänzer ist erheblich, die der Ausbildungs- und der Studienabbrecher steigt, Nicht- oder Nie- Teilnehmende bei Weiterbildung entziehen sich Lernanforderungen (Bolder 2006). Die „Lernwiderständigen“ sind zum einen durch fehlende Ressourcen von Zeit und Geld gekennzeichnet; es besteht ein Belastungssyndrom: Zum andern entziehen sie sich aber auch deshalb, weil sie keinen Sinn in Lernbemühungen sehen. Es gibt für sie keine positiven Erwartungen darüber, was nach Lernan-
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strengungen in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert wäre; es besteht ein Sinnlosigkeitssyndrom. Insofern haben sie eine berechtige Zurückhaltung, da Begründungen für Lernen ihnen selbst fehlen – also entwickeln sie begründete Lernwiderstände. Sie werden dann als „Benachteiligte“ oder gar als „Lernbehinderte“ ausgegrenzt und als Problemgruppe bezeichnet, also etikettiert und dann stigmatisiert. Für sie selbst aber gilt eine berechtigte Zurückhaltung, da Anlässe z.B. für eine Weiterbildungsteilnahme fehlen oder Nachteile drohen. Betrachtet man die Gruppe der Nicht- und Nie-Teilnehmenden genauer (Schröder u. a. 2004), unterscheiden sie sich von den Teilnehmenden an Weiterbildung zum einen durch fehlende Ressourcen an Zeit und Geld. Die Möglichkeiten, sich an Lernangeboten zu beteiligen, sind begrenzt; sie sind hemmend und beschränkend. Gleichzeitig aber – und meines Erachtens zentral – ist zum andern die Tatsache, dass die Nichtteilnehmenden den Lernanforderungen keine Bedeutung für sich selbst beimessen; sie erscheinen sinnlos. Also begründen sich Lernwiderstände vernünftig. Die Gründe sind mit biographischen Erfahrungen und Erwartungen, Einbindungen und Interessen verbunden. Sie sind entstanden aufgrund von Hemmnissen, ausgehend von den sozialen Milieus, in welchen der Habitus der Individuen sich konstituiert hat, und sie sind bezogen auf Schranken, welche durch den Kontext der Institutionen des Lehrens und Lernens entstehen (Faulstich/Bayer 2006, 20). Hemmnisse und Schranken werden aber erst wirksam durch ihre Erfahrung, Deutung und Bewertung durch die mit Gründen handelnden Personen. Aufbauend auf die theoretischen Konzepte des intentionalen Lernens sowie der Unterscheidung von defensivem und expansivem Lernen, können wir eine Systematik der Hintergründe und Entstehungszusammenhänge von Lernwiderständen erstellen. Die Systematik differenziert drei verschiedene Bereiche: Gründe, Hemmnisse und Schranken. Die zentrale Perspektive zum Begreifen von Lernwiderständen ist – dem Begründungsdiskurs folgend – die Frage nach dem Sinn bzw. unter kognitiver Perspektive – nach den Gründen, und zwar nicht nur nach Gründen für Widerstände, sondern auch nach fehlenden Gründen für Lernen. Formelhaft: Wenn der Lerngegenstand aus Sicht der Lernenden bedeutsam ist, haben sie Gründe zu lernen, fehlt die Bedeutsamkeit des Gegenstands, gibt es gute Gründe, nicht zu lernen, sondern bestenfalls die Situation zu bewältigen (erinnert sei an die Unterscheidung expansives Lernen – defensives Lernen (s.o. Teil 4.3). Bedeutsamkeit lässt sich in diesem Kontext übersetzen mit den Fragen: „Macht es überhaupt Sinn, dieses Angebot wahrzunehmen?“ „Lohnt es denn, meine Zeit, mein Geld, meinen Fleiß in diese Lernanstrengung zu stecken bezogen auf das, was am Ende
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dabei herauskommt?“ „Ist das für mich unter den derzeitigen Bedingungen sinnvoll?“ Wenn zwischen dem Aufwand, den ich zu betreiben habe, und dem, was für mich herauskommt, eine Diskrepanz besteht, wenn die Sinnhaftigkeit von Lernanstrengungen und Lernbemühungen nicht gegeben ist, dann sind Lernwiderstände berechtigt. Wie wir als Lernende entscheiden, welche Maßstäbe wir anlegen, um festzustellen, ob das Verhältnis von Lerneinsatz und Lernerfolgen akzeptabel ist, hängt von unseren biographischen Erfahrungen, von den Einstellungen und Interessen ab. Es handelt sich dabei um Werthaltungen, die sich als geronnene Erfahrungen in Lebenszusammenhängen gebildet haben. Man darf die biographisch gebundenen Rahmenbedingungen nicht isoliert betrachten, weil die Erfahrungen, die wir machen können, an milieuspezifische Horizonte rückgebunden sind, die als Hemmnisse wirken. Die Einstellungen die wir entwickelt haben, sind nicht keimartig aus uns selbst heraus erwachsen, als wären wir unabhängig von Milieu und Klasse, sondern sie sind in Interaktionen entstanden. Milieuspezifische Hintergründe spielen hier eine wichtige Rolle, sie können hemmend, können auch förderlich sein. Wenn ich bspw. in einem Haushalt aufwachse, in dem ständig das Gespräch geführt wird, in dem Lesen als völlig selbstverständlich angesehen wird, dann habe ich eine andere Werthaltung gegenüber der Tätigkeit Lesen, als wenn ich in einem Umfeld aufwachse, in dem Lesen etikettiert ist mit einem Stempel „Wer liest, ist zu faul zum Arbeiten!“ und Lesen sei nur etwas für die Arbeitsscheuen aus der Intellektuellenszene. Es gilt nach den Gründen und Hemmnissen eine dritte Perspektive aufzunehmen, den Blick zu richten auf die Schranken, die uns die Institutionen aufbürden. An dieser Stelle kommen die Aspekte ins Spiel, die in dem Foucaultschen Modell von „Überwachen und Strafen“ in der „Geburt des Gefängnisses“ (Foucault 1976) aufgeführt werden: Klausur, Isolation, Zeit. Wir nennen dies kontaminierte Lernverhältnisse. Es geht aber in diesem Punkt nicht nur um rigide oder fremdbestimmte Organisationsformen. Die Frage ist auch: Entspricht das Angebot – zeitlich, räumlich, von der Organisation her – unseren Interessen. Die systematische Aufschlüsselung nach Gründen, Hemmnissen und Schranken ist relevant, um nicht nur hemmende oder beschränkende, äußere Faktoren wahrzunehmen und folglich in den Bedingtheitsdiskurs zurückzufallen. Was deutlich wird ist, dass es sich um eine sehr komplexe Konstellation handelt, dass wir, wenn wir über diese Lernwiderstände reden, es nicht nur mit einem großen Phänomenspektrum zu tun haben, sondern auch mit einer komplexen Konstellation von Lerngründen, Lernhemmnissen, Lernschranken, die auf unser Lernen, unseren Lernzugang und ebenso auf unsere Lernwiderstände Einfluss nehmen.
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Lernwiderstände erscheinen auch als Störgrößen im „Innovationsprozess“. Wo alles sich dauernd ändern soll, besteht die Gefahr zurückzubleiben und im Wettbewerb abzuhängen. Dies ist dann ökonomisch und politisch besonders brisant, weil sich der Druck erhöht, marktfähig zu bleiben und für die Arbeitskräfte „Employability“ zu sichern. Aber die Rhetorik des „Lebenslangen Lernens“ greift oft nicht. Lernwiderstände sind dann ein doppeltes Ärgernis: instruktionsstrategisch und innovationspolitisch. Nichtsdestoweniger haben sich alle Versuche, sie zu beseitigen, immer wieder als Sackgasse erwiesen. Es kommt also darauf an, nach angemessenen Erklärungen und Umgangsformen zu suchen. Um sinnvoll mit Lernwiderständen umzugehen, ist es für die Lernenden angebracht, über das eigene Lernen nachzudenken. Dabei fließen Vorannahmen ein, sei es als Meinungen, Gesellschaftsbilder, Alltagsannahmen oder wissenschaftliche Theorie oder als daraus Vermischtes. Wie man am Beispiel des behavioristischen Konzepts zeigen kann, werden in die Lebenswelt einbezogene, abgesunkene Kategorien und Modelle, die sich durch ihre Einfachheit auszeichnen – wie Reiz, Reaktion, Konditionierung – in die Orientierung des Alltagshandelns eingebaut. Damit verstellen sie aber die Einsicht in angemessene Lerntheorien, da sie dort, wo eine Frage steckt, diese mit einem Begriff zudecken. Der Wechsel der Fragerichtung und der Perspektive hin zu berechtigten und begründeten Lernwiderständen ermöglicht es den Lernenden selbst, diese zu reflektieren und ihre eigenen Routinen zu hinterfragen. Es gilt also den Blick zu lenken auf Lernabstinenz, Motivationsverluste, Lernhemmnisse und -schranken, Spaltungslinien und Hürden, kurz auf Widerstände, die keineswegs nur durch individuelle Dispositionen, sondern ebenso durch die bestehenden Strukturen der Lebens- und Arbeitswelt erzeugt werden. Lernwiderstände sind – so verstanden – Versuche, sich selbst nicht aufzugeben, sich nicht herrschenden Anforderungen zu unterwerfen. Die Entscheidung zu lernen oder nicht zu lernen ist Ausdruck der bedingten Freiheit des Lernens selbst. Sie verweist auf Interesse oder Desinteresse am Handlungs- und dann am Lernproblem. Sie ist immer rückbezogen auf das handelnde und lernende Selbst. Lernverhältnisse sind eingebettet in Lebensverhältnisse. Lebensführung als Gestaltung der eigenen Welt ist somit der Versuch, die eigenen Gründe zur Geltung zu bringen und dafür Lernbemühungen zu entwickeln. Herstellen, Bewahren und Verteidigen von Identität erfordert eben auch, nicht jede Anforderung zu akzeptieren. Erst das Verneinen des Unzumutbaren macht frei zu handeln. Für den aufrechten Gang ist es vorausgesetzt, sich auf die Hinterbeine zu stellen, nicht jeder Mohrrübe nachzulaufen – sich zu verweigern.
10. Lebensführung als Lernvoraussetzung
Das Verhältnis von Lernlust und Lernwiderstand, von Lerninteresse und Lernbarrieren trifft eine Pointe kritisch-pragmatistischer Lerntheorie: die bedingte Freiheit zu lernen. Um aber nicht in eine theoretische – individualistische – Schieflage zu geraten, muss man einbeziehen, dass die lernenden Individuen immer in einem konkreten, körpergebundenen und biographischen Kontext situiert sind – also in jeweils bestimmten Lebensverhältnissen lernen. Diese rahmen die Möglichkeiten, unter denen Thematiken des Lernens überhaupt aufgenommen und bearbeitet werden können. Die Trennung von handelndem Subjekt und einbettender Struktur wird im Lernen aufgehoben. In Lernsituationen konkretisieren sich die biographischen, räumlichen, zeitlichen und sozialen Kontexte des Lernens. Es geht stets um Lernen in einer aktuellen Situation in einem rahmenden Kontext. Der Begriff Situation verweist, auch wenn er ohne expliziten Bezug auf ein Subjekt genannt wird, auf ein Situiertes (Nahegelegenes, Betroffenes, Beteiligtes). Situation ist der konkrete, zeitlich, räumlich oder sozial bestimmte Zusammenhang der Bezüge, in denen das Subjekt steht. Aufgenommen wird diese Einsicht in Theorien „situierten Lernens“, wie sie seit Mitte der 1990er Jahre diskutiert werden. Es geht um Aktivitätssysteme, in denen Individuen als Mitglieder sozialer Gruppen partizipieren (Übersicht bei Gerstenmaier/Mandl 2001, 4). Lernen wird aufgefasst als aktive und konstruktive Aktivität und richtet sich auf die Teilnahme der Individuen an Lerngruppen. Es findet in multiplen Kontexten statt. Die – besonders von der US-amerikanischen Ethnologin Jean Lave vertretene – Theorie „situierten Lernens“ beharrt darauf, dass individuelle Aktivitäten und soziale Strukturen untrennbar sind (Lave 1996, 5). Lernen erfolgt als Teilnahme in den Netzen der Lebenswelt. Prozesse des Lernens finden in Kontexten von Aktivitätssystemen statt.
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Klaus Holzkamp hat das in seinen letzten Arbeiten (Holzkamp 1995; 1996) weitergeführt und „Alltägliche Lebensführung“ als Grundkonzept aufgenommen. Er bezieht sich dabei auf die Studien des Münchner Sonderforschungsbereichs „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ (1986-1996) zu Alltag und Lebensführung als Arbeit. Ausgangsfrage der Arbeitsgruppe um den Soziologen Karl Martin Bolte (1925-2011) war, ob und in welchem Ausmaß strukturelle Veränderungen im System der Erwerbsarbeit – z.B. Flexibilisierung von Arbeitszeiten und Rückgang kontinuierlichen Erwerbsbeschäftigung sowie veränderte Lebenspläne und Ansprüche an Beruf und Privatleben (infolge allgemeinen Wertewandels) bisher selbstverständlich erscheinende Grundlagen des Alltagslebens aushöhlen und damit die Stabilität und Kontinuität alltäglicher Lebensführung zum individuellen Problem werden (zusammenfassend: Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ 1995). Das Herstellen von Routinen im Alltag ist demnach eine aktive Leistung der Akteure, die über Freiheitsgrade, also eine relative Autonomie gegenüber ihren Lebensbedingungen verfügen (Holzkamp 1995, 822). Auch diejenigen, die nur vor schlechten Alternativen stehen, müssen sich „im Dickicht der Optionen“ (ebd.) einen Weg bahnen. Lebensführung besteht in integrativer Verarbeitung, d.h. auch Interpretation der Anforderungen verschiedener Lebensbereiche nach Maßgabe ihrer Relevanz für die Aufrechterhaltung des Alltags (ebd.). Sie wird als Vermittlung zwischen Subjekt und gesellschaftlichen Strukturen gedacht. Das Subjekt kann aus den Bedeutungskonstellationen, mit denen es jeweils befasst ist, seine eigenen Handlungsprämissen aufnehmen; seine relative Autonomie besteht gerade darin, nicht durch gesellschaftliche Verhältnisse bedingt zu sein, sondern Freiheitsgrade zu besitzen, Alternativen zu generieren und Optionen zu selektieren. Diese konkretisieren sich auf der Vermittlungsebene zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Handlungsmöglichkeiten als Bedeutungsanordnungen (Holzkamp 1996, 46). Menschliche Individuen leben immer schon in einem gesellschaftlichen Kontext. Zunächst leben sie als Körper, die abgespalten scheinen von der Umgebung. Aber schon hier wird beim Nachdenken deutlich, dass sich Gesellschaft in die Körper eingeschrieben hat. Wir stehen anderen gegenüber – aufrecht oder gebeugt; wir stellen uns dar – als wichtig oder unbedeutend; wir be- und verkleiden uns – als Kaiser oder Bettler. Selbst wenn wir nackt sind, erkennen wir uns. Sogar Scham braucht ein Gegenüber. Lebensführung wird ausgerichtet durch Leibgebundenheit. Wir leben in Räumen und Zeiten; unsere Körper beanspruchen Platz; wir verorten uns durch die Sprache und wir haben als Subjekte eine Lebensgeschichte, die wir als Biographie erzählen. Kontexte sind aber keine fertigen Behälter, in
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denen Interaktionen ablaufen, sondern durch gemeinsame Praxis erzeugte und entstandene Zusammenhänge. Kontext darf also nicht missverstanden werden als Summe der von außen auf das Individuum wirkenden Faktoren. Kontextualismus ist noch nicht die Antwort auf die Notwendigkeit, den Individualismus der Lerntheorie zu überwinden, sondern er akzentuiert die Frage nach der Einheit von Ich und Welt, von Person und Formation der Gesellschaft. Mit der Bezugnahme auf den Leib in seiner Einheit und Doppelheit als Körper und Geist treffen wir auf ein Konzept, das es ermöglicht Identität zu denken. Gleichzeitig erscheint die dialektische Figur des Nicht-Identischen. Der Leib ist mit sich selbst identisch und zugleich gespalten in die Differenz von Denken und Handeln. Die Leibgebundenheit des Lernens ist Grundlage der weiteren Entfaltung (10.1). Körper leben immer in zeitlichen und räumlichen Zusammenhängen (10.2) Die Kontinuität der Situationen werden als Biographie erzählt (10.3), die sich mit steigendem Lebensalter aufschichtet (10.4). Dies alles wäre nicht fassbar ohne Sprache, die Weltzugänge öffnet aber auch einschränkt (10.5).
10.1 L EIBGEBUNDENHEIT
DES
L ERNENS
Wir können nur lernen, weil wir leiblich leben, sowohl denken als auch körperlich, raum-zeitlich vorhanden sind. Wir schweben nicht als Geister über dem dunklen Wasser und spiegeln seine Oberfläche. Menschen sind nicht nur sinnsuchende, vernünftige Geistwesen, sondern auch sinnliche und zugleich herausragende, empfindsame und somit auch verletzliche Körper in Raum und Zeit. Unhintergehbare Voraussetzung menschlichen Lernens ist seine Leiblichkeit. Sie verbindet physisches und psychisches: Wir haben nicht nur Körper; wir sind nicht nur Geister; wir leben und lernen als Leiber. Somit ergibt sich immer eine Bestimmtheit der Körper im Raum und in der Zeit und zugleich eine Gerichtetheit in unserem Leib und folglich eine Sinnlichkeit des Lernens in den Stufen Wahrnehmen, Erfahren, Vorstellen und Begreifen. Schon Wilhelm Dilthey hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der reale Lebensprozess drei zentrale Dimensionen des Weltzugangs umfasst, die über reine Vernunft hinausgehen: Wollen, Fühlen und Vorstellen (Dilthey 1970). Aus der Leiblichkeit menschlichen Lebens folgt eine ursprüngliche, einheitliche, kognitiv-volutiv-affektiv-emotionale Form des Lernens in der Welt – innerer und äußerer, eigener und fremder. Der Begriff des Verstehens als eine Intention des Lernens erhält so eine radikale Ausweitung. Es geht nicht nur um das Verstehen von Wörtern und Sätzen.
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Man muss sich der Tatsache stellen, dass die lernenden „Subjekte“ nicht nur Denkleistungen vollziehen, sondern immer einbezogen sind in ihre Lebenswelt, in ihre Leiblichkeit als Rückbindung und Voraussetzung des Lernens. Weitergehend muss das Nachdenken über Verstehen anerkennen, dass sich Weltzugänge nicht auflösen in Denkvorgänge, sondern ebenfalls unhintergehbar bezogen sind auf die eigene Körperlichkeit. Alles Lernen verläuft vor dem Hintergrund eigener leiblicher Erfahrungen. Die Phänomenologie hat seit Husserl, über Merleau-Ponty bis Waldenfels intensiv über die Unterscheidung und Verbindung von Körperlichkeit und Leiblichkeit nachgedacht. Sie stellt sich der Aufgabe, leibliche Existenz in ihrer besonderen Struktur zu beschreiben und zu erkennen. Es wird eine Differenz aufgemacht zwischen den dinglichen „bloßen“ Körpern und dem fungierenden Leib, der zu etwas da ist, den wir spüren und mit dem wir uns bewegen. Ausgehend von einer Selbstverständlichkeit der Lebenswelt unterscheidet Husserl „rein wahrnehmungsmäßig Leib und Körper“: „Leib nämlich als der einzig wirklich wahrnehmungsmäßige Leib, mein Leib“ (Husserl 1999. Bd. 8, 109). Bernhard Waldenfels bezeichnet den Leib als Umschlagstelle zwischen Natur und Kultur, zwischen Körper und Geist (Waldenfels 2000, Kap. VI). Das hier unterliegende Zerteilen der Ganzheit von Wahrnehmen und Erleben stellt ein Problem dar, zugleich öffnet es aber die Sicht auf einen wichtigen begrifflichen Unterschied. „Die Ausdrücke ‚Leib‘ und ‚Körper‘ bilden ein sprachliches Kapital, das man nicht einfach verschleudern sollte, in dem man vom ‚Körper‘ spricht, wenn man den ‚Leib‘ meint“ (ebd. 15). Die kategoriale Differenz verweist auf die Intentionalität des Daseins, des gelebten In-der-Welt-Seins: „Es ist beim Thema Leiblichkeit also nicht an einen rein physiologischen Bereich zu denken, sondern an das, was überhaupt das Leben in der Welt ausmacht“ (ebd. 16). Dies unterscheidet sich vom körperlichen Vorhanden-Sein. Die Phänomenologie will – gerade indem sie den Unterschied verfolgt –, eine Brücke schlagen zwischen gelebtem Empfinden und erlebtem Erscheinen, zwischen mentaler Selbstgewissheit und physischer Wirklichkeit, um dem Dualismus: hier der Geist und da der Körper, zu entkommen. Es geht nicht um die Dinge an sich, sondern um das, als was sie sich erweisen. Die Dualitäten von Innen und Außen, von Denken und Dasein, von Geist und Körper werden mithin zu unterlaufen und aufzuheben versucht. Bernhard Waldenfels unternimmt es, vor die cartesianische – essentialistische – Spaltung in ein Körperding und ein Geistding zurückzugehen und „Leiblichkeit als ein Drittes“ aufzuzeigen.
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„Leiblichkeit bedeutet also, daß wir auf uns bezogen sind, aber wer auf sich bezogen ist, ist nie identisch mit dem, worauf er bezogen ist, Sehen und Geschehenes und so auch die anderen Sinnesdarstellungen sind immer auf gewisse Weise gespalten. Dies unterscheidet das leibliche Wer von einem bloß körperlichen Was“ (ebd. 260). Der Zugang allerdings ist schwierig nachzuvollziehen. Husserls oft zitiertes Motto „Wir wollen auf die ‚Sachen selbst‘ zurückgehen“ (Husserl 1985, 10) meint nicht eine verkürzte, unmittelbare Sicht auf scheinbar gegebene Tatsachen, die assoziativ oder kausal zusammengehalten werden. Die Phänomenologie will vom den gelebten, also leiblichen, und nicht nur von erlebten, also körperlichen Erfahrungen ausgehen (vgl. diese Unterscheidung bei Muchow/Muchow 1935), und schon gar nicht von gedanklichen Entwürfen. Leiblichkeit ist als ‚mein Leib‘ ein besonders Phänomen. Unsere Auffassung vom eigenen Körper ist gekennzeichnet von einer Verwirrung von medizinischer Realität, also was wir an unserem Körper beobachten und messen, und psychischen Phänomenen, also was wir von ihm spüren. Aber: Die Messdaten eines Patientenblattes sind für den Kranken nicht fühlbar. Und in aller Datenfülle von Blut- und Leberwerten bleibt der leidende Mensch unerreicht. Die Phänomenologie betrachtet den Leib nicht nur als einen – wenn auch einzigartigen – Gegenstand unter anderen, sondern als Grundphänomen, das an der Konstitution aller Einzelphänomene immerzu beteiligt ist (vgl. Waldenfels 2000, 9). Unser Leib kann nur begrenzt zum Gegenstand begrifflicher Aneignung einerseits oder sinnlicher Wahrnehmung andererseits werden. Als widerständige Realität setzt er unserer intentionalen Verfügung Schranken, gehorcht nur zurückhaltend (oder gar nicht) unserem Willen (vgl. Holzkamp 1995, 24/25, sowie 233 ff. im Anschluss an Merleau-Ponty 1966). Mein Leib ist immer mehr und anderes, als ich von ihm erfahren kann. Hier bleibt eine Unverfügbarkeit meines Körpers, die ich in schweren körperlichen Schmerzen zutiefst erfahre. Denken beseitigt das Leiden nicht. Meine Machtlosigkeit und Hilflosigkeit trifft mich im Krankenbett mit aller Gewalt und gleichzeitig bin ich als Patient aus der Kommunikation alltäglicher Lebensführung der Ärzte und Schwestern ausgeschlossen. Ich muss ein neues Bild von mir selbst entwickeln, dass meine Freiheit in Frage stellt und mich zum Opfer macht, Nicht nur Stöhnen oder Schreien, sondern stärker noch die Ohnmacht überhaupt reden zu können, Schweigen zu müssen, drohen mich zu zerbrechen. Der Körper entzieht sich dann dem Geist. Unerträglicher Schmerz ist die brutalste Negation der Subjektivität meiner Existenz (Holzkamp 1996, 73; s.o. Teil 4.3). Auch der Tod eines Anderen, seine Auflösung als Körper und Geist, setzt mir unüberschreitbare Grenzen. Ich kann niemand zurückdenken. Es ist so. Die
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Brutalität des Faktischen setzt die Grenzen unserer Existenz. Der Umgang mit solchen Grenzerfahrungen ist die schwierigste menschliche Lernaufgabe – was als Aussage hohl klingt, aber trotzdem stimmt. In der Welt stehen wir immer leibhaftig, denkend und sinnlich selbst noch da, wo wir scheinbar ganz abgelöst im Nachdenken aus der Welt herausfallen. Weil wir dem Bezug zu anderen nicht entrinnen können, würden wir manchmal aus Scham am liebsten im Erdboden versinken. Das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit bleibt offen: Immer bleibt uns ein Teil unzugänglich, entzieht sich der Körper unseres Einflusses und Zugriffs, wir werden nie ganz Herren der Lage. Aus dem Neben- und Ineinander von Zugänglichkeit und Undurchdringlichkeit unserer Leiblichkeit entspringt letztlich unser Fragen an die Welt, „Unser Leib ist […] Sprungbrett und Fußfessel in eins“ (Meyer-Drawe 2008, 97). In jedem Fall ist uns eine unverstellte Unmittelbarkeit der Erfahrung versagt. Wenn die Welt das wäre, als was wir sie sehen, wäre es wohl auch weniger mühsam, uns in ihr zurechtzufinden, uns nicht in ihr zu täuschen. Der endgültige Wirklichkeitsaufschluss ist eine Illusion, wenn auch eine schwer widerstehliche. Und: „dennoch gibt uns unsere Erfahrung unsere Welt wie kein Denken“ (vgl. Meyer-Drawe 2012, 136). Die Darstellung „Das leibliche Selbst“ von Bernhard Waldenfels (geb. 1934) greift fünf Merkmale auf: 1. Permanenz: die Tatsache, dass der Leib immer da ist; 2. Doppelempfindung, in der Sphäre des Tastens; 3. Affektivität, z.B. beim Schmerz, den man nicht wählt, sondern der sich bemerkbar macht; 4. kinästhetische Empfindung der Bewegung in Raum und Zeit; und 5. der Leib als Willensorgan spontaner Beweglichkeit (Waldenfels 2000, 31-42). Daran schließen sich bei Waldenfels Leitlinien der weiteren Betrachtung an: Ambiguität, Selbstbezug, Selbstentzug und Fremdbezug (ebd. 42-44). Damit will er den Leib nicht länger nur als primär vorgestellten Leib denken, mit bestimmten Merkmalen, die ihn von anderen Dingen unterscheiden und worin den physischen Körperprozessen in dualistischer Tradition psychische Begleitprozesse hinzugefügt werden. Vielmehr soll der Leib als besondere Struktur erfasst werden, „in der zugleich die Struktur der Welt hervortritt“ (ebd., 42). Maurice Merleau-Ponty (1945, dt. 1966) wollte weitergehend das Erfahrbare über das Verstehbare hinaus denkbar machen. In seinem Verständnis besteht im Erleben vom Bewusstsein Undurchdringliches. Er wirft die Frage auf, ob nicht ein intentionales Ich immer verleiblicht sei: „Der Leib ist also kein Gegenstand. Aus demselben Grunde aber ist auch mein Bewusstsein des Leibes kein Denken, ich kann den Leib nicht auseinander-
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nehmen und wieder zusammensetzen, um eine klare Vorstellung von ihm zu gewinnen. Seine Einheit ist eine stets implizite und konfuse“ (Merleau-Ponty 1966, 234). Bewusst-Sein bedeutet für Merleau-Ponty in Erfahrung-stehen und meint ein Kommunizieren mit der Welt und den Anderen. Bezogen auf unser Verhältnis zum Körper würde das dann bedeuten: „ich-bin-mit-meinem Körper“ (in der Welt) und nicht „ich-bin-in-meinem-Körper“. In der Erfahrung wird die Motorik des Körpers als ursprüngliche Intentionalität des Leibes rückübersetzt. Denken wird als leiblich, also gerichtet, aufgefasst. Wenn also Verstehen auf den Leib wie auf das Bewusstsein angewiesen ist, ist der Zugang zur Welt im Bewusstsein gar nicht möglich ohne den Leib. In dieser Auffassung kann es kein Bewusstsein geben, dass sicher sein könnte, nicht einem Irrtum zu erliegen. Denn das Bewusstsein kann nie ganz bei sich selbst sein: „Bewusstsein ist durch und durch Transzendenz“ (Merleau-Ponty 1966, 429). Die Faktizität des Lebens und der Welt ist dabei vorgegeben und bedarf der Übernahme, bzw. der Transzendenz durch die eigene Existenz: „Sehen und Bewegung sind spezifische Weisen unseres Gegenstandsbezuges, und wenn in all diesen Erfahrungen eine einzige Funktion sich ausdrückt, so die Bewegung der Existenz, die nicht die radikale Verschiedenartigkeit der Inhalte einebnet, da sie sie nicht verknüpft durch ihre Unterordnung unter die Herrschaft eines ‚Ich denke‘, sondern durch ihre Orientierung auf die intersensorische Einheit einer ‚Welt‘ hin“ (ebd. 166). Verstehen und damit verbunden auch Lernen sind danach nur möglich, wenn eine Überein-Stimmung von Absicht und Vollzug erfahren wird. Das Aneignen einer Gewohnheit (wie z.B. das Lernen eines Instruments durch Üben) versteht Merleau-Ponty als eine Form des Lernens, die weder nur Wissen ist, noch bloß leibliche Betätigung, sondern die Erfassung einer Bewegungsbedeutung. Der Hochsprung ist nicht bloß motorische Aktivität, sondern er folgt dem psychischen Ablaufplan und physischen Vollzug. Wer die Welt als etwas fertig Gegebenes verstehe, ignoriere – so die leibphänomenologische Position – das Subjekt der Wahrnehmung. Für Merleau-Ponty ist ursprüngliche Wahrnehmung eine prä-objektive und vor-bewusste Erfahrung. die dabei nie neutral – als bloße Transzendenz – als Übergang von Bewusstsein und Sein, sondern immer auch interessenorientiert – als „Intentionalität“ in einem Bezug zur gegenständlichen Welt zu sehen ist. Wenn eine solche Erfahrung der Welt nur mittels unseres Leibes möglich ist und nicht als rein intellektueller Erkenntnisvorgang verstanden werden kann, wenn das Verstehen der Welt auf den Leib wie auf das Bewusstsein angewiesen ist, wird der Leib zur Intentionalität, wie Merleau-Ponty es ausdrückt. Intentionalität ist daher nicht als
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fertige Tatsache zu verstehen, sondern als Geschehen und Verstehen des Leibes. Solange nur bloße Empfindungsdaten wahrgenommen werden, wären diese nur „Träger“ von Bewusstseinszuständen, aber nicht ein intendierter Bedeutungsvollzug (Merleau-Ponty 2003, 10 ff.). „Intentionalität“ (s. o. Teil 8) wird damit nicht als isolierter Akt verstanden, sondern betrifft das Handeln und Verhalten grundsätzlich, ist bezogen auf die Art und Weise, wie ich etwas woraufhin tue. Wie Intentionalität ist auch Transzendenz untrennbar mit dem Leib verbunden. Weil der Leib nie Gegenstand, von mir nie völlig durchdrungen werden kann, ist mein Bewusstsein des Leibes kein Denken, sondern „durch und durch Transzendenz“. Bewusstsein wird damit von Merleau-Ponty als leiblich aufgefasst, als „engagierter Geist“, als intentionale Transzendenz. Der Austauschprozess zwischen Leib und Welt ist ein Lernprozess, der beide Seiten verändert. Nach Merleau-Ponty verweist der Begriff der Transzendenz, als „Vermögen des Über-schreitens“, notwendig auf ein in konkreten Situationen bereits vorgegebenes Sein. Die Vorgegebenheit des Lebens, des Faktischen, bedarf einer Übernahme bzw. einer Transzendenz durch die persönliche Existenz. Das Sehen eines Tisches verbindet die Vorstellung des Tisches und der Erfahrung des Sitzens am Tisch. Erst ausgehend von der Vorstellung eines leiblichen und nicht rein geistigen Bewusstseins, das ausgestattet ist mit der Möglichkeit von Sinnerfahrung durch aktives Transzendieren, bzw. der Aneignung einer vorgegebenen Faktizität oder Situation, wird für Merleau-Ponty erklärbar, dass es auch vorbewusstes Handeln, sogar pathologische Entwicklungen, Neurosen und Selbstentfremdung geben kann. Er betont, dass das Bewusstsein bisweilen aufhören kann zu wissen, was es tut. Am einen Ende dieses Pols stünde dann ein Zerfall des Leibes zum Organismus, dort bliebe der Mensch ganz in dem Leben zurück, welches sich im Wahrnehmen und Erleben erschöpft. Denn wir müssen atmen und uns ernähren, ehe wir überhaupt in ein beziehungsvolles Leben eintreten können. Der Mensch hätte dann zwar das Erleben nicht verloren, aber das Leben eines beziehungsvollen und damit sinnvollen Seins zur Welt: der Leib, der seinen Sinn einbüßt, hört als bald auf, ein lebendiger Leib zu sein und sinkt zurück auf den Stand einer physikalisch-chemischen Masse. Wenn der Lebenszusammenhang in der Gemeinschaft sich auflöst, etwa in Vereinzelung des Alterns, wartet der Tod nicht mehr lange. Wenn also Transzendenz – das Überschreiten unmittelbarer Erfahrung durch Sinngebung – ausbleibt und das Individuum aufhört, sich auf die Welt zu beziehen, fällt der Leib auf die Merkmale des Körpers auseinander, um in die bloße Gegebenheit des Organismus zurückzusinken.
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Somit sind den Menschen weder Selbstverständnis noch das Weltverständnis gegeben – (Woher und von wem auch immer?): sie bedürfen des Verstehens und der Übernahme des Sinns in der eigenen Existenz. Während Husserl davon ausgeht, dass alles Erleben grundsätzlich in seinem Sinn erschlossen werden kann, betont Merleau-Ponty die Unabschließbarkeit des Versuchs, die mit meiner Existenz vorgegebene Besonderheit zu transzendieren. Ein Leib wie andere zu sein in einer Welt, die auch die der Anderen ist, ist die Bedingung der Möglichkeit, mir diesen Leib wie auch diese Welt zu eigen zu machen und zu versuchen, ihr einen Sinn zu entnehmen – also zu lernen. Darin ist aber auch enthalten, dass es nie gänzlich zu einem Eins-Sein zwischen Selbst und Welt kommt – nie ausgelernt wird –, nur zu einer mehr oder weniger gelungenen Aneignung bzw. Sinnfindung und Sinngebung. Die Unvollständigkeit durch fehlende Aneignung und Sinnerfahrung wird selbst wieder leiblich erfasst und Anlass zur intentionalen Ausrichtung der Aktivitäten oder eben auch nicht. Das fühlbar Desintegrierte und das spürbare Unbehagen des „Widerfahrnisses“ (Meyer-Drawe 2008, 104) in der Widerständigkeit der Welt, die sich einem einheitlichen, vorgegebenen Sinn nicht fügt, werden zum Anstoß des Handelns. Lernprozesse kommen – wie Klaus Holzkamp es begrifflich fasst – in Gang vor dem Hintergrund von „Diskrepanzerfahrungen“ (Holzkamp 1993, 212). Nach Merleau-Ponty ist „Leib“ ein „dialektisch-synthetischer Begriff“, womit sowohl die Einheit wie die Unterscheidung im Verhältnis von Körper und Seele verständlich gemacht werden soll. Warum ist es aber nun doch wichtig, auch die Unterscheidung denken zu können? Die Antwort ist: weil es die Unterscheidung im subjektiven Erleben gibt. Im Kranksein zeigen sich die zwei Seiten, wenn sich die „Faktizität meines Körpers“ hinter meinem Leib, meiner „individuell-geschichtlichen Transzendenz“ zeigt. Hier vollzieht sich an mir ein Geschehen, dass sich meiner Verfügbarkeit entzieht, meine Selbstbestimmung muss sich der Physis fügen. „Nur das desintegrierte Bewusstsein kann parallelisiert werden mit ‚physiologischen‘ Prozessen, d.h. mit einem Teilgeschehen des Organismus. […] Wird der Leib auf den Status eines Bewusstseinsobjekts reduziert, so kann er nicht mehr gedacht werden als ein Zwischenglied zwischen den ‚Dingen‘ und dem Bewusstsein, das sie erkennt, […]“ (Merleau-Ponty 1976, 236 f., zit. n. MeyerDrawe 2008, 120). Aus den physiologischen Gesetzlichkeiten der Körperlichkeit allein können wir keine für uns bedeutungsvollen Sinnzusammenhänge erfahren. Die Wahrnehmbarkeit von Temperaturveränderungen, von einwirkendem Druck und Zug oder die Wirkung der Schwerkraft unterliegt den physischen Voraussetzungen
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unseres Seins und der psychischen Erfahrbarkeit als Wärme, Druck und Schwere. Eine Bedeutung erhalten die Wahrnehmungen in einem kontextgebundenen Handlungszusammenhang der Erfahrung und in reflektierender Zuwendung, die jedoch nie zur völligen Transparenz des Daseins führen kann. Die Welt muss ihre Verlässlichkeit einbüßen, um uns fraglich und damit für uns zur Lernaufgabe werden zu können. Nachdenken setzt an bei dem Bruch mit dem Unmittelbaren und dem ausgelösten Lernen. „Bewusstsein von der Welt und Welt selbst bleiben einer vollendeten Synthese beraubt, weil es eines Bruchs mit der Vertrautheit der Welt bedarf, damit ein Bewusstsein von Welt überhaupt entstehen kann“ (ebd. 97). Dabei zeigen phänomenologische Überlegungen, dass es auch eine Sinnbildung gibt, die sich uns unabhängig von einer bewussten Sinngebung vergegenwärtigt: Widerfahrnisse, die uns überraschen, uns stören oder anregen, die vor allem Wissen und Bedenken konkret werden, indem sie erfahren werden. Dazu gehören innere Ambivalenzen und Widersprüche, Momente der Leere, Unkalkulierbares, Unbeschreibliches und Nicht-Verstehbares: „Weder geht ihnen ein intentionaler Akt voraus, noch bilden sie eine Welt ab, die fertig vor ihnen liegt“ (ebd.). Leib-Körperlichkeit (Waldenfels 2000, 252) hat weitreichende Folgen für die Lerntheorie. Auch Klaus Holzkamp hat den raum-zeitlichen Einbezug der Lernenden als „körperlicher Situiertheit“ gefasst – ohne die Differenz Leib-Körper weiter zu beachten. Er meint den Umstand, dass mein Standort sowie meine Intentionalität und Perspektive an jeweils meinen sinnlich vorhandenen Körper gebunden sind (Holzkamp 1993, 253; s.o. 4.3). Durch Herausheben „körperlicher Situiertheit des Lernsubjekts“ verweist er darauf, dass ich in alles intentionale, gedanklich sinnvoll beabsichtigte Lernen auch körperlich einbezogen bin. Auch meine scheinbar bloß mentalen Lernhandlungen bleiben jedoch stets gebunden an meinen Körper an einen bestimmten Ort, zu dem ich mich in der Zeit hinbewegt habe, von mir vollzogen; auch sind in der konkreten Lernsituation stets motorische Aktivitäten oder mindestens Körperhaltungen beteiligt (ebd. 246). Die Bedeutung der Leibkörperlichkeit für Lernen öffnet eine doppelte Perspektive: zum einen zur Vergangenheit als Rückbindung an verflossenen Erfahrungen im Gedächtnis, zum andern zur Zukunft als Möglichkeit neuer Aneignung. Einerseits wird hier ein Bezug zu individuellem Erfahrungslernen hergestellt. Der Leib in seiner Intentionalität ist unhintergehbare Grundlage allen menschlichen Lernens. Angeeignetes Wissen wird inkorporiert. Der Körper als Organis-
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mus ist zugleich Gedächtnis. Damit wird er auch zur Voraussetzung neuen Lernens. Andererseits ist Körperlichkeit durch Lernen eben nicht aufhebbar. Vielmehr ergeben sich Behinderungen, Grenzen der Verfügung, Undurchschaubarkeiten und Widerständigkeiten. Aber auch diese sind zu verstehen, weil Fühlen, Vorstellen und Wollen der je eigenen Körperlichkeit verhaftet sind. Um Lernen zu begreifen, muss dieser Hinweis ernst genommen werden und die Situativität der eigenen Körperlichkeit als unaufhebbar akzeptiert werden. In Lernprozessen baut sich ein Wissen auf, „das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnungen übertragen zu lassen“ (Merleau-Ponty 1966, 174). Den begrifflich fassbaren Kenntnissen ist daher gleichsam ein Wissen des Leibes, der seine Welt nicht als bloßes Gegenüber hat, sondern sie bewohnt, vorgelagert. Wir agieren stets in und mit unserem Leib, der lernt, gelernt hat und weiterlernen wird – oder eben nicht. Dies ist gleichzeitig physisch wie sozial verankert. Pierre Bourdieu hat im Rahmen seiner Theorie des Habitus festgehalten: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wieder betrachtbares Wissen, das ist man“ (Bourdieu 1987, 135). Der Habitus ist Resultat und Horizont von Lernprozessen. Mit dem Habitus-Konzept schließt Bourdieu explizit an die Kategorie Leiblichkeit an. Er verweist auf die „List der pädagogischen Vernunft“, die dafür sorgt, dass sich dem Körper Aktivitätsstrukturen einprägen, die herrschende Ordnungen weitertragen. Im Einüben sozialer Aktivitäten werden gesellschaftliche Strukturen einverleibt und bleiben weitgehend geschützt vor reflektierender Kritik. Der Habitus der Einzelnen sorgt dafür, dass sich soziale Hierarchien und kulturelle Eigentümlichkeiten gegen Variationen hartnäckig halten, weil er bestimmt, welche Aktivitäten den Einzelnen naheliegen oder aber ihnen unmöglich sind. Die inkorporierten Strukturen sozialen Zusammenlebens werden als gesellschaftliches Gedächtnis zur „zweiten Natur“ der physischen Leiber. Durch Gewohnheiten sind wir in unsere Gesellschaft, ihre Traditionen und Gebräuche eingebunden. Dies wird leiblich verankert. Allerdings wird dann auch die Frage nahegelegt: Wann kann der Anker gehoben werden? Wieweit ist der Habitus stabil oder transformierbar? Aus der unaufhebbaren körperlichen Situiertheit der Lernhandlungen ergibt sich, dass „die Überwindung jeder beliebigen Lernproblematik immer auch auf irgendeine Weise die Berücksichtigung der benannten, mit meiner Körperlichkeit gegebenen Verfügungsgrenzen, Behinderungen, Widerständigkeiten, Undurchschaubarkeiten impliziert. Dies gehört in gewissem Sinne zu den Prämissen meines begründeten Lernhandelns, die ich einbeziehen muß, wenn ich mit dem Lernen weiterkommen will“ (Holzkamp 1993, 257).
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Mit der Kategorie Leiblichkeit – angestoßen durch Husserl, fortgesetzt durch Merlau-Ponty und Waldenfels und auch von Holzkamp und Bourdieu wird der Intentionalitätsdiskurs zeitlich und räumlich verortet. Leib ist das Wesen unseres in der Weltseins mit körperlichen und geistigen Bezügen. Aber der in der Leiblichkeit vorgegebene Kontext bricht in konkreten Situationen in Zeit und Raum auf. Der Rahmen des Habitus wird durch Spielräume menschlicher Aktivitäten geöffnet. Nur so kann überhaupt gelernt werden, weil eben nicht alles feststeht, sondern Altes vergeht und Neues entsteht und angeeignet werden kann und muss.
10.2 L ERNZEITEN
UND - RÄUME
Es geht mir um eine Auffassung des Lernens, die die Kontextualität menschlichen Lernens aufnimmt. Menschen lernen nicht im luftleeren Raum (dann sterben sie). Sie lernen nicht außerhalb der Zeit (sonst wären sie tot). Sie leben und lernen immer schon in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Menschliches Lernen ist gekennzeichnet durch die Intentionalität des Leibes. Was wir kognitiv suchen und motivational wünschen, zieht der Leib auf sich. Hier erfahren wir Probleme, Krisen, Diskrepanzen; hier stellen sich Handlungs- und Lernprobleme und entstehen Handlungs- und Lerninteressen. Immer ist der Leib zu einer bestimmten Zeit an einem festgelegten Ort. Menschliches Lernen ist gekennzeichnet durch seine Kontexte in ihrer konkreten raum-zeitlichen Situativität. Der Kontext des Lernens ist jeweils konkret: Lernen braucht Zeit, es findet statt in und beansprucht Lernzeiten. Lernen braucht Raum, es findet statt und geschieht in Lernräumen und an Lernorten. Die Prozesse menschlicher Aktivitäten sind im Raum und gleichzeitig in der Zeit situiert. Lernen erfolgt in räumlicher und zeitlicher Ordnung. Das gilt besonders für die Lehranstalten. Zum Beispiel werden in „Maßnahmen“ der Arbeitsagenturen Lernanforderungen meist von außen gesetzt und Lernen erfolgt, um diese Anforderungen zu bewältigen. Es geschieht das, was man als „defensives Lernen“ bezeichnen kann. Lehrinstitutionen fungieren als Disziplinaranlagen, sie kontrollieren die Lernenden, indem sie diese in Raum und Zeit fixieren. Ein Gleichlauf von Lernzeiten und Lerngeschwindigkeiten wird vorgegeben, Ordnung wird durch Dressur erzwungen. Schulungsräume und Trainingszentren als Lernräume erzeugen Klausur und Isolation, zwischen den Unterrichtenden und den Lernenden besteht eine Hierarchie durch Vorwissen und Status. Zeiten zu Lernen, Lernzeiten werden somit zum Thema auch der Bildungswissenschaft. Es existiert über die Disziplinen verstreut schon lange eine ausge-
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führte „Zeitforschung“. Fast jede wissenschaftliche Disziplin versucht, Zeitfragen in ihrem Begriffsnetz einzufangen. Dies gilt selbstverständlich für die Geschichtswissenschaft; es gilt aber auch für die Soziologie, wo das Verhältnis von Zeit und Gesellschaft bezogen auf temporale Konstruktion sozialer Strukturen breit diskutiert wird und naheliegender Weise für die Ökonomik mit dem Fokus auf das Verhältnis von Arbeit und Zeit. Dass sich auch die Philosophie mit Grundfragen von Zeit beschäftigt, ist sowieso klar. Man muss jedoch feststellen, dass die Erziehungs- und Bildungswissenschaft im Diskurs über Zeit wissenschaftlich bisher kaum eine Rolle spielt. Ausgerechnet hier gibt es eine verbreitete ‚Zeitvergessenheit‘, obwohl sich doch alles Lernen in der Zeit bewegt: in der Kontinuität des Lebenslauf, in Lehrstunden, in exponierten Momenten. Es fließt eine Vielfalt der Zeitbegriffe in die Diskussion ein: – mindestens – ein messbarer und ein erfahrbarer, ein physikalischer und ein biologischer, ein analytischer und ein hermeneutischer, ein positivistischer, ein phänomenologischer und ein pragmatistischer, ein objektiver und ein subjektiver Begriff der Zeit. Insofern müssen wir uns auf die Suche nach einem angemessenen Zeitbegriff begeben, der erlaubt, Lernfragen einzuordnen. Kern der Angelegenheit wird aus dieser Sicht, dass wir Zeit erzeugen durch Tätigkeit, welche Zeit verwendet und beansprucht im Spektrum alternativer Aktivitäten von Arbeiten, Lernen, Spielen usw. Reine Kontemplation kennt weder Raum noch Zeit. Sie ist versunken in Zeitlosigkeit. Erst durch Aktivität, Bewegung bzw. durch Handlung, indem wir eingreifen in die Welt, stellt sie sich uns gegenüber und wir ordnen sie in Vorher und Nachher und in Reihenfolgen. Eine solche Vorstellung von Zeit findet sich in ihrer logischen Struktur schon bei Aristoteles, der dieses Problem vor allem in seiner „Physik“ (Aristoteles 1995, Bd. 6. Buch IV, 10ff.) behandelt. Zeit wird verbunden mit Bewegung. Es findet sich aber angedeutet auch in der „Nikomachischen Ethik“, in der Betrachtung des – wie Aristoteles es nennt – „gerichteten Lebens“ (ebd. Bd. 3, 6). In den Vorlesungen zur Physik bestimmt Aristoteles Zeit als „die Zahl der Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘“ (ebd. Phys. IV 11. 219 b). Der Zeitbegriff ist untrennbar an Veränderungen gebunden. Diese geschehen in der Zeit, aber von der Zeit selbst gilt das nicht. Sie selbst ist keine Bewegung, sondern das Maß der Bewegung. Wenn die Zeit stillsteht, haben Leben und Tod ihre Bedeutung verloren. Zu beachten ist hier, dass Aristoteles den Begriff der Veränderung als grundlegend ansieht und sein Begriff der Zeit dem folgt. Zeit ist ohne Veränderung bzw. Bewegung nicht möglich. Zugleich mit der Bewegung
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außer oder in uns nehmen wir die Zeit wahr (ebd. 219 a S. 3). Die Zeitvorstellung ist die Vorstellung des Früher und Später im Verlauf der Bewegung. Aristoteles selbst hat aber auch die Grundlage für ein anderes Zeitverständnis geschaffen. In der „Nikomachischen Ethik“ ist nicht die abstrakte Bewegung, sondern die konkrete Handlung der Ausgangspunkt (Aristoteles 1995, Bd. 3). Das formale Argumentationsmuster der Entstehung von Raum und Zeit durch die Bewegung kann von da aus weitergehend, statt auf eine physikalische, auf eine pragmatistische Grundlage gestellt werden: Zeit und Raum entstehen durch unsere Tätigkeiten bzw. durch unser ‚in der Welt Tätig sein‘ in einem weiten Sinne (eben auch: reflexiv – sinndeutend, beobachtend; nicht nur sachlich herstellend). Der Stellenwert, den Zeit für das menschliche Selbst- und Weltverständnis einnimmt, bestimmt sich in einem historisch und kulturell geknüpften Netz der praktischen Art und Weise des handelnden Weltumgangs. Damit kommt auch eine gegenüber dem Verlauf der Bewegung veränderte Sichtweise der Zeit ins Blickfeld: im Ereignis des als Gegenwart erlebten Augenblicks. Hinweise auf ein pragmatistisches Konzept der Zeit finden sich dann bei Charles S. Peirce im Kontext seiner mathematischen Studien. Er verortet Handeln im Kontinuum der Momente. Zeiterfahrung erfolgt in den Erlebnissen im Fluss der Zeit. Es ist zunächst ein Fühlen, das die Modi der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – begrifflich noch nicht unterscheidet. Wohl aber liegt dem das Erinnern an Vergangenes und das Erwarten von Zukünftigem zugrunde. Peirce bezieht dies in seine Grundüberzeugung ein, dass Wahrnehmungsurteile unhintergehbar sind. Sie markieren also auch den logischen Ausgangspunkt des zeitlichen Kontinuums. Die Zeit ist Folge einer in den Erlebnissen fortschreitenden Entwicklung. Die altbekannte Paradoxie von Verlauf und Augenblick, von Bewegung und Stillstand – durch Zenon von Elea (490-430) schon als Bild von Achilles und der Schildkröte gefasst – wird aufgelöst durch das Konzept der Infinitesimalität, das Peirce in seinen mathematischen Studien aufnimmt. Wir finden bei Peirce also ebenfalls eine Rückbindung der Zeit an Handlung und an Erfahrung sowie die Unterscheidung von Kontinuum und Moment. Fortgesetzt wird dies im Neo-Pragmatismus bei Richard Rorty (1932-2007), der darauf beharrt, dass Zeit keine subjektunabhängige Realität besitze (Rorty 1989). Alle Erkenntnis unterliege dem Primat der Anschauung und sie sei zugänglich als sinnliche, über Handeln vermittelte Wahrnehmung. Damit ist sie Aspekt eines gegenüber einem naiven Realismus, aber auch bezogen auf einen nur kontemplativen Idealismus völlig veränderten Weltbezugs. Auf diese Grundgedanken kann auch eine kritisch-pragmatistische Zeittheorie zurückgreifen. Wenn man den Begriff des Handelns ins theoretische Zentrum
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stellt, ist dieser zugleich eingebunden in Kontinuität von Vergangenheit und Zukunft, wie auch geöffnet in die Möglichkeiten, die sich im Moment konkretisieren. Ausgerechnet die Bildungstheorie, die es doch mit Entwicklung und Entfaltung zu tun hat, unterschlägt die Tatsache, dass alles Lernen in der Zeit stattfindet. Eine erste Systematik über „Die Erziehung und die Zeit“ findet sich immerhin schon 1964 bei Josef Dolch (1899-1971). Er arbeitet (mit anderer Begrifflichkeit und in anderer Reihenfolge als hier wiedergegeben) vier Aspekte des Verhältnisses zwischen Zeit und Lernen heraus: Erstens geht es um die Geschichtlichkeit der Konzepte von Erziehung, Bildung und Lernen. Es gibt immer schon eine Zeitgebundenheit von Zielen, Inhalten und Verfahren. Häusliche Familienerziehung, bäuerliche Arbeitsvorbereitung, handwerkliche Meisterlehre, industrielle Aus- und Weiterbildung und Kompetenzentwicklung sind offensichtlich dem Wandel des ‚Zeitgeistes‘ unterworfen. Unterstellt wird – zweitens – auch eine Zeitfolge von Erziehung und Lernen. Es wird eine innere Phasenstruktur von Erziehungsmaßnahmen oder Lernschritten unterstellt, die sinnvolle Abläufe begründet. Unterrichtsverfahren oder Instruktionsmethoden bauen darauf oder knüpfen zumindest daran an. „Ein geschichtlich bedeutsam gewordenes Beispiel für den Versuch, für unterrichtliche Maßnahmen die Abfolge in der Zeit sozusagen optimal festzulegen, ist die Lehre von den Lehr- oder Unterrichtsstufen“ (Dolch 1964, 363). Solche Stufen sind dann auch eingebunden in die Lebenszeit der Lernenden. „Eine dritte Überlegungsreihe muß davon ausgehen, daß der Mensch wie jedes anderes Lebewesen eine gewisse Zeitspanne lebt, d.h. daß sein Leben einmal beginnt und auch einmal endet“ (ebd. 366). Riskant ist allerdings – besonders aus Sicht der Erwachsenenbildung – eine starre Zuordnung von Lernmöglichkeiten zu Entwicklungsstufen oder Lebensphasen. Lernen findet – viertens – immer zu einem bestimmten Zeitpunkt von Geschichte und Lebenslauf statt und erstreckt sich in der Zeit aus der Vergangenheit in die Zukunft. Insofern muss man den Zeitverbrauch mitdenken. Dolch verweist auf Rousseau, der mahnte, Kindheit und Jugend nicht nur als Vorbereitungszeit für ein künftiges Erwachsenenleben anzusehen. Schleiermacher hat dann in seinen Vorlesungen von 1820/21 vor der „Aufopferung des Momentes“ (Schleiermacher 2000, 316), nämlich des gegenwärtigen Zeitabschnittes zugunsten späterer Lebenszeit, von der nie feststeht, ob sie wirklich wird, gewarnt und gefordert, dass alle Vorbereitung zugleich unmittelbar Befriedigung und alle Befriedigung zugleich Vorbereitung sein müsse.
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Im Unterschied zu anderen Zeitaspekten ist – fünftens – der Zukunftshorizont von Bildung und Lernen ein durchaus häufiger diskutiertes Thema. Bildung impliziert die Antizipation gelungener Entwicklung. Zukunftsentwürfe von Person und System dienen der Orientierungshilfe und der Sicherungskonstruktion bei der Überbrückung von Kontingenz. Zeit und Biographie sind Momente der Selbstkonstitution und der Identitätsfindung gerade angesichts lebenslanger Diskontinuitäten. „Jeder Moment im Bildungsprozeß und also auch jede pädagogische Handlung enthält, als eines ihrer konstitutiven Elemente, den prinzipiell riskanten Vorgriff auf Künftiges“ (Mollenhauer 1981, 68). Dies ist Ausgangspunkt der Annäherung an die bildungstheoretische Fragestellung mit der Klaus Mollenhauer (1928-1998) „Zeit in Erziehungs- und Bildungsprozessen“ (Mollenhauer 1981) systematisch untersucht. Dies betrifft unterschiedliche Zeithorizonte: „die Ereignisfolgen einzelner erinnerter Handlungen bzw. Interaktionen, die dabei erlebte innere Dauer, die Gleichzeitigkeit unähnlicher und die Ungleichzeitigkeit ähnlicher Situationen, ihre chronologische Staffelung, die erworbenen und auferlegten Zeitschemata der historischen Lage, die Erinnerungsdistanzen über den Lebenslauf usw.“ (ebd. 77). In der Diskussion um „Postmoderne“ und Zeitfragen ist der Zerfall der Zukunft und das Auseinandertreten verschiedener Zeitvorstellungen pointiert worden, die sich auf Subjektivität und Kontextualität – speziell in Lernmomenten und Lernkontinuitäten beziehen. Menschliche Zeit ist kein äußerliches gleichförmiges Maß, sondern hat unterschiedliche Intensität. Sie muss reif sein für ein erfülltes Erlebnis. Die griechischen Mythen haben für die Paradoxie der Zeitvorstellungen zwei Kontrastbilder entworfen: Chronos, der alte Mann mit gestutzten Flügeln und der Sense, dessen Zeit vergangen ist, und Kairos, den Jüngling mit Flügelschuhen, dem Messer, das die Zeit teilt in Vergangenheit und Zukunft auf der Schneide des Augenblicks, und mit der Waage, die von den früheren Ereignissen nach unten gezogen wird. Sie symbolisieren Vergänglichkeit einerseits und die fruchtbaren Moment anderseits. Das wird sogar schon im „Alten Testament“ aufgerufen: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit“ (Das Buch Kohelet (Prediger) 3). Diese Anforderung gilt selbstverständlich auch für Lernhandlungen. Die plötzliche Erkenntnis als Aha-Erlebnis resultiert im Lernerfolg: „Ich hab’s!“ Lernimpulse brauchen den rechten Moment, der sich als fruchtbarer Augenblick erfüllt. Friedrich Copei hat dies in seiner immer wieder zitierten Schrift „Der fruchtbare Moment im Bildungsprozeß“ dargelegt (Copei 1930).
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1964 redet Josef Dolch in diesem Zusammenhang von Optimalzeiten. Dies kann leicht zu rigiden Phasenstrukturen, bezogen auf „Empfänglichkeit oder Leistungsfähigkeit“ (Dolch 1964, 367), führen. Nichtsdestoweniger gibt es immer eine den individuellen Zeitstrukturen folgende Lernbiographie. Es geht also darum, Lernsituationen als Momente in ihrer Temporalität zu verorten. Beim Lernen als besonderer Tätigkeit braucht man weiterhin ein Einlassen auf dessen Eigenzeit. „Lernen, Wahrnehmen, Erinnern sowie Wollen und Handeln sind Vollzüge, die dauern, die Zeit brauchen" (Meyer-Drawe, 2008, S. 130). Prägnant wird das im Wahlspruch des „Vereins zur Verzögerung der Zeit“, bei dem ich Mitglied bin, formuliert: „Du kannst noch so oft an einer Olive zupfen, sie wird trotzdem nicht schneller reif“. Wenn man also an die sinnvolle Gestaltung von Lernzeiten denkt, geht es also erstens um eine Ausweitung und Entlastung von Lernzeiten vor allem gegenüber der Erwerbszeit. Zweitens können aber auch die Lernzeiten wieder unter Zeitdruck geraten, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit zu vermitteln. Und drittens schieben sich zunehmend Erwerbszeiten und Lernzeiten – z.B. bei arbeitsplatznahem Lernen oder Lernen im Prozess der Arbeit – ineinander. Am ausführlichsten hat sich bisher Sabine Schmidt-Lauff in ihrer Habilitationsschrift mit der Frage „Zeit für Bildung“ (2008) kategorial und empirisch auseinandergesetzt. Gegenwärtig gilt allerdings: Der beschleunigte Akkumulationsprozess des Kapitals frisst die Zeit in immer schnelleren Bissen. Sie fehlt für menschliches Lernen. Andere Formen des Lebens brauchen deshalb einen veränderten Umgang mit Zeit. Und sie stoßen dazu an, die Formen der Aneignung von Raum zu hinterfragen. Leiblichkeit steht zugleich gebunden in Zeitlichkeit wie auch verortet in Räumlichkeit. Meistens denkt man, wenn nach Lernorten gefragt wird, zunächst an die abgesonderten Institutionen des Bildungswesens in Klöstern, Gymnasien, Lyzeen und Universitäten. Lehrinstitutionen sollen Infrastrukturen, Orte des Lernens bereitstellen. Oft wirken sie aber eher als Lernschranken. Das gilt vom Kindergarten bis zur Universität und auch in den Institutionen der Weiterbildung. Gegen die Gefahr instrumentell getakteten und institutionell beschränkten Lernens kommt die Suche nach alternativen Lernorten in Gang. Lernen findet statt in erlebten und gelebten Räumen. Jedes Individuum befindet sich zunächst als Körper in einer festlegenden Lokalität. Als Subjekte ergreifen sie zugleich den Raum in der Intentionalität ihres Leibes. Dies hat z.B. Martha Muchow in ihrer Studie „Der Lebensraum des Großstadtkindes“ (Muchow/Muchow 1935; Nachdrucke 1978, 1998, 2012) untersucht. Räume werden körperlich wahrgenommen und sie wer-
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den zugleich geistig vorgestellt und leiblich erzeugt. Sie stoßen Erfahrungen an und begrenzen oder erweitern zugleich unsere Möglichkeiten, Welt zu begreifen. Sie öffnen – oder schließen – Wahrnehmungsräume, Vorstellungsräume, Handlungsräume und Lernräume. „Lernort“ meint dann einen konkreten raum-zeitlichen Kontext, in dem Lernen aufgrund körperlicher Anwesenheit angestoßen wird stattfindet. Der Begriff Lernort ist alltagssprachlich eingängig, wissenschaftlich wirft er aber erhebliche Probleme auf. Inwiefern kann zum Beispiel ein Theater, ein Verein oder eine Gemeinde ein Lernort sein? Was macht einen Ort zu einem Lernort, was ist demnach das Besondere eines Lernorts? Oder ist im Prinzip jeder Ort auch ein Lernort? In der bildungswissenschaftlichen Diskussion droht der Begriff ubiquitär zu werden (z.B. bei Egger u.a. 2008). Es wird immer und überall gelernt, – informell und inzident, im Betrieb, mit Medien, im Lebenszusammenhang –, und entsprechend werden immer neue Plätze und Stellen als Lernorte ausgewiesen. Zu Beginn der Lernortdiskussion in den 1970er Jahren wurde der Begriff noch institutionenbezogen bestimmt. Später wird er vor allem dazu genutzt, „außerschulische“ oder „alternative“ Lernorte jenseits der traditionellen Bildungseinrichtungen zu benennen. Dabei geht es in der Diskussion vor allem um sekundäre Lernorte, denen – gegenüber primären Lerninstitutionen, deren Funktion, Intention und Programm auf Lernvermitteln zielen – vorrangig andere gesellschaftliche Aufgaben als die Vermittlung von Lernen zugeschrieben werden (vgl. Faulstich 2009). Erste Impulse erhielt die Diskussion durch die Berufspädagogik bezogen auf den Lernort Betrieb und dann durch den Deutschen Bildungsrat, der in den Perspektiven für die Sekundarstufe II Schule, Betrieb, Lehrwerkstatt und Studio aufzählte (Deutscher Bildungsrat 1974). Selbstverständlich wird an allen Orten alltäglich gelernt. So gesehen gäbe es wohl keinen Ort, der nicht auch Lernort wäre. Damit würde der Lernortbegriff allerdings beliebig und unscharf. Eine solche Ausweitung der Lernortvorstellung ist bildungswissenschaftlich kaum weiterführend. Verdienst eines solchen Ansatzes ist zwar, auf vielfältige alltägliche Lernaktivitäten und auf die Verknüpfung von Lernen mit anderen Tätigkeiten hingewiesen zu haben. Zentral ist aber letztlich die Frage nach lernförderlichen Orten, also nach solchen Orten, wo Thematiken des Lernens umfassender begriffen und Wissensaneignung tiefer erreicht werden kann als durch vereinzeltes Suchen oder auch durch rein unterrichtende Belehrung. Dies bedeutet, alternative Lernorte verstärkt auch unter didaktischen Gesichtspunkten zu betrachten: Welche thematischen Lernanlässe bieten Orte der Lebens- und
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Arbeitswelt? Welche Rolle spielt die sinnliche Erfahrbarkeit für den Zugang zu Lernthemen? Welchen Stellenwert hat dabei die didaktische Inszenierung von Lernmöglichkeiten – also Lehren? Aufgeworfen sind damit die empirisch wenig bearbeiteten Fragen nach der thematischen Relevanz von Lernorten und nach dem Übergang von der sinnlichen Erfahrung zum systematischen Begreifen im Lernprozess, um einen lernwie raumtheoretisch rückgebundenen Ansatz zu entwickeln, der Perspektiven öffnet, um Fragen nach lernförderlichen Orten empirisch zu bearbeiten. Kern ist, dass dabei die lerntheoretisch entscheidenden Fragen nach dem Potenzial an Lernthematiken und der Inszenierung von Lernmöglichkeiten lokal fokussiert werden. Üblich jedoch ist es in traditionellen Konzepten, Lernen als „ortslos“ zu begreifen. Die traditionelle Lerntheorie hat einen unaufgelösten individualistischen und atomistischen touch: Lernen wird bezogen auf einzelne, isolierte Individuen. Es wird kontextfrei modelliert. Lernende werden räumlich und gesellschaftlich isoliert. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Isolationsstrategien, die dazu dienen, die Komplexität des Lebenszusammenhangs auf wenige kontrollierbare Variablen zu reduzieren, ist im Alltagsverständnis immer schon einsichtig, dass menschliches Lernen in sozialen Kontexten stattfindet. Der Begriff Lernort wird dann allerdings meist unhinterfragt verwendet. Häufiger finden sich Versuche, den Begriff Raum zu klären. Wir stoßen auf realistische, topologische, auf relativistische, konstruktivistische, sowie auf phänomenologische, relationale Raumauffassungen. Die Metapher „Lebensraum“ – z.B. bei Martha Muchow (1935) – verankert die Untersuchung des Raumes in praktischen Kontexten. Sie – Muchow – schließt damit an die Konzeption Lebenswelt der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls an, den sie schon in ihrer Dissertation rezipiert hatte (Muchow 1923; vgl. zur Person: Faulstich-Wieland/Faulstich 2012). Weiterführend macht Bernhard Waldenfels ausgehend von seiner Position bezogen auf Leiblichkeit – „Letzten Endes ist der Leib Ausdruck eines Zur-Weltseins meines eigenen Körpers“ (Waldenfels 2000, 115) – eine Differenz auf zwischen „Positionsraum“ und „Situationsraum“: „Die Positionsräumlichkeit verweist auf Positionen, also auf Stellen im Raum, während die Situationsräumlichkeit mit einer Situation zusammenzudenken ist“ (ebd.) – also auf die Intentionalität von Handlungszusammenhängen abstellt. Entsprechend wird eine realistische, topologisch-analytische Behältervorstellung aufgeben, die auf einer Bezugnahme von Stellen im Raum und Körpern beruht und die unterstellt, dass Raum (auch Zeit) unabhängig vom Handeln existiere.
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Diesem Container-Konzept – der Vorstellung, wir lebten in einem vorgegebenen Behälter – gegenüber steht eine relativistische, konstruktivistische Tradition, in der Raum aus den Beziehungen von Körpern abgeleitet wird. Raum ist relativistisch gesehen allein das Ergebnis von Anordnungsverhältnissen in konstruierender Kommunikation. Konstruktivistisch gesprochen heißt das, dass Raum prozessual im Handeln hergestellt wird. Relativistische Modelle räumen dem Beziehungs- bzw. Herstellungsaspekt eine primäre Rolle ein, vernachlässigen aber die strukturierenden Momente bestehender räumlicher Ordnungen. Um die Spaltung in absolutistische und relativistische Standpunkte zu überwinden, richtet ein relational-pragmatischer Ansatz seinen Fokus auf entstehende Ordnungen (s.a. Löw 2001) und untersucht, wie Raum in Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder Vorstellungsprozessen hergestellt wird und sich zugleich als gesellschaftliche Struktur verfestigt und dann erlebt wird. Der Grundgedanke ist, dass Individuen als soziale Akteure handeln und dabei Räume herstellen, ihr Handeln aber zugleich an ökonomische, rechtliche, soziale, kulturelle und letztlich räumliche Strukturen gebunden und von diesen bedingt ist. Räume sind somit Resultat von Handlungen. Gleichzeitig strukturieren Räume Handlungen, das heißt Räume können als Prämissen Handlungen sowohl begrenzen als auch ermöglichen. Leben in Räumen ist Resultat als auch Prämisse des Handelns und somit des Lernens. Raumvorstellungen sind selbst einer dynamischen Veränderung unterworfen. Im Resultat der Beschleunigung der Zeit entsteht eine Raum-Zeit-Verdichtung: Während auf der Ebene der Zeit der Sinn für Langfristigkeit, für die Zukunft, für Kontinuität verloren geht und sich im Augenblick zusammendrängt, wird auf der Ebene des Raums das Verhältnis von Nähe und Ferne immer enger. Zeitliche und räumliche Abstände schrumpfen. Lernen gerät unter Druck: Lernräume werden nur noch ausschnitthaft erfahrbar. Sie verinseln. Räume sind also soziale Konstrukte, die den Kontext herstellen, in dem sich Lernorte konkretisieren. Der Begriff bezeichnet die Verortbarkeit des Lernens im Raum. Diese Abstraktion macht es aber immer noch nicht möglich, die spezifische didaktische Qualität eines Lernorts präziser zu beschreiben, also z.B. nach der Lernförderlichkeit von konkreten Arbeitsplätzen in einem Betrieb oder nach Lernen in Bibliotheken, Museen, Theatern, Zoos, Sportvereinen u.a. zu fragen (Faulstich 2009). Der Lernortbegriff wird erst dann inhaltsbezogen eingegrenzt, wenn Lernorte mit einer wertenden Perspektive auf differenzierte Lernrelevanz verbunden, also auf Lernchancen befragt werden. Statische Ortsvorstellungen sind in Hinblick auf das Lernortproblem nicht weiterführend. Orte sind vielmehr eingebunden in Mensch-Welt-Verhältnisse: sie werden unterschiedlich erlebt und gelebt (vgl. Muchow/Muchow 1935/2012).
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Sie stoßen Erfahrungen an und erweitern oder begrenzen auch unsere Möglichkeiten, Welt zu begreifen. Sie eröffnen – oder verschließen – Wahrnehmungsräume, Handlungsräume und Lernräume. Der Lernortbegriff wird oft dazu genutzt, nicht nur konkrete einzelne Orte zu bezeichnen, sondern Typen von Orten, z.B. Lernort Museum oder Lernort Gedenkstätte oder Lernort Schrottplatz. Die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Lernorten ist zwar unscharf, verweist aber auf erste, aus lerntheoretischer Sicht wesentliche Aspekte, und zwar auf den Inszenierungsgrad bzw. den Institutionalisierungsgrad von Lernmöglichkeiten an Orten, das Maß, in dem ein Lernort sich auf die primäre Funktion, Lernen zu vermitteln, bezieht, also wieweit das offizielle Programm greift. Schule z.B. ist demnach ein primärer Lernort. Die ihr hauptsächlich zugeschriebene Funktion soll die Vermittlung von Lernen sein. Lehrpläne bestimmen Inhalte und Ziele, Zeiten und Orte des Lernens sind festgelegt. Aber die Lernaufgabe – also die Intentionalität der Institution – funktioniert nie vollständig. Immer wird auch gelernt, sich einzuordnen, mit anderen umzugehen, sich angepasst zu verhalten, sich am Unterricht zu beteiligen. Das zeigen z. B. die „Kopfnoten“ der Zeugnisse. Gleichzeitig wird gelernt zu täuschen, anzugeben, scheinbar mitzumachen. Alternativen, sekundären Lernorten werden vorrangig andere gesellschaftliche Aufgaben zugeschrieben. In Betrieben werden Güter und Dienstleistungen erstellt; im Museum geht es um die Sammlung, an Gedenkstätten und Friedhöfen um Erinnerung oder Entsorgung des Todes. Gleichzeitig kann man vieles lernen über Geschichte, über Bräuche, über Biographien, über Ökologie, über Haltbarkeit von Steinen usw. Mit alternativen Lernorten werden verschiedene Eigenschaften und auch Wirkungsvorstellungen assoziiert: Lebensnähe durch das Aufgreifen gesellschaftlicher Kontexte, Anschaulichkeit durch sinnliche Erfahrbarkeit oder verstärkte Möglichkeiten der Selbstbestimmung angesichts geringerer didaktischer Steuerung. Allerdings sind damit viele theoretisch noch ungelöste und empirisch noch zu bearbeitende Fragen verbunden: Welche thematischen Lernanlässe bieten solche unterschiedlichen Orte der Lebens- und Arbeitswelt? Welche Rolle spielt die sinnliche Erfahrbarkeit für den Zugang zu Lernthemen? Welchen Stellenwert hat dabei die didaktische Inszenierung von Lernmöglichkeiten? Unterschieden werden kann als zweite Dimension der Intentionalitätsaspekt bezogen auf die Besucher, das Maß, in dem sich die Lernenden selbst auf Lernthematiken einlassen. Geht man in ein Museum, weil man an der Betrachtung eines Bildes interessiert ist, oder weil es draußen regnet? Will man bei einem Besuch einer KZ-Gedenkstätte an die Opfer erinnern oder über die Geschichte
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des „Dritten Reiches“ lernen? Lerntheoretisch gesehen wird die Bedeutsamkeit von Lernorten durch die Gründe der Lernenden vermittelt. Vor diesem Hintergrund lässt sich hinsichtlich der Vermittlungsleistungen von Lernorten ein Kontinuum mit unterschiedlichen Graden der Inszenierung von Lernmöglichkeiten bezogen auf die Dimensionen Intentionalität und Institutionalität aufmachen (zum lerntheoretischen Kontext vgl. Faulstich 1999; 2008). In dem dadurch aufgespannten Koordinatenfeld lassen sich die verschiedensten Lernorte z.B. Schulen, Museen, Bibliotheken, Science Center, Zoos, Botanische Gärten, Sternwarten, Gedenkstätten, Sportvereine, Stadteile systematisieren. Entscheidend jedoch bleibt die Intentionalität der Lernenden, aus der sich die Lernrelevanz der Orte für die einzelnen ergibt. Sie entstammt der raumzeitlichen Präsenz des je lernenden Leibes. Dieser lebt in historisch-konkreten Verhältnissen. Zusammenfassend: Im Leib treffen sich die Erfahrungen unseres Lebens – Lust und Leid. Er legt die Orte und die Zeiten fest, von denen aus Handeln erfolgen und also auch Lernen möglich werden kann. Weitergehend: Die Erfahrungen in Raum und Zeit sammeln sich im Lebenslauf und werden zur durch Erfahrung gefilterten, ausgewählten und bewerteten Biographie – zur erzählten eigenen Geschichte. Wir legen uns den Verlauf unseres Lebens zurecht, um uns – auch für uns selbst – darzustellen.
10.3 B IOGRAPHIZITÄT
DES
L ERNENS
UND
H ABITUS
Die raumzeitliche Gerichtetheit des Leibes bindet diesen zugleich an Standpunkte innerhalb der Lebensverhältnisse in ihrer Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit. Es geht darum, die Individuen im historisch bestimmten ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Kontext zu begreifen. Hans Blumenberg hat dies unterschieden in „Lebenszeit und Weltzeit“ (Blumenberg 1986). Wichtigste situative Bestimmung menschlichen Lebens und Lernens ist Biographie, das erzählte Leben: Lernanforderungen treffen jeweils auf eine spezifische Konstellation im Lebenslauf. Biographisches Lernen ist zum einen das Lernen aus gesammelten eigenen Erfahrungen und Erfahrungen anderer und zum anderen die Reflexion des eigenen Lebenslaufs. Dies verbindet sich im Konzept Biographie, das meine gegenwärtige Befindlichkeit in Bezug setzt zu ihrer Gewordenheit in raumzeitlich bestimmten Lebensverhältnissen. Klaus Holzkamp bezeichnet dies als „personale Situiertheit“: „Dazu gehören natürlich auch mein Alter, Geschlecht, Wohnort, Beruf, meine soziale Stellung, aber nicht als bloß äußerliche Kennzeichen, sondern einbe-
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zogen in meinen konkreten individualgeschichtlichen Erfahrungshintergrund, von dem aus sie gewichtet, akzentuiert, eingefärbt sind“ (Holzkamp 1993, 263). „Biographie“ thematisiert die Probleme der Temporalität des menschlichen Lebens. Biographische Ereignisse definieren sich demgemäß als wechselnde Positionen im sozialen Raum. Diese Verortungs- und Einordnungsstrategien sind im Wesentlichen Konstruktionsleistungen der Individuen beim Herstellen sozialer Wirklichkeiten. Je nach den unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum leben die Individuen in spezifischen Milieus und entwickeln einen entsprechenden Habitus als aktives Prinzip der Vereinheitlichung unterschiedlicher Lebensbezüge. Das Konzept Biographie verbindet seinem Anspruch nach individuelle und gesellschaftliche Perspektiven. Biographie konzipiert die Aneignung der Gesellschaft und gleichzeitig die Konstitution von Gesellschaft. Subjektivität wird also nicht als autonome Individualität verstanden, sondern als gesellschaftlich konstituiert. Biographische Forschung (zum Überblick: Alheit/Dausin 2002; Felden 2008) setzt bei der subjektiven Perspektive von Sinn an und untersucht biographische Materialien wie Tagebücher, Selbstbilder, Autobiographien oder Transkriptionen von biographischen Interviews. Ziel dabei ist herauszufinden, wie Menschen ihren Lebenslauf interpretieren, d. h. wie sie gesellschaftliche Zuschreibungen aufnehmen, wie sie soziale Regeln und Strukturen reproduzieren oder variieren und wie sie individuellen Eigensinn entwickeln. In biographischen Erzählungen verknüpfen sich informelle, formelle, inzidente, erfahrungsbezogene und alltagsorientierte Lernformen, denn in der Erfahrungsaufschichtung wird keine analytische Trennung vollzogen. Gleichwohl lassen sich hier Verknüpfungsmuster und Faktoren herausarbeiten, die diese ineinandergreifenden Lernprozesse beschreibbar machen. Die Ausbreitung von Patchwork-Existenzen, „Bastelbiographien“ und von „Landstreicher-Moral“ wird in vielfältigen Alltagserfahrungen aufgedrängt. Besonders bei kritischen Lebensereignissen und riskanten Statuspassagen wird deutlich, dass das Konzept „Biographie“ selber fragwürdig geworden ist. Ein Ansatz, der einzelne Konstellationen der Biographie hervorhebt, ist das Konzept der „kritischen Lebensereignisse“ (Filipp 1981) – z.B. beim Verlassen des Elternhauses, beim Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem, beim Wiedereintritt in den Beruf ergeben sich Risikolagen aufgrund des Statuswechsels. Solche riskanten Prozessstrukturen im Lebensablauf sind gekennzeichnet durch große Handlungsautonomie bei gleichzeitig drohenden Kontroll-
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verlusten. Herausforderungen sind dabei nicht die Ereignisse selbst, sondern das Entscheidende ist die Situation, auf die sie treffen. Pierre Bourdieu hat in einem Aufsatz über „Die biographische Illusion“ (Bourdieu 1990a, 76-81) unterschieden zwischen „Lebensgeschichte“ und „Laufbahn“. Er provoziert Misstrauen gegenüber der vertrauten Alltagsvorstellung „Lebensgeschichte“ (ebd. 76) und kennzeichnet sie als „Konstruktion des perfekten sozialen Artefakts“ (ebd. 80). Seine Kritik führt ihn dazu, „den Begriff der Laufbahn (trajectoire) als eine Abfolge von einander durch denselben Akteur (oder eine bestimmte Gruppe) besetzten Positionen zu konstruieren, in einem ‚sozialen‘ Raum, der sich selbständig entwickelt und der nicht endenden Transformationen unterworfen ist“ (ebd.). Gelernt wird in verschiedenen sozialen Feldern und eingebunden in einen relativ stabilen „Habitus“, der die objektive Kategorisierung von Angehörigen sozialer Milieus, und zugleich ein auf die Subjekte bezogenes Konzept kollektiver Dispositionen umfasst. Habitus ist eine strukturierende Struktur als ein Erzeugungsprinzip von Praxisformen und Verhaltensstrategien sozialer Akteure. Die Habitusformation als Biographie entsteht als erfahrenes, sich aufschichtendes Resultat von Lebensverläufen. Demnach ist der biographisch konstruierte Habitus nicht nur das Produkt inkorporierter sozialer Strukturen, sondern zugleich das Erzeugungsprinzip anschließender biographischer Lern- und Bildungsprozesse. Praxisstrukturen werden als Schemata des Handelns, Wahrnehmens, Lernens und Denkens angeeignet und verfestigt. Ein Habitus wird erlernt durch Nachmachen, Abgucken und Mitmachen. Bis in die Kopfhaltungen, Sprechweisen, das Halten von Trinkgläsern und Tassen, den Gebrauch von Messer und Gabel gibt es „Feine Unterschiede“ (Bourdieu 1982). Der erlernte Habitus liefert die generierenden Schemata für den Lernhabitus. Zugleich wird die Konstruktion geöffnet für Habitustransformationen in der Zwischenlage von Stabilität und Flexibilität, von Spielräumen und Rahmenbedingungen. Einerseits ist eine Beharrlichkeit des Habitus durchaus sinnvoll, indem sie den Einzelnen vor beliebiger Manipulation und permanenten Lernzwängen schützt (Bourdieu 1987, 114). Lernwiderstände sind Versuche der Individuen, sich Freiheitsspielräume zu bewahren und wehren Anforderungen rotierender Flexibilität ab. Anderseits kann Stabilität des Habitus inadäquate Strategien fortsetzen und verfestigen, Lernmöglichkeiten abwehren und so zu Zusammenbrüchen führen und in Krisen treiben. Der einverleibte Habitus reagiert in nicht passenden Situationen unangemessen und träge. Das praktisch leibliche Wissen ist nur bedingt verfügbar und zeigt eine relative Trägheit gegenüber den gewandelten Lebens-
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umständen, einen „Hysteresiseffekt“ (vgl. Bourdieu 1982, 237). Der Habitus entscheidet mit „über das, was ihn umformt“ (Bourdieu 2001, 191). Die Veränderungen des Habitus sind nicht vollständig; er ist nicht beliebig und nur langsam dehnbar. Die Spielräume von Veränderungen sind durch Rahmenbedingungen gefasst, so dass die Möglichkeiten des Lernens von neuem relativiert sind. Die „Hysteresis des Habitus“ – Bourdieu nennt öfters Don Quichote als Beispiel eines überholten Menschenbildes in neuer Zeit – ist ein Grund für die Kluft zwischen verpassten Gelegenheiten und ergriffenen Möglichkeiten. Wenn „Habitus ein generatives, einheitsstiftendes Prinzip bildet, das bewirkt, dass der charakteristische Stil einer Person eine Totalität mit je eigener Physiognomie darstellt“ (Bourdieu 1985, 386) umfasst er auch den Modus des Lernens: den „Lernhabitus“ (Herzberg 2004), womit nicht ein eigenständiges Habitus-Segment gemeint sein kann, sondern lediglich ein Fokus zentriert wird. Dispositionen zu Lernen sind also ebenfalls habitualisiert. Bourdieu hat sich intensiv mit der Frage nach den Wechselwirkungen von Habitus und Institutionen des Lernens auseinandergesetzt (u.a. Bourdieu/Passeron 1971). Bildungsinstitutionen reproduzieren und stabilisieren gerade über den Habitus gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheiten. Einerseits werden elitäre Habitusformen belohnt und begründen sozialen Aufstieg, zugleich werden – andererseits – Individuen bestraft und ausgelesen, die mit der sozialen Perspektive des angestrebten und vermittelten Abschlusses unangemessenem Auftreten, Erscheinen, Sprechen usw. ihren Lernweg antreten. Zusätzlich wird durch die „Illusion der Chancengleichheit“ (ebd.) den „Versagern“ die Schuld zugewiesen. Der Habitus selbst ist bereits das Ergebnis eines Lernprozesses. Somit ergeben sich ständig Wechselwirkungen zwischen Lernen und Habitus, die dann zu „feinen“ – oder auch großen – „Unterschieden“ (Bourdieu 1982), HabitusDifferenzen – auch im „Lernhabitus“ – führen. Gerade der Lernhabitus trägt zur Stabilität und Reproduktion vorgegebener Strukturen bei, da sich in ihm andererseits die Potenziale möglicher aktiver Veränderung und Gestaltung konzentrieren. Unterschiede im Habitus machen die Differenz auf zwischen Milieus, die ihre Angehörigen mit der Fähigkeit zu Lernen ausstatten, durch die diese zum Umgang mit sich wandelnden Lernanforderungen ausgestattet sind, gegenüber „bildungsfernen Schichten“, die nicht nur durch Kompetenzdefizite, sondern durch das Manko eingeschränkter Lernfähigkeit benachteiligt sind. Die dadurch auftretenden Lernwiderstände manifestieren sich im Lernhabitus, der grundlegende Lernpotentiale, Lernstrategien und Lernstile ebenso umfasst wie Lernhaltungen, Lerngewohnheiten, Lernbereitschaft oder beschreibbares Lernverhalten. Der Lernhabitus ist nicht nur das Resultat inkorporierter so-
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zialer Strukturen, sondern zugleich Erzeugungsprinzip biographischer Lern- und Bildungsprozesse. In den Diskussionen um die Kluft zwischen Einstellung und Verhalten zum Lernen bzw. von „Bildung und gesellschaftlichem Bewusstsein“ (Strzelewicz u.a. 1966) kann der Rückbezug auf Lernhabitus einiges klären. So kann die oft überaus positive Einstellung zu Bildung einerseits und die immer wieder zu konstatierende Zurückhaltung bezogen auf Lernbemühungen und -anstrengungen als im Habitus begründeter Lernwiderstand begriffen werden. Gerade solche offensichtlichen Ambivalenzen und scheinbaren Inkonsistenzen können den Lernhabitus ausmachen. Deshalb mögen Motivations- und Marketingstrategien kurzfristige Wirkungen haben; sie führen aber keineswegs direkt zu nachhaltigen Änderungen des Lernhabitus. Die Persistenz des Habitus schützt die Identität der Akteure vor beliebiger Manipulation. Der Lernhabitus ist zwar durchaus veränderbar, aber auch Teil der Identität der Lernenden. Damit ist ein Kurs der Lebens- und Lernwege vorgegeben, der nicht beliebig verlassen und schnell verändert werden kann. Demnach lassen sich „Bildungsferne“ nicht einfach durch Köder in Lernanstalten locken. Entscheidend sind permanente Reinterpretation, Selektion und Modifikation, auch Neubewerten und Vergessen von Erfahrungen. Die jeweils aktuelle Vergegenwärtigung stiftet Zusammenhänge und gibt den Zufälligkeiten im Lebenslauf Sinn. Die so immer wieder neu hergestellte biographische Identität richtet die Intentionalität der Weltbezüge aus. Biographische Ereignisse bestimmen sich demgemäß als wechselnde Platzierungen im sozialen Raum. Diese Verortungsstrategien sind im wesentlichen Konstruktionsleistungen im Herstellen sozialer Wirklichkeiten. Gelernt wird in verschiedenen sozialen Feldern und eingebunden in einen relativ stabilen Habitus. Ein Hauptpunkt der anschließenden Diskussion bezieht sich auf die Grade der Festgelegtheit vs. der Offenheit des Handelns bzw. die Flexibilität und Variabilität des Habitus. Dies macht sich dann fest an dem Streit um Identität und Lebensführung. Der Grad, in dem Interaktionen routinisiert ablaufen oder aber aufbrechen, ist ein Maß für die Offenheit bzw. die Festgelegtheit des Habitus. Wäre alles vorbestimmt, gäbe es kein soziales Handeln und keine aktive Gestaltung in der Lebensführung. Auch wäre niemand an irgendetwas schuld. Wir könnten uns zurücklehnen und das bessere Morgen oder den Weltuntergang abwarten. Für lerntheoretische Ansätze wäre eine solche Resignation fatal. Alle Hoffnung auf Entfaltung wäre obsolet. Bildungswissenschaft wäre überflüssig. Sie muss deshalb, schon um ihrer professionalen Identität willen, Offenheit betonen.
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Strukturelle Stabilität gilt auch noch bis in die Theorie des sozialen Feldes, der Milieus. In soziologischer Tradition stehend bindet Bourdieu sozialen Sinn an gesellschaftliche Strukturen. Mit der Theorie des sozialen Feldes trägt er der arbeitsteiligen Organisation moderner Gesellschaften sowie der Ausdifferenzierung und Eigenlogik sozialer Sektoren Rechnung. Innerhalb dieser Kräftefelder geht es um Spiele um Macht und Einfluss. Bourdieu hat – so jedenfalls eine mögliche Lesart der „Trägheit des Habitus“ – die Priorität von Gesellschaftlichkeit nie aufgegeben und Lebensstil als abhängige Größe vom sozialen Milieu konzipiert. Allerdings hat er mit dem Konzept des Akteurs im sozialen Feld die gesellschaftliche Struktur dynamisiert und den Spielraum des Handelns geöffnet. Dies wirft ein verändertes Licht auf Biographie und Sozialisation, „Individuum und Gesellschaft“ (Faulstich-Wieland 2000). Im Zentrum des Individuellen findet sich bereits das Gesellschaftliche. Lernen ist unter dieser Perspektive ein Prozess des gesellschaftlichen Austauschs im Rahmen von sozialen Milieus, von Praktiken, in denen sich der Habitus des Individuums formt und der es untrennbar an das soziale Milieu, aus dem es stammt, zurück bindet. Insofern sind in jeder Biographie Individuelles und Gesellschaftliches unauflöslich miteinander verknüpft. Allerdings bleibt die Aktivität der Subjekte im Habitus-Konzept unterbelichtet und es ergibt sich daraus nur eine Rahmenbindung, die immer Spielräume offen lässt. Offenheit der Biographie macht die Freiheit zu Lernen aus. Was aber sichert die Kontinuität der Biographie? Woher kommt die Vorstellung, wir seien über Jahrzehnte im Kern immer die Gleichen? „Identität“ – als hier auftauchende Problemkategorie (Keupp 1997, 2006) – beruht auf der Annahme, dass menschliche Wesen ein grundsätzliches Interesse daran haben, sich selbst als Einheit zu verstehen: sowohl im Sinne einer Kontinuität ihrer Biographie, als auch im Sinne der Unterschiedenheit von anderen. Bekannt ist der Witz: Ich begrüße morgens mein Gegenüber im Spiegel mit dem Spruch: Ich kenne Dich zwar nicht, aber ich rasiere Dich trotzdem. Wichtig ist die aktive Perspektive von Identität. Klaus Holzkamp hat den Begriff „Lebensführung“ als vermittelnde Kategorie zwischen Individualität und Sozialität zu identifizieren versucht (s.o. Teil 9) und damit diesen Aspekt der aktiven Gestaltung hervorgehoben. Der Kern des Pudels könnte der Gedanke sein – bei Holzkamp nicht so scharf pointiert – dass die strukturalistische Soziologie gemeinsam mit einer kausalistischen Psychologie eine Blindstelle erzeugt, welche einen angemessenen Begriff vom „Subjekt“ verbirgt. Holzkamp verweist, an dieser Stelle Günther Voß (1991) folgend, darauf, „dass das Individuum […] immer über bestimmte ‚Freiheitsgrade‘, also eine relative ‚Autonomie‘ gegen-
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über seinen Lebensbedingungen verfügt, die zwar mehr oder weniger gering sein mögen, aber – weil dann die Lebensführung, sich selbst aufheben würde – niemals gegen Null gehen können. Dies schließt ein, dass die in der alltäglichen Lebensführung vorausgesetzte und angestrebte Routinisierung der Lebensabläufe niemals ein endgültig erreichter ‚stationärer Zustand‘ sein kann, sondern ein mit der Lebensführung aktiv immer wieder herzustellendes und gegen Strömungen verschiedenster Art abzusicherndes Fließgleichgewicht darstellt“ (Holzkamp 1995, 821). Im Konzept „Alltägliche Lebensführung“ wird die praktische Seite des Lebens betont: das was die Menschen tagtäglich tun und wie sie es tun. Unterschiedliche Lebensbereiche müssen zeitlich koordiniert und inhaltlich ausbalanciert werden. Allerdings fehlen im Konzept „Alltägliche Lebensführung“ auf Struktur bezogene Theorieelemente. Diese sind zwar implizit präsent, müssten aber deutlicher herausgearbeitet werden. So mangelt es an einer ordnenden Strukturtheorie, an einer übergreifenden Tätigkeits- und Handlungstheorie ebenso wie an einem hinreichend geklärten Ansatz von Zeitverwendung. „Alltägliche Lebensführung“ bleibt merkwürdig ambivalent bezogen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse; sie erfolgt schwimmend im Fluss des Alltags einerseits, andererseits gibt es das bemerkenswerte Theorem des „Arbeitskraftunternehmers“, das neue Formen der Erwerbsarbeit etikettiert. „Alltägliche Lebensführung“ erscheint über weite Strecken harmonisierend als „Wärmewort“. Es fehlt ein Konzept des Widerspruchs, des Aufbrechens von Routine und des Entstehens von Konflikten. Dies ist in der „Alltäglichkeit“ unmittelbar zu erfahren. Die weiteren Schritte wären also in Richtung einer strukturellen Gliederung der individuellen Einbindung zu machen (s.u. Teil 11.3). Um Lebensläufe in der gegenwärtigen Gesellschaft zu begreifen und Biographien angemessen zu interpretieren, muss ihre soziale Konstruktivität im Rahmen konkreter Sozialstruktur aufgenommen werden. Die strukturellen Differenzen von Klasse, Geschlecht, Rasse aber auch von Alter machen den Rahmen des im Habitus geronnenen Aktivitätspotentials aus. Besonders die Debatte um steigendes Lebens- und Lernalter verweist auf die dahinterstehenden sozialen Konstruktionen von Phasenstrukturen des Lebensverlaufs, der Zuschreibung von Fähigkeiten oder gar Eigenschaften. Wann ist jemand erwachsen? Wann sind Lernende alt? Können sie dann überhaupt noch lernen?
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10.4 L ERNALTER Körperliche und biographische Situiertheit des Lernens fangen uns spätestens mit steigendem Alter ein. Spielräume des Aktivitätspotentials verschieben sich: Mit 20 Jahren gehörte ich im Schwimmsport schon zu den „alten Herren“; früh schon musste ich die Hoffnung aufgegeben, den Weltrekord über 100 Meter zu sprinten. Gleichzeitig steigt aber das Potential verfügbarer Kompetenzen und Ressourcen: Nachdem ich Autofahren gelernt habe, bin ich auf Dauer schneller als jeder Langstreckenläufer. Für das Thema Lernen mit steigendem körperlichem Alter sind die Fragen nach Lebens- und entsprechenden Lerninteressen, nach Möglichkeitsräumen bzw. Grenzen meiner Lernabsichten besonders relevante Momente. Wenn handelnde Menschen als Intentionalitätszentren aufgefasst werden, welche ihre Interessen auf Welt richten, so sind diese immer schon eingebunden in Körperlichkeit und Biographie. Hindernisse beim Lernen können nicht nur aus den Schwierigkeiten der Thematik resultieren, sondern es könnte auch an mir – an meinem Körper – liegen. Es tauchen Zweifel auf: „‚Kann‘ ich dieses oder jenes lernen, heißt so etwa auch: Traue ich es mir von da aus, wo ich jetzt stehe, zu, will ich es mir (noch) zutrauen, d.h. zumuten? Dabei nicht nur: Will ich es überhaupt lernen, sondern: Kann ich es überhaupt lernen wollen? Weiterhin: Ist das, was ich da lernen soll/will, überhaupt ‚mein Ding‘, liegt es mir, steht es mir zu oder an, passt es zu mir? Ist die Zeit dafür nicht vorbei, habe ich die Möglichkeit, dies (noch) zu lernen, nicht endgültig verpasst?“ (Holzkamp 1993, 265). Solche Fragen zeigen, dass es nicht um eine abstrakte Lernfähigkeit geht, sondern um die Sinnhaftigkeit von Lernanstrengungen vom raumzeitlich gefassten Standpunkt der Lernenden selbst bezogen auf spezifische Lerngegenstände. Gleichzeitig wird, wenn es um das Lernen älterer Erwachsener geht, besonders deutlich, dass ein passives pipeline-model (s.o. Teil 4.3; Lave 1997) vom Füllen des Wissens in leere Köpfe skurril ist. Bei Erwachsenen ist von Anfang an klar, dass sie in vielfältigen Kontexten stehen, Situationen unterschiedlich wahrnehmen, Themen unterschiedliche Relevanz zumessen und in ihrer Biographie Vergangenheit verarbeiten. Meint „Erwachsensein“ im Alltagsverständnis zunächst das Ende körperlicher Reifung, wird dies dann auch als Abschluss geistiger Entwicklung unterstellt. Beides ist nicht haltbar: der Körper verändert sich weiter, der Geist kann sich weiter entfalten. Was also ist ein Erwachsener in modernen Gesellschaften? Wenn man über Erwachsene redet, wird dies letztlich nur kulturell und historisch begründbar.
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Die Rolle des Erwachsenen wird Personen zugewiesen, sie ist ein historisch entstandenes und kulturell unterschiedliches Konstrukt: Im Mittelalter anders als heut, auf Papua-Neuguinea anders als in Europa. Erwachsensein kann gefasst werden als: • Zustand körperlicher Reife (Schon hier gibt es kulturelle und individuelle • • • • •
Unterschiede.) Stabilität von Verhaltens-, Erlebens-, Denk- und eben Lernformen (Die aber immer offener werden.) Umgang mit Kindheit und Alter (Wobei die Entwicklungsstufen keineswegs klar sind.) Übernahme von Rollen wie Partnerschaft und Elternschaft (Diese werden durch wandelbare Formen der Geschlechterverhältnisse geprägt.) Erwerb von Pflichten und Rechten (Deren juristische Fixierung verschiebt sich im historischen wie politischen Prozess.) Stehen in Erwerbstätigkeit und wirtschaftlicher Selbständigkeit (Wobei sich dies relativiert durch die Entwicklung der Arbeit und das Verhältnis der Geschlechter.)
Alle diese Konstrukte liefern also keine trennscharfen Einteilungen für Altersstufen. Wenn man versucht, den Kern der Ansätze zu finden, stößt man auf den Entwurf des Erwachsenen als eines selbstverantwortlichen und selbstbestimmten Menschen. Es gibt zugleich eine ganze Reihe hartnäckiger „Mythen vom Lernen“ Erwachsener: Man könne die menschliche Natur nicht verändern: Einige seien und blieben dumm. Man könne Verhaltensweisen nicht aufbrechen: Man könne einem alten Hund keine neuen Kunststücke beibringen. Man könne Wissen eintrichtern: sinnlose Kenntnisse lehren. Lernen sei Sache des Verstandes: körperlose Kopf-Arbeit. Lernen sei entweder Spaß oder aber Zwang. Unterstellt wird immer noch eine Adoleszenz-Maximum-Hypothese: Als Kind lerne man am besten. Das durchschnittliche „geistige Alter“ bleibe bei zwölf Lebensjahren stehen. Außerdem sei Lernfähigkeit eine Sache der Intelligenz und habe mit Emotionen nichts zu schaffen (vgl. auch schon Kidd 1979, 16-21). Bei genauerem Hinsehen, Nachdenken und Überprüfen lösen sich diese Vorurteile auf. Allerdings bedeutet das nicht, dass bei Erwachsenen nicht besondere Lernwiderstände auftreten können. Erwachsenenlernen kommt nicht aus ohne Rückbezug auf Lebens-, insbesondere auf Lernerfahrungen aus Kindheit, Schule,
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Arbeitsplatz, Familie usw. Es ist Anschlusslernen. Erwachsene haben vielfältige, verschiedene Arten und unterschiedlich geordnete Erfahrungen. Aussagen über „Lernfähigkeit“ im Erwachsenenalter müssen Konsequenzen des Biographieverlaufs und körperlicher Alternsprozesse berücksichtigen. Es ist zu unterscheiden zwischen der physischen Dimension des Alterns, der psychischen Dimension des Entwickelns und der sozialen Dimension des Einbezugs. Dies wird nicht von „unten“, der physischen Befindlichkeit determiniert, sondern gerade die soziale Einbettung bewahrt und erweitert sogar körperliche Aktivitätspotentiale. Zu konstatieren ist, dass die Funktions- und Adaptionsfähigkeit des menschlichen Organismus von Kindheit an bis ins hohe Alter große interindividuelle Unterschiede aufweist. Diese beziehen sich auch auf Lernen. Vorgängige Lebens- und Lernerfahrungen wirken fort. Zum einen gibt es eine Lernmüdigkeit, wenn negative Resultate aus schulischer Vergangenheit und milieuspezifischer Kontexte verarbeitet werden müssen. Zum andern entstehen Lernschwierigkeiten, wenn die Sinnhaftigkeit von Lernbemühungen und -anstrengungen nicht nachvollziehbar ist. Daraus ergeben sich Einflüsse auf die Lern- und Gedächtnisleistungen (z.B. Kruse/Rudinger 1997, 63): Störanfälligkeit durch verteilte Aufmerksamkeit, Unsicherheit aufgrund von Versagensängsten, Ausweichen gegenüber Zeitdruck, fehlende Übung, mangelnde Vertrautheit mit den Lernaufgaben, Unüberschaubarkeit der Lernaufgaben, fehlende Erfolgserwartungen, schlechter Gesundheitszustand, Ermattung und Ermüdung. Alle diese Lernschwierigkeiten können jedoch weitgehend kompensiert werden. Entscheidend ist jeweils die Frage, welcher Sinn dem Lernen zugewiesen wird. Meist sind Erwachsene weniger als Kinder bereit sich auf Lernen als sinnlose Zumutungen einzulassen. Lernen im Erwachsenenalter ist stärker noch als in Kindheit und Jugend gebunden an vielfältige Kontexte von Lebensereignissen und Übergängen, von Erfahrungen und Erwartungen. Begründungen für Lernbemühungen ergeben sich aus der Erwartung, die Diskrepanz zwischen dem, was ich kann, und dem, was ich können möchte, aufzulösen. Trotzdem können bei Erwachsenen besondere Lernwiderstände auftreten: Zum einen gibt es eine Lernmüdigkeit, bei der in der eigenen Lernvergangenheit erfahrene negative Resultate verarbeitet werden müssen. Wer in der Schule erfahren hat, dass Unterricht ermüdend und langweilig oder gar erniedrigend ist, wird kaum glauben, dass Lernen auch Spaß machen kann. Zum andern entstehen Lernschwierigkeiten, wenn die Sinnhaftigkeit von Lernbemühungen und anstrengungen nicht nachvollziehbar ist. Lernfähigkeit von Erwachsenen ist besonders an Bedeutsamkeit geknüpft. Man will wissen, wozu eine Lernaufgabe, ein Kurs oder ein Programm gut ist, was es bringt.
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Dies wirft ein grelles Licht auf die Tatsache, dass die Individuen – trotz aller politischen und medialen LLL-Propaganda (life long learning) – letztlich selbst über ihre Lernteilnahme entscheiden. Die Probleme des Lernalters liefern also hervorragende Exempel für die Angemessenheit kritisch-pragmatistischer Lerntheorie. Die wichtigsten kategorialen Bezüge der Lernenden und des Lernens – Tätigkeitsgebundenheit, Erfahrungsbezug, Intentionalität, Kontextualität sowie Sozialität – werden fokussiert. Zugleich wird die Emergenz der Lerntheorien in der Dialektik von Bedingtheit und Freiheit verdeutlicht. Es geht um Bedeutsamkeit für die Lernenden selbst, um Eigensinn und Unverfügbarkeit. Aus fehlenden Lerngründen entstehen – so die Formel – Lernwiderstände (s.o. Teil 9). Diese sind keineswegs immer bewusst, sondern sie schleichen sich ein. Wenn es aber dagegen darum geht, diese zu reflektieren, dann setzt dies die Artikulation im Medium der Sprache voraus. Damit entsteht wieder ein neues Problem: Welche Rolle spielt der Zugang zur und der Umgang mit Sprache beim Lernen? Inwieweit bindet oder öffnet Sprechen den Weg zum Lernen?
10.5 S PRACHGEBUNDENHEIT
MENSCHLICHEN
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Es wäre ein irreführendes Missverständnis, glaubte man in naivem Realismus, Zugang zur Wirklichkeit einfach durch unmittelbare Wahrnehmung zu finden. Es ist eine naive Illusion, man könne lernen, wie es ist. Gerade die Unstimmigkeiten und Diskrepanzen lösen Staunen und Wundern und dann Lernen aus. Die eingefahrene Art und Weise, in der ein Problem gefasst wurde, bricht auf und die Selbstverständlichkeit des Handelns und des darüber Sprechens zersplittert. Gesicherte Erfahrung stellt sich als fragwürdig heraus, weil sie vorab durch fragile Muster des Denkens und Sprechens gefasst wird. Erfahrung wird gefiltert durch Benennung. Die Lernenden treffen auf Gegenstände, die immer schon sprachlich bezeichnet sind. Sinnliche Wahrnehmung wird durch Sprache gefiltert, geordnet oder verdeckt, bevor sie zu begriffener Erfahrung werden kann. Dies gilt sowohl für einen analytischen und systematischen – wissenschaftlichen –, als auch für einen ästhetischen – sinnlichen – Umgang mit Sprache. Sprache verweist auf Beziehungen zwischen den Zeichen (Syntaktik), stellt Bedeutungen von Wahrnehmungen her (Semantik) und gibt Aufforderungen zum Handeln weiter (Pragmatik). Lernen kann erstens sich die unterliegenden Spielregeln aneignen und sie zweitens durchbrechen. Erst wenn durch unerwartete Erfahrungen der eingefahrene Sprachgebrauch irritiert wird, werden auch neue Begriffe konstruiert. Umgekehrt öffnen neue Sprachspiele auch veränderte
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Sichtweisen. Für menschliches Lernen entscheidend ist die Fähigkeit des Gebrauchs und des Umformens der Sprache zur symbolischen Aneignung und Vergegenständlichung. Durch Kommunikation werden Hinweise zwischen den Beteiligten weiterund zurückgegeben. Damit lenkt Sprache die Gesellschaftlichkeit des Lernens. Sie ermöglicht es, kommunikativ in soziale Interaktionen einzutreten. Erst so ist es möglich, teilzuhaben am gesellschaftlich aufgeschichteten Wissen und über die unmittelbare Wahrnehmung hinauszukommen in die Freiheit der Sprachspiele. Sprache als eine Sammlung regelverknüpfter Symbolen ist abgelöst von bloßer Gegenständlichkeit, aber gleichzeitig darauf rückbezogen. In Symbolsystemen lernen Menschen nach den Kriterien der Stimmigkeit, der Wahrheit und der Sinnhaftigkeit. Dadurch werden sie zur Artikulation und Argumentation fähig. Menschen stehen immer in Beziehungen zu anderen. Sie begegnen sich in Gedanken, Wünschen und Gefühlen. Sprache ist Träger sozialer Interaktion. Je besser diese ausgebildet ist, umso differenzierter und kommunikativer können sich Menschen mitteilen und sich erkennen. Erst, wenn ich das Denken des anderen auffassen kann, verstehe ich durch den gemeinsam geteilten Sinn ihn und mich. Erst in dieser Verschränkung kann ich meine eigene Identität aufbauen. Ich lerne, mich selbst als Person zu begreifen, indem ich die Person des anderen anerkenne. Indem ich mich absetze vom Anderen, vollziehe ich einen Prozess der Individuation und finde und stelle meine Identität her. Zugleich gibt es die Rede von „Gefängnis der Sprache“. Was ich nicht benennen kann, verliert Realität. Sprache bekommt eine eigene Kraft der Konstitution der Wirklichkeit durch Benennen und Beschwören. Sie spricht auch über das begrifflich Nichtsagbare. Es gelingt der Sprache der Kunst, das Stumme zum Sprechen zu bringen und sich so dem Verstehen zu nähern. Da unsere Standpunkte niemals gleich sind, da wir getrennt leben in verschiedenen Körpern, ergeben sich Grenzen des Verstehens. Sprachlich gefasste Weltinterpretationen und -konstruktionen unterliegen verschiedenen Perspektiven und deren Verschränkung. Dies impliziert immer das Risiko des Missverstehens. Verstehen meint die Intentionalität eines Handelns oder im besonderen Fall eines Sprechens aus der Sicht der anderen nachvollziehen zu können. Dies ist nur möglich auf der Grundlage eines gemeinsam geteilten Sinns, der Zwischenmenschlichkeit konstituiert. Verstehen beruht also auf einer geteilten Lebenswelt. Unterschiede der Kulturen begrenzen und trennen gemeinsame Standpunkte auch innerhalb einer Gesellschaft. Und sie begründen gesellschaftliche Differenzen und Hierarchien, die über Sprache hergestellt werden. Der Kampf um Konstituierung und Klassi-
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fizierung von Kategorien, um hegemoniale Interpretationen ist ein Element sozialer Konflikte um die Entstehung von Alters-, Geschlechts- und Gesellschaftsklassen, aber auch von Clans, Ethnien und Nationen. Rhetorische Waffen sind dabei Wortverschiebungen, Zuschreibungen, Verleumdungen, Anschuldigungen, Verurteilungen, Klatsch und üble Nachrede, aber auch Kritik und Lob, sowie Polemik und Pathos (Bourdieu 1982, 71). Diese leisen Sprachkämpfe des Alltags werden lautgestellt durch die Macht der Medien. Über Kommunikation hinaus gelten im Sprachgebrauch also immer schon Strukturen von Differenz und Hierarchie durch die Macht der Wörter. Einbezogen sind Sprachspiele in Machtverhältnisse: Selbst die Grammatik liefert keine neutralen, interessefreie Regelsysteme (Bourdieu 1982, 14). Es unterliegen symbolische Ressourcen der Macht, die sich in hierarchischen Differenzen der Sprachkompetenz verfestigen und im Sprachhabitus manifestieren. Sie setzten sich durch über Privilegien oder Sanktionen beim Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen. Die sprachliche Unterscheidung hat gesellschaftlich festschreibende Wirkung. Deshalb ist Sprache ein umkämpftes Feld. Die offizielle Sprache ist normiertes Ergebnis geronnener Machtverhältnisse. Sie bestimmt unsere Erfahrungsfelder und Handlungsspielräume. Jedes Wort, jeder Satz kann konfliktäre, sogar antagonistische Bedeutungen bekommen: „Der ständig drohende ‚Patzer‘, durch die sich ein sorgsam über Strategien wechselseitiger Schonung aufrechterhaltene Konsens im Nu in Luft auflösen kann, gehört zur Logik des verbalen Automatismus, die unter der Hand auf den Alltagsgebrauch und alle damit verbunden Wertungen und Vorurteile zurückführt“ (Bourdieu 1982, 15). Die Fähigkeit des Sprachgebrauchs wird in sozialen Milieus gelernt und im Habitus verankert. Schon in seiner Soziolinguistik verweist Basil Bernstein (1924-2000) – ein während der Studentenbewegung oft gelesener Autor (z.B. Bernstein 1970) – auf die spezifische Sprachkompetenz sozialer Schichten und das Auftreten von Sprachbarrieren. In seiner Defizithypothese unterscheidet er zwischen „restringiertem“ und „elaboriertem“ Sprachcode: Die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht verwenden eine Sprachform, die sich von der Variante der Unterschicht deutlich unterscheidet. Die Art und Weise des Sprachgebrauchs festigt die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung. Die Herrschenden haben deshalb ein Interesse, den jeweils als legitim geltenden Konsens über Wortgebrauch und Sprachregeln festzuschreiben und abzusichern. Der Duden z.B., der unschuldig als Regelwerk der Rechtschreibung daherkommt, ist ein Herrschaftsmittel, indem darin festgelegt wird, was als richtig oder falsch gilt. Das Hegemoniale definiert das Korrekte. Die fortschrei-
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tende Vereinheitlichung der Sprache seit dem 18. Jahrhundert folgt der Logik der Einheitlichkeit des Marktes und überspringt regionale Zonen. Mundartliche und „volkstümliche“ Sondersprachen werden als vulgär etikettiert und kulturell vernichtet. Sprachliche Korrektheit wird zum Instrument gesellschaftlicher Distinktion. Preis ist die Legitimität des jeweiligen Sprachgebrauchs. Als legitim und zulässig gilt – bis hin zu Rechtschreibregeln – die jeweilige hegemoniale Ordnung der Wörter, in der versucht wird zu beherrschen, was als klar, verständlich und zulässig gelten soll. Abweichender Sprachgebrauch in Dialekten, im Jargon oder Patzern wird unterdrückt und mit Entzug der Anerkennung bestraft und als „Kauderwelsch“ ausgegrenzt. Auch der Kampf um Gendersensibilität in der Sprache ist dafür ein Beispiel, Das Überschreiten des vorgegebenen Sprachrahmens ist deshalb auch immer ein Akt der Befreiung. Häretische Diskurse müssen die Festschreibungen und Bejahungen der Welt im common sense und die Sprachordnungen aufbrechen. Das Lernen neuer Wörter erweitert Aneignungs- oder Beherrschungsmöglichkeiten. Wenn ich Weine nicht nur unterscheiden kann nach lieblich oder herb, sondern den Begriffsschatz der Weinkenner gelernt habe, die Fachsprache professioneller Degustatoren, kann ich die Vielfalt der Sinnesempfindungen (Farbe, Geruch, Geschmack) wahrnehmen. Damit ermächtigt der angeeignete Ausdruck, das richtige Benennen zur Teilhabe an der Welt der Weinkenner. Differenziertheit und resultierende Exklusivität gelten auch für die Diskurse der Wissenschaft. Wer nicht publiziert, zitiert und rezensiert wird, wird nicht gelesen, ausgegrenzt, übergangen und vergessen. Das sprachliche Feststellen und Veröffentlichen einer gewonnenen Einsicht verändert wissenschaftliche Geltungsansprüche. Eine veränderte Sicht der Welt braucht immer auch neue Wörter. Der Wechsel der hegemonialen Paradigmen ist zwingend auf einen Umschlag der Regeln der Sprachspiele, aber auch der Dominanz der beteiligten Spieler und ihrer Strategien angewiesen. Nur was sich im Kampf um Anerkennung basierend auf Reputation und gestützt durch Publikation in den Medien durchsetzen kann, hat auch die Chance, gehört zu werden und als legitime Interpretation zu gelten. Wissenschaftssprache ist – als sachlich verhüllt – ein Paradebeispiel der Enkulturation in eine Kommunikationswelt. Allerdings sind auch die komplexesten wissenschaftlichen Konstruktionen letztlich noch rückgebunden in alltägliche (vorwissenschaftliche) Erfahrungswelten. Insofern geht es im Verhältnis von Lernen und Sprache nicht nur um ein Sonderthema, des Lernens einer Sprache, sondern um das Rahmenprogramm des Lernens in der Sprache. Die Lernenden suchen Wörter und kämpfen um Sprache.
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Sie eignen sich die Fähigkeit an, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, zu benennen und auszudrücken. Gelernt werden nicht nur das Benennen von Gegenständen und Sachverhalten, sondern vor allem der Gebrauch der Wörter in der legitimierten, offiziellen Sprache durch autorisierte, d.h. mächtige Sprecher. Die Lernanstalten und besonders die Lehrkräfte haben ganz direkt dazu beigetragen und wirken weiter, die „legitime“ Sprache gegen differente Ausdrucksweisen durchzusetzen. Der Grad des Beherrschens der Sprache ist also eine zentrale Thematik des Lernens. Dabei ist nicht nur Sprachunterricht gemeint, sondern vor allem der Sprachgebrauch in der alltäglichen Lebensführung. Über Sprache wird die Rückgebundenheit in die Differenzen der Milieus hergestellt und zugleich geöffnet. Sprache ist somit auch mitwirkend beim Verorten in der Gesellschaft. Sie formt die Art, wie wir uns selbst denken. Wir äußern uns gegenüber anderen und legen uns selbst damit fest. Kommunikatives und reflexives Sprechen verbinden sich. Allerdings haben gerade die Wissenschaften, die die Reflexion der Sprache disziplinär beanspruchen, deren Zusammenhang mit Gesellschaft kaum bearbeitet. Erst in den 1930er Jahren haben – worauf Thomas Luckmann in der Einleitung zu „Denken und Sprechen“ hinweist (Wygotski 1974, XIII) – Mead und Wygotski in bemerkenswerter temporaler und thematischer Konvergenz umfassendere sprachwissenschaftliche Forschung re-etabliert. Mead widmet sich dabei – wie bekannt – der symbolischen Interaktion, der Kommunikation und der persönlichen Identität, während Wygotski den Diskurs durch den Fokus auf Sprechen bereichert. Lew S. Wygotski versucht nachzuweisen, dass die „äußere“ der „inneren“ Sprache genetisch vorausgeht (Wygotski 1971). Er konzentriert sich in „Denken und Sprechen“ (1974) auf das Verhältnis von Gedanke und Wort und konstatiert ein vorsprachliches Stadium des Denkens (ebd. 291). „Der sprachliche Aufbau ist keine einfache Widerspiegelung des Gedankenaufbaus. Die Sprache ist nicht Ausdruck eines fertigen Gedankens. Wenn sich das Denken in Sprechen verwandelt, strukturiert es sich um und verändert sich“ (ebd. 303). Die zerbrechliche Einheit von Wort und Gedanke wird hergestellt durch ihre gemeinsame Bedeutung. Wygotski reduziert dies allerdings auf „Wortbedeutung“. Damit verschiebt er den Begriff in die Ecke des verallgemeinernden Meinens und übersieht das Feld des besondernden Bewertens. Dagegen muss auch dem Gedanken Bedeutung zugestanden werden, der keineswegs immer sprachlich, sondern auch bildhaft gefasst werden kann.
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Gerade dadurch werden Verschiebungen der Verhältnisse erst möglich. Wygotskis Hauptergebnis steht für die Entdeckung, dass (Wort-) Bedeutungen nicht konstant, sondern genetisch und kulturell veränderbar sind. Die Beziehungen zwischen Gedanken und Wörtern ändern sich – aber eben nicht durch stochastische Assoziationen, sondern im genetischen, praktischen Prozess. Zwischen Denken und Sprechen tritt in einem Wechselprozess das „innere Sprechen“ mit seinem Selbstlauf. Das kommunikative Sprechen vergegenständlicht sich bei der Umwandlung des Denkens in Wort. Im entgegengesetzten Prozess verläuft eine „Verdampfung“ der Sprache im Denken. Aber die Begriffe lösen sich nicht in reinem Geist auf: „Die innere Sprache bleibt dennoch eine Sprache, d.h. ein mit dem Wort verbundenes Denken“. Aber das „innere Sprechen“ ist „nicht Begleitmusik, sondern eine selbständige Melodie“ (ebd. 317). „Doch während sich der Gedanke in der äußeren Sprache im Wort verkörpert, stirbt das Wort in der inneren Sprache und gebiert dabei den Gedanken. Die innere Sprache ist in beträchtlichem Maße ein Denken in reinen Bedeutungen“ (ebd. 350). Sie dirigiert sich selbst als „Beobachtungslenkung“ (Holzkamp 1993, 263). Damit reguliert sie das Lernen über Zulassen oder Ausschließen von Erfahrungsmöglichkeiten. Handeln und Sprechen verläuft demgemäß auf verschiedenen Ebenen, auf denen Lernen angestoßen wird, gleichzeitig – mindestens nämlich als eingreifendes Handeln, als „inneres Handeln“ – also Sprechen, als „inneres Sprechen“, als mitlaufende Selbstvergewisserung und als kommentierende Selbstkommentare. Auf allen diesen Ebenen wird gelernt. Durch das teilweise Ablösen der Ebenen voneinander wird auch ein Selbstlauf des Denkens freigesetzt. In den Elfenbeintürmen werden Begriffsausschneidebögen zurechtgeschneidert und Kartenhäuser aufgerichtet, welche zeitweise vor dem Beben der Wirklichkeit geschützt sind. Sprache ermöglicht demnach einen Weltenbau aus Wörtern. Erfahrung und somit Lernen unterliegen dann also nicht nur „äußeren“, sondern auch „inneren“ Anstößen. Die Verwobenheit von Sprechen und Lernen erzeugt ihre eigenen Muster, welche die Fäden der Erfahrung ordnen. Sprachgebundenes Lernen erscheint als das logisch entfaltetste Niveau menschlichen Lernens. Es setzt ein Selbst voraus, das die Begriffe gebraucht und versteht.
11. Selbst Lernen in Gesellschaft
Die Frage bricht auf, wer oder was denn dieses Selbst sein könne, das da lernt. Sicher ist, dass das traditionelle Konzept eines autonomen Subjekts, das aus Innerlichkeit heraus handelt, nicht mehr begründungs- und tragfähig ist – und es nie war. Es gibt kein menschliches Selbst abgelöst von Gesellschaft. Die Einzelnen sind angewiesen auf die anderen. Es besteht eine unauslöschliche Intentionalität im sozialen Kontakt, in Zusammenarbeit und Zusammenleben. Jemand wird man immer nur gemeinsam mit anderen. „Ich bin“ setzt schon ein „Wir“ voraus. Ernst Bloch (1885-1977) hat dies auf die Formel gebracht: „Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“ (Bloch 1963, 11). Das dunkle Innen des „Bin“, wird zum „Haben“ erst, wenn ich nach außen trete, mich auf andere beziehe und mit ihnen spreche. Dies vollzieht sich in Bewegung, nicht im Sein, sondern im Werden – in der besonderen Veränderung, die Lernen ist. Wie also verbinden sich gesellschaftliche Bestimmtheiten und individuelle Lernanstöße? Eine menschliche Lebensbesonderheit ist der Sprung vom Einzelwesen zur Gesellschaftlichkeit. Es gibt einen Dominanzwechsel von Organismen zu Personen in sozialen Strukturen. Auf der menschlichen Entwicklungsstufe sind Träger des weiterdauernden Wandels nicht mehr nur isolierte Individuen, sondern auch die gesellschaftlichen Beziehungen, mit denen die Einzelnen in unauflöslicher Verbindung stehen. An die Stelle eines naturgeschichtlichen tritt ein kulturellhistorischer Prozess und überformt diesen. Damit wird ein Übergang markiert von dualistischem zu dialektischem Menschenbild. Seit Descartes Meditationen 1641 haben sich die Dualismen von res extensa und res cogitans, von Sein und Denken (Bewusstsein), von Welt und Ich, von Struktur und Subjekt bis tief in die Alltagssprache eingebrannt. Seitdem kann ein Teil der Theorie nur noch in den Kategorien der Differenz denken. Bis
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zu konstruktivistischen Konzepten, z.B. bei Piaget und Glasersfeld, zieht sich diese Linie. Demgegenüber stellt in der Tradition Hegels und Marx die Dialektik der Entwicklung der Individuen im sozialen Kontext eine Identität menschlicher Tätigkeit als Einheit von Ich und Welt wieder her. Der gesellschaftliche Zusammenhang wird konstitutiv für die menschliche Tätigkeit. Fortgesetzt wurde diese Einsicht u.a. bei Mead, Habermas, oder auch bei Bourdieu in seinem Begriff des Habitus. Folglich geht es darum, eine Argumentationsstrategie herauszuarbeiten, welche die individualistische Beschränktheit durchbricht und kulturelle Offenheit aufzeigt. Das Denkmuster, vorzugehen von der Individualität zur Sozialität, kehrt sich jedoch letztlich um in eine Priorität des Kulturellen – dies ist der wesentliche Erkenntnisgewinn bei Wygotski. Die Schranke bloß individueller Erfahrungsgewinnung wird aufgehoben. Erfahrung geht über in einen überindividuellen Prozess gesellschaftlicher Erfahrungskumulation. Erworbenes Wissen und Können geht mit dem Tod der Individuen nicht verloren, sondern wird vergegenständlicht in Materialien, Techniken und Dokumenten in allen gesellschaftlichen Verhältnissen und fortschreitend angeeignet. Das gilt auch für das Lernen. Nachdenken über die merkwürdige Idee des selbstbestimmten Lernens kommt nicht umhin, genauer zu bestimmen, was es mit dem Selbst in der Gesellschaft auf sich hat. Wer ist das Selbst, das da lernt? Und was bedeutet Lernen in Gesellschaft? Aber die Lerntheorie schweigt meistens dazu. Ausnahmen sind die Konzepte des „situierten Lernens“ und der „community of practice“ bei Jean Lave und Etienne Wenger (Lave/Wenger 1991; Wenger 1998), das partizipative und kooperative Lernen bei Klaus Holzkamp (1993) und das kollektive Lernen bei Max Miller (1986; 2006). Angelegt sind diese Konzepte aber auch schon im Interaktionismus bei George Herbert Mead. Menschen leben zusammen und lernen voneinander in kulturellen Kontexten. Sie bewegen sich in den duftenden, tönenden, leuchtenden, schmeckenden und fühlbaren Räumen der Lebenswelten auf Straßen, Plätzen und Märkten, in Wohnungen und an Arbeitsplätzen, in Sälen, Stadien und Discos. Werkhallen, Supermärkte, Fußballplätze, Straßenzüge, U-Bahnstationen, Bahnhöfe sind Lernorte (s.u. Teil 10.2). Lernwelten sind immer schon einbezogen in gesellschaftliche Verhältnisse. Dies führt zu der Einsicht, dass individuelles immer zugleich interpersonales und soziales Lernen ist. Die individuellen Lernenden der klassischen Lerntheorien sind Resultat eines rigiden Abstraktionsprozesses und letztlich einer absurden Fiktion: Es kann keine einzelnen Menschen geben – außer in Katastrophen
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und Extremsituationen. Robinson kam auf seine Insel in der Folge eines Schiffsbruchs als Händler – also als jemand, der für Austauschverhältnisse zuständig war. Der Versuch, Einsichten über menschliches Lernen durch Betrachtung von „Wolfskindern“, – bis heute in der Figur „Moglis“ im „Dschungelbuch“ ausgemalt, oder von Affenschützlingen – bis heute in der Figur „Tarzans“ fortgeschrieben – zu gewinnen, ist eben märchenhaft. Humanes Lernen erfolgt als Teilnahme an gesellschaftlicher Praxis. Diese Praxis besteht allgemein im Herausarbeiten menschlicher Kultur in der Auseinandersetzung mit Natur. Im Besonderen sind die Praktiken immer historischkonkret gefasst durch formationsspezifische gesellschaftliche Verhältnisse. Insofern ist Lerntheorie notwendigerweise immer auch einbezogen in Gesellschaftstheorie. Allerdings versuchen die meisten Konzepte des Lernens, diese Rückbezüge zu vermeiden, und sie umgeben sich mit dem Schein der Generalität und somit der Neutralität, wirken aber gerade dadurch affirmativ. Beim Lernen verschränken sich die Sichtweisen der Individuen, der Zusammenhang der Gruppen und die Vorgaben der Gesellschaft. Identität ist Resultat einer aneignenden Perspektivenkonvergenz. Es wäre ein Missverständnis, individuelles, interpersonales, kollektives und soziales Lernen als vier Ebenen zunehmender Komplexität zu begreifen. (Die Abfolge der Schritte in diesem Text ist vor allem ein Problem der sequentiellen Darstellung.) Individuelles Lernen ist immer schon sozial. Dem ist die Lerntheorie aber bisher kaum gefolgt. „Eine Theorie kollektiver Lernprozesse setzt den Bruch mit den in der Psychologie und Soziologie gegenwärtig dominierenden, auf das einzelne Individuum zentrierten (behavioristischen, reifungstheoretischen und kognitivistischen) Lern- und Entwicklungstheorien voraus“ (Miller 1986, 5). Max Millers Theorie „Kollektiven Lernens“ (Miller 1986, 2006) will explizit interpersonales Lernen modellieren (Teil 11.1). Dies wird erweitert durch den Bezug zu Lernen in Gruppen und Gemeinschaften (Teil 11.2). Übergreifende gesellschaftsstrukturell verortete und argumentierende Ansätze, die das Verhältnis von Individuum und Struktur fassen, finden sich z.B. bei Anthony Giddens mit dem Begriff der Strukturation und bei Pierre Bourdieu mit dem Konzept der Habitusgenese (Teil 11.3). Die Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony Giddens (geb. 1938) ist ein Versuch, die Konstitution der Gesellschaft als Prämisse und Resultat zu begreifen: Wie kann man sich das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen bzw. zwischen Aktion und Struktur vorstellen? Giddens (1988) hält sowohl die Betonung des Individuums als auch der Gesellschaft für einseitig und setzt dem ein Modell entgegen, das eine Verbindung zu denken versucht. Leitbe-
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griff ist dabei die Dualität der Struktur, womit eine Wechselwirkung zwischen Aktion und Struktur gemeint ist. Als Beispiel führt Giddens Fremdsprachenlernen an: Beim Erlernen einer Fremdsprache ist es offizielles, deklariertes Interesse, diese möglichst korrekt zu sprechen. Folglich verwendet man grammatikalische Regeln beim Sprechen. Dies ist das intendierte Ziel der Lernenden. Unbeabsichtigte Folge ist jedoch, dass man dadurch zur Verbreitung dieser Fremdsprache beiträgt. Die Struktur der Sprachverwendung wird produziert und reproduziert. Auch bei Pierre Bourdieu findet sich eine entsprechende Formel von Habitus als strukturiertes Resultat und als strukturierende Struktur. Er kritisiert den Dualismus von Objektivismus und Subjektivismus. An die Stelle der Dualität von Selbst und Gesellschaft setzt er eine Begriffstriade von Struktur-Habitus-Praxis. In dieser besteht eine „relative Freiheit“ des Subjekts. Daraus ergibt sich das Konzept des Habitus (Bourdieu 1979): Fraglich aber bleibt, wie weit die „relative Freiheit“ zwischen Prämissen und Aktion aufgespannt ist. Die wenigen Anmerkungen, die Bourdieu zur Habitusgenese und -transformation gemacht hat, verweisen eher auf Forschungsdesiderate als auf -resultate. Offen ist sicherlich die jeweilige Ausfüllung von Struktur durch Aktion und die Veränderbarkeit des Habitus durch transformatives Lernen und Handeln. In lerntheoretischer Perspektive liegt aber genau hier das Zentralproblem des Habituskonzepts: Wie weit geht die Veränderbarkeit der generativen Schemata im Habitus, bzw. – umgekehrt – gibt es Grenzen der Transformation? Können die festgelegen Regeln, die scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die „Doxa“, wie Bourdieu das stillschweigend Unterstellte nennt, aufgelöst werden bzw. ist es möglich, tiefverankerte Grundeinstellungen und Gewohnheiten zu durchbrechen? Die Darstellung öffnet sich schrittweise: vom Gespräch zwischen den Partnern Ich und Du, der Kommunikation (11.1), über die Interaktionen in Gruppen und Organisationen (11.2) bis zu der Gesellschaftlichkeit allen Lebens und Lernens (11.3). Daraus erwächst die Einsicht in die grundlegende Sozialität menschlichen Lernens. Diese entsteht durch die Aktivitäten, ist aber auch jeweils vorgeben und vorhanden. Spielräume des Lernens sind gesellschaftlich gerahmt (vgl. Wittpoth 1994). Aktivität und Kontext erzeugen sich gegenseitig.
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Menschliches Lernen meint zunächst Voneinander und Miteinander-Lernen. In der Regel wird dieses Kommunikationsverhältnis als Lehr-/Lernkonstellation modelliert. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist in den Lehranstalten – Kindergärten, Schulen, Universitäten, Institutionen der Weiterbildung usw. – durchdrungen von einer Asymmetrie der Macht. Die Lehrenden verfügen über das Wissen, sie sind die Agenten der Institutionen, die Lehrenden werden über ihr Unwissen belehrt, sie sind gesetzlich der Schulpflicht unterworfen oder im „Lebenslänglichen Lernen“ einer Lernpflicht ausgesetzt. Machtverhältnisse des Lernens ergeben sich vorrangig nicht wegen böswilliger, machtbesessener Lehrkräfte, sondern aus kontaminierten Strukturen. Ein nicht hierarchisches Lehr-LernVerhältnis ist so kaum denkbar und noch weniger durchsetzbar. Klaus Holzkamp (1993, s.o. Teil 4.3) hat gegenläufige Versuche, die unter der Bezeichnung „apprenticeship“ bzw. „partizipatives Lernen“ firmieren, mit Bezug auf die US-amerikanische Ethnologin Jean Lave aufgegriffen. Dabei ist vieles enthalten, das in der Handwerkslehre, wo sie denn gut war, lange schon bekannt war. Dies bedeutet, dass Lehrende im Unterricht nicht mehr als Belehrende fungieren, die den Lernenden etwas über den Lerngegenstand beibringen wollen, sondern als „Masters“, die selbst das tun, worum es geht, und die Lernenden sukzessiv immer mehr daran teilhaben lassen. Die Handwerkslehre kannte das Prinzip: Vormachen, Nachmachen, Üben, Anwenden. Weitergehend bezogen auf Hierarchieabbau beim Lernen entwirft Holzkamp „kooperatives Lernen“. Die Beteiligten bearbeiten einen gemeinsamen Lerngegenstand, dessen Bedeutsamkeit sie teilen (Holzkamp 1993, 510). Vorausgesetzt beim kooperativen Lernen wird eine Perspektivenkonvergenz: „Die Individuen müssen – wenn sie beim Lernen kooperieren wollen – sich ein gemeinsames Lernziel setzen. […] eine gemeinsame Lernproblematik ausgliedern“ (ebd. 510). Dabei kann jeder die Gruppe verlassen. Bezieht sich die Vereinbarung über die Lernthematik auf mental-sprachliches Lernen, so erhält die kommunikative Lernmodalität ein besonderes Gewicht: Die Annäherung an den Gegenstand geschieht durch den Austausch von Perspektiven, den Lernende nicht allein übernehmen können. Perspektivendivergenzen werden kooperativ ausgehandelt. Allerdings kann Hierarchie z.B. durch die Zusammensetzung der Gruppe, aus einer dominanten Perspektive entstehen. Kooperatives Lernen kann Asymmetrien enthalten. Es ergibt sich verdeckte Machtausübung, indem diejenigen, die die vorherrschende Perspektive vertreten, die Instanz der Lehre, als Vorgabe von Bedeutsamkeit einnehmen (Holzkamp 1993, 514).
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Lernen ist im gesellschaftlichen Zusammenhang nur zum kleineren Teil durch unmittelbare Begegnung mit der Welt gekennzeichnet. Müssten wir alles selbst sinnlich erfahren, wäre nur ein kleiner Ausschnitt menschlichen Wissens in einem Lebensverlauf zugänglich. Die Erfahrung der Gattung ist aber gespeichert in Schriften und Bildern, Bibliotheken, Museen und Archiven, die – prinzipiell – allen zugänglich sind – jedenfalls sein könnten. Wir stehen auf einem Berg, der sich aus den Kristallen, aber auch dem Müll der Vergangenheit auftürmt. Die Aneignung des gesellschaftlichen Wissens erfolgt im Verhältnis zu den Anderen, im Gespräch oder im Streit mit den Toten und den Lebenden. Zum großen Teil beruht unser Lernen auf symbolischer Vermittlung durch die Sprache. Gemeinsames Lernen öffnet die Möglichkeit des Gesprächs mit Anderen, des Überprüfens eigener Wissensbestände, des Bereinigens von Fehlern, des Findens gemeinsamer Ziele und des Einbezugs der Beteiligten in eine Gemeinschaft. Lernen vollzieht sich im Gespräch mit anderen als eine mündlich oder schriftlich zwischen zwei oder mehreren Personen geführte Rede und Gegenrede. Lernen als Suche nach dem Wissen über das kognitiv Wahre, das logisch Richtige und das moralisch Gute entfaltet sich als Rede und Gegenrede im Dialog. Er ist Teil des Sprachgebrauchs. Beispiele dialogischer Gespräche als Suchbewegung finden sich schon bei Sokrates, wie sie von Platon übermittelt worden sind. Sokrates geht es um das Gespräch, in dem das Wissen der Gesprächsteilnehmer in die Sprache und so an die Oberfläche geholt wird. Im Dialog in kleinen Gruppen findet er die Quelle des eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Denkens des Einzelnen. Die Suche nach Erkenntnis im Dialog hat zahlreiche Nachfolger gefunden. Zwei weit auseinanderliegende Vertreter sind Martin Buber (1878-1965) und Max Miller (geb. 1944), die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, aber das gleiche Problem – das Lernen miteinander – behandeln. In seinen sperrigen, teils poetischen, teils religiösen philosophischen Werken greift der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber vor allem das Thema des Dialogs als anthropologisches Prinzip auf. Er entstammt der mystischen, chassidischen Tradition des osteuropäischen Judentums und schloss sich der zionistischen Bewegung an. Sein Hauptwerk trägt den Titel „Ich und Du“ (Buber 1923/1995). Er will die Alternative von Individualismus und Kollektivismus überwinden. Ausgangspunkt für seine Anschauung ist weder der Einzelne, noch die Gesamtheit, sondern der Mensch mit dem Menschen. Es entsteht – so die wolkige Re-
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deweise – ein Reich des Zwischen, da sich zwischen Wesen und Wesen etwas begibt, das in der Natur nirgends zu finden ist. „Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Die Einsammlung und Verschmelzung zum ganzen Wesen kann nur durch mich, kann nie ohne mich geschehen. Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du“ (ebd. 11/12). Dies nennt Buber das „dialogische Prinzip“ im „Zwiegespräch“. Die sich entwickelnde Beziehung ist gekennzeichnet durch Ausschließlichkeit und ihre Unmittelbarkeit: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie; und das Gedächtnis selber verwandelt sich, da es aus der Einzelung in die Ganzheit stürzt. Zwischen Ich und Du steht kein Zweck, keine Gier und keine Vorwegnahme; und die Sehnsucht selber verwandelt sich, da sie aus dem Traum in die Erscheinung stürzt“ (ebd. 12). Der Mensch wird am Du zum Ich. „Gegenüber kommt und entschwindet, Beziehungsereignisse verdichten sich und zerstieben, und im Wechsel klärt sich, von Mal zu Mal wachsend, das Bewusstsein des gleichbleibenden Partners, das Ichbewußtsein. […] Vermöge seiner Beziehungskraft allein vermag der Mensch im Geist zu leben“ (ebd. 28/29). Bei aller sprachlichen Exaltiertheit und Unzugänglichkeit und den hochtönenden religiösen Überziehungen bearbeitet Buber in seinen poetisch mitklingenden Texten ein zentrales Problem der Theorie des Lernens: Die Frage nach der Einheit von Subjekt und Struktur. Er bietet ein humanes Resultat an: Die Hoffnung auf Versöhnung und Mitmenschlichkeit. Und das angesichts des aufziehenden Faschismus. Damit und wohl gerade deshalb allerdings gleitet er ab in religiöses Pathos, das widerständig bleibt, aber blind wird gegenüber der konkreten Brutalität der Macht. Wenn man darauf zurückgreifen will, geht das nur noch bereinigt durch tiefgreifende Skepsis und mit der Traurigkeit derer, die nach Auschwitz leben. Die Unmittelbarkeit von Ich und Du ist zerbrechlich. Sie wird – den Horizont Bubers überschreitend – nicht nur durch die Sprache erzeugt, sondern in der gemeinsamen Tätigkeit – besonders der Arbeit – und ist deshalb zugleich gefährdet durch die Form einer Gesellschaft, die sich über Austauschverhältnisse auf dem Markt strukturiert. Die Einheit ist nicht im abgelösten Geist möglich, sondern in einer Gesellschaft der Anerkennung. Sowohl die Einsamkeit des Individuums als auch die Gemeinsamkeit des Kollektivs können die Chancen auf Lernen blockieren.
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Der symbolische Interaktionismus in der Nachfolge George Herbert Meads bietet eine Begriffswahl an, die in ihrer Abstraktheit – ohne ihn zu kennen – Gedanken Bubers bewahrt, klärt, aber diese auch formal sterilisiert. Demnach werden hier zunächst Theorien relevant, die auf Interaktionsprozesse fokussieren. Schon Mead geht es um Kommunikation als Bindeglied des Handelns. Grundlegend dafür ist das Erlernen von Gesten als signifikanten Symbolen. Sie lösen ein „Hereinnehmen-in-unsere-Erfahrung dieser äußerlichen Übermittlung“ (Mead 1995, 86) aus. Gesten als nonverbale Sprache und Sprache als „vokale Geste“ (ebd. 104) sind infolge dessen zentral für gesellschaftliches Handeln. „Es ist Handeln auf einer gemeinsamen Basis“ (ebd. 106). Eine grundlegende Neubestimmung des Lernens mit anderen nennt der Soziologe Max Miller „fundamentales Lernen“. Dies läuft über individuelles Lernen, setzt aber kollektives Lernen voraus – und umgekehrt. Für den „genetischen Interaktionismus“ bei Max Miller sind Abläufe kognitiven und moralischen Lernens im Wesentlichen dialogische Prozesse (Miller 1986, 17). Damit wird die Gemeinsamkeit des menschlichen Lernens in kollektiven Prozessen betont. Millers Theorie des diskursiven Lernens richtet sich nicht auf das Lernen von Individuen aus. Er sieht den Diskurs unter mehreren Akteuren. Das Konzept beruht auf dem Interesse, das Neue, den Wandel zu erklären. Er entwickelt in „Dissens“ (Miller 2006) eine Theorie diskursiven und systemischen Lernens, die eine Abkehr vom Individualismus vollzieht: Statt von monologischem Lernen auszugehen, macht er diskursive Prozesse zu notwendigen Voraussetzungen. Lernen ist – in diesem Sinn – erst durch den verständigen sprachlichen Austausch von Individuen möglich. Diese These hat weitreichende Konsequenzen: Wenn Wissenserwerb auf intersubjektiven Prozessen beruht, ist er von den normativen Konnotationen der Zusammenarbeit nicht zu trennen. Das traditionell als „höchste“ Form angesehene „moralische Lernen“ wird grundlegend. Gerade Fälle von scheiternden Lernprozessen, z.B. des „autoritären Lernens“ (ebd. 121), in dem nur von Herrschenden legitimierten Erkenntnissen gefolgt wird, oder des „ideologischen Lernens“ (ebd.), das den Geltungsanspruch von Argumenten systematisch beschneidet, und schließlich des „regressiven Lernens“ (ebd. 122), das widersprechende Erkenntnisse deformiert und entschärft, stützen die Überzeugungskraft des Konzepts. Miller weist darauf hin, dass im Diskurs Perspektiven entstehen, die veränderte Sichtweisen der Menschen auf die Welt ermöglichen. Seine zentrale These ist, dass die Interpretation von Welt und die Reflexion des Selbst sprachliche Interaktion in Form des Diskurses voraussetzt.
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„Nur in der sozialen Gruppe und aufgrund der sozialen Interaktionsprozesse zwischen den Mitgliedern einer Gruppe kann das einzelne Individuum jene Erfahrungen machen, die fundamentale Lernschritte ermöglichen“ (Miller 1986, 21). Dies allerdings macht es nötig, den Dialog zwischen zwei Partnern zu überschreiten und in Kooperation mit mehreren Anwesenden einzutreten. Möglich ist dies, wenn es verallgemeinerbare Kriterien gibt, nach denen ein Konsens kollektiven Geltens entsteht (ebd. 29), der von den Beteiligten als richtig, wahr und gut unterstellt wird. Die Individuen lernen zu argumentieren und sich dabei wechselseitig zu widersprechen oderzuzustimmen. Dadurch erfolgt ein Herausarbeiten strittiger Fragen und es entsteht Konsens oder aber Dissens. Es ergibt sich im Diskurs ein Klären des kollektiv Geltenden oder aber Strittigen. Gewissheiten werden bestätigt oder aber erschüttert und so ergibt sich die Öffnung zum Neuen. Als Resultat des Diskurses entsteht ein „Kontext der Entdeckung“. Jeder Diskurs ist darauf angelegt, Differenzen unter den Akteuren zu finden und ein gemeinsames Verständnis herzustellen. So entwickelt sich ein koordinierter, rationaler Dissens. Die Akteure werden sich darüber einig, was sie kollektiv akzeptieren können und was nicht (vgl. Miller 2006, 217). Impuls für „strukturelles Lernen“, welches sozialen Wandel auslöst, ist also ein Dissens innerhalb eines Diskurses (vgl. ebd. 219f.). Miller benennt drei Kommunikationsprinzipien für die dem Lernen zugrundliegenden Kommunikationsprozesse: 1. das Verallgemeinerungsprinzip – geteiltes Wissen über gemeinsam Geltendes; 2. das Objektivitätsprinzip – geteilte Erfahrung, in der die Begrenztheit individueller Wissenshorizonte überschritten werden kann; 3. das Wahrheitsprinzip – die kommunikative Prämisse, Widersprüche aufzulösen. Miller betont auch die Wechselbeziehung zwischen dem Lernen der Einzelnen und in der Gruppe. „Zwar kann eine soziale Gruppe nur dann lernen, wenn der Einzelne dazu in der Lage ist. Aber der Einzelne kann nur dann etwas grundlegend Neues lernen, wenn seine Lebensprozesse eine integrative Komponente eines sozialen Interaktionsprozesses darstellen“ (Miller 1986, 5). Allerdings bleibt auch diese Einsicht noch der Spaltung von menschlichem Subjekt und gesellschaftlicher Struktur verhaftet. Immerhin ist aber der „genetische Interaktionismus“ in der Lage, Lernaktivitäten in Kommunikationsverhältnissen zu erfassen. Dies betrifft die Ebene von Zweierkonstellationen zwischen dem Ich und dem Anderen und auch Gruppenstrukturen. Ein angemessenes Modell von Gesellschaftlichkeit und Subjektivität ist damit aber immer noch nicht entwickelt. Dies ist nicht als Resultat, sondern nur als Prozess, nicht als Struktur, sondern als Genese denkbar.
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Immerhin ersetzt die Konzentration auf Diskurs und Dissens als Austausch vernünftiger Argumente den individualistischen bias traditioneller Lerntheorie durch einen relativistischen bias, der entsteht durch den Fokus auf verbale Kommunikation, die kognitiv gestützte Positionen voraussetzt. Damit erreicht die Lerntheorie die Ebene des spezifisch Menschlichen in seiner Gesellschaftlichkeit. Allerdings verbleibt Millers Position auf der Ebene des Sprechens, das jedoch nur eine Form des Handelns ausmacht. Eine Gruppe von Menschen steht immer schon in einer geteilten Praxis, die nicht nur die interne Kommunikation, sondern zugleich auch die gemeinsame aktive Intervention in Weltverhältnisse umfasst. Argumente sind Behauptungen von etwas, das außerhalb der Sprache liegt. Lernen bezieht sich auf die strittige und dennoch geteilte Perspektive praktischer Tätigkeiten. (Ein Rückbezug auf Miller und auf Holzkamp findet sich bei Hocke 2012; s.a. Trumann 2013). Menschliche Kollektive und Sozialitäten erschöpfen sich nicht in Zweierbeziehungen. Arbeitsteilung setzt schon in der Horde oder dem Stamm eine Vielzahl von Menschen voraus. Sie werden durch ihre Gemeinsamkeiten und Verhältnisse Mitglieder einer Gruppe bzw. einer Gesellschaft. Gruppenmitglieder stehen in einer unmittelbaren Beziehung zueinander. Sie werden verbunden durch einen diffusen Sinnzusammenhang und relative Dauerhaftigkeit ihrer Interaktionen. Dass in solchen Lebens- und besonders Arbeitsverhältnissen gelernt wird liegt auf der Hand. Übergreifend steht dahinter die Gesellschaft als Gesamtheit der Verhältnisse zwischen den Menschen.
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Die menschliche Gruppe wird, nachdem der lerntheoretische Individualismus untergraben worden ist, als ein bevorzugter Ort des Lernens betrachtet. Hier finden Kommunikation und Interaktion, Austausch von Erfahrungen und Einstellungen und gemeinsames Handeln statt. Es ist erstaunlich, dass der Stellenwert des Arbeitens und Lernens in Gruppen mittlerweile von sehr verschiedenen Positionen und Interessen her gesehen betont und unterstützt wird: Arbeitgeber, Beschäftigte und Gewerkschaften versprechen sich Vorteile bezogen sowohl auf ökonomische Effekte, als auch auf den Erwerb „sozialer Kompetenzen“. Gruppenarbeit und -lernen werden diskutiert im changierenden Spektrum von Rationalisierungsstrategien und Partizipationschancen.
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Gruppenarbeit ist meist der Kontext, in den Lernen eingebaut wird. Besonders der Begriff Team scheint eine Allzweckwaffe, wenn es um Neustrukturierung, aber auch um Personalentwicklung (vgl. Faulstich 1998 b) geht. Verantwortung und Entscheidung wird nach unten übertragen – aber auch abgewälzt. Teamarbeit als Form der Unternehmensorganisation verspricht, Arbeitsprozesse sowohl effektiver als auch motivierender zu gestalten. Sie scheint ein ökonomisches und soziales Patentrezept zugleich. Gruppentätigkeit meint ein ganzes Spektrum von Einsatzformen sowohl hinsichtlich des Lernens, als auch bezogen auf Arbeiten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass kontroverse Konzepte formuliert werden. Dies gilt schon für historische Ansätze wie zum Beispiel „Gruppenfabrikation“ oder im Gegenzug in der „Gruppendynamik“-Bewegung in den 1960/70er Jahren, welche positive Aspekte von Teams besonders hervorhob. Das gruppendynamisch orientierte Teamverständnis akzentuiert Gestaltungsfaktoren wie Affinität, Kohärenz, Kontrollabbau, Hierarchiefreiheit, Gemeinschaftsgefühl und Arbeitszufriedenheit. Von Gruppenlernen wird erwartet, dass es sowohl verwertungseffizient als auch persönlichkeitsförderlich sei. Dieser Ansatz erlebte mehrmals einen erstaunlichen Wiederaufschwung. In den 1980er Jahren wurde die „Qualitätszirkel-Mode“ angefacht. Anfang der 1990er Jahre avancierte Gruppenarbeit zur organisationstrategischen Wunderwaffe. Im Zuge von Tendenzen zum Wertewandel sind „Spaß an der Arbeit“ und „Kontakte zu Kollegen“ wichtiger geworden. Allerdings kommt es sehr konkret darauf an, ob in der Gruppenarbeit mehr Abwechslung, höhere geistige Anforderungen, größeres Maß an Selbstbestimmung ermöglicht wird, oder ob nicht Leistungsverdichtung, Gruppendruck, zunehmende Arbeitshetze, erhöhte Belastungen drohen. Die Sprüche vom „Mitarbeiter“ als „Unternehmer im Unternehmen“, als „Intrapreneur“ sind Varianten der Aussage über einen „Trend zur sich selbstkontrollierenden Arbeitskraft“ und des „Arbeitskraftunternehmers“. Voraussetzung für Gruppenarbeit ist das Vorliegen von zeitlichen, organisatorischen und qualifikatorischen Kooperationsanforderungen. Aber nicht jede Kooperation ist Gruppenarbeit. Als Mindestmerkmale, die Gruppenarbeit vom Nebeneinanderher-Arbeiten unterscheiden, werden genannt: • gemeinsame, arbeitsteilig ausführbare Ziele oder Aufträge für mehrere Perso-
nen; • gemeinsame Handlungsorganisation, welche durch Regeln oder Normen festgelegt ist; • gemeinsame Entscheidungsgegenstände, z.B. über zeitliche und inhaltliche Tätigkeitsspielräume;
190 | MENSCHLICHES LERNEN • kontinuierliche Kommunikations- und Interaktionsstrukturen; • ein Mindestmaß gemeinsam geteilter Ziele und Kenntnisse; • unmittelbare Kontakte und Gruppengefühl.
Bezogen auf Arbeitsbezüge ist Gruppenarbeit eine spezifische Form der Lernorganisation. Anstöße dazu sind zunächst aus der außerschulischen Jugendarbeit und der Sozialpädagogik auf die Schule erfolgt. Dabei wird unterstrichen, dass Lernen ein sozialer Prozess ist, der auf Kommunikations- und Interaktionsbeziehungen zwischen den Lernenden abstellt. Die Modellierung dieser Prozesse kann sich der Holzkampschen Terminologie bedienten: Es werden aus Tätigkeiten, bei betrieblichen Gruppenaktivitäten aus Arbeitsprozessen, gemeinsame Lernproblematiken ausgegliedert. Es entsteht eine Lerngruppe. „Darin eingeschlossen ist eine Potenz, die nur im kooperativen Lernen eröffnet werden kann, nämlich die am gemeinsamen Problem orientierte Arbeitsteilung“ (Holzkamp 1993, 511). Dies bezieht sich zum einen auf den Prozess der Aneignung, bei dem die Individuen sich wechselseitig kundig machen, zu Experten auf verschieden Gebieten werden können und ihre Expertise zusammenbringen. Zum andern resultiert daraus eine Distribution der Kompetenz in der Alternative „alle wissen alles“ und „jeder kennt nur seinen Sektor“. Um Gruppenarbeit abzusichern, ist ein Mittelweg in überlappenden Zonen der Kompetenz einzuschlagen. Da sich aber Perspektiven von Bedeutsamkeit nicht von den Individuen ablösen, bleiben Konflikte bestehen, welche im gemeinsamen Lernen ausgetragen werden. Darin liegt einerseits eine spezifische Produktivität der Lerngruppen, anderseits ist expansives Lernen nur dann durchzuhalten, wenn die Perspektivendivergenzen unter der Prämisse eines gemeinsamen Gegenstandes im Kooperationsprozess aufgefangen werden können. Wenn andernfalls eine bestimmte Perspektive oder Interpretation als vorgegeben, überlegen oder ausgezeichnet akzeptiert werden muss, kommt es zur Machtausübung und resultierender Lernwiderständigkeit. Für den Fall, dass einer Person organisatorisch und permanent eine Überlegenheit zugesprochen wird, sie also die Kooperation dominiert, wie bei der Funktion eines festen Gruppensprechers, zerfällt „kooperatives Lernen“ und kann bestenfalls übergehen in „partizipatives Lernen“, wo eine MeisterNeuling-Konstellation inhaltlich begründet wird. Wo dominante Machtverhältnisse hierarchisch legitimiert werden, ist „expansives Lernen“ unwahrscheinlich. Dabei ist die Einführung von Gruppenarbeit selber eine Lernaufgabe. Die Durchführung von Gruppenarbeit erfordert spezifische Kompetenzen, für die von
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den Unternehmen oft entsprechende Teamentwicklungstrainings eingesetzt werden. Damit wird deutlich, dass Gruppenarbeit keinesfalls nur als isoliertes Personalentwicklungskonzept eingeführt werden kann, sondern dass es darum geht, übergreifende betriebliche Reorganisationsstrategien in Gang zu setzen, welche überhaupt erst dazu beitragen, dass die positiven Effekte von Gruppenarbeit realisierbar sind. So werden betriebliches Lernen und Personalentwicklung unmittelbar Teil der Organisationsentwicklung. Im Rahmen der Diskussion über „organisationales Lernen“ hat deshalb das Modell „Communities of practice“ (Lave/Wenger 1991; Wenger 1998) starke Beachtung erhalten. Es bezeichnet Gruppen von Personen, die informell – auch supra-organisational – miteinander verbunden sind und ähnlichen Aufgaben gegenüber stehen. Diese Sichtweise wurde 1991 durch Jean Lave und Etienne Wenger (Lave/Wenger 1991) geprägt. Sie stellten das Lernen in den Kontext sozialer Beziehungen. Bezugseinheit ist nicht mehr das einzelne Individuum, sondern die community und deren gemeinsame pratice. Etienne Wenger kennzeichnet „Communities of practice“ durch eine lange Liste von Prinzipien: sharing historical roots having related enterprises serving a cause or belonging to an institution facing similar conditions having members in common sharing artifact having geographical relations of proximity or interaction having overlapping styles or discourses competing for the same resources sustained mutual relationships absence of introductory preambles very quick setup of a problem to be discussed knowing what others know, what they can do, and how they can contribute to an enterprise • specific tools, representations, and other artefacts • local lore, shared stories, inside jokes, knowing laughter, jargon and shortcuts to communication as well as the ease of producing new ones (Wenger 1998, 125-127). • • • • • • • • • • • • •
Im Kern geht es um die Verzahnung individueller Lernprozesse mit der Weiterentwicklung der einbettenden sozialen Gemeinschaft. Lernen geschieht also als
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eine Beziehung zwischen Individuen. Diese konzentriert sich auf den jeweiligen gemeinsamen Gegenstand (vgl. Edwards 2005, 57). Die „communities“ segmentieren also die Kontexte des Lernens, indem sie sich thematisch fokussieren. Die Individuen stehen aber immer schon in einer Vielfalt der Netze, die sich überschneiden – sowohl in Institutionen und Organisationen als auch in sozialen Strukturen. Weitreichendste Strategie betrieblichen Lernens scheint das Konzept, die Unternehmen insgesamt als „Lernende Organisationen“ (Argyris/Schön 1978/ 1999) zu begreifen. Angesichts sich verändernder Marktsituationen wird Lernen zu einem Schlüsselwort der Unternehmensentwicklung. Lernen soll Überleben und darüber hinaus Erfolg sichern. Bemerkenswert ist, dass von Organisationen geredet, aber meistens Unternehmen gemeint wird. In dieser Abstraktion wird das Unternehmerische unter der Hand zum Gesellschaftlichen. Dabei wird der Begriff des Lernens von Individuen auf soziale Systeme, speziell auf Organisationen und konkret auf Unternehmen übertragen. Ausgangsgedanke ist, dass Handlungserfahrungen sich zu Systemstrukturen routinisieren. Insofern kann man davon sprechen, dass sich Erfahrungswissen kontinuierlich von den Personen abspaltet und sich eine eigenständige Wissensgrundlage der Organisation herauskristallisiert. Die Kompetenzen der Beschäftigten und die Strukturen und Operationen des Unternehmens bilden dabei eine prekäre Kombination. Wenn Veränderungsfähigkeit zur wesentlichen Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit wird, sind die Lernpotentiale von Unternehmenskulturen gefragt. Während so die „lernende Organisation“ zum Ideal der Managementkonzepte wird, stellt sich gleichzeitig die Gretchenfrage wie Unternehmen überhaupt lernen können. So ist in der Diskussion um „Lernende Unternehmen“ zunächst nach den Impulsen der Konzeptkarriere zu fragen und die Tragfähigkeit zu prüfen. Es ergeben sich einige Irritationen, wenn die Analogie zwischen lernenden Systemen und menschlicher Bildung überzogen wird. Davon bereinigt kann das Sprachspiel einige Anstöße zu innovativer Personal- und Organisationsentwicklung geben. Die Strategie des „lernenden Unternehmens“ scheint die Lösung für Innovationsprozesse zu initiieren. Die Reichweite der damit verbundenen Zielsetzungen ist unterschiedlich: Was man unter „organisationalem Lernen“ beziehungsweise einer „lernenden Organisation“ zu verstehen hat, ist keineswegs geklärt. Die Begriffe unterscheiden sich vor allem hinsichtlich des unterstellten Organisationskonzeptes, seien es als Mechanismus, als Organismus oder als autopoietisches System, und sie differieren hinsichtlich der Frage, wie individuelles und organisationales Lernen in Beziehung steht.
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Die Diskussion über die „lernende Organisation“ bewegt sich demgemäß auf zwei Ebenen: zum einen geht es um das Problem inwieweit der Lernbegriff auf Organisationen anwendbar ist und wie sich individuelles und organisationales Lernen zueinander verhalten. Zum anderen geht es darum, wie organisationales Lernen gefördert werden kann, beziehungsweise welche Instrumente dafür genutzt werden können. Erst bei hinreichender, allerdings oft überzogener Abstraktion können menschliche Lernhandlungen im Kontext lernender soziale Systeme modelliert werden. Lernen ist dann ein Aspekt interagierenden Handelns, bei dem ausgelöst durch Diskrepanz der Erfahrungen individuelle und kollektive Gedächtnisstrukturen verändert werden, welche dann durch Kontrollerfahrungen bestätigt und verfestigt werden. In einem solchen formalen Begriff des Lernens gehen letztlich verschiedene Varianten der kybernetischen Rückkopplungsidee mit entsprechenden Kreisen und Ebenen ein. Immer wieder zitiert werden die Arbeiten von Chris Argyris (geb. 1923). Wohl prominenteste Darstellung organisationalen Lernens ist immer noch die von Argyris und Schön als „Organizationel learning“ (1978) formulierte. Sie unterscheiden drei Niveaustufen für Organisationslernen: • Anpassungslernen (single-loop learning): In einem einfachen Ziel-Mittel-
Ergebnis-Vergleich werden Abweichungen und Diskrepanzen wahrgenommen und korrigiert. Die Ziele sind stabil; variiert werden die Mittel. Die Frage ist: Sind die Mittel richtig? • Erschließungslernen (double-loop learning): Angesichts dynamischer Kontexte kann das Festhalten an vorgegebenen Zielen verhängnisvoll werden. Deshalb ist Lernen der zweiten Stufe verbunden mit einer Zielüberprüfung. Die Frage ist: Werden die richtigen Ziele verfolgt? • Lernenlernen (deutero learning): Über die – noch verlängerbaren – Lernhierarchien lagert sich eine Reflexivität des Lernens. Lernerfolge, Lernerfahrungen und Lernbedingungen werden hinsichtlich ihrer fördernden und behindernden Aspekte reflektiert. Es geht um die verbesserte Lernfähigkeit selbst und um damit erhöhte Problemlösepotentiale. Die Frage ist: Wie kann das Lernen besser gelernt werden? Im Zentrum dieses Ansatzes steht das Wissen in Organisationen. Unternehmen verfügen demnach über eine organisationale Wissensbasis, die in verschiedener Weise aktiviert wird. Die „cognitive basis“ setzt sich aus allgemein in der Organisation anerkannten Normen, Strategien, Ansichten oder Modellen von Welt zusammen. Diese ergeben organisatorische Strukturen. Die individuellen Be-
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gründungen (private images) der Organisationsmitglieder brauchen notwendig externe Referenzen. Dies ist die Funktion der „organisationel maps“ (Argyris/ Schön 1978, 17).Dieser Ansatz hat, indem Wissen stark betont wird, einen deutlich kognitivistischen bias, während strukturelle, normative und affektive Aspekte vernachlässigt werden. Demgemäß sind Organisationen offene, soziale Systeme, welche Mechanismen entwickeln, mit denen sie benötigte Informationen generieren. Diese müssen von den einzelnen Individuen in Kommunikations- und Interpretationsprozessen gedeutet werden. Für die Lerntheorie lassen sich aus der Diskussion um die lernende Organisation durchaus Anregungen entwickeln. So ist es zunächst fruchtbar, sich auf ein neues Sprachspiel einzulassen, weil damit neue Sichtweisen erzeugt werden und neue Handlungsmöglichkeiten ins Blickfeld kommen können. Allerdings stößt man auf eine zusätzliche Problematik. Zunächst dominieren, ausgehend von einer Organismus-Metapher im Konzept „lernende Organisation“ bezogen auf eine als dynamisch unterstellte Umwelt, Adaptionsprobleme der Unternehmen. Wenn man dagegen über biologistische Ansätze der Umweltanpassung und Überlebenssicherung hinausgehen will, braucht man eine evolutionäre Perspektive. Das heißt, es müssen Ziele angebbar sein, auf die hin gelernt werden kann, und das wirft die Frage nach dem Subjekt des Lernens auf: Wer lernt denn da? Die Rede von der lernenden Organisation überträgt ein ursprünglich auf Individuen gerichtetes Konzept auf soziale Systeme, denen damit, insofern sie zu Lernprozessen befähigt erklärt werden, Subjekthaftigkeit sowie Reflexionsfähigkeit und selbstgesteuerte Entwicklungsperspektiven zugeschrieben werden. In neueren systemtheoretischen Ansätzen greift ein solcher Ansatz auf die Theorie autopoietischer Systeme zurück und erschließt Analogien. Die organisierende Tätigkeit des Menschen geht über in die Selbstorganisation des Systems. Je umfassender deren Erstreckungsbereich, je konsistenter die immanente Logik, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Vermittlungsprozess von Organisation und Individuen im Sinne des Systems verläuft. Das verweist auf den extremen Fall der totalen Institution, wie er von Foucault beschrieben worden ist. Ein solcher Ansatz wäre letztlich in seiner strukturalistischen Variante gleichzeitig antihumanistisch. Wenn General Motors lernt, werden Werke von Opel geschlossen. Dies macht nur Sinn gegen die und jenseits der Subjekte. Lernen von Organisationen gründet sich zunächst auf Interaktionsprozesse zwischen Individuen, bei denen durch Abweichungen oder Störungen Widersprüche bezogen auf den üblichen Ablauf entstehen. Daraus resultieren Modifi-
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kationen der Interaktionsmuster, welche die Organisation übernimmt und ihre generierende Grundlage als Organisationskultur verändert. Es sind aber immer Menschen, welche Diskrepanzen im Organisationskontext als „Widersprüche“ bezogen auf ihre Position und Interessen interpretieren. Dies bedeutet, dass Lernen der Organisation nicht zu trennen ist von Veränderungen von Menschen, seien dies einzelne oder Gruppen. Unterstellt wird dagegen im Konzept der „Lernenden Organisation“, dass Kriterien der Subjekthaftigkeit sich auch auf Gruppen- und Organisationszusammenhänge anwenden lassen. Dabei wird deutlich, was es heißt, eine Organisation als ein Subjekt zu bezeichnen: im Abstimmungsprozess von Arbeits- und Lernaktivitäten mit denjenigen der anderen entsteht und entwickelt sich ein Kollektiv-Subjekt. Mit diesem Konzept und der Hypostasierung der Organisation, erfolgt eine Degradierung des Individuums und dessen Einbezug in übermenschliche Systeme. Die Rede von der „Lernenden Organisation“ verleiht dem Kollektiv subjekthafte Züge, denn es ist nicht das Produkt der einzelnen, sondern gewinnt Eigenständigkeit und kann damit zum Machthaber oder Interaktionspartner für alle einzelnen werden. Allerdings liefert das Modell der „Lernenden Organisation“ in seiner offeneren abstrakten Fassung durchaus eine neue Perspektive organisationalen Wandels und auch Anstöße, um komplexe Interventionsstrategien zu reflektieren. Selbstverständlich haben Organisationen keine menschliche Identität oder Persönlichkeit. Aber auf dem Abstraktionsniveau eines systemtheoretischen Sprachspiels kann man in Analogie von „cognitive systems and memories“ reden. Im „Organisationsgedächtnis“ – der Unternehmenskultur – verfestigen sich Handlungsstrukturen und Interaktionszusammenhänge. Dies ist ein permanenter Kreislauf. Insofern sind Lernen und Verändern selbstverständlich und kontinuierlich; sie finden dauernd statt, nicht nur gezielt angestoßen. Dies betrifft auch den Stellenwert von Organisations- und Personalentwicklung als permanente Intervention durch Lernanstöße und Generieren von Lernmöglichkeiten. Interventionen in allen diesen Bereichen können dazu führen, dass man als Metapher sagen kann, dass „die Organisation lernt“. Allerdings lenkt diese These direkt die Perspektive auf die gesellschaftlichen Kontexte der Organisationen, konkret der Unternehmen. Dies gibt auch Anlass, vor Fehlentwicklungen der Organisationsperspektiven zu warnen. In vielen Fällen werden Strategien, eine „lernende Organisation“ anzustreben, direkt in Restrukturierungs- oder sogar „Downsizing“-Prozesse eingebunden. Dies muss, wenn man die Theorie ernst nimmt, kontra-intendierte Effekte erzeugen. Um im Bild zu bleiben, wird gleichzeitig mit Personalabbau
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ein Teil des „Gedächtnisses“ der Organisation zerschlagen. Dies fällt besonders auf, wenn ältere Beschäftigte ein Unternehmen verlassen und ihr Erfahrungswissen mitnehmen. Es entsteht einerseits Stress bei den „Überlebenden“, die in den Unternehmen verbleiben. Schuldgefühle gegenüber den Entlassenen mindern die Identifikationsmöglichkeiten in der Unternehmenskultur. Anderseits entstehen problematische „Gedächtnislücken“. Wenn man also auf das Konzept „lernende Organisation“ setzt, heißt das gleichzeitig, dass gegenüber Abbaustrategien möglichst frühzeitig und hartnäckig Alternativlösungen gesucht werden müssen, und die Zukunftsfähigkeit der Organisation ausgehend von ihrer spezifischen Unternehmenskultur zu sichern. Dies stellt dann doch wieder die Personen ins Zentrum, die gekennzeichnet sind durch Leiblichkeit und verbundene Sinnhaftigkeit. Sie lernen in gemeinsamer Praxis. Damit wird die Verzahnung individueller Lernprozesse mit denen der Weiterentwicklung der einbettenden sozialen Gemeinschaft deutlich. Communities gehen über Kommunikation hinaus und öffnen den Blick für gemeinsames eingreifendes Handeln auf der Grundlage geteilten Sinns. Die Lernenden sind einbezogen in eine gemeinsame Praxis der Schneider, der Hebammen, der Ingenieure, einer peer-clique, einer scientific community usw. Insofern ist Lernen ein Prozess der Habitualisierung in einem kulturellen Kontext. Communities setzen keinen formalen Gruppenzusammenhang voraus. Sie beruhen auf informellen Interaktions- und Kommunikationsprozessen. Die intensive Kommunikation und kollektive Interessen können die Entstehung eines identitätsstiftenden Beziehungsgeflechts einer sozialen Identität fördern, aber auch behindern. Allerdings sind die Horizonte des Lernens in dieser Perspektive begrenzt auf die unmittelbar Beteiligten. Im Blickfeld sind nur die partiellen Situationen. Betont werden der Kontext des Lernens und die ablaufenden Interaktionen. Es sind aber immer noch die einzelnen Individuen, welche in der sozialen Gemeinschaft lernen. Sie stehen in der Spannung von Element und System. Übergreifende, weitere gesellschaftliche Bezüge und Systemstrukturen werden nicht sichtbar. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bleibt ungeklärt.
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Wir brauchen also eine angemessene Theorie, welche individuelle und gesellschaftliche Perspektiven in Eins fasst. Aber die hegemoniale Psychologie konzentriert sich immer noch auf das Individuum, die Soziologie auf die Strukturen. Die Aufspaltung zwischen handlungs- und systemtheoretischen Ansätzen ist nach wie vor durchschlagend. Von systemtheoretischen Ansätzen ist für unser Problem wenig zu erwarten. Sie lösen – in radikaler Konsequenz – die „Form Person“ auf und sehen sie nur noch als Schnittpunkte zwischen partialisierten Referenzsystemen: „Personen kondensieren demnach als Nebeneffekt der Notwendigkeit, das Problem der doppelten Kontingenz sozialer Situationen zu lösen“ [...] „Die Form der Person dient ausschließlich der Selbstorganisation des sozialen Systems“ […] „Personen dienen der strukturellen Kopplung von psychischen und sozialen Systemen“ (Luhmann 1991). Mehr zu erhoffen ist von Handlungstheorien, wenn sie sich einlassen auf Strukturen. Deshalb erscheint mir die Praxeologie Pierre Bourdieus attraktiv (zum Verhältnis von Holzkamp und Bourdieu vgl. Bremer 2007 und Bremer/Trumann 2013). Bei Bourdieu wird Gesellschaftlichkeit zur Grundlage des Lernansatzes in der Theorie des sozialen Feldes und der sich darin bewegenden, austauschenden und kämpfenden Akteure. Im Begriff des Habitus (s.o. Teil 10.3) konzentriert sich im Spektrum von Stabilität und Flexibilität ein Grundlagenproblem jeder Lerntheorie – obwohl die Praxeologie Bourdieus nicht vorrangig als Lerntheorie angelegt ist. In eher soziologischer Tradition stehend bindet er sozialen Sinn an gesellschaftliche Strukturen. Mit der Theorie des sozialen Feldes trägt er der arbeitsteiligen Organisation moderner Gesellschaften sowie der Ausdifferenzierung und Eigenlogik sozialer Sektoren Rechnung. Innerhalb dieser Kräftefelder geht es um Spiele und Kämpfe um Macht und Einfluss. „Habitus“ umfasst für Bourdieu die objektive Kategorisierung von Angehörigen sozialer Milieus und zugleich ein auf die Subjekte bezogenes Konzept kollektiver Dispositionen. Habitus ist eine strukturierende Struktur als Resultat von Verhaltensprämissen sowie als Erzeugungsprinzip von Praxisformen sozialer Akteure. Praktiken koppeln Subjekt und Struktur. Im Habitus fallen Merkmale der Person und des Systems zusammen. Der Habitus ist das sozialisierte Subjekt (Bourdieu/Wacquant 1996, 159). Im Rahmen sozialer Milieus werden praxisgenerierende Dispositionen entwickelt, die dann fortdauernd als generative Schemata fortwirken. Im Habitus sind gesellschaftliche Strukturen einverleibt. Z.B. gilt dies für Geschmackswahr-
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nehmung, Körperhaltung, Gang usw. Vieles, was sich als körperlich darstellt, ist gelernt. „Da er ein erworbenes System von Erzeugungsschemata ist, können mit dem Habitus alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen. Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind“ (Bourdieu 1987, 251). Bourdieu hat – so jedenfalls eine mögliche Lesart der „Trägheit des Habitus“ – die Priorität von Gesellschaftlichkeit nie aufgegeben und Lebensstil als abhängige Größe vom sozialen Milieu konzipiert. Im Habitus herrscht die Struktur. Allerdings hat er mit dem Konzept des sozialen Feldes die gesellschaftliche Struktur dynamisiert und so gleichzeitig den Spielraum für Handeln geöffnet. Im Zentrum des Individuellen findet sich bereits das Gesellschaftliche. Lernen ist unter dieser Perspektive ein Prozess des gesellschaftlichen Austauschs im Rahmen von sozialen Milieus, von Praktiken, in denen sich der Habitus des Individuums formt und der es untrennbar mit dem sozialen Milieu, aus dem es stammt, zurück bindet. Insofern sind in jeder Biographie Individuelles und Gesellschaftliches unauflöslich miteinander verknüpft. Bourdieu verwendet den Begriff des Leibes, um die inkorporierte „zweite Natur“ zu kennzeichnen. „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wieder betrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1976, 200). Betont wird zunächst die Stabilität des Habitus: „Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körper gemachten Werte“ (ebd.). Habitus ist nicht als angeborene, sondern als erfahrungsabhängige Konstruktion entworfen; in ihr sedimentiert die Vergangenheit des Individuums, das Gesamt seiner Geschichte. Über den Habitus wirkt die zur Natur gewordene und so vergessene Vergangenheit als Grammatik des Handelns in die Gegenwart hinein, eine Grammatik, deren Regeln gekonnt, aber nicht gewusst, also auch nicht beherrscht werden. Die Habitustheorie zeigt die Verflechtungen objektiver Strukturen und subjektiver Intentionen im Handeln. Dabei stehen nicht „ Eigenschaften“ eines Menschen oder ihre Addition im Vordergrund, sondern ein System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen:
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Mit dem Anschluss an die Praxeologie Bourdieus scheint dann endlich eine angemessene Grundlage gefunden, um kritisch-pragmatistisches Lernen gesellschaftswissenschaftlich konzeptualisieren zu können. Dies greift – wie Bourdieu selbst auch – auf ältere Quellen bei Marx, Husserl und Dewey zurück und kann weitergeführt werden. Angeschlossen wird damit an den praxistheoretischen Diskurs. Allerdings ist der Habitus hohl. Die internen Prozesse, die das Subjekt ausmachen und seine Identität ermöglichen, werden nicht genauer ausgefüllt. Insofern sind lediglich generelle Prämissen formuliert, welche in konkreten Praxen umgesetzt werden. „Akteure“ sind nicht „Subjekte“. Mit dem Begriff Habitus scheint das Weberschiffchen gefunden, das Individuum und Struktur verwirkt. Die Muster aber entstehen in der Praxis der Weber. Der Habitus ist auch ein Türhüter dafür, was an Lernen zugelassen wird. Auch einfachste Lerninhalte werden abgewiesen, wenn sie nicht in den Rahmen passen. Insofern ist die Möglichkeit und die Spannweite einer Habitustransformation grundlegende Voraussetzung für alles Lernen. Die Themen müssen Bedeutsamkeit haben, sonst prallen sie ab – sie entziehen sich der Lehre.
12. Lehren
Mangelnde Bedeutungszuweisungen durch die Lernsubjekt bezogen auf Lernthematiken zeigen die Grenzen für alle Bemühungen des Lehrens. Wo die Lernenden selbst keinen Sinn sehen, sind – auch gut gemeinte – Lehranstrengungen vergebens. Auch Strategien, Motivation zu erzeugen, greifen höchstens kurzfristig, und laufen ins Leere. Wenn die Lernenden die Gegenstände nicht mit ihrer Welt verbinden, wird allerhöchstens defensiv gelernt und es entsteht bestenfalls – wenn überhaupt – „träges Wissen“. Der Fokus auf Lernen hat den lange vorherrschenden Stellenwert des Lehrens in der bildungswissenschaftlichen Diskussion relativiert. Die bildungspolitische Debatte hat die Relevanz der Institutionen und des Personals, deren Zielsetzung es ist, Lernen zu vermitteln, eingeschränkt. Angesichts der Hochkonjunktur der „Selbstorganisation“ in fast allen gesellschaftlichen Feldern und besonders des „selbstorganisierten, -gesteuerten, -bestimmten Lernens“ herrscht Verunsicherung beim Lehr-Personal. Selbst-tätigkeit im Lernen ist angesagt. Sicherlich gilt: Man kann nur selbst lernen; niemand kann für jemand anderen lernen. Je mehr die Lernformen sich vom Unterrichten – als Belehren diffamiert – abwenden, und je deutlicher die Selbsttätigkeit der Lernenden in den Vordergrund rückt, desto stärker verändert sich auch das Profil der Lehrenden weg von „Stoffdarbietenden“ hin zu „Lernhelfenden“. Kann es Lehre überhaupt noch geben? Wird Lehre nicht überflüssig? Die Gleichzeitigkeit von Selbstorganisationsdebatte und Stellenabbau bzw. Destabilisierung und Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen bei den Institutionen der Erwachsenenbildung erzeugt Widerstände. Oft wird gemeint, „selbstorganisiertes“ Lernen brauche weniger Lehrkräfte, die Erfahrung ist jedoch, dass die Anforderungen steigen. Behauptet wird außerdem, dass die Lehrenden ihre Position grundsätzlich verändern müssten. Sind sie nur noch Begleitende, Moderator/innen und Animateur/innen ohne eigenen Standpunkt und einschlägiges Wissen?
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Die Verunsicherung des Personals wird potenziert durch eine Verwirrung der Etiketten: Man redet von pädagogischen Mitarbeiter/innen, vor allem Referent/innen und Teamer/innen, von Dozent/innen und Seminar- und Studienleiter/innen, von Trainer/innen, Bildungsmanager/innen und Qualifikationsberater/innen. Es entstehen modische Tätigkeitsbezeichnungen wie z. B. Moderator/in, Facilitator, Coach, Initiator/in, Supporter/in usw. Auch Lernberater/in und Lernhelfer/in sind Suchbegriffe, die aber eins gemeinsam haben: einen Perspektivwechsel weg von Lehr- zu Lernaktivitäten hin. Damit scheint eine jahrhundertealte Tradition, in der es darum ging, Lehre zu verbessern, um Lernen anzuregen, ihr Gewicht zu verlieren. Die Wissenschaft und die Kunst des Lehrens – gefasst unter den Begriff der Didaktik – sind Bezugspunkte des Nachdenkens über Lernen. Gefragt wird, wie gelernt wird, um besser lehren zu können. Schon Johann Amos Comenius (1598-1670), der Begründer der neuzeitlichen Didaktik als der Lehre vom Lernen und Lehren fordert in seiner „Großen Didaktik“ von 1657: „Dieser unserer Didaktik Hauptplan sei folgender: Eine Anweisung zu suchen und zu finden, wie die Lehrenden weniger lehren, die Lernenden aber mehr lernen; die Schulen weniger Lärm, Widerwillen und vergebliche Arbeit, aber mehr Muße, Vergnügen und tüchtigen Fortschritt zeigen; [...]!“ (Comenius 1657/2007, Vorspruch). Sich ausbreitende Schulmüdigkeit und Lernwiderstände haben dazu geführt, dass „Didaktik“ bei Schüler/innen, Eltern und insgesamt bei Lernenden Skepsis provoziert. Lehrende haben, je gravierender die Probleme der Schule werden, einen zunehmend schlechten Ruf. Als lebenslänglich abgesicherte, vollbezahlte teilzeitarbeitende Unterrichtsbeamte – „Pauker“, „Besserwisser“ und „Faulpelze“ – erscheinen sie als Agenten von Institutionen des Lernens; als Dozenten in „Disziplinaranlagen“ fungieren sie mit lernverhindernden aber disziplinierenden Konsequenzen. Was zu ihrem Gewichtsverlust erheblich beigetragen hat, ist die schmale Basis wissenschaftlichen Wissens im didaktischen Diskussionskontext. Angesichts der Komplexität und der Freiheitsspielräume, die bei Lernen unhintergehbar bleiben, sind eindimensionale Kausalitätszuschreibungen immer schon haltlos. Das meiste, was über Didaktik gesagt werden kann, beruht weitgehend auf systematisiertem Erfahrungswissen. Allerdings muss diese Feststellung nicht dazu führen, Wissenschaftsfeindlichkeit, die unter „Praktikern“ im Bildungsbereich sowieso grassiert, zu verstärken. Vielmehr führt sie zu der Frage, was denn Wis-
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senschaft für Lehre leisten kann und welche Wissenschaft didaktischen Problemen angemessen ist. Nach allem, was sinnvoll über Lernen gesagt werden kann, sind instrumentelle Strategien des Belehrens unangemessen. Sie blasen die Illusion auf, man könne Lernen erzeugen, Wissen in die Köpfe eintrichtern und so Ergebnisse in den Köpfen herstellen. Spätestens mit dem Verweis auf die Selbsttätigkeit des Lernens und die Freiheit der Lernenden ist das Scheitern solcher Ansätze unvermeidlich und die Machbarkeitsillusion ist zerplatzt. Das bedeutet aber nicht, dass Lehre überflüssig oder gar unmöglich wäre. Die Aneignung vorhandenen gesellschaftlichen Wissens setzt vielmehr voraus, dass dieser Prozess des Lernens institutionell und personell unterstützt und angeleitet wird. Dabei geht es nicht nur darum, Lernen zu ermöglichen, sondern darüber hinaus ist es notwendig, sich mit Themen und Problemen auseinanderzusetzen, die über individuelle Erfahrungsmöglichkeiten hinausgehen. Vermitteln zwischen den Interessen der Lernenden und gesellschaftlichen Problemen bleibt Aufgabe der Lehrenden. Autodidaxie als Selbstlernen wird manchmal als höchste Form des Lernens bewundert. Aber: Ein „Lernen auf eigene Faust“ wühlt ohne Problembezug oft in „totem Wissen“, erhält skurrile Züge, verfängt sich in Neben-, Ab- und Seitenwegen. Es entstehen Lücken und Einseitigkeiten. Dies setzt Grenzen des Selbstlernens. Eine reflexive Didaktik bewegt sich innerhalb der Grenzen, die durch die Aufdeckung des „Lehr-Lern-Kurzschlusses“ gezogen sind, der Einsicht, „dass die Vorstellung, man könne etwa durch Lehrpläne, Lehrstrategien, didaktische Zurüstung die Lernprozesse eindeutig vorausplanen, also Bedingungen herstellen, unter denen den Betroffenen nichts anderes übrig bleibt, als in der gewünschten Weise zu lernen, eine Fiktion darstellt: Tatsächlich erzeugt man durch derartige Arrangements über die Köpfe der Betroffenen hinweg vor allem Widerstand, Verweigerung, Ausweichen. [...] Um diesem Dilemma zu entkommen, ist es zunächst erforderlich, Arbeitsbedingungen und Kommunikationsformen zu schaffen, innerhalb derer die wirklichen Lerninteressen der Betroffenen systematisch geäußert und berücksichtigt werden können“ (Holzkamp 1996, 24). Lerninteressen aufzunehmen, zu verstärken und zu unterstützen, ist demgemäß Hauptaufgabe des Personals und der Institutionen des Lehrens. Dies wird aufgegriffen im Vorschlag einer lernbezogenen Praxeologie, welche Wissen in Form wissenschaftlicher Theorie reflektiert bezogen auf Strategien praktischen Handelns. Es geht um die gemeinsame Auseinandersetzung mit Lernthematiken bezogen auf Bedeutungsstrukturen. „Eine gemeinsame Hingabe an die Sache ist das Ziel“ (Meyer-Drawe 2010, 10).
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Die Themen der Aneignung und der Auseinandersetzung sind jedoch nicht gefasst als fertige Gegenstände, sondern treten als Probleme auf. Wissen besteht immer nur vorläufig, bleibt begrenzt tragfähig und ist immer wieder neu zu erarbeiten: Deshalb sind Lernen und Lehren unverzichtbar: „In diesem Sinne können Lehrende Lernende herausfordern. Sie können auf die Brüchigkeit der Erfahrung aufmerksam machen und dadurch die Anstrengung im Hinblick auf Neues unterstützen, indem sie verhindern, dass der Rückbezug ins Vertraute gesucht wird“ (ebd. 9). Vermittlung zwischen Welt und Selbst vollzieht sich anhand von Handlungsproblematiken umgesetzt in Lernthematiken. Es ist zentrale Funktion von Lernsystemen, signifikante kulturelle Traditionen und gleichzeitig deren Krisen, die sich als Wissensbestände aber auch -umbrüche darstellen, als Themen aneigenbar und vermittelbar zu machen. Dadurch erfolgt ein Anstoß, die uralte Idee didaktischer Dreiecke von Intention, Thema und Methodik, von Lehrenden, Lernenden und Inhalten, zu reaktivieren, dass das nämlich bei Lehr-Lern-Interaktionen immer um etwas „Drittes“ geht: die gemeinsame Erarbeitung des Lerngegenstandes. Durch den Fokus auf Wissen und Können als Probleme des Lernens wird die Besonderheit pädagogischen und andragogischen Handelns fassbar: Hauptaufgabe der Lehrenden ist es, „Lernen zu vermitteln“, indem individuelle Lerninteressen mit gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen zusammengebracht werden. Lernende und Lehrende entwickeln verschränkte Perspektiven im Aneignungsund Vermittlungsprozess. Demgemäß ist es sinnvoll, über Modewellen von „Selbstorganisation“ hinaus, festzuhalten am schwierigen Begriff der Vermittlungsfunktion als Unterstützung von Aneignung. Aufgaben des Lehrens werden weder ersetzt durch Autodidaxie, noch sollten sie zu instrumentellen Trainingskonzepten regredieren. Sie müssen sich der Tatsache stellen, dass gesellschaftliche Vorgaben für Lernaufgaben zu lösen sind. Angemessene Expertise der Lehrenden besteht im Wahrnehmen von Aufgaben der Vermittlung auf der Grundlage von zwischen Lehrenden und Lernenden geteilten Bedeutsamkeiten. Es gibt also unverzichtbar Lehraufgaben – gerade wenn expansives Lernen als Perspektive aufgenommen wird. Allerdings verschieben sich gegenüber traditionellen Sichtweisen, durch den Blick auf die verschränkten AneignungsVermittlungsprozesse, die Gewichte von Lehrkompetenz weg, von der Stoffweitergabe hin zur Aneignungsunterstützung. Lehraktivitäten – in einem veränderten Sinn – sind fördernde Interventionen in Aneignungsprozessen. Die Differenz zwischen kulturellen Wissensniveaus und individuellen Kenntnissen macht Aneignung nötig und Bildung überhaupt erst möglich. So sind die Themen der Aneignung keineswegs beliebig, sondern
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historisch abhängig von der kulturellen Entwicklung. Vermittlung ist also unverzichtbar, als platte Stoffweitergabe aber unmöglich. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund permanenter beschleunigter Wandlungsprozesse, bei denen ein „fester Lehrstoff“ sich auflöst und immer wieder neu fraglich wird. Leistung von Lehre als ein Unterstützen von Lernen durch Vermitteln der Gegenstände kann sich nicht reduzieren auf den Prozessaspekt, also auf methodische Strategien. Sie umfasst zwingend thematische Aspekte, sowie die den Lernenden und Lehrenden gemeinsamen intentionalen Aspekte. In dieser Sichtweise sind die sich oft in den Vordergrund drängenden methodischen Ansätze als „Instrumentenkoffer“ eher nachgeordnet. Rezeptologien dürfen nicht den Blick dafür trüben, dass es beim Lehren immer auch um das Vermitteln von Inhalten geht. Professionalität ist gekennzeichnet als situative Kompetenz, als die Fähigkeit, wissenschaftliche und somit kontextabstrahierte Kenntnisse in konkreten Situationen anwenden zu können, sowie umgekehrt zu erkennen, welches Wissen im jeweiligen Kontext relevant ist. Hauptkennzeichen ist demnach eine Spezialisierung und Akademisierung von Berufswissen, das zu spezifischen Kompetenzen führt und den Status des Experten für Lehre verleiht. Dieser ist in der Lage, in seinem Handeln abstrahierte Qualifikationen in konkreten Situationen angemessen anzuwenden. Kern einer Professionalität des Lehrens ist also Expertise als Fähigkeit wissenschaftliches Wissen handelnd in Können umzusetzen. Zentraler Fokus ist „Wissen“. Kritische Polemik gegen Stoff und Unterricht unterliegt oft einem doppelten Missverständnis: einem reifizierenden Konzept von Wissen als Stoff, als feststehendem Ergebnis, sowie einer kommunikationstheoretischen Naivität, Lernen erfolge als Stoffübertragung. Wenn man demgegenüber hartnäckiger Weise festhält am Begriff Vermittlung (Faulstich/Zeuner 1999, 2008:3, 67), muss man diesen notwendigerweise erweitern. Lernen ist keineswegs passive Aufnahme von Stoff, sondern aktives Herstellen von Wissen; Lehren hat die Aufgabe, Lernen von Wissen zu vermitteln. Ein Plädoyer für „Wissen“ nach einer langen Zeit der Wissensvergessenheit in der Lehre meint aktive Interpretation und Kohärenz gesellschaftlich tradierter und verfügbarer Bestände – des „kulturellen Erbes“. Wissenssysteme unterliegen der historischen Entwicklung und erfordern individuelle Aneignung. Die Differenz zwischen gesellschaftlichen Wissensbeständen und individueller Aneignung macht Bildung überhaupt erst möglich und nötig. Die akkumulierten Resultate der Erfahrungen und Auslegungen anderer und vorhergegangener Generationen machen Lösungen typischer Probleme mitteilbar und so die einzelnen handlungsfähig. Müsste man alles menschliche Wissen
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jedes Mal aufs Neue selbst erzeugen, würde man sich nicht einmal in den alltäglichsten Situationen zurechtfinden können und wäre nicht handlungsfähig. Dies umfasst nicht nur kognitive, sondern immer schon emotionale und auch motorische Aspekte – das Wissen und Können der Körper. Lernende und Lehrende entwickeln thematisch verschränkte Perspektiven im Aneignungs-Vermittlungsprozess. Sie entwickeln eine gemeinsame Kommunikations- und Interaktionsstruktur, die kollektives Lernen unterstützt. Die Gesellschaftlichkeit des Lernens, die sich in seiner Leiblichkeit bricht, steht in der Dialektik von Sozialem und Individuellem. Wir sind immer mittendrin. Lernende und Lehrende stehen in Interaktionsprozessen, in der wechselseitigen Beziehung von Aneignung und Vermittlung. Allerdings ist Lernen immer auch in eigenen Erfahrungen begründet. Es kommt deshalb beim Lehren darauf an, Erfahrung und Vermittlung zu verknüpfen. In Bezug auf Lehren wird also nochmals die Besonderheit menschlichen Lernens verdeutlicht. Die vielfältigen Aspekte der Lernthematik auszuführen, würde die Grenzen eines enzyklopädischen, manchmal polemischen Essays, wie ich ihn in diesem Text vorlege, überschreiten. Immerhin haben wir so – mit dem Bezug auf Tätigkeit, Interessen und Kontextualität – das Problemspektrum des „Lernens“ aufgerissen. Was aber ist bei der Argumentation herausgekommen?
13. Lerntheorien, Identitätskonzepte und Bildung
Meine Denklinie zielt auf die Begründung einer kritisch-pragmatistischen Theorie des menschlichen Lernens. Zusammenfassend stellt sich heraus, dass dazu wissenschaftstheoretisch der Beobachtungshorizont aufgegeben und eine Teilnehmendenperspektive eingenommen werden muss. Als weiterer Ertrag kann die subjektwissenschaftliche Position in der Lerntheorie bestimmt werden in der Beziehung und Verwobenheit von Ich und Welt, von Subjekt und Kontext. Dies führt über eine Neufassung von „Identität“ zu einer Wieder-Belebung von „Bildung“. Wir betrachten – wissenschaftstheoretisch am literarischen Beispiel illustriert – das Leben der anderen nicht aus der universellen Perspektive Gottes, sondern wir leben und lernen immer mit anderen zusammen. Bei dem amerikanischen Schriftsteller John Steinbeck findet sich in der Erzählung „The Pearl“ das Bild eines Beobachters (Kino, ein junger, starker und armer Perlentaucher), der gefühlslos zusieht, wie sich Ameisen dem Trichter eines Ameisenlöwen, – ein Lauerfänger, die Larve aus der Insektenfamilie der Netzflügler – nähern, hineinfallen und unausweichlich gefressen werden: „The ants were busy on the ground, big black ones with shiny bodies and the little dusty quick ants. Kino watched with the detachment of God while a dusty ant frantically tried to escape the sand trap an ant lion had dug for him. He watched the ants moving […]“ (Steinbeck 1993). Die Sicht vom Außenstandpunkt „with the detachment of God“ aber ist eine fiktive und oft zynische. Wir nehmen teil am Leben; es ist uns nicht fremd. Auch wenn wir beobachten, erheben wir uns nicht in eine Metaperspektive, sondern erreichen höchstens einen höheren Reflexionshorizont. Nur so ist es möglich, das Andere, das Fremde und dann sich selbst sowohl zu verstehen, zu erklären und zu begreifen. Aus wissenschaftlicher Perspektive kann durch Reflexivität, indem
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wir versuchen uns klar zu machen, was wir tun, höchstens eine relative Distanz hergestellt werden. Subjektwissenschaftlich wird somit die Relationalität von Ich und Welt hervorgehoben. Merleau-Ponty (1966, 166; vgl. a. Bloch 1963, s.o.) – um dessen Sichtweise nochmals aufzugreifen – hat die zentrale, zugrundliegende Denkfigur deutlich gemacht durch den Übergang vom „Ich bin“ zum „Wir können anders“. Damit sind drei Aspekte benannt: Erstens der Einbezug des Ich, des Individuums, in die Gesellschaftlichkeit des Wir; zweitens der Schritt vom Denken zum Handeln und drittens das Durchbrechen der Faktizität durch den Verweis auf einen Spielraum der Möglichkeiten, den wir handelnd ausfüllen können. Damit ist formelhaft das Subjekt-Struktur-Problem gefasst. Es gibt eine Kontingenz der Subjekte in wechselnden Kontexten. Gleichzeitig stellt sich unausweichlich weiterhin die Frage nach den Subjekten, die sich nicht einfach in die Strukturen auflösen. Individualität ist eine Realabstraktion der fortbestehenden Gesellschaftsformation. Ihr Widerspruch zur Sozialität beruht nicht auf einer logischen Beschränktheit des Denkens, sondern auf den historischen Grenzen personaler Entfaltung in den gegebenen gesellschaftlichen Kontexten. Der Fetisch Individuum abstrahiert sowohl von der Körperlichkeit als auch von der gesellschaftlichen Formbestimmtheit seiner Geistigkeit in ihrer Geschichte. Die kapitalistische Gesellschaftsformation liefert die „Rahmungen und Spielräume des Selbst“ (Wittpoth 1994), die historischkonkret bestimmt werden müssen. Die entwickelte menschliche Persönlichkeit erscheint als Aufschichtung zeitlich vergangener Tätigkeiten in der Gegenwart und als Potential für die Zukunft durch angeeignete Fähigkeiten (Seve 1973, 309). Persönlichkeit ist ein Prozess und in jedem Moment das Resultat ihrer Handlungen. Der Mensch wird ständig mit der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse konfrontiert. Der französische Sozialphilosoph Lucien Seve (geb. 1926) hat eine Kopplung einer möglichen Theorie des Individuums mit der politischen Ökonomie vorgeschlagen. Demgemäß entsprechen sich historische Individualitätsformen und die jeweiligen Gesellschaftsformationen. Sie werden verbunden durch die Praxen, durch die Tätigkeiten des Leibes als Einheit von Struktur und Subjekt. Sie akkumulieren in der Biographie, in der sich die Herausbildung und Wandlung der einmaligen Persönlichkeit wiederfindet, und sie werden erlebt als Identität. Mit diesem Begriffsnetz von Persönlichkeit, Biographie und Identität ist ein Sprachspiel geregelt, das es ermöglicht, Lernen angemessen zu erfassen. Ausgeworfen erhält es eine hohe Reichweite. Es fängt in gestaffelter Maschengröße sowohl die kleinen Fische z.B. des Kenntniserwerbs, erhält aber auch die Öffnung zum „Leben Lernen“.
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Lernen öffnet die Horizonte des Möglichen und bewahrt vor dem Untergang. Weitermachen, angetrieben von unbelehrbarem Willen, ist dagegen des Walfängers Kapitän Ahabs Jagd auf Moby Dick mit der Harpune: „he would take the whale head-and-head“ (Melville 1851, 616). „There was only one thing to be done“ (ebd.). Darüber hinaus lernt er nicht: „still as on the night before, slouched Ahab stood fixed within his scuttle; his hid, heliotrope glance anticipatingly gone backward on its dial; sat due eastward for the earliest sun“ (ebd.). Ahab bleibt starrsinnig, unbeugsam und lernunfähig, Seine Zukunftshoffnung – auch am dritten Tag der Jagd – richtet sich auf den Tod des Wals bei aufgehender Sonne. Darüber hinaus denkt er nicht. „I’ll. I’ll solve it. Though!“ (ebd. 621). Lernunfähigkeit kann tödlich sein. Erst nach der Katastrophe wird dem einzigen Überlebenden, dem Matrosen Ismael, klar: „Thinking is, or ought to be, a coolness and a calmness; and our poor hearts throb, and our poor brains beat too much for that. And yet, I’ve sometimes thought my brain was very calm – frozen calm, this old skull cracks so, like a glass in which the contents turned to ice, and shiver it“ (ebd.). Erst der Abstand vom unmittelbaren Handlungszusammenhang macht Raum frei für Denken und Lernen. Über blanke Intentionalität hinaus ist Reflexivität Kernmerkmal menschlichen Lernens. Vergegenwärtigen wir uns im Schnelldurchlauf die zentralen Thesen: Die vorherrschenden Auffassungen des Lernens (Teil 3) werden der Anforderung an eine dem menschlichen Lernen angemessene Theorie nicht gerecht. Sie beharren weiter auf dem kalten Außenstandpunkt des externen Beobachtenden und tendieren zu linearen, kausalen Interpretationen des Lerngeschehens. Damit verkennen sie die grundsätzliche Freiheit des menschlichen Handelns, bei dem niemals eine vollständige externe Determination greift. Das Spezifikum menschlicher Aktivitäten ist: Sie verhalten sich nicht ausschließlich ausgelöst durch äußere Anstöße, sondern sie können handeln auf der Grundlage von Sinn und Bedeutung. Ahab dagegen ist borniert und fixiert – allerdings in bewundernswerter Entschlossenheit. Handlungszwänge treiben ihn in Lernunfähigkeit. So führt er das Schiff, seine Mannschaft und sich selbst in den Untergang. Er stirbt mit dem Schiff. Es geht nicht nur um Beobachten vom Außenstandpunkt – Ahab, der an den Wal gefesselt ist –, sondern vor allem um Verstehen der Beteiligten – Ahab, der den Verlust seines Beins rächen will. Damit – dies ist der erste Schritt, die verhaltenswissenschaftliche Engführung aufzubrechen (Teil 4.1) – bezieht sich Lerntheorie zurück auf hermeneutische Konzepte der Geisteswissenschaften und
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deren Begründer Wilhelm Dilthey. Sie ist eingebettet in das Konstitutionsproblem der Geisteswissenschaften in Konfrontation mit den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hegemonial werdenden Naturwissenschaften. „Lernen“ war für Dilthey kein direktes Thema. Es kann aber eingeordnet werden als eine Form des Erlebens, das verstanden werden kann. Auf alle Fälle findet sich in den diesem Grundansatz folgenden phänomenologischen Konzepten eine deutliche Abkehr von instrumentalistisch und finalistischen Interpretationen des Lernprozesses. Das Wort Erfahrung und dementsprechend das Wort Lernen hat für eine hermeneutisch verfahrende Erziehungswissenschaft eine doppelte Bedeutung. „Es meint einmal die einzelnen Erfahrungen von etwas. Die einzelnen Erfahrungen sind das erste, mit dem Wissen anfängt; mit ihnen hebt unsere Erkenntnis an. […] Erfahrung meint zugleich einen Prozess, mit dem uns immer Neues zuwächst auf Grund schon gemachter Erfahrung. […] Das Wort ‚Erfahrung‘ weist zweitens auf eine Struktur hin, die wir die innere Rückbezüglichkeit der Erfahrung nennen wollen. Diese Rückbezüglichkeit bestimmt schon den Zuwachscharakter der Erfahrung. An jeder Erfahrung machen wir nämlich eine Erfahrung über diese Erfahrung. […] Zugleich macht der Erfahrende auch eine Selbsterfahrung: Er erfährt etwas über seine Verhaltensweisen und lernt etwas über künftige Verhaltensweisen. Erst in dieser Rückwendung der Erfahrung auf sich selbst, die zugleich ein Wandel unseres Erfahrenkönnens ist, liegt die eigentlich belehrende Kraft der Erfahrung“ (Buck, 1989, 3-4). Einen zweiten Bruch mit der Kausalitätsillusion naturwissenschaftlicher Verhaltenswissenschaft und ihren Instruktionskonzepten vollzieht das Nachdenken über Lernen, wie es John Dewey vollzieht. Seine Explikation des Lernens ist eingebunden in das pragmatistische Konzept (Teil 4.2) von Erfahren und Handeln angestoßen hat. Noch einen Schritt über Verstehens- und Erfahrungsbezug weiter geht Klaus Holzkamp (Teil 4.3). Er unterscheidet systematisch zwischen „Mitlernen“ im Zusammenhang anderer Tätigkeiten und einem Lernen als spezifische Form menschlichen Handelns, als „intentionales Lernen“. Lerninteressen richten die Lernaktivitäten auf spezifische Lernthematiken aus. Begriffsstrategisch purifiziert Holzkamp „Lernen“ durch den Bezug zur Intentionalität: Es geht ihm um „Lernen pur“, um eine besondere Handlungsform, welche sich z.B. von Arbeiten oder Spielen unterschiedet. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Gegenstandskonstitution der Lerntheorie. Mit intentionalem Lernen verbinden die Lernenden die Absicht, angesichts einer Irritation von Routinen im primären Handlungsverlauf nicht überwindbaren Schwierigkeiten und Fragen beizukommen und diese zu lösen. Lernen wird
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angestoßen von Fragen, nicht von fertigen Antworten, von Problemen, nicht von Resultaten. Es ist grundsätzlich ergebnisoffen und wahlfrei. Lernen stellt so betrachtet eine besondere Form der Handlung dar, die darauf ausgerichtet ist, Weltverfügung zu erweitern. Alle Handlungen – also auch Lernhandlungen – sind kognitive und zugleich emotionale Einheiten psychischer Aktivität. Holzkamp hat seine Lerntheorie aus individualistischer Verengung herausgeführt, durch die Vorstellung von partizipativem Lernen (Holzkamp 1993, 501, 510) zwischen Novizen und Meistern und kooperativem Lernen (ebd. 501, 514) als gemeinsamer Aneignung. Damit wird der dritte Schritt, um die Beschränktheiten traditioneller verhaltenswissenschaftlicher Lerntheorien aufzubrechen, vollzogen: Alles Lernen ist eingebunden in einen situativen Kontext innerhalb gesellschaftlicher Einbindungen; es verläuft vor dem Hintergrund eigener körperlich Erfahrungen, sprachlicher Gebundenheit und lebensgeschichtlicher Perspektive. Holzkamp hat dies bei der kategorialen Explikation des Lernsubjekts auf seine standortspezifischen Bestimmungen und lebenspraktischen Bedeutungszusammenhänge (ebd. 252) als „Situiertheiten“ – körperliche, sprachliche und biographische – gefasst. Es geht um die Bedeutsamkeit einer erfahrenen Problematik für die Lernenden selbst, um Eigensinn und Unverfügbarkeit. Dann liegt es auch nahe, den Fokus auf das „Subjekt“ aufzuheben und dessen Einbezug in soziale Kontexte aufzunehmen. Von Dewey aus kann dessen Begriff des „habit“ zu G.H. Meads „symbolischem Interaktionismus“ und zu Pierre Bourdieus Kategorie des Habitus weitergesponnen werden. In dieser Schrittfolge ergibt sich die Emergenz der Lerntheorien (Teil 5). Die Ebenen reichen von physiologischen, über psychologische bis zu sozialen Modellen. Im Kern steht menschliches Lernen in seiner Leiblichkeit, in der Dialektik von Körper und Geist. Der Begriff der Tätigkeit bei Leontjew, der Interaktion bei Mead und der Praktiken bei Bourdieu treten ins Zentrum. Sie liefern Kategorien der Vermittlung von Struktur und Subjekt (Teil 6). Tätigkeit wird angestoßen durch die Erfahrung einer Welt, der wir uns gegenüberstellen und der wir zugleich angehören (Teil 7). Die Transzendentalität des Erfahrens und des dadurch angestoßenen Lernens ist ausgerichtet durch Intentionalität und orientiert durch Interessen (Teil 8). Gerade die bleibende Unverfügbarkeit der Subjekte begründet ihre Widerständigkeit gegenüber beliebigen Anforderungen (Teil 9). Die Option des Nichtlernens ist Indiz für relative Autonomie. Die Transzendentalität des Erfahrens und die Intentionalität des Handelns umspannen unsere Lebensführung, in die Aktivitäten des Lernens in ihrer raumzeitlichen Leiblichkeit eingebettet sind (Teil 10). Der Leib hält unser Lernen fest und befreit es zugleich aus dem unmittelbaren Tätigkeitsvollzug. Im Durchbrechen des Üblichen lernen wir.
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Entsprechend verlässt das Nachdenken über Lernen individualistische Beschränktheit und öffnet sich dem Lernen in Gesellschaft (Teil 11). Dies ist der vierte, ausschlaggebende Schritt zu einer praktischen Theorie des Lernens. Sie baut auf den Kategorien der Tätigkeit, der Erfahrung, des Interesses, des Widerstands und der Lebensführung. Eine Überwindung der uralten Dichotomie von Wahrnehmen und Begreifen ist in den rekapitulierten Theorien am weitgehendsten in der Praxeologie Pierre Bourdieus angelegt (Bourdieu 1974). Mit den Begriffen des Habitus, des sozialen Feldes und der Praxis verbindet er Individuum und Gesellschaft. Im Kern des Individuellen findet sich bereits das Gesellschaftliche. Insofern ist Lernen dann ein Prozess des Austauschs im Rahmen von sozialen Milieus, in denen sich der Habitus aufbaut und verändert. Darauf beruht die Kontinuität der Entfaltung der Individuen über einzelne Lernereignisse hinaus. Sie ist eingebunden in gesellschaftliche Praxen. Die alltägliche Lebensführung verankert alle Tätigkeiten in der eigenen Erfahrung. Hier setzt das kritisch-pragmatistische Konzept an: Es betont die bedingte Freiheit des Lernens. Nur so ist es möglich „Identität“ und „Bildung“ angemessen zu denken. In diese Denkrichtung konzipiert schon George Herbert Mead seine Theorie von der Innerweltlichkeit des Geistes. Mead gibt die „Auffassung auf, die Seele sei eine Substanz, die bereits bei der Geburt die Identität des Individuums ausmacht“ (Mead 1973, 39). Der relativ stabile Kern der Identität kann mit dem Begriff der „Persönlichkeit“ gefasst werden. „Der Mensch hat eine Persönlichkeit, weil er einer Gemeinschaft angehört, weil er die Institutionen dieser Gemeinschaft in sein eigenes Verhalten hereinnimmt. [...] Die Struktur der Identität ist also eine allen gemeinsame Reaktion, da man Mitglied einer Gemeinschaft sein muss, um eine Identität zu haben. [...] Er versetzt sich an die Stelle des verallgemeinerten Anderen, der die organisierten Reaktionen aller Mitglieder der Gruppe repräsentiert“ (ebd. 204, 205). Es geht aber nicht nur um das isolierte Individuum, sondern zugleich um dessen gesellschaftliche Verortung: „Identität ist ein Projekt, das zum Ziel hat, ein individuell gewünschtes oder notwendiges ‚Gefühl von Identität‘ (sense of identity) zu erzeugen. Basale Voraussetzung für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit“ (Keupp 1997, 34). Identität ist also eine zutiefst soziale Kategorie. Sie ist keine feste Eigenschaft, die man hat, sondern ist im Austausch mit anderen immer wieder neu zu entwerfen. So ist Identität zentrale vergesellschaftende Verknüpfung zwischen
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Individuum und Gesellschaft. Dies ist aber nicht vorgegeben, sondern erst zu erzeugen. „Identitätschancen sind jedoch zunehmend gefährdet in der Heteronomie diffuser Lebensverhältnisse. Das Identitätssyndrom wird zunehmend virulent: Der offensichtlich inflationäre Gebrauch des Identitätsbegriffs verweist also darauf hin, dass Identitätsbildung unter den gegenwärtigen gesellschaftlichkulturellen Bedingungen prekär geworden ist“ (ebd. 7). Identitätschancen sind zunehmend gefährdet in der Heteronomie diffuser Lebensverhältnisse: Individualisierung, Pluralisierung, Flexibilität und Mobilität gehören immer mehr zu den Erfahrungen in der modernen Gesellschaft. Sie beschreiben strukturelle gesellschaftliche Dynamiken, die die Lebensformen der Menschen rahmen. In einer enttraditionalisierten Gesellschaft kann es nicht mehr um die Übernahme fertiger Verhaltensmuster gehen, sondern um ein Aushandeln von Gestaltungsmöglichkeiten. Das Leben in den sogenannten Arbeits-, Wissens-, Risiko-, Ungleichheits-, Einwanderungs-, Erlebnis-, Multioptions-, Netzwerk-, usw. -gesellschaften verdichtet sich zu einer verallgemeinerbaren Grunderfahrung der Subjekte: In einer Bodenlosigkeit nach dem Verlust von unstrittig als vorgegeben akzeptierten Konzepten der Lebensführung und gültigen normativen Koordinaten. Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Leben wird zum Stegreifspiel. Stegreif – sagt uns der Duden – ist der Steigbügel, in den man tritt, wenn man noch nicht oder nicht mehr fest auf dem Pferd sitzt. Es kommt darauf an, zu Lernen mit Zwischenzuständen umzugehen, anzuschließen und das Spiel weiterzutreiben. Identität wird so Thema der Diskurse in differenzierten kulturellen Arenen. Identität wird zum Projekt, bei dem es darum geht, ein Gefühl von Kontinuität zu erzeugen. Statt um Normalitätshülsen geht es um alternative Möglichkeiten; Identitätskonstruktionen enthalten deshalb immer auch konkrete Utopien gelingenden Lebens. Sie setzen Anerkennung und Zugehörigkeit voraus. Wie dies in einer heteronomen, zerrissenen Gesellschaft möglich ist, ist nur denkbar in kritischer Reflexion scheinbarer Festgelegtheit und Starrheit. Damit ist die anspruchvollste Aufgabe des Lernens benannt: nicht stehen zu bleiben bei scheinbar unabänderlichen Tatsachen, sondern in Brüchen und Widersprüchen Perspektiven und Chancen aufzuspüren. Einen angemessenen Begriff des Lernens erreichen wir perspektivisch, indem wir drei Denklinien weiterziehen: von der mentalen Aktivität des Denkens hin zu praktischer Tätigkeit (Faulstich 2005); von der Isolation der Lernprozesse hin zu den kontextuellen Rahmungen (Bracker/Faulstich 2012); von der Bezug-
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nahme auf das vereinzelte Individuum hin zur Priorität des Sozialen. Ein angemessener Subjektbegriff nimmt dies auf. Menschliches Lernen beruht auf der sich im leiblichen Begegnen herstellenden Gemeinsamkeit und entfaltet und erweitert durch das Erfahren des Neuen die Bezüge in der Verwobenheit von Ich und Welt. Im Leib sind Geist und Körper eins, in der Gemeinschaft verbinden sich Individualität und Sozialität. Erfahrungen und deren Sammlung erfolgt in gesellschaftlichen Verhältnissen und sie regen dann zum Lernen an, wenn sie das Alte durchbrechen und das Neue denkbar machen. Allerdings gilt das nicht einfach: Körper und Geist treten auseinander in der Erfahrung des undenkbaren Schmerzes, Individuum und Gesellschaft fallen auseinander in Tauschverhältnissen, Erfahrungen können Spielräume verstellen und beschränken. Die Idee der Gemeinschaft zerbricht allerdings an der Konkurrenz der Marktteilnehmer im Kapitalismus. Deshalb ist „Lernen“ kein unschuldiger Begriff. Er steht selbst – pathetisch formuliert – im Spannungsverhältnis von Anpassung und Unterdrückung; er ist der Macht unterworfen. Dies bindet Lernen zurück an die Fatalität des Bestehenden. Und es treibt darüber hinaus in die Erweiterung des Möglichen. Man stößt dann nach dem Durchgang durch die Begriffe Tätigkeit und Lernen, Erfahrung, Interesse, Kontext, Sozialität und Identität unausweichlich auf die alte Frage nach Bildung. Im hier verfolgten theoretischen Zusammenhang kann man Bildung begreifen als einen lebensgeschichtlichen Vorgang, in dessen Verlauf und Ergebnis die Individuen sich bemühen, Identität herzustellen. Sie eignen sich im Lernen Kultur an und entfalten dabei ihre Persönlichkeit. Sie lernen. In diesem Prozess entsteht in der individuellen Biographie mögliche Identität. Bildung in diesem Sinn kann es nur geben in modernen Gesellschaften, in denen der Ort, die Stellung und der Lebenslauf der Einzelnen nicht festgelegt sind. Die Inhalte einer solchen Bildung bestimmen sich nicht aus einem zeitlosen Kanon, sondern historisch konkret angesichts der gegenwärtig sich stellenden Probleme. Die zu bearbeitenden Schlüsselprobleme stellen sich immer wieder neu und verändert. Bildung heißt demnach, diejenigen Kompetenzen zu erwerben, um konkrete gesellschaftliche Probleme zu verstehen, die eigene Position dazu zu finden, entsprechende Entscheidungen zu treffen und handelnd einwirken zu können. Das zentrale Bildungsproblem, die Perspektive der Sicherung von Identität und der Entfaltung von Persönlichkeit, ist demnach gebunden an die Gewinnung von Souveränität für das eigene Leben, von erweiterter Handlungsfähigkeit, das heißt auch von Lernchancen.
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Allerdings trägt eine solche Begriffsstrategie nur, wenn gleichzeitig mit „Identität“ ein fluider Kristallisationskern ausgemacht wird, der Lernprozesse und -resultate immer wieder neu bündelt. Menschliches Lernen ist – so viel Pathos sei mir abschließend erlaubt – dann ausgerichtet an einem hartnäckigen Beharren auf ein besseres, zukünftig mögliches Leben. Wenn die Katastrophe und der Zusammenbruch vorüber sind, beruhigen sich die Wellen und es entstehen neue Impulse, die Suche fortzusetzen, weiter zu lernen: „On the second day, a sail drew near, nearer, and picked me up at last. It was the devious-cruising Rachel, that in her retracing search after her missing children, only found another orphan. finis“ (Melville 1851, 635).
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Theorie Bilden Sönke Ahrens Experiment und Exploration Bildung als experimentelle Form der Welterschließung 2010, 330 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1654-5
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Werner Friedrichs Passagen der Pädagogik Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze 2008, 306 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-846-9
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Kathrin Hahn Alter, Migration und Soziale Arbeit Zur Bedeutung von Ethnizität in Beratungsgesprächen der Altenhilfe
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