Lernen - Kontext und Biografie: Empirische Zugänge [1. Aufl.] 9783839430958

Learning strategies are frequently discussed. But when does content become relevant for the learner themselves? This cri

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German Pages 182 Year 2015

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Table of contents :
Vorbemerkung
1. Lernen als Forschungsgegenstand
2. Forschung zum Lernen Erwachsener
2.1 Lernforschung zu Lernstrategien und -interessen
2.2 Adressaten- und Teilnahmeforschung
2.3 Biografieforschung
2.4 Forschung zum Erwerbsbezug
2.5 Forschung zum Situierten Lernen
3. Fragen an die Lerntheorie
4. Begreifen des Lernens
4.1 Lernwerkstatt
4.2 Auswahl und Zusammensetzung der Lernwerkstätten
4.3 Auswertung
4.4 Vermittlung von Empirie und Theorie in der Lernforschung
4.5 Gruppen in den Lernwerkstätten
5. Begründungsperspektiven und -muster für Lernen
5.1 Begründungsperspektiven: Identität, Erwerbsarbeit und Biographie
5.2 Begründungsmuster des Lernens
5.3 Lernbegründungen in Perspektiven und Mustern
6. Kontextuale Lerntheorie
6.1 Identität als Selbstentwurf
6.2 Leistung als Basisideologie
6.3 Prekarität als Risiko für Anerkennung und Destruktion von Lernleistung
6.4 Reflexives Lernen
7. Perspektiven kontextualer Lerntheorie
8. Empirisches Material
9. Literatur
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Lernen - Kontext und Biografie: Empirische Zugänge [1. Aufl.]
 9783839430958

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Peter Faulstich, Rosa Bracker Lernen – Kontext und Biografie

Theorie Bilden | Band 37

2015-04-09 16-29-09 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01cd394989209226|(S.

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Editorial Die Universität ist traditionell der hervorragende Ort für Theoriebildung. Ohne diese können weder Forschung noch Lehre ihre Funktionen und die in sie gesetzten gesellschaftlichen Erwartungen erfüllen. Zwischen Theorie, wissenschaftlicher Forschung und universitärer Bildung besteht ein unlösbares Band. Auf diesen Zusammenhang soll die Schriftenreihe Theorie Bilden wieder aufmerksam machen in einer Zeit, in der Effizienz- und Verwertungsimperative wissenschaftliche Bildung auf ein Bescheidwissen zu reduzieren drohen und in der theoretisch ausgerichtete Erkenntnis- und Forschungsinteressen durch praktische oder technische Nützlichkeitsforderungen zunehmend delegitimiert werden. Der Zusammenhang von Theorie und Bildung ist in besonderem Maße für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung, da Bildung nicht nur einer ihrer zentralen theoretischen Gegenstände, sondern zugleich auch eine ihrer praktischen Aufgaben ist. In ihr verbindet sich daher die Bildung von Theorien mit der Aufgabe, die Studierenden zur Theoriebildung zu befähigen. Die Reihe Theorie Bilden ist ein Forum für theoretisch ausgerichtete Ergebnisse aus Forschung und Lehre, die das Profil des Faches Erziehungswissenschaft, seine bildungstheoretische Besonderheit im Schnittfeld zu den Fachdidaktiken, aber auch transdisziplinäre Ansätze dokumentieren. Die Reihe wird herausgegeben von Hannelore Faulstich-Wieland, HansChristoph Koller, Karl-Josef Pazzini und Michael Wimmer, im Auftrag der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Peter Faulstich (Prof. Dr. Dipl.-Ing.) lehrt Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Lernen Erwachsener, Lernen und Lernräume, Gesellschaftsbilder und Weiterbildung. Rosa Bracker (Dipl.-Päd.) arbeitet im Schwerpunkt Erwachsenenbildung der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Jugendbildung und Erwachsenenbildung, Lernräume sowie Lerngeschichten.

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Peter Faulstich, Rosa Bracker

Lernen – Kontext und Biografie Empirische Zugänge

2015-04-09 16-29-09 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01cd394989209226|(S.

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Das Projekt »Kontextualität und Biografizität des Lernens Erwachsener« wurde gefördert durch die DFG.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3095-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3095-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2015-04-09 16-29-09 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01cd394989209226|(S.

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4) TIT3095.p 394989209234

Inhalt

Vorbemerkung | 7 1. Lernen als Forschungsgegenstand | 9 2. Forschung zum Lernen Erwachsener | 15 2.1 Lernforschung zu Lernstrategien und -interessen | 16 2.2 Adressaten- und Teilnahmeforschung | 19 2.3 Biografieforschung | 21 2.4 Forschung zum Erwerbsbezug | 22 2.5 Forschung zum Situierten Lernen | 22 3. Fragen an die Lerntheorie | 25 4. Begreifen des Lernens | 31 4.1 Lernwerkstatt | 37 4.2 Auswahl und Zusammensetzung der Lernwerkstätten | 43 4.3 Auswertung | 44 4.4 Vermittlung von Empirie und Theorie in der Lernforschung | 47 4.5 Gruppen in den Lernwerkstätten | 50 5. Begründungsperspektiven und -muster für Lernen | 93

5.1 Begründungsperspektiven: Identität, Erwerbsarbeit und Biographie | 94 5.2 Begründungsmuster des Lernens | 116 5.3 Lernbegründungen in Perspektiven und Mustern | 141 6. Kontextuale Lerntheorie | 145

6.1 Identität als Selbstentwurf | 146 6.2 Leistung als Basisideologie | 148 6.3 Prekarität als Risiko für Anerkennung und Destruktion von Lernleistung | 150 6.4 Reflexives Lernen | 156 7. Perspektiven kontextualer Lerntheorie | 161 8. Empirisches Material | 169 9. Literatur | 171

Vorbemerkung

Wir berichten über ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes empirisches Vorhaben „Biografizität und Kontextualität des Lernens Erwachsener“. In diesem Projekt haben wir zum einen auf vorgehende und gleichzeitige theoretische Überlegungen zur Lerntheorie (Faulstich 2005; 2013) zurückgegriffen. In diesem Kontext, der zwischen Theorie und Empirie oszillierend aufbaut, wurde auch eine begriffliche und systematische Klärung vorangetrieben und diskutiert. Dabei wurde bewusst durch den Diskurs phänomenologischer, pragmatistischer und subjektwissenschaftlicher Positionen (Faulstich (Hrsg.) 2014) Offenheit erzeugt. Zum andern konnten wir insbesondere auf eigene bisherige empirische Untersuchungen von Lernsituationen im Diskussionskontext „Soziale Milieus und selbstbestimmtes Lernen“ (Faulstich/Grell 2005) und die dabei entwickelten Forschungsverfahren – vor allem die „Forschende Lernwerkstatt“ (Grell 2006) – zurückgreifen. So ist eine Trilogie entstanden, welche kategoriale Systematik, kontroversen Diskurs und empirisches Material zusammenführen will. Die Diskussion wurde im Zusammenhang der im Arbeitsbereich Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg seit 1998 (Faulstich 1999) entstandenen Forschung um Lernen vorangetrieben. Daran beteiligt waren außer uns selbst vor allem Gesa Grandt, Petra Grell, Anke Grotlüschen, Silke Schreiber-Barsch, Susanne Umbach, Jessica Vehse und Christine Zeuner, die wir aber alle nicht für unsere eigenen Unzulänglichkeiten mitverhaften lassen wollen. Uns ist sehr bewusst, dass wissenschaftliche Aussagen immer nur vorläufige sind, und wir benennen abschließend offene Fragen.

1. Lernen als Forschungsgegenstand

Das hier vorgestellte, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Vorhaben „Biografizität und Kontextualität des Lernens Erwachsener“ kann zum einen auf vorlaufende und gleichzeitige theoretische Überlegungen zur Lerntheorie (Faulstich 1999; 2005; 2013; Faulstich (Hrsg.) 2014) aufbauen, und zum andern insbesondere auf eigene bisherige empirischen Untersuchungen von Lernsituationen vor allem im Diskussionskontext „Soziale Milieus und selbstbestimmtes Lernen“ (Faulstich/Grell 2005; Grell 2006) zurückgreifen. In dem dargestellten Projekt wird daran anschließend der Frage nachgegangen, in welcher Weise erwachsene Lernende unterschiedliche Strategien des Lernens einsetzen bzw. an welchen Begründungsperspektiven und -mustern sie ihr eigenes Lernen orientieren. Ausgangsposition unserer Forschungen ist eine subjektbezogene Lerntheorie: Durch externe ‚Faktoren‘ werden Lernende – so eine unserer Grundeinsichten – keineswegs kausal determiniert, etwa indem ihr Verhalten durch Bedingungen ihres Lebens und Lernens bestimmt wäre. Vielmehr gibt es für ihr Handeln immer Spielräume ‚bedingter Freiheit‘ (Faulstich 2013, 91-94). Wir verfolgen entsprechend einen Begründungsdiskurs (Holzkamp 1993, 25-38), der davon ausgeht, dass Lernen eben nicht deterministisch durch externe Faktoren angestoßen wird, sondern dass der Kontext erst dann relevant wird, wenn die lernenden Subjekte ihn ‚intern‘ aufnehmen und er also für sie Bedeutsamkeit erlangt – also Bedingungen zu Begründungen werden wie auch umgekehrt. Gleichzeitig ist jedoch der Kontext des Lernens unverzichtbar immer mit zu betrachten; es wäre eine fatale Illusion, menschliche Individuen als isolierte Entitäten aufzufassen, die völlig autonom entscheiden und handeln. Menschen lernen und leben aber nicht in luftleeren Räumen, auch nicht in Skinner-Boxen. Im Gegensatz zu einer individualistischen Lerntheorie, die die Lernenden vereinzelt, betreiben wir demgemäß eine kontextuale Lerntheorie, welche Lernen als relativ autonomes Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen begreift. Die lernenden Subjekte treten aus dem Netz von Bindungen und Bedingungen heraus, bleiben aber immer auch darin einbezogen.

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Das gilt insbesondere für Erwachsene, denen meist zugestanden wird, dass sie sich aus familiären Eltern-Kind-Beziehungen gelöst haben, und denen juristisch und ökonomisch Eigenständigkeit unterstellt und Selbstverantwortung zugewiesen wird (Faulstich/Zeuner 2008: 3. Aufl., 35f.). Das Lernen Erwachsener kann somit innerhalb des Spannungsverhältnisses von Mündigkeit und Abhängigkeit als Folie ‚Menschlichen Lernens‘ dienen, weil hier Reifungs- und Erziehungsprozesse, die bei Kindern und Jugendlichen greifen und später dann als Alternsprozesse wiederkehren, ausgeblendet werden können. Wir wenden uns ab von der dominanten wissenschaftlichen Perspektive, die nach optimalen Lehrarrangements sucht. Vielmehr wird die Suchrichtung umgekehrt und neu gefasst, indem wir fragen, wie sich die subjektiven Begründungen zu lernen – oder nicht zu lernen – auf die Bedingungen biografischer Prozesse und sozialer Kontexte beziehen. Dies erfordert einen erweiterten Begriff von Lernstrategien, der nicht begrenzt bleibt auf Methoden effizienter Aneignung von Fähigkeiten und Können, sondern auch Ausweichen, Lernwiderstand, Lernvermeiden bzw. Nichtlernen umfasst. Gefragt wird, welche Wege die Subjekte einschlagen, um ihre Lernintentionen ‒ ausgehend von ihren gesellschaftlich rückgebunden Interessen ‒ zu erreichen. Als Brennpunkt unserer Untersuchung hat sich im Verlauf unsere Forschungsarbeit auf den Begriff der Bedeutsamkeit konzentriert, der zwischen Bedingungen und Begründungen vermittelt. Untersucht wird dies am Beispiel der Lernthematik Lernen. Es wird beim Lernen das Lernen selbst zum Thema gemacht. Dies folgt aus der Annahme, dass Lernen immer einen Gegenstand braucht – thematisch fokussiert ist. Damit ist das Blickfeld für den Stellenwert des Lernens im Zusammenhang des Lebens geöffnet. Nicht vereinzelte Lerngegenstände, sondern das Lernen selbst wird auf seine Bedeutsamkeit hin befragt. Wir stoßen dabei auf zahlreiche ungeklärte Fragen zum Thema Lernen. Der Begriff scheint zunächst selbstverständlich und wird im Alltag auch so verwendet. Lernen – so scheint es – ist ganz einfach das Aufnehmen neuen Wissens und das Entwickeln erweiterten Könnens – angestoßen durch unerwartete Erfahrungen. Wenn wir aber darüber nachdenken und unsere eigenen Erfahrungen einbeziehen, verschwimmt die scheinbare Klarheit. Jedes erklärende Wort beginnt zu tanzen: Aufnehmen, Wissen, Können, Erfahren – Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum? – die alten Kinderfragen. Und gleichzeitig stellt sich eine der schwierigsten Grundfragen menschlichen Weltbezugs: nach der Spannung von Subjekt und Struktur und wie diese durch Lernhandeln bearbeitet wird. Wir haben versucht, dies in empirisch fassbare Aspekte zu übersetzen und aufzufächern, indem wir Lernbedingungen vorrangig über Begründungen aufdecken. Dabei gehen wir von den von uns gefundenen Begründungsmustern als Lernbegründungen aus und fragen, wie sich in diesen Handlungsbedingungen als Begründungsperspektiven spiegeln und brechen – und umgekehrt. Klar ist,

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dass die Draufsicht auf die Phänomene nie eine unschuldige ist, sondern immer schon begrifflich versündigt. Orientiert ist unser Verfahren an einem Dreischritt: Empirisch erfassbare und beschreibbare Lernphänomene werden in Lernperspektiven bezogen auf vorgängiges wissenschaftliches Wissen, um Lernmuster herauszuarbeiten, die nicht bruchlos in die theoretische Systematik einbeziehbar sind. Als zentrale ordnende Kategorie bietet sich hier die Suche nach Identität an, auf die sich Lernen bezieht, indem sie Prozesse der Veränderung und Gestaltung hervorhebt. Dabei treten – zweitens – Lernmuster auf, die widersprüchliche Tendenzen und gegenläufige Perspektiven zeigen. In einer Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch divergierende Interessen und resultierende Konflikte, entzieht sich die Wirklichkeit vereinheitlichenden und harmonisierenden Begriffen. Darauf aufbauend kann und muss die theoretische Systematik differenziert und konkretisiert werden. Lernkontexte werden – drittens – entwickelt in der Spannung von Anerkennung und Leistung als – ebenfalls widersprüchliche – Legitimationsprinzipien einer zu akzeptierenden gesellschaftlichen Ordnung. Erst auf dieser Ebene kann das empirische Material wieder angeschlossen werden an vorliegende gesellschaftstheoretische Entwürfe, die sich auf historisch konkrete Kontexte des gegenwärtigen Kapitalismus einlassen. Um so verfahren zu können, müssen wir den Dualismus von ‚Ich‘ und ‚Welt‘ überbrücken und verfolgen einen tätigkeitstheoretischen Ansatz, der auf die Verbindung – die Tätigkeit –, nicht auf die Trennung von Tätigen und Gegenständen setzt (Leontjew 1979; Faulstich 2013, 103-111). Vorausgesetzt ist dieser Argumentation eine – hier nicht wiederholte – Kritik bzw. Reinterpretation vorliegender Lernkonzepte. Es werden unterschiedliche Antworten auf Fragen bezogen auf Lernen von verschiedensten Lerntheorien angeboten (Faulstich 2013, 34-95), die auf unterschiedlichen, gegensätzlichen und zum Teil unvereinbaren Grundannahmen beruhen. Unser Projekt begründet sich in einer „kritisch-pragmatistischen Lerntheorie“ (Faulstich 2005; 2013). Zentraler Fokus unseres Ansatzes ist die Bedeutsamkeit, welche die Lernenden einer Thematik für sich selbst und ihre erweiterte Handlungsfähigkeit zuweisen. Mit ‚Bedeutsamkeit‘ verwenden wir einen relationalen Begriff: Etwas ist für jemanden wichtig. Damit werden objektive Bedingungen und subjektive Begründungen des Handelns zusammengebunden. Demgegenüber wären ‚Triebe‘ zunächst in der animalischen und ‚Bedürfnisse‘ einseitig in der psychischen Dynamik der Subjekte verankert. Mit ‚Bedeutsamkeit‘ dagegen wird die Lernproblematik in einen biografie- und sozialstrukturellen Rahmen eingebettet und zugleich in ihrer Handlungsrelevanz aufgenommen. Die Verbindung dieser drei Perspektiven – Lernen, Subjekt und Kontext – kann es ermöglichen, bisher getrennt verfolgte Fragestellungen und Forschungsrichtungen zusammenzuführen.

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Beim Bemühen vorliegende Theorie zu erweitern, stoßen wir unabdingbar auf die Notwendigkeit einer Empirie, die sich offen gegenüber Neuem erweist. Weder kann eine erweiterte Theorie über schon Bekanntes kategorial deduziert bzw. ‚abgeleitet‘ werden, noch kann sie durch Datenmaterial induziert bzw. abschließend ‚bestätigt‘ werden. Empirisch brisant ist gerade das, was nicht theoriekonform ist. Die Forschungslogik des Pragmatismus stellt für den Einbezug des Neuen, des nicht Abzuleitenden, den Schlussmodus der Abduktion bereit, in dem die Lücke zwischen theoretischer Systematik und empirischen Daten durch methodisch kontrollierte Erfahrung verkleinert werden kann. „Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre, würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, daß A wahr ist“ (Peirce 1958, 189). Mit einem abduktiven Schluss können (mögliche) Regeln für empirisch aufgefundene Phänomene formuliert werden, so dass (mögliche) Typen rekonstruiert werden können (vgl. Reichertz 2010). Abduktion lässt sich somit nicht in eindeutige methodische Regeln festschreiben, sondern ist auf kreatives Denken angewiesen (vgl. ebd.). Wenn wir davon ausgehen, dass Auslöser des Lernens eine neue Erfahrung, bzw. das Unerwartete, bzw. die Diskrepanz, bzw. das Problem, bzw. die Krise ist, dann erscheint Abduktion als die geeignete Schlussweise, um Weltverfügung umfassender zu begreifen. Wenn es um die Erforschung des Lernens, das durch Irritationen angestoßen wird, geht, liegt eine daran orientierte Methodologie der Brüche nahe. Die Hinwendung zur Empirie ist für eine sich erweiternde Lernforschung zwingend, wenn wir eine sich in sich drehende Exegese von Begriffen verlassen wollen. Untersucht wurden im Rahmen unseres Vorhabens ‚Lernwerkstätten‘ in bestehenden Gruppen in Programmen der Erwachsenenbildung in doppelter Blickrichtung: Zum einen können subjektive psychische – sowohl kognitive als auch emotionale – Aspekte und soziale Konstellationen durch ‚Bildkartengespräche‘ sowie einen Sozialstruktur-Fragebogen aufgenommen werden; zum andern werden durch Dokumentationen von Lerngeschichten und Protokolle von Gruppendiskussionen verallgemeinerbare Lernerfahrungen erfasst. Anstoß der Gespräche sind vor allem selbst verfasste, aufgeschriebene ‚Lerngeschichten‘ über eigene Erfahrungen mit Lernen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Lernstrategien auf der Grundlage von Lernperspektiven und -mustern begründet werden. Was also haben wir erarbeitet? Nachdem wir nun – erstens – den Fragehorizont unseres Vorhabens nochmals vergegenwärtigt haben, können wir uns – zweitens – der verschiedenen Forschungslinien, in und zwischen denen es sich bewegt, vergewissern. Es geht dabei um Lernstrategien und -interessen, Adressaten- und Teilnahmeforschung, Biografieforschung, den Stellenwert der Erwerbsarbeit für

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Lerninteressen und Ansätze in der Theorie des ‚situierten Lernens‘. Wir verzichten hier auf umfangreiche Belege aus dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs (dazu Faulstich 2013) und versuchen mit einigen wenigen Rückbezügen auszukommen: durch Hinweise auf Bourdieu, Honneth, Holzkamp, Keupp und Offe bzw. – dahinterstehend – Marx und Leontjew. So wollen wir versuchen, unserer Empirie möglichst viel Platz einzuräumen und sie deutlicher zu Wort kommen zu lassen, ohne sie mit theoretischen Verweisen zu überschwemmen. Auch eine ‚pure‘ Empirie ist nicht leer, sondern voller oft nicht explizierter Erkenntnisinteressen und Gegenstandskonstitutionen. Allerdings ist das auch ein Grundproblem, an dem wir uns abarbeiten: das Verhältnis von Theorie und Empirie: ihre Beziehung, ihre Übergänge und ihre gegenseitige Stützung und Absicherung in Richtung auf eine gegenstandsangemessene Theorie des Lernens. Dabei stoßen wir – drittens – unausweichlich auf methodologische Probleme. Unser Erkenntnisinteresse, das sich auf Entfaltungsmöglichkeiten der Subjekte richtet, erfordert eine Gegenstandskonstitution menschlichen Lernens beruhend auf je eigenen Begründungen zu lernen – oder nicht zu lernen. So wird auch die Methodenauswahl eingegrenzt: Wir können nicht fragebogenbezogen vorgegebene Antworten abrufen, sondern geben den Subjekten die Möglichkeit ihre Lernintentionen selbst zu artikulieren – wir versuchen also möglichst weitgehende Chancen der Partizipation beim Forschungsvorhaben einzuräumen. Der Umgang mit dem zusammengetragenen empirischen Material steht dann im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlich Vorgewusstem, d.h. dessen theoretischer und systematischer Fassung einerseits und neuen Phänomenen, auf die wir in der Untersuchung stoßen, andererseits. Entsprechend gehen wir – viertens – durch die Dokumentation der Lernwerkstätten als einem erweiterten Gruppendiskussionsverfahren und versuchen eine zunächst reduktive Interpretation, welche unterschiedliche, auch widersprüchliche Lesarten und Sichtweisen bewusst offen hält, vorschnelle Integration in Theoriekonstrukte vermeidet und besonders Interessen und Konflikte aufsucht. Deshalb – fünftens – strukturieren wir – auf der Suche nach Lernbegründungen – das Material (vor allem Aussagen über Lernen und Lerngeschichten) als Begründungsperspektiven um den Begriff Identität, der das Bemühen der Subjekte kennzeichnet, sich selbst als Einheit immer wieder neu zu entwerfen und dem eigenen Erfahren einen Sinn zu verleihen. Lernen geht dann einher mit Irritationen und dem Versuch, diese einzubeziehen und so die eigene Welterfahrung und dann auch Weltverfügung zu erweitern. Die empirisch auftauchenden Phänomene sind theoretisch erwartbar und einordnenbar. Zugleich stoßen wir aber auch auf Begründungsmuster, welche es nahelegen, die Theorieperspektiven zu erweitern, sie neu zu denken, sie umzuordnen und so die Lernhorizonte offen zu halten.

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Sechstens versuchen wir eine kategoriale Einbindung in gesellschaftstheoretische Entwürfe, um die gegenwärtige Gesellschaftsform zu begreifen: Wir gehen zurück auf die Debatte um „Anerkennung“ (Honneth 1992), die als „ein Schlüsselbegriff unserer Zeit“ (Voswinkel/Lindemann 2013, 7) stilisiert worden ist. Diese eher sozialpsychologisch-kulturorientierte Kategorie koppeln wir aber mit dem Begriff Leistung (Offe 1970), der ökonomisch-verteilungstheoretische Strukturen in den Blick nimmt. In Anerkennungsdiskursen taucht diese Sichtweise jedoch nur am Rande auf. Insofern sind diese verkürzt um ökonomische und legitimatorische Probleme (vgl. u. 6.1 und 6.2). In der gegenwärtigen Diskussion konzentrieren sich die damit aufgerissenen Probleme auf ‚Prekarität‘ als Grundbefindlichkeit der Subjekte in der bestehenden Gesellschaftsform (vgl. u. 6.3). Fast alle Fragen kontextualen Lernens lassen sich hier fokussieren: Anerkennungswünsche, Leistungsdruck, Erwerbszwänge, Ungleichheit und Unsicherheit. Sich in diesem Strukturzusammenhang auf eine Metaebene zu begeben und über das eigene Lernen nachzudenken, ermöglicht uns ‚reflexives‘ Lernen (vgl. u. 6.4). Deutlich wird, dass Widersprüche und Brüche als Grundmerkmal bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse sich auch in den Begründungen des Lernens in diesem Kontext wiederfinden. Die von uns aufgedeckten Lernperspektiven und Lernmuster können demnach auch keine abschließende Systematik liefern, sondern verweisen – siebtens – sofort auf neue Fragen, wie der Kontext zu begreifen ist und wie die Subjekte ihn in ihren Denk- und Lernhorizont einbeziehen.

2. Forschung zum Lernen Erwachsener

Obwohl Lernen für die Erziehungs- und Bildungswissenschaft und die Psychologie, aber zunehmend auch für die Soziologie, die Ökonomie und die Organisationstheorie u.a., ein zentrales Problem geworden ist, erscheint zunächst erstaunlich wie wenig an ‚gesichertem‘ Ausgangswissen vorliegt. Es gibt ein verbreitetes Unbehagen gegen eine in der ‚Pädagogischen Psychologie‘ weiter dominante Lerntheorie, die oft noch behavioristisch infiziert und kognitivistisch reduziert ist, die Machbarkeit vorspiegelt und doch oft durch Unbrauchbarkeit gekennzeichnet ist. Spätestens wenn wir Erwachsene in ihrem Lernen betrachten, erweisen sich angebotene instrumentelle Konzepte als unterkomplex und überinstrumentell. Dies ist belegbar, wenn wir einschlägige Forschungslinien nachverfolgen. Wir erwarten allerding auch hier keine fertigen Resultate, gehen aber davon aus, dass unterschiedliche Sichtweisen verschiedene Grade der Angemessenheit und Reichweite besitzen Die Bearbeitung des zentralen Forschungsthemas ‚Lernen Erwachsener‘ ist gekennzeichnet durch erhebliche Unterschiede der Sichtweisen (Übersicht über internationale Beiträge u.a. bei Illeris 2002, Jarvis 2006 und Mezirow 1991; Überblick bei Pätzold 2011): Zum einen erscheint Lernen als individueller Prozess, bei dem das Verhalten der einzelnen Lernenden in den Mittelpunkt gerückt wird: Das gilt für die ‚klassischen‘ Lerntheorien (Steiner 1996; Edelmann 2000; Seel 2000; Mielke 2001; Bednorz/Schuster 2002; Mazur 2004; Bodenmann u.a. 2004). Zum andern ist unbestritten, dass die Praxis der lernenden Akteure strukturell eingebettet und zugleich differenziert ist. Dies wird herkömmlich von der Sozialisations- bzw. Adressatenforschung und weiterführend in der Biografieforschung bearbeitet. Dabei werden gruppenbezogene Daten bezogen auf soziale Schichten oder Milieus erhoben und als Bedingungen identitären Lernens modelliert. Das Themenfeld wird in verschiedenen Disziplinen und in sehr unterschiedlicher Weise bearbeitet (Überblick bei Faulstich 2008, 2013). Unser Projekt verortet

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sich zwischen pädagogisch-psychologischer Lernforschung, bildungssoziologischer Milieu-, arbeitssoziologischer Berufs- und erwachsenenbildungswissenschaftlicher Biografieforschung. Konkret sind dies vorliegende Forschungsansätze über (1.) Lernstrategien und -interessen, (2.) Adressaten- und Teilnahmeforschung und (3.) der Biografieforschung in der Erwachsenenbildung. Hervorzuheben ist hierbei (4.) der Stellenwert des Erwerbsarbeitsbezugs für Lerninteressen. Zusammengeführt werden (5.) solche Ansätze in der Theorie des ‚situierten Lernens‘ in der Folge von Lave (1988) und Greeno 1997, 1998). Diese Linien können weitergehend verfolgt und aufgenommen werden durch pragmatistische Konzepte (Bredo 1994; Faulstich 2004; 2013) in der Tradition John Deweys.

2.1 L ERNFORSCHUNG ZU L ERNSTRATEGIEN UND - INTERESSEN Klassifizierende Aussagen über personenbezogen als relativ stabil unterstellte Lernstrategien werden oft als Lerntypen gefasst. Solche als Personenmerkmale pointierte Typen werden pädagogisch-psychologisch in zahlreichen und von Lehrenden breit rezipierten Veröffentlichungen unterstellt (z.B. früh: Vester 1978; Honey/Mumford 1992). Die Lerntypen-Konstruktion befriedigt einen Rezeptbedarf, stellt aber ein durchaus problematisches Konzept dar (Looß 2001). Die ‚Lerntypen‘ modellieren differentielle, aber nur scheinbar stabile Strategiekonzepte von Personen; sie werden der Situativität von Lernprozessen aber nicht gerecht. Demgegenüber kommt es darauf an, solche Ansätze einzubeziehen in theoretische Begründungen und empirische Untersuchungen (Überblick schon bei Mandl/Friedrich 1992; Mandl/Friedrich 2005). Andreas Krapp z.B. hat frühzeitig auf die zentrale Relevanz von Lerninteressen und die Funktion personaler und situativer Aspekte für die Entwicklung von Lernstrategien hingewiesen (Krapp 1993, 1998). In der Folge hat sich eine breite Forschung zu Lernstrategien aus kognitiv-psychologischer (z.B. schon: Baumert 1993; Krapp 1993) bzw. kulturhistorisch-tätigkeitstheoretischer Perspektive (darauf aufbauend: Lompscher 1996, 1998) entwickelt. Eine Differenzierung des Strategie-Begriffs findet sich z.B. in der Unterscheidung bei Lompscher (1998) nach Anforderungsbereichen (Verstehen, Kommunikation, Problemlösen, Einprägen, Organisieren und Kooperieren) sowie Strategiedimensionen (Oberflächen- und Tiefenstruktur, metakognitive Strategien und Lerntechniken). Auch hier bleibt die Sicht auf die Lernenden immer noch isolierend und dekontextualisierend.

2. F ORSCHUNG

ZUM

L ERNEN E RWACHSENER

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Die einschlägigen Studien versuchen meist, Aktual-Systematiken von Lernstrategien vorzulegen, nehmen aber ontogenetische bzw. biografische Aspekte ebenso wie soziale Aspekte kaum und – wenn überhaupt – nur durch allgemeine Verweise, dass der Kontext berücksichtigt werden müsse (z.B. Straka 2005; auch noch Grell 2006), auf. Ihre Empirie wird zudem meist eingeschränkt auf schulische oder hochschulische (z.B. Wild 2000) Lernfelder. Josef Schraders empirische Untersuchung von „Lerntypen bei Erwachsenen“ (Schrader 1994) fragt nach individuellen Unterschieden beim Lernen. „Lassen sich bei Erwachsenen individuell unterschiedliche Vorlieben, Gewohnheiten und Stärken beim Lernen identifizieren und welche Bedeutung kommt dabei der individuellen Biographie zu?“ (Ebd. 10) „Lerntypen sind dann die einer Gruppe von Personen gemeinsame Grundformen des Verhaltens in Lernsituationen.“ (Schrader 1994, 59)

Im Resultat werden fünf Lerntypen identifiziert und entsprechend personenbezogen interpretiert. Sie werden als „Theoretiker“, „Anwendungsorientierte“, „Musterschüler“, „Gleichgültige“ und „Unsichere“ charakterisiert (Schrader 1994, 110-119). Der Bezug der Lerntypen zu sozialstatischen Daten wird vorsichtig als „durchaus im Sinne der Erwartung, aber nicht sehr stark ausgeprägt“ bezeichnet (Schrader 1994, 143). Ergebnis ist also eine personifizierende Lernenden-Typologie, deren Kontextbezug schwach ist. Es besteht mittlerweile trotz unterschiedlicher Terminologie und konkurrierender Theoriekontexte weitgehender Konsens, dass die Prozessregulation von Lernen – die eingeschlagene Strategie – abhängt von der Relevanz, welche die Lernenden selbst in ihrer jeweiligen Situativität einer Problematik zumessen. Hinter den verschiedenen Begriffen wie Werten, Zielen, Bedürfnissen, Trieben und viele anderen stehen konkurrierende Konzepte des Aktivitätsantriebs. Die Bereitschaft von Lernenden sich mit einer bestimmten Thematik zu beschäftigen, wird von der ‚pädagogischen Psychologie‘ meist als ‚Lernmotivation‘ gefasst. Im vorliegenden Kontext erscheint der Begriff des Lerninteresses (schon Schiefele 1974, 1986; Krapp/Prenzel 1992) fruchtbar, da er eine Beziehung zwischen Lernendem und Thematik herstellt. ‚Interesse‘ wird in der „PersonGegenstands-Theorie“ (Krapp 2002, 2006) konzeptualisiert als relationale Struktur in einer zweiseitigen Einheit, bei der das Individuum durch Handeln auf seine Umwelt einwirkt. Länger anhaltende Interessen resultieren aus fortdauernden Tätigkeitsmustern. Damit öffnet sich eine ontogenetische Perspektive zur Biografie als zu untersuchende Problematik. Allerdings bleiben die jeweiligen Kontexte in diesem Modell sozialstrukturell immer noch unterbestimmt.

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Weiter geht das Konzept „Lebensinteresse“ (Holzkamp 1993, 21; vgl. a. Krapp 2004, 2005), das die handelnden und lernenden Subjekte über das Bedeutungskonzept in Bezug setzen will zu formationsspezifisch konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen. Ausgangspunkt ist „verallgemeinerte“ bzw. „restriktive Handlungsfähigkeit“ (vgl. Holzkamp 1983, 2, 370ff.). In Bezug auf Lernen lässt sich diese Unterscheidung in der aktuellen gesellschaftlichen Verfasstheit durch das Spannungsverhältnis von defensivem (Anpassungslernen) und expansivem (Entfaltungslernen) Lernen terminologisch fassen. Auf dieser Dimension hat Petra Grell Lernformen verortet (Grell 2006, 214). Allerdings ist eine solche ‚subjektwissenschaftliche‘ Theoriekonzeption bisher empirisch weiterhin wenig abgestützt. Eine der vorliegenden Untersuchungen, die explizit Bezug nimmt, ist Joachim Ludwigs Studie „Lernende Verstehen“ (2000; ebenso schon Grotlüschen 2003, 2010; Weis 2005; Faulstich/Grell 2005; Grell 2006). Aber auch hier bleiben biografische und milieuspezifische Kontexte in der Empirie ausgeblendet, obwohl mit dem Verweis auf „körperliche, mentale und biographische Situiertheit“ (Holzkamp 1993, 252-270) theoretische Weiterführungen angelegt sind. Dies gilt auch für unsere eigene Untersuchung (Faulstich/Grell 2005), welche zwar unter der Perspektive „Selbstbestimmtes Lernen und soziale Milieus“ angetreten war, die aber in der Laufzeit des Projekts eher Grundfragen von Lernwiderständen bearbeitete, während sich die Milieuperspektive aufgrund fehlender Differenzen der erreichten Gruppen in Weiterbildungsveranstaltungen dem empirischen Zugriff entzog. (Auch für die hier vorgestellte Untersuchung gilt diese Kritik immer noch: Milieustrukturen sind höchstens angedeutet. Bei der Konstruktion des Samples wurden Milieuaspekte nicht vorrangig behandelt.) Die hier vorgestellten Erträge unseres Projekts liegen in der Typisierung von Lernperspektiven und -mustern. In einem weiteren Schritt erst könnten diese milieuspezifisch differenziert werden. Weitergehend kommt es darauf an, zum einen den Begriff der Lernstrategien zu erweitern und in einem umfassenden Spektrum von Handlungsstrategien, welches auch Lernwiderstände als vernünftig und begründet ansieht, zu begreifen und zum andern biografische Prozesse sowie den sozialen Kontext zu konkretisieren. Wir wollen also Begründungsmuster offenlegen. Lernstrategien werden im Zusammenhang unseres Vorhabens – wenn wir uns zu einer komprimierten Explikation hinreißen lassen – gefasst als Tätigkeitsformen, die sich in Lernsituationen zeigen, die in Begründungsmustern für Lernen oder Nicht-Lernen artikuliert werden und die auf Lernintentionen bezogen auf jeweilige Lernthematiken zurückverweisen. Untersucht wurde, inwieweit sich solche Begründungsmuster als Typen von Lernintentionen identifizieren lassen. Durch Biografie und Kontext verfestigte Muster könnten als Lernhabitus auftreten. (Diese Untersuchungslinie haben wir allerdings – wie gesagt – nicht

2. F ORSCHUNG

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weiter verfolgt, da sich unsere Adressaten bezogen auf die großen sozialstrukturellen Milieus (Bourdieu 1982; Vester u.a. 1993, 2001) wenig unterscheiden und eine Etikettierung der Herkunft, als traditionelles Arbeitermilieu oder als aufstiegsorientiertes Milieu, für das Begreifen der Lernmuster wenig bringt.)

2.2 A DRESSATEN -

UND

T EILNAHMEFORSCHUNG

Es besteht nach wie vor ein ‚Gap‘ zwischen einerseits lerntheoretisch und andererseits bildungssoziologisch angelegten Ansätzen und den einschlägigen empirischen Untersuchungen. Die Adressaten- bzw. Teilnahmeforschung fragt nach sozialstrukturellen Faktoren, welche Lerninteressen anregen oder bedingen. Unmittelbar auf Weiterbildungsteilnahme bzw. Nichtteilnahme in sozialen Kontexten zielt die Untersuchung zum Thema ‚Weiterbildungsabstinenz‘ von Bolder und Hendrich (1994, 1995, 1998a, 1998b; Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse unter dem Titel „Fremde Bildungswelten. Alternative Strategien lebenslangen Lernens“ 2000). Entscheidend ist, dass Weiterbildungsabstinenz keineswegs als Defizit oder Makel deklariert wird; auch Nichtteilnahme wird als Ausdruck aktiver Lebensführung verstanden. Für die ‚Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens‘ haben Schröder/Schiel/Aust (infas) eine quantitative, repräsentative Befragung „Nichtteilnahme an beruflicher Weiterbildung. Motive, Beweggründe, Hindernisse“ (2004) durchgeführt. Sie können zeigen, dass sich die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Nichtteilnehmenden-Gruppe von der Gruppe der Teilnehmenden hinsichtlich der wahrgenommenen Notwendigkeit und der individuellen Nutzenerwartung signifikant unterscheidet; besonders in Bezug auf Erwerbsstatus, Berufsposition und -qualifikation sowie Weiterbildungserfahrung. Dies unterlegt die Ergebnisse bei Bolder/Hendrich (2000) bezogen auf ein ‚Belastungs- und ein Sinnhaftigkeitssyndrom‘. Die Studie von Friebel u.a. (zusammenfassend: Friebel 2008) beruht auf einer Längsschnittuntersuchung zu ‚Bildungsbeteiligung‘ und untersucht Chancen und Risiken von Bildungs- und Weiterbildungskarrieren. Über den Zeitraum von 26 Jahren begleitete die Forschungsgruppe in 17 Feldphasen eine Hamburger Schulabschlusskohorte von 1979 und untersuchte deren Bildungserfahrungen und -erwartungen. Die Studie setzte sich zum Ziel, die Analyse sozialer Strukturen und der Bildungsbiografie- und Lebenslaufforschung miteinander zu verbinden. Sie geht aber nicht auf konkrete Lernanlässe ein, sondern konzentriert sich auf Abschlüsse. Bedeutungskontexte werden aufgenommen durch die neuere, die Adressatenund Teilnehmerforschung fortsetzende Studien über soziale Milieus, Habitus und

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Bildung. Maßgeblich für die Milieuforschung in Deutschland sind die Studien des Sinus-Instituts geworden, die zunächst, seit 1978, aus narrativen Interviews entwickelt worden ist. Diese Forschungsansätze und Fragestellungen wurden in der Folge auf Untersuchungen zur Weiterbildungsbeteiligung in der Erwachsenenbildung übertragen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die für die Friedrich-Ebert-Stiftung (1993; sowie Flaig u.a. 1993) durchgeführten Studien, welche milieuspezifische Affinitäten zur politischen Bildung analysierten. In der Folge der Arbeitsgruppe agis von Vester u.a. hat Helmut Bremer eine Studie zur Beteiligung am Bildungsurlaub (Bremer 1999), welche die milieugeprägte Distanz der verschiedenen Adressatengruppen untersucht, vorgelegt. Er identifiziert ‚Bildungsdispositionen‘ differenziert nach den einzelnen Milieus, konkretisiert also den sozialstrukturellen Kontext im Anschluss an Bourdieu. Die „Freiburg-Studie“ von Heiner Barz (1995, 2000) und Rudolf Tippelt (1997) hat im Erhebungszeitraum von 1995 bis 1998 das ‚Bildungsverständnis‘ der verschiedenen sozialen Milieus ermittelt. Fortgesetzt und ausgeweitet wurde dies in der „München-Studie“ (Tippelt u.a. 2003) und dann in der großangelegten Methodenkombination von fragebogengestützten Repräsentativerhebungen „Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland“ (Barz/Tippelt 2004, Bd. 1 und 2). Intention der auf Erwachsenenbildung bezogenen Untersuchungen ist es, Aufschlüsse über den Zusammenhang zwischen Milieuzugehörigkeit und Weiterbildungsteilnahme zu gewinnen (Barz 2000; Bremer 1999). Festzustellen ist eine Instrumentalisierung besonders der ‚Sinus-Milieus‘ zu Marketingstrategien, welche die bei Bourdieu angelegte Komplexität reduzieren und sozialstrukturell auf gesamtgesellschaftliche Großgruppen ausgerichtet werden. Die vorliegenden Studien sind allerdings wenig geeignet, die Herausbildung der Lernstrategien einzelner Personen zu identifizieren, da sie punktuelle Beschreibungen kaum durchbrechen und höchstens zu Ad-hoc-Typologien vordringen, wie sie sich in den Milieubezeichnungen widerspiegeln. Die Entstehung von Haltungen bezogen auf Strategien des Lernens und Handels bei Lernanlässen – die Entwicklung des ‚Lernhabitus‘ – bleibt aber ungeklärt. Dies betrifft vor allen Dingen auch das zentrale Problem der Festigkeit bzw. Offenheit von Handlungsschemata bezogen auf das Lernen der einzelnen Personen. In unserem Vorhaben kann der temporale und strukturelle Aspekt der Habitus-Aneignung an der Schnittstelle der konkreten Lernsituation identifiziert und kombiniert werden (zur Begrifflichkeit ‚Habitus‘: Krais/Gebauer 2002). Aus dem Zusammenhang von sozialer Lage und Mentalität verorten Michael Vester u.a. (1993) – ausgehend von Pierre Bourdieus Konzept des sozialen Raums und des Habitus – die Lebensstil-Milieus einer pluralisierten Klassenge-

2. F ORSCHUNG

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sellschaft. Hier kann für die kontextuelle Dimension des Lernhabitus angeknüpft werden. Allerdings sind die sozialstrukturellen Kontexte der Lernenden wohl erheblich komplexer als sie in den großen Lebensstil-Milieus abgebildet werden. Unsere Erhebung greift deshalb auf einen Fragebogen zur Habitus-Hermeneutik zurück (Bremer/Teiwes-Küchler 2003), der die Vielfalt der sozialstrukturellen Dimensionen aufnimmt, wie sie in den ursprünglichen Befragungen von Sinus noch berücksichtigt und beispielhaft in den Statement-Batterien bei Vester u.a. (1993, 391-396) präsentiert wurden, auf einige, wenige Aspekte beschränkt.

2.3 B IOGRAFIEFORSCHUNG Insofern muss das Konzept ergänzt werden durch eine die biografische Entwicklungsdimension aufgreifende Perspektive. Hier können Ansätze der Biografieforschung herangezogen werden (Überblick bei Alheit 2002; Alheit/Dausien 2002; Alheit/Felden 2009). Peter Alheit hat mit dem Begriff der Biografizität auch auf die Gestaltungsfunktion beim Umgang mit der eigenen Biografie verwiesen. In der Erwachsenenbildung breit rezipiert wurden außerdem die Arbeiten von Kade, Nittel und Seitter (Zusammenfassend Kade 2005). Interessant sind in diesem Kontext die Berichte von Anne Schlüter über geschlechtsspezifische Bildungsbiografien. Biografische Äußerungen zu den unterschiedlichen Kulturen der Herkunft, des allgemeinbildenden Schulsystems und den Fachkulturen an Universitäten werden als Klassifizierungen des Habitus von Studierenden begriffen. Studierende Arbeitertöchter grenzten sich nicht allein gegen ‚Intellektuelle‘ ab, sondern auch gegen die traditionelle Frauenrolle (Schlüter 1992, 1999). Explizit – aber ohne Anschluss an die Lern- und die Adressatenforschung – wird der Begriff Lernhabitus verwendet in der Promotion von Heidrun Herzberg „Biographie und Lernhabitus“ (2004). Das von ihr entwickelte Kategorienschema (Bildungsaspiration, Lern- und Verarbeitungsstrategien, Deutungshoheit, Wertorientierung und Reflexivität) ist aber nur in Ansätzen theoretisch eingeordnet. Wir verfolgen in unserem Vorhaben nur implizit die Frage, ob und wie sich Lernmuster herausbilden aufgrund von Knotenpunkten und kritischen Erfahrungen in der Biografie, insbesondere der als Lernbiografie zu kennzeichnenden Erfahrungen beim eigenen Lernen. Lernen Erwachsener ist immer schon Anschlusslernen, insofern sind schulische Erfahrungen konstitutiv für Weiterlernen. Mit der von uns präferierten Kategorie ‚Lernmuster‘ soll eine Verbindung hergestellt werden zu ‚Biografie als Prozess‘ und ‚biographischer Situiertheit‘ (Holzkamp 1993, 252-270) sowie zu sozialen Kontexten. Diese Konstellationen

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konkretisieren sich in Lernsituationen, bei denen die Lernenden unterschiedliche Lernstrategien anwenden bzw. Lernmuster begründen.

2.4 F ORSCHUNG

ZUM

E RWERBSBEZUG

Die Vielfalt gesellschaftlicher Bezüge, welche in der Biografie- und auch in der Milieuforschung betrachtet werden, wird durch ihre Gleichrangigkeit zum Problem. Sie führen dazu, strukturierende Momente ungewichtet nebeneinander zu stellen und lassen übersehen, dass für die Habitus- bzw. Identitätsgenese der Bezug zu Beruflichkeit zentral bleibt. Diese in der Arbeitswissenschaft und der Berufssoziologie zweifellos – zum Beispiel im Streit um die Zukunft der Arbeitsgesellschaft – extrem umstrittene These (schon Baethge 1989. Zusammenfassend: Bathge 2004 oder auch Frese 1985), kann ein wissenschaftliches Feld öffnen, das nicht theoretisch geschlossen werden kann, sondern empirischer gesellschaftsbezogener Analyse bedarf. Desto mehr verwundert es, dass empirische Analysen zum Verhältnis von Berufs- und Lerninteressen kaum vorliegen. Lediglich im Kontext von „Beruflicher Sozialisation“ in der Folge von Lempert (1981; 2006) und in den Arbeitswissenschaften (Frese 1985¸ Volpert 1975) finden sich Ansätze. Wir unterstellen eine weiter zentrale Relevanz der Berufsbezüge in ihrer Form als Erwerbsarbeit für die Herausbildung von Bedeutsamkeit von Lernthemen und eine entsprechende Entwicklung unterschiedlicher Lernstrategien. Dies ist bei der Erhebung biografischer und kontextueller Aspekte einzubeziehen.

2.5 F ORSCHUNG

ZUM

S ITUIERTEN L ERNEN

In der Kontroverse um kognitivistische vs. situierte Theorien des Lernens (zuerst: Lave 1988; Anderson et.al. 1996, Greeno 1996) ist der Einbezug individuellen Lernens in soziale Strukturen betont worden. Der vorherrschende kognitivistische und dann konstruktivistische Ansatz fokussiert individuelle mentale Prozesse und Repräsentationen. Diese sind aber immer schon biografisch und sozial situiert. Jean Lave (1988) hat vor allem den Stellenwert sozialer Interaktionen hervorgehoben. Sie bezieht sich dabei auf Giddens und Bourdieu. Schon Brown, Collins und Duguid (1989) kritisierten, dass aus dekontextualisierten Sichtweisen auf Lernen eine Separation zwischen Lernen und Handeln resultiert. Lave hat überzeugend argumentiert, dass ‚practice of learning‘ die Aufmerksamkeit auf die „‚social world of activity‘ in relational terms“ (Lave/Wenger 1991, 5)

2. F ORSCHUNG

ZUM

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lenkt. In der Theorie situierter Aktivität ist Dekontextualität ein begrifflicher Widerspruch. „Without a theoretical conception of the social world one cannot analyse activity in situ“ (ebd. 7). Insofern ist in dem Konzept des ‚situierten Lernens‘ die von uns intendierte Perspektivenerweiterung der Lerntheorie hinsichtlich sozialstruktureller Kontexte bereits angelegt. Allerdings wird die lebensgeschichtliche Dimension ausgeblendet. Ein möglicher Lernhabitus entzieht sich dem Untersuchungsfeld. Das Konzept situierten Lernens ist inspiriert durch Wygotskis (1969) sozialkulturellen Ansatz, wonach Lernresultate abhängen von Lernsituationen. Entsprechend werden nicht mehr Laborverhältnisse – wie in behavioristischen Modellen – sondern konkrete Lernsituationen untersucht. Die Strategie der Kontextualisierung umfasst Interaktionen, Diskurse und soziale Praktiken (zusammenfassend. Lernen wird verortet in multiplen Kontexten und als eine Strategie des Umgangs mit erfahrenen Handlungsrestriktionen beschrieben (vgl. auch: Gerstenmaier/Mandl 2001). Die Erträge der fünf durchlaufenen Forschungslinien – bezogen auf Lernstrategien und -interessen, Adressaten und Teilnehmende, Biografie, Erwerbsarbeit und situiertes Lernen – legen es nahe, den Blickwinkel der Lernforschung zu erweitern: Statt das isolierte Individuum ein gesellschaftlich verortetes Subjekt, statt Teilnahmebedingungen Handlungsgründe für Lernen und Nicht-Lernen, statt punktueller Lernhandlungen Lernsequenzen, statt einer Vielfalt von Lebenslagen die Klassenstrukturen der Arbeitsgesellschaft und statt genereller Lerngesetze die Situiertheit des Lernens zu betrachten und zu untersuchen – wobei diese Dichotomien selbstverständlich nicht als Alternativen gedacht werden können, wenn man nicht die Komplexität des Weltaufschlusses unterlaufen will. Weiterführend deshalb wurde in unserem Vorhaben die Kontextbezogenheit des Lernens berücksichtigt, die den Begriff der Erfahrung aufnimmt (Faulstich 2005; 2014). Allerdings ergeben sich zwingend Schwierigkeiten beim empirischen Zugriff. Wenn man die methodische Reduktion bisher dominanter Lernforschung aufgibt, steht man vor einer erheblichen Komplexität und zugleich vor der Aufgabe, eigene Heuristiken zu entwickeln, die jedoch nicht in Naivität zurückfallen dürfen.

3. Fragen an die Lerntheorie

Beim Versuch einer knappen Skizze der lerntheoretischen Grundposition, von der wir hier ausgehen, ist die Kritik bzw. Reinterpretation vorliegender Konzepte des Lernens vorausgesetzt. Sie deckt die Verkürztheit der ‚-ismen‘ auf: reduktionistische – behavioristische, kognitivistische und konstruktivistische – Ansätze erweisen sich bis in ihre zentralen Prämissen – Externalismus, Kausalismus, Organizismus, Asozialität und Instruktionismus – als fragwürdig und unangemessen (vgl. zur Kritik Faulstich 2013, bes. 41ff.). Bei ‚neurophysiologischen Modellen‘ wird das durch einen fehlgeleiteten Biologismus auf die Spitze getrieben. Dies bedeutet nicht, dass Analysen zu physischen und chemischen Vorgängen im Gehirn keinen Beitrag zur Lernforschung leisten – sie sind jedoch alleine nicht geeignet, Lernen in seiner Komplexität begreifbar zu machen. Sie stellen ganz andere Fragen als sie in bildungswissenschaftlicher Perspektive auftauchen. Das Kategoriensystem der von uns unterstellten relationalen, kontextualen Lerntheorie (Faulstich 2013, 103ff.) stützt sich auf andere Grundbegriffe: Die gängige psychologische ‚Reiz-Kategorie‘ wird ersetzt durch das ‚BedeutsamkeitKonzept‘ (Holzkamp 1993, 22). (Angesichts der Hegemonie dualistischen Denkens bis ins Alltagsbewusstsein hinein ist eine solche Denkweise durchaus schwierig durchzuhalten und immer wieder durch Rückfälle gefährdet.) Ein zentraler Pfeiler unseres theoretischen Gebäudes ist der Begriff der Tätigkeit, der die eingreifende Beziehung zwischen Subjekt und Struktur kennzeichnet. Die dabei gewonnenen Erfahrungen schichten sich biografisch auf zu einer fragilen, riskanten Identität, welche lernend aufgebaut bzw. abgesichert wird. Ausgehend von diesem Grundgedanken bleibt die Lerntheorie allerdings noch blutleer. Das Spiel mit den Begriffen kann die Erfahrung der Vielfalt der Wirklichkeit alleine nicht einholen. Vielmehr bleiben Fragen offen, die erst empirisch beantwortbar werden. Eine mögliche Frageliste ist sehr lang und ungeordnet: Wie kann die Herkunft der Lernenden bestimmt werden? Welche Intentionen verbinden sie mit Lernen? Wie ist das mit den Lernthemen verbunden? Welche

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Themen werden durch die Programme gesetzt? Welche Lehrmethoden werden erfolgreich eingesetzt? Wie kommen die Programme zustande? Welchen Stellenwert haben ‚äußere‘ – familiäre, ökonomische und politische – Bedingungen? Welche Institutionen treten als Lernanbieter auf? Wie können Lernerfolge bewertet werden? Welche Lehrformen sind dem Lernverständnis angemessen? Welche Aufgaben haben die Lehrenden? Usw. usw. Das Spektrum der Probleme erweitert sich zusehends. Wenn wir die Lerngruppen als Fälle unseres Forschungsvorhabens fortschreitend begreifen wollen, müssen wir uns angesichts der Vielzahl der möglichen Fragen darüber klar werden, was wir im Kern wissen wollen, d.h. was uns selbst eigentlich interessiert. Der Fragekomplex unserer Forschungsprobleme wird zunächst durch unsere Erkenntnisinteressen fokussiert: Jürgen Habermas hat in einer frühen Schrift eine grobe Systematik von Erkenntnishorizonten verschiedenen Wissenschaftstypen zugeordnet. In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Frankfurt am 28.6.1965 hat er gegen den Schein ‚reiner Theorie‘ den Zusammenhang der Erkenntnis mit Interesse (Habermas 1968, 154) betont. Wenn wissenschaftliche Aussagen relativ zu den vorgängig mitgesetzten Bezugssystemen verstanden werden, „zerfällt der objektivistische Schein und gibt den Blick auf ein erkenntnisleitendes Interesse frei“ (ebd. 155). „Für drei Kategorien von Forschungsprozessen läßt sich ein spezifischer Zusammenhang von logisch-methodischen Regeln und erkenntnisleitenden Interessen nachweisen. Das ist die Aufgabe einer kritischen Wissenschaftstheorie, die den Fallstricken des Positivismus entgeht. In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaft geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften jenes emanzipatorische Erkenntnisinteresse ein.“ (Ebd. 155)

Eine kritisch orientierte Wissenschaft beruht demnach auf Selbstreflexion und einem Interesse an Mündigkeit. Reflexion der erkenntnisleitenden Interessen ist Voraussetzung von Wissenschaft. „Die Einstellung auf technische Verfügung, auf lebenspraktische Verständigung und auf Emanzipation von naturwüchsigem Zwang legt nämlich die spezifischen Gesichtspunkte fest, unter denen wir Realität als solche erst auffassen können.“ (Ebd. 160) „Insofern gründet die Wahrheit von Aussagen in der Antizipation des gelungenen Lebens.“ (Ebd. 164)

3. F RAGEN AN

DIE

L ERNTHEORIE

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Die Klassifikation in technisches, praktisches und emanzipatorisches Erkenntnisinteresse ist (bedingt) hilfreich, um unsere eigene Forschung zu verorten. Weshalb ist Lernen der Menschen in der bestehenden Gesellschaft für uns wichtig? Wenn man die Unmenschlichkeit bestehender Gesellschaftsformen erlebt, mitleidend erfährt und dafür eintritt Verhältnisse zu beseitigen, in denen Menschen ausgebeutet und unterdrückt oder gar vernichtet werden, schließt dies notwendig eine Vorstellung menschlicher Möglichkeiten ein, die eben eingegrenzt, verachtet, geleugnet und beschränkt werden, und die sich unter besseren Bedingungen entfalten könnten. Wir folgen der Perspektive, dass individuelle wie kulturelle Entfaltung nur möglich ist in Gemeinschaft, im Horizont der Verständigung über ein ‚gutes Leben‘. Dies setzt Grenzen der Anpassbarkeit und begründet Widerständigkeit. Es geht um Lernen für ein ‚besseres Leben‘. Insofern wird auch die Gegenstandskonstitution auf ‚menschliches Lernen‘ (Faulstich 2013, 10f.) gerichtet. Wir wollen nicht einen allgemeinen Begriff entwickeln, der für unterschiedlichste ‚lernende‘ Systeme gilt. Es geht uns nicht um lernende informationstechnische Systeme, nicht um Tiere, auch nicht um ‚lernende‘ Organisationen, Regionen oder Gesellschaften; im Vordergrund steht der Mensch mit seinen unabgegoltenen Hoffnungen und Möglichkeiten. Wenn Lernaktivität nicht als durch Bedingungen determiniert betrachtet werden kann, stellt sich unausweichlich die Frage, woher die Begründungen für Lernen kommen. Hier greift der Begriff Bedeutsamkeit, der Handlungs- also auch Lernintentionen mit Handlungsthemen und -prämissen in Beziehung setzt. Bedeutsamkeit lässt sich als Nahtstelle von Subjekt und gesellschaftlicher Struktur verstehen (Bracker/Faulstich 2014). Sie beinhaltet dabei als Begriff sowohl die gesellschaftliche Seite der objektiven Bedingungen – gefasst zur Seite der gesellschaftlichen Bedeutungen (vgl. Holzkamp 1993, 22) – als auch die subjektive Seite des Sinns, der sich in Begründungen für Handeln und Lernen konkretisiert, und stellt damit eine Vermittlungskategorie zwischen Bedingungen und Begründungen dar (Bracker/Faulstich 2014): Die notwendige Vermittlung von einer auf Bedingungen rekurrierenden einerseits und einer auf Begründungen fokussierenden Perspektive andererseits ergibt sich aus der Unmöglichkeit, Aktivitäten von Individuen vollständig anhand äußerlich feststellbarer Merkmale zu bestimmen. Die Subjekte haben immer die Möglichkeit, sich auf die Bedingungen reflexiv – und dann eben auch anders – zu beziehen. Lernen mit der gleichen Thematik kann unterschiedlichen Intentionen folgen. Eine Sprache kann man lernen für den Urlaub oder für einen Auslandseinsatz. Die Biografieforschung legt zudem nahe, dass Offenheit ein zentrales Charakteristikum auch langfristiger menschlicher Handlungsverläufe ist, so ist „die dominierende Einstellung, die wir gegen unsere eigene Biographie haben, [...]

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die des Planens“ (Alheit 1995, 294), d.h. des Zurechtlegens von Gründen und ihres Umsetzens in Handeln. Dies darf jedoch nicht zu der Stilisierung einer unbedingten Freiheit des Subjekts führen, denn auch in begründungslogischer Perspektive kommt den objektiven Bedingungen maßgebliches Gewicht zu (Holzkamp 1983 345), setzen sie doch den Rahmen, in dem Subjekte ihre Handlungsfähigkeit realisieren. „Der Charakter dieses Konzepts als ‚Vermittlungskategorie‘ liegt darin, dass (wie ausgeführt) ‚Bedingungen‘ und ‚Gründe‘ hier nicht äußerlich gegenübergestellt, sondern Begründungszusammenhänge im ‚Medium‘ von Bedeutungsstrukturen und deren Repräsentanz in Denk- und Sprachformen als subjektiv handlungsrelevanter Aspekt der Bedingungszusammenhänge gefasst sind. Menschliche Handlungen/Befindlichkeiten sind also weder bloß unmittelbar-äußerlich ‚bedingt‘, noch sind sie Resultate bloß ‚subjektiver‘ Bedeutungsstiftungen u. ä., sondern sie sind in den Lebensbedingungen ‚begründet‘.“ (Ebd. 348)

Den Erkenntnisinteressen und der Gegenstandskonstitution folgt auch die Methodenauswahl. Interesse und Thematik unseres Forschungsvorhabens führen hinsichtlich der Methodologie zu einer Orientierung auf die Rekonstruktion von Sinn. Von den möglichen Sichtweisen auf Sinnfragen – der Frage nach differenzierten subjektiven Sinnwelten, der Konstruktion sozialer Milieus; dem Aufweis deutungs- und handlungsgenerierender Strukturen, der Rekonstruktion historisch und sozial typisierter Deutungen – folgen wir einer spezifischen Variante: der Suche nach Begründungen für Lernen, welche von den Lernenden selbst artikuliert werden. Hinsichtlich der Methoden nutzen wir das Ensemble Lernwerkstatt, das auf Gruppengespräche und ‚Lerngeschichten‘ konzentriert wird. Fünf Hauptfragen lassen sich aus der skizzierten theoretischen Konzeption bestimmen. Im empirischen Zugriff werden sie erweitert, ergänzt und korrigiert. • • • •

Wie lassen sich die Verwobenheit von Subjekt, gesellschaftliche Bedingungen und Biografie in Bezug auf Lernen begreifen? Welche Ausprägung erhält Bedeutsamkeit des Lernens bezogen auf mögliche Verfügungserweiterung im jeweiligen Kontext? Welche Bedeutungen erhalten Begründungen bezogen auf die zentralen Perspektiven Identität, Biografie und Erwerbsarbeitsbezug? Welche konkreten Begründungsmuster bündeln die divergierenden Perspektiven?

Es ist uns bewusst, dass diese Fragerichtungen eher grundsätzliche Horizonte des Lernens öffnen. Wir wollen wissen, wie sich Lernen in den Einschätzungen der

3. F RAGEN AN

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Lernenden selbst darstellt. Dabei werden Aspekte des Lehrens, der Institutionen und des Personals eher nachrangig behandelt. Auch konkrete Lernthematiken kommen nur dann in den Blick, wenn sie von den Lernenden als Beispiele herangezogen werden. Es resultiert auch eine Schwierigkeit, Lernen überhaupt als Thema der Lernenden aufzuwerfen. Diese verbinden mit dem Begriff Lernen keine direkte Erfahrung: Sie erinnern sich an Schule, an Lehrer_innen, an spezifische Probleme mit Mathe, mit Rechtschreiben, mit Betragen, mit Mitschüler_innen. Durch unseren Fokus, konkrete Erfahrungen aufzudecken – z.B. in Diskussionen oder in Lerngeschichten, wird dieses Problem sogar noch verstärkt. Wir stehen dann vor der Aufgabe eine Vielzahl unterschiedlicher Äußerungen auf den Begriff zu bringen.

4. Begreifen des Lernens

Methodischer Kerngedanke unseres Vorhabens ist, das eigene Erfahren der Lernenden mit Lernen zur Thematik Lernen und dessen Reflexion zum Gegenstand der Forschung zu machen. Dabei versuchen wir die lernenden Subjekte möglichst weitgehend an der Ausgestaltung des Forschungsverlaufs zu beteiligen. Partizipative Methoden sind allerdings nicht gleichbedeutend mit Handlungsforschung. Es bleibt eine unauflösliche Differenz zwischen Forschenden und ‚Beforschten‘. Als empirisches Material wird auch auf ästhetische Produkte – hier in Form von Lerngeschichten – zurückgegriffen. Diese werden nicht nur als Information, sondern auch als Literatur betrachtet. Nicht nur was ausgedrückt wird ist dann wichtig, sondern auch, wie es gesagt wird. Unter den manifesten Nachrichten schwingen vielfältige latente Hinweise. Es geht also um ein partizipativ-ästhetisches Methodenensemble. Für die hierbei entstandenen unterschiedlichen Materialien wurden vorliegende Auswertungsverfahren angepasst und weiterentwickelt. Ziel der Auswertung und der anschließenden Analyse ist die Herausarbeitung typischer Begründungsmuster. Bedeutsamkeit bildet dabei die Brücke zwischen subjektiven Begründungen und gesellschaftlichen Bedingungen. Bedeutungshaftigkeit stellt denjenigen Aspekt der Welt dar, über den ich mich als handelndes Subjekt auf diese richte (Holzkamp 1993, 23). Der Bedingungsrahmen des Lernens konnte allerdings – dies sei vorab konstatiert – in unserem Vorhaben nur allgemein aufgeklärt werden: Z.B. können wir über die Herkunftsmilieus der von uns untersuchten Lernenden nur wenig sagen. Wir sind weiter auf der Suche, wie wir erfahrungsbegründet – das ist hier mit ‚empirisch‘ gemeint – über Lernen forschen können, und welche Theorie dabei angemessen ist. Es geht uns also um das Verhältnis empirischer Forschung und Theorieentwicklung: Wie kann man von unterschiedlichen Theorieannahmen her empirische Untersuchung betreiben? Wie muss man Empirie fassen, um zu einer angemessenen Begrifflichkeit zu kommen und umgekehrt? Wie beziehen sich

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Theorie und Empirie auf die Praxis des Lernens? Was sind einem kontextual gefassten Begriff des Lernens adäquate empirische Methoden? Welche Rolle spielen die Lernenden im Forschungsprozess? Solche Fragen stellen sich im Forschungszusammenhang unerbittlich und es reicht nicht aus, nur Methoden und Resultate zu präsentieren. Wir müssen deshalb, gerade weil wir eine veränderte Sichtweise auf Lernen – den Blick der Lernenden selbst – stark machen wollen, unsere spezifische Art und Weise der Gegenstandskonstitution diskutieren. Dies hängt ab von den in den Forschungsprozess einfließenden Erkenntnisinteressen (s.o.). Deren Reichweite lässt sich differenzieren nach dem von ihnen vertretenen Anspruch (vgl. zum Folgenden Faulstich 2013; Hodkinson/Macleod 2010): Eingeschränktheit gilt zunächst für verhaltenswissenschaftliche Positionen, welche die Welt so wie sie ist (zu sein scheint) aus dem Beobachten und Beschreiben des Bestehenden heraus zu erklären versuchen. Phänomenologie kritisiert zwar diesen objektivistischen Schein, der als gesetzmäßig sich darstellende Tatsachen vorspiegelt, verbleibt aber letztlich beim Konstatieren und Verstehen eben dieser Phänomene stehen. Dagegen setzt sich Pragmatismus gegen eine als gegeben unterstellte Wahrheit der Abbilder – als Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit – ab und ersetzt das Beobachtungsmodell durch ein Handlungsmodell, und Kritische Theorie verweist hartnäckig auf die Kategorie des Möglichen. •

• •

Verhaltenswissenschaftliche Theorie verfolgt das Erkenntnisinteresse des Beschreibens und Erklärens: Ihre Methoden sind vorrangig Messen und Beobachten, ihre Instrumente meist Fragebögen oder Tests bzw. Messdaten bei Experimenten. Phänomenologie beabsichtigt das Verstehen des Gegenübers. Sie setzt auf das Gespräch; ihre Methode beruht vor allem auf Interviews. Kritischer Pragmatismus will empirisch Handeln von Subjekten bezogen auf systematisch geordnete Theorie begreifen. Sie bezieht sich auf qualitative Daten in Bildern und Geschichten. Dieses Material wird generiert in Gruppen- bzw. Lernwerkstätten.

Diese so pointierte, zugegebenermaßen holzschnittartige Systematik soll die Korrespondenz von unterliegender Lerntheorie, verfolgtem Erkenntnisinteresse und herangezogener Erhebungsmethode deutlich machen, mit der jeweilige Potenziale und Grenzen reflektiert werden können. Dabei ist zweifellos der methodische Rückgriff auf Fragebögen und auch auf Interviews aus der Perspektive einer kontextualen, hier kritisch-pragmatischen Lerntheorie, weiter sinnvoll. Die Rückbesinnung auf Erkenntnisintention ermöglicht jedoch Differenzierungen und bewahrt vor einer Engführung erfahrungsbe-

4. B EGREIFEN

DES

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zogener Forschung nach Maßgabe empirischer Designs: Oft wird nur noch nach dem geforscht, was erhoben werden kann. Es gibt jedoch eine eigene Potenz der Theorie, die bestehen bleibt, auch wenn ein empirischer Zugang nicht unmittelbar möglich ist. Genauso gilt umgekehrt eine Dignität der Empirie, wenn man Phänomene entdeckt, die wir theoretisch noch nicht fassen können, die aber eine eigenständige Qualität besitzen. Gegenstandsbezogene Lerntheorien greifen empirischer Forschung vor. Zugleich kann man theoretische Begriffsbildung erst ergänzen und weiterentwickeln, wenn man empirische Forschung ausgehend von den eigenen Erkenntnisintentionen stark macht. Begreifen des Lernens meint kategorial entfaltete Theorie mit dem erfahrungsgestützten Material der Empirie wechselseitig in Beziehung zu setzen. Für einen solchen Ansatz gelten veränderte, erweiterte Gütekriterien: Adäquanz, Plausibilität und Intersubjektivität, welche die Anforderungen, wie sie für quantitative Forschung entwickelt worden sind (Reliabilität, Validität und Objektivität), fortentwickeln (Faulstich-Wieland/Faulstich 2008, 248f.). Man erkennt an diesen erweiterten Gütekriterien durchaus, dass es sich um Ansprüche handelt, die auch von standardisierten Verfahren zu erfüllen sind. Die lange diskutierte, konträre oder gar unvereinbare Gegenüberstellung quantitativer versus qualitativer Vorgehensweisen ist denn auch überholt. Gefragt ist mittlerweile in der erfahrungsbezogenen Bildungsforschung eher eine Ergänzung und Kooperation, eine Triangulation von Erhebungs- und Auswertungsverfahren – Betrachtung des Forschungsgegenstandes aus unterschiedlichen Sichtweisen. Gefragt ist auch eine reflexive Analyse: Die Notwendigkeit, das wissenschaftliche Vorgehen selbst als Gegenstand einzubeziehen. Die beiden Soziologen Pierre Bourdieu und Loic J. D. Wacquant machen auf diesen Umstand wissenschaftlichen Forschens aufmerksam: „Sobald wir die soziale Welt beobachten, unterliegt unsere Wahrnehmung dieser Welt einem bias, der damit zusammenhängt, dass wir, um sie zu untersuchen, zu beschreiben, über sie zu reden, mehr oder weniger vollständig aus ihr heraustreten müssen. Der theoretizistische oder intellektualistische bias besteht darin, dass man vergisst, in die von uns konstruierte Theorie der sozialen Welt auch den Tatbestand eingehen zu lassen, dass diese Welt das Produkt eines theoretischen Blicks ist, eines ‚schauenden Auges‘ (theorein).“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 100)

Und sie schlussfolgern:

34 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE „Eine wirklich wissenschaftliche Wissenschaft von der Gesellschaft muss Theorien konstruieren, die implizit eine Theorie der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis beinhalten.“ (Ebd. 101)

Entsprechen wettert Pierre Bourdieu gegen die ‚Methodenpäpste‘: „Kurz, die Forschung ist eine viel zu ernste und viel zu schwierige Angelegenheit, als dass man sich erlauben könnte, Wissenschaftlichkeit mit Rigidität zu verwechseln, die das Gegenteil von Klugheit und kreativem Denken ist, und sich irgendeines der Hilfsmittel zu versagen, die die versammelten geistigen Traditionen der Disziplin [...] zu bieten haben. ‚Verbieten verboten‘ würde ich am liebsten sagen, oder: Man hüte sich vor methodologischen Wachhunden.“ (Ebd. 261)

Dieses Plädoyer für Methodenvielfalt wird abgestützt durch Priorität von Erkenntnisinteresse und Gegenstandskonstitution. Gefragt ist also – sowohl bei quantitativem als auch bei qualitativem Vorgehen – eine reflexive Methodologie. Grundhaltung eines kritisch-pragmatistischen Methodenkonzepts ist Reflexivität, Beschreiben oder kausales Erklären und auch nicht lediglich Verstehen ist Ziel, sondern ein gegenstandsangemessenes Begreifen, in dem objektive Bedingungen und subjektive Begründungen miteinander vermittelt werden: Nicht zufällig haben wir, in dem, wie wir empirisch forschen, interaktive Verfahren versucht, bspw. die Gruppenwerkstatt (Bremer/Teiwes-Kügler 2003), Schreibwerkstatt, ‚forschende Lernwerkstatt‘ (Faulstich/Grell 2005). Grund dafür ist, dass es, wenn man von Subjektorientierung redet, eine wesentliche Voraussetzung des Forschens ist, dass man die Subjekte ernst nehmen sollte, dass man also keine ‚Vampirforschung‘ machen kann, die im dunklen Feld auftaucht, Daten absaugt und dann wieder verschwindet. Auch unterläge dann das Missverständnis, es gäbe feststehende Einstellungen, die nur abgefragt werden müssten. Diese formen sich aber erst in Interaktionen. Unter partizipativer Forschung verstehen wir eine Methodik, welche die Eigensinnigkeit und Eigenwilligkeit der Akteure und Akteurinnen im Feld akzeptiert (vgl. Bergold/Thomas 2012). Es geht darum, die Artikulationsmöglichkeiten der Personen, die im Forschungsprozess beteiligt sind, zu stärken. Es gibt keine vorgefertigten, feststehenden Fragen und Antworten, die Interpretation des Materials ist selbst Gegenstand offener gemeinsamer Diskussion und Reflexion. Jegliche Methodendominanz verbietet sich. Spannender Punkt ist, wie das Verhältnis zwischen Forschenden und Beteiligten, zwischen theoretischer Interpretation und empirischem Material gestaltet wird. Unausweichlich stellt sich das Partizipationsproblem: Wie bewegen sich

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alle Beteiligten (auch die Forschenden) in einen gemeinsamen Prozess? Wie sind wir gemeinsam vorgegangen? Was haben wir ‚in Erfahrung gebracht‘? Die Reichweite der Beteiligung bleibt allerdings immer beschränkt. Das Hineintauchen der Forschenden in im Feld verborgene Quellen droht atemlos zu werden und ebenso bleibt das Heraustreten der Beteiligten aus dem Dunkel ihrer Lebenswelt oft schattenhaft. Es bleibt ein Abstand, der nicht aufhebbar, sondern nur verkleinerbar ist. Klaus Holzkamp hat in seiner „Grundlegung der Psychologie“ (1983) ein anspruchsvolles Programm methodologischer Prinzipien aktual-empirischer Forschung entwickelt (Holzkamp 1983, 509). Er wirft als Kernproblem die inhaltliche Bestimmung des Verhältnisses Kategorien/historische Empirie – Einzeltheorien/Aktualempirie auf (ebd. 510). Die Spannung von Kategorialbezug und Empiriebezug erhält durch das psychische Emergenzniveau eine mittlere Ebene. Zwischen Begründungen und Lebensbedingungen vermittelt die Dimension der Bedeutungen. Morus Markard (1993; 2000) hat daran anschließend das Verhältnis von historisch-empirischer und aktual-empirischer Forschung auf die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz bezogen und eine BedingungsBedeutungs-Begründungs-Analyse stark gemacht. In der Verstricktheit der Psyche in die bürgerliche Existenz ist Gesellschaft dem Individuum nie in ihrer Totalität, sondern nur in ihren zugewandten Ausschnitten gegeben. Entsprechend sind einzelne Bedingungen in ihrer Bedeutung nicht aus sich heraus zu begreifen, sondern nur aus ihren Bezügen im Gesamt der arbeitsteiligen Reproduktion. Gesellschaftliche Bedingungen determinieren menschliches Handeln nicht, sondern sie sind als ‚Bedeutungen‘ zu fassen, die Handlungsmöglichkeiten öffnen. Wissenschaft dient der Selbstverständigung der Subjekte. Daraus ergibt sich methodologisch, dass Menschen nicht Objekte der Forschung sind, dass sie nicht nur ‚beforscht‘ werden, sondern dass sie auch zusammen mit den professionell Forschenden auf der Forschungsseite stehen. Vom ‚Standpunkt des Subjekts‘ ist Gegenstand der Forschung nicht das Subjekt, sondern die Welt, wie es sie – empfindend, denkend, handelnd – erfährt. Es folgen daraus keine Aussagen über Menschen, schon gar keine zu Klassifikationen von Menschen in Schubladen – z.B. als auditive, visuelle u.a. Lerner – sondern Aussagen über erfahrene – und ggf. verallgemeinerbare – Handlungstypiken, -möglichkeiten und -behinderungen. Allerdings erhält hier das ‚Mitforscher_innenprinzip‘ eine strenge Fassung: „Diejenigen, um deren Probleme es geht, müssen entsprechend der beanspruchten Wahrung des intersubjektiven Beziehungsniveaus unter allen am Forschungsprozess Beteiligten methodologisch als Mitforscher begriffen werden. Dies schließt ein, dass über die un-

36 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE terschiedlichen selbst-, interaktions- und weltbezogenen psychologischen Vorstellungen der Beteiligten Auseinandersetzungen stattfinden müssen, welche Bereitschaft und Möglichkeit zur Selbstreflexion implizieren.“ (Markard 2000, Abs. 30)

Es gibt jedoch eine unüberschreitbare positionelle Differenz zwischen Beforschten und Forschenden, bei denen letztlich Themenauswahl und Methodenauswahl aufgrund ihres Erkenntnisinteresses verbleiben. Partizipative Forschung kann aber diese riskante Situation reflektieren (Engler 2013). Rekonstruktive Forschung findet also mit Beteiligten statt. Es geht um einzelne Fälle. So stellt sich unvermeidlich die Frage danach, wieso man denn glaube, von der zwar interessanten und durchaus anregenden Fallbeschreibung zu verallgemeinernden Aussagen gelangen zu können. „Einzelfallstudien haben keinen guten Ruf, sie gelten als weich und werden bestenfalls im Explorationsvorzimmer zur mit harten Verfahren arbeitenden, exakten empirischen Sozialforschung geduldet. Der Anhänger hermeneutischer Verfahren in der Soziologie scheint gegenüber dieser Skepsis sich hoffnungslos in der Defensive zu befinden.“ (Oevermann 1981, 1) „Es bleibt als Folge der große Kopfschmerz, wie aus dem zu ungeheurem Umfang angewachsenen Daten- und Interpretationsmaterial für nur einen Fall eine griffige, darstellbare und für die Theorieentwicklung bedeutsame Generalisierung gewonnen werden kann.“ (Ebd. 2)

Oevermann vertritt demgegenüber unseres Erachtens zu Recht die These der Überlegenheit hermeneutischer Verfahren, dass Verallgemeinerungen der Ergebnisse von Einzelfallstudien nicht nur als Strukturgeneralisierung möglich und anderen Verfahren der Generalisierung sogar überlegen sind. Er spricht von Fallrekonstruktionen in Absetzung von Fallbeschreibung. So soll zum Ausdruck kommen, dass es um ein erschließendes Nachzeichnen der fallspezifischen Strukturgestalt in dem Fall angemessener Sprache, also um die Intentionalität eines Handlungsablaufs in Begriffen des konkreten Handlungskontextes, geht, und dass dieses Vorgehen in scharfem Gegensatz zur üblichen subsumtionslogischen Kategorisierung und Klassifizierung primärem Datenmaterials unter vorgefassten theoretischen Kategorien steht. Die verschiedenen mittlerweile entwickelten Ansätze rekonstruktiver Methodologie (Qualitative Inhaltsanalyse: Mayring (1983); Dokumentarische Methode: Bohnsack (2008), ‚Objektive Hermeneutik‘: Oevermann (1996), um nur die verbreitetsten zu nennen) geben die Richtung an, in der man adäquates empirisches Forschen zum Lernen verorten kann. Letztlich variieren sie das alte

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Denkmuster Diltheys in der hermeneutischen Spirale von Erleben, Auslegen und Verstehen (Dilthey 1970, 99). Allesamt drehen sich die Verfahren um das Verhältnis von Theorie und Empirie und sie akzeptieren, dass es Rahmungen und Spielräume des Selbst gibt (Wittpoth 1994), innerhalb derer bedingt frei gehandelt, gelernt oder nicht gelernt wird (Faulstich 2013, 91). Lernen ist nicht nur eine Frage bewussten Handelns; und Gründe sind vernünftig, aber nicht instrumentell rational. Auch ein Pfadwechsel von einem Bedingungs- zu einem Begründungsdiskurs, wie ihn Klaus Holzkamp (1993) vorschlägt, führt auf einen schmalen Grat, von dem aus man in die Klippen willkürlicher Begründungsspekulation über das, was die Lernenden meinen könnten einerseits, oder aber vollständiger Bedingungsfesselung in angeblich kausal wirksame Variablenmuster andererseits, abgleiten kann. Forschungsstrategisch ist diese Gratwanderung jedenfalls sinnvoll angesichts der Vorherrschaft kausalistisch-deterministischer Denkweisen in der Lernforschung. Die methodologische Kopplung verweist darauf, in welcher Art man den Zugang finden kann, um Muster, Logiken bzw. Strategien der Lernenden zu rekonstruieren. Jede Rekonstruktion ist ein Versuch zu verstehen. Dies ist einzubinden in theoretische Analysen gesellschaftlicher Verhältnissen (die als Bedingtheiten zu begreifen sind) – es geht um die Rekonstruktion von Handlungsmustern und wird deshalb zwangsläufig immer wieder ein Problem der Sprache: etwas in einem Begriff fassen. Wir kommen unausweichlich in die Region der Wörter, die wir im Alltag verwenden, und deren Bedeutung immer mehrdeutig ist. Auch finden wir Bedeutungen, die zwischen den Wörtern und Sätzen schwingen. Und wir stoßen auf das Unausgesprochene zwischen den Menschen. Schon der Begriff des Verstehens hat immer Doppelseiten: das Manifeste und das Latente; das Verbale und das Nichtsprachliche, das Kognitive und das Emotionale; das ist analytisch zu trennen, auch wenn es im Vollzug eine Einheit darstellt.

4.1 L ERNWERKSTATT Unser Erhebungsverfahren orientiert sich an dem Konzept der ‚forschenden Lernwerkstatt‘ (vgl. Faulstich/Grell 2005; Grell 2006), welches durch ein durch Überlegungen im Rahmen einer Habitushermeneutik entwickelten Konzepts der Gruppenwerkstatt (vgl. u.a. Bremer 2004; Bremer/Teiwes-Kügler 2003; Bremer/Teiwes-Kügler 2013, 93-129) ergänzt wird. Gruppendiskussionen haben gegenüber Interviewverfahren den Vorteil, dass sie dichter an Alltagskommunikation angeschlossen sind. Sie gehen auch nicht von als fest unterstellten individuellen Grundpositionen aus, sondern konzedieren, dass latente Meinungen, Hal-

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tungen und Einstellungen erst in Diskussionsprozessen artikuliert und damit partiell manifest werden. Umgekehrt kann man von Gruppendiskussionsverfahren nur dort sprechen, wo die methodologische Bedeutung von Interaktions- und. Diskursprozessen für die Konstitution von Meinungen und Bedeutungsmustern berücksichtigt wird. Gruppenmeinung ist das Produkt gemeinsamer Erfahrungen und kollektiven Interaktionen, die vor der Diskussionssituation liegen und in dieser aktualisiert werden. Mit den Gruppenverfahren kann an die Forschungstradition des Frankfurter Instituts für Sozialforschung angeschlossen werden (Überblick auch bei Bremer 2004). Es handelt sich um eine Weiterentwicklung des ‚klassischen‘ Gruppendiskussionsverfahrens, das als qualitative Methode von Friedrich Pollock für den deutschsprachigen Raum fruchtbar gemacht worden ist (Pollock 1956). Pollocks Ziel war es, „wichtige Aspekte der deutschen öffentlichen Meinung zu ermitteln, das, was auf dem Gebiet der politischen Ideologie in der Luft liegt, die ‚transsubjektiven‘ Faktoren zu studieren und insbesondere verstehen zu lernen, auf welche Weise und in welchem Umfang sie sich dem Einzelnen gegenüber durchsetzen“ (Pollock 1956, 34). Die Eignung des Gruppendiskussionsverfahrens für dieses Erkenntnisinteresse leitete schon Pollock aus der Kritik sich auf Fragebögen stützender repräsentativer Umfragen ab. Hierbei werde die Meinung einer Gruppe lediglich als ‚Summenphänomen‘ individueller Ansichten behandelt und gleichzeitig werde vorausgesetzt, dass die einzelnen Individuen über fertige individuelle Einstellungen verfügen. Dagegen bestehen Meinungen und Haltungen aber nicht isoliert und stabil, sondern entstehen und wirken in der Kommunikation zwischen den Individuen und in ihren sozialen Kontexten. Sie werden häufig erst während der Interaktion präsent und explizit. Insbesondere das von Werner Mangold aus den Sekundäranalysen zur Pollock-Studie (Pollock 1955) gewonnene Konzept der „informellen Gruppenmeinung“ (Mangold 1960, 49) erweist sich für unsere eigene Untersuchung als gut anschlussfähig: In der Interaktion entstehen und entfalten sich Meinungen und Haltungen. Was denn unter ‚Lernen‘ zu verstehen sei, wird in der Diskussion rekonstruiert. Mangold argumentiert, dass Gruppendiskussionen gerade wegen der sozialen Kontextualität der geäußerten Einstellungen ein ungeeignetes Instrument zur Erhebung individueller Meinungen darstellen. Für ihn liegt das Erkenntnisinteresse deshalb auf der Erfassung informeller Gruppenmeinungen. Im Rückblick kommt Lamnek zur der Einschätzung, dass die Entwicklung der Gruppenverfahren auf dem Stand des Instituts für Sozialforschung stehen geblieben sei (Lamnek 1985). Wichtige Impulse für die Weiterentwicklung wurden erst wieder von Ralf Bohnsack (1997; 1999) gegeben. Der Ansatz wird zu einem „Modell kollektiver Orientierungsmuster“ (Bohnsack 1997, 495; 2008)

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mit der ‚Dokumentarischen Methode‘ weiter ausgearbeitet. Dokumente verweisen demnach auf dahinter stehende Muster. Wir unterstellen in unseren Untersuchungen, dass die Befragungspersonen interaktiv und arbeitsteilig die in sozialen Zusammenhängen und auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen ausgebildete kollektiv geteilte Meinung ausbreiten. Die Themen der Diskussionen ergeben sich im Verlauf durch die gegenseitige Bezugnahme im Gespräch. Das Gruppendiskussionsverfahren wird in Gruppenwerkstätten um assoziative und kreative Methoden (z.B. Geschichten, Collagen u.a.) zu einem mehrstündigen Untersuchungsprogramm erweitert (Bremer 2004; Faulstich/Grell 2005; Grell 2006; Bracker/Umbach 2014). Es werden sinnlich erfahrbare Produkte erzeugt (Geschichten, Bilder), die in die Arbeit am Thema einfließen, es bereichern und den Blick auf Sinnlichkeit von Bedeutungen lenken. Die Erweiterung hat zum Ziel, dass über mehrere methodische Stufen ein schrittweiser, vertiefender Prozess der Auseinandersetzung und Reflexion zu einem bestimmten Thema angestoßen und begleitet wird, und dabei werden nonverbale und präkognitive Aspekte betont. Die kreativen Methoden wie z.B. Lerngeschichten oder Lernbilder in Collagen zielen darauf, auch latente, wenig verbalisierte Haltungen, Meinungen, Einstellungen empirisch aufzunehmen (vgl. Bremer/Teiwes-Kügler 2007).  Eine Orientierung an dem Methodenensemble ‚forschende Lernwerkstatt‘ bietet sich auch deswegen an, weil die leitenden Prinzipien sich ebenfalls in kritisch-pragmatischer Lerntheorie begründen. Eigensinn und Unverfügbarkeit der Lernenden spielen in diesem Lern-Forschungsensemble eine zentrale Rolle (vgl. Grell 2006, 14). Es geht um eine möglichst weitgehende Beteiligung der Lernenden an der Forschung. „Voraussetzung einer solchen Partizipation ist, dass die Teilnehmenden ein eigenes Interesse an der gemeinsamen Arbeit mitbringen. Dies lässt sich nicht herstellen, sondern muss durch das zu bearbeitende Thema gegeben sein. Der Untersuchungsgegenstand Lernen und Lernwiderstände hat das Potenzial, von den Beteiligten als bedeutsames Handlungsproblem angesehen zu werden.“ (Grell 2006, 73)

Dieses in partizipativer Forschung notwendige Interesse der Teilnehmenden an Themen des Forschungsprojekts bezieht sich in der Konzeption nicht vorrangig auf in bestehenden Lernensembles vorhandene Handlungsproblematiken, sondern auf ein Interesse am Thema Lernen. In den Werkstätten zeigt sich, dass besonders die biografische Dimension von großem Interesse ist. Die Teilnahme an den forschenden Lernwerkstätten wird genutzt, um angeleitet und in einer Gruppe über die Bedeutung von Lernen im eignen Leben nachzudenken. Partizipation

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beinhaltet dabei auch einen Abbau an hierarchischer Struktur, die u.a. auch durch eine alltagsnahe Gestaltung des Erhebungssettings unterstützt werden kann. Um die Teilnehmenden als Mitgestaltende des Forschungsprozesses in der Erhebung zu verstehen, kann ein offenes Methodenensemble umgesetzt werden. Auf diese Weise steht der Subjektstatus der Lernenden bereits während der Erhebung im Zentrum. Ein Forschungsarrangement, in dem unterschiedliche Interessen zur Geltung kommen, bedeutet umgekehrt auch für die Forschenden, ihre Interessen und Forschungsfragen offen zu legen. Die Selbstverständlichkeiten des wissenschaftlichen Feldes sind einer reflexiven Analyse zu unterziehen, aufzudecken und so relativ zu kontrollieren (Engler 2013, 52). Für eine gegenstandsadäquate methodische Umsetzung kontextualer Lerntheorie in der konkreten Erhebungssituation verfolgen wir einen schrittweisen Ablauf (vgl. Grell 2006): •







Einleitend werden das Forschungsprojekt und der Ablauf des Vor- bzw. Nachmittags darstellt. Die durchführenden Forschenden stellen sich zudem mit ihrem Arbeitshintergrund und ihren Erkenntnisinteressen vor. Es schließt sich eine kurze Vorstellungsrunde der Teilnehmenden an. Über die Präsentation der eigenen Person mit Bezug auf vorhergehende Arbeitserfahrungen und aktuelle Lernveranstaltungen wird ein Rahmen zwischen Biografie, Erwerbsarbeit und Lernen gespannt. Erste biografische Bezüge der aktuellen Lernsituation können benannt werden. Eine Bildkartenrunde bildet den Einstieg für einen kreativ-ästhetischen Prozess. Aus einer Sammlung von Postkarten suchen sich alle Teilnehmenden eine für sie zum Thema Lernen passende aus. Die Motive der angebotenen Postkarten sind vielfältig und nicht explizit mit Lernen verbunden. Auf diese Weise ist es möglich, den Horizont des Lernbegriffs zu öffnen. Durch die Notwendigkeit, eine assoziative Verbindung zwischen Bildmotiven und Lernen herzustellen, werden latente und nicht explizite Bedeutungsebenen angeregt und in der sich anschließenden Beschreibung bzw. Erklärung, was die jeweilige Karte mit Lernen zu tun hat, verbalisiert. Die Reduktion auf eine Bildkarte legt außerdem die Benennung von prägnanten Bedeutungen nahe. In einer darauf folgenden zweiten Assoziation geht es um die Sammlung von Wörtern zum Themen Lernen. Auf Plakaten mit den Fragen ‚Was tut man beim Lernen?‘ und ‚Wie ist Lernen?‘ sowie ‚Was verbinden Sie mit Lernen?‘, werden frei und schweigend passende Begriffe gesammelt. Die drei unterschiedlichen Fragen bereiten nicht nur die Schreibwerkstatt vor (indem Verben, Adjektive und Nomen gesammelt wurden), sondern sie ermöglichen

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über die freie Form zudem auch Disparates zu benennen ohne bereits Vereinheitlichungen oder Systematisierungen und Begründungen folgen zu lassen. Nach diesem Einstieg folgt – in der hier herangezogenen Form der ‚Lernwerkstatt‘– eine ‚Schreibwerkstatt‘. Absicht ist, dass alle eine kurze Erzählung (für die Schreibphase sind 30-40 Minuten vorgesehen) über das eigene Lernen verfassen. Gegenstand der Erzählung kann dabei sowohl eine konkrete Lernsituation, das Erlernen eines Lerngegenstands über eine längeren Zeitraum oder auch die Bedeutung von Lernen in der eigenen Biografie sein. Hierzu werden mögliche Fragen auf einem Plakat festgehalten (beispielsweise: Wo spielte Lernen in meinem Lebenslauf eine besondere Rolle? Was war eine typische Lernsituation? Warum habe ich das so gemacht?). Um den Einstieg ins Schreiben zu erleichtern, wird als weitere Anregung ein Plakat mit möglichen Satzanfängen im Raum aufgehängt (beispielsweise: Fast wären ihr die Augen zugefallen…, Ich seufzte: Ach, wäre das schön, wenn… Nachdenklich blicke sie auf…). Da es sich bei dieser Form der Erzählung nicht um Stehgreiferzählungen (vgl. Schütze 1995) handelt, das Schreiben von kleinen Geschichten für die Teilnehmenden nicht alltäglich ist und auch reine Berichte oder Argumentationen vermieden werden sollen, werden Kernelemente von Erzählungen kurz vorgestellt. Hierbei geht es um die Erzählstimme (‚Ich-/Er-Erzähler‘), die Zeit (Gegenwarts- oder Vergangenheitsformen) und die Bedeutung von Anfang und Ende der Erzählung. Den Einstieg in die zweite Hälfte der forschenden Lernwerkstatt bildet ein Auswertungsgespräch zu den Lerngeschichten. Hierbei lesen die Teilnehmenden nacheinander ihre Geschichten vor. Nach jeder Geschichte erfolgt zuerst eine Rückmeldung vor allem zu erzählerischen Aspekten und Auffälligkeiten. Über die Thematisierung von Brüchen oder erzählerischen Besonderheiten (beispielsweise gefühlsbetonte Sprache, eng chronologisch orientierte Erzählweise) werden dann bereits erste Merkmale der Bedeutung des Lernens in der Geschichte benannt. Die spontanen und ‚ungefilterten‘ Eindrücke von allen Teilnehmenden ermöglichen zudem einen mehrperspektivischen Blick. Im Anschluss hieran wird gemeinsam eine passende Überschrift für die jeweilige Geschichte überlegt. Hierbei liegt die letztendliche Entscheidung über die Überschrift bei den jeweils Schreibenden. Nach dem Vortragen und Behandeln aller Lerngeschichten schließt sich ein Gruppengespräch an. Hierbei liefern die Lerngeschichten den Einstieg: Was fällt auf? Was sind Gemeinsamkeiten/Unterschiede? Was beeinflusst das Lernen? Welche Rolle spielen vorherige Lernerfahrungen? Ziel der Gruppendiskussion ist, unterschiedliche Bedeutungsfelder zum Thema Lernen aufzudecken bzw. zu konkretisieren. Um die Bedeutung bio-

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grafischer und lebensweltlich-gesellschaftlicher Erfahrungen für Lernhandeln zu konkretisieren, werden dabei folgende Aspekte angesprochen: Institution, Programm, Situation, Lerngegenstand, Lernanlass, Hoffnungen/Ziele, Probleme/Ängste, Unterstützung, Blockaden, Barrieren/Hemmnisse und/ Schranken. Ein sozialstatistischer Fragebogen angelehnt an die Habitushermeneutik (vgl. Bremer 2004) bildet den Abschluss der Lernwerkstatt. Dieser wurde für die Erstellung der Fallprofile genutzt. Die Arbeit in Gruppenwerkstätten, mit Lerngeschichten und mit Collagen als Lernbilder, hat vor allem das Ziel, eine Beteiligung möglichst vieler Teilnehmender zu gewährleisten.

Interessant bei diesem Erhebungsverfahren (Bracker/Umbach 2014) ist, dass mit ‚Lerngeschichten‘ und ‚Lernbildern‘ (Umbach 2014) zwar nicht-kognitive und vor-rationale Aspekte hervorgehoben werden, und diese aber dennoch (im Einzelfall gar besser) geeignet sind, unterschiedliche Schichten von Wahrnehmungs-, Lern-, Denk- und Handlungsschemata zu erfassen. Überspritzt formuliert wird hier in Geschichten und Bildern als Ausdruck von Latentem und Emotionalem eine nur kognitive und deskriptive Verwendung von Sprache als Ausdruck von Rationalem überschritten. Im Fall der Lerngeschichten erhält die Sprache ihren Stellenwert weniger als kognitiv-deskriptiv, sondern als emotional-kreativ. Die Differenzierung von Präsentativem und Diskursivem als unterschiedliche Formen der Symbolisierung und der Verweis auf emotionale und ästhetische Aspekte greifen das Anliegen, unterschiedliche Schichten der Erfahrung in den Forschungsprozess einzubeziehen auf, und kann den Blick für andere Ausdrucksgehalte frei machen. Da es in unserem Forschungsprojekt um die Verschränkung biografischer Begründungen und sozialstruktureller Bedingungen für den Umgang mit Lernen geht, sollte die ästhetische Ausdrucksform auch die Möglichkeit bieten, Verläufe darzustellen. Erzählungen von Lerngeschichten bieten sich an, denn Literatur ist eine sprachliche Form ästhetischer Darstellung. Sie weist unterschiedliche (präsentative und diskursive) Rationalitäten auf. Narrationen sind dabei in der sozialwissenschaftlichen (vgl. Schütze 1983) und in der bildungswissenschaftlichen Forschung (vgl. Marotzki 2006, 155) kein unbekanntes Feld: Narrative Interviews von der Biografieforschung bis hin zur Mehrebenenanalyse in der Intersektionalitätsforschung sind geläufiges Material. Erzählungen legen differenzierte Logiken nahe bzw. machen Brüche deutlicher sichtbar, da die Geschichte für andere nachvollziehbar sein muss. Erzählungen liegen nah an den Erfahrungen (Koller 2008, 611). Selbstgeschriebene Erzählungen – Lerngeschichten – nehmen damit die gleiche Funktion im Forschungsprojekt ein wie die Collagen in den bisheri-

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gen Konzepten zu (‚forschenden‘) Gruppen-/Lernwerkstätten (Grell 2006). Literarische Elemente von Erzählungen können Aspekte beleuchten, die deskriptiv/diskursiv sonst nicht ‚zur Sprache gekommen‘ wären. Lerngeschichten können somit der Reflexion von Lernhandlungen und -begründungen durch die Lernenden dienen sowie eine Auswertung durch die Forschenden in Bezug auf biografische und gesellschaftliche Aspekte von Lernen ermöglichen.

4.2 A USWAHL UND Z USAMMENSETZUNG L ERNWERKSTÄTTEN

DER

Die Erhebung fand in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung statt: Berufsvorbereitung, Umschulung und Altenbildung. Hintergrund hierfür bilden nicht nur taktische Überlegungen zur Sicherung des Feldzugangs, sondern auch ein vermutetes Interesse der Teilnehmenden am Thema Lernen. Die Teilnehmenden haben sich in ihrem jeweiligen biografischen Abschnitt für Lernen als mögliche Handlungsstrategie entschieden. Dies gilt in unterschiedlicher Weise, so dass die Zusammensetzung der Teilnehmenden nicht nur nach Alter und anderen sozialen Merkmalen heterogen ist, sondern auch mit Bezug zum Thema Lernen: Bei Berufsvorbereitung und auch bei Umschulung steht Berufsbezug im Zentrum der intendierten Effekte. Lernen ist hierbei eine Möglichkeit mit der von der Gesellschaft geforderten eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts umzugehen und Identität in dieser Perspektive weiterzuentwickeln. In der Seniorenbildung dagegen ist Lernen eine Form der Zeitgestaltung, bei der die eigenen thematischen Interessen im Mittelpunkt stehen. In der außeruniversitären Seniorenbildung und auch im Freiwilligen Sozialen Jahr verbindet sich eine Neuorientierung der eigenen Interessen oft mit ehrenamtlichem (gesellschaftlichem) Engagement. Die Teilnahme an den Werkstätten war freiwillig und diese fand in der Regel als ‚Extra-Termin‘ zu den besuchten Bildungsveranstaltungen statt. Dabei kannten sich die Teilnehmenden zumeist nicht oder kaum untereinander, sondern kamen aus Interesse an dem Forschungsvorhaben für die Lernwerkstatt zusammen. Eine Ausnahme bilden die Gruppen der Umschüler_innen, die als kleinere Gruppen bestehender Seminar- bzw. Klassenverbände an den Werkstätten teilnehmen.

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4.3 A USWERTUNG Für die Verknüpfung diskursiv-partizipativer und ästhetisch-kreativer Aspekte des Lernens und bei dessen Erforschung (Konzeption, Erhebung, Auswertung und Darstellung) stehen hier vor allem Lerngeschichten im Fokus. In der Auswertung muss es also weiter darum gehen, diese Verknüpfung zu explizieren, zu konkretisieren und zu praktizieren. Die Arbeit mit Geschichten, Narrationen und Erzählungen ist vor allem in der Biografieforschung verbreitet. Biografien werden hier u.a. als Lebensgeschichten betrachtet und ein entsprechendes Forschungsvorgehen entwickelt. In der von Fritz Schütze entwickelten Narrationsanalyse wird davon ausgegangen, „dass die Erzählenden in einer Stehgreiferzählung in die Dynamik eines Erzählvorgangs eingebunden werden, die nicht mehr gesteuert werden kann von momentanen Absichten einer Selbstdarstellung.“ (von Felden 2011, 206)

Auf diese Weise kommen „die [für die] Identität des Erzählers fundamentaleren Ebenen bereits abgearbeiteter Erfahrung […] jene Sequenzen, die nicht theoretisch-reflexiv überformt sind“ (Bohnsack 2007, 94), zum Ausdruck. Die Dynamik zeichnet sich vor allem durch ‚Zugzwänge‘ (vgl. Bohnsack 2007a, 93) des Erzählens aus: Gestaltschließung, Detaillierungs- und Kondensierungszwang. Diese Charakteristika von Erzählungen bringen Aspekte von Erfahrungen hervor, die zur Erfassung der Lernmuster notwendig sind – sie unterscheiden sich jedoch deutlich vom überlegten Schreiben von Geschichten in der Schreibwerkstatt. In der Kindheitsforschung finden sich Ansätze, mit (von Kindern) selbst geschriebenen Geschichten zu forschen. Hierbei werden ‚realistische‘ und ‚phantastische‘ Geschichten einbezogen (vgl. Röhner 2000). Neben dieser punktuellen Hinwendung der Bildungswissenschaft zur Literatur – z.B. durch „pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane“ (Koller/Rieger-Ladisch 2005; 2009; 2013) – zeigen sich erstaunlicherweise nur vorsichtige Annäherungen an einen literaturwissenschaftlichen Zugang zu Narrationen (z.B. Koller 1993; Baacke 1993). Selbstgeschriebene, literarisch intendierte Geschichten von Erwachsenen über ihr Lernen führen in der Forschung in Neuland. Auch hier greifen narrative Zugzwänge – als Logiken von Erzählung. Wenn wir Erzählungen als Text mit präsentativen Anteilen verstehen, drücken ebenfalls sie ‚weniger Bewusstes‘ aus. Beide Formen von Erzählungen beinhalten also Un-Bewusstes. Zudem lassen sie sich als ein Stück Literatur verstehen und mit erzähltheoretischen Methoden der Literaturwissenschaft (u.a. Genette 2010)

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untersuchen. Für die Auswertung der Geschichten aus den Schreibwerkstätten wurde deswegen ein Auswertungsverfahren entwickelt, das gezielt unterschiedliche Aspekte bereits vorliegender Verfahren verbindet. Auf die Analyse und Interpretation von Geschichten bezogen bedeutet die Reflexion der Forschenden auf ihren eigenen Standpunkt auf der einen Seite, die eigenen Reaktionen und Positionen zu explizieren, und auf der anderen Seite, die in der Geschichte wirksamen Muster zu rekonstruieren. Ersteres wird auch in den Bildergesprächen von Peter Faulstich (2012) und in der Erinnerungsarbeit von Frigga Haug (1999) berücksichtigt. Es geht also darum, die Fragen ‚Was bedeutet die Geschichte für mich?‘, ‚Was empfinde ich?‘ und auch ‚Was ist die Botschaft der Geschichte?‘ zu explizieren, um sie als Korrektiv für die Interpretation parat zu haben. Ebenso bedeutet dies, die sich in Analyse und Interpretation zeigenden Themen auf die eigene Biografie und das eigene Weltverständnis zu beziehen, um auf diese Weise einer ‚Überhöhung‘ der eigenen Wahrnehmungsschemata entgegen zu wirken. Für die Rekonstruktion der Denk- und Wahrnehmungsschemata geht es darum, explizite und implizite Aussagen als Sinnzusammenhänge zu explizieren und in ihrer Logik aufeinander zu beziehen. In der dokumentarischen Methode wird dies durch die Unterscheidung von formulierender Interpretation (Was wurde gesagt?) und reflektierender Interpretation, die das ‚Wie‘ der Diskursorganisation und gedankenexperimentelle Gegenhorizonte zur Explikation des Orientierungsrahmens miteinbezieht (vgl. Schäffer 2012, 288 ff.) unter Rückgriff auf Karl Mannheims Differenzierung von konjunktivem und kommunikativem Wissen (ebd. 275) herausgearbeitet. Ergänzen lässt sich dies durch das sehr feingliedrige Auswertungsverfahren zur Rekonstruktion narrativer Identitäten, wie es von Gabriele Lucius-Hoene und Arnulf Deppermann entwickelt wurde (Lucius-Hoene/Deppermann 2002). Für die Rekonstruktion der Sinnzusammenhänge sind hierbei vor allem eine funktionale Betrachtungsweise (Wozu wird das dargestellt und nicht etwas anderes?, Wozu wird es jetzt dargestellt und nicht wann anders?, Wozu wird es so dargestellt und nicht auf andere Weise?) (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002, 182 ff.) und das Herausarbeiten von unterstellten Annahmen, die für den/die Akteur_in so selbstverständlich sind, dass sie nicht mitgesagt werden müssen, aber Grundlage der Sinnkonstitution sind, hilfreich. (Die systematische Auswertung erfolgt in der Dissertation von Rosa Bracker, Hamburg 2016.) Solche Verfahrenshinweise zeigen einen Weg, Erzählungen empirisch methodisch abgestützt zu begreifen. Die Methoden ermöglichen, auf die Art der Darstellung des Inhalts aufmerksam zu werden. Ziel ist es, über eine Analyse des ‚Wie‘ der sprachlichen Besonderheiten, den Inhalt des Textes angemessen aufzuschlüsseln und begründet zu interpretieren bzw. angemessen zu verstehen und

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Inhalt und Struktur zu kontrastieren, um über die Rekonstruktion des Sinns der Muster typisieren zu können. Zur Erfassung des komplexen Geschehens ‚Lernen‘ erfolgt in der Interpretation ein Bezug der Analyse auf Lerndimensionen (Faulstich/Zeuner 2006, 28). Hierbei geht es nicht darum, die herausgearbeiteten Begründungen eindeutig in den Polen der Dimensionen zu verorten und zuzuordnen, sondern vielmehr darum, die Dimensionen als heuristische Folie zu nutzen, um Begründungskonstruktionen in Bezug auf Lernen und personale Situiertheiten hin zu konkretisieren. Die Auswertung der Gruppendiskussionen orientiert sich an Grundüberlegungen der Grounded Theory (Strauss 1994) und erfolgt in einem wechselseitigen und fortschreitenden Abgleich von empirischem Material und theoretischen Vorannahmen. Dies nimmt pragmatistische Schlussweisen der Abduktion auf. Insgesamt versuchen wir eine subjektwissenschaftlich gewendete Form der Grounded Theory. Dabei erweist auch ein subjektwissenschaftlich gewendetes Codier-Paradigma (Grotlüschen 2003; Nienkemper 2014) nicht durchgängig als passend, weil sich Phänomene nicht auf deren Bezug auf vereinzelte Aspekte reduzieren lassen. Im Laufe des Codier-Prozesses und deren Rückbezug auf theoretische Annahmen stellt sich hingegen hinaus, dass einzelne Gesichtspunkte sich zu fokussierenden Themen entwickeln. Diese werden als Begründungsperspektiven zusammengefasst. Gemeint ist damit auch dcr jeweilige Blickwinkel, der die Lesarten der Erhebung lenkt. Sie stellen damit eine Vermittlungsebene zwischen theoretischen Vorannahmen und induktiv erarbeiteten Mustern dar. Aus der systematischen Entfaltung der kritisch-pragmatischen Lerntheorie ergeben sich drei Begründungsperspektiven: Identität, Biografie und Erwerbsarbeit. Diese sind vor dem angezogenen theoretischen Hintergrund wenig überraschend. Ihre konkrete Bedeutung erhalten sie jedoch erst aus den im Material gefassten Phänomenen. Sie drängen sich als übergreifende Bedeutungszusammenhänge aus dem Material geradezu auf. Sie bilden die zentralen Bezugsgrößen des Lernens über biografische Phasen, institutionelle Bezüge, Themen und Lebensbereiche hinweg.

4. B EGREIFEN

4.4 V ERMITTLUNG VON E MPIRIE L ERNFORSCHUNG

UND

DES

T HEORIE

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IN DER

Ist dies noch sehr allgemein bestimmt, lässt sich Bedeutsamkeit als Vermittlungskategorie auch inhaltlich auf Lernen und Lernforschung zurückbeziehen. Lernthemen werden dann aufgegriffen, wenn sie in Verbindung mit einzelnen Lernintentionen gebracht werden können. In einer kritisch-pragmatistischen Konzeption (Faulstich 2005; 2013) wird Lernen eingebunden in eine Praxistheorie und einbezogen in die Theorie der Tätigkeit, wie sie im Rahmen der kulturhistorischen Schule von Alexei Nikolajewitsch Leontjew entwickelt worden ist. Er nimmt (übrigens wie später Bourdieu 1979) die Marxsche Auffassung, die in der 6. Feuerbach-These geronnen ist, nach der es einen engen Zusammenhang zwischen menschlicher Aktivität und menschlicher Psyche gibt, als Ausgangsannahme auf. „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx 1969, MEW 3, 6)

Die verbreitete Kritik, die These verlagere das Wesen des Menschen vollständig in das Gesellschaftliche, und sie grenze das Körperliche aus, gilt nur oberflächlich. Die 6. Feuerbachthese ist keine Aussage über den Menschen an und für sich, sondern über sein ‚Wesen‘, also über seinen Kern, das Besondere. Und sie stellt ihn in ‚seine Wirklichkeit‘, also in die gemeinsame Praxis. Unser Sein ist demnach Praxis. Sie ist zu fassen als sinnlich menschliche Tätigkeit. Karl Marx hat dies komprimiert in der 8. Feuerbachthese: „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis.“ (Marx 1969, 3, 7)

Hauptpunkt Leontjews ist dann, dass gesellschaftliche Strukturen durch äußere beziehungsweise ‚gegenständliche‘ Tätigkeiten schrittweise in innere, geistige Strukturen umgewandelt und so zwischen Geist und Körper vermittelt werden. Tätigkeit ist eine ganzheitliche, mit kognitiven wie emotionalen Aspekten begleitete Aktivität. Sie „stellt keine Reaktion und auch keine Menge von Reaktionselementen dar, sondern ein System mit einer eigenen Struktur, mit eigenen inneren Übergängen und Umwandlungen, mit eigener Entwicklung.“ (Leontjew 1977, 23)

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Tätigkeiten sind doppelt bezogen: auf konkrete Individuen und auf sozialen Kontext. Sie werden durchgeführt unter den Bedingungen ‚offener Kollektivität‘, unter denen das Individuum sich durch Interaktion ins Verhältnis zu den koagierenden Menschen und in Konfrontation mit der Welt setzt: „Unter welchen Bedingungen und in welchen Formen die Tätigkeit des Menschen jedoch auch immer erfolgt, welche Struktur sie auch immer aufweist, niemals kann sie isoliert von den sozialen Beziehungen, vom Leben der Gesellschaft betrachtet werden. Bei all ihren Besonderheiten stellt die Tätigkeit des menschlichen Individuums ein in das System der gesellschaftlichen Beziehungen integriertes System dar. Außerhalb dieser Beziehungen existiert keine menschliche Tätigkeit.“ (Ebd.)

Leontjew betont die Gesellschaftlichkeit aller menschlichen Tätigkeiten: „Besonders sei davor gewarnt, die menschliche Tätigkeit als etwas aufzufassen, das im Gegensatz zur Gesellschaft steht“ (ebd.). Es bleibt dabei aber immer noch die Frage offen, wie Erfahrungen von Bedingungen zu Begründungen werden. Leontjew argumentiert mit der Differenz und der Interdependenz von ‚gesellschaftlicher Bedeutung‘ einer Tätigkeit und ‚persönlichem Sinn‘ einer Handlung. Diese Unterscheidung, die ihm selbstverständlich bekannt ist (vgl. Holzkamp 1983) kann Klaus Holzkamp, da er nur über ‚intentionales‘ Lernen, also über Handlungen, redet, nicht aufnehmen. Wir fassen diese Problematik durch die Dreigliedrigkeit von Bedingungen und Begründungen sowie Bedeutsamkeit als Vermittlungskategorie. Genau hier steht vermittelnd die Erfahrung (Faulstich 2014, 35-60). Sie öffnet den Begründungshorizont durch Bedingungsimpulse, ohne allerdings einen Automatismus auszulösen. Erfahrung ist Anstoß für praktische Konsequenzen beziehungsweise Diskrepanz auslösend bezogen auf mögliche Weltverfügung und in beiden Fällen Anstoß zum Lernen. Beim Lernen werden Erfahrungen gesammelt, aufgenommen oder verworfen. Weiter zu fragen bleibt dann, nach welchen Kriterien die Auswahl aus der Vielzahl der Lernmöglichkeiten erfolgt. Es geht um Anschluss an vorab Gelerntes und um dessen Bewerten: Was ist zum Vorwissen passendes Erfahren, wann und warum wird vermeintes Wissen umgeformt oder ersetzt? Menschliches Handeln orientiert sich demnach am subjektiven Sinn, eingebunden in gesellschaftliche Bedeutungen: Wir nehmen etwas als wichtig für uns – oder eben nicht. Dabei sind bewertende Gefühle schon da, bevor bewusstes Denken einsetzt. Wenn man aber Menschen zugesteht, über Handlungsspielräume zu verfügen und deshalb für ihr eigenes Handeln verantwortlich zu sein, ist Bedeutsamkeit derjenige Aspekt von Welt, der für die Lebensinteressen und damit als Lernthematiken für das Individuum relevant wird. Handelnde Menschen werden als Intentionalitätszentren aufgefasst, welche ihre Interessen auf Welt

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richten, um Probleme zu lösen, die in fortschreitender Routine nicht bewältigt werden können. Die Spezifik menschlichen Handelns besteht darin, dass sich die Menschen nicht nur den jeweils gegebenen Lebensbedingungen anpassen, sondern sich auf der Grundlage erkannter Handlungsmöglichkeiten zu diesen reflexiv ‚verhalten‘, um diese gemäß den eigenen Erkenntnissen und Bedürfnissen bewusst handelnd verändern zu können. Sie können abwägen, ob Weiterbildungsteilnahme für sie sinnvoll ist oder nicht. Und sie können Widerstand gegen von außen gesetzte Lernpostulate entwickeln. Ein adäquates Modell zum Begreifen von Lerngründen und -widerständen geht aus von der zentralen Annahme, dass Hemmnisse und Schranken nicht direkt verursachend wirken, dass sie aber ‚intern‘ bedeutsam werden, indem sie unterschiedlich erfahren werden. Entscheidend für die Teilnahme am Lernen ist dann die Art und Weise, wie Lernaufgaben von den potenziell Lernenden selbst als Problematiken aufgenommen werden. Damit lassen sich optimale Lernsituationen nicht direkt identifizieren, aber es werden vor allem auf spezifische Lernthematiken bezogene Einschränkungen und Behinderungen beschreibbar. Im Resultat betonen wir, dass externe Faktoren als Lernhemmnisse und -schranken erst relevant werden, wenn sie für die Lernenden bedeutsam werden – sozusagen beim Durchgang durch die Individuen. Auf Seiten der Personen bestehen oder fehlen Gründe zu lernen oder nicht zu lernen; diese sind eng an die biografischen, unweigerlich mit sozialen Kontexten verschränkten Erfahrungen und Interessen gebunden. Die lernenden Personen haben sich in individuell erfahrenen milieuspezifischen Hintergründen entwickelt, in denen auch institutionelle Schranken wirksam sind und sich Hemmnisse herausgebildet haben können. Hemmnisse und Schranken werden erst wirksam in ihrer Bewertung durch die Intentionalität der Akteure, durch das mit Gründen handelnde Subjekt: „Widerständig ist nicht unbegründet“ (Faulstich/Grell 2005). Die Bedingungen werden wichtig, wenn sie von den Subjekten mit Bedeutsamkeit für sich selbst aufgenommen und so Anlass für Begründungen werden. Tätigkeits-, also auch Lernproblematiken, verbinden sich mit den Interessen der Akteure. Dies umfasst nicht nur kognitive Aspekte. Keineswegs ist die eigene Lage den Subjekten in allen ihren Aspekten bewusst; sie entzieht sich der unmittelbaren Erfahrung. „Weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen“ (Bourdieu 1979, 179). Im Zitat verspielt Bourdieu allerdings die wichtige Differenz zwischen individuellem Sinn und sozialer Bedeutung. Bedingungen werden also nicht nur dann zu Begründungen, wenn sie explizit genannt oder gedacht werden; entsprechend müssen sowohl bewusste wie auch

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nicht-bewusste Handlungen und Begründungen berücksichtigt werden (wobei beide auf eine grundsätzliche, gegebenenfalls nachträgliche Begründbarkeit rekurrieren (vgl. Holzkamp 1985, 35f). Für (Nicht-)Lernen nehmen demnach die Lerngründe eine zentrale Rolle ein. In diesen verweben sich die Bedeutungen gesellschaftlicher Lebensbedingungen, geronnen in biografischen Erfahrungen, der Bedeutungshorizont der konkreten Lernsituation und antizipierte Lernresultate. Wenn wir nun in unserem empirischen Material der Frage nachgehen, wann Lernen für die Subjekte bedeutsam wird – und diese Frage auch in der Erhebung den Subjekten selbst mit auf den Weg geben – kontextualisieren wir Lernen, indem wir die in deren Aussagen enthaltenen gesellschaftlichen Bezüge herausarbeiten. Es geht also um die Rekonstruktion von subjektivem Sinn und den darin enthaltenen Bedeutungen, die auf objektive Bedingungen verweisen.

4.5 G RUPPEN IN

DEN

L ERNWERKSTÄTTEN

Aus der theoretischen Anlage und den methodologischen Überlegungen ergaben sich für die Auswahl des Samples orientierende Bezugslinien. Mit Blick auf die aktuelle gesellschaftliche Situation bleibt Berufsbezug weiterhin eine wichtige Rolle. Die Reichweite von Entgrenzungs- und Individualisierungsprozessen in der Entwicklung der Arbeitsgesellschaft für die Identität der in ihr lebenden Subjekte ist zwar nicht zu leugnen (vgl. Dill/Keupp 2010, 11). Erwerbsbezug und seine besondere Form als Beruflichkeit spielen jedoch als grundlegende Orientierung auch für die nicht-berufliche Identitätsentwicklung eine Rolle, ebenso wie für die Reflexion des Lernens. Kritische Lebensereignisse und damit einhergehend veränderte Lebenssituationen können zu Lernimpulsen werden (Alheit 1995, 280). Das Sample der sechs durchgeführten forschenden Lernwerkstätten (FLW) umfasst deshalb Lernende in unterschiedlichen Phasen der Erwerbstätigkeit bzw. der beruflichen Laufbahn, unterschiedliche soziale Hintergründe und unterschiedliches Geschlecht sowie differenzierte Lernsituationen: • •

Vor dem Beruf stehende junge Erwachsene: Teilnehmende in ‚freiwilligen Jahren‘ und in Berufsvorbereitungsjahren (FLW1, FLW5). Zwischen Berufen stehende Erwachsene: Teilnehmende in Institutionen der beruflichen Weiterbildung, die Programme nach SGB IX in unterschiedlichen Fachrichtungen (Kaufmännische Assistenz, Fachkraft Lagerlogistik, Speditionskaufleute, Großhandelskaufleute) durchführen (FLW2, FLW3).

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Nach dem Beruf stehende ältere Erwachsene: Seniorenstudierende und Teilnehmende aus Kursen der (außeruniversitären) Seniorenbildung (FLW4, FLW6).

Die Hintergrundprogramme der Erwachsenenbildung, aus denen sich die Teilnehmenden der Lernwerkstäten rekrutieren, sind unterschiedlich geregelt: (1) Das ‚Freiwillige Soziale Jahr‘ (FSJ) bietet nach Ableistung der Schulpflicht die Möglichkeit, Erwerbstätigkeit in verschiedensten Bereichen kennenzulernen. Neben Einsatzfeldern in sozialen Bereichen wie z.B. in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten, etc. wird das FSJ mittlerweile auch in den Bereichen Sport, Kultur, Denkmalpflege und Politik angeboten. Das Freiwillige Soziale Jahr wird von zugelassenen Trägern durchgeführt. Zugelassen sind Wohlfahrtsverbände, Religionsgemeinschaften sowie Bund, Länder und Gemeinden. Weitere Träger können zugelassen werden. Der Träger stellt die Einsatzstelle bereit, in welcher die Freiwilligen ihren Dienst leisten. Bewerben können sich junge Leute zwischen 16 und 27 Jahren. Unter dem Dach eines Trägers werden unterschiedliche Einsatzstellen koordiniert, die in pädagogischer, organisatorischer und insbesondere rechtlicher Hinsicht eingebunden sind. Eine tragende Säule des FSJ ist die Begleitung. Diese umfasst nicht nur die Anleitung durch Fachkräfte in den Einsatzstellen, sondern auch die Durchführung von Bildungsseminaren. Es werden ein Einführungs-, ein Zwischen- und ein Abschlussseminar durchgeführt, deren Mindestdauer je fünf Tage beträgt. Die Seminarzeit gilt als Dienstzeit und die Teilnahme an den Seminaren ist Pflicht. Das FSJ ist somit vorrangig als Orientierungsphase zu sehen: Es wird ein Moratorium zwischen Schule und Erwerbstätigkeit eingelegt. (2) Beruflich Fortbildung nach SGB IX (Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (IX) – „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“) soll neue Wege in Erwerbsarbeit öffnen. Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sind darauf gerichtet, Erwerbsfähigkeit entsprechend vorliegender Neigungen zu erhalten, zu verbessern oder wieder herzustellen und Teilhabe am Arbeitsleben möglichst auf Dauer zu sichern (§§4 Abs. 1 Nr. 3 und 33 Abs. 1 SGB IX i.V.m. §112 SGB III). Behinderten Frauen sind dabei im Erwerbsleben gleiche Chancen zu sichern (§33 Abs. 2 SGB IX). Berufsförderungswerke (BFW) sind überbetriebliche Einrichtungen zur beruflichen Ausbildung, Fortbildung und Umschulung erwachsener Menschen. Ihre Aktivitäten haben als Ziel, die dauerhafte und schnelle Rückkehr der Teilnehmenden in den Beruf und ihre Teilhabe am Arbeitsleben und damit am aktiven Leben der Gesellschaft zu unterstützen.

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Von Anfang an zielt berufliche Rehabilitation gem. SGB IX auf erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. ‚Praxisnahe‘ Qualifizierungsmaßnahmen, Handlungsorientierung und betriebliche Praktika sind zentrale Elemente. (3) Als ein Merkmal des Alterns wird das Ausscheiden aus Erwerbstätigkeit und das Verlassen, der Verlust bzw. das Abstreifen des Erwerbsbezugs als Leitlinie angesehen. Damit erhält die Lebensführung eine veränderte Ausrichtung: Dazu gehört die Begründung, Lernen zu verstehen als eine die Alltagserfahrung übersteigende reflexive Auseinandersetzung und soziale Ressource, die zu veränderter Lebensgestaltung und fortdauernder oder erneuerter gesellschaftliche Teilhabe führt. Entgrenzung des Lernens steht hinter der hohen Bandbreite an Bildungsangeboten für ältere Menschen, hinter denen sowohl eine Vielfalt von Anbietern steht, die weit über herkömmliche Bildungsträger und -einrichtungen hinausreicht, als auch ein breites Bildungsverständnis: Es werden sowohl ‚berufsbezogene‘ als auch ‚allgemeinbildende‘ Themen angeboten. Eine Folgeerscheinung dieser Entwicklung ist eine Vervielfältigung der Arrangements zu Lernen jenseits von Bildungsorganisationen im engeren Sinn. Neben privaten Anbietern, die sich vor allem mit ‚Neuen Medien‘ an ältere Menschen wenden, gibt es Organisationen, deren hauptsächliche Aktionsfelder zum Teil außerhalb von Bildung liegen. Dazu gehören etwa die Altenhilfe bzw. Sozialorganisationen und ihre Aktivitäten. Weiter zählen dazu die Angebote des Seniorenstudiums an Hochschulen, der Kirchen, der Kommunen und der Interessenvertretungen. Ein deutlicher thematischer Einschnitt erfolgt nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Die Seniorenorganisationen selbst verstehen sich primär als Service-, Beratungs- und Informationsinstitutionen. Im Folgenden werden die einzelnen forschenden Lernwerkstätten (FLW) dargestellt. Hierbei wird auch auf die sozio-kulturell-demografischen Fragebögen und die Gruppendiskussionen zurückgegriffen. Ziel ist die Beschreibung der unterschiedlichen Gruppen als Fälle, in denen die Zusammensetzung, Themen und Dynamiken in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden sichtbar werden. Die Lerngruppen entwickeln in ihren Diskussionen eine je spezifische Dynamik ihres Verlaufs. Es ergeben sich dadurch unterschiedliche Konstellationen zwischen den Beteiligten (auch den Moderierenden). Nichtsdestoweniger ist der Prozess keineswegs zufällig, sondern folgt rekonstruierbaren Mustern. Ebenso werden unterschiedliche Themen aufgegriffen, um die sich die Schwerpunkte der Gespräche kristallisieren. Hintergrund ist das gemeinsame Erleben; hinter individuellen Sinnzuschreibungen werden kollektiv-strukturelle Sinnmuster erkennbar.

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Die Darstellung der forschenden Lernwerkstätten kennzeichnet zunächst deren Zusammensetzung, folgt dann dem Verlauf der Diskussion in den Gruppen und benennt die aufgeworfenen Themen.1  Das verarbeitete Material der Profile und der dargestellten Begründungsperspektiven und -muster (s.u.) ist dementsprechend divers. Die Auswertungsgespräche sind häufig von persönlicher und wertschätzender Anteilnahme geprägt: Die Teilnehmenden erzählen einander wichtige biografische Entwicklungen. In den Rückmeldungen und in der gemeinsamen Suche nach einer passenden Überschrift überwiegen abstrakte Aussagen – der Versuch Allgemeines in diesem individuellen Fall zu finden. Die sich anschließenden Gruppengespräche springen ebenfalls häufig zwischen der Schilderung konkreter Ereignisse und allgemeinen Formulierungen. Das Material zeigt ein gemeinsames Umkreisen der Bedeutung von Lernen in der je eigenen und zugleich gesellschaftlichen Bedeutung. Die 35 erhobenen Geschichten selbst sind in Sprache, Länge und Inhalt sehr vielfältig. Sie reichen in ihrer Länge von drei Sätzen bis zu eineinhalb handgeschriebenen Seiten. In einigen Geschichten überwiegt ein berichtender Stil – häufig einhergehend mit einer chronologischen und möglichst umfassenden Lebenslauforientierung. Besonders in der Erzählung scheinbar unbedeutender Episoden werden zutiefst prägende Erfahrungen geschildert. Im Einstiegsgespräch (Vorstellung und Bildkarten) wird häufig die jeweilige Bedeutung von Lernen für die eigene Identität sehr prägnant – für den noch unbekannten Kontext der Lernwerkstatt – im jeweils erwarteten Rahmen benannt. Die zweite Assoziationsübung zeigt in allen Werkstätten sehr ambivalente Bedeutungen von Lernen – nicht nur positive und negative, sondern bereits auch innerhalb des Spektrums vom instutionellen und informellen Lernen, funktional und thematisch ausgerichteten Lernprozessen. 4.5.1 Fallprofil der forschenden Lernwerkstatt 1: Berufsvorbereitungsjahr Auswertung des Fragebogens An der forschenden Lernwerkstatt Berufsvorbereitungsjahr (FLW1) nehmen vier Personen teil, davon je zwei junge Frauen und Männer. Drei von ihnen sind 24, eine 21 Jahre alt. Sie alle sind in ‚Maßnahmen zur Berufsorientierung‘ eines gemeinnützigen Trägers: zwei von ihnen in Gärtnereien, eine im Kfz-Bereich und eine Teilnehmerin in der Tischlerei. Während zwei Teilnehmende im Alter von 17 und 18 Jahren Realschulabschluss bzw. Mittlere Reife erlangt haben, können

1 Die Erstellung der Fallprofile geht maßgeblich auf die Zusammenarbeit mit Gesa Grand zurück – dafür herzlichen Dank.

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die beiden anderen gar keinen Schulabschluss vorweisen. Alle kommen aus Familien ohne Migrationshintergrund. Keiner der jungen Erwachsenen hat während der Schulzeit legal Arbeitserfahrungen gesammelt (ein Teilnehmer gibt an, sich Geld organisiert zu haben bzw. in Schwarzarbeit als Maler tätig gewesen zu sein). Eine Person hat nach der Schulzeit auf geringfügiger Basis als Reinigungskraft gearbeitet. Im Rahmen von Weiterbildung bzw. Qualifizierungsmaßnahmen (auch vom Arbeitsamt verordnete) geben drei der Teilnehmenden an, Praktika gemacht, eine Ausbildung zum Maler/Lackierer begonnen und an ‚1-Euro-Maßnahmen‘ und ‚Maßnahmen zur Berufsorientierung‘ teilgenommen zu haben. Die Lebenssituationen sind individuell unterschiedlich: Eine der Teilnehmenden hat eine vierjährige Tochter und lebt mit ihr allein, eine Person lebt allein, eine Person bei der Mutter, eine andere mit Partnerin. Alle Teilnehmenden haben ein bis drei jüngere Geschwister zwischen 6 und 20 Jahren. Auffällig ist im Bereich der schul- und berufsbildenden Abschlüsse, dass nur in einer Familie die Schwester bereits das Abitur hat (und eine abgeschlossene Ausbildung zur Rettungsassistentin) und der Bruder ebenfalls diesen Schulabschluss anstrebt. In den drei anderen Familien wurde hauptsächlich der Hauptschulabschluss erreicht (einmal auch Mittlere Reife) oder wird angestrebt. Die Angaben zu den Bildungsabschlüssen der Eltern, v.a. zu denen der beruflichen Bildung, sind unvollständig, insgesamt aber streuend: Sowohl bei Müttern als auch bei Vätern wurde die Schule mit Volks-/Hauptschulabschluss, Mittlerer Reife oder Abitur abgeschlossen. Es werden sowohl Universitätsabschlüsse, aber auch Lehren mit Abschlussprüfung oder gar kein beruflicher Abschluss angegeben. Die Vielfalt der Erwerbstätigkeiten ist entsprechend groß: Die Eltern der Teilnehmenden arbeiten bzw. haben gearbeitet als Finanzbeamtin, Monteur, zahnmedizinische Fachkraft, Pferdefachwirtin, Projektmanager oder in der Glasund Gebäudereinigung. Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen wird insgesamt in keiner der Herkunftsfamilien benannt, zugleich werden zwei Qualifizierungsmaßnahmen (zur Steuerfahnderin und Umschulung zum Hausmeister) angegeben. Die Angaben über Informationen zum politischen Tagesgeschehen sind bunt: zwei Teilnehmende geben an, sich gar nicht zu informieren, hier entsprechen die Angaben denen zur Elterngeneration. Nachrichten werden gar nicht oder selten verfolgt, die weitere regelmäßige Mediennutzung besteht aus der Scripted Reality Sendung ‚Berlin Tag und Nacht‘ oder gar nicht (‚fast kein Fernsehen‘). In den beiden anderen Familien besteht eine wöchentliche oder häufigere und vielfältige Mediennutzung, sowohl über Lokalblätter, aber auch Morgen Post, Spiegel, Stern als auch übers Internet, durch Fernsehen und Radio.

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In Bezug auf Mitgliedschaften lässt sich (mit Ausnahme einer katholischen Mutter) ersehen, dass weder die Teilnehmenden selber, noch ihre Eltern aktives Mitglied in einer Kirche, Partei oder Gewerkschaft sind. Ein Teilnehmer ist, ebenso wie seine Eltern, im Sportverein aktiv, der andere engagiert sich, ebenso wie sein Vater, bei Greenpeace und ist u.a. Mitglied bei der Tierschutzorganisation „peta“ (people for the ethical treament of animals). Die finanzielle Situation der Teilnehmenden ist, soweit bekannt, unterschiedlich: Laut Fragebogen stehen ihnen bzw. ihrem Haushalt Geldmittel von unter 300 bis (unsichere Angabe) 1.500-1.800 Euro zur Verfügung, darunter auch Bezüge des Arbeitslosengeldes II. Umgang in der Gruppe und deren Dynamik Die vier Teilnehmenden gehen mit ihren eigenen, zum Teil sehr schwierigen Biografien, Erlebnissen und Emotionen offen um. Dabei gibt es Unterschiede in der Intensität der Schilderungen, zwischenzeitlich haben besonders zwei Teilnehmende hohe Gesprächsanteile aber auch Mitteilungsbedürfnis. Dabei hat die Lernwerkstatt eine positive Eigendynamik. Während die Teilnehmenden bereits anfänglich bereitwillig ihre Geschichten erzählen, entwickeln sich im Verlauf der Lernwerkstatt Gespräche zwischen ihnen. Es werden Situationen geschildert, die von anderen ähnlich erfahren und/oder geteilt werden. Im Verlauf der Lernwerkstatt entsteht so eine Lockerheit; es wird gelacht und über ähnliche Erfahrungen (z.B. gehören alle vier in ihren berufsvorbereitenden Maßnahmen zu den Ältesten, sind tierlieb, haben ein gespaltenes bis desaströses Verhältnis zur Herkunftsfamilie) entsteht ein gemeinschaftliches Gespräch, das auch dazu führt, dass man untereinander Rat gibt, sich Fotos der Haustiere zeigt etc. Alle Teilnehmenden nehmen Anteil an den Schilderungen der anderen und versuchen, sich in deren Perspektive hineinzuversetzen. Die Interviewerinnen sind Teil der Gesprächsdynamik und auf ihre Fragen wird eingegangen. FLW1_1: Also und bei mir auch so, da meine Mutter immer Hartz 4 gekriegt hat wie auch immer, wollte ich aus diesem Kreislauf raus und bin dann eben zur Schule gegangen und wollte das so machen, ’n besseren Abschluss und sowas damit ich im Endeffekt irgendwann wirklich ’ne Zukunft vor mir habe und (.) sie hat es geschafft, das auch noch kaputt zu machen, abgesehen mal davon. FLW1_4 : Schon krass irgendwie. FLW1_2: Ich hab’s auch nur durch meine Tochter geschafft aus diesem Drogen(.)dreh rauszukommen. Also wenn sie nicht wäre, dann wäre ich heut schon beim Heroin gelandet. FLW1_1 (reinredend): Aber du bist rausgekommen, wie auch immer, aber du hast es wenigstens geschafft. (FLW1a, 863ff.)

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Die drei Teilnehmenden gehen aufeinander ein und sprechen anerkennend miteinander. Sie nehmen Bezug auf die eigene Mutter bzw. Tochter und geben so etwas aus ihrer Familie preis. Auch erteilen sie sich untereinander Rat ohne anweisen zu wollen: […] du jetzt einfach gucken, (dass du dir Zeit nimmst), wenn sie zum Beispiel im Bett ist abends oder sowas, einfach versuchst, die Zeit zu nutzen und so, also, das wäre jetzt so, so ’n Vorschlag. Ich hab kein Kind, also ich kann es nicht nachvollziehen, aber das wäre jetzt so ’n Vorschlag, was ich von einer Freundin weiß, so was sie eben macht, wenn sie (/). Sie bringt ihre Kleine abends ins Bett und dann weiß sie, sie ist im Bett, sie schläft und dann kann das Kartenhaus im Endeffekt zusammenfallen und wenn es nur für ’n Moment ist, aber damit das nicht alles auf einmal sich zusammenstaut und dann irgendwann wirklich komplett aus ( ), dann bist du echt platt. (FLW1a, 9052)

Themen Leben ist Lernen Alle Teilnehmenden hatten in ihrer bisherigen Biografie Krisen zu bewältigen oder kämpfen noch mit Problemen, die ihnen unter anderem den Start in wirtschaftliche Unabhängigkeit, aber auch persönliche Weiterentwicklung erschweren. Das Thema Lernen bezieht sich in der Lernwerkstatt umfassend auf Leben, welches z.T. in unterschiedlichen Facetten, neu gestaltet oder wieder erlernt werden muss, trotz Rückschlägen: FLW1_2; Ja, aber das gehört auch zum Lernprozess mit dazu. FLW1_4: Richtig. Man lernt niemals aus. Also sag ich immer. Also man lernt echt niemals aus. FLW1_2: Ja und nicht unterkriegen lassen von Rückschlägen oder Arschtritten.(FLW1a, 884ff.)

‚Lebenslanges Lernen‘ erscheint als selbstverständlich und ebenfalls die benötigte Hartnäckigkeit sich von Rückschlägen und ‚Arschtritten‘ nicht unterkriegen zu lassen.

2 Zur Zitation des Materials siehe Systematik in Kapitel acht. Wenn eine Aussage zitiert wird, in der es keinen Sprecher_innen-Wechsel gibt, wird auf die Angabe der Teilnehmenden-Nummer verzichtet.

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Eigene Lebensgeschichte Alle Teilnehmenden machen ihre eigene Lebensgeschichte zum Thema der Lernwerkstatt. Zum Teil berichten sie aus ihrem Leben, aber hauptsächlich geben sie einen Überblick über ihre Kindheit und Jugend und erzählen, wie es ihnen bisher ergangen ist. Sie beschreiben nicht nur; vielfach wird beim Erzählen nachgedacht; es werden wichtige Erlebnisse und Veränderungen eingeordnet oder neu bewertet. Oft geht es dabei um Unterschiede zwischen einer beschriebenen Situation oder dem Status quo und einem Zeitpunkt davor. Hervorgehoben werden Lebensereignisse (z.B. Geburt des Kindes), in denen sich Lernen verdichtet hat: Also ich hab, ich hab (.) an einem Tag, ähm, also mit der Geburt so viele Erfahrungen und was nicht alles gesammelt, das, weiß nicht, hab ich in meinem ganzen Leben glaub ich nicht geschafft ( ) an Erkenntnissen, die ich gesammelt hab (.) und heut noch teilweise, wenn ich so zurückdenke oder drüber nachdenke, weil ich heute wieder ganz anders (/) was heißt ganz anders nicht, aber viel reifer bin wie damals zu der Geburt mit achtzehn. Denk ich heute nochmal anders über die Sachen teilweise. Mir fallen auch Sachen von damals heute viel mehr auf, (…). (FLW1a, 285)

4.5.2 Fallprofil der forschenden Lernwerkstatt 5: Freiwilliges Soziales Jahr Auswertung des Fragebogens An der Forschungswerkstatt ‚Freiwilliges Soziales Jahr‘ (FLW5) nehmen vier junge Erwachsene im Alter von 20/21 Jahren teil. Die zwei jungen Frauen und zwei jungen Männer haben die Schule alle mit Fachhochschulreife oder Abitur – hauptsächlich am Gymnasium (einmal Gesamtschule) – beendet und befinden sich zur Zeit im Freiwilligen Sozialen Jahr mit Schwerpunkt Kultur: Sie arbeiten an Theatern, in theaterpädagogischen Zentren und Musikschulen. Alle vier haben bereits während ihrer Schulzeit vielfältige Arbeitserfahrungen gesammelt, sowohl in eher privat organisierten Tätigkeiten wie Babysitten, Austragejobs etc., als auch in Unternehmen, Einrichtungen, Einzelhandel, Gastronomie (Kellnern, Verkauf, VW, Orgelbau, Landwirtschaft). Mehrheitlich wohnen die Teilnehmenden noch zu Hause. Ein Migrationshintergrund findet sich auf Grundlage des Fragebogens bei einer Teilnehmerin, deren Mutter aus Polen kommt. Alle Teilnehmenden haben entweder ein bzw. drei Geschwister. Mit Ausnahme von zwei Geschwistern im Kleinkind- und Grundschulalter haben alle die Schule mit Mittlerer Reife bzw. Abitur abgeschlossen oder streben entsprechende Abschlüsse an.

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Bei denjenigen, die bereits in Ausbildung sind oder diese abgeschlossen haben, finden sich sowohl Lehren (2x), als auch Hochschulstudium (1x). Auffällig in der Generation der Eltern ist, dass bei der Schulbildung der Mütter sowohl Volks-/Hauptschule als auch Realschule/Mittlere Reife und Abitur (2x) genannt werden, dabei keine der Mütter einen Universitätsabschluss hat, sondern jeweils erlernte Ausbildungsberufe angegeben werden, in denen (nur)zum Teil noch gearbeitet wird, dabei zum Teil in Teilzeit. Bei den Vätern ist die Schule häufiger mit Abitur, mindestens aber mit Mittlerer Reife (3:1) abgeschlossen worden. Lehre und Universitätsabschlüsse führten zu Tätigkeiten als Ingenieur, Gärtner und Diplombiologe, Systemadministrator, Orgelbaumeister etc. Dabei sind erlernter Beruf und derzeit ausgeübter Beruf nicht immer gleich. Auffallend ist auch die Einstellung zu Weiterbildung: Sowohl die Mehrzahl der Teilnehmenden selber benennt Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen im persönlichkeitsbildenden Bereich (zum Teil wird das FSJ ebenfalls hierzu gezählt), z.B. interkulturelle Kommunikation, aber auch zur Kompetenzerweiterung (Excel/Word). Bei drei von vier Teilnehmenden war die Teilnahme der Eltern an Weiterbildungsveranstaltungen ein Thema: Hier diente sie sowohl zur beruflichen Weiterqualifizierung, aber auch handlungserweiternd (Computer) oder persönlichkeitsbezogen (Esoterik). Während alle Teilnehmenden und ihre Eltern Mitglied in der Kirche (nahezu ausschließlich evangelisch) sind, ist niemand Mitglied in einer Partei. Auch gewerkschaftliche Mitgliedschaften werden aus Sicht der Teilnehmenden verneint oder können nicht benannt werden. Vereins- oder Gruppen-/Initiativmitgliedschaften gibt es vereinzelt bei den Eltern. Geschlechtsspezifisch auffällig ist, dass beide jungen Frauen angeben, sich gar nicht über politisches Tagesgeschehen zu informieren, während sich die Teilnehmer über Radio und Internet auf dem Laufenden halten, aber auch über Printmedien. Diese Auffälligkeit lässt sich ansatzweise in die Elterngeneration übertragen. Alle jungen Erwachsenen geben an, dass ihre Väter sich über Radio und Fernsehen informieren, während es bei den Müttern zwei sind, die dies tun. Die Benennung der finanziellen Situation scheint schwer zu fallen. Das eigene Einkommen lässt sich zwischen unter 300 Euro bis 500 Euro bestimmen, die Angabe zur Einkommenssituation im Haushalt bleibt bis auf eine Nennung aus, obwohl drei der Teilnehmenden angeben, bei ihren Eltern zu wohnen. Umgang in der Gruppe und deren Dynamik Die Teilnehmenden sind sich vor der Forschungswerkstatt bereits begegnet zu sein, kennen sich aber nicht näher. Die jungen Erwachsenen artikulieren weitgehend ungehemmt ihre eigenen Situationen, Erfahrungen und Haltungen und geben einander so relativ nahe Einblicke, gehen offen miteinander um, können die

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Beiträge der anderen wertschätzen, loben, aber auch kritisieren und bewerten. Auffällig ist, dass sie ihre Meinungen und Haltungen häufig aus der IchPerspektive kommunizieren und sich wenig hinter einem ‚man‘ verstecken. Sie bringen sich so als Personen mit eigener Haltung ein und verallgemeinern wenig über ‚man‘-Formulierungen. Es gibt einen Wechsel zwischen ‚ich‘ und ‚man‘: Ich hab immer ziemlich viel so zum Ende, zum Schluss in der Nacht gelernt und ganz viel und so. Also immer so auf den letzten Drücker und irgendwie, allgemein. Man kennt das ja so dieses Sprichwort sich auf den Hintern setzen oder den Arsch zusammenkneifen. So ähm und lernen, gut. Manchmal macht es Spaß, aber manch (/) also eigentlich ist eher so schulisch gesehen ein bisschen (-) nicht so schön, also kein, kein Thema, was jetzt so auf dem Papier Spaß macht, also. (FLW5b, 68)

Beispielsweise kennzeichnet die Reaktion der anderen Teilnehmenden nach dem Vorlesen einer Lerngeschichte die Form des wertschätzenden Umgangs miteinander: FLW5_2: Ähm, (-) ja. Ich fand’s ( ) sehr schön. Eine sehr schöne Geschichte und (das hat) mir auch gefallen, dieses ‚Schwipp-Schwapp‘, das ist jetzt so (1s) nicht so förmlich, aber das hat die ( ) Geschichte nochmal so aufgefrischt. Und fand ich sehr schön. FLW5_3: Ich fand das auch so ’ne süße Geschichte irgendwie. Könnt auch irgendwo im Buch stehen. Ähm, ich hab aber auch zuerst gedacht, dass es irgendwie um diese Griffe geht. Also irgendwie um das, dass du das lernst. Was das zu bedeuten hat, oder so. Ja, aber das fand ich dann aber cool, dass es so ’ne kleine Wendung genommen hat. So, dass es dann auf was anderes hinaus lief. FLW5_4: Ja, das hab ich auch gedacht. Ich dacht, aha, jetzt erklärt sie wie man die Griffe benutzt, oder so. Ja, und ansonsten fand ich die Geschichte gut, auch nett. So ein kleines Anekdötchen aus deiner Kindheit. War süß. (FLW5a, 76ff.)

Die Diskussion ist angestoßen und gerahmt durch die Lerngeschichte: Schwipp, schwapp

„Huch“, dachte ich mir als kleines Mädchen, als ich in der großen Badewanne bei meinen Großeltern saß. „Wofür sind eigentlich diese Griffe rechts und links?“ Erste Idee: Daran kann man sich festhalten und mit richtig viel Schwung vor- und zurückrutschen. Das habe ich natürlich sofort ausprobiert und schwipp-schwapp – das ging echt gut. Das Wasser kam schon bis knapp an die Kante der Badewanne – und leider beim nächsten Schwung auch darüber. Die Oma, die schon die ganze Zeit kritisch und streng zugeguckt und gemahnt hatte, wurde jetzt wütend. An dem Tag habe ich meine Oma zum ersten Mal in meinem Leben wütend erlebt – da habe ich sie zum ersten Mal von einer ganz anderen Seite kennengelernt. (FWL5_LG 3)

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Die Erfahrung des kleinen Mädchens in der Badewanne wird in die Interaktion mit der Großmutter gestellt. Das Kind lernt die andere Seite der Oma kennen. Bemerkenswert ist, dass Lernen hier von Anfang an in seinen informellen und inzidenten Aspekten einbezogen wird. Die Kommunikation über die Lerngeschichte wird nicht durch höfliche Distanz verdeckt, sondern ist offen und nah. Wenn auch die Teilnehmenden ihre eigenen Meinungen haben und diese mitteilen, so sind sie im Gespräch einfühlsam und in der Lage, sich in Geschichten und Gesprächsbeiträge der anderen hineinzuversetzen und diese nachzuvollziehen. FLW5_3: Ähm, ja, also ich fand ( ) ich find, den Anfang fand ich richtig gut, der ist mir auch am meisten ( ) Oder das war so der stärkste Eindruck so von der Geschichte, dieses mit: „Es tobt, es ( )“ und so. Ähm, irgendwann konnt ich nicht mehr so ganz folgen, ehrlich gesagt. Es war so ’n (-) Wirrwarr von Begriffen und, äh, kurzen Sätzen und so und dann immer wieder so ’n Teil, ah, das hab ich gut verstanden und dann kam wieder so, ähm, jetzt komm ich nicht mehr mit. (2s) Hatte irgend sowas von Kampf. (1s) So innerer Kampf oder so. FLW5_2: Ja, also, das fand ich auch so. Zum Schluss nochmal ( ) (/) reflektiert, was du (/) Das was da eigentlich nicht so der Sinn war aber (/) Also, dass du vielleicht jetzt mit den Deutschen viel gemacht hast und so. Aber dass das einfach wichtig für dich war. So, dass du auch gelernt, weißt du, das ist so (/) Das wird das irgendwie (/) Aber auch, dass du den Teil angepackt hast, dass du quasi auch von selbst Mut aufgebracht hast einfach mal drauf los zureden, um das so bisschen ( ). Also diese beiden Seiten. (FLW5a, 241ff.)

Bezug ist die nachfolgende Lerngeschichte: Der Mumm der Ferne Der Flieger landete am Pariser Flughafen. Laura, meine Austauschschülerin war schon vor ein paar Stunden angekommen. Drei Monate hatte sie bei mir verbracht – in unserm Haus gewohnt, meine Schule besucht, mein Fahrrad genutzt. Jetzt war ich an der Reihe: drei Monate wollte ich in Frankreich bleiben. Für mich der erste Schritt in die Selbstständigkeit. Ich war zuvor noch nie solange von zu Hause weg. In Frankreich kannte ich nur Laura. Am Anfang war es schwierig für mich. Ich fühlte mich oft einsam- ich konnte die Sprache nicht fließend, und meine Austauschschülerin kümmerte sich zu wenig um mich nach meinem Geschmack. Der erste Tag in der Schule fing auch nicht gut an. Ich saß alleine an einer Zweierbank und kein Lehrer hatte mich auf der Schülerliste stehen. Aber dann habe ich Caro getroffen. Sie war auch eine deutsche Schülerin, die für ein halbes Jahr nach Frankreich gegangen ist und ging in meine Klasse. Und Leonie habe ich getroffen, und Marietta und Sophie – al-

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les Deutsche. Es war gut, sich auf Deutsch austauschen zu können, zu reden ohne nachdenken zu müssen. Und es hat einem Mut gegeben, denn man war nicht mehr allein. Ich habe gelernt mehr auf die Leute zuzugehen. Man darf nicht erwarten, dass die Anderen auf Einen zukommen, sondern man muss selber den ersten Schritt machen. Stell alle Fragen, die dir einfallen und erzähl, was dir in den Sinn kommt. Und ich habe den Unterschied zwischen allein sein und einsam sein gelernt. Ich habe hauptsächlich mit den anderen Deutschen etwas unternommen, was im Grunde genommen Sinn und Zweck einer Auslandserfahrung verfehlt, aber für mich war es das Richtige. (FLW5_LG1)

Die Geschichte unterstreicht einerseits den Mut zum Lernen, andererseits die unterstützenden Gruppenzusammenhänge, die ein gemeinsames Lernen anstoßen. Zum einen wird Selbständigkeit betont, zum andern die Notwendigkeit des Austauschs. „Und ich habe den Unterschied zwischen allein sein und einsam sein gelernt.“ Themen Auseinandersetzung mit sich selbst Neben dem vorgegebenen Hauptthema Lernen gibt es in der Forschungswerkstatt ein dominierendes Oberthema, nämlich die Auseinandersetzung mit und über sich selbst. Prozesse der Identitätsfindung, Position gegenüber sich selbst aber auch anderen. Dies geschieht zum Teil sehr bewusst und wird so auch angesprochen, zum Teil wird es an den Gesprächsbeiträgen deutlich und weitergehend auch im Zusammenhang mit Lernen thematisiert. Die Auseinandersetzung mit sich selber und der Welt variiert bei den Teilnehmenden: Bei einem Teilnehmenden trägt sie stark philosophische, schon überzeichnete Züge. Ja, und einfach ’ne gewisse Objektivität, weil ich mein, JA WAS IST DENN DER MENSCH? Als was ich mit dem Atom noch sagte war, äh, so dass, dass, also, äh, dass halt unser Gehirn eigentlich nur so aus ganz vielen Atomen besteht. Das es total geil ist eigentlich, dass dann so was wie unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein daraus quasi so entspringt. Und, ähm, ( ) (/) Ja, aber dass man doch im Endeffekt so unendlich nichtig und winzig ist, (/) im Vergleich zum großen Kosmos und so, äh, dass (/) Sind so viele Probleme, äh, (-) so (-) vollkommen irrelevant. Also so, so komplexe quasi sind dann halt (/) Kann man halt ziemlich gut anpacken. (FLW5a, 288)

Bei anderen Gesprächsbeiträgen sind Auseinandersetzung und Selbstreflexion als Aussage über sich selbst auf die eigene Situation bezogen:

62 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Also, dass du weißt, wie du selber tickst und dir nochmal bewusst machst und dann (/) also, dass dann so (/) Vielleicht, zum Beispiel. Stell dir mal vor, du machst dich vielleicht wegen ’ner Sache total verrückt (--) und so und dann weißt du für dich, ok, du bist so ’n Mensch, der sich wegen Sachen vielleicht verrückt macht und sich das bewusst macht und dann sagt ok, dann schraub ich das mal zurück, oder so (/) Also, dass man dann entspannter auch irgendwie ist? Eigentlich, oder so? (FLW5a, 275)

Lernprozessbeschreibungen werden zum Teil an das dominierende Oberthema angepasst und in Bezug zur Selbstfindung gesetzt: Also ich hab versucht ’nen Lernprozess quasi zu beschreiben, wie ich so gedacht habe: „Was hab ich eigentlich so gelernt und dann, äh, was hab ich (/) was war denn so für mich so das allerwichtigste?“ Das (-) ist halt (--) so diese, diese Art des Denkens, die ich quasi erlernt hab. Und das (/) wie ich da so hingekommen bin, das hab halt dann ’n Typ sagt, äh, also dass jemand zu mir kam und sagt: „Alter, denk halt mal nach, man.“ Und ja, dann und dann hab ich mal nachgedacht, jo. Und dann hab ich gelernt. Und das war halt auch, ja, ’ne ziemlich emotionale Phase, ziemlich hart. Was sich vielleicht auch ein bisschen in der Wortwahl niederschlägt. (/) Der Lebhaftigkeit, also (

) rübergekommen ist. (FLW5a,

259)

Wahrnehmung wird als Voraussetzung für Lernen gesehen, aber ebenfalls mit Bezug zum eigenen Werden, als Möglichkeit zur Selbsteinschätzung, zum Abgleich mit sich selbst und an anderen, aber auch als Moment der Abgrenzung: FLW5_2: Man muss ja wahrnehmen um (/) also nicht nur (/) man nimmt ja wahr, man nimmt ja auch sich selbst wahr und wie man selber merkt, oh das geht besser oder das ist schlechter, oder man nimmt ja auch andere Leute wahr. Also wenn man darauf eingeht, ob man sich von anderen Tipps holt, oder (-), ähm; (-) was abguckt, oder man sagt einem was. Man nimmt ja alles wahr. Das ist ja klar, das ist automatisch (1s) ’ne Voraussetzung ist, um einfach lernen zu können. FLW5_4: Ja, und ich wollte (da eben) sagen, dass die Wahrnehmung ein Teil von einem selbst ist und dass man ja aber auch selbst quasi aus seiner eigenen Wahrnehmung sich, also sich davon distanzieren kann und dadurch halt einfach entspannter wird, weil man eben nicht mehr so (/) weil wenn man das quasi alles so unreflektiert auf sich niederprasseln lässt, dann, also geht zumindest mir so, dann, dann dreh ich emotional total am Rad und deswegen brauch ich dann sozusagen ’ne Mechanik, also so ’nen Denkvorgang, dass eben diese Entrückung quasi ist, wo man das dann quasi alles sortieren kann in, in gewissen Rahmen. (FLW5a, 271ff.)

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Inhaltlich geht es immer wieder implizit um Fragen, wer mich in meinem ‚Sein‘ beeinflusst, von wem ich mich beeinflussen lasse, wie Denkprobleme gelöst werden, Haltungen gefunden werden, wie ich mich wahrnehme, wahrgenommen werde und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. Ein Gesprächsstrang dreht sich um die Bedeutung von ‚Denken‘ – auch im Verhältnis zu ‚Nachdenken‘ – und Erfahrung bzw. Handeln mit Bezug auf Lernen. Hier entsteht eine Diskussion um die Frage, ob eine gemachte Erfahrung durch (daran) Denken zum Lernen führt, sich dadurch aber auf der Erfahrung gründet oder ob Denken ohnehin immer stattfindet und man schon dadurch ganz von selbst lernt. Daneben dann die Form des Auswendiglernens, wenn es um die Anreicherung von Wissen z.B. in der Schule geht. FLW5_4: Also ich find es ist, Denken ist gar nicht so’n On-Off-Prozess. Also, äh, also ich denke die ganze Zeit irgendwas. Man kriegt vielleicht auch gar nicht alles mit, was man so denkt. Und dann lernt man so ganz von selbst. FLW5_3: Also ich würd eher sagen, dass ich durch Erfahrungen lerne. Durch irgendwas, was mir passiert oder so. (FLW5a, 323ff.)

Die jungen Erwachsenen befinden sich im Rahmen des FSJ im Übergang von Schule zu Erwerbsarbeit. Auch auf die konkrete Nachfrage bezüglich der Bedeutung des Jahres bzw. der Erkenntnisse mit Bezug auf Lernen werden mehrfach Aspekte genannt, die die Persönlichkeitsentwicklung in der Adoleszenz und die Lebensbewältigung ins Zentrum stellen. Der Auszug von Zuause, ohne ‚Rettungsanker (Mutti)‘, auf eigenen Füßen stehen und sich selber organisieren, die ersten beruflichen Orientierungen nochmal über Bord werfen. Die Bedeutung der Weiterbildung wird auf Grundlage der eigenen Weiterentwicklung, des ‚sich selbst kennen lernen‘ bewertet: Neben praktischen Aspekten und Kompetenzen im Bereich Verwaltung, Büroorganisation, Lichttechnik etc. geht es immer wieder um die Impulse, die in der Zeit des FSJs für die eigene Persönlichkeitsentwicklung gezogen werden konnten. Dabei ist das ‚Handwerkszeug‘ erstmal eher nachrangig, wenn es sich auch mischt, wie im Fall des Mädchens, das seine Angst vorm Telefonieren mit fremden Menschen überwunden hat, und dies als Kompetenzzugewinn, aber gleichzeitig im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung als Beitrag für ihr Selbstbewusstsein verbuchen kann. Sowas hab ich halt gelernt, aber auch, ähm, für mich, gerade durch die, wie ich schon erwähnt habe, Reflexionsgespräche haben mir auch immer ziemlich viel gebracht so auch über mich auch nachzudenken, also auch über (/) also mich auch selber zu hinterfragen und mich selber zu reflektieren und warum ich Sachen mache und hab das irgendwie auch für mein Privatleben anwenden können. Und das hat mir irgendwie auch geholfen und

64 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE auch mal (1s) mir so bewusst zu werden, ok, warum hab ich das jetzt eigentlich so gemacht und dann auch zu sagen irgendwie, ja, ok, ich hab das jetzt falsch gemacht, oder das war eigentlich nicht gut, das wollte ich eigentlich gar nicht und so. Also irgendwie hat das sehr geholfen (-) so mich selbst zu reflektieren und auch mich selber halt zu hinterfragen, so zum so mein ganzes (/) also nicht nur mein Arbeitsleben, sondern auch so Privatleben, allgemein wie man so ist. (--) Das hat geholfen. Also hab ich sehr daraus mitgenommen. (FLW5a, 445)

4.5.3 Fallprofil der forschenden Lernwerkstatt 2: Umschulung Auswertung des Fragebogens An einer forschenden Lernwerkstatt (FLW2) in Programmen zur Umschulung im kaufmännischen Bereich mit neun Teilnehmenden in Programmen der beruflichen Weiterbildung nach SGB IX nehmen neun Personen teil. Hiervon geben fünf ihr Geschlecht mit männlich und vier ihr Geschlecht mit weiblich an. Sie machen in der Einrichtung Umschulungen sowohl zu Groß- und Außenhandelsund Industriekauffrauen und -männern, als auch zur kaufmännischen Assistenz. Das Alter der Teilnehmenden ist relativ ausgeglichen verteilt zwischen 22 und 36 Jahre ‒ mit einer Ausnahme; eine Person ist im Alter von 52 Jahren. Bis auf eine Teilnehmerin iranischer Nationalität sind keine nicht-deutschen Muttersprachen vertreten und die Teilnehmenden haben deutsche Nationalität. In der Gruppe sind unterschiedliche schulische und berufliche Abschlüsse vorhanden: Eine Person hat einen Universitätsabschluss und sogar promoviert. Knapp die Hälfte hat die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife erlangt, die andere Hälfte hat den Realschulabschlüsse und eine Person einen Hauptschulabschluss. Vier Personen haben keinen beruflichen Abschluss, wobei sich zwei Personen mit dem aktuellen Weiterbildungsprogramm quasi in der Erstausbildung befinden. Ein Drittel hat bereits eine Lehre mit Abschlussprüfung abgeschlossen. Das Spektrum der Berufe variiert vom Handwerk (Tischler), über Forschung (Chemie), dem kaufmännischen Bereich (Hotel, Lebensmitteleinzelhandel) bis zum gesundheitlichen Bereich (Physiotherapie). Mit nicht-ausbildungsbezogenen Arbeitserfahrungen kommen noch Wettbüros, Beleuchtungsvertrieb und Modedesign hinzu. Auffällig ist, dass ein Drittel der Personen angibt, als leitende Angestellte tätig gewesen zu sein. Weiterbildungserfahrungen in den letzten fünf Jahren sind bei gut der Hälfte der Teilnehmenden vorhanden und diese beziehen sich auf vorhergehende Qualifizierungsmaßnahmen und die aktuelle Weiterbildung. Das Einkommen der Teilnehmenden ist relativ breit gefächert von unter 300€ bis zu 2.000€, wobei es mehrheitlich unter 1.000€ liegt und vielfach u.a. Sozialgeld, Renten und Übergangsgeld enthält. Die Eltern verfügen über Haupt- und Realschulabschlüsse und abgeschlossene Ausbildungen

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in jeweils eher geschlechtstypischen Berufen. In zwei Fällen haben beide Eltern einen akademischen Abschluss. Auffällig ist, dass gut die Hälfte der Teilnehmenden drei oder mehr Geschwister hat, die anderen weniger und nur eine Person ist Einzelkind. Mit eine_r Partner_in leben vier gemeinsam in einem Haushalt; drei bei den eigenen Eltern und zwei alleine. Zwei Teilnehmerinnen haben je ein Kind im Altern von einem halben Jahr und von vier Jahren. In der Freizeitgestaltung unterscheiden sich die Personen nicht stark voneinander: Sport, Musik, PC und Freunde oder Lesen werden sehr häufig genannt. Ehrenamtlich engagiert sind vier Personen – im Umwelt- und Sozialbereich. Zwei Personen sind Mitglieder in Sportvereinen und drei Personen in der evangelischen Kirche. Niemand ist in einer Gewerkschaft oder Partei. Sechs Teilnehmende informiert sich über das aktuelle politische Tagesgeschehen, vorrangig über Fernsehen und digitale Medien. Hier spielen die Tagesschau und Nachrichtensender eine große Rolle. Interessant ist, dass drei der vier Frauen angeben, sich nicht über das aktuelle Tagesgeschehen zu informieren. Zwei davon geben ausdrücklich an, dass dies in ihrem Unmut über unsoziale politische Entwicklungen und zu geringer politischer Mitbestimmungsmöglichkeit begründet liegt. Umgang in der Gruppe und deren Dynamik Das Gespräch ist sachlich orientiert und häufiger von Abstraktionen und Verallgemeinerungen geprägt. Gerade zu Beginn sind fast alle Teilnehmenden beteiligt. Zum Ende des Gesprächs ziehen sich einige Teilnehmenden aus dem Gespräch zurück. Zwei Teilnehmende nehmen wenig am Gespräch teil. Es wird freundlich miteinander umgegangen. Dabei werden konträre Positionen kaum explizit eingenommen, sich jedoch bestätigend aufeinander bezogen – insbesondere bei der Thematisierung von Krankheit. Themen Lernen im Erwachsenenalter Ein großes Thema in der Gruppendiskussion ist die Frage des Lernens im Erwachsenenalter. Dabei werden auch Fragen der körperlichen Voraussetzungen angesprochen. Und dann auch die biochemische, weil nämlich sämtliche Stoffwechselvorgänge im Alter verlangsamt sind und mit zunehmendem Alter immer langsamer werden und darum fällt es älteren Leuten tendenziell, nicht unbedingt, aber tendenziell schwerer zu lernen. (FLW2a, 424)

Thematisiert werden die gesellschaftlichen und auch die eigenen Vorstellungen von Lernen im biografischen Abschnitt ‚Erwachsenenalter‘. Im Kern geht es

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auch hierbei darum, dass das Lernen nicht (mehr) so leicht fällt wie in den Erinnerungen aus der Schulzeit. Lernen im Erwachsenenalter wird als ‚anderen Voraussetzungen unterworfen‘ angesehen: Sowohl gibt es andere Anforderungen (eigene Kinder, Kosten etc.), als auch wirkmächtige Vorstellungen einer Begrenztheit des (intentionellen Vollzeit-)Lernens auf die Zeit der Kindheit und der Jugend. Ich finde so diese Lern, ähm, Zeiten, das ist ja auch einfach gesellschaftlich vorgegeben. Das ist, das ist ja, ähm durch die Gesellschaft bestimmt, also die Gesellschaft sagt: „Jetzt gehst du bitte zur Schule. Jetzt machst du irgendwie ’ne Berufsausbildung oder geht’s irgendwie studieren.“ Es sind ja Exoten, wenn irgendeiner jetzt mit 50 noch mal zur Uni geht. (FLW2a, 445)

Trotz aller Debatten über lebenslanges Lernen, sind die Einstellungen noch in der traditionellen Phasenstruktur des Lebenslaufs verhaftet: Lernen-Beruf-Rente. Und dann, dann ist das eigentlich auch abgeschlossen, das, das. Das ist irgendwie gesellschaftlich so verankert, das ist denn vorbei. Dann machst du Beruf und dann arbeitest du und der nächste Schritt ist dann die Rente. So, da ist irgendwie Lernen gar nicht mehr so, in diesen Standardabläufen, gar nicht mehr vorgesehen. (FLW2a, 451)

Zudem geht es auch darum, dass das (formale) Lernen schon länger zurückliegt, man nicht mehr ‚im Training‘ ist. Lernen in der Schulzeit hat als explizites, institutionalisiertes Lernen damit nicht nur Bedeutung für die Vorstellung und Verortung der Lernzeiten in der Biografie, sondern auch auf der Handlungsebene, den (alltäglichen) Vollzug von auf Wissen bezogenen Lernschleifen. Abgesehen davon sind Schüler ja in Anführungszeichen ‚im Training‘, also wenn jemand 10 Jahre oder 13 Jahre Schule hatte. Dann hat er 13 Jahre immer gelernt und kann das anders aufnehmen. Als jemand, der in der Schule war und dann vielleicht gearbeitet hat und dann vielleicht aus gesundheitlichen Gründen zwei, drei Jahre nichts gemacht hat und kommt dann zum Beispiel hierher und muss dann wieder von vorne erst mal lernen zu lernen. (FLW2a, 426)

Ab einem ‚gewissen Alter‘ scheint die Lernzeit vorbei: Weil, du gehst einfach davon aus, ab einem gewissen Alter ist die Schulzeit vorbei, bist in der Lehre, hast deine Lehre abgeschlossen und hast im Prinzip den Soll, der dir von zu Hause beigebracht worden ist, erfüllt. Bist in Arbeit, du gehst jeden Tag deinen Arbeitsweg, du arbeitest fast wie ein Roboter würde ich jetzt sagen, du hast fast meistens die Ar-

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beitsabläufe im Kopf drinne und dementsprechend kommst du halt aus diesen normalen Sachen, wie Schule, einfach wieder raus. (FLW2a, 439)

Angst/Mut Um sich im Erwachsenenalter nochmals auf Lernen einzulassen, spielen auch Angst und Mut eine Rolle: zu versagen, nicht mehr lernen zu können, sich zu blamieren. Die Schwierigkeiten beim Lernen haben auch mit Angst aufgrund der wahrgenommen ‚Ungewöhnlichkeit‘ von Lernen in diesem Lebensabschnitt zu tun. Angst vor institutionellen Lernsituationen geht auch oft auf negative Schulerfahrungen zurück. Aber wo kommen die her? Worauf beziehen sich die Ängste? Das kennen Sie ja wahrscheinlich selber auch. Hat das was mit der Schule zu tun oder hat das was zu tun mit der Biografie: Wie geht es weiter? Weil da so große Fragen auftauchen? Oder das so ist wie: Das erinnert mich an die Schule, wie die Lehrerin mich angeschrien hat? (FLW2a, 466)

Bemerkenswert ist hier die Aussage, dass ‚so große Fragen‘ auftauchen könnten und keine Antwort zu finden sei. Die Gefahr, in irgendetwas irgendwie hineinzugeraten, wird unbestimmt, löst sich vom Gegenstand ab und wird zur Angst vor der Angst: Also die haben Angst, jetzt irgendwie das nicht zu packen, weil sie nicht wissen, wie sie jetzt rangehen sollen an diese neue Herausforderung jetzt noch mal lernen zu müssen. Weil, das ist ja jetzt schon alles so lange her. Und so, wie mache ich das. Also: Einfach auch ganz viele Ängste, die da jetzt so ’n bisschen mit einhergehen. Also, nochmal sich dem Lernen zu stellen. (FLW2a, 458)

Möglich ist, dass der Hinweis auf ‚Älterwerden‘ ersatzweise herangezogen wird, um allgemeine Unsicherheit zu bannen: Hier spiegeln sich ja Probleme wieder, mit Älterwerden und dann noch mal Lernen. Es gibt da offenbar tatsächlich reale Ängste und Probleme später noch mal ans Lernen ranzugehen. Das ist offenbar wirklich eher so der Jugend vorbehalten. Das klingt mir da irgendwie so mit. (FLW2a, 413). Das wollte ich auch sagen, also zu diesem Entmutigen, das ist ja quasi auch wieder, wie bei meiner Schule eben halt so gewesen, dass ich, sagen wir mal, immer so ein bisschen Angst immer davor gehabt habe, immer was falsch zu machen. Klar, die Lehrer haben gesagt, so ja, ‚Fehler sind da, um die wieder gerade zu biegen‘, oder behauptet. Aber das war

68 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE dann so, wenn ich denen irgendwas erzählt habe, dann war das denn wieder herum, dass die anderen Schüler meistens immer ausgelacht haben, irgendwie, weil man dann in dem Sinne wieder was falsch gesagt hat und dann kommt das, dann legt sich das mal wieder negativ auf diesen Lernen. Dann denkt man irgendwie auch so, wieso, wenn die mich schon auslachen, dann sach ich lieber nachher gar nichts. (FLW2a, 609)

Es entsteht so die Gefahr, sich zurückzuziehen und zu verstummen. Im Gegenzug zur Angst öffnet Mut die Tür zum Lernen. Es geht darum Neues zuzulassen und neue Aufgaben anzunehmen. Also, ich glaube, bis da ist jetzt auch deutlich geworden, dass es halt auch ganz wichtig ist: Der Mut zum Lernen. Der Gegenpart ist ja immer Angst. Also, Angst spielt ja auch immer eine Rolle. Also, Angst verhindert Lernen und Mut begünstigt das halt auch. Also, Mut öffnet mir da halt auch die Tür zum Lernen. Also, ich muss halt auch mutig sein, bereit sein auch neues Wissen zuzulassen und mich auch dieser neuen Aufgabe zu stellen. Es ist ja auch ganz viel damit verbunden, irgendwie Scheitern, also Angst zu scheitern, das nicht zu verstehen, das nicht irgendwie reinzukriegen, zu versagen oder irgendwie so etwas. Und ich muss halt eben den Mut haben, es trotzdem zu probieren. Also, es ranzulassen an mich. Mal gucken was passiert. Mich der Aufgabe stellen. Solche Geschichten. (FLW2a, 599)

Lehrpersonen Ein weiteres Thema in dieser Lernwerkstatt nimmt die Rolle und Bedeutung der Lehrenden für Lernen ein. Hierbei werden auch aktuelle Erfahrungen in der laufenden Weiterbildungsveranstaltung thematisiert. Mit angemessenem Fachwissen kommt der Lehrperson die Rolle der Lernvermittlung zu: Der Vermittlung zwischen Lerngegenstand und den (Eigenheiten der) Lernenden. Betont wird die Unterschiedlichkeit der Lehrenden: Wir haben nämlich (…) Personen, die (…) geben nur die Lehraufträge raus und andere Personen hat man, die können einem das so wunderbar vermitteln, da könnte ich stundenlang sitzen und könnte ich manchmal bis um acht noch bald hier sitzen. (FLW2a, 502) Es gibt halt so DIE Lehrer, die dann das vermitteln können, also wo man auch wirklich sagt irgendwie, die legen sich ins Zeug, irgendwie, damit die Schüler das auch irgendwie verstehen, also die dann auch wirklich Lehrer sach ich mal so sind und es gibt aber auch wieder solche, die sind das nur so von Beruf und dann eben halt dieses Menschliche nicht haben. Also, dass sie einfach nur sagen: ‚So‘ und die dann nach dem Zeitplan so sagen hier ‚Dann und dann machen wir halt dieses Thema‘ und dann wird denn nach zwei Wochen wieder das andere Thema angesprochen und den interessiert das quasi gar nicht, das

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irgendwie einige Schüler wiederum ein bisschen langsamer sind beim Lernen. (FLW2a, 530)

Es werden zwei Merkmale hervorgehoben: Fachkompetenz und Lehrengagement. Da würde ich lieber junge, dynamischere holen oder andere, die wieder so ein bisschen mit Liebe dabei sind. (…) Die auch nicht nur das fachliche Wissen, sondern auch das menschliche Wissen haben. Fifty-fifty, dann wäre es perfekt. (FLW2a, 534f.)

Verstehen und Lernziele Die Teilnehmenden formulieren an unterschiedlichen Stellen, dass Lernen leichter falle und eine größere individuelle Bedeutung habe, wenn das Verständnis des Gegenstands oder auch ein klares Ziel im Fokus stehe. Lernen ohne zu verstehen ‒ d.h. ein Lernen, das nur äußeren Anforderungen genügt ‒ ist zwar funktional, aber sinnlos. Also, für mich ist jetzt zum Beispiel Lernen wirklich auch an Verstehen g(…) ich habe russische Gedichte vorgetragen und habe nicht verstanden, worum es geht. Ich habe aber alle Worte richtig. (…) Also was für mich völlig unsinnig ist. Also das ist, ich hab’s gelernt, ich hab’s wieder gebracht, ich habe meine Eins eingesackt, ich, so. Aber was ist die Aussage? Also für mich gab es keine, für mich gab’s keine, das ist für mich Unsinn. Das ist für mich Quatsch. Und für mich ist Lernen wirklich unbedingt an Verständnis geknüpft. Wenn ich das nicht verstehe, dann ist es irgendwie der falsche Weg. (FLW2a, 542)

Interesse und Bedeutung des Lerngegenstandes kann sich dabei ganz unterschiedlich begründen. Mit einem Anwendungsbezug stehen dabei die thematischen Aspekte im Vordergrund. Genau, das ist für mich, ich will das auch anwenden können. Ich mache das nicht um der Sache willen. Sonst macht das keinen Sinn, warum soll ich mich damit beschäftigen, wenn ich das nicht nutzen kann. Wenn ich das nicht weiterverarbeiten kann. (FLW2a, 550)

Mit Blick auf extern bewertetes Lernen tritt Funktionalität in den Vordergrund. Für Prüfungen muss Wichtiges von Unwichtigem unterschieden werden. Hierbei helfen nicht nur gegenstandsexterne Hinweise (‚kommt in der Prüfung nicht vor‘), sondern auch ein Grundwissen aus dem Themenfeld. Dieses wiederum ist an ein Verständnis des Gegenstands geknüpft.

70 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE FLW2_4: Ja, da geht es darum, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen (…) FLW2_5: Wenn man das Grundwissen hat. Vieles folgt ja von dem anderen immer wieder ab. Wenn du das Wissen, das Grundpotential verstanden hast, dann ist das ja, das andere hin und her zu picken, einfach. FLW2_8: Deswegen ist es wichtig, was (er) gesagt hat: Lernen muss man verstehen. Wenn man es nicht verstanden hat, dann kann man nicht richtig lernen. Man kann dann nur auswendig lernen. Das Verstehen ist das A und O. FLW2_5: Die Frage steht anders oder eine Formel oder andersherum, dann kapierst du es schon gar nicht.“ (FLW2a, 568)

4.5.4 Fallprofil der forschenden Lernwerkstatt 3: Umschulung Auswertung des Fragebogens An der zweiten forschenden Lernwerkstatt (FLW3) mit Teilnehmenden in Programmen der beruflichen Weiterbildung nach SGB IX nehmen acht Personen teil, davon je vier Frauen und Männer. Sie machen in der Einrichtung Umschulungen sowohl zu Groß- und Außenhandels- und Industriekauffrauen und -männern als auch zur kaufmännischen Assistenz und zur Fachkraft für Lagerlogistik. Die meisten von ihnen sind zwischen 29 und 33 Jahre alt, zwei der Teilnehmenden (ein Mann und eine Frau) sind Mitte vierzig. Alle haben die deutsche Staatsangehörigkeit, sind vielfach multilingual (englisch, kurdisch, russisch) aufgewachsen und haben zum Teil einen Migrationshintergrund. Bezüglich der eigenen Vorbildung verfügen die beiden älteren Teilnehmenden über die allgemeine Hochschulreife. Während die eine Teilnehmerin mit abgeschlossenem akademischem Studium zur Kraftverkehrsingenieurin in Kasachstan und Berufserfahrung als Universitätsdozentin vorweist, in Deutschland bisher als Verkäuferin gearbeitet hat, hat der ältere Teilnehmer keinen beruflichen Abschluss und zuletzt keine Erwerbsarbeit ausgeübt. Sein Studium der Chemie scheint er bis zur Diplomarbeit fortgeführt zu haben (das wird im Gespräch deutlich). Alle anderen Teilnehmenden haben im Bereich formaler Bildung Realschulabschluss/Mittlere Reife bzw. Fachoberschul-/Fachhochschulreife erreicht. Ihre Arbeitserfahrung variiert von Nebenjobs wie Babysitten, Zeitung austragen, Verkauf, Service, Gastronomie bis hin zu abgeschlossenen Ausbildungen als Industriemechanikerin, Krankenpflegehelferin und Kraftverkehrsingenieurin. Das Nettoeinkommen der Teilnehmenden liegt zwischen 300-500€ und 1.0001.300€. Über die Hälfte der Teilnehmenden gibt an, in einer Gewerkschaft Mitglied zu sein (NGG, IG BCE, IG Metall, verdi), ist dort überwiegend aber nicht aktiv.

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Vereinsmitgliedschaften bestehen im sportlichen und kulturellen Bereich, aber auch in einem Kleingartenverein. Ehrenamtliches Engagement geben ebenfalls die Hälfte der Teilnehmenden an: Sprachnachhilfe für Menschen aus Kasachstan, Teilnahmevertretung im Berufsförderungswerk, Streetwork Brotherhood, Verantwortlichkeit in einer bzw. für eine Selbsthilfegruppe. Die Generation der Eltern, sowohl Mutter als auch Vater, hat überwiegend Lehre gemacht und anschließend – z.T. bis heute – in dem Beruf (Erzieherin, Elektriker, Chemiearbeiter, Heizungsinstallateur, Polier, Polizeibeamter) etc. gearbeitet. Auffällig ist, dass die meisten der im Fragebogen abgefragten Informationen im Gespräch explizit kaum eine Rolle spielen. Zwar wird der Migrations- bzw. Einwanderungshintergrund bei der Thematisierung von Sprachbarrieren und Nichtanerkennung von beruflichen Qualifikationen benannt. Ein Rückgriff auf (Bildungs-)Biografien der Elterngeneration, aber auch eine Thematisierung von politischem und ehrenamtlichem Engagement findet nicht statt. Umgang in der Gruppe und deren Dynamik Die Dynamik in der Gruppe ist im positiven Sinne auffällig: Die Teilnehmenden stehen in einem gelösten, offenen Umgang miteinander und kennen zum Teil persönliche Hintergründe, vor allem aber auch unterschiedliche Arbeitsweisen. In die offene Kommunikation werden auch die Interviewerinnen mit einbezogen und ihr Angebot der Vertraulichkeit (ausschließliche Verwertung der Gespräche für Forschungszwecke und keine Weitergabe von Informationen an die Einrichtung) wird angenommen. Die Gruppe ist sich meist einig: Die Teilnehmenden widersprechen sich nicht, sondern unterstützen einander häufig in Aussagen und können vielfach auf ähnliche Erfahrungen Bezug nehmen. Die Teilnehmenden können auf eine Art ‚Wir‘-Gefühl zurückgreifen, welches sich auch über gemeinsam Erreichtes/Durchgesetztes herstellt: Das ist genau so, dass man sagt: „Nein, das geht nicht.“ Und dann muss ich sagen, dass wir uns hier durchgesetzt haben, dass wir zu unseren Dozenten gesagt haben: „Nein, das geht nicht.“ (FLW3a, 575)

Das Nähe- und Distanz-Verhältnis in der Gruppe lässt zu, dass die Teilnehmenden miteinander über die eigenen Biografien und die verfassten Lerngeschichten sprechen und einfühlsam mit den Lebensläufen der anderen umgehen. Dies ermöglicht auch, sich in die anderen hineinzuversetzen und z.B. die Geschichten und deren Konsequenzen aus Sicht der anderen zu sehen.

72 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Aber, überleg dir mal, wenn dieser Schuldirektor den Brief zu euch nicht nach Hause geschickt hätte, würdest du wahrscheinlich bis heute, immer noch nicht verstehen, warum. (FLW3a, 160)

Es wird anderen sogar Überlegenheit zugestanden: Und ich weiß genau, dass, dass (sie) viel klüger ist als ich. Sagen wir mal so, so ja, doch, dass ist das, wo ich wirklich sagen muss. (FLW3a, 647)

Nicht nur die Interviewerinnen regen das Gespräch mit Fragen an, sondern die Teilnehmenden bringen eigene Nachfragen ein, verbalisieren deutlich ihr Interesse an der Biografie und den Erfahrungen der anderen: Ich fanden bei dir, wo die Karte mit dem Schuh ausgesucht hast, also wo du sagtest, äh, etwas: ‚Man kann nicht perfekt sein‘ oder so was. Äh, da wollte ich dich mal fragen: Was meinst du? Perfekt im Lernen oder im Leben oder irgendwie was? (FLW3a, 449)

Auch mit Emotionen, die das Schreiben und Vorlesen der Geschichten z.B. in Form von Tränen auslösen, kann die Gruppe kompetent umgehen. Themen Viel Raum nehmen in der Forschungswerkstatt Themen wie der (auch gesellschaftlich verortete/gesteuerte) Anspruch an Perfektion, die Bedeutung von Selbstsicherheit und -bewusstsein und die Einordnung von Leistung und Leistungserwartungen (sowohl eigene Ansprüche als auch Erwartungen von außen) ein. Perfektionsanspruch Die Teilnehmenden sprechen einen gesellschaftlichen Anspruch einer Biografie an, in der das Ziel gilt, ‚perfekt‘ zu sein und im Sinne eines von ihnen wahrgenommenen gesellschaftlichen Konsenses, sich darauf einzustellen und dem zu entsprechen. Dies wird als Druck wahrgenommen, dem es sich – auch aus Selbstschutz vor Versagen – entgegenzusetzen gilt, zumindest aber darauf zu reagieren, um nicht daran zu zerbrechen. Aus ihren eigenen sehr differenten erwerbsbezogenen und persönlichen Situationen und resultierenden Lernszenarien heraus wünschen sie sich einen toleranten Umgang z.B. mit Fehlern und betonen in Abgrenzung von dem Bild ‚perfekt sein zu müssen‘, dass gerade ‚nicht perfekt zu sein‘ wertvoll ist und Fehler auch als Lernanstöße anzusehen sind.

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Also, ich denke, das wird von der Gesellschaft her (…) auferlegt, wie wir zu sein haben oder sein sollen um, keine Ahnung, eben den Job haben zu können oder äh, das und das Klischee zu erfüllen. Also, ich denke, (…) das wird von der Gesellschaft vorgegeben. (-) Und daran messen sich viele. Und merken dann irgendwann hinterher (-), dass sie das nicht erfüllen können. (FLW3a, 503)

Dabei geht es nicht ausschließlich um einen Perfektions- oder Leistungsanspruch in Bezug auf Lernen und/oder Erwerbsarbeit, sondern auch im Bereich des individuellen Selbstbildes: Erfahrungen mit dem eigenen Aussehen und Auftreten, welche Einfluss auf soziale Ein- und Ausgrenzungserfahrungen haben. Wichtig ist der Umgang mit sich selber, die Frage danach ‚sich selber annehmen können‘ und zu sich stehen, sowohl persönlich und individuell als auch mit Bezug auf gesellschaftliche Erwartungen. Dem Perfektionsanspruch wird Widerstand entgegengesetzt, wenn der Druck und ein darunter Leiden zu groß sind und – vielleicht auch im Sinne eines Versuchs zur Rückgewinnung von Kontrolle über das eigene Leben – eine Abwehrhaltung eintritt. Als zweite Form der Bearbeitung wird die eigene Reflexion und Rückbesinnung auf ‚das was man kann‘ aufgeführt. Es gilt, eine angemessene Selbsteinschätzung in Bezug auf die eigenen Kompetenzen zu entwickeln und diese zu benennen – vor sich selbst, aber auch vor anderen. FLW3_1: Ja, ich hatte auch mit diesem Aspekt perfekt zu sein, doll zu kämpfen. Also, da muss ich wirklich schon sagen, nach einem Jahr hier in der Schule Schule (-), dass ich mal festgestellt habe, das wird wohl daraus nichts. ((lacht sehr)) Das man einfach (/) welche Sachen werde ich nie begreifen oder nie gut KÖNNEN, aber die anderen wiederum sehr gut und dann muss ich dabei wirklich sagen: „Lass das, also das bringt dir nichts“, ich habe mich verrückt gemacht und fertig, mit Excel, und weiß ich was, also, ich KANN das nicht. FLW3_3: Und es gibt den perfekten Menschen nicht. FLW3_1: Ja, aber… FLW3_3: Es gibt keinen Menschen, der alles kann. FLW3_1: Weißt du, wir machen uns selber [Ergänzung durch FLW3_3: verrückt], irgendwie oder stehen so, wie (man FLW3_4 sagt so im Weg? Und dann (-) warum nicht so umgehen, wo müssen (wir) gerade sein, das ist doch nicht immer ((lacht)). (FLW3a, 457ff.)

Auch Erfahrungen rund um gesellschaftliche Ausgrenzung werden im Kontext von einem Perfektionsanspruch diskutiert, dem es eine selbstbewusstere und offenere Haltung entgegenzusetzen gilt. Erfahrungen mit Sprachbarrieren, die

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Scham, Fehler zu machen, in Prüfungen zu versagen, werden offen angesprochen und von mehreren Teilnehmenden geteilt. Aber, in dem Moment ist mir so bewusst geworden: ‚Ich muss mich nicht schämen! Ich muss das gar nicht! Ich muss einfach sagen: „Jungs, ich weiß nicht weiter“, also irgendwie so ein Hilferuf oder so was von sich geben und sagen: ‚Ja, was nun?‘ und so. Aber, in dem Moment merk ich: Ja, ich schäme mich. Das ist wirklich da, wo ich nochmal arbeiten muss. Aber, es wird immer weniger. (FLW3a, 752)

Bei der Frage nach der Erbringung von Leistung und dem gesellschaftlichen Anspruch differenziert die Gruppe: Es gibt eine zu kritisierende gesellschaftliche Einordnung, die eng mit einem Perfektionsanspruch verbunden ist und bei der es gilt, immer und allgegenwärtig Spitzenergebnisse zu produzieren. Demgegenüber steht der individuelle Wunsch, sich diesem Trend nicht unterwerfen zu wollen, sondern klar die eigenen Ziele im Blick zu behalten – die man sich durchaus setzen muss – und diesen gesellschaftlichen Wettbewerb nicht mitmachen zu wollen. Dies umzusetzen und sich gerade auch in der jetzigen Weiterbildungssituation nicht verunsichern zu lassen, wird als Herausforderung wahrgenommen. Das fällt halt allen schwer, in der heutigen Zeit, dass man immer hundert Prozent, manchmal über hundertzwanzig Prozent Leistung erbringen muss. (FLW3a, 540) Wenn man jetzt neunzig Prozent hat, ähm, ich rege mich dann darüber auf, über die zehn Prozent, die ich falsch gemacht hab. Anstatt mich über die neunzig Prozent, die ich richtig gemacht hab zu freuen. Ne. Und denn auch: „Das weißt du doch aber eigentlich besser“, wobei neunzig Prozent ja völlig ausreichend sind, also, ich meine, was will man mehr. (FLW3a, 936) Schwierig finde ich auch, dass man sich ständig an anderen Leuten misst. Also, dass man, äh, die eine ist besser als ich. (…) wo ich immer zu sage, warum, warum vergleiche ich mich mit anderen Leute? Ich bin ich. Und ich bin so eine Person und ich möchte so sein, aber es zieht, es zieht man sich so ins, ins - ob du möchtest oder nicht: Du bist drin. Weil, alle anderen Leute, die sagen: Ach, die ist die Schlechteste und die ist die Beste. Und, aber was heißt der Beste, der Schlechteste? Das ist doch. (FLW3a, 635)

Die benannten Themen mischen sich vielfach mit Äußerungen und Haltungen zu Lernsituationen und -biografien.

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Mut und Lernen Mut und Lernen stehen eng miteinander in Verbindung: Sich trauen, überhaupt Fragen bei Nichtverstehen zu stellen, aber auch, sich überhaupt zu Wort zu melden, weil die selbstempfundene Sprachbarriere zu hoch scheint. Sich gegen bereits angesprochene Leistungs- und Perfektionsansprüche zu behaupten, bedarf Mut. Hilfreiche Voraussetzung dafür – und für erfolgreiches Lernen – ist eine Akzeptanz in der Gruppe, die emotionale und wertschätzende Unterstützung von Familie und Freunden, aber auch von außen (Nachhilfe) – eben eine Atmosphäre, in der man zu Fehlern und Problemen stehen und Fragen offen ansprechen kann. Dies beinhaltet, dass mangelnde Unterstützung bzw. ein inadäquates Umfeld für das eigene Lernen als Hinderung wahrgenommen wurde. Diese Unterstützung wird auch mit Bezug auf die konkrete Weiterbildungssituation und die aktuelle Gruppe benannt und geschätzt. Also, das ist, ich muss mich wirklich dabei wohl fühlen und dann (/) und das ist egal, ob jetzt die Sprache oder Rechnungswesen oder so was. Ich muss einfach sagen: „Leute, stopp! Ich komme nicht weiter mit“, und so was, ja. (FLW3a, 383)

Die Bedeutung der Weiterbildung kommt in der Gruppe zur Sprache, wird insgesamt als bedeutsam und positiv und zumeist auf der Folie der eigenen Biografie bewertet. Zwar dient die Weiterbildung allen Teilnehmenden dazu, um die derzeitige Erwerbssituation zu verändern und insgesamt zu verbessern, allerdings sind die Ausgangssituationen unterschiedlich. Einige davon werden im Rahmen der Lernwerkstatt konkret thematisiert, andere sind nur über die Hinzunahme des Fragebogens zu erschließbar. Beispiele: Einer Teilnehmerin dient die Weiterbildung nach einem bereits abgeschlossenen Studium und Berufserfahrung im Ausland nun erneut dem beruflichen Aufstieg und der Ausweg aus der Verkäuferinnentätigkeit. Eine andere Teilnehmerin musste aus Krankheitsgründen ihren Beruf aufgeben, hier dient die Weiterbildung dazu, dem Leben eine neue Richtung zu geben, sowohl ganz persönlich als auch im Bereich der Erwerbssituation. Im Vergleich dazu hat ein Teilnehmer nach langer Studienzeit und Zwischentätigkeiten keine abgeschlossene Berufsausbildung, dort dient die Weiterbildung zur Existenzsicherung und persönlicher Stabilität. Die Bedeutung von (Erwerbs)Arbeit für die eigene Biografie aber auch als gesellschaftliche Komponente nimmt dagegen in der Lernwerkstatt wenig Raum ein. Ausschließlich bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Leistungsdenken und mit der Erfüllung/Anpassung an ein Perfektionsdenken geht es kurz um Erfahrungen und Haltungen:

76 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Also, ich denke, das wird von der Gesellschaft her, ähm, auferlegt, (-) wie wir zu sein haben oder sein sollen um, keine Ahnung, eben den Job haben zu können oder äh, das und das Klischee zu erfüllen. Also, ich denke, das ist meine Meinung, das wird von der Gesellschaft vorgegeben. (-) Und daran messen sich eben halt viele. Und merken dann eben irgendwann hinterher (-), dass sie das nicht erfüllen können. (FLW3a, 502)

Nicht nur im Kontext von Lernen, sondern auch im Berufsleben sieht man sich als Arbeitnehmer_in mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, auf die sich UnternehmenBeschäftiger einlassen sollten: Die anderen Sachen halt irgendwie (wer) glänzt oder (ver)glänzt, weil nobody is perfect. Das ich halt sag: „Gut, ich kann das.“ Das habe ich auch im Berufsleben halt erfahren, dass ich auch sehr organisatorisch bin, aber dafür andere Mankos hab. Dass da halt auch der Chef dann frei entscheiden konnte: „Okay, den Jungen kann ich da sehr gut einsetzen, obwohl er halt hier bisschen Probleme hat.“ (FLW3a, 544)

Lernen Angeregt durch die Lerngeschichten und die Ausgangsfragen der Lernwerkstatt nimmt das Thema Lernen insgesamt einen großen Gesprächsanteil in der Lernwerkstatt ein. Zum einen wird es anhand der bereits benannten Themen diskutiert und verortet. Zum andern gibt es individuelle Perspektiven und Reflexionen auf die eigene Lernbiografie und entsprechende Konsequenzen, die sich daraus ergeben und für das heutige erwachsene Lernen bedeutsam sind. Lernorte sind vor allem erstmal institutionell und vor allem die schulische Lernkarriere wird durchgehend mit Problemen behaftet gesehen. Die Problemursachen können unterschiedlich sein: fehlende oder problematische familiäre Strukturen, Vernachlässigung und Verantwortung für Geschwister haben das Lernen in der Schule erschwert bis unmöglich gemacht. Anfragen an Sinn und Zweck von Methoden und Lerninhalten wirkten sich negativ auf schulisches Lernen aus, neben Kritik an Lehrpersonen und subjektiven Problemen, deren Ursachen unbenannt bleiben. Insgesamt lässt sich eine stärkere Verantwortung für das eigene Lernen in der aktuellen Weiterbildungssituation erkennen. Vergangene Lernerfahrungen werden anerkannt und eingeordnet, aber der jetzige Lernprozess und dessen Dimensionen stehen im Vordergrund und werden von den Teilnehmenden analysiert. Dabei herrscht bezüglich der Lerninhalte Einstimmigkeit darüber, dass im Verhältnis zu schulischem Lernstoff in der Einrichtung die Inhalte optimaler auf den späteren Einsatz zugeschnitten und damit praxisnäher sind. Das Tempo der Wissensvermittlung im Verhältnis zur Hochschule wird als angemessen eingeschätzt und die Zeit, die zur individuellen Bearbeitung einzelner Themen zur Verfügung steht, passt. Die Teilnehmenden sehen sich als eine Gruppe an, die Änderungs-

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wünsche z.B. bezüglich des didaktischen Vorgehens der Lehrpersonen nicht nur anmeldet, sondern klar einfordert. Sie wissen um ihre Bedürfnisse, haben Ansprüche an die Lehrpersonen und erwarten, dass darauf eingegangen wird. Das ist genau so, dass man sagt: „Nein, das geht nicht.“ Und dann muss ich sagen, dass wir uns hier durchgesetzt haben, dass wir zu unseren Dozenten gesagt haben: „Nein, das geht nicht.“ (-) Führen Sie mit uns Seminare, erzählen Sie uns, was Sie möchten. Wir können mal, natürlich, Recherchen machen oder so was, aber alleine so: „Machen Sie das“, das geht gar nicht. Diskutieren kann man stundenlang, Wochen, Monate. Aber, was nehme ich aus dieser Diskussion? Es muss zusammengefasst werden, es muss irgendwie so auf einen Zettel so, ja Thomas, das, das hatten wir schon irgendwie mal bemerkt, dass es für, in unserem Alter, sagen wir so, es ist (ganz nicht so) die effektivste Methode was zu lernen. (FLW3a, 575)

Arbeit Arbeit in der Gruppe wird als positiv wahrgenommen und die vorhandenen Lerngruppen als produktiv und unterstützend für das eigene Lernen, auch wenn klar ist, dass es in anderen Gruppen in der Einrichtung andere Erfahrungen gibt. Also irgendwie (-) und so ist es dann auch wichtig beim Lernen. Dass, wenn man sagt: „Ja, du bist gut und super“ und die Leute dich dann dabei unterstützen: „Du schaffst das schon. Komm und (wir) helfen“, also, wie gesagt, in unserer Gruppe, kleinen Gruppe, wir sind zu fünft und wir helfen uns unheimlich viel und untereinander und fragen und jeder ist bereit zu erklären und (-) so, so ist sehr, sehr wichtig beim Lernen. (FLW3a, 726)

Daneben benennen die Teilnehmenden aber auch subjektive Lernwege beispielsweise alleine am Tisch mit ausgebreitetem Material sitzend, über Dokumentarfilme, mehrfaches Überfliegen oder intensives Lesen von Texten. Auch Probleme in der bisherigen Lernbiografie werden benannt, weshalb ein „Lernen zu lernen“ notwendig und richtig ist. Es wird unterschieden zwischen kindlichem Lernen und dem Lernen Erwachsener: erwachsenes Lernen erfordert Unterstützung, insbesondere, wenn institutionelle Lernsituationen (Schule, Universität etc.) bereits länger zurückliegen und sich auch die Mittel und Wege der Informationsbeschaffung verändert haben.

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4.5.5 Fallprofil der forschenden Lernwerkstatt 4: Universitäre Seniorenbildung Auswertung des Fragebogens An der forschenden Lernwerkstatt für ältere Erwachsene in Hochschulkontexten (FLW4) nehmen drei Frauen und zwei Männer zwischen 60 und 74 Jahren (Jahrgänge 1939 bis 1953) ohne Migrationshintergrund teil. Man kann davon ausgehen, dass alle Teilnehmenden in der Lebensphase nach dem Beruf sind, drei von ihnen geben im Rahmen des Fragebogens an, derzeit freiberuflich in ihren Berufsfeldern tätig und geringfügig beschäftigt zu sein. Drei Angaben zur finanziellen Situation beziehen sich auf den Erhalt der Rente. Im Bereich des allgemeinbildenden Schulabschlusses verteilen sich die Angaben zwischen Haupt-/Volksschule (1x), Realschule/Mittlere Reife (2x) und Abitur/Allgemeine Hochschulreife (2x), die im Alter zwischen 14 und 19 Jahren erworben wurden. Demgegenüber stehen mehrfache Nennungen von Fachhochschulabschlüssen (4x) und eines Universitätsabschlusses. Zum Teil sind also später weitere Abschlüsse hinzugekommen. Zwei Teilnehmende haben u.a. eine Lehre oder eine Umschulung mit Abschlussprüfung absolviert. Eine ähnliche Vielfalt der Bildungsabschlüsse weisen die – zumeist jüngeren – Geschwister der Teilnehmenden auf (keine Einzelkinder darunter): Alle haben einen Schulabschluss und eine abgeschlossene Lehre oder ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Drei der Teilnehmenden haben Kinder, von denen mit einer Ausnahme alle Abitur gemacht und die meisten eine Lehre mit zum Teil entsprechenden Weiterentwicklungen (z.B.: Sozialversicherungsfachangestellte mit Studium Sozialökonomie, Banklehre und Diplomkaufmann) durchlaufen haben. Bei der formalen Bildungssituation in der Elterngeneration überwiegt der Volksschul- bzw. Hauptschulabschluss. Nur ein Vater hat die Allgemeine Hochschulreife erworben, das Abschlussniveau ist also generationenübergreifend gestiegen. Geschlechtsspezifisch auffällig ist, dass drei von fünf Müttern keinen berufsbildenden Abschluss vorweisen können. Weiter geben vier der fünf Teilnehmende an, dass ihre Mutter als ‚Hausfrau und/oder Mutter‘ tätig war, zum Teil neben einer Tätigkeit im elterlichen Betrieb (mit einer Ausbildung in Landwirtschaft und Ökonomie). Als weitere Berufe werden Erzieherin und Tätigkeit in der Altenpflege genannt, in letzterem wurde ungelernt gearbeitet. Nur eine der drei Teilnehmenden gibt an, als Hausfrau und Mutter tätig (gewesen) zu sein. Bei den Vätern dominieren Lehrberufe, ein Vater hat VWL studiert. Zum Teil wurden jenseits der Lehre auch andere Berufe ausgeübt. Berufe der Väter waren z.B. technischer Filmoperateur, Facharbeiter Chemie, Schlosser, Richtmeister, Berufssoldat, Lagerleiter.

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Die vielen verschiedenen Berufe, die die Teilnehmenden erlernt und ausgeübt haben, lassen die Annahme zu, dass innerhalb der beruflichen Entwicklung neben den FH-Abschlüssen noch weitere Ausbildungen als erste berufsqualifizierende Abschlüsse gelegen haben. Drei der Teilnehmenden benennen bei erlernten und zuletzt ausgeübten Berufen Entwicklungen und Veränderungen: Starkstromelektriker/Elektroingenieur, Maschinenbauerin/Dipl. Ing. Maschinenbau/techn. Einkaufsleitung, Krankenschwester/Lehrkraft für Pflege/Öffentlichkeitsarbeit. Bei einem Teilnehmer besteht Kontinuität im erlernten und ausgeübten Beruf des technischen Zeichners. Vier der Teilnehmenden waren als qualifizierte oder leitende Angestellte tätig, eine Teilnehmerin arbeitet im Rahmen eines Minijobs in der schulischen Nachmittagsbetreuung. Weiterbildung wurde in zwei von fünf Herkunftsfamilien thematisiert (z.B. als Mittel zu mehr Geld/Aufstieg), vier von fünf Teilnehmenden benennen vielfältige Fortbildungen sowohl im beruflichen Bereich als auch darüber hinaus. Zu berücksichtigen ist hier, dass sich die Angaben nur auf die letzten fünf Jahre beziehen. Darunter sind technische firmeninterne Fortbildungen, aber auch eine Ausbildung zum Business Coach, Weiterbildung im Bereich Qualitätsmanagement. Darüber hinaus werden v.a. kulturelle Weiterbildungen genannt wie politische Philosophie, Italienisch, Malen und als Einrichtungen sowohl die VHS als auch das Seniorenstudium an der Hochschule. Die Informationsbeschaffung ist relativ homogen: Alle Teilnehmenden informieren sich regelmäßig über alle Medien (sowohl digital, audiovisuell als auch print) in ähnlichen Angeboten. Dabei werden neben Tagesschau/ Tagesthemen und Nachrichten mehrfach ‚Die Zeit‘ genannt, Dokumentationen, aber auch vereinzelt historische Sendungen, klassische Musik, Diskussionssendungen, Internet und Computerzeitschriften. Die ‚Freizeitbeschäftigungen‘ sind vielfältig und stark kulturell geprägt (Literatur, Kunst, Theater werden häufig genannt). Dies entspricht den mehrfach genannten Interessengebieten aus dem Angebot der Hochschulen für ältere Erwachsene, die vor allem humanwissenschaftlichen Feldern, v.a. geisteswissenschaftlichen, entsprechen: Philosophie, Theologie, Literatur, Psychologie, Soziologie etc. Im Bereich der Mitgliedschaften gibt es kein einheitliches Bild. Die Vielfalt legt den Schluss nahe, dass Mitgliedschaften in Vereinen, Verbänden, Genossenschaften, Gewerkschaften etc. für alle Teilnehmenden zumindest ‚denkbar‘ sind. Zum Teil haben sich in der Biografie auch Veränderungen ergeben. Zwei von drei Teilnehmenden, die evangelisch als Konfession angeben, sind mittlerweile aus der Kirche ausgetreten, ein Teilnehmer war als Lehrling Mitglied einer Gewerkschaft, einer ist es noch (DGB), es gibt eine Mitgliedschaft in der SPD. Es gibt und gab Mitgliedschaften in Berufsverbänden (z.B. VDI). Drei der fünf

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Teilnehmenden engagieren oder engagierten sich z.T. auch kontinuierlich ehrenamtlich: z.B. als Betreuerin einer alten Dame, im Schauspielbereich, aber auch bei Greenpeace, der Obdachlosenhilfe, Selbsthilfe und Drogenarbeit. Eine Teilnehmerin ist im sozialen Bereich (Nachmittagsbetreuung Schule) geringfügig beschäftigt. Daneben gibt es Nennungen von Mitgliedschaften im sportlichen Bereich. Die derzeitige finanzielle Situation der Teilnehmenden ist unterschiedlich und in der Ausgestaltung auch abhängig von der Haushaltssituation (allein lebend oder mit Partner_in). Somit liegen Angaben des zur Verfügung stehenden Monatseinkommens im Haushalt zwischen 700-1.000 und 3.500-3.900 Euro. Drei der Teilnehmenden geben an, Rente zu erhalten, diese wird bei zweien durch Honorare aus der freiberuflichen Tätigkeit ergänzt. Leider lassen sich dadurch keine Verbindungen zwischen der Höhe der Rente und dem zuvor ausgeübten Beruf herstellen. Umgang in der Gruppe und deren Dynamik Die fünf Teilnehmenden sind dem Thema der Lernwerkstatt und einander gegenüber sehr aufgeschlossen und interessiert. Dies prägt von Beginn an die Atmosphäre und die gute Gruppendynamik: Obwohl sie einander nicht zu kennen scheinen, berichten sie bereits in der Vorstellungsrunde offen und relativ ausführlich aus ihrer Biografie. Alle haben ein sehr hohes und persönlich bedeutsames Interesse am Seniorenstudium und den Fächern, die sie studieren. Dies (und sicher auch die Tatsache, dass die Lernwerkstatt räumlich in der Hochschule stattfindet) wirkt sich förderlich auf die Gemeinschaft aus. Das Interesse aneinander, aber auch die Reflexionskompetenz der Teilnehmenden zeigt sich in der Diskussionskultur, die mit zunehmender Zeit in der Lernwerkstatt auch an Dynamik zunimmt: Vielfach entsteht ein reger gedanklicher und offener Austausch über die einzelnen Geschichten, um die Titel wird gerungen und diskutiert, später werden Gesprächsbeiträge weiterentwickelt und als Anstoß fürs Weiterdenken genutzt. Insgesamt geht es in der Lernwerkstatt durchaus um divergente Eindrücke oder Meinungen, die geschildert werden und nicht um Konsensfindungen oder eine unterschwellige Suche nach ähnlichen Erfahrungen oder Haltungen, auch wenn es diese durchaus gibt: Die Teilnehmenden verändern Blickwinkel, versetzen sich in andere Personen hinein, behalten aber etwas sehr Individuelles/eine individuelle Perspektive bei, die letztlich respektiert wird. Die Motivation, sich auf die Geschichten einzulassen und diese im Anschluss auch biografisch an den Schreibenden auszulegen, zu interpretieren und sogar zu bewerten, ist groß. Demgegenüber steht aber auch meist die jeweilige Bereitschaft, die eigene Lerngeschichte biografisch weiter einzuordnen.

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FLW4_1: Es war eine SO wunderschöne Geschichte. Sensationell. Und ich hätte (-) das das Universum genannt. Als Überschrift, das Universum. Das ist ja am Ende, diese Unendlichkeit und (1s) dann die Bedeutung (1s) was bin ich. FLW4_3: Dieses vor allem mit 3 Jahren zu empfangen. Das war für mich schon. FLW4_1: Das find ich schon erstaunlich, dass dieses mit 3 Jahren ( ) Erinnerungsvermögen, ja, äh, wann setzt das ein? Oder wann setzt das bewusste, äh, Leben ein? Schon erstaunlich. Muss man einfach sagen. FLW4_3: Das hat mal ein Soldat erzählt, der im Urlaub war. (FLW4a, 167) FLW4_4: Also am prägnantesten und als (--) Schlusswort eben: „Ich muss noch lernen das Leben zu verstehen.“ FLW4_5: Wahnsinn. ((lacht)) FLW4_4: Das ist auch wirklich so. FLW4_3: Das ist ein hoher Anspruch. FLW4_4: Die Frage ist, haben Sie noch Hoffnung, dass Sie das noch lernen? (--) Ich werd es nicht schaffen. (--) Aber, (-) das ist vielleicht (-) Sie wissen schon (-) ne echte Lebensaufgabe. ((lacht)) FLW4_3: Wir wissen alle was Leben ist, aber (-) verstehen können wir es (auch) ((lacht)) nicht. (FLW4a, 219)

Das Gespräch wurde angestoßen durch eine Lerngeschichte, die die gesamte Biografie einer Teilnehmerin umspannt. Ein Mädchenleben Es war einmal ein kleines Mädchen, die in der großen Mühle ihres Großvaters aufgewachsen war und sich immer sehr auf die Schule freute. Auch wenn manchmal die großen Jungs auf dem Nachhauseweg es mit ihrer Freundin auflauerten und verhauten. Dann zogen die Eltern mit ihren 3 Geschwistern in ein anderes Land. So musste sie an einer anderen Schule und mit neuen Kindern lernen. Das war aber nicht so schlimm, denn das Lernen fiel ihr leicht und weil sie vieles besser konnte als andere, fand sie schnell neue Freundinnen. Vielleicht war sie auch hilfsbereit und nett. Manchmal waren die Lehrer nicht so besonders, aber das machte ihr nicht so viel aus. Wenn sie es mal langweilig fand, hat sie immer gern Bücher gelesen, die zu Hause im Regal standen, oft auch Romane, die für die Großen gedacht waren. Später dann, als aus dem kleinen Mädchen eine junge Frau wurde, wollte sie unbedingt etwas Besonderes machen. Sie hat einen Beruf gelernt und dann beschlossen, ein technisches Studium zu absolvieren. Sie wollte ihr eigenes Geld verdienen und unabhängig sein. Das hat sie auch erreicht, und auch wenn es oft anstrengend war, hat sie ihr Ziel nie aus den Augen verloren – und war auch meistens glücklich dabei. Als sie dann Großmutter war und ihrer Enkelin sagte, dass sie noch vieles lernen muss, sagte diese: „Omi, du weißt doch schon alles“. Da erwiderte sie: „Ja, aber ich muss noch lernen, das Leben zu verstehen. (FLW4_LG1)

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Erzählt wird ein gelungenes Leben bei allen Irritationen. Betont wird der Stellenwert eines Ziels (unabhängig sein), welches das Lernen orientiert. Das Thema in der Lernwerkstatt, reflektierend auf die eigenen Erfahrungen und Biografie zu blicken, ist bestimmend für den Gesprächsablauf. Die Interviewerinnen sind von Beginn an Teil der Gruppe und trotz des Altersunterschieds zu den Teilnehmenden auf Augenhöhe, werden aber auch als Leitung wahrgenommen, von denen Führung und Anleitung erwartet wird. Die Gesprächsbereitschaft in der Gruppe ist hoch, so dass eine Rückführung auf die Ausgangsfragen nötig wird, aber auch Einwürfe, die hilfreich für die Erhaltung der positiven Atmosphäre sein können. FLW4_4: Also, wenn ich ganz ehrlich bin, es ist für mich keine Geschichte. Unter ’ner Geschichte (-) versteh ich jetzt was anderes. Ähm, Sie ham (-) sehr schön (-) Ihre Entwicklung, nenn ich’s jetzt mal, auch im Lernen, da aufgezeigt. (-) Aber es ist (-) wie gesagt, also, (-) vielleicht hab ich auch falsche Vorstellungen von ’ner [Textüberschneidung FLW4_2: Jeder hat seine eigenen Vorstellungen.] Geschichte. FLW4__I2: Na, das hab ich ja auch vorhin schon gesagt. Geschichten haben ganz, ganz viele Formen. (1s) Und, (-) ähm, hier scheinen zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen zu sein, was ist denn, was ist denn ’ne richtige Geschichte? (FLW4a, 79)

Themen Bedeutung der Weiterbildung In der Lernwerkstatt nimmt die Bedeutung der Weiterbildung, in diesem Fall die Bedeutung eines Kontaktstudiums nach dem Berufsleben, großen Raum ein. Sie wird z.B. verstanden als Impuls, die eigene Biografie mit dem im Studium hinzugewonnen Wissen neu in den Blick zu nehmen, aber auch, um etwas zu verwirklichen, was im bisherigen Leben bereits von großem Interesse war, dem man sich aber nicht in entsprechendem Maße hat widmen können (Selbstverwirklichung), und – im Falle einer Teilnehmerin - auch zur Vervollständigung der Biografie (erster Universitätsversuch gescheitert, Umweg über Fachhochschule, Seniorenstudium als ‚Schließen des Kreises‘). Lernen/Lebenslanges Lernen Das Thema Lernen ist in der Lernwerkstatt von Beginn an präsent, zumal sich die Teilnehmenden unaufgefordert bereits in der Vorstellungsrunde vielfach auf Lernerfahrungen z.B. in Bildungsinstitutionen, aber auch auf Erfahrungen in und mit Weiterbildung beziehen. Alle präsentieren in der Vorstellung ein Stück ihrer Bildungsbiografie.

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FLW4_5: Ja, ich kann ja nochmal so grob sagen. Also, ähm, ich bin halt, ähm, erst mal Mutter von 3 Kindern. Typische Frauenkarriere gemacht. Nie richtig gearbeitet ((lacht)) und hab (/) und hab auch mal hier angefangen normal zu studieren. Das hab ich dann aber, gleich nach dem Abi, das hab ich dann nicht geschafft. Das war mir dann zu kompliziert hier und irgendwie (/) das reichte irgendwie. Die Vorbereitung meiner Schule damals 72 reichte nicht, um hier irgendwie Fuß zu fassen und dann hab ich geheiratet und dann meinen ersten Mann verloren und dann ich wieder studiert, an der Fachhochschule, was im Verhältnis zur Uni damals anders war und war sehr verschult, ich hatte ja schon ein Kind, war super (/) war super zu machen, find ich. Konnt’ ich viel besser mit klar kommen. Heute mit dem Bachelor ist das ja ähnlich. Ist ja ein bisschen verschulter und, äh, meine Kinder machen alle, äh, jetzt auch noch Studien und, äh, ja, wie gesagt, bin Sozialpädagoge geworden, habe wieder geheiratet, wieder Kinder gekriegt. Und dann irgendwann hab ich mich mit 400 (/) 400 Mark- oder Euro-Job dann so im Kinder-Schulbereich, Tagesmutter Erfahrungen gesammelt. Mit Schreiben hab ich gar nichts am Hut. Deswegen wollt ich hier herkommen, um mal zu gucken, ob ich das kann. Weil ich das nicht glaube, äh, ich bin eher (dabei noch) zu malen, neben dem Studium. Also eben mein Metier ist eben die Malerei, aber nicht, wolln wir mal sagen, jetzt nicht so, ja, also eher noch Abmalen. So, nach (/) mit leichten Vorbildern. Noch nicht ganz (expressionistisch). Deswegen find’ ich das so spannend. (FLW4b, 77)

Eine lange Gesprächssequenz wird durch die Frage zur Bedeutung von lebenslangem Lernen angestoßen. Es wird differenziert: Lebenslangem Lernen in Form von Veranstaltungen. Dies müssen nicht nur Lehrveranstaltungen oder Fortbildungen sein, sondern können auch Engagement/nach draußen gehen/Ehrenamt sein – alles was ‚Aktivsein‘ bedeutet und gegen Alleinsein, Vereinsamung gerichtet ist. Hier sind die Kontakte und die Gemeinschaft zu/mit anderen Menschen, die Möglichkeit zum Austausch wichtig. Dies dient auch dazu das Denken anzuregen und durch neue Impulse eine gewisse Stagnation oder Perspektivlosigkeit im Alter zu vermeiden. FLW4_3: Manche wollen auch gar nicht. Die sagen ganz einfach so: „Ich hab in meinem Leben genug getan. Ich möchte nicht mehr denken. Ich hab das alles zu viel gemacht und jetzt Schluss.“ Geben auf. Also die Erfahrung mach ich immer. Was soll ich nachdenken noch? Was soll ich noch lernen. Ich werde jetzt gefragt immer, ich sag ja jedem immer, dass ich zu Uni gehe. (Die sagen): „Wieso? In deinem Alter?“ Heißt es, ja ich sag, das gehört doch für mich dazu. Ich sag ich (empfinde) noch etwas). Ja? Um etwas vielleicht auch mal zu überprüfen, vielleicht noch etwas zu machen. Äh, das so für mich dann auch Dinge, was dann passiert, oder plötzlich nachgefragt wird, dass ich allein plötzlich angespro-

84 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE chen werde. Wie? Wie machst du das? Was machst du? Ne? Was machst du da, (-) und so weiter. FLW4_4: Also die schlimmste Vorstellung wäre für mich eben nichts mehr zum Lernen zu haben. Furchtbar. (FLW4b, 470ff.)

Lebenslanges Lernen bedeutet aber auch eine grundsätzliche Haltung, im Leben immer offen für Neues zu sein und so lange wie möglich Herausforderungen als Lernanlässe zu begreifen. Herausforderungen können dabei z.B. der Umgang mit und die Auseinandersetzung im Internet sein, aber auch negative Erfahrungen im Leben (beruflicher, wie privater Natur), die letztlich in positive (Lern-)Erkenntnisse wandeln (lassen). Besonders eine Person thematisiert im Kontext von Lernen den Unterschied zwischen verordnetem und aufgezwungenem schulischen Lernen und der Veränderung, die sich zu Lernen ergeben hat, als der Lernstoff gewissermaßen frei wählbar war: FLW4_4: Also ich hatte einen Bruch zum Positiven. (1s) Als ich einen Beruf angefangen habe und da gemerkt habe, dass das, was was ich da lerne, interessiert mich. Und daraufhin bekam ich auch, war ich auch gut und ich bekam positive Rückmeldung. Und das hat mein ganzes Lernen und Leben total verändert. Von dem Moment an, wo ich merkte, ich kann ja was und es wird, es wird mir auch gesagt und ich erlebe es auch an den Reaktionen, von dem Moment an kam so die Seite an mir raus, die Freude dran hat, die neugierig war und das ist so, Gott sei Dank, geblieben. Ne? Also es war wirklich so dieses (/) was ich hier beschrieben habe ist eigentlich das Gesamtbild meines Lernens, meine Möglichkeiten völlig unterdrückt in dieser Schulsituation (-) und in dem Moment, wo ich es frei bestimmen konnte, Sie sagten es ja vorhin auch, ne, ich war überhaupt nicht, ähm, eigenbestimmt. In dem Moment, wo ich selber bestimmen konnte, war alles gut. Ne? (lacht) (FLW4a, 577)

Hier knüpft ein Gesprächsstrang an, bei dem die Reflektion und eine Betrachtung über die eigentliche Situation hinaus bedeutsam ist: Neben der Schilderung von ähnlichen negativen schulischen Erfahrung gibt es eine gesellschaftliche Einordnung hin zur Bedeutsamkeit von Lernmöglichkeiten und einer Verantwortung der Älteren heute. FLW4_1: Ja, ich möchte eigentlich jetzt, äh, auf das Heute, hier und jetzt, (zurück)kommen. Lernen, Alter, unsere Aufgabe in unserer Generation (-), äh, in welcher Verantwortung stehen wir gegenüber der Gesellschaft und das möcht ich (-) unter diesem Kontext (schon) noch mal betrachten. (FLW4a, 588)

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Szenen des eigenen Lebens Immer wieder teilen die Teilnehmenden einander bedeutsame biografische Erlebnisse oder Haltungen – auch jenseits der Geschichten –mit. Darf ich, ich bin seit 30 Jahren Greenpeace: ständig mit Leuten einlassen, mit unterschiedlichen Themen umgeben. Da freu ich mich. Wir treffen uns mindestens alle zwei Wochen und arbeiten auch richtig zu Themen. Ich war auf ’nem Kongress in Berlin. Da haben wir Workshop, Workshop gehalten und so eben alles mit (-) 20 bis 65 Jahre, ’ne. Also, und das klappt wunderbar ohne irgendwie irgendwelche komischen Dinge. (FLW4a, 520) Die suchten nach jemanden, der Glück vermittelt. In Heidelberg gibt es einen Schuldirektor, der Glückunterricht hat. Da hab ich dann vor dem Fernseher gesessen, ja ich sag, der geht an die Basis. Da wird groß diskutiert über Glück. Da bin ich an die Schule gegangen und hab (-) mich angeboten, dass ich das über Lebenserfahrung mach, oder Lebenseinstellung hab ich das genannt. Ja, da wurde der Rektor sehr hellhörig, hat gesagt: ‚Ja.‘ Hab ich dann mit 5 Schülern in 5 Klassen gemacht. (FLW4a, 565) Das war immer Schule und das war das Lernen. Das waren die Lehrer. Die Schule waren die Kinder. Und das war wichtig, dieser soziale Kontakt und das Austauschen und da hab ich viel gelernt. Das war aber ’ne ganz andere Ebene als die Lehrer. Und, äh, das war eigentlich mein Leben lang die Schulzeit. Ich bin gerne zur Schule gegangen, aber, aber die Lehrer habe ich nie gemocht. (FLW4a, 583)

4.5.6 Fallprofil der forschenden Lernwerkstatt 6: Außeruniversitäre Erwachsenenbildung Auswertung des Fragebogens An der forschenden Lernwerkstatt mit Teilnehmenden von außeruniversitären Seniorenbildungsveranstaltungen (FLW6) nehmen vier Personen teil, davon sind zwei Frauen und zwei Männer. Ein Mann verlässt die Veranstaltung vorzeitig, die drei verbleibenden Teilnehmenden nehmen bis zum Ende an der Lernwerkstatt teil. Gemeinsam ist allen Teilnehmenden, dass sie im Kontakt zu einem Seniorenbüro stehen und entweder an einer Veranstaltung zu Möglichkeiten freiwilligen Engagements teilgenommen haben, in deren Rahmen das Forschungsprojekt vorgestellt wurde, oder dort von der Lernwerkstatt erfahren haben. Die Teilnehmenden sind zwischen 64 und 94 Jahre alt und deutscher Staatsangehörigkeit. Sie sind alle mittlerweile aus dem aktiven Arbeitsleben ausgeschieden und in Rente. Altersmäßig liegen zwischen den beiden Frauen und dem Mann rund 30 Jahre. Dies bedeutet, dass hier zwei Generationen am Tisch sitzen. (Der Sohn des 94jährigen Teilnehmers ist 61 Jahre alt.)

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Die allgemeinbildenden Schulabschlüsse sind Mittlere Reife, Fachhochschulreife (über den 2. Bildungsweg) und die Allgemeine Hochschulreife. Diese entsprechen den Ausbildungswegen und beruflichen Abschlüssen: Die Lehren mit Abschlussprüfungen führten zur Tätigkeit als Arzthelferin und Maschinenschlosser, das Hochschulstudium zum Lehramt auf einem Gymnasium. In der Ausübung der Berufe ist Aufstieg und berufliche Entwicklung über Weiterbildung erfolgt: Während eine Lehrerin im Laufe ihrer Berufslaufbahn als Schulleitung zur leitenden Beamtin aufstieg, qualifizierte sich der Maschinenschlosser zum Obermeister und Werkstattleiter. Die Arzthelferin nahm an einer Weiterbildung zur Ernährungsberaterin teil. Für die beiden Frauen ist Weiterbildung im beruflichen wie im privaten Kontext bekannt und genutzt. Alle Teilnehmenden haben ausschließlich in den angegebenen Berufen gearbeitet. Während bei den Frauen nicht ersichtlich ist, ob sie im Laufe ihrer Berufstätigkeiten ihren Anstellungsträger gewechselt haben, war der 94jährige Teilnehmer seit seiner Lehrlingszeit ausschließlich bei der Hochbahn beschäftigt. Die Generation der Eltern hat im Rahmen formaler Bildung zum Teil die Volks-/Haupt- oder Realschule besucht.Zum Teil besteht aber auch keine Kenntnis über Schul- und Berufsabschlüsse der Eltern, die möglicherweise neben einer Grundbildung in der Dorfschule auch nicht mit heutigen formalen Abschlüssen vergleichbar zu benennen sind (‚Bäuerin in Stellung‘, Landarbeiter). Dabei gilt es zu bedenken, dass die Eltern der Teilnehmenden dieser Lernwerkstatt zum Teil Ende des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Berufstätigkeit und Pensionierung der Eltern verlief parallel zu zwei Weltkriegen. Weiter finden sich in der Generation vor allem berufliche Tätigkeiten, für die sie sich im Rahmen von Lehre mit Abschlussprüfungen, aber auch über (Berufs)Fachschulen qualifiziert haben: Technischer Zeichner, Funker, Kaufmann etc. Auffällig ist in dieser Lernwerkstatt, dass von den insgesamt vier Kindern der Teilnehmenden drei die Hochschulreife erworben haben, ein Kind hat die Mittlere Reife. Mitgliedschaften und/oder ehrenamtliches Engagement bestehen und bestanden hauptsächlich in Gewerkschaften, Sportvereinen und im Rahmen von kulturellem Engagement (Bibliothek, Chor, Zeitzeugen, Malen …). Geschlechtsspezifisch auffallend ist bei der Frage nach dem Informationsverhalten zu politischem Tagesgeschehen die ausschließliche Angabe der BILD-Zeitung bei dem Teilnehmer, demgegenüber steht eine Vielzahl von Zeitungen, Fernsehsendern und sendungen jenseits des Boulevardniveaus bei den Frauen. Finanziell beläuft sich das persönliche Nettoeinkommen der Teilnehmenden derzeit zwischen 500-1.000 Euro und 2.800-3.300 Euro (Haushalte zwischen 1.500/1.800 bis über 4.700 Euro).

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Umgang in der Gruppe und deren Dynamik Auffällig ist, dass ein Gruppengefühl nicht entsteht, sondern hier einzelne Teilnehmende sitzen, die über die Lernwerkstatt hinaus keine Verbindungen zueinander haben. Auch der große Altersunterschied zwischen den Frauen und dem Teilnehmer wirkt sich hier aus, weiter stellt die leichte Schwerhörigkeit des Teilnehmers eine Herausforderung für die Gruppe dar. Die Frauen scheinen sich gut zu verstehen, sie treten auch über die Beantwortung der Fragen durch die Interviewerinnen hinaus in Dialog miteinander und stellen untereinander interessierte Fragen. Hier wird auch ein ‚Ringen‘ in der Gruppe um die jeweils eigenen Themen feststellbar: Der Teilnehmer betont dagegen stark die eigene Biografie, ist in seiner Art sehr Raum einnehmend, während sich die Teilnehmerinnen auf das Thema der Lernwerkstatt einlassen und daran festhalten und versuchen, ein gemeinsames Gespräch im Rahmen der Fragestellungen zu führen. Versuche, Gemeinsamkeiten oder gemeinsame Themen zu finden, sind erkennbar, werden aber auch vom Gesprächspartner abgeblockt. Die Rolle der Interviewerinnen in der Lernwerkstatt ist Gesprächsleitung und Moderation. Themen Bedeutsamkeit von Lehrpersonen Bei den in der Lernwerkstatt dominierenden Themenfeldern tritt besonders die Biografie des Teilnehmers in den Vordergrund, der während des Zweiten Weltkriegs bereits ein junger Mann war: Kriegserfahrungen, Gefangenschaft und die Arbeit im und nach dem Krieg bei der Hochbahn, aber auch die Zeit in der Hitlerjugend etc. Vielfach kommen diese Schilderungen ohne konkreten Bezug zum Thema Lernen, aber er thematisiert die Bedeutung beispielsweise von Lehrpersonen. Ich hab da gute Lehrpersonen gehabt, die für mich so ein bisschen Kumpelhaft, so was (…). (FLW6a, 205)

Die biografischen Schilderungen sind mitunter anschlussfähig für das Wissen der beiden Frauen um ihre Eltern. FLW6_1: Naja, meine Frau/Ich war/hab vor dem Krieg noch geheiratet. Das war mal/Not/war mal so, so, die Ganzen - wir waren ja alle in den Zwanzigern, nich, die ganzen Soldaten - und dann ging die, einige, fuhren ja nach Hause kriegten Geld/Urlaub, für zum Heiraten und ich kriegte auch Urlaub und bin dann für acht Tage, das war meine Ehe, nich? Acht Tage im Jahr haben. FLW6_2: Ja, wie mein Vater, meine Eltern. (FLW6a, 183ff.)

88 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE FLW6_2: Mhm. Wie mein Vater auch, ähnlich. Sie sind ja die Generation meines// FLW6_3: Ja, ja, das ist ja die Generation// FLW6_1: Wann ist Ihr Vater denn geboren? FLW6_2: Vaters. Ja, ja. (...) Der ist ’25 geboren. Also, ein paar Jahre jünger als Sie, ’ne. FLW6_1: Ja. FLW6_2: Der ist mit 18 in den Krieg gegangen. Ja. FLW6_1: Ist Ihr Vater Soldat geworden? FLW6_2: Ja. Marinesoldat. Zweimal Mittelmeer abgeschossen, als junger Mann. (FLW6a, 218ff.)

Man spürt im Nachvollzug des Gesprächs, dass es den Teilnehmenden auch daran liegt zu reden, zu erzählen, sich auszutauschen, auch wenn das Thema immer weiter abschweift. Fordern und Fördern Weiter wird die Bedeutung und ein Verhältnis des Förderns und Forderns beim Lernen, aber auch eines ‚von anderen Menschen unter Druck setzen/gesetzt sein‘ thematisiert. Ausgangspunkt ist eine der Lerngeschichten und vor allem die Bezeichnung des jungen Menschen als ‚Rohdiamanten‘, der durch Bildung, Schule, Fördern/Fordern noch geformt werden kann und sich durch Lust am Lernen selbst ‚schleift‘. Dabei fließen nicht nur Erfahrungen mit Lehrpersonen, sondern auch eigene Erfahrungen als Lehrerin mit ein, die die Möglichkeit wahrnimmt, den ‚Rohdiamanten Hunger einzuhauchen‘, als Lust auf/an Lernen. Als grundlegend für die Entscheidung Lehrerin zu werden, werden jedoch die eigenen negativen Erfahrungen in der Schule benannt und der ‚bescheuerte Lehrer‘. In den eigenen Biografien wird Lernen auch im Kontext von Perfektionismus, Fördern/Fordern und Druck diskutiert. Als Strategie wird beispielsweise benannt, den eigenen Anspruch auf Perfektion, der als Hürde beim Lernen erscheint, durch reflexiv spielerische Angänge zu bearbeiten. Das Überwinden von Widerständen wird in Schule und Beruf als vorhanden gesehen, aber auch ganz bewusst ein unterstützendes Umfeld, in dem jemand an einen glaubt, dies zum Ausdruck bringt und so Selbstzweifel nimmt. Der Wert einer solchen unterstützenden Atmosphäre, in der eine Bestätigung der eigenen Leistung erfolgt, wird hochgeschätzt und als notwendige Komponente in der eigenen beruflichen Laufbahn betont. Druck wird eher als negativer Aspekt in Unterstützungsstrukturen benannt; der eigene Antrieb und die Lust am Lernen sind leitend. Leistungsdruck wird auch als Teil des Generationenverhältnisses angesehen. („Wir sind ja eben auch diese Generation, wo dieser Leistungsdruck sehr stark war, wo die auch die Eltern damit (…) wie gut sind die Kinder.“). Dennoch wird reflektiert, dass es leichter fällt, den eigenen Antrieb zu stärken, verglichen mit fehlendem Druck.

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Erfahrungen mit mangelnden Anforderungen sind in der Eigenbewertung unterschiedlich gelagert, an manchen Stellen ergeben sich Brüche: Obwohl eine Teilnehmende beschreibt, dass Druck in ihrer Familie kein Thema gewesen sei („es war nicht so ‚push push‘, sondern also die wollte das so“ (FLW6a, 471)), benennt sie an anderer Stelle, dass Mut und immer wieder Aufstehen nach Niederlagen sehr wichtig war: ‚Ich musste.‘ Sätze der Eltern, die auf Eigenständigkeit hinweisen sollten (‚Unseretwegen musst du nicht…‘) wirken nichtsdestoweniger anregend für den Ehrgeiz. Die familiäre Ausgangssituation anderer Teilnehmender beschreibt das Gegenteil: Druck und der Vergleich mit anderen, immer noch besser sein zu können, sind tiefsitzende Erfahrungen. Es wird ein Zusammenhang zwischen Neugier, Erfahrung und Lernen gesehen: Neugier als Antrieb, Lust auf Neues, die dann gemachte Erfahrung und das Gelernte werden als Bereicherung aufgenommen und öffnen Türen für Neues. Erfahrungen sind entscheidend, ob Lernen erfolgreich sein wird oder nicht. Darin steckt auch die Haltung, dass ‚bildungsorientierte‘ Familien nicht per se erfolgreiche Kinder hervorbringen, der eigene Anteil wird als hoch bewertet. In dieser Lernwerkstatt wird auch das eigene Leben als Frauengeschichte thematisiert und der Druck, der entwächst aus dem Anspruch bzw. der Abwertung durch den Mann: „Du willst doch nicht [studieren]“ (FLW6a, 548), die Ausrichtung an dessen Karriere und die Dominanz der Rollenerwartung auf Frauen: „Da war immer, immer Druck“ (FLW6a, 548). Reflektiert wird aber auch ein Lernbegriff, der nicht auf Erfahrung beruht, sondern der sich über ‚Wissen anhäufen‘ bestimmt. Dies bezieht sich vor allem auf das Leben mit dem Partner, der zwar in der Selbstaussage immer negiert, lernen zu wollen, aber im Lernverständnis der Teilnehmerin ‚immer dazu [lernt]‘. Zusammensetzung der Lernwerkstätten und ihre Themen Die Auswertung der Fragebögen der sechs Lernwerkstätten zeigt, dass es gelungen ist, eine breite Gruppenzusammensetzung zu erreichen (Geschlecht, eigener Bildungsweg, Bildungsweg der Eltern, Einkommen, Berufe, Mitgliedschaften und Gewohnheiten) – jedoch nicht alle Milieus. Einrichtungen der Erwachsenenbildung werden milieuspezifisch genutzt – Management-Lehrgänge z.B. waren nicht Teil unseres Samples. Jedoch legen die Fragebögen nahe, dass sowohl (nach Indikatoren der Adressatenforschung) weiterbildungsnahe und -ferne Teilnehmer_innen erreicht werden konnten. Mit Blick auf biografische Abschnitte und das formale Alter haben Erwachsene zwischen 20 und 94 Jahren an den Lernwerkstätten teilgenommen.

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Die Frage nach dem Lernen provoziert viel grundsätzlichere Probleme bzw. verweist Lernen auf seinen Sinnzusammenhang: Leben ist Lernen, die eigene Lebensgeschichte, Auseinandersetzung mit sich selbst, Verantwortung, Lernen im ‚Erwachsenenalter‘, Angst im Leben und Mut zum Lernen, Verstehen der anderen, Notwendigkeit von Förderung. Singuläre Thematiken der Fähigkeits- und Wissensvermittlung treten demgegenüber zurück. Wir können systematisch drei thematische Horizonte identifizieren, die unter dem Stichwort Lernen artikuliert werden: •

• •

Zunächst geht es darum, Lebensführung zu sichern: Um Einkommen zu erzielen ist es notwendig, sich verwertbares Wissen und Können anzueignen. Dies ist Grundlage der Funktionalität für Erwerbstätigkeit. Weitergehend kann durch Lernen die Lebensgestaltung unter gegebenen Rahmenbedingungen erst durch Teilhabe und Einflussnahme erweitert werden. Letztlich wird durch Lernen von Möglichkeiten eine umfassende Lebensentfaltung eröffnet. Dafür vorausgesetzt ist Reflexivität bezogen auf das eigene Lernen und Leben.

Statuspassagenspezifische Themen zeigen sich bei den jungen Erwachsenen mit Bezug auf die mit Erwachsenwerden verbundene Eigenständigkeit. Hierzu gehören Berufsorientierung und Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt. Ebenso zentral ist eine Neuaushandlung von Identitätsprozessen. Bei den älteren Erwachsenen lassen sich statuspassagenspezifische Themen mit Bezug auf das Entdecken weiterer Lern- und Lebensmöglichkeiten nach der Erwerbs- und Sorgearbeit ausmachen. Berufliche Tätigkeiten stehen dabei in einem ambivalenten Verhältnis zur Verrentung. (Nebenberufliche) Arbeit kann weiterhin selbstverständlich und identitär zentral bleiben und gleichzeitig werden Lernthemen und -aktivitäten in Abgrenzung hierzu gesetzt. Bei den Erwachsenen mittleren Alters zeigt sich statuspassagenspezifisch, dass ‒ mit Bezug auf die im ‚Lebensstundenplan‘ nicht vorgesehene Passage zu Lernen ‒ dieses sowohl in konkreten Lernhandlungen, wie auch in der biografischen Passung zu Schwierigkeiten führt. Hier wird auch deutlich, dass ‚Biografizität‘ keineswegs nur auf ‚lebensweltliche‘ Zusammenhänge fokussiert ist. Identitätskonstruktionen beziehen sich weiterhin auf die Perspektive gesellschaftlicher Arbeit und auf die durch Erwerbsarbeit dominierte Systemstruktur der kapitalistischen Grundverhältnisse – auch wo diese relativiert werden. Suchprozesse werden durch die Situationen vor, in und nach der Erwerbsarbeit gerahmt. Eine Betrachtung der Kommunikationsdynamik macht deutlich, dass gemeinsam geteilte Erfahrungen intensive Reflexions- und Lernprozesse beför-

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dern. Das Gruppenverfahren führt zur Klärung individueller Einstellungen. Vor allem die Thematisierung biografischer Herausforderungen mit Bezug auf den Entschluss, an dieser Erwachsenen-/Weiterbildungsveranstaltung teilzunehmen, und auch das Interesse, die eigenen Erfahrungen in das Forschungsprojekt einzubringen, stellt eine Gemeinsamkeit zwischen den Teilnehmenden her. Die offene Einstiegsphase der Lernwerkstatt mit der Möglichkeit, Lernen für sich selbst, jedoch noch nicht zwingend zusammenhängend, zu thematisieren, eröffnet eine vertrauensvolle Atmosphäre, die weitere intensive Thematisierungen zulässt.

5. Begründungsperspektiven und -muster für Lernen

In den Konstruktions- und Interpretationsprozess von Lernmustern sind Forschende wie Lernende unabdingbar einbezogen. Wir haben immer schon Bilder und Geschichten einerseits und theoretische Kategorien andererseits ‚im Kopf‘, welche unsere Aufmerksamkeit lenken. Wir durchforsten ausgehend von – immer vorläufigen – Lerntheorien und ihren -kategorien das vorliegende Material auf Ordnungsmöglichkeiten hin, systematisieren es nach Lernperspektiven und typisieren einen Abgleich als Lernmuster. So haben wir zunächst ausgehend von gesellschafts- und lerntheoretisch angeleiteten Sichtweisen den Blick auf die als Texte vorliegenden Aussagen und Beiträge geworfen. Bezug sind das Konzept der aktiven Identitätskonstruktion (Keupp u.a. 1999) und unsere eigenen kritisch-pragmatistischen Ansätze zur Theorie des Lernens. Dabei besteht zweifellos die Gefahr, im Material lediglich das Vorgewusste wiederzufinden und zu bestätigen. Deduktionismus und ebenso Induktionismus verschließen sich gegenüber dem Neuen. Aber auch die phänomenologische Methode der eidetischen Reduktion – zu versuchen, sich vorschneller Systematik zu enthalten und von theoretischen Kontexten abzusehen – kann nur ansatzweise greifen. Wir werden unsere Scheuklappen nicht los. Aber wir können uns unserer eigenen Vorannahmen bewusst werden, indem wir unsere Positionen reflektieren. So ist es im gegenwärtigen bildungswissenschaftlichen Hochschulbetrieb unausweichlich, sich mit Begriffen wie Identität (z.B. Faulstich 2013, 207), Erwerbsarbeit (ebd. 160-187) und Biografie (ebd. 162) auseinandergesetzt zu haben. Um alle drei Begriffe gibt es breite Debatten, die sich in unserem Denken festgesetzt haben. Wir gehen deshalb – im ersten Auswertungsschritt – bewusst zunächst unter diesen Perspektiven in das Material, suchen aber gleichzeitig nach Brüchen, Uneindeutigkeiten und Widersprüchen. Dabei gilt es, die Spannungen in den Begriffen selbst aufzuspüren, Einlinigkeit und scheinbare Klarheit zu vermeiden. Eine Gesellschaft, die gekenn-

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zeichnet ist durch Widersprüche konfligierender Wirklichkeiten, kann sich der Einheitlichkeit harmonisierender Begriffe nicht fügen. Im nächsten (zweiten logischen) Schritt versuchen wir deshalb Muster zu finden, die sich in die großen Perspektiven nicht einordnen und die Buntheit der Wirklichkeit aufnehmen. Wenn überhaupt, lässt sich ein solches Vorgehen als ‚anarchistische Methodologie‘ bezeichnen (angeregt ist diese Begrifflichkeit zweifellos durch Paul Feyerabend (1976), der allerdings in andere Richtung weitergeht.). Kritischer Pragmatismus in der Lernforschung und ihrer Methodologie bedeutet, ausgehend von Nicht-Abschließbarkeit, von Angemessenheit, von Nachvollziehbarkeit, von Tragfähigkeit theoretischer Konzepte und methodischer Instrumente. Grundgelegt wird diese Position in einem Möglichkeitsdenken, dass nämlich gesellschaftliche Verhältnisse auch anders und besser sein könnten, und in einer Diskursethik, dass gesellschaftliche Normen nicht als Glaubensbekenntnisse, sondern im Abgleich von Interessen festgelegt werden. Sicherlich brauchen wir dazu tragfähige Theorie und methodisch nachvollziehbare Empirie – aber eine solche, die Offenheit zulässt und nicht ein System abschließt (vgl. u. Teil 6). Für eine weiterführende, erfahrungsbezogene Lernforschung wäre es fatal, dem Selbstlauf und der verführerischen Schlüssigkeit der großen Begriffe zu folgen. Im dritten Auswertungsschritt greifen wir zwar auf ‚Anerkennung‘ und ‚Leistung‘ als zentrale ideologische Kategorien der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsform zurück, versuchen diese aber in ihrer Widersprüchlichkeit zu zeigen und ihre Funktionalität aufzubrechen.

5.1 B EGRÜNDUNGSPERSPEKTIVEN : I DENTITÄT , E RWERBSARBEIT UND B IOGRAPHIE Ich, Arbeit, Leben wären solche Kategorien, deren Spiel die abendländische Philosophie strukturiert. Sie sitzen tief in unserer Sprache fest und beherrschen unsere Möglichkeiten des Denkens. Wir werden sie nicht los, können aber versuchen, aus dem Gefängnis der Sprache auszubrechen, indem wir dessen Gitter erfassen und neue Erfahrungen zulassen. Identität, Erwerbsarbeit und Biografie – als in den neueren wissenschaftlichen Sprachgebrauch übersetzte Fassungen der großen Kategorien Ich, Arbeit und Leben – finden wir in den Materialien der Lernwerkstätten als zentrale Bezüge für Lernen. Sie werden als Begründungsperspektiven für Lernintentionen und -strategien ausgearbeitet, um sie zu verschränken. Die Darstellung der Begründungsperspektiven greift auf Theoriekontexte zurück und nimmt Auszüge aus dem Material auf, ergänzt diese theoretisch und fasst sie zusammen. Begründungsperspektiven lassen sich als theoretisch vorgezeichnete Grundlinien für die

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in empirisch aufscheinenden Phänomenen verwobenen Begründungsmuster verstehen (vgl. u. 5.2). Die drei Begriffe sind von Anfang an widersprüchlich verortet: Lernen ist einerseits ein Weg, um Identität zu erreichen, anderseits deren Stabilität abzusichern, welche durch neue Erfahrungen fraglich geworden ist; Lernen für Erwerbsarbeit intendiert einerseits eine Form der Teilhabe an gesellschaftlich erreichter Arbeitsteilung und der Einkommenssicherung, andererseits droht Unterdrückung und Ausbeutung; Biografie sammelt einerseits den Aufbau eines Selbstbildes, andererseits ist ihre Kontinuität gefährdet durch kritische Lebensereignisse und verstärkte Risiken. Die gesellschaftlichen Widersprüche sind in die Begriffe aufgesogen und eingebaut. 5.1.1 Identität ‚Identität‘ ist ein Beispiel dafür, dass Begriffe dann besonders wichtig werden, wenn ihr Gehalt fortschreitend fragwürdig geworden ist. Die alte Frage nach dem Kern des eigenen Selbst erhält eine neue Fassung: Wer bin ich in einer Welt, die zunehmend unübersichtlich, ungesichert und unbeherrschbar geworden ist? Identität wird dann zu einem Projekt, das zum Ziel hat, ein Gefühl der Einheit zu erzeugen (Keupp/Höfer 1997, 34). Die alten Strukturkonstruktionen als Grundlagen einer relativ stabilen Subjektkonstitution tragen nicht mehr, vielmehr müssen wir zur eigenen Selbstverortung eine hohe Eigenleistung in Identitätsbalancen vollbringen (Keupp 1998, 9). Dem Begriff Identität wird die Überbrückung zwischen Subjekt und Struktur angelastet: Wir müssen Erfahrungen in einen sinnhaften Zusammenhang bringen: also Lernen. Identität als Begründungsperspektive für Lernen drängt sich aus dem Material geradezu auf. Insbesondere in der Reflexion der Lerngeschichten wird das als wichtige Lernerfahrung seitens der Teilnehmenden thematisiert: selbst zu werden und dies mit Vertrauen und Sicherheit handelnd zu vertreten. Einige Titel der Lerngeschichten stehen hierfür: ‚Mein eigener Weg in die Unabhängigkeit‘ (FLW1_LG1), ‚Der Weg zu mir‘ (FLW1_LG3), ‚Horst‘ (FLW4_LG2)‚ ‚Den Weg zu mir selbst konnte ich erlernen und erfahren‘ (FLW4_LG3), ‚Dazu stehen, was man nicht kann‘ (FLW3_LG1). Solche Lernprozesse stehen in der Spannung von Anpassung und Selbstbestimmung in Graden der Eigenständigkeit. Es sind Versuche, eine eigene Identität zu schaffen und zu sichern. Die von außen gesetzten Anforderungen (schulisch zu lernen, ein Kind zu lieben, neue soziale Bindungen aufzubauen, Lernen zu wagen) werden nicht abgewiesen. Sie werden zu den eigenen Interessen ins Verhältnis gesetzt. Hierbei geht es um den „subjektiven Konstruktionsprozess […], in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen“ (Keupp u.a. 1999, 7). Bei diesem Prozess unterscheiden Keupp u.a. drei Syntheseleistungen: Kohärenz

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als ein Prozess, in dem ein „unterschiedlichen Inhalten zugeordnetes Gefühl des Sinnhaften, des Verstehbaren und Gestaltbaren“ Form annimmt (Keupp u.a. 1999, 267). Anerkennung steht in der Spannung zur Autonomie und Authentizität ist der Prozess, „Ambivalenzen und Veränderungen in einer Identitätsbiographie in ein für die Person ‚stimmiges‘, d.h. in ein im positiven Sinn akzeptables Spannungsverhältnis zu bringen“ (Keupp u.a. 1999, 268). Identitätsfindung und -sicherung als Begründungsperspektive für Lernen beinhaltet Prozesse, sich zu suchen, sich zu kennen, sich anzunehmen, sich weiter zu entwickeln und zu sich zu stehen. Identitätsarbeit ist eine Herausforderung, verläuft nicht selbstverständlich. Die Aussage einer Teilnehmerin in der Bildkartenrunde pointiert dies: Ich hab die Karte genommen und da steht drauf ‚Wenn ich will, bin ich stark‘ und ich dachte mir, naja, das ist irgendwie so ’ne Lebensweisheit, die muss man auch erst mal lernen. (FLW5b, 70).

Für diese Lernperspektive typische Aussagen sind: [...] als positiv empfunden zu reifen, Verantwortung zu übernehmen, erwachsen zu sein, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen zu lernen, dazu zu stehen, was man macht und sagt. (FLW1a, 69)

Der letztlich biologische Begriff Reifen bezieht sich hier auf Erwachsen werden und sein. Dann kann man zu sich selbst stehen. Demgegenüber erscheint ‚Scham‘ als Ausdruck von Unsicherheit bezogen auf die anderen, die als maßgebend angenommen werden. Zu-sich-Stehen oder Sich-Schämen treten als Alternativen auf. Hab ich einfach gelernt, dass (.) man sich nicht dafür zu schämen braucht, wie man ist, wie man denkt, sondern wenn man dazu steht wer man ist, dass Leute einen auch eher akzeptieren, weil man nicht versucht, irgendjemand was Recht zu machen. (FLW1a, 59)

Den Grund für Selbstsicherheit findet man in sich selbst. Sich selbst als ‚gut‘ einzuschätzen, ist Voraussetzung ‚gut‘ zu sein: Du brauchst ’n Grund. Woran man sich festhalten kann. Äh, mir, mir fällt zu der Geschichte ein Satz ein, woran ich mich (/) den ich mir selbst immer wieder sage: „Wenn ich bin, wie ich bin, bin ich gut.“ (--) Also (.) da halte ich mich so ’n stückweit dran fest an diese Satz (.). (FLW1a, 668)

5. B EGRÜNDUNGSPERSPEKTIVEN

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Die Begründungsperspektive Identität kontextualisiert Lernen mit Bezug auf das Verhältnis von äußeren, als fremdgesetzt erfahrenen, und inneren, selbstgestellten Anforderungen – als Mut oder Angst, als das Spannungsfeld Anerkennung und Autonomie und mit Bezug auf Authentizität und Selbstsicherheit. (1) Zum Finden der eigenen Identität gehört zuallererst der Mut, sich gegen äußere, einschränkend erfahrene Zwänge abzusetzen und aufzulehnen; dem ‚Soll‘ nicht zu gehorchen und Ängste abzuwehren. Um sich von gesundheitlichen Einschränkungen nicht demotivieren zu lassen und eine Umschulung zu beginnen, ist ‚Mut, sich selbst so in den Arsch getreten zu haben‘ erforderlich: Was mir auch aufgefallen ist, das, ich denke mal hier sitzen ja viele von uns, die das ähnlich haben: Aus Krankheitsgründen konnte sie nicht weiter machen und so. Ich denke mal, dass alle da in den Geschichten auch so den Mut sich selbst so in den Arsch getreten zu haben, um einfach wieder neu zu lernen, neu zu verstehen. (FLW2a, 411)

Dieser Mut muss gegen die verinnerlichten Anforderungen von Normalität, ‒ ‚den Soll, der dir von zu Hause beigebracht worden ist‘ ‒ aufgebracht werden, was als ‚verdammt hart und schwer‘ beschrieben wird Ich sprech da ja nun mal aus Erfahrung durch den Schlaganfall, ich musste ja sehr viel neu erlernen. Und ich sage da, […] es ist so, dass du den Mut einfach verlierst. Weil, du gehst einfach davon aus, ab einem gewissen Alter ist die Schulzeit vorbei, bist in der Lehre, hast deine Lehre abgeschlossen und hast im Prinzip den Soll, der dir von zu Hause beigebracht worden ist, erfüllt. Bist in Arbeit, du gehst jeden Tag deinen Arbeitsweg, du arbeitest fast wie ein Roboter, würde ich jetzt sagen, du hast fast meistens die Arbeitsabläufe im Kopf drinne und dementsprechend kommst du halt aus diesen normalen Sachen, wie Schule, einfach wieder raus. […] Und wenn man dann den Mut nicht hat, wieder offen zu sein, also Mut zur Lücke hat und die alten Sachen ad acta zu legen und zu sagen: „Das habe ich früher in der Arbeit gemacht, ich muss jetzt neu anfangen“, dann ist das verdammt hart und schwer. (FLW2a, 439)

Mehrere Teilnehmende betonen ebenfalls die Bedeutung von Mut, sowohl zur Veränderung als auch zum Fehlermachen als erforderlich für Lernimpulse (vgl. FLW3a, 374, 378). Die thematisierten, scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die gesellschaftliche Norm bzw. das Abweichen werden als mitverantwortlich für Versagensängste geschildert:

98 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Hier spiegeln sich ja Probleme wieder, mit Älterwerden und dann noch mal Lernen. Es gibt da offenbar tatsächlich reale Ängste und Probleme später noch mal ans Lernen ranzugehen. (FLW2a, 413) Viele haben ja auch, das erlebe ich halt auch in meiner kleinen Gruppe, das viele wirklich Angst haben jetzt nochmal neu ran zu gehen. Also die haben Angst, jetzt irgendwie das nicht zu packen [...]. Also, nochmal sich dem Lernen zu stellen. (FLW2a, 458)

Am Beispiel der Beschreibung der persönlichen Entwicklung wird deutlich, wie der Zusammenhang von Entwicklung von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen als mit dem Gelingen im Erwerbsarbeitsleben korrespondierend verstanden wird: Und das war halt eben auch für mich ’n Entwicklungsprozess, […] musste und wollte und hab das dann auch erst im Nachhinein als positiv empfunden zu reifen, Verantwortung zu übernehmen, erwachsen zu sein, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen zu lernen, dazu zu stehen, was man macht und sagt und somit kam es dann auch dass ich’s dann auch endgültig geschafft hab, mich in der Tischlerei durchzusetzen. Ähm, mein Traumberuf. Was mir auch immer ausgeredet wurde, „das ist ein Männerberuf, was willst du da, das schaffst du nicht.“ (FLW1a, 69)

Beim Lernen trifft man auf Unvorherzusehendes. Diesem muss man offen begegnen, sonst lernt man nicht (FLW2b, 94). ‚Scheuklappen zu verlieren‘ gilt als wichtige Lernerfahrung (FLW4a, 502). Wenn einem nicht vertraut wird, führt das dazu, dass man anderen auch nicht vertraut – im Gegenzug führt die Akzeptanz durch andere dazu, dass man sich auch selbst akzeptiert. Konkrete Unterstützung und sozialer Zusammenhang festigen im Lernprozess das Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit. Dies kann auch zu einer grundlegenden Veränderung des Lern-Lebens führen. Teil dieses Lernprozesses ist die Wahrnehmung dessen, was gut für einen selbst ist – im Verhältnis zu den Umständen – und nicht (mehr) in der Übernahme äußerer Ansprüche; die helfen, hierauf aufbauend Entscheidungen zu treffen und diese auch zu vertreten. (2) Fleiß und Arbeit bringen Anerkennung und darüber Selbstwertgefühl (FLW4b, 230). Die eigene Berufstätigkeit ist jedoch nicht nur Abgrenzung (‚danach konnte ich dann…‘), sondern auch hier sind Erfahrungen lustvollen Lernens möglich. Die Anerkennung und Unterstützung durch andere war dabei ausschlaggebend. Und das hat mein ganzes Lernen und Leben total verändert […] von dem Moment an kam so die Seite an mir raus, die Freude dran hat, die neugierig war […] in dem Moment, wo

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ich selbst bestimmen konnte, war alles gut. (Im Gegensatz zur Unterdrückung dieser Möglichkeiten in der Schule.) (FLW4a, 577)

In diesem Prozess geht es auch um das Erkennen der eigenen Fähigkeiten mit ihren Stärken und Schwächen und das Setzen angemessener Ziele hierzu, bzw. das angemessene Eingehen hierauf oder auch Durchsetzen gegen Interessen anderer, so dass besser gelernt und gehandelt werden kann. Dieser Prozess stärkt sich selbst, durch kleine Schritte auf dem Weg zu mehr Selbstsicherheit steigt diese (Mutter sein und dann Tischlerin werden; Arbeiten gehen und dann ‚Nein‘ sagen, Uni-Scheitern, FH-Studium, Arbeiten und dann doch wieder an die Uni gehen). Er bezieht sich sowohl auf das Leben als auch auf das Lernen selbst, das dann besser stattfinden kann, wenn man sich kennt und akzeptiert und vertritt. Der Lernprozess steht in einer Anspannung von Anpassung und Eigenständigkeit. Die von außen gesetzten Anforderungen (schulisch zu lernen, das Kind zu lieben, neue soziale Bindungen aufzubauen, Lernen wagen) werden nicht abgewiesen, aber es geht darum, sie ins Verhältnis zu den eigenen Interessen zu setzen, sie grundsätzlich anzunehmen, aber in Teilen auch zurückzuweisen. Biografische Vorerfahrungen dieses Lernprozesses beinhalten, dass seitens des Umfeldes nicht (angemessen) auf die eigenen Interessen und das eigene ‚Sosein‘ eingegangen wurde, was verunsichert. Im Laufe des Lebens – in vielen kleinen Situationen und auch durch Brüche – finden sich jedoch v.a. soziale Situationen, in denen auf Akzeptanz seitens der Gruppe/Personen gestoßen wird, die die eigene Akzeptanz stärkt (neues Umfeld (bewusst oder zufällig)). Diese Stärkung ist dann auch auf andere Felder übertragbar. Also, ich habe Erfahrungen im Leben gesammelt, wo ich sage: ‚Ich mache jetzt nichts mehr, was ich nicht mehr will. […] Und wenn ich mich verrückt mach, mach ich das einfach nicht mehr, such mir nen andern Weg.‘ (FLW3a, 556)

Zunehmende Verantwortung übertragen zu bekommen und zu übernehmen – wachsende Anerkennung – ist Teil eines psychischen Reifungsprozesses (FLW5a, 312). Auf Menschen treffen, die einen annehmen, führt zu eigener Akzeptanz (FLW5a, 51). Durch angemessenes Eingehen auf bekannte Schwierigkeiten besser lernen und so selbstbewusster werden (FLW2a, 577). Durch Unterstützung der Familie sich nicht mehr runterziehen lassen (FLW3a, 514). Durch positive Rückmeldungen (zum Können und Lernen) Lust auf Lernen bekommen, das eigene Lern-Leben ändern (FLW4a, 576). Wenn einem nicht vertraut wurde, vertraut man auch keinem anderen (FLW1a, 602).

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Die Anerkennungsthematik setzt auf einer Diskrepanzerfahrung auf und nimmt ihren Ausgang an einer darauf aufbauenden Defizitzuschreibung. Erfahrungen in anderen Situationen, in denen Anerkennung gewährt wurde, führen dann zu Anerkennung durch das Subjekt selbst, so dass die konkreten Handlungsproblematiken, die die Diskrepanz hervorriefen, bewältigt werden konnten. Zentral ist für den Aspekt der Anerkennung somit der konkrete soziale Rahmen. Wenn (institutionelles) Lernen aus dem Zusammenspiel habitueller und biografischer Haltungen und konkreten Kontexten entsteht, so zeigen diese auch, dass die Teilnahme an Lernveranstaltungen nicht als Ergebnis angesehen werden kann, sondern ebenfalls sich in diesem Zusammenspiel entscheidet und damit sowohl die konkreten Kontexte, wie auch die habituellen und biografischen Haltungen, durch neue Erfahrungen verändert. So fassen Käpplinger/Haberzeth/ Kulmus zusammen: „Umfangreiche Gelegenheitsstrukturen scheinen also biografische Eigenleistungen ebenfalls fördern zu können“ (Käpplinger/Haberzeth/Kulmus 2013, 29, Bezug auf Friebel 2009). Dabei sind Gelegenheiten nicht allein als mögliche Angebote zu verstehen. Sie müssen ergänzt werden durch Anerkennungsstrukturen. Diese ermöglichen nicht nur eine (singuläre/temporale) Teilnahme am Lernen, sondern stärken einen positiven Bezug der Subjekte zum Lernen selbst und können damit vor allem habituelle und biografische Haltungen verändern. In konkreten Lernsituationen zeigt sich erfahrene Anerkennung häufig als Ermutigung. Zum einen wird dies in unserem Material deutlich über die negativen Beschreibungen von Disziplinierungen in Bezug auf schulisches Lernen, das sehr nachhaltig Bedeutung für die eigene Lernbiografie hat. Vor allem in den Geschichten werden einige Situation beschrieben, in denen die Lernsubjekte entmutigt werden und weder als Subjekte (in ihrem So-Sein) noch ihr Lernen anerkannt werden (vgl. FLW2_LG6, FLW3_LG2, FLW3_LG6, FLW4_LG4). Mathemonster Als ich in der 1sten Klasse war, hatte ich eine Mathematiklehrerin, die auch gleichzeitig meine Tutorin gewesen war. Im Mathematikunterricht hatte sie mich jedes Mal angeschrien und mit der Faust auf dem Tisch gehauen, nur weil ich die Aufgaben nicht verstanden habe oder bzw. weil ich zu langsam war. Ich bin sehr traurig und verzweifelt gewesen, da die Lehrerin nicht verstand, das die Probleme nicht aus Trotz und Langeweile, sondern dass meine Behinderung der Auslöser dafür war. (FLW2_LG6)

Ermutigung hingegen – und hier werden vor allem berufliche Kontexte thematisiert – ermöglicht das Einlassen auf eine Lernschleife, bzw. durch lernendes Handeln die Diskrepanzerfahrung zu bewältigen.

5. B EGRÜNDUNGSPERSPEKTIVEN

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[...] mein alter Chef hat auch, war ich im Waldkindergarten Bergedorf, hat auch meine power-point mit nach Russland genommen, hat damit seinen Betrieb vorgestellt und sowas und das war so für mich wieder so ’n, so ’n Glücksgefühl, so ’n aufbauendes Gefühl. (FLW1a, 868) [...] und ich hab das gespürt: Da ist jemand, wirklich, der glaubt an dich, der glaubt an dich. Ich habe also einen ganz tollen Chef, […] da hab ich gesagt: „Äh, also das weiß ich nicht“, der: „Du kannst das.“ […] und er kannte meine Selbstzweifel. Und er war aber davon überzeugt, ich schaffe das. Und und so, und das war diese Förderung, das war so dieser Mensch, den ich viel früher schon gebraucht hätte. (FLW6a, 417)

Hieran wird bereits deutlich, dass über Anerkennung als lernendes Subjekt nicht nur konkrete Lernsituationen gemeistert werden können, sondern auch im Zusammenspiel mit der Lernerfahrung, sich auf weiteres Lernen eingelassen werden kann. Als ich einen Beruf angefangen habe und da gemerkt habe, dass das was was ich da lerne, interessiert mich. Und daraufhin … war ich auch gut und ich bekam positive Rückmeldung. Und das hat mein ganzes Lernen und Leben total verändert. Von dem Moment an, wo ich merkte, ich kann ja was und es wird es wird mir auch gesagt und ich erlebe es auch an den Reaktionen, von dem Moment an kam so die Seite an mir raus, die Freude dran hat, die neugierig war und das ist so, Gott sei Dank, geblieben. Ne? Also es war wirklich so dieses (/) was ich hier beschrieben habe ist eigentlich das Gesamtbild meines Lernens, meine Möglichkeiten völlig unterdrückt in dieser Schulsituation (-) und in dem Moment, wo ich es frei bestimmen konnte, Sie sagten es ja vorhin auch, ne, ich war überhaupt nicht, ähm, eigenbestimmt. In dem Moment, wo ich selber bestimmen konnte, war alles gut. Ne? (FLW4a 577)

Die ‚Trotzreaktionen‘ kann darin bestehen, dass wenn gesagt wird, das schaffst du nicht – dann wird es trotzdem oder auch deswegen gemacht (Kind bekommen, in die Schule gehen, für sich zu sorgen, Tischlerin werden) [FLW1], aber auch als ‚Trotzreaktion‘ auf Anforderungen und dann nicht zu lernen (u.a. Pubertät) (FLW2a,795). (3) ‚Ich selbst zu werden und zu sein‘ wird als Lernaufgabe bezogen auf Authentizität und Selbstsicherheit angenommen. Verharren im Bekannten scheint zunächst als sicherster Weg die eigenen Authentizität zu schützen. Es geht bei selbstbestimmtem Lernen nicht nur um Horizonterweiterung, sondern auch darum, das eigene So-Sein nicht verändern zu müssen und sich Umstände zu suchen, in denen das möglich ist (FLW1a, 122).

102 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Aber, ich muss sagen: So, wie ich bin, bleibe ich. Ich kann nicht anders sein. Ich lerne jeden Tag. Ich nehme alles mit, was ich mitnehmen kann. Aber (--) tiefer wird nicht gehen. ((lacht)) Das ist das. (FLW3a, 655)

Für die eigene Biografie spielt das Lernen von Selbstsicherheit eine große Rolle. Dies findet in unterschiedlichen Bezüge seine Ausprägung: In Bezug auf Arbeit und Leistungsanforderungen, in Bezug auf das Vertrauen in sich selbst (in unterschiedlichen Kontexten – bzw. mit Bezug auf die eigene Person), in Bezug auf biografische Reflexionsprozesse, in Bezug auf Krisen und Brüche und als Trotzreaktion. Dieser Lernprozess verweist auf gesellschaftliche Bedingungen, die Selbstsicherheit nicht wie eine Selbstverständlichkeit hervorbringen, sondern dies für Subjekte zu einer Herausforderung, zu einer Handlungsproblematik und im Verlauf zu einem Lernprozess machen. Diese Bedingungen beinhalten, dass die Subjekte in ihrem jeweiligen So-Sein nicht anerkannt werden, sondern eine Unterordnung unter die Bedingungen, Normen und Autoritäten von ihnen verlangt (Leistung, Arbeit) wird. Eine Unterwerfung aber bedeutet eine weitere Bedrohung des Subjekts (verrückt werden, krank werden, einsam sein). Die Aspekte in dem Prozess selbstsicherer zu werden zeigen sich zum Teil in sehr konkreten Situationen (Trotz-Lernen; Fragen-Stellen; Brüche-Wagen) und vor allem im Reflexionsprozess kann dieser Veränderungs- und Handlungsprozess als wichtiger Lernprozess des Lebens bezeichnet werden. Diese Reflexionsprozesse, in denen in Handlungen erst im Nachhinein Lernprozesse entdeckt werden, sind in der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie nicht beachtet. In diesen Reflexionsprozessen findet Lernen auf zwei Ebenen statt: Als Bewusstwerden in der aktuellen Situation und im Umdeuten einer vergangenen Handlungssituation in eine Lernsituation. Dieses ‚nachträgliche‘ Lernen ist jedoch nicht als ‚mangelnde Bewusstheit‘ der damaligen Situation zu verstehen, sondern die Situation entwickelt ihre Bedeutung als Lernsituation erst im Kontext nachfolgender Erfahrungen – in biografischer Perspektive. Es verweist damit auf die Verschränkung und Aktualisierung von biografischer Situiertheit und Lernsituation. Bei der Reflexion biographischer Reifungsprozesse als Lernweg zu mehr Selbstsicherheit spielt u.a. Aufschichtung von Erfahrungen eine Rolle. In negativen Entwicklungen kann in der Rückschau auch Positives entdeckt werden, so dass auf zukünftige Handlungsproblematiken anders – sicherer – reagiert werden konnte, der Wille entsteht, sich nicht unterkriegen zu lassen. Auch ist nachträgliches Eigenlob möglich, was impliziert, dass nun die eigene Akzeptanz so groß ist, dass man sich selbst loben kann und zudem stärkt dieses Lob weiter die eigene Akzeptanz.

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Auffallend an diesem Aspekt der Begründungsperspektive ‚Identität‘ ist, dass sie sich nicht vor allem aus manifesten Aussagen der Erzählungen speist, sondern als explizites Postulat im Material auftaucht. Die Teilnehmenden benennen immer wieder und thematisieren dies auch in den Geschichten, dass zum Zusammenhang ‚Biografie, Umstände und Lernen‘ ihre wichtigste Lernerfahrung in der Rückschau darin besteht, sie selbst zu werden und dies auch mit Vertrauen und Sicherheit handelnd weiterhin vertreten. Dieser Lernprozess findet in institutionalisierten und in informellen Kontexten statt (Familie, Arbeit, Freundeskreis). Es ist kein expliziter Lernprozess oder gar Training für mehr Selbstsicherheit, sondern eine relevante, in der Reflexion entstandene Erkenntnis. Sie verweist auf Kontextbedingungen, die dies nicht ‚von sich aus‘ bieten, und darauf, dass dies ein Lernprozess ist – es wird nicht selbstverständlich vorausgesetzt, sondern muss expliziert werden. Es ist eine Herausforderung, die sich im Leben in dieser Gesellschaft stellt. Die Aussage einer Teilnehmerin pointiert dies deutlich: Ich hab die Karte genommen und da steht drauf ‚Wenn ich will, bin ich stark‘ und ich dachte mir, naja, das ist irgendwie so ’ne Lebensweisheit, die muss man auch erst mal lernen. (FLW5b, 70)

Angesichts von Problemen, Diskrepanzen, Krisen erscheint es angebracht, sich selbst herauszuziehen, zu den eigenen Schwächen und Stärken zu stehen, die eigenen Fähigkeiten zu schätzen und sich angemessene Ziele zu setzen (FLW2a, 578); Wahrnehmen und entscheiden, was für einen gut ist (FLW1a, 525ff.). Lernen ist der Weg, auf dem gelernt wurde, zur eigenen Person (mit Stärken und Schwächen) zu stehen. Krisenerfahrungen spielen hierfür eine Rolle, ebenso wie Erfahrungen in Gruppen/Kontexten, in denen man Mut erlangen konnte. Dieser Lernprozess kann schleichend (nach und nach z.B. mehr Fragen stellen) erfolgen oder auch mit einem Bruch. Häufig geschieht dies tröpfchenweise. 5.1.2 Erwerbsarbeit Die Erwartungen an Leistung und daraus gezogene Anerkennung verbindet sich in der aktuellen Gesellschaftsformation immer noch mit Erwerbsarbeit. Allen Diskussionen um das Ende der Arbeitsgesellschaft zum Trotz ist eine sinkende Relevanz für die Entwicklung der Individuen kaum festzustellen – im Gegenteil: Je problematischer die Situation in der Erwerbsarbeit wird, desto deutlicher tritt ihr Stellenwert für die Persönlichkeitsentfaltung hervor. Man kann sogar – zynisch formuliert – behaupten, dass die Schwierigkeiten und psychischen Probleme der Erwerbslosen Belege dafür sind, welche Bedeutung der Einbezug in die

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nach wie vor primär als Erwerbsarbeit organisierte gesellschaftliche Arbeitsteilung hat. Letztlich geht diese theoretische Position auf Marx zurück, der den Begriff des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur genau da verortet, wo er die Notwendigkeit der Arbeit als gebrauchswertschaffenden Prozess hervorhebt. „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.“ (Marx 1968 MEW 23, 192) „Der Arbeitsprozeß [...] ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gemeinsam.“ (MEW 23, 198)

Die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer konkreten historischen Form bestimmen demgemäß auch weitgehend die psychischen Entwicklungsmöglichkeiten der Person. Der Arbeitsbegriff ist mit einer fundamentalen Paradoxie gezeichnet. Die Arbeit wird einerseits begriffen als Quelle des Reichtums, in ihren besonderen Formen aber bewirkt sie andererseits die Reduktion des Menschen zu einem dumpfen, geistlosen Anhängsel der Maschinerie. Zwei reale Effekte technisch-industrieller Arbeit – potenziert in ihrer automatisiert-informationellen Form – begründen diesen Prozess: die Erfahrung der Entfremdung in der Arbeit sowie die Freisetzung von der Arbeit liefern die entsprechenden Bewertungsmuster. Die Menschen werden zu Anhängseln der Maschinerie degradiert. Demgegenüber gibt es aber grundsätzliche Schranken des Heraustretens menschlichen Arbeitsvermögens aus dem Produktionsprozess. Auch im Zuge der Automation sind betriebliche Produktions- und besonders Innovationsprozesse an das mit den Arbeitstätigkeiten verbundene Erfahrungswissen gekoppelt. Die konkreten Aktivitäten sind gekennzeichnet durch ihre Vielfältigkeit und Ganzheitlichkeit, ihre Sensibilität und ihre Erfahrungsgebundenheit. Auch die Automation vollzieht sich nicht als eindimensionale, sondern als widersprüchliche Entwicklung, denn sie ebnet zudem die Vielfalt menschlicher Kommunikationsstrukturen ein und richtet das Arbeitsvermögen an der instrumentellen Logik der Computersysteme aus. Erwerbstätigkeit – als Tauschwertform von Arbeit – hat mittlerweile ebenfalls vielfältige Formen angenommen. Dadurch entstehen neue Übergänge zu andern Arbeits- und Tätigkeitsformen:

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• • • • • • •

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zwischen vollzeitiger und verkürzter Beschäftigung zwischen abhängiger und selbständiger Erwerbsarbeit zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung zwischen Bildung und Beschäftigung zwischen unbezahlter und bezahlter Tätigkeit zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit zwischen Erwerbsarbeit und Ruhestand (Faulstich 1998, 65).

Arbeit in einem gebrauchswertbezogenen Sinn meint die Gesamtheit der nützlichen Tätigkeiten von Menschen. Unter kapitalistischen Bedingungen ist sie tauschwertbezogen organisiert vorwiegend als Erwerbstätigkeit. Ihre Relevanz für die Entwicklung der Persönlichkeit umfasst mindestens die folgenden Aspekte (vgl. Frese 1985): • • • • • • • • •

Teilhabe an der gesellschaftlichen Form in der Auseinandersetzung mit der Natur, aktive Teilnahme an der Produktion gesellschaftlich nützlicher Güter bzw. Aktivitäten, Entfaltung der Kompetenzen einer Person in der Arbeitstätigkeit, Inanspruchnahme eines großen Teils der Lebenszeit, Vorgabe der Strukturen der Lebenszeit in Tagen, Wochen, Jahren, Zuweisung von Einkommensmöglichkeiten, Einschätzung des Prestiges und sozialen Status einer Person, Ermöglichung von sozialen Interaktionen in der Arbeitssituation und Entstehung eines Systems von Normen und Werten innerhalb der Arbeit.

Institutionelles und auf Erwerbsarbeit bezogenes Lernen spielt in den Lebensläufen und der Reflexion von Lernen in den Lernwerkstätten eine große Rolle. Diese Form zu Lernen ist selbstverständlich, Erwerbsarbeit – auch deren Wechsel – zentrale Bezugspunkte. Es gibt Übergänge, [...] zwischen, zwischen Berufen, äh. Derer habe ich mehrere. Also, äh, (-) Maschinenbauzeichner gelernt. Maschinenbaustudium gemacht. Also ich bin Ingenieurin. Äh, war lange im technischen Bereich tätig. Betriebswirtschaftlich bin ich, äh, Fachkauffrau. Äh, im Beschaffungsmanagement war ich tätig, allerdings auch technisch. Noch mehrere Fernstudiengänge. Also das zu meiner, äh, vierzigjährigen Berufstätigkeit. (FLW4b, 64)

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Arbeit ist der zentrale Bezugspunkt: [...] also ich hab eigentlich (--) immer gelernt. Ganz abgesehen von den Weiterbildungen, die über Konzerne angeboten worden sind. Diese Vertiefung der fachspezifischen Thematik, die sich dann durch die berufliche Tätigkeit ergeben hat. Das will ich gar nicht erwähnen. Aber, ja. (FLW4b, 64)

Erwerbsarbeit und deren Wechsel spielen als Einkommensgrundlage auch in Bezug auf die konkrete Lernsituation eine wichtige Rolle. Die Begründungsperspektive Erwerbsarbeit kontextualisiert Lernen mit Bezug auf Teilhabe am Arbeitsmarkt, Lebensstandard und Leistung. (1) Ziel dabei ist Teilhabe am Arbeitsmarkt: „Bloß man will ja dann auch wieder ins Arbeitsleben zu kommen“ (FLW2a, 472). Auch für junge Erwachsene spielt die Teilhabe am Arbeitsmarkt eine grundsätzliche Rolle. Es wird thematisiert, dass die aktuelle Lernsituation eine Zwischenstation auf dem Weg zu dem (beruflichen) Ziel sei, „hoffentlich ’ne Ausbildung zum Tierpfleger zu kriegen“ (FLW1b, 84). „Also das hier ist eher ’ne Zwischenstation als mein tatsächliches Ziel“ (ebd.). Das Freiwillige Soziale Jahr spielt eine Rolle für die persönliche Orientierung, welche nicht zuletzt auf Erwerbsarbeit bezogen ist, wie es ein Teilnehmender zum Ausdruck bringt: Bei mir war das FSJ auch so, dass ich so beruflich eigentlich nochmal voll umgeschwenkt bin, was ich eigentlich danach machen will und hab das eher auch (mit einem Praktikumsjahr) angefangen, weil ich irgendwie, irgendwie Überbrückungszeit brauchte und die FSJlerin vor mir aufgehört und ich konnte das dann übernehmen und das war, glaub ich, mein größtes Glück und dadurch dieses ganze pädagogische, das ist ja auch machen will, ähm, das passte einfach total gut. Und das war auch dieses Theaterpädagogik auch an sich, überleg’ ich auch, ob ich das mal irgendwie dazu irgendwie als Master studiere, oder so. (FLW5a, 435).

Dem FSJ wird auch insofern Bedeutung beigemessen, als dass darüber Einblicke in die Erwerbsarbeitswelt gewonnen werden konnten: „Um mal zu gucken, wie ist arbeiten überhaupt?“ (FLW5a, 433). Auch für das Erlenen von Fähigkeiten wie Selbstorganisation, die zuvorderst in ihrer Bedeutung für den Erwerbsarbeitsmarkt thematisiert werden, wird das FSJ als hilfreich eingeschätzt: Also und auch auf eigenen Füßen stehen und das konnt’ ich vorher alles irgendwie nicht so richtig gut mit, mit den Bewerbungen schreiben, da war ich immer zu spät und immer alles auf den letzten Drücker, so wie du. Das mach ich heute immer noch bisschen, aber

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nicht mehr so schlimm wie früher. Also meine Bewerbungen waren alle immer recht pünktlich (-) da, glaub ich. Und, und dieses selbst Organisieren hab ich viel gelernt. (FLW5a, 429)

(2) Mit der Erwerbsarbeit verbunden zeigt sich das Interesse den eigenen Lebensstandard zu sichern: Man möchte ja für vernünftiges Geld arbeiten. Weils so ist, weil, ohne Geld läuft das ja nicht. Man will ja dann (ein vernünftiges) Leben, auch. (FLW2a, 472)

Auch wenn die Lernanstrengungen dies nicht garantieren können. Erwerbsarbeit ist hierbei mit der ökonomischen Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu sichern, verbunden: Ich muss sehen, dass ich mein Auto abbezahlt krieg. Ich will sehen, dass die Kredite gut laufen. (FLW2a, 472).

Insbesondere in den forschenden Lernwerkstätten mit Umschüler_innen kommt dem Aspekt der Weiterbildung als Sicherung des Lebensstandards große Bedeutung zu. Die Weiterbildung ist Mittel und Weg, um die eigene Lebensqualität abzusichern. Charakteristisch ist dabei, dass es nicht allein um eine Art Grundabsicherung geht, sondern um Lebensqualität im Sinne eines „vernünftigen Lebens“ und einer „guten Zukunft“ (FLW2a, 472). Dieses zu erreichen, wirkt als Motor, auch wenn Lernen (in diesem biografischen Abschnitt) als Anstrengung wahrgenommen wird. Es gilt, den Wiedereintritt ins Arbeitsleben zu erreichen, der durch die Weiterbildung ermöglicht wird und dadurch ‚gutes Geld‘ zu verdienen. Aber, jetzt hat man ja auch ein Ziel, man will das ja vernünftig fertig machen. Man will ja das vernünftig abschließen. Weil, ich möchte ja vernünftig in Arbeit kommen, weil ich möchte ja jetzt als nächstes mir jetzt ’n Haus holen. Das ist mein Ziel, deswegen werde ich jetzt schön rackern, die Kohle verdienen und dann Zack! Haus!. Das ist das nächste Ziel. (FLW2a, 771.) Man will ja dann auch eine gute Zukunft haben, deswegen versucht man dann nochmal zu lernen. Natürlich ist das viel anstrengender. Bloß man will ja dann auch wieder ins Arbeitsleben zu kommen, man möchte ja für vernünftiges Geld arbeiten. (FLW2a, 472)

Auch für das Aufrechthalten des beruflichen Status wird Lernen thematisiert: Weiterbildung als Teil und mitlaufendes Thema in der beruflichen Laufbahn/

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Tätigkeit. Berufliche Weiterbildungen werden rückblickend zusammenfassend als Teil lebenslangen Lernens gesehen. (3) Erwerbsarbeit als Begründungsperspektive für Lernen beinhaltet immer auch die Dimension von Leistungsdruck. Dieser verbindet sich mit einem sorgenvollen Blick in die Zukunft: Das fällt halt allen schwer, in der heutigen Zeit, dass man immer hundert Prozent, manchmal über hundertzwanzig Prozent Leistung erbringen muss. ((Räuspern)) Und dann verfällt man in so Gedankenrausch und sagt: ‚Oh Mist! Ich habe noch dreißig Jahre zu arbeiten. Wie mache ich das in der Arbeit?‘ (FLW3a, 540)

In der Reflexion der eigenen (Berufs)Biografie ist Stresserfahrung jedoch ebenso ein Lernprozess gewesen, der das Subjekt zunehmend in die Lage versetzte, mit Anforderungen umzugehen und dem Leistungsdruck etwas entgegenzusetzen, um handlungsfähig zu bleiben/werden. Und dass man dann halt auch nicht Sachen macht, wo man unbedingt Leistung erbringen muss. Man muss heutzutage gar nichts mehr. Dass man halt sagt: ‚Gut.‘ Dass man halt selber seinen Weg sich auch aussuchen kann. Also, man darf sich auch nicht stressen lassen wegen anderen. Dass die sagen: ‚Okay, du musst das machen - du musst das machen.‘ Nein, muss ich nicht. Da sucht man sich einfach einen Platz aus, wo man sagt: ‚Gut, da passe ich rein, da passe ich mit meinen Vorteilen rein.‘ Als wie mit meinen Nachteilen, dass ich jeden Tag diese Nachteile immer hocharbeiten muss. So macht man sich auch nicht kaputt im Kopf. So gehe ich die Sache ran. (FLW2a, 544)

Die Handlungsperspektive ist hier beim einzelnen Individuum verortet, während die Leistungsanforderungen als gesellschaftliche expliziert werden: Also, ich denke, das wird von der Gesellschaft her, ähm, auferlegt, (-) wie wir zu sein haben oder sein sollen um, keine Ahnung, eben den Job haben zu können oder äh, das und das Klischee zu erfüllen. Also, ich denke, das ist meine Meinung, das wird von der Gesellschaft vorgegeben. (-) Und daran messen sich eben halt viele. Und merken dann eben irgendwann hinterher (-), dass sie das nicht erfüllen können. (FLW3a, 502) Auch deshalb, weil der Einzelne die (Leistungs-)Anforderungen der Gesellschaft nicht immer erfüllen kann, muss man lernen, „sich so zu nehmen, wie man ist, damit umzugehen und zu leben“ (FLW3a, 492).

Lernen wird hier auch in verunsicherten Lebensumständen bedeutsam. Es beinhaltet aber selbst auch Verunsicherungen. Der Ausgang des Lernens wird zwar

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antizipiert, ist jedoch offen und kann sich im Laufe des Lernprozesses verändern. Dieser Verunsicherung wird – so wird in der Reflexion deutlich – ebenfalls mit einem Lernprozess begegnet. Bedeutsam für Lernen in auf Arbeit bezogenen institutionellen Lernsetting ist: ‚Dazu stehen, was man nicht kann‘, ‚Der Weg zum Frage-Mut‘ oder auch ‚Mut zur Lücke‘ (Titel von Lerngeschichten: FLW3_LG1, FLW2_LG2, FLW2_LG4). Mut steht hier am Ende eines Lernprozesses. Lernen macht also Mut. Ebenso erfordert Lernen Mut – in mehrfacher Hinsicht. Zum einen steht das Offenlegen von ‚Lücken‘ im Können/Wissen als notwendiger Teil eines Lernprozesses im Gegensatz zum Leistungsanspruch: „Ich muss den Mut haben etwas anzusprechen, was vielleicht auch mal unangenehm ist“ (FLWa, 545). Angst – als Gegenstück zum Mut – richtet sich darauf, die Anforderungen, die im Rahmen des auf Erwerbsarbeit bezogenen Lernens gestellt werden, nicht erfüllen zu können bzw. nicht damit umgehen zu können, wenn die letzte Schulerfahrung bereits längere Zeit zurückliegt. Es ist von Ängsten die Rede, die damit einhergehen, „sich dem Lernen [nochmal] zu stellen“ (FLW2a, 458). Dabei bilden auch negative Lernerfahrungen in der Schulzeit einen Hintergrund für auftauchende Angst bzw. notwendigen Mut: Aber das war dann so, wenn ich denen irgendwas erzählt habe, dann war das denn wieder herum, dass die anderen Schüler meistens immer ausgelacht haben, irgendwie, weil man dann in dem Sinne wieder was falsch gesagt hat und dann kommt das, dann legt sich das mal wieder negativ auf diesen Lernen. Dann denkt man irgendwie auch so, wieso, wenn die mich schon auslachen, dann sach ich lieber nachher gar nichts. (FLW2a, 609; vgl. auch FLW3a, 514)

Mut zu entwickeln wird mit dem Gelingen im Erwerbsarbeitsleben korrespondierend verstanden. Tragend dafür ist eine langfristige Perspektive. Z.B. ein ‚Traumberuf‘. Gleichzeitig braucht es Hartnäckigkeit und Widerstand gegen Abwertung – ‚Das schaffst Du nicht‘: Und das war halt eben auch für mich ’n Entwicklungsprozess, […] musste und wollte und hab das dann auch erst im Nachhinein als positiv empfunden zu reifen, Verantwortung zu übernehmen, erwachsen zu sein, Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen zu lernen, dazu zu stehen, was man macht und sagt und somit kam es dann auch, dass ich’s dann auch endgültig geschafft hab, mich in der Tischlerei durchzusetzen. Ähm, mein Traumberuf. Was mir auch immer ausgeredet wurde. „Das ist ein Männerberuf, was willst du da, das schaffst du nicht“ (FLW1a, 69).

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5.1.3 Biografie Hieran – an die Fähigkeit, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen – schließt die biografische Forschung in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft mit dem Begriff der ‚Biografizität‘ an (Alheit 1990; zum Überblick: Alheit/Dausin 2002). Mit dem Begriff ‚Biografizität‘ wird eine Fähigkeit von Menschen in modernen Gesellschaften konzipiert, eigene Erfahrungen an neue gesellschaftliche Herausforderungen anzuschließen und dabei Wege für individuelle und soziale Problemlösungen zu finden. In der Regel haben wir das Gefühl, ‚Organisatoren‘ unseres Lebens zu sein. „Selbst wenn die Dinge anders verlaufen als wir uns gewünscht oder vorgestellt hatten, nehmen wir Korrekturen unserer Lebensplanung gewöhnlich unter dem Eindruck persönlicher Autonomie vor. D.h. die mehr oder minder bewusste Disposition gegenüber unserer Biografie lässt sich als eine Haltung begreifen, die dem Leben – mit allen Relativierungen – eher aktiv und positiv gegenüber steht.“ (Alheit 6.10.2006: Vortrag an der Universität Flensburg)

Fortsetzend in der Sinn-Perspektive untersucht Biografieforschung biografische Materialien (z.B. autobiografische Erzählungen, die meist auf der Basis narrativbiografischer Interviews zustande kommen), um herauszufinden, wie Menschen Wirklichkeit konstruieren, wie sie gesellschaftliche Zuschreibungen aufnehmen, wie sie soziale Regeln und Strukturen reproduzieren oder variieren und dabei individuellen Eigensinn entwickeln. In biografischen Erzählungen verknüpfen sich informelle, formelle, zufällige, erfahrungsbezogene und alltagsorientierte Lernformen, denn in der Erfahrungsaufschichtung wird zwischen ihnen keine analytische Trennung vollzogen. Gleichwohl lassen sich durch die Analyse Verknüpfungsmuster und Faktoren herausarbeiten, die diese ineinandergreifenden Lernprozesse beschreibbar machen. Das Konzept Biografie verbindet seinem Anspruch nach individuellen und gesellschaftlichen Perspektiven. Biografie konzipiert die Aneignung der Gesellschaft und gleichzeitig die Konstitution von Gesellschaft. Subjektivität wird also nicht als autonome Individualität verstanden, sondern als gesellschaftlich konstituiert. Genau dies macht das Konzept Biografie spannend. Die Relevanz ergibt sich vor allem durch die Versuche, gesellschaftliche Situationen und individuelle Erfahrungen zusammenzubringen. Dabei wird zum Hauptlernziel, Problemsituationen und Biografien zu bearbeiten und Handlungsmöglichkeiten herzustellen. Ein Ansatz, der besonders erfolgversprechend zu sein scheint, ist das Konzept der kritischen Lebensereignisse (Filipp 1981). Z.B. beim Verlassen des Elternhauses, beim Übergang vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem, beim Wie-

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dereintritt in den Beruf ergeben sich Risikolagen aufgrund des Statuswechsels. Solche riskanten Prozessstrukturen im Lebensablauf sind gekennzeichnet durch große Handlungsautonomie bei gleichzeitig drohenden Kontrollverlusten. Herausforderungen sind dabei nicht die Ereignisse selbst, sondern das Entscheidende ist die Biografie, auf die sie treffen. Die Geburt einer Tochter kann für eine junge Frau zum Unglück werden, für einen späten Vater zum Glück. Die Ausbreitung von Patchwork-Existenzen, ‚Bastelbiografien‘ und ‚Landstreicher-Moral‘ wird in vielfältigen Alltagserfahrungen bestätigt. Besonders bei kritischen Lebensereignissen und riskanten Statuspassagen wird deutlich, dass das Konzept ‚Biografie‘ selber fragwürdig geworden ist. Pierre Bourdieu hat in seinem Aufsatz über „Die biographische Illusion“ (Bourdieu 1990, 76-81) unterschieden zwischen ‚Lebensgeschichte‘ und ‚Laufbahn‘. Er provoziert Misstrauen gegenüber der vertrauten Alltagsvorstellung „Lebensgeschichte“ (ebd. 76) und kennzeichnet sie als „Konstruktion des perfekten sozialen Artefakts“ (ebd. 80). Seine Kritik führt ihn dazu, „den Begriff der Laufbahn (trajectoire) als eine Abfolge von einander durch denselben Akteur (oder eine bestimmte Gruppe) besetzten Positionen zu konstruieren, in einem ‚sozialen‘ Raum, der sich selbständig entwickelt und der nicht endenden Transformationen unterworfen ist.“ (Ebd. 80)

Biografische Ereignisse bestimmen sich demgemäß als wechselnde Platzierungen im sozialen Raum. Diese Verortungsstrategien sind im wesentlichen Konstruktionsleistungen im Herstellen sozialer Wirklichkeiten. Gelernt wird in verschiedenen sozialen Feldern und eingebunden in einen relativ stabilen Habitus. Ein Hauptpunkt der anschließenden Diskussion bezieht sich auf die Grade der Festgelegtheit vs. der Offenheit des Handelns bzw. die Flexibilität und Variabilität des Habitus. Dies macht sich dann fest an dem Streit um Identität und Lebensführung. Biografie als Gegenstand von Lernen lässt sich aus den Werkstätten als ‚biografische Reflexion‘ entwickeln. Die eigenen Lebenserfahrungen, „das Leben zu verstehen“ ist eine „echte Lebensaufgabe“ (FLW4a, 219ff). Lernen als Gegenstand der Biografie ist mit Bezug auf Erwerbsarbeit und in Statuspassagen relevant und kennzeichnet Neuorientierungsphasen: [...] dass ich so beruflich eigentlich nochmal voll umgeschwenkt bin, was ich eigentlich danach (FSJ, RB) machen will. (FLW5a, 435)

Auch lässt sich hierbei eine Abarbeitung an ‚Normalbiografien‘ erkennen, da durch die Veränderungen in der aktuellen Arbeitsgesellschaft eine „Entstandardisierung der Erwerbsbiografien“ stattfindet (Dill/Keupp 2010, 8).

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Die Begründungsperspektive: Biografie kontextualisiert Lernen mit Bezug auf vorangegangene (Lern-)Erfahrungen, Statuspassagen und Vorstellungen einer Normalbiografie. (1) Der Umgang mitvorangegangenen Lernerfahrungen muss jeweils biografisch erarbeitet werden. Eine weitere Herausforderung, die sich im Rahmen der Umschulung aus dem Umstand, dass die eigene Schulzeit bereits länger zurückliegt, ergibt, ist der Umgang mit neuen bzw. ungewohnten Lernformen bzw. -strategien wie das selbständige Recherchieren nach Informationen im Internet, die von den Umschüler_innen verlangt werden: Also, wir sind schon alle soweit aus der, also [Hintergrund: Richtig.] in unserem Alter, zwanzig, fünfzehn Jahre aus der Schule und dann (/) das heutzutage Kinder in der Schule alle selbständig machen und Internet und so, ich hatte nicht mal Internet in meinen Zeiten. Nicht mal beim Studium, ja. Also das war alles so, wie es ist und auf einmal dieses ‚Dann gucken Sie mal, recherchieren Sie mal!‘. Ich weiß nicht, wo ich recherchieren sollte und so viel Informationen kommt auf mich zu, dass ich sage: ‚Was ist hier wichtig? Ob das überhaupt die Seite, die ich vertrauen kann?‘ (FLW3a, 570f.)

(2) Die Bereitschaft zu Vertrauen spielt besonders im Kontext der Statuspassage Jugend-, Erwachsenenalter eine wichtige Rolle. Wenn das FSJ mit einem Auszug aus dem Elternhaus einhergeht, erlangt die eigenständige Organisation des Alltags eine noch stärkere Bedeutung: Ja, also ich persönlich hab sehr, sehr viel gelernt, in diesem Jahr, also auch, weil ich von Zuhause weg gezogen bin. Und es war ja alles vollständig neu. So seinen eigenen Alltag irgendwie organisieren und ohne ’nen Rettungsanker (Mutti) […] Ich würde das auch als Lernerfolg bezeichnen, was ich diesem Jahr da hatte. (FLW5a, 410)

In der Statuspassage Jugend-Erwachsensein erhält die Übernahme von Verantwortung einen hohen Stellenwert. Dabei hilft die Verantwortung für andere (Kinder, Tiere, Freunde) auch, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. (3) Biografische Wandlungen akkumulieren sich im Bewusstsein früher als Normalbiografie. Es gilt die Unterstellung einer dreigeteilten Sequenz von Lebensphasen als Kindheit und Jugend, Erwachsensein und Alter. Im Selbstverständnis wurde das Bild des als normal unterstellten Lebensbogens aber zunehmend ersetzt durch unstete, individuelle Kurven, die das Auf und Ab von Lebenskrisen und kritischen Ereignissen (Filipp1981) nachzeichnen: Krankheiten und Unfälle, neue Bindungen und Trennungen, Ein- und Umzüge usw. werden

5. B EGRÜNDUNGSPERSPEKTIVEN

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als nicht mehr kontinuierlich und nicht mehr beherrschbar wahrgenommen: Lernen hilft, um nach und nach wieder Perspektiven zu entwickeln; auch ‚TrotzLernen‘. Es entsteht Klarheit darüber, sich in anderen Bereichen durchzusetzen und zu sich zu stehen, Lernen, sich um sich selbst zu ‚kümmern‘, hilft: bei der Bewusstwerdung eines Missbrauchs, nach Rausschmiss aus der Schule, nach versuchtem Selbstmord, der folgenden Therapie, beim Aufenthalt in der Klinik. Langsam neu zu lernen, wieder Lebensmut zu finden, das Leben zu schätzen, mit der gespannten Pistole am Kopf zu lernen für eine tröpfchenweise Veränderung (FLW1a, 632 ff. und 432). Manche Ereignisse führen zu Brüchen: gewollten oder geschehenen, beherrschbar oder erlittenen, zufälligen oder absehbaren. Z.B. ein Kind zu bekommen, plötzlich Verantwortung zugesprochen und übernehmen zu müssen; ein Auslandsaufenthalt (England): sich bewusst in den Bruch zu begeben, weil es in den alten Wänden nicht auszuhalten war; hier Menschen zu treffen, die ähnlich waren und dadurch selbstsicherer werden; der Leerlauf der Bundeswehr ermöglichte einen neuen Start (FLW1a; FLW3a, 877). Wenn man jedoch als leistungsstark gilt, kann das einen hohen Erwartungsdruck erzeugen, der zu Blockaden führt. Es kommt allerdings oft zu eher langsamen Veränderungen. Erst im Nachhinein wird festgestellt, dass ein Lernprozess stattgefunden hat. Konkurrenz und Leistungsdruck dagegen verhindern das Einlassen auf Lernen – auch das muss gelernt werden: „Dies ablegen!“ (FLW3a, 766) In kritischen Lebensereignissen, Krisen- und Bruchsituationen vollzieht sich der Lern- und Handlungsprozess nicht immer mit einem ‚Knall‘. Häufig gibt es eine starke Erfahrung, aber „man lebt trotzdem im Endeffekt weiter damit“ (FLW1a, 643) und über weitere soziale Beziehungen wird deutlich, dass eine Veränderung notwendig wird, die sich dann eher ‚tröpfchenweise‘ vollzieht. Diese Veränderung wirkt sich dann auch auf andere Lebensbereiche aus. Wichtig für den Veränderungswillen ist, dass es eine Erfahrung gibt, die bewusst werden lässt, was einem zugestoßen ist, das und wie die eigene Lebensqualität und Handlungsfähigkeit bedroht wird „und dann hab ich’s verstanden und hab festgestellt, ok, jetzt kann ich auch was tun.“ (FLW1a 487 ff.)

Der biografische Verlauf vollzieht sich dann von erfahrener Ohnmacht zu mehr Handlungsfähigkeit und Sicherheit. Der Prozess wird von ‚außen‘ angeregt und setzt ‚innere‘ Bewegungen in Gang. Die Ausrichtung verändert sich hin von Festgelegtheit zu zunehmender Offenheit. Dieser Prozess kann Brüche beinhalten, wird z.T. an diesen festgemacht, wird jedoch fallweise auch als kontinuierlich beschrieben.

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Das eigene Leben und Lernen wird zunehmend in die eigene Hand genommen; Lerngruppen bilden, Kind akzeptieren, weiterhin für Abweichung eintreten, eigene Erfahrungen an andere weitergeben. Weiterbildung als letzte Chance und Ausweg zur eigenen finanziellen Unabhängigkeit und zu einem selbstbestimmtem Leben, als Rückkehr oder Ankommen in ‚Normalbiografie‘ – z.B. nach Krankheit, Behinderung oder anderen biografischen Brüchen und Veränderungen – kommt tragender Stellenwert zu. Dies gilt auch für die Thematisierung als Neustart, sowohl in beruflicher als auch in persönlicher Perspektive. Es gibt einen Art doppelten Neustart: Die Möglichkeit, bereits in der Weiterbildung nochmal neu anfangen, aber auch im Anschluss daran neu (oder überhaupt) durchstarten zu können. Andererseits ist ja aufgefallen, dass alle, die hier am Tisch sitzen, dass ja die Wertigkeit des Lernens für die Zukunft alle soweit innebegriffen haben. Nur weil’s ja jetzt (/) für viele ist das ja jetzt nochmal, geht’s um die letzte Wurst, sag ich mal, das ist die letzte Chance noch mal, ne. (FLW2a, 419) […] bin dann eben halt hier um irgendwas halt, (-) ja (-) überhaupt (nur/neu) anzufangen oder überhaupt dann anzufangen und dass ich dann eben halt spätestens dann irgendwie in einem Jahr dann eben halt richtig rumstarten, also neu starten kann. (FLW2a, 53) Viele sind auch hier, vielleicht ähm, weil weil die glauben, das ist ihre letzte Chance und unter so einem Druck, ne, deine letzte Chance, deine letzte Ausbildung oder Umschulung oder sonst irgendetwas. (FLW2a, 493f.)

Die Chance besteht auch darin, völlig neu anzufangen, einen Neustart zu beginnen: […] bin jetzt hier, damit ich endlich neu starten kann, damit ich durchstarten kann wieder. (FLW2b, 55) Und ähm, ja das ist jetzt hier noch mal so reset und noch mal von vorne. (FLW2b, 51) […] bin dann eben halt hier um irgendwas halt, (-) ja (-) überhaupt (nur/neu) anzufangen oder überhaupt dann anzufangen und dass ich dann eben halt spätestens dann irgendwie in einem Jahr dann eben halt richtig rumstarten, also neu starten kann. (FLW2b, 53) Das ist dann schon (-) ganz wichtig, eigentlich. Das ist hier genau das Gleiche wieder. Man kommt hier rein, keiner kennt einen. Ähm, man kann wieder ganz von vorne anfangen. (FLW3a, 885-888) Ja und jetzt durch diese Ausbildung bei der ..., halt wieder einen neuen Versuch. Ich wollte erst Sozialpädagoge werden, hab auch viele Praxis aus ’m Kindergarten, also so Erzieher wollte ich werden, war auch sehr erfolgreich, mein, mein alter Chef hat auch, war ich im Waldkindergarten Bergedorf, hat auch meine Powerpoint mit nach Russland genom-

5. B EGRÜNDUNGSPERSPEKTIVEN

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men, hat damit seinen Betrieb vorgestellt und sowas und das war so für mich wieder so ’n, so ’n Glücksgefühl, so ’n aufbauendes Gefühl, so, er hat gesagt, ja, wenn was ist, kannst immer bei mir im Kindergarten mit ’n bisschen arbeiten und kam auch bis heute immer gut mit Kindern klar. (FLW1a, 868)

Oft ist der Neustart auch deshalb zwingend, weil aufgrund von gesundheitlichen Schwierigkeiten die alten Tätigkeiten nicht mehr ausgeführt werden können. Die Umschulung im Berufsförderungswerk wird von vielen Teilnehmenden der Lernwerkstätten aus gesundheitlichen Gründen (Rückenprobleme, Schlaganfälle) in Anspruch genommen und absolviert: In meinem ersten Beruf war ich Chemiker, […] Konnte diesen Beruf dann aber leider aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben und habe deshalb, bin deshalb dabei umzuschulen, wie die meisten hier. (FLW2b, 45) 1992 angefangen Tischlerlehre und habe dann auch 18 Jahre lang als Tischler gearbeitet gehabt (-) und aber auf Grund Rückenprobleme musst ich dann ’ne Umschulung machen und die wurde mir jetzt zum dritten Mal angeboten von der Versicherung und erst zum dritten Mal habe ich dann zugesagt, weil immer wieder die gleichen Leiden kommen (-) und deswegen mich dann hierfür eingeschrieben. (FLW2b, 47)

Gravierende Krisen entstehen durch Geburtsfehler, durch schwere Krankheiten oder Unfälle, welche die körperliche Leistungsfähigkeit einschränken oder teilweise zerstören: Durch meine Behinderung, die ich seit meiner Geburt habe, ich habe eine Halbseitenlähmung, und ja wie gesagt dadurch, ähm, (-) ja, ich bin eben halt noch so (-) eine der Jüngsten, sagen wir mal, mit 22 irgendwie und habe halt in dem Sinne noch nicht so großartig mit Beruf zu tun gehabt. Also, ich habe versucht meinen Realschulabschluss irgendwie zu machen, bin halt gescheitert, also ich habe nur ’n Hauptschulabschluss und hab auch mehrere Maßnahmen irgendwie durchlaufen. (FLW2b, 53) Und leider aus gesundheitlichen Gründen, durch zwei Schlaganfälle, (-) kann ich den Beruf nicht mehr machen und bin jetzt hier, damit ich endlich neu starten kann, damit ich durchstarten kann wieder. (FLW2b, 55) […] bin während der Schulzeit krank geworden, hab mein Abi dadurch verpasst und kann jetzt hier so meine Ausbildung machen. (FLW2b, 59)

Die gesundheitlichen Einschränkungen gingen zum Teil mit einschneidenden Brüchen bzw. Veränderungen im Lebenslauf einher:

116 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Ich habe mir gleich drei Karten ausgesucht. Die Erste, ähm, spiegelt, ähm, das wider, was ich damals gemacht hab, einfach zu viel gelernt, zu viel Input bekommen. Was schlussendlich zum Schlaganfall geführt hat, zweimal. Wo ich dann ja lernen musste, langsam step by step alles zu machen ja, und mein Leben wieder neu zu genießen.“ (FLW2b, 90)

Um sich von den gesundheitlichen Einschränkungen nicht demotivieren zu lassen und eine Umschulung zu beginnen ist „Mut, sich selbst so in de[n] Arsch getreten zu haben“ erforderlich gewesen: Was mir auch aufgefallen ist, dass, ich denke mal hier sitzen ja viele von uns, die das ähnlich haben: Aus Krankheitsgründen konnten sie nicht weiter machen und so. Ich denke mal, dass alle da in den Geschichten auch so den Mut sich selbst so in den Arsch getreten zu haben, um einfach wieder neu zu lernen, neu zu verstehen. (FLW2a, 411)

5.2 B EGRÜNDUNGSMUSTER

DES

L ERNENS

Der Blick über die in den Begründungsperspektiven eingefangenen Aussagen zeigt deutlich, dass die Vielfalt der im Material aufscheinenden Phänomene keineswegs einlinig auf wenige Begriffe – auf Identität, Erwerbsarbeitsbezug und Biografie – rückführbar oder gar ableitbar ist, wenn man nicht die Wirklichkeit zu eng in allgemeinste Begrifflichkeit zwingen will. Um der Komplexität der Phänomene gerecht zu werden, ist es nötig, nochmals in das Material einzutauchen und die Systematik entsprechend zu differenzieren. Dabei können wir selbstverständlich unsere vorgängigen Annahmen nicht vergessen; wir können aber deren Geltung relativieren und reflektieren. Wenn wir außerdem davon ausgehen, dass Gesellschaft keineswegs nur systemisch-harmonisch, sondern stark interessenorientiert-konfliktär strukturiert ist, muss das besondere Augenmerk auf Brüchen, Rissen und Widerständen liegen. Ein solcher gesellschaftlicher Kontext ist schon logisch auch nicht auf einen einzigen zentralen Begriff zu bringen, sei es ‚Identität‘ (Keupp u.a. 1999) oder sei es ‚Anerkennung‘ (Honneth 1992) Mit Bezug auf die weiterentwickelten Forschungsfragen unseres Projektes werden in der Verschränkung der Begründungsperspektiven acht typische Begründungsmuster rekonstruiert: •

Lebenslanger ‚Lebensstundenplan‘: als Annehmen und Ablehnen von Lernzeiten im Erwachsenenalter und als langfristige Entwicklungsvorstellung zwischen Festgelegtheit und Offenheit des ‚Lebenslangen Lernens‘;

5. B EGRÜNDUNGSPERSPEKTIVEN

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Leistungsdruck: als von ‚außen‘ geforderte Fähigkeitsanforderung und selbstgesetzte Herausforderung; Lebensstandard: als Einüben von Funktionalität für durch Erwerbsarbeit zu sichernde Stabilität und Prekarität von Konsumchancen; Neustart: als Möglichkeit durch Lernen ein biografisches Moratorium und eine Schleife im Lebenslauf einzulegen und als Ambivalenz gegenüber vorangeganener Lernerfahrungen; Trotz-Lernen: als Abwehr äußerer Anforderungen und als Widerstand gegen Anpassungszwänge und als Auflehnung; Lernlust: als Eigensinn selbstgewählten Lernens und als eigene Zustimmung und Freude bei Lernaufgaben bei ambivalentem Bezug zur Erwerbsarbeit; Selbstreflektion: als Verbinden thematischen und funktionalen Lernens beim Nachdenken über die eigene Lage und Zukunft und als Wahrnehmen diskontinuierlicher Biografie und riskanter Identität; Sinnüberschuss: als Aufscheinen nicht instrumenteller Entwicklungsmöglichkeiten und als Entdecken von in der Vergangenheit möglicher, ungelebter Zukunft.

Zu betonen ist nochmals, dass es sich bei diesen Mustern nicht um Typen von Personen handelt. Subjektive Orientierungen, Begründungen und Sinnzuweisungen kombinieren verschiedene Einstellungen. Ausgangspunkt bildeten die herausgearbeiteten Perspektiven. In einer weiteren Verdichtung wurden diese vor dem Hintergrund des Begründungsdiskurses (vgl. Holzkamp 1983, 952 ff.) als typische Begründungen rekonstruiert und in einer subjektwissenschaftlichen Variante des Codierparadigmas der Grounded Theory gefasst. (Aus diesem Grund werden für jedes Begründungsmuster zu Beginn unserer Darstellung in der ersten Person Singular ‚je meine vernünftigen Gründe‘ (vgl. Holzkamp 1993, 23ff.) zusammenfassend paraphrasiert.) 5.2.1 Lebenslanger ‚Lebensstundenplan‘ Ich habe in den letzten Jahren Arbeitserfahrungen gesammelt und will mich jetzt nochmal auf längeres institutionalisiertes Lernen einlassen. Irgendwie passt das in meinem Alter aber nicht mehr richtig. Diese Art von Lernen gehört eher in die Kindheit und Jugendzeit. Ich muss mich ganz neu darauf einlassen, weil ich mich vorher innerhalb der im Arbeitsleben geltenden Leistungsorientierung als beruflich-kompetente Person verstanden habe – ich konnte das, was ich gemacht habe. Jetzt muss ich mich wieder auf das ‚Noch-nicht-Können‘ einstellen. Außerdem sind nun – im Gegensatz zur Kindheit/Jugend – andere Lebensbereiche hinzugekommen, die mit Lernen unter einen Hut zu bekommen sind. Auch bin ich ein bisschen aus der Übung. Ich muss also zusätzlich zu den institutionalisierten

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Lernanforderungen vernünftigerweise lernen, diese Situation in meine Biografie und Identität zu integrieren. Das ist eine ganz schöne Herausforderung. Der ‚alte‘, traditionelle ‚Lebensstundenplan‘(FLW2a, 453) sah Lernen im Erwachsenenalter nicht vor. Man lernte, arbeitete und setzte sich dann zur Ruhe. Lernen war begrenzt auf Kindheit und Jugend. Mit der Debatte über ‚Lebenslanges Lernen‘ ist dieser Lebensbogen immer wieder durch Neulernen unterbrochen. Diese Vorstellung – gleichgültig, ob sie der Wirklichkeit entspricht – hat sich auch im Bewusstsein der Subjekte eingenistet und stellt die Subjekte vor veränderte Entwicklungsaufgaben. Lernen im neuen Lebensstundenplan ist Lernfreiheit und -hemmnis zugleich. Lernen bleibt deutlich auf Erwerbsarbeit ausgerichtet – wenn auch davon getrennt. Verfügungserweiterung besteht in der Möglichkeit, die Teilidentitäten auszuweiten und somit Handlungsfähigkeit zu erweitern. Die Lerngegenstände sind zum einen berufsgebunden. Zum anderen lässt sich die Integration in Biografie und Identität als Lerngegenstand verstehen. Defensives Lernen begründet sich in diesem Muster über die gesellschaftliche Nicht-Anerkennung im normalbiografischen Verlauf und in konkreten Lernsituationen über die Bedeutung anderer Lebensbereiche, die Dominanz über die Lernsituation gewinnen können. Die Möglichkeit expansiven Lernens liegt in der (Wieder-)Aneignung der Teilidentität. Innerhalb des Begründungsmusters Lebensstundenplan scheint eine Spannung zwischen Kompetenz- und Mündigkeitsvorstellungen und der Anforderung lebenslangen Lernens auf: Lebenslanges Lernen soll Mündigkeit und Kompetenz (wieder-)herstellen. Mit dieser Zielbestimmung, die durch ein Defizit markiert ist, bleiben Lernen und Kompetenz bzw. Mündigkeit desintegriert. Ich musste ja sehr viel neu erlernen. Und ich sage da, […] es ist so, dass du den Mut einfach verlierst. Weil, du gehst einfach davon aus, ab einem gewissen Alter ist die Schulzeit vorbei, bist in der Lehre, hast deine Lehre abgeschlossen und hast im Prinzip den Soll, der dir von zuhause beigebracht worden ist, erfüllt. Bist in Arbeit, du gehst jeden Tag deinen Arbeitsweg, du arbeitest fast wie ein Roboter, würde ich jetzt sagen, du hast fast meistens die Arbeitsabläufe im Kopf drinne und dementsprechend kommst du halt aus diesen normalen Sachen, wie Schule, einfach wieder raus. […] Und wenn man dann den Mut nicht hat, wieder offen zu sein, also Mut zur Lücke hat und die alten Sachen ad acta zu legen und zu sagen: „Das habe ich früher in der Arbeit gemacht, ich muss jetzt neu anfangen“, dann ist das verdammt hart und schwer. (FLW2a, 439)

Die Forderungen, Können zu erwerben und Leistung zu erbringen, werden permanent:

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Das fällt halt allen schwer, in der heutigen Zeit, dass man immer hundert Prozent, manchmal über 120 Prozent Leistung erbringen muss. (Räuspern).“ (FLW3a, 540)

Im Erwachsenenleben treten verschiedene, teils widersprüchliche Anforderungen auf: Das sind ja ganz viele andere Subjekte, die dazu kommen. Das ist ja nicht nur, wie ich als kleiner Schüler mich nur aufs Lernen, geh nach Hause und geh nachher noch mal spielen und habe nichts weiter um mich herum. Alles das andere machen meine Eltern oder machen die Eltern um einen rum. Jetzt hat man ja viele andere Probleme, die einen beschäftigen. Andauernd rappelt es oben in der Kiste. Die Festplatte läuft von links nach rechts da. Das ist ja viel intensiver denn. (FLW2a, 472)

Lernen in einem Alter, in dem man ‚normalerweise‘ berufstätig ist, wird – allen Beteuerungen über die Wichtigkeit ‚lebenslangen Lernens‘ zum Trotz – als Herausforderung und Abweichung von einer unterstellten Normalbiografie wahrgenommen. Es ist im ‚Lebensstundenplan‘ nicht vorgesehen. Lernen bleibt von Arbeit getrennt, ist die (wiederkehrende) Vorbereitung auf Arbeit. Lernen als Noch-nicht-Können steht damit in einer Spannung zu Arbeit als Können. Lebenslanges Lernen ist nach wie vor mehr Idee als Praxis. Die Aussagen, Lernen sei mit Jugendzeit bzw. Schule verbunden, können in die Richtung interpretiert werden, dass Lernen (im Sinne von Lernen, um eine Qualifikation zu erwerben) nach der Jugendzeit als nicht mehr normal gilt. Es ist ja auch so, dass man Lernen auch mit so einer gewissen Zeit verbindet. Jetzt so Jugendzeit also die Schule und so. Und da schließt man irgendwie so grob den Lernprozess ab. […] Es ist offenbar, irgendwo, dass man gedanklich irgendwo da schon mal was abgeschlossen hat. Dass man sagt: Okay, das war jetzt so meine Lernphase, da habe ich jetzt irgendwie so ein bisschen angehäuft und gesammelt und das ist jetzt meine Grundlage und darauf baue ich jetzt mein Leben auf. Und das, also Lernen transportiert man eigentlich gar nicht so in spätere Jahre, das schließt man irgendwie gedanklich schon mal so ab. (FLW2a, 413)

Vor diesem Hintergrund erst ist eine Frage wie: „Jetzt noch mal neu lernen und so, was ist denn daran so schlimm, eigentlich?“, (FLW2a, 413) sinnvoll. Eine weitere Herausforderung, die sich im Rahmen der Umschulung aus dem Umstand, dass die eigene Schulzeit bereits länger zurückliegt, ergibt, ist der Umgang mit neuen bzw. ungewohnten Lernformen bzw. -strategien, wie das selbständige Recherchieren nach Informationen im Internet, die von den Umschüler_innen verlangt werden:

120 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Also, wir sind schon alle soweit aus der, also [Hintergrund: Richtig.] in unserem Alter, zwanzig, fünfzehn Jahre aus der Schule und dann (/) das heutzutage Kinder in der Schule alle selbstständig machen und Internet und so, ich hatte nicht mal Internet in meinen Zeiten. Nicht mal beim Studium, ja. Also dass war alles so, wie es ist und auf einmal dieses „Dann gucken Sie mal, recherchieren Sie mal!“ Ich weiß nicht, wo ich recherchieren sollte und so viel Informationen kommt auf mich zu, dass ich sage: „Was ist hier wichtig? Ob das überhaupt die Seite, die ich vertrauen kann?“ (FLW3a, 570f.)

Es werden als Erklärung für die Normalität des ‚im Jugendalter wird gelernt‘ psychologische und biochemische Argumente angeführt, die auf eine Unausweichlichkeit und Verantwortung im Individuum hinauslaufen. Ebenso wird auf die Rolle gesellschaftlicher Arrangements in diesem Zusammenhang hingewiesen: FLW2_9: Ich finde so diese Lern, ähm, Zeiten, das ist ja auch einfach gesellschaftlich vorgegeben. Das ist, das ist ja, ähm durch die Gesellschaft bestimmt, also die Gesellschaft sagt: „Jetzt gehst du bitte zur Schule. Jetzt machst du irgendwie ’ne Berufsausbildung oder geht’s irgendwie studieren.“ Es sind ja Exoten, wenn irgendeiner jetzt mit 50 noch mal zur Uni geht, [...] Also wer sitzt da an der Uni, die sitzen da so bis, na gut. Sie sitzen da ein bisschen länger, aber so idealerweise so bis Ende zwanzig sitze ich da an der Uni, das ist auch noch alles normal, wenn ich da mit vierzig sitze ist es schon, da bist du schon. FLW2_1: Und dann, dann ist das eigentlich auch abgeschlossen ... Das ist irgendwie gesellschaftlich so verankert, das ist denn vorbei. Dann machst du Beruf und dann arbeitest du und der nächste Schritt ist dann die Rente. So, da ist irgendwie Lernen gar nicht mehr so, in diesen Standardabläufen gar nicht mehr vorgesehen. FLW2_2: Also ein bisschen Lebensstundenplan, so. FLW2_3: Rahmenbedingungen so halt, in die man sich irgendwie eingliedern muss. FLW2a, 445ff. ).

Auch in diesem Zusammenhang erfolgt der Hinweis auf den notwendigen Mut zum Lernen: Ohne Mut zur Lücke ist Lernen im Erwachsenenalter schwer. (FLW2a, 439)

Wenn man fragt, weshalb denn Mut benötigt werde, stößt man darauf, dass Lernen eben immer auch heißt, Altes aufzugeben und sich auf Neues einzulassen. Lernen ist eine durchaus riskante Strategie, welche scheinbare Stabilität zerbricht.

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5.2.2 Leistung als Anforderung und Herausforderung Wenn ich unter Leistungsdruck lernen soll, verunsichert mich das. Alte Erinnerungen und Versagensängste kommen hoch. Das waren häufig Lernsituationen, in denen ich mich nicht akzeptiert gefühlt habe und auch nicht so recht handlungsfähig. Ich versuche nun vernünftigerweise die Lernsituationen unter Leistungsdruck irgendwie zu überstehen – es geht ja auch um die Leistung und weniger um die Inhalte des Lernens selbst. Leistungsdruck zeigt sich hier als Lernhemmnis, welches auf biografischen Vorerfahrungen aufbaut. Die Handlungsfähigkeit ist eingeschränkt. In resultierenden Lernwiderständen zeigt sich defensives Lernen, welches sich in den biografischen Vorerfahrungen mit Blick auf die erneute Bedrohung der eigenen Autonomie und mangelnde Anerkennung innerhalb der Lerninstitution/Lernsituation begründet. Das Subjekt sieht sich mit einer auf Anpassung ausgerichteten gesellschaftlichen Struktur in seiner Lebenswelt konfrontiert. Innerhalb dieses Begründungsmusters selbst zeigt sich keine Überwindung des Hemmnisses (nur in Kombination mit anderen Mustern). Zur Beruflichkeit steht dieses Lernen in einem ambivalenten Verhältnis. Innerhalb des Berufes sind gegenteilige Lernerfahrungen möglich. Leistungsdruck ist jedoch auch über eine leistungsorientierte Arbeitsgesellschaft begründet. Die konkreten Lerngegenstände treten bei diesem Lernen in den Hintergrund. Die Bewältigung der Drucksituation ist die dominante Qualität der Lernsituation. Deutlich wird, dass Leistungsdruck aus vorherigen Situationen auf die je aktuelle Lernsituation wirkt und in Erfahrungen verankert ist. Aber das war dann so, wenn ich denen irgendwas erzählt habe, dann war das denn wieder herum, dass die anderen Schüler meistens immer ausgelacht haben, irgendwie, weil man dann in dem Sinne wieder was falsch gesagt hat und dann kommt das, dann legt sich das mal wieder negativ auf diesen Lernen. Dann denkt man irgendwie auch so, wieso, wenn die mich schon auslachen, dann sach ich lieber nachher gar nichts. (FLW2a, 609; vgl. auch FLW3a, 514) Also, ich denke mal, jeder hat so irgendwo seine Ängste und die kommen auch manchmal mit aus der Vergangenheit. Also, manchmal ist das einfach so. (FLW2a, 629)

Dabei spielt auch eine Rolle, mit welcher Perspektive auf neue Lernsituationen zugegangen wird. Die eigene Handlungsfähigkeit löst sich unter Leistungsaspekten nicht auf, sie macht einen spezifischen Umgang notwendig. Also ich denke, es gibt auch verschiedene Arten von Druck. Also, was ich jetzt gemerkt habe, wenn ich mir selber Druck mache, also Leistungsdruck: „Ich schaff’ das alles nicht,

122 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE es ist mir zu viel.“ Also wenn ich das mir selber irgendwie so einrede, dann lern ich ganz ganz schlecht. (FLW2a, 736) Also, Angst spielt ja auch immer eine Rolle. Also, Angst verhindert Lernen und Mut begünstigt das halt auch. Also, Mut öffnet mir da halt auch die Tür zum Lernen. Also, ich muss halt auch mutig sein, bereit sein auch neues Wissen zuzulassen und mich auch dieser neuen Aufgabe zu stellen. Es ist ja auch ganz viel damit verbunden, irgendwie Scheitern, also Angst zu scheitern, das nicht zu verstehen, das nicht irgendwie reinzukriegen, zu versagen, oder irgendwie so etwas. (FLW2a, 599)

Eine Lerngeschichte artikuliert vor allem die durch Druck erzeugt Angst: Sie friert, als sie nach 1,5 Std wieder auf ihr Fahrrad steigt. Nicht nur, weil das noch immer feuchte Hemd in der Abendluft an ihr klebt. Es ist viel mehr das hämische Lachen des Lehrers, das er ausstößt wie einen Kloß Luft, immer wenn sie etwas Falsches übersetzt, was sie so frieren lässt. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit und eigenen Unvermögens wird in ihrem Leben immer wieder aufkommen. (FLW4_LG4)

Ein anderer Teilnehmer schildert, dass sein allgemeines Lernverhalten bzw. Verhältnis zum Lernen durch den Druck, den ihm sein Vater hinsichtlich seiner schulischen Leistungen gemacht hat, die, wenn er sich nicht stärker anstrenge, nur unterdurchschnittliche berufliche Perspektiven ermöglichen würden, dadurch, dass er sich dagegen wehrte und verweigerte, nachhaltig negativ beeinflusst wurde: Also ich war zum Beispiel eigentlich ein relativ guter Schüler, (…), wenn die Leistungen aber irgendwie nicht so stimmten, es war, mein Vater war Schlachter, hat dann immer mit dem Schlachthof gedroht. (…) Ja, also, dass ich da, da könnte ich immer noch arbeiten, so ungefähr. Also, (…) bis zur achten Klasse habe ich, glaube ich, immer einen Durchschnitt von unter 1,5 gehabt. Also, (…) ich war wirklich ein richtig guter Schüler und aber, der, der konnte, der hat, so im Prinzip so, das, was er in seinem Leben nicht auf die Reihe gekriegt hat, musste ich jetzt irgendwie so ausbaden und das stand mir total im Weg und das stand mir halt auch, bei meiner Einstellung zum Lernen in späteren Lebensabschnitten total im Weg. Also, ich habe nachher (…) mich auch immer dagegen gewehrt. (…) ich wollte nachher auch meinen Eltern, zum Beispiel, diesen Gefallen gar nicht mehr tun. Und habe mich also auch gegen, gegen das Lernen nachher gesträubt. (FLW2a, 795)

Wie Lernen, welches in institutionalisierter Form im Rahmen der Umschulungen stattfindet und das auf Prüfungen ausgerichtet ist, von den Teilnehmenden der Lernwerkstatt gesehen wird, weist Parallelen zu dem Umgang mit anderen Prü-

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fungssituationen auf: Nur das, was als prüfungsrelevant deklariert wird, wird aktiv aufgenommen/gelernt: Zum Beispiel hier bei so einer Ausbildung ‒ ich weiß, dass es nicht alles wichtig sein kann. Das KANN nicht alles wichtig sein. Das sagen die ja auch in einem Halbsatz irgendwie: „Das ist auch gar nicht prüfungsrelevant“, erzählen es mir aber trotzdem, aber das lasse ich dann auch gar nicht, gar nicht ran an mich. Da sage ich mir dann auch: „Okay, das könnt ihr mir jetzt mal erzählt haben, ihr lieben Ausbilder“, aber es kommt bei mir hier gar nicht rein, und es bleibt auch de Facto gar nicht drin. (FLW2a, 556)

Ähnlich ein anderer Teilnehmer in Bezug auf Prüfungssituationen an der Universität: Da geht es darum, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und möglichst einen Weg zu finden herauszufinden, was in der entsprechenden Prüfung gefragt wird. Das haben wir so gemacht, wir hatten damals in der Uni so Prüfungskataloge, die gingen darum, was welcher Prüfer gerne fragt. Die hat man sich dann besorgt und darauf hat man sich dann gezielt vorbereitet und damit konnte man Prüfungen bestehen. Und das ganze andere Zeugs, was da in den Vorlesungen zelebriert wurde, bis noch und noch nöcher, das konnte man vergessen. (FLW2a, 568)

Angst ist ein brisantes Thema für die Teilnehmenden der forschenden Lernwerkstatt mit Umschüler_innen und spielt in Bezug auf die Linie „Lernen ist der Weg, über Arbeit die Zukunft zu sichern“ insofern eine Rolle, als in diesem Zusammenhang häufig Angst überwunden werden muss – entweder bevor das auf Erwerbsarbeit gerichtete Lernen überhaupt aufgenommen wird oder im laufenden Prozess des Lernens. Angst richtet sich etwa darauf, die Anforderungen, die im Rahmen der Umschulung gestellt werden, nicht erfüllen zu können bzw. nicht damit umgehen zu können, da die letzte Schulerfahrung häufig bereits längere Zeit zurückliegt. Es ist von Ängsten die Rede, die damit einhergehen, „sich dem Lernen [nochmal] zu stellen“ (FLW2a, 458). Die eigenen Erfahrungen mit Schule und die dort zum Teil erworbene bzw. wurzelnde Angst zu scheitern bzw. zu versagen stellen ein oft benanntes biografisches Moment dar. Aber das war dann so, wenn ich denen irgendwas erzählt habe, dann war das denn wieder herum, dass die anderen Schüler meistens immer ausgelacht haben, irgendwie, weil man dann in dem Sinne wieder was falsch gesagt hat und dann kommt das, dann legt sich das mal wieder negativ auf diesen Lernen. Dann denkt man irgendwie auch so, wieso, wenn

124 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE die mich schon auslachen, dann sach ich lieber nachher gar nichts. (FLW2a, 609; vgl. auch FLW3a, 514)

Auch wird die Angst benannt, „später ins Leben wieder reinzugehen“ und „in Arbeit“ zu kommen (FLW2a, 500), welche durch fehlende Verbindung von Lernen in Institutionen einerseits und Arbeiten im Betrieb andererseits verstärkt wird: Weil, dann halt eine neue Situation wieder auf einen zukommt. Neue Arbeitgeber, vielleicht neue Gesichter, neue Arbeitskollegen und und und. Das man dann halt die Situation nicht einschätzen kann, was einen gleichzeitig verunsichert. (FLW2a, 500)

Als hilfreich, um Angst zu überwinden, werden genannt: Lernen in Gemeinschaft (FLW2a, 500ff.) sowie Unterstützung durch Familie und Freunde (FLW3). Durch das gemeinsame Agieren der Gruppe im Berufsförderungswerk kann es zu einem Wechsel der Handlungsstrategie kommen: vom Überspielen eigener Unkenntnis bzw. Nicht-Verstehen hin zum Stellen von Nachfragen (vgl. FLW3a, 754ff.; FLW3a, 767) Angst nicht zu bestehen, ausgelacht zu werden, Leistungsdruck und Konkurrenz verhindern das Einlassen auf Lernen. Fleiß und Arbeit stärken dagegen durch Anerkennung (durch andere) das Selbstwertgefühl. Die Leistungsanforderungen der Gesellschaft kann man nicht immer erfüllen. Man muss sich so nehmen wie man ist, dies erfordert Mut. Soziale Kontexte helfen. Es geht häufig um wissensbezogenes Lernen und leistungsbezogenes Handeln. Das verlangt durchzuhalten und dabei ehrlich zu sein, auch Unterstützung einzuholen. Man muss auch bei der Arbeit lernen zu Stärken und Schwächen zu stehen, auch wenn die anderen immer Leistung fordern (FLW3a, 543).

5.2.3 Lebensstandard angesichts von Stabilität und Prekarität Ich habe mir in meinem Leben schon ein bisschen was aufgebaut. Das möchte ich auch weiterhin genießen können und eigentlich auch noch weiter ausbauen. Dafür brauche ich einen anständigen Job. Um den (wieder) zu bekommen, suche ich mir vernünftigerweise ein Lernarrangement, mit dem ich zumindest gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe. Ich will auch (weiterhin) auf eigenen Füßen stehen, schließlich bin ich erwachsen. Verfügungserweiterung bezieht sich auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt, die der anerkannte Weg ist, seinen Lebensstandard zu sichern.

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Dieser Weg wird als selbstverständlich vorausgesetzt und nicht problematisiert. Ziel ist zudem eine (Wieder-)Anerkennung als erwerbstätige Erwachsene, welche auch mit Autonomie verbunden wird. Lernhemmnisse entstehen in diesem Begründungsmuster durch die Notwendigkeit, die Lernsituation erfolgreich – im Sinne des Zertifikats – zu bestehen, da dies Voraussetzung für den Einstieg in den Arbeitsmarkt ist, wenn es ihn auch nicht sichert. Die Lerngegenstände gewinnen über erwartete brauchbare Verwendung in der angestrebten Erwerbstätigkeit eine Bedeutung. Diese ist jedoch über das Ziel „für vernünftig Geld zu arbeiten“ (FLW2a, 472) gebrochen, indem den Lerngegenständen funktionale und nicht thematische Bedeutung zukommt. Die Lerninstitution muss eine formale Qualifizierung, d.h. das Erreichen von Abschlüssen ermöglichen. Es ist naheliegend, dass vor allem in Umschulungen ein Lernen, um an Erwerbsarbeit teilzuhaben, durchschlägt: Aber, jetzt hat man ja auch ein Ziel, man will das ja vernünftig fertig machen. Man will ja das vernünftig abschließen. Weil, ich möchte ja vernünftig in Arbeit kommen, weil ich möchte ja jetzt als nächstes mir jetzt ’n Haus holen. Das ist mein Ziel, deswegen werde ich jetzt schön rackern, die Kohle verdienen und dann Zack! Haus! Das ist das nächste Ziel. (FLW2a, 771) Man will ja dann (ein vernünftiges) Leben, auch. (FLW2a, 472) Und, äh, das hab ich wirklich in meinem Leben so gemerkt, also ich hab mein ganzes Leben (/) Ich hab 5 Berufe und hab mein ganzes Leben immer wieder gerne was Neues und es musste immer wieder was Neues kommen. (FLW4b, 207)

5.2.4 Neustart in der Lernschleife Ich habe einige Wirren in meinem Leben hinter mir. Irgendwie habe ich es bisher nicht richtig geschafft am Arbeitsleben längerfristig erfolgreich teilzunehmen. Ich traue mir das aber grundsätzlich zu – manches konnte ich ja ganz gut. Ich suche mir also vernünftigerweise zum Lernen einen Rahmen, in dem ich noch einmal von vorn beginnen kann. Bereits diese Entscheidung fürs Lernen macht mir Mut für meinen Weg zu mehr Eigenständigkeit. Bezugspunkt des Lernens sind sowohl die Teilhabe am Arbeitsmarkt wie auch das Überwinden negativer Erfahrungen. Mit Bezug zum Arbeitsmarkt, als die in dieser biografischen Phase anerkannte Form von Anerkennung und Autonomie, geht es um eine Wiederherstellung von Kohärenz und Authentizität. Lernen beim Beginn(en) eines biografischen Neustarts soll bisherige Lernhemmnisse (die sowohl in der eigenen Identität wie in der Lebenswelt verortet werden) überwinden helfen. Zunehmende Handlungsfähigkeit zeigt sich – in der Reflexi-

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on – bereits in der eigenständigen Entscheidung für diesen Lernweg. Für die Lernsituation ist bedeutsam, dass diese zum einen auf Erwerbsarbeit orientiert ist. Zum anderen muss sie so different zum Bekannten sein, dass Neues möglich ist, jedoch gleichzeitig an lebensweltliche Handlungsmuster anschließen, um für dieses Lernen in Frage zu kommen. Aufgrund der eigenständigen Entscheidung hat das Lernen expansiven Charakter – die Bedrohung von Verfügung soll über diesen Lernweg beendet werden. Andererseits ist ja aufgefallen, dass alle die hier am Tisch sitzen, dass ja die Wertigkeit des Lernens für die Zukunft alle soweit inbegriffen haben. Nur weil’s ja jetzt (/) für viele ist das ja jetzt nochmal, geht’s um die letzte Wurst, sag ich mal, das ist die letzte Chance noch mal, ne. (FLW2a, 419)

Das Ergreifen einer letzten Chance und die Möglichkeit des Neuanfangs wird als Hoffnung aufgenommen: […] bin dann eben halt hier um irgendwas halt, (-) ja (-) überhaupt (nur/neu) anzufangen oder überhaupt dann anzufangen und dass ich dann eben halt spätestens dann irgendwie in einem Jahr dann eben halt richtig rumstarten, also neu starten kann. (FLW2b, 53) Das ist dann schon (-) ganz wichtig, eigentlich. Das ist hier genau das Gleiche wieder. Man kommt hier rein, keiner kennt einen. Ähm, man kann wieder ganz von vorne anfangen. (FLW3a, 886) Ich hab’s (ja) auch immer versucht was Besseres aus mir zu machen, aber(.) immer wieder diese, diese Nackenschläge da. Steht da dieses Eiskalte und nein und nö und (.) irgendwann hab ich aufgegeben. ( ) Ja und jetzt durch diese Ausbildung bei der xyz, halt wieder einen neuen Versuch. (…) Ähm, ja, letztens war dann Tag der offenen Tür bei uns auf der Arbeit und dann kam genau der Lehrer vor mir, stand genau vor mir. Mit großen Augen und (.) sagt: „Was machst du denn hier?“ Ich sag: „ARBEITEN“, ich sag . (…): „ARBEITEN“. „Ah, hätt ich nicht gedacht, ich hab gedacht du hängst jetzt auf der Straße und sowas.“ Ja, falsch gedacht. Ich hab mein Leben geändert. (FLW1a, 868)

Das Ergreifen einer letzten Chance und die Möglichkeit werden als persönlicher Neustart dargestellt: Und ähm, ja das ist jetzt hier noch mal so reset und noch mal von vorne. (FLW2b, 51) […] bin dann eben halt hier um irgendwas halt, (-) ja (-) überhaupt (nur/neu) anzufangen oder überhaupt dann anzufangen und dass ich dann eben halt spätestens dann irgendwie in einem Jahr dann, eben halt richtig rumstarten, also neu starten kann. (FLW2b, 53) […] bin jetzt hier, damit ich endlich neu starten kann, damit ich durchstarten kann wieder. (FLW2b, 55)

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Der Umschulung wird von einigen Teilnehmenden der forschenden Lernwerkstatt eine ultimative Bedeutung als ‚letzte Chance‘ dafür beigemessen, Grundlagen dafür zu legen, im weiteren Verlauf durch eine Erwerbstätigkeit das eigene Leben doch wieder aufbauen und absichern zu können: Viele sind auch hier, vielleicht ähm, weil weil die glauben, das ist ihre letzte Chance und unter so einem Druck, ne, deine letzte Chance, deine letzte Ausbildung oder Umschulung oder sonst irgendetwas. (FLW2a, 494) […] für viele ist das ja jetzt nochmal, geht’s um die letzte Wurst, sag ich mal, das ist die letzte Chance noch mal, ’ne. (FLW2a, 419)

5.2.5 Trotz-Lernen und Widerstand Ich habe bereits einige negative Erfahrungen mit einer bestimmten Autoritätsperson gemacht. In denen habe ich zu wenig Verständnis für mich und meine Unsicherheit bekommen. Außerdem konnte ich kein gutes Verhältnis zwischen meinen und den Interessen der Autoritätsperson herstellen: Ich habe entweder deren Interessen einfach übernommen, oder habe sie einfach nur abgewehrt. Meistens war das in Situationen, die ich mir nicht ausgesucht habe. Nun befinde ich mich in einer Krise, in der die Autoritätsperson mir eine bestimmte Handlung als Ausweg aus der Krise nicht zutraut. In dieser Situation ist es vernünftig, mich gegen diese Position zu stellen. Jahre später stelle ich fest, dass dies ein wichtiger Schritt war, selbständiger und selbstbewusster zu werden. Widerstand als Begründungsmuster für Lernen zeigt sich erst in der Reflexion. In der konkreten Situation fußt es auf biografischen Vorerfahrungen, in denen die Handlungsfähigkeit eingeschränkt war (beispielsweise Sucht, Gewalt, Schule) und keine Kohärenz hergestellt werden konnte. Ziel ist auch die Herstellung von Autonomie und Verfügungserweiterung mit Bezug zum Ausweg aus der Krise. Für die konkreten Handlungsziele gibt es mit inhaltlichem Bezug und innerhalb der Statuspassage gesellschaftliche Anerkennungsstrukturen, auf die – implizit – zurückgegriffen wird. In diesem Begründungsmuster zeigt sich die Verwobenheit von Handlungsfähigkeit und Unterwerfung. Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse entsteht durch Widerstand gegen deren konkrete Ausprägung in der Situation. Lerngegenstand des Reflexionsprozesses sind die biografischen Wege und lebensweltlichen Ausschnitte eigener Handlungsfähigkeit. Vorher ich war (.) man könnte sagen auf meine Mutter geprägt, ich wollte es ihr immer recht machen und ähm (.) und dann war ((gedehnt)) mit achtzehn war eine Situation, wo ich gesagt habe, ich will nicht mehr, ähm (.).Ich habe ’ne Ausbildung angefangen gehabt und bin krank geworden während der Probezeit und ähm, war zu dem Zeitpunkt damals

128 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE noch bei meinem Freund, also hab da übernachtet, weil der Arzt auch von dem fünf Minuten entfernt (.) und von mir zu Hause war der Arzt fast anderthalb Stunden weg. So, und dann hab ich gesagt, dass ich noch für zwei, drei Tage da bleibe und meine Mutter hat das nicht akzeptiert und meinte, so geht das nicht und hier und da und hat Stress gemacht und dann bin ich nach Hause gekommen, dann hab ich noch Prügel gekriegt dafür, dass ich krank war und nicht zur Arbeit gegangen bin. Und ähm, dann hab ich gesagt, also es reicht. (FLW1a, 628) Bin dann gegangen. Dann kam meine Mutter und sowas an und meinte: „Du schaffst das sowieso nicht alleine“, also im Endeffekt hat meine (Mutter mir das) gesagt und hat mich runtergemacht, dass ich, ähm, nichts auf die Reihe kriege und, ähm, dass ich das sowieso nicht alleine schaffen werde und das hat mir im Endeffekt Kraft gegeben, es zu beweisen, dass ich es auch ohne sie schaffe, weil ich musste im Endeffekt auch so schon immer ohne sie alles machen. Aber das hat mir im Endeffekt Kraft gegeben, zu sagen, zu beweisen, ich brauch sie nicht, ich schaff es alleine. (FLW1a, 626) Genau. Ja genau. Und auch mal gerade speziell meiner Mutter gegenüber auch, weil sie ja, als sie erfahren hat, dass ich schwanger bin, ähm, ja so nach dem Motto, was willst denn damit und das schaffst du doch eh nie und so, ähm, ähm. Das war auch mit ne Motivation, dass ich eben gesagt hab, du blöde Kuh in Anführungsstrichen hast das bei mir nie richtig auf die Kette gekriegt, hast selbst keine Ahnung von gar nichts und willst mir hier jetzt erzählen, dass ich das mit ’nem Kind nicht auf die Kette krieg, jetzt zeig ich’s dir, das schaff ich, egal wie. Da musste ich auch bitter, bitter bitterböse für kämpfen, also ich mein. […] Genau, meine Familien- die hab ich mir auch bewusst in der Schwangerschaft rausgesucht, ne Familienhebamme extra, die mich bis zum ersten Lebensjahr des Kindes betreut und dann eben nicht nur danach guckt, dass das Kind sich ordentlich entwickelt, sondern sich auch um mich kümmert und die ganzen emotionalen Sachen. (FLW1a, 305ff.) Mein Lehrer hat auch gesagt: „Nöö“, er hat da angerufen und hat gesagt: „Nein, er schlägt, er iss ’n scheiss Junge, er macht nur Scheiße“ und hat bei mir zu Hause angerufen und hat meinen Eltern gesagt: „Ich tu alles dafür, dass Marcel von der Schule fliegt“ und (.) ja, letztendlich hat er alles getan, ich hab keinen Hauptschulabschluss dadurch bekommen, er hat mich mitten in den Prüfungen rausgeschmissen einfach ohne Grund und, (.) ja, das war halt auch ’n kleiner Ansporn auch zu sagen, ja, ich reiß jetzt mein Leben wieder rum, hab mein Leben um hundertachtzig Grad gewendet, versuch’s in den Griff zu kriegen, ich hab’s einigermaßen im Griff. (FLW1a, 432)

In allen drei Fällen liegen bereits vorher Handlungen, die der Autoritätsperson missfallen, relativ autonomes Handeln findet hier auch vorher statt. Die Verwobenheit von Macht und Ohnmacht verlängert sich in die Lernsituation. ‚Trotz-Lernen‘ richtet sich gegen durch Lehrende/Autoritäten gestellte Anforderungen: Der Trotz drückt aus, dass sich damit von der Autoritätsperson abgegrenzt wird, jedoch in einem starken Bezug auf sie. Die Konsequenz ist jedoch

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eine Zunahme der Handlungsfähigkeit, in der die Verantwortung für das eigene (gute) Leben übernommen wird und sich nicht mehr mit den missfallenden Handlungsweisen an der Autorität abgearbeitet wird. Der biografische Handlungsverlauf vollzieht sich also von Ohnmächtigkeit zu Selbstmächtigkeit. Mit dem Ziel, das Leben nun selbst in die Hand zu nehmen, wird eine biografische Festgelegtheit (in diesen Fällen Junkie, Krimineller und sich aufgebendes Opfer) geöffnet. Es wird eine Schuldzuweisung nach außen vorgenommen und Verantwortung von sich selbst weggeschoben. Alle beschriebenen Fälle bewegen sich in der Jugendphase und sind mit der Thematik das ‚Leben-selbst-in-die-Hand-nehmen‘ in der Statuspassage JugendErwachsen angesiedelt. Trotz-Lernen findet als Bruch, Auflehnen und Widerstand statt. Während die Entwicklung vorher als kontinuierliche und negative zu beschreiben ist, ist es der Trotz, der den Bruch vollzieht. Trotz-Lernen begründet sich im Trotz-Handeln. Ziel der Handlung ist nicht Lernen, sondern die Sicherung der eigenen Person mit dem (qualitativen Lern-) Sprung Handlungsfähigkeit zu erweitern und eben nicht nur abzuwehren, wie dies vorher der Fall war (Kind, sei doch mal vernünftig!). Die Trotz-Handlungen beziehen sich auf das Zulassen und Wagen von neuem, das der Person nicht zugetraut wird. Gerade deshalb wird Lernen aufgenommen. Lernen ist dabei nicht im Vordergrund, sondern implizit – aber unausweichlich – enthalten: Ich entscheide mich zum einen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen und zum anderen, mich auf etwas einzulassen, das eine deutliche Herausforderung darstellt. Trotz-Lernen ist damit ein Weg zu mehr Selbstsicherheit. Es handelt sich nicht um einen intentionalen Lernprozess, bei dem v.a. die Interaktion interessant ist. Die Handlung ist abwehrend, die Lernerfahrung und das Lernergebnis sind erweiternd. Die Handlungsfähigkeit bleibt allerdings eher restriktiv: Die Bedingungen, die zur kontinuierlichen Defensivität beigetragen haben, werden nicht in Frage gestellt, der eigene Umgang mit diesen jedoch geändert. Trotz-Lernen führt nicht unbedingt zu Widerständigkeit im Handeln. In den zugrunde gelegten Fällen ist eher Gegenteiliges der Fall: Während vorher bereits gegen die Vorstellungen der Autoritäten gehandelt wurde, findet über die Trotz-Reaktion ein Anpassen an die Vorstellungen der Autoritäten statt, obwohl sich im Trotz-Prozess von diesen abgegrenzt wird. Es gibt jedoch auch eine gegenteilige Möglichkeit: Aus Trotz sich dem Lernen verweigern. Auch in diesem Fall geht es darum, über den Trotz Eigenständigkeit gegenüber der Autoritätsinstanz zu realisieren – jedoch im Widerstand gegen institutionalisiertes Lernen (z.B. Schule) mit der Folge, hinterher in eine Lernkrise im institutionalisierten Lernen (z.B. Uni) zu geraten. Die Forderungen der Autorität wurden mit einem deutlichen Bedrohungsszenario (sonst wirst du

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auch Schlachter.) unterstrichen, schulisches Lernen erfolgreich absolviert – jedoch ohne eigene Lernstrukturen und -interessen aufzubauen: „[…] eine gesunde Einstellung vielleicht auch zum Lernen. Und die ist bei mir echt da so ein bisschen angeseucht gewesen“ (FLW2a, 795). Dieser Fall weist jedoch deutlichere Bezüge zu ‚Lernlust‘ und ‚Leistungsdruck‘ auf, weil es um Lernwiderstände, begründet in defensivem Lernen (Schlachthof) und dem fehlenden Sinn sowie das fehlende Verständnis bei diesem widerständigen Lernen geht (vgl. FLW2a, 546ff.) 5.2.6 Lernlust und selbstgewähltes Lernen Wenn ich die Erfahrung gemacht habe, dass ich mehr über Dinge erfahre, die mich interessieren und davon ausgehe, dass ich die Lerninhalte hinterher verwenden kann, suche ich mir vernünftigerweise Möglichkeiten, in denen ich weiteres Interessantes lernen kann. Wichtig dabei ist mir, dass das Lernen auf Verstehen ausgerichtet ist und ich mich freiwillig dafür entschieden habe. So kann ich mich weiterentwickeln und bekomme immer mehr Lust weiter zu lernen. Aufbauend auf vorangegangenen Erfahrungen, in denen Anerkennung und Autonomie merkbar waren, entwickelt sich weiteres Interessen an Lerngegenständen und am Lernen selbst. Freiwillige Teilnahme und die Abwesenheit von Leistungsdruck in der Lernsituation lenken weder vom Lerngegenstand ab, noch bedrohen sie die Handlungsfähigkeit, so dass Verfügungserweiterung sich auf die Gegenstände richten kann und darüber hinaus auf dem Boden gesicherter Authentizität Offenheit ermöglicht wird. Lerngegenstände können dabei auf den Beruf bezogen, aber auch in Abgrenzung hierzu charakterisiert sein. Möglichkeiten freiwilligen Lernens weisen über die Situation hinaus und können so Lernhemmnissen in der Biografie entgegenwirken. Als expansives Lernen begründet es sich entweder in vorherigen expansiven Lernerfahrungen, aber auch – als neue Erfahrung im Gegensatz zum Lernen unter Leistungsdruck – in der konkreten Situation, in der über die interessierenden Lerngegenstände und anerkennende Interaktion Handlungsfähigkeit im lebensweltlichen Kontext ermöglicht/angeeignet wird. Meine ganze Schulzeit war nur Mühe, Klage, Druck, entsetzlich. Und … als ich dann die Dinge lernte, die ich lernen wollte, hat sich das so gravierend geändert. (FLW4b, 206) Also ich hatte einen Bruch zum Positiven. Als ich einen Beruf angefangen habe und da gemerkt habe, dass das was, was ich da lerne, interessiert mich. Und daraufhin bekam ich auch, war ich auch gut und ich bekam positive Rückmeldung. Und das hat mein ganzes Lernen und Leben total verändert. Von dem Moment an, wo ich merkte ich kann ja was und es wird es wird mir auch gesagt und ich erlebe es auch an den Reaktionen, von dem

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Moment an kam so die Seite an mir raus, die Freude dran hat, die neugierig war und das ist so, Gott sei Dank, geblieben. Ne? Also es war wirklich so dieses (/) was ich hier beschrieben habe ist eigentlich das Gesamtbild meines Lernens, meine Möglichkeiten völlig unterdrückt in dieser Schulsituation (-) und in dem Moment, wo ich es frei bestimmen konnte, Sie sagten es ja vorhin auch, ne, ich war überhaupt nicht, ähm, eigenbestimmt. In dem Moment, wo ich selber bestimmen konnte, war alles gut. Ne? (lacht). (FLW4a, 577)

Gegenteil Das haben wir damals schon gesagt: „Das interessiert uns nicht. Wir würden ja gerne das machen, was uns interessiert, dann sind wir auch dabei.“ Das haben wir denen ja schon damals gesagt. Das wussten wir als Kinder ja schon. Äh, aber ich finde die Schule, die ist immer noch nicht so [schmunzeln]. (FLW4a, 583) Wobei auch die Abgrenzung zu Prüfungslernen v.a. bei den Seniorenstudierenden deutlich wird – man ist froh, diese Prüfungen nicht mehr machen zu müssen (FLW4a, 529).

Ist der Bezug von Lernen auf Arbeit unübersehbar, so zeigt sich auch, dass hierin Lernen nicht aufgeht. Zum einen zeigt sich eine Diskrepanz zwischen institutionalisiertem Lernen und Lernen im Leben, welches ebenso eine große Bedeutung hat. Zum anderen wird deutlich, dass ‚Arbeits-Lernen‘ nicht allen Wissensdurst und Neugier befriedigen kann (FLW4a, 42, 57, 59, 206) und damit auch andere Tätigkeitsbereiche (wie beispielsweise ein Ehrenamt, FLWa, 524, 571) bedeutsam werden. Beim Lernen neben der Arbeit ist auch bedeutsam, dass dieses Lernen nicht unter Leistungs- und Prüfungsanforderungen steht, sondern selbstgewählt ist. […], dass ich meinen Horizont erweitern möchte und wissbegierig bin und lernfähig. (FLW3b, 156) alles was Neues auf mich zu kommt, oder, was ich lerne, ich stürze wirklich wie fast ( ) da kann ich mal lange warten, sondern ich muss einfach anfangen … wirklich mein Motor beim Lernen. (FLW3b, 138). Aber das hat mein Leben auch begleitet, dieses, dieses auch alleine Sein, dieses außer, auch aus mir selbst heraus zu lernen. (FLW4a, 184) Ja, oder wenn man halt aus freien Stücken lernt oder so ist das bei mir, irgendwie jetzt gerade. Ich muss jetzt nicht lernen, aber irgendwie hat man das Gefühl, jetzt kann ich das mal, dann bleiben die Sachen besser hängen, als wenn man jetzt so pflichtmäßig jetzt: „Ach, ich muss bis da und da hin“, dann ist irgendwie, dann entsteht aus der Pflichtsituation eine Drucksituation, dann ist das ein anderes Lernen, als wenn man wirklich ja, sich einfach mal das Zeug nimmt und sich die Sachen anguckt. (FLW2a, 498)

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Bei selbsgewähltem Lernen liegt es Nahe, dass der Lernprozess sich am Vestehen der Lernenden orientiert, dies ist jedoch grundsätzlich für alle expansiven Lernprozesse entscheidend (FLW2a, 537, 542): Deswegen ist es wichtig, was er gesagt hat: Lernen muss man verstehen. Wenn man es nicht verstanden hat, dann kann man nicht richtig lernen. Man kann dann nur auswendig lernen. Das Verstehen ist das A und O. (FLW2a, 571)

Lernlust heißt aber nicht, dass dies nicht auch anstrengend sein kann. Auch hier braucht man Mut und Durchhaltevermögen (FLW3a, 378). Es wird dennoch auch mit positiv besetzten, blumigen Worten geschildert. Es fördert die eigene Entwicklung, man kann den eigenen Interessen und der eigenen Wissbegierde nachgehen. Ich hab keine Hochschulausbildung und hab mit eigentlich einen Traum erfüllt. (FLW4b, 56) […] also war begeistert von der ganzen Sache … ich fühl mich sauwohl und mach das auf jeden Fall weiter. (FLW4b, 59) Ich find das einfach spannend. Mir macht es einfach Spaß neue Dinge zu lernen. (FLW4a, 529) Was für ein Geschenk wir eigentlich haben … sich wirklich wunderschöne Gedanken zu machen … das lebenslange Lernen ist eigentlich ne super Sache eigentlich. (FLW4a, 506) Ich finde auch Neugier … Wissendurst auch. (FLW3a, 237 ff.) Also klar. Ich lerne indem ich Arte schaue, Dokumentarfilme. Klar, bilde ich mich. Man bildet sich ja, man ist ja auch wissensdurstig. (FLW3a, 719) […] seine Neugierde befriedigen. (FLW4a, 89)

Dieses Lernen wird häufig von ‚Pflichtlernen‘ und schulischem Lernen als seine verbreitetste Form abgegrenzt. Es wird unterstellt, dass freiwilliges Lernen besser sei. Lernen sollte zudem mit Verstehen oder einem je sinnvollen Verwendungszusammenhang verbunden sein. Dabei ist dieses Lernen nicht allein auf Wissen bezogen: „Das ist für mich spannend. Das ist nicht nur der Vortrag, sondern auch in der Mensa zu sitzen“ (FLW4a, 514). In freiwilligen Zusammenhängen kann dieses Lernen stattfinden (z.B. Greenpeace, Kinderladen, FSJ). Der Berufsbezug spielt eine ambivalente Rolle. Freiwilliges Lernen wird explizit in Abgrenzung zum Beruf hervorgehoben (FLW4), hier ist Zeit und Muße, sich mit Themen zu beschäftigen, die abseitig des Berufes liegen. Vor allem in der Abgrenzung zur Schule sind aber auch positive (weil anerkennende) Lernerfahrungen im Beruf ausschlaggebend für die Entwicklung eigener Lerninteressen. Im FSJ spielt die Berufsorientierung eine Rolle. Bei Umschüler_innen tritt in diesem Begründungskontext in den Vordergrund, dass sie sich jetzt – häufig nach

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einigen (lern-)biografischen Wirren – freiwillig und bewusst für dieses Lernen entschieden haben und es wird die (praktische) Sinnhaftigkeit betont. Die wenigen konkreten Situationen, die in den Gruppengesprächen zu diesem Aspekt des ‚freiwilligen Lernens‘ geäußert werden (und die sich nicht von der negativen Schulerfahrung abgrenzen) fallen in die Zeit im Freiwilligen Sozialen Jahr und im Seniorenstudium. Hier handelt es sich um intentionale Lernabsichten, wobei diese nicht immer in den konkreten Situationen bewusst sein müssen. Die Lernziele sind selbst gesetzt, die Lerngegenstände im Seniorenstudium eher wissenschaftsbezogen und im FSJ eher erfahrungsbezogen. Die Lerninhalte werden dabei selbst gewählt und die Lernmethoden sind flexibel. Ein Lernerfolg zeigt sich eher in der Befriedigung der eigenen Neugier, ist also selbstkontrolliert. Die Lernzeiten sind in diesen Settings eingeschränkt und die Lernorte eher festgelegt (außer Mensa). Die Lernfelder sind institutionell. Die Lernbezüge sind sowohl separiert (spezielle Themen) als auch integriert und werden auf die eigene Person bezogen. Die Lerneinheiten sind eher individuell, wobei Gespräche eine große Rolle spielen. Die Lernprozesse sind vom Angebot her auf die Lehrenden bezogen, von der Bedeutung – aufgrund der Freiwilligkeit – jedoch auf die Lernenden bezogen. Dieses Lernen ist deutlich expansiv ausgerichtet. Aufgrund der eher individuellen Perspektive ist eher von restriktiver Handlungsfähigkeit auszugehen. Biografisch setzt dieses Lernen an positive Lernerfahrungen an und grenzt sich von negativen ab. Es führt v.a. zu vermehrter Lernlust und Selbstsicherheit. Die Handlungsstruktur ist nicht ohnmächtig, sondern eigenständig. Die Bewegung der biografischen Entwicklung liegt im Selbstverständnis der Lernenden eher in ihnen, jedoch brauchen sie anregende Umfelder und zudem die Abgrenzung vom fremdgesetzten ‚Außen‘. Die biografische Ausrichtung ist deutlich offen, es werden neue und zu kurz gekommene Themen angegangen und zum Teil ergeben sich biografische Veränderungsprozesse. Diese Art des Lernens wird als Kontinuität erzählt. Positive Lernerfahrungen stärken das Selbstvertrauen und regen zu weiterem Lernen an. Lernen ist dabei nicht nur ‚leichtläufig‘, es erfordert auch hier Mut zur Offenheit und zum Durchhaltevermögen. Ziel von freiwilligem Lernen kann jedoch auch das Verharren im Bestehenden sein bzw. mit der Perspektive verknüpft sein, dass man sich nicht ändern werde oder wolle. In den Äußerungen der Teilnehmenden wird deutlich, dass bereits eine stärker selbstbestimmte Entscheidung zur Weiterbildung eine positive zufriedenstellende Einstellung begründet, auch wenn sich unterschiedliche Grade der Selbstbestimmung zeigen, die sich auf das eigene Lernen strukturierend auswirkt oder dadurch motiviert, und die auch Auswirkung auf das persönliche Wohlbefinden beim Lernen hat: „Und ich muss das hier auch nicht machen. Ich mache das,

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weil ich das will. Wenn es nicht so wär, würd ich das hier nicht mehr tun“ (FLW3a, 556). Es herrscht dann das Gefühl der Freiwilligkeit. Nicht äußerer Zwang, sondern der eigene Wille trägt das Lernen: Ja, bis zum Realschulabschluss (…) lief das nun in geordneten Bahnen (-) und dann seitdem (-) ist es so ’ne Achterbahnfahrt. Mal gelingt mir was und dann auch eher gut, mal gelingt mir nix, (-) dann ist es nicht sinnvoll, da weiter zu machen. Und hier macht mir das wieder Spaß. (FLW3a, 435)

Es geht nicht vorrangig um geordnete Abschlüsse. Die ‚Achterbahnfahrt‘ von Erfolg und Misslingen wird durch die Frage gebremst, ob denn Lernen sinnvoll sei. Dies ist Voraussetzung dafür, ‚Lernlust‘ zu entwickeln und Spaß zu empfinden, sich ‚sauwohl‘ zu fühlen. Dabei überwiegt der thematische Aspekt: Ich bin so glücklich, äh, endlich mal andre Themen zu bearbeiten. Und, äh, ich fühl mich sauwohl und mach das auf jeden Fall weiter. (FLW4b, 59)

Die Ausrichtung der Inhalte erweist sich als interesseleitend und lernmotivierend. Dabei wird die Zukunftsbezogenheit des Lernens hervorgehoben, eine vermutete, für später erwartete Verwendbarkeit, Nützlichkeit bzw. Verwertbarkeit – vorrangig bei der Berufsvorbereitung und der Umschulung: Die Themen hier, da wird man ja in den nächste Jahren auch mit zu tun haben, richtig mit zu tun haben, öfter und das trainiert ja auch. (FLW3a, 559ff.) Aber, hier sieht man das eindeutiger, was man später braucht. (FLW3a, 566f.)

Begründend werden integrierte Lernbezüge angeführt, die breit angelegt sind und auch Nachholen von früher Verpasstem ermöglichen: Ich kann mich hier motivieren, was ich früher eben nicht so richtig konnte (…). (FLW2b, 51) Jetzt äh, vielleicht ist es deswegen, hab ich mir das Studium ausgesucht, weil ich weiß, jetzt mach ich NUR positive Lernerfahrungen. (FLW4a, 188) Ich bin Sozialpädagoge, also hab ich auch studiert. Dann war ich eigentlich zu Hause mit meinen Kindern. Und, äh, dann hab ich aber später mal angefangen (

). So in der Be-

treuung und so. Und hab dann, äh, hier, ähm (/) Ich hatte erst andere Weiterbildungssachen hier überlegt und hab das dann hier gefunden und ich bin auch das erste Semester ja hier und äh, hab, äh, hier belegt Literatur und Psychologie. Äh, also war begeistert von der ganzen Sache, weil endlich mal wieder ( ) arbeiten kann. (FLW4b 59)

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Je nachdem wie die Aussage „weil endlich mal wieder ( ) arbeiten kann“ interpretiert wird, kann deutlich werden, dass Freude über die aktuelle Tätigkeit im Rahmen des Kontaktstudiums gerade daraus erwächst, dass Lernen hier nicht auf Arbeit im Sinne von Erwerbsarbeit zur Zukunfts- bzw. Existenzsicherung, sondern auf andere Ziele bezogen ist. Lernen wird latent mit Arbeiten zusammengezogen. An anderer Stelle der Forschungswerkstatt wird sogar herausgestellt, dass die Bedeutung des Kontaktstudiums gerade darin liegt, dass es nicht verwertungsbzw. im weiteren Sinne anwendungsorientiert ist. Was mir hier (nämlich) aufgefallen ist, im Studium jetzt. (…) also was für ein (…) Geschenk wir eigentlich haben, dass wir in einer Welt wohnen, in der wir uns das leisten können (…), einfach los zu gehen, zu studieren, die Zeit damit zu verbringen sich wirklich (…) wunderschöne Gedanken zu machen und, und sich also (…)] meinetwegen in Literatur zu verlieren und wie auch immer und danach zu graben und so. (…) mir das dann bewusst geworden (…) wie gut ich das eigentlich habe, dass ich das so weit gebracht hab, dass ich mir das leisten kann, einfach los zu gehen, ich arbeite nicht mehr, aber ich hab aber trotzdem ’ne Familie und alles und es läuft und, äh, also das finde ich, äh, also enorm. (FLW4a, 506) Ich hab keine Hochschulausbildung und hab mir eigentlich einen Traum erfüllt. (Und so ist das Leben.) Und das hab ich mir erfüllt, jetzt das erste Semester Philosophie und Theologie ( ) hier einige Dinge zu überprüfen, (-) was so meine Lebenserfahrung gemacht hat, nicht. Philosophie, oder was das zusammenhängt. Auch in Theologie. (FLW4b 57)

Die Erweiterung des Horizonts stellt eine weitere Motivation für das Lernen insgesamt dar, die in der Vorstellungsrunde der Lernwerkstatt mit Umschüler_innen geäußert wird. Grundlage sind ‚Lernfähigkeit‘ und ‚Wissbegierde‘: Ich hab das so assoziiert, […] dass ich […] meinen Horizont erweitern möchte und […] wissbegierig bin, lernfähig und [...], wenn ich hier am Lernen bin, dass ich […] logischerweise für mich selber und […] ich assoziiere das eben halt, dass ich meinen Horizont erweitern möchte. (FLW3b, 156)

5.2.7 Biografische Reflexion/Selbstreflexion Wenn Erwerbsarbeit als zentraler Bestandteil des Lebens noch nicht oder nicht mehr da ist, kommen Fragen deutlicher auf, wer ich bin, was ich tun mag und welchen Sinn ich meinem Leben geben möchte. Dafür gehe ich vernünftigerweise meinen eigenen Interessen nach. Die in Lernkontexten durchlaufenen Erfahrungen und Überlegungen helfen beim Nachdenken über mich und mein Leben.

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In den Vordergrund drängt sich grundsätzliches ‚Nachdenken über mich und mein Leben‘. Die Frage ‚welchen Sinn ich meinem Leben geben möchte‘ verweist auf eigene Aktivität und Interessen. Der Sinn ist nicht vorgegeben, sondern bezogen auf ein sich selbst begreifendes Ich. In den Statuspassagen hin zu Erwerbsarbeit und danach erhält diese sogar eine andere, stärkere Bedeutung und Identität muss neu arrangiert und balanciert werden, um Authentizität und Kohärenz zu sichern oder wieder herzustellen. Die Lerngegenstände sind dabei an Themen ausgerichtet, an denen sich Interesse entwickelt, jedoch noch nicht ausgebaut wurde. Das Setting des thematischen Lernens erscheint ‚freiwillig‘. Biografische Neubestimmung nach der Erwerbsarbeit wird notwendig, weil in dieser Statuspassage keine vertrauten Abläufe mehr greifen und eine individuelle Umgangsweise mit Zeit dominant wird. Der Wunsch nach erweiterter Handlungsfähigkeit bezieht sich nicht nur auf die intendierten und expliziten Lerngegenstände. ‚Biografizität‘ ermöglicht durch zunehmende Authentizität auch Verfügungserweiterung zur Gestaltung der eigenen Biografie, so dass Lernbarrieren überwunden werden können. Weil es ist ja eigentlich nur ’ne Sache mit mir, so. Ähm, aber das FSJ hat auch ’nen guten Rahmen gegeben, weil man da so ganz viele neue Sachen einfach hatte und ausprobieren konnte und da auch sich einfach selbst finden konnte im einsamen Zug in Stedensand. (FLW5a, 414) Aber, dass dieser Reifungsprozess noch nicht aufhört. Ich hab nämlich mal gedacht er hört auf und jetzt ist Schluss, (-) Ruhestand und (-) brauch nichts mehr. Da hab ich ganz schnell gemerkt, (-) das war’s nicht. (lacht) Ja? Und vorm Fernseher gesessen und da war das Thema Glück im Fernsehen (--) da bin ich aufgestanden und hab gesagt, das war’s. (--) Nicht vor dem Fernseher sitzen zu Hause, Decke auf den Kopf fallen lassen, (-) raus gehen (--) und lernen. (FLW 4b, 196)

Ein Lernsetting, in dem Reflexion ein Aspekt unter unterschiedlichen Lerngegenständen ist, bietet einen Rahmen über das eigene Leben insgesamt nachzudenken. Die Lerngegenstände haben dabei sowohl unmittelbare Bedeutung (am Beispiel des FSJ zur Berufsorientierung und zum Erwachsenwerden) als auch mittelbare, in dem mit Lernen ein Freiraum/Moratorium aufgemacht wurde. Bei mir war das FSJ auch so, dass ich so beruflich eigentlich nochmal voll umgeschwenkt bin, was ich eigentlich danach machen will und hab das eher auch (mit einem Praktikumsjahr) angefangen, weil ich irgendwie, irgendwie Überbrückungszeit brauchte und die FSJlerin vor mir aufgehört und ich konnte das dann übernehmen und das war, glaub ich, mein größtes Glück und dadurch dieses ganze pädagogische, das ist ja auch machen will,

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ähm, das passte einfach total gut. Und das war auch dieses Theaterpädagogik auch an sich, überleg’ ich auch, ob ich das mal irgendwie dazu irgendwie als Master studiere, oder so. (FLW5a, 435)

Dem FSJ wird auch insofern Bedeutung beigemessen, als dass darüber Einblicke in die Erwerbsarbeitswelt gewonnen werden konnten: „Um mal zu gucken, wie ist arbeiten überhaupt“ (FLW5a, 433). Eine doppelte persönliche Bedeutung haben die Reflexionsgespräche innerhalb des FSJ, die sowohl in Bezug auf das Arbeitsleben als auch das Privatleben ausgemacht wird: Also irgendwie hat das sehr geholfen (-) so mich selbst zu reflektieren und auch mich selber halt zu hinterfragen, (…) So mein ganzes (/) also nicht nur mein Arbeitsleben, sondern auch so Privatleben, allgemein wie man so ist. (--) Das hat geholfen. Also hab ich sehr daraus mitgenommen. (FLW5a, 445)

Das FSJ wird als hilfreich für den Erwerb von Fähigkeiten wie Selbstorganisation, die zuvorderst in ihrer Bedeutung für den Erwerbsarbeitsmarkt thematisiert werden, eingeschätzt: Also und auch auf eigenen Füßen stehen und das konnt’ ich vorher alles irgendwie nicht so richtig gut mit, mit den Bewerbungen schreiben, da war ich immer zu spät und immer alles auf den letzten Drücker, so wie du. Das mach ich heute immer noch bisschen, aber nicht mehr so schlimm wie früher. Also meine Bewerbungen waren alle immer recht pünktlich (-) da, glaub ich. Und, und dieses selbstorganisieren hab ich viel gelernt. (FLW5a, 429)

Diese Fähigkeiten spielen im Kontext der Statuspassage Jugend-/Erwachsenenalter eine wichtige Rolle. Wenn das FSJ mit einem Auszug aus dem Elternhaus einhergeht, erlangt die eigenständige Organisation des Alltags eine noch stärkere Bedeutung: Ja, also ich persönlich hab sehr, sehr viel gelernt, in diesem Jahr, also auch, weil ich von Zuhause weg gezogen bin. Und es war ja alles vollständig neu. So seinen eigenen Alltag irgendwie organisieren und ohne ’nen Rettungsanker (Mutti) und äh, (-) auch dann, äh, (/) auch dann so dieses neue Denkmodell, das ich mir da überlegt hab einfach mal auszuprobieren. (…) Ja, das (-) hat, ja, ziemlich gekracht. (lacht) Ja, also das war ziemlich gut, (--) will ich damit sagen. Äh, also ich hatte, äh, (/) Ich würde das auch als Lernerfolg bezeichnen, was ich diesem Jahr da hatte. (FLW 5a, 410)

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5.2.8 Sinnüberschuss und ungelebtes Lernen Ich habe in meinem Leben einige Themen und Bereiche kennengelernt und Interesse an ihnen entwickelt, die aus meiner Perspektive nicht genügend in meiner Erwerbs- oder Sorgearbeit vorkamen. Zudem waren in dieser Zeit in meinem Leben andere Bereiche dominanter (Erwerbsarbeit/Familie). Wenn diese nun weniger wichtig werden oder weniger Aufmerksamkeit erfordern, entsteht die Möglichkeit, diesen Interessen stärker nachzugehen. Vernünftigerweise suche ich mir dann hierfür entsprechende Lernmöglichkeiten. Wichtig ist mir dabei, dass dieses Lernen nicht (mehr) unter Leistungsdruck steht. Ich kann nun Bereichen/Themen lernend nachgehen, die ich bisher nicht ausleben konnte und so Neues für mich und an mir entdecken. Dieses Begründungsmuster tritt besonders in der Statuspassage nach der Erwerbs- und Sorgearbeit auf den Plan. Es wird an Lerngegenständen angeknüpft, zu denen Erfahrungen vorliegen, welche jedoch nicht ausgebaut sind. Lernthemen und Lernsettings sind als biografische Spuren vorhanden, die nun aufgegriffen werden können. Lernschranken können so überwunden werden. Dies wird auch durch die Abwesenheit von Leistungsdruck ermöglicht. Die Lernsituationen sind institutionell eingebettet, durch freiwillige Teilnahme und eher individuelle Ausrichtung gekennzeichnet. Verfügungserweiterung bezieht sich in diesem Begründungsmuster auf den lernenden Aufschluss der jeweiligen Lerngegenstände, aber auch auf die Weiterentwicklung von bisher nicht-dominanten Teilidentitäten, so dass durch neue Erfahrungen von Autonomie und Authentizität Handlungsfähigkeit in biografischer und konkreter Perspektive ausgeweitet werden können. Expansives Lernen als Realisierung von Sinnüberschüssen verweist auf eine lebensweltliche und biografische Struktur, in der Spuren ‚ungelebten Lebens‘ zu finden sind. Sinnüberschüsse oder ‚ungelebtes Leben‘ thematisieren die Alternativen, die – nicht umgesetzt und verwirklicht – als Veränderungspotenzial im Verständnis einer selbst zu gestaltenden Biografie zur Verfügung stehen könnten. Besonders in der Lernwerkstatt ‚Seniorenstudium‘ lässt sich die Bedeutsamkeit der Weiterbildungsteilnahme über den Aspekt des ‚ungelebten Lebens‘ nachzeichnen: Das Studium geisteswissenschaftlicher Fächer, aber auch das Studium an sich, wird in der Lebensphase nach dem Beruf als Sinnüberschuss erkannt, der nun ausgelebt werden kann. Das Seniorenstudium dient einer bewussten Veränderung in der Gestaltung der eigenen Biografie. Die Bedeutung der Universität/des universitären Raums wird dabei ebenso thematisiert wie die Inhalte, die sich von den bisherigen Tätigkeitsfeldern im beruflichen Kontext unterscheiden. Diese ‚neu-

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en‘ Lernthematiken werden auch deutlich von den Lernfeldern, die die Weiterbildung vorhält, abgegrenzt. Ich hab keine Hochschulausbildung und hab mir eigentlich einen Traum erfüllt. (Und so ist das Leben.) Und das hab ich mir erfüllt, jetzt das erste Semester Philosophie und Theologie ( ) hier einige Dinge zu überprüfen, (-) was so meine Lebenserfahrung gemacht hat, nicht. Philosophie, oder was das zusammenhängt. Auch in Theologie.“ (FLW4b, 57) […] einfach los zu gehen, zu studieren, die Zeit damit zu verbringen, sich wirklich, äh, sich wirklich wunderschöne Gedanken zu machen und, und sich also, äh, äh, also meinetwegen in Literatur zu verlieren und wie auch immer und danach zu graben und so. (FLW4a, 506) Also was für ein, äh, was für ein Geschenk wir eigentlich haben, dass wir in einer Welt wohnen, in der wir uns das leisten können (wirklich), also, äh, einfach loszugehen, zu studieren, die Zeit damit zu verbringen. (FLW4a, 506)

Dabei finden sich Überschneidungen in den Begründungen – innerhalb dieser Lernwerkstatt – mit der Kategorie ‚Weiterbildung als Zeit biografischer Reflexion‘. Die Beschäftigung mit philosophischen und theologischen Themen dient als Anlass, die Lebenserfahrung auf dieser Folie neu in den Blick zu nehmen. […] hier einige Dinge zu überprüfen, (-) was so meine Lebenserfahrung gemacht hat, nicht. Philosophie, oder was das zusammenhängt. Auch in Theologie. (FLW4b, 57)

Das Seniorenstudium ermöglicht den Teilnehmenden sich den Themen zuzuwenden, die sie interessieren, und wird von diesen als großen Zugewinn an Lebensqualität verstanden. Die Auseinandersetzung mit geisteswissenschaftlichen Themen (Theologie, Philosophie, Literatur, Psychologie) dient dabei zum einen der Überprüfung von Gewissheiten (FLW4b, 56, 73). Zum anderen ist dies auch eine Hinwendung zu Bereichen, für welche man vorher nicht genügend Zeit und Muße hatte (FLW4b, 42). Die eigenen Interessen und die eigene Neugier kann hier befriedigt werden (neben den Geisteswissenschaften auch naturwissenschaftliche Inhalte). Und ich habe eine Vorlesung besucht zum Thema Kartensysteme, Geokartensystem und Fernerkundung. Ist gerade zu Ende und die Leute schreiben jetzt nächste Woche die Klausur. Muss nicht mitschreiben. Will, und auch nicht muss, sowieso nicht, aber auch nicht will. Und das war sehr interessant, war sehr spannend, hab’ viel gelernt dabei. Hab auch gemerkt, dass ich (noch) längst nicht alles verlernt habe, was ich mal in Mathe gelernt, in Mathe konnte. (FLW4b, 49) Ich bin jetzt im zweiten Semester des Seniorenstudiums. Nach Aufgabe meiner beruflichen Tätigkeit ist es mir möglich Zeit zu nutzen, Dingen nach zu gehen, die (-) mir (-) bis

140 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE jetzt verschlossen geblieben waren. Also ich belege Geisteswissenschaften. In erster Linie Philosophie, philosophische Themen, politische Philosophie und auch, äh, Theologie. (FLW4b, 42)

Die Realisierung ‚ungelebten Lebens‘ bezieht sich dabei nicht allein auf die gedankliche Auseinandersetzung mit aufkommenden Fragen, sondern auf die praktische Umsetzung der mit ‚neuem Lernen‘ verbundenen Handlungsweisen in ihren Kontexten. Ich möchte dazu sagen, es ist ja nicht alleine die Teilhabe an der Vorlesung, also an dem Vortrag, sondern ich genieße es auch, äh, in der Mensa zu sitzen. Äh, äh, Kommilitoninnen, die Jüngeren zu beobachten (/) um was geht es? Mit welchen Themen beschäftigen die sich? Geht’s um, um, um, äh, um Prüfungen oder geht’s (/) ich hab keinen Bock da drauf? Jetzt mach ich das erst mal so, weil’s mein Alter so will, oder so. Das ist für mich immer wie so ’ne, äh, soziologische Studie, äh, und (das war jetzt ungefähr) vor fünf Jahren hab ich gedacht (was machst) machst du Soziologie, mich interessiert das und ich würde vielleicht auch mal gerne wirklich was machen, vielleicht Forschung oder Bachelor oder Master machen. Weiß ich nicht, ob ich das in zwei Jahren mache. Kann ( ) sein. Aber mich ist dann dieses ganze Umfeld, das zu erleben. Wie hab ich das Erfahren als junge Frau? Wie war das? Und heute. Das ist (Sie haben gesagt), äh, für mich (/) ich empfinde es als Luxus. Auch daran teilzuhaben. Und das, ich sag mir immer zu meinen Freundinnen, wenn ich in den Spiegel schaue, denk ich ich bin Mitte 20. Ich meine, man erschreckt sich ja (/). Also ich will sagen, diese innere Befindlichkeit hat nichts damit zu tun wie alt ich bin oder wie ich aussehe, sondern einfach, äh, dieses offene, dieses neue, neugierige. Das ist für mich spannend. Das ist nicht nur der Vortrag, sondern auch in der Mensa zu sitzen. (FLW4a, 514)

Die Antwort auf die Frage, ob Lernen lebenslänglich oder lebenslang zu verstehen ist, ist in diesem Begründungsmuster einhellig mit lebenslang beantwortet. Lernen wird als bereichernder lebenslanger Prozess verstanden: Es hört überhaupt nicht auf. Wenn es aufhört liegen wir alle in der Kiste … Unsere letzte neue Erfahrung (lacht). (FLW4b, 456ff.)

Das Rentenalter als Lebensabschnitt ist eben nicht die Vorbereitung auf den Tod: Du hast noch 20, 30 Jahre vor dir, die möchtest du gestalten. Möchte ich gleich in die Kiste und warten, dass es zu Ende ist? (FLW4a, 546ff.) Also, meine Tätigkeiten sind normalerweise jetzt ja eigentlich beendet. Mit 95, da macht man nicht (...) Ich bilde mir aber immer noch ein, wenn ich die Jungs sehe, da am, am

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Computer: Ich habe auch einen Computer. Und ich hab auch ’nen Laptop. Da arbeite ich auch mit. Also, ich bin, wenn, wenn ich das sehe, wie junge Leute das können, dann sage ich mir immer: Warum kann ich das nicht? Also so, das ist meine Einstellung, nee? Und ich, äh, bin, mache da auch bei der, bei der xyz, da hab ich, mach ich auch ein bisschen mit. (…) Bin aber dann 1950 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekommen und bin dann hier bei der Hamburger Hochbahn als Handwerker angefangen. (FLW6b, 36). Ich bin ja noch ganz jung. 64 bin ich erst undja, oh Gott. (...) Ich bin auf dieses Seminar aufmerksam gemacht worden bei einem Einführungskurs für äh, ein freiwilliges Engagement. Ich bin seit zwei Jahren im Ruhestand und suche jetzt eine Tätigkeit. Werde da eine Weiterbildung machen und mich so als Seniorpartnerin, zum Beispiel, Seniortrainerin, so heißt das ja, engagieren, ja. (FLW6b, 47) Ich bin jetzt gerade 67 Jahre alt geworden. Jahrgang ’46 geboren. Ich mache ehrenamtlich im Moment nichts. Bin, ähm, sehr eingespannt mit meinen Hobbys, bin in einer Schreibwerkstatt, das heißt, wir schreiben kleine Gedichte, kleine Geschichten und äh solche Dinge und im Chor und, und was halt so Interesse ist und ich bin Großmutter und hab Familie und äh die müssen ja auch ein bisschen versorgt werden. Äh, also ein Ehrenamt habe ich jetzt nicht. Im Moment sehe ich das auch nicht. Ich habe aber ein Ehrenamt äh lange gehabt an der Kirche und habe dafür auch ’ne Prüfung äh abgelegt. (…) Das fand hier in St. Martini viele Jahre statt und ähm, da war ich, hab ich dann da so Gruppen mit geleitet. Und so was stellte ich mir auch so vor oder irgendwie im Rahmen der Erwachsenenbildung und so. Ja, aber wie gesagt im Moment [erst mal nicht]. (FLW6b, 52)

5.3 L ERNBEGRÜNDUNGEN M USTERN

IN

P ERSPEKTIVEN

UND

In den Lernwerkstätten und den Lerngeschichten überlappen sich zwei gegenläufige Sichtweisen: Leben wird zum Inhalt des Lernens und Lernen zum Inhalt des Lebens. Auf die Anforderung eine Lerngeschichte zu schreiben, erzählen die Teilnehmenden oft eine Sicht auf ihr Leben. Lernen erhält ein großes Gewicht im Leben. (Selbstverständlich ist dies auch der Fragestellung geschuldet.) In fast allen Fällen wird die ‚Forschende Lernwerkstatt‘ als Chance zur Selbstfindung und zum Nachdenken angesehen – als ‚Moratorium‘, das nicht der Zeitknappheit und dem normalen Stress unterliegen muss. Hier wäre Zeit für biografische Reflexion. Besonders im Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Seniorenstudium wird die Lernaufgabe – seinem Leben vorausschauend oder rückblickend einen Sinn zu geben – deutlich. Allerdings werden Situationen aus dem bisherigen Leben nur sehr knapp geschildert. Die Lernabsichten werden eher thematisch artikuliert. Wobei es jedoch

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nicht um konkrete Lerngegenstände geht, sondern darum sich selbst und das Leben (besser) zu verstehen. Es ist ein Nachdenken über sich und den Sinn des Lebens. Wenn trotzdem intentional vorgegebene und thematisch enge Lernabsichten angegeben werden, kann das auch dem Versuch folgen, riskante Horizonte nicht zu weit zu öffnen und auszuhalten. Somit werden Lernziele eher selbstbestimmt, Lerninhalte wählbar und auf Lernende bezogen. Lerngegenstände beziehen sich auf Wissensbestände, die auf die eigenen Erfahrungen rückbezogen werden und sozial integriert werden. Es handelt sich nicht um ein isoliertes Lernen und Denken. Die präferierten Lernmethoden sind somit variabel und Lernerfolge selbstkontrolliert. Die Lernzeiten sind in der Weiterbildung grundsätzlich offen – sie werden in den institutionellen Settings jedoch festgelegt. Die Lernorte sind verglichen mit Schule und Hochschule vielfältig. Somit geht Weiterbildung in Richtung ‚selbstbestimmtes Lernen‘: Die Handlungsstruktur wird nicht als ohnmächtig erlebt, sondern als eigenständig wahrgenommen. Die biografische Bewegung liegt im Selbstverständnis der Lernenden eher in ihnen, jedoch brauchen sie ein anregendes Umfeld und zudem die Abgrenzung vom fremdgesetzten ‚Außen‘. Die biografische Ausrichtung ist deutlich offen, es werden neue und zu kurz gekommene Themen angegangen und zum Teil ergeben sich biografische Veränderungsprozesse. Diese Art des Lernens wird als Kontinuität erzählt. Vor allem in der Abgrenzung zur Schule sind aber auch positive (weil anerkennende) Lernerfahrungen in Erwerbskontexten ausschlaggebend für die Entwicklung eigener Lerninteressen. Im Freiwilligen Sozialen Jahr spielt Berufsorientierung eine wichtige Rolle. Bei der Fortbildung tritt in diesem Begründungskontext in den Vordergrund, dass sie sich jetzt – häufig nach einigen (lern-)biografischen Wirren – freiwillig und bewusst für dieses Lernen entschieden haben und es wird die Sinnhaftigkeit betont – so jedenfalls die eigene Wahrnehmung. Die durch das Moratorium ermöglichten Reflexionsprozesse bereichern und erweitern den eigenen Horizont. Hierfür braucht es auch einen angemessenen Rahmen, in dem man ohne Druck unterschiedliche Anregungen bekommt – entweder über die Besuche in Erwerbsfeldern und Reflexionsgespräche im Rahmen des Weiterbildungsprogramms (FSJ) oder inhaltlich (Seniorenstudium/Umschulung). Positive Lernerfahrungen – so die Aussagen ‒ stärken Selbstvertrauen und regen zu weiterem Lernen an. Lernen ist dabei nicht nur ‚leichtläufig‘, es erfordert auch hier Mut zur Offenheit gegenüber Neuem und Durchhaltevermögen. Beim Lernen trifft man auf Unvorherzusehendes. Diesem muss offen begegnen, sonst lernt man nicht(s). (FLW2b, 94) Die Scheuklappen zu verlieren ist eine wichtige Lernerfahrung (FLW4a, 502).

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Ziel der Reflexionsprozesse ist sich selbst und das Leben (besser) zu verstehen. (FLW5, FLW4). Die Lernenden versuchen im Reflexionsprozess den Lebensprozesses als gewinnbringend und wachsend zu verstehen. Die Gefahr ist präsent, ein reichhaltiges Leben zu haben und es dennoch nicht zu verstehen. Die Frage ist, haben Sie noch Hoffnung, dass Sie das noch Lernen? [Leben verstehen] … aber das ist vielleicht – Sie wissen schon – ne echte Lebensaufgabe (lacht) (FLW4a, 227). Wir wissen alle, was Leben ist, aber verstehen können wir es auch nicht (lacht). (FLW4a, 229)

Im Leben im Reflexionsprozess Gutes, Schlechtes, Sinnhaftes entdecken (FLW4a, 580). In den Reflexionsgesprächen (beim Arbeitgeber des FSJ) feststellen, was man schon alles gelernt hat (FLW5a, 365) und über sein Leben (Wünsche, Interessen sich selbst hinterfragen, gut und schlecht Gelaufenes) nachdenken (FLW5a, 444, 448). Im FSJ viel lernen: sich selbst kennenlernen, Selbstorganisation, auf eigenen Füßen stehen, FSJ als Rahmen für Ausprobieren (FLW5a, 409, 429, 455, 447, 449) Lernen gibt so viel Selbstvertrauen, dass man nun sogar zuversichtlich ist, selbst im Falle einer Lähmung damit so einen guten Umgang zu finden, um weiterhin ein erfülltes Leben zu haben (vgl. FLW4a, 506). Erstaunlich ist, dass Lernen, wenn auch mit Einschränkungen, durchgängig positiv bewertet wird. Methodenkritisch kann man einwenden, dass dies Resultat der vorherrschenden öffentlichen Meinung sein kann und zusätzlich noch durch den Einbezug in eine Untersuchung, die sich mit Lernen beschäftigt, verstärkt wird. Trotzdem bleib festzuhalten: Die Lernenden äußern sich grundsätzlich positiv gegenüber dem Lernen, berichten aber auch von negativen Erfahrungen aufgrund von Druck, Zwang und Außensteuerung. Lernen steht im Widerspruch von Anpassung und Befreiung.

6. Kontextuale Lerntheorie

Das Forschungsprojekt ‚Biografizität und Kontextualität des Lernens‘ verfolgte die Absicht, zur empirischen Fundierung einer kontextualen Lerntheorie beizutragen, welche die konkreten Lebens- und Lernsituationen der lernenden Subjekte in temporaler und struktureller Perspektive rahmt. Dabei kann Biografie als Sediment der Erfahrungen der vom Subjekt durchlaufenen Kontexte – der Aspekte von Welt, in die das Ich einbezogen ist – aufgefasst werden. Gleichzeitig werden die möglichen, zukünftig folgenden Flussrichtungen des Lebenslaufs kanalisiert. Lernstrategien als Lernhandlungsmuster verbinden Lerninteressen an einer konkreten Lernthematik in einer konkreten Lernsituation mit den dahinter stehenden Lebensinteressen – d.h. anhand der Bedingungen von Lernen (Gegenstand, Weg, Ziel, Widerstände: Hemmnisse und Schranken) und dann in Begründungen aufgemachten und geäußerten gesellschaftlichen Bezügen werden Thematik, Situation, Interessen und Lernhandlung miteinander verbunden. Lernwiderstände begründen sich in individuellen Dispositionen und den Strukturen der Lebenswelt (insbes. des Beschäftigungs- und Weiterbildungssystems). Aber auch diese Strukturen sind nicht direkt ‚verursachend‘, sondern erst durch ‚interne‘ Bedeutsamkeit wirksam, die sie durch Erfahrungen der Lernenden erlangen. Ein Grund wird von einem Subjekt zur Legitimation einer Handlung angegeben, die dadurch nachvollziehbar und begreifbar werden kann. Gründe nachzuvollziehen heißt sie zu verstehen bzw. zu begreifen: als Interpretation von Phänomenen, Dokumenten, Konstellationen, Strukturen. Ursachen anzugeben dagegen erfordert eine deterministische, bestenfalls stochastische Sicht: als Variablenanalyse von isolierten Wirkzusammenhängen. Man kann diese Differenz auch als den Unterschied von Verstehen und Erklären deuten. Ausgangspunkt der Untersuchung sind die Lernbegründungen der Lernenden. Vor hier aus wird die Bedeutsamkeit von Bedingungen – und damit die konkreten Kontexte – herausgearbeitet. Bedeutsamkeit vermittelt somit auch zwischen individuellem Sinn und strukturellen Bedingungen.

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Lerngründe lassen sich nach ihrem defensiven oder expansiven Charakter unterscheiden und ordnen. In beiden Fällen erweitert sich in gewisser Weise auch Handlungsfähigkeit. Im ersten jedoch funktional, während beim zweiten der Lerngegenstand selbst im Zentrum der Lerninteressen steht. Diese kristallisieren in den Subjekten zu Intentionalitätszentren. Mit der übergeordneten Unterscheidung der Erweiterung der Handlungsfähigkeit in eine restriktive oder eine verallgemeinerte Form (Holzkamp 1983; 1993) wird auf gesellschaftliche Bedeutsamkeiten verwiesen, da sich diese Unterscheidung nicht erst im Lernen, sondern vorab in der Wahrnehmung und Einschätzung der gesellschaftlichen Situation als Handlungsanforderung begründet. Bei der Frage nach der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten – wie dies für verallgemeinerte Handlungsfähigkeit gilt – geraten sowohl thematische wie auch funktionale Aspekte in den Blick und müssen hinsichtlich ihrer Perspektive auf ihr Potenzial zu erweiterter Weltverfügung abgewogen werden. Im Unterschied zur reduktionistischen, bedingungsbezogenen setzt eine kontextuale, bedeutungsverstehende und -begreifende Lerntheorie auf Bedeutsamkeit als durchgehenden roten Faden, der sich durch das Knäul der verschiedenen Lernbegründungen zieht. Geordnet werden die verwobenen Muster unter den Begriffen Identität, Anerkennung und Leistung. Diese können als zentrale Kategorien für das Begreifen der gegenwärtigen Gesellschafsform angesehen werden.

6.1 I DENTITÄT

ALS

S ELBSTENTWURF

Die zum Lernen anstoßende Erfahrung des Anderen und Fremden ist gegenüber der Entwicklung des Selbstverständnisses vorrangig und vorausgesetzt. Identitätsentwicklung und -sicherung (s.o. 5.2) beruht auf der gegenseitigen Anerkennung der Subjekte und hat eine wesentliche Grundlage in der Einschätzung ihrer jeweiligen Leistung im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Der Neohegelianer und Erbe ‚Kritischer Theorie‘ Axel Honneth hat eine breit diskutierte Theorie der Anerkennung ausgehend von Hegels Jenaer Schriften als Kern einer normativ gefüllten Gesellschaftstheorie vorgelegt (Honneth 1992). Diese denkt insofern in unsere Richtung, als sie abrückt von einem Menschenbild, das auf der Vorstellung eines egozentrischen, nur auf den eigenen Nutzen bedachten Wesens beruht (ebd. 14). Hegel behält zwar das Denkmodell eines resultierenden permanenten sozialen Kampfes bei, weist aber der Intersubjektivität eine weitaus größere Bedeutung zu (ebd. 20). Es geht ihm um die Überwindung der „atomistischen Irrtümer“ (ebd. 21). Er denkt den gesellschaftlichen Zusammenhang nach dem Modell einer sittlichen Einheit (ebd. 23). Die Organisation von Gesellschaft fände entsprechend „in der solidarischen Aner-

6. K ONTEXTUALE L ERNTHEORIE

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kennung der individuellen Freiheit aller Bürger ihren sittlichen Zusammenhalt“ (ebd. 25). So stehen sich die Individuen „nicht mehr als selbstbezogen Handelnde sondern als ‚Glieder eines Ganzen‘ gegenüber“ (ebd. 43). Auf dieser Grundlage ergibt sich eine Stufentheorie sozialer Anerkennung (ebd. 46), die drei Anerkennungsweisen gliedert: die bedürfnisbezogenen Gefühle (Liebe), die formale Gleichheit (Recht) und die Gemeinschaftlichkeit (Solidarität). Gesellschaftliche Konflikte werden begründet mit fehlender Anerkennung: „Beschäftigte Klagen darüber, dass ihr Beitrag zur gesellschaftlichen Reproduktion nicht ausreichend anerkannt wird; Arbeitslosigkeit wird von den Betroffenen nicht nur als materielle Benachteiligung, sondern ebenso als Vorenthaltung gesellschaftlicher Anerkennung empfunden. Unterdrückte und übervorteilte gesellschaftliche Gruppen fordern nicht nur Besserstellung, sie bestehen auch auf der Anerkennung ihrer Leidensgeschichte.“ (Voswinkel/Lindemann 2013, 7)

Wenn wir diese Perspektive auf unser Thema Lernen übertragen, so folgt daraus zunächst ein Fokus auf die Intentionalität der Interaktionen. Zwischenmenschliches Handeln zielt wesentlich auf Anerkennung und menschliches Lernen versucht die eigene Stellung zu entfalten und zu verbessern – aber eben nicht nur in Konkurrenz sondern auch in Solidarität mit den anderen. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist gebunden an von den Gesellschaftsmitgliedern akzeptierte Leistungen, zentral die Beiträge zur Arbeitsleistung. Davon ausgehend können wir die von uns aufgedeckten Begründungsperspektiven und -muster auf ein Spektrum von Anerkennung und Leistung beziehen. Bemerkenswert ist, wie weit beide Horizonte in unserem empirischen Material reichen. Kontextuale Lerntheorie verweist mit dem Konzept des partizipativen Lernens (vgl. Holzkamp 1993, 501 ff.) auf die Bedeutung konkreter intersubjektiver Lernverhältnisse (für expansives Lernen). Unsere Ergebnisse konkretisieren dies mit Blick auf Interesse an Anerkennung. In konkreten Lernsituationen geht es dabei um Sicherung und Ermutigung in Interaktionsprozessen, die Anerkennung als lernendes und handelndes Subjekt beinhalten und stärken. Lernen verweist darauf, dass Lerngegenstände als Wissen über Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden. Die Wege des Lernens sind dabei geprägt von den biografisch erworbenen Eigenheiten und der Handlungsfähigkeit der Subjekte. Anerkennung in der Dimension der Stärkung steht dabei in einem Verhältnis von Spannung zu Leistungen, welche auf Können abstellen und vorrangig in Form von Unterordnung erfolgen und abgefordert werden. Ermutigung als Form der Anerkennung kann auch als Baustein zur Erhöhung von Weiterbildungsbeteiligung gesehen werden. Wissen wir aus anderen For-

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schungsberichten, dass (institutionelles) Lernen im Zusammenspiel habitueller Haltungen und konkreten Kontexten angestoßen wird, so zeigen diese auch, dass die Teilnahme an Lernveranstaltungen nicht als nachträgliches Ergebnis angesehen werden kann, sondern sich ebenfalls erst in diesem Zusammenspiel entscheidet und damit sowohl die konkreten Kontexte, wie auch die habituellen Haltungen, durch neue Erfahrungen verändert. Dabei sind Lerngelegenheiten nicht allein als mögliche Angebote zu verstehen. Sie müssen ergänzt werden durch Anerkennungsstrukturen und -kulturen. Diese ermöglichen nicht nur eine (singuläre/temporale) Teilnahme am Lernen, sondern stärken einen positiven Bezug der Subjekte zum Lernen selbst und können damit v.a. habituelle Haltungen verändern. Die empirischen Ergebnisse unseres Projekts hinsichtlich der Bedeutung von Anerkennung und Autonomie verweisen auf gesellschaftliche Bedingungen, die Selbstsicherheit nicht automatisch hervorbringen, sondern dies für Subjekte zu einer Herausforderung, zu einer Handlungsproblematik und im Verlauf zu einem Lernprozess machen. Diese Bedingungen beinhalten, dass die Subjekte in ihrem jeweiligen So-Sein nicht anerkannt werden, sondern dass eine Unterordnung unter Normen, Hierarchien und Autoritäten von ihnen verlangt wird. ‚Leistung‘ sortiert Lernende und Arbeitende. Unterwerfung aber kann eine weitere Bedrohung des Subjekts (verrückt werden, krank werden, einsam sein) bedeuten, so dass umgekehrt widerständiges Handeln zur Notwendigkeit wird – Unterordnung und Befreiung neu austariert werden und Handlungsfähigkeit zunehmen kann.

6.2 L EISTUNG

ALS

B ASISIDEOLOGIE

In einer statusdifferenzierten Gesellschaft, das hat die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth gezeigt (Fraser/Honneth 2003) ist Anerkennung immer auch an das Problem der Verteilung gebunden. Kämpfe um Akzeptanz stellen sofort Fragen der Distribution und ihrer Legitimation. Im Übergang zur bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft gelten nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem Stand, sondern die individuell erbrachte Leistung im Gefüge der industriell organisierten Arbeitsteilung als Grundlage legitimer Verteilung (Honneth, in ebd. 166). Statusdistribution soll – im Gegensatz zu den vererbten Vorrechten einer ständischen Gesellschaft – nach dem postulierten meritokratischen Prinzip erfolgen. Wo dies verletzt wird oder nicht greift, wird das als ungerecht bewertet.

6. K ONTEXTUALE L ERNTHEORIE

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„Im System der offiziellen Selbstdarstellungen und Selbstrechtfertigungen industriell – kapitalistischer Gesellschaften spielt kein anderer Topos eine so prominente Rolle wie der Begriff der ‚Leistungsgesellschaft‘.“ (Offe 1970, 7)

Hinter dem Gesellschaftsbild, das es erlaubt, bestehende Macht- und Herrschaftsstrukturen als gerechtfertigt zu legitimieren, steht „auf der einen Seite die Vorstellung einer hocheffizienten Leistungsordnung, in der die Rechte und Privilegien jeder gesellschaftlichen Gruppe strikt an dem bemessen sind, was als ihr Beitrag zum Gesamtprodukt gilt; auf der anderen Seite enthält es die theoretische Leugnung und die Rechtfertigung für die praktische Unterdrückung.“ (Ebd.)

Claus Offe hat schon frühzeitig (ebd. 1970) in seiner Studie über „Leistungsprinzip und industrielle Arbeit“ darauf hingewiesen, dass das quasi-religiöse Legitimationsmodell der Statusdistribution zunehmend obsolet geworden sei. Die Arbeitsorganisation entzieht sich einer einlinig gestaffelten Hierarchie. Nichtsdestoweniger wirkt das Prinzip fort – auch deshalb, weil kein anderes Konzept hinreichend greift, sondern Ungleichheit in ihrem Stellwert als ideologische Basis der Statusordnung und -verteilung zugedeckt wird und nur selten als Ungerechtigkeit deutlich wird. So entsteht ein „Mythos, der die Barrieren der gegebenen Sozialstruktur gegenüber alternativen Modellen gesellschaftlicher Produktion und Distribution befestigt.“ (Ebd. 9)

Es ist frappierend, wie stark sich das meritokratische Legitimationsmodell in den Köpfen festgesetzt hat. Im Ergebnis zeigt sich, dass nach wie vor Leistung zentrale Bedeutung für die Bewertung aller Tätigkeiten und insbesondere auch dem Lernen zukommt. Aufgrund der Leistungsbezogenheit der Arbeitsgesellschaft spielt dies auch für Lernen eine Rolle. In der Analyse unseres empirischen Materials stellt sich ein Arbeits- bzw. Erwerbsbezug ebenfalls als zentrale – direkte oder indirekte – Perspektive für Lernbemühungen bzw. -leistungen heraus. Im Rahmen einer fortbestehen Orientierung an Erwerbsarbeit als zentralem gesellschaftlichem Strukturprinzip bleibt der Beitrag zur funktionalen Arbeitsleistung Maßstab der Bewertung, Kern der Anerkennung und somit der Identitätsprofile: Teilhabe am zentralen gesellschaftlichen Verteilungsmechanismus von Lebenschancen – dem Arbeitsmarkt – ist selbstverständlicher Bezug für Lernaktivitäten. Leistungsorientierung in der Arbeitswelt hat dabei unmittelbare und mittelbare Wirkung auf Lernen. Mittelbar, weil Lernen dem Zugang zu Einkommen, der Sicherheit von Arbeit und damit ein Fortbestehen von Anerkennung und damit dem Erhalt von Leistungsfähigkeit dient. Unmittelbar, weil Lernen nicht al-

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lein als Vorbereitung auf Leistung, sondern auch selbst Leistungskriterien unterworfen ist. Damit führt Leistungsorientierung zu einer doppelt defensiven Ausrichtung: Lernen wird – wenn es vorrangig der Erwerbsfähigkeit in individueller Perspektive und besonders dem Einkommenserwerb dient – Mittel zum Zweck von (abstrakter) Arbeit und damit funktional. Leistungsdruck als Kernbestandteil aktueller Formation der Arbeitsgesellschaft – so wird es aus dem empirischen Material deutlich – wirkt zusätzlich als ständige Bedrohung von Lebensqualität. Lernen ist eine Möglichkeit hierauf zu reagieren – in unauflösbaren Ambivalenzen. So soll funktionales Lernen die Teilhabe an und das Bestehen von Leistung sichern – Lernprozesse sichern so die Unterordnung des Subjekts unter das Leistungsprinzip. Mögliche Widerstandspotenziale gegen das Leistungsprinzip und die dadurch legitimierte Reproduktionsordnung werden jedoch ebenfalls lernend erkämpft. Die Handlungsfähigkeit des Subjekts wird widerständig erweitert und mit identitären Lernprozessen verbunden, indem die Ausgangslagen von ‚inneren‘ Ansprüchen und ‚äußeren‘ Vorgaben in ein sinnvolles Verhältnis gebracht werden. So findet auch eine Entwicklung des Subjekts statt – es widersteht konkreten Ausprägungen des Leistungsprinzips, jedoch in individueller Perspektive und somit in einer durch Lernen vollzogenen Veränderung seiner Handlungsfähigkeit mit restriktivem Charakter. Der unmittelbare Bezug des Leistungsprinzips zeigt, dass defensives Lernen zu einem Bedeutungsverlust der Lerngegenstände führt und zudem – über biografische Erfahrungen – Lernen als Zumutung empfunden, also zur Lernbelästigung wird.

6.3 P REKARITÄT ALS R ISIKO FÜR A NERKENNUNG D ESTRUKTION VON L ERNLEISTUNG

UND

Anerkennung und Leistung liegen miteinander in einem widersprüchlichen Verhältnis: Auf der einen Seite umfasst die leistungsgerechte Verteilung die rechtsförmige Art und Weise der Anerkennung, auf der anderen Seite werden zum einen persönliche Beziehungen und zum andern solidarische Bedingungen weggeschoben. Statusverteilung aufgrund der Leistungsfähigkeit unterliegt in der gegenwärtigen Entwicklungsphase des Kapitalismus zugespitzten Risiken. Diese werden unter dem Begriff der Prekarität gefasst: Ist die aktuelle gesellschaftliche Situation als Zunahme drohender Ausgegrenztheit zu begreifen – d.h. als individuelle Konsequenz unsicherer und unplanbarer sozialer Kontexte, die sich weiter zu verschlechtern drohen –, so hat dies Auswirkungen auf identitätsorientiertes und arbeitsbezogenes Lernen. Zentral ist hierbei nicht nur, dass dies unter

6. K ONTEXTUALE L ERNTHEORIE

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Leistungsaspekten in eine schiefe Ebene und in steigende Gefahr eines Bedrohungsszenarios schlittert, sondern auch, dass die Handlungsbedingungen sich zunehmend der individuellen Kontrolle entziehen. War das meritokratische Gerechtigkeitsversprechen auch vorher schon eine Illusion, so wird unter den Bedingungen von Prekarität deutlich, dass Verfügung über die Bedingungen des eigenen Lebens kaum noch als Hoffnung vorhanden bleibt. Erwerb veränderter Handlungsfähigkeit heißt dann gleichzeitig bessere Funktionalität für Ausbeutung, Unterordnung und Missachtung; Lernleistungen werden fragwürdig und sinnlos. Sie versprechen einen Erfolg, der nicht eintritt: sei es Konsumstandard, sei es betrieblicher oder gesellschaftlicher Aufstieg – und schon gar nicht Sicherheit. Ausgehend von der Zunahme prekärer Lebenslagen ergeben sich bei den Subjekten unterschiedliche, divergierende Einschätzungen des Stellenwerts und der Sinnhaftigkeit des Lernens. Dabei stellen umbrechende gesellschaftliche Kontexte als Hemmnisse und Schranken des Zugangs die Rahmenbedingungen, gleichzeitig sind eigene Erfahrungen in der durchlaufenen Biografie letztlich ausschlaggebend für Lerninteressen. Bei erwachsenen Lernenden finden sich Grade der Lernbereitschaft oder -widerstände, die aus den Diskrepanzen zwischen Erwartungen, Hoffnungen und Erfahrungen entspringen. Wenn Zukunftshoffnungen und Lebensperspektiven sich verdunkeln, werden auch Lernhorizonte unklar und brüchig im Verhältnis von Instrumentalität und Reflexivität: scheinbar instrumenteller Erwerb von Kompetenzen wird fraglicher; reflexive Sinnentwürfe werden grundsätzlicher. Um Problemlagen in gesellschaftlichen Positionen zu bezeichnen, finden wir einen Wandel der Begrifflichkeit: Arme, Verachtete, Unterprivilegierte, Diskriminierte, Ausgegrenzte, Betroffene und zuletzt Prekäre. Die Bezeichnungen werden immer formaler, der Skandal bleibt der gleiche: eine Gesellschaft, die geprägt ist durch Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Zentral in der Prekaritätsdebatte ist die Form der Beteiligung an gesellschaftlicher Arbeit. Durchgesetzt hat sich, Erwerbsverhältnisse dann als prekär zu bezeichnen, wenn die Beschäftigten im Einkommen, bezogen auf soziale Sicherheit und betriebliche Integration unterhalb des gegenwärtig und mehrheitlich anerkannten Standards liegen. Diese Lage geht einher mit einem Verlust an Sinnhaftigkeit, Anerkennung sowie der Planungs- und Beteiligungshorizonte (vgl. Dörre 2009). Pierre Bourdieu hat darauf verwiesen, „dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor, wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen vervielfacht hat; in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion

152 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw.“ (Bourdieu 1998, 96, 97)

Kennzeichnend für Prekarität sind demnach objektive Kriterien der Erwerbsverhältnisse, gleichzeitig werden subjektive Einschätzungen und Bewertungen provoziert: „Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.“ (Ebd.)

Dadurch werden auch die Perspektiven des Lernens zerstört. Auf Lernen lässt man sich ein in Antizipation der Zukunft, man will später – nachdem man gelernt hat – etwas wissen und können, das weiterhilft. Wenn Zukunftshoffnungen riskant werden oder sogar zerbrechen, wird Lernen als sinnlos empfunden. Prekarität wirft also Grundfragen des Lernens und besonders der Weiterbildung auf. Prekäre Lebenssituationen und deren subjektive Erfahrung zeichnen sich durch große Unsicherheiten aus, die sich in Bezug auf Lernen besonders darin äußern, dass das Leben selbst zur zentralen Lernaufgabe wird. Angesichts riskanter Perspektiven verliert Lernen seinen instrumentellen Charakter bezogen auf unmittelbar Brauchbares, z.B. bestimmte, einsatzfähige Qualifikationen zu erwerben. Es wird grundsätzlicher. Sind Beschränkungen auf intentionales und institutionelles Lernen – welches die prekäre Situation in der Weiterbildung oft weiter unterstützt bzw. zu dieser sogar beiträgt – nicht mehr tragfähig, wird das Leben selbst zum Problem. 6.3.1 Lernen, um Leben zu verstehen Wenn man die Geschichten der jungen Erwachsenen in prekären Lebenslagen, mit denen wir in einer Lernwerkstatt im Freiwilligen Sozialen Jahr gearbeitet haben, mit ‚Leben lernen‘ bezeichnen kann, so lässt sich dies, um seine Besonderheit zu unterstreichen, durch die Botschaft aus einer Geschichte einer im Berufsleben erfolgreichen Seniorin vergleichen:

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Ein Mädchenleben: […] Als sie dann Großmutter war und ihrer Enkelin sagt, dass sie noch vieles lernen muss, sagte diese: ‚Omi, du weißt doch schon alles.‘ Da erwiderte sie: ‚Ja, aber ich muss noch lernen, das Leben zu verstehen.‘ (FLW4_LG1)

Man kann also viel wissen, ohne zu verstehen. Während zunächst das Verstehen des Lebens nicht die zentrale Lernanforderung darstellt, sondern erst nach einem beruflich und familiär erfolgreichen Leben Sinnfragen in den Vordergrund treten, beinhaltet Lernen in prekären Lebenssituationen vor allem die lernende Bewältigung bzw. Gestaltung des Alltags und die Entwicklung und Sicherung der eigenen Identität. Vielfach werden Lernsituationen zum Anlass genommen, die Bedeutung des Lernens im Leben insgesamt zu thematisieren. ‚Den Weg zu mir selbst konnte ich erlernen und erfahren‘ ist eine Geschichte, die die Bedeutung von ‚Leben lernen‘ bis ins hohe Erwachsenenalter umfasst: Für mich unbedingt dazugehörend ist das Leben ein lebenslanger Prozess des Lernens. Leben – Nebel. Was mich auch näher zu mir brachte, etwas freiwillig zu lernen und dieses ganz bewusst, ergab für mich Stärke, besonders wenn es schwer für mich wurde. Auch Fehler machen, brachte mich näher zu mir selbst. […] Alles Lernen führt zu mir. (FLW4_LG3)

Das Leben erfahren durch den Nebel auf dem Weg zu sich selbst, wird als Lernbegründung angegeben. 6.3.2 Lernen, um Identität zu sichern Brüchige Lebensverläufe in allen Altersgruppen beinhalten an zentraler Stelle immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität: Die Lerngeschichte einer Teilnehmerin in einer Weiterbildungsveranstaltung thematisiert einen biografischen Bruch und die Folgen für die eigene Identität sehr drastisch. Ihre Geschichte schwankt zwischen Tagebucheintrag und Anklageschrift: Bist du schon einmal an einem Punkt angelangt, an dem du einsehen musstest, dass alles, was du bisher gelernt hast, was du bisher als sinnvoll und hilfreich angesehen hast, eigentlich mehr schadet als nützt? Hast du das Gefühl völliger Hilf- und Orientierungslosigkeit selbst erlebt? […] Es ist, als würdest du dich mit dir selbst an einen Tisch setzen und dir all die großen und kleinen Dinge vorhalten, die dich an dir stören. Immer und immer wieder. […] Mit der Zeit wirst du begreifen, dass du dich viel öfter mit dir selbst beschäftigen solltest. Dass du dir zuhören musst, um voranzukommen. (FLW2_LG8)

Auch hier steht ein ‚Zu-sich-Kommen‘ am Ende der Geschichte. ‚Sich mit sich selbst Beschäftigen‘ wird immer und immer wieder zur Aufgabe. Die Stichworte

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der gemeinsamen Analyse der in den Geschichten dargestellten Lernprozesse in der forschenden Lernwerkstatt mit jungen Erwachsenen in prekärer Lebenslage zeigen deutlich, dass die Gewinnung eigener Handlungsfähigkeit in Unsicherheitssituationen die größten Lernanforderungen darstellt: Selbstentwicklung, Reifen, Selbstvertrauen, sich selber treu bleiben lernen, Selbstbestimmung […]. (FLW1c)

6.3.3 Lernen zur Rückgewinnung von Handlungsfähigkeit Die jungen Erwachsenen schildern in ihren Lerngeschichten mehrheitlich ihre bisherige Lebensgeschichte, zentriert um eine zentrale Lernanforderung, die ihr bisheriges Leben und Lernen kennzeichnet und vor allem einen Weg bot, der Unsicherheit zu begegnen. In allen Geschichten wird thematisiert, dass sie lernten so mit sich und ihrer Welt umzugehen, damit diese ihnen weniger Schaden zufügen kann, wodurch sie Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein ein Stück weit überwinden können. Ob dies der Auszug aus einem gewalttätigen Elternhaus, das Lieben-Lernen der eigenen Tochter, oder ein Internatsbesuch sind, thematisiert wird die (Rück-)Gewinnung von Handlungsfähigkeit, ‚Lebensmut sammeln‘ und ‚Leben (schätzen) lernen (schrittchenweise)‘ (FLW1c). Schon in der Assoziationsphase zum Stichwort ‚Lernen‘ zeigen sich prekäre Lebenssituationen in vielfältiger Weise. Während Unsicherheit umfassend erlebt wird, kann Lernen mit Begriffen wie „Durchhaltevermögen, Starksein, Ausdauer, Willen durchsetzen, Aufraffen“ (FLW1c) in Verbindung gebracht werden. Als Ergebnis stehen dem „Selbstbewusstsein, Hilfe und Unterstützung holen, sich selbst verstehen und Mut“ (FLW1c) gegenüber. In sichereren und entlasteteren Lebenssituationen wird Lernen hingegen mit „ermöglichend, wunderbar, Geist schärfen, staunen, Leben verstehen“ (FLW3, FLW4c) assoziiert. In den Lernwerkstätten im Umschulungsbereich treten vor allem gedankliche Verwandtschaften zu leistungsorientiertem und zweckgebundenem Lernen auf: „Druck, Konzentration, Arbeit, Organisation, Wissen“ (FLW2c, FLW3c). Diese werden jedoch ergänzt um solche, die auch lernende Lebenserfahrung anspielen: „Sich für etwas entscheiden, Versäumtes nachholen, persönliche Entwicklung“ (FLW3c). 6.3.4 Lernen als Offenheit gegenüber Unsicherheiten Für sich selbst zu sorgen und auch mit den eigenen Schwächen souveräner umzugehen, wurde in unterschiedlichen Lebensphasen prekärer Lebensläufe thematisiert und findet sich in den durch die Gruppen selbstgewählten Überschriften: „Mut zur Lücke“, „Der Weg zum Frage-Mut“ und „Dazu stehen, was man nicht

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kann“ sprechen konkrete Lernsituationen an, in denen nun souveräner agiert werden kann: Ich frage zum dritten Mal nach. Auch wenn es die Anderen nervt. Es nützt nichts, wenn ich so tue, als hätte ich es verstanden. (LFW3_LG2) Das hilft mir heute noch beim Lernen, wenn ich dazu stehe, falls ich etwas nicht verstehe, dann sage ich es gleich. (FLW2_LG1)

Sich explizit dem Lernen zuzuwenden braucht ruhige und sichere Umstände. Auch dies zeigen die Lerngeschichten. Sorgen, Unsicherheiten und eine Umgebung in der vieles Anderes wichtiger ist, machen entweder das Leben selbst zur direkten Lernaufgabe oder behindern die Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand – unabhängig vom Alter. In der Lerngeschichte „Meine Kindheit und das Lernen“ wird dies am Beispiel einer katastrophalen familiären Situation, die eine Konzentration auf institutionelle Lernaufgaben verhindert, deutlich: Wie ich sechs Jahre alt war, hatte ich keine so gute Kindheit. Mein Vater war ständig betrunken nach Hause gekommen und hatte meine Mutter jeden Tag verprügelt. Meine zwei Geschwister hatten Angst, so wie ich, und weinten. Am nächsten Tag mussten wir zur Schule und ich bin in der Deutschstunde eingeschlafen, weil ich jede Nacht wach war und nicht schlafen konnte. Es wurde immer schlimmer mit dem Konzentrieren. (FLW3_LG7)

Den ‚Kopf frei zu haben‘, um sich konzentrieren zu können, wird auch für spätere Lebensphasen thematisiert: Generell kann ich nur lernen, wenn mich nicht grade etwas anderes intensiv beschäftigt. Ich muss ein wenig den Kopf frei haben, um mir etwas einprägen zu können. Es war häufig so, dass ich innerlich, auf Grund von Lebensumständen, Lebenssituationen oder sogenannten Schicksalsschlägen, nicht abschalten konnte. Dann fiel es mir schwer, mich auf das dann aktuell wesentliche zu konzentrieren. (FLW2_LG3)

Der ‚Kopf‘ ist gerade in prekären Lebenssituationen meist nicht ‚frei‘. Prekarität des Lebens und des Lernens wirken vielfältig ineinander. So kann Unsicherheit im Lernen entstehen. Das ist deshalb fatal, weil Lernen große Bedeutung in der Gestaltung des Lebenslaufs einnimmt. Am Erfolg hängt in erheblichem Maße die berufliche Zukunft und damit die Sicherheit und Planbarkeit des eigenen Lebens. Fehlt dem Lernen der Sinn (oder ist es aufgrund prekärer Lebensumstände stark beeinträchtigt), kann sich dies in unsicheren und brüchigen Erwerbsbiografie niederschlagen.

156 | L ERNEN ‒ K ONTEXT UND B IOGRAFIE Unter Lernen habe ich zumindest als Kind immer das notwendige Lernen verstanden. Das habe ich gehasst. Lernen auf den Punkt, unabhängig vom Verständnis. … Aber woraus ergibt sich der Sinn des Lernens? Es macht Sinn zu lernen, wenn das Lernen in eine Struktur, in eine Idee eingebaut ist. Diese Struktur sollte man idealerweise mitbringen. Ich hatte diese jedoch in meiner nachschulischen Zeit noch nicht gefunden. Daher tat ich mich während meines Studiums auch so schwer. Warum lernen? Wo ist der Sinn? Ich habe ihn nicht gefunden. Mein Studium musste scheitern. (FLW2_LG1)

Prekarität provoziert riskante Sinnfragen. Die Frage nach der Idee, der Struktur, dem Sinn kann noch tiefer in Resignation und Lethargie treiben. Man wird gerade in prekären Situationen auf Grundfragen der Bedeutsamkeit des Lernens für das eigenen Leben verwiesen. Frappierend ist, dass wir in den Lernwerkstätten trotzdem auch erstaunlichen Lebenswillen und ungebändigte Widerstandskraft finden – als Möglichkeit. Wir geraten, wenn wir die Lernwerkstätten auswerten, in Konjunktive: Es könnte sein. Aber prekäre Situationen führen eben nicht zwangsläufig zu Verzweiflung. Das Leben zu bewältigen und zu gestalten stellt in prekären Lebenssituationen die wichtigste Herausforderung dar, der lernend begegnet werden kann. Gelingt das, bewahren sich im Lernen durchaus auch weiterhin Möglichkeiten des Staunens, Sinnfindens, Träumens, Lust entwickelns. Lernen wird zur Möglichkeit von Reflexivität. Allerdings wird Prekarität dadurch nicht aufgehoben, nicht einmal erträglicher, aber wenigstens das Stigma, man sei selber Schuld, kann bearbeitbar gemacht werden.

6.4 R EFLEXIVES L ERNEN Im Zentrum der Lernforschung standen und stehen bisher meist intentionale Lernprozesse oft mit definierten Lernzielen und -gegenständen. Kontextuales Lernen löst sich davon ab. Es ist weder institutionell noch intentional eingesperrt. Mit Blick auf Identität sichernde und aufbauende Lernprozesse muss deren Reflexivität betrachtet werden. Insbesondere die Intention gegenüber dem eigenen Lernen handlungsfähig zu werden und zu bleiben, stellt sich als bedeutsam heraus, ohne jedoch im Vorhinein als Lerngegenstand erkennbar oder gar als Programm einer Institution festgelegt zu sein. Dennoch gilt auch hier, dass das Subjekt von seinen Lebensinteressen aus Lernintentionen auf Lernthemen richtet, ihnen Bedeutsamkeit zuweist und mithin gute Gründe folgen, zu lernen oder nicht zu lernen. ‚Reflexives Lernen‘ (das geht über die Begrifflichkeit bei Schüßler (2008) hinaus) lässt sich als Folge von Handlungskonsequenzen beim Umgang mit ausgegliederten Lernproblematiken verstehen – um mit Holzkamp zu reden: als

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Lernschleifen in der Lernschleife, oder mit Bateson: Lernen neuer Lernintentionen (Lernen III) (Bateson 1982). Dabei lässt sich eine Struktur erkennen, mit der Handlungsfähigkeit erweitert wird. Dies gibt Anstoß für einen Erkenntnisprozess als reflexives Lernen, um das eigene Lernen in die eigenen Hände zu nehmen. Allerdings: Vorsicht! Reflexivität wird modisch als Königsweg der Absicherung menschlicher Entwicklung gegenüber heterogenen Problemen der Lebenswelt angepriesen. Die Entdeckung der Reflexivität scheint es den Subjekten zu erlauben, sich aus den unmittelbaren Zwängen herauszunehmen und über Bedrohungen nachzudenken, eine Rückbezüglichkeit auf die eigenen Selbstverhältnisse einzunehmen. Reflexivität hilft gegen Unmittelbarkeitsverhaftung und – als Antonym gebraucht – Naivität. Es entsteht Abstand zur Sache und Distanz gegenüber den Problemen: Ja, und ich wollte (da eben) sagen, dass die Wahrnehmung ein Teil von einem selbst ist und dass man ja aber auch selbst quasi aus seiner eigenen Wahrnehmung sich, also sich davon distanzieren kann und dadurch halt einfach entspannter wird, weil man eben nicht mehr so (/) weil wenn man das quasi alles so unreflektiert auf sich niederprasseln lässt, dann, also geht zumindest mir so, dann, dann dreh ich emotional total am Rad und deswegen brauch ich dann sozusagen ’ne Mechanik, also so ’nen Denkvorgang, dass eben diese Entrückung quasi ist, wo man das dann quasi alles sortieren kann in, in gewissen Rahmen. (FLW5a, 273)

Die Lernenden gewinnen Distanz; sie entwickeln einen ‚Denkvorgang‘ der ‚Entrückung‘ ermöglicht, Abstand vom einmal eingenommenen Standpunkt ermöglicht und eigene Perspektivität relationiert. Es wird möglich, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und abzuwägen. Reflexionsprozesse bereichern und erweitern den eigenen Horizont. Hierfür braucht es auch einen angemessenen Rahmen, in dem man ohne Druck unterschiedliche Anregungen bekommt – entweder über die formellen Praxis und Reflexionsgespräche (FSJ) oder informell, inhaltlich (Seniorenstudium/Umschulung). Nachdenken braucht Abstand: Also ist eigentlich ein und dasselbe Denken und Nachdenken. Es ist halt nur (/) also ich würd das halt jetzt (/) Nachdenken ist mich halt so ’ne konzentrierte Form des Denkens und Denken, ja, das ist halt so logische Konsequenzen von Erfahrungen, die man so gemacht hat. (FLW5a, 343)

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Damit erhält diese Denkhaltung autotherapeutische Aspekte. Und sie kann den Rückzug aus den Wirrnissen der Welt befördern. Nichtsdestoweniger ist reflexives Lernen eine Form, sich zu orientieren, scheinbare Widersprüche aufzulösen und zugleich Aktivität zu entfalten, gegen tatsächliche Widersprüche anzugehen. Reflexives Lernen setzt voraus, sich selbst in kritische Distanz zu scheinbar unabweisbaren Problemen zu bringen, und anzuregen, nach der Gültigkeit der Anforderungen, Erwartungen und Regeln, sowie nach der Wünschbarkeit der Verhältnisse zu fragen. Ja, also ich persönlich hab sehr, sehr viel gelernt, in diesem Jahr, also auch, weil ich von Zuhause weg gezogen bin. Und es war ja alles vollständig neu. So seinen eigenen Alltag irgendwie organisieren und ohne ’nen Rettungsanker (Mutti) und, äh, (-) auch dann, äh, (/) auch dann so dieses neue Denkmodell, dass ich mir da überlegt hab einfach mal auszuprobieren. ( ) Ja, das (-) hat, ja, ziemlich gekracht. (lacht) Ja, also das war ziemlich gut, (--) will ich damit sagen. Äh, also ich hatte, äh, (/) Ich würde das auch als Lernerfolg bezeichnen, was ich diesem Jahr da hatte. (FLW 5a, 410) Also (-) ich hab auch recht viel gelernt, erst mal so für sich, irgendwie sich selber bisschen kennenlernen, was einem Spaß macht und was nicht. Und, äh, aber auch so Selbstorganisation. Also und auch auf eigenen Füßen stehen und das konnt’ ich vorher alles irgendwie nicht so richtig gut mit, mit den Bewerbungen schreiben, da war ich immer zu spät und immer alles auf den letzten Drücker, so wie du. Das mach ich heute immer noch bisschen, aber nicht mehr so schlimm wie früher. Also meine Bewerbungen waren alle immer recht pünktlich (-) da, glaub ich. Und, und dieses Selbst-Organisieren hab ich viel gelernt. (FLW5a, 428f.) Weil es ist ja eigentlich nur ’ne Sache mit mir, so. Ähm, aber das FSJ hat auch ’nen guten Rahmen gegeben, weil man da so ganz viele neue Sachen einfach hatte und ausprobieren konnte und da auch sich einfach selbst finden konnte im einsamen Zug in Stedensand. (FLW5a, 414) Aber, dass dieser Reifungsprozess noch nicht aufhört. Ich hab nämlich mal gedacht er hört auf und jetzt ist Schluss, (-) Ruhestand und (-) brauch nichts mehr. Da hab ich ganz schnell gemerkt, (-) das war’s nicht. (lacht) Ja? Und vorm Fernseher gesessen und da war das Thema Glück im Fernsehen (--) da bin ich aufgestanden und hab gesagt, das war’s. (--) Nicht vor dem Fernseher sitzen zu Hause, Decke auf den Kopf fallen lassen, (-) raus gehen (--) und lernen. (FLW 4b, 196)

Thematisiert wird – auch über die zum Teil vorgegebenen Lerninhalte der jeweiligen Weiterbildung hinaus – die Bedeutsamkeit für die eigene Biographie und die Chance der Selbstreflexion, die sich durch die Teilnahme ergeben. Dabei können die Perspektiven je nach Zeitpunkt im Lebenslauf unterschiedlich sein: Während in der Lernwerkstatt ‚Seniorenstudium‘ die Zeit und Inhalte des Senio-

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renstudiums retrospektiv als Überprüfung und Abgleich mit der Lebenserfahrung gesehen werden, steht im FSJ das ‚Sich-Ausprobieren-Können‘ – auch gedanklich –, aber auch die Um- bzw. Neuorientierung mit Bezug auf einen künftigen Beruf im Vordergrund. Bei letzteren treten die quasi vorgegebenen Lernfelder und deren Inhalte, die sich durch den Ort des FSJ (Theater, Büro, Lichttechnik) gegenüber Themen, die sich aus dem Kontext ergeben und sich auf eine Art Lebenskompetenz beziehen (weg von Zuhause sein, Selbstorganisation, Alltagsorganisation) und deren Bearbeitung im Material als ‚Lernerfolge‘ bezeichnet werden, deutlich in den Hintergrund. Dabei kommt auch dem strukturbietenden Rahmen, den das FSJ vorgibt und in dem es sich zu orientieren gilt, eine große Bedeutung zu. Im FSJ gilt es viel zu lernen: sich selbst kennen lernen, Selbstorganisation, auf eigenen Füßen stehen (FLW4a, 429, 409, 455, 447, 449.) Im Nachhinein, in der Reflexion, gelingt es festzustellen, dass man schon viel gelernt hat und sich dafür selbst zu loben (FLW3a, 913). Dabei geht es auch um Versuche, Leben zu verstehen: Versuche im Reflexionsprozess Gewinnbringendes und Wachsendes zu erkennen. Man kann ein reichhaltiges Leben haben und es dennoch nicht verstehen. Die Frage ist, haben Sie noch Hoffnung, dass Sie das noch Lernen? [Leben verstehen] … aber das ist vielleicht – Sie wissen schon – ne echte Lebensaufgabe (lacht). ‚Wir wissen alle, was Leben ist, aber verstehen können wir es auch nicht‘ (lacht). (FLW4a, 227ff.)

Beim Reflexionsprozess über Lernen gelingt es, Gutes und Schlechtes, Sinnhaftes und Sinnloses im eigenen Leben zu entdecken (FLW4a, 580). In Reflexionsgesprächen kann man feststellen, was man schon alles gelernt hat (FLW5a, 365) und über sein Leben (Wünsche, Interessen, sich selbst hinterfragen, gut und schlecht gelaufenes) nachdenken (FLW4a, 444, 448). Dann gelingt es auch, in negativen Entwicklungen Positives zu sehen, sich nicht unterkriegen zu lassen oder Lernchancen wahrzunehmen. Zudem: im Nachhinein in Entwicklungen positive Lernprozesse entdecken (Tochter lieben lernen (FLW1a, 69), Anti-Kriegs-Lehrer (FLW4a, 581)) oder im Nachhinein feststellen, Unterstellungen (Doofheit in der Schule) nicht als Merkmal der eigenen Persönlichkeit zu akzeptieren (so doof war ich wohl nicht) (FLW4b, 206). Das Hinsehen auf den eigenen Lern- und Lebensprozess erweitert die Freiheit zu gestalten. Was als Zwang erschienen, kann auf Offenheit geprüft werden und so erweiterte Entfaltung ermöglichen. Reflexivität wird so zum Merkmal des Lernens selbst.

7. Perspektiven kontextualer Lerntheorie

Mit dem modifizierten Ansatz der Lernwerkstätten konnte das Konzept einer partizipativ-ästhetischen Forschung weiterentwickelt werden. Bei diesem wird nicht nur in lerntheoretischer Perspektive eine Reduktion des menschlichen Subjekts auf kognitive Prozesse, wie sie sowohl in der traditionellen Lernforschung zu finden ist, aber auch der subjektwissenschaftlichen Diskussion in der Erziehungswissenschaft (vgl. Künkler 2011; 2014) – zu Unrecht – angelastet wird, vermieden. Zudem ist eine Möglichkeit aufgezeigt, einem kognitiven Bias innerhalb der forschungsmethodischen Diskussion entgegenzuwirken – ohne damit dem Anspruch der Partizipation der Teilnehmenden und somit ihrem Subjektstatus zuwiderzulaufen. Die intensiven Kommunikationsprozesse in den Lernwerkstätten selbst lassen sich mit der Wechselwirkung von Selbstreflexion, autobiografischem Schreiben und Auseinandersetzung über biografische Lernprozesse – insbesondere mit Blick auf deren Potenzialität als Handlungsfähigkeit – in Verbindung setzen. Häufig werden unter dem Stichwort ‚Lerngeschichte‘ Interviews (bspw. Mandl/Reinmann-Rothmeier/Kroschel 1995; aber auch Justen 2011) verstanden. Eine besondere Beachtung der Textform ‚Selbstverfasste Lerngeschichte‘ findet entsprechend wenig statt. (Auch nicht bei Neuß 2009. Der Ansatz wird in der Dissertation von Rosa Bracker weitergehend verfolgt.) Die Bedeutsamkeit identitätsbezogener Lernprozesse im Kontext des neu geforderten ‚Lebensstundenplans‘ im ‚Lebenslangen Lernen‘ zeigt die Relevanz von Lernen in arbeitsbiografischer Perspektive als Lernperspektive an. Forschungen zur Weiterbildungsbeteiligung nehmen diesen Fokus allerdings bisher kaum auf (vgl. AES 2012). Eine Verbindung biografischer und kontextueller Lernherausforderungen kann den Blick freilegen für erweiterte Weiterbildungsbeteiligung, beziehen sich doch die markantesten Unterschiede in der Benennung von Weiterbildungsbarrieren von Teilnehmenden und Nichtteilnehmenden auf Angst vor Misserfolg, Ablehnung schulischen Lernens und eigenes Alter

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(vgl. AES 2012, 223). In einem Begründungsdiskurs kann die Frage nach Teilnahme/Nichtteilnahme in einem anderen Licht erscheinen. Das in der Perspektive ‚ungelebten Lebens‘ aufgezeigte ambivalente Verhältnis von Lerninteressen und Erwerbsorientierung macht auf die Notwendigkeit differenzierter Angebote gerade auch für Lernmöglichkeiten älterer Erwachsener (vgl. Tippelt/Schmidt/Kuwan 2009, 45) aufmerksam. Hier kann der Begründungsdiskurs die Lerninteressen der Älteren selbst aufdecken. Der Zusammenhang von habituellen Haltungen mit Weiterbildungsteilnahme ist gut belegt (vgl. Barz/Tippelt 2004; Bremer 2007). Dennoch kann die Teilnahme an Lehrveranstaltungen nicht allein als bedingt angesehen werden, sondern entscheidet sich ebenso in dem Zusammenspiel mit konkreten (Lern-)Situationen. „Umfangreiche Gelegenheitsstrukturen scheinen also biografische Eigenleistungen ebenfalls fördern zu können“ (Käpplinger/Haberzeth/Kulmus 2013, 29). Dass diese Lerngelegenheiten nicht allein als mögliche Angebote zu verstehen sind, zeigen unsere Ergebnisse zur Bedeutsamkeit vorausgehender Erfahrungen von Anerkennung beim Lernen. Es gibt zahlreiche völlig unbearbeitete Felder für eine angemessene Lernforschung: Im Rahmen der phänomenologischen Diskussion über Leiblichkeit (Waldenfels 2000) ist auch der Stellenwert der Körperlichkeit für Lernen offengelegt worden. Was das heißt, ist aber wenig belegt (vgl. Meyer-Drawe 1978; 1984). Der Begriff der Erfahrung nimmt die Biografhie- und Kontextbezogenheit des Lernens auf (Faulstich 2014). Deshalb sollte in weiterer Lernforschung berücksichtigt werden, welche Erfahrungen besonders relevant für Lernen werden. In einem Modell der ‚Lernbarrieren‘ werden Lerngründe, Lernhemmnisse und Lernschranken in Beziehung gesetzt (Faulstich/Bayer 2008). Wie diese Relationen konkret aussehen, ist aber eine Kernfrage eines Bedingungs-Begründungsdiskurses. Dabei ist offen, welchen Stellenwert die Lerninstitutionen vom Kindergarten bis zur Altenbildung spielen. Einerseits können sie als Supportstrukturen verstanden werden, andererseits können sie Lernwiderstände hervorbringen. Die Frage ist dann, wie lernförderliche Institutionen aussehen können. Als wichtigste Strategie des Umgangs mit dem eigenen Lernen haben wir Reflexivität der Subjekte ‒ vor allem die biographische Reflexion herausgestellt. Wie aber kann eine solche Reflexion angeregt und unterstützt werden? Es gibt offensichtlich Brücken zwischen dem Konzept der ‚bedingten Freiheit‘ und selbstbestimmtem Lernen (Faulstich/Gnahs/Seidel/Bayer 2002). Was aber heißt ‚Selbstbestimmtheit‘ beim Lernen, wenn gleichzeitig auch die Bewältigung unabweisbarer Aufgaben gelernt werden muss und Handlungsfähigkeit häufig Unterordnung unter diese Verhältnisse bedeutet?

7. P ERSPEKTIVEN KONTEXTUALER L ERNTHEORIE

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Die Bedingungen des Handelns und Lernens verweisen auf die gesellschaftliche Eingebundenheit des Subjekts. Allerdings ist unser Verfahren der Lernwerkstätten weitgehend ungeeignet, um über Milieus der Teilnehmenden neue Einsichten zu gewinnen. Wir haben deshalb im Verlauf des Projekts auch fortschreitend darauf verzichtet, Aussagen über den Habitus der Akteure zu machen (auch wegen Unklarheiten des Verhältnisses der Begriffe Habitus und Subjekt). Zwar sind demografische Daten erhoben und der habitus-hermeneutische Fragebogen in der Form von Bremer/Teiwes-Kügler (2012) eingesetzt worden. Eine Verbindung zu den Sinus-Studien oder zu agis (Vester u.a. 1983) konnte aber nicht hergestellt werden, weil die soziale Herkunft der Teilnehmenden bezogen auf die Milieus eher homogen war. Eine Folgeuntersuchung könnte durch eine gezielt andere Auswahl der Lernwerkstätten – z.B. durch Einbezug von Weiterbildung für Führungskräfte einerseits und Maßnahmen für Langzeitarbeitslose andererseits – das Milieuspektrum erweitern. Eine bisher fast völlig unbearbeitete Fragerichtung ergibt sich, Lernräume und Lernorte als eine Möglichkeit, Lernen zu kontextualisieren, aufzugreifen. Während sich aber in der Sozialpädagogik im Sozialraummanagement und in empirischer Raumforschung diese Frage zunehmend gestellt und verbreitert hat, ist in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft und der Erwachsenenbildungswissenschaft Raum als Kontext des Lernens nur in Einzelfällen verfolgt worden (Faulstich-Wieland/Faulstich 2012; Kraus 2010). Je nach den unterstellten theoretischen Modellen des Raums stellt sich auch die je spezifische Frage nach angemessener empirischer Methodik. Zudem ist die Diskussion über erfahrungsbezogene Ansätze gegenüber theoretischen Debatten über den Raumbegriff deutlich zurückgeblieben. Es kommt deshalb darauf an sich der unterschiedlichen Raumkonzepte zu vergewissern und weiter zu fragen, wie ein adäquater erfahrungsbezogener Ansatz aussehen kann. Ausgehend von sich oft als konkurrierend darstellenden Konzepten des Raums – absolut-relativ; subjektiv-objekt usw. – stellt sich zunächst das Problem, wie der Übergang vom Bedingtheits- zum Begründungsdiskurs erfolgen kann. So gehört ‚Sozialraummanagement‘ deutlich dem Bedingtheitsdiskurs an. Eine subjektorientierte Lerntheorie sollte demgegenüber auf Lernräume und -orte in der Weise, wie sie für die Lernenden selbst Bedeutung haben, abstellen. Für alle diese weiterführenden Forschungsvorhaben hoffen wir, in unserem hier vorliegenden Bericht Grundlagen gezeichnet oder zumindest offengelegt zu haben. Ausgegangen sind wir von den drei Perspektiven Identität, Erwerbsorientierung und Biografie. Im Verlauf des Projekts wurde der Begriff Identität zentral. Diesen konnten wir einbeziehen in die Debatte um Anerkennung einerseits und Leistung andererseits. Dieses Spannungsfeld folgt unserer Einsicht, dass gesellschaftliche Entwicklungen niemals einlinig, systemisch harmonisiert werden

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können, sondern dass immer Brüche und Widersprüche auftauchen, die gegenläufige, dialektische Prozesse anstoßen. Die von uns aufgedeckten Lernmuster sind daher auch nicht einfach unter theoriegeleiteten Lernperspektiven zu subsumieren. Auch Anerkennung und Leistung stehen in einem Widerspruch. Anerkennung ist aber nicht nur Akzeptanz der Besonderheit eines Subjekts – nach der Devise: Ich bin gut, du bist gut, wir sind gut, sondern ergibt sich auch in dem Recht auf Teilhabe an Arbeit und Macht und Verfügung über Einkommen. Insofern unterliegen diese für uns wichtigen Begriffe zugleich einer doppelten Kritik: Anerkennung darf sich nicht nur auf Ansehen beziehen; erfolgreiche Leistung darf nicht als Legitimationsprinzip scheinbar meritokratischer Statusverteilung und fortbestehender Ungleichheit herhalten. Die in einer solchen Gesellschaft lebenden und lernenden Subjekte schwanken in labilen, permanent neu zu tarierenden Gleichgewichten: Die Arbeit an der eigenen Identität ist immer wieder eine wichtige ‚Selbstleistung‘ der Gestaltung und Sicherung. Deren Verlauf ist nicht mehr abgestützt durch ‚Normalbiografie‘. Es ergeben sich Umbrüche als verdichtete Ereignisse in Transitionen oder Statuspassagen. Bei resultierenden Irritationen, Problemen und Krisen ist Lernen angesagt. Durch Lernen werden neue Erfahrungen in Identitätskonstruktionen eingebaut. Dies stellt die Subjekte nicht nur vor kognitive, sondern besonders auch vor emotionale Diskrepanzen, die in Dissonanzen zu zerbrechen drohen. Lernen ist eine der Handlungsformen, sich mit diesen auseinanderzusetzen. Es zielt auf Rückgewinnung von Kohärenz. Die Grundhaltung, mit sich selbst eins sein zu wollen, erfordert Altes aufzugeben und Neues zuzulassen. Entsprechend ist es eine weitere Forschungsaufgabe, ‚Lernen‘ nicht nur thematisch aufzufächern, sondern auch eine hier nur ansatzweise ausgebaute ‚ästhetisch-partizipative Lernforschung‘ zu klären und abzusichern. Das setzt das Wagnis voraus, die eingefahrenen Methodendebatten des wissenschaftlichen Mainstreams aufzubrechen. Aber gerade deshalb kann dieser Ansatz auch besonders fruchtbar werden.

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Lerngeschichte3 FLW5_LG4 – Der Skill im Chaos Es bebt Es lebt Es wählt Es quält Es ächzt Es dröhnt Es quirlt Es springt Es irrt Es singt Es schwirrt Es bricht Und sticht Mich selbst so hart im Inneren Licht Gereizt vom Eindruck objektiver Gewalt Die schreit: Versteh! Seh, was ist, Dass was du bist Und blicks, sie ein Wie klein der Mensch Doch ist Gepeitscht vom Schaukeln der Atome, jedwedem Bruchteil Seiner Existenz Schaffen ihm ein Gehirn Nicht ohne Die Reizflut neuronaler Gischt. Es ist für dich, wie’s für dich ist. Mehr hat man nicht, als das zu sehen was man sieht. Doch lässt sich wer ein,

3 Hinweis zu Lerngeschichten: Rechtschreibung und Zeichensetzung wurde soweit wie möglich nicht korrigiert. Absätze und Gesamtbild wurden bei dieser Geschichte nicht beibehalten.

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So frohen Mutes dem Kampfgebet Der Interpretation. Dem Selbstentwirren Soziozwänge Die schleichend dein Gehirn bedrängen Dich verführen Sanften Klängen Dessen was der Meister tut Weil darin die Gewissheit ruht? Gewissheit ohne Säulen Und dann kommt so einer an und will mich arg zerbeulen Mit der Objektivität. So beul ich dahin Die Klarheit im Sinn Der Flucht auf der Lauer. Der Ehrgeiz fleht Und Entrücktheit entsteht. Distanz zu sich erweist sich als bester Weg an sich heran, weil ausgeblendet was sonst Wahrnehmung nur schändet was tränkt im Halbgaren Lodern komplexbeladener Emotion. Doch diese ausgestellt Winkt satter Lohn Objektiver Interpretation heran. Dessen was man sieht und ist Wie schmerzleer Leben Dann doch ist, betrachtet aus Mir selbst heraus Von oben. Und es wird mir klar Oh yeah ich bin ein Mensch Und ich bin wahr So klein gesamt Doch in mir Groß und klar.

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8. Empirisches Material

Lernwerkstatt FLW1: Forschende Lernwerkstatt mit jungen Erwachsenen im Berufsvorbereitungsjahr FLW2: Forschende Lernwerkstatt mit Umschüler_innen I FLW3: Forschende Lernwerkstatt mit Umschüler_innen II FLW4: Forschende Lernwerkstatt mit Seniorenstudierenden FLW5: Forschende Lernwerkstatt mit Teilnehmenden eines Freiwilligen Sozialen Jahres FLW6: Forschende Lernwerkstatt mit Teilnehmenden außeruniversitärer Seniorenbildung Gruppengespräche FLW(Nr. der Lernwerkstatt)a: Gruppengespräch der jeweiligen Forschenden Lernwerkstatt FLW(Nr. der Lernwerkstatt)b: Vorstellungsrunde der jeweiligen Forschenden Lernwerkstatt FLW(Nr. der Lernwerkstatt)c: Assoziationsübung der jeweiligen Forschenden Lernwerkstatt (Bilddokumentation) Lerngeschichten FLW(Nr. der Lernwerkstatt)_LG(Nr. der Geschichte): jeweilige Lerngeschichte der jeweiligen forschenden Lernwerkstatt

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Peter Faulstich Menschliches Lernen Eine kritisch-pragmatistische Lerntheorie 2013, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2425-0

Peter Faulstich (Hg.) Lerndebatten Phänomenologische, pragmatistische und kritische Lerntheorien in der Diskussion 2014, 288 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2789-3

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Theorie Bilden Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Vom Scheitern Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane III 2013, 298 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2576-9

Ingrid Lohmann, Sinah Mielich, Florian Muhl, Karl-Josef Pazzini, Laura Rieger, Eva Wilhelm (Hg.) Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart 2011, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1751-1

Joachim Schwohl, Tanja Sturm (Hg.) Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses 2010, 364 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1490-9

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