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German Pages XII, 417 [425] Year 2020
Studien zur Kindheits- und Jugendforschung
Katharina Fahrig
Rechte Jugendliche und ihre Familien Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe
Studien zur Kindheitsund Jugendforschung Band 4 Reihe herausgegeben von Heinz-Hermann Krüger, Halle, Deutschland Werner Helsper, Halle, Deutschland Merle Hummrich, Frankfurt am Main, Deutschland Nicolle Pfaff, Essen, Deutschland Rolf-Torsten Kramer, Halle, Deutschland Cathleen Grunert, Halle, Deutschland Wilfried Breyvogel, Essen, Deutschland
In dieser Buchreihe werden neben aktuellen empirischen Studien auch Forschungsüberblicke und theoretische Diskurse zur Kindheits- und Jugendforschung veröffentlicht. Dabei werden Veränderungen kindlicher und jugendlicher Lebenslagen und Biografieverläufe in pädagogischen Institutionen wie Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, Hochschule, aber auch in der Welt der Familie, der Peers, der Medien und der jugendkulturellen Szenen in den Blick genommen. Besonders berücksichtigt werden sollen zudem Aspekte der sozialen Ungleichheit, der Migration und Transmigration sowie internationale Vergleichshorizonte.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11432
Katharina Fahrig
Rechte Jugendliche und ihre Familien Eine Perspektiven triangulierende Rekonstruktion biografischer Hintergründe
Katharina Fahrig Koblenz, Deutschland Dissertation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Philosophische Fakultät III Erziehungswissenschaften, 2018 Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung
ISSN 2512-1227 ISSN 2512-1243 (electronic) Studien zur Kindheits- und Jugendforschung ISBN 978-3-658-31190-2 (eBook) ISBN 978-3-658-31189-6 https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung Was ist es, das männliche Jugendliche in die rechte Szene treibt? Was bedeutet das für eine Familie? Diese und viele andere Fragen trieben mich zu Beginn dieser Studie um. Dazu kam eine große Neugier, wie nah ich an das Leben der jeweiligen Familien herankommen würde und ob es gelänge, die gewonnenen Erkenntnisse mit dem angemessenen Respekt vor den Menschen, die so viel von sich preisgeben, darzustellen. Daher gilt mein besonderer Dank den Jugendlichen, die sich auf ein Interview eingelassen und mir einen sehr persönlichen Einblick in ihr Leben erlaubt haben sowie den Müttern, die trotz ihrer Bedenken zu einem Gespräch bereit waren. Ich hatte das große Glück, die diesem Buch zugrunde liegende Promotion mit Hilfe der Betreuung durch zwei ganz besondere Menschen durchzuführen. Das ist zum einen Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger, der mir immer der liebste Chef sein wird und bei dem ich mich für die Geduld, den Zuspruch und die konstruktive, herausfordernde Kritik bedanke, die mich inhaltlich und in meiner Entwicklung entschieden vorangebracht hat. Zum anderen ist das Prof. Dr. Nicolle Pfaff, bei der ich mich für ihr fortwährendes Interesse an dieser Studie, die wertvollen Hinweise und nützlichen Kritiken, besonders im Hinblick auf die verwendete Methode sowie die Interpretation des Materials bedanke. Die Förderung durch die Hans-Böckler-Stiftung hat diese Studie in weiten Teilen ermöglicht. Hier war es Werner Fiedler, der mich mit seiner verständnisvollen und stets wertschätzenden Art sehr beeindruckt hat. Ein besonderes Gedenken gilt Prof. Dr. Thomas Olk, dessen Ermutigung zur Weiterarbeit mich nach einer längeren Pause gestützt hat. Darüber hinaus möchte ich Dr. Maren Zschach für ihre ansteckende Gelassenheit sowie den steten Widerspruch, Petra Olk für ihr immerwährendes Ermutigen, Ute Winker für ihre Hilfe bei vielerlei Bücherchaos und Stephanie Höfert für die Vermittlung mentaler Stärke danken. Ganz besonders wichtig war für mich der Rückhalt meiner gesamten Familie und Freunde, die ich von Herzen liebe. Hier sind vor allem mein Mann, meine Eltern und meine Kinder zu nennen, weil sie mir gezeigt haben, worauf es im Leben wirklich ankommt. Dies hat mir die Freiheit der Freude an der Arbeit ermöglicht. Darüber hinaus bedanke ich mich besonders bei Prof. Dr. Gerd Wagner und Renate Wagner, weil sie mich und meine wissenschaftliche Neugier in Phasen des Zweifelns immer bestärkt haben.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ....................................................................................................... 1 1
Jugend, Rechtsextremismus und Familie – Eine inhaltliche Annäherung an den Forschungsgegenstand ..................... 7
1.1
(Jugendlicher) Rechtsextremismus – Versuch einer Operationalisierung des Begriffes ..................................................... 7
1.2
Gewandelte Familienverhältnisse – Neue Ansprüche, Chancen und Risiken ...................................................................................... 18
1.2.1
Zur Bedeutung der Familie für Jugendliche ............................... 19
1.2.2
Familie im Umbruch? ................................................................ 22
1.2.3
Neue Generationen in neuen Lebenswelten ............................... 30
1.2.4
Veränderungen in der Erziehung ............................................... 33
1.2.5
„Knautschzone“ Familie – Ein Fazit .......................................... 38
2
Jugendlicher Rechtsextremismus im Spiegel der Forschung ........... 41
2.1
Themenrelevante Entwicklungen innerhalb der rechten Szene aus Sicht des Verfassungsschutzes .................................................. 43
2.2
Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen – Eine Zusammenschau bisheriger Befunde ....................................... 51
2.3
Die Suche nach den Ursachen für die Genese rechtsextremistischer Orientierungen unter besonderer Berücksichtigung der Familie als Gegenstand der Forschung ...................................... 61
2.4
Fazit ................................................................................................. 73
3
Untersuchungsdesign ....................................................................... 75
3.1
Ziele und Bezüge ............................................................................. 75
3.2
Fallauswahl ...................................................................................... 80
3.3
Erhebungsinstrumente ..................................................................... 83
3.3.1
Das Interviewverfahren bei den Jugendlichen ........................... 83
VIII
Inhalt 3.3.2
Das Interviewverfahren bei den Müttern ................................... 89
3.4
Auswertungsverfahren ..................................................................... 90
3.5
Darstellung der Fallportraits ............................................................ 93
4
Analyseergebnisse der Kernfälle ..................................................... 97
4.1
Der Fall Kai Kranich – „een jahr und fünf monate (.) weil man nur mist im kopf hat“ (34-35) .......................................... 98
4.1.1
Interpretation der Stegreiferzählung........................................... 99
4.1.2
Biografische Gesamtform – Die verzweifelte Suche nach (väterlichem) Rückhalt und das Scheitern am eigenen Selbstentwurf .............................................................. 107
4.1.3
Familiale Beziehungsqualität und Erziehungshintergrund – „totale verzweiflung“ (90) und die Suche nach Halt und Akzeptanz ................................................................................ 109
4.1.4
Wünsche, Werte, Zukunftspläne – „ich will keen jeld ich brauch keen jeld ich ha will irgendwo dass alles schön und gut wird“ (755-756) .......................................................... 118
4.1.5
Die Entwicklung der rechtsextremistisch-delinquenten Karriere bis zum erzwungenen vorläufigen Ende – „n dönerladen jesehn da wurde das ding anjezündet einfach weil (.) der hass da war (.) auf alles und jeden eigentlich“ (310-311) .. 122
4.1.6
Interview mit Frau Kranich – „ich hab n unheimlich gerne grade wahrscheinlich weil er so problematisch war“ (217-218).................................................................................. 133
4.1.7
Triangulation der Ergebnisse aus den Einzelinterviews – Abschließende Diskussion ....................................................... 169
4.2
Der Fall Piet Schmidtlach – „ich hab grenzen jesucht irgendwo aber die lagen bei meiner mutter eben ziemlich hoch" (154-155) ............................................................................. 176
4.2.1
Interpretation der Stegreiferzählung......................................... 177
4.2.2
Biografische Gesamtform – Das Erleben der eigenen Ohnmacht und die Wiedererlangung von Handlungskompetenz ................................................................................ 197
4.2.3
Familiale Beziehungsqualität und Erziehungshintergrund – Die Sehnsucht nach Konsequenz und väterlicher Strenge ....... 200
Inhalt 4.2.4
Wünsche, Werte, Zukunftspläne – „was wünsche ich mir (…) hmm das ich zaubern könnte dann kann ich mir immer so viele wünsche erfülln wie ich will“ (1050-1051) ................ 207
4.2.5
Der Einstieg in die rechte Szene und die Entwicklung der rechten Orientierung – Von der „spaßkultur [...] mit politischen hintergedanken“ (364-365) zum Extremismus ...... 212
4.2.6
Interview mit Frau Schmidtlach – „aus meiner sicht ist mein sohn von anfang an ein kind gewesen was grenzen bis zum äußersten ausgekostet hat“ (24-25) ............................. 224
4.2.7
Triangulation der Analyseergebnisse aus den Einzelinterviews – Abschließende Diskussion ................................... 245
4.3
5
IX
Der Fall Dennis Behnke – Zwischen „ich hab nun mal n hass“ (349), „ich will mein eltern ja och nich irgendwie in rücken fallen“ (9-10) und „offjewachsen bin ich halt janz normal“ (10-11) ........................................................................................... 252
4.3.1
Interpretation der Stegreiferzählung......................................... 253
4.3.2
Biografische Gesamtform – Die Ambivalenz zur Normalität und das Streben nach Sicherheit .............................................. 267
4.3.3
Familiale Beziehungsqualität und Erziehungshintergrund – Der Kampf um die Mutter und die Exklusivität der Beziehung ................................................................................ 272
4.3.4
Wünsche, Werte, Zukunftspläne – „jesund n dach überm kopp und ruhe mehr brauch ich nich zum leben“‘ (1058-1059).............................................................................. 285
4.3.5
Rechte Parolen als Frustabbau – „das ist mein vaterland hier (.) hier wohne ich [...] da kann keen [...] türke oder keen bimbo ankommen und sagen was willsten du hier und verscheucht mich irgendwie“ (196-198) ........................... 290
4.3.6
Interview mit Frau Behnke – „das kann doch nich sein dass ausjerechnet dein kind halt dumm is“ (47) ....................... 297
4.3.7
Triangulation der Analyseergebnisse aus den Einzelinterviews – Abschließende Diskussion ................................... 315 Fallübergreifende Ergebnisse – Verlaufsstrukturen der Biografien rechter Jugendlicher und familiale Einflussfaktoren ... 323
X
Inhalt 5.1
Facetten, Entstehungsbedingungen und Hintergründe von jugendlichem Rechtsextremismus ................................................. 326
5.1.1
Aufgefundene rechtsextremistische Ausdrucksformen, Orientierungen und Selbstpräsentationen................................. 327
5.1.2
Einstiegsursachen, -hintergründe und -auslöser ....................... 334
5.1.3
Rechtsextremistische Karrieren und mögliche Distanzierungstendenzen ......................................................... 340
5.1.4
Fazit: Orientierungsmuster und Typenbildung......................... 344
5.2
Familienverhältnisse rechter Jugendlicher – Familiale Beziehungen und elterliche Interventionen ................................... 352
5.2.1
Strukturelle Aspekte des familialen Zusammenlebens............. 353
5.2.2
Beziehungsqualität und innerfamiliale Kommunikation .......... 355
5.2.3
Erziehung ................................................................................. 367
5.2.4
Die innerfamiliale Bearbeitung von jugendlichem Rechtsextremismus und die (Un-)Wirksamkeit von Interventionen .......................................................................... 370
5.2.5
Die Bedeutung der familialen Beziehungen für die Entstehung, Verfestigung und mögliche Überwindung der rechtsextremistischen Karriere – Ein Fazit ........................ 376
5.3
Biografische Prozesse und familialer Kontext – Lebenszusammenhänge rechter Jugendlicher ................................ 380
6
Pädagogischer Bezug auf jugendlichen Rechtsextremismus – Ein Ausblick .................................................................................. 387
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7:
Statistik vgl. BMI 2002, 2005, 2013, 2014 ................................... 45 Statistik vgl. BMI 2002, 2005, 2013, 2015 ................................... 46 für die Fragestellung relevante Themenkomplexe ........................ 87 egozentrierte Netzwerkkarte nach Straus (1994) ........................... 88 Übersicht über die erhobenen Fälle ............................................... 93 Kai Kranich: egozentrierte Netzwerkkarte .................................... 98 Kai Kranich: Gesamtdarstellung des biografischen Bedingungs- und Einflussgeflechts ............................................. 170 Abb. 8: Kai Kranich: Die Mutter-Sohn-Beziehung: Emotionaler Zusammenhalt, bedingungslose Liebe und temporäres Versagen ... 173 Abb. 9: Kai Kranich: Das Väter-Drama: Enttäuschung, Verlust und mangelnde Anerkennung ............................................................. 174 Abb. 10: Piet Schmidtlach: egozentrierte Netzwerkkarte........................... 176 Abb. 11: Piet Schmidtlach: Die Mutter-Sohn-Beziehung: Eingeschränkte Wirksamkeit des erzieherischen Handelns durch grundlegend konträre Bedürfnisse ..................................... 248 Abb. 12: Piet Schmidtlach: Die Vater-Sohn-Beziehung: Einschränkung des väterlichen Einflusses durch den Verlust alltäglicher Gemeinsamkeit ........................................................................... 249 Abb. 13: Piet Schmidtlach: Gesamtdarstellung des biografischen Bedingungs- und Einflussgeflechts ............................................. 250 Abb. 14: Dennis Behnke: egozentrierte Netzwerkkarte ............................. 252 Abb. 15: Dennis Behnke: Gesamtdarstellung des biografischen Bedingungs- und Einflussgeflechts ............................................. 317 Abb. 16: Dennis Behnke: Das Väter-Dilemma: Dennis Suche nach einer stabilen Beziehung und Anerkennung durch eine Vaterfigur...... 318 Abb. 17: Dennis Behnke: Die Mutter-Sohn-Beziehung: Emotionale Verstrickung durch widersprüchliche Beziehungsdefinitionen ... 321 Abb. 18: Ausprägung der rechtsextremistischen Orientierung und einer damit einhergehenden Gewalttätigkeit/-akzeptanz...................... 328 Abb. 19: Bildungshintergründe .................................................................. 333 Abb. 20: Ausgangssituation der Lebensumstände ...................................... 337 Abb. 21: rekonstruierte emotionale Ausgangslagen bzw. Motivationen .... 338 Abb. 22: Situation und Status zum Zeitpunkt des Interviews .................... 343 Abb. 23: persönliche Einstellung, Verhalten und Grad der Organisation .. 345
XII
Abbildungsverzeichnis
Abb. 24: strukturelle familiale Hintergründe ............................................. 354 Abb. 25: familiale Beziehungshintergründe und -qualitäten ...................... 362 Abb. 26: emotionale Nähe zu den Eltern.................................................... 363 Abb. 27: Peter Krug: egozentrierte Netzwerkkarte auf Zeitebene.............. 364 Abb. 28: Elterliches Erziehungsverhalten und Reaktion der Jugendlichen 369 Abb. 29: Interventionen der Mütter ............................................................ 375
Einleitung
Rechtsextremismus bedroht die demokratische Grundordnung unserer Gesellschaft und stellt somit gleichermaßen ein Gefahrenpotential und eine große politische Herausforderung dar. Durch die massiven fremdenfeindlichen Gewalttaten zu Beginn der 1990er Jahre wurden rechtsextremistische Bestrebungen in der öffentlichen und politischen Diskussion zu einem zentralen Thema und dies insbesondere in Bezug auf jugendliche Rechtsextremisten. In diesem Kontext nahm auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Problematik zu. Hatte es zu Beginn des neuen Jahrtausends zunächst den Anschein eines leichten Rückgangs, so rückte das Thema Rechtsextremismus in den vergangenen Jahren vor allem durch die NSU-Morde1, den tragischen Fall der Ermordung von Marwa El-Sherbini im Dresdner Landgericht, die bei Pegida-Demonstrationen2 zum Teil geäußerten rechtsextremistischen Parolen, die Bürgerbewegung Pro NRW sowie die jüngst verübten Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte wieder in den Vordergrund. Die Forschungslandschaft ist aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz des Themas so breit gefächert, dass man sie selbst in dem Teilbereich, der sich mit jugendlichem Rechtsextremismus bzw. rechten Einstellungen beschäftigt, kaum überblicken kann. Ein fachübergreifendes Problem stellt dabei die ausgesprochen schlechte Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse dar, was nicht zuletzt mit den vielen unterschiedlichen Definitionen und Begriffsfassungen zusammenhängt, die für den jeweils untersuchten Zusammenhang vorgenommen werden. Schwer zu fassen ist das Phänomen an sich, denn es gilt festzulegen, welche Haltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen als rechts bzw. rechtsextremistisch gelten. Dabei ist jeder Forscher auch gezwungen, sich mit seinen eigenen Einstellungen und persönlichen Hintergründen auseinanderzusetzen. Sind Vorurteile, Ängste oder Gefühle der Ablehnung gegenüber „Fremden“, anderen Kulturen und Religionen rechtsextremistisch, rechts oder fremdenfeindlich und wenn ja, ab welchem Stärkegrad? Stöss (2000, S.11) bezeichnet den Begriff Rechtsextremismus als aus „historischen Gründen stark politisiert, die Diskussionen um seine Ursachen, seine Bedeutung und um die Methoden für seine Bekämpfung sind hochgradig durch Werturteile geprägt.“ Weiter stellt er fest, dass 1 2
Nationalsozialistischer Untergrund Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2_1
2
Einleitung
es selbst der wissenschaftlichen Forschung nicht immer gelingt, „sich der Problematik unbefangen zu nähern.“ Das soll seiner Ansicht nach „auch gar nicht kritisiert werden, da eine distanzierte Betrachtung angesichts der Brisanz des Themas unangemessen wäre.“ Hier zeigt sich ein grundlegendes Problem der ForscherInnen, die sich mit Rechtsextremismus beschäftigen. Denn Forschung muss sich dem Forschungsgegenstand aus einer möglichst neutralen und distanzierten Haltung heraus nähern, diese grundlegende Regel scheint für die Erforschung des Rechtsextremismus jedoch nicht immer zu gelten. Es entsteht vielmehr der Eindruck einer häufigen Vermischung von Forschung mit Moralisierung, die ein nüchternes Betrachten des Forschungsgegenstandes unmöglich macht, den Umgang mit Untersuchungsteilnehmern im Feld erschwert und den Erkenntnisgewinn zugunsten der Reproduktion moralischer Verurteilungen eher behindert. Es gibt den rechtsextremen Jugendlichen genauso wenig wie es die Jugend gibt (vgl. Lenz 1988, S.23f.). Die verschiedenen Facetten des Rechtsextremismus reichen von Sympathien für oder Anschluss an jugendliche rechte Subkulturen über ethnozentrierte Orientierungen bis hin zur Mitgliedschaft in rechten Parteien und Gewaltbereitschaft. Rechte bzw. rechtsextremistische Einstellungen von Jugendlichen können sowohl auf festen und begründeten Orientierungen als auch auf Protestverhalten oder diffusen Meinungen basieren. Unter Berücksichtigung dieses Aspektes und der bereits erwähnten ungenauen Definition von Rechtsextremismus werden im ersten Kapitel zunächst gängige Begriffsbestimmungen diskutiert sowie ein eigenes Modell des Begriffes entworfen, anhand dessen die erhobenen Fälle ausgewählt wurden. Daran schließt sich eine Auseinandersetzung mit der Institution Familie an. Im Sinne einer Standortbestimmung werden Entwicklung, Bedeutung, Funktionen und Probleme der heutigen Familienformen und der in ihnen aufwachsenden Jugendlichen näher beleuchtet. Kapitel 2 gibt einen Überblick über die für den Untersuchungsgegenstand relevante Forschungslandschaft. Wenn rechtsextremistische Einstellungen bei Jugendlichen u.a. als Bewältigungsversuch subjektiver Belastungen gesehen werden können, die aus Verunsicherungen in den sozialen und normativen Orientierungen resultieren, sind sie ein Indikator für fehllaufende oder risikobelastete Sozialisationsprozesse. Die gestiegene Bedeutung der familialen Beziehungsmuster für das Gelingen des Sozialisationsprozesses widerspiegelt sich in den heutigen Forschungsansätzen. Die Forschungsfelder Familie und Jugend, die lange Zeit getrennt voneinander existierten, obwohl sie in der sozialen Wirklichkeit stark miteinander verknüpft sind, haben sich langsam angenähert. In der Untersuchung wurden an diese Entwicklung anknüpfend Jugendliche und ihre Mütter befragt, um familiale Interaktionsmuster im Kontext rechter Orientierungen von Jugendlichen zu analysieren. Denn trotz der breiten Palette von
Einleitung
3
Forschungsergebnissen zum Thema Jugend und Rechtsextremismus, gibt es nur wenige Studien, die den Einfluss familialer Sozialisation und Erziehung sowie familialer Beziehungen untersuchen. Auch gibt es bisher keine qualitative Untersuchung, die explizit Jugendliche und ihre Mütter befragt und beide Perspektiven miteinander verknüpft. Das Dissertationsprojekt setzte genau an diesem Forschungsdefizit an. Der Fokus richtet sich auf rechte bzw. rechtsextremistische Jugendliche und untersucht den Einfluss der Familie auf ihre Einstellung sowie die Motivation für ihre Zugehörigkeit zur rechten Szene. Die Fragestellung der Untersuchung ist dabei nicht nur auf die Suche nach möglichen familialen Ursachen für die Entwicklung einer rechten Orientierung, sondern vor allem auf den familialen Umgang damit gerichtet. Weiterhin sind die Beziehungsqualität und mögliche Problemlagen innerhalb der Familie sowie der Stellenwert, den die Familie für die Jugendlichen generell hat, von Interesse. Ziel der Untersuchung ist es, Erkenntnisse zu gewinnen, wie die rechte bzw. rechtsextremistische Einstellung der Jugendlichen innerhalb der Familie wahrgenommen wird, ob und welche familialen Interaktionen und elterlichen Reaktionen die Einbindung der Jugendlichen in die rechte Szene beeinflussen sowie welche Interventionen – so es denn welche gibt – wirksam sind und welche nicht. Dazu wurden biografische Interviews mit sechs Jugendlichen und in drei Fällen auch mit ihren Müttern erhoben. Das Untersuchungsdesign wird in Kapitel 3 erläutert. Im Anschluss daran erfolgt die Präsentation der Analyseergebnisse der drei Fälle, in denen auch die Mutter befragt wurde (Kernfälle), in ausführlichen Fallportraits. Das vorletzte Kapitel widmet sich dem fallübergreifenden Vergleich, um Muster der biografischen Verläufe und familialen Konstellationen herauszuarbeiten. Sowohl in meiner praktischen als auch in meiner wissenschaftlichen Arbeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass gerade die intensiven und detailreichen Darstellungen von Fällen zu einem tieferen Verständnis und vor allem auch praktisch anwendbaren Wissen führen, das durch die Auswertung und Präsentation fallübergreifender Ergebnisse bzw. quantitativer Daten sowie abgeleiteter Theorien allein nicht erreicht werden kann. Ziel dieser qualitativen Studie war es in erster Linie „zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beizutragen und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam zu machen“ (Flick u.a. 2008, S.14). Durch die ausführlichen Falldarstellungen sollen komplexe Wirkmechanismen und Zusammenhänge im Kontext einer rechten Szenezugehörigkeit von Jugendlichen aufgedeckt und nachvollziehbar gemacht werden. In einem Interview bei van Dijk (1993, S.12) sagte ein rechtsextremistischer Jugendlicher:
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Einleitung „Mich hat nie jemand gefragt, wie ich mich fühle oder wenigstens, was mir wichtig ist. Niemals. Jetzt fragen mich hier alle möglichen Psychologen, neulich war sogar ein ganzer Verein von Studenten da. Ich kann nur hoffen, dass man andere sowas fragt, wenn sie noch jünger sind, noch nicht so verbittert oder voller Wut, wie ich heute. Ich weiß nicht, was ich denen antworten soll...“
Es gilt also mehr zu fragen und auch den Antworten mehr Raum zu geben. Dieses Forschungsprojekt hat versucht, dem Rechnung zu tragen und Fragen nach Werten, Wünschen, Zukunftsvorstellungen, Vergangenheit, Wut, Beziehungen und Problemen aufzugreifen. Dabei war die grundlegende Haltung immer klar – eine deutlich abgrenzende Haltung gegenüber der Einstellung und ein respektvoller, aufmerksamer und wertschätzender Umgang mit dem Menschen dahinter. Flick u.a. (2008, S.17) sehen vor allem vor dem Hintergrund des massiven sozialen Wandels die Notwendigkeit von Forschungsdesigns, die sich auf die Perspektiven der Subjekte sowie die „subjektiven und sozialen Konstruktionen (...) ihrer Welt“ beziehen und „zunächst genaue und dichte Beschreibungen liefern.“ Schedler (2016, S.288f.) bemängelt die geringe Anzahl qualitativer Studien im Vergleich zu quantitativen Erhebungen, die er u.a. auch auf den schwierigen Feldzugang in diesem Bereich zurückführt und plädiert für eine stärkere Fokussierung auf die Mikroebene, um die Anziehungskraft rechtsextremistischer Gruppierungen zu ergründen. Lüders (2008, S.639) kritisiert die Bestrebungen innerhalb der qualitativen Forschung, nur noch „Beiträge aus einer empirisch unterfütterten Theoriebildung zu liefern“, plädiert für mehr deskriptives Wissen und weist daraufhin, dass es „sowohl für die wissenschaftliche Arbeit und die Theoriebildung, als auch für Politik, Verwaltung und Fachpraxis in den meisten Fällen äußerst hilfreich wäre zu erfahren, wie etwas ist und warum sich etwas wie entwickelt und was unter bestimmten Bedingungen wo herauskommt (...) Also die Beantwortung der Frage, wie man etwas besser machen könnte.“ Die vorliegende Studie will hierzu einen Beitrag leisten. Da es um in der Entwicklung befindliche Jugendliche geht, müssen die Offenheit von Sozialisationsprozessen berücksichtigt sowie vorschnelle Etikettierungen und Schuldzuweisungen vermieden werden. Denn dies kann genau zu dem führen, was ursprünglich verhindert werden sollte: einer Verfestigung oder Radikalisierung ihrer Einstellung. Heitmeyer (1989) kritisiert, dass pädagogische und politische Maßnahmen teilweise jedoch kaum Rücksicht auf die Entwicklungspotentiale der Jugendlichen nehmen, sondern diese durch Ausgrenzung und Stigmatisierung geradezu verhindern. Etikettierungen und Stigmatisierungen können jedoch auch durch das natürliche Beziehungsumfeld der Jugendlichen erfolgen und im Sinne des „labeling approach“ zu einer Übernahme der negativen Zuschreibungen in das eigene Selbstbild – und somit in diesem Falle einer weiteren Radikalisierung – führen (vgl. Lamnek 1997; Böhnisch 1999). Aus den
Einleitung
5
gewonnenen Erkenntnissen der Interviewanalyse wurden daher im Sinne eines Ausblicks Strategien des pädagogischen Umgangs mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen erarbeitet. Wenn es trotz mannigfaltiger und umfangreicher Forschung nicht gelingt, eine grundlegende gültige Erklärung für die Entstehung von rechtsextremistischen Orientierungen zu finden, kann eine Erweiterung des Blickwinkels in Bezug auf eine verstärkte Ausrichtung auf Sekundär- und Tertiärprävention nützlich sein. Mit diesem Forschungsprojekt soll ein Teil dazu beigetragen werden, den Erfahrungsschatz hinsichtlich der Hintergründe und Zusammenhänge zu erweitern, um dem Phänomen in seiner praktischen Erscheinung adäquat, präventiv und effektiv begegnen zu können.
1 Jugend, Rechtsextremismus und Familie – Eine inhaltliche Annäherung an den Forschungsgegenstand
Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Zusammenhänge zwischen familialen Beziehungen und rechten bzw. rechtsextremistischen Szenezugehörigkeiten von Jugendlichen. Die hierfür vorgenommene Perspektiventriangulation jugendlicher und mütterlicher Sichtweisen erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand Familie sowie eine Standortbestimmung in Bezug darauf, was unter dem Phänomen „Rechtsextremismus“ in Bezug auf die zu befragenden Jugendlichen überhaupt verstanden werden soll. 1.1 (Jugendlicher) Rechtsextremismus – Versuch einer Operationalisierung des Begriffes Obwohl es zum Thema Rechtsextremismus geradezu eine Fülle an wissenschaftlicher Literatur gibt, stellt die Definition des Begriffes eine erste Hürde in der vorliegenden Studie dar. Fast alle Autoren verweisen auf inhaltliche Unklarheiten sowie eine regelrechte Begriffsverwirrung (vgl. etwa Borstel 2016; Stöss 2010; Rieker 2009; Butterwegge 2000; Melzer/Rostampour 2002; Fuchs u.a. 2003), die von Minkenberg (o. J., S.18) etwas charmanter als „Begriffspluralismus“ umschrieben wird. Es gibt in der Rechtsextremismusforschung bislang keine allgemeingültige Definition. Rechtsextremismus wird eher als Oberbegriff gebraucht, der unterschiedliche Facetten eines „weiten Problemkreises“ zusammenfasst (Fuchs u.a. 2003, S.12) und einen „unübersichtlichen Sektor der politischen Landschaft Deutschlands bildet“ (Stöss 1999, S.12). Rieker (2009, S.11f.) kritisiert den Begriff als unscharf und in seiner Anwendung durchaus problematisch, auch wenn er sich mittlerweile weitgehend „als Sammelbegriff für politische und soziale Orientierungs- und Handlungsweisen […], die sich gegen Demokratie und Rechtsstaat, ethnisch-kulturelle Vielfalt und Toleranz sowie die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus richten“ durchgesetzt hat. Jesse (2005, S.256) sieht in der „inflationäre(n) Verwendung des Begriffes „Extremismus“ allgemein die Gefahr einer erschwerten „Identifizierung und Bekämpfung des tatsächlichen“ Extremismus. Winkler (2001, S.39) bezeichnet das © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2_2
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Jugend, Rechtsextremismus und Familie
„Fehlen einer anerkannten und präzisen Wissenschaftssprache […] als eine der größten Schwächen der Rechtsextremismusforschung“ und sieht in den bezüglich des Begriffes geführten Diskussionen einen „Streit um Worte, der keinen Erkenntnisfortschritt bringt.“ Die unzureichende begriffliche Präzision hängt u.a. mit der Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Forschungslandschaft zusammen. Je nach Fragestellung, Forschungsebene und Zielstellung wird der Begriff jeweils unterschiedlich definiert. Dies betrifft sogar Untersuchungen, die sich mit der gleichen Rechtsextremismus-Dimension beschäftigen. Dazu kommt, dass der Begriff Rechtsextremismus häufig mit anderen Begrifflichkeiten wie z.B. Fremdenfeindlichkeit, Rechtsradikalismus, Ethnozentrismus, Rassismus, rechte Einstellung, Rechtsextremismussyndrom, rechtsextremes Einstellungssyndrom etc. synonym verwendet wird (Frindte/Neumann 2002; Rieker 1997; Minkenberg 2002). Dies mag einem gefälligen Textfluss dienlich sein, erscheint aber in Bezug auf eine klare Fassung des Begriffes eher kontraproduktiv. Der Rechtsextremismus-Begriff bezieht sich also auf sehr unterschiedliche (Forschungs-)Dimensionen, angefangen von individuellen Einstellungen und Verhaltensweisen bis hin zur gesellschaftlichen und politischen Ebene, die in sich wiederum vielfältig und unübersichtlich sind. Fuchs u.a. (2003, S.12f.) unterscheiden hier zwischen den Analyseebenen a) b) c) d) e)
rechtsextreme Orientierungen, parteipolitisch organisierter Rechtsextremismus, formelle und informelle rechtsextreme Gruppierungen, intellektueller und kultureller Rechtsextremismus und jugendliche Subkulturen.
Die vorliegende Untersuchung lässt sich hauptsächlich auf den Analyseebenen (a) Rechtsextreme Orientierungen und (e) jugendliche Subkulturen ansiedeln, wobei die Ebene (c) – formelle und informelle rechtsextreme Gruppierungen – mit einfließt. Es wurde daher zur Operationalisierung des Begriffes Rechtsextremismus auch auf Definitionen aus diesen drei Bereichen rekurriert. Oft wird Rechtsextremismus über verschiedene konstituierende Merkmale definiert (vgl. etwa die Definition des Verfassungsschutzes; Stöss 2010; 1999). Minkenberg (o.J., S.19) spricht in seiner Expertise zum politikwissenschaftlichen Forschungsstand von einem so genannten „shopping list approach“, das heißt, es werden „eine Reihe von mehr oder weniger willkürlich ausgewählten Kriterien zur Charakterisierung des Untersuchungsgegenstandes herangezogen“. Stöss (1999, S.20) definiert Rechtsextremismus zunächst relativ allgemein als „Sammelbegriff für verschiedenartige gesellschaftliche Erscheinungsformen, die
Jugend, Rechtsextremismus und Familie
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als rechtsgerichtet, undemokratisch und inhuman gelten.“ Eine Konkretisierung im Sinne des „shopping list approach“ erfolgt durch die Zuordnung von vier, hier nur grob zusammengefassten Merkmalen, die dann wiederum genauer charakterisiert werden: a)
mit imperialistischem Großmachtstreben verbundener übersteigerter Nationalismus, b) Ablehnung der universellen Freiheits- und Gleichheitsrechte des Menschen, c) Ablehnung parlamentarisch-pluralistischer Systeme (Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip), d) Leitbild einer auf rassistischer Ideologie und „natürlicher Ordnung“ basierenden Volksgemeinschaft (ebd. S.20f.). Diese Form der Begriffsbestimmung mag zwar für den Bereich der quantitativen Forschung gut geeignet sein, für eine qualitative Untersuchung ergeben sich jedoch Schwierigkeiten, weil sie zu starr ist. Zudem erscheint es problematisch festzulegen, ab wann ein Mensch tatsächlich als rechtsextrem einzustufen ist. Es ist sicherlich nicht häufig, dass sich alle festgelegten Merkmale bei einer Person finden lassen. Gerade bei der Interpretation von Interviews besteht dann die Gefahr, dass Äußerungen in die aufgelisteten Merkmale eingepasst werden. Stöss (2010, S.20ff.) nimmt weiterhin eine interessante Unterscheidung zwischen rechtsextremistischen Einstellungen und rechtsextremistischen Verhaltensweisen vor. Einstellungen sind demnach dem Verhalten im Regelfall vorgelagert und müssen nicht zwangsläufig eine praktische Umsetzung erfahren. Das rechtsextremistische Einstellungspotential (latenter Rechtsextremismus) in der Bevölkerung ist nach diesem Konzept wesentlich größer als das tatsächliche Verhaltenspotential (manifester Rechtsextremismus), da nur ein geringer Teil der Bevölkerung politisch rechtsextremistisch aktiv ist. Gerade bei Jugendlichen ist hier aber zu bedenken, dass Handlungen aus Protest oder Provokation erfolgen können, ohne dass eine entsprechende Einstellung unbedingt vorgelagert sein muss, so dass rechtsextremistische Verhaltensweisen ohne rechtsextremistische Einstellung denkbar sind. Als relativ klare und eindeutige Definition gilt die amtliche Definition des Verfassungsschutzes, obwohl sie sich eher weniger für die Sozialforschung eignet. Zum einen ist Rechtsextremismus im sozialwissenschaftlichen Bereich nicht unbedingt synonym mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen. Zum anderen ist diese Terminologie stark auf den organisierten Rechtsextremismus gerichtet und lässt andere Formen, wie zum Beispiel noch ungerichtete Einstellungspotentiale, außen vor.
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Der Verfassungsschutz definiert Rechtsextremismus als von nationalistischen, rassistischen und demokratiefeindlichen Anschauungen geprägte Ideologie, in der die ethnische Zugehörigkeit zu einer Rasse oder Nation über den Wert eines Menschen entscheidet. Eine zentrale Größe ist dabei die Ablehnung des im Grundgesetz verankerten Gleichheitsprinzips. Ziel rechtsextremistischer Bestrebungen ist also folglich die Schaffung eines autoritären politischen Systems für ein ethnisch homogenes Volk (vgl. BMI 2003, S.24f.). Es lassen sich ergänzend zur obigen Definition einige charakteristische Inhalte zusammenfassen, die im aktuellen Rechtsextremismus eine Rolle spielen. Dazu gehören:
rassistisch geprägte Ausländerfeindlichkeit, nationalistische Vorstellungen, Antiimperialismus/Antiamerikanismus, Antisemitismus, gebietsrevisionistische Vorstellungen, Revisionismus (Leugnung des Holocausts und der Kriegsschuld), Verunglimpfung des demokratischen Staates, Verherrlichung des Soldatentums, Aufgreifen aktueller und sozialer Themen, Protest gegen staatliche Repression (Gewerkschaft der Polizei 2001, S.10).
Bezüglich der Parteien und Organisationen, auf die sich diese Definition hauptsächlich bezieht, wird vom Verfassungsschutz weiterhin klar zwischen Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus getrennt. Rechtsradikalismus liegt im Anschluss an die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes noch im Bereich des verfassungskonformen und demokratischen Spektrums. Rechtsextremistische Parteien bzw. Organisationen stehen dagegen im Verdacht, demokratie- und somit verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen und werden deshalb durch die Verfassungsschutzämter beobachtet. Es wird im Verfassungsschutzbericht 2002 weiterhin grob zwischen gewaltbereiten Rechtsextremisten, Neonazis und rechtsextremistischen Parteien unterschieden. Zu den gewaltbereiten Rechtsextremisten sind demnach vor allem rechtsextremistische Skinheads zu rechnen. Bei ihnen liegt allerdings weniger ein klares politisches Konzept und Interesse zugrunde, sondern eher ein „von fremdenfeindlichen, oft rassistischen Ressentiments“ geprägtes „Lebensgefühl“ (BMI 2002, S.21). Die Gruppenidentität konstituiert sich, wie auch in anderen Jugendkulturen, durch Kleidung, Musik (in diesem Zusammenhang spielen vor allem Konzerte eine wesentliche Rolle), Rituale und Symbole. Der gewaltverherrlichenden und aggressiven Musik wird in Verbindung mit dem in dieser Szene
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üblichen starken Alkoholkonsum ein nicht unwesentlicher Anteil bei der Stimulanz von Gewalttaten zugesprochen (ebd. S.21ff.). Der zweiten Gruppe, den Neonazis, attestiert der Verfassungsschutz „einen stärkeren Drang zu zielgerichteter politischer Aktivität“ (BMI 2002, S.21). Ziel ist ein totalitärer Führerstaat auf rassistischer Grundlage und in nationalsozialistischer Tradition. Das deutsche Volk wird von ihnen als ganz klar höherwertig eingestuft und muss deshalb vor rassisch minderwertigen Menschen und vor allem einer „Rassenvermischung“ bewahrt werden. Bei den rechtsextremistischen Parteien ergibt sich die Abwertung anderer Ethnien aus ihrer stark nationalistischen Position. Die Nation ist das oberste Prinzip. Auch ihr Ziel ist die Auflösung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Schaffung eines autoritären Staates (vgl. BMI 2002, S.21ff.). Diese Einteilung erscheint schwierig, da der Eindruck entsteht, es würde lediglich bei den Skinheads eine Gewaltbereitschaft bestehen. Bedenkt man weiterhin, dass es sich bei Skinheads vorwiegend um Jugendliche bzw. junge Erwachsene handelt, könnte man schnell zu dem (Fehl-)Schluss gelangen, hier läge der eigentliche Brennpunkt. Zwar wird dies durch ein mangelndes politisches Konzept wieder abgeschwächt, dennoch bleibt letztlich der Eindruck bestehen, dass von den anderen beiden Gruppen eher politische Aktivitäten ausgehen, die Gewalt ausschließen. Tatsächlich lässt sich zumindest bei ihren führenden Köpfen eine auf politischem Kalkül und Angst vor Strafverfolgung beruhende Strategie der Gewaltvermeidung feststellen (Gewerkschaft der Polizei 2001, S.13ff.). Dies bedeutet jedoch nicht, dass keine Gewaltakzeptanz vorliegt und durch andere ausgeführte Gewalttaten nicht gebilligt oder sogar begrüßt werden. Heitmeyer (1992, S.13) distanziert sich von einem „politisch-verfassungsrechtlichen Begriffsverständnis“ und einer „organisationsbezogenen Perspektive.“ Er geht von einem „soziologischen Rechtsextremismus“-Begriff aus, der „Formen rechtsextremer Orientierungen außerhalb und im Vorfeld des organisierten Spektrums“ erfassen soll. Rechtsextremismus beinhaltet demnach zwei Grundelemente. Zum ersten ist dies die Ideologie der Ungleichheit, die auf die Ausgrenzung und Abwertung von Fremden und „Anderen“ zielt. Darin werden noch einmal zwei Dimensionen unterschieden. Die erste Dimension bezeichnet Heitmeyer als „personen- bzw. gruppierungsbezogen“ und auf „Ungleichwertigkeit“ gerichtet. Die zweite Dimension ist „lebenslagenbezogen“ und auf soziale, ökonomische, kulturelle, rechtliche und politische Ausgrenzungsforderungen“ im Sinne einer „Ungleichbehandlung“ gerichtet. Auch Heitmeyer ordnet den Dimensionen bestimmte Merkmale zu. Diese sind jedoch beispielhaft und werden inhaltlich als mögliche Facetten verstanden (ebd. S.13f.).
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Das zweite Element wird mit Gewaltakzeptanz überschrieben. Rationale Diskurse und demokratische Regelungsformen werden von den Jugendlichen abgelehnt. Stattdessen wird Gewalt als normales Mittel zur Regelung von Konflikten gesehen. Die Gewaltakzeptanz wiederum wird in vier „zentrale, ansteigend eskalierende Varianten“ unterteilt, die von der Akzeptanz und immerwährenden Existenz von Gewalt bis zur eigenen Ausübung reichen. Wichtig ist, dass der Gewaltbegriff nicht auf physische Gewaltausübung beschränkt ist, sondern auch andere Gewaltformen wie psychische und vor allem strukturelle Gewalt mit einschließt. Darüber hinaus unterscheidet Heitmeyer (1992, S.14) zwei Möglichkeiten der Akzeptanz von Gewalt. Zum einen kann die Ideologie der Ungleichheit als Legitimation für gewaltförmiges Handeln dienen, da es einer solchen aufgrund seines „zerstörerischen Gehaltes“ besonders bedarf, zum anderen kann die Ideologie der Ungleichheit als Einstellung vorgelagert sein, die dann die Akzeptanz und Ausübung von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ideologischer Ziele nach sich zieht. Sind die beiden Elemente Ideologie der Ungleichheit und Gewaltakzeptanz bei einem Jugendlichen vorhanden, kann von einem „rechtsextremistischen Orientierungsmuster“ gesprochen werden (ebd. S.14). Die Wahl des Begriffes Orientierungsmuster weist eindeutig auf eine Distanzierung von der Definition des Verfassungsschutzes zugunsten einer die Besonderheiten der Jugendphase berücksichtigenden Begriffsbestimmung hin. Diese Definition ist also offener und für die Durchführung einer qualitativen Studie eher geeignet. Möller (2000, S.74ff.) führt in seiner Langzeitstudie über den Auf- und Abbau von rechtsextremistischen Orientierungen bei Jugendlichen ergänzend zu Heitmeyers Ideologie der Ungleichheit den sehr sinnvollen Begriff der Ungleichheitsvorstellungen ein. Dadurch sollen sowohl der Vermeidung einer vorschnellen Stigmatisierung Jugendlicher Rechnung getragen als auch eher gefühlsmäßig und weniger kognitiv strukturierte Orientierungsgrundlagen berücksichtigt werden. Ungleichheitsvorstellungen müssen nicht zwangsläufig einen problematischen oder gar demokratiefeindlichen Charakter aufweisen. Durch diese begriffliche Abstufung kann das unterschiedliche Ausmaß, in dem Ungleichheitsvorstellungen mit Wertungen verbunden sind, einbezogen werden. Es wird dabei zwischen dem „Registrieren von Ungleichheit im Sinne eines Feststellens von Verschiedenartigkeit“ (ebd. S.75) mit und ohne Wertung unterschieden. Erfolgen Ungleichheitsfeststellungen ohne Wertung, handelt es sich um ein grundlegendes und unproblematisches Prinzip des Erkenntnisgewinns, das nicht „unter politischen Vorzeichen skandalisierbar“ ist. Es geht hier also um eine horizontal gedachte Ungleichheit, bei der „heimliche“ Wertungen natürlich nicht ausgeschlossen werden können (Möller 2000, S.75). Beinhalten Ungleichheitsvorstellungen dagegen vertikal-hierarchische Wertungen werden sie zu mit offener Abwertung
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verbundenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen. Möller (2000, S.75f.) nimmt hier drei Abstufungen vor: a) b) c)
Meinungen, Einstellungen und Handlungen mittels derer subjektive Ungleichwertigkeitsvorstellungen über relevante politisch-soziale Verhältnisse zum Ausdruck gebracht werden, Orientierungen, die sowohl Ungleichwertigkeitsvorstellungen als auch Ungleichheitsbehandlungsforderungen beinhalten, Orientierungen, die nicht nur Ungleichbehandlung fordern, sondern auch selbst umsetzen.
Diese Ergänzung der Definition kann entschieden zu einer Versachlichung der mitunter hoch emotional aufgeladenen Diskussion beitragen. Aufgrund der historisch bedingten Bedeutsamkeit des Themas ist es nicht selten, dass bei bestimmten Äußerungen von Jugendlichen, die sich möglicherweise nur auf die neugierige Erkundung horizontal gedachter Unterschiede beziehen, rechtsextremistische Tendenzen befürchtet werden und vorschnelle Stigmatisierungen oder auch pädagogische Interventionen erfolgen, die letztlich kontraproduktiv sind. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es zwar eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen (z.B. Heitmeyer 1992; Möller 2000; Birsl 1994; Eckert u.a. 2000; Fuchs u.a. 2003; Siller 1997; Stöss 1999; Willems u.a. 1994) für Rechtsextremismus, jedoch keine übergreifende und die verschiedenen Forschungsbereiche verbindende gibt. Das Dilemma liegt zum einen darin begründet, dass Rechtsextremismus tatsächlich als Begriff nicht zur Beschreibung des eigentlichen Phänomens ausreicht, es derzeit jedoch auch keine andere Terminologie gibt, die dazu in der Lage wäre. Zum anderen haben unterschiedliche Erkenntnisinteressen in der Rechtsextremismusforschung verschiedene Charakteristiken des Begriffes zur Folge. Diese auf den Rechtsextremismus-Begriff insgesamt zutreffende Problematik wird noch verschärft, wenn es um Jugendliche geht. In der Jugendforschung muss aufgrund der Besonderheiten der Jugendphase und ihren speziellen Risiken mit stigmatisierenden Begriffen sehr vorsichtig und umsichtig operiert werden. Das Jugendalter ist entwicklungsbedingt eine Phase des Experimentierens mit Normen und Rollen. Dazu gehört auch „die unverbesserliche Neigung“ der Jugend, „normative Grenzen auszutesten und diese dabei zu überschreiten“ (Enke 2003, S.9). Die Suche nach der eigenen Identität und das damit verbundene Probier-, Schockier- und Abgrenzungsverhalten muss bei der Operationalisierung des Begriffes berücksichtigt werden. Es stellt sich weiterhin vor allem bei Jugendlichen die Frage, ob ihrem Verhalten tatsächlich immer eine
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rechtsextremistische politische Dimension auf der Einstellungsebene zugrunde liegt. Zwar wird „Rechtsextremismus“ hier als Oberbegriff für ein vielfältiges Phänomen verwendet und dies nicht zuletzt, um einen leserlichen Textfluss zu erhalten. Tatsächlich gibt es aber, wie eingangs bereits dargelegt, weder den rechtsextremen Jugendlichen noch die Jugend. Fuchs u.a. (2003, S.14) schreiben dazu: „Es genügt ein Hakenkreuz an der ‚richtigen‘ Stelle, um die Aufmerksamkeit einer ganzen Nation auf sich zu ziehen! Das Bedürfnis der Jugend nach Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit kann von keiner anderen Protestkultur so effektiv geleistet werden. Nazis stehen ‚draußen‘, während Angehörige anderer Jugendkulturen lediglich Marionetten des Marketings zu sein scheinen. Insofern ergibt sich die Frage, ob man bei den meisten ‚offensichtlich‘ rechtsextremen Jugendlichen nicht zu weit geht, wenn man ihnen ein fundiertes rechtsextremes Weltbild unterstellt. Hat die Konzentration auf die Jugendlichen nicht lediglich Entlastungsfunktion für die ‚Restgesellschaft‘? Selbst wenn man konstatiert, dass der Rechtsextremismus bei vielen dieser Jugendlichen mehr bedeutet als eine provokative ‚Hülle‘ - die Jugendproblematik darf nicht isoliert betrachtet werden, denn sie ist immer nur ein Spiegel der sie umgebenden Verhältnisse und damit auch der älteren Generation.“
Interessante Erkenntnisse hierzu erbrachte die Studie zum Verhältnis von Schule, Anerkennung und Politik. Helsper/Krüger u.a. (2006) verbinden in ihrer umfangreichen Untersuchung von 13- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern in Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen quantitative und qualitative Methoden, um die Entstehung unterschiedlicher politischer Orientierungen bei Jugendlichen zu erforschen. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, „dass politischen Phänomenen in jugendkulturellen Kontexten die Funktion zukommt, Abgrenzungen und Differenzierungen in der sozialen Umwelt vorzunehmen.“ Politische Zuordnungen und Ausdrucksformen dienen den Jugendlichen demnach als Möglichkeit der Grenzziehung zwischen den Geschlechtern, Generationen sowie eigener und fremder Kultur. Darüber hinaus seien „die über Stilisierungsprozesse präsentierten politischen Einstellungen nicht per se handlungspraktisch relevant“, sondern sind eher als Möglichkeit der „symbolischen Herstellung von Unterschieden in der sozialen Umwelt zu verstehen“ (ebd., S.359). Aus den erwähnten Definitionen wurden bereits unterschiedliche Ausprägungen von „Rechtsextremismus“ ersichtlich. Nicht jeder Jugendliche, der eine rechtsorientierte Einstellung hat, ist zwangsläufig rechtsextrem oder/und gewaltbereit. Meist handelt es sich um ein „unorganisiertes Aktionspotential und vor allem ein Potential an Gestimmtheiten, Meinungen, Orientierungen und evtl. daraus erwachsenden Handlungsbereitschaften“ (Möller 2000, S.13). Die verschiedenen Facetten des Rechtsextremismus reichen von Sympathien für oder Anschluss an jugendliche rechte Subkulturen bis eben hin zur Mitgliedschaft in rechten Parteien und Gewaltbereitschaft. Aus diesem Grund wird im Titel der
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Dissertation auch von rechten Ausdrucksformen und nicht nur von Rechtsextremismus gesprochen. Mit der Bestimmung eines Rechtsextremismus-Begriffes ist eine nicht zu unterschätzende Stigmatisierungsgefahr verbunden, die sich in der Arbeit und im Umgang mit Jugendlichen nachteilig, ja geradezu prekär auswirken kann. Schon aus diesem Grund scheint es geboten, eine relativ offene und vorsichtige Bestimmung des Begriffes vorzunehmen. Auch da die vorliegende Untersuchung ein qualitative ist, muss der Forschungsprozess weitgehend offen gehalten werden. Den begrifflichen Schwierigkeiten soll nun in der Arbeit begegnet werden, in dem drei abgestufte vorläufige Kategorien rechter Ausdrucksformen gebildet werden, die unter den Oberbegriff Rechtsextremismus fallen. Diese Kategorien sind kumulativ und es wird mit ihrer Hilfe versucht, die gesamte Bandbreite der möglichen Ausprägungen von Rechtsextremismus im Jugendalter zu erfassen. Ein gänzlicher Verzicht auf die vorgenommene, wenn auch unbefriedigende Operationalisierung des Begriffes kommt nicht in Frage, da die aus dem Vorverständnis heraus gebildeten Kategorien eine wesentliche Grundlage für die Auswahl der Probanden bilden. Kategorie 1 – „Rechtsextremismus“ als jugendtypische Provokation Jugendlicher Rechtsextremismus wird in der ersten Kategorie als jugendliche Ausdrucksform begriffen, die unabhängig vom organisierten Rechtsextremismus besteht. Ihr liegen weder zielgerichtete politische Einstellungen/Verhaltensweisen noch eine Hinwendung zur entsprechenden Ideologie zugrunde. Es handelt sich vielmehr um jugendtypisches Protest- und Schockierverhalten. Unterhält man sich mit Jugendlichen über ihre – im Laufe der Jugendphase nicht selten wechselnde – Zugehörigkeit zu einer bestimmten jugendsubkulturellen Szene oder Clique, fallen öfter Sätze wie „...als ich mal rechts war“, etc. „Rechts-Sein“ hat in diesem Verständnis, so schwer nachvollziehbar dies auch für die Erwachsenen sein mag, den gleichen Stellenwert wie das „In-Sein“ einer bestimmten Band, eines bestimmten Treffpunktes oder Turnschuhmarke. Jugendliche wollen auffallen und sich deutlich von den Erwachsenen abgrenzen. Dies gelingt ohne weiteres mit gesellschaftlich tabuisierten rechtsextremistischen Symbolen und Parolen. Fuchs u.a. (2003, S.14) bezeichnen Rechtsextremismus daher als „vielleicht letzte wirkliche Protestkultur.“ Nicht wenige Jugendliche werden schon ein „Heil Hitler!“ nur aus dem Grund gerufen haben, damit und weil die Erwachsenen um sie herum empört reagieren, ohne wirklich zu wissen, was es mit diesem Gruß auf sich hat bzw. ohne die entsprechende Ideologie zu vertreten. Besonders deutlich wird dies am folgenden Zitat eines im Zuge der Bielefelder
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Rechtsextremismus Studie von Heitmeyer u.a. (1992, S.364 hervorgehoben K.F.) interviewten Jugendlichen: „Der mit der Fahne ist nicht mal 'n Skinhead und so ... Irgendwie, ich meine, wenn du das siehst ... zwölfjähriger Junge zuhause, lieb, brav, macht seine Hausaufgaben jeden Tag, spielt mit seinen Kumpels, dann steht er da auf Block drei und brüllt da rum: ‚Jude, Jude’ oder was, ne. Ist ja dann auch irgendwie, kannst ja dann auch nicht sagen, ist 'n Nazi. Das ist halt irgendwie so. In dem Film hieß es auch ‚rechtsradikale’ (unverständlich), wir sind keine Nazis. Das ist halt so, das versteht keiner... .“
„Rechtsextremismus“ findet hier also hauptsächlich auf der Verhaltensebene statt, der eher keine einschlägigen Einstellungen zugrunde liegen. Kategorie 2 – „Rechtsextremismus“ als diffuse Orientierung „Es stellt sich, wie immer, wenn man sich mit dem Thema ‚Jugend und abweichendes Verhalten’ beschäftigt, die Frage, ob es sich bei diesen Verhaltensweisen um jugendspezifisches Probier- bzw. Provozierverhalten handelt, das in der Regel passager ist, oder ob es einen ernsteren Hintergrund insoweit hat, als es schon weitgehend in der Persönlichkeit verankerte Handlungsdispositionen sind“ (Fuchs u.a. 2003, S.13). In diesem Sinne kann die zweite gebildete Kategorie begriffen werden. Es wird davon ausgegangen, dass Jugendliche der zweiten Kategorie zwar als „rechts“ zu erkennen sind und in ihrem Umfeld auch mit Gleichgesinnten (in informellen Gruppen) verkehren, es sich bei ihnen jedoch eher, um eine Ansammlung von diffusen Meinungen und Gestimmtheiten handelt, als um ein fundiertes rechtsextremistisches Weltbild. „Rechtsextremismus“ bedeutet in dieser Kategorie jedoch mehr als eine „provokative ‚Hülle’“ (Fuchs u.a. 2003, S.14). Es handelt sich vielmehr im Sinne Heitmeyers um ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes rechtsextremistisches Orientierungsmuster, das die Komponenten „Ideologie der Ungleichheit“ und „Gewaltakzeptanz“ beinhaltet, sich jedoch noch im Vorfeld des organisierten Rechtsextremismus ansiedeln lässt. Es sind also zumindest Teile einer als rechtsextremistisch einzustufenden Einstellung vorhanden, die mit einem entsprechenden Verhalten gekoppelt sein können. Dabei stellt sich die Frage, wie politisch diese Orientierungsmuster tatsächlich sind. Folgt man der Einschätzung des Bundesministeriums des Innern (BMI), sind rechtsextremistische Jugendsubkulturen in der Mehrheit eher unpolitisch. Die Gefahr liegt allerdings darin, dass es sich um eine Vorstufe für zielgerichtetes politisches Verhalten handeln kann. Stöss (2010, S.22) schließt sich dieser kritischen Sichtweise an: „Rechtsextremistische Aktivisten müssen nämlich nicht notwendigerweise unmittelbar rechtsextremistische politische Ziele verfolgen. Ihre Motivation kann auch darin bestehen, der individuellen Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen mittels provokativer Gebärden [...] Ausdruck zu verleihen.“
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Diese mittlere Kategorie enthält die größte Bandbreite möglicher Ausprägungen und Kopplungen von Einstellungen und Verhalten. Sie ist – ebenso wie die Jugend – am wenigsten eindeutig und festlegbar. Kategorie 3 – Rechtsextremismus als fundiertes Weltbild Das Verständnis von Rechtsextremismus orientiert sich hier stark an der Definition des Verfassungsschutzes. Eine nationalistische, rassistische, demokratiefeindliche und das Gleichheitsprinzip ablehnende Ideologie wird klar und zielgerichtet vertreten. Damit verbunden ist auch ein vorhandenes Wissen über den Nationalsozialismus sowie aktuelle rechtsextremistische Bestrebungen. Diese Ausprägung von Rechtsextremismus ist ganz eindeutig mit politischen Interessen verbunden. Dazu gehört auch die Organisation in einer entsprechenden formellen Gruppe oder Partei. Einstellung und Verhalten spielen zusammen und beinhalten auch die Akzeptanz und/oder Ausübung von Gewalt, die in diesem Fall eindeutig ideologisch motiviert ist. Diese Kategorie des sozusagen manifesten Rechtsextremismus wird bewusst sehr hoch angesetzt, um vorschnelle Stigmatisierungen von Jugendlichen zu vermeiden. Die vorgenommene Unterteilung soll nicht dazu verleiten, die ersten beiden Kategorien zu verharmlosen. Die Gefahr liegt hier vor allem in einer kumulativen Verfestigung, die Jugendliche letztlich in Kategorie 3 münden lassen kann. In diesem Zusammenhang sei auf die aus der Bewegungsforschung stammende Darstellung der rechtsextremistischen Szene als „Zwiebel“ verwiesen. Die rechtsextremistische Bewegung besteht demnach „aus mehreren Schichten, die ein zusammenhängendes Ganzes bilden“ (Grumke 2011, S.5; vgl. auch Grumke 2003). Zwar sind die Interaktionen der einzelnen „Zwiebelschalen“ durchaus von Konflikten geprägt, dennoch handelt es sich um ein Beziehungsgeflecht mit komplexen Strukturen. Die qualitative Mobilisierungsstärke steigt, je stärker ein Akteur in den Kern der Bewegung vordringt. Diese Sichtweise steht der in der Öffentlichkeit häufig wahrgenommenen Zersplitterung und damit eingeschränkten Handlungsfähigkeit der Szene eher konträr gegenüber, da sie eine Struktur in der nach außen scheinenden Uneinheitlichkeit erkennt, deckt sich aber mit der innerhalb der Szene nach den Verboten rechtsextremistischer Organisationen (etwa Blood and Honour; White Youth) Anfang der 1990er Jahre herausgegebenen Parole der „Organisation durch Desorganisation“ (Stöss 2010, S.114; vgl. hierzu auch Klose/Richwin 2016, S.218f.). Zu ähnlichen Erkenntnissen kamen auch Neumann und Frindte in ihrer Studie über fremdenfeindliche Gewalttäter (1995, S.81), wonach rechtsextremistische Jugendliche bzw. Jugendcliquen häufig von einschlägigen Parteien und
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Organisationen für ihre Zwecke instrumentalisiert, dabei auch bewusst fehlinformiert und „dumm gehalten“ werden. Fazit Die aufgezeigte Vielfältigkeit von definitorischen Möglichkeiten, die sich aus den unterschiedlichen fachdisziplinären Zugängen und Forschungsansätzen ergibt, verdeutlicht die Komplexität des Phänomens, das nicht allumfassend erfassbar scheint. Sie erschwert aber auch die Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen sowie den Dialog, da zunächst jeweils zu klären ist, was genau unter dem Gegenstand der jeweiligen Debatte zu verstehen ist. Wurde bis Mitte der 1970er Jahre im politischen und wissenschaftlichen Diskurs des deutschsprachigen Raumes vor allem der Begriff des Rechtsradikalismus verwendet, setzte sich danach zunehmend der Begriff „Rechtsextremismus“ durch, der auch heute häufig verwendet wird (Virchow, 2016 S.14). Die Gruppe um Zick und Heitmeyer forscht in den letzten Jahren intensiv unter dem Schlagwort der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, einem Begriff also, der Phänomene der Diskriminierung und Ablehnung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen und Minderheiten mit großer Spannweite abdecken soll. Mit den jüngsten Entwicklungen von PEGIDA und AfD rückte nun der Diskurs um Rechtspopulismus stärker in den Fokus (vgl. bspw. Butterwegge u.a. 2018; Zick/Küpper 2016). Der Begriffspluralismus scheint also auch nötig, um die vielfältigen sich stets weiterentwickelnden Facetten des Phänomens adäquat erfassen zu können. Für die hier vorliegende Untersuchung war die Bestimmung eines Begriffsverständnisses eine wichtige Grundlage für die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes, die methodische Herangehensweise und die Auswahl der Probanden. 1.2 Gewandelte Familienverhältnisse – Neue Ansprüche, Chancen und Risiken Da sich die Forschungsfrage der Untersuchung mit den familialen Einflüssen auf jugendlichen Rechtsextremismus beschäftigt, ist eine umfassende Auseinandersetzung mit den familialen Gegebenheiten der heutigen Zeit geboten. Neben der Frage nach der Bedeutung familialer Beziehungen im Jugendalter sowie einer Begriffsklärung an sich, wird im folgenden Kapitel auch der Wandel näher betrachtet, dem die Familie unterliegt und der ihre Aufgaben, Funktionen und die damit verbundenen vielfältigen Herausforderungen prägt. Von Bedeutung für eine Studie, die auf familiale Einflüsse fokussiert, sind dabei vor allem auch aktuelle Erziehungsvorstellungen und -stile sowie Veränderungen in den
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Generationenbeziehungen an sich. Sowohl die Familienpsychologie als auch die Familiensoziologie haben hierfür vielfältige Erkenntnisse erbracht. 1.2.1 Zur Bedeutung der Familie für Jugendliche Die Familie ist die primäre Sozialisationsinstanz für Kinder und Jugendliche. Dass sie bei der Auseinandersetzung mit jugendlichem Rechtsextremismus in den Blick genommen wird, steht außer Frage. Dennoch gibt es kaum Untersuchungen, die sich explizit mit dem familialen Hintergrund bzw. der familialen Interaktion rechtsextremistischer Jugendlicher auseinandersetzen.3 Meist stehen eher strukturelle Aspekte der Familie (ökonomische Deprivation, Scheidung, etc.) bei der Ursachensuche im Vordergrund, die familialen Interaktionen und internen Beziehungen bleiben unberücksichtigt. Dabei ist doch gerade die Auseinandersetzung mit den Eltern in der Adoleszenz eine wichtige Entwicklungsaufgabe zur Konstitution einer eigenen, unabhängigen Identität. Für das Verständnis der elterlichen Bedeutung in der Jugendphase sind Elemente der Bindungstheorie nützlich, die seit über 60 Jahren die Erforschung „zwischenmenschlicher Interaktionen und Beziehungen“ prägt (Ahnert 2014, S.404). Der von Bowlby (1969) begründete und von Ainsworth in den 1970er Jahren weiterentwickelte Ansatz entstammt der Tradition der Psychoanalyse, grenzt sich jedoch in entscheidenden Annahmen durch die Einbeziehung ethologischer Elemente (sowie der kognitiven Psychologie) geradezu widersprüchlich von ihr ab und leitete damit einen Paradigmenwechsel ein. Während Freud das kindliche Bindungsverhalten laut Bowlby (2014, S.44) als ein „irrelevantes, infantiles Merkmal“ bzw. „gelernten Sekundärtrieb“ betrachtete, erkannte letzterer darin eine wichtige biologische Funktion, die das Überleben sichert. Dieses unterschiedliche Grundverständnis hat auch weitreichende Folgen auf den innerfamilialen Umgang mit dem Kind und späteren Jugendlichen. So entstammt der psychoanalytischen Haltung bspw. das Schreien-Lassen eines Zuwendung einfordernden Säuglings, um eben jenes als überflüssig gewertete infantile Verhalten nicht zu bestärken. Der bindungstheoretische Ansatz dagegen betont die hohe Bedeutung von Sicherheit vermittelnder Zuwendung für eine gesunde Entwicklung und ermutigt Eltern dazu, ihr Kind zu trösten. Der sich anhand der frühkindlichen und späteren Beziehungserfahrungen im Laufe des Aufwachsens entwickelnde Bindungsstil schlägt sich demnach in einem so genannten inner working model nieder und prägt die Gestaltung und das Verhalten in „aktuellen Sozialbeziehungen“ entscheidend mit (Hill/Kopp 2013, S.210). Für die vorliegende Studie ist vor allem die von Bowlby (2014, S.45) betonte Relevanz des elterlichen Rückhaltes über die Kleinkindphase hinaus von 3
Eine Ausnahme bildet hier vor allem die Untersuchung von Hopf u.a. 1995.
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Bedeutung. So spiele dieser auch für einen „relativ unabhängigen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen“ eine wichtige Rolle als „sichere Basis“, die eine Rückzugsmöglichkeit im Falle von „Rückschlägen oder Krankheiten“ bietet (ebd. S.45). Auch wenn in der gängigen Literatur in Bezug auf die Bindungstheorie meist die Forschungsarbeiten zu frühkindlichem Bindungsverhalten im Fokus stehen, gehen ihre zentralen Annahmen also weit darüber hinaus und beziehen sich auch auf die Jugendphase, während der von einem besonderen Spannungsverhältnis zwischen „Bindungsbeziehungen“ zu den Eltern und jugendlichem „Autonomiebestreben“ ausgegangen wird (Ahnert 2014, S.415). Zu den Aufgaben von Eltern gehören demnach ihre Verfügbarkeit als Ansprechpartner sowie das umsichtige Eingreifen, wenn sich Kinder oder Jugendliche „in Schwierigkeiten“ bringen (Bowlby 2015, S.26). Als protektiver Faktor gelten sichere Bindungserfahrungen, da sie mit einer offenen innerfamilialen Kommunikation einhergehen, die eine Bewältigungsressource in schwierigen und emotional belastenden Situationen darstellt und vor allem durch feinfühlige elterliche Reaktionen und Interventionen zur Verarbeitung problematischer Erfahrungen beiträgt (vgl. Ahnert 2014, S.415). Der hier skizzierte elterliche Spagat zwischen dem Gewähren von Unterstützung sowie der Ermutigung zu Unabhängigkeit und Eigenverantwortung stellt einen interessanten Aspekt in Bezug auf den Umgang mit problematischem jugendlichen Verhalten wie dem Anschluss an die rechte Szene dar. Umgekehrt trifft dies ebenso auf die Ambivalenz zwischen dem jugendlichen Wunsch nach Orientierung vermittelndem elterlichem Halt und dem gleichzeitigen Streben nach Autonomie zu. Auch wenn die Rekonstruktion des jeweiligen Bindungstyps nicht Teil der Untersuchung ist, spielen die Erkenntnisse der Bindungstheorie eine wichtige Rolle bei der Analyse der innerfamilialen Beziehungen sowie des den Jugendlichen zur Verfügung stehenden Maßes an Ressourcen, elterlichem Rückhalt und elterlicher Feinfühligkeit in Bezug auf ihre Belange. Grossmann/Grossmann (2012, S.386) führen die lange Vernachlässigung der Eltern-Kind-Beziehungen – insbesondere der Beziehungsqualität – in der Jugendphase durch die Forschung darauf zurück, dass sich der Radius, in dem das Leben von Jugendlichen stattfindet, stark erweitert hat und sich der Fokus zum großen Teil auf außerhäusliche Aktivitäten richtet. In diesem Zusammenhang lässt sich eine starke Konzentration der Forschung auf die Beziehungen zu Gleichaltrigen, den sogenannten Peers feststellen, die von einem sinkenden Einfluss der Eltern im Jugendalter ausgeht. In den von den Grossmanns im Rahmen der Bindungsforschung zusammengetragenen Erkenntnissen kristallisierte sich jedoch eine herausragende Bedeutung der Beziehung zu den Eltern für die gesamte Kinder- und Jugendphase und darüber hinaus heraus.
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Der Annahme einer im Jugendalter generell abnehmenden oder gar endenden Bindung an die Eltern folgen sie nicht. So nutzten sicher gebundene Jugendliche ihre Eltern weiterhin als Sicherheitsbasis und Halt in sie überfordernden Situationen (Grossmann/Grossmann 2012, S.519ff.). „Entgegen früherer Annahmen, dass sich das Selbst oder die Identität eines Jugendlichen nur in größter Unabhängigkeit von den Eltern entwickeln kann, zeigen Forschungen, dass eine positive, wenn auch kritisch reflektierte Beziehung zu den Eltern eine positive psychische Adaption, die Fähigkeit, nachteilige Umstände zu überwinden (Resilienz), Kompetenz und die konstruktive Bewältigung von Entwicklungsaufgaben fördert“ (Grossmann/Grossmann 2012, S.560). Auch die Beziehungen zu Gleichaltrigen werden durch den familialen Kontext beeinflusst und geprägt (Grossmann/Grossmann 2012, S.387). Jugendliche rebellieren nicht gegen ihre Peergroup, Jugendliche rebellieren gegen ihre Eltern bzw. die Erwachsenenwelt an sich. Sie fordern Reaktionen und Interventionen heraus, an denen sie sich abarbeiten und an denen sie wachsen können. Die Gegenwehr gegen die Bevormundung, Kontrolle und Einflussnahme der Eltern darf dabei nicht mit einer Abnahme der Bedeutung der Eltern für die Jugendlichen gleichgesetzt werden. Eine „kompetente Selbständigkeit“ gelingt demnach umso besser, „je deutlicher die Verbundenheit mit den Eltern aufrechterhalten und gleichzeitig neu bewertet und gestaltet wird.“ (Grossmann/Grossmann 2012, S.497). Auch Schwarz/Silbereisen (1996, S.229ff.) konstatieren eine Veränderung der elterlichen Rolle in der Jugendphase hinsichtlich ihrer Aufgaben und Funktionen, dies muss jedoch nicht mit einem sinkenden Einfluss bzw. einer geringeren Wertigkeit einhergehen. Eltern haben auch in diesem Entwicklungsabschnitt ihrer Kinder eine Vorbild-/Orientierungsfunktion und üben mit ihrem Erziehungsverhalten einen nicht unerheblichen Einfluss aus (vgl. hierzu auch Greve/Montada 2008, S.846). Wichtige Faktoren, die die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter prägen, sind dabei laut Fend (2003, S.295; vgl. auch 1998a, S.142) „die materielle und soziale Stellung der Familie, die familiären Bildungsressourcen, die mit Kindern investierte Zeit und die elterlichen Erziehungshaltungen im Sinne vertrauensvoller, optimistischer Haltung“ (hervorgeh. im Original). Auch aus den Shell-Studien geht der große Stellenwert, den die Familie auch im Jugendalter hat, deutlich hervor. So zeigt die Untersuchung von 2010 sogar nochmals einen deutlichen Anstieg der Bedeutung der Familie für das eigene Lebensglück und sie rangiert auch hinsichtlich der Werteorientierungen der Jugendlichen weit oben (vgl. Gensicke 2010, S.195ff.; Leven u.a. 2010, S.54f.). Eltern sind mit die wichtigsten Vorbilder und vor allem die Mütter sind Ratgeber bei Problemen, Krisen und Lebensfragen (Zinnecker u.a. 2002, S.53ff. u. 139ff.).
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Böhnisch und Schröer (2009, S.374) sehen die herausragende Bedeutung der Familie generell im „Stiften eines Urvertrauens, dem Gefühl von Wärme und Geborgenheit“ sowie „in der Vermittlung von sozialen Basiskompetenzen“. Dabei sind nicht nur bewusste Erziehungshandlungen von Bedeutung, sondern auch und gerade das alltägliche Miteinander, durch das grundlegende Einstellungen und Werte transportiert werden (vgl. auch Böhnisch 2002, S.284f.; sowie Böhnisch 2009, S.340f.). Bründel (2009, S.473) ergänzt die Bedeutung um die Grundlage für die Entstehung von Selbstvertrauen, emotionale und kognitive Kompetenz sowie die Weichenstellung für Leistungsmotivation und Sozialverhalten. Busse/Helsper (2007, S.328ff.) verweisen auf den starken Einfluss, den der familiale Hintergrund auch im Jugendalter noch auf den schulischen Erfolg bzw. Misserfolg hat. Zu diesem Schluss kommt auch Schneewind (2008, S.258), der Eltern nicht nur im Bereich der sozio-emotionalen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Bedeutung zuspricht, sondern sie auch als „primäre Instanz für die Bildung“ sieht. Büchner (2009, S.172) schreibt dem „Bildungsort Familie“ ebenfalls einen ausschlaggebenden Stellenwert zu, der sich nicht nur auf die schulische Lernausgangslage bezieht, sondern auf die gesamten schulischen Bildungsbiografien, die „umso erfolgreicher verlaufen, je mehr familiale Unterstützungspotentiale mobilisiert werden können, die dazu beitragen, den je individuellen Bildungsprozess innerhalb und außerhalb der Schule voranzubringen.“ Dies bedeutet im Umkehrschluss jedoch nicht nur eine deutlich schlechtere Ausgangslage für Kinder aus bildungsfernen Familien, sondern impliziert einen schlechteren bildungsbiografischen Verlauf, der von außerfamilialen Institutionen nur schwer aufgefangen werden kann. Ausgehend von der beschriebenen hohen Relevanz der Familie für Jugendliche werden im Folgenden die Familie in ihrer heutigen Form und Situation, die an sie gestellten Anforderungen und auch die damit verbundenen Schwierigkeiten sowie besonderen Herausforderungen betrachtet. 1.2.2 Familie im Umbruch? Für das Verständnis familialer Gegebenheiten und Entwicklungen sind, neben der Familienpsychologie zwei soziologische Ansätze interessant, die verschiedene Blickwinkel auf Familie haben. Die von Parsons geprägte strukturell-funktionale Theorie der Familie nähert sich dem Forschungsgegenstand Familie aus einer makrosoziologischen Perspektive und erbrachte vor allem wichtige Einsichten in Bezug auf die gesellschaftliche Einbettung bzw. Bedeutung, die Funktionen sowie den Wandel der Familie und das wissenschaftliche Verständnis von Familie generell. Trotz dieser Verdienste weist der Ansatz jedoch auch starke Schwächen auf, die in der Literatur kritisiert werden: „Das generelle Problem des
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Struktur-Funktionalismus scheint darin zu liegen“ schreiben beispielsweise Hill und Kopp (2013, S.68), „dass sein Anliegen im Auffinden von Makro-Gesetzen zu sehen ist. Dabei wird von ‚der Familie‘ oder der ‚erweiterten Familie‘ als einer kollektiven Einheit gesprochen, die ihre Struktur oder Form quasi ohne Zutun der Familienmitglieder verändert.“ Der Vorwurf besteht also darin, dass die Mitglieder einer Familie lediglich als „Rollenträger“ verstanden werden, die „subjektive Dimension sozialen Handelns vernachlässigt wird“ (Bösel 1980, S.28) und dadurch „die individuellen Handlungsspielräume und die innerfamilial variabel gestaltbaren Interaktionsmuster“ keine Berücksichtigung finden (Hill/Kopp 2013, S.69). Dem versuchte der dem interpretativen Paradigma zuzuordnende und auf George Herbert Mead zurückgehende symbolische Interaktionismus zu begegnen, in dem der Schwerpunkt eben gerade auf die subjektiven Bedeutungen familialer Zusammenhänge für die sich in ihnen bewegenden und handelnden Individuen sowie die Analyse von Prozessen der Interaktion gerichtet wurde, was für die vorliegende Studie von besonderem Interesse ist (Hill/Kopp 2013, S.81; vgl. auch Treibel 2000, S.112). Auch innerhalb dieses Ansatzes wird von der Vorgabe von Rollenentwürfen innerhalb der Gesellschaft ausgegangen, die Annahme und Ausgestaltung obliegt jedoch den subjektiven Deutungsprozessen der Individuen, wobei die Handlungsspielräume betont werden und eine mikrosoziologische Perspektive eingenommen wird. Bedenkt man die Begrenzung von Handlungsmöglichkeiten durch soziale Strukturen, aber auch die Bedeutung subjektiver Wahrnehmungen für die Verarbeitung familialer Erfahrungen, wird deutlich, dass gerade die teilweise gegensätzlichen Perspektiven beider Ansätze für ein umfassendes Verständnis von Familie nützlich sind, da es so gelingt, die „Eigentätigkeit des Subjektes mit den gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen“ zu verknüpfen (Lenz 1991, S.54). Zunächst gilt es festzulegen, was in der Studie unter einer Familie verstanden wird. Da es heute (wieder)4 vielfältige und unterschiedliche Formen familialen Zusammenlebens gibt, wird für die eigene Untersuchung auf eine weitgefasste Begriffsbestimmung rekurriert. Unter einer Familie wird die Zusammengehörigkeit von zwei oder mehreren aufeinanderfolgenden Generationen verstanden, die zueinander in einer Eltern4
Wieder deshalb, weil die gegenwärtige Situation der Pluralisierung von Lebens- und Beziehungsformen erst aufgrund der Homogenität der sogenannten „Normalfamilie“ seit der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre hinein krisenhaft erscheint. Faktisch waren der Verlust von Elternteilen, das Aufwachsen in Stieffamilien, Alleinerziehende, nicht-eheliche Lebensgemeinschaften, etc. schon gängiger Bestandteil des Familienlebens in vorindustrieller Zeit (vgl. Peuckert, 1999, S.9, Erler 1996, S.12f., Hettlage 1998, S.234ff.). So entstammt das Wort „stief“ dem Mittelhochdeutschen und bedeutet „beraubt“ (vgl. Höpflinger, 2007, S.71).
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Kind-Beziehung stehen, wobei es sich nicht zwangsläufig um eine biologische Elternschaft handeln muss. Aus kindlicher Sicht ist dies die Herkunftsfamilie, aus elterlicher Perspektive handelt es sich um die Eigenfamilie (Böhnisch 2009, S.339, vgl. auch Lenz/Böhnisch 1997, S.28). Seit Mitte der 1960er Jahre hat die Institution Familie sowohl hinsichtlich ihrer äußeren als auch ihrer inneren Strukturen (Rollenverteilung, Generationenverhältnis, Beziehungen und Erziehungsverhalten, etc.) vielfältige Wandlungsprozesse durchlaufen, deren Auswirkungen in der Literatur unterschiedlich bewertet werden. So zeichnet Raithel (2004, S. 85) ein eher pessimistisches Bild von der Entwicklung der Familie, indem er vor allem auf gelockerte sozialstrukturelle Verbindlichkeiten, labile Familienstrukturen und mangelnde Lebenslaufmuster abstellt. „Verwandtschaftliche Bezüge verlieren immer mehr an Bedeutung. Verwandte werden als ehemalige Vorbilder oder soziale Sicherungsgruppe zunehmend irrelevant und die Familie reduziert sich zur Kernfamilie. Entsprechend bedeutet Freisetzung aus nachbarschaftlichen Bezügen den Verlust an wichtigen subsidiären Unterstützungsfunktionen. Eine Auflösung regionaler Gemeinschaften ist hiermit gleichfalls verbunden. Es entfallen Identifikationsmöglichkeiten und Gefühle der Zugehörigkeit, wodurch ein Sicherheitsverlust evoziert wird“ (ebd., S.85).
Während Ogburn (1969, S.238ff., vor allem S.248ff.) einen deutlichen institutionellen Funktionsverlust behauptet, bei dem der zunehmend instabileren Familie lediglich eineinhalb Funktionen verbleiben – nämlich als Träger des Gefühlslebens und der Erziehung bis zum Schuleintritt der Kinder – betonen andere die Anpassungsfähigkeit und ungebrochen hohe Bedeutung der Familie. Dabei wird eher von einer Funktionsverschiebung ausgegangen, die sowohl Chancen als auch Risiken für die Familie birgt (vgl. Nave-Herz 2015, S.11ff.; Hettlage 1998 S.47f.; Böhnisch 2009, S. 341; Brumlik, 1996, S.68ff.; Barabas/Erler 1994, S.18f.; Lenz/Böhnisch 1997, S.41f.; Wahl 1997, S.110ff.). Sozialisation und Erziehung sind auch hier die zentralen Funktionen, die der Familie zugeschrieben werden, diese werden aber um Existenzsicherungs-, Produktions-, Platzierungsund Reproduktionsfunktionen ergänzt (vgl. Schneewind 2010, S.132). Fuhs (2007, S.24) kritisiert treffend, dass „die Umbrüche der Familie in einem Bedrohungsszenario dramatisiert und die große Stabilität der Familie als Wert und Lebensleitbild auch der jüngeren Generation“ übersehen wird. Dennoch sind gerade auch die von Raithel beschriebenen Entwicklungen nicht von der Hand zu weisen und stellen eine Herausforderung an die Anpassungsfähigkeit der Familie dar, die allen Mitgliedern ein hohes Maß an Flexibilität und Einsatz abverlangt. Die wesentlichsten Veränderungen und Gegebenheiten, mit denen sich die Familie arrangieren musste und muss, sollen im Folgenden grob zusammengefasst
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werden. Bei der Auseinandersetzung mit dem familialen Wandel werden in der Literatur häufig zwei historische Bezugspunkte fokussiert. Zum einen sind dies die 1960er Jahre. Es wird davon ausgegangen, dass die idealisierte Vorstellung von einer harmonischen „Normalfamilie“ in der Nachkriegszeit der 1950er Jahre enorm an Bedeutung gewann und sich als nahezu unhinterfragtes Leitbild durchsetzte, da die damalige Generation nach den Kriegserlebnissen vor allem nach Sicherheit, Geborgenheit und Normalität strebte (vgl. Peuckert 2007, S.37 u. 1999, S.9; Huinink 2008, S.28f.; Erler 1996, S.12f.). Unter einer „Normalfamilie“ wurde allgemein ein verheiratetes Paar mit einem oder mehreren Kindern verstanden. Der Familienvater war in der Position des Ernährers und erwerbstätig, während die Mutter komplementär für die Versorgung der Kinder und des Haushaltes zuständig war (vgl. Peuckert. 1999, S.9). Dies wurde nach wenigen Jahrzehnten wieder aufgebrochen und es begann ein bis heute anhaltender Wandlungsprozess, in dem Schneider (2008, S.18) lediglich „die Wiederkehr altbekannter Vielfalt und Dynamik“ sieht. Die Familie mutierte von der klassischen „Mutter-Vater-Kind(er)“ Struktur zu einem „bunt gewürfelten Flickenteppich“ (Erler 1996, S.12) (Patchwork-Familien). Damit kommt man zum zweiten Bezugspunkt – der vorindustriellen Zeit, in der die Familie bereits genau dies häufig war. Das oft postulierte Idealbild der traditionellen, glücklichen Großfamilie der vorindustriellen Zeit ist nämlich nichts weiter als ein Mythos (vgl. Hill/Kopp 2013, S.66ff.)5. Fakt ist, dass die harten und häufig existenzbedrohenden Lebensbedingungen der Mehrzahl der Bevölkerung in früheren Jahrhunderten emotionale und liebevolle Familienbeziehungen kaum ermöglichten. Die Ehe war überwiegend ein wirtschaftliches Verhältnis. Kinder mussten häufig früh das Haus verlassen und wuchsen nicht selten aufgrund des Todes eines Elternteils (oder beider) in Stieffamilien auf. Sie hatten keine herausragende Stellung innerhalb der Familie und für ihre Eltern vor allem einen ökonomischen Nutzen im Sinne von Mitarbeit und späterer Altersversorgung (vgl. Schneewind 2010, S.52f.; Gestrich 2008, S.80ff.; vgl. Hettlage 1998, S.234ff.; Lenz/Böhnisch 1997, S.16; Barabas/Erler 1994, S.37f.). Auch waren die Generationenkonflikte keineswegs geringer als heute. Sie waren jedoch anders gelagert und bezogen sich vorrangig auf Fragen des Unterhalts, der Verfügung über Eigentum und Personen und weniger auf Konflikte in Bezug auf die Erziehung oder den Lebenswandel und Lebensstil (vgl. Münchmeier 1997, S.115f.). Ein enges und aufeinander bezogenes Zusammenleben von 3 oder sogar 4 Generationen ist heute zum einen durch die wesentlich höhere Lebenserwartung und zum anderen durch die insgesamt stärkere Emotionalisierung der Familie eher gegeben, als dies etwa im 19. Jahrhundert der Fall war (vgl. Fuhs 2007, 5
Zu den Familienmythen vgl. Hettlage 1998 u. Lenz/Böhnisch 1997.
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S.25; Nave-Herz 2007, S.7; Nave-Herz 2000, S.27; Gloger-Tippelt 2007, S.170, BMFSFJ 2006, S.137f.). Es kommt also bei der Auseinandersetzung mit dem Wandel der Familie darauf an, welchen historischen Bezugspunkt man zu Vergleichszwecken heranzieht. Desweiteren ist deutlich geworden, dass die Familie – genau wie die Gesellschaft auch – keine konstante Größe ist, sondern sich in einem ständigen Wandlungs- und Anpassungsprozess befindet. Seit dem 19. Jahrhundert hat die Familie zweifellos einige Funktionen an andere Institutionen abgegeben. Der These vom Funktionsverlust der Familie kann jedoch der Verweis auf eine enorme Funktionsverschiebung entgegengesetzt werden, die gerade für die Flexibilität der Familie und damit ihre Beständigkeit spricht. Die Familie hat sich im Gegenzug zur Abgabe bestimmter Funktionen nämlich auf sozial-emotionale, Solidaritäts- und Sozialisationsfunktionen spezialisiert. Der entstandene Leerraum wird sozusagen für die verstärkte Entfaltung zwischenmenschlicher Beziehungen genutzt (vgl. Barabas/Erler 1994, S.36ff.), so dass die „emotionale Stabilisierung“ des Einzelnen als eine der wichtigsten familiären Leistungen gesehen werden kann (Lange 2007, S.246). Die Bedeutung von Kindern für die Familie hat sich von der materiellen auf die emotionale Ebene verschoben, d.h. sie haben heute vorrangig einen psychologischen (sinnstiftende Funktion) und keinen ökologischen Nutzen mehr. Es kann sogar von einer historisch neuen und einzigartigen Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehung gesprochen werden (Kindzentrierung). Die Schaffung bzw. Aufrechterhaltung eines guten Beziehungsverhältnisses ist daher für die Eltern von primärer Wichtigkeit und kann auch zu Verunsicherungen im Erziehungsverhalten führen (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S.12; Schneider 2009, S.144; Hurrelmann 2002, S.148f.; Fend 2003, S.271f.; Barabas/Erler 1994, S.77; Erler 1996, S.7; Nave-Herz 1994, S.22; Wintersberger 1998, S.12; Heitmeyer/Olk 1990, S.29f.; Fend 1988, S.105). „In dem Maße, wie die ökonomische Bedeutung der Kinder für ihre Familien sinkt, ist ihr psychosozialer bzw. emotionaler Wert gestiegen. Diese Tendenz wird durch die Verkleinerung der Haushalts- und Familieneinheiten (Trend zur Ein- bzw. Zweikinderfamilie) noch gesteigert“ (Heitmeyer/Olk 1990, S.29f.). Die Anforderungen der Eltern an ihre Elternschaft sind insgesamt gestiegen. Kinder sind „geplante Projekte“ für deren „Gelingen“ die Eltern sich verantwortlich fühlen (Liebau 1997, S.28; vgl. auch Winkler 2012, S.49). Die zunehmende Pädagogisierung, Professionalisierung und Verrechtlichung der Elternrolle führt zu Verunsicherung und Überforderung, weil der Eindruck entsteht, dass die gesetzten Standards nicht zu erreichen sind (vgl. Schneider 2011, S.252f.). Es besteht ein Risiko, dass Eltern an ihren eigenen Ansprüchen und Idealen scheitern, wenn sie das Gefühl haben, diese nicht erfüllen zu können.
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„Die aus der ‚Pädagogisierung’ stammende Angst vor möglichen Erziehungsfehlern, der Kampf um die geeigneten Bedingungen des Aufwachsens, die dauernden Bemühungen, dem Kind gerecht zu werden, erhöhen die Verantwortung für die Rahmenbedingungen, aber paradoxerweise auch die Erziehungsunsicherheit der Eltern sowie das Laissez-faire und die Resignation gegenüber Jugendlichen“ (Hettlage 1998, S.149). Hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die für die vorliegende Untersuchung von nicht unerheblichem Interesse ist, wenn es um die Frage nach wirksamen oder unwirksamen Reaktionen auf bzw. Interventionen in Bezug auf rechtsextremistische Tendenzen von Jugendlichen geht. Eltern-Kind-Beziehungen basieren heute insgesamt auf einer zwar innigeren aber gleichzeitig auch schwankenderen – weil eben von Gefühlen getragenen – Grundlage. Von Trotha sieht darin die Gefahr der emotionalen Überforderung von Kindern und Jugendlichen, weil die Beziehung zu den Eltern unter einer Daueranforderung wechselseitiger Liebe steht (vgl. ebd. 1999, S.228ff.). Gerade im Zusammenhang mit der fortschreitenden Individualisierung und Pluralisierung von Lebenschancen besitzt die Familie jedoch die Fähigkeit und Funktion, den Kindern und Jugendlichen notwendige Bindungen und Zugehörigkeiten zu vermitteln, ohne die kaum eine stabile Identitätsentwicklung möglich ist. „In der Familie wird eine spezifische Moralität des Menschen geprägt: Die Einstellung zu den Mitmenschen, das Verhältnis von Ich-Bezogenheit und Solidaritätsbereitschaft, Gewissenhaftigkeit als Fähigkeit, sich zu verpflichten und Selbstverpflichtungen einzuhalten. Geprägt wird auch die spezifische Emotionalität des späteren erwachsenen Menschen“ (Lenz/Böhnisch 1997, S.43). Schneewind (2008, S.132ff. u. 2008, S.259ff.) unterscheidet drei zentrale Funktionen der Eltern – als Interaktionspartner, Erzieher und Arrangeure von Entwicklungsgelegenheiten. In ihrer Funktion als Interaktionspartner nehmen sie von Anfang an einen zentralen Einfluss auf die Qualität der Bindungserfahrungen ihrer Kinder, was durchaus Konsequenzen bis ins Erwachsenenalter hinein haben kann (vgl. z.B. Grossmann/Grossmann 2015; 2012; Bowlby 2014). Desweiteren „sind Eltern auch Erzieher, indem sie explizit auf ihre Kinder einwirken, um ihnen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Besonderheiten dabei behilflich zu sein, dass sie sich zu eigenständigen, kompetenten und gemeinschaftsfähigen Personen entwickeln können“ (Schneewind 2008, S.134f.). Als Arrangeure von Entwicklungsgelegenheiten eröffnen sie ihren Kindern die Möglichkeit, sowohl im inner- als auch im außerfamilialen Kontext ihren Erfahrungshorizont zu erweitern und sich neue Handlungsspielräume zu erschließen (ebd., S.136f.). Trotz einiger funktionaler Verschiebungen auf andere Instanzen (bspw. die Schule) ist die Familie daher nach wie vor die wichtigste Sozialisationsinstanz, in der sich die Grundkompetenzen des Alltags vermitteln, Normen, Werte und
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Emotionen erfahren und internalisiert werden. „Sie ist ein vielseitig wirksames soziales Beziehungssystem, von der Bewältigung der Anforderungen der Schule, der Planung der beruflichen Laufbahn bis hin zur Entfaltung eines Werte- und Normsystems“ (Ecarius 2002, S.532). Das Familienklima spielt eine große Rolle bei der Entwicklung von Einstellungen, Verarbeitungs- und Bewältigungsmustern von Jugendlichen. Während Jugendliche, die in der Familie soziale und emotionale Unterstützung erhalten, klare Lebensplanungen und Zukunftsvorstellungen aufweisen, zeigen sich Jugendliche mit geringer oder fehlender elterlicher Unterstützung stärker gegenwartsorientiert und in Bezug auf größere Herausforderungen ängstlich. Darüber hinaus können negativ erlebte Familienbeziehungen zu Verzweiflung und Hilflosigkeit führen und negative Auswirkungen auf Bewältigungsstrategien in Problemsituationen haben (vgl. etwa Fuchs-Heinritz 2000, S.24ff.; Bründel 2009, S.476f.; Fritzsche 2000). Je mehr Konflikte mit dem Elternhaus bestehen, desto stärker ist weiterhin die Orientierung an den jeweiligen Peergroups (vgl. Ecarius 2002, S.533 u. Ecarius/Köbel/Wahl 2011, S.114f.). Fend (2003, S.295ff. u. 1998a) fand in seiner Konstanzer Längsschnittstudie einen deutlichen Zusammenhang zwischen einem guten Eltern-Kind-Verhältnis und einer positiven Entwicklung der Jugendlichen: So gaben Jugendliche, die ihre Beziehung zu den Eltern als positiv beschrieben, auch bessere Beziehungen zu Gleichaltrigen an, zeigten sich in ihren Einstellungen deutlich sozialer, hilfsbereiter und verantwortungsbewusster sowie insgesamt sozial kompetenter (ebd., S.326). Die Einbindung in und Orientierung an den Peers ist generell kein Widerspruch zu einer gleichzeitigen familialen Orientierung (zur Bedeutung der Familie für Jugendliche vgl. auch Fuchs-Heinritz/Krüger/Ecarius 1991 u. Lenz 1988). Eltern und Peers stehen (bei intakten Familienbeziehungen) vielmehr als gleichwertiger Einfluss nebeneinander (Böhnisch/Schröer 2009, S.375). Die innerfamilialen Beziehungen haben sich im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen verändert und neue Ansprüche und somit auch Risiken der Überforderung und des Scheiterns mit sich gebracht. Die Familie soll ihren Mitgliedern Solidarität, Geborgenheit und Nähe geben. Ihre emotionale Bedeutung und die damit verbundenen Erwartungen und Hoffnungen sind hoch und können dementsprechend auch schnell enttäuscht werden. Gleichzeitig sind Entscheidungs- und Handlungsdruck für den Einzelnen aufgrund der vielfältigen Lebensund Zusammenlebensmöglichkeiten gestiegen. Dazu kommt, dass die Familie viele in anderen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen produzierte Probleme auffangen und verarbeiten muss, obwohl sie aufgrund der gesellschaftlichen Modernisierung auf weniger Ressourcen (traditionale soziale Stützsysteme wie Gemeinde, Kirche, Nachbarschaft haben an Wirksamkeit verloren)
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zurückgreifen kann (vgl. Fuhrer 2007, S.23; Salzborn 2014, S.108; Beck/BeckGernsheim 1994). Aufgrund dieser Entwicklung bezeichnet Wahl (1997, S.102) die Familie pointiert als „Knautschzone der Gesellschaft“. Die gestiegenen Ansprüche an die emotionale Qualität des familiären Zusammenlebens betreffen auch die partnerschaftliche Beziehung der Eltern. NaveHerz (1990, S.55) sieht in der großen Bedeutung der Beziehung zum Partner eine Ursache für die Zunahme der Ehescheidungen: „..gerade weil man die Hoffnung auf Erfüllung einer idealen Partnerschaft nicht aufgibt, löst man die gegebene Beziehung – wenn sie konfliktreich und unharmonisch ist – auf.“ Eine These, die auch Peuckert (2007, S.39) stützt, indem er den hohen Ansprüchen an eine Beziehung das große Risiko unerfüllter Bedürfnisse und daraus resultierender Spannungen gegenüberstellt, die ein Scheitern wahrscheinlicher werden lassen. Für Kinder bedeutet eine Scheidung der Eltern einen dramatischen Einschnitt in ihrem Leben, wobei in der Forschung vor allem der Trennung vorausgehende Konflikte bzw. während und über die Scheidung hinausgehende Streitigkeiten der Eltern als risikoreiche kindliche Belastungen beschrieben werden. Ein konfliktbehaftetes Familienklima, das von elterlichen Auseinandersetzungen geprägt ist, führt zu einer Verunsicherung der Kinder und kann Ängstlichkeit und Depressionen (internalisierende Verhaltensauffälligkeiten), aber auch externalisierende Störungen im Sozialverhalten wie Aggressivität zur Folge haben. Fühlen sich Kinder mitverantwortlich für Konflikte, weil sie z.B. selbst Gegenstand der Auseinandersetzung sind, kann dies zu belastenden Schuldgefühlen führen. Dies trifft allerdings auch auf konfliktbelastete Familien zu, in denen es zu keiner Scheidung kommt. Ein Familienklima, in dem Konflikte konstruktiv ausgetragen sowie Kompromisse und Entschuldigungen vorgelebt werden, löst diese negativen Folgen dagegen nicht aus (vgl. Papastefanou/ Hofer 2002, S.177; Hofer/Pikowsky 2002; Hurrelmann 2002, S.149ff.; Schneewind 2008, S.265; Fuhrer 2007, 74f.). Interessante Ergebnisse lieferte eine Studie von Schmidt-Denter (2000, S.204ff.), die der Frage nachging, unter welchen Umständen eine Scheidung von den Kindern gut bewältigt wird und negative Folgen minimiert werden. Hierzu fanden bei 60 Familien drei Erhebungen jeweils 9 und 15 Monate sowie 6 Jahre nach der Scheidung statt. Aus der Untersuchung ging hervor, dass „eine negativ erlebte Beziehung zum getrennt lebenden Vater, ungelöste Partnerschafts- und Trennungsprobleme bzw. eine misslungene Redefinition der Beziehung zwischen den Elternteilen sowie ein sich verändernder bzw. verschlechternder elterlicher Erziehungsstil“ zu den gravierendsten Risikofaktoren gehören (ebd. S.212). Als protektive Faktoren erwiesen sich dagegen ein höheres Lebensalter der Kinder zum Zeitpunkt der Trennung, eine gute Beziehungsqualität zu Eltern und Geschwistern, die Halt und Unterstützung bei der Anpassung an die neue
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Situation bot sowie vor allem ein konstruktiver, auf das Wohl der Kinder bedachter Umgang der Eltern miteinander (vgl. auch Schmidt-Denter 2005, S.198f.). Schneewind (2008, S.266) spricht in diesem Zusammenhang von der protektiven Funktion einer über die Scheidung hinausreichenden „gut funktionierende(n) Elternallianz“. Fuhrer (2007, S.77f.) verweist auf eine Studie von Wallerstein (2005), in der über 25 Jahre 131 Kinder begleitet wurden und die zu dem eher pessimistischen Schluss kam, dass Scheidungskinder häufig unter Konflikt- und Bindungsangst leiden und dass ihr Selbstvertrauen bezüglich der erfolgreichen Bewältigung von schwierigen Situationen eingeschränkt ist. Weiterhin zeigten sich Spätfolgen erst im Erwachsenenalter: „Die Wucht der elterlichen Scheidung trifft sie besonders grausam bei ihrer Suche nach Liebe, Bindung und sexueller Intimität. Das Fehlen eines inneren Bildes von Mann und Frau in einer stabilen Beziehung sowie ihre Erinnerung daran, dass die Eltern ihre eigene Ehe nicht retten konnten, behindern sie schmerzlich, wecken Kummer und Verzweiflung. Es fehlt ihnen an positiven Vorbildern" (Fuhrer 2007, S.78f.). Insgesamt sind es eher die mit einer Scheidung der Eltern einhergehenden Auseinandersetzungen/Konflikte, eine mögliche Rollendiffusion in der ElternKind-Beziehung durch eine Behandlung des Kindes als Partnerersatz sowie die häufig stark eingeschränkte Beziehung zu einem Elternteil (meist dem Vater) bis hin zum Beziehungsabbruch, die das Risiko massiver negativer Folgen für die Entwicklung eines Kindes darstellen (vgl. Hurrelmann 2002, S.150; Kreppner 2000, S.190f.). Eine Vielzahl der von Scheidung betroffenen Kinder und Jugendlichen erlebt später eine Neustrukturierung der Familie durch das Hinzukommen von neuen Partnern der Eltern und Stief- oder Halbgeschwistern. „Damit erlebt der überwiegende Teil der heutigen ‚Stiefkinder‘ nicht den physischen Verlust eines Elternteils – wie es die ursprüngliche Wortbedeutung nahe legt, im Gegenteil: es wird zu einem ‚elternreichen‘ Kind, welches häufig Problemen einer doppelten Loyalität unterliegt“ (Höpflinger/Fux 2007, S.71). Dies verlangt den Beteiligten ein hohes Maß an Beziehungsarbeit ab, damit eine neue stabile, von Zusammenhalt geprägte Basis entstehen kann und ist nicht selten von Konflikten und Anpassungsschwierigkeiten geprägt, da zunächst auf keine gemeinsame Familiengeschichte aufgebaut werden kann und die daraus resultierende Distanz erst langsam überwunden werden muss (Walper/Wild 2002, S.354f.; Schneewind 2010, S.72f.). 1.2.3 Neue Generationen in neuen Lebenswelten Ein weiterer Aspekt, der bei der Auseinandersetzung mit der Institution Familie nicht außer Acht gelassen werden darf, betrifft die gewandelten
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Generationenverhältnisse. Die Familie war und ist die Produktionsstätte von Generationenzusammenhalt aber auch von Generationenkonflikten. In der jüngsten Vergangenheit bergen jedoch vor allem zwei problematische Zusammenhänge Risiken. Zum einen kann von einer beständigen Entwertung von Generationserfahrungen im 20. Jahrhundert gesprochen werden. Charakteristisch für die Generationenbeziehungen des vergangenen Jahrhunderts ist, dass sie nicht „einfach ein privates innerfamiliäres Verhältnis, sondern immer auch Schauplatz gesellschaftlich politischer Übergänge“ waren (Münchmeier 1997, S.124). Dies traf vor allem auf die neuen Bundesländer zu, in denen durch die einschneidenden Veränderungen die Lebenserfahrungen der Eltern und ihre biografischen Orientierungen stark entwertet worden sind. Jugendliche können sich heute nicht mehr automatisch an den biografischen Entscheidungen und Erfahrungen ihrer Eltern orientieren, sondern müssen in hohem Maße eigenständig nach neuen Wegen der Lebensgestaltung suchen (vgl. Münchmeier 1997, S.126; Böhnisch 2009, S.341). Sie sind aufgrund der zunehmenden Individualisierung der Lebensläufe stärker vor die Aufgabe gestellt, „ihr Leben aktiv zu gestalten und auf dem Hintergrund von eigenen Fähigkeiten, Interessen und Bedürfnissen mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Einklang zu bringen“ als frühere Generationen (Fend 2001, S.4). Hurrelmann und Quenzel (2012, S.50) sprechen bezogen auf eine Verortung in der Arbeitswelt von „struktureller Unsicherheit“, da kaum noch langfristig vorhersagbar ist, „ob man jemals eine berufliche Position besetzen oder nur kurzfristige Arbeitsmöglichkeiten oder sogar keinen Arbeitsplatz erhalten wird“, wodurch auch die Entscheidung für oder gegen eine eigene Familiengründung stark beeinflusst wird und sich insgesamt eine hohe biografische Ungewissheit ergibt. Die gestiegenen Anforderungen betreffen jedoch nicht nur die Jugendlichen, sondern auch ihre Eltern. Diese fühlen sich nach wie vor verpflichtet, ihren Kindern Orientierungshilfen zu geben, können aber nur schwer einschätzen, welche weitergegebenen Erfahrungen überhaupt noch hilfreich sind. Die Möglichkeiten der Eltern liegen somit eher darin, ihren Kindern auf dem Weg in eine ungewisse berufliche Zukunft als emotionaler und materieller Rückhalt zur Seite zu stehen (vgl. Böhnisch 2009, S.341f.). Zum anderen gilt in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr unbedingt eine eindeutige Hierarchie zwischen den Generationen. In bestimmten Bereichen (Technik und Medien) kann die ältere Generation von der jüngeren lernen. Die Generationen lernen also verstärkt gegenseitig voneinander (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S.196f.; Liebau 1997, S.16 u. 31ff.; Lenz/Böhnisch 1997, S.56; Grundmann/Hoffmeister 2009, S.201). Dies mag zunächst ungewohnt erscheinen und auch einiges an Umdenken erfordern. Letztlich bieten die
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Enthierarchisierungstendenzen jedoch auch gerade aufgrund der Tatsache, dass die Erfahrungen der Elterngeneration nur noch bedingt für die Gestaltung des eigenen Lebensweges als Orientierungshilfe von den Jugendlichen herangezogen werden können, Chancen. Durch das gegenseitige Lernen der Generationen voneinander kann es gelingen, das Vertrauen der Jugendlichen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten zu fördern und ihren Selbstwert zu stärken. Dies erfordert jedoch Erwachsene, die bereit sind, sich darauf einzulassen, von der Jugend zu lernen und die deren Wissensvorsprung auf bestimmten Gebieten nicht als Affront gegen ihre Kompetenzen auffassen. Ebenfalls auf das Binnenverhältnis beziehen sich Veränderungen im Hinblick auf Macht- und Rollenverteilung, die von allen Mitgliedern einer Familie Anpassungs- und Umdenkleistungen verlangen. Durch die Loslösung von traditionellen Rollenvorgaben, müssen Rollen im Familienalltag erst erfahren und ausgehandelt werden, was neben Entwicklungschancen auch Konfliktpotential beinhaltet. Hierbei spielt vor allem der Umgang mit veränderten weiblichen Lebenschancen eine Rolle. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverständnis erzeugt Verunsicherung auf weiblicher und männlicher Seite und betrifft innerhalb einer Familie nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder bzw. Jugendlichen, die in ihr aufwachsen und nach einer eigenen Positionierung suchen (vgl. Schneider 2009, S.143; Hettlage 1998; von Trotha 1999; Nave-Herz 1994; Hamann 2000). Insbesondere kämpfen die Familien in einer überwiegend familienfeindlichen Arbeitswelt mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. „Häufig steht dabei das fehlende Angebot von Kinderbetreuungseinrichtungen im Mittelpunkt, sozusagen als Scharnier für unterschiedlichste Problematiken, sowohl die gleichzeitige Berufs- und Erziehungstätigkeit von Gemeinsam- oder Alleinerziehenden, als auch veränderte Rollenbilder von Mütterlichkeit oder Väterlichkeit realisieren zu können“ (Maihofer/Böhnisch/Wolf 2001, S.9). Den Mangel an professionellen und angemessenen Betreuungsmöglichkeiten als Hauptkriterium der Problematik Kind/Beruf herauszustreichen, ist jedoch deutlich zu kurz gegriffen. Entlastend und damit förderlich bei der Entscheidung für die gesellschaftlich dringend benötigten Kinder wäre vielmehr eine Arbeitsmarktpolitik, die es ermöglicht auch nach einer längeren Pause wieder zu guten Karrierebedingungen in den Beruf einzusteigen. Eine immer frühere Abgabe der Kinder an Kinderbetreuungseinrichtungen als einzige Möglichkeit der Karriereerhaltung dagegen setzt die Familien und hier nach wie vor insbesondere die Mütter unter Druck, sich letztlich wieder zwischen (Zuwendung zum Kleinst-)Kind und Karriere entscheiden zu müssen und ist auch aus bindungstheoretischer Sicht nicht unproblematisch. Zur Rollenproblematik kommt eine allgemeine Neuinterpretation der Lebensziele und somit auch Erziehungsziele des Individuums hin zu Freiheit,
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Selbstbestimmung, Emanzipation und psychischem Wachstum, die sich von den traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerten weg bewegt hat (vgl. Feldkircher 1994, S.176ff.; von Trotha 1999, S.233; Hofer u.a. 2002, S.144ff.; Peuckert 2007, S.51). Dies bietet für Jugendliche zwar einerseits größere Gestaltungsfreiräume, birgt aber andererseits auch vermehrte Risiken biografischen Scheiterns. Die Anforderungen an die Familie respektive die Eltern, ihre Kinder bei der Abwägung verschiedener Lebensoptionen zu unterstützen und ihnen Orientierungen zu geben, sind daher – gerade vor dem bereits erwähnten Hintergrund der Entwertung der Lebenserfahrungen der Elterngeneration – hoch. 1.2.4 Veränderungen in der Erziehung Im Zuge des familialen und gesellschaftlichen Wandels haben sich neue und veränderte Erziehungsziele und Erziehungsverhalten ergeben. Die Erziehung ist u.a. aufgrund der hohen emotionalen Bedeutung von Kindern für ihre Eltern zu einer wichtigen Lebensaufgabe geworden. Allerdings ließ erst die Entlastung der Familie von z.B. produktiven Funktionen eine Spezialisierung auf die Kindererziehung zu. Diese geht mit einer zunehmenden Orientierung an professioneller Pädagogik und Psychologie einher (vgl. Schneider 2009, S.143; vgl. auch Schneewind 2001; von Trotha 1999; Barabas/Erler 1994; Fend 1988). In der Erziehung finden die Bedürfnisse und Interessen des Kindes vermehrt Berücksichtigung. Peuckert (2007, S.51f.) spricht von einer Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Kinder und egalitäreren Umgangsformen. Damit verbunden ist, dass diesbezügliche Normen an Eindeutigkeit verlieren und von Eltern eine höhere Selbständigkeit und Kompetenz der Jugendlichen gefordert wird (vgl. auch Ecarius 2011, S.46ff.; Fend 2003, S.149 u. S.271; Hofer u.a. 2002, S.78). Da die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensgestaltung mit gestiegenen Ansprüchen an die Selbstkontroll- und Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen einhergeht, ist die Vermittlung dieser Eigenschaften auch zu einer neuen Erziehungsaufgabe geworden. Das Erlernen von Kompetenzen, die in komplexen Situationen eigenständige Entscheidungen erlauben, wurde im Zuge des sozialen Wandels als Erziehungsziel daher zunehmend relevant. Demgegenüber verlor die Vermittlung von spezifischen traditionellen Regeln an Bedeutung (vgl. Reuband 1997, S.130). So wurden „Gehorsam und Unterordnung“ als grundlegende traditional-autoritäre Erziehungsziele durch „Selbständigkeit und freier Wille“ abgelöst (Peuckert 2007, S.51). Das Erreichen von emotionaler und ökonomischer Unabhängigkeit der Jugendlichen unter Aufrechterhaltung von Verbundenheit und emotionaler Nähe zu den Eltern ist ein weiteres wichtiges Entwicklungs- und somit auch Erziehungsziel. Dabei stellt sich jedoch zunehmend das Problem, dass Jugendliche aufgrund langer Ausbildungszeiten länger
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wirtschaftlich abhängig von ihren Eltern sind, obwohl sich ihnen immer zeitigere Verselbständigungschancen bieten. Auch die gegenseitige psychosoziale Abhängigkeit zwischen Eltern und Kindern birgt neue Konfliktpotentiale und führt zu einer Verkomplizierung der Ablöseprozesse (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, S.30). Kinder und Jugendliche sehen sich heute zeitig der Forderung gegenüber, sich zu autonomen Persönlichkeiten zu entwickeln. Sich eigenverantwortlich zurechtzufinden ist für sie mit einem hohen Anspruch an ihre Kommunikationskompetenzen verbunden. Eltern machen zwar weniger Vorgaben, erwarten dafür jedoch häufig verstärkt Begründungen für Verhalten und Entscheidungen ihrer Kinder. Größere Handlungsspielräume und Entscheidungsmacht sind einerseits für die Jugendlichen durchaus positiv. Andererseits beinhalten sie aber auch eine Gefahr der Überforderung. Dazu kommt eine relativ frühe Konfrontation mit (Problemlagen) der Erwachsenenwelt (vgl. Macha 2009; S.22; Hurrelmann/Quenzel 2012, S.246ff.; Nave-Herz 1994, S.62; v. Trotha 1999, S.233; Hofer u.a. 1992, S.144). Zusammenfassend wird die Erziehung zur Selbstbestimmung, d.h. der Fähigkeit zu eigenständigem Denken und persönlichen Entscheidungen gegenüber der Erziehung zur Anpassung an externe Standards favorisiert (vgl. Feldkircher 1994, S.176ff.). Es sollen also heute kommunikations- und integrationsfähige, selbstkontrollierte, selbstbewusste und persönlichkeitsstarke junge Menschen erzogen werden, die über gut entwickelte soziale Kompetenzen verfügen, aber auch in der Lage sind, eigene Wünsche und Ziele voller Selbstvertrauen durchzusetzen (vgl. Schneewind 2008, S134ff.; Fend 2003, S.147; Barabas/Erler 1994, S.188; Münchmeier 1997, S.127f.). Die gewandelten Erziehungsziele haben natürlich Veränderungen im Erziehungsverhalten zur Folge. Obwohl die autoritäre Erziehung heute durchaus noch praktiziert wird ist, geht der Trend doch eher hin zu einer liberalen und weniger strengen Erziehung, in der Rücksicht und Toleranz eine große Bedeutung haben (vgl. Peuckert 2007, S.51f.; Schneider 2008, S.16f., Hofer/Pikowsky 2002, S.252ff.). Kinder werden frühzeitig als ernstzunehmende Personen mit Mitspracherecht bei Entscheidungen angesehen und erleben ihre Eltern deutlich weniger streng. Argumentative Erziehungsformen im Sinne eines Beratungsprozesses nehmen zu. „Eltern wirken weniger durch hierarchisch geprägte Leistungsvorgaben, Gehorsamsübungen, eigene Willensdurchsetzung und -austreibung bei ihren Kindern, sondern im Dreiecksverhältnis beratend, erörternd und mit leichter Hand korrigierend“ (Hettlage 1998, S.252). Die Liberalisierung der Erziehung ist dennoch nicht mit einer Homogenität der Erziehungsstile gleichzusetzen, da es vielfältige individuelle Unterschiede gibt. Grundsätzlich waren in der Forschung vor allem zwei Typisierungen von Erziehungsstilen prägend. Zum einen ist dies die Unterteilung in den
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demokratischen, autoritären und den Laissez-Faire-Stil nach Lewin u.a. (1939), der als Begründer der Erziehungsstilforschung gilt. Zum anderen handelt es sich um die Unterteilung in autoritäre, permissive und autoritative Erziehung von Baumrind (1966), die durch Maccoby/Martin (1983) um den vernachlässigenden Erziehungsstil erweitert wurde. Beide Klassifizierungen weisen Gemeinsamkeiten auf, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der von Baumrind betonten Notwendigkeit von elterlicher Kontrolle und klarer Führung (vgl. Ecarius 2007, S.137ff.; Fuhrer 2007, S.132ff.; Schneewind 2008, S.136f.). Als förderlichster Erziehungsstil wird in der Literatur übereinstimmend die autoritative Erziehung bezeichnet. Darunter wird ein auf klaren, nachvollziehbaren Regeln beruhendes, unterstützendes, von Wärme und Zuneigung geprägtes erzieherisches Handeln verstanden, das auf einer offenen Kommunikation und der Anerkennung der Rechte von Eltern und Kindern basiert und Kinder zu selbstverantwortlichem und selbständigem Handeln ermutigt. Dies setzt eine hohe elterliche Kompetenz voraus (vgl. Winkler 2012, S.97f.; Montada 2008, S.583ff.; Papastefanou/Hofer 2002, S.185; Schneewind 2010; S.87f. u. S.181f.). Beim autoritären Typ werden dagegen allein die elterlichen Vorstellungen und Regeln durchgesetzt, wobei es kaum Diskussionsmöglichkeiten gibt und Machtmittel wie Drohungen und Strafe eingesetzt werden. Unter bestimmten Lebensumständen scheint die autoritäre Erziehung eine Schutzfunktion vor Risikofaktoren aufzuweisen (vgl. Schneewind 2008, S.136f.). Darüber hinaus wird jedoch die stark beschränkte Freiheit der Kinder bei gleichzeitigen zu hohen Forderungen der Eltern kritisiert, was zu Aggressionen und Ablehnung der Eltern führen kann (vgl. Fuhrer 2007, S.134ff.; Hurrelmann 2002, S.158ff.). In der Konstanzer Längsschnittstudie (Fend 2003, S.300ff. u. 1998a, S.199ff.) wurde anhand der Untersuchung von 404 Familien belegt, dass in den Familien, die innerhalb von zwei Jahren nach Eintreten einer problematischen Situation mit dem Jugendlichen keine Verbesserung der Problemlage und der Familienbeziehungen erreicht haben, die Eltern am stärksten autoritär agierten (häufige Ausübung von Zwang, Drohungen und Verboten). „Das klare Resultat für Problemfamilien bestand darin, dass es sich eher um unflexible Eltern handelt, die glauben, mit Druck, Strenge und Unterordnungsforderungen reagieren zu müssen“ (Fend 2003, S.300). Der permissive Erziehungsstil ist von hoher Akzeptanz und Toleranz der kindlichen Wünsche bzw. des kindlichen Verhaltens bei gleichzeitig sehr geringen Forderungen seitens der Eltern gekennzeichnet, verzichtet auch weitgehend auf Strafen und stellt damit das Pendant zur autoritären Erziehung dar. Hierin liegt auch die Gefahr, denn ohne klare Orientierungen fühlen sich Kinder und Jugendliche schnell überfordert und verloren (vgl. Schneewind 2008, S.136f.; Rogge 2009, S.407). Zu geringe Anforderungen verhindern Erfolgserlebnisse, denn
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„verwöhnte Kinder lernen auch nicht, dass sie durch Anstrengung und Ausdauer etwas erreichen und selber Erfolg haben können“ (Fuhrer 2007, S.161). Das kann spätestens mit dem Übergang in Ausbildung und Berufsleben zu Problemen führen, wenn die Jugendlichen mit hohen Anforderungen an Flexibilität und Leistungsbereitschaft konfrontiert werden. Fuhrer (2007, S.134ff.) verweist auf Ergebnisse von Baumrind, wonach permissiv erzogene Kinder am wenigsten altersangemessen reif waren. Der vernachlässigende Erziehungsstil verbindet mangelnde Forderungen und Regelvorgaben seitens der Eltern mit geringer Zuwendung, Aufmerksamkeit und Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse, wodurch die schon beim permissiven Stil aufgezeigten Probleme noch verstärkt werden. Kindern fehlen dann nicht nur Sicherheit gebende Regeln und Anforderungen, sondern auch Wärme und Zuneigung (vgl. Hurrelmann 2002, S.159ff.; Schneewind 2008, S.134ff.). Du Bois-Reymond u.a. (1994) beschreiben in ihrer Untersuchung fünf Formen von Erziehungshaushalten – den restriktiven Befehlshaushalt, den ambivalenten Befehls- bzw. Verhandlungshaushalt, den assertiven Befehlshaushalt, den Verhandlungshaushalt an der kurzen und an der langen Leine. Ecarius (2002; vgl. auch 2007, S.149ff.) unterscheidet in ihrer Untersuchung ebenfalls zwischen Befehls- und Verhandlungshaushalt, wobei sie beiden Erziehungsformen grundsätzlich positive Auswirkungen zuspricht. Kritisch dagegen sind unabhängig vom Erziehungsstil „geringe emotionale Empathie und fürsorgliche Unterstützung der Kinder“ zu sehen, was „zu Gefühlen der Vernachlässigung und der Einsamkeit“ führt. „Die Erziehung des Befehlens wird dann als starres Konzept und machtvolles Befehlsgerüst mit zwanghaften Strukturen erlebt, die keinen Raum zur Entwicklung lässt. Eine Erziehung des Verhandelns ohne emotionale Sicherheit und Anlehnung führt zur Orientierungslosigkeit und einem Gefühl des Verlassenseins, der Unsicherheit in unverlässlichen Strukturen“ (Ecarius 2007, S.151). Demnach sind emotionaler Halt und Zuwendung, Einfühlungsvermögen, Unterstützung sowie das Vermitteln von klaren Orientierungen wichtige Faktoren, die einen starken Einfluss auf die emotionale Befindlichkeit der Kinder und die Beziehungsqualität an sich haben. Schneewind (2010, S.181ff.; 2008, S.262ff.) unterscheidet drei Erziehungsprinzipien nach den Kategorien Freiheit ohne Grenzen (hierunter werden sowohl der verwöhnende/nachgiebige als auch der vernachlässigende Erziehungsstil gefasst), Grenzen ohne Freiheit (entspricht der autoritären Erziehung) und Freiheit in Grenzen. Bei letzterem handelt es sich um ein von Schneewind entwickeltes Erziehungskonzept, das auf den autoritativen Erziehungsstil aufbaut, dabei aber der Gewährung von Eigenständigkeit eine besondere Bedeutung beimisst. Die grundlegenden Komponenten des Konzeptes sind elterliche Wertschätzung, worunter die Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse sowie ein liebevolles,
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akzeptierendes und unterstützendes Verhalten subsummiert werden; Fordern und Grenzen setzen und als dritter Punkt das Gewähren und Fördern von Eigenständigkeit. Vor allem im Jugendalter sieht Schneewind in der Gewährung von „Spielraum zur persönlichen Entfaltung des Autonomiebedürfnisses“ bei gleichzeitiger „unaufdringlicher“ Kontrolle eine wichtige Voraussetzung für eine vertrauensvolle Eltern-Kind-Beziehung und die Aufrechterhaltung des elterlichen Einflusses (2008, S.263). Auch in diesem Konzept wird deutlich, dass es vor allem die Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kindern ist, die einen grundlegenden Einfluss auf alle anderen elterlichen Funktionen hat. Gewalt in der Erziehung ist trotz aller Veränderungen im Erziehungsverhalten immer noch keine Seltenheit. Die verbreiteteste Form der Gewalt ist nach wie vor die Gewalt innerhalb der Familie. Es ist sehr viel unwahrscheinlicher, im öffentlichen Raum durch einen fremden Täter Gewalt zu erleben, als im Rahmen der Familie. Familiale Gewalt wird nach wie vor unterschätzt und von der Öffentlichkeit zwar stärker, aber immer noch nicht ihrem Ausmaß entsprechend wahrgenommen (vgl. Schneider 2001, S.180 u. 1994, S.203; Feltes 1998, S.308f.; Heitmeyer u.a. 1995, S.62; Böhnisch 1999, S.114). Gleichzeitig lässt sich jedoch eine Veränderung des Hintergrundes bzw. der Motivation gewaltförmigen Erziehungsverhaltens bei den Eltern feststellen. Während körperliche Strafen früher als gängiges Erziehungsprinzip betrachtet wurden, scheinen sie heute eher aus der Situationsdynamik heraus zu entstehen und Reflexhandlungen auf aktuelle Konfliktlagen zu sein. Bussmann (2007, S.642ff.) kommt in einer Studie zu den Auswirkungen des Gewaltverbots in der Erziehung zu dem Ergebnis, dass für 92% der befragten Eltern eine gewaltfreie Erziehung ihr Ideal darstellt. Selbst gewaltbelastete Eltern streben dieses Ideal immerhin noch zu 75% an. Der Verzicht auf Gewaltanwendung in der Erziehung ist demnach inzwischen gesellschaftlich derart stark akzeptiert, dass der Status eines sozialen Wertes erreicht ist. Dennoch bestehen gravierende Unterschiede zwischen dem Ideal eines Gewaltverzichts auf der Einstellungsebene und der Realität auf der Handlungsebene in den Familien. Gewaltförmige Handlungen gegenüber den eigenen Kindern resultieren heute aber nicht mehr vordergründig aus erzieherischer Überzeugung, sondern sind Ausdruck von Hilflosigkeit, eigener Schwäche und „situativ bedingter Überforderung“ (Bussmann 2007, S.643, vgl. auch Bussmann 2005). „Nur noch eine Minderheit von Eltern hält Körperstrafen für ein taugliches Erziehungsmittel“ (ebd. S.643). Hardt und Engfer (2008, S.809) setzen dem entgegen, dass diese Entwicklung jedoch nur zu einer Verminderung des Ausmaßes „alltäglicher Gewalt“ gegenüber Kindern geführt hat, während „die Fälle schwerster Misshandlungen davon unberührt bleiben“. Häufig unterschätzt
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werden auch die weitreichenden Auswirkungen von psychischer Gewalt, wie beispielsweise das Ängstigen der Kinder, massive Überforderung, die Vermittlung des Gefühls der Wertlosigkeit, häufige Beschimpfungen sowie langanhaltender Liebesentzug etc. (vgl. auch Engfer 1995, S.964). Wenn Eltern trotz des etablierten Gewalttabus aus Hilflosigkeit schlagen, ist dies ein Indiz für ihre Überforderung, worauf häufig eine aus einem schlechten Gewissen resultierende besondere Zuwendung erfolgt. Kinder und Jugendliche erleben dann nicht nur gewalttätige, sondern darüber hinaus auch noch schwache und in ihrer Erziehung inkonsistente Eltern, die nicht in der Lage sind, Orientierungen, Grenzen und Handlungsanleitungen adäquat zu vermitteln. Jugendliche, die unter solchen Bedingungen aufwachsen, laufen Gefahr, gewalttätiges Handeln als Mittel der Problembewältigung zu übernehmen (auch gegen die eigene Person in Form von Selbstverletzung). Der Gewalt wird sich im späteren Leben möglicherweise bedient, um Eindeutigkeit in diffusen und widersprüchlichen Situationen zu schaffen. Der Hass auf die in der Opferrolle erlebte eigene Schwäche und die erfahrenen Gefühle wird auf Schwächere projiziert und dadurch zu kompensieren versucht. Der eigene geringe Selbstwert wird dann durch die Abwertung der anderen gesteigert (vgl. Schneider 1994, S.125; Böhnisch 1999, S.52f. u. 1997, S.166). Böttger (1998) fand in seiner Untersuchung der biografischen Hintergründe gewalttätiger Jugendlicher überwiegend problematische, autoritär-restriktive und massiv vernachlässigende familiale Hintergründe, in denen die Jugendlichen zum Großteil unterschiedlich stark ausgeprägte Gewalt durch ihre Eltern erfuhren sowie häufig auch Gewalt der Eltern untereinander erlebten. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Gefahr eines „Kreislaufs der Gewalt“ (ebd., 1998, S.126). So weisen Jugendliche, die in gewaltbelasteten Familien aufwachsen, eine „dreimal häufigere und gravierendere Gewaltaktivität auf“, sind gleichzeitig aber auch „häufiger Opfer von Gewalt“, was sich „auf die eigene Gewalttätigkeit, auf aggressives Verhalten, mangelnde Konfliktfähigkeit und einen entsprechend provozierenden Habitus zurückführen“ lässt. „Die Folgen für Kinder aus Familien mit einer gewaltgeneigten Erziehung sind somit in jeder Hinsicht fatal: neben ihren ohnehin höheren Entwicklungsrisiken werden sie nicht nur häufiger selbst zu Tätern, sondern auch außerhalb ihrer Familien zu Opfern von Gewalt – sie werden genau genommen doppelt viktimisiert“ (Bussmann 2007, S.642).
1.2.5 „Knautschzone“ Familie – Ein Fazit Zusammenfassend kann man m.E. nicht von einem Funktionsverlust oder gar „Niedergang“ der Familie sprechen, wohl aber von einem Bedeutungszuwachs im Bereich Qualität der Familienbeziehungen und ihrer emotionalen Funktionen verbunden mit einer insgesamt konfliktbeladenen gesellschaftlichen Position.
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Der Exklusivcharakter der Eltern-Kind-Beziehung hat neben allen Vorteilen auch den Nachteil, dass Störungen in den familialen Beziehungen als ausgesprochen belastend erlebt werden und bei Kindern und Jugendlichen nachhaltige Auswirkungen haben können. Zudem erscheint das Zusammenleben in einer Familie komplizierter, weil die Bedürfnisse, Lebenskonstellationen, Ideale und Rechte der einzelnen Familienmitglieder im Sinne einer gemeinsamen Lebensplanung ausgehandelt werden müssen. Die Familie ist somit eine Verarbeitungsinstanz, in der sämtliche die Familienmitglieder betreffenden Angelegenheiten, Anforderungen, Probleme bearbeitet und bewältigt werden müssen. Die Konflikte in der Eltern-Kind-Beziehung sind thematisch ähnlich geblieben und – folgt man einigen Autoren – sogar eher geringer geworden, da Eltern insgesamt wesentlich toleranter und liberaler sind, Vorlieben ihrer jugendlichen Kinder (Mode, Musik) häufig sogar teilen. Im „normalen“ Ablöseprozess beziehen sie sich auch weiterhin überwiegend auf die Diskussion und Überschreitung von Grenzen, Kleidung, Frisuren, (Un-)Ordentlichkeit sowie die tägliche Rücksichtnahme. Der überwiegende Teil der Jugendlichen beschreibt sein Verhältnis zu den Eltern insgesamt als entspannt, eng und vertrauensvoll (vgl. Hurrelmann/Quenzel 2012, S.147; Winkler 2012, S.94f.; Leven u.a. 2010, S.65ff.; Nave-Herz 1994). Gerber und Wild (2006, S.34) sehen als Grund für die verstärkten Auseinandersetzungen im Jugendalter lediglich das Bestreben der Jugendlichen, das Verhältnis zu den Eltern symmetrischer zu gestalten. Die objektiven Gefährdungen der Jugendphase haben nicht abgenommen. Vor allem Orientierungslosigkeit in Verbindung mit einem erleichterten Zugang zu Alkohol, Nikotin und anderen Drogen sowie „die Vergrößerung der Konsumanreize, die gestiegene Bedeutung der schulischen Laufbahn für die Existenzsicherung, (und) die Verschärfung der Berufsfindungsprobleme“ (Fend 1988, S.125) stellen ein Gefahrenpotential dar. Heitmeyer u.a. (2011, S.17) sehen Jugendliche vor allem im Hinblick auf die Herausforderungen des Übergangs von Schule in Ausbildung und Arbeitsmarkt als „‘kreative Bewältiger‘ ungewissheitsbelasteter Lebensbedingungen“. Die heute mögliche Nutzung nahezu aller Bereiche der Erwachsenenkultur bringt aufgrund der nicht ausreichend vorhandenen Kompetenzen im Umgang zusätzliche Belastungen in der Entwicklung mit sich (vgl. Oerter/Dreher 2008, S.274). Eine wesentliche Aufgabe der Familie ist daher die Einübung eines verantwortlichen Umgangs mit individuellen Freiheiten aber auch Schwierigkeiten und Risiken. Winkler (2012, S.22) kritisiert, dass durch die starke Konzentration auf das Verhältnis von Eltern und kleinen Kindern „der spezifische Bedarf an Zuwendung, enger und zugleich distanzierungsfähiger Auseinandersetzung aus dem Blick (gerät), den größere Kinder benötigen“. So brauchen Jugendliche ihre Familie, „um die Ansprüche zu verarbeiten, welche von außen, von der Schule, von
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den lebensweltlichen Zusammenhängen“ an sie herangetragen werden und es entstehen, insbesondere im Zusammenhang mit der Verlängerung der Jugendphase, vielfältige Problemlagen, mit denen sich die Familie auseinandersetzen und die sie als Verarbeitungsinstanz bewältigen muss. Es ist insbesondere ein Aspekt, der bei der Diskussion des familialen Wandels ins Auge fällt: Die Gefahr der Überforderung von Eltern und Kindern aufgrund der mannigfaltigen an sie gestellten Anforderungen in Kombination mit scheinbar unbegrenzten Optionen der Lebensgestaltung.6 Von einer Entlastung der Familie kann also derzeit nicht ausgegangen werden. Sie hat eine hohe Verantwortung als Sicherheit und Orientierung gebender Rückhalt für alle Mitglieder, vor allem aber natürlich für Kinder und Jugendliche.
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Wesentlich ist dabei, dass die Anforderungen nicht nur durch das äußere Umfeld bzw. die Lebensbedingungen an sich an die Familie gestellt werden, sondern auch selbst von den Familienmitgliedern ausgehen.
2 Jugendlicher Rechtsextremismus im Spiegel der Forschung
Seit Ende der 1980er Jahre ist Rechtsextremismus ein öffentlich und wissenschaftlich hoch beachtetes und viel diskutiertes Thema. Vor allem die erschreckenden rechtsextremistischen Gewalttaten sowie die Wahlergebnisse einschlägiger Parteien führten seitdem zu einer Vielzahl von Studien, die sich mit der Verbreitung und den Ursachen rechtsextremistischen Denkens und Handelns beschäftigen. Da es sich bei (jugendlichem) Rechtsextremismus eben nicht um ein homogenes Phänomen handelt, sondern um eine Erscheinung, die in vielen verschiedenen Facetten auftreten kann – angefangen bei reiner Provokation, diffusen Orientierungen, über Sympathien für rechte Jugendsubkulturen, ethnozentrische Orientierungen, der Mitgliedschaft in Parteien bis hin zu ideologisch motivierter oder genereller Gewaltbereitschaft – sind differenzierte Betrachtungen notwendig (vgl. Krüger/Pfaff 2001, S.15). Die zahlreichen und vielfältigen Untersuchungen zum Thema Rechtsextremismus und insbesondere zum Thema Rechtsextremismus und Jugend sind in ihrer Fülle kaum noch überschaubar. Allerdings setzt sich hier die bereits bei der Definition des Begriffes verdeutlichte Problematik fort. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit einzelnen Aspekten und Facetten des Rechtsextremismus. Aufgrund der unterschiedlichen begrifflichen Herangehensweisen, Untersuchungsmethoden und der Komplexität des Phänomens, ergibt sich jedoch eine schlechte Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse insgesamt. Dies betrifft auch Studien, die gleiche Begrifflichkeiten verwenden, da es zum einen darauf ankommt, wie der jeweilige Begriff für die Untersuchung definiert wird, und zum anderen auch darauf, wie er operationalisiert wird. Gleiche Begriffsdefinitionen begründen somit noch keine Vergleichbarkeit der Forschungsergebnisse. Krüger/Pfaff (2001, S.14) konstatieren einen mangelnden systematischen Bezug der Untersuchungen und eine daraus resultierende schlechte Vergleichbarkeit, wodurch längerfristige Entwicklungstendenzen kaum herauszuarbeiten sind. Unübersichtlichkeit, Unklarheit und Zersplitterung kennzeichnen also auch die Forschungslandschaft. Rechtsextremismus wird häufig als Jugendphänomen diskutiert, obwohl es sich keinesfalls um ein solches handelt. Bei oberflächlicher Betrachtung der Problematik kann allerdings leicht ein solcher Eindruck entstehen, denn © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2_3
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Jugendliche sind am häufigsten im Bereich der rechtsextremistischen Delikte, insbesondere im Zusammenhang mit Gewalt, in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) bzw. den jährlichen Berichten des Verfassungsschutzes aufgeführt (wobei Staatsschutzdelikte nicht in der PKS enthalten sind, wohl aber Gewaltkriminalität). Auch die Medien berichten vorrangig über jugendliche männliche rechte (Gewalt-)Täter und tragen somit zur Verbreitung dieses Eindruckes bei.7 Tatsächlich existieren Jugendliche jedoch „nicht unabhängig von der Gesellschaft, sondern sind in ihren Einstellungen und Handlungen Ausdruck von deren Entwicklung“ (Fricke 2001, S.56). Durch das Verhalten der Jugendlichen wird also auch die Gestimmtheit des erwachsenen Teils der Gesellschaft deutlich. Es scheint häufig so zu sein, dass Jugendliche meinen, die geheimen Wünsche einer Mehrheit zu verwirklichen und sozusagen aus einer Stellvertreter-Rolle heraus zu agieren (vgl. Klare/Sturm 2016, S.195f.; Zick/Küpper 2016; Möller 2012; Fuchs u.a. 2003; Groffmann 2001; Liebscher/Schmidtke 1998; Leggewie 1993). Dies wird durch einen Aussteiger aus der rechten Szene bestätigt, der sich in seinem Handeln durch die in der Gesellschaft verbreiteten Vorurteile und Meinungen durchaus bestätigt und nicht ausgegrenzt sah (vgl. Bar 2002). Eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin7
„Die Macht der politischen Symbole entfaltet sich erst unter der Voraussetzung visueller öffentlicher Präsentation. Deshalb sind fremdenfeindliche Anschläge angewiesen auf visuelle Medien, auf Kameraleute und Fotoreporter“ (Jaschke 1994, S.157). Die Auswirkungen der Skandalisierung und auch Dramatisierung rechtsextremistischer Bestrebungen und Gewalttaten in den Medien sind nicht zu unterschätzen. Rechtsextremistische Aktionen bekommen dadurch eine Aufmerksamkeit, die weitere und verstärkte Aktivitäten provoziert. Nachfolge- und Nachahmungstaten werden gefördert. Rechtsextremistische Gruppierungen haben in den Medien ein Machtinstrument gefunden, dass ihnen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sichert und sie zudem noch um einiges größer und stärker erscheinen lässt, als sie es tatsächlich sind. Dies wird am Beispiel des Aussteigers Ingo Hasselbach besonders gut deutlich. Er beschreibt in seiner Biografie detailliert, wie die Aufmerksamkeit der Medien gezielt für die eigene Sache genutzt wurde (vgl. Hasselbach/Bonengel 1994). Vor allem Skinheads erschienen immer wieder in der medialen Berichterstattung. Sie sind zu einem „sorgsam gepflegten innenpolitischen Feindbild geworden.“ Das „Skin-Phänomen“ wäre ohne die Zuwendung unter anderem durch die Medien „kaum denkbar“ gewesen (Jaschke 1994, S.85). Ein weiteres Beispiel für das Wechselspiel zwischen Szene und Medien ist die Diskussion um die so genannten „national befreiten Zonen“. Darin zeigt sich, „dass erst nach dem Agenda-Setting in der öffentlichen Berichterstattung entsprechende Konzeptdiskussionen seitens rechtsextremer Protagonisten wieder aufgenommen wurden. Das Thema wurde also nicht von rechtsextremen Kreisen nach außen, sondern vielmehr von der öffentlichen Thematisierung nach innen getragen“ (Bergmann/Döring 2006, S.236). Überspitzt formuliert könnte sozusagen von einer „Zusammenarbeit“ zwischen Rechtsextremisten und Medien, im Sinne eines „heimlichen Aufeinander-angewiesen-Seins“ gesprochen werden. Der Deal heißt Einschaltquoten und spannende Story gegen Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Eine Tabuisierung der Thematik in der Öffentlichkeit kann wiederum auch nicht die Lösung sein. Ein sachlicher Umgang mit Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit wäre wünschenswert und beim Umgang mit dem Phänomen sicher hilfreich, ist aber leider bislang nicht gelungen (vgl. Jaschke 1994).
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Brandenburg (Liebscher/Schmidtke 1998) hat dazu einen interessanten Befund erbracht: Beim Vergleich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Sachsen-Anhalt hat von den Befragten, die älter als 27 Jahre waren, ein deutlich höherer Anteil fremdenfeindliche Einstellungen offenbart. Die Autoren gelangten deshalb zu dem Schluss, dass sich die Jugendlichen durchaus als Vollstrecker einer verbreiteten Volksmeinung verstehen könnten. Auch Zick/Küpper (2016, S.99f.) konstatieren mittels der Untersuchungen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit eine im Vergleich zu Jugendlichen höhere Affinität älterer Menschen zu rechtsextremistischen Einstellungen. Jugendliche können durchaus im Sinne von Symptomträgern gesehen werden. Die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen dürfen ob der hohen Präsenz von Jugendlichen und Heranwachsenden im Hinblick auf politisch rechts motivierte Delikte aber nicht aus dem Blick geraten. Es ist nicht nur zu hinterfragen, wie sich rechtsextreme Orientierungen vermitteln, sondern auch, inwieweit sie im Umfeld der Jugendlichen gebilligt werden und zwar nicht im Sinne von Toleranz, sondern auch von versteckter oder offener Befürwortung.8 Für die vorliegende Untersuchung sind vor allem Studien von Interesse, die sich mit dem Ausmaß von rechtsextremen Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen beschäftigen sowie Untersuchungen, die nach Ursachen und Entstehungszusammenhängen fragen. Hierbei werden insbesondere Forschungsergebnisse in den Blick genommen, die auf den Zusammenhang von Jugend, Rechtsextremismus und Familie abstellen. Zunächst soll jedoch ein kurzer Überblick über die Entwicklungen im strafrechtlich relevanten Bereich rechtsextremistischer Erscheinungen erfolgen. 2.1 Themenrelevante Entwicklungen innerhalb der rechten Szene aus Sicht des Verfassungsschutzes Seit Beginn der 1990er Jahre wurde eine Vielzahl von fremdenfeindlichen Straftaten verübt. Besonders die Morde und ausländerfeindlichen Exzesse in den Jahren 1992 bis 1994 haben zu einem Aufschrei der Öffentlichkeit geführt. In den 8
Köttig (2004, S.315) formuliert im Rahmen ihrer Rekonstruktion von Biografien rechtsextremistischer Mädchen die Hypothese, dass deren Orientierung in einem „Zusammenhang mit den von Großeltern und Eltern bisher nicht aufgearbeiteten und weitgehend dethematisierten Verflechtungen von Familiengeschichte und NS-Vergangenheit steht“, da sich bei der Analyse der Interviews „die erhebliche Bedeutung der Großeltern, der Familiengeschichte und der familialen Dynamik zwischen den Generationen im Hinblick auf die Entwicklung rechtsextremer Orientierungs- und Handlungsmuster“ herauskristallisiert habe. Sie geht aufgrund ihrer untersuchten Fälle von einer verstärkten Hinwendung von Kindern zu ihren Großeltern aus, wenn das Verhältnis zu den Eltern stark belastet ist, was zu einer Identifikation mit deren nationalsozialistischer Vergangenheit führen kann (S.316ff.; vgl. hierzu auch Quent 2016, S.302).
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darauffolgenden Jahren ist der Höchststand der rechtsextremistischen Gewaltstraftaten von 1992 zwar nicht wieder erreicht worden, dennoch kann die Situation längst nicht als entspannt angesehen werden und hat sich u.a. durch die im Zeitraum 2000-2006 verübten NSU-Morde und die Zunahme von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte in jüngster Vergangenheit wieder massiv zugespitzt. Seit dem Januar 2001 gibt es bei der Polizei ein bundesweit einheitliches System zur Erfassung „rechter“ und „linker“ Straftaten sowie zur Erfassung von islamistischem Terrorismus bzw. Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich „Politisch motivierte Ausländerkriminalität“. Danach wird nunmehr von politisch motivierter Kriminalität gesprochen, zu deren Klassifizierung folgende Kriterien herangezogen werden: „Als politisch motiviert gilt eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet“ (BMI 2002, S.27).
Die politisch motivierten Straftaten werden nach den Phänomenbereichen „links“, „rechts“ und „politisch motivierte Ausländerkriminalität“ unterteilt. Weiterhin kann eine Einstufung als „extremistisch“ erfolgen, wenn sich die Tat gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet. Rechtsextremistische Delikte stellen somit eine Teilmenge des „Phänomenbereiches ‚Politisch motivierte Kriminalität - rechts’“ dar, die wiederum einen Teil der politisch motivierten Kriminalität bildet (BMI 2002, S.29). Es ist zwar für die statistische Auswertung als wesentlicher Fortschritt zu sehen, dass die Erfassungskriterien im Gegensatz zu früheren Methoden bundesweit einheitlich sind. Dennoch ist es nach wie vor schwierig und auch von der subjektiven Einschätzung der ermittelnden Beamten abhängig, wie eine Tat eingestuft wird. So wäre es zum Beispiel denkbar, dass eine tätliche Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen ohne und Jugendlichen mit Migrationshintergrund als politisch motivierte Tat klassifiziert wird, obwohl die tatsächlichen Hintergründe bspw. in Revierrivalitäten, Frustabbau o.ä. zu suchen sind. Ebenso kann eine Tat mit politisch rechts(extremistisch) motiviertem Hintergrund auch aufgrund der Wahrnehmung des Beamten, der Tatumstände, etc. nicht als solche erfasst werden. Der mögliche rechte bzw. rechtsextremistische Hintergrund insbesondere von Gewaltstraftaten soll an dieser Stelle nicht bagatellisiert werden, sondern es sollen lediglich die Schwierigkeiten bei der Einschätzung bestimmter politisch motivierter Straftaten verdeutlicht und darauf aufmerksam gemacht werden, dass statistische Ergebnisse hier mit Vorsicht zu betrachten und zu relativieren sind. Weiterhin darf bei den durch die Ermittlungsbehörden vorgelegten Ergebnissen
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nicht vergessen werden, dass sie von vielfältigen Faktoren wie u.a. dem Anzeigeverhalten und der Ermittlungsarbeit der Polizei abhängig sind. Der Anstieg im Bereich eines bestimmten Deliktes muss somit nicht zwangsläufig eine tatsächliche Zunahme bedeuten, sondern kann z.B. auch auf ein verändertes Anzeigeverhalten in der Bevölkerung zurückzuführen sein und damit eine Verschiebung vom Dunkel- ins Hellfeld darstellen. Umgekehrt ist es jedoch ebenso möglich, dass ein Rückgang der Zahlen eine Verschiebung ins Dunkelfeld bedeutet. Betrachtet man die Entwicklungen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität „rechts“ anhand ausgewählter Verfassungsschutzberichte vom Erhebungszeitraum und der jüngeren Vergangenheit, fällt zunächst eine deutliche Zunahme an Straftaten über die Jahre hinweg auf (siehe Abb. 1). Auch wenn es sich bei dem Großteil der Taten nach wie vor um Propagandadelikte und Fälle von Volksverhetzung handelt, ist doch auch eine Steigerung bei den fremdenfeindlichen Gewalttaten zu verzeichnen, die im Jahr 2014 mit 512 im höchsten Wert seit der Einführung des seit 2001 bestehenden Definitionssystems gipfelte (vgl. BMI 2014, S.35). Der aus Abbildung 1 ersichtliche deutliche Anstieg von rechtsextremistischen Gewalttaten allgemein in 2014 im Vergleich zu 2013 lässt sich auf Ausschreitungen zwischen Hooligans und Salafisten bei einer Demonstration in Köln zurückführen, die allein mit 176 Delikten zu Buche schlägt (vgl. BMI 2013, S.28) und stellt daher keine Zunahme von Gewalthandlungen mit rechtsextremistischem Hintergrund innerhalb der Bevölkerung an sich dar.
Abb. 1: Statistik vgl. BMI 2002, 2005, 2013, 2014
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Ursächlich für die höheren Zahlen im Bereich der politisch rechts motivierten Kriminalität kann u.a. eine durch effektivere Ermittlungsarbeit ausgelöste Verschiebung vom Dunkel- ins Hellfeld sein; es kann aber auch eine höhere Bereitschaft zu Handlungen mit strafrechtlich relevanten Inhalten der extremistischen Szene insgesamt zugrunde liegen. Für diese Interpretation spricht folgende Entwicklung: Zwar ist über die Jahre hinweg ein massiver Rückgang beim rechtsextremistischen Personenpotenzial zu beobachten – so wurde im Jahr 2002 von 45.000 Rechtsextremisten berichtet, im Jahr 2014 dagegen nur noch von einem Personenpotenzial von 21.000 Personen ausgegangen (siehe Abb.2). Gleichzeitig blieb die Zahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten im Zeitraum 2002, 2005, 2013 und 2014 aber relativ stabil und die Zahl der Delikte nahm insgesamt betrachtet deutlich zu. Selbst wenn man eine Erhöhung der registrierten Straftaten durch verstärkte Ermittlungen seitens der staatlichen Behörden berücksichtigt, kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass eine höhere Zahl von Delikten einem kleineren Personenkreis gegenübersteht, der zudem nahezu zur Hälfte aus gewaltbereiten Personen besteht. Zu dieser Gruppe werden allerdings auch diejenigen gezählt, die zwar noch nicht durch Gewalttaten in Erscheinung getreten sind, Gewaltanwendung aber prinzipiell befürworten. Der Schwerpunkt im Bereich Gewaltbereitschaft wurde durch das BMI lange Zeit in Ostdeutschland gesehen (vgl. BMI 2002, 2005). Für die jüngsten Berichte gibt es hierzu jedoch keine Angaben mehr (vgl. BMI, 2013; 2014).
Abb. 2: Statistik vgl. BMI 2002, 2005, 2013, 2014
Spontane Gewalttaten, die den überwiegenden Teil rechtsextremistischer Gewalt ausmachen, werden häufig „von subkulturell geprägten rechtsextremistischen Tätern ohne festgefügte Szeneanbindung begangen“, während Neonazis eher für geplante und zielgerichtete Taten verantwortlich sind (BMI 2013, S.71). Vor allem Jugendliche, die sich der Skinhead-Szene zurechnen, gelten als gewaltbereit (vgl. BMI 2005, S.54)9 9
Unter „gewaltbereite Rechtsextremisten“ wurden bekannte Gewalttäter sowie Personen, die sich deutlich für die Anwendung von Gewalt aussprechen oder eine hohe Gewaltbereitschaft zeigen,
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Die Skinheadszene befindet sich spätestens seit Mitte der ersten Dekade des neuen Jahrtausends in einem Wandlungsprozess und hat in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Das typische martialische Auftreten rechter Jugendlicher mit Glatze, Stiefeln und Bomberjacke ist in weiten Teilen einem moderaten modischen Kleidungsstil gewichen, bei dem die Gesinnung hauptsächlich mittels des Tragens von Kleidungsstücken einschlägiger Marken zum Ausdruck gebracht wird. Skinheads bilden damit in der Einschätzung des Verfassungsschutzes nur noch einen „Teilbereich rechtsextremistischer Subkulturen“ (BMI 2013, S.80; vgl. auch BMI 2005, S.60f.). Die rechtsextremistische Musikszene spielt nach wie vor eine große Rolle für den Einstieg von Jugendlichen in die rechte Szene, auch wenn die Zahl der Musikveranstaltungen im Vergleich mit ihrer Hochzeit um 2005 abgenommen hat. Subkulturelle rechte Zusammenhänge stehen dabei zunächst eher für eine Spaßund aktionsorientierte Lebensweise, was einen starken Anreiz für (vor allem männliche) Jugendliche darstellt. Die politische Einstellung der Jugendlichen bleibt überwiegend diffus und basiert eher auf nationalistischen, fremdenfeindlichen Gestimmtheiten als auf einer politisch fundierten Einstellung (BMI 2013, S.80f.; 2005, S.60ff.). Sowohl die Zahl der Bands als auch die Zahl rechtsextremistischer SkinheadKonzerte unterlag im Laufe der Jahre Schwankungen, was u.a. mit einem entsprechend repressiven Vorgehen zusammenhängt. Es ist aber davon auszugehen, dass sich die Veranstalter seit längerem auf die Vorgehensweise der Sicherheitsund Ordnungsbehörden eingestellt und Wege gefunden haben, möglichst keine Grundlagen für Verbote zu liefern. Die Organisation der Konzerte erfolgt weiterhin sehr versteckt und bietet durch das Anmieten verschiedener Räumlichkeiten für dieselbe Veranstaltung Ausweichmöglichkeiten im Falle der Entdeckung. Zum anderen wird die Organisation einschlägiger Konzerte durch die NPD unterstützt, die auf diesem Wege versucht, die Skinhead-Szene einzubinden (vgl. BMI 2014, 2013; 2005; 2002). Das Internet wird von der rechtsextremistischen Szene als bedeutendes Kommunikationsmittel zur Selbstdarstellung und zur internen Verständigung genutzt, wobei vor allem Jugendliche gezielt im Fokus stehen und in den letzten Jahren auch soziale Netzwerke verstärkt genutzt werden (vgl. BMI 2002, S.107f.; 2014, S.43). Glaser u.a. (2013, S.100ff.) bescheinigen den aktuellen Internetauftritten der rechtextremistischen Szene eine hohe Professionalität und eine zentrale Funktion als „Werbe- und Mobilisierungsinstrument“ (ebd. S.109) innerhalb der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ (ebd. S.100). Einschlägige Seiten richten erfasst (BMI 2013, S.71); seit 2014 werden in dieser Kategorie nicht mehr gewaltbereite, sondern gewaltorientierte Rechtsextremisten erfasst, wodurch auch Personen einbezogen werden sollen, die Beihilfe zu Gewalttaten leisten oder Dritte zu solchen anstiften (vgl. BMI 2014, S.20).
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sich gezielt auch an unpolitische Jugendliche, wobei neben einem ansprechenden Aufbau der Seiten vor allem die Musik als Lock- und Transportmittel für ideologische Botschaften fungiert. Die Gefahr liegt hier zum einen darin, dass Jugendliche die tatsächlichen Hintergründe der Seiten zum Teil gar nicht auf den ersten Blick erkennen, zum anderen üben Provokation und Verbotenes im Jugendalter einen besonderen Reiz aus (vgl. Wörner-Schappert 2013, S.120; BMI 2002, S.107f.). Bei den Parteien sind in den letzten Jahren größere Veränderungen zu verzeichnen. Während die Republikaner inzwischen keine Rolle mehr spielen und die DVU 2011 in der NPD aufging, welche in den letzten Jahren rückläufige Mitgliedszahlen verzeichnet, konnte die erst 2012 gegründete Partei „DIE RECHTE“10 eine Steigerung der Mitgliedszahlen von 150 (2012) auf 500 (2013) und 700 im Jahr 2016 verzeichnen (vgl. BMI 2016). Die Mitgliedszahlen der „Bürgerbewegung pro NRW“ bewegen sich im Moment bei ca. 500 Mitgliedern (vgl. BMI 2016). Die Zahl der Neonazis und auch der Organisationsgrad in der Neonazi-Szene waren 2005 gestiegen. Durch „Aktionsbündnisse“ und „Aktionsbüros“ sollte der Zersplitterung der Szene begegnet werden. In diesem Zusammenhang hatte sich auch das Verhältnis zur NPD gewandelt (gemeinsame Demonstrationen, Einbindung einschlägiger Musik in Großveranstaltungen), die „durch die von ihr propagierte ‚deutsche Volksfront’ aus Sicht der Neonazi-Szene an Attraktivität gewonnen hat“ (BMI 2005, S.52). Dies hatte auch die Einbindung von führenden Neonazis in die Partei zur Folge (vgl. BMI 2005). Insgesamt stellt die rechtsextremistische Szene in Deutschland kein einheitliches ideologisches Gefüge dar, sondern beinhaltet verschiedene Hintergründe und Zielsetzungen. Trotz diverser Unterschiede bildeten sich verstärkt „Mischszenen“. Das zeigt sich vor allem an der zunehmenden Eingebundenheit von Skinheads in lokale Kameradschaften. Aufgrund des bei Skinheads meist mangelnden Willens zu aktiver politischer Arbeit im Kreise der Neonazis herrscht hier jedoch nach wie vor eine ambivalente Grundstimmung vor. In diesem Kontext sei noch einmal auf den in Kapitel 1.1 angeführten Vergleich der rechtsextremistischen Szene mit einer Zwiebel in der Bewegungsforschung verwiesen, wonach die einzelnen Teile der rechtsextremistischen Bewegung letztendlich trotz unterschiedlicher Ziele und Ansätze sozusagen als „Zwiebelschalen“ ein komplexes Beziehungsgeflecht bilden. Daher dürfen die augenscheinlich zunehmenden Verflechtungen nicht unterschätzt werden, auch wenn grundlegende Unstimmigkeiten erkennbar sind. Neonazis gelingt es durchaus, Skinheads durch den Einsatz von attraktiven subkulturellen Stilmitteln (Organisation 10
Bundesvorstand war bis Ende Oktober 2017 Christian Worch, der seit den 1970er Jahren führende Positionen in der rechtsextremen Szene einnimmt.
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von einschlägigen Konzerten der in der Szene beliebten Bands, etc.) für ihre Zwecke zu mobilisieren bzw. zu instrumentalisieren.11 Wie aus den Berichten des Verfassungsschutzes deutlich wird, ist die Situation bezüglich des Ausmaßes rechtsextremistischer Bestrebungen in Deutschland nur schwer einheitlich einzuschätzen. Zwar sind in einigen Bereichen Rückläufe zu verzeichnen, in anderen wie zum Beispiel der Gewaltbereitschaft sind dagegen immer noch Zunahmen ersichtlich. Zudem kann „der Rechtsextremismus“ in vielen verschiedenen Facetten und Zusammenhängen auftreten, so dass eine Bestimmung der Gesamtheit schwer fällt. Es stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie beispielsweise der Rückgang im Bereich der Organisationen zu bewerten ist. Denkbar wäre nämlich auch, dass die rechte Szene sich als Reaktion auf massive repressive Maßnahmen derart dezentralisiert hat, dass sie zwar wesentlich schwerer zu identifizieren, aber dennoch nach wie vor in ähnlichem Ausmaß vorhanden ist. Der Verfassungsschutz (2013, S.63) geht hier von einem Trend zu „informellen Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung“ aus, bei denen vor allem das Internet genutzt wird. Ähnliches beschrieb Stöss bereits 1999, in dem er auf die Parole „Organisation durch Desorganisation“ verwies. Eine Dezentralisierung steht demnach zwar eigentlich konträr zu den in der Szene gängigen Prinzipien, ist aber von Nutzen, denn „wo keine erkennbare Organisation vorhanden ist, kann man diese auch nicht zerschlagen“ (Stöss 1999, S.95). Zu ähnlichen Ergebnissen sind Minkenberg u.a. (2006) mit ihrem Forschungsprojekt „Repression und Reaktion: Zur Wirkung von Repression auf rechtsradikale Gruppen“ gekommen. Sie fragten in ihrer Untersuchung danach, welche erwünschten aber auch unerwünschten Effekte staatliche Repressionen auf die rechte Szene hatten. Dazu untersuchten sie mittels Interviews, Beobachtungen und Gruppendiskussionen in den Regionen Berlin und Brandenburg beide Seiten der Interaktion. Sie kamen zu dem Schluss, dass es sich bei rechtsextremistischen Gruppierungen um „hochideologisierte Gesinnungsgemeinschaften“ handelt, die sich in einem dauerhaften „Kampf“ mit dem System befinden und Repressionen aus diesem Grund erwarten. „Aufgrund dieser Selbstwahrnehmung als altruistisch und opferbereite Akteure sind politisch motivierte Kriminelle weniger von Sanktionen zu beeindrucken als andere Delinquenten“ (Minkenberg u.a. 2006, S.191). So würden Strafen teilweise sogar als Auszeichnung uminterpretiert, zumal der Gruppenzusammenhalt stabilisierend wirkt und verhindert, dass der Täter sozial isoliert wird (z.B. durch die Unterstützung von zu Haftstrafen 11
Neumann/Frindte (2002, S.81) verweisen hierzu auf Interviewaussagen von Mitgliedern der Nationalen Alternative (NA): „[…] ‚es liegt nicht im Interesse von Leuten, die maßgeblich in der nationalsozialistischen Politik aktiv sind, solche Leute wie Skins über wahre Ursachen aufzuklären, sondern sie in ihrem Denkschema zu lassen.“
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verurteilten Straftätern durch die „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.“ (HNG)12 bzw. deren Folgeorganisationen). Im Jugendbereich kamen sie zu dem Ergebnis, dass erzieherische Maßnahmen nach dem Katalog des Jugendstrafrechtes weitgehend wirkungslos blieben. Sie bestätigen weiterhin einen durch die erfahrenen Repressionen ausgelösten Lerneffekt der Szene, da diese sich anpasst und zunehmend professionalisiert (vgl. Minkenberg u.a. 2006, S.191 u.197f.). Besonders gut kann man dies am Umgang mit verfassungsfeindlichen Symbolen verdeutlichen. So gibt es eine Reihe von Wortspielen oder Zahlencodes (z.B. die 88 für Heil Hitler – die 8 steht dabei für das „H“, also den achten Buchstaben im Alphabet), die zwar von allen Beteiligten durchschaut, gegen die aber strafrechtlich nichts unternommen werden kann. Die Studie kam weiterhin zu dem Ergebnis, dass vor allem die Führungskräfte nach dem Verbot einer Organisation politisch aktiv bleiben und sich in anderen rechtsextremistischen Zusammenhängen engagieren. „Ein Verbot schwächt die Szene, hat aber den paradoxen Effekt, dass die Führungskräfte mit ihrer Erfahrung und Kompetenz in andere Organisationen […] wandern und dort die Strukturen stärken“ (Minkenberg u.a. 2006, S.193). Allerdings stellen Minkenberg u.a. auch fest, dass es schwieriger ist, für eine besonders spezialisierte Organisation einen Ersatz zu schaffen. Die Autoren kritisieren die fehlende Evaluation der Wirkungen von repressiven Maßnahmen seitens der Politik sowie die mangelnde Kooperation zwischen Bund und Ländern bzw. von einheitlichen Konzepten. Aufgrund der hohen politischen Brisanz des Themas Rechtsextremismus gerade in Deutschland und damit verbunden auch dem außenpolitischen Druck werden Maßnahmen im Sinne von hektischem Aktionismus initiiert, und zwar meist nach spektakulären Taten, die die Regierung zu einer klaren Stellungnahme zwingen (vgl. Minkenberg u.a. 2006, S.191f.). Dies betrifft nicht zuletzt auch Projekte, die sich auf jugendlichen Rechtsextremismus beziehen und nicht nur auf repressive Maßnahmen abzielen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durch den Verfassungsschutz nur solche rechtsextremistischen Personen erfasst werden, die bereits Straftaten begangen haben oder bei denen mit der Realisierung einer Straftat zu rechnen ist. Die jährlichen Ergebnisse des Verfassungsschutzes unterscheiden sich daher auch von den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung in der Gesamtbevölkerung bzw. in einzelnen Bevölkerungsgruppen. Beide Erhebungsarten sind zum 12
Die HNG hatte ihren Sitz in Frankfurt a.M. und stellte mit ca. 600 Mitgliedern eine der größten Organisationen innerhalb der Neonazi-Szene Deutschlands dar. Sie wurde im September 2011 durch den Bundesminister des Innern verboten. Als Reaktion auf das Verbot wurden von der Szene neue Hilfsorganisationen für Inhaftierte gegründet, die sich in ihrer Aktivität stark auf das Internet stützen, so z.B. die „KiH“ (Kameraden in Haft“) und die „GH“ (GefangenenHilfe.info) (vgl. BMI 2013, S.75).
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Verständnis des Ausmaßes von (jugendlichem) Rechtsextremismus in Deutschland von Bedeutung, obwohl sie schwer miteinander verglichen werden können. Im Folgenden sollen nun Studien näher betrachtet werden, die sich mit rechten bzw. rechtsextremistischen Einstellungen und Verhaltensweisen im Jugendbereich beschäftigen. 2.2 Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen – Eine Zusammenschau bisheriger Befunde Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass vor allem Jugendliche (und junge Erwachsene) den „rechten Trend“ öffentlich tragen. Dies schlägt sich sowohl in den Mitgliederprofilen rechtsextremistischer Gruppierungen als auch im Bereich der Gewalttaten nieder. „Je radikaler und militanter sich Rechtsextremismus gebärdet, umso eher wird er von jungen Leuten ausagiert“ (Möller 2000, S.14). Dabei ist zu beachten, dass rechte und rechtsextremistische Einstellungen sehr wohl auch bei Älteren verbreitet sind, jüngere Altersgruppen aber eher dazu neigen, ihre Einstellung offen zur Schau zu tragen und/oder die Anwendung von Gewalt zu akzeptieren oder selbst auszuüben (vgl. Birsl 2011, S.246). Es ist also die Ausdrucksform, die den Eindruck vermittelt, dass Jugendliche im Zentrum rechtsextremistischer Potentiale stehen. So waren zur Zeit der massiven Gewalttaten zu Beginn der 1990er Jahre mehr als 75% der Tatverdächtigen im Bereich fremdenfeindlicher Gewalttaten 20 Jahre alt oder jünger (vgl. Willems 1993, S.110). Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Gewalttaten manchmal im Deckmantel des Rechtsextremismus erscheinen, es sich aber letztlich um „allgemeine“ Gewalttaten ohne ideologischen Hintergrund handelt. Mehrere für die vorliegende Untersuchung relevante Studien sind in dem Forschungszusammenhang um Wilhelm Heitmeyer entstanden, obwohl bei Heitmeyer selbst generell eher gesellschaftliche Desintegrationsprozesse und weniger familiale Zusammenhänge im Fokus standen. Allerdings hat Heitmeyer inzwischen im Rahmen seines Forschungsverbundes zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ eine Differenzierung und Erweiterung von feindselige Haltungen begünstigenden Desintegrationsprozessen vorgenommen und bezieht nunmehr verstärkt auch die Bedeutung sicherer emotionaler und sozialer Beziehungen auf der personalen Ebene mit ein. Zusammenfassend wird beim Bielefelder Desintegrationsansatz davon ausgegangen, dass ablehnende und feindliche Haltungen gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Gruppen mit dem Verlust von Sicherheit und der Zunahme von Ängsten wahrscheinlicher werden (vgl. Grau/Heitmeyer 2013, S.21; Pfeiffer 2013, S.55; Heitmeyer 2012). In einer Untersuchung zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit in ausgewählten
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Städten und Gemeinden (Grau/Heitmeyer 2013) wurde u.a. auch die Bereitschaft der Bevölkerung, sich gegen Rechtsextremismus zu engagieren, analysiert. Dabei wurde deutlich, dass Konzepte von Nöten sind, die die spezifischen lokalen Gegebenheiten berücksichtigen, da sowohl die Ausprägung und Gestalt rechtsextremistischer Zusammenhänge als auch die Gegebenheiten, Strukturen und auch Problemlagen der Städte/Gemeinden und der in ihnen lebenden Menschen vielfältig und nicht zu vereinheitlichen sind. Eine besonders breit rezipierte Untersuchung stellt die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie (Heitmeyer u.a. 1992) dar. Zwar stellt diese Untersuchung nur am Rande auf Familie ab, hat aber insgesamt einen wichtigen Stellenwert in der Rechtsextremismusforschung. In einer fünfjährigen Langzeitanalyse zur politischen Sozialisation wurden 31 männliche Jugendliche im Alter von 17-21 Jahren in jährlich wiederholten Interviews befragt. „Diese Untersuchung ist eine der wenigen bisher in der Bundesrepublik durchgeführten Längsschnittuntersuchungen und die erste, die sich in diesem Ausmaß als begleitende Prozessanalyse der Entwicklung von politischen Orientierungen vor dem Hintergrund von Arbeitserfahrungen und Milieuzugehörigkeiten widmet.“ (Heitmeyer u.a. 1992, S.5)
Die qualitativ ausgerichtete Studie knüpft damit an ein quantitatives Forschungsprojekt von 1985 an. Hier wurden 1357 Jugendliche im Alter von 16-17 Jahren bezüglich der Verbreitung von rechtsextremistischen Orientierungen standardisiert befragt. Daraus ergab sich, dass 43,5% der Befragten der Forderung „Deutschland den Deutschen“ zustimmten und 37,4% dem Item „Kanaken raus“. Demgegenüber stimmten den gleichen Items in der Shell-Jugendstudie von 1981, in der 351 Jugendliche befragt wurden, nur 36,2% bzw. 24,8% zu. Die Längsschnittuntersuchung hatte nun den Zweck, Verlaufsformen von Biografien und damit auch Prozessen der politischen Sozialisation nachzuspüren. Zwar berücksichtigt die Untersuchung somit auch Prozesse der Sozialisation im familiären Umfeld und den Peers, zentral wird jedoch auf Ausgrenzungsprozesse aus dem gesellschaftlichen System der Erwerbsarbeit fokussiert. Die politischen Orientierungen und Handlungsweisen der Jugendlichen wurden in den Kategorien Distanz, Ambivalenz und Akzeptanz bezüglich von Ideologien der Ungleichheit und/oder Gewaltakzeptanz zusammengefasst. Durch die Untersuchung von Heitmeyer wird bestätigt, dass rechtsextremistische Orientierungen meistens eher unauffällig in politische Orientierungen eingelagert sind und das Verhältnis der Jugendlichen zu entsprechenden rechtsextremistischen Organisationen eher distanziert ist. Die Hintergründe für rechtsextremistische Orientierungen sieht Heitmeyer (1992, S.16ff.) in mit gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen einhergehenden Individualisierungsschüben, die soziale, berufliche und politische Desintegrationsprozesse zur Folge haben. Diese rufen bei Jugendlichen
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Vereinzelungserfahrungen, Ohnmachtsgefühle und Handlungsunsicherheiten hervor, die sie für rechtsextremistische Orientierungen anfällig machen. Es mangelt vielen Jugendlichen demnach an einem festen und sicheren Halt, da traditionelle Bindungen immer mehr in der Auflösung begriffen sind. Eine – zumindest überwiegend – sichere Zukunft sowie „Normalität“ zu erreichen, ist für einen Großteil der Jugendlichen also heute nicht mehr selbstverständlich. Daraus ergeben sich verstärkte Zukunftsängste sowie die Suche nach Gewissheit und Sicherheit, die sich rechtsextremistische Konzepte zu Nutze machen. Breymann schlägt vor, rechtsextremistische Orientierungen in solchen Fällen eher im Sinne einer „spezifischen Gemütsverfassung“, denn als politische Überzeugung zu verstehen (Breymann 2001, S.120). Die Untersuchung von Heitmeyer ist jedoch nicht nur auf Zustimmung gestoßen. So kritisiert Butterwegge, dass Heitmeyers Konzept Willkür, Beliebigkeit und Unverbindlichkeit anhaftet, da nicht die Desintegrationserfahrungen und sozialen Integrationsprozesse an sich zu einer erhöhten Anfälligkeit für rechtsextremistisches Denken führen, sondern es auf die jeweilig subjektiv unterschiedliche Verarbeitung ankommt (vgl. Butterwegge 2000, S.26). Besonders drastisch drückt Breyvogel (1994, S.24) diese Kritik aus: „Polemisch formuliert, könnten Desintegration und ‚Paralyse’ genauso gut zur Erklärung jugendlicher Suizide, des Fahrverhaltens auf deutschen Autobahnen oder des vermehrten Wunsches nach Fernreisen im Urlaub herangezogen werden.“ Leiprecht (1992, S.69) verweist weiterhin auf die Gefahr der Mythologisierung von traditionellen Lebensweisen; Pfahl-Traughber (1994) bemängelt die verminderte Aussagekraft der Studie durch die Fokussierung auf männliche Jugendliche aus Arbeiterfamilien. Frindte u.a. (2002) sehen trotz aller Kritik einen großen Nutzen der Studie in ihrem gesellschaftskritischen Ansatz und der Entwicklung des Heitmeyerschen Rechtsextremismus-Begriffes. Verschiedene empirische Untersuchungen verweisen darauf, dass rechtsextremistische bzw. fremdenfeindliche Einstellungen stärker bei Jungen als bei Mädchen verbreitet sind (vgl. hier vor allem die SchülerInnenbefragungen von Krüger/Pfaff 2001; Grundmann/Pfaff 2000a; Helsper u.a. 2006 sowie Birsl 2011). Gravierend erscheint die geschlechtsspezifische Verteilung vor allem im Bereich rechtsextremer Gewalttaten. Rechtsextrem orientierte Mädchen stehen der Ausübung von Gewalt demnach deutlich ablehnender gegenüber als Jungen (Birsl 2011, S.258f.). Willems u.a. (1993, S.112) kamen nach der Analyse von polizeilichen Ermittlungsakten zu dem Ergebnis, dass 96,3% der fremdenfeindlichen Gewaltaktionen von Männern begangen wurden.13 13
Dazu ist anzumerken, dass Kriminalität generell und Gewaltkriminalität insbesondere nach wie vor männlich dominiert ist, auch wenn im Bereich der Gewaltdelikte über die Jahre ein Anstieg bei den weiblichen Tatverdächtigen zu verzeichnen ist. Im Jahr 2006 waren 75,9% der
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Weiterhin sind rechtsextremistische Einstellungen eher bei Haupt- und Realschülern zu finden als bei Gymnasiasten und treten fremdenfeindliche Einstellungen häufiger im Osten auf als im Westen (vgl. etwa Butterwegge/Lohmann 2001; Zick/Küpper 2016; Zick u.a. 2016; Helsper u.a. 2006; Sturzbecher/ Freytag 2000; Würtz 2000; Schubarth/Stöss 2001; Sturzbecher/Landua 2001). Bezüglich der Gewaltausübung und der Orientierung an rechten Parteien lassen sich jedoch keine massiven Unterschiede zwischen Ost und West aufzeigen (vgl. Heitmeyer u.a. 1995; Gille/Krüger 2000). Den Untersuchungen liegen jedoch ebenfalls verschiedene Definitionen der Begrifflichkeiten und Theoriebezüge zugrunde. Auch beziehen sie sich auf unterschiedliche Altersgruppen, fokussieren aber meistens auf eine Altersspanne zwischen 14 und 15 Jahren. Sturzbecher und Landua (2001) haben im Auftrag des Institutes für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung der Universität Potsdam landesrepräsentative Befragungen von Schülern und Auszubildenden über zehn Jahre hinweg in Brandenburg durchgeführt. Dazu erfolgte noch eine Intensivbefragung von Mitgliedern der rechten Szene. Der Fokus der Untersuchung lag dabei auf der Dynamik und den Entwicklungsverläufen rechtsextremer und fremdenfeindlicher Einstellungen im Jugendalter. In ihrer Untersuchung sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass der Anteil der Jugendlichen, die rechtsextreme Aussagen grundlegend ablehnen, seit 1993 beständig gestiegen ist. Demgegenüber verzeichnen sie allerdings eine höhere Verbreitung von ausländerfeindlichen Einstellungen, obwohl der Ausländeranteil in Brandenburg gering ist. Sie sprechen daher von einer „Verlagerung in die Mitte des Meinungsspektrums“ (Sturzbecher/Landua 2001, S.8). Sturzbecher und Landua vermuten aufgrund ihrer Ergebnisse weiterhin, dass „eine Befürwortung rechtsextremen Gedankenguts kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal der meisten sich rechtsextrem äußernden Jugendlichen darstellt und demzufolge auch nicht auf sehr stabilen politischen Überzeugungen beruht. Gerade unter hochrechtsextremen Jugendlichen lässt sich im Verlauf von zwei Jahren häufig eine drastische Abkehr von rechtsextremen Einstellungsmustern erkennen“ (ebd. S.9).
Allerdings ließe sich bei den hochrechtsextremen Jugendlichen eine höhere Gewaltbereitschaft feststellen als bei nichtrechtsextremen Jugendlichen. Ob die rechtsextremistische Einstellung jedoch zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führt, oder ob Jugendliche, die bereits eine erhöhte Gewaltbereitschaft zeigen, sich eher rechtsextremistischen Einstellungen zuwenden, bleibt offen. Bezüglich möglicher Hintergründe rechtsextremistischer Einstellungen kam die Studie zu Tatverdächtigen männlich und 24,1% weiblich (BKA 2006, S.31). Im Bereich der gefährlichen und schweren Körperverletzung stehen 86,2% männliche Tatverdächtige 13,8% weiblichen gegenüber.
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dem Ergebnis, dass rechtsextreme Jugendliche häufiger das Gefühl haben, keinen Einfluss auf wichtige Bereiche ihres Lebens nehmen zu können (vgl. hierzu auch Burkert 2012, S.184). Im Gegenzug verfügen sie aber über ein stärkeres Selbstvertrauen, zeigen ein hohes Machtstreben trotz Leistungsfeindlichkeit und blicken ihrer Zukunft bei gleichzeitig hoch gesetzten Ansprüchen optimistisch entgegen. Sie bevorzugen weiterhin ein ruhiges und risikoarmes Leben mit möglichst wenigen unerwarteten Veränderungen. Die in diesen Vorstellungen und Selbsteinschätzungen liegenden Widersprüche bergen vermutlich die Gefahr einer Enttäuschung der Ansprüche in sich, die möglicherweise eine verstärkte Hinwendung zu rechtsextremistischem Denken mit seinen einfachen Antworten und gelieferten Sündenböcken bewirken kann. Die Autoren warnen jedoch vor einer einseitigen Verknüpfung von Frustrationen und persönlicher Unzufriedenheit mit rechtsextremen und Gewalt befürwortenden Einstellungen. Im Hinblick auf familiale Zusammenhänge sowie die Zufriedenheit mit individuellen Lebensbedingungen kann die Studie kaum Unterschiede zwischen Extrem- und Mittelgruppen feststellen. Allerdings reagieren die Eltern von gewaltbereiten Jugendlichen eher mit Desinteresse auf die Gewalttätigkeit ihrer Kinder (Sturzbecher/Landua 2001, S.11ff.). Die landesrepräsentative Zeitreihenstudie wurde 2010 bereits zum siebten Mal durchgeführt, wobei ein rückläufiger Trend im Bereich der rechtsextremen und ausländerfeindlichen Einstellungen von Jugendlichen konstatiert werden konnte (vgl. Burkert 2012, S.187), eine Entwicklung die auch durch die Studie von Zick und Klein (2014) aus der Forschungsgruppe zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sowie von Heitmeyer u.a. (2011) bestätigt wird. Krüger/Pfaff (2001) stellten auf der Basis von drei thematisch breiter angelegten landesrepräsentativen Jugendsurveys mit 14- und 15-jährigen Schülern und Schülerinnen in Sachsen-Anhalt zwischen 1993 und 1997 einen Anstieg der Jugendlichen fest, die mit Skinheads zumindest sympathisieren. Die SchülerInnen, die sich tatsächlich in der Gruppe der Skinheads verorteten, gaben zu 90% an, rechts bzw. eher rechts zu sein. Von den Schülern, die sich zu den Skinheads zählten, waren 80% Jungen gegenüber nur 20% Mädchen. „Das insbesondere in der eher journalistischen Publizistik gezeichnete Bild von der Skinhead-Szene als einer primär unpolitischen Freizeit- und Spaßkultur“ (Krüger/ Pfaff 2001, S.16f.) kann durch diese Untersuchung also nicht bestätigt werden. Seit 1997 hat sich ein weitgehend stabiles Niveau gebildet. Weiterhin gaben über die Jahre hinweg konstant 10% der SchülerInnen an, sich häufiger an gewaltförmigen Aktionen zu beteiligen. Ein enormer Anstieg findet sich bei der Zustimmung zu dem Item „Es gibt zu viele Ausländer in Deutschland“. Hier wurde zwischen 1993 und 2000 ein Anstieg von 43% auf 73% gemessen (ebd. S.16f.).
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Eine Untersuchung von Fuchs u.a. (2003) stellt ebenfalls auf die Verbreitung des Rechtsextremismus unter Jugendlichen sowie zumindest zum Teil auf die Ermittlung von Ursachen ab. Unter Rechtsextremismus verstehen die Autoren eine Kombination der folgenden Merkmale: positive Haltung zum Nationalsozialismus, (pseudo-)rationale Fremdenfeindlichkeit, emotionale Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Antisemitismus, allgemeine Ideologie der Ungleichheit, Ethnozentrismus, Gewaltakzeptanz und Gewalttätigkeit (Fuchs u.a. 2003, S.296). Aus ihrer repräsentativen Stichprobe bayerischer SchülerInnen der Klassen 813 geht hervor, dass ein hoher Teil der SchülerInnen Gewalt ablehnend gegenüber steht. Die Befunde anderer Studien, nach denen Gewalt immer weniger eine Handlungsalternative darstellt, je höher die Schulbildung ist, können durch die Untersuchung bestätigt werden. Dies trifft insgesamt für alle Dimensionen des Rechtsextremismus zu. Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass Items mit eindeutig „rechten“ Inhalten deutlich weniger befürwortet werden als Items, die eher versteckte rechtsextremistische Einstellungen beinhalten. „Die Ergebnisse deuten insgesamt darauf hin, dass rechtsgerichtete Antworttendenzen besonders dann zu beobachten sind, wenn die Statements eher ökonomisch als kulturell ausgerichtet sind, v.a. aber gesellschaftlich anschlussfähig und nicht stigmatisierend scheinen“ (Fuchs u.a. 2003, S.299). Insgesamt stellen Fuchs u.a. fest, dass sich 93% der befragten Schüler/Innen von rechtsextremen Einstellungen distanzieren. 4,7% der Befragten dagegen weisen deutlich rechtsextreme Orientierungen auf. Ungefähr ein Drittel davon hat zusätzlich eine gewaltaffine Einstellung. Diese 1,6% der bayerischen Schüler können somit als „harter Kern“ betrachtet werden, da sie sowohl eine stark ausgeprägte rechtsextreme als auch eine Gewaltorientierung zeigen. Die männlichen Schüler bilden dabei den deutlich überwiegenden Teil. Die Ergebnisse aus dem Projekt „Politische Orientierungen von Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“ des Zentrums für Schul- und Bildungsforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg können Befunde von Jugendstudien aus den 1990er Jahren bestätigen, aus denen eine höhere Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit unter ostdeutschen Schülern hervorgeht (vgl. Helsper u.a. 2006). Das Projekt untersuchte rechtsorientierte Einstellungen von Jugendlichen im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen und knüpft dabei an modernisierungs- und sozialisationstheoretische Ansätze sowie die Theorie der Anerkennung an. Grundlage der Untersuchung ist weiterhin der Rechtsextremismus-Begriff von Heitmeyer. In die Untersuchung wurden insgesamt mehr als 4.700 Schülerinnen und Schüler zwischen 13 und 16 Jahren aus Regionen in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt einbezogen. Sie wurden in einem umfangreichen Fragebogen zu
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„schulbezogenen Einstellungen sowie zu ihren Anerkennungsbeziehungen in Schule, Familie und peers“ befragt (vgl. Helsper u.a. 2006, S.18f.). Die Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen unter Schülerinnen und Schülern ist den Ergebnissen der Studie nach in Sachsen-Anhalt leicht zurückgegangen, wobei ausländerfeindliche Haltungen in Sachsen-Anhalt allerdings deutlich stärker verbreitet sind als in Nordrhein-Westfalen. Vor allem positive Erfahrungen und Kontakte zu bzw. mit Ausländern tragen zu einer Verringerung fremdenfeindlicher Einstellungen bei, somit ist in Bezug auf fremdenfeindliche Einstellungen die Qualität der Kontakte von entscheidender Bedeutung (vgl. Fritzsche 2006, S.89 u. S.95f.). Bezüglich der Sympathie für rechte Parteien, Jugendkulturen und der Einstellung zu Gewalt gibt es kaum Unterschiede zwischen den SchülerInnen aus Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt. Etwa zwei Prozent begreifen sich als Mitglieder von Skinheads und Neonazis. Der Kreis der SchülerInnen, die mit diesen Gruppen sympathisieren, umfasst in Westdeutschland drei Prozent und in Ostdeutschland fünf Prozent (vgl. Pfaff 2006, S.144). Demgegenüber lehnt der weitaus überwiegende Teil der befragten Schülerinnen und Schüler in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt beide Gruppierungen ab (vgl. Pfaff/Krüger 2006, S.127f.). Insgesamt wurden an allen Schulen beider Bundesländer seltener körperliche Auseinandersetzungen beobachtet als Sachbeschädigung und verbale Gewalt (vgl. Pfaff/Fritzsche 2006, S.105f.). Dabei „erleben Angehörige rechter Protestszenen mehr Gewalt in ihren Freundesgruppen und zeigen mit Abstand die höchsten Werte in den Bereichen Gewalterfahrung, abweichendes Verhalten und gewaltförmiger Protest“ (Pfaff/Fritzsche 2006, S.111). Durch die Untersuchung wird ebenfalls, vor allem für Sachsen-Anhalt, die Abnahme von „rechten, gewaltaffinen und ethnozentrischen Orientierungen“ (Krüger u.a. 2003, S.813) mit steigendem Bildungsgrad bestätigt. Weiterhin schließen die Autoren aufgrund ihrer Ergebnisse, dass ein Zusammenhang zwischen negativen schulischen Anerkennungsbeziehungen und rechten Orientierungen bei Schülerinnen und Schülern besteht (vgl. Krüger u.a. 2003, S.813). Die Ergebnisse anderer Untersuchungen bezüglich des Verhältnisses von Jugend und Politik (Gille/Krüger 2000; Oesterreich 2002) konnten bestätigt werden, da die Untersuchung zu dem Schluss kam, dass „das Interesse an Politik bei Jugendlichen im Schulalter insgesamt noch recht gering und auch ihre Partizipationsbereitschaft, u.a. in den Gremien der Schule mitzuwirken, nur relativ gering ausgeprägt ist“ (Helsper/Krüger 2006, S.263). Die Schule habe im Hinblick auf die Entwicklung politischer Einstellungen zwar schon einen Einfluss, es sei aber von „kumulativen Effekten der politischen Sozialisation in Schule, Elternhaus und Freundeskreis auszugehen“, wobei vor allem die Mitgliedschaft in autoritär strukturierten Cliquen als wesentlicher Faktor für die Entwicklung einer rechten
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Einstellung gesehen wird (Helsper/Krüger 2006, S.265). Dabei stellt sich allerdings die Frage, aus welchen Gründen Jugendliche sich derart strukturierten Cliquen anschließen und ob diese Erklärung nicht zu kurz greift, da erst die Affinität zu autoritären Strukturen zu einem Anschluss an die entsprechende Gruppe führt und der Umgang in der Gruppe somit nicht mehr nur eine Ursache für die Herausbildung einer rechten Orientierung, sondern sozusagen auch eine Folge bereits anderweitig begründeter und vorausgegangener Entwicklungen ist. (Einen entsprechenden Zusammenhang zeigen im Fortgang des Kapitels referierte Studien auf.) Würtz (2000) führte in ihrer qualitativen Untersuchung über die Fremdenfeindlichkeit von Schülern 40 Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern sowie 13 Gruppendiskussionen mit Lehrerinnen und Lehrern in Ost- und Westdeutschland durch. Der Fokus lag dabei auf der Frage „nach den Entstehungsbedingungen und Risikofaktoren ethnischer Grenzziehungen und sozialer Distanzierungen zwischen Einheimischen und Fremden“ (Würtz 2000, S.129). Aus der Analyse der Schülergruppendiskussionen geht hervor, dass der Umgang mit Fremden zuerst durch Angst und Abwehr geprägt ist, fast alle Gruppen jedoch auch positive Aspekte von Fremdheit benennen sowie auch Neugier und Interesse zeigen. Weiterhin steigt der Grad der Abwehr mit einer subjektiv empfundenen Benachteiligung. Die Resultate, die Kontakte mit Fremden haben, sind unterschiedlich. Sowohl in Regionen, in denen kaum Ausländer leben, sind Ablehnung und Misstrauen stark verbreitet, als auch in sozial schwachen Regionen, in denen ein hoher Ausländeranteil lebt (vgl. Würtz 2000, S.183ff.). Von den ostdeutschen Lehrerinnen und Lehrern wird eine starke Polarisierung in linke und rechte Jugendliche wahrgenommen. Sie bemerken weiterhin eine Zunahme von ablehnenden Einstellungen gegenüber Fremden unter ihrer Schülerschaft. Den Ort der Entwicklung dieser Einstellungen sehen die Lehrerinnen und Lehrer jedoch hauptsächlich in Bereichen außerhalb der Schule, vor allem in den Peergroups. Die Einstellung gegenüber Fremden wird, so das Ergebnis der Studie insgesamt, durch die subjektive Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation bestimmt. Hierbei spielen Qualifikationsmöglichkeiten und Zukunftschancen eine gewichtige Rolle, wobei eine empfundene Schlechterstellung in verschiedenen Lebensbereichen zu einer verstärkten Ablehnung von Fremden führt (vgl. Würtz 2000, S.232ff.). Eine Studie, die allerdings ausschließlich auf den Straftatbereich fokussiert, ist die Analyse fremdenfeindlicher Gewalttäter von Willems u.a. von 1994. Es wurde versucht, eine vollständige Analyse der im Untersuchungszeitraum ermittelten fremdenfeindlichen Tatverdächtigen durchzuführen. Hauptgegenstand der Untersuchung waren die diesbezüglichen Ermittlungsakten. Willems u.a. kommen zu dem Ergebnis, dass besonders schwerwiegende und eskalierende
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Gewalttaten, die eine hohe Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen, eine „Verstetigung und Veralltäglichung der Eskalation über längere Zeit hinweg“ zur Folge haben. Dies erklären sie aus „veränderten ‚Erfolgserwartungen‘ für gewalttätiges und fremdenfeindliches Handeln aufgrund ‚erfolgreicher’ Vorgänger“ und durch „reduzierte Sanktionserwartungen aufgrund staatlicher Unterreaktionen“ (Willems u.a. 1994, S.17, hervorgeh. im Original). Es wird in den Akten zwischen fremdenfeindlichen und rechtsextremistischen Straftaten unterschieden, wobei es zum Untersuchungszeitpunkt diesbezüglich noch keine eindeutig festgelegten Erfassungskriterien gab.14 Willems u.a. (1994) kommen zu dem Ergebnis, dass fremdenfeindliche Straftaten überwiegend von Jugendlichen und jungen Erwachsenen begangen werden. Bezüglich der Geschlechtsspezifik ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei der allgemeinen Jugenddelinquenz und besonders der Jugendgewalt. Demnach sind es hauptsächlich männliche Jugendliche, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, wohingegen weibliche Jugendliche vor allem im Gewaltbereich eher selten auffallen. Die Mehrzahl der fremdenfeindlichen Gewalttaten erfolgen aufgrund spontaner Entscheidungen und infolge situativer Eskalationen und sind kaum geplant oder vorbereitet. Viele Täter sind alkoholisiert. Weiterhin handelt es sich meist um Gruppendelikte, wobei relativ wenige Tatverdächtige rechtsextremistischen Organisationen zuzurechnen sind. Die Gewalt geht also in erster Linie nicht von organisierten rechtsextremistischen, sondern eher von unorganisierten informellen Gruppen gewaltbereiter und fremdenfeindlicher Jugendlicher aus (vgl. Willems u.a. 1994, S.24ff. u. 42ff.). Bergmann/Döring (2006), die sich mit so genannten „Angstzonen“ oder „national befreiten Zonen“ in den neuen Bundesländern beschäftigten und in diesem Zusammenhang vier Städte (u.a. in Sachsen-Anhalt), in denen einzelne Stadtteile durch die Medien oder Interviewpartner als rechtsdominiert beschrieben wurden, untersuchten, kamen zu dem Ergebnis, dass befragte Polizeibeamte und Sozialarbeiter gewalttätige Handlungen nicht selten als jugendtypische und unpolitische Auseinandersetzungen wahrnehmen, die hauptsächlich auf Rivalitäten zwischen Jugendcliquen oder persönliche Abneigungen zurückzuführen sind. Dieser Einschätzung wurde von den befragten Opfern rechter Gewalt widersprochen, die den Übergriff eindeutig auf ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Nationalität zurückführten und sich durch die in ihren Augen stattfindende Bagatellisierung des Vorfalls als jugendtypische Auseinandersetzung nicht ernst genommen fühlten. Die Autoren kritisieren weiterhin, dass einige Sozialarbeiter und Polizisten positive Eigenschaften (z.B.: Ordnung, Kooperationsbereitschaft 14
Die Autoren kritisieren, dass auch Straftaten gegen Ausländer und Asylbewerber etc. in die Statistik aufgenommen wurden, bei denen keine fremdenfeindlichen oder rechtsextremen Tatmotive gefunden werden konnten (vgl. Willems u.a. 1994, S.8f.).
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und Disziplin) von rechten Jugendlichen im Vergleich zu Angehörigen von anderen Jugendkulturen betonen, die eher respektlos und konfrontativ agieren (vgl. Bergmann/Döring 2006, S.244f.). Hier stellt sich die Frage, ob die Wahrnehmung von positiven Eigenschaften nur kritikwürdig ist oder nicht auch gewinnbringend innerhalb der sozialpädagogischen Intervention eingesetzt werden könnte, in dem man z.B. gegenüber dem Jugendlichen gerade diese Eigenschaften im Sinne einer positiven Bestärkung hervorhebt, während man sich gleichzeitig deutlich von der rechten Orientierung distanziert. Auch diese Autoren kritisieren ähnlich wie Minkenberg u.a. (2006) das Fehlen einer weitgehend einheitlichen Strategie im Umgang mit jugendlichem Rechtsextremismus, da die untersuchten Strukturen in den sogenannten „Angstzonen“ recht widersprüchlich und schwankend waren. So verweigerten einige Akteure in ihren Regionen die Vergabe von festen Räumen an rechte Jugendliche, während andere sich bereitwillig auf einen Dialog einließen und Räume zur Verfügung stellten, um die Jugendlichen so wenigstens zum Teil noch unter Kontrolle zu haben. Die Verweigerung von Räumen wurde vor allen von den Sozialarbeitern respektive Streetworkern bemängelt, da sich der Zugang zu ihrer Klientel erschwerte (vgl. Bergmann/Döring 2006, S.244f.). Zur Rolle von Mädchen ergab die Studie, dass in den Untersuchungsräumen keine Leitungsfunktion von einer weiblichen Person besetzt wurde. Weiterhin „beteiligen sich Mädchen und junge Frauen wesentlich seltener an rechtsmotivierten körperlichen Attacken gegen andere als jugendliche oder heranwachsende Männer, aber im Tatvorlauf können sie einen bedeutenden inszenatorischen Part übernehmen und sich aktiv an der Einleitung von Angriffen beteiligen. Gerade die Kenntnis geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen ermöglicht Frauen eine kaum als solche wahrgenommene Vorbereitung von Gewaltaktivitäten seitens ihrer Kameraden“ (Bergmann/Döring 2006, S.244). Deutlich geringer ist somit der wahrnehmbare Anteil an rechtsextremen Handlungen. Ein wesentlicher Punkt, der auch die im vorigen Unterkapitel bereits beschriebene Entwicklung aufgreift, ist der Rückgang der „sichtbaren Präsenz“ rechter oder rechtsextremistischer Gruppierungen, wodurch die Intervention deutlich erschwert wird (vgl. Bergmann/Döring 2006). Repressive und deutlich ausgrenzende Maßnahmen bergen im Jugendbereich daher nicht nur die Gefahr, Jugendliche weiter in die Szene zu treiben, da sie der Ort ist, an dem sie noch Anerkennung und Akzeptanz erfahren, sondern auch die, den Zugang zu den entsprechenden Cliquen und Gruppierungen und damit auch den Überblick über die Entwicklungen zu verlieren.
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2.3 Die Suche nach den Ursachen für die Genese rechtsextremistischer Orientierungen unter besonderer Berücksichtigung der Familie als Gegenstand der Forschung In der Forschung werden bei der Suche nach den Ursachen für Rechtsextremismus im Jugendalter neben soziodemographischen, sozialstrukturellen und ökonomischen Bedingungen des Aufwachsens verstärkt die Sozialisationsinstanzen Familie, Schule und Peers in den Blick genommen (vgl. zusammenfassend Stöss 2005). Vor allem die Forschung zu Peerzusammenhängen ist im Zuge der stärkeren Thematisierung der Gleichaltrigengruppe als Sozialisationsraum im Jugendalter vermehrt ins Zentrum der Betrachtungen gerückt (z.B. Möller 2000; Groffmann 2001; Jansen/Hafeneger 2001; Borrmann 2005). Es gibt inzwischen eine Vielzahl quantitativer und qualitativer Untersuchungen, die sich mit Hintergründen für die Entwicklung von rechtsextremistischen Orientierungen befassen. Allerdings gibt es bislang keine Ergebnisse, die einen zwangsläufigen Zusammenhang von bestimmten Faktoren mit der Genese einer rechtsextremistischen Einstellung herstellen können (vgl. u.a. Fuchs et al. 2003). Auch Melzer und Rostampour (2002) äußern sich diesbezüglich kritisch. Sie sehen zwar beachtliche Fortschritte bei der Analyse des Phänomens Rechtsextremismus, aber wesentlich geringere, wenn es um die Ursachen geht. Sie unterscheiden drei große Theoriekomplexe bezüglich der Erforschung der Ursachen von Rechtsextremismus: Autoritarismusforschung, Modernisierungs- und Deprivationstheorien. Diesen Ansätzen schreiben sie jedoch einzeln nur einen geringen Erklärungswert zu und miteinander in Verbindung gesetzt immer noch keinen sehr hohen. Sämtliche mögliche Ursachen für Rechtsextremismus sind daher eben genau das – nämlich mögliche Ursachen. Damit ergibt sich das gleiche Problem wie in der Forschung zu Ursachen von jugendlicher Delinquenz. Nichtsdestotrotz wäre ohne die Aufdeckung eben jener möglichen Zusammenhänge kaum eine nähere Bestimmung der Problematik und daraus ableitend einer gezielten Prävention und Intervention möglich. Allerdings muss bei der Herstellung von Zusammenhängen zwischen bestimmten Lebensumständen sowie Problemlagen und Rechtsextremismus gerade in Bezug auf Jugendliche mit Bedacht vorgegangen werden, um vorschnelle Stigmatisierungen zu vermeiden. Wenn bestimmte Faktoren bei einigen Jugendlichen dazu beitragen, dass sie eine rechtsextremistische Orientierung entwickeln und bei anderen nicht, liegt weiterhin der Schluss nahe, dass die subjektive Verarbeitung von Ereignissen, Erlebnissen, Umständen, etc. des Einzelnen eine zentrale Rolle spielt. An der Entwicklung von sozialen Handlungs-, Verarbeitungs- und Bewältigungskompetenzen hat die Familie als primäre Sozialisationsinstanz einen entscheidenden Anteil. Diese Kompetenzen werden darüber hinaus von ihr als
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Verarbeitungsinstanz auch gefordert. Im Folgenden wird daher mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung insbesondere auf solche Studien rekurriert, die sich (zumindest in Teilen) mit der Bedeutung der Familie für die Genese rechtsextremer Orientierungen befassen. Verschiedene Untersuchungen konnten Zusammenhänge zwischen dem Einfluss der Eltern und Rechtsextremismus bei Jugendlichen herstellen. So haben die politischen Ansichten der Eltern auch einen Einfluss auf die Entwicklung von politischen Einstellungen ihrer Kinder (vgl. Wagner-Winterhager 1983; Bohleber 1994; Fend 1994). Dies, so konstatiert Rieker (1997), sei aber nur bei positiven Familienbeziehungen der Fall. Auch Bock (2000) kann einen engen Zusammenhang von politischen Sozialisationsprozessen mit Erlebnissen in der Herkunftsfamilie nachweisen. In einer Untersuchung zum Umgang von PolitiklehrerInnen mit rechts(extrem) orientierten Jugendlichen im Unterricht, erwiesen sich Strategien gegen die rechts(extreme) Einstellung aus der Sicht von LehrerInnen dann als besonders schwierig, wenn die Einstellung von der Familie des Schülers bzw. der Schülerin geteilt wurden (vgl. Behrens 2014). Wellmer (1994; 1998) kommt zu dem Ergebnis, dass der Einfluss der Eltern stärker ist als der anderer Faktoren. Etliche Autoren sehen in einem negativen Familienklima Ursachen für die Hinwendung von Jugendlichen zu rechtsextremistischen Orientierungen (vgl. etwa Heitmeyer/Müller 1995; Heitmeyer u.a. 1995; Clemenz 1998; König 1998; Utzmann-Krombholz 1994; Bohnsack u.a. 1995). Diesbezüglich wurden vor allem mangelnde Zuwendung, fehlende Aufmerksamkeit und Gleichgültigkeit der Eltern gegenüber ihren Kindern als negative Faktoren genannt. Mehrere quantitative und qualitative Studien weisen übereinstimmend darauf hin, dass ein positives Familienklima, liebevolle Zuwendung, Anerkennung und emotionale Nähe einer Hinwendung der Jugendlichen zu rechtsextremen Orientierungen entgegenwirkt (vgl. Butz/Boehnke 1997; Heitmeyer/Müller 1995; Kracke u.a. 1993; Fend 1994; Hopf u.a. 1995). Die Forschungsgemeinschaft für Konflikt- und Sozialstudien kommt aufgrund ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass „Schüler und Schülerinnen, die für sich das politische Prädikat ‚Rechts‘ wählen, in beachtlichem Umfang Konflikte mit ihren Eltern markieren“ (Chrapa 2000, S.3). Die Familie fand in der Rechtsextremismusforschung allerdings erst relativ spät Beachtung. Eine der wenigen qualitativen Studien, die sich ausdrücklich mit dem Zusammenhang von Familie, Jugend und Rechtsextremismus beschäftigen, ist die Untersuchung von Hopf u.a. (1995), die allerdings auf männliche Jugendliche beschränkt ist. Es wurden 25 junge Männer zwischen 17 und 25 Jahren befragt. Die Autoren orientieren sich am Konzept der „Authoritarian Personality“ (Adorno 1973) und stellen die Bedeutung von Sozialisations- und
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Beziehungserfahrungen in der Familie für die Entwicklung von rechten Einstellungen ins Zentrum ihrer Untersuchung. Es wurden sowohl die familialen Erfahrungen der Jugendlichen als auch der subjektive Umgang mit eben diesen Erfahrungen analysiert. Dabei fokussieren Hopf u.a. aber zum einen stark auf frühkindliche Erfahrungen der Jugendlichen und rücken zum anderen die MutterKind-Beziehung in den Vordergrund, während die Beziehung zum Vater vernachlässigt wird. Auch bleibt die Untersuchung auf familiale Entstehungszusammenhänge beschränkt und fragt nicht danach, wie in der Familie mit bereits entwickelten rechtsextremistischen Einstellungen von Jugendlichen umgegangen wird. Ziel der Untersuchung war es, über die Interviews herauszufinden, „ob und wie es zu einer inneren Anerkennung elementarer moralischer Normen gekommen ist, also dazu, des anderen Gewissen in sich selbst anzuerkennen“ (Funke 2000, S.68). Hopf u.a. (1995) kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass problematische Erfahrungen in der Kindheit (Nichtbeachtung, geringe emotionale Zuwendung, Toleranz von Aggressivität durch die Eltern, etc.) in Verbindung mit anderen negativen Faktoren zur Genese von rechtsextremistischen Einstellungen beitragen können. Kinder, die in einem solchen Familienklima aufwachsen, entwickeln unter Umständen autoritäre Aggressionen und reagieren wenig empathisch auf andere. Darüber hinaus kann ein geringerer Grad der Verinnerlichung von sozialen Normen die Folge sein. Die in der Eltern-Kind-Beziehung erlebten Ohnmachtsgefühle und unterdrückten Aggressionen verschieben sich dann auf ein geeignetes Feindbild. Becker legte 2008 eine Untersuchung vor, die sich explizit mit der Frage nach der möglichen Funktion der Familie bei der Entwicklung aber auch Überwindung rechtsextremistischer Einstellungen beschäftigte, wobei der Stellenwert der Familie, Beziehungsmuster sowie mögliche Interventions- und Sanktionsformen im Fokus lagen. Dazu wurden Jugendliche und Eltern mittels narrativen bzw. problemzentrierten Interviews befragt und sollten sich u.a. auf einer politischen Skala zwischen 1 (extrem links) und 10 (extrem rechts) verorten. Es erfolgte eine deskriptive Auswertung, in Form einer Aneinanderreihung der Beschreibungen von Aussagen einzelner Interviewpartner, die unter den jeweiligen Auswertungskategorien (bspw. „Politische Orientierungsmuster der Eltern“ oder „ElternKind-Beziehung“) subsumiert werden. Abschließend erfolgt eine Kategoriebildung bzw. Typisierung bestimmter aufgefundener Merkmale in Strichlistenform. Dabei erscheint der Ergebnisteil der Studie problematisch, weil zum einen die Fallzahl zu klein für eine quasi quantitative Auswertung ist und die erhobenen Fälle zweitens auch schwer vergleichbar sind. Es wurden insgesamt elf Jugendliche befragt, wobei es sich um neun Jungen und zwei Mädchen handelte, aus dieser Gruppe zwei Interviews mit jeweils einer Mutter und einem Vater geführt
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sowie zusätzlich noch drei Interviews mit Müttern/Vätern bzw. Eltern von rechtsextremen Jugendlichen erhoben, deren Kinder sich jedoch nicht an der Untersuchung beteiligten. Auf die Erstellung von Fallportraits bzw. Fallrekonstruktionen wurde verzichtet, so dass einzelne Aussagen nur schwer nachvollzogen werden können. Zschach (2016, S.147) kritisiert an derartigen Studien, dass „analog zu einer quantitativen Forschungslogik […] die Interpretation des erhobenen Materials als eine Ergebnisschau von vorangegangenen Systematisierungsverfahren betrachtet“ wird. Die von Becker (2008) befragten Eltern berichteten von Gefühlen der Hilflosigkeit und Problemen bei der Organisation von professioneller Unterstützung. Im Spannungsfeld zwischen der Ablehnung der rechtsextremistischen Einstellung des Jugendlichen und der elterlichen Liebe zum eigenen Kind wurden Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit sichtbar, die auch mit der Angst vor Schuldzuweisungen und Stigmatisierung durch das Umfeld verbunden war. Erst nach und nach wurde den befragten Eltern bewusst, dass ihr Kind sich in der rechtsextremistischen Szene bewegt (ebd. S.301ff. u. S.358ff.). Die Eltern nahmen teilweise bei ihren Kindern wahr, dass deren rechtsextremistisches Verhalten deutlich ausgeprägter anmutete, als die von ihnen zum Ausdruck gebrachte Einstellung (ebd. S.322f.). Insgesamt hält Becker die Qualität der Eltern-KindBeziehung für das entscheidende Kriterium bei der Frage, ob elterliche Interventionen erfolgreich sind oder nicht. Massive Interventionen durch Instanzen der sozialen Kontrolle sieht er in Bezug auf eine mögliche Verfestigung der rechtsextremistischen Einstellung bzw. Zugehörigkeit als eher kontraproduktiv an, da sie oft zu einer verstärkten Hinwendung zur Szene als Halt und Ort der Anerkennung führen würden (ebd., S.359). Möller (2000) stellt in seiner qualitativen Längsschnittstudie über Entstehungs- und biografische Verlaufsbedingungen von Rechtsextremismus bei Jugendlichen unter anderem auf familiale Zusammenhänge ab, obwohl sie nicht im Zentrum der Untersuchung stehen. Insgesamt wurden 20 Mädchen und 20 Jungen von ihrem 12. bis zu ihrem 15. Lebensjahr im Abstand von einem Jahr dreimal mittels problemzentrierter Interviews befragt und das Material in Anlehnung an Mayring (1993) interpretiert. Damit wurden Mädchen und Jungen gleichermaßen in die Untersuchung einbezogen, was aufgrund der männlichen Dominanz im Bereich rechtsextremistischer Gewalttaten sowie bei der Zugehörigkeit zu rechten Gruppierungen eher selten ist. Möller orientiert sich in seiner Studie weitgehend am Rechtsextremismus-Begriff von Heitmeyer, geht also auch von einer Verknüpfung von einer Ideologie der Ungleichheit mit Gewaltakzeptanz aus. Ziel der Untersuchung war die Klärung der Frage „wie sich Entstehungs- und Verlaufsbedingungen von rechtsextremen Orientierungen im biographischen
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Verlauf des Jugendalters im Spiegel der Auswertungen subjektiver Deutungen von Jugendlichen darstellen und welche Besonderheiten diesbezüglich für die politisch-sozialen Erfahrungen in der frühen Jugendphase und die geschlechtsspezifischen Anfälligkeitskonstellationen gelten“ (Möller 2000, S.59). Es wurden dabei nicht nur Entstehungsbedingungen von rechtsextremistischen Orientierungen in den Blick genommen, sondern auch Distanzierungsprozesse. Die Studie hat zur Autoritarismusforschung, die die frühe Kindheit als entscheidende Phase für die Entstehung von Dispositionen betrachtet, die später zu rechtsextremistischen Orientierungen führen können, gegenteilige Befunde erbracht. So liegt der entscheidende Zeitpunkt eher in der Frühadoleszenz, wobei auch außerfamiliale Kontexte und die Peergroups eine bezeichnende Rolle spielen. Die in der Autoritarismusforschung außerordentlich stark betonte Bedeutung der Mutter in diesem Zusammenhang konnte empirisch nicht bestätigt werden. Vielmehr hat auch die Beziehung zum Vater (vor allem bei Jungen) eine entscheidende Bedeutung. Auch die Annahme von „autoritärer Unterwürfigkeit“, also ein Denken „in Kategorien von Führer und Gefolgschaft“, konnte bei den befragten Jugendlichen nicht festgestellt werden (Möller 2000, S.314f.). Ebenso konnten alltagstheoretische Deutungen, nach denen rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen intellektuelle Defizite unterstellt werden, nicht bestätigt werden. Zumindest zum Teil konnten krisentheoretische Deutungsmuster wiedergefunden werden, die die Übernahme von rechtsextremistischen Orientierungen vor dem Hintergrund von Identitätskrisen und damit in ihrer Funktion zur Identitätsbildung begreifen. Möller (2000) kommt weiter zu dem Ergebnis, dass es nicht die jeweiligen objektiven Gegebenheiten sind, die rechtsextremistische Einstellungen begünstigen, sondern vielmehr subjektive Gefühle der sozialen Benachteiligung und Ausgrenzung. Bestätigt wird die Relevanz des „familialen Sozialisationsklimas im allgemeinen und des Verhältnisses zu den Eltern im besonderen“ (Möller 2000, S.318). Als von noch höherem Einfluss als die Familie zeigen sich jedoch die Beziehungen in den Peers. Als entscheidende Faktoren zur Distanzierung von rechtsextremistischen Orientierungen werden Identitätssicherheit und Autonomieempfinden beschrieben. Von der Gruppe um Heitmeyer (1994, S.47) gefundene Zusammenhänge mit Desintegrationserfahrungen, wie die „Umformung von erfahrener Handlungsunsicherheit in Gewissheitssuche“, „von Ohnmachtserfahrungen in Gewaltakzeptanz“ und von „Vereinzelungserfahrungen in die Suche nach leistungsunabhängigen Zugehörigkeitsmöglichkeiten“ konnten bestätigt werden. Dies trifft ebenfalls auf die „Nachrangigkeit der ideologischen Fundierung rechtsextremer Auffassungen gegenüber der Prävalenz von Gewaltakzeptanz“ zu (Möller 2000, S.320). Allerdings hat die sozio-emotionale Qualität von Beziehungen innerhalb des sozialen Umfelds eine höhere Bedeutung als „formal-strukturelle Formen der
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Desintegration“ (Möller 2000, S.320). Bezüglich der Geschlechterspezifik kommt Möller zu dem Ergebnis, dass Mädchen weitaus weniger in „ethnisierte Territorialkonflikte“ involviert sind als Jungen und ihre „ethnisierenden Ungleichheitsvorstellungen“ häufig auf negative Erfahrungen im Sinne von sexueller Belästigung und „sexualisierter Gewalt durch ‚Ausländer’“ zurückführen (Möller 2000, S.343). Eine Studie zu Ein- und Ausstiegsprozessen von Skinheads stammt ebenfalls aus dem Zusammenhang um Kurt Möller (2006; 2007) und dem Rahmen des Forschungsverbundes „Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationsprozessen einer modernen Gesellschaft“ unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer. Die zentrale Fragestellung der Untersuchung bezieht sich zusammenfassend darauf, wie sich Affinitäten zu rechtsextremen Orientierungen im Jugendalter aufbauen und was letztlich zu einer Distanzierung von selbigen führt, wobei speziell die Rolle der Skinheadkultur berücksichtigt wird. In die qualitative Längsschnittstudie wurden 40 ost- und westdeutsche Jugendliche bzw. junge Erwachsene zwischen 14 und 27 Jahren einbezogen, wobei 20% der Probanden Mädchen sind. Hinsichtlich des Einstiegs kommen Möller u.a. (2006) zu dem Ergebnis, dass es keine Wirkfaktoren gibt, die eine Hinwendung zur rechten Szene zwangsläufig werden lassen, sondern es stattdessen „eine Vielgestaltigkeit an Mustern“ gibt, „die auf ein spezifisches Zusammenwirken von verschiedenen Einflüssen hinweisen“ (ebd. S.455). Bezüglich der Lebenslagen der Jugendlichen konnte keine gravierende ökonomische Deprivation festgestellt werden. Zum Zeitpunkt des Einstiegs sind die meisten Jugendlichen noch Schüler, haben jedoch mehr oder weniger schwerwiegende Schulprobleme, die durch die Hinwendung zur rechten Szene noch zunehmen und sind selten in Jugendclubs oder Sportvereinen integriert. Möller u.a. führen aus, dass, da objektive Lebensumstände keine ursächlichen Erklärungen für die Hinwendung zu rechten Einstellungen liefern, es die subjektive Wahrnehmung bzw. Verarbeitung derselben sein muss, die eine Rolle spielt. Für besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang wird hier die Familie gesehen. Bei der Untersuchung des Familienklimas und der elterlichen Reaktion auf die rechte Einstellung der Jugendlichen wurden vier Muster unterschieden: a)
relatives Desinteresse seitens der Eltern, wobei die Einstellung zum Teil geteilt wird, b) „mangelnde elterliche Durchsetzungsfähigkeit“, c) „kulturelle Konflikte bei politischer Toleranz“, d) dauerhafte Konflikte innerhalb der Familie (Möller u.a. 2006, S.467).
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Die Familienbeziehungen wurden insgesamt von den Jugendlichen zunächst als sehr positiv und konfliktfrei beschrieben, obwohl dies, wie im Weiteren erkennbar wurde, oft nicht den Tatsachen entsprach. Weiterhin fanden sich in den Biografien der Jugendlichen massive biografische Brüche. In Bezug auf die Distanzierung von der rechten Szene wurde herausgefunden, dass jugendliche Aussteiger zu einem größeren Teil aus Familien stammen, die ihrer Orientierung ablehnend gegenüber stehen und dies auch deutlich artikulieren. Die Entscheidung für den Ausstieg wird durch positive Rückmeldungen seitens der Eltern stabilisiert. Insgesamt wird die Distanzierung jedoch nicht von einzelnen Ereignissen ausgelöst, sondern resultiert vielmehr aus dem Zusammenwirken verschiedener Einflüsse. Möller u.a. (2006) kommen dabei zu einem anderen Ergebnis als Minkenberg u.a. (2006), die staatlichen Sanktionen kaum eine Wirkung bescheinigen.15 Demnach spielen negative Sanktionen eine nicht unwesentliche Rolle. „Sie scheinen jedoch erst dann ihre Wirkung entfalten zu können, wenn vorgängige Irritationen und Zweifel die Bereitschaft, strafrechtliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen, bereits haben sinken lassen. Solche Irritationen können sich direkt im Binnenraum der Szene speisen, sie können aber auch aus anderen Orts gemachten Integrationserfahrungen resultieren“ (Möller u.a. 2006, S.473). Ähnlich sieht das auch Rommelspacher (2006, S.204), die in ihrer Analyse von Ein- und Ausstiegsprozessen von Skinheads darauf hinweist, dass die Wirkung von Haftstrafen sehr unterschiedlich ausfallen kann und ihre Wirksamkeit besonders dann zu erwarten ist, wenn innere Zweifel an und Enttäuschungen über die Szene bereits vorhanden sind. Der Aspekt der Gewalt nimmt im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Orientierungen einen besonderen Stellenwert ein und steht daher auch bei etlichen Untersuchungen mehr oder weniger im Fokus. Köttig (2004) liefert eine der wenigen Untersuchungen, die sich auf die Biografien rechtsextremistisch orientierter Mädchen bzw. junger Frauen und ihre familialen Hintergründe konzentrieren. Erhoben wurden insgesamt 32 Interviews mit Mädchen bzw. jungen Frauen zwischen 13 und 22 Jahren, wovon drei Fälle ausführlich biografisch rekonstruiert wurden. Die Mädchen erlebten in ihrer Herkunftsfamilie entweder traumatische Situationen oder/und ihre Beziehungen zu den Eltern waren ausgesprochen ambivalent. Der Anschluss an die rechte Szene erfolgte im Zuge des altersbedingten Ablöseprozesses als Reaktion auf destruktive familiale Beziehungen und als Versuch, sich von den Eltern zu emanzipieren, wobei die rechte Szene „zur stellvertretenden Bearbeitung oder der Reinszenierung von verletzenden Erfahrungen, die die Mädchen und jungen Frauen im 15
Dies ist vermutlich auf eine differenziertere Betrachtungsweise bei der Studie von Möller u.a. zurückzuführen.
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Verlauf ihrer Kindheit und Jugend in ihren Familien machen mussten“, diente (ebd., S.331). Durch diese letztlich dysfunktionalen Bewältigungsversuche gelang keine befriedigende Aufarbeitung oder Loslösung aus den belastenden Zusammenhängen, so dass die Mädchen/jungen Frauen letztlich in den familialen Verstrickungen verhaftet blieben. Aus der Sichtung der gesamten Interviews ging weiterhin hervor, dass die Mädchen/jungen Frauen sich eindeutig rechtsextremistisch äußerten, in verschiedenster Weise gegen das Gesetz verstießen und sich auch erheblich gewalttätig verhielten, jedoch bis auf Ausnahmen keine strafrechtlichen Konsequenzen folgten. Köttig wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob hierfür u.a. auch eine geschlechterrollenstereotype Wahrnehmung seitens Polizei und Justiz ursächlich sein könnte, die den Anteil weiblicher Beteiligung an rechtsextremistisch orientierten Straftaten nicht erkennen lässt. Interessant in Bezug auf eigene familiale Gewalterfahrungen der Mädchen sind die Erkenntnisse über den Umgang mit bzw. die Ausübung von Gewalt. So agieren die jungen Frauen nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber durch selbstverletzendes Verhalten gewalttätig, teilweise werden erlebte Gewalterfahrungen auf destruktive Weise wiederholt (z.B. durch die Wahl gewalttätiger Partner oder in dem sich die Mädchen innerhalb der Szene durch ihr Auftreten selbst massiv in Gefahr bringen) (ebd., S.341ff.). Ebenfalls von Heitmeyer stammt eine Untersuchung fremdenfeindlicher junger Gewalttäter, die quantitative und qualitative Verfahren verknüpft (Heitmeyer/Müller 1995). Zunächst wurden die im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts erhobenen Daten von 3500 Jugendlichen zwischen 15 und 21 Jahren bezüglich der Einstellungen zu Gewalt ausgewertet. Die Autoren zeichnen aufgrund ihrer Ergebnisse ein düsteres Bild, wonach gewaltbilligende bzw. gewaltbereite Einstellungen und auch gewalttätige Handlungen unter Jugendlichen in einem solchen Ausmaß zu finden sind, dass rechtsextremistische Gewalttaten quasi nur die Spitze eines Eisberges einer unter Jugendlichen „weit verbreiteten Gefühls- und Einstellungslage“ sind, „in der Gewalt offenbar zunehmend als normal und notwendig angesehen wird“ (ebd., S.40). Der Einstieg in die rechte Szene erfolgt demnach weniger aufgrund der „Attraktivität von Parolen, die eine Ideologie der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit betonen, um diese mit Gewalt durchzusetzen“, sondern es liegt zunächst eine „individuelle Gewaltakzeptanz“ vor, die dann „politisch legitimiert wird“ (ebd., S.14). Im zweiten Teil der Studie wurden 48 problemzentrierte Interviews mit Jugendlichen erhoben, deren Gewaltdelikte als politisch rechts motivierte Kriminalität eingestuft waren. Dabei wurde zusätzlich noch ein standardisierter Fragebogen eingesetzt, um Kontextdaten bereits im Vorfeld zu erfassen. Im Ergebnis konnten die untersuchten Jugendlichen hinsichtlich ihrer „Verhaltenspräferenzen im Tat-Kontext“ in die fünf Gruppen „Überzeugte“ (klar umrissene politische Vorstellungen),
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„Mitläufer (diffuses politisches Weltbild, Unzufriedenheit, Enttäuschung, Wut, Neid und Angst), „Cliquenzentrierte“ (Clique als aktueller Lebensmittelpunkt), „Aggressive“ (Aggression als Motiv) und „Deviante“ (kaum rechtsextremistisch motiviert, sondern allgemeiner Hang zu abweichendem Verhalten) klassifiziert werden (Heitmeyer/Müller 1995, S.55ff.). Die Jugendlichen kamen insgesamt häufig aus Scheidungsfamilien, es gab aber auch in den formal intakten Familien vermehrt massive Probleme, Gewalterfahrungen und/oder dramatische Einschnitte, wie zum Beispiel den Unfalltod eines Familienmitglieds oder schwere Krankheiten. Heitmeyer/Müller schreiben zu ihren Ergebnissen: „Nicht ein ‚Zuwenig‘ an Autorität, sondern umgekehrt ein ‚Zuviel‘ an autoritär-gewalttätiger Erziehung bildet bei vielen der Befragten den Hintergrund emotionaler Desintegration mit den damit verknüpften Folgen. Dort, wo es tatsächlich an etwas fehlt, ist es fast immer ein Mangel an Aufmerksamkeit, Zuwendung, Anerkennung und emotionaler Nähe, der feststellbar ist. Die damit einhergehende innerfamiliale Gleichgültigkeit auf funktionaler und emotionaler Ebene ist ebenfalls als zentrale Quelle familialer Desintegrationsprozesse anzusehen“ (ebd., S.174). Hinsichtlich der Tatursachen ließen sich drei wesentliche Begründungen ausmachen: starker Alkoholeinfluss, Reaktion auf die subjektiv empfundene Provokation durch das Opfer und das Motiv „Spaß“ bzw. Erlebniswert (Heitmeyer/Müller 1995 S.153f.). Gleichzeitig kristallisierten sich überraschenderweise eine fast durchgängige Zustimmung zum demokratischen System sowie Gleichheitsvorstellungen in Bezug auf die Stellung von Männern und Frauen heraus. In diesem „Potential an Gleichheitsvorstellungen“ sehen die Autoren Anknüpfungspunkte für pädagogische Interventionen und Chancen auf eine Verringerung oder sogar Abkehr von der rechtsextremistischen Orientierung und Gewalt (ebd., S.142). Heitmeyer/Müller (1995, S.174f.) kritisieren bei der Zusammenschau ihrer Ergebnisse massiv die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, da durch die starke Fokussierung auf ökonomische Prinzipien eine Vernachlässigung des Menschen als Individuum an sich sowie seiner Einbindung in Familie und Umfeld erfolgt, wodurch zunehmend „instrumentalistische und machiavellistische Sichtweisen“ produziert und gefördert werden. Sie sehen eine zentrale Ursache für Rechtsextremismus und Gewalt somit in der modernen Gesellschaft an sich. Zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Begründung von Gewalttaten durch die Täter kommt eine Studie um Frindte/Neumann (2002). Demnach fanden die Taten überwiegend unter Alkoholeinfluss und während alltäglicher Cliquenaktivitäten statt, wobei die Täter sich vom Opfer als anonymes Cliquenmitglied wahrgenommen fühlten, was sich tatbegünstigend auswirkte (ebd., S.112).
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Jugendlicher Rechtsextremismus im Spiegel der Forschung „Die Motivation der Täter wird dominiert durch eine maskuline Präsentation von Stärke und Überlegenheit, gemischt mit einem manchmal ganz offenen, häufig aber auch verborgen-diffusen Hass auf alles, was ihnen fremd ist und von ihrer Norm abweicht. Der vordergründig politische Gehalt ihrer Gewaltausübung ist eher gering, ähnlich wie auch die alltäglichen Aktivitäten in der Clique kaum von ernsthaftem politischen Kalkül geprägt sind.“ (ebd., S.113)
Insgesamt wurden 101 Gewalttäter zwischen 17 und 30 Jahren mittels Leitfadeninterview und standardisiertem Fragebogen analysiert. Bei 60 Befragten lagen tatsächlich fremdenfeindliche Straftaten vor (vgl. Frindte/Neumann/Wiezoreck 2002, S.68f.). Die Autoren schließen sich in ihrer Einschätzung Heitmeyer an, in dem auch sie davon ausgehen, dass es sich bei fremdenfeindlicher Gewalt in erster Linie um Gewalt und erst an zweiter Stelle um Fremdenfeindlichkeit handelt, woraus sie eine große Ähnlichkeit von gewalttätigen und fremdenfeindlich-gewalttätigen Milieus ableiten (vgl. Frindte/Müller/Neumann 2002, S.49; vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Kraus/Mathes 2010). Bezüglich der familialen Beziehungen findet sich ein besonders interessanter Zusammenhang: Zwar gaben bei der allgemeinen Bewertung der Beziehungen zu den Eltern mehr als die Hälfte der Befragten ein gutes Verhältnis an, betrachtet man jedoch die Angaben zu den konkreten Beziehungsdimensionen, zeigt sich ein ganz anderes Bild. So gab die Hälfte der Befragten an, dass sie von ihren Eltern kaum akzeptiert wurden und sie ihnen nur wenig Liebe geschenkt haben; ebenfalls mehr als die Hälfte konnten sich mit persönlichen Problemen kaum an die Mutter wenden, noch weniger an den Vater (60%) bzw. Stiefvater (72%). Insbesondere scheint auch die Akzeptanz durch den Stiefvater ein Problem zu sein. Weiterhin fühlten sich die Befragten zum Teil von ihren Eltern nicht unterstützt. „Den Familienalltag in der Kindheit beschreibt die Mehrzahl der Täter als geprägt von Streit, Geschrei und Disharmonie: 64% bezogen auf die Mutter, 89% auf den Vater und drei Viertel auf den Stiefvater. Von einem autoritären Erziehungsstil, der kaum Möglichkeiten zu eigenen Entscheidungen ließ, erzählen im Durchschnitt 60% der Gewalttäter.“ (Neumann/Frindte 2002, S.123)
Die Biografien der Gewalttäter sind insgesamt geprägt von Gewalterfahrungen, instabilen emotionalen Beziehungen zu den Eltern, Disharmonie und massiven Brüchen (ebd., S.149). Weiterhin weisen sie große Schwierigkeiten in schulischen Zusammenhängen auf, was sich durch massive Leistungsschwierigkeiten bis hin zum Schulabbruch äußert, die nicht zuletzt auch durch verhaltensbedingte häufige Schulwechsel forciert wurden (vgl. Neumann 2002, S.239). Im Rahmen einer Untersuchung zu physischer Gewalt und Biografie wurden von Böttger und seinen Mitarbeitern (1998) 100 Jugendliche mittels Leitfadeninterview befragt. Das Besondere an dieser Studie ist die Breite bei der Auswahl der Probanden. So wurden zum einen Jugendliche in die Untersuchung
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einbezogen, die illegale Gewalt ausüben, wobei hierunter Jugendliche erfasst wurden, die entweder gar keiner oder einer unpolitischen Clique, den Hooligans, Punks oder der rechtsextremistischen Szene angehören. Zum anderen wurden Jugendliche ausgewählt, die legale Gewalt ausüben, worunter Böttger Polizisten und Kampfsportler fasst. Zum dritten wurden auch Jugendliche, die keinerlei Gewalt ausüben, in die Stichprobe einbezogen. Insgesamt bestätigt auch diese Studie einen Zusammenhang zwischen selbst erfahrener Gewalt und späterem eigenen Gewalthandeln der Jugendlichen, wobei insbesondere ein Zusammenspiel von autoritärer oder vernachlässigender Erziehung, dem Erleben willkürlicher und unberechenbarer Gewalt innerhalb der Familie sowie Leistungsanforderungen, „die den individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Jugendlichen nicht entsprechen und die ihre aktuellen Voraussetzungen und Probleme nicht berücksichtigen“ als wesentlicher Faktor bei der Gewaltentwicklung gilt (Böttger 1998, S.362). Unter den illegal Gewalt ausübenden Jugendlichen wurden 10 rechtsextremistische Jugendliche befragt, die alle Mitglieder in einer politisch orientierten Jugendgruppe waren, darunter 5 Skins, 2 streng organisierte und drei locker in Cliquen organisierte ohne weitere Vernetzungen innerhalb der Szene. Auch diese Untersuchung bestätigt die bisher angeführten Hintergründe: Gewalttätige Handlungen fanden fast immer unter Alkoholeinfluss statt16 und richteten sich vorwiegend gegen politische Gegner oder Ausländer. Dabei fiel jedoch auf, dass die Jugendlichen sich kaum mit den Programmen und Inhalten der rechtsextremistischen Ideologie beschäftigten. Weiterhin waren auch hier häufige schulische Misserfolge zu verzeichnen bzw. konnten die Jugendlichen die von der Familie an sie gestellten Anforderungen nicht erfüllen und erlangten auch außerhalb der Familie kaum soziale Anerkennung, was letztlich Orientierungsprobleme nach sich zog. Besonders interessant sind die Ergebnisse der Untersuchung, die die Beziehung zur Mutter betreffen. So führten die bei allen zehn rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen festgestellten stark belasteten Beziehungen zum Vater oder Stiefvater zu einer besonders engen Bindung an die Mutter als einzigem stabilen Halt und Orientierungspunkt. Damit verbunden war eine Idealisierung der Mutter bzw. der Beziehung zu ihr, was sich darin äußerte, dass zur Sprache kommende problematische Aspekte der Beziehung oder des Verhaltens der Mutter durch die Jugendlichen sofort relativiert, gerechtfertigt und/oder entschuldigt wurden. Böttger (1998, S.375f.) begründet dies mit der Angst der Jugendlichen vor einem drohenden totalen Orientierungsverlust, der mit der Infragestellung 16
Böttger (1998, S.389) weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass der Konsum von Alkohol nicht ursächlich für die Gewalttätigkeit einer Person an sich ist, sondern bereits grundsätzlich gewaltbereite Jugendliche zusätzlich enthemmt und Gewalthandlungen eskalieren lässt.
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des Verhältnisses zur Mutter einhergehen könnte. Weiterhin finden sich in den Interviews Hinweise auf den Einfluss positiver Erzählungen über die Zeit des Zweiten Weltkrieges und das Hitler-Regime seitens der (Stief-)Väter oder Großväter auf die Hinwendung der Jugendlichen zur rechtsextremistischen Szene (Böttger, 1998, S.259ff.). Zwar nicht gezielt auf Jugendliche fokussierend, aber dennoch wertvoll für eine Auseinandersetzung mit den biografischen und familialen Hintergründen rechtsextremistischer Jugendlicher ist eine vom BKA initiierte Studie von Lützinger u.a. (2010). Sie konnten mit ihrer Untersuchung der Biografien von 39 linken, rechten und islamistischen männlichen Extremisten und Terroristen zwischen 20 und 49 Jahren anhand narrativer Interviews die Ergebnisse von einschlägigen Studien bezüglich der Hintergründe von (rechts)extremistischen Gewalthandlungen bestätigen (etwa Frindte 2001; Willems 1993 und Schumacher/Möller 2007). Die Interviewten wuchsen nahezu ausnahmslos in problembelasteten, von hohem Entwicklungsstress geprägten und oft auch gewalttätigen familialen Rahmenbedingungen auf. Vor allem bei den rechtsextremistischen Probanden fielen das häufige Fehlen einer Vaterfigur, massive Gewalterfahrungen sowie ihre frühzeitigen Außenseiterrollen in schulischen Zusammenhängen auf (vgl. Kraus/Mathes 2010, S.83ff.). Zum Einstieg in die jeweilige Szene kam es im Anschluss an eine meist in der mittleren Kindheit/beginnenden Jugend subjektiv wahrgenommenen Anhäufung negativer Ereignisse und Brüche, die zu Gefühlen der Orientierungslosigkeit, der Bedrohung der eigenen Identität und des Alleinseins führten. Hauptmotiv war dabei die Suche nach emotionalem Halt, sozialer Einbindung und familienähnlichen Strukturen. Der Einstieg sollte aber im Sinne einer Signalfunktion auch oft die Eltern auf die eigene problematische Situation aufmerksam machen und eine Reaktion herausfordern. Lützinger (2010, S.73, hervorgeh. im Original) schreibt dazu: „Die Szene bietet Lösungsschemata, um eigene Defizite zu kompensieren und Anschluss an andere zu finden. Durch die Übernahme einer neuen ‚Szeneidentität‘ (soziale Identität, Kollektividentität) rücken die personale Identität und damit assoziierte ‚alte Probleme‘ in den Hintergrund.“
Die jeweilige Ideologie war also zumeist nicht ausschlaggebend, aber sie wurde im Laufe der Einbindung in die Szene übernommen. Auffällig ist, dass Probleme innerhalb der Familien der (Rechts-)Extremisten bzw. Terroristen nicht konstruktiv kommuniziert, bearbeitet und bewältigt, sondern oft verdrängt oder mittels gegenseitiger Vorwürfe und Schuldzuweisungen verschlimmert wurden. Mit diesen prekären Familiensituationen ging in fast allen Fällen ein temporärer Beziehungsabbruch zu Familienmitgliedern oder der ganzen Familie einher (ebd. S.22ff.).
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2.4 Fazit In Bezug auf den Forschungsgegenstand gibt es verschiedene Blickwinkel der Erkenntnisgewinnung. Zum einen kann mittels der statistischen Erhebungen über strafrechtlich relevantes Verhalten und Auftreten durch die staatlichen Behörden sowie des Teils der öffentlich gemachten Ermittlungsergebnisse des Verfassungsschutzes ein Eindruck von der Entwicklung im Bereich Rechtsextremismus insgesamt gewonnen werden. Zum anderen referieren zahlreiche quantitative und qualitative Erhebungen Erkenntnisse über Vorkommen, Verbreitung und mögliche Hintergründe rechtsextremistischer Einstellungen und Verhaltensweisen, wobei die Vergleichbarkeit der Ergebnisse aufgrund unterschiedlicher Begriffsverständnisse und -anwendungen sowie Herangehensweisen kaum gegeben ist. Dabei haben sich in den letzten Jahren zwei unterschiedliche Blickwinkel entwickelt. So werden jugendliche rechtsextremistische Verhaltensweisen von einigen Autoren (vgl. u.a. Birsl 2011; Schuhmacher 2011; Sommerfeld 2010) zumindest während des Einstieges in die Szene auch unter dem Aspekt eines eher passageren jugendsubkulturellen (Protest)verhaltens gesehen, mittels dessen subjektive Frustrationen und Gefühle der Benachteiligung ausagiert werden. Weiterhin wird die Ablehnung von „Fremden“ bzw. Jugendlichen mit Migrationshintergrund durchaus auch auf Konflikte zwischen den einzelnen Gruppen und subjektive Gefühle der Bedrohung und Benachteiligung zurückgeführt, die an konkrete Erfahrungen im sozialen Umfeld der Jugendlichen geknüpft sind. Bei dieser Betrachtung wird nicht zwangsläufig eine zugrunde liegende rechtsextremistische politische Einstellung angenommen. Demgegenüber gibt es Autoren, die einen solchen Blickwinkel als Verharmlosung rechtsextremistischer Orientierungen und Vereinfachung eines komplexen Problems kritisieren und eine stärkere Konzentration auf die politische Dimension vor allem rechter Gewalt fordern, wobei jugendliche Akteure als bewusst handelnde Subjekte verstanden werden sollen (vgl. z.B. Dierbach 2010, Butterwegge 2001). Insgesamt fällt bei der Sichtung der Forschungslandschaft auf, dass sich zumindest bei bereits stärker in die rechte Szene eingebundenen, häufig gewaltbereiten Jugendlichen immer wiederkehrende Faktoren finden lassen: Eine problematische, nicht selten gewaltbelastete familiale Situation, eine Verkettung von subjektiv als äußerst prekär wahrgenommenen Ereignissen und Brüchen, die innerhalb der Familie nicht konstruktiv bewältigt werden können, Probleme im schulischen Zusammenhang, die oft mit mangelnder Anerkennung und einer Außenseiterrolle einhergehen sowie subjektive Gefühle der Orientierungslosigkeit. Meist handelt es sich bei den rechtsextremistischen Einstellungen von Jugendlichen um eine diffuse Orientierung, wobei sich erst im weiteren Verlauf des Jugendalters entscheidet, ob sich daraus ein geschlossenes rechtsextremistisches
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Weltbild entwickelt. Auffallend ist weiterhin, dass die Übernahme der rechtsextremistischen Ideologie offensichtlich häufig erst im Zuge der Einbindung in die Szene erfolgt und nicht der Einstiegsgrund an sich ist. Der Einstieg erfolgt meistens zwischen 13 und 15 Jahren über eine rechts(extremistisch) orientierte Clique. Die hier deutlich gewordene Prozesshaftigkeit unterstreicht die Bedeutung der Forschungsfrage der Untersuchung nach Interventionsmöglichkeiten der Eltern, die einer Verfestigung der rechtsextremistischen Orientierung und der Einbindung in die Szene entgegen wirken. Es gilt herauszufinden, an welchen Stellen der eingeschlagenen „rechtsextremistischen Karriere“ familiale Ereignisse und Interaktionen einen positiven oder negativen Einfluss entfaltet haben und welche Wirksamkeit die Interventionen der Eltern – so sie denn erfolgt sind – entwickelt haben oder eben nicht. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass es zwar etliche Untersuchungen gibt, die sich mit möglichen Ursachen für rechte bzw. rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen beschäftigen, wobei sich ein Großteil allerdings auf gesellschaftliche Zusammenhänge konzentriert. Gesellschaftliche Erklärungsansätze, die vorrangig auf Deprivation fokussieren, reichen jedoch nicht aus, um das Phänomen zu ergründen. Nur wenige Studien beschäftigen sich explizit mit familialen Zusammenhängen, wobei sich ihr Fokus hauptsächlich auf mögliche Ursachen in diesem Bereich richtet und die elterliche Perspektive, den familialen Umgang mit der rechten Einstellung des Jugendlichen bzw. die Untersuchung der Konsequenzen elterlicher Interventionen außen vor lässt. Ausnahmen stellen die Studie von Möller u.a. (2006; 2007), wobei die Perspektive der Eltern auch hier unberücksichtigt bleibt, sowie die Untersuchung von Becker (2008) dar, die sich leider auf eine deskriptive Auswertung und eine Aneinanderreihung von Interviewausschnitten beschränkt. Die vorliegende Untersuchung setzt genau an dieser Forschungslücke an, indem sie die Sichtweisen rechter Jugendlicher und ihrer Eltern in den Mittelpunkt des Interesses rückt und anhand sorgfältiger Einzelfallanalysen biografischen Hintergründen, familialen Zusammenhängen und der rechtsextremistischen Entwicklung nachspürt.
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Das zentrale Interesse der vorliegenden Studie besteht in der Generierung von Erkenntnissen, die Aufschluss über die Hintergründe eines Einstiegs in die rechte Szene und vor allem die Entwicklung einer längerfristigen Szenezugehörigkeit geben, wobei vor allem biografische und familiale Zusammenhänge im Mittelpunkt des Interesses stehen. Sie versteht sich als praxisorientiert und hat u.a. zum Ziel, nutzbare Erkenntnisse für die praktische Arbeit im Untersuchungsfeld zu erbringen, weshalb auf eine detaillierte Darstellung der biografischen, lebensweltlichen und familialen Zusammenhänge der Jugendlichen fokussiert wird, anhand derer man Einfluss- und Wirkmechanismen konkret nachverfolgen kann. In dem folgenden Kapitel werden zunächst Hintergründe und Bezüge thematisiert, die die gewählten Untersuchungs- und Auswertungsmethoden begründen. Danach werden der Zugang zum Feld, darin gesammelte Erfahrungen sowie die Auswahl der Probanden dargestellt. In einem dritten Schritt wird das Erhebungsverfahren und dessen Anpassung an den Untersuchungsgegenstand skizziert, woran sich die Erläuterung der Auswertungsmethode anschließt. Zum Abschluss des Kapitels wird auf die Aufbereitung der Untersuchungsergebnisse in umfangreichen Fallportraits Bezug genommen. 3.1 Ziele und Bezüge Für die vorliegende Untersuchung waren vor allem Elemente des Desintegrationsansatzes von Heitmeyer, des Sozialisationskonzeptes von Hurrelmann, des bindungstheoretischen Ansatzes von Bowlby sowie modernisierungs- und familientheoretische Erkenntnisse von Interesse, die in den vorangegangenen Kapitel überwiegend bereits beleuchtet wurden. Begreift man Biografie als „innere(n) Bildungs- und Entwicklungsprozess von Individuen“, sind gerade in der von vielfältigen Veränderungen geprägten Jugendphase „einschneidende Ereignisse und kritische Momente“ zu erwarten (Baacke/Sander 1999, S.244). Im Verlauf der Adoleszenz sehen sich Jugendliche einer Vielzahl von Entwicklungsaufgaben gegenüber, denen sie zwar versuchsweise ausweichen, denen sie sich aber letztlich nicht entziehen können. Diese Entwicklungs- oder Handlungsaufgaben betreffen alle Bereiche der jugendlichen Alltagswelt und erfordern eine tiefgreifende Umstrukturierung. Der Konsens © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2_4
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darüber, was diesbezüglich erwartet wird, ergibt sich aus den Normen und Rollenvorstellungen einer Gesellschaft und vermittelt sich durch die verschiedenen Sozialisationsinstanzen (vgl. Hurrelmann 2012, S.28; Enke, 2003 S.29f.). Zu den Entwicklungsaufgaben des Jugendalters, die zuerst von Havighurst (1972) formuliert wurden, gehören u.a. die emotionale Ablösung vom Elternhaus, die Umstrukturierung des sozialen Netzwerks hin zu reiferen Beziehungen zu Altersgenossen bis hin zur Familienplanung, der Erwerb von Qualifikationen als Vorbereitung auf eine berufliche Karriere, die Herausbildung eines verhaltensleitenden Wertesystems, der Entwurf eines Lebensplans, die Ausbildung eines reflektierten Selbstkonzeptes sowie die Entwicklung von Fähigkeiten zum Umgang mit Konsumgütern wie Wirtschafts-, Freizeit- und Medienangeboten (vgl. Fend 2000, S.210f. u. S.221f.; Enke 2003, S.29f.; Hurrelmann 2012, S.27f.). Die Entwicklung resultiert dabei im Sinne des handlungstheoretischen Paradigmas aus dem „komplexen Zusammenspiel innerer Entwicklungsdynamiken, äußerer Gestaltungsfaktoren und der Eigengestaltungskraft der heranwachsenden Person“ (Fend 2000, S.208). Die Verlängerung der Jugendphase, ihre verschwimmenden Grenzen und die damit verbundenen weitreichenden Gestaltungsspielräume und Optionen der Lebensgestaltung ziehen allerdings den Schwund von „symbolischen Vorgaben und sozialen Rituale(n)“ nach sich, „die einem Menschen eine Orientierung ermöglichen"', was u.a. zu einem Rückgang der normativen Geltung eines idealtypischen Lebenslaufes führt. Damit sind nicht nur hohe Anforderungen in Bezug auf die Eigenverantwortung bei der Gestaltung und Planung des eigenen Lebens verknüpft, sondern auch Unsicherheiten bezüglich der Erreichbarkeit von Lebenszielen (Hurrelmann, 2012 S.18f, 77ff.). Beck (1986, S.217) spricht in diesem Zusammenhang vom Individuum als „subjektive(m) Planungsbüro“ seines Lebenslaufes, das permanent zu biografischen Entscheidungen gezwungen ist. Van Dijk (1993, S.15) formuliert die daraus resultierenden Spannungen treffend: „Die Verunsicherungen betreffen Kern und Mehrheiten moderner Gesellschaften. Für den einzelnen geht es immer auch um unerfüllte (und teilweise unbewußte) Sehnsüchte nach liebevollen Beziehungen, nach sinnvoller Arbeit und einem Minimum an hoffnungsvoller Zukunftsplanung. Die prinzipielle Unzufriedenheit, die viele Menschen in einem im globalen Maßstab eher reichen Land wie Deutschland ausstrahlen, ist sicher keine Charakterfrage, sondern Ausdruck offenbar schwer zu verarbeitender Alltagserfahrungen: Alles scheint möglich, aber nicht für mich. Nichts macht mich richtig glücklich. Innerer wie äußerer Erwartungsdruck steigern sich ins Unermeßliche. Dauernd sind Entscheidungen gefragt. Wo bleibt deren notwendige Reflexion im Kontext meines eigenen Lebens: Wo komme ich her? Was tut mir gut? Was entfremdet mich mir selbst und meinen Sehnsüchten? Fragen, die im Laufe einer Biographie, ganz besonders aber im Jugendalter, existentielle Bedeutung haben, erscheinen im Alltag wie überflüssige Tagträumereien. Unbeantwortet sinken sie als diffuses Unbehagen ins Unterbewußtsein ab.“
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Hurrelmann (2012, S.87ff.) prägte in seinem Sozialisationskonzept den Begriff des „produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts“, womit gemeint ist, dass sich Orientierungsmuster durch Verarbeitungsprozesse von subjektiven Erfahrungen herausbilden (vgl. auch Heitmeyer 1992, S.15f.). Eine zentrale Aufgabe der Jugendphase ist die Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Integration und Individuation. Unter Integration wird der Prozess der Anpassung des Individuums an gesellschaftliche Normen und Werte verstanden, der zur Einnahme einer Rolle als gesellschaftlich anerkanntes Mitglied führt. Individuation meint den „Prozess des Aufbaus einer individuellen Persönlichkeitsstruktur“ sowie das „subjektive Erleben als einzigartige, einmalige Persönlichkeit, das mit dem Aufbau der ‚personalen Identität‘ gleichzusetzen ist“ (Hurrelmann 2012, S.94). Gefahren für eine krisenhafte Zuspitzung des Sozialisationsprozesses im Jugendalter ergeben sich nun aus einem zwischen Integrations- und Individuationsanforderungen resultierenden Spannungsverhältnis (ebd., S.94f.) sowie generell bei Problemen der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben bis hin zum Scheitern. Rechtsextremistische Ausdrucksweisen und Orientierungen werden unter dieser Prämisse im Anschluss an Heitmeyer (1992) nicht als festgeschriebene und zwangsläufig beständige Einstellungen angesehen, sondern als situative Ergebnisse der produktiv verarbeiteten subjektiven Realität mit Entlastungs- und Stabilisierungsfunktion. Dabei sind Jugendliche eingebunden in vielfältige soziale Systeme, die ihre subjektive Realität und deren Verarbeitung beeinflussen. Eine Hinwendung zu rechtsextremistischen Zusammenhängen wird von Heitmeyer auch als Ausdruck des Protestes sowie einer „sinnhaften Suche nach Bearbeitungsmöglichkeiten jugendspezifischer Lebens- und Konfliktlagen“ verstanden (Virchow 2016, S.79.). Für die vorliegende Forschungsarbeit liegt der Schwerpunkt jedoch anders als bei Heitmeyer nicht auf den gesellschaftlichen Bedingungen, sondern auf den Anteilen, die die Verarbeitungsinstanz Familie zur Verarbeitung und Bewältigung subjektiver Erfahrungen und erlebter Ereignisse beiträgt. Die Beziehung zu den Eltern steht dabei im Vordergrund, weil sie zwar in der Jugendphase eine Umgestaltung erfährt, Eltern aber nach wie vor eine hohe Bedeutung haben und Ansprechpartner, Rollenvorbilder und Begleiter auf dem Weg in das Erwachsenenleben sind. Für den Forschungsgegenstand kam nur ein qualitatives Untersuchungsdesign in Frage, denn: „Das Phänomen in seiner eigenen Welt aufzusuchen, ist eine radikale und drastische Methode des Verstehens, die vielleicht immer dann eine Notwendigkeit ist, wenn das Phänomen gewöhnlicherweise verurteilt wird“ (Matza 1973, S.31). Verurteilt aber wird Rechtsextremismus in Deutschland von Politik, Medien, Wissenschaft, entsprechenden Kampagnen und zumindest einem Großteil der Bevölkerung, wobei die Jugend häufig im Sinne eines
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Sündenbockes im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, da sie gesamtgesellschaftliche Probleme durch ihr entwicklungsbedingtes und jugendtypisches Verhalten als Symptomträger sichtbar macht. Der Versuch mehr über sogenannte rechte Jugendliche, die Hintergründe ihres Rechts-Seins, die tatsächliche Ausprägung und Bedeutung ihrer Einstellung und ihre Einbettung in familiale Zusammenhänge herauszufinden, bewegt sich also von vornherein auf heiklem Terrain. Der Forscher bewegt sich im Spannungsfeld zwischen moralischem Druck und der Notwendigkeit einer offenen Forschungshaltung, ist gezwungen sich auch mit der eigenen Einstellung, möglichen Vorurteilen oder Gedanken der Ungleichheit auseinanderzusetzen, um authentisch und frei in den Forschungsprozess zu gehen und er muss bereit sein, Aussagen, Ansichten und Erzählungen im Forschungsprozess urteilsfrei auszuhalten, die seinen eigenen Wertvorstellungen zutiefst widersprechen. Die Jugendlichen wiederum sind zum einen häufig misstrauisch, da sie einen Missbrauch der von ihnen gegebenen Informationen fürchten und zum anderen, weil sie sich keinem moralisierenden erwachsenen Gegenüber aussetzen wollen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Forschungsarbeit ist daher zunächst einmal die grundlegende Akzeptanz der Jugendlichen als ernstzunehmende Gesprächspartner durch den Forscher und eine dementsprechende Offenheit im Zugang zu ihnen. Dies darf nicht mit einer Akzeptanz oder Befürwortung ihrer Einstellung verwechselt werden. Die bloße Reduzierung der Jugendlichen auf ihre rechtsextremistische Einstellung und eine entsprechende Moralisierung wird jedoch weder dem Problem noch den Jugendlichen gerecht. Qualitative Forschungsmethoden sind für den Untersuchungsgegenstand besonders geeignet, weil sie sich an einer „möglichst gegenstandsnahen Erfassung der ganzheitlichen Eigenschaften“ des Forschungsfeldes oder -gegenstandes orientieren und „einen möglichst unvoreingenommenen, unmittelbaren Zugang zum jeweiligen sozialen Feld (…) unter Berücksichtigung der Weltsicht der dort Handelnden“ schafft (Krüger 1997, S.202). Dadurch sollte es möglich sein, Teile der Lebenswelt der Jugendlichen zu erschließen sowie relevante Zusammenhänge und Hintergründe rechtsextremistischer Orientierungen aufzudecken. In die Untersuchung werden zudem auch Mütter einbezogen, um ein möglichst komplexes und genaues Bild der Jugendlichen in ihrem familialen Kontext zu erhalten. Durch diese Triangulation im Sinne einer Kombination verschiedener „Datenquellen“ (Flick 1991, S.432) sollen Hintergründe und Mechanismen familialer Interaktionen aufgedeckt sowie die Perspektiven von Jugendlichen und ihren Müttern zueinander in Bezug gesetzt werden. Der Begriff Triangulation bezeichnet die „Betrachtung eines Forschungsgegenstandes von (mindestens) zwei Punkten aus“ und wurde in den 1970er Jahren von Denzin eingeführt, um die Validität von Daten zu maximieren (Flick 2008,
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S.309f.). Dieser Ansatz wurde zunächst kritisiert, weil dadurch eine „objektiv gegebene Realität und ein ebensolches Gegenstandsverständnis“ zugrunde gelegt wird (Köttig, 2005, S.65). Nach Aufnahme der Kritik und Überarbeitung des Ansatzes wird der Nutzen und Zweck von Triangulation nun in einem tieferen Verständnis des Forschungsgegenstandes und breiteren Analysemöglichkeiten gesehen (vgl. Marotzki 2006; S.125ff.; Flick 2008, S.310ff.; Schründer-Lenzen 2013, S.149ff.). Sie dient somit vor allem der „Erweiterung und Vervollständigung von Erkenntnismöglichkeiten“ (Krüger 1999, S.205). Da sich der Fokus der Untersuchung auf mögliche familiale Hintergründe für die Entwicklung und vor allem Verfestigung von rechtsextremistischen Orientierungen richtet, sind die familiale Beziehungsqualität sowie die von den Eltern praktizierten Erziehungsstile oder -vorstellungen von besonderem Interesse. Darüber hinaus richtet sich die Fragestellung darauf, ob sich ein Zusammenhang zwischen innerfamiliären Problemen und dem Auftreten von rechtsextremistischen Ausdrucksformen/Haltungen finden lässt. Zeigen Jugendliche rechtsextremistische Einstellungen oder Verhaltensweisen ist ihnen – so meint man – die Aufmerksamkeit ihrer Umwelt gewiss. Umso überraschender erscheinen einige in biografischen Interviews einschlägiger Studien gefundene Aussagen von Jugendlichen, nach denen die Eltern kaum auf die rechtsextremistischen Tendenzen ihrer Kinder reagiert haben (vgl. Pfeil 2016; Hafeneger 1993; Heitmeyer 1992). Es stellt sich daher weiter die Frage, wieviel Eltern über die rechtsextremistischen Orientierungen ihrer Kinder wissen, wie sie mit dieser Einstellung umgehen, ob und welche Interventionsmaßnahmen sie ergreifen und welche Wirksamkeit diese entfalten. Dabei ist der Einbezug der Sichtweise der Jugendlichen unentbehrlich, weil daraus erfahren werden kann, wie das elterliche Handeln wahrgenommen und bewertet wird, ob und welche familialen Ereignisse bzw. Interaktionen die Hinwendung der Jugendlichen zur rechten Szene beeinflussen. Interessant an einem triangulierenden Ansatz ist auch, inwieweit die Wahrnehmung der familialen Beziehungen, der rechtsextremistischen Orientierungen sowie des bisherigen Lebensweges des jeweiligen Jugendlichen durch die Mütter und die Jugendlichen übereinstimmt oder auch differiert. Weiterhin ist von Belang, was die Verarbeitungsinstanz Familie zu einer Verfestigung oder einem Abbau bereits aufgetretener rechtsextremistischer Potentiale beiträgt. Dabei soll es keineswegs darum gehen, zu Schuldzuweisungen zu gelangen. Ziel soll es vielmehr sein, aus möglicherweise aufzufindenden positiven oder negativen Mechanismen Handlungsstrategien bzw. -alternativen für einen konstruktiven Umgang mit rechtsextremistischen Jugendlichen zu erarbeiten, die im Sinne einer Sekundärprävention eine Verfestigung der Einstellung verhindern helfen.
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Um das Datenmaterial übersichtlich zu halten, wurde als elterlicher Interviewpartner die Mutter ausgewählt. Dies geschah vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die äußere Struktur der Familie bei der Fallauswahl nicht entscheidend war17 und davon auszugehen ist, dass im Falle einer sogenannten unvollständigen oder einer Patchworkfamilie eher die leibliche Mutter mit dem Jugendlichen dauerhaft zusammenlebt bzw. zusammengelebt hat. Darüber hinaus konnte von einer Beschreibung der Beziehung zum Vater sowohl durch den Jugendlichen als auch durch die Mutter spätestens auf eine entsprechende Nachfrage hin ausgegangen werden. 3.2 Fallauswahl Die jugendlichen Interviewpartner wurden anhand des in Kapitel 1 erstellten heuristischen begrifflichen Bezugsrahmens ausgewählt. Die Untersuchungsregion ist Ostdeutschland. Da Jugendliche, die dem ersten Anschein nach der Kategorie 1 zugeordnet werden können – also solche bei denen die rechte bzw. rechtsextremistische Attitüde ausschließlich im Sinne einer jugendlichen Ausdrucks- und Protestform gegen die Erwachsenenwelt verstanden werden kann und nicht mit einem entsprechenden Weltbild verbunden ist – sich nicht für die Beantwortung der Forschungsfragen eignen, konzentriert sich diese Untersuchung auf Jugendliche, die dem ersten Eindruck nach den Kategorien zwei und drei zuzuordnen sind. Es wurden also Probanden ausgewählt, bei denen in einer ersten Annahme davon auszugehen war, dass sie bereits stärker in die rechte Szene involviert sind. Eine tatsächliche Aussage zur Ausprägung ihrer rechtsextremistischen Orientierung konnte natürlich erst nach der intensiven Analyse des erhobenen Materials getroffen werden. Die Altersstruktur der befragten Jugendlichen liegt zwischen 18 und 23 Jahren. Aufgrund der Verlängerung der Jugendphase sowie der fortschreitenden „Pluralisierung und Individualisierung jugendlicher Lebenslagen und Lebensstile“ (Grunert 2002, S.233; vgl. dazu auch Heitmeyer u.a. 2011) wurden Jugendliche einbezogen, die aus rechtlicher Sicht uneingeschränkten Erwachsenenstatus haben. Dies geschah auch vor dem Hintergrund der Erwartung, dass die Probanden in diesem Alter wahrscheinlich schon einen längeren Weg in die bzw. der rechten Szene hinter sich hatten und somit für die Beantwortung der Forschungsfragen geeigneter erschienen. Die Untersuchung beschränkt sich auf die Befragung von männlichen Jugendlichen, da sie zum einen wesentlich häufiger in rechtsextremen 17
Die Hinzuziehung weiterer Kriterien bei der Auswahl von Probanden hätte die ohnehin schon heikle Gewinnung von Interviewpartnern zusätzlich erschwert. Das Hauptaugenmerk der Studie lag darauf, gesprächsbereite Jugendliche zu finden, die bereits deutlich und stärker in die rechte Szene eingebunden sind.
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Zusammenhängen in Erscheinung treten. Zum zweiten ist die Auswertung des erhobenen Materials schon aufgrund der Triangulation zwischen Eltern- und Kind-Perspektive sehr aufwendig und umfangreich. Eine weitere Verkomplizierung durch die Einbeziehung einer Geschlechtsspezifik hätte den Rahmen der Studie gesprengt. Zum dritten gestaltete sich bereits der Zugang zu den Jungen sehr schwierig. Mädchen, die ohnehin seltener in rechten Cliquen anzutreffen sind und meist als „Freundin von“ in eine Clique gelangen18, waren kaum zu finden und wenn doch, sehr verschlossen und nicht zu einem Gespräch über ihre mögliche Mitwirkung an der Untersuchung bereit. Einen Zugang zu in der Szene eingebundenen Jugendlichen zu finden, erwies sich insgesamt als außerordentlich langwierig und schwierig. Dies hatte mehrere Gründe. Einer ist, dass rechtsextremistisch orientierte Jugendliche in der Erhebungsregion zum Erhebungszeitpunkt weniger in der Öffentlichkeit sichtbar waren bzw. sich zu erkennen gaben. Dies wurde von Mitarbeitern verschiedener Einrichtungen, die mit dieser Klientel arbeiten, bestätigt. Die Vermittlung von Interviewpartnern durch kooperationswillige Einrichtungen wurde dadurch massiv behindert. Weiterhin taten sich verschiedene Institutionen aus unterschiedlichen Motiven bei der Vermittlung sehr schwer oder lehnten ganz ab. Gelang der Zugang zu rechtsextremistischen Jugendlichen, zeigte sich eine zweite hinderliche Problematik. Aufgrund verschiedentlicher Erfahrungen bestand gerade bei gefestigteren Gruppen ein hohes Misstrauen gegenüber Fremden. Die Gruppenstrukturen hatten dann zur Folge, dass bereitwillige Jugendliche von älteren und/oder angesehenen Mitgliedern angehalten wurden, das Interview zu verweigern und dies dann auch taten. Hintergrund des Misstrauens war zum einen die Angst, dass gegebene Informationen zu anderen Zwecken als den angegebenen gebraucht werden.19 Andere Jugendliche lehnten ab, da sie einschlägige mediale Berichterstattungen kannten und befürchteten, in klischeehafter Darstellung abgestempelt zu werden. Die Jugendlichen hatten darüber hinaus häufig massive Probleme damit, dass ihre Eltern einbezogen werden sollten. Viele, die zu einem eigenen biografischen Interview bereit waren, wollten nicht, dass auch ein Interview mit ihrer Mutter durchgeführt wird. Ähnliche Probleme bei der Gewinnung von Interviewpartnern wurden auch von Becker (2008, S.139ff.) und Pfeil (2016, S.265f.) beschrieben. 18
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Dieser Eindruck wird durch eine Untersuchung von Eckert u.a. (2000) bestätigt. Demnach ist die Zugehörigkeit zu Jugendcliquen insgesamt geschlechtsspezifisch. Vor allem gewaltaffine Gruppierungen verfügen selten bzw. fast nie über feste weibliche Mitglieder. Die Interviewerin wurde mehrmals von Jugendlichen gefragt, woher sie wissen sollen, dass sie auch die ist, für die sie sich ausgibt und nicht dem Verfassungsschutz angehört. Das Interview wurde dann häufig mit der Begründung abgelehnt, man würde die Interviewerin zwar „nett“ finden, könne aber aufgrund bereits erlebter Enttäuschungen das Misstrauen nicht überwinden.
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Insgesamt wurden sieben biografisch-narrative Interviews erhoben20, wobei drei davon mit Jugendlichen geführt wurden, die zum Zeitpunkt der Erhebung eine (zum Teil einschlägige) Haftstrafe verbüßten. Ein Interview mit einem inhaftierten Jugendlichen konnte nicht verwertet werden, weil er zum einen während des Interviews bis auf wenige Sätze nur knurrende Laute von sich gab und zum anderen im Nachhinein sein Einverständnis mit dem Interview unter Gewaltandrohung widerrief. Die anderen Interviews gelangen unterschiedlich gut. Während sich die Jugendlichen, bei denen auch die Mutter befragt wurde, aber auch Peter auf umfangreiche Erzählungen einließen, war vor allem Bastian sehr verschlossen, wodurch keine Stegreiferzählung im eigentlichen Sinne gelang, sich aber dennoch oder gerade Rückschlüsse auf seine Bedingungen des Aufwachsens ziehen ließen. Es wurde zum Zwecke einer Kontrastierung versucht, Jugendliche mit möglichst unterschiedlichem sozialen Hintergrund und Bildungsniveau in die Untersuchung einzubeziehen. Die Gewinnung der Mütter als Interviewpartnerinnen war eine große Herausforderung. Das Vorhaben, die Studie auf fünf Mutter-Sohn Portraits zu stützen, konnte nicht umgesetzt werden, weil die Jugendlichen oder ihre Mütter die zuvor signalisierte Bereitschaft zurückzogen. Es ist anzunehmen, dass die Angst vor Stigmatisierungen und Schuldzuweisungen an die Eltern sowohl seitens der Mütter als auch seitens der Jugendlichen sehr hoch ist und deshalb die Interviews verweigert wurden. Bereits bei der Suche nach geeigneten Interviewpartnern fiel auf, dass Jugendliche den Kontakt zu ihren Eltern häufig nicht wollten, weil sie sie Bedenken hatten, jemand könnte ihren Eltern Vorwürfe machen oder aber sie mit ihrer Einstellung auch nur konfrontieren. Auch wurde von ihnen befürchtet, dass Informationen aus ihrem eigenen Interview durch die Interviewerin an die Eltern gelangen. Das diesbezügliche Misstrauen konnte in einem Fall von der Interviewerin gegenüber dem Jugendlichen nicht ausgeräumt werden, weshalb er sein Einverständnis mit dem Elterninterview widerrief. Er hatte zu große Befürchtungen, dass seine Mutter, zu der er eine sehr enge Bindung beschrieb, mit seiner Einstellung angegriffen werden würde. Dies hätte er auf keinen Fall zugelassen. Gegenüber der Interviewerin äußerte er diesbezüglich vor seiner Absage auch entsprechende Drohungen. In dem anderen Fall hatte die Mutter des Jugendlichen Bedenken bekommen, ihre KollegInnen im öffentlichen Dienst könnten etwas von dem Interview bzw. der Einstellung ihres Sohnes erfahren und ihr Einverständnis aus diesem Grund zurückgezogen. Dem Problem des äußerst schwierigen Feldzugangs wurde begegnet, in dem die drei Fälle bei denen die Triangulation gelang (Kernfälle), durch drei weitere, nur mit Jugendlichen durchgeführte biografische Interviews ergänzt wurden (Ergänzungsfälle). 20
Die Feldphase zu diesem Projekt fand von 2003-2006 statt.
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Da die Jugendlichen zum Teil schwere Straftaten begangen haben und auch stark in die jeweilige regionale rechte Szene eingebunden sind bzw. sich in einem Fall auch mit dem Gedanken des kompletten Ausstiegs trugen, wurde bei der Verschriftlichung und Auswertung der Interviews größter Wert auf eine umfassende Anonymisierung gelegt. Alle Namen sind Pseudonyme. Weiterhin wurden alle Daten geändert, die eine indirekte Identifizierung der Interviewpartner, ihrer Angehörigen oder anderweitiger sozialer Bezugspersonen möglich machen würden. Im Sinne Schützes (1991, S.207) wurde die Anonymisierung jedoch so vorgenommen, dass die äußere Ereignislogik sowie die innere Erfahrungslogik erhalten bleiben und der Sinn bzw. Sachverhalt nicht entstellt wird. So schreibt er in seiner Biografieanalyse eines Müllerlebens: „Zwar ist es in sozialwissenschaftlichen Einzelfallstudien entscheidend, die einzelne Lebensgeschichte in ihren Erlebnis- und Ereignisdetails möglichst genau und sachangemessen auf der empirischen Grundlage der Transkription des jeweiligen narrativen Interviews zu untersuchen. Dies geschieht aber gerade nur deshalb, um aus der detaillierten Singularität der untersuchten Ereignisse, in die der einzelne Informant verwickelt war, und aus seinen Erlebnissen allgemeine Situations- und Prozeßmerkmale analytisch herauszuarbeiten, die ein Verständnis der Situations- und Prozeßstrukturen vermitteln, die für das Untersuchungsfeld kennzeichnend sind.“ (ebd. S.208).
3.3 Erhebungsinstrumente Mit den Jugendlichen und ihren Müttern wurden voneinander getrennte Interviews geführt. Dies hat zum einen den Hintergrund, den jeweiligen Interviewpartnern ein freieres Sprechen über die eigenen Lebensumstände bzw. die eigene Biografie (oder die des Kindes) sowie eventuelle familiäre Probleme zu ermöglichen. Bei einem gemeinsamen Interview von Eltern und Kindern könnte dies möglicherweise nicht gelingen. Zum anderen sollte vermieden werden, dass das erhobene Material unübersichtlich wird. Durch die Trennung ist es ebenfalls möglich, die Aussagen der Interviewpartner am jeweils anderen zu erweitern, tiefere Einsichten in die Familiengeschichte zu erhalten und Informationslücken zu schließen. 3.3.1 Das Interviewverfahren bei den Jugendlichen Als Erhebungsinstrument für die Befragung der Jugendlichen wurde das Narrative Interview von Fritz Schütze ausgewählt, da es zu den „wichtigsten qualitativen Verfahren in der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Biographieforschung“ (Krüger/Deppe 2013, S.64) gehört, methodisch mit am besten ausgearbeitet ist (vgl. Büchner u.a. 1993, S.51) und sich ausgezeichnet für den Untersuchungsgegenstand eignet. Diese Interviewtechnik gehört hinsichtlich ihres
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Grades an Strukturiertheit zu den offenen Interviews (vgl. Krüger 1999, S.209) und wurde von Schütze (1976) im Zusammenhang mit einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen entwickelt. Mittels des Verfahrens ist es möglich, sowohl die Lebensgeschichte der Jugendlichen zu rekonstruieren als auch ihre jeweiligen subjektiven Deutungsmuster und Interpretationen zu erfahren. Wenn die biografische Erzählung gelingt, werden in hohem Maße relevante lebensgeschichtliche Erfahrungen wiedergegeben, auch wenn Ausblendungsmechanismen die Rekapitulation von einigen Erlebnissen und Erfahrungen verhindern (vgl. Helsper u.a. 1991, S.65). „Das autobiographische narrative Interview erzeugt Datentexte, welche Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers so lückenlos reproduzieren, wie das im Rahmen systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung überhaupt nur möglich ist. Nicht nur der ‚äußerliche‘ Ereignisablauf, sondern auch die ‚inneren Reaktionen‘, die Erfahrungen des Biographieträgers mit den Ereignissen und ihre interpretative Verarbeitung in Deutungsmustern, gelangen zur eingehenden Darstellung.“ (Schütze 1983, S.285f.)
Beim Einsatz des narrativen Interviews hat der Informant einerseits größtmögliche Freiheit bei Gestaltung, Schwerpunktsetzung und Inhalt der von ihm dargebotenen Informationen; er wählt den roten Faden selbst, anhand dessen er seine Lebensgeschichte erzählt, muss diesbezüglich selektieren und Schwerpunkte setzen (vgl. Küsters 2009, S.21; Marotzki 2006, S.115). Andererseits sind damit auch hohe Ansprüche an die Verbalisierungsfähigkeit und biografische Reflexionskompetenz (Krüger u.a. 2008, S.22) verbunden, die vor allem sehr junge Menschen vor Herausforderungen stellt, was eine besonders sensible und aufmerksame Haltung des Interviewers erfordert. Weiterhin ermöglicht es diese Methode auch, „heikle Informationen zu entlocken“ (Küsters 2009, S.21; vgl. auch Rosenthal 1995), da während einer freien Erzählung auch Ereignisse, Zusammenhänge und Gedanken zum Vorschein kommen, die der Informant bei direkter Ansprache so nicht preisgegeben hätte (vgl. Hopf 2008, S.357). Schütze (1976, S.224f.) begründet dies mit den sogenannten „Zugzwängen des Erzählens“. Hier sind vor allem der Gestaltschließungszwang und der Detailierungszwang gemeint. Mit dem Gestaltschließungszwang ist verbunden, dass eine begonnene Narration auch zu Ende erzählt wird. Dabei muss die Erzählung im Sinne des Detaillierungszwangs so detailreich dargestellt werden, dass sie vom Zuhörer nachvollzogen werden kann, wozu zum Teil sogenannte „Hintergrunderzählungen“ eingefügt werden. Der dritte Zugzwang des Erzählens, der Kondensierungszwang, bezieht sich eher auf die zeitliche Begrenztheit der Interviewsituation, was den Informanten dazu nötigt, „nur das Ereignisgerüst der erlebten Geschichte“ darzustellen und eine nachvollziehbare Reihenfolge in der Darstellung einzuhalten (Schütze 1976, S.224).
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Rosenthal (1995, S.196) sieht die Preisgabe von sehr persönlichen Informationen jedoch auch in einer respekt- und vertrauensvollen Interviewsituation begründet, die dazu führt, dass sich der Informant angenommen fühlt, keine Verurteilung seiner Gefühle und Erlebnisse fürchtet und somit eine offene Erzählung zulässt. Grundlage für das Entstehen einer solchen Interviewatmosphäre ist ein aufmerksames Zuhören – wie es bspw. in der nichtdirektiven Gesprächstherapie praktiziert wird –, das in den richtigen Momenten Gefühle des Informanten spiegelt und ihn in seinen Befindlichkeiten und Lebenserfahrungen ernst nimmt. In diesem Zusammenhang formuliert Rosenthal (1995, S.187) sieben Prinzipien der Gesprächsführung in Interviewsituationen: „Raum zur Gestaltentwicklung“, „Förderung von Erinnerungsprozessen“, „Förderung der Verbalisierung heikler Themenbereiche“, „eine zeitlich und thematisch offene Erzählaufforderung“, „aufmerksames und aktives Zuhören“, „sensible und erzählgenerierende Nachfragen“ sowie „Hilfestellung beim szenischen Erinnern“. Das biografisch-narrative Interview nach Schütze gliedert sich in drei Teile: die narrative Ersterzählung, den immanenten und den exmanenten bzw. leitfadengestützten Nachfrageteil (vgl. Schütze 1983, du Bois-Reymond u.a. 1994). Um eine noch höhere Informationsdichte zu erhalten und den Interviewpartner zur intensiveren Darstellung seiner jeweiligen Lebensbereiche und darin vorkommenden sozialen Beziehungen anzuregen, wurde das Interview um einen vierten Teil ergänzt: die egozentrierte soziale Netzwerkkarte nach Gmür/Straus (1994). Kernelement des biografisch-narrativen Interviews ist „die von den Befragten frei entwickelte (...) ‚Stegreiferzählung’“ (Hopf 1991 S.179). Die lebensgeschichtlichen Erzählungen der Befragten werden durch einen geeigneten Erzählanstoß generiert21 und sind frei von hypothetischen Vorgaben und thematischen Interventionen durch den Interviewer. Dadurch soll eine Offenheit erreicht werden, die es dem Interviewten ermöglicht, „seine Biographie im Interview zu reflektieren, ihr Bedeutungsschwerpunkte selber zuzuordnen“ (Scheer/Peters 1996, S.24). Wichtig hierbei ist es, Unterbrechungen des Informanten nach Möglichkeit zu vermeiden, weil durch unangemessene Interventionen Störungen im Erzählfluss ausgelöst werden können, da sich der Interviewte nicht mehr frei dem „Fluß seiner Erinnerungen“ überlassen kann und stattdessen versucht, Daten zu rekonstruieren (Rosenthal 1995, S.194f.; Schütze 1976, S.228). Dazu gehört es auch, längere Pausen auszuhalten, ohne die Rederolle zu übernehmen. Küsters (2009, S.58) bringt es hier pointiert auf den Punkt: „Der Interviewer muss erzählanregend schweigen.“ 21
In diesem Fall: „Ich möchte Dich bitten, dass Du mir erzählst, wie Du aufgewachsen bist und wie Dein Leben bis heute verlaufen ist. Ich werde jetzt erst einmal zuhören und später noch einige Dinge nachfragen.“
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Durch den mittels der Stegreiferzählung gewonnenen Gesamtblick auf das Leben der Jugendlichen, der durch den anknüpfenden Nachfrageteil verdichtet und erweitert wird, können verschiedene Problembereiche im Zusammenhang gesehen werden, die möglicherweise ihre rechtsextremistische Orientierung beeinflusst haben. Es lässt sich darüber hinaus auch im Hinblick auf die Fragestellung der Studie nach auf die Einstellung bezogenen Interventionen der Eltern gut rekonstruieren, welche Interventionen wirksam waren und welche nicht. Nachdem der Interviewpartner seine Stegreiferzählung durch eine Erzählkoda (Schütze 1983) deutlich erkennbar abgeschlossen hat, schließt sich ein immanenter Nachfrageteil an. Dadurch sollen Lücken in der Erzählung geschlossen und bestimmte Themenbereiche genauer erfasst werden. Im Nachfrageteil wird also versucht, das Erzählpotential des Interviewpartners weiter auszuschöpfen. Zunächst wird dabei an interessante, nur kurz angerissene, nur vage formulierte oder noch nicht plausible Stellen aus der Stegreiferzählung angeknüpft, sogenannte „Stümpfe der Erfahrung von Ereignissen und Entwicklungen“ (Schütze, 1983, S.286). Der Interviewpartner wird gebeten, bestimmte Ereignisse und Erlebnisse ausführlicher zu erzählen, d.h. es werden Fragen gestellt, die sich aus der Stegreiferzählung ergeben haben (vgl. Glinka 1998; Krüger 1999). Daran schließt sich ein exmanenter Nachfrageteil an, in dem der Interviewer den Informanten mittels selbst eingebrachter Themen zu weiteren Ausführungen anregt. Dieser Teil wurde im Fall der vorliegenden Studie zu einem themenzentrierten und leitfadengestützten Interview erweitert (vgl. Küsters 2009, S.63f.). Darin geht es um die „abstrahierende Beschreibung von Zuständen, immer wiederkehrenden Abläufen und systematischen Zusammenhängen.“ Es wird also versucht, die „Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit des Informanten als Experte und Theoretiker seiner selbst“ zu nutzen (Schütze 1983, S.285). Für das Interview mit den Jugendlichen bedeutet dies, dass sie im besten Falle ihren Weg hin zu einer rechtsextremistischen Orientierung beschreiben sowie bspw. die elterliche Erziehung in „eigentheoretischen Anstrengungen“ erklären und versuchen, „sich den Charakter, die Hintergründe und die Konsequenzen des Geschehensablaufs und der eigenen Beteiligung daran klar zu machen“ (Schütze 1987b, S.45). Da eine zu starke Orientierung am Leitfaden oder dem geplanten strukturellen Ablauf des Interviews den Interviewer dabei behindern kann, „die Rolle eines interessierten und empathischen Zuhörers zu übernehmen“ (Helsper u.a. 1991, S.61), wurde versucht, Fragen in einer situativ passenden, spontanen und bezüglich der Gefühlswelt des Interviewpartners sensiblen Form zu stellen, um darüber die oben beschriebenen Prozesse anzuregen.
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Abb. 3: für die Fragestellung relevante Themenkomplexe
Der Leitfaden für den themenzentrierten Nachfrageteil wurde aus den in Abbildung 3 dargestellten, für die Fragestellung der Untersuchung relevanten Themenkomplexen erarbeitet. Das Interview wurde in einem vierten Teil durch den Einbezug einer egozentrierten sozialen Netzwerkkarte vervollständigt (vgl. Gmür/Straus 1994, siehe Abb. 4). Die Netzwerkkarte besteht aus mehreren konzentrischen Kreisen, in deren Mittelpunkt der Jugendliche als Ich steht. Er wird gebeten, die auf einer Korkplatte befestigte Karte mit Hilfe von Nadeln und Bindfäden in Netzwerkbereiche, die sein Leben kennzeichnen (z.B. Herkunftsfamilie, Gleichaltrigengruppe, Schule), einzuteilen und anschließend die darin vorkommenden Personen zu positionieren. Die Distanz der Personen vom „Ich“ (nah oder weit weg) gibt Auskunft darüber, wie nah die entsprechende Person dem Jugendlichen steht bzw. wie wichtig sie in seinem Leben ist. Durch die Verwendung von Bindfäden und Stecknadeln können die Anordnung der Netzwerkbereiche und die Positionen der darin vorkommenden Personen jederzeit verändert werden. So können zunächst vergessene oder im Verlauf mit höherer/geringerer Bedeutung versehene Bereiche hinzugefügt bzw. erweitert/verkleinert werden. Die Kommentierung der Erstellung der Netzwerkkarte wurde ebenfalls auf Band aufgenommen und transkribiert und gemeinsam mit der bildhaften Darstellung zur Verdichtung der im Interview gewonnenen Erkenntnisse verwendet.
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Abb. 4: egozentrierte Netzwerkkarte nach Straus (1994)
Durch den ergänzenden Einsatz der egozentrierten Netzwerkkarte sollen die Lebensumstände der Jugendlichen und vor allem die Beziehungen zu den Menschen in ihrem Umfeld noch einmal deutlicher werden. Die Egozentrierung gewährleistet „eine starke Hervorbringung der subjektiven Situation innerhalb von Beziehungsmustern im Alltag“ (Enke 2000, S.39). Darüber lässt sich auch die für das Jugendalter relevante Frage nach dem Stellenwert von Familie und Peers im Leben des Jugendlichen genauer betrachten. Da sie am Ende des Interviews eingesetzt wird, stellt die egozentrierte soziale Netzwerkkarte eine Art abschließende Erzählanregung dar, wodurch thematische Stränge verdichtet und ergänzt werden können. Die Arbeit mit der Netzwerkkarte wird dem Jugendlichen am besten über eine Analogie verdeutlicht. Er wird gebeten, sich die Netzwerkkarte als Torte vorzustellen, die er in einzelne Tortenstücke (Lebensbereiche) wie z.B. „Familie“, „Freunde“, „Arbeit“, etc. aufteilen kann (vgl. Gmür/Straus 1994). Auf den Einsatz eines wie von Schütze vorgesehenen soziodemographischen Datenerhebungsbogens (wie z.B. in der Untersuchung von Krüger u.a. 1994 verwendet) wurde aus zwei Gründen verzichtet. Zum einen ist das Interview zumindest bei den Jugendlichen insgesamt schon sehr umfangreich, so dass das Ausfüllen eines Datenerhebungsbogens überfrachtend wirken würde. Zum anderen wurde ja bereits auf die Sensibilität der Daten und die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich bei der Suche nach Interviewpartnern ergeben haben. Der Datenerhebungsbogen würde das Misstrauen der Interviewpartner mit großer Wahrscheinlichkeit noch erhöhen. Daher wurden die erwünschten Informationen eher informell und nebenbei an passenden Stellen erfragt, um das Gefühl des Ausgehorcht-Werdens bei den Interviewpartnern zu vermeiden.
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3.3.2 Das Interviewverfahren bei den Müttern Mit den Müttern der Jugendlichen wurden problemzentrierte Leitfadeninterviews durchgeführt. Ausgangspunkt für die Anwendung dieses Verfahrens ist nach Jakob (2013, S.442) die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Problemstellung durch den Forscher (in diesem Fall die rechtsextremistische Einstellung der Jugendlichen) mit der die Interviewpartner (in diesem Fall die Mütter) umgehen müssen. Das Verfahren wurde 1982 von Witzel für eine Studie zur Berufsfindung von Jugendlichen entwickelt und gehört zu den halboffenen Formen des Interviews (vgl. Krüger 1999; Grunert 2002). Witzel (2000) beschreibt diese Interview-Variante als Versuch, trotz der Teilstandardisierung eine möglichst freie Erzählung der Befragten zu ermöglichen. Dies soll durch „eine sehr lockere Bindung an einen knappen, der thematischen Orientierung dienenden Leitfaden“ erreicht werden (Hopf 1991, S.178). Um die Interviewtechnik zu verbessern, wurde das Leitfadeninterview „narrativ aufgeklärt“ (Lenz 1991, S.59). Dadurch soll einerseits eine problemzentrierte Gebundenheit an den Forschungsgegenstand erhalten, andererseits jedoch eine Einschränkung des Erzählflusses verhindert werden. Die Leitfadenorientierung erfolgt über einfache Fragen im Sinne von narrativen Erzählanstößen. Die Interviewsituation bleibt somit auch bei der Befragung der Mütter weitgehend offen. Insbesondere die Eingangsfrage ist dem Erzählstimulus des biografisch-narrativen Interviews mit den Jugendlichen angeglichen. Dadurch sollten die Mütter angeregt werden, die Biografie ihres Kindes – sozusagen als Stegreiferzählung – zu erzählen. Der Leitfaden wurde im Sinne einer „Spiegelung“22 aus der Befragung der Jugendlichen abgeleitet, um zu gewährleisten, dass die gleichen untersuchungsrelevanten Themenkomplexe erfasst werden und konzentriert sich auf das bisherige Leben der Jugendlichen, das Eltern-Kind-Verhältnis, die Wahrnehmung von und den Umgang mit der rechten Einstellung, Erziehungsvorstellungen, Konfliktmanagement, die Wahrnehmung und Einschätzung der Jugendlichen sowie Zukunftsvorstellungen. Die Transkription der Interviews erfolgte im eye dialect, der Umgangssprache möglichst lautgetreu abbildet (vgl. Kowal/ O‘Connel 2008, S.441). Auf Satzzeichen sowie Groß- und Kleinschreibung wurde weitgehend verzichtet. Da die Verschriftlichung eines Interviews immer auch selektive Züge trägt23, die sich
22
23
vgl. hierzu die Untersuchung über die Modernisierung der Kindheit im interkulturellen Vergleich von du Bois-Reymond u.a. (1994), die ebenfalls die Perspektiven von Eltern und Kindern erfasst und zueinander in Bezug gesetzt hat. Langner (2013, S.516 hervorgeh. im Original) spricht hier von einer „spezifische(n) wissenschaftlichen Konstruktion“.
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auf die anschließende Analyse des Materials auswirken, wurde eine Transkriptionsform gewählt, bei der dieser Effekt möglichst gering ausfällt. 3.4 Auswertungsverfahren Die Auswertung der Interviews orientierte sich ebenfalls an Schütze (1983). Mittels des von ihm entwickelten Analyseverfahrens sollen „Erkenntnisse über die in sozialen Interaktionen konstituierte Wirklichkeit und die daraus resultierenden Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bewertungsorientierungen“ erlangt werden. Schütze geht davon aus, dass durch die innerhalb des narrativen Interviews produzierten Erzähltexte die „individuelle biographische Erfahrungsaufschichtung“ des Interviewpartners rekonstruiert und so der Verlauf seiner biografischen Entwicklung in Bezug auf sozialwissenschaftliche Forschungsfragen nachvollzogen werden kann (Detka 2005, S.353). Dabei ist nicht nur der Inhalt des Erzähltextes, sondern auch die Form seiner sprachlichen Darstellung für die Analyse von Bedeutung (ebd. S.354). Die Narrationsstrukturanalyse wendet sich erst nach der Rekonstruktion des jeweiligen Einzelfalls – also dem Erfassen und Verstehen von Prozessverläufen, sozialen Prozessmechanismen, Zusammenhängen und Bedingungsgefügen – dem fallübergreifenden Vergleich zu, aus dem schließlich theoretische Ableitungen getroffen werden sollen (Detka 2005, S.252; vgl. Helsper u.a. 1991). Darüber hinaus wurden die drei als Kernfälle ausgewählten Interviews mit den Jugendlichen und die drei Interviews mit den Müttern ebenfalls zunächst getrennt voneinander interpretiert und erst im Anschluss daran zueinander in Bezug gesetzt (vgl. hierzu auch Köttig 2005). Das Auswertungsverfahren unterlag also folgendem Ablauf: 1) Analyse des biografisch-narrativen Interviews mit einem Jugendlichen und Erstellen eines Fallportraits, 2) Analyse des Interviews mit der dazugehörigen Mutter und Aufbereitung der Ergebnisse als Fallportrait, 3) Zusammenführung der Analyseergebnisse beider Interviews und abschließende Falldiskussion, 4) Wiederholung der Arbeitsschritte 1-3 bei den anderen beiden Kernfällen, 5) Abstrahierung vom Einzelfall und fallübergreifender Vergleich unter Einbeziehung aller erhobenen Interviews. Für die Interviews mit den Jugendlichen bedeutet dies, dass zunächst die Stegreiferzählung genau analysiert wurde. Dabei wurde der Text in narrative und
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argumentative Passagen aufgegliedert. Die argumentativen Passagen wurden zur späteren Analyse zurückgestellt. Der „bereinigte“ Erzähltext wurde in Segmente unterteilt, die sich durch sogenannte „Rahmenschaltelemente“ voneinander abgrenzen (vgl. Schütze 1983, S.286; vgl. auch Helsper u.a. 1991). Durch die Segmentierung soll die im Erzähltext enthaltene, vom Informanten meist unbewusst hergestellte subjektive Ordnung seiner Lebensgeschichte erkannt und nachvollzogen werden (vgl. Detka 2005, S.353). Der zweite Arbeitsschritt bestand darin, die einzelnen Sequenzen strukturell inhaltlich zu beschreiben. „Die strukturelle Beschreibung arbeitet die einzelnen zeitlich begrenzten Prozessstrukturen des Lebensablaufs - d.h. festgefügte institutionell bestimmte Lebensstationen; Höhepunktsituationen; Ereignisverstrickungen, die erlitten werden; dramatische Wendepunkte oder allmähliche Wandlungen; sowie geplante und durchgeführte biographische Handlungsabläufe heraus“ (Schütze 1983, S.286). Diese inhaltlich-strukturellen Beschreibungen wurden in einem dritten Analyseschritt in abstrahierter Form aufeinander bezogen, um darüber schließlich zu einer biografischen Gesamtformung zu gelangen. Erst nachdem so die „grundlegende biographische Erfahrungsaufschichtung“ (ebd., S.286) und die dominanten Prozessstrukturen des Lebenslaufes herausgearbeitet wurden, erfolgte die Analyse der argumentativen Passagen. Auf die Analyse der Ersterzählung folgte die Auswertung des Nachfrageteils. Dabei wurde zunächst der immanente Nachfrageteil herangezogen und im Anschluss daran der Leitfadenteil. Letzterer diente dabei jedoch nicht nur in Auszügen zur Ergänzung, sondern wurde ebenfalls sorgfältig und umfassend interpretiert, da dies für die zentrale Fragestellung – also die möglichst genaue Erschließung der Zusammenhänge um die rechtsextremistischen Orientierungen – für sinnvoll erachtet wurde. Es wurde überprüft, ob sich die aus der Stegreiferzählung herausgearbeiteten Themen und Strukturen im Nachfrageteil wiederfinden und bestätigen lassen. Weiterhin wurde nach neuen Inhalten gesucht, die für die Formung eines Gesamtbildes des jeweiligen Jugendlichen sowie seiner familialen Hintergründe relevant erschienen. In der Verknüpfung von narrativen und argumentativen bzw. eigentheoretischen Segmenten konnten dann in einem vierten Analyseschritt Schlussfolgerungen in Hinblick auf „Orientierungs-, Verarbeitungs-, Deutungs-, Selbstdefinitions-, Legitimations-, Ausblendungs- und Verdrängungsfunktion(en)“ (Schütze 1983, S.187) bzw. -muster getroffen werden. Die egozentrierte-soziale Netzwerkkarte diente zur weiteren Verdichtung der bereits aufgedeckten Zusammenhänge. Durch die grafische Darstellung konnte die Eigentheorie über die wesentlichen sozialen Beziehungen und Lebensbereiche der Jugendlichen noch einmal gut verdeutlicht werden.
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Bei den Interviews mit den Müttern geht es um die Darstellung der Lebensgeschichte ihrer Kinder und weniger ihrer eigenen. Das Verfahren von Schütze kann daher nicht in seiner ursprünglichen Form angewendet werden. Dennoch wurde sich daran weitestgehend orientiert. Da die Eingangsfrage der Erzählaufforderung der Interviews mit den Jugendlichen so weit wie möglich gleicht, ist dieser erste Teil als Stegreiferzählung gesehen und intensiv interpretiert worden. Der Lebenslauf der Jugendlichen konnte also quasi noch einmal allerdings nunmehr aus elterlicher Perspektive rekonstruiert werden. Es wurde ebenfalls sequenzanalytisch vorgegangen und nach narrativen und argumentativen Passagen differiert. Die Aussagen zu den einzelnen Themenkomplexen des Leitfadens wurden nach gründlicher Analyse zueinander in Beziehung gesetzt und zu einem Gesamtbild verdichtet, dass vor allem auf die Bereiche „Erziehung“ und „Umgang mit der rechtsextremistischen Orientierung“ fokussiert. Die Interpretationsergebnisse der Interviews mit den Jugendlichen und mit ihren Müttern wurden nach der getrennten Analyse aufeinander bezogen, und in einer abschließenden Falldiskussion trianguliert. Dabei wurden die elterliche bzw. mütterliche und die jugendliche Perspektive einander gegenübergestellt und bezüglich ihrer Gemeinsamkeiten, Übereinstimmungen und Unterschiede analysiert. Durch diesen Vergleich konnten grundlegende Strukturen oder auch Probleme der familialen Beziehung, der Erziehung sowie des Umgangs mit der rechtsextremistischen Orientierung des Jugendlichen innerhalb der Familie sichtbar gemacht werden. Im fünften Schritt der Auswertung wurden die erhobenen Fälle einem kontrastiven Vergleich unterzogen, um Gemeinsamkeiten, eventuelle Muster und Unterschiede aufzudecken und daraus Ableitungen für den Umgang mit rechtsextrem orientierten Jugendlichen und ihren Familien für die pädagogische Praxis zu gewinnen. Die Fallkontrastierung erfolgt dabei nicht anhand der biografischen Gesamtformung, sondern themenbezogen und auf die Fragestellungen der Untersuchung zugespitzt. Aufgrund der geringen Fallzahl wurde der von Schütze vorgesehene sechste Analyseschritt der Konstruktion eines theoretischen Modells nur bedingt vollzogen, da zwar möglichst kontrastive Fälle erhoben wurden, aber aufgrund der Fokussierung der Studie auf eine detailreiche Darstellung einzelner Fälle keine theoretische Sättigung (Glaser/Strauss 1998) gegeben ist. Gleichwohl ergab die Analyse ein Konstrukt ähnlich gelagerter Einflussfaktoren und Bedingungsgefüge, die Ansätze einer Theoretisierung erlaubten. So konnten durch aus den Fällen rekonstruierte, wiederkehrende Muster zwei Typen rechtsextremistisch orientierter Jugendlicher gebildet werden, die sich jedoch nicht auf die familialen Zusammenhänge anwenden lassen.
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3.5 Darstellung der Fallportraits Wie bei der Begründung zur Fallauswahl bereits beschrieben, wurden insgesamt sechs verwertbare Fälle erhoben, wobei es sich bei den drei Fällen, in denen auch die Mutter befragt wurde, um die Kernfälle der Untersuchung und bei den drei Fällen, in denen ausschließlich die Jugendlichen befragt wurden, um Ergänzungsfälle handelt. Letztere wurden ebenfalls gründlich analysiert und in die fallübergreifende Auswertung einbezogen, werden jedoch nicht gesondert dargestellt. Die Abbildung 5 gibt einen ersten Überblick über die ausgewählten Probanden. Die Kernfälle der Studie sind zur besseren Verdeutlichung – wie auch in folgenden Tabellen weiterer Kapitel – grau unterlegt.
Abb. 5: Übersicht über die erhobenen Fälle
Die als Grundpfeiler ausgewählten und analysierten Interviews (Kernfälle) wurden in drei umfassenden Fallportraits aufbereitet. Dabei wird zunächst die Interpretation der Stegreiferzählung des jeweiligen Jugendlichen dargestellt, die in der biografischen Gesamtform mündet. Die Analyse des gesamten Nachfrageteils wird in den Komplexen familiale Beziehungsqualität und Erziehungshintergrund, Werte und Zukunftspläne sowie Einstieg und Verlauf des „Rechts-Seins“ zusammengefasst. Diese drei Bereiche sind für die Fragestellung von zentraler Bedeutung. Aus ihnen geht zum einen hervor, wie der jeweilige Jugendliche in die Szene gelangt ist, das heißt wie und worüber der sogenannte Einstieg erfolgte, und lässt weiterhin eine Rekonstruktion des bisherigen Verlaufes des „RechtsSeins“ zu. Zum anderen wird die familiale Einbettung des Jugendlichen erschlossen und mit der Entwicklung der rechtsextremistischen Orientierung in Bezug gesetzt, wodurch sich ein umfassendes Bild ergibt. Somit sollen die zwei zentralen Bezüge der Fragestellung effektiv ausgearbeitet werden. Die Auswertung der auf Emotionen und Wünsche des Jugendlichen gerichteten Fragen (Werte und Zukunftspläne) ist deshalb so bedeutsam und ergiebig,
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weil sie in keiner direkten äußeren Verbindung mit den Themen „rechts“ und „Familie“ stehen. Über die Antworten lassen sich also ausgezeichnet (auch durch die Familie vermittelte) Wertvorstellungen und Dinge, die für den betreffenden Jugendlichen in seinem Leben grundlegend wichtig sind, erschließen. Darüber erhält man zum einen Informationen über die Ausprägung der rechten Einstellung, da zu erwarten ist, dass sich ein ausgeprägtes rechtsextremistisches Weltbild auch in den bedeutsamen Werten und Wünschen des Jugendlichen niederschlägt. Zum anderen kann erschlossen werden, was für den jeweiligen Jugendlichen wirklich wichtig ist, woraus sich Ableitungen für die pädagogische Praxis ziehen lassen. Das Wissen um die persönlichen Relevanzen und Werte von Jugendlichen eröffnet nämlich einen besonderen Zugang im Umgang mit ihnen, da sie einen Ansatzpunkt für tatsächlich wirksame und notwendige pädagogische Interventionen bieten. Über die Emotions- und Wunschfragen kommen somit quasi die hinter der rechtsextremistischen Einstellung liegenden Bedürfnisse, Persönlichkeitsstrukturen und Befindlichkeiten des jeweiligen Jugendlichen zum Ausdruck, aus denen man mögliche Gründe für seine Einstellung ablesen kann, um diesen dann ausgleichend pädagogisch zu begegnen. Weiß man um die tatsächlichen individuellen Bedürfnisse eines Jugendlichen, die je nach Handlungstyp (vgl. Lenz 1988; Enke 2003) stark variieren können und sich auch in seinen Verarbeitungs- und Bewältigungsversuchen möglicher Problemlagen widerspiegeln, kann in der pädagogischen Arbeit darauf effektiv Bezug genommen werden. Geht man davon aus, dass eine rechtsextremistische Einstellung bei vielen Jugendlichen einem kompensatorischen Zweck dient – zum Beispiel dem, mangelnde Anerkennung in anderen Lebensbereichen auszugleichen und Selbstwert zu schöpfen – wird deutlich, dass es nötig ist, ihnen hierfür andere Möglichkeiten anzubieten. Dies bietet die Chance, dass sie ihre Einstellung aufgeben oder aber zumindest in Bahnen lenken, die noch dem demokratischen Spektrum entsprechen. Zwar ist es nicht Ziel dieser Studie, die Jugendlichen im Hinblick auf ihren Handlungstyp zu analysieren. Die von Lenz (1988) vorgelegte und von Enke (2003) in Bezug auf delinquente Jugendliche weitergeführte Studie über jugendliche Handlungstypen zeigt jedoch, wie wichtig es ist, die tatsächlichen und unterschiedlichen Bedürfnisse der Jugendlichen zu erkennen, um eine Wirksamkeit pädagogischer Interventionen zu erreichen. Nicht zuletzt trägt die Auswertung und Darstellung dieses Teils des Leitfadens einem grundlegenden Gedanken der Untersuchung Rechnung, nämlich dem, Jugendliche nicht als bloße Träger ihrer rechtsextremistischen Einstellung zu sehen, sondern ein umfassendes und den Jugendlichen möglichst ganzheitlich erfassendes Portrait zu erstellen. Die Präsentation in den an die Interpretation der Stegreiferzählung des Jugendlichen anschließenden Unterkapiteln dient dazu, den Jugendlichen selbst
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noch einmal in der Rekonstruktion seines familialen Hintergrundes und Weges in eine rechtsextremistische Orientierung sowie in Bezug auf seine Vorstellungen von sich selbst und seinem Leben zu Wort kommen zu lassen. Daran jeweils anschließend erfolgen die Interpretationen der beschriebenen Zusammenhänge und ihre Verknüpfungen mit bereits herausgearbeiteten Handlungs-, Orientierungs-, Deutungs- und Verarbeitungsmustern. Die Aufbereitung der Interpretation des Interviews mit den Müttern erfolgt in sehr ähnlicher, gespiegelter Form. Auf die Interpretation der Stegreiferzählung folgt die Darstellung der Analyse des Leitfadens zusammengefasst unter den zwei Aspekten „Erziehung“ sowie „Wahrnehmung und Umgang mit der rechtsextremistischen Einstellung“. Die Darstellung der biografischen Entwicklung der Jugendlichen aus mütterlicher Sicht erfolgt deshalb so ausführlich, weil erst durch beide Perspektiven ein umfassendes, die familialen Gegebenheiten und Beziehungen widerspiegelndes Bild entsteht. Da sich die grundlegenden Fragestellungen der Studie auf untrennbar mit familialen Interaktionen verbundene Aspekte richten, müssen diese auch aus der Sicht der daran Beteiligten heraus rekonstruiert werden, wobei hierfür die Mutter ausgewählt wurde, da es am wahrscheinlichsten ist, dass sie den Jugendlichen während seines gesamten bisherigen Lebensweges begleitet hat. In der Abschlussdiskussion des jeweiligen Falles geht es um die Herausarbeitung grundlegender Strukturen des familialen Umgangs bzw. der Erziehung und (falls vorhanden) die Aufdeckung von in den familialen Interaktionen verborgenen problematischen Zusammenhängen, die auch eine Erklärung für Hintergründe und mögliche Funktionen der rechtsextremistischen Einstellung liefern können. In diesem letzten Analyseschritt werden die Interpretationsergebnisse aus den beiden Einzelinterviews zusammengeführt und zu einer abschließenden Darstellung verdichtet, wobei vor allem die Kategorien familiale Beziehungsqualität, bisherige biografische Entwicklung des jeweiligen Jugendlichen und ihre Einflussfaktoren sowie Wirksamkeit von elterlicher Erziehung und Interventionen im Mittelpunkt des Interesses stehen. Die Fallportraits schließen mit einer Zukunftsprognose für den weiteren Lebensweg des jeweiligen Jugendlichen und seine wahrscheinliche Entwicklung in Bezug auf die rechtsextremistische Orientierung ab. Dies geht zwar weit über die Methoden gängiger qualitativer Verfahren hinaus und bewegt sich im spekulativen Bereich, soll aber zugunsten der pädagogischen Dimension der Studie riskiert werden, da mögliche Motoren der Veränderung sichtbar gemacht werden und nützliche pädagogische Interventionen ableitbar sind.
4 Analyseergebnisse der Kernfälle
Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der Einzelfallanalysen der Kernfälle in drei umfassenden Fallportraits dargestellt. Dabei wird jeweils zunächst durch die Abbildung der egozentrierten sozialen Netzwerkkarte und eine kurze Beschreibung der Lebenssituation des Jugendlichen in den jeweiligen Fall eingeführt. Daran schließen sich die voneinander getrennten Interpretationen des erhobenen Materials von den Jugendlichen und ihren Müttern an, wobei jeweils die Interpretation der Stegreiferzählung, bei den Jugendlichen die biografische Gesamtform und daran anschließend die für die Fragestellung relevanten Themenbereiche dargestellt werden. Im letzten Teil der Fallportraits werden die triangulierten Analyseergebnisse aus den Einzelinterpretationen in einer abschließenden Falldiskussion aufbereitet. Die abgebildeten egozentrierten sozialen Netzwerkkarten dienen als visueller Einstieg in den Fall und geben einen ersten Überblick über die für den jeweiligen Jugendlichen relevanten Lebensbereiche sowie seine darin vorkommenden Bezugspersonen. Sie wurde ergänzend in die folgenden Interpretationen einbezogen, was jedoch zugunsten eines ungestörten Textflusses nicht immer explizit erwähnt wird.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2_5
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4.1 Der Fall Kai Kranich – „een jahr und fünf monate (.) weil man nur mist im kopf hat“ (34-35)
Abb. 6: Kai Kranich: egozentrierte Netzwerkkarte
Kai ist zum Zeitpunkt des Interviews 19 Jahre alt und verbüßt eine 17-monatige Haftstrafe in einer Jugendstrafanstalt. Er hat zahlreiche Delikte begangen, darunter Hehlerei, schwere Körperverletzung, Sachbeschädigung, und Volksverhetzung. Die Mutter von Kai ist 45 Jahre alt und arbeitet als Sachbearbeiterin in einem großen Unternehmen der Gesundheitsbranche. Sein leiblicher Vater war Handwerker und hat sich vor fünf Jahren das Leben genommen. Die Eltern waren zu diesem Zeitpunkt schon längere Zeit geschieden. Kais Mutter war erneut verheiratet, die Ehe ist jedoch vor kurzem gescheitert. Sein Stiefvater lebt inzwischen mit einer wesentlich jüngeren Frau zusammen. Kai hat einen fünf Jahre älteren Bruder und eine jüngere Halbschwester, die aus der Ehe seiner Mutter mit dem Stiefvater stammt. Das Verhältnis zu seinen Geschwistern ist gut. Die Schule hat Kai mit dem Abschlusszeugnis der 7. Klasse verlassen. In der Jugendanstalt geht Kai arbeiten und versucht seinen Hauptschulabschluss nachzuholen, damit er nach seiner Entlassung eine Lehre beginnen kann. Kai hat sich fest
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vorgenommen, nach dem Verbüßen der Haftstrafe ein neues Leben ohne Straftaten anzufangen. Von seinem alten Freundeskreis versucht er sich zu distanzieren. Während des Interviews ist Kai aufgeschlossen und macht einen offenen Eindruck. Das Gespräch fand er „befreiend“ (895). Er hat mitgemacht, weil das, was er erzählt, für „was gutes“ (897) genutzt wird. 4.1.1 Interpretation der Stegreiferzählung Der biografischen Stegreiferzählung von Kai ging folgender Erzählstimulus voraus: I.: „so also noch mal schönen dank dass du hier bist und dich bereit erklärt hast das zu machen und ich möchte dich gerne ähm zuerst bitten dass du mir erzählst wie du bis heute aufgewachsen bist also wie dein leben ähm bis jetzt verlaufen ist (E.: „hm“) und ich würde es gern so machen dass ich dir erstmal nur zuhöre und du erzählst und ähm ich dann vielleicht na.. später noch n paar sachen nachfrage" E.: „hm" I.: „ja" E.: „na so kömmers machen" I.: „okay jut" (3-11) Sequenz 12-14: „jaa also 19XX wurde ich in a.-stadt geborn bin eigentlich in ner kompletten familie groß geworden vater mutter n bruder bis dann eines tages ham sich meine eltern scheiden lassen neunz..XX ham sie sich scheiden lassen“
Kai beginnt seine biografische Erzählung im Sinne eines formalen Ablaufmusters mit seinem Geburtsjahr und -ort und schließt dann mit seinem Aufwachsen in einer vollständigen Familie an. Was er unter einer „kompletten“ (12) Familie versteht, verdeutlicht er durch den Nachtrag „vater mutter n bruder“ (13). Die Familie bzw. die Familienmitglieder werden als Ereignisträger eingeführt. Er spricht davon, in einer kompletten Familie „groß“ (12) geworden zu sein, obwohl im weiteren Verlauf der Sequenz schnell klar wird, dass seine Eltern sich getrennt haben, als er gerade sechs Jahre alt war. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass mit der Scheidung seiner Eltern auch das Ende einer unbelasteten Kindheit einherging, sich seine Rolle also zu einer weniger kindlichen wandelte. Die Formulierung „eigentlich“ (12) kündigt dabei bereits einsetzende Veränderungen innerhalb der Familie an. Durch die zeitliche Einordnung „eines tages“ (13) wird das aus der kindlichen Perspektive überraschende Moment der einschneidenden familiären Veränderung ersichtlich. Es ist wahrscheinlich, dass sich Kai an die vorausgegangenen
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Konflikte zwischen den Eltern nicht erinnern kann, weil er noch zu klein war, oder dass die Eltern sie vor ihm verborgen haben. Kai kann sich genau an den Zeitpunkt der Scheidung erinnern. Dabei nennt er jedoch nicht sein Alter zu dieser Zeit, sondern die Jahreszahl, womit er wieder an sein anfängliches formales Ablaufmuster anknüpft. Sequenz 14-18: „(.) s hieß dann mein vater weg die eltern an eim jezerrt wohin zu mutti oder zu vati ich und mein bruder ham uns für de mutter entschieden da war dann eben och hier dass mein vater sehr selten jesehn hat dass och de mutter nich mehr jesehn wurde weil se soviel off arbeit war un eigentlich das einkommen nachholn musste was der vater dann nich mehr erbracht hat ja (.)“
Kai erzählt hier in stichpunktartiger Form die dramatischen Folgen der elterlichen Scheidung, wobei er durch die Verwendung des „eim“ (einem) (15) sowie der überwiegenden Vermeidung ihn betreffender persönlicher Fürwörter eine größtmögliche Distanz zu seinen damit verbundenen Emotionen herstellt. Mit der Scheidung ist für Kai der nahezu vollständige und vor allen Dingen abrupte Verlust des Vaters verbunden. Seine Erzählweise in dieser Sequenz lässt auf eine enge Bindung zu beiden Elternteilen schließen, da die Entscheidung, bei wem er künftig leben möchte, erst errungen werden musste. Die Eltern haben an ihm und seinem Bruder „jezerrt“(15), konnten also keine friedliche Einigung darüber erzielen, bei wem die Kinder zukünftig leben sollen und auch keine Vereinbarung für eine weitere gemeinsame Sorge treffen. Der Begriff des „Zerrens“ verweist auf die innere Zerrissenheit bezüglich der von ihm verlangten Entscheidung, aber auch auf das Gefühl der Vernachlässigung seiner Bedürfnisse und Nöte durch die Eltern, weil sie ihre eigenen Wünsche in Bezug auf den Verbleib der Kinder in den Vordergrund stellten und ihnen die Last der Entscheidung gegen ein Elternteil aufbürdeten. Kai und sein Bruder haben sich dann entschieden, bei der Mutter zu bleiben. Da Kai zu dieser Zeit erst sechs Jahre alt war, kann von einer starken mit der Scheidung verbundenen Belastung und Überforderung seiner altersgemäßen Fähigkeiten ausgegangen werden, was vor allem auch auf den durch beide Elternteile ausgeübten Druck zurückzuführen ist. Kai betont hier, dass er und sein Bruder sich für die Mutter entschieden haben. Darüber verdeutlicht sich der verstärkte Zusammenhalt der Geschwister in dieser krisenhaften Situation. Die Betonung der gemeinsamen Entscheidung ist ein Indiz dafür, dass Kai bei seinem älteren Bruder zumindest etwas Halt und Orientierung gefunden hat. Die bis dahin eher unpersönliche Darstellungsperspektive von Kai bricht hier durch die Verwendung der Pronomen „ich und mein bruder“ (15) erstmals auf. Seine Formulierung „für de mutter entschieden“ (15-16) unterstreicht noch einmal, den für ihn damit gleichzeitig verbundenen Verlust des anderen Elternteils. Der Entscheidung für ein Elternteil ist also auch die Entscheidung gegen das andere immanent. Kai hätte sonst stattdessen auch
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beispielsweise sagen können „wir haben uns entschieden, bei der Mutter zu leben.“ Tatsächlich sieht Kai seinen Vater von nun an kaum noch. Hier wird erneut der emotionale Druck deutlich, dem die Kinder ausgesetzt waren. Auch die Mutter hat kaum noch Zeit für ihn, da sie sehr viel arbeitet. Kai begründet dies mit dem durch den Weggang des Vaters fehlenden Einkommen, das die Mutter nun zusätzlich erwirtschaften muss. Er spricht hier – wiederum in einer unpersönlichen Formulierung – davon, dass „och de mutter nich mehr jesehn wurde“ (17). Für Kai brach demnach nicht nur der Vater als enge Bezugsperson weg, sondern auch seine Mutter konnte ihm durch ihre berufliche Belastung weniger Aufmerksamkeit widmen, wodurch er insgesamt sehr auf sich allein gestellt war. Dies kommt durch seine Verabsolutierung an dieser Stelle zum Ausdruck. Es wird jedoch ebenfalls deutlich, dass Kai seiner Mutter keinen Vorwurf machen möchte, da die mangelnde Zeit von ihm mit der Notwendigkeit der finanziellen Versorgung der Familie in Verbindung gebracht wird. Sequenz 18-20: „dann 19XX meine mutter n neuen mann kenngelernt c. stiefvater ham dann och jeheiratet sehr schnell n jahr später“
Kai macht hier in seiner Erzählung einen Sprung. Zwischen der Scheidung seiner Eltern (sowie den belastenden Folgen) und der Beziehung der Mutter zu ihrem neuen Mann liegen immerhin fünf Jahre, die von Kai jedoch nicht thematisiert werden. Die dazwischenliegende Zeit scheint für ihn also hauptsächlich durch das Gefühl des Alleingelassen-Seins durch die Eltern und das Fehlen des Vaters gekennzeichnet gewesen zu sein, da dies die einzigen Dinge sind, die er erzählt. Der neue Mann der Mutter wird von Kai mit dem Nachtrag „Stiefvater“ versehen. Das verdeutlicht die feste Position, die er innerhalb der Familienkonstellation inne hatte. Die folgende Hochzeit der Mutter mit dem neuen Mann wird von ihm jedoch als „sehr schnell“ (20) bewertet, was als Hinweis auf eine Überforderung mit der Geschwindigkeit der sich wandelnden Familienstruktur und den damit für ihn verbundenen Anpassungsleistungen interpretiert werden kann. Es kann weiterhin sein, dass Kai den frühen Zeitpunkt der Hochzeit auch aus seiner heutigen Perspektive heraus kritisch betrachtet, da die Ehe seiner Mutter mit dem Stiefvater kürzlich gescheitert ist. Sequenz 20-24: „meine mutter dann schwanger na ja vor der hochzeit war die noch schwanger kurz vor der geburt meiner kleenen schwester denn meiner stiefschwester ham se jeheiratet und joa was kann mer noch so erzähln für sachen joa die ham sich jetzt och widder jetrennt anfang dies jahr und meine mutter wohnt jetzt och widder alleene mit meiner schwester zusammen (..)“
Die in der vorherigen Sequenz eingeleitete familiale Veränderung erfährt eine weitere Wandlung durch die mit dem Markierer „dann“ (20) eingeführte
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Schwangerschaft der Mutter. Kais Mutter hat ihren neuen Mann offensichtlich nicht nur relativ schnell geheiratet, sondern bekam auch bald ein Kind mit ihm. Wie Kai diese für ihn doch relativ große Veränderung in seiner Familie erlebt hat, beschreibt er nicht. Es fällt jedoch auf, dass Kai zunächst von der „geburt meiner kleenen schwester“ (21) spricht, wodurch sich Zugehörigkeit und Akzeptanz vermitteln, dann aber anfügt, dass es sich um seine Stiefschwester24 handelt, womit er die Schwester nachträglich ein Stück weit von sich distanziert und ihre Zugehörigkeit zum Stiefvater unterstreicht. Möglicherweise verband sich hier der Wunsch nach einer Vaterfigur, der sich in der Akzeptanz des neuen Mannes der Mutter als Stiefvater äußert, mit der Furcht vor einer randständigen Position innerhalb der neuen Familienkonstellation. Die Distanz zu den Ereignissen vermittelt sich auch durch das in Bezug auf die schwangere Mutter verwendete unpersönliche „die“ (21). Der ausdrückliche Hinweis darauf, dass die Hochzeit noch vor der Geburt der Schwester erfolgte, lässt auf konservative Familienvorstellungen von Kais Mutter und seinem Stiefvater schließen, die Sequenz zeigt aber auch noch einmal, wie rasant die familiären Veränderungen aus Kais Perspektive verlaufen sind. Die Zeit zwischen der Heirat der Mutter und der Geburt der jüngeren Schwester wird von Kai in seiner Erzählung ausgespart. Er spricht nicht über sein Leben in der neuen Familie, sondern knüpft nach einer kurzen Überlegung darüber, was er noch erzählen könnte, direkt mit der Trennung seiner Mutter vom Stiefvater an. Kai erzählt das an dieser Stelle sehr sachlich und geradezu emotionslos. Dennoch kann eine emotionale Beteiligung unterstellt werden, denn die Formulierung „wohnt jetzt och widder alleene mit meiner schwester zusammen“ (23-24) zeigt, dass Kai sich im Zusammenhang mit der Trennung seiner Mutter vom Stiefvater an seine eigene Vergangenheit erinnert, in der er mit seiner Mutter und seinem Bruder nach deren Scheidung vom Vater allein lebte. Seine Schwester ist etwa im gleichen Alter wie er damals, sie steht also stellvertretend für sein eigenes Leben als Sechsjähriger. Für die Emotionalität in dieser Sequenz spricht auch die relativ stammelnde Erzählweise von Kai. Mit dem Hinweis auf das erneute Alleinleben der Mutter ist er mit seiner Erzählung über die Familiengeschichte in der Gegenwart angekommen und bricht ab. Möglicherweise möchte Kai das Thema auch aufgrund seiner eigenen Betroffenheit nicht weiter vertiefen. Bemerkenswert in der gesamten Sequenz ist Kais Erzählweise, denn er stellt im Grunde die Ereignisse um seine Mutter in den Vordergrund, während seine eigene Einbindung in die Entwicklungen nicht thematisiert wird, wodurch sich der Eindruck eines außenstehenden Beobachters vermittelt. Es fällt weiterhin 24
Die korrekte Bezeichnung wäre hier Halbschwester. Entweder ist diese Kai nicht geläufig oder die Verwendung des Begriffes Stiefschwester wird eben aufgrund der getroffenen Zuordnung zum Stiefvater verwendet.
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auf, dass sein Bruder im Fortgang der Familiengeschichte keinerlei Erwähnung mehr findet. Das lässt die Vermutung zu, dass er aufgrund des Altersunterschiedes bereits seinen eigenen Interessen nachging, zu denen Kai nur wenig Zugang hatte. Der zunächst angeklungene Zusammenhalt der Geschwister in der Scheidungssituation scheint nicht länger gegeben gewesen zu sein. Sequenz 24-29: „einjeschult wurd ich neunzehnXX wie jesacht und bin eijentlich bis in de.. hab de zweete klasse wiederholt wejen lernschwierigkeiten und lese-rechtschreibschwäche hab ich bin ich bis in de fünfte klasse in ne sonderschule jegang wo das so halbwegs behoben wurde (.) und dann in de b.-schule ne stinknormale realschule wo ich dann eigentlich gar nich mehr klar kam nich mehr hinjejang“
Kai wechselt nach einer kurzen Pause mittels des Markierers „einjeschult wurd ich neunzehnXX“ (24) abrupt zur Erzählung seiner Schullaufbahn und beginnt hier zeitlich gesehen quasi noch einmal von vorn, nämlich mit seiner Einschulung. Er begibt sich also zurück in sein begonnenes formales Ablaufmuster, das er durch die Detaillierung seiner familialen Verhältnisse verlassen hatte. Kai erzählt jetzt aus der „Ich-Perspektive“, erlebt sich also wohl eher als Akteur als innerhalb seiner Familienbiografie. An das Datum seiner Einschulung fügt Kai „wie jesacht“ (24-25) an, obwohl er dieses Thema neu einführt. Es dient in diesem Zusammenhang als Rahmenschaltelement, das den Beginn eines neuen Segments unterstreicht. Kai musste bereits die zweite Klasse wiederholen, da bei ihm eine LeseRechtschreibschwäche festgestellt wurde. Es wird nicht deutlich, ob die von ihm beschriebenen Lernschwierigkeiten aus der Lese-Rechtschreibschwäche resultieren oder zu ihr dazu kommen. Möglich wäre auch, dass Kai hier das gleiche meint, also zunächst von Lernschwierigkeiten spricht und dies dann durch den Nachtrag „lese-rechtschreibschwäche“ (26) konkretisiert. Aufgrund der LeseRechtschreibschwäche wechselte Kai an eine Schule, die sich auf den Unterricht für Kinder mit dieser Lernschwierigkeit spezialisiert hat. Kai spricht offen über seine schulischen Schwierigkeiten. In der „sonderschule“ (27) ist seine LeseRechtschreibschwäche „so halbwegs behoben“ worden (27). Die Formulierung, die Kai hier verwendet, wirkt beinahe technisch, wie bei einem Schaden, den man reparieren lässt. Seine laxe Formulierung „halbwegs“ (27) spricht dafür, dass Kai auch heute noch Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat. Kai wechselte nach der fünften Klasse zurück auf eine Regelschule, weshalb davon auszugehen ist, dass bei ihm außer der Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) keine weiteren Lernschwierigkeiten vorlagen. In der Sekundarschule ist er jedoch überhaupt nicht zurechtgekommen, was letztlich zu totaler Schulunlust und massiven Fehlzeiten führte. Seine schulischen Schwierigkeiten werden im Anschluss an die Stegreiferzählung von Kai detailliert, was an dieser Stelle zugunsten einer übersichtlichen Falldarstellung vorgezogen wird. Hauptproblem an der
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Realschule war für Kai demnach der Wegfall einer spezifischen auf den jeweiligen Schüler zugeschnittenen Betreuung und Förderung. „an der sonderschule da wurde mer einzeln behandelt teilweise wemmer weil die wussten ja wo bei jedem schüler die schwierigkeiten lagen“(38-40) „was off der realschule dann eijentlich total wegjefalln is (.) das da anfangszeit jabs och noch so förderkurse und so aber das hat sich dann och nach m halben dreiviertel jahr wurde die och abjeschafft die förderkurse und damit saß man dann janz alleene da und da warn dann die erfolge weg die man sonst hatte wo mer dann trotzdem jelernt hat wien blöder aber trotzdem nur ne vier rausjekomm is oder ne fünf hat mers sein lassen zu lern und (.) kamen nur noch schlechte noten und (.) durch diesen totalen misserfolg der janzen sache s war hat mer sich dann selber jesacht ach weshalb was soll ich da noch hinjehen bin ich eh nur wenn nur müll rauskommt und da lässt mers total falln“(43-51)
Der Schulwechsel war für Kai mit einem massiven Leistungsabfall verbunden, der ihn sehr belastet hat. Besonders schlimm empfand er dabei das Gefühl des Alleingelassen-Seins durch die Lehrer, da er eine dichtere Betreuung gewöhnt war. Mit dem Wegfall der Fördermaßnahmen wurden seine schulischen Leistungen zunehmend schlechter. Obwohl Kai sich um bessere Noten bemühte und lernte, gelang es ihm nicht, das Ruder herumzureißen und seinen schulischen Abstieg aufzuhalten. Kai geriet in einen Kreislauf aus Misserfolgen und daraus resultierender immer geringerer Motivation. Es kam zum sogenannten „Trudeln“ (Schütze 2006, S.215). Die letztendliche Konsequenz aus der für Kai unglücklichen Schulsituation war seine totale Verweigerung, in dem er nicht mehr zur Schule ging. Seine Formulierung „gar nich mehr klar kam“ (28) macht deutlich, als wie gravierend er die mit dem Schulwechsel verbundenen Veränderungen und Probleme erlebt haben muss. Seine Familie bzw. seine Mutter taucht in Kais Erzählung in diesem Zusammenhang jedoch nicht auf, woraus geschlossen werden kann, dass von ihrer Seite keine von ihm positiv wahrgenommenen Unterstützungsangebote erfolgten. Gründe hierfür könnten in den neuen Lebensumständen der Mutter liegen, die durch die Geburt der Schwester möglicherweise weniger Zeit für Kai hatte. Denkbar wäre aber auch, dass Kai selbst sich zurückgezogen hatte, keine Hilfe annahm oder der Mutter seine Schwierigkeiten (solange so etwas möglich ist) verschwieg. In jedem Fall deutet sich an dieser Stelle die Abwesenheit von elterlicher Führung an. Das beschriebene Gefühl des Alleingelassen-Seins kann sich daher durchaus auch auf seine Familie beziehen. Sequenz 29-33: „und dann fing das alles so an die kriminelle laufbahn sach ich ma das warn neue freunde (..) keen zei.. der zeitvertreib dann da war wemmer nich mehr in de schule jegang is nur noch mit freunden unterwegs jesoffen party jemacht falsche freunde hmhh widder freundeskreis jewechselt so da zu den zu der rechten seite der szene zu den rechten und nur noch kacke jebaut nur noch jesoffen nur noch stress gemacht rumgeschlagen nur müll“
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Mit dem Rahmenschaltelement „und dann“ (29) leitet Kai zur Erzählung über den Beginn seiner delinquenten Karriere über. Kai stellt hier einen Zusammenhang zwischen dem schulischen Stress, seinem Vermeidungsverhalten durch das Schwänzen der Schule und ersten delinquenten Handlungen im Rahmen wechselnder neuer Freundeskreise her, was sich schließlich zu einem von ihm subjektiv nicht mehr kontrollierbaren Teufelskreis aus devianten und delinquenten Handlungen im Rahmen der rechten Szene entwickelte. Die Zeit, die Kai sonst in der Schule verbrachte, gestaltete er jetzt mit seinen neuen Freunden. Gemeinsam unternahmen sie etwas, um die zusätzliche freie Zeit zu füllen. Kai sagt zunächst „keen zei..“ was wohl „kein Zeitvertreib“ heißen sollte und korrigiert sich dann auf „der zeitvertreib“ (30). Mit dem selbstgewählten Verzicht auf den Besuch der Schule verfügte Kai nun über sehr viel Zeit, was mit Langeweile verbunden war, weil er mit der „freien“ Zeit nichts anzufangen wusste. Um dies nicht ansprechen zu müssen, formuliert er seine Erzählung jedoch an dieser Stelle um. Kai beschreibt nicht, wo er seine neuen Freunde kennengelernt hat, sondern spricht von einer anonymisierten Gruppe. Auffällig ist wiederum, dass er seine Familie bzw. deren Reaktion auf sein Verhalten nicht erwähnt. Die Freunde scheinen sein Leben zu diesem Zeitpunkt stark dominiert zu haben. Zusammen mit den Freunden verhielt sich Kai zunehmend abweichend. Von ihm selbst wird dieses Abrutschen in eine delinquente Karriere als „kriminelle laufbahn“ (29) beschrieben. Dadurch wird deutlich, dass Kai sich inzwischen mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Kai erzählt hier sehr offen und versucht auch nicht, sein damaliges Verhalten zu beschönigen oder zu bagatellisieren. Allerdings spricht er stichpunktartig und vermeidet die Verwendung von Personalpronomen, in dem er das „Ich (hab)“ quasi verschluckt. Es kann vermutet werden, dass die unpersönliche Sprechweise aus Schamgefühlen resultiert und es ihm trotz seiner Aufgeschlossenheit schwer fällt, diese Thematik gegenüber der Interviewerin und/oder auch vor sich selbst zu bearbeiten. Gemeinsam mit seinen Freunden trank Kai viel Alkohol und war ständig „unterwegs“ (31), um „party“ (31) zu machen. Kai wechselte schließlich seinen Freundeskreis. Warum diese Jugendlichen „falsche freunde“ (31) waren, lässt er offen. Augenscheinlich ist er mit ihnen jedoch nicht mehr zurechtgekommen. Schließlich gelangte Kai in die rechte Szene, was mit einer Steigerung seines delinquenten Verhaltens und damit einem weiteren Abrutschen verbunden war – „nur noch kacke jebaut nur noch jesoffen nur noch stress gemacht rumgeschlagen nur müll“ (33). Die Ergebnissicherung dieser Passage verbindet sich mit einer kurzen eigentheoretischen Argumentation: Kai hat – vermutlich im Zusammenhang mit seinem starken Alkoholkonsum und der neuen rechten Einstellung –
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etliche Straftaten („kacke“ 33), darunter auch Gewalttaten begangen, was er aus seiner heutigen Sicht inakzeptabel findet. Seine Familie oder andere mögliche Bereiche seines Lebens kommen auch in diesem Teil von Kais Erzählung nicht vor. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass es kaum andere Inhalte in seinem Leben gab, die zu dieser Zeit für ihn relevant waren und er völlig mit seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene und den damit zusammenhängenden Aktivitäten beschäftigt war. Sequenz 34-36: „ich weeß nich was kann ich was soll ich n noch erzähln letztlich hier jelandet (.) een jahr und fünf monate (.) weil man nur mist im kopf hat hnh (...) was soll ich noch erzähln hnn mir fällt nüscht mehr ein“
Mit der Beschreibung seiner Szenezugehörigkeit bis zu seiner Inhaftierung ist Kai mit seiner Erzählung wiederum in der Gegenwart angekommen. In die Erzählcoda integriert er eine Bilanzierung seines bisherigen Lebens, die negativ ausfällt: Sein immer tieferes Reinrutschen in eine delinquente Karriere endete für Kai schließlich in der Jugendvollzugsanstalt, wo er eine 17-monatige Haftstrafe verbüßen muss. Die Verantwortlichkeit für dieses vorübergehende Ende seines freien Lebens sieht Kai bei sich, auch wenn er hier in einer unpersönlichen Form („man“ 35) spricht. Kai spricht weiterhin in der Gegenwart. Zwar scheint sich seine Einstellung – wohl auch durch die erfahrenen Konsequenzen – inzwischen verändert zu haben, dennoch sagt er „nur mist im kopf hat“ (35). Für Kai scheint also zwar klar zu sein, dass sein Leben so nicht weitergehen soll und kann, eine richtige Alternative zum „mist“ (35) hat er aber noch nicht gefunden. Mit der Wiederholung der Erzählcoda („was soll ich noch erzähln hnn mir fällt nüscht mehr ein“ 35-36) beendet Kai seine biografische Stegreiferzählung. Über sein momentanes Leben in der Jugendvollzugsanstalt erzählt er nichts. In der Stegreiferzählung werden von Kai die folgenden Themenkomplexe beschrieben:
die Scheidung der Eltern, die Entstehung einer neuen familialen Konstellation mit Stiefvater und Halbschwester und deren Auflösung durch die Trennung der Mutter vom Stiefvater, Schullaufbahn und -schwierigkeiten, der Einstieg in die rechte Szene und eine delinquente Karriere, die Folgen der Zugehörigkeit zur rechten Szene und der damit verbundenen Straftaten.
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4.1.2 Biografische Gesamtform – Die verzweifelte Suche nach (väterlichem) Rückhalt und das Scheitern am eigenen Selbstentwurf Kai beginnt seine biografische Erzählung formal, kann dieses Muster jedoch nicht bis zum Ende durchhalten. Er fasst sich innerhalb der Stegreiferzählung relativ kurz und versucht, sich an den wesentlichen Eckdaten seiner Biografie zu orientieren. Dabei erzählt er seine Lebensgeschichte quasi zweimal aus verschiedenen Perspektiven. Zum einen spricht er über sein Aufwachsen in der Familie, wobei er hier nach der erneuten Heirat der Mutter eher wie aus einer Beobachterrolle heraus berichtet. Zum anderen erzählt er seine Biografie anhand seiner schulischen Entwicklung, die schließlich in die Zugehörigkeit zur rechten Szene und vielfältigen Straftaten mündete. Eine Verknüpfung dieser beiden Bereiche seines Lebens, die ja lebensgeschichtlich parallel abgelaufen sind, erfolgt in der biografischen Ersterzählung nicht. Möglicherweise fand Kais Leben in seiner Wahrnehmung tatsächlich in zwei verschiedenen Welten statt, die er für sich nicht verbinden konnte. Kai ist bis zur Scheidung seiner Eltern, zu deren Zeitpunkt er noch im früheren Kindesalter war, in einer – wie er selbst betont – vollständigen und glücklichen Familie aufgewachsen, zu der er selbst sowie die Eltern und ein älterer Bruder gehörten. Mit dem Auseinanderbrechen der Familie („Komponente biografischer Verletzungsdisposition“) entwickelte sich eine Anzahl von problematischen Konstellationen („Komponente von zentralen Widrigkeiten in der aktuellen Lebenssituation“), die Kai zunehmend belasteten und schließlich dazu geführt haben, dass er mit allen Mitteln versuchte, aus seiner verzweifelten Situation auszubrechen bzw. sie zu bewältigen („Versuch des Aufbaus eines labilen Gleichgewichts der Alltagsbewältigung“). Das sich hier über einen längeren Zeitraum aufschichtende Verlaufskurvenpotential mündete schließlich in einem kompletten Zusammenbruch von Alltagsorganisation und konventioneller Lebensgestaltung (Straftaten, Alkoholkonsum) (Schütze 2006, S.215f.). In unmittelbarem Zusammenhang mit der Scheidung der Eltern standen der Verlust des Vaters als alltäglich verfügbare Bezugsperson, da dieser die Kinder aufgrund seiner wohnlichen und beruflichen Situation nur noch selten sah, sowie davor die Rivalitäten der Eltern um die Zuneigung der Kinder an sich. Kai geriet damit in ein Spannungsverhältnis zwischen der belastenden Gesamtsituation und den auch positiv erlebten zeitweiligen besonderen Bemühungen der Eltern um ihn bzw. ihn und seinen Bruder. Seine gewohnten und verlässlichen Strukturen wurden mindestens zeitweilig erschüttert und durcheinander gebracht, was mit einer notwendigen Neuorientierung und Anpassungsleistung von Kai an die veränderten Gegebenheiten verbunden war. Die Mutter konnte Kai in dieser schwierigen Situation nicht genügend auffangen, weil sie sich nunmehr als alleinige Ernährerin der Familie beruflich verstärkt engagieren musste.
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Mit der neuen Beziehung der Mutter zu Kais Stiefvater verband sich für Kai die Hoffnung auf eine väterliche Orientierungsfigur in seinem Leben, die sich jedoch langfristig nicht erfüllte. Auch hier befand sich Kai in einer zwiespältigen Situation zwischen der Freude über die erneute Vervollständigung der Familie und der Angst vor dem Verlust des eigenen Status innerhalb der Familie zugunsten des Stiefvaters, der für ihn auch einen Rivalen in Bezug auf die Zuwendung der Mutter darstellte, sowie der aus dieser Beziehung hervorgegangenen jüngeren Schwester. Seine geringe erzählerische Involvierung in die familialen Ereignisse lässt den Schluss zu, dass Kai in seiner Wahrnehmung innerhalb der neuen Familienstrukturen in den Hintergrund geriet. Ob seine zunehmenden Schulschwierigkeiten auch mit den familialen Belastungen zusammenhingen, kann nur vermutet werden. Deutlich wird jedoch, dass Kai sich mit seinen Problemen allein gelassen fühlte. Sowohl die Beziehung zu seinem leiblichen Vater als auch die zu seinem Stiefvater erscheint problematisch. Beide Väter brachen letztlich als Orientierung vermittelnde und Halt gebende männliche Bezugspersonen weg und enttäuschten Kai so in seinem Vertrauen in die Stabilität der Vater-SohnBeziehung. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er weder seinen leiblichen noch seinen Stiefvater in der Netzwerkkarte platziert. Während er innerhalb der Familie seit der Scheidung der Eltern eher als passive Figur erscheint, die das aktuelle Geschehen kaum beeinflussen und gestalten konnte, verband sich mit der Schule zunächst Zugehörigkeit und Unterstützung, was sich mit dem Schulwechsel auf die Realschule jedoch änderte. Kai geriet dort immer stärker in eine verzweifelte Außenseiterposition, da er im Leistungsbereich aus seiner Sicht trotz starker Bemühungen komplett den Anschluss verlor. Seine Gesamtsituation erfuhr durch die Anhäufung belastender familialer Ereignisse in Kombination mit seinem zunehmenden Schulversagen eine krisenhafte Zuspitzung, in der Kai kaum noch handlungsfähig war und keinen Rückhalt mehr fand. Das sich langsam aufbauende Verlaufskurvenpotential der familialen Einschnitte und Veränderungen dynamisierte sich also nun durch die schulischen Probleme zu einer „übermächtigen Verkettung“ von für Kai nicht mehr beherrschbaren Ereignissen (Schütze 2006, S.215). Sein in Form der Zuwendung zur rechten Szene formulierter Hilfeschrei wurde von seinem Umfeld entweder nicht entsprechend erkannt oder aber mögliche Interventionen blieben wirkungslos. Das kann an dieser Stelle noch nicht aus der Erzählung rekonstruiert werden. Deutlich wird jedoch, dass Kai immer tiefer in die rechte Szene reinrutschte, innerhalb derer er seine aufgestauten Aggressionen in gewaltförmigem Verhalten ausagieren konnte. Bei seinen rechten Freunden fühlte Kai sich akzeptiert und anerkannt. Zugunsten dieser neuen Verbindungen vernachlässigte er die Schule,
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in der er sowieso nicht mehr zurechtkam, immer stärker, bis er schließlich gar nicht mehr hinging. Im Mittelpunkt seines Lebens stand nun die Einbindung in die rechte Szene, in deren Zusammenhang Kai etliche Straftaten beging. Während der Anschluss an die rechte Szene also zunächst der Wiedererlangung von Handlungsfähigkeit diente, erwies er sich schnell als dysfunktionaler Bewältigungsversuch und verstärkte Kais Abrutschen in kriminelle Zusammenhänge bis hin zum totalen Zusammenbruch seines bürgerlichen Lebens. Diese Abwärtsspirale der Verlaufskurve wurde letztlich erst durch das massive äußere Eingreifen in Form der Verhängung einer Haftstrafe gegen ihn unterbrochen. Dadurch wurde Kais kriminelle Karriere zumindest für die Dauer der Haft ausgesetzt, was ihm die Chance auf die Auseinandersetzung und Bearbeitung der Verlaufskurve eröffnete und ihm die Möglichkeit einer Neuorientierung gibt. Die Verurteilung wird von Kai angenommen und in ihrer Konsequenz auch nicht infrage gestellt. Die egozentrierte soziale Netzwerkkarte (Abb.6) bestätigt die bisherigen Interpretationen dahingehend, dass
die Familie, insbesondere seine Mutter, die er extrem nah an sich heranrückt, eine hohe Bedeutung in seinem Leben hat, er in Bezug auf seinen Vater und Stiefvater eine große Enttäuschung verspürt, da sie beide nicht in der Netzwerkkarte vorkommen, Kai versucht, sich von der rechten Szene zu distanzieren, da sie in der Netzwerkkarte keine Erwähnung findet, sondern nur drei Freunde vorkommen, denen kein politischer Hintergrund zugeordnet wird.
Die Netzwerkkarte enthält Informationen, die in Bezug auf die bisherige Interpretation überraschen, denn seine Freundin wird von Kai nicht erwähnt, obwohl er ihr einen relativ großen Bereich in seinem Leben zuordnet. Weiterhin wird auch der abgesteckte Bereich „Arbeit und Hobby“ in der Erzählung nicht thematisiert. 4.1.3 Familiale Beziehungsqualität und Erziehungshintergrund – „totale verzweiflung“ (90) und die Suche nach Halt und Akzeptanz Kai beschreibt seine Kindheit bis zum Zeitpunkt der Scheidung auch im weiteren Verlauf des Interviews nochmals als glücklich und schön. Er konkretisiert sein in der Stegreiferzählung angerissenes Verständnis von einer „kompletten familie“ (12): Es fanden viele gemeinsame Unternehmungen statt, die Familie verbrachte ihre Zeit zusammen. Durch die Betonung des Lachens und der Fröhlichkeit verdeutlicht sich die Nähe und Harmonie der Familienmitglieder untereinander. Diese für ihn sehr wichtige „heile Welt“ ist mit der Scheidung der Eltern
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unwiderruflich verloren gegangen. In diesem Verlust und den sich daran anschließenden familialen Entwicklungen sieht Kai einen wesentlichen Grund für seinen bisherigen Lebensverlauf. „meine kindheit (I.: hm) war schön die war schön mein bruder viel spaß jehabt viel jelacht als kleene kinder och viel unternomm mitn eltern so mit meiner mutter und mein richtjer vater war lustich aber (..) ich weeß nich hätt ich mir jewünscht dass es weiter so jejang wär ich glob da wärs nie so weit jekomm dass mer so (...) weeß nich mehr akzeptiert fühlt (lacht) weil ich sach mal in anfangszeit der scheidung wars ja alles och schön und gut (..) bloß dann der neue mann im leben und so (lacht) da war dann keene zeit mehr für mich da also anfangszeit schon bloß wo die dann jeheiratet ham die warn beede arbeiten ne kleene schwester da (.) stand man im hintergrund (.) da war man dann nich mehr sach ich ma die nummer eins hnh in der skala“ (79-89)
Kai verlässt seine distanzierte Perspektive aus der Stegreiferzählung und detailliert die Ereignisse in ihrer persönlichen Bedeutung für ihn selbst. Die damit verbundene Emotionalität versucht er durch das Lachen zu überspielen und durch das unpersönliche „man“ in Schach zu halten. Das Hauptproblem für Kai ist der Verlust einer subjektiv sicheren und anerkannten Position innerhalb der Familie, den er mit dem festen Eintritt des Stiefvaters in die Familie verbindet. Die Heirat und kurz darauf folgende Geburt der Schwester stellen dabei die entscheidende Zäsur dar. Während er sich davor noch als im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehend erlebte, fühlt er sich nach der Geburt der Schwester zurückgesetzt. Dazu kommt wohl das subjektiv empfundene oder tatsächliche Ausgeschlossen-Sein, da der Stiefvater nun ein leibliches Kind hat, das ihn mit Kais Mutter verbindet. Hierin begründet sich auch Kais unpersönliche und wie aus einer Beobachterrolle wirkende Erzählweise dieser biografischen Ereignisse in der Stegreiferzählung. Er konnte sich offenbar in der neuen Familienkonstellation nicht verorten und empfand sich selbst als Randfigur. Weiterhin zeigt sich in der Sequenz ein deutlicher Widerspruch zu Kais Darstellung seines Erlebens der Scheidung der Eltern in der Ersterzählung. Er sagt „in anfangszeit der scheidung war ja och alles schön und gut“ (84-85). Dies widerspricht seiner Erzählung von dem Gezerre (vgl. 15) der Eltern um die Kinder und dem damit verbundenen belastenden Entscheidungszwang sowie dem Gefühl des Alleingelassen-Seins durch die häufige Abwesenheit der Eltern. Es kann davon ausgegangen werden, dass Kai hier die Zeit nach der Scheidung meint, in der die Verhältnisse zwar nicht mehr seiner heilen und schönen Kindheit entsprachen, er sich jedoch in Bezug auf seinen wichtigen Stellenwert innerhalb der Familie sicher war und sich eine gewisse neue Stabilität in den familialen Abläufen gebildet hatte. Dieses neue Gleichgewicht wurde nach dem Eintritt des Stiefvaters in die Familie und die dann einsetzenden raschen Entwicklungen erneut erschüttert, woraus sich schließlich eine von Kai wahrgenommene massive Verschlechterung seiner Einbindung ergab. Das Gezerre (vgl. 15)
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der Eltern bot bei allen belastenden Aspekten wohl dennoch die Gewissheit gewollt zu sein, die Kai in der neuen Familienkonstellation verliert, was für ihn bedeutet, dass alles noch schlimmer wird und zu einer Verklärung der Lage davor führt. Aus seiner Perspektive ist nun auch noch seine bis dahin stabile Beziehung zur Mutter schwer beeinträchtigt. Kais Beschreibung seiner Position innerhalb der Familie als „nummer eins“ (88) lässt auf eine grundlegend konkurrierende Situation in Bezug auf die Aufmerksamkeit der Mutter schließen. Möglicherweise wurde ihm als Nesthäkchen nach der Scheidung besondere Aufmerksamkeit zu Teil, da er um einiges jünger war als sein Bruder. Denkbar wäre auch, dass seine schulischen Probleme durch die Lese-Rechtschreibschwäche zu einer intensiveren Betreuung und Unterstützung durch die Eltern respektive die Mutter geführt haben. Kai hat in seiner Wahrnehmung durch die neue Ehe seiner Mutter und die Geburt der Schwester seine Spitzenposition auf der Skala verloren – er stand nun im „hintergrund“ (88). „wo ich kleen war na ja klar wars dann (.) nja is schon scheiße wenn der vater dann weg is so die vaterrolle dass nur noch (.) nja die mutter da war aber ich weeß nich das war eijentlich och am anfang wars ne janz schöne zeit wir (.) ham och dann viel unternomm weil sich (.) die mutter eigentlich sehr um einen jekümmert hat man wurde wahnsinnig viel ablenkung so in zoo jefahrn und das unternomm und hier und da (.) war eijentlich schön hnh sach ich mal und mit dem ne.. mit c. mit dem neuen mann war och wunderschön bloß ab nem bestimmten zeitpunkt nich mehr wo man sich dachte was.. was läuft hier für ne kacke ab (...) das war wenn (.) ich das machen wollte was den eltern nich passt (..)"' (180-188)
Die Trennung seiner leiblichen Eltern ist für ihn mit dem Gefühl des Verlustes des Vaters verbunden. Dieses Wegbrechen seiner männlichen Orientierungsfigur und Bezugsperson im alltäglichen Leben war für Kai eine schmerzhafte Erfahrung. Aus seinen Formulierungen „is schon scheiße“ (180) und „dass nur noch (.) nja die mutter da war“ (181) geht hervor, dass Kai die Vaterfigur in seinem Leben fehlte. Allerdings wird aus seinem kurzen Stocken und dem verwendeten Füllwort deutlich, dass Kai Angst hat, seine Mutter durch dieses Eingeständnis abzuwerten, da er sie quasi als ein „nur noch“ (181), also als etwas eigentlich nicht Ausreichendes und Zufriedenstellendes, beschrieben hat. Aus dieser Unsicherheit heraus bricht Kai an dieser Stelle ab und beginnt positive Aspekte nach der Trennung seiner Eltern hervorzuheben, die seiner Mutter zu verdanken sind. Auch hier findet sich abermals ein Widerspruch zu seiner Darstellung in der Ersterzählung. An anderer Stelle beschreibt Kai das Verhältnis zu seinem leiblichen Vater auch nach der Scheidung als gut. Der Vater zog aus beruflichen Gründen aus Kais Heimatstadt weg und später nochmals in eine andere Stadt, der Kontakt zu seinen Kindern blieb jedoch bestehen. Kai besuchte den Vater gemeinsam mit seinem Bruder oder der Vater kam zu Besuch nach A.-Stadt (200-213). Die dann
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gemeinsam verbrachte Zeit empfand Kai als schön, da der Vater „eigentlich alles jemacht hat uns glücklich zu machen ejal mit kleenen geschenken oder hier da mal hinfahrn ins kino fahrn oder so“ (209-210). Die zunächst ambivalent wirkende Darstellung der familialen Beziehungen im Anschluss an das Auseinanderbrechen der Familie begründen sich aus einem differenzierten Erleben, das mit der spezifischen Situation der Scheidung zusammenhängt: Einerseits wird die Trennung der Eltern als Verlust und schmerzhafte Erfahrung erlebt, die keinesfalls eine „schöne zeit“ (182) darstellt. Kai fühlte sich allein gelassen, da die Eltern ebenfalls eine schmerzhafte Erfahrung durchlebten und zeitweise mit sich selbst bzw. mit der Neuorganisation der familialen Abläufe und Lebensstrukturen beschäftigt waren. Zum anderen scheinen beide, jedoch besonders seine Mutter, bemüht gewesen zu sein, ihren Kindern den Trennungsschmerz und die damit verbundenen Belastungen zu erleichtern, indem sie sich ihnen besonders zuwandten und sie durch gemeinsame Unternehmungen abzulenken versuchten – „man hatte eben sehr viel aufmerksamkeit von beiden seiten“ (213). Die gemeinsamen Unternehmungen setzten sich zunächst weiter fort, nachdem die Mutter ihren neuen Mann kennengelernt hatte. Kai stand ihm positiv gegenüber – „mit dem neuen mann war och wunderschön“ (185-186). Die an dieser Stelle verwendete starke Formulierung „wunderschön“ lässt die Vermutung zu, dass Kai die erneute Vervollständigung, die für ihn ja eine wichtige Rolle in seiner Vorstellung von Familie spielt, anfangs sehr genossen hat. Das anfänglich gute Verhältnis hat dann jedoch eine stark negative Veränderung erfahren, die Kai zunächst mit seinem (pubertären) Verhalten in Verbindung bringt – er wollte etwas tun „was den eltern nich passt“ (187-188). Dabei fällt auf, dass Kai von „eltern“ (187) spricht, was erneut auf seine (anfängliche) Akzeptanz des Stiefvaters verweist. Die erzieherische Beteiligung des Stiefvaters scheint jedoch vor allem in Konfliktsituationen von Kai als unberechtigte Einmischung oder zumindest in ihrer Ausprägung als unangemessen empfunden worden zu sein und zu Auseinandersetzungen geführt haben. Die Verschlechterung seines Verhältnisses zum Stiefvater und des Familienlebens war in jedem Fall drastisch, nämlich von „wunderschön“ (186) zu „kacke“ (187). Seine bereits in der Interpretation der Stegreiferzählung herausgearbeitete Hoffnung auf eine neue Vaterfigur erfüllte sich nicht. Gründe hierfür sieht Kai in der Geburt seiner Schwester und der damit einhergehenden Hochzeit von Mutter und Stiefvater. „wo dann total (.) vor der hochzeit meiner eltern bevor meine schwester nich da war och oah da hatt mer eigentlich so viel unternomm zusamm so mit meim stiefvater och zusamm wo mer dachte er is so die neue vaterrolle (.) bloß was sich nach der hochzeit sach ich mal für mich jar nich bestätigt hat (.) dass er dann eigentlich also zu mir jedenfalls n total andrer mensch wird oder mich nich akzeptiert hat so wie ich war und dass dann eigentlich de eltern weg warn abends oder so und man nich wusste was man machen soll (.) und sich irgendwo hinretten wollte“ (112-118)
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Kais Gefühl des Ausgeschlossen-Seins erfährt eine erneute Konkretisierung. Er erlebt seinen Stiefvater nun völlig anders und fühlt sich von ihm nicht akzeptiert. Weiterhin spricht Kai davon, dass sich seine Erwartungen an den Stiefvater für ihn nicht bestätigt haben. Daraus kann geschlossen werden, dass der Stiefvater die Vaterrolle für ein anderes Kind übernommen hat. Es bleibt offen, ob damit neben seiner Schwester auch sein Bruder gemeint ist. Seine Verhaltensänderung betraf aus Kais Sicht weder die Mutter noch den Bruder oder die Schwester, sondern nur ihn selbst, er sagt „dass er dann eigentlich zu mir jedenfalls n total andrer mensch wird“ (115-116). Aus seiner Hoffnung, der Stiefvater möge die Vaterrolle für ihn übernehmen, wird auch deutlich, dass Kais leiblicher Vater zumindest für alltägliche Belange nicht genügend zur Verfügung stand, was neben der räumlichen Distanz auch mit von Kai angedeuteten massiven beruflichen Schwierigkeiten zusammenhängen könnte (206-208). Kai bringt auch an dieser Stelle wieder zum Ausdruck, wie allein gelassen er sich von den Eltern fühlte. Er sagt „und dass dann eigentlich de eltern weg warn abends oder so“ (116-117). Dabei ist die Kernaussage das Gefühl der Elternlosigkeit, der Nachtrag „abends oder so“ dient eher der Relativierung der ausdrucksstarken Formulierung. Die negativen Gefühle des Ausgeschlossen-Seins und der mangelnden Zugehörigkeit erlebte Kai als so dramatisch und gravierend, dass er den Impuls verspürte, sich „irgendwo hinretten“ (118) zu wollen, womit er wahrscheinlich auf seinen Anschluss an zunächst diverse Jugendcliquen anspielt. Der Begriff des Rettens steht dabei als Symbol für seine subjektiv empfundene Not. „letztendlich me.. n.. dann der tod meines vaters das hat mich dann och noch mal (.) etage tiefer rutschen lassen wo dann eigentlich die totale verzweiflung hatte weil man nich weeß was man machen soll der vater tot (.) die eltern im stress und was soll mer machen in de schule in der schule keene lust mehr macht mer scheiße da trinkt mer een übern durst und man kommt nur off dumme ideen und (...) so kommt das dann stein auf stein“ (89-94)
Die unglückliche Situation, in der Kai sich befand, erfuhr durch den Tod seines Vaters eine weitere dramatische Steigerung. Zu seinem Gefühl des Ausgeschlossen-Seins aus der neuen Familie kam nun noch der Verlust eines Elternteils (massive Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential), was letztlich auch zu einer Verschlimmerung seiner ohnehin schon vorhandenen Schulprobleme beitrug, weil seine Konzentrationsfähigkeit und Motivation im Unterricht beeinträchtigt waren. Kai beschreibt seine damaligen Gefühle als „totale verzweiflung“ (90), nicht zuletzt, da er aus seiner Sicht nun überhaupt keinen Ansprechpartner für seine Probleme mehr hatte. Aus seiner Formulierung geht hervor, dass Kai sich in einer ausweglosen Situation gefangen fühlte („weil man nich weeß was man machen soll“ 90-91; „was soll mer machen“ 91-92), in der er kaum noch Einfluss- oder Handlungsmöglichkeiten für sich sah. Er begann schließlich
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zu trinken, um seiner Situation zu entfliehen und geriet ins Trudeln. In diesem Zusammentreffen belastender Lebensumstände sieht Kai den Auslöser für sein Abrutschen in eine delinquente Karriere, wobei er dem Alkohol eine wesentliche Funktion als „Enthemmer“ für sein folgendes Verhalten zuschreibt. Interventionen durch seine Eltern erfolgten zwar, kamen aber aus Kais Sicht zu spät – „ich hab dann jesacht phh is mir doch egal das sind meine freunde für die würd ich alles machen“ (441-442). Der richtige Zeitpunkt des Eingreifens während der für Kai schlimmen Phase der Orientierungslosigkeit und des Alleinseins wurde durch die Eltern offenbar verpasst. Als die Eltern schließlich intervenierten, war er bereits zu tief in seine rechts-delinquente Clique eingebunden, in der er Halt und das Gefühl der Zugehörigkeit fand. Kai beschreibt insgesamt eine ausgesprochen liberale Erziehung, die den Kindern maximale Freiheiten ließ und nach der Scheidung aufgrund der Umstände und der starken beruflichen Einbindung seiner Mutter dazu führte, dass eine elterliche Kontrolle kaum noch vorhanden war – „da hat mer jemacht was mer wollte“ (430). Dies führte schließlich dazu, dass Kai sich im Zuge seiner Pubertät dann „eh nüscht mehr sagen“ (431) ließ und sich zunehmend nicht mehr an Vereinbarungen und Regeln hielt. In seiner Argumentation befürwortet Kai grundsätzlich die Gewährung von Freiheiten in der Erziehung, bemerkt aber auch, dass diese von den Eltern kontrollierend begleitet werden müssten, wobei er auch eine gewisse Strenge für sinnvoll hält. Eine Anspielung auf seine eigenen Eltern, die dies wohl zumindest eine Zeit lang nicht so handhabten, liegt hier nahe. Er betont aber gleichzeitig, ähnlich wie Dennis, dass er seine Erfahrungen selbst machen muss und spricht Belehrungen und Vorgaben verhaltenswirksame Auswirkungen ab, denn sie gehen „hier rein und da raus“ (403). In der jüngsten Vergangenheit hatte sich das Verhältnis zum Stiefvater trotz der vielen Spannungen aufgrund von Kais Bemühungen verbessert. Durch die Formulierung „ihn akzeptiert hab“ (122) wird noch einmal bestätigt, dass es nach dem anfänglich guten Verhältnis eine Zeit gab, in der Kai seinen Stiefvater nicht akzeptiert hat und dass dieser Wandel im Verhältnis auch etwas mit dem von den Eltern unerwünschten Verhalten von Kai zu tun hatte. Ein Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene und seinem delinquenten Verhalten als kumulativem Konfliktfaktor liegt dabei nahe. Kai hatte sich letztes Jahr dann aber „verändert“ (122) und „beruhigt“ (121) und kam nun wieder mit dem Stiefvater „klar“ (123). Die Gründe für den offen ausgebrochenen Konflikt mit seinem Stiefvater müssen auch dazu geführt zu haben, dass Kai generell Schwierigkeiten mit seiner Familie hatte, denn er fühlt sich erst jetzt wieder von ihr akzeptiert. Sein Bemühen um eine Veränderung des eigenen Verhaltens begründet sich aus dem Wunsch heraus, wieder eine stabile Position innerhalb der Familie einzunehmen bzw. in seiner Person akzeptiert zu
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werden. Damit bestätigt sich die hohe Bedeutung der Familie in seinem Leben – auch als veränderungswirksamer Faktor. Als sich die familialen Beziehungen für ihn endlich wieder zum Guten zu wenden schienen, kündigte sich erneut eine unheilvolle Entwicklung an („bloß in dem moment“ 123-124), deren Schilderung er jedoch kurz zurückstellt, um die Harmonie und positive Stimmung innerhalb der Familie zu betonen („war eigentlich friede freude eierkuchen in der familie“ 124; „da ham wer schön weihnachten da jesessen“ 125). Nach diesem Einschub, der die große Enttäuschung unterstreicht, mit der die folgende Entwicklung für ihn verbunden war, greift Kai den bereits angerissenen Gedanken wieder auf und führt ihn zu Ende: „bloß (.) dann wars widder anders weil dann ham sich meine eltern jetrennt weil mein stiefvater ne neue freundin hatte und so und da war ich eigentlich dann wieder sehr zornig auf ihn weil jetzt in dem moment wo ich mich jefang hatte und mit ihm klar kam dass er da widder so ne große enttäuschung is und meiner mutter in diesem maß weh tut (.) und ihm sag ich mal (.) nja als stiefvater die rolle des vaters f.. überhaupt meine kleene schwester und so egal war (.)“ (126-131)
Kai sieht seine Bemühungen um ein gutes Familienklima enttäuscht, da der Stiefvater die Familie verlässt. Der Bruch ist für ihn umso schlimmer, weil er lange Zeit gebraucht hat, bis er die veränderten Familienverhältnisse akzeptieren und sich an sie anpassen konnte. Nun, wo er aus seiner Sicht nach längerer Zeit und eigenen Anstrengungen endlich wieder einen Zugang zu seiner Familie gefunden hatte, brach diese jedoch ein zweites Mal auseinander und er sah sich zum dritten Mal in seinem Leben mit einer von ihm nicht gewollten und beeinflussbaren Veränderung in der Familienkonstellation konfrontiert, mit der er sich arrangieren musste. Seine Wut und Enttäuschung darüber richten sich auf den Stiefvater. Auffällig ist seine diesbezüglich verwendete Formulierung „dass er da widder so ne große Enttäuschung is“ (128-129). Hier sind zwei Lesarten in der Interpretation möglich. Zum einen wäre denkbar, dass Kai seine anfänglich gegenüber dem Stiefvater gehegten Erwartungen meint, die dieser dann jedoch nicht erfüllte. Zum anderen könnte es aber auch sein, dass Kai hier indirekt einen Vergleich zu seinem leiblichen Vater zieht, der ihn ja quasi auch (letztlich durch seinen Suizid) allein gelassen und damit im Sinne seiner Vaterrolle enttäuscht hat. Die erneute Enttäuschung durch den Stiefvater muss Kai besonders getroffen haben, da er sich zugunsten einer guten Stiefvater-Sohn-Beziehung angestrengt und überwunden hatte. Dies wird auch deutlich in dem er sagt „und ihm als sag ich mal (.) nja als stiefvater die rolle des vaters f.. überhaupt meine kleene schwester und so egal war“ (129-131) Zwar korrigiert sich Kai hier auf die Vaterrolle für die Schwester, um seine persönliche Betroffenheit zu verbergen. Es wird aber
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deutlich, dass er eigentlich seine eigene neuerliche Enttäuschung darüber meint, dem Stiefvater bezüglich seiner gewünschten und erwarteten Vaterrolle egal zu sein. Die elterliche Konstante in Kais Leben, von der er dauerhaft Halt, Orientierung und Akzeptanz erfährt, ist seine Mutter. Dies begründet seine Vermeidung von Kritik an ihrer Person. Aus der hohen Emotionalität der Sequenz geht jedoch hervor, wie wichtig für Kai eine „komplette“ (12) Familie mit Vater und Mutter ist. Seine Sehnsucht nach einer vollständigen Familie hat sich für Kai jedoch erneut zerschlagen. Die fehlende Verlässlichkeit von Kais Vätern in seinem Leben könnte ein Grund für ihr Fehlen in der Netzwerkkarte sein, obwohl er, wie im Interview deutlich wird, zu beiden eine emotionale Bindung hat. Ihr Ausschluss aus der Karte kann quasi als Suspendierung aus seinem sozialen Netzwerk verstanden werden, die aus ihrer Unzuverlässigkeit und der von Kai deshalb empfundenen Enttäuschung resultiert. „also i.. also ich fühlte mich dadurch also och wegen meiner mutter weil se mir leid tat fühlte ich mich voller wut ha und aggressionen weil fand ich scheiße (.) dass meine mutter dann so hängen jelassen wurde widder (.) bloß man konnte ja nüscht machen man konnte meiner mutter nur jut zu reden“ (131-134)
Durch den Weggang des Stiefvaters löste sich für Kai trotz der negativen Aspekte zumindest zum Teil der Konflikt um seine Position auf der „Skala“ der Mutter. Dies und das Mitgefühl mit dem Kummer der Mutter, über die wohl von ihr nicht gewollte Trennung, brachten beide einander wieder näher. Es liegt nahe, dass sich bei Kai die Wut über den Umgang des Stiefvaters mit seiner Mutter, den er als ein „Im-Stich-Lassen“ empfindet, mit der Trauer über sein eigenes neuerliches Verlassenwerden vermischt und seine Emotionen auch deshalb so heftig ausfallen. Kai fühlt sich durch die missliche Lage der Mutter in eine Position versetzt, die es ihm erlaubt, ihr als nunmehr fast erwachsener Mann etwas an Unterstützung und Fürsorge zurückzugeben. Allerdings drückt sich gleichzeitig auch eine gewisse Ohnmacht aus, da er ihr bei der Bewältigung ihres „seelischen schmerz(es)“ (135) kaum helfen kann. In diesem Zusammenhang spricht Kai über die Dankbarkeit, die er seiner Familie gegenüber empfindet, weil sie ihn trotz seiner Straftaten und der daraus resultierenden Haft unterstützt (137-143). Diese Unterstützung vermittelt ihm die Bedeutung, die er für seine Familie nach wie vor hat. Die mit der Haft verbundene Zäsur seines alltäglichen Lebens und der damit einhergehende Abstand zu den Ereignissen hat in seinem Fall einen Denkprozess befördert, der zumindest den theoretischen Ausstieg aus den rechten delinquenten Strukturen zur Folge hat. Über die praktische Umsetzbarkeit eines straftatfreien Lebens ist Kai sich noch nicht gewiss – er möchte es aber seiner Familie zuliebe versuchen.
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Bei der neuerlichen Bilanzierung seines bisherigen Lebens deutet die unpersönliche Darstellungsperspektive auf eine Distanzierung von seiner kriminellen Vergangenheit, aber auch auf eine noch nicht abgeschlossene Be- und Verarbeitung hin: „meine kindheit (.) schön bis zu einem bestimmten punkt wunderschön also unvergesslich ha große familie jehabt oma opa immer viel spaß jehabt (.) mitm bruder viel spaß jehabt bloß ab nem bestimmten punkt dann nja hm ha man wird älter na ja in dem fall nich klüger aber wesentlich dümmer dass mer dann sich zeigen will was mer kann wer mer sein kann das is eijentlich och wenns de eltern viel jesacht ham dass es falsch is (.) man nich droff jehört hat und s falsche getan hat (I.: hm) und dann für büßen muss (..)“ (191-196)
Kai setzt sich in seiner Argumentation mit seinen Eigenanteilen an seinem bisherigen Lebensverlauf auseinander und spielt auf Auseinandersetzungen mit seiner Familie in Bezug auf seine Delinquenz und seine rechtsextremistische Orientierung an. Die damaligen Ratschläge konnte er nicht umsetzen, da er in der sich rasant abwärts bewegenden Verlaufskurve gefangen war und sich wohl auch aufgrund der Pubertät in einer grundsätzlich oppositionellen Position seiner Familie gegenüber befand. Auch wird durch die Glorifizierung der frühen Kindheit wieder der Bruch zwischen seinem Leben in einer heilen Welt und seinem Leben in der Welt danach thematisiert. Kai bringt die negative Veränderung in seiner Kindheit auch mit dem „Älterwerden“ in Verbindung, was als Hinweis auf die Ablösung seiner Spitzenposition als Nesthäkchen durch die Schwester und sich daran anschließende Versuche, die Aufmerksamkeit der Eltern auch über negatives Verhalten auf sich zu lenken, gelesen werden kann. Allerdings bleibt Kai nicht auf der Stufe der Suche nach externen Auslösern für seine Entwicklung stehen, sondern schätzt sein Verhalten im Nachhinein als falsch ein, was die nun abzuleistende „Buße“ nach sich zog. Seine Vorstellungen von Familie kommen auch an dieser Stelle wieder zum Ausdruck. Wichtig ist das Zusammensein in einer großen (und vollständigen) Familie und das gemeinsame Spaß haben bzw. Erleben. Ihre hohe Bedeutung für ihn wird durch die diesbezüglich im Laufe des Interviews immer wieder direkt oder indirekt geäußerten Vorstellungen deutlich. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch eine hohe Belastungsdisposition bei negativen familialen Ereignissen und Entwicklungen, die seine Welt ins Wanken bringen. Verliert Kai in seiner subjektiven Wahrnehmung seine Position innerhalb der Familie bzw. die Akzeptanz durch die Familie oder einzelner wichtiger Orientierungsfiguren, scheint das für ihn in einem hohen Maße bedrohlich zu sein. Kai spricht eine weitere Motivation seines devianten und delinquenten Verhaltens in der Vergangenheit an. Er wollte „zeigen (...) was mer kann wer mer sein kann“ (194). Es kann vermutet werden, dass mit dem „bestimmten zeitpunkt“ (186) der subjektiv wahrgenommene Verlust von Anerkennung und
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sicherer Position innerhalb der Familie durch die vielfältigen familialen Ereignisse gemeint ist. Da ihm die Anerkennung innerhalb der Familie und auch der Schule aus seiner Sicht verwehrt blieb, versuchte er sie über eine delinquente Gruppe zu bekommen. 4.1.4 Wünsche, Werte, Zukunftspläne – „ich will keen jeld ich brauch keen jeld ich ha will irgendwo dass alles schön und gut wird“ (755-756) Die besondere Situation der Haft spiegelt sich in Kais Wünschen, Erwartungen und für ihn bedeutsamen Dingen wider. Auch sein innerer Kampf um die Überwindung seiner delinquenten und rechtsextremistischen Karriere wird erneut sehr deutlich. Das Wichtigste in seinem Leben ist für ihn die Familie, weil er durch sie Unterstützung bei der Erreichung seiner Ziele erfährt und sie ihm „so viel auf den lebensweg mitjegeben haben“ (645). Kai hat bezüglich der Bedeutung der einzelnen Menschen in seinem Leben eine klare Hierarchie. Nach der Familie ist er sich selbst am wichtigsten. Erst danach kommen die Kumpels und seine Freundin. Dass Kai explizit die eigene Bedeutsamkeit in seinem Wertigkeitssystem betont, hängt wahrscheinlich auch mit seiner aktuellen Situation zusammen, in der er aufgrund der Umstände stark auf sich selbst konzentriert ist und sich mit sich selbst auseinandersetzen muss, um sein Leben künftig in den Griff zu bekommen. Die Besinnung auf sich selbst und die eigene Selbstbestimmtheit sind in dieser Auseinandersetzung von hoher Bedeutung, um die Abhängigkeit von der Anerkennung anderer bzw. die Definition der eigenen Persönlichkeit über die Zugehörigkeit zur rechten Szene und damit die Gefahr eines Rückfalls zu überwinden. Kais Vorstellungen und Zukunftswünsche sind stark an seine aktuelle Situation gebunden und richten sich darauf, ein geregeltes und vor allem straftatfreies Leben aufzubauen, womit auch die Gründung einer eigenen Familie verbunden ist. „ich will raus ich will ne wohnung ich (…) setz irgendwann arbeiten n eignes auto n haus irgendwann eben ne richtje schöne familie gründen und nich mehr so durchdrehn“ (657-659)
Voraussetzung dafür sind für ihn jedoch eine geregelte Arbeit und eine eigene Wohnung, um sich und seine Familie auch ernähren zu können – „und dann wenn mer geld hat kann mer so weiter denken“ (672). Die Arbeit ist dabei weniger ein Instrument für die eigene Selbstverwirklichung, sondern ein notwendiges Mittel, um seine Vorstellung von der Gründung einer eigenen Familie mit mehreren Kindern realisieren zu können. Bei der Erziehung möchte Kai seine Lebenserfahrungen an seine Kinder weitergeben und sie davon abhalten, die gleichen Fehler zu machen wie er selbst (656-660). Es kommt an dieser Stelle jedoch noch
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ein weiterer entscheidender Aspekt seiner zukünftigen Lebensgestaltung zum Ausdruck – Kai möchte nicht mehr „so durchdrehn“ (659). „sich och ma was jefalln lassen och ma n dummen spruch hnn lass mich in ruhe (I.: hm) dass mer och ma sachen kann dass mer einfach nich mehr so ausrasten tut aus nichtichkeiten und de ochen offmacht und s maul offmacht wenn eener sacht hier (.) ausländer sind scheiße ha dass mer dann nich sacht na jenau jenau dass mer seine eigne weis.. wn.. na äh seine eigne meinung äußert“ (659-664)
Bei Kais Überwindung seiner delinquenten Karriere bzw. seinem Ausstieg aus der rechtsextremistischen Szene geht es auch darum, eigene Aggressionen abzubauen und dafür eine eigene von der Meinung anderer unabhängige Identität aufzubauen. Auch wenn Kai es nicht konkret benennt, so geht aus seiner Erzählung hervor, dass er befürchtet aggressiv bzw. gewalttätig zu reagieren, wenn er sich provoziert fühlt, wobei er weiß, dass die jeweilige Provokation zum Teil in dem Moment nur von ihm als solche erlebt bzw. übersteigert wahrgenommen wird. Die Notwendigkeit der Überwindung seiner aggressiven Reaktionen auf mögliche Provokationen durch andere als entscheidende Voraussetzung für das Erreichen seiner Ziele und ein straftatfreies Leben ist ihm bewusst. Weiterhin kommt auch hier wieder sein innerer Kampf gegen die eigene rechtsextremistische Einstellung zum Vorschein, in die Kai nicht zurückfallen möchte. Dafür will er sich zukünftig aktiv gegen rechtsextremistische Parolen äußern und seine eigene Meinung vertreten, die eben nicht mehr rechts ist bzw. sein soll. Aus seiner Formulierung wird noch einmal deutlich, dass die Zustimmung zu und Übernahme von entsprechenden rechtsextremistischen Inhalten auch stark mit dem Wunsch nach Akzeptanz verbunden war und zumindest anfänglich nicht seiner tatsächlichen Überzeugung entsprach. Kai hat sich vorgenommen sich von der Umsetzung seiner Ziele durch nichts außer durch seinen „tod“ (675) abhalten zu lassen. Auch von Rückschlägen will er sich nicht „unterkriegen“ (680) lassen, sondern weiter beständig auf seine Ziele hinarbeiten (675-682). Pläne, wie er seine Zukunftsvorstellungen ganz konkret umsetzen möchte, hat Kai noch nicht. Er ist offen für Neues und will „ma sehn was so was das leben so bringt“ (656). Am liebsten möchte Kai jedoch Friseur werden (862). Kais Zukunftsvorstellungen spiegeln sich auch in der Formulierung seiner Wünsche wieder, die ebenfalls auf die Bereiche „Freiheit“ und „Familie“ gerichtet sind. „meine freiheit wärn wunsch dass meine familie für immer glücklich is und was weeß ich nich der weltfrieden hn das wärn meine drei wünsche (I.: hm) ich will keen jeld ich brauch keen jeld ich will ha irgendwo mal das alles schön und gut wird (I.: hm) dass keene missstände mehr herrschen“ (753-756)
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Aus seinem dritten Wunsch, der sich auf den Weltfrieden richtet, kann gelesen werden, dass Kai keine Ideologie der Ungleichheit mehr vertritt und diese auch in Themenbereichen, die nicht unmittelbar auf seine Einstellung abstellen nicht mehr vorzufinden ist. Er sieht sich selbst inzwischen auch als „lebensfrohen glücklichen eingesperrten menschen (lacht) sehr tolerant“ (623). Auch wenn an dieser Stelle ein wenig Ironie zum Ausdruck kommt, wird wiederum die Erleichterung deutlich, die für Kai mit dem (zwangsweisen) Ausstieg aus der rechten Szene verbunden ist. Kai schätzt sich weiterhin als starken und durchsetzungsfähigen Menschen ein, der sich zwar viele seiner Wünsche noch nicht erfüllen konnte, sie aber trotzdem nie aufgibt (624-631). Andere mögen an ihm seine Fähigkeit, Dinge einzusehen, dass er aus Fehlern lernt und seine Toleranz, glaubt Kai. Auch bei diesem Thema ist wiederum seine aktuelle (Haft-)Situation präsent, die nahezu sein komplettes Denken beherrscht. So ist es auch die Freiheit, die Kai glücklich macht bzw. der Besuch seiner Mutter im Strafvollzug. Erst seit der Haft weiß Kai seine Mutter wieder richtig zu schätzen, weil ihre Präsenz nicht mehr wie früher im Alltag selbstverständlich ist und ihm dadurch erst der Wert dieser Beziehung bewusst geworden ist (727730). Kai benennt zwar auch „n sechser im lotto“ (731) als glücklich machenden Faktor, jedoch ist seine Einstellung zu Geld ambivalent. Während er einerseits durchaus eine Affinität zu materiellen Dingen hat, beschreibt er Geld an anderer Stelle als nicht so wichtig und stellt ein glückliches Familienleben in den Vordergrund, in dem finanzielle Mittel lediglich als Grundlage der Existenzsicherung eben dieses Familienlebens dienen (730-733; 755-756; 669-673). Adäquat zu seiner Selbstbeschreibung als durchsetzungsfähiger und zielstrebiger Mensch erlebt Kai es auch als Glück, wenn er ein angestrebtes Ziel erreicht hat (733734). In Bezug auf die Frage nach ihn traurig stimmenden Ereignissen reagiert Kai besonders emotional, wobei auch hier wieder seine Familie im Vordergrund steht. Traurig würde es ihn machen, wenn es seiner Familie schlecht geht. Kai kommt hier noch einmal auf das Scheitern einer Beziehung seiner Mutter zu einem Mann zu sprechen. Kai erlebt es als Belastung, dass er seiner Mutter aufgrund seiner Haftstrafe nicht bei der Bewältigung ihrer Probleme beistehen konnte. Sein dringendes Bedürfnis, der Familie und vor allem der Mutter zu helfen, resultiert aus einem Schuldgefühl bzw. aus dem Bedürfnis, den Schaden, den er in seiner Wahrnehmung seiner Familie durch sein Verhalten zugefügt hat, wiedergutzumachen und einen Teil der erfahrenen Unterstützung zurückzugeben (686-705).
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Während Kai explizit betont, dass ihn das Scheitern der Beziehung zu seiner Freundin nicht belasten würde, weil „noch jenuch andre“ (706-707) da sind25, haben seine engsten Freunde diesbezüglich einen anderen Stellenwert und werden in den Kreis der Menschen, für die er da sein möchte und um deren Wohlergehen er sich ernsthaft sorgt, mit eingebunden. In diesem Zusammenhang findet sich ein weiterer Hinweis auf eine noch nicht vollständig erfolgte mentale Distanzierung Kais von der rechten Szene. Kai sagt „und wenns irgendeem von meinen ehemaligen besten“ (687-688), bricht dann jedoch ab und beendet den Satz mit „na wenns meiner freundin natürlich och schlecht jeht“ (688). Eigentlich wollte Kai hier seine Freunde aus der Szene erwähnen, verzichtet jedoch zugunsten seines neuen Entwurfs von sich selbst darauf und spricht stattdessen über die Freundin, die eigentlich gar keine hohe Bedeutung für ihn hat. Aus seiner Formulierung kann geschlossen werden, dass die Bindung zu den Freunden für ihn aktuell noch nicht vollständig gelöst ist. Denkbar wäre auch eine Verklärung der Freundschaft und des Zusammenhaltes mit diesen Freunden im Nachhinein, die faktisch durch die Trennung bzw. seinen Ausstieg gar nicht mehr besteht. Dafür spricht die Verwendung des Attributes „ehemaligen“ (687). Deutlich wird in jedem Fall, dass diese Freunde in seinem Leben noch eine Rolle spielen und nicht sicher ist, ob Kai die momentane Distanz zur Szene in Freiheit aufrechterhalten kann, falls er wieder mit ihnen in engeren Kontakt kommt. Erst nach der Haft wird sich zeigen, ob Kais selbst beschriebene Veränderung ausreicht, um seine neue tolerante Einstellung aufrechtzuerhalten und sich nicht mehr von der Meinung anderer abhängig zu machen. Dass es ihn immer noch „sauer macht“ (717), wenn er von anderen Menschen nicht akzeptiert wird, spricht für eine momentan noch nicht ausreichende Festigung seiner selbst beschriebenen Unabhängigkeit von der Meinung anderer („ich muss mir gefalln und keem andern“ 531-532). Wütend wird Kai auch, wenn andere „alles besser wissen“ (718). Da könnte er „ausrasten“ (718) und muss sich selbst zur Ruhe zwingen (719-720). Kai bemüht sich, nicht mehr aggressiv zu reagieren, was ihm allerdings immer noch schwer fällt, wenn er sich provoziert bzw. nicht ernst genommen fühlt. Möglicherweise liegt in seiner ständigen Angst
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An dieser Stelle lässt sich der Widerspruch zwischen dem relativ großen Bereich, den die Freundin in der Netzwerkkarte einnimmt und ihrem völligen Fehlen in der Stegreiferzählung sowie der weiteren Erzählung auflösen: Der Lebensbereich, den Kai mit dem Titel „Freundin“ versehen hat, steht weniger für die konkrete aktuelle Beziehung und Person, sondern symbolisiert eher eine Art Platzhalter für seine Zukunftsplanung, in der die Gründung einer Eigenfamilie ein wichtiges Ziel darstellt. Darüber hinaus kann der Lebensbereich „Freundin“ auch als eine Art Anker während der Haftzeit betrachtet werden. Die eigentliche Beziehung zu dem Mädchen scheint Kai dagegen eher locker zu sehen, was aber auch mit einer realistischen Einschätzung der Chancen, dass die Beziehung seine Haftzeit übersteht, zusammenhängen kann.
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vor Nichtakzeptanz auch seine Schwierigkeit begründet, gut gemeinte Ratschläge von anderen Menschen bzw. seiner Mutter anzunehmen. Ebenfalls wütend wird er, wenn „leute irgendwelche sachen machen“ (720721), die ihm „jar nich passen“ (721) oder Dinge über ihn erzählen, „die jar nich stimmen“ (721). Auch Rückschläge bei der Erreichung seiner Ziele lösen bei ihm Wut aus, führen aber nicht zur Aufgabe seines jeweiligen Vorhabens – „dann (.) muss ich erstmal durchatmen und dann versuch ichs wieder“ (723-724). Insgesamt zeigt sich auch in Bezug auf für Kai wichtige Werte und Zukunftspläne sowie im emotionalen Bereich eine hohe Familienorientierung, die jedoch mit der Situation der Haft, dem stark eingeschränkten Kontakt zur Außenwelt und der damit verbundenen Isolation korrespondieren kann. Es bestätigt sich erneut, dass die innere Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner rechtsextremistischen Vergangenheit noch nicht abgeschlossen ist und ihn stark beschäftigt. Einen adäquaten Umgang mit negativen Emotionen und Aggressionen muss Kai sich weiter erarbeiten, wenn er neuerliche Probleme nach seiner Entlassung aus der Haft aber auch im Strafvollzug vermeiden will. 4.1.5 Die Entwicklung der rechtsextremistisch-delinquenten Karriere bis zum erzwungenen vorläufigen Ende – „n dönerladen jesehn da wurde das ding anjezündet einfach weil (.) der hass da war (.) auf alles und jeden eigentlich“ (310-311) Da Kai zum Zeitpunkt des Interviews zumindest für den Moment aus der rechten Szene ausgestiegen ist und dabei ist, sich von seiner rechtsextremistischen Ideologie zu lösen, wird seine ehemalige Überzeugung von ihm inhaltlich kaum thematisiert. Stattdessen zeichnet er seinen Weg in die rechte Szene und auch wieder aus ihr heraus detailliert nach, wobei er sein damaliges Verhalten kritisch beleuchtet. Aus dem Verlauf von Kais Einstieg in die rechtsextremistische Szene und seinen aktuellen Distanzierungsbemühungen können vier Phasen rekonstruiert werden, die im Folgenden beschrieben werden. Auch für Kai spielte rechtsextremistische Musik sowohl bei seinem Einstieg als auch seiner Radikalisierung und der Begehung von Gewalttaten eine wesentliche Rolle. Zunächst wurde er durch sie neugierig auf die Szene und wollte diese näher kennenlernen. Im Zusammenhang mit seinem gewalttätigen Verhalten wurde er später durch die Musik „offjestachelt“ (311). Der Einstieg – Neugier und die Suche nach Akzeptanz und Rückhalt Zu ersten Kontakten mit rechtsextremistischen Inhalten kam es durch einen Freund aus der Nachbarschaft, der sich rechte Musik aus dem Internet heruntergeladen hatte. Kai betont bei dieser Erzählung, dass er den Freund schon lange kannte und ein gutes Verhältnis zu ihm hatte (274-276). Aus dieser ersten
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Begegnung mit der Musik resultierte bei Kai der Wunsch „so welche“ (277) kennenzulernen. Im Zuge des Wechsels auf die Realschule kam es dann im Alter von 12/13 Jahren bei Kai zu massiven Schulschwierigkeiten und zeitgleich zur Begegnung mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen, die Kai bereits seit dem Kindergartenalter kannte. Aus dieser langen Bekanntschaft begründete sich für Kai ein Vertrauensverhältnis, das sich in dem Gefühl sofortiger Akzeptanz und Zugehörigkeit ausdrückte (54-57). Auch Kai erlebte seinen Einstieg zunächst ähnlich wie Dennis eher als ein auf Neugier basierendes „Reinrutschen“ in die Szene denn als bewusste Entscheidung. Er traf im Sinne eines Schneeballsystems durch Freunde und Klassenkameraden auf immer mehr rechte Jugendliche, wobei Gewaltbereitschaft bereits von Anfang an eine Rolle spielte. „dass bei uns nun relativ viele off der schule warn davon und och leute (.) die sehr gewaltbereit warn sehr krass (.) dass mer sich denen eben anjeschlossen hat dass mer ich weeß nich das kam dann so aus den jesprächen raus wie een in der klasse jehabt und der kannte dann den rest dass mer da dann einfach reinjerutscht is“ (278-282)
Mit dem Anschluss an die rechte Clique ist für Kai eine Einstimmung auf die Ideologie durch seine neuen Freunde verbunden: Er wurde „ideologisch jetrimmt so was mer nich machen sollte wie mer sich geben sollte“ (58). Auch wenn er das aus seiner heutigen Sicht nicht mehr nachvollziehen kann, war er damals bereit, alles zu tun, um von der Clique akzeptiert zu werden – „wenn man dazu gehörn will macht mer alles dafür“ (63). Sein dringendes Bedürfnis irgendwo Anschluss zu finden, führte dazu, dass er sich da „auf gut deutsch rein[steigerte]“ (65). Von entscheidender Bedeutung für Kais Weg in die rechte Szene waren nicht nur seine schulischen Schwierigkeiten, sondern auch und vor allem seine familiale Situation, in der er in seiner Wahrnehmung keinen Rückhalt mehr fand. Dies verdeutlicht sich anhand einer das zeitweilige rechte Verhalten seines Bruders thematisierenden Passage: „habs selbst erlebt mit meim bruder jabs da och mal stress dass der so leicht rechts anjehaucht war wo ers dann och sehr schnell fallen lassen hat (…) ich weeß nich er wollte bestimmt offmerksamkeit erregen in dem er sich sacht hier das das will mutti nich und der stiefvater und da macht mer das (.) dass mer widder so anerkennung nich och wenns negative anerkennung is das is aber trotzdem de mutter da is und hier lass den mist ma sein und so bist du doch jar nich und so (.) oder dass mer immer widder zeigen wollte hier bin ich irgendwie so n (unverständlich) hilfeschreien war das bestimmt alles“ (99-105)
Die Eltern haben das Verhalten seines Bruders nicht toleriert und sich mit ihm auseinandergesetzt, woraufhin er sich davon distanziert hat. Während sich Kai vordergründig mit möglichen Gründen für das Verhalten seines Bruders beschäftigt, wird deutlich, dass es eigentlich seine eigenen Beweggründe waren, die von
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ihm mittels des Bruders als Stellvertreter seiner selbst in einer eigentheoretischen Argumentation dargestellt werden. Während er zu Beginn der Sequenz noch das dritte Personalpronomen für seinen Bruder verwendet, folgt dann stattdessen „mer“ (102), was mundartlich in der Heimatregion von Kai für eine Mischung aus „ich“ und „man“ stehen kann. Seine Hinwendung zur rechten Szene hatte also nicht nur eine auf seine schulischen Probleme gerichtete Bewältigungsfunktion, sondern diente auch als provokatives Signal, um die Aufmerksamkeit und Zuwendung seiner Eltern zu erlangen. Kai spricht dabei sehr reflektiert über seine Motivation, auch wenn er noch nicht so weit ist, dass er sie als seine persönliche darstellen kann. Der Bruder diente bei diesem Hilfeschrei, auch wenn es paradox klingt, als Vorbild, weil er aus Kais Sicht mit seiner Strategie erfolgreich war und die Aufmerksamkeit der Eltern erreicht hatte. Sein Versuch, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu fokussieren und ihre Zuwendung durch negatives Verhalten zu erreichen, nachdem es anders nicht gelang, scheiterte jedoch, vor allem in Bezug auf den Stiefvater. Dies ist besonders dramatisch, da Kai sich gerade von ihm nach der Hochzeit mit der Mutter und der Geburt der Schwester zurückgesetzt fühlte und seine Hoffnung auf eine neue väterliche Bezugsperson enttäuscht sah. Der Stiefvater lehnte nach Kais Empfinden nicht nur seine rechtsextremistische Meinung ab, sondern ihn selbst massiv in seiner ganzen Person. Die Beziehung zu ihm war zu diesem Zeitpunkt extrem gespannt. Der Stiefvater war aus Kais Sicht nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen und sich im Zusammenhang mit Kais problematischen Verhalten über Kritik hinaus an seiner Erziehung zu beteiligen: „mein stiefvater hats gar nich akzeptiert null (..) der hasste diese meinung er hasste damit mich (.) und er hatte mich eigentlich abjeschrieben als stiefsohn obwohl meine mutter immer probiert hat hier (…) dass meine mutter immer versucht hat och ihn miteinzubeziehn in die erziehung von mir aber das nie gelungen is“ (512-515)
Die Mutter lehnte seine rechte Meinung zwar strikt ab und versuchte, auf Kai einzuwirken, um ihn von einer weiteren Zugehörigkeit zur rechten Szene abzubringen, sie verhielt sich in ihren Interventionen jedoch aus Angst, ihren Sohn zu verlieren, nicht konsequent. Frau Kranich verbot lediglich rechtsextreme Äußerungen und Symbole in ihrem Haus und im familialen Zusammenhang, ließ Kai in Bezug auf seine Aktivitäten innerhalb seiner rechten Clique aber gewähren: „akzeptiert hat ses nich bloß sie hat mir och meine meinung gelassen sie hat jesacht da.. solang des draußen machst bei deinen kumpels isses mir ejal aber sie wills nich im haus ham natürlich wars mir egal dass ich da den schrank voller cds hatte oder so“ (480-483)
Verbote, wie z.B. keine rechtsextremistischen Symbole, Musik oder ähnliches mit nach Hause zu bringen, wurden von Kai nicht respektiert und übergangen,
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wodurch die Auseinandersetzungen mit seiner Mutter eskalierten. Ihre häufigen Drohungen, sich von ihm zu distanzieren oder ihn zum Auszug zu zwingen, setzte Frau Kranich letztendlich nicht um. Stattdessen versuchte sie ebenso wie die Großeltern weiterhin, Kai in die Familie einzubeziehen und ihn durch intensive Gespräche von seinem Verhalten abzubringen (445-455; 480-491). „die hat immer widder versucht off mich einzureden lass doch den müll lass doch den scheiß (..) de vierzich jahre mauer das und so n elend und was der nich alles jebracht hat hitler“ (486-488)
Aus seiner heutigen Sicht ist Kai zu der Erkenntnis gelangt, dass die Interventionen seiner Mutter für ihn zu spät kamen, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits zu sehr in die rechtsextremistische Szene involviert und nicht zu deren Aufgabe bereit war. Der Zeitpunkt, zu dem es sich bei Kais Verhalten noch hauptsächlich um ein Signal handelte, das auf seine verzweifelte Situation aufmerksam machen sollte, wurde von den Eltern verpasst. Die Übernahme eines rechtsextremistischen Weltbildes und feste Integration in eine rechte Clique/Kameradschaft Im Zusammenhang mit seinen zunehmenden Schulschwierigkeiten und der problematischen Familiensituation wandte sich Kai immer mehr seiner rechten Clique zu, da er dort akzeptiert wurde und Halt fand, während er mit anderen Mitschülern augenscheinlich Schwierigkeiten hatte. In seinem starken Wunsch nach Akzeptanz und Zugehörigkeit war Kai auch bereit Gewalt auszuüben. „wenn man dazu gehörn will macht mer alles dafür (…) wird dann akzeptiert von den leuten (.) wenn man vielleicht von denen nicht akzeptiert wird wird man von denen akzeptiert und steigert sich da auf gut deutsch rein (.) man sieht da seine großen Vorbilder dann drinne“ (63-65)
Mittels seines Anschlusses an die rechte Szene versuchte Kai, seine verzweifelte schulische Situation zu bewältigen, wobei in der Clique anerkannte Jugendliche als orientierungsstiftende Identifikationsfiguren dienten, deren Freundschaft er um jeden Preis erlangen wollte. Die aufgrund seiner schlechten Leistungen ausbleibende schulische Anerkennung kompensierte Kai nun durch die Anerkennung seiner Clique für sein delinquentes Verhalten und radikales Auftreten. Dabei war er bereit, die von seinen Freunden gestellten Verhaltenserwartungen (Kleidung, martialisches Auftreten, gewalttätiges Handeln) zu erfüllen, um sich darüber seiner Zugehörigkeit zu ihnen zu versichern (57-62) und trat auch äußerlich immer radikaler auf. Auch bei gemeinsam begangenen Straftaten verhielt sich Kai der Gruppe gegenüber loyal und nahm die Schuld auf sich bzw. wurde von den anderen Jugendlichen als Täter angegeben.
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Kai schwänzte immer häufiger die Schule, da er sich bereits am Morgen mit seinen Freunden bei einer Szenegröße traf, um Aktionen vorzubereiten sowie einschlägige Flyer und T-Shirts zu bedrucken und konsumierte auch immer häufiger Alkohol (583-593). Wenn sie doch zum Unterricht gingen, kam es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Schülern, in denen sich Kai überlegen fühlte, da er sich des Rückhaltes der Gruppe bewusst war. „wenn dir eener dumm kam da haste zurück gepöbelt wenn da was passiert is dann haste dem eene in de schnauze jehaun der hat dir eene in de schnauze jehaun und dann stand schon der mob hinter dir von den janzen leuten und die ham da ne massenschlägerei angefang oder so war nich schlecht (.) also fand ich damals hnh heute würde das bestimmt nich mehr so gut komm“ (286-290)
An dieser Stelle wird deutlich, dass Kai sich zwar inzwischen von der Szene distanziert hat, es jedoch noch nicht zu einer völligen Ablösung gekommen ist, da er den Zusammenhalt und die gemeinschaftlich ausgeübte Gewalt zunächst glorifiziert. Zwar erfolgt sofort im Anschluss die Korrektur seiner positiven Wahrnehmung als vergangene Einschätzung, der er aus heutiger Sicht kritisch gegenübersteht, dabei orientiert er sich jedoch an den Erwartungen und moralischen Maßstäben seiner Umwelt. Dies spricht dafür, dass sein Ausstieg zu großen Teilen durch den äußeren Druck angeregt wurde, unter den er durch die strafrechtlichen Sanktionen geriet. Mit seiner Integration in die Clique war eine ideologische Schulung verbunden, woraus ersichtlich wird, dass bereits Kontakte zu organisierten Mitgliedern der rechten Szene bestanden (57-61). Informationen über rechtsextremistische Inhalte wurden den Jugendlichen auf einschlägigen Veranstaltungen sowie durch Filme und Zeitungen („nationaler beobachter“ vgl. 542) vermittelt – „wir warn ja och hier aufm h.-berg (unverständlich) alten ss soldaten hier von der panzerbrigade was weeß ich der hat da immer vorträge jehalten“ (539-540). Die Radikalisierung zum rechtsextremistischen Gewalttäter Mit seiner zunehmenden Einbindung in die rechte Szene distanzierte sich Kai immer stärker von seiner Familie, in der es wegen seines Verhaltens immer häufiger zu Konflikten kam (445-454; 464-477; 480-487). „dass mer eigentlich nur nach hause jekomm is um da zu schlafen mit der familie nichts mehr am hut jehabt hat (..) dass nur noch de freunde im vordergrund standen nur noch saufen“ (589-592) „dass se eijentlich immer jesacht ham (.) mach den scheiß nich man hats jemacht es kam zum streit dann sind die türen jeflogen dann bin ich jegang dann bin ich zu mein kumpels jegang und hab mir einen hinter die binde jegossen und kam ich abends zu heeme und wenn mutti ankam lass mich in ruhe krach tür zu und dann hatse een och in ruhe jelassen“ (472-476)
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Kai war nun festes Mitglied in einer Kameradschaft und auch in einer Unterorganisation von Blood and Honour, einem seit 2000 verbotenen rechtsextremistischen Netzwerk, organisiert. Seine Mutter versuchte zwar weiterhin, auf Kai einzuwirken und drohte in diesem Zusammenhang wiederholt auch verschiedene Konsequenzen an (Auszug aus dem Elternhaus), die sie jedoch aus Sorge und Zuneigung zu ihrem Sohn letztendlich nicht durchsetzte (447-453). Das Erleben der Hilflosigkeit seiner Mutter in Verbindung mit ihren inkonsequent durchgeführten Interventionsversuchen war bei Kai nicht nur unwirksam, sondern führte sogar dazu, dass er den Respekt vor seiner Mutter mindestens zum Teil verlor, ihre Reaktionen berechnete und ausnutzte. „so in der letzten zeit wo ich dann (.) schon jenuch freunde hatte und ich kam stockbesoffen heeme schon widder glatze und das neue landser t-shirt an da hatse jesacht ey sowas kommt hier nich ins haus da hab ich jesacht na ja und dann zieh ich aus (.) ja dann ziehste aus und (.) da hatse n schlüssel jekricht dann bin ich ausjezogen für zwee tage dann hatse hier anjerufen wann kommsten wieder (.) nja weil ich wusste ab nem bestimmten moment na ja und da bin ich zwee tage nich da da kann ich zwee tage in ruhe party machen dann kommt se eh wieder anjekrochen“ (445-451)
Kais Leben geriet außer Kontrolle, es kam zu einer völligen Identifikation mit der rechten Szene, die nun zu einer Art Ersatzfamilie für ihn wurde. Gemeinsam mit seiner Clique fuhr Kai zu Veranstaltungen und Konzerten, bei denen er „größere Leute“ (295) kennenlernte, „die was zu sagen hatten“ (295). Dabei drang Kai durch die ständige Erweiterung seines rechtsextremistischen Bekanntenkreises immer weiter in die rechte Szene vor. Seine damit verbundene zunehmende Radikalisierung gipfelte darin, dass er sich immer stärker in der organisierten Szene engagierte, wodurch schließlich der Verfassungs- bzw. Staatsschutz auf ihn aufmerksam wurde und er immer öfter mit dem Gesetz in Konflikt geriet (294-317; 320-332; 496-499). Seine kriminellen Aktivitäten (Verkauf von TShirts, Flyern und Fahnen mit verfassungsfeindlichen Symbolen, etc.) organisierte und unternahm er inzwischen auch gemeinsam mit Freunden von der Wohnung seiner Eltern aus. Die Mutter war über seine Aktivitäten und Verbindungen „erschrocken“ (507), glaubt Kai. Das Leben von Kai drehte sich nur noch um die Szene, wobei er sich in einer steigenden Spirale aus Hass und Gewalt befand, die mit einem hohen Alkoholkonsum einherging. „da ham wir in der a.-stadtteil den dönerladen kaputt jehaun vom feinsten maße und ham dem besitzer gleich mal n stein vorn kopf jeschmissen so dass er totaler gedächtnisverlust und sowas (..) und da hatten se uns och erwischt die ham ja dann ab m bestimmten moment ham die richtich off bei uns offjepasst das (.) telefon abjehört wurde und so“ (320-324) „wir warn so (.) zehn fuffzehn leute und die eijentlich dermaßen radikal einjestellt warn die offkleber verklebt ham plakate dass mer eigentlich dann off schritt und tritt bewacht wurde (.)
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dass mer da hat mer den vor die fresse jehaun hier und da (.) und was weeß ich das alleene bei partys dass da de hakenkreuzfahne hing und dann kam de polizei“ (326-330)
Gemeinsam mit seiner Clique beging Kai auf abendlichen Streifzügen massive Straftaten. Die Jugendlichen zogen angetrunken durch die Stadt, randalierten und verprügelten willkürlich ihre Opfer. Kai beteiligte sich an den Schlägereien und Sachbeschädigungen dabei auch aus einem Gruppendruck heraus, weil er dazu gehören, seinen Freunden „imponiern“ (361) und nicht als Außenseiter da stehen wollte. Er sieht sich im Nachhinein in dieser Situation nicht mehr als selbständig denkend, sondern von der Ideologie und den Regeln der Gruppe bestimmt (557-558). Es ist davon auszugehen, dass die Gewalttaten aus einer Gruppendynamik heraus geschahen, bei der Wut und Hass durch gegenseitiges auch von der Musik vorangetriebenes Aufschaukeln hemmungslos ausagiert wurden, wobei Kai sein Handeln auch aufgrund der Akzeptanz der Gruppe nicht infrage stellte – „is ja scheiße wenn alle da off (.) irjendwas kaputt machen und du stehst da hm hm lass die mal machen da macht mer automatisch mit“ (315-317)26.Ihren Höhepunkt fand seine delinquente Karriere, als Kai auf einen ehemaligen Mitschüler schoss. Die Gründe kann er sich bis heute nicht erklären, da der Tat keine direkte Auseinandersetzung vorausging. Kai war zum Zeitpunkt der Tat angetrunken und konnte den Jugendlichen nicht leiden (365-376). „da dacht ich mir da schieß ich mal off den und warum ich nun och abjedrückt hab oder wieso weshalb (.) das jing babbab und da wars vorbei und da simmer abjelofen und (…) ich weeß nich hnh ham wird weiter jesoffen weiter party jemacht das störte een dann jar nich mehr alles“ (373-376)
Es entsteht der Eindruck eines geradezu rauschhaften Zustandes („kurzschluss“ 314), in dem die Auswirkungen seines Verhaltens von Kai nicht mehr wahrgenommen und die Opfer entpersonalisiert wurden – „da macht mer einfach die scheiße und nee macht fez macht spaß“ (363). Erst im Zuge der drohenden strafrechtlichen Konsequenzen wird Kai sein Verhalten bewusst, da sich die problembewältigende Funktion seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene in ihr Gegenteil verkehrt – er bekommt durch sie massive Probleme. 26
Die Subkulturtheorie geht davon aus, dass in den Subsystemen einer Gesellschaft Werte und Normen gelten können, die sich von denen der Gesamtgesellschaft unterscheiden bzw. in ihr nicht akzeptiert werden. „Das Befolgen von Normen der Subkultur ist in dieser konform, gemessen an gesamtgesellschaftlichen Normen aber abweichend“ (Lamnek 1997, S.21, hervorgeh. im Original). Kai verhielt sich also gegenüber den Normen seiner rechten Clique (Subkultur) konform, in Bezug auf die gesamtgesellschaftlichen Regeln jedoch strafrechtlich relevant abweichend. Dieser Ansatz der Chicagoer Schule entwickelte sich aus der Untersuchung von kriminellen Jugendbanden. Die „Gangs“ werden als „Ersatzlösungen“ gesehen, die den Jugendlichen die Befriedigung anderweitig nicht erfüllbarer Gemeinschaftsbedürfnisse ermöglichen. Die Gang stellt für die Jugendlichen dabei häufig die „einzige Chance des Statuserwerbs“ dar (Lamnek 2001, S.146).
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Die Distanzierung von der Szene und der Prozess des Ausstiegs Zunächst zog Kai sich aus der organisierten Szene zurück, weil er auf ihre politischen Aktionen „keene lust“ (571) mehr hatte, da für ihn die negativen Konsequenzen seiner Beteiligung überwogen. „und da stumpftes dann langsam ab dass ich meinen eignen willen entdeckt hab (I.: hm) wo mer sich dann hä na bin ich bescheuert so n scheiß hier zu drucken (.) dass mer sich dann eigentlich von den leuten abjekapselt hat“ (564-566)
Durch die Betonung des „eignen willen(s)“ (564-565) wird deutlich, wie sehr sich Kai der Szene und ihren Inhalten angepasst und untergeordnet hatte. Kai sah sich durch die Szene enttäuscht, weil er mit seinem Engagement nur ungenügende Erfolge erzielte und ihm zum anderen bewusst wurde, dass der Zusammenhalt nicht seinen Erwartungen entsprach und er sich häufig in Bezug auf die Folgen einschlägiger Straftaten von seinen Kameraden im Stich gelassen fühlte, denn diese leugneten bei Verhandlungen ihre Beteiligung (69-76; 298-307).27 Ihm ist klar geworden, dass seine Akzeptanz bei den Rechten nur auf seiner Übernahme der Ideologie und der Beteiligung an Aktionen beruhte, sie ihn also nur „wegen dem rechts sein (.) jenomm ham“ (526). Aus heutiger Sicht sind seine damaligen Kumpels deshalb für Kai keine „richtigen“ (66) Freunde. Der teilweise Rückzug aus der organisierten Szene war jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Änderung seines gewalttätigen und radikalen Verhaltens. Erst durch die drohende Verurteilung zu einer Haftstrafe geriet Kai in eine Krisensituation in der er zu einer Veränderung seines Verhaltens und seiner Einstellung bereit war. Er nahm die Unterstützung einer Jugendberatungsstelle an und versuchte einen Täter-Opfer-Ausgleich anzuregen, um die strafrechtlichen Konsequenzen zu mildern. Dies gelang jedoch nicht und Kai wurde zu einer 17-monatigen Haftstrafe verurteilt, da er zuvor bereits unter Bewährung stand. Die Motivation seiner Veränderung war zu diesem Zeitpunkt nicht eine tatsächliche Einsicht, sondern die Angst vor der Strafe bzw. dem Strafvollzug. „und dann dachte man schon oh mein gott ha jetzt wolln se mir fünf jahre jeben und da versucht mer s beste zu.. raus zu regeln dass mer sacht ja hier ich wars und tut mir och leid in dem moment hat mer ja schiss panik (.) und da kennt mer nur den ausweg des zugebens“ (332335)
Kai rechtfertigt hier sein Geständnis und auch die vor Gericht gezeigte Reue als Panikreaktion. Er verriet seine Loyalität gegenüber der von ihm zunehmend kritisch betrachteten Szene und versuchte, seine eigene Haut zu retten. Dabei stand die Milderung des zu erwartenden Strafmaßes und nicht die Einsicht in 27
Die Enttäuschung über die tatsächlichen Erfahrungen mit der Szene, die ihrer Außendarstellung widersprechen, wird auch von Borstel (2011) als Auslöser für Prozesse des Ausstiegs genannt.
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Bezug auf seine Taten im Vordergrund. Seine Verurteilung sieht Kai als berechtigt an. Inzwischen ist ihm bewusst geworden, was er „leuten anjetan hat (*) die die einem selber jar nüscht jetan ham“ (342-343). Dennoch zeigt sich an einigen Stellen des Interviews, dass auch die subjektiv positiv erlebten Aspekte seiner Szenezugehörigkeit noch präsent sind und der Prozess des Ausstiegs nicht abgeschlossen ist (Betonung des Spaßes 288-290; 380-383; Gefühl der Stärke 285288). Die Haft erlebt er in diesem Zusammenhang sogar als positiv, weil der Kontakt zu seinen Freunden zunächst gezwungenermaßen unterbrochen wurde und er festen Regeln unterworfen ist. Den Ausstieg hatte er davor trotz mehrmaliger Versuche, die er nicht zuletzt seiner Mutter zuliebe unternommen hatte, nicht geschafft. „habs och oft versucht bloß nie jeschafft bloß jetzt sach ich mal (..) schafft mers besser weil mehr eben keen kontakt mehr zu den leuten hat och mal von der straße weg is so wo mer sagen kann wo mer de welt klar sieht wo mer sich dann nich hier boaahhh heut habch keen bock arbeiten zu jehn hier muss mer arbeiten jehn das is jut so“ (454-458)
Kai ist sich durchaus darüber im Klaren, dass er den Absprung in Freiheit (noch) nicht geschafft hätte und vermutlich weiter in seiner Spirale aus Hass und Gewalt abgestürzt wäre. Durch die Zeit im Strafvollzug und den damit verbundenen erzwungenen Abstand zu seinem sozialen Umfeld und dessen Einfluss eröffnet sich ihm die Möglichkeit einer bewussten Auseinandersetzung mit seinen Taten (337-343). Aus heutiger Perspektive fällt es Kai schwer, die Eskalation seines (gewalttätigen) Verhaltens nachzuvollziehen (387-394). Als mögliche Gründe benennt er seine aufgestaute Wut, die durch „hetzparolen“ (312), rechtsextremistische Musik, hohen Alkoholkonsum und die Gruppendynamik letztlich zu von ihm als „kurzschluss“ (314) bezeichneten Handlungen führte (308-317). Kai befindet sich in einer Übergangssituation bezüglich der Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit sich selbst, in der noch nicht eindeutig ist, wie sich sein weiteres Leben gestaltet. Dabei kommen ambivalente Gefühle gegenüber der Szene zum Ausdruck, auch wenn Kai sich heute als toleranten Menschen versteht. „hab zwar immer noch ab und zu mal so (.) ach hier leck mich am arsch oder so dass da mal so n kleener funke immer hochkommt aber sonst würd ich eigentlich mit dem (.) mit den ehemaligen freunden die so hoch standen dieses rechte gesinnung rechts […] dass ich mit denen nüscht mehr zu tun ham will weil ich hab jelernt dass ich mich selber gestalten tue und keen andrer“ (523-529)
Seine Formulierung „also in dem maße rechts wie ichs mal war bin ichs nicht mehr“ (522-523) bestätigt die bisherige Interpretation dahingehend, dass Kai sein rechtsextremistisches Weltbild noch nicht völlig überwunden hat. Zwar bemüht
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er sich sehr darum, sich als den liberal und tolerant eingestellten Menschen zu präsentieren, der er in Zukunft sein möchte (520-522), jedoch kann er dieses Bild von sich noch nicht hundertprozentig ausfüllen. Seine Zugehörigkeit zur rechten Szene hatte für ihn einen essentiellen Charakter und beherrschte über einen längeren Zeitraum quasi sein gesamtes Leben. Bei seiner Distanzierung handelt es sich auch deshalb um einen längeren Prozess, weil er sich ein völlig neues soziales Umfeld und neue Lebensinhalte aufbauen muss. Kai definierte sich bislang hauptsächlich über die Anerkennung und Akzeptanz seiner rechtsextremistischen Freunde und befand sich somit in einem Abhängigkeitsverhältnis, in dem er in seiner subjektiven Wahrnehmung tatsächlich kaum noch eine eigene Meinung vertreten konnte, wenn er die Beziehungen nicht gefährden wollte. Von ähnlichen Erfahrungen berichteten auch Aussteiger bei Rommelspacher (2006). Kai kämpft nun darum, seine Vergangenheit aufzuarbeiten und seine salopp formulierte „Szene-Abhängigkeit“ zu überwinden, in dem er sich verstärkt wieder auf seine Familie konzentriert, die ja ursprünglich auch zu den wichtigsten Dingen in seinem Leben gehörte. Seine neu gewonnene Selbstbestimmung und verantwortung möchte Kai weiter vertiefen und sich nicht mehr von der Meinung anderer (familienfremder) Menschen abhängig machen. Der Familie, wozu er auch explizit seine Großeltern zählt, kommt deshalb so eine bedeutende Rolle zu, weil sie ihn so akzeptiert, wie er ist. „ich muss mich da nich verstelln ich muss da nich een off ich bin super hitler machen oder sowas ich kann ich sein und ich sach ma das is n bessres leben“ (533-535)
Die Negativerfahrung, nur aufgrund seiner Einstellung akzeptiert und gemocht zu werden und der damit verbundene ständige Druck, sich entsprechend präsentieren und beteiligen zu müssen, hat bei Kai im Zuge seiner Umorientierung dazu geführt, dass er die Beziehung zu seiner Familie neu bewertet und sich auf diese in seinen Augen nahezu bedingungslose Bindung besinnt. Vor allem die fortwährende Unterstützung durch seine Mutter streicht Kai heraus, wobei ihm auch die große Belastung bewusst ist, der er sie durch seine delinquente und rechtsextremistische Karriere ausgesetzt hat. „eijentlich wie meine mutter die hat mir immer jeholfen immer mich unterstützt ejal (..) was mer jemacht hat und dann (.) hm (.) versetzt mer der mutter eigentlich immer widder n nierenschlag (.) wo se denken jetzt hat er sich jefang jetzt wird er anständig und dann (.) kommt schon widder n gelber brief nach hause hier anjeklagt wegen dem und dem (.) und der selbststeller kommt (unverständlich) hier am XX möchte er sich bitte in a.-anstalt melden in der jva oder ja und seine haftstrafe von einem jahr anzutreten hn wo mer dann sacht oh (..) aber trotzdem mutti stand da wenn de was brauchst rufste an wenn ich dir was schicken soll steh ich dir bei (..) dadurch kommt das alles erst dass mer (.) sich so denkt na ja so schlecht jehts mir jar nich so schlecht jings mir nie (.) warum hab ich das jemacht und (..) man kann sich selber jar nich mehr erklärn aus welchen aus welcher verzweiflung raus das janze passiert is“ (384-394)
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In dieser Argumentation werden nochmals mehrere Interpretationsergebnisse zusammenfassend belegt. Zum einen wird hier sehr gut deutlich, wie sich Kais Sprechweise bei emotional negativ geladenen Themen von einer persönlichen zu einer eher entpersonalisierten („mer“) verändert. Es erfolgt hier ein mehrmaliger Wechsel zwischen der Ich-Form und der unpersönlichen Form („man“), wobei die persönliche Form immer dann verwendet wird, wenn es um die positiv wahrgenommene Unterstützung durch die Mutter geht, während die unpersönliche Form im Zusammenhang mit seinem negativen Verhalten verwendet wird, mit dem Kai sich noch auseinandersetzt. Zum anderen kann herausgearbeitet werden, dass Kais delinquente und rechtsextremistische Karriere vom Ein- bis zum Ausstieg kein linearer Prozess war, sondern vielmehr durch vielfältige gescheiterte Bewältigungsversuche bzw. Versuche, ein straftatfreies Leben zu führen, gekennzeichnet ist. Auslöser für den Einstieg war dabei die damals von Kai als unerträglich und ausweglos empfundene familiale und schulische Situation. Durch die fortwährende Unterstützung und Zuwendung der Mutter vor allem jetzt zur Zeit der Haft konnte Kai seine damaligen Gefühle und Wahrnehmung der innerfamilialen Situation relativieren und kann nun aus heutiger Sicht sein aus der Verzweiflung erwachsenes eskaliertes Verhalten nicht mehr vollständig nachvollziehen. Seine früheren Zweifel an der Zuneigung der und Verbundenheit mit der Familie wurden (bis auf den Stiefvater) inzwischen ausgeräumt. Weiterhin wird anhand der Schilderung der Aufforderung zum Antritt seiner Haftstrafe, die er nahezu wörtlich zitiert, deutlich, wie sehr ihn diese strafrechtliche Konsequenz beeindruckt hat. Bezüglich seines delinquenten Verhaltens war also erst das Eintreten einer massiv spürbaren negativen Konsequenz wirksam. Die an seine Vernunft appellierenden Versuche von Frau Kranich, Kai zu einer Distanzierung von der Szene zu bewegen, haben dafür nicht ausgereicht, weil sie zum einen wohl zu spät erfolgten und zum anderen nicht mit den für Kai nötigen spürbaren Konsequenzen verbunden waren. „dass ich (.) mein eignen weg gehen muss (..) so in mein einsichten selber droff komme und nich dass andre leute was sachen hier so musstes machen (.) also wenn mir jemand was sacht hier das musste so machen jehts hier rein und da raus kennt meine mutter schon was die sich n mund fusslich jeredet hat an mir“ (401-404)
Kai möchte sein Leben und seine Angelegenheiten nicht anhand der an ihn weitergegebenen Erfahrungen und Ratschläge anderer Menschen gestalten, sondern braucht die direkte Erfahrung am eigenen Leib, um zu lernen und sein Verhalten gegebenenfalls zu überdenken. Dabei nimmt er begleitende Zuwendung und Unterstützung jedoch gern an, wie nicht zuletzt an seinem Aufsuchen der Jugendberatungsstelle deutlich wird. Die Beharrlichkeit der Mutter, ihn auf seinem Weg in die Szene und Delinquenz und auch wieder aus ihr heraus zu
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begleiten und zu beeinflussen war somit zwar eine wertvolle Unterstützung, die aber aufgrund fehlender Konsequenz der Interventionen nicht ausreichend war, um Kais Abgleiten in eine delinquente Karriere zu verhindern. Frau Kranich sieht Kais Äußerung nach in der Haftstrafe, die er verbüßen muss neben dem negativen Aspekt auch die Chance („denkhilfe“ 399), dass ihr Sohn zum Nach- und Umdenken gebracht wird. Die – auch wenn es paradox klingt – mit der Inhaftierung neu gewonnene Freiheit, nicht mehr in der von ihm selbst gewählten Rolle als harter Rechter funktionieren zu müssen, wird von Kai als Erleichterung erlebt28 (526-536). Er hofft, dass er nachdem er zwei Drittel der Strafe verbüßt hat, auf Bewährung entlassen wird und arbeitet aktiv darauf hin. Dann möchte er sein Leben selbst gestalten und „endlich ma was erreichen“ (413). Ob er diesen Weg in Freiheit zukünftig weitergehen wird oder ob er erneut in sein altes Leben zurückfällt, ist noch nicht sicher und wird nicht zuletzt davon abhängen, welche Alternativen Kai sich erschließt, über die er Zuwendung und Anerkennung beziehen kann. 4.1.6 Interview mit Frau Kranich – „ich hab n unheimlich gerne grade wahrscheinlich weil er so problematisch war“ (217-218) Frau Kranich ist zum Zeitpunkt des Interviews 45 Jahre alt und in einem großen Unternehmen der Gesundheitsbranche als Sachbearbeiterin tätig. Sie spricht sehr ausführlich über die Entwicklung von Kai und ihre familialen Verhältnisse. Ihre Offenheit begründet sie mit ihrem Vertrauen ihn die versprochene Anonymisierung der preisgegebenen Informationen. Das Interview hat ihr gut getan, weil sie das Gefühl hatte, sich völlig frei äußern zu können, ohne bewertet zu werden und Angst davor haben zu müssen, dass im Nachhinein etwas gegen sie verwendet wird. 4.1.6.1 Interpretation der Stegreiferzählung von Frau Kranich Der Stegreiferzählung von Frau Kranich zum bisherigen Leben ihres Sohnes ging folgender Erzählstimulus voraus: I.: „so (.) frau kranich könnten sie so lieb sein und etwas über die kindheit vom Kai erzählen also wie er aufgewachsen is bis heute und wie sein leben verlaufen ist und ich würde es gern so machen dass ich erstmal zuhöre und dann nochmal nachfrage“ (3-5) 28
Rommelspacher (2011, S.165) schreibt in Bezug auf den Bericht des Aussteigers Jörg Fischer, dass „ihm die Bedeutung von individueller Freiheit und Selbstbestimmung erst nach seinem Ausstieg überhaupt bewusst wurde“, was auf den in der Szene herrschenden Gruppendruck und Zwang zur Meinungskonformität und kritiklosen Anpassung zurückzuführen ist.
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Sequenz 6-7: „mh mh (.) ja Kai ist geborn 19XX also zu tiefsten ddr-zeiten noch ich denke mal er hatte erst mal ne schöne kindheit in der vorschulzeit noch“
Frau Kranich beginnt ihre Erzählung mit einem Räuspern und dem Geburtsjahr von Kai, wobei die Erwähnung der „tiefsten ddr-zeiten“ (6) auf das Leben in einem völlig anderen System als dem jetzigen verweist und bereits massive Unterschiede zwischen beiden Systemen ankündigt, die für Kais Aufwachsen von Bedeutung waren. Dies kristallisiert sich durch das verwendete „tiefsten“ heraus, was unterstreicht, dass eine Öffnung oder Veränderungsprozesse der DDR aus ihrer Sicht noch nicht eingesetzt hatten, obwohl das Geburtsjahr von Kai nicht sehr weit von der Wende entfernt liegt. Die Kindheit von Kai verlief Frau Kranichs bilanzierender Einschätzung nach in dieser Zeit glücklich. Durch die Anbindung der glücklichen Kindheit an die Vorschulzeit und das in diesem Zusammenhang verwendete „noch“ kündigt sich jedoch bereits eine negative Veränderung an, die das Ende der glücklichen Kindheit bedeutete. Die Bezeichnung von Kais jüngerer Kindheit als Vorschulzeit gibt einen ersten Hinweis auf die Strukturierung seiner folgenden Lebensgeschichte anhand formaler Abläufe. Sequenz 7-12: „es begann dann 19XX wo er in die schule kam dass sich dann zeigte (.) dass er also (.) nach ansicht seiner me…seiner lehrerin damals einfach noch nicht reif genug war für die schule er war also etwas hyperaktiv und konnte sich nicht konzentrieren und war ja auch im sommer geboren und daraufhin empfahl die lehrerin ihn doch nochmal rauszunehmen aus der schule ihm noch n jahr zeit zu geben und n jahr später einzuschuln“
Das hier eingesetzte Rahmenschaltelement „es begann dann“ markiert den Ausgangspunkt für den Beginn einer problematischen Entwicklung. Die Schwierigkeiten begannen nach Kais Einschulung, die nicht erfolgreich verlief. Das in diesem Zusammenhang verwendete „dann“ verweist darauf, dass die Lernschwierigkeiten erst im Schulalltag zu Tage traten und eine entsprechende Disposition vorher nicht aufgefallen ist bzw. abzusehen war. Die Lehrerin befand Kai für nicht schulreif, da er sich noch nicht genügend konzentrieren konnte und schätzte ihn außerdem als hyperaktiv ein. Die mangelnde Schulreife wurde zumindest teilweise auf sein Alter zum Zeitpunkt der Einschulung zurückgeführt – er war gerade erst 6 geworden und gehörte somit zu den jüngsten Kindern in der Klasse. Um eine negative Schulkarriere durch das Erleben von Misserfolgen und mangelnden Wissenserwerb zu vermeiden, plädierte die Lehrerin für eine Zurückstellung von Kai bis zum nächsten Schuljahr und damit für eine Einschulung mit 7 Jahren. Weiterhin zeigt sich anhand der Formulierung von Frau Kranich, dass die Initiative der Zurückstellung allein von der Lehrerin und nicht von ihr selbst ausging. Sie verkörpert hier die fachkompetente Instanz, der die Beurteilung von Kais Fähigkeiten obliegt und deren Rat von Frau Kranich letztlich angenommen wird. Letztere erzählt an dieser Stelle nicht, wie sie selbst die
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Situation eingeschätzt hat, was ebenfalls dafür spricht, dass sie die Zuständigkeit hier bei der Schule sieht. Sequenz 12-21: „das war dann auch genau der zeitpunkt wo äh nach der wende nicht mehr die möglichkeit bestand dass die kinder dieses jahr noch im kindergarten dann bleiben konnten sondern die kinder mussten also in eine vorschulklasse von welcher mir die lehrerin aber sofort abriet es wärn also alles verhaltensgestörte kinder es wäre chaotisch es wäre furchtbar also bin ich losgefahrn und habe die stadt A. abgeklappert und habe geguckt wo s noch vorschulklassen gibt wo ich meinen sohn also gut unterbringen könnte und bin ich also hier auf die a.-schule gestoßen weil meine eltern halt auch hier in örtlicher nähe wohnen und mich unterstützen konnten dann auch mal ihn abzuholn wenn ich es nicht schaffen konnte von der zeit her rechtzeitig da zu sein um ihn abzuholen und (.)“
Für Frau Kranich ergaben sich bei der Bewältigung der eingetretenen Situation ungeahnte Herausforderungen, denn Kai konnte aufgrund neuer, mit dem Anschluss der ehemaligen DDR an die BRD verbundenen Regeln nicht wieder zurück in den Kindergarten, er musste in eine Vorschulklasse. Die für ihn eigentlich zuständige Vorschulklasse wurde von der Lehrerin ob der dort aus ihrer Sicht herrschenden Zustände und der „verhaltensgestört(en)“ Kinder als für Kai nicht empfehlenswert eingeschätzt. Sie differenzierte damit deutlich zwischen ihm (und seiner Familie) und den Kindern dieser Klasse. Frau Kranich war hier nicht die die Entwicklungen vorantreibende Kraft, sondern folgte den Empfehlungen der Lehrerin, deren Einschätzung der Vorschulklassensituation sie aufgrund ihrer Funktion im Sinne einer fachkompetenten, Rat gebenden Instanz vertraute. Die folgende Suche nach einer geeigneten Vorschulklasse wurde von Frau Kranich engagiert vorangetrieben. Durch die Formulierung „abgeklappert“ (18) werden der Aufwand und ihr Einsatz bei der Suche betont. Sie wurde nun zum Akteur, denn Frau Kranich mochte sich nicht mit irgendeiner Betreuung für ihren Sohn zufrieden geben, sondern suchte nach einer optimalen Lösung, die sie schließlich in der Nähe zum Wohnort ihrer Eltern fand. Die erwähnte Unterstützung bei der Abholung von Kai von der Schule durch ihre Eltern lässt auf eine berufliche Tätigkeit von Frau Kranich zum damaligen Zeitpunkt schließen. Weiterhin fällt auf, dass sie den Vater von Kai bislang noch nicht in die Erzählung eingeführt hat. Er scheint bei der Bewältigung der Situation also keine tragende Rolle gespielt zu haben und auch nicht als abholende oder betreuende Person in Frage gekommen zu sein. Sequenz 22-24: „da hat er also ne sehr schöne vorschulklasse gehabt dann und ne sehr nette alte lehrerin die sich gut um ihn gekümmert hat und um die andern kinder auch die war herzlich und resli resolut äh beides in einem also das war schon ne nette“
In dieser Sequenz erfolgt die Bewertung der von Kai schließlich besuchten Vorschulklasse. Das Engagement von Frau Kranich hat sich gelohnt, denn Kai war aus ihrer Sicht nun in einer schönen Vorschulklasse mit einer von Frau
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Kranich sehr geschätzten Lehrerin, die sich den Kindern gegenüber durch eine autoritative Erziehungshaltung auszeichnete – sie war „resolut“ und „herzlich“ zugleich. Die Kombination aus klaren Regeln sowie Wärme und Zuwendung wird von Frau Kranich positiv hervorgehoben, wobei sie betont, dass diese Haltung der Lehrerin nicht nur ihrem Sohn, sondern allen Kindern galt. Die der Lehrerin entgegengebrachte Wertschätzung wird durch die Bilanzierung am Ende der Sequenz nochmals unterstrichen („das war schon ne nette“). Sequenz 24-27: „ja ich bin dann halt jeden tag gefahrn von der a.-stadtteil bis hier ins stadtzentrum hab ihn hier halt in die schule gebracht in die vorschulklasse und hab ihn hier auch wieder abgeholt das war mir also nich zuviel diesen weg zu machen jeden tag (.)“
Frau Kranich schildert nun die Umstände ihres alltäglichen Ablaufs in Bezug auf den neuen weiteren Schulweg. Ihren durch die Entfernung zur Vorschule entstandenen Mehraufwand betont sie dabei besonders und unterstreicht damit ihr erbrachtes Engagement, für eine optimale Entwicklung und Unterbringung ihres Sohnes. Auch hier wird der Vater als potentieller Unterstützer und Ereignisträger nicht erwähnt. Sequenz 27-30:„ja dann wurde er n jahr später eingeschult und dann zeichnete sich natürlich ab dass es nich daran lag dass er hyperaktiv war und dass er konzentrationsschwächen zwar auch hatte aber dass es eben letztendlich sich raukristallisierte dass es eben ne legasthenie war ne sehr ausgeprägte“
Mit dem Rahmenschaltelement „ja dann“ leitet Frau Kranich von der positiven Zeit der Vorschule zur erneuten Einschulung von Kai über, die auch dieses Mal problematisch verlief. Die von der Lehrerin konstatierte Schulunreife entpuppte sich nun als Lernschwäche in Form einer starken Legasthenie. Das von Frau Kranich an dieser Stelle verwendete „natürlich“ kritisiert die von der Lehrerin zu Beginn der ersten Klasse vorgenommene Einschätzung von Kais Fähigkeiten und Entwicklungsstand und kündigt weiterhin die Zwangsläufigkeit einer problematischen Entwicklung an. In Kombination mit der fehlenden Einschätzung von Kais Schulreife durch Frau Kranich selbst zu Beginn der Erzählung kann nun auf eine Differenz zwischen ihrer eigenen und der Meinung der Lehrerin geschlossen werden, die sie jedoch aufgrund der fachlichen Zuständigkeit der Schule beim ersten Einschulungsversuch zurückhielt. Nun, da sich das Urteil der Lehrerin als zumindest unvollständig und teilweise falsch herausgestellt hat, kann Frau Kranich auch Kritik anklingen lassen. Sequenz 30-33: „und dann ging natürlich das martyrium los dass ich losgerannt bin versucht hab mein kind dann wirklich äh mit der entsprechenden förderung unterzubringen ja sprachheilschule war dann nachher das ziel weil ich wusste dass dort speziell die legastheniker betreut werden“
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Die Diagnose Legasthenie erlebte sie als „martyrium“ im Sinne eines über sie hereinbrechenden, schwer kontrollier- und steuerbaren Prozesses, der ihr an Kraft- und Energieaufwand viel abverlangte. Ihre Formulierung des Losrennens unterstreicht dabei sowohl den subjektiv empfundenen zeitlichen als auch inhaltlichen Druck, eine optimale Fördermöglichkeit für Kai zu finden. Es wird deutlich, dass für Frau Kranich eine erfolgreiche Schulkarriere bzw. gute Bildungsmöglichkeiten wichtige Faktoren darstellen, die sie ihren Kindern ermöglichen wollte. Als verantwortlich für Kais weiteren Weg sah sie dabei vor allem sich selbst, da weder Hilfestellungen der Schule noch ihrer Familie erwähnt werden. Frau Kranich präsentiert sich hier auch als Akteur, der sich über Fördermöglichkeiten informierte und für Kai schließlich die Sprachheilschule auswählte. Sequenz 33-37: „das war also dann ein weiterer kampf ihn dann überhaupt erstmal weil normalerweise das erst zum schuljahresende ging aber nach der ersten klasse wars schon klar dass es nich lief in der zweiten klasse wars klar woran es lag und ich wollte ihm also das nich antun dass er die zweite klasse da noch durchziehn muss an der schule wo s eigentlich feststand was er hatte“
In dieser Sequenz detailliert Frau Kranich die Entwicklung von Kais schulischen Problemen. Sie traten zwar bereits im ersten Schuljahr massiv auf, wurden aber erst im Laufe des ersten Halbjahres der zweiten Klasse als Legasthenie erkannt. Kai hatte somit schon einen längeren Zeitraum in einer schulisch eher unglücklichen Situation verbracht, in der er die Erfahrung machte, die an ihn gestellten Anforderungen nicht erfüllen zu können und hinter anderen Kindern zurückzubleiben. Da eine Umschulung auf die favorisierte Sprachheilschule regulär erst zum neuen Schuljahr möglich war, stand Frau Kranich nun vor einem weiteren Dilemma, denn sie wollte verhindern, dass Kai noch länger auf der für ihn aufgrund seiner Lernschwäche aus ihrer Sicht nutzlosen Regelschule verblieb. Das zweite Halbjahr wollte sie ihm dort nicht „antun“ (36), was impliziert, dass sie auch bestrebt war, ihm weitere Versagenserlebnisse und mögliche Hänseleien zu ersparen. Die schulischen Wechsel-Vorgaben konnte sie nicht nachvollziehen und so begab sie sich in einen weiteren „kampf“ (34), um eine frühere Umschulung von Kai zu erreichen. Die von Frau Kranich im Zusammenhang mit ihrem Einsatz für Kais Schulkarriere verwendeten ausdrucksstarken Formulierungen lassen auf eine hohe persönliche Involvierung, aber auch empfundene Belastung schließen – sie kämpfte allein gegen den Rest der Welt und letztlich auch um die Anerkennung ihres Engagements. Sequenz 38-42: „also hab ich mich gekümmert dass er zum halbjahr schon umgeschult werden konnte in die sprachheilschule (.) ja (.) das war mir zwar klar dass er die defizite dort auch nicht mehr aufholt und dort auch bloß sitzen bleiben wird sicherlich aber das war ja nich so schlimm er konnte dort wenigstens schon mal was lernen was er in der anderen klasse ja gar nich konnte wo er in der normalen schule in anführungsstrichen (I.: hm) noch war ne also ja“
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Frau Kranich betont noch einmal ihren engagierten Einsatz und knüpft nun mit einer konkretisierenden Argumentation der Beweggründe für ihren Wunsch nach einer zeitnahen Umschulung ihres Sohnes auf die Sprachheilschule an: Sie hatte den Eindruck, dass er aufgrund seines Handicaps auf der Regelschule nichts lernen konnte, da er spezielle Lern- und Vermittlungstechniken zum Erlernen von Lesen und Schreiben benötigte. Ohne die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens war ihm auch die Stoffaufnahme in anderen Fächern massiv erschwert bzw. nahezu unmöglich. Jede weitere Verzögerung stellte somit eine Zeitverschwendung dar, die Kai in seiner Entwicklung behinderte und seine mögliche Etikettierung als schlechten Schüler vorantrieb. Auch hier präsentiert sich Frau Kranich wieder als treibende Kraft, das Verhalten der Lehrer und der beteiligten Institutionen wird nicht erläutert. Die hohe Wahrscheinlichkeit einer nötigen Wiederholung der zweiten Klasse war Frau Kranich bewusst, spielte bei ihrem Einsatz jedoch keine Rolle, sondern wurde als unvermeidbare Konsequenz der Legasthenie bzw. auch des späten Erkennens derselben hingenommen. Sequenz 42-44: „dann hab ich n halt umgeschult habe das dann durchgeboxt dass er zum halbjahr schon umgeschult werden konnte ausnahmsweise was normalerweise gar nich ging (I.: hm)“
Die Anstrengungen von Frau Kranich wurden von Erfolg gekrönt, sie erreichte die Umschulung von Kai zum Halbjahr. Ihre Formulierung bestätigt dabei die bislang interpretierte Wahrnehmung von sich selbst als Einzelkämpferin („durchgeboxt“) für die Rechte und Entwicklung ihres Sohnes: Sie hat Kai umgeschult, sein Wechsel auf die Sprachheilschule zum Halbjahr ist ihr alleiniger Verdienst, den sie durch die Nachträge „ausnahmsweise“ und „was normalerweise gar nicht ging“ nochmals doppelt unterstreicht. Frau Kranich befand sich somit aus ihrer Sicht in einer konträren Position zu den schulischen Behörden und Vorschriften. Durch die völlige Entpersonalisierung der „Gegenseite“, deren Beteiligung am Prozess sie nahezu vollständig unerwähnt lässt, verdeutlicht sich die maximale Distanz zwischen beiden Interessen. Dennoch muss letztlich ein gemeinsamer Konsens erreicht worden sein, denn sonst wäre dem außerplanmäßigen Schulwechsel nicht stattgegeben worden. Sequenz 44-46: „dann isser zwar wie gesagt dort auch nich versetzt worden in der zweiten klasse sondern musste dort die zweite klasse nochmal machen dann in der sprachheilschule aber das lief dann sehr gut“
Frau Kranich zieht hier eine positive Bilanz ihres Engagements. Die von ihr durchgesetzte zeitigere Umschulung von Kai auf die Sprachheilschule erwies sich für sie als richtig, denn dort lief es im Gegensatz zur Regelschule „sehr gut“ (46). Das angestrebte Ziel einer schnellen Verbesserung von Kais unglücklicher Situation hat Frau Kranich aus ihrer Sicht somit erreicht, auch wenn sich ihre
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Befürchtung der Notwendigkeit der Wiederholung der zweiten Klasse letztlich bestätigte. Dies stellte für sie jedoch nicht das entscheidende Kriterium dar. Der Fokus ihres Interesses lag nicht auf einem schnellen schulischen Erfolg, sondern auf der Herstellung eines für Kai angemessenen schulischen Umfeldes, in dem er sich wohlfühlte und das seinen besonderen Bedürfnissen Rechnung trug, wodurch ihm letztlich ein guter Einstieg in das Lernen überhaupt bzw. in seinem Fall wohl auch ein Ankommen in der Instanz Schule ermöglicht wurde. Sequenz 47-50: „und dann war er halt wie jesacht (.) bis zur sechsten klasse in der sprachheilschule und hatte dort recht gute leistungen er hatte natürlich die probleme in deutsch mit lesen und schreiben aber ansonsten hatte er recht gute leistungen er war also (.) nich mal mittelklasse schon bessere mittelklasse ja also (holt tief luft) na“
Mit dem Rahmenschaltelement „und dann war er halt wie jesacht“ (47) schafft Frau Kranich einen erzählerischen Übergang zum Ende von Kais Zeit auf der Sprachheilschule, die er bis zur sechsten Klasse besuchte. Die Legasthenie scheint sehr ausgeprägt gewesen zu sein, da sie auch hier nochmals auf weiterhin bestehende Probleme verweist. In der anschließenden Ergebnissicherung bewertet sie diese Schulzeit als positiv. Ihre Erwartungen haben sich erfüllt – Kai hatte eine gute Entwicklung genommen und auch deutlich bessere Lernergebnisse erzielt. Sie ordnet ihren Sohn dabei als „bessere mittelklasse“ (50) ein, womit sie die im Vergleich zum Ausgangspunkt deutliche Steigerung seiner schulischen Leistungen und auch die Stabilität seiner Einbindung in die Schule zu diesem Zeitpunkt unterstreicht. Das tiefe Luftholen und das anschließend geäußerte „na“ lässt ein Ende dieser Phase und den Übergang zu etwas Neuem erahnen. Sequenz 50-52: „tja und dann musster halt umgeschult werden in die normale realschule in ne normale klasse mit sechsundzwanzich kindern wo s vorher in der sprachheilschule nur elf kinder in der klasse waren oder zehn na (I.: hm)“
Mit dem Ende der sechsten Klasse endete Kais Aufenthalt an der Sprachheilschule und er wechselte zurück auf die Regelschule. Das von Frau Kranich einleitend verwendete „tja“ markiert dabei die kommende Zäsur und kündigt in Kombination mit dem „dann musster“ (50) bereits die ungewollte Veränderung an. Die folgende Beschreibung der unterschiedlichen Klassenstärken ist ein weiterer Indikator für einsetzende negative Konsequenzen der Umschulung. Die intensive schulische Betreuung in kleinen Klassen war vorbei, Kai musste sich nun in einer „normale(n)“ (51) Klasse mit 26 Kindern behaupten. Sequenz 53-58: „und dann gabs natürlich den großen knall den ich befürchtet hatte mir wurde zwar ne förderung zugesacht dass er dort die förderung bekommt von speziell ausgebildeten lehrkräften die also wissen was se da tun und bla bla und jaaa (.) und es zeichnete sich dann ab dass es also nicht so war und dass er also dementsprechend natürlich massivst abbaute was ihn natürlich übelst frustriert hat na dass er wo er ja eigentlich kein dummer war letztendlich dort so da stand wie n dummer“
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Die in der vorigen Sequenz bereits angedeutete negative Veränderung bestätigt sich in einem von Frau Kranich bereits vorausgesehenen „großen knall“ (53). Die erzählerische Darstellung des Eintreffens ihrer Befürchtungen verdeutlicht dabei noch einmal die Unfreiwilligkeit dieses erneuten Wechsels. Die Zeit der Ruhe und der unauffälligen und guten schulischen Entwicklung von Kai endete abrupt. Die zugesicherte besondere Förderung durch spezialisierte Lehrer fand nicht oder nicht in dem von Frau Kranich erwarteten Maße statt, was aus ihrer Sicht dazu beitrug, dass Kai einen massiven schulischen Absturz erlebte. Das angespannte Verhältnis zumindest zur Regelschule verdeutlicht sich vor allem durch die überzeichnete Zitation der mit der Schule getroffenen Absprachen zur Förderung („und bla bla und jaaa“ 55), denen Frau Kranich wohl von vornherein keinen Glauben schenkte. Kais sich rapide verschlechternden Leistungen stellten eine große Belastung dar. Die negativen Entwicklungen beschreibt Frau Kranich dabei als unaufhaltbaren Prozess, dessen Auslöser sich in der von ihr nicht gewollten Umschulung begründete: der große Knall passierte „natürlich“ (53), seine Leistungen verschlechterten sich „dementsprechend natürlich“ (56) und das führte „natürlich“ (57) zu einer massiven Belastung von Kai und einer großen Frustration. Ihre jahrelangen Bemühungen wurden damit in kürzester Zeit zunichte gemacht und das, was sie eigentlich verhindern wollte – nämlich die Stigmatisierung von Kai als „dumm“ (bzw. lernschwach) – trat nun ein. Verantwortlich für die verheerende Verschlechterung macht sie dabei das abrupte Ende der intensiven Betreuung, die Kai bislang zu Teil wurde, und die Schule, die sich aus ihrer Sicht nicht an die getroffenen Vereinbarungen gehalten hat. Die von Frau Kranich beschriebene quasi-automatische Abwärtsspirale war aber noch nicht an ihrem Ende angelangt, die Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential gipfelte vorläufig in einem frustrierten, von der Schule im Stich gelassenen Sohn, der sich dumm fühlte, obwohl er es nicht war, und der in der neuen schulischen Struktur keine Verankerung und keinen Platz für sich fand. Sequenz 58-66: „ja und dann begann natürlich der weg in richtung szene ne denn dort in der b-stadtteil wo er dann war an der schule dann hatt… hatten sich natürlich bestimmte gruppen schon zusammengefunden ne die so in die richtung tendierten und da hat er sich also die bestätigung und den erfolg geholt den er in der schule nich hatte hat er sich also in seiner gruppe dort geholt bei den rechten (.) durch eben große klappe aufn putz haun und bla bla schiefe sachen machen das fing ja dann schon an eigentlich siemte achte klasse er war ja auch schon zwei jahre älter als .. älter als die meisten andren schüler in seiner klasse ne (I.: hm)“
Die vorhergehende und die folgende Ereignisdarstellung werden von Frau Kranich mit dem Verknüpfungselement „ja und dann“ verbunden, wobei der weitere Verlauf des Satzes „begann natürlich“ (58) die zwangsläufige
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Fortsetzung der dramatischen Abwärtsspirale ankündigt. Die problematische Entwicklung kumulierte weiter, denn nach dem Schulwechsel schloss sich Kai einer Gruppe rechter Jugendlicher an, womit seine rechte Karriere begann. Frau Kranich schätzt diesen Schritt als Kompensation seines schulischen Misserfolges und der mangelnden Integration in die neuen schulischen Zusammenhänge ein. Seine negativen Gefühle kompensierte Kai, in dem er durch deviantes und delinquentes Verhalten die Anerkennung der rechten Jugendlichen bezog. Der Anschluss an die rechte Clique ist aus Sicht von Frau Kranich also der Ausgangspunkt seiner kriminellen Karriere („das fing ja dann schon an“ 63-64), die Delikte werden jedoch nicht konkret benannt und eher vage umschrieben („schiefe sachen machen“ 63). Einen Einfluss schreibt sie auch seinem Alter zum Zeitpunkt des Einstiegs zu: Er war durch die Rückstufungen bereits zwei Jahre älter als seine Klassenkameraden, was seine Integration in die Klassengemeinschaft aus ihrer Sicht erschwerte, seinem Anschluss an die delinquente Clique aber wohl eher zuträglich war, denn hier war er nicht der sitzengebliebene Versager mit dem Schreib- und Leseproblem, sondern konnte als der Coole in Erscheinung treten. Der unfreiwillige Schulwechsel auf eine Regelschule führte bei Kai durch massive Versagenserlebnisse im Leistungsbereich sowie durch Gefühle des Ausgeschlossenseins, der mangelnden Anerkennung und Integration zu einer massiven Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential. Das Zusammentreffen mit der delinquenten rechten Clique löste dann die Verlaufskurve aus – Kai begann in eine delinquente Karriere abzurutschen. Auch diese Entwicklung wird von Frau Kranich als quasi-automatische Ereignisfolge („natürlich“) beschrieben, die sich ihrem Einfluss entzog. Im Gegensatz zu ihrer Selbstdarstellung bei der Geschichte seiner Ein- und anschließenden Umschulung auf die Sprachheilschule tritt Frau Kranich hier nicht als die Situation dominierende und regulierende Akteurin auf, sondern stand den Entwicklungen eher passiv und machtlos gegenüber. Es drängt sich die Frage auf, was zu dieser Veränderung in ihrer Haltung und ihrem Verhalten geführt hat. Sequenz 66-71: „hm dann kam ja noch dazu (schluckt) dass äh die scheidung war von seinem leiblichen vater also ich hatte mich scheiden lassen ja von seinem leiblichen vater das war 19XX (..) und (..) sein leiblicher vater ist dann leider auch sehr sehr weit weggezogen der is also von a-stadt ans äußers.. in den äußersten X gezogen nach b.-stadt und dann nachher nach c.-stadt auch dort am äußersten X-zipfel deutschlands mit seiner neuen lebenspartnerin und der ihrn beiden kindern“
Frau Kranich führt mit ihrer Scheidung von seinem leiblichen Vater ein weiteres belastendes Ereignis in Kais Lebensgeschichte ein. Die Voranstellung des „leibliche(n)“ (68) lässt dabei den Schluss auf einen später folgenden Stiefvater zu. Die Platzierung des Ereignisses in der Erzählung erweckt den Eindruck, dass
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sich die Scheidung in der zeitlichen Abfolge an den Schulwechsel anschloss, dies ist jedoch nicht der Fall. Die Trennung von Herrn und Frau Kranich erfolgte bereits als Kai 7 Jahre alt war.29 Sie kam somit nicht als belastendes Ereignis zu den bereits bestehenden schulischen Problemen hinzu, sondern ging ihnen voran. Dennoch wird durch die Formulierung „kam ja noch dazu“ (66) noch einmal die kumulative Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential in Kais Leben hervorgehoben. Die Initiative zur Trennung ging von Frau Kranich aus, was sie in einem aus Gestaltschließungs- und Detaillierungszwang resultierenden Nachtrag zur Einführung des Ereignisses deutlich macht („ich hatte mich scheiden lassen“ 67). Mit der Scheidung ging für Kai auch eine schwer überwindbare räumliche Distanzierung einher – sein Vater zog sehr weit weg. Durch die doppelt vorgebrachte Formulierung „in den äußersten X“ sowie „am äußersten X-Zipfel deutschlands“ (69-70) unterstreicht Frau Kranich die große Entfernung und deutet bereits einen künftig stark eingeschränkten Kontakt und Einfluss sowie das Wegbrechen des Vaters bei der Alltagsgestaltung an, wobei das nicht nur Kai, sondern auch sie in Bezug auf ihre Erziehungsverantwortung und Gestaltung des täglichen Lebens stark betraf. Nun wird auch deutlich, weshalb der Vater von Kai in der bisherigen Erzählung keine Erwähnung fand – er war zum Zeitpunkt des Auftretens von Kais schulischen Problemen faktisch nicht mehr da. Dies wird auch durch die Erwähnung der neuen Familie des Vaters nochmals angedeutet. Die in der Eingangssequenz vorgenommene Unterteilung von Kais Leben in die schöne Vorschulzeit und die problematische Zeit danach bezog sich also nicht nur auf die auftretenden schulischen Schwierigkeiten, sondern auch auf das Auseinanderbrechen der Familie. Das von Frau Kranich an dieser Stelle der Erzählung geäußerte Schlucken und Zögern verweist darauf, dass ihr dieses Thema unangenehm ist, was vermutlich auch der Grund für die späte Einführung des Ereignisses in der Erzählung ist. Da die Scheidung von ihr ausging, könnten hier Schuldgefühle eine Rolle spielen, weil sie einen negativen Zusammenhang zwischen den Scheidungsfolgen (dem Wegbrechen des Vaters) und Kais Entwicklung vermutet. Die Bedeutung der Scheidung für Kais bisherigen Lebensweg verhält sich also umgekehrt proportional zum späten Zeitpunkt ihrer Einführung in die Erzählung. Eine weitere Zurückhaltung des Themas Scheidung würde die Gestaltschließung der Erzählung jedoch unmöglich machen und konnte daher nicht erfolgen. Sequenz 71-76: „und da hatt ich also von der seite her auch keinerlei unterstützung was ich mir gewünscht hätte ja dass der leibliche vater also auch irgendwo ma noch einfluss nimmt 29
Aufgrund der teilweise massiven Involvierung der untersuchten Jugendlichen in die rechte Szene war eine umfassende Anonymisierung der Lebensdaten, die jegliche Möglichkeit des Rückschlusses auf die Identität des Informanten und seiner Familie verhindert, Voraussetzung für die Gewinnung von Interviewpartnern. Die entsprechenden Jahreszahlen sind der Autorin bekannt, so dass die einzelnen Lebensereignisse und Abschnitte entsprechend zugeordnet werden konnten.
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oder versucht ja die ganze familie hats versucht ich habs versucht mein zweiter mann hats versucht die großeltern hams versucht ihn da irgendwo im kopf klar zu bekommen (I.: hm) aber das is nich möglich gewesen der war völlich vernagelt (.)“
Die Notwendigkeit der Einführung des Ereignisses Scheidung begründet sich über die Erzähllogik in Bezug auf Kais massive negative Entwicklung, der Frau Kranich nichts entgegenzusetzen vermochte: In der schwierigen Situation fehlte ihr im Umgang mit Kai die Unterstützung durch das zweite Elternteil und die Intervention eines Vaters. Kais Vater scheint jedoch zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr präsent gewesen zu sein. In einer Einzelaufzählung der beteiligten Personen schildert sie die Versuche der Familie, Kai von seinem delinquenten rechten Tun abzubringen, wodurch sich das familiale Bemühen um Kai vermittelt. Dabei führt sie auch ihren zweiten Mann in die Erzählung ein. Trotz ihrer neuen Beziehung fühlte Frau Kranich sich von ihrem Ex-Mann im Stich gelassen, was andeutet, dass der neue Partner den leiblichen Vater mindestens zu diesem Zeitpunkt für Kai nicht ersetzen konnte. Die von der Familie unternommenen Interventionen scheiterten, Kai war für ihre Argumente nicht zugänglich, er war „völlich vernagelt“. Dies deutet auf eine bereits erfolgte Distanzierung Kais von seiner Familie und einen großen Einfluss seiner neuen rechten Freunde auf ihn hin. Sequenz 76-82: „tja wie gesacht von seim leiblichen vater war dann nichts mehr zu erwarten weil der war weit weg wenn er mal kam aller jubeljahre ein zwei mal im jahr oder auch dreimal im jahr ja dann war er big daddy der ihm dann haha schön und ja wie das dann so is ne (I.: hm) der hat dann halt (.) ja ausgegeben kino und mc donalds und dies und jenes und was kostet die welt aber den rest der zeit hat er sich halt gar nich gekümmert ne nich mal dass er mal telefoniert hätte mit den kindern und (.) nix in der richtung das war natürlich schon irgendwo schwierig“
Mittels einer neuerlichen Bekräftigung des Fehlens von väterlichem Engagement leitet Frau Kranich zu einer Detaillierung des Verhältnisses zu ihrem ExMann über, in der sie ihn stark kritisiert und ihrer Enttäuschung Luft macht. Während seiner zwei- bis dreimaligen Besuche im Jahr verwöhnte er Kai und seinen Bruder mit Geschenken und Ausflügen, stand den Kindern und ihr selbst darüber hinaus jedoch aus ihrer Sicht nicht als Ansprechpartner und Bezugsperson zur Verfügung. Aus ihrer Schilderung geht der Ärger darüber hervor, dass sie die alltäglichen Anforderungen sowie finanziellen Belastungen zu tragen und die Erziehungsarbeit allein zu leisten hatte, während ihr Ex-Mann nur die angenehmen Seiten für sich beanspruchte. Durch ihre Wortwahl („big daddy“ 78, „haha schön“ 79, „was kostet die welt“ 80) sowie den sarkastischen Tonfall kommen Verbitterung und Frustration über die Situation und das Verhalten ihres ExMannes zum Ausdruck. Während sie ihre eigene Enttäuschung und Belastung mit deutlichen Worten zum Ausdruck bringt, äußert sie sich in Bezug auf die
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mögliche Belastung der Kinder durch das väterliche Verhalten sehr zurückhaltend. Das Fehlen des Vaters und seine mangelnde Verfügbarkeit und Kontaktsuche über die seltenen Besuche im Jahr hinaus bewertet sie hier vorsichtig als „natürlich schon irgendwo schwierig“. Die zurückgenommene Ausdrucksweise von Frau Kranich lässt auf eine Trennung zwischen ihren eigenen Befindlichkeiten und den Bedürfnissen der Kinder schließen, denen gegenüber sie den Vater nicht in einem schlechtem Licht erscheinen lassen will. Die Vermutung liegt nahe, dass Frau Kranich das mangelnde Interesse ihres Ex-Mannes den Kindern gegenüber zu kompensieren versuchte, um ihnen die Freude an seinen Besuchen und die Illusion eines sorgenden Vaters nicht zu nehmen. Dies könnte den abrupten Wechsel der Emotionalität in der Sequenz begründen. Sequenz 82-86: „was dann noch (.) noch schlimmer eigentlich war war dass eben im Jahr XX äh der leibliche vater von kai sich s leben genommen hat (I.: hm) das war also auch noch so ne sache die also äh (..) da wirklich auch schwer war sicherlich für ihn zu verstehn (.) das kann keiner verstehn das kann auch ich nich verstehn bis heute ne“
An die Schilderung der die Beziehung zwischen Kai und seinem Vater betreffenden Scheidungsfolgen schließt sich die Ankündigung eines weiteren dramatischen Ereignisses an. Der Vater nahm sich das Leben als Kai 14 Jahre alt war. Frau Kranich unterstreicht durch das verwendete „noch schlimmer“ das kumulative Zusammentreffen von belastenden Faktoren in Kais Leben. Nach der von ihr kritisierten Vernachlässigung seiner elterlichen Pflichten entzieht sich der Vater durch den gewählten Freitod nun völlig seiner Verantwortung und ist für Kai nicht mehr greifbar, seine Entscheidung nicht fassbar. Die Unerklärlichkeit eines Suizids und die damit verbundene Hilflosigkeit der Hinterbliebenen drücken sich durch das wiederholt geäußerte Nicht-verstehen-Können aus. Nicht nur sie als Familie, keiner kann das Verhaltens des Vaters nachvollziehen. Der Nachtrag „bis heute“ betont die Nachhaltigkeit, mit der der Suizid eines Menschen das Leben der Angehörigen prägt und beeinträchtigt. Die geäußerte Unverständlichkeit bringt die Plötzlichkeit des Ereignisses zum Ausdruck. Dieser dramatische Schritt des Vaters war zumindest für sie aus der Entfernung nicht vorauszusehen. Die Betonung der Schwierigkeiten bei der Verarbeitung des väterlichen Todes im Anschluss an die vorausgehenden Sequenzen, in der Kais Einstieg in die rechte Szene erzählerisch eingeführt wurde, lässt darauf schließen, dass Frau Kranich einen Zusammenhang zwischen den mit dem Suizid verbundenen Belastungen und seinem Abrutschen in eine rechtsextremistisch-delinquente Karriere herstellt. Sequenz 86-94: „er is mit dieser frau da hoch gezogen und (.) die hatte anscheinend keinen guten einfluss auf ihn (.) Kais vater war schon immer bisschen dem alkohol zugetan und unter alkohol hatte der wirklich ausraster da war er nicht mehr er selbst das war auch grund eigentlich ähm warum wir uns getrennt haben dass ich das nich mehr ertragen wollte und (.) so
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wars dann auch als er sichs leben genommen hat der hat sich unter alkohol aufgehängt ne und s is natürlich ne sache die denk ich mal grade n jungen in dem alter in der pubertät natürlich (..) tief unter de haut geht sicherlich ne und er hat das ja auch oft jesacht dass er seinen vater sehr vermisst (.)“
Frau Kranich fügt nun eine Hintergrundkonstruktion ein, in der sie die Lebensumstände ihres Ex-Mannes erläutert und knüpft dann mit einer Detaillierung der Todesumstände an: Kais Vater hat sich unter Alkoholeinfluss erhängt. Herr Kranich war mit seiner zweiten Frau in eine weit entfernte Stadt gezogen. Der neuen Lebenspartnerin steht Frau Kranich kritisch gegenüber. „Dieser frau“ (86) schreibt sie einen schlechten Einfluss auf ihren Ex-Mann zu, dem sie eine Alkoholabhängigkeit attestiert. Diese war auch der ausschlaggebende Punkt für die von Frau Kranich initiierte Scheidung. Die Formulierung „bisschen dem Alkohol zugetan“ (87-88) stellt dabei eine Untertreibung dar, die den massiven Folgen („ausraster“ 89 als Trennungsgrund) entgegensteht. Die Auswirkungen des Alkoholkonsums müssen dramatisch gewesen sein, denn ihr Mann war ihr unter Alkoholeinfluss völlig fremd und Frau Kranich wollte sie nicht mehr „ertragen“ (90). Nun wird auch deutlich, was sie mit dem schlechten Einfluss der zweiten Frau ihres Ex-Mannes gemeint hat – seine Alkoholsucht scheint sich während ihres Zusammenlebens verstärkt zu haben. Herr Kranich stand auch während seines Suizids unter Alkoholeinfluss. Die eingefügte Hintergrundkonstruktion dient der Herleitung der kausalen Zusammenhänge um den Tod des Ex-Mannes: Sie ist diejenige, die seine Alkoholsucht bekämpft hat und sich letztlich deswegen sogar getrennt hat, die zweite Frau hat sie dagegen befördert, was sie zu einer am Tod Mitschuldigen macht. Die Beschreibung der veränderten Persönlichkeit des Ex-Mannes unter Alkoholeinfluss ermöglicht Frau Kranich eine zumindest teilweise Erklärung des eigentlich für sie unerklärlichen Schicksalsschlages – er war zum Tatzeitpunkt nicht er selbst. Der Alkohol symbolisiert die Fremdsteuerung von Herrn Kranich bei der Tat und entlastet somit die Familie bei der Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit möglichen Ursachen für seine Wahl des Freitodes. Im zweiten Teil der Sequenz kommentiert Frau Kranich die Folgen des väterlichen Todes für Kai. Die speziellen Anforderungen, Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben in der Pubertät stellten dabei einen Umstand dar, in dem Frau Kranich eine starke Erschwerung der Verarbeitung sieht. Die Formulierung „grade n jungen in dem alter“ (92) verweist auf die hohe Bedeutung, die Frau Kranich dem väterlichen Einfluss und Rollenvorbild in dieser Lebensphase beimisst. Ihre Argumentation belegt sie durch den Verweis auf Kais häufige Äußerungen, dass er seinen Vater vermisst. Das von ihr hier verwendete „tief unter de haut“ (93) symbolisiert den hohen Grad und die massiven und dauerhaften Auswirkungen der mit dem Freitod des Vaters einhergehenden emotionalen Verletzung.
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Dass von Frau Kranich häufig verwendete „natürlich“ unterstellt einen allgemeinen Konsens über die negativen Folgen und Anforderungen hinsichtlich der Verarbeitung eines solchen Ereignisses für ein Kind. Hier handelt es sich um die Fortsetzung der Kausalkette, die letztlich zu Kais krimineller Karriere führte. Der Suizid des Vaters war bildlich gesprochen ein weiterer schwerer Stein, der Kai nach unten zog. Sequenz 94-103: „und (.) zu dem zweiten mann war anfangs n guter draht da der hat sich auch gut gekümmert mein zweiter ehemann anfangs ja (I.: hm) und dann ließ das aber auch nach dann wurde ja (räuspert sich) seine schwester geborn und dann ließ das rapide nach dass der also immer wieder Kai versucht hat sich eigentlich bei dem zweiten mann irgendwo (.) bestätigung zu hol nun un und immer versucht eigentlich wir hatten n garten nun zusammen ham wer ja heute noch also ich alleine nun (.) im garten zum beispiel hat er mit geholfen und dies und jenes gemacht aber anstatt er dann bestätigung bekommen hätte und gesacht ach mein junge haste gut gemacht und dies und jenes hat er eigentlich immer noch n tritt jekricht ja das haste nich richtich jemacht und das haste nich wegjeräumt un dies haste nich jemacht und so“
Über die Argumentation zur Bedeutung des Verlustes des Vaters gelangt Frau Kranich in ihrer Erzähllogik zur Beschreibung von Kais Beziehung zu ihrem zweiten Mann und führt den Stiefvater als bedeutsamen Ereignisträger in die Erzählung ein. Die distanzierte Bezeichnung des Stiefvaters als „zweiten mann“ (94) in der Reflexion lässt Rückschlüsse auf eine zwischenzeitliche Beendigung der Beziehung zu. Der Stiefvater bemühte sich zunächst stark um Kai, übernahm Verantwortung („hat sich auch gut gekümmert“ 95) und stellte eine gute Beziehung zu ihm her. Kai scheint dem Stiefvater aufgeschlossen gegenübergetreten und bereit gewesen zu sein, ihn als Vaterfigur zu akzeptieren. Die Kai gegenüber gezeigte Zuwendung des Stiefvaters endete jedoch abrupt mit der Geburt seiner gemeinsamen Tochter mit Frau Kranich. In der nun vorhandenen Patchworkfamilie geriet Kai in eine Außenseiterposition und verlor die Aufmerksamkeit des Stiefvaters zugunsten dessen leiblichen Kindes. Er kämpfte um die Aufmerksamkeit und Anerkennung des Stiefvaters, in dem er zunächst versuchte, durch positives Verhalten aufzufallen, was aus Frau Kranichs Sicht von diesem jedoch nicht honoriert wurde. Mittels der Belegerzählung zur Gartenarbeit detailliert sie das abwertende und abwehrende Verhalten ihres zweiten Mannes. Dieser lobte Kais Bemühungen nicht, sondern reagierte darauf mit überzogener Kritik, in dem er sich nur auf die aus seiner Sicht nicht zufriedenstellend erledigten Dinge konzentrierte. Die Unterlegenheit von Kai und das verletzende Verhalten des Stiefvaters werden von Frau Kranich durch die Formulierung “noch n tritt jekricht“ (102) besonders bildhaft ausgedrückt. Die vermutete Trennung vom zweiten Ehemann bestätigt sich durch die Belegerzählung zum Thema Gartenarbeit – sie unterhält den Garten inzwischen alleine.
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Sequenz 103-106: „ja er hat eigentlich immer nur negatives dann einstecken müssen er war immer auf der suche irgendwo mal liebe und freundlichkeit zu bekommen weil sein leiblicher vater war dann nich mehr da un und und halt immer nurn tritt dann in hintern bekommen letztendlich von dem zweiten mann“
In dieser Sequenz bekräftigt Frau Kranich die oben beschriebenen Belastungen von Kai durch das Verhalten seiner Väter. Die interpretierte Unterlegenheit von Kai wird hier noch einmal als ein sein damaliges Leben dominierender Einfluss bilanziert: Er musste „immer (…) einstecken“ (103-104), war also sowohl dem Verhalten seines Stiefvaters als auch dem Freitod seines Vaters hilflos ausgesetzt und hatte dem nichts entgegenzusetzen. In ihrem Kai-theoretischen Kommentar beschreibt sie ihren Sohn weiter als „immer“ auf der Suche nach „liebe und freundlichkeit“ (104-105), wodurch die Verzweiflung über das Fehlen einer väterlichen Orientierungsfigur und die Dringlichkeit der Suche nach einem adäquaten Ersatz und einem Gefühl des Angenommen-Seins zum Ausdruck kommen. Seine Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, die „tritt(e)“ (102) gingen weiter. Interessant ist, dass Frau Kranich ihre eigene Rolle in dieser für Kai enorm belastenden und schwierigen Lebensphase völlig außen vor lässt. Sie wirkt eher wie ein bezeugender Beobachter, was einen eklatanten Widerspruch zu ihrer Eigendarstellung als Kämpferin für die Entwicklung ihres Sohnes zu Anfang der Erzählung darstellt. Sequenz 106-110: „und ja und er hat dann nich versucht och mal n draht zu ihm zu finden mit ihm wirklich zu reden zu sagen pass mal off so von.. von stiefvater zu vater und so und so un mit ihm kontakt zu finden irgendwo ja nur immer so wie na ja siehste ja hier guck dir an hab ich dir doch gleich jesagt ja bei allem was passiert is“
Frau Kranich setzt hier ihre Kritik am Umgang ihres Ex-Mannes mit Kai fort, in dem sie ihm vorwirft, sich nicht um eine Verbesserung der Beziehung bemüht zu haben. Der Markierer „und er hat dann“ (106) verweist darauf, dass sich diese Kritik auf einen fortgeschrittenen Zeitpunkt des Zusammenlebens bezieht, der sich jenseits von Kai Phase des intensiven Bemühens um die Zuneigung des Stiefvaters befindet und zu dem Kai bereits durch abweichendes Verhalten auffiel. Dies bestätigt sich durch das am Ende der Sequenz geäußerte „bei allem was passiert is“ (110). Ihr Ex-Mann schrieb Kai aus Frau Kranichs Sicht nur negative Eigenschaften und Verhaltensweisen zu, intervenierte aber nicht konstruktiv als väterliche Bezugsperson und Ansprechpartner. Die Formulierung des „draht“Findens (107) verweist auf das mangelnde Verständnis für Kais schwierige Situation, aber auch auf das mangelnde Interesse daran überhaupt. Durch die schließlich tatsächlich zunehmend negative Entwicklung von Kai fühlte sich ihr zweiter Mann in seiner Meinung bestätigt, wodurch ein Teufelskreis aus Abwertung und Stigmatisierung entstand, der für Kai wohl keine Anreize einer Verhaltensänderung bot und ihn weiter in die rechte Szene trieb.
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Frau Kranich beklagt das ablehnende und stigmatisierende Verhalten ihres Ex-Mannes, der aus ihrer Sicht keinen konstruktiven Beitrag zur Bewältigung der Situation leistete, sondern sie eher noch verschlimmerte. Obwohl sie dieses Mal im Vergleich zu den anfänglichen Schulschwierigkeiten von Kai nicht allein da stand, hatte sie von ihrem Partner keine Unterstützung zu erwarten, sondern befand sich zusätzlich in einem Loyalitätskonflikt zwischen Mann und Sohn. Ihre eigenen Bemühungen um Kai wurden von ihrem Ex-Mann durch das Hervorheben des Eintreffens seiner negativen Prophezeiungen entwertet. Sequenz 110-117: „und es kam ja letztendlich auch immer so wie er das vorausgesagt hat der zweite mann letztendlich kams tatsächlich so wie er das immer vorausgesagt hat wenn ich immer geglaubt habe ach nee lass mal und das wird schon (Telefon klingelt) (..) er hat also immer wieder recht behalten im endeffekt (I.: hm) mit seiner negativen einstellung aber er hat eben auch nie versucht da was dran zu ändern (I.: hm) anstatt dann zu unterstützen und zu sagen na ja es is sowieso schwer un der leibliche vater is nich mehr da und ich muss versuchen da irgendwo wenichstens zu unterstützen oder was und das is ja nich (.) is nich geschehen na (..)“
Der Kritik am Ex-Mann folgt eine Ergebnissicherung: Die Negativprophezeiungen des Stiefvaters traten letztlich alle ein, er behielt Recht. Durch die dreifache Wiederholung wird der innere Konflikt zwischen dem Glauben an das Gute in Kai und der Haltung des Stiefvaters deutlich, in dem Frau Kranich sich befand. Kais delinquentes und rechtsextremistisches Verhalten nahm der Stiefvater zum Anlass, sich in seiner „negativen einstellung“ (114) ihm gegenüber bestätigt zu sehen, wodurch gleichzeitig die elterliche Kompetenz von Frau Kranich abgewertet und in Frage gestellt wurde. Mutter und Stiefvater agierten also nicht im Sinne einer Elternallianz, sondern vertraten gegensätzliche Positionen, was zusätzliche Spannungen erzeugte und eine erfolgreiche Einflussnahme erschwerte. Frau Kranich setzt hier ihre Kritik fort, bekräftigt das Versagen ihres Ex-Mannes als väterliche Bezugsperson und beklagt die mangelnde Unterstützung. Durch ihre wiederholte Argumentation in Bezug auf den Tod von Kais Vater verdeutlichen sich nochmals die hohe familiale Belastung, aber auch ihr Unverständnis über die Empathielosigkeit und das mangelnde Engagement ihres zweiten ExMannes. In ihrem Bemühen der Situation ihres Sohnes, aber auch den Ansprüchen ihres Ex-Mannes gerecht zu werden, saß sie zwischen allen Stühlen, was sie letztlich nahezu handlungsunfähig machte und eine mögliche Erklärung dafür ist, warum sie sich im Vergleich zur frühen Schulgeschichte von Kai kaum als Akteur präsentiert. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob sich Kais delinquentes Verhalten nach seinen erfolglosen Bemühungen um Aufmerksamkeit und Zuwendung des Stiefvaters bzw. eines Vaters überhaupt im Sinne einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung entwickelte und er schließlich die zugeschriebene negative Identität auch deshalb übernahm, weil der Stiefvater ihm keine andere zugestand.
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Sequenz 117-124: „ja (..) aber ansonsten wie gesacht von liebe und zuwendung und unterstützung von meiner seite da also mehr kann man nich machen als mutter als das was ich da getan hab vielleicht hab ich zuviel getan vielleicht hab ich zu sehr versucht zu überzubehüten ich weiß es nich na (I.: hm) aber von der seite her aber mit seinen vätern isses halt immer n bisschen schief gelaufen in ner phase wo er sicherlich wahrscheinlich (.) n vater wirklich intensiv gebraucht hätte n richtigen vater egal obs nun der leibliche wäre oder der s spielt hja nicht die rolle ne aber (.) hat eben hat er eben nich gehabt (.)“
In dieser die Stegreiferzählung abschließenden Bilanzierung der familialen Einbettung von Kai nimmt Frau Kranich eine Differenzierung zwischen mütterlicher und väterlicher Bindung und Beziehungsqualität vor. Das geäußerte „aber ansonsten“ (117) wirkt dabei vor dem Hintergrund der dramatischen Ereignisse und Entwicklungen in Kais Leben irritierend. Frau Kranich leitet damit jedoch zu ihrer Einschätzung des eigenen erzieherischen Handelns und ihrem Verhalten als Mutter generell über, das sie als liebevoll, unterstützend und zugewandt beschreibt. Damit distanziert sie sich nicht nur deutlich vom Verhalten ihrer ExMänner, sondern auch von einer möglichen ursächlichen Verantwortung für Kais negative Entwicklung. Eigene Fehler schließt sie bis auf einen Hang zum „Überbehüten“ aus. Das Fehlen einer positiven und zugewandten väterlichen Bezugsperson gerade während der Pubertät sieht sie dagegen als hauptverantwortlichen Faktor. Da sie die Rolle einer männlichen Bezugsperson nicht übernehmen konnte, ist sie aus ihrer Sicht an dieser Stelle auch nicht verantwortlich. Durch ihre Argumentation entzieht sich Frau Kranich einer kritischen Auseinandersetzung mit ihren möglichen Eigenanteilen an der Eskalation von Kais rechts-delinquenter Karriere. Auffällig ist die vorgenommene klare Trennung zwischen (stief-)väterlichem und mütterlichem Verhalten, was darauf hinweist, dass ein tragfähiges Zusammenwachsen der Patchworkfamilie, ebenso wie die Aufrechterhaltung einer am Kindeswohl orientierten Elternallianz nach der Trennung vom leiblichen Vater nicht gelungen ist. Besonderheiten der Stegreiferzählung Frau Kranichs Stegreiferzählung stellt insgesamt eine Reflexion möglicher Auslöser und ursächlicher Zusammenhänge der rechts-delinquenten Karriere von Kai dar. Die Erzählung ist in der Gesamtbetrachtung darauf ausgerichtet die Unausweichlichkeit der negativen Entwicklung aufgrund äußerer Faktoren aufzuzeigen und die eigene Machtlosigkeit, diesem komplexen Bedingungsgeflecht etwas Wirksames entgegenzusetzen, zu verdeutlichen. Besonders dramatische Ereignisse werden von Frau Kranich teilweise salopp und ironisch dargestellt, was darauf schließen lässt, dass sie bestrebt ist, eine emotionale Distanz herzustellen.
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In der Stegreiferzählung wurden von Frau Kranich folgende Themenkomplexe beschrieben:
Kais Einschulung und die damit verbundenen Probleme, die Feststellung der Legasthenie und zeitweise Umschulung auf eine Sprachheilschule, die Scheidung von Kais Vater, der Einstieg in die rechte Szene und das Abgleiten in eine delinquente Karriere im Anschluss an Kais Rückkehr zur Regelschule, der Tod des leiblichen Vaters, das konfliktbehaftete und schlechte Verhältnis zum Stiefvater.
4.1.6.2 Erziehung – Herzenswärme, Anstand und Hilfsbereitschaft: Familiärer Zusammenhalt als wichtigste Prämisse Kais familialer Hintergrund ist in der Darstellung von Frau Kranich von zwei konträren Einflüssen geprägt, die sich auch im Bereich der Erziehung und des gesamten Umgangs mit ihm widerspiegeln: Sie nimmt eine deutliche Unterscheidung zwischen ihrer eigenen (Erziehungs-)Haltung und der von leiblichem Vater und Stiefvater vor, die sie in der Stegreiferzählung umfänglich kritisiert. Ihrem ersten Mann wirft sie dabei insbesondere mangelnde Verantwortungsübernahme und Präsenz als väterliche Bezugsperson vor, dem zweiten eine negative Einstellung und einen dysfunktionalen, emotional verletzenden Umgang mit Kai (6873; 76-82; 94-123; 371-373). Im weiteren Verlauf der Erzählung werden beide Väter bezüglich ihrer Einflussnahme auf Kai aber kaum noch erwähnt, was darauf schließen lässt, dass sie aus Frau Kranichs Sicht keinen konstruktiven Beitrag zu ihrem Familien- und Erziehungskonzept leisteten. Eine positiv besetzte männliche/väterliche Identifikationsfigur, die Kai bei seiner Entwicklung begleitet und unterstützt, war somit im Grunde nicht vorhanden (120-124). Die ständigen Spannungen aufgrund des schlechten Verhältnisses zwischen Kai und seinem Stiefvater stellten eine familiale Belastung dar. Frau Kranich beschreibt sich als stets zugewandte, unterstützende und liebende engste Bezugsperson, die Kai mit Strenge aber Verständnis durch sein bisheriges Leben begleitet hat (117-120; 207-210; 217-223; 245-252; 308-309; 348349). „er weiß das ganz genau das schreibt er mir auch immer und er weiß das ganz genau dass ich de einzige bin auf die er sich hundertprozentig verlassen kann“ (222-223)
Sie betont, dass Kai ihr Engagement für ihn und ihre Verlässlichkeit als elterliche Bezugsperson bewusst sind. Als Beleg dafür verweist sie auf seine Briefe,
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in denen er das zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig wird hier indirekt nochmals das Versagen der Väter angesprochen, denn auf sie konnte sich Kai Frau Kranichs Einschätzung nach eben nicht verlassen. „ich denke mal dass ich ihm och schon viel herzlichkeit und wärme mitgegeben habe von der sache her“ (333-334)
Ihre Erziehung stellt auf die Vermittlung von Werten wie Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Anstand und Uneigennützigkeit ab. Besonders wichtig ist ihr dabei der familiäre Zusammenhalt, also das konsequente und konstante Füreinanderda-Sein innerhalb der Familie, die für sie den höchsten Stellenwert im Leben hat. Es ist für sie ausgeschlossen, die Beziehung zu einem ihrer Kinder in Frage zu stellen, auch wenn es massive Probleme gibt (214-226; 350-363). „das weiß er genau dass wir zwar immer bedenken ham aber trotzdem egal was er gemacht hat immer hinter ihm gestanden haben und ihn trotzdem nach wie vor immer gerne haben und lieb haben und weil wir wissen dass er eben vom grundcharakter her vom gemüt her dass er n guter mensch is“ (224-227)
Das hier von Frau Kranich verwendete „wir“ bezieht sich auf die Großeltern und nicht auf Kais Väter. Von diesem Teil der Familie wird Kai so, wie er ist, angenommen. Frau Kranich unterscheidet dabei zwischen seinem negativen Verhalten, das sie ablehnt und ihm als Person, die in ihren Augen immer liebenswert ist. Diese Trennung von „Person und Tat“ ermöglicht es Kai zu jedem Zeitpunkt seiner rechts-delinquenten Karriere einen Halt in seiner Familie zu finden und sich auf seinen mit einer positiven Identität verbundenen Platz in ihr zurück zu besinnen und stellt in diesem Sinne einen Anker dar, der die Möglichkeit eines Ausstiegs bietet. Gleichzeitig zeigt sich hier auch ein Grundvertrauen in Kai als Person an sich, aber auch in die durch die Familie mitgegebene Erziehung und die vermittelten Werte. Ihren Erziehungsstil präsentiert Frau Kranich als eine Mischung aus liebevoller Zuwendung („nestwärme“ 348) und der Aufstellung und Durchsetzung von klaren Regeln (245-251; 374-378). Frau Kranich ist bestrebt, bei Konflikten im Gespräch zu bleiben und einen Konsens zu finden (373-374), versuchte gesteckte Grenzen aus ihrer Sicht aber konsequent durchzusetzen, auch wenn das eine Verschärfung der Auseinandersetzung bedeutete. Das folgende Beispiel verdeutlicht ihre Bereitschaft, auch autoritär aufzutreten, wenn Gespräche in ihren Augen keinen Erfolg haben, sie aber dringenden Handlungsbedarf sieht. „ich lehne das ab und das is unser haus und so lange du hier wohnst hast du dich an die regeln im haus zu halten […] das hat er natürlich nich (.) ich hab da bestimmt hundertmal ausgemistet und dann gabs jedes mal n fürchterlichen knall ich hab seine cds weggeschmissen und dies und jenes weggeschmissen und das wäre nich verboten und das dürft ich nich und das wäre sein privateigentum und das hätt er sich von seinem privaten geld gekauft ich sache
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weißte was is mir shitegal ich hab dir gesacht hier kommt das nich rein wenn de dich nich dran hältst dann liegts in der mülltonne (..) na ja das gab natürlich übelst stress immer ne is klar“ (251-258)
In dieser Detaillierung ihres erzieherischen Handelns beschreibt Frau Kranich ihre Interventionen und die sich daran anschließenden Auseinandersetzungen in Bezug auf von Kai mitgebrachte rechtsextremistische Materialien. Die von ihr aufgezeigte Grenze gliedert sich dabei in drei Teile. Zunächst bringt sie in einer klaren Botschaft ihre eigene Haltung zum Gegenstand der Auseinandersetzung zum Ausdruck – sie lehnt ihn ab. Danach verdeutlicht sie ihren aus ihrem Elternstatus resultierenden Autoritätsanspruch – es ist ihr Haus, sie ist für Unterhalt, Lebensraum und -gestaltung aufgrund eben dieser Erwachsenen-/Elternrolle verantwortlich und damit auch berechtigt, diese Entscheidung zu treffen. Im dritten Teil kommuniziert sie eine klare Erwartungshaltung – Kai hat sich an ihr Gebot zu halten, da er sich in einer abhängigen Eltern-Kind-Beziehung befindet und sein Leben noch nicht alleinverantwortlich mittels der Übernahme einer Erwachsenenrolle gestaltet. Kai verweigert die Annahme der aufgestellten Regel, indem er sie übertritt und fordert damit eine weitere Reaktion der Mutter heraus. Frau Kranich unterstreicht ihren Standpunkt, in dem sie eindeutig als rechtsextremistisch erkennbare Gegenstände wegwirft. In der folgenden Auseinandersetzung ringt Kai mit seiner Mutter um die zu diesem Zeitpunkt aktuelle Machtverteilung und versucht ihren Autoritätsanspruch zugunsten seiner Anerkennung als autonom handelnder Erwachsener zu brechen, wobei in seiner von Frau Kranich dargestellten Argumentation auch seine erfolgreiche Agitation durch die Szene zum Ausdruck kommt („privateigentum“ 256, Legalitätsdebatte). Frau Kranich lässt diese Verschiebung in der Beziehungsstruktur jedoch nicht zu, sondern untermauert ihren Autoritätsanspruch durch die Wiederholung der von ihr aufgestellten Regel und die Ankündigung ihrer weiteren konsequenten Intervention bei Nichteinhaltung („dann liegts in der mülltonne“ 258). Dabei entwertet sie gleichzeitig die von Kai vorgebrachten einschlägigen Argumente („shitegal“ 257), womit sie nochmals eine klare Position gegen die rechte Szene und Kais Zugehörigkeit zu ihr bezieht. Kai fühlt sich in seinem Ringen um Selbstbestimmung bedroht und in seiner für ihn zu diesem Zeitpunkt sein Leben dominierenden Zugehörigkeit zur Szene herausgefordert, was zu einer Eskalation des Konfliktes führt. Die Intervention von Frau Kranich hatte letztlich keinen Erfolg, weil Kai bereits zu sehr in der Szene verhaftet war und sie ihn nicht mehr erreichen konnte. Die von ihr gesetzten Grenzen versuchte sie trotzdem, auch gegen seinen massiven Widerstand, aufrechtzuerhalten, wie sie am Beispiel der nicht im Haus geduldeten Springerstiefel deutlich macht („dass er sich an die regeln zu halten hat (.) das hat er immer wieder zu spüren bekommen“ 374-375). Gleichzeitig gibt sie aber auch an, auf außerhalb ihres Hauses stattfindende Geschehnisse keinen
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Einfluss zu haben, was ihr beschriebenes konsequentes Handeln etwas weniger umfassend erscheinen lässt. Frau Kranich erzählt sowohl in der Stegreiferzählung als auch im anschließenden Teil detailliert und umfangreich von ihren Bemühungen, ihren Kindern bei ihrer schulischen Karriere bis hin zum Berufseinstieg zur Seite zu stehen. Dabei übt sie Kritik an verschiedenen Instanzen, deren Interventionen sie als hinderlich und unverhältnismäßig erlebte und von denen sie sich unverstanden und zu Unrecht in Frage gestellt sah (12-55; 274-286; 414-476). So vernachlässigte Kai im Zuge seiner rechts-delinquenten Karriere die Schule und ging schließlich gar nicht mehr hin. Frau Kranich hatte aus ihrer Sicht alles unternommen, um seinen Schulbesuch sicherzustellen, konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen. „ich krichte post vom ordnungsamt dass mein junge nich in de schule geht ich sache was soll ich n machen ich war bei der direktorin ich war bei der klassenlehrerin ich hab mit Kai gesprochen ich hab geguckt dass der früh ausm haus geht mehr kann ich ja nich machen ich kann den doch nich an de hand nehm dahin bring dann geht er nach ner stunde och bloß und dann oder geht gar nich erst rein na was was will ich n machen mit nem sechzehn siebzehn jährigen jungen das is doch lächerlich ne“ (274-279) „und dann kommt post vom ordnungsamt dann solln dann soll de mutti strafe zahln weil ja das kind nich in de schule geschickt wird so ungefähr das is doch alles nonsens sowas was soll denn der quatsch ja ich meine ich musste dann nachher nix bezahln weil ich konnte s ja alles nachweisen dass ich mich gekümmert habe und dass es wirklich nich meine schuld is dass mein kind nich in die schule geht ich kann n ja nich an ohren nehmen und hinschleifen was soll ich n machen“ (280-285)
Anhand dieses Beispiels wird noch einmal deutlich, dass Frau Kranichs Einfluss auf Kai an seine Grenzen stieß und ihre Interventionen zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht den gewünschten Erfolg erzielten. Kai ging trotz ihrer Bemühungen, alle am Prozess Beteiligten zu aktivieren (Lehrer, Direktorin, Kai) nicht mehr zur Schule. Die Hilflosigkeit von Frau Kranich wird anhand ihres Ärgers über die Mahnung vom Ordnungsamt besonders sichtbar. Sie fühlte sich zu Unrecht beschuldigt und mit ihren Nöten als Mutter allein gelassen. Aufgrund des jugendlichen Alters von Kai sah sie ihre Einflussmöglichkeiten als begrenzt an. Dennoch zeigt die mehrfach verwendete Bezeichnung „Junge“, dass Frau Kranich Kai in Bezug auf seine Entwicklung noch im kindlichen Bereich ansiedelt und ihm die eigentlich altersgemäße schrittweise Übernahme einer Erwachsenenverantwortung und -rolle noch nicht zutraut. Der Nachweis ihrer Unschuld gegenüber dem Ordnungsamt und die damit verbundene Einstellung der Bußgeldforderung waren ihr wichtig, weil sie dadurch ihre Integrität als Mutter zumindest teilweise wiederhergestellt sah. Auch hier agierte Frau Kranich wieder allein, eine Unterstützung durch ihren ExMann, Kais Stiefvater, scheint nicht erfolgt zu sein.
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Ihre Verzweiflung über ihr Unvermögen, Kais Abgleiten zu stoppen und ihre Wut über die in ihren Augen ungerechten Beschuldigungen, äußern sich im Anschluss an die Erzählung zum Thema Schulverweigerung in dem Wunsch nach einer staatlichen Instanz, die Aufsicht und Führung von „solche(n) konsorten“ (288) mittels autoritären Zwangs übernimmt. „dann sollten ses so machen wie s in n usa is […] und solche konsorten die dann wirklich eben sich nich an die regeln halten dann sollten sie die richtich in son lager stecken wo se erstmal zucht und ordnung lern wo se richtich gedrillt werden und und erstmal lern dass se sich an regeln zu halten haben“ (286-290)
In dieser Argumentation brechen sich Verzweiflung über und Wut auf Kai eine Bahn und äußern sich in der Phantasie eines Lagers, in dem sein Widerstand gebrochen wird, denn auch er gehört(e) ja zu den „konsorten“ (288), die die Einhaltung jeglicher Regeln verweigern. Der Wunsch nach dem harten Durchgreifen resultiert dabei aus der erlebten Hilf- und Machtlosigkeit. Mittels des Schulverweigerungsbeispiels und der daran anschließenden „Konsortenabstraktion“ ist es Frau Kranich möglich, ihre negativen Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die sie sonst aus Liebe zu Kai nicht äußert. In einer weiteren umfassenden und detaillierten Passage über ihre Erfahrungen mit der Lehrstellensuche für ihren älteren Sohn und dem Arbeitsamt setzt Frau Kranich ihre Kritik an System und Gesellschaft fort und argumentiert, dass Jugendliche mit einem niedrigen Schulabschluss kaum Chancen auf einen sinnvollen Einstieg in Berufsleben und Arbeitsgesellschaft hätten, was Devianz und Delinquenz aufgrund der fehlenden Einbindung in sinnvolle Tätigkeiten Vorschub leistet (424-450). Dabei sollte ihrer Ansicht nach jeder einen Platz in der Gesellschaft haben, der seinen Fähigkeiten entspricht. „es kann ja nich jeder professor werden sag ich immer die andren menschen muss es genauso geben und die ham auch ihre daseinsberechtigung […] und sind deswegen nich schlechter als irgendwelche intelligenzbestien“ (491-494)
Als negatives Beispiel für ihre Gesellschafts- und Behördenkritik führt sie ein Gespräch mit einem Mitarbeiter des Arbeitsamtes an, in dem sie ausdrücklich auf die Fördermöglichkeiten für benachteiligte Jugendliche hingewiesen wurde, die schon einmal auffällig geworden sind, was sie als Aufforderung zur Begehung von Straftaten an ihren ältesten Sohn verstand (435-450). „wie bekloppt unsere behörden sind ich kann doch nich sagen na ja lass doch die ruhig erstmal straffällig werden lass die doch mal mist baun“ (473-474)
Das Ausbildungsproblem ihres älteren Sohnes löste sie durch ihr gewohntes Engagement, in dem sie so lange mit Mitarbeitern sprach, bis er eine Bewerbungsmöglichkeit erhielt, die er letztlich trotz eines schlechten Abschlusses
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durch Fleiß und hohe Motivation für sich entschied. Auch für Kai hat Frau Kranich sich beim Arbeitsamt engagiert. Dieser hatte im Rahmen seiner Bewährungsauflagen bis zum Antritt einer Lehrstelle oder Maßnahme allgemeinnützige Arbeit zu leisten, kam dieser Auflage jedoch nicht nach. Frau Kranich begründet dies mit der ihrer Meinung nach sinnlosen Tätigkeit, die ihn frustrierte. Eine Lehrstelle, die ihn interessiert, sollte die Situation auffangen und sein weiteres Abrutschen verhindern, er bekam jedoch trotz ihres Einsatzes keine entsprechende Möglichkeit vom Amt. „natürlich hat den das dann dermaßen anjepiept dass der da jeden tag irgendwo was weeß ich papier aufsammeln sollte oder was auch immer dass er da dann nich mehr hingegangen is so keiner da nichts tut sich nichts (.) keiner konnte ihm irgendwas geben wenn die dem nur irgendwas hätten geben können wo er wirklich ne sinnvolle tätichkeit hätte ausüben können wo er sachte da geh ich auch gerne hin das macht mir auch spaß nix von keiner seite hilfe“ (427-432)
Was zunächst wie ein Versuch der Externalisierung möglicher Ursachen für Kais weiteres Abrutschen wirkt, erwiest sich bei genauerer Betrachtung als Fähigkeit von Frau Kranich, sich in Kai hineinzuversetzen und seine Perspektive zu übernehmen. Auch wenn die verhängten Sozialstunden eine gängige Maßnahme im Katalog des Jugendstrafrechts darstellen, bringen sie bei Kai nicht den gewünschten Erfolg, da sie keine Lösung für sein Grundproblem – der Suche nach Identität, Anerkennung und einem Platz, an dem er akzeptiert wird – bieten. Frau Kranich wiederum hat erkannt, dass das Angebot einer für Kai subjektiv sinnvollen Alternative zu seinem rechts-delinquenten Weg ein weiteres Abrutschen vielleicht verhindern könnte, fand aber aus ihrer Sicht keine adäquate Unterstützung, die ihr bei der Umsetzung behilflich war. Im familialen Bereich konnte sie Kai aufgrund ihrer zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Ehe mit dem Stiefvater keine Verbesserung seiner Position anbieten, weshalb sie ihre Hoffnungen auf eine Ausbildung setzte, die ihm neue Impulse und Handlungsmöglichkeiten eröffnen könnte. Auch dies gelang jedoch nicht. Frau Kranich stand aus ihrer subjektiven Sicht in Bezug auf die problematische Entwicklung von Kai allein auf weiter Flur: Der leibliche Vater tot, ihr Mann fand keinen „draht“ (107) zu Kai und die formellen Instanzen sozialer Kontrolle übten zwar Druck aus, boten aber keine für sie hilfreiche Unterstützung. Trotz der gravierenden und wiederholten innerfamilialen Auseinandersetzungen hielt Frau Kranich an Kai fest und versuchte bzw. versucht, sich auf positive Aspekte seiner Person zu konzentrieren. Ihrer Einschätzung nach befindet sich Kai zum Zeitpunkt des Interviews in einem Prozess der Loslösung von der rechten Szene und der kriminellen Karriere, dessen Ausgang noch ungewiss ist (144155; 172-182; 194-198). Sie reflektiert während des Interviews immer wieder Kais Charakter, den sie grundlegend als „anständig“ (144), „uneigennützig“
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(336), „lieb“ (510) und „hilfsbereit“ (144), aber auch in Bezug auf Alkohol und damit verbundene aggressive Ausraster als gefährdet einschätzt (147-149; 292296). Das wiederholte Aufgreifen dieses Themas verweist auf die innere Auseinandersetzung, in der sie sich diesbezüglich befindet. So führt Frau Kranich mehrere Belegerzählungen an, die ihre positive Wahrnehmung von Kai untermauern, wobei sie verschiedene Ereignisträger innerhalb und außerhalb der Familie als bestätigende Instanzen heranzieht (z.B. Großeltern der Freundin, Mitarbeiterin der Jugendvollzugsanstalt – 133-138; 159-16; 335-347). Für das Verständnis ihres inneren Konfliktes und der damit verbundenen Unsicherheit ist ihre Erzählung über eine mögliche Haftlockerung für Kai zentral, in der ihr Schwanken zwischen Vertrauen, Hoffnung und Bedenken besonders gut sichtbar wird. „die frau X war da ja auch mit dabei und hatte mit mir das gespräch gesucht weil für ihn haftlockerung möglich wäre weil sie ihn also auch als sehr vernünftig einschätzt und auch als intelligent einschätzen sie sachte mir ja sie hat wohl zweiundsiebzich da insgesamt und zwei sinds vielleicht die überhaupt dafür in betracht kämen und davon wäre einer eben Kai und die fragte mich dann eben auch (.) nach meiner meinung was ich von Kai halte und wie ich das einschätzen würde und bla bla und da hab ich ihr das auch gesacht im normalfall Kai das is so n freundlicher netter mensch und die ganze familie ob das de großeltern sind von meim ersten mann zu den ich ja och noch kontakt habe und n gutes verhältnis habe oder ob das meine eltern sind die ham alle ne gute meinung kann keiner was schlechtes sagen Kai is anständig der kommt eim nich blöde der is hilfsbereit der mach der tut […] aber sobald der in die falschen kreise gerät und hier noch was getrunken hat dazu das is wahrscheinlich n bisschen erbmasse hier von sein ersten vater hat der sich nich mehr im griff dann hakt das aus“ (134-149)
In der ursprünglich gegenüber der Mitarbeiterin der Haftanstalt vorgebrachten Argumentation werden auch hier wieder die Einschätzungen von signifikanten Ereignisträgern zur Untermauerung der von ihr geäußerten Hoffnung und des Glaubens an Kai angeführt (Großeltern). Auch die Äußerungen der Mitarbeiterin selbst zieht sie heran, wobei sie den positiven Sonderstatus von Kai betont (zwei von 72, die für eine Haftlockerung in Frage kommen, Einschätzung von Kai als „intelligent“ und „vernünftig“ 136). Gleichzeitig werden aber auch ihre Zweifel unterstrichen, die dazu führen, dass sie keine Prognose bezüglich Kais künftigem Leben wagt. Frau Kranich attestiert Kai eine genetische Disposition zum Alkoholismus, die er von seinem Vater geerbt hat. Der von ihr hergestellte Zusammenhang zwischen Alkoholkonsum, „falschen kreise(n)“ (147-148) und daraus resultierendem massiv negativem Verhalten wurde so von ihr auch für ihren ersten Mann beschrieben, von dem sie sich aus diesem Grund getrennt hat. Ähnliches nun bei ihrem Sohn zu erleben, von dem sie sich aufgrund der starken emotionalen Bindung und ihres Familienkonzeptes niemals „trennen“ könnte, begründet ihre Zerrissenheit und teilweise Hilflosigkeit. Auch Ängste können unterstellt werden, da der Weg von Kais Vater auch aufgrund seines Alkoholismus letztlich mit dem (Frei-)Tod endete (91-92; 129-132).
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Während sich Frau Kranich bei der Unterstützung von Kais schulischer Laufbahn und auch seiner beruflichen Zukunft engagiert und aktiv präsentiert, bleibt ihre Rolle in Hinblick auf die innerfamilialen Problematiken mit dem Stiefvater merkwürdig vage. So beschreibt und kritisiert sie zwar ausführlich das Verhalten ihrer Ex-Männer, ihre eigene Beteiligung bei der Bearbeitung der vorhandenen Konflikte oder ihre möglichen diesbezüglichen Interaktionen mit Kai bilden jedoch eine erzählerische Lücke, die Fragen aufwirft. Da sie während des gesamten Interviews deutlich auf ihre Anteile an der Gestaltung von Kais Lebensweg hinweist, liegt der Schluss nahe, dass Frau Kranich mit den familialen Konflikten überfordert und es ihr nicht möglich war, hier eine eindeutige Position zu beziehen bzw. eine Lösung zu finden. Verhältnis zwischen Mutter und Sohn Frau Kranich beschreibt ihr Verhältnis zu Kai als „sehr inniges“ (207) und zumindest ihrerseits von Ehrlichkeit geprägt. Eine direkte und offene Kommunikation ist ihr dabei sehr wichtig und wird von ihr geführt, aber ebenso auch aktiv von Kai eingefordert. Die von ihr wahrgenommenen häufigen Lügen, die Kai äußerte, um unangenehme Konsequenzen zu vermeiden, haben ihr Vertrauen in Kai erschüttert und sie bezüglich der Verlässlichkeit seiner Aussagen verunsichert (202-205; 213-217; 316-320; 513-517). „er hat mich sehr sehr viel angeschwindelt schon sehr sehr viel (.) deswegen hab ich eben auch die bedenken weil ich sage ich glaub ihm das in dem moment dass er die guten vorsätze hat aber ob ers denn wirklich schafft und nich wieder anfängt mit schwindeln und mit mist baun (.) das is fraglich“ (213-217)
Dennoch hält sie weiter zu ihm, nimmt ihren Sohn so an, wie er ist und hofft trotz aller Zweifel auf seine positive Veränderung bzw. auf die Möglichkeit einer dauerhaften Rückbesinnung auf seine positive Identität (195-199; 211-214; 170172; 310-318). Besonders auffallend ist dabei die von Frau Kranich beschriebene Art des gemeinsamen Umgangs, die die bisherige Interpretation einer starken Bindung und grundsätzlich guten Beziehung bestätigt. „wir könn uns in arm nehm und könn uns drücken und uns n kuss auf de wange drücken un nich wie manche die dann so hnhnhn auf abstand“ (511-512)
Auch wenn Frau Kranich die bisherige Entwicklung von Kai sehr belastet, hat dies nicht zu einer Veränderung der von Liebe und Wertschätzung getragenen Basis ihrer Beziehung zu ihm geführt. „ich hab n unheimlich gerne grade wahrscheinlich weil er so problematisch war und ich so viel mit ihm gekurbelt habe“ (217-219)
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Frau Kranich empfindet Kai als schwieriges Kind, dessen Entwicklung ihr viel Engagement abverlangt hat, was ihre Zuneigung jedoch nicht geschmälert hat. Dies korrespondiert mit Frau Kranichs Familienbild, in dem alle Familienmitglieder über jedwede Schwierigkeiten hinweg fest und eng miteinander verbunden sind. Intelligenz, Bildungsweg und beruflicher Erfolg entscheiden dabei aus ihrer Sicht nicht über den (Stellen-)Wert eines Menschen, es zählen die Familienbande und der (gute) Charakter (487-497). Die Mutter-Sohn-Beziehung ist bedingungslos und unzerstörbar. Ähnliches trifft auf die gesamte Familie zu, der sie einen Zusammenhalt attestiert, der über den aller anderen Beziehungen im Leben weit hinaus geht: „deine familie das sind die einzigen wo du dir wirklich sicher sein kannst dass die dich ohne wenn und aber vorbehaltlos lieben und für dich da sind und für dich alles tun werden ohne dafür eben ne gegenleistung zu verlangen oder was zu erwarten oder wie auch immer“ (352355)
Diese Bedingungslosigkeit der Zuwendung hielt und hält Frau Kranich durch alle Phasen und Schwierigkeiten mit Kai bis heute aufrecht. Das ist für sie jedoch nicht mit einer gleichzeitigen Verantwortungsübernahme für Kais Leben verbunden, denn das muss er ihrer Ansicht nach aus eigener Kraft in die Hand nehmen. Frau Kranich sieht sich jedoch als konstante Bezugsperson, Unterstützerin und Ansprechpartnerin für Probleme, wobei sie nicht davor zurückschreckt, Kritik zu äußern und daraus resultierende Diskussionen und Auseinandersetzungen auszuhalten. Kai bemüht sich aus ihrer Sicht um ihre Beziehung und den Wiederaufbau eines vertrauensvollen, positiven Umgangs, in dem er ihr aus dem Vollzug „schöne briefe mit gedichten drin“ (150) schreibt und sie wissen lässt, dass sie die Einzige ist, „auf die er sich hundertprozentig verlassen kann“ (223). Es ist spürbar, dass Frau Kranich diese Anerkennung gut tut und sie in ihrer Hoffnung auf eine positive Entwicklung von Kai bestärkt. 4.1.6.3 Wahrnehmung und Umgang mit der rechten Einstellung von Kai – „nichts würde ich mir so wünschen wie dass ers nun endlich begriffen hat“ (200-201) Frau Kranich ist über Kais rechts-delinquente Karriere und seine Einbindung in die rechtsextremistische Szene umfänglich im Bilde. Wie bei der Interpretation der Stegreiferzählung bereits ersichtlich wurde, führt sie Kais Einstieg ursächlich auf eine Anhäufung von problematischen Zusammenhängen vor allem zu Beginn der Jugendphase zurück. Hauptauslöser waren aus ihrer Sicht vor allem seine im Zuge des Schulwechsels entstandenen Leistungsprobleme, der mangelnde Anschluss an Unterrichtsstoff und Klassenverband sowie familiale Belastungen
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durch die Abwesenheit seines leiblichen Vaters und das schlechte Verhältnis zum Stiefvater. „wenn er halt losgezogen is denn mit seinen kumpanen (.) wie jesacht dann hat er sich da irgendwo (.) was holen wollen was er von anderer stelle nich bekommen hat dass er der größte is dass er bestätigung guz…kriegt und andre vielleicht sagen (flüstert bis *) oah hier der Kai oah der der hat was drauf was der sich traut und so ja ((*)) (I.: hm) negativ klar aber er hat dann irgendwo dort seine bestätigung bekommen die er weder von der schule noch vom vater her gekriegt hat denk ich mal (.) dass das so n bisschen der punkt war“ (299-305)
Frau Kranich beschreibt Kais Einstieg als Prozess, der durch vielfältige Probleme und negative Ereignisse ausgelöst wurde. Er kompensierte seine belastende Situation durch den Anschluss an eine rechte Clique, über die er nach Frau Kranichs Meinung die Anerkennung bezog, die ihm trotz seiner Bemühungen von Vater und Schule verwehrt wurde. Den Respekt der rechtsextremistischen Jugendlichen errang er durch risikoreiches deviantes und delinquentes Verhalten. Unklar bleibt, ob Frau Kranich hier den leiblichen oder den Stiefvater kritisiert oder ob die Bezeichnung „vater“ (304) sich auf beide bezieht. Die Darlegung der Bedingungsfaktoren seines Einstiegs in die rechte Szene zeigt jedoch, dass sich Frau Kranich mit den Hintergründen für Kais Verhalten auseinandergesetzt hat und auch in der Lage ist, sich zumindest nachträglich in die Situation ihres Sohnes hineinzuversetzen. Allerdings bleibt ihre eigene Rolle in Bezug auf die problematischen Schul- und Familienentwicklungen relativ unscharf. Kais mit dem Schulwechsel verbundene Schwierigkeiten werden somit zwar wahrgenommen, eine ähnlich intensive Intervention wie in Bezug auf seine Umschulung auf eine Sprachheilschule wird von ihr jedoch nicht beschrieben. Auch ihre Rolle hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kai und ihrem zweiten Mann bleibt vage, obwohl sie das Bindeglied zwischen beiden darstellt und als Mutter eine entscheidende Verantwortung für eine gelingende Konstitution der Patchworkfamilie hatte. Es entsteht der Eindruck, dass Kais Empfindungen und Bedürfnisse zum damaligen Zeitpunkt nicht genügend bemerkt oder beachtet wurden. Die beschriebene negative Verhaltensänderung des Stiefvaters gegenüber Kai nach der Hochzeit und der Geburt der Schwester könnte auch für Frau Kranich unerwartet und überraschend eingetreten sein. Es liegt nahe, dass sie ihre Aufmerksamkeit zum einen stark auf das Neugeborene und die frisch geschlossene Ehe fokussierte und sie die auftretenden Spannungen zum anderen auch für ein passageres (Anpassungs-)Problem hielt. Zum dritten standen ihre eigenen Interessen einer Aufrechterhaltung der Beziehung auch zugunsten ihrer jüngsten Tochter nun denen von Kai gegenüber. Seine zunehmende rechtsextremistische Radikalisierung versuchte Frau Kranich gemeinsam mit ihrer ganzen Familie durch Gespräche, Diskussionen und Aufklärung zu verhindern, wobei sie die mangelnde Unterstützung durch Kais
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leiblichen Vater beklagt (71-75). Hieraus wird deutlich, dass sie zum einen jede Einflussmöglichkeit nutzen wollte, was auf die Dringlichkeit der Situation verweist und zum anderen in einer Intervention des leiblichen Vaters eine Chance sah, was dessen Bedeutung für Kai unterstreicht. Dieser stand jedoch aus ihrer Sicht nicht zur Verfügung. Kais Stiefvater hatte sich dagegen trotz aller in Bezug auf ihn geäußerten Kritik an den Interventionen beteiligt. Ihre umfangreichen Versuche, Kai zur Vernunft zu bringen, blieben allerdings erfolglos. Er war aus ihrer Sicht „völlich vernagelt“ (76). „ich hab ihm grade mit diesen rechtsradikalen geschichten von anfang an auch aufn kopf zugesacht was ich davon halte alle ham ihm das gesacht die ganze familie de großeltern ham ihm gesacht weißt du überhaupt was da war wir kenn das noch wir sind in der nachkriegszeit aufgewachsen wir mussten das ausbaden was solche leute verbockt haben und (..) nix nix zu machen“ (209-213)
Auch Kais Großeltern versuchten ihn mittels der Weitergabe von eigenen Erfahrungen zu erreichen, indem sie ihm die dramatischen Folgen rechtsextremistischen Denkens und Handelns während und nach des Zweiten Weltkrieges vor Augen führten. Kai war für rationale und emotionale Argumentationen in Bezug auf die Szene jedoch nicht mehr zugänglich und radikalisierte sich weiter, weshalb es zunehmend zu innerfamiliären Spannungen und Auseinandersetzungen kam. Frau Kranich hielt dabei an ihrem in Bezug auf ihre Erziehung (siehe Kapitel 4.1.8) bereits analysierten Konzept der offenen Kommunikation ihrer Ablehnung und der Durchsetzung von klaren Regeln fest. Sie duldete keine rechtsextremistischen Symbole und Materialien in ihrem Haus und entsorgte sie regelmäßig, was die Auseinandersetzung verschärfte. „und dass er sich an die regeln zu halten hat (.) das is hat er immer wieder zu spüren bekommen dass ich seine springerstiefel vor de haustür gestellt habe und es war mir dann egal obs da reinregnet oder reingeschneit hat oder ich habse in de mülltonne geschmissen (…) und die cds und sowas das wurde radikal vernichtet oder irgendwelche propagandamaterialien die ich da gefunden hab“ (374-378) „das war so richtich die reine konfrontation (…) ach das das ja dann schreckschusspistolen gekauft dann hat der da rumgeschossen in seinem zimmer hier mit solchen plastekullern ja dann mit.. in möbeln in der wand warn löcher drin also is betrunken nach hause gekommen mitten in der nacht und oder gar nich ach das war (.) s war unerträglich nachher mit ihm“ (259-263)
Nachdem die Intervention Aufklärung, Diskussion und Gespräch keine Wirksamkeit bei Kai zu entfalten schien, wandte Frau Kranich also Verbote und Repressionen an, um Kai durch das Setzen entsprechender Grenzen von seinem Tun abzuhalten, versuchte aber auch weiterhin mit ihm im Gespräch zu bleiben. Dabei kontrollierte sie auch seine persönlichen Sachen und nahm ihm diese gegebenenfalls weg. In der Folge kam es häufig zu „Legalitätsdebatten“, in denen Kai
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seine rechtsextremistischen Materialien als nicht verboten verteidigte (397-401; 249-258), während Frau Kranich versuchte, ihn für die aus ihrer Sicht wahren Strukturen und Gefahren der Szene zu sensibilisieren. „ich sage ihm immer was soll denn das das is doch alles unsinn was die da reden u nun und die propaganda was er da bekomm hat von nh..von diesem einen herrn da der da so n hut auf hatte der war etliche jahre älter schon ja den hamse nich am schlawittchen jekricht aber die kleenen dummen jungs die er in de spur geschickt hat um de plakate zu kleben und de wände vollzuschmiern und n kiosk einzuschlagen die ham se ins gefängnis gesteckt zu guter letzt der lacht sich kaputt dem passiert nix“ (237-243)
Auch dies brachte jedoch keinen Erfolg. Kai war bereits zu tief in die Szene verstrickt, ihre gut gemeinte Aufklärung wertete seinen aktuellen Lebensinhalt („unsinn“ 238) ab und stellte zudem seine zu diesem Zeitpunkt subjektiv alternativlose (negative, aber immerhin in der Szene anerkannte) Identität in Frage („kleenen dummen jungs“ 240). Die Folge war eine weitere Verschlechterung des Verhältnisses und „die reine konfrontation“ (259). Kais rechtsextremistischdelinquente Karriere befand sich auf ihrem Höhepunkt und beherrschte nun sein gesamtes Leben. Sein äußeres Erscheinungsbild hatte sich deutlich radikalisiert, er hörte einschlägige Musik, beteiligte sich an der Verteilung von Propagandamaterial und kriminellen Aktionen der Szene. In der Folge wandte er sich noch mehr von seiner Familie ab und die Spannungen verschärften sich weiter, bis das gemeinsame Leben für Frau Kranich und auch Kai schließlich „unerträglich“ (262) war. Er entzog sich den dauernden Auseinandersetzungen und zog vorübergehend zu seiner damaligen Freundin, wo er aus Frau Kranichs Sicht in einen Szenehaushalt von „richtich üble(n) leuten“ (264) geriet und noch weiter abrutschte. Diese Zeit erlebte Frau Kranich als „schwer“ (235), weil sie sich neben ihrer persönlichen Abneigung gegen rechtsextremistische Orientierungen und der Sorge um Kai auch in ihrem gesamten Leben beeinträchtigt fühlte, da sie zunehmend in den Fokus von Institutionen der sozialen Kontrolle (Ordnungsamt, Polizei, Gericht) aber auch ihres sozialen Umfeldes geriet. „ja auch so von der nachbarschaft her dann ja wenn er dann kam ja ne zeitlang da an wir hatten ja draußen das häuschen gebaut da im c.-stadtteil draußen und dann kam er da an mit springerstiefeln und was weiß ich nicht alles“ (243-246)
Frau Kranich misslang es nicht nur, Kai aus der Szene zu lösen, sie schaffte es auch trotz ihrer Verbote nicht, seine deutliche rechtsextremistische Außendarstellung zu reduzieren, was ihr gegenüber ihrem sozialen Umfeld sichtlich unangenehm war. Sie erlebte ihren Sohn zu dieser Zeit extrem wechselhaft in seinem Verhalten, das massiv zwischen seiner gewohnten Freundlichkeit und aggressiven Ausbrüchen schwankte.
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„das is wie jekyll und hyde wenn wenn se wenn ich als mutter wie ich ihn kenne ja auf der einen seite so ein lieber guter netter junge ja (lacht) (I.: hm) und hilfsbereit und auf der andern seite kann der so aggressiv auch werden und böse auch werden eben unter alkohol ja“ (293296)
Sie stellt auch hier wieder einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol her, den sie als Auslöser für den Kontrollverlust sieht. Durch ihre markante Formulierung des „jekyll und hyde“ (293) werden Belastung, Schwierigkeiten und Herausforderung deutlich, die der Umgang mit Kai beinhaltet. Frau Kranich stand nicht nur vor der Aufgabe, ein weiteres kriminelles Abrutschen von Kai zu verhindern, sondern musste seine phasenweise gravierende Persönlichkeitsveränderung auch emotional begreifen und verarbeiten. Hier standen neben ihrer persönlichen Abneigung gegen eine rechtsextremistische Orientierung auch seine vielfältigen Straftaten im Vordergrund, die letztlich zu seiner Haftstrafe führten. Aus heutiger Sicht ist Frau Kranich der Meinung, dass ihr Eingreifen zu spät erfolgte und eine frühere Intervention möglicherweise erfolgversprechender gewesen wäre. Sie schildert ihre umfangreichen Bemühungen, sich im Laufe von Kais rechtsextremistischer Karriere Hilfe und Unterstützung durch diverse Beratungsstellen zu holen, die aus ihrer Sicht jedoch keine für sie nutzbaren Lösungsansätze boten. „geholfen hat mir keiner geholfen hat mir nichts von dem was die mir da gesagt ham es war nur blabla konstruktive hilfe und wirklich was gebracht hat hätte keiner (.) klug schwätzen kann ich selber das nützt mir nix (I.: hm) und da nützt mir och kein.. irgendwelcher psychologischer geschwafelkram“ (420-424)
Die ihr erteilten Ratschläge und vorgeschlagenen Lösungsmöglichkeiten empfand sie als nicht realitätsnah, abstrakt und wirkungslos. Vor allem das ihr von einem Mitarbeiter einer einschlägigen Jugendberatungsstelle empfohlene Aussitzen der Situation wird von ihr im Nachhinein kritisiert, da es aus ihrer heutigen Sicht Kais weiterer Radikalisierung Vorschub leistete. Ihre detaillierte Erzählung des Beratungsgespräches gibt einen guten Einblick in die Schwierigkeiten des Findens passender, funktionaler Reaktionen und Interventionen in Bezug auf rechtsextremistische Orientierungen. Frau Kranich hatte den Mitarbeiter eines Beratungsstelle Herrn Schmidt um Unterstützung gebeten und ihm auch rechtsextremistisches Propagandamaterial ihres Sohnes zur Weiterleitung an Polizei bzw. Staatsschutz übergeben, damit es „n knall“ (383) gibt, denn Kai „begreifts nich“ (383). Herr Schmidt deutete Kais rechtsextremistisches Auftreten jedoch als jugendtypisch passagere Episode, und riet Frau Kranich zur Gelassenheit, solange keine gravierenden strafrechtlichen Verstöße erfolgen. „der war ja sogar bei uns mal zu hause zum gespräch weils eben um diese konflikte ging ja und da hat er noch gesacht jaaa wir solln das ja mal nich so überbewerten und so ne phase
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machen ja viele mal durch […] und bei ihrm großen wars ja auch so und beim Kai is das bestimmt auch nur so ich sache das seh ich anders“ (384-392)
Im Zuge des Konfliktes mit Kai, der auch aufgrund der deutlich reglementierenden und ablehnenden Haltung von Frau Kranich und Kais Stiefvater eskalierte, durch die sich Kai herausgefordert fühlte, kam es dann zu einem gemeinsamen Gespräch mit Herrn Schmidt im Haus der Familie, von dem sich Frau Kranich eine Lösung erhoffte. Im Gespräch verglich Herr Schmidt eine kurze rechts-orientierte Phase von Frau Kranichs ältestem Sohn mit der aktuellen rechtsextremistischen Entwicklung von Kai, was bei Frau Kranich auf massiven Widerstand stieß, denn sie nahm ihre Kinder diesbezüglich ausgesprochen differenziert wahr. „der hatte auch mal so ne kurze phase das war aber dadurch dass der in e.-stadt war dort in son internat in der ausbildung und dort das halt so extrem war und wer da nich dazu jehörte warn außenseiter und deswegen hat der da wahrscheinlich n bisschen mit in das rohr geschossen aber nie in der art wie Kai“ (386-390)
Neben einer möglichen Fehleinschätzung der rechtsextremistischen Einbindung von Kai ist zu vermuten, dass Herr Schmidt die Absicht hatte, Verständnis für Kai zu wecken und dadurch zu einer Deeskalation beizutragen, die konstruktive Gespräche innerhalb der Familie wieder zulässt und Kai dadurch auch wieder stärker an sie bindet, womit gleichzeitig die Hoffnung auf einen sinkenden Einfluss der Szene verbunden war. Aus Sicht der Eltern Kranich stellte Herr Schmidt jedoch die von ihnen bislang ergriffenen Maßnahmen in Frage und wertete damit auch ihre Sorge um Kai als übertrieben bzw. unbegründet ab („überbewerten“). Frau Kranich hatte die unterschiedlichen Motivationen für die rechtsextremistische Orientierung ihrer Söhne aber auch deren unterschiedliche Qualität in der Ausprägung von Einstellung und Verhalten erkannt. Entsprechend unverstanden fühlte sich Frau Kranich in ihrer Angst um Kais weitere Entwicklung, die sie im Gegensatz zu Herrn Schmidt aufgrund des Konglomerats aus belastenden Faktoren und seiner zunehmenden Einbindung in die rechte Szene massiv gefährdet sah. Trotz ihrer gegenteiligen Einschätzung der Situation versuchten Frau Kranich und ihr Ex-Mann die Ratschläge von Herrn Schmidt umzusetzen, der ihnen empfahl „nich alles verhindern“ (393) zu wollen und „sachen die legal sind“ nicht „so eng (zu) sehn“ (395). Hieraus entstand letztlich ein inkonsistentes Verhalten zwischen mit offener Ablehnung verbundener Repression und zähneknirschender Duldung, das Kai auf seiner Suche nach Halt und Orientierung als Schwäche auslegte und ihn zu weiteren Diskussionen um die Erweiterung seiner Grenzen ermutigte.
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„das war janz jenau der falsche weg bei Kai […] das ging gar nich weil das hat sich dann immer mehr gesteigert er meinte dann immer mehr ja das dürfte er und das wär ja nicht illegal und die springerstiefel is ja auch nich illegal und die glatze is ja auch nich illegal und die bomber die bomberjacke is ja sowieso nich illegal (..) ja aber ich sache weeßte was und so wie du hier rumspringst ich bin genau der entgegengesetzten meinung ich sache mir mir mir schwillt der hals wenn ich solche wie dich sehe weil die nichts im kopf ham ich sache und wenn ich sehe dass du da dazu gehörst ich sache da könnt ich heulen vor wut“ (395-404)
Im Nachhinein bewertet Frau Kranich ihre vorübergehende Toleranz als falsch, da sie Kais rechtsextremistisches Verhalten und Auftreten eher befördert, denn verhindert hat. Die in diesem Zusammenhang wieder aufgegriffene Legalitätsdebatte versuchte Frau Kranich mittels der Kommunikation ihrer Gefühle aufzubrechen, was Kai jedoch nicht mehr erreichte. Ihre stark mundartliche und bildhafte Sprache verdeutlicht ihre Wut und Verzweiflung über Kais Entwicklung, die nicht zuletzt deshalb so groß sind, weil sie gegenüber rechtsextremistischen Einstellungen eine massive Ablehnung empfindet. Frau Kranich kann eine rechtsextremistische Orientierung für sich nicht mit Intelligenz und Verstand einer Person in Einklang bringen. Da sie ihren Sohn für einen grundlegend anständigen und intelligenten Menschen hält, ist seine Zugehörigkeit zur rechten Szene für sie geradezu unfassbar. Nachdem selbst der vom Berater Herrn Schmidt vorgeschlagene Weg der gemäßigten elterlichen Reaktion keine Wirkung zeigte, wusste sich Frau Kranich keinen Rat mehr. Auffallend an den von Frau Kranich geschilderten Interventionsversuchen aller Beteiligten ist, dass sie allesamt Reaktionen auf das rechtsextremistische und delinquente Verhalten von Kai sind, die letztlich das Ziel verfolgen, ihn von seinem Tun abzubringen. Es werden dagegen keine Unternehmungen beschrieben, die sich mit Kais damaliger Lebenssituation an sich befassen oder nach Zusammenhängen und möglichen Problemen forschen, die Kai zu seinem Handeln bewegt haben könnten. Allerdings räumt Frau Kranich in der Retrospektive ein zu spätes Eingreifen bzw. Wahrnehmen der problematischen Entwicklung ein, was die Interpretation der eingeschränkten Aufmerksamkeit aufgrund der veränderten Familiensituation bestätigt (407-410). Sämtliche Interventionsversuche blieben letztendlich wirkungslos, Kai geriet immer öfter und immer stärker mit dem Gesetz in Konflikt. Selbst eine verhängte Bewährungsstrafe konnte ihn nicht aufhalten, er verstieß gegen seine Bewährungsauflagen und beging eine weiter schwere Straftat: Kai schoss mit einer Schreckschusspistole auf seinem ehemaligen Schulgelände auf einen Mitschüler. Frau Kranich ist auch heute noch fassungslos über diese Tat und kann Kais Motivation nicht nachvollziehen, denn für sie „grenzt“ es „an dummheit“ (130), weil eine Überführung aufgrund der Tatumstände zu erwarten war. Auch kann sie nicht verstehen, wieso Kai die Chance der Bewährung so leichtfertig aufs Spiel setzte. Interessant an dieser Stelle ist Frau Kranichs Bestürzung nicht nur über
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die Tat an sich, sondern auch über die Art der Begehung, die eine staatliche Sanktion geradezu herausforderte. Es kann hier über Kais unbewussten Wunsch nach einer deutlicher spürbaren Grenze spekuliert werden, die seine von ihm selbst nicht mehr aufhalt- und kontrollierbare rechts-kriminelle Karriere endlich unterbricht, wofür die zuvor bereits verhängte Bewährung nicht ausreichte, da sie ihm weiterhin ein freies, selbstverantwortliches Leben erlaubte. Frau Kranich nahm die Verurteilung zu einer Haftstrafe nahezu dankbar hin, denn sie war in ihrer verzweifelten Hilflosigkeit froh, dass Kai nun endlich aufgehalten wurde. Aus ihrer heutigen Sicht „musste (es) erst so komm damit ers begreift“ (154), denn ihr Sohn nahm die vorher verhängten gerichtlichen Sanktionen trotz ihrer wiederholten Warnungen aus ihrer Sicht nicht ernst.30 „er hat jedacht das is alles tralala s is alles wischiwaschi ach da passiert schon nix is ja bis jetz immer gut gegang un na ja dann kam der dicke hammer da hat er nich schlecht geguckt na wo dann der brief vom gericht kam dass er dann sich dort einzufinden hat […] das war ihm dann schon nich so einerlei ne“ (155-158)
Da Kai bei vorangegangenen Verhandlungen immer glimpflich (Auflagen, Bewährung) davon gekommen war, rechnete er nicht mit einer Verurteilung zu einer Haftstrafe und wurde davon aus Frau Kranichs Sicht überrascht. Dieser „hammer“ (156) beeindruckte Kai stark und führte ihm seine Situation erstmals klar vor Augen. Der von Frau Kranich verwendete Ausdruck „immer gut gegang“ (156) verweist auf die geringe pädagogische Wirksamkeit der vorangegangenen Sanktionen, die offensichtlich nicht als ernstzunehmende Interventionen wahrgenommen wurden, die zu einer Verhaltensänderung führen. Frau Kranich und auch Kai haben sich inzwischen mit der 18-monatigen Haftstrafe arrangiert und nutzen die Zeit für eine gemeinsame Annäherung und den Wiederaufbau bzw. die Verbesserung ihrer Beziehung. „tja jetzt im moment isses für mich nich schwer (lacht) weil ich weiß so hart wie das klingt jetzt kann er ja erstmal kein mist baun“ (231-232)
Frau Kranich erlebt die Inhaftierung von Kai als Entlastung, weil Kai zum einen wenigstens vorübergehend aus seinem rechts-delinquenten Zusammenhang gerissen wurde und sie zum anderen auch aus ihrer Verantwortung der 30
Das Phänomen des Nicht-Ernst-Nehmens von verhängten jugendrichterlichen Erziehungsmaßnahmen und Zuchtmitteln ist in der Praxis bei jugendlichen Mehrfach- und Intensivtätern häufig zu beobachten. Es scheint, als würde die jeweilige Auflage allein nicht ausreichen, um die entsprechende Einsicht der Jugendlichen zu erreichen, da diese das staatliche Handeln eher als „lasch“ und nachsichtig erleben und die gemäßigte Reaktion als Freibrief für weitere Taten missverstehen. Nach meiner persönlichen Erfahrung wäre hier eine intensivere pädagogische Begleitung und Kontrolle notwendig, die die Jugendlichen zu einer Auseinandersetzung mit Tat und Tatfolgen, aber auch zur Einhaltung und Ableistung der Auflagen zwingt.
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Verhinderung weiterer Eskalationen befreit wurde. Auch für sie ist die Spirale aus Verzweiflung, Hilflosigkeit, Auseinandersetzungen und dem Gefühl der nicht zu erfüllenden Verantwortung vorerst unterbrochen. Aus dieser ungewöhnlich anmutenden Erleichterung über Kais Haft wird ersichtlich, wie belastend sie die Situation erlebt haben muss, da sie einen solchen Eingriff in das Leben ihres Sohnes, der ja auch mit massiven negativen Konsequenzen für seine weitere Zukunft verbunden ist, als „positives“ Ereignis wahrnimmt. Frau Kranich war mit ihren Handlungsmöglichkeiten subjektiv am Ende, weshalb sie das Eingreifen von Polizei und Justiz als entlastende Zäsur empfindet, durch die eine eindeutige und klar strukturierte Situation geschaffen wurde, die es ihr ermöglicht, mindestens vorübergehend zur Ruhe zu kommen. Aufgrund der aktuellen Situation, in der Kai bereits einen Teil seiner Haftstrafe verbüßt hat und sich im Prozess der Loslösung von der Szene befindet, nimmt die Auseinandersetzung mit seiner möglichen Zukunft und Frau Kranichs diesbezüglichen Hoffnungen und Ängsten einen großen Teil ihrer Erzählung ein. Dabei schwankt sie zwischen dem Glauben an Kais gute Vorsätze, sich ein neues straftat- und szenefreies Leben aufzubauen, sowie ihrer Angst vor einem neuerlichen Rückfall bei Haftentlassung. „die vorsätze sind sicherlich da aber ob ers durchhält ich würde s mir ich ich würde mir nichts nichts würde ich mir so wünschen wie das dass ers nun endlich begriffen hat und auch seine vorsätze wirklich verwirklicht und es durchzieht aber sicher bin ich mir nicht kann ich mir nicht sein dazu hat er mich schon zu oft enttäuscht (I.: hm) so oft schon dass er mir s blaue vom himmel versprochen hat und in dem moment sicherlich och wollte aber er hats nich jeschafft immer wieder mit denselben konsorten zusammen gekommen und dann isses immer widder schief gegangen“ (199-205)
Ihre Ängste resultieren aus ihren vorangegangenen Erfahrungen mit Kai, der ihr schon häufig versprochen hat, sein Leben zu ändern, jedoch bislang immer wieder rückfällig geworden ist und sich (noch) nicht genügend von seinem rechtsextremistischen Umfeld distanzieren konnte. Sein Zusammentreffen mit anderen rechtsextremen Jugendlichen, die Frau Kranich nahezu durchgängig abwertend als „konsorten“ (204) bezeichnet, sieht sie als auslösendes Moment für das Begehen von weiteren Straftaten. Die abwertende Bezeichnung bringt dabei ihre Wut über die Eigendynamik der rechten Szene zum Ausdruck, der sie bislang hilflos gegenüberstand und der sie nichts grundlegend Wirksames entgegensetzen konnte. Dabei glaubt sie durchaus an die Ernsthaftigkeit der von ihrem Sohn gefassten Vorsätze, nur „ob er das unter belastung nachher wirklich durchhält wenn er vielleicht widder auf diese (.) sogenannten freunde trifft und noch n kleinen gezwitschert hat ob ers dann durchhält das is die frage“ (180-182). Der Aufbau eines neuen, straftatfreien Lebens ist daher für Frau Kranich untrennbar mit Kais Abkehr von seinen rechten Kumpels verknüpft. Ihrer Erzählung nach
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ist auch Kai bewusst, dass ein radikaler Schnitt unumgänglich ist, wenn er sein Vorhaben erfolgreich umsetzen will. In Briefen und Gesprächen diskutieren Frau Kranich und Kai notwendige Schritte und mögliche Gefahren, wie am Beispiel seiner von Frau Kranich wiedergegebenen Argumentation zum Thema Freundin besonders deutlich wird. „und er sacht ja och selber dass das sicherlich och überhaupt nich geht dass er überhaupt wieder mit ihr zusammen geht mit der freundin […] un er schätzt das selber so ein dass das nich geht und dass das nich gut wäre na weil die wiederum auch noch kontakt zu solchen (.) kreisen hat sacht er (I.: hm) und da würd ich wieder reinrutschen da passiert mir das wieder das is ihm selber klar“ (166-171)31
Seine in der Haft erreichte Einsichtsfähigkeit führt Frau Kranich auf seine grundlegend vorhandene Intelligenz zurück, die ihn die wahren Strukturen der Szene nach und nach erkennen lässt (361-365). Für Frau Kranich steht außer Frage, dass es sich bei den in der Szene geknüpften Beziehungen nicht um wahre Freundschaften nach ihrem Verständnis handeln kann. Sie hat Kai diesbezüglich schon oft ins Gewissen geredet und ihn auf die mangelnde Verlässlichkeit seiner rechtsextremistischen Clique vor allem im Vergleich zum bedingungslosen Rückhalt seiner Familie hingewiesen. „ich sache du glaubst doch wohl nich wenn jetzt du wenn was is oder du hilfe brauchst das glaubst doch wohl nich im ernst dass die dann für dich da sind und so wars ja letztendlich auch ne (I.: hm) da kennt ihn keiner mehr oder is keiner da der sacht nö das hier ich unterstütze dich oder dies und jenes“ (357-361)
Frau Kranichs Einschätzung der Oberflächlichkeit der Beziehungen innerhalb der rechten Szene, in welcher der propagierte Zusammenhalt letztlich nicht eingelöst wird, hat sich aus ihrer Sicht für Kai bestätigt. Auch Kai selbst ist das in der Haft bewusst geworden. Dem erzwungenen Abstand von seinen Freunden kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn er bietet ihm bei seiner zunehmend kritischen Betrachtung der Szene die Möglichkeit des Nach- und Umdenkens. Kai macht sich „gedanken“ (152) über sein Leben und seine Taten, „es beschäftigt ihn schon selber“ (152) und er möchte sich nach dem Verbüßen seiner Haftstrafe ein neues Leben aufbauen. Frau Kranich hofft, dass die Vermittlung von Kai in eine Ausbildung im Anschluss an die Haft seinen begonnenen Ausstieg festigt und ihm neue alternative Möglichkeiten der Lebensgestaltung und der Besetzung einer positiven Identität eröffnet. Vor allem die feste Tagesstruktur und die Einbindung in eine sinnvolle Tätigkeit/Aufgabe sieht Frau Kranich als Anker und „große chance“ (317-318), 31
Hier entschlüsselt sich auch die von Kai im Interview gezeigte distanzierte Haltung gegenüber seiner aktuellen Freundin weiter: Die Beziehung hat aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur rechten Szene keine Zukunft, wenn er weiter an seinem Ausstieg arbeiten will.
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die Kai dabei helfen könnte sich zu bewähren, die er aber auch nutzen muss (309324). Ihrer Ansicht nach wird sich dann zeigen, ob er seine Beteuerungen eines Ausstiegs aus der Szene ernst meint und auch in Freiheit durchhält. Fast beschwörend und wiederholt argumentiert Frau Kranich, dass Kai seine Vorhaben „durchziehn“ (196) muss, weil er „sonst widder da drin“ (196) landet, was er „wirklich nich“ (197) will, denn er weiß jetzt ja wie „furchtbar“ (198) das „eingesperrt sein und einfach nich rauskönn“ ist (198). Ihr eigene Unsicherheit und das Schwanken zwischen Sorge und Hoffnung wird an vielen Stellen des Interviews immer wieder aufgegriffen. Frau Kranich setzt all ihre Hoffnungen auf seine Haftentlassung und die von der Anstaltsleitung versprochene anschließende überbetriebliche Ausbildung. Ihre Angst vor einem Rückfall und erneutem Abgleiten in die rechte Szene ist im gesamten Interview greifbar (vgl. etwa 307-314; 499-505), denn dies würde aus ihrer Sicht Kais dauerhaften Absturz schicksalhaft besiegeln. „wenn er die chance kricht und vermasselt die (..) dann kricht er keine chance mehr und dann kann er sich nur noch hier mit der bierdose am sozialamt anstelln (.) dann gehts nur noch bergab das das muss ihm selber klar sein“ (501-504) In Bezug auf eine aktuell diskutierte Haftlockerung, hinsichtlich deren möglichen Anordnung Frau Kranich um ihre Meinung gebeten wurde und die Kai den Wochenendausgang gestatten würde, ist Frau Kranich zwiespältig eingestellt. Zwar glaubt sie an Kais Veränderungsbereitschaft und seine guten Vorsätze, „die hand ins feuer legen“ (178-179) kann und will sie für ihn jedoch nicht. Die von der Leitung der Vollzugsanstalt in diesem Zusammenhang gewünschte Beaufsichtigung von Kai an den Wochenenden scheint bei Frau Kranich starke Bedenken auszulösen, weil die Verantwortung für Kais Handeln dann wieder in ihren Händen läge, was sie aufgrund der Erfahrung, ihn nicht aufhalten zu können, eigentlich nicht mehr möchte (172-185). Denn hinsichtlich Kais Zukunft gibt es ihrer Einschätzung nach „bestimmte dinge die er nur selber in den griff kriegen kann“ (309-310). Auf seinem Weg dahin sieht sich Frau Kranich jedoch aufgrund ihrer starken emotionalen Bindung und ihres Familienverständnisses als beratende und begleitende Instanz, die ihn nicht im Stich lassen und Zeit ihres Lebens „für ihn da sein“ wird (308). Mit dieser grundlegenden Haltung versucht Frau Kranich ihren inneren Konflikt zwischen ihrer uneingeschränkten Liebe zu Kai und ihrem Glauben an ihn sowie ihren Zukunftsängsten und der Sorge um einen Rückfall auszubalancieren. Sie ist damit Begleiterin des Ausstiegsprozesses, befindet sich aber aufgrund ihrer emotionalen Bindung als Mutter auch selbst in einem eigenen Prozess – dem Prozess einen für sich selbst funktionalen und adäquaten Umgang mit der
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offenen Entwicklung ihres Sohnes zu finden, der es ihr ermöglicht die Begrenzung ihres Einflusses zu akzeptieren und diesbezügliche Unsicherheiten auszuhalten. 4.1.7 Triangulation der Ergebnisse aus den Einzelinterviews – Abschließende Diskussion Im vorliegenden Unterkapitel werden die Ergebnisse aus den Interpretationen der Einzelinterviews zusammengeführt und zu einer abschließenden Fallanalyse verknüpft, die Hintergründe und Bedingungsfaktoren der rechten Karriere, Auswirkungen von Interventionen sowie in diesem Fall auch Auslöser für den Ausstieg sichtbar machen. Mittels der Triangulation der Analyseergebnisse der Interviews von Kai und seiner Mutter lassen sich in Bezug auf die besonders relevanten Kategorien bisherige biografische Entwicklung von Kai und ihre Einflussfaktoren, familiale Beziehungsqualität sowie Wirksamkeit der elterlichen Erziehung und Interventionen folgende Zusammenhänge rekonstruieren: In Kais Leben kam es durch eine Kumulation von subjektiv belastenden Ereignissen und Faktoren (Scheidung und dadurch bedingter elterlicher Druck sowie Verlust des väterlichen Einflusses im alltäglichen Leben, schulischer Misserfolg, fehlende Anerkennung, Tod des Vaters, schlechtes Verhältnis zum Stiefvater) zu einer massiven Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential, von dessen drückender Last er sich mittels des Anschlusses an eine rechte Clique zu befreien suchte. Entscheidend ist, dass dieser Ausweg von ihm erst gesucht wurde, nachdem seine Bemühungen, durch positives Verhalten auf sich aufmerksam zu machen, scheiterten und er sich durch den Anschluss an die rechte Clique aus einer emotionalen Notsituation, der „totalen verzweiflung“ (90), befreite. Dabei können in Kais Leben zeitlich zwei Wellen krisenhafter und belastender Ereignisse unterschieden werden. Während die erste Welle in Form der elterlichen Scheidung und der Legasthenie/Schulschwierigkeiten nicht zuletzt durch das engagierte Eingreifen von Frau Kranich relativ gut aufgefangen und bewältigt werden konnte, brach die zweite Welle mit voller Wucht über den gerade stabilisierten Kai herein, warf ihn völlig aus der Bahn und löste die Verlaufskurve aus. Die zeitlich dicht gedrängt einsetzenden Lebensveränderungen durch den Schulwechsel, die neue Familienstruktur und den Tod des Vaters erforderten hohe Anpassungs- und Verarbeitungsleistungen von Kai, die er allein nicht bewältigen konnte. Obwohl die problematischen Faktoren sowohl von ihm selbst als auch von seiner Mutter als Auslöser seiner rechts-delinquenten Karriere beschrieben werden, hat Kais Familie seine verzweifelte Lage zum damaligen Zeitpunkt jedoch offensichtlich nicht erkannt oder nicht genügend berücksichtigt. Gründe hierfür können in der sich damals in ihrer Gründung befindlichen
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familialen Patchworksituation liegen. Hier sticht vor allem das veränderte Verhalten des Stiefvaters im Zuge der Geburt seiner leiblichen Tochter mit Frau Kranich hervor, durch die Kai ins Hintertreffen geriet und letztlich zum Außenseiter wurde. Das war für ihn umso schlimmer, da er sich aufgrund des erzwungenen Schulwechsels auch in einer schulischen Außenseiterrolle wiederfand, wodurch ihm in seinen zwei Hauptlebensbereichen das Erlangen von Anerkennung, Zugehörigkeit und emotionalem Halt verwehrt wurde (siehe Abb.7).
Abb. 7: Kai Kranich: Gesamtdarstellung des biografischen Bedingungs- und Einflussgeflechts
Kais zunehmende Verzweiflung wurde von seiner Mutter als vorübergehendes Anpassungsproblem unterschätzt und nicht entsprechend bearbeitet. Weitere Gründe für ihre mangelnde Unterstützung können auch in einer Rollendiffusion zwischen „alter“ und „neuer“ Familie liegen, die Frau Kranich aufgrund der angespannten Situation zwischen Kai und seinem Stiefvater in einen Loyalitätskonflikt stürzte, der eine angemessene Reaktion auf Kais Schwierigkeiten verhinderte, da die gemeinsame Zukunft mit dem gemeinsamen Kind im Vordergrund stand. Dies würde begründen, warum ihre Rolle in den für Kai subjektiv höchst dramatischen Momenten seines Lebens merkwürdig vage bleibt: Sie nahm ihre mütterliche Verantwortung aus den genannten Gründen nicht umfassend wahr, stand also als Orientierung und Schutz bietende mütterliche Bezugsperson nicht
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genügend zur Verfügung. Dieses geradezu tragische Verpassen des richtigen Zeitpunktes für ihr unterstützendes Eingreifen (siehe Abb. 8) wird von Frau Kranich nur an einer Stelle verhalten kommuniziert, weil es mit ihrer grundlegend starken Bindung zu Kai und ihrem Familienkonzept des maximalen Zusammenhalts emotional nicht vereinbar ist. Während Frau Kranich in Bezug auf die Scheidungsfolgen und die Lernschwierigkeiten von Kai zu Beginn seiner Schulkarriere engagiert und sensibel agierte, was entscheidend dazu beitrug, dass Kai diese Situationen gut bewältigte, bleibt ihre Rolle hinsichtlich seiner zweiten großen Schul- und Lebenskrise also undeutlich. Zwar ist auch zu dieser Zeit generell eine starke emotionale Bindung vorhanden, die sich durch Frau Kranichs Sorge und ihre Bemühungen, Kai aus der rechten Szene zu holen zeigt, jedoch werden keine Interventionen für die für Kai ausgesprochen krisenhafte Zeit davor beschrieben, während der sein Leben von Gefühlen des Alleinseins, der Unsicherheit, des Misserfolgs und der Ablehnung geprägt war. Diese Situation wird von ihr im Nachhinein zwar als für Kai schwierig und belastend reflektiert, konkrete Handlungsansätze oder Bezugnahmen zur damaligen Zeit werden jedoch nicht benannt. Als Frau Kranich schließlich eingriff, ließ Kai sich weder durch aufklärende oder bittende Gespräche noch durch Verbote und aufgestellte Regeln beeindrucken und nahm vor allem seine Mutter in ihrer Autorität nicht mehr ernst. Der von ihm verwendete drastische Begriff des „Angekrochen“-Kommens verdeutlicht den zu diesem Zeitpunkt vorherrschenden mangelnden Respekt, der auf ihr aus seiner Sicht inkonsequentes Verhalten zurückzuführen ist. Die Darstellung der elterlichen Bezugnahme und Interventionen sind in beiden Interviews sehr unterschiedlich. Während Frau Kranich eine nahezu autoritative Erziehung beschreibt, die auf die Einhaltung klarer Regeln, Grenzen, aber auch Gespräche, Wärme und Verständnis setzt und erklärt, dass Kai einfach für nichts mehr zugänglich war, ist die Darstellung bei Kai eine völlig andere. Er beschreibt zumindest für die Zeit ab der Scheidung eine zunächst wohl vorrangig aus Zeitmangel resultierende relativ regellose Erziehung, die mit wenig Kontrolle und Aufsicht verbunden war („da hat mer jemacht was mer wollte“ 458), was schließlich dazu führte, dass sich Kai im fortschreitenden Jugendalter nichts mehr sagen ließ. In Bezug auf seine rechts-delinquente Karriere erlebte er seine Mutter als inkonsequent, da sie gesetzte Grenzen aus Zuneigung und Angst immer wieder relativierte und angedrohte Konsequenzen nicht stringent umsetzte. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Frau Kranich der rasant negativen Entwicklung hilflos gegenüberstand, da sämtliche Versuche, Einfluss zu nehmen, keine Verhaltensänderung bewirkten. Zwar scheinen Kai die Aufmerksamkeit und die Bemühungen zum Ende seiner rechts-delinquenten Karriere hin aufgrund seiner starken Bindung an die Mutter durchaus emotional erreicht zu haben, er
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war jedoch bereits zu tief verstrickt, um den Absprung aus eigener Kraft zu schaffen. Die bedingungslose Liebe von Frau Kranich bot jedoch grundsätzlich einen Halt, der Kai jederzeit zur Verfügung stand und ihm so die Möglichkeit des Rückzuges aus der Szene und der Rückkehr in die Familie ermöglichte. Trotz der Verzweiflung über die negative Entwicklung, die mangelnde Wirksamkeit ihrer Interventionen und die zahlreichen Rückschläge, gelingt es Frau Kranich, ihren Glauben an eine positive Veränderung von Kai und das Ende der Verlaufskurve aufrechtzuerhalten, was u.a. auf ihr Familienkonzept des unbedingten Zusammenhaltes zurückzuführen ist. Weiterhin teilt sie Kai quasi in eine durch Alkohol und Szene fremdgesteuerte Person und den ihr bekannten und vertrauten liebevollen Sohn, wodurch es ihr gelang, ihn während seines kompletten Absturzes und der daraus resultierenden Haftstrafe weiter anzunehmen. Sowohl Kai als auch seine Mutter blenden im Interview bestimmte Themen aus, bei denen vermutet werden kann, dass sie zu problematisch bzw. unangenehm sind, weshalb die Analyse teilweise überraschende Erkenntnisse erbrachte, die man anhand des jeweiligen Einzelinterviews so nicht vermutet hätte. In Bezug auf Frau Kranich handelt es sich um ihre unklare Rolle während Kais krisenhafter Problemzuspitzungen im frühen Jugendalter, die erst durch die wiederholte intensive Analyse beider Interviews zum Vorschein kam. Bei Kai betrifft das den Alkoholismus seines Vaters, der von ihm nicht erwähnt wird, obwohl er aus Frau Kranichs Sicht das auslösende Moment für die Trennung der Eltern und den Suizid des Vaters war. Kais Unterteilung seines Lebens in die Zeit der heilen Welt vor der Scheidung und der problematischen Zeit danach, wirft daher die Frage auf, ob es sich hier um eine nachträgliche Verklärung handelt, die ihm das Ertragen der aktuellen Realität erleichtert. Die von Frau Kranich beschriebene Ähnlichkeit des Trinkverhaltens und seiner negativen Folgen bei Vater und Sohn könnte dazu geführt haben, dass Kai das Thema Alkoholmissbrauch (noch) nicht für sich aufarbeiten kann, da der tragische Tod des Vaters ein besonders sensibles Thema darstellt.
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Abb. 8: Kai Kranich: Die Mutter-Sohn-Beziehung: Emotionaler Zusammenhalt, bedingungslose Liebe und temporäres Versagen
Die Annahme des Vaters als suizidalen Trinker würde eine vorausgehende Auseinandersetzung mit der Person des Vaters erfordern, für die Kai noch nicht bereit ist, was nicht zuletzt auch daraus resultiert, dass er dann auch seine eigene Persönlichkeitsstruktur diesbezüglich massiv hinterfragen müsste. Die in Abbildung 9 dargestellten Beziehungen zu Vater und Stiefvater sind insgesamt von massiven Enttäuschungen und emotionalen Verletzungen geprägt, wobei vor allem das sich plötzlich von liebevoller Zuwendung zu abwertender Ablehnung wandelnde Verhalten des Stiefvaters negative Auswirkungen hatte, die Kai in seiner vertrauensvollen Suche nach einer heilen Familie fassungslos zurückließ. Die Kumulation aus dieser Verletzung und dem Tod des leiblichen Vaters, der ihn mittels seines Suizids im Stich ließ, haben Kai nachhaltig erschüttert und in seinem Selbstwert negativ geprägt. Die Anklagen und die Kritik an Vater und Stiefvater stellen für Frau Kranich eine Möglichkeit dar, ihre damalige loyalitätskonfliktbedingte Zerrissenheit indirekt zum Ausdruck zu bringen und ihr temporäres elterliches Versagen durch die Externalisierung auszublenden. Auch von Kai werden ihr gegenüber keinerlei direkte Vorwürfe erhoben, was darauf schließen lässt, dass seine Zuneigung zu seiner Mutter hier überwiegt und er ihr die emotionale Abhängigkeit von der damaligen Familiensituation nachsieht.
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Abb. 9: Kai Kranich: Das Väter-Drama: Enttäuschung, Verlust und mangelnde Anerkennung
Mit dieser Interpretation korrespondiert die emotionale Annäherung und massive Verbesserung der Beziehung zwischen Kai und seiner Mutter, die zeitlich nicht nur mit dem haftbedingten Wandlungsprozess von Kai, sondern auch der Trennung vom Stiefvater einhergeht. Die Scheidung wird von Kai zwar bedauert und macht ihn wütend, dies resultiert aber eher aus dem Mitgefühl für seine aus seiner Sicht im Stich gelassene Mutter und Schwester sowie aus persönlicher Enttäuschung darüber, dass er dem Stiefvater mittels seiner positiven Veränderung nun nicht mehr beweisen kann, dass er doch etwas taugt und liebenswert ist. Kai muss sich nun damit abfinden, dass es in seinem Leben keine liebevoll väterliche Bezugsperson mehr gibt und er sich seine diesbezüglichen Bedürfnisse einer vollständigen, heilen Familie zumindest in Bezug auf seine Herkunftsfamilie nicht erfüllen kann. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Kai in der massiv problembelasteten Zeit vor seinem Einstieg in die rechte Szene innerhalb der Familie nicht genügend mit seinen Bedürfnissen und Schwierigkeiten wahrgenommen wurde, was nicht nur auf die offensichtliche Ablehnung durch den Stiefvater, sondern auch auf den daraus für Frau Kranich resultierenden Loyalitätskonflikt zurückzuführen ist, der zum damaligen Zeitpunkt zugunsten des neuen Mannes und der gemeinsamen Zukunft entschieden wurde. Das besonders emotional verletzende Verhalten des Stiefvaters wurde von Frau Kranich zwar kritisiert, eine Änderung konnte sie jedoch nicht erreichen. Der tragische Suizid seines leiblichen Vaters brachte das Fass schließlich zum Überlaufen und führte dazu, dass Kai jegliche Versuche der Aufrechterhaltung eines bürgerlichen Lebens aufgab und sich verstärkt mit seinen rechts-delinquenten, alkohollastigen Aktivitäten betäubte, was in einem kompletten Absturz mündete. Aufgrund der elterlichen
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Nichtbeachtung seiner Versuche auf sich und seine Lage aufmerksam zu machen, rutschte Kai immer tiefer in die rechte Szene und baute sich dort eine neue Halt und Zugehörigkeit vermittelnde rechts-delinquente Existenz auf, was mit einer Abwendung von seiner Familie einherging, die zunehmend an Einfluss verlor und ihn kaum noch erreichte. Die schließlich unternommenen umfänglichen Interventionsversuche scheiterten aus zwei Gründen: Zum einen kamen sie zu spät und zum anderen zielten sie – zumindest soweit sie mittels der Interviews rekonstruiert werden konnten – lediglich auf eine Verhaltensänderung von Kai sowie seine Abkehr von der rechten Szene ab, arbeiteten aber nicht an den auslösenden familialen und schulischen Problemen. Sie wurden dadurch von Kai auch nicht als hilfreich, sondern als weitere Ablehnung bzw. Infragestellung seiner Person aufgefasst, was die eskalative Provokationsspirale, die sich wechselseitig aufschaukelte, eher beförderte als auflöste. Die durch die Inhaftierung erzwungene Unterbrechung seiner rechtsdelinquenten Karriere hat bereits in Ansätzen bestehende Zweifel an der rechten Szene und seinem bisherigen Weg verstärkt, so dass Kai sich nun in einem Wandlungsprozess befindet, der eine Neuorientierung ermöglicht. Zukunftsprognose Es ist davon auszugehen, dass Kais Bemühungen, zu einer positiven Identität zurückzufinden und der rechten Szene fernzubleiben, während der Haftzeit weitergeführt und sogar noch verstärkt werden, da er sich in einem Entwicklungsund Denkprozess befindet, der weitere Erkenntnisse und auch Reifungen erwarten lässt. Die Zeit nach der Haftentlassung wird für Kai eine Bewährung im wörtlichen Sinne, denn dann wird sich zeigen, ob er seine neue straftat- und szenefreie Lebensplanung umsetzen und sich ein entsprechendes Umfeld aufbauen kann. Die Hilfe seiner Familie, insbesondere seiner Mutter, ist ihm dabei gewiss und stellt einen Anker dar, der die Überwindung seiner rechtsextremistisch-kriminellen Karriere befördern könnte, da sie ihm eine Rückkehr zur Normalität ermöglicht und ihm Halt beim Aufbau einer neuen Lebenswelt bietet. Der entscheidende Faktor wird jedoch sein, inwiefern es ihm gelingt, alternative Handlungsmöglichkeiten zu finden, die geeignet sind, den als positiv erlebten Teil seiner rechts-delinquenten Identität durch eine neue Ausrichtung zu ersetzen. Hierbei spielt die Einbindung in eine für ihn subjektiv sinnvolle Tätigkeit im Rahmen einer Ausbildung eine wesentliche Rolle, da sie gerade in der Übergangsphase von der Haft zur Freiheit eine Alltagsstruktur schafft, die Halt, Orientierung und eine Zukunftsperspektive bietet und es ihm ermöglicht einen anerkannten Platz in der Gesellschaft einzunehmen, der die Bestätigung durch delinquente Kreise bzw. die rechte Szene überflüssig macht. Wenn es ihm zusätzlich gelingt, sich weiter mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen und auch sein Verhältnis
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zu Alkohol kritisch zu hinterfragen, ist es möglich, dass Kai zukünftig nicht mehr auffällig wird und sich vollständig von der rechtsextremistischen Orientierung abwendet. 4.2 Der Fall Piet Schmidtlach – „ich hab grenzen jesucht irgendwo aber die lagen bei meiner mutter eben ziemlich hoch" (154-155)
Abb. 10: Piet Schmidtlach: egozentrierte Netzwerkkarte
Piet ist zum Zeitpunkt des Interviews 18 Jahre alt und besucht ein Fachgymnasium. Seine Eltern haben sich scheiden lassen als Piet 8 Jahre alt war. Kurz darauf erkrankte er schwer an Krebs und verbrachte eine lange Zeit im Krankenhaus. Nach zwei Jahren Therapie hatte er die Krankheit überwunden und konnte wieder die Schule besuchen. Während seiner Zeit im Krankenhaus wurde bei Piet eine Rechtschreibschwäche festgestellt. Sein Vater ist 43 Jahre alt, selbständig und finanziell gut gestellt. Die Mutter ist 42 Jahre alt und arbeitet in einem teilakademischen Heilberuf. Piet hat eine zwei Jahre ältere Schwester, mit der er sich inzwischen gut versteht. Früher gab es zwischen den beiden jedoch viele Auseinandersetzungen, auch wegen seiner rechten Orientierung. Piet ist seit seinem vierzehnten Lebensjahr „rechts“ und in die Szene eingebunden. Vor kurzem hat er eine eigene Kameradschaft gegründet. Im Zusammenhang mit seiner Szenezugehörigkeit hatte Piet zwar schon einige Male Kontakt mit der Polizei und
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war auch an gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligt, er kam jedoch bislang immer ohne Konsequenzen davon und ist darauf bedacht, seine Zukunft diesbezüglich nicht zu gefährden. Piet wirkt zu Beginn des Interviews etwas angespannt, was sich im weiteren Verlauf abbaut. Er spricht jedoch sehr undeutlich und teilweise stammelnd. Das Interview war für ihn „interessant“ (1313). Er hat sein Leben bislang noch „nie so wiedergegeben“ (1313), weil „mich ja nie ne fremde person nach meinem leben jefragt hat“ (1314). 4.2.1 Interpretation der Stegreiferzählung Der biografischen Stegreiferzählung von Piet ging folgender Erzählstimulus voraus: I.: „dann möchte ich dich äh bitten dass du mir erzählst wie du aufgewachsen bist und wie dein leben bis heute verlaufen ist" P.: „ja" I.: „und ich würds halt so machen dass äh du erstmal erzählst und ich dich nicht unterbreche (P.: hm) und dass ich dann im nachhinein vielleicht noch nachfragen stelle" (3-7) Sequenz 8-11: „hm hm und soll irgendwo punkt anfangen also da wo ich mich erinnern kann (.) also (langgezogen) aufgewachsen bin ich in a.-stadt besser gesagt geboren bin ich in a.stadt (.) und (langgezogen) da hab ich dann auch mit mein eltern sechs jahre lang gelebt (.) vorne am wie hieß das nich a.-stadtteil sondern b.-stadtteil in der nähe (.)“
Piet eröffnet seine Erzählung mit der Überlegung, wie er überhaupt mit ihr beginnen soll. Er kommt zu dem Schluss an dem Punkt anzufangen, ab dem er sich erinnern kann. Aus dieser Vorüberlegung (Erzählgerüstsatz) kann geschlossen werden, dass es unwahrscheinlich ist, dass Piet seine Erzählung mit seinem Geburtsdatum beginnt, da er sich an den Tag seiner Geburt nicht erinnern kann. Die Verwendung des Wortes „punkt“ (8) lässt jedoch vermuten, dass Piet mit einem konkreten Ereignis beginnt. Stattdessen verweist er ohne jegliche zeitliche Einordnung auf den Ort seines Aufwachsens. Die Betonung seines Aufwachsens bzw. seiner Geburt in A.-Stadt und die Konkretisierung durch die Angabe des genauen Stadtteils lässt die Vermutung zu, dass diese Zeit für ihn im Sinne eines bestimmten „Punktes“ seines Lebens eine hohe Bedeutung hatte. Seine Korrektur von „aufgewachsen“ (9) zu „besser gesagt geborn“ (9) verweist darauf, dass Piet nicht seine gesamte Kindheit bzw. Jugend in A.-Stadt verlebt hat. Unter Einbeziehung der noch folgenden Erzählung wird erkennbar, dass Piet mit „aufgewachsen“ (9) bereits auf einen Bruch in seinem Leben verweist, durch den die
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Zeit einer unbeschwerten Kindheit endete. Diese Vorwegnahme wird jedoch im Sinne der Plausibilisierung seiner Lebensgeschichte noch einmal zurückgenommen. Diese Vermutung bestätigt sich in der Sequenz, denn Piet hat nur die ersten sechs Jahre seines Lebens in A.-Stadt gewohnt. Der explizite Hinweis darauf, dass er dort mit seinen Eltern gelebt hat, könnte ein Hinweis darauf sein, dass es in seinem späteren Leben so nicht mehr der Fall war. Der Anfang der biografischen Erzählung lässt darauf schließen, dass Piet seine Lebensgeschichte eher an bestimmten Lebensumständen oder Ereignissen festmacht und weniger an zeitlichen Eckdaten orientiert – so in der vorliegenden Sequenz durch die Verbindung von Wohnort mit der Lebensphase (glückliche) Kindheit. Es kann auch vermutet werden, dass er bezüglich der von ihm erwarteten biografischen Erzählung unsicher ist und über die genaue Bezeichnung seines Wohnortes versucht, einen Einstieg in seine Biografie zu finden. Sequenz 11-14: „dann hat mein vater irgendwann mal ne.. seine firma übernomm also ne firma übernomm und (langgezogen) sind sehr vermögend geworden ham uns n haus in b.stadt jeholt und (langgezogen) dann bin ich dann mit sechs nach b.-stadt gezogen ja“
Der Umzug der Familie in eine andere Stadt begründet sich aus dem beruflichen Erfolg des Vaters und damit verbunden dem Kauf eines eigenen Hauses. Er wird zeitlich nicht an einer Jahreszahl sondern am Lebensalter von Piet festgemacht. Auch hier benennt Piet also keine konkrete Zeit. Sein Vater übernahm die Firma „irgendwann mal“ (12), was dazu führte, dass die Familie sich finanziell verbesserte. Die eher ausgefallene Formulierung „sehr vermögend“ (13) lässt darauf schließen, dass ein relativ großer Sprung bezüglich des Lebensstandards stattgefunden hat. Möglicherweise möchte Piet dadurch auch besonders auf die gute Situierung aufmerksam machen. Interessant ist die Verwendung der Pronomen in dieser Sequenz. Während Piet beim Kauf des Hauses von „uns“ (13) spricht, sich also trotz seines jungen Alters quasi als „Mitbesitzer“ bzw. „Käufer“ darstellt, spricht er in Bezug auf den Umzug in der Ich-Form, obwohl er in diesem Alter keinesfalls allein umziehen konnte. Auch in das Erlangen des Vermögens fühlt er sich involviert. Die sprachliche Ausdrucksweise zeigt auf, dass Piet sich bereits in diesem frühen Lebensalter als handelndes Subjekt begreift und seine Lebensgeschichte schon als individuelle Geschichte erzählt. Die über die Pronomen vermittelte Eigenaktivität kann ein Hinweis darauf sein, dass in dieser Lebensphase nicht nur ein Sozialstatuswechsel erfolgte, sondern auch neue Anforderungen bezüglich seiner Selbständigkeit auf Piet zu kamen oder er aber einen den Eltern gleichrangigen Status demonstrieren will, den er jedoch nicht gehabt haben kann.
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Sequenz 14-18: „und (langgezogen) phh was soll ich n noch erzähln also in b.-stadt wurd ich dann och einjeschult (.) mit na normal mit sechs und (langgezogen) tja mein vater ist dann zwei jahre später ausjezogen wo ich acht war weil sich meine eltern jetrennt hatten dann und (langgezogen) ich leb heu.. also ich lebe jetzt immer noch in b.-stadt“
Obwohl er in seiner biografischen Erzählung noch nicht bei seiner Einschulung angelangt ist, leitet Piet die Sequenz mit den Worten „phh was soll ich n noch erzähln“ (14-15) ein. Möglicherweise erfolgt diese erste Erzählcoda aufgrund der darauf folgenden eben gerade bewegten und auch emotional belastenden Ereignisse, die in seinem Leben eintreten. Es kann vermutet werden, dass Piet dadurch versucht, die nun folgenden für ihn unangenehmen Themen in ihrer Dramatik abzuschwächen. Es könnte aber auch sein, dass die negativen Ereignisse für ihn eben aufgrund ihrer Negativität nur schwer zu erzählen sind. Mit dem bedeutsamen Ereignis des ersten Umzuges in seinem Leben war für Piet zunächst jedoch auch noch ein zweites wichtiges Ereignis verbunden – seine Einschulung. Man kann hier also quasi von einer doppelten Zäsur in seinem Leben sprechen, nämlich in Form eines neuen sozialen Umfeldes verbunden mit veränderten ökonomischen Verhältnissen und einem neuen Status als Schüler. Sein Hinweis darauf, dass er „normal mit sechs“ (15) eingeschult wurde, könnte darin begründet liegen, dass Piet hier gedanklich bereits seiner mit acht Jahren eintretenden Krebserkrankung vorgreift, die zu einer Verzögerung in seiner schulischen Laufbahn geführt hat und auf eine reguläre Schulkarriere vor der Zeit der Erkrankung hinweisen will. Die Schilderung seiner Schulbiografie wird von Piet dann allerdings nicht weiter verfolgt. Er knüpft stattdessen mit einer neuen Thematik nämlich der Trennung seiner Eltern an. Das Auseinandergehen der Eltern ist für ihn zumindest mit einer räumlichen Trennung vom Vater verbunden, da dieser auszieht. Das vorausgehende „tja“ (16) kann als Einleitung in eine für Piet dramatische Wende in seinem Leben gelesen werden. Es ist wahrscheinlich, dass er sich gerade an seine neue Lebenssituation (neues Umfeld und Einschulung) und die damit verbundenen Veränderungen gewöhnt und angepasst hat, als die Trennung der Eltern erfolgt. Die Formulierung „zwei jahre später“ (16) verweist auf die zeitlich rasch aufeinander folgenden Ereignisse – den gerade erlebten Veränderungen (Umzug der Familie in ein Haus, etc.) folgt keine längere Phase stabiler Lebensverhältnisse, sondern ein erneuter Umbruch. Piet spricht in diesem Zusammenhang nicht von Scheidung. Warum dies so ist, geht aus dem Zusammenhang jedoch nicht hervor. Auch hier erfolgt die zeitliche Orientierung wieder über Piets damaliges Lebensalter. Inhaltlich macht er die Ereignisse wiederum an der Wohnsituation fest. Der Vater ist „ausjezogen“ (16), während sich an Piets Wohnsituation nichts geändert hat.
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Sequenz 18-19: „und (langgezogen) mit acht jahrn hatte ich dann auch krebs das war dann (.) is auch dann noch dazu jekomm“
Die bereits belastende Situation gewinnt für Piet (und seine Familie) durch seine schwere Erkrankung noch an zusätzlicher Dramatik. Dies verdeutlicht sich über die Verwendung von „auch“ (18) und die nochmalige Betonung im Nachtrag „is auch dann noch dazu jekomm“ (19). Weiterhin macht diese Formulierung deutlich, als wie schmerzhaft Piet die Trennung seiner Eltern und damit die (räumliche) Distanz zu seinem Vater erlebt haben muss. Die Krebserkrankung ist nämlich im Sinne einer Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential zu seiner ohnehin schon unglücklichen Situation dazu gekommen. Sequenz 19-21: „war dann wieder in a.-stadt sozusagen hatt ich ja dann noch zwei jahre war ich hier in a.-krankenhaus in (..) nh (.) krebsabteilung für kinder wenn man das so nennen kann nennen darf ja (..)“
Piet geht nicht weiter auf seine mit der Nachricht über die Krankheit verbundenen Gefühle und Reaktionen ein. Auch die Reaktionen seiner Familie insbesondere seiner Eltern werden von ihm nicht erwähnt. Es liegt nahe, dass Piet die damaligen Emotionen durch eine dementsprechende Schilderung nicht noch einmal erleben möchte und sie deshalb unerwähnt bleiben. Stattdessen bindet er die folgenden Ereignisse wieder an den mit ihnen verbundenen Ort – er ist wieder in A.-Stadt. Der erneute Ortswechsel nach A.Stadt könnte seine anfängliche und korrigierte Formulierung „aufgewachsen bin ich in a.-stadt“ (9) begründen, denn insgesamt gesehen hat Piet einen großen Teil seiner Kindheit in A.-Stadt verbracht. Piet muss aufgrund seiner Krankheit zwei Jahre im Krankenhaus verbringen. Es fällt ihm offensichtlich schwer, die konkrete Bezeichnung „Kinderkrebsstation“ auszusprechen. Dies wird durch seine stockende Sprechweise und die schließliche Benennung mit „krebsabteilung für kinder“ (20) deutlich. Auch der Nachtrag „wenn man das so nennen kann nennen darf“ (21) verweist auf seine diesbezüglichen Schwierigkeiten. Es stellt sich die Frage, warum Piet hier den Ausdruck „darf“ (21) verwendet. Im Zusammenhang mit seinen Schwierigkeiten bei der Benennung seines damaligen Aufenthaltsortes kann vermutet werden, dass Piet eine Konfrontation mit dem Thema vermeiden möchte, da es für ihn eine sehr belastende Zeit war, an die er sehr negative Erinnerungen hat. Mit dem langen stationären Aufenthalt war für ihn neben der Krankheit und ihren Folgen an sich nicht nur die räumliche Trennung von seiner Familie verbunden, sondern auch ein nahezu völliger Freiheitsentzug. Eine klare Bezeichnung verdeutlicht weiterhin auch die Schwere der Krankheit und ihre Lebensbedrohlichkeit. Es ist denkbar, dass Piet seine mit der Krankheit verbundenen Emotionen verdrängen möchte und sich das Sprechen darüber deshalb quasi unbewusst selbst verbietet.
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Dies könnte auch die Angst vor einer erneuten Erkrankung beinhalten. Möglicherweise hat Piet aber auch die Erfahrung gemacht, dass seine Krankheitsgeschichte bei anderen Menschen eine hohe Betroffenheit und Unsicherheit auslöst oder dass sie nicht damit umgehen können, weshalb er eine Konfrontation vermeiden möchte. Bei beiden Interpretationen wird der Name im Sinne eines Verdrängungsprozesses nicht verwendet, weil dadurch die Schwere und Lebensbedrohlichkeit der Krankheit verdeutlicht wird.32 Sequenz 21-25: „mit zehn unjefähr zehn elf also XXXX hatten sie mir ja ham se mir ja dann n attest dass ich wieder vollkommen gesund bin (.) oder zumindest den krebs überstanden alle krebszellen soweit vernichtet sind und dann hatten se dann och so de medikamente und alles abjesetzt joah“
Die Zeit auf der Kinderkrebsstation bzw. die Zeit seiner schweren Erkrankung überhaupt wird von Piet wahrscheinlich aus den oben bereits herausgearbeiteten Gründen nicht näher beschrieben. Er knüpft stattdessen direkt mit seiner Gesundung an. Interessant ist dabei, dass Piet an dieser Stelle zum ersten (und einzigen) Mal in seiner Stegreiferzählung eine konkrete Jahreszahl benennt. Dies verweist auf die enorme Bedeutung, die seine Heilung für ihn hat. Die hohe Belastung, die für ihn mit der Erkrankung verbunden gewesen sein muss, verdeutlicht sich auch über seinen Verweis auf das Attest, welches seine Gesundheit bestätigt. Erst die schriftliche Bestätigung, dass er die Krankheit überstanden hat, gibt ihm Gewissheit. Salopp formuliert könnte man davon sprechen, dass Piet die Bestätigung seiner wiedererlangten Gesundheit quasi schwarz auf weiß brauchte, um es selbst glauben zu können und – so hat man den Eindruck – um es auch für sein Gegenüber glaubhaft zu machen. Die Aussage, dass er wieder „vollkommen gesund“ (23) ist, wird von Piet sofort wieder relativiert: „oder zumindest den krebs überstanden alle krebszellen soweit vernichtet sind“ (23-24). Es wäre denkbar, dass Piet noch andere Krankheiten hat bzw. dass er möglicherweise noch Nebenwirkungen von den zur Krebstherapie notwendigen Medikamenten hatte, die seine Gesundheit noch eine Zeit lang beeinträchtigt haben („zumindest“ 23). Er könnte aber an dieser Stelle auch auf einen allgemein in Folge der Krankheit geschwächten Gesundheitszustand anspielen. In einer dritten Lesart könnte die Formulierung auf seine Angst vor einer erneuten Erkrankung an Krebs hinweisen. Für diese Interpretation 32
Rosenthal (1995, S.91) führt die „verbalen Auslassungen von Leibes- und Sinnesempfindungen“ auf eine Hilflosigkeit bei der Übersetzung in Sprache zurück und verweist weiterhin auf die Tendenz von Informanten, Peinliches und Unangenehmes, soweit es kontrollierbar ist, zurückzuhalten. „Diese Auslassungen werden für den Zuhörer dann meistens im Überspringen von Details, dem Wechsel vom Erzählschema auf das Argumentations- oder Beschreibungsschema und – parasprachlich – durch Stockungen und Abbrüche bemerkbar“ (ebd., S.91).
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spricht auch das „soweit“ (24), was implizit die Befürchtung, es könnten sich erneut Krebszellen bilden, enthält, gleichzeitig aber auch die Hoffnung auf eine anhaltende Gesundheit ausdrückt. Insgesamt kann aus seiner Erzählung über die Krankheit der Schluss gezogen werden, dass ihm ihre Schwere und Lebensbedrohlichkeit (möglicherweise auch verstärkt durch das Verhalten bzw. die Reaktionen seiner Umwelt) trotz seines jungen Alters sehr bewusst war. Mit seiner „Gesundschreibung“ ist das Absetzen der bis dahin notwendigen Medikamente verbunden. Aus der Formulierung „und alles“ (24-25) kann geschlossen werden, dass Piet neben den Medikamenten noch andere Formen der Behandlung bekommen hat. Die für ihn schwere und belastende Zeit seiner Erkrankung ist mit seiner „Gesundschreibung“ und den damit verbundenen positiven Konsequenzen vorüber. Auffällig ist, dass Piet weder seine Gefühle bezüglich der Zeit der Erkrankung noch seiner Gesundung explizit äußert, sondern diese Ereignisse in seinem Leben ausgesprochen sachlich darstellt. Sequenz 25-28: „und dann hab ich bin ich ne klasse zurückjestellt worden deshalb bin ich jetzt och mit erst mit achtzehn in der elften habe also wird nur in der zweiten klasse ham ses erkannt wäre vierte gewesen ham mich dann aber noch mal in die dritte zurückje.. versetzt dann nochmal anjefang“
Durch seine Krankheit ergibt sich für Piet eine Verzögerung in seiner Schulkarriere. Er wird eine Klasse zurückgestuft, da er durch seinen langen Krankenhausaufenthalt zu viel Unterricht verpasst hat. Zum Zeitpunkt der Überwindung der Krankheit wäre Piet bereits in der vierten Klasse gewesen, er beginnt dann jedoch noch mal in Klasse drei. Seine Formulierung „dann noch mal anjefang“ (28) kann nicht nur in Bezug auf die Wiederholung der Klasse gesehen werden, sondern im Kontext mit dem durch die Krankheit verursachten Ausnahmezustand in seinem Leben auch als grundlegender Neuanfang. Dies erscheint umso plausibler, wenn man bedenkt, dass er bis zum Auftreten seiner Krankheit nur eine recht kurze Zeit in der Schule verbracht hat – nämlich höchstens knapp zwei Jahre. Seine Rückkehr in die Schule ist in diesem Sinne also der Neubeginn seiner Schullaufbahn und auch seines Lebens. Piet ist bemüht, die Verzögerung in seiner schulischen Laufbahn zu erklären. Möglicherweise möchte er vermeiden, dass bei seinem Gegenüber der Eindruck entsteht, er wäre sitzen geblieben. Es scheint wichtig für ihn zu sein, die eigene „Unschuld“ an der Verzögerung hervorzuheben. Aus der Art seiner Erzählung an dieser Stelle kann geschlossen werden, dass Piet schon häufiger auf die Diskrepanz zwischen seinem Alter und der momentan von ihm besuchten Klassenstufe angesprochen wurde. Sequenz 28-34: „ich hatte auch also während meiner krebszeit hatte ich dann auch immer n bisschen teilzeitunterricht (.) und kamen auch mal lehrer von meiner schule in b.-stadt die
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warn dann ham dann eben hausbesuch jemacht das konnte man dann so gut einrichten das war eigentlich nich schlecht so dass ich zumindest die hauptfächer hatte hier wie mathe deutsch (.) englisch und so (.) nee die grundfächer jo (.) und ich dritten klasse ham se mich wie jesacht ging ich noch in b.-stadt in de grundschule“
Die Sequenz knüpft inhaltlich an die vorherige an, in ihr erfährt die Zeit, in der ein regelmäßiger Schulbesuch nicht möglich war, eine Detaillierung in Hinblick auf die dennoch stattfindende schulische Förderung. Die Formulierung „krebszeit“ (28) impliziert ein Begreifen der Zeit der Erkrankung als eine eigenständige und in sich geschlossene Lebensphase, die quasi als Enklave in die restliche Biografie eingebettet ist. Zum einen fällt auf, dass die Lehrer von Piet wohl recht engagiert gewesen sein müssen, da sie eine außerschulische Betreuung organisierten und ihm so das Lernen zumindest in den Grundfächern weiterhin außerschulisch ermöglichten. Es wird nicht deutlich, ob sich der von ihm erwähnte Teilzeitunterricht nur auf diese Hausbesuche beschränkte oder ob es auch während seines Krankenhausaufenthaltes eine schulische Förderung auf der entsprechenden Station gab. Zum anderen wird Piets schulisches Interesse deutlich, wobei jedoch nicht klar ist, ob es tatsächlich aus einer hohen Leistungsorientierung, oder aus dem Wunsch ein Stück altersgemäße Normalität zu erhalten, resultiert. Der Unterricht an sich ist Piet kaum noch im Gedächtnis, er erinnert sich zunächst, dass auch Englisch unterrichtet wurde, was er aber kurz darauf korrigiert. Aus diesem Grund kann angenommen werden, dass es weniger um den Inhalt der schulischen Förderung ging, als um den darüber vermittelten Anschluss an das „normale“ Leben. Piet erzählt auch hier weiter sachlich und weitgehend ohne Emotionen zu zeigen. Der „teilzeitunterreicht“ (29) war „eigentlich nich schlecht“ (31). Es kann vermutet werden, dass Piet die ihm geltende besondere Aufmerksamkeit trotz seiner insgesamt sehr belastenden Situation genossen hat, auch wenn er dies durch die lapidare Formulierung herunterzuspielen versucht. Das Ende der Sequenz bleibt weitgehend undeutlich: „und ich dritten klasse ham se mich (.) wie jesacht ging ich noch in b.-stadt in de grundschule“ (33-34) Es liegt nahe, dass Piet hier erneut auf seine Rückstufung in die dritte Klasse und damit seinen längeren Verbleib in der Grundschule anspielt. Sequenz (34-38): „dann (langgezogen) war ich in der fünften bin ich dann (.) ähm (..) nach c.-stadt auf de sekundarschule nannte sich das das war diese übergangsphase fünfte sechste wo man dann englisch bekam und ob man dann nach der sechsten konnte man sich dann entscheiden ob man aufs gymnasium gehen möchte oder nich und (langgezogen) joah“
Nach der Grundschule wechselt Piet zur Sekundarschule in C.-Stadt. Die Sekundarschule wird von ihm lediglich als „übergangsphase“ (36) begriffen. Wichtig an dieser Zeit scheint für ihn der Englischunterricht als neues Fach zu sein. Der Englischunterricht wurde von ihm bereits im Zusammenhang mit seiner
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Unterrichtung in den Grundfächern während seines Krankenhausaufenthaltes erwähnt. Piet hatte ihn irrtümlich zu den Grundfächern gezählt, sich dann jedoch korrigiert. Es ist also auch denkbar, dass er an dieser Stelle nochmal darauf verweist, um seinen Irrtum vollständig zu berichtigen. Auch wenn das so ist, bleibt jedoch der Eindruck, dass der Englischunterricht für ihn eine besondere Bedeutung hat, da er ihn andernfalls auch nicht irrtümlich zu den Grundfächern gerechnet hätte. Die mögliche Bedeutung geht aus seiner Erzählung allerdings nicht hervor. Es könnte vermutet werden, dass das Erlernen der englischen Sprache heute zu einem grundlegenden und selbstverständlichen Teil der schulischen Ausbildung gehört und daher von ihm durchaus als „Grundfach“ angesehen wird. Der von ihm als „übergangsphase“ (36) bezeichnete Besuch der Sekundarschule ist mit einer Entscheidung bezüglich der weiteren Schulkarriere am Ende der sechsten Klasse verbunden. Interessant ist, dass Piet die Entscheidung, ob ein Schüler auf das Gymnasium wechselt oder nicht, allein von dessen Wunsch und nicht von seinen Leistungen abhängig macht. Auch die Wünsche der Eltern und ihre Autorität bzw. diesbezügliche Entscheidungsgewalt werden von ihm nicht thematisiert. Die anstehende Entscheidung wird von ihm zwar formuliert, ihr Ausgang bleibt jedoch unerwähnt. Stattdessen bricht Piet an dieser Stelle mit einem langgezogenen „und joah“ (38) ab. Es wird daher nicht deutlich, ob Piet weiterhin die Sekundarschule besuchte oder auf ein Gymnasium gewechselt hat. Würde seine Darstellung der freien Entscheidung für oder gegen das Gymnasium zutreffen, könnte er seine eigenverantwortlich getroffene Wahl anfügen. Dass er dies vermeidet spricht für eine Entscheidung, die nicht allein von ihm selbst getroffen wurde und lässt darauf schließen, dass er (vermutlich aus leistungstechnischen Gründen) nicht das Gymnasium besuchte, dies jedoch für ihn unangenehm ist und nicht erwähnt wird. Es zeigt sich also eine deutliche Diskrepanz zwischen der von ihm vorgegebenen und der tatsächlichen Entscheidungsgewalt. Sequenz 39-42: „ende der sechsten hatt ich dann (..) noch n kumpel wiederjetroffen den ich jahrelang nich jesehn hatte weil der nach der is weggezogen nach d.-stadt und ich hatte den kontakt dann verlorn also den hatte ich kennengelernt bevor ich erkrankt bin und den hatt ich dann wiedergetroffen und (langgezogen) joah (.)“
Die Darstellung seiner Schulbiografie wird von Piet nicht fortgesetzt. Es findet vielmehr ein thematischer Wechsel in seiner Erzählung statt, was für die obige Interpretation spricht. Piet beschreibt nun sein erneutes Zusammentreffen mit einem früheren Freund zum Ende der sechsten Klasse. Das „noch“ (39) kann dabei im Zusammenhang mit der vorhergehenden Sequenz interpretiert werden. Piet hat dort auf die Entscheidung über seinen weiteren Schulbesuch verwiesen. Es ist anzunehmen, dass zu diesem Ereignis das Wiedertreffen des „kumpel(s)“ (39) noch dazu kam, also gleichzeitig zwei wichtige Ereignisse stattfanden, die seinen weiteren Lebensweg beeinflusst haben. Mit dem Kumpel führt Piet zum
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ersten Mal einen Freund in die Erzählung ein. Auch wenn dieses Wiedersehen erzähltechnisch in den schulischen sozialen Rahmen eingebettet wird, ist nicht zwingend davon auszugehen, dass der Freund in der Schule wiedergetroffen wurde. Der schulische Zusammenhang scheint hier eher als zeitlicher Markierer zu dienen. Die Einführung des neuen Ereignisträgers „Kumpel“ gibt einen Hinweis auf die steigende Bedeutung der Peers in der Adoleszenz, aber auch auf die wiedererlangte Normalität nach der Krankheit, in der alterstypisches Freizeitverhalten wieder möglich ist. Der thematische Wechsel von schulischen Zusammenhängen zum Wiedertreffen des Freundes zu Beginn der Sequenz deutet weiterhin auf ein Erleben dieser Phase als Peers- und weniger als Schulzeit hin. Der vorangehende Verlust des Kontaktes zum Kumpel kann auf dessen Wegzug in eine andere Stadt und Piets krankheitsbedingten langen Krankenhausaufenthalt zurückgeführt werden, da beide Faktoren die Aufrechterhaltung der Freundschaft, vor allem auch aufgrund des damaligen Alters von Biografie- und Ereignisträger, stark erschwert haben dürften. Sequenz 42-56: „der wie jesacht der war dann eigentlich ich war in der sechsten und der war eigentlich schon so n bisschen in der rechten szene drinne was heißt mit drinne na doch und der hat mir dann immer so n bisschen musik gegeben und halt (.) jo (..) na ja jetzt propaganda nich aber (.) hat dann och sich so mich in seinen freundeskreis och noch n bisschen einbezogen“
Aus dieser Sequenz wird deutlich, warum das erneute Zusammentreffen mit dem Kumpel für Piet diesen hohen Erzählwert hat, dass er darüber die Darstellung seiner Schullaufbahn unterbricht. Das erneute Zusammentreffen führte tatsächlich zu einer entscheidenden Veränderung in Piets Leben – nämlich zu seinem Einstieg in die rechte Szene. Das Auftauchen des Kumpels in seiner Erzählung kann somit quasi als Hinführung zum Thema „rechts“ gesehen werden. Seine Formulierung „der wie jesacht der war dann eigentlich ich war in der sechsten und der war eigentlich schon so n bisschen in der rechten szene drinne“ (42-43) lässt die Vermutung zu, dass sein Kumpel älter ist, da beide enthaltenen Informationen sich von der Erzähllogik her eigentlich nicht aneinander reihen. Interessant ist auch sein ausdrücklicher Verweis auf die Länge der Bekanntschaft mit dem Kumpel in der vorherigen Sequenz, denn darüber beweist sich dessen Vertrauenswürdigkeit. Es ist somit nicht irgendein Jugendlicher, der Piet mit der rechten Szene in Kontakt bringt, sondern ein bewährter Freund aus Kindertagen. Die von ihm beschriebene Form seines Einstiegs impliziert, dass er sich zunächst mit den Inhalten und Zielen der Szene beschäftigt hat und zwar über einschlägige Musik und Propaganda-Material, welches er über seinen Freund bezogen hat. Dazu im Widerspruch steht, dass Piet durch seine Formulierung versucht, seinen Einstieg und auch die Szene selbst zu verharmlosen. Seine Sprache
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ist an dieser Stelle holprig und er korrigiert sich häufig selbst. Sein Kumpel „war eigentlich schon so n bisschen in der rechten szene drinne was heißt mit drinne na doch“ (43-44), er bekam ein „bisschen musik“ (44) und „na ja jetzt propaganda nich aber“ (45). Daraus kann geschlossen werden, dass Piet die häufige Ablehnung der rechten Szene durchaus bewusst ist und er sich vermutlich noch nicht völlig bezüglich seines eigenen Weltbildes öffnen will. Der innere Konflikt zwischen den Erzählzwängen und dem Wunsch sich noch nicht zu offenbaren, drückt sich über die Bagatellisierung der Inhalte und Ausdrucksmittel der Szene sowie der Szene selbst mittels der relativierenden Ausdrucksweise sowie die verwaschene Sprache aus. Weiterhin vermittelt sich in dieser Sequenz der Eindruck, dass Piets Einstieg in die rechte Szene langsam, sozusagen Schritt für Schritt erfolgte. Piet spricht von einem „freundeskreis“ (46) und nicht von einer beispielsweise Clique, die eher eine jugendkulturelle vorrangig an Spaß orientierte Gruppe symbolisieren würde. Er hat dort auch nicht den Anschluss gesucht, sondern wurde „einbezogen“ (46), also quasi durch die Initiative des Freundes in die Gruppe integriert. Insgesamt gesehen erfolgte Piets Einstieg über einen höchstwahrscheinlich älteren Freund, der ihn mit einschlägigem Material versorget und gleichzeitig mit Mitgliedern der rechten Szene in Kontakt brachte. Dabei stellt Piet sich zwar als eigenständig handelnd und entscheidend dar, gleichzeitig wird aber auch der Einfluss des für Piet wohl vertrauenswürdigen Freundes deutlich, dem er die Herstellung des Kontaktes und seine eigene Informierung über in der Szene relevante Themen überlässt.33 Sequenz 46-48: „joah und da hab ich dann irgendwann mal die mit sechste siemte klasse dann den weg einjeschlagen dann war dann eigentlich mehr mitläufer kann man so sagen viel ahnung hatt ich da mit vierzehn dreizehn nich (.)“
In der sich nun anschließenden Sequenz verdeutlicht sich der Widerspruch zwischen Piets Anspruch auf Selbständigkeit und Handlungskompetenz einerseits und seiner Beeinflussbarkeit andererseits. Nach der Phase der Kontaktaufnahme entscheidet sich Piet diesen „weg“ (47) einzuschlagen, was für eine bewusst getroffene Entscheidung spricht, der auch ein Wissen um die mit diesem Weg verbundenen Inhalte immanent ist. Allerdings beschreibt er sich gleich im Anschluss als „mitläufer“ (48) ohne respektive mit wenig „ahnung“ (48). Da er in diesem Zusammenhang auf sein damaliges Alter von dreizehn bzw. vierzehn Jahren Bezug nimmt, kann vermutet werden, 33
Diese Form des Einstiegs wurde auch von Groffmann (2001) in ihrer Studie einer rechten Jugendgruppe beschrieben, wonach Skinhead-Gruppen häufig über mehrere Generationen hinweg bestehen. Dabei löst sich beim Generationenwechsel ein Teil der Jugendlichen aus der Gruppe, um andere Lebenswege einzuschlagen, während die in der Gruppe verbleibenden Mitglieder jüngere Jugendliche über Geschichten, Rituale und Musik in die Szene einführen.
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dass sich sein Wissen um die politischen Inhalte der rechten Szene inzwischen erweitert hat und er aus seiner heutigen Position heraus einen bewussten Weg in die rechte Szene rekonstruiert. Darüber hinaus nimmt er eine Bewertung seines damaligen Wissenstandes aus seiner heutigen Position heraus vor. Sequenz 48-54: „joah dann hatt ich meine erste also siemte klasse (unverständlich) b.-stadt das nannte sich dann realschule also c.-schule (.) da ich nich aufs gymnasium gema.. nich aufs gymnasium jegang bin hatten se uns dann in der siebten noch mal einjeschult hatten dann och unsre klassen unsre klassen noch mal neu aufgeteilt weil se der meinung warn dass unsre klasse ziemlich schlimm war um da die störenfriede rauszukriegen oder keine ahnung was se sich davon erhofft hatten joah (.) s jing so wie jesacht (..)“
Über die Erinnerung an sein Alter zum Zeitpunkt seines ersten Kontaktes mit der rechten Szene gelangt Piet schließlich durch eine Hintergrundkonstruktion zurück zu seiner Schullaufbahn. Der mit dem Rahmenschaltelement „joah dann“ (48) angefangene Satz „hatt ich meine erste“ (49) wird an dieser Stelle abgebrochen. Es kann aus dem weiteren Verlauf der Sequenz auch nicht erschlossen werden, was Piet damit gemeint haben könnte. Piet hat nach der sechsten Klasse eine Realschule besucht. Dies spricht für die oben aufgestellte Vermutung, dass seine Noten nicht für einen Besuch des Gymnasiums ausgereicht haben. Der Wechsel auf die Realschule wird von Piet jedoch nicht weiter kommentiert, sondern nur damit begründet, dass er eben nicht auf das Gymnasium gegangen ist. Seine Korrektur von „da ich nich aufs gymnasium gema...“ (50) auf „nich aufs gymnasium jegang bin“ (50-51), könnte erfolgen um einen in seiner Heimatregion typischen mundartlichen Ausdruck zu vermeiden (da ich nich aufs gymnasium gemacht bin). Es könnte sich aber auch um eine Vermischung aus „da ich nicht aufs Gymnasium gegangen bin“ und „da ich nicht Gymnasium gemacht habe“ handeln. Es kann – auch im Hinblick auf den eher verworrenen Anfang der Sequenz – gemutmaßt werden, dass Piet dieses Thema unangenehm ist bzw. für ihn in irgendeiner Form mit (unangenehmen) Emotionen verbunden ist. Der weitere erzählerische Verlauf der Sequenz legt den Schluss nahe, dass es sich bei der nun besuchten Realschule um die gleiche Schule handelt wie zuvor – die vorausgegangene Orientierungsstufe also an diese Schulform angegliedert ist – , wobei der Wechsel eines Teils der SchülerInnen auf andere Schulformen nach der Orientierungsstufe eine neue Klassenzusammensetzung begründete. Die Entscheidung für die Realschule bzw. den Realschulzweig war für Piet also mit größeren Veränderungen verbunden. Er spricht in diesem Zusammenhang sogar von „noch mal einjeschult“ (51). Die Neuaufteilung der Klassen begründet sich für ihn mit dem Wunsch der Schule, die Disziplin zu verbessern und problematische Schülerkonstellationen aufzulösen. Dabei wird nicht deutlich, ob er zu den sogenannten „störenfriede(n)“ (53) gehörte oder nicht. Die Notwendigkeit
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dieser Maßnahme sieht Piet jedenfalls nicht, er begreift die Klassenaufteilung eher als einen Akt schulischer Willkür und distanziert sich durch seine Formulierung „weil se der meinung warn dass unsre klasse ziemlich schlimm war“ (5253) von der negativen Bewertung seiner Klasse seitens der Schule. Seine Bilanzierung „s jing so“ (54) am Ende der Sequenz unterstreicht noch einmal seine kritische Reflexion der schulischen Maßnahmen. Sequenz (54-57): „s un hatt ich dann auch noch n paar kumpels auf der schule dann jefunden direkt aus b.-stadt die (.) auch so n bisschen mit beziehungsweise (unverständlich) szene kann man so sagen denk ich dass die da och so n bisschen mit anjehörten“
Auf der neuen Schule lernte Piet weitere gleichgesinnte Jugendliche kennen. Es fallen hier mehrere Dinge auf. Zum einen wird deutlich, dass er die rechten Jugendlichen zu denen er bisher Kontakt hatte wohl nicht in seinem schulischen Kontext kennengelernt hat, da er den Schulbezug betont. Dies könnte für die bereits aufgestellte Vermutung, dass es sich um ältere Jugendliche handelte, sprechen. Zum anderen scheinen seine bisherigen Freunde auch nicht aus seiner Heimatstadt zu stammen, da er explizit darauf hinweist, dass die neuen Freunde „direkt aus b.-stadt“ (55) kamen. Zum dritten wird Piets Ausdrucksweise bei der Beschreibung seiner neuen Freunde erneut vage, abschwächend und unsicher. Es ist unwahrscheinlich, dass Piet sich nicht darüber im Klaren ist, ob die neuen Freunde der rechten Szene zuzuordnen waren oder nicht. Daher stellt sich die Frage, warum er die Dinge hier nicht klar benennt und dies vor allem, da er seinen Einstieg in die rechte Szene als bewusst gewählten „weg“ (47) beschrieben hat. Möglicherweise tut sich hier erneut ein Widerspruch zwischen dem Versuch einer selbstbewussten Darstellungsweise des eigenen Handelns und der Angst vor Ablehnung durch das (erwachsene) Gegenüber auf. Sequenz 57-58: „joah einer verließ mich dann oder verließ uns dann in der siemten also ich globe das war von der siemten zur achten is dann ins jefängnis jegang mit vierzehn (.)“
Einer von Piets neu gewonnenen Freunden wurde offenbar mit vierzehn Jahren aufgrund einer zunächst nicht benannten Straftat zu einer Haftstrafe verurteilt. Die Verhaftung des Freundes steht im klaren Widerspruch zu Piets bisherigen verharmlosenden Darstellungen seines neuen Freundeskreises. Da der Jugendliche zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und das, obwohl er noch sehr jung bzw. gerade strafmündig war, kann von einer sehr schweren Straftat ausgegangen werden.34 34
Haftstrafen gelten im Jugendstrafrecht aufgrund des Erziehungsgedankens als letztes Mittel und werden nur im Falle der Feststellung von schädlichen Neigungen, denen mit Erziehungs- und Zuchtmitteln nicht adäquat begegnet werden kann oder einer schweren Schuld, die eine
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Aus seiner dramatischen Formulierung „einer verließ mich dann“ (57) kann gelesen werden, dass Piet den haftbedingten Weggang des Freundes geradezu als persönlichen Affront erlebte. Auch scheinen seine Freundschaftsbeziehungen für ihn eine starke Intensität zu haben, die mit einem hohen Anspruch an Zusammenhalt und Treue verbunden ist. Es kann also hier – auch wenn das von Piet nicht explizit benannt wird – bereits auf kameradschaftsähnliche Strukturen geschlossen werden. Geht man von dieser Interpretation aus, ergibt sich auch eine andere Sichtweise der vagen Beschreibung der neuen Freunde. Diese könnte dann nämlich durchaus im Sinne eines sozusagen lässigen Understatements verstanden werden. Die Formulierung „verließ“ (57) ist im Zusammenhang mit dem Antritt einer Haftstrafe weiterhin auffällig, weil dadurch eine Freiwilligkeit des zumindest zeitweiligen Ausscheidens aus dem direkten Zusammenhang der Gruppe unterstellt wird. Von jemandem verlassen zu werden ist eher negativ besetzt und mit der Absicht der verlassenden Person verbunden, die Beziehung zu einer anderen Person in der bisherigen Form nicht mehr aufrechtzuerhalten. Insofern überrascht diese Formulierung in Kombination mit dem daraufhin geschilderten unfreiwilligen Grund für den Weggang, nämlich der Haftstrafe. Es wäre denkbar, dass Piet seine Clique als so fest zusammengeschweißt wahrnimmt, dass es kein einfaches Ausscheiden durch Weggang gibt sondern nur ein „Verlassen“. Vielleicht symbolisiert die Wortwahl an dieser Stelle aber auch nur die Dramatik des außergewöhnlichen Ereignisses. Piets Korrektur von „verließ mich“ auf „verließ uns“ (57) könnte darauf hinweisen, dass er sich selbst als Mittelpunkt der Gruppe begreift oder mit dem verurteilten Jugendlichen besonders eng befreundet war. Der Antritt der Haftstrafe des Freundes erfolgte am Ende der siebten Klasse bzw. im Übergang von der siebten zur achten Klasse. Piet hatte die neuen Freunde erst mit dem Schulwechsel also in der siebten Klasse kennengelernt, so dass die Freundesgruppe in dieser Konstellation noch nicht lange Bestand hatte. Die dramatische Formulierung des „Verlassens“ verwundert unter Einbeziehung dieses Aspektes daher umso mehr und könnte ein Hinweis auf Piets starken Drang nach Anschluss an und Anerkennung durch Gleichaltrige sein, der aus seiner langen krankheitsbedingten Isolation resultiert. Jugendstrafe unumgänglich macht, verhängt. Das im Jugendgerichtsgesetz (JGG) geregelte Jugendstrafrecht grenzt sich vom Erwachsenenstrafrecht ja gerade dadurch ab, dass es den Entwicklungsstand der Jugendlichen berücksichtigt und ihm in seinen Urteilen auch versucht gerecht zu werden. Damit verbunden sind ein milderes Strafmaß als im Erwachsenenstrafrecht sowie ein der Verhängung von Jugendstrafe nach Möglichkeit vorausgehender Katalog an Weisungen, Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln.
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Sequenz 59-64: „s war das stand och mal groß in der zeitung das war auch so n (.) wie nannte sich das (.) na schauprozess (unverständlich) in d.-stadt hatten se da war das n konflikt was se da mal hatten das warn sechs jugendliche die da angeklagt warn die jemanden zu tode jeprügelt haben solln wo wo ich mir denke dass es nich klar bewiesen war aber eigentlich schauprozess oder vielleicht nicht näher ermittelt werden wollte so um das mal n bisschen zu werten na“
Piets Erzählung über die Haftstrafe eines befreundeten Jugendlichen wird durch eine kurze Darstellung der – nach Piets Meinung nicht nachgewiesenen – Straftat und des damit verbundenen Prozesses in dieser Sequenz detailliert. Die vorhergehende Sequenz kann daher sozusagen als Einleitung in die nun folgende dramatische Schilderung gesehen werden, wodurch sich der drastische Ausdruck weiter erklärt. Piet eröffnet die Darstellung der Hintergründe für die Haftstrafe des Freundes mit dem Hinweis, dass darüber „auch groß in der zeitung“ (59) berichtet wurde. Es handelt sich also um ein aufsehenerregendes Ereignis, in das er durch seine Bekanntschaft mit einem der Täter zumindest am Rande involviert war. Bei der Beschreibung der Ereignisse verwendet Piet nach kurzem Zögern und Suchen das Wort „schauprozess“ (60). Damit wird eigentlich ein in undemokratischen Regierungsformen verwendetes Gerichtsverfahren bezeichnet, in dem nicht die Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt steht, sondern die abschreckende Wirkung und das politische Interesse des Staates. Es geht dabei vorrangig darum, eine öffentlichkeitswirksame Sanktionierung im politischen Sinne zu erreichen und die Ideologie des Staates zu demonstrieren. Die Verurteilung der Angeklagten steht dabei bereits im Vorhinein fest. Für den von Piet geschilderten Fall bedeutet dies, dass es seiner Ansicht nach in dem Strafverfahren um die Anprangerung und Verurteilung rechts(extrem) orientierter Jugendlicher aufgrund ihrer politischen Orientierung ging. Weiterhin wird damit unterstellt, dass es sich um ein nicht gerechtfertigtes und begründetes Verfahren bzw. Verurteilung handelte. Piet konkretisiert seine bereits durch die Verwendung des Begriffes „schauprozess“ (60; 63) verdeutlichte Haltung zum Strafverfahren, in dem er den Hergang der Tat und die diesbezüglichen Ermittlungen von Polizei und Justiz in Frage stellt. Für ihn ist klar, dass es sich in dem von ihm geschilderten Fall um den Versuch des Staates handelt, die rechte Szene in Verruf zu bringen. Daraus erklärt sich auch, wie Piet die massive Gewaltanwendung, an der sein Freund maßgeblich beteiligt gewesen sein muss35 und die sogar zum Tod eines Menschen geführt hat, moralisch verleugnen kann. Sein Freund wird in diesem Sinne von ihm eben nicht hauptsächlich als Täter, sondern als aufgrund seiner politischen Gesinnung Verurteilter gesehen. Selbst für den Fall, dass Piet der Anwendung von Gewalt kritisch gegenüber stehen sollte, besteht für ihn durch die 35
Sonst wäre er in diesem Alter nicht zu einer Haftstrafe verurteilt worden.
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Bagatellisierung der Tat als „konflikt“ (60) zwischen Jugendlichen und einer weiteren Person sowie die Zweifel an der Richtigkeit des Strafverfahrens keine Notwendigkeit für eine Auseinandersetzung oder möglicherweise auch Abwendung von seinem Freund. Es stellt sich die Frage, warum Piet diese Erzählung in seine Biografie integriert. Es sind hier zwei Interpretationen denkbar, die miteinander verknüpft sein können. Zum einen verweist die Erzählung auf eine hohe Identifikation des Biografieträgers mit der rechten Szene, da Piet sich auch nach der Tat nicht von ihr distanziert. Er partizipiert vielmehr über seine Bekanntschaft mit einem der Täter quasi aus zweiter Hand an der Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Medien, oder überspitzt formuliert dem „Ruhm“ des Täters. Der moralische Druck von Schule und Umfeld auf die rechte Clique muss nach Bekanntwerden der Tat massiv gewesen sein. Dennoch scheint das eher zu einem festeren Zusammenschluss mit der Szene geführt zu haben. Über die Zugehörigkeit zu seiner rechten Clique könnte Piet ein inneres Gleichgewicht bzw. eine Stabilität erreicht haben, wodurch das durch die massiven biografischen Einschnitte aufgeschichtete Verlaufskurvenpotential vorerst aufgehalten werden konnte. Eine Abkehr von ihr würde mit der Gefahr einer Entstabilisierung dieses labilen Gleichgewichts der Alltagsbewältigung einhergehen („Trudeln“, Schütze 2006, S.215). Die Erzählung ist für die Biografie also deshalb relevant, weil die Zugehörigkeit zur rechten Szene bereits zu diesem Zeitpunkt eine starke, weil Verlaufskurven-unterbrechende Funktion für Piet hatte. Zum anderen kann die Schilderung dieses Falles als Aufhänger für eine erste Darstellung der eigenen politischen Überzeugung gesehen werden. Deutlich wird in jedem Fall, dass es sich bei Piet nun nicht mehr um einen „Mitläufer ohne Ahnung“ handelt. Dies kann daraus geschlossen werden, dass Piet ganz klar gängige Sichtweisen und Darstellungen der Szene vertritt36, die auch darauf schließen lassen, dass er diesbezügliche Schulungen durchlaufen hat. Dafür spricht auch seine anfängliche Suche nach dem Begriff „schauprozess“ (60), was eine szenetypische Deutung ist. Es ist allerdings fraglich, ob Piet die entsprechenden Einstellungen und Zugehörigkeiten bereits zum Zeitpunkt des Geschehens hatte, da er damals erst vierzehn Jahre alt war. Wahrscheinlicher ist, dass er die Ereignisse aus seiner heutigen Sicht kommentiert und inzwischen stärker in die Szene involviert ist. Piet stellt seinen weiteren Weg in die rechte Szene also hier nicht direkt dar, sondern er verdeutlicht seine mittlerweile entwickelte Anschauung indirekt über die Einbeziehung des spektakulären „Falles“ aus seiner unmittelbaren Umgebung. 36
Die Verleugnung von Straftaten und ihre Umkehrung in einen (politischen) Angriff des Staates ist ein typisches Instrument der Szene, um durch ihre nach dieser Logik ungerechtfertigte Verfolgung ein Märtyrer-Image zu propagieren.
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Sequenz 64-67: „nee wie jesacht und achte klasse war eigentlich immer noch so dass ich nich mir nich viel aus schule jemacht habe so nich groß war nich so meine welt und bin jekommen und jegangen wann ich wollte eigentlich aber ebend noch in nem gewissen maße also nich allzu krass dass ich sage ich war nie da oder (.)“
Mit dem Rahmenschaltelement „nee wie jesacht“ (64) kehrt Piet unvermittelt zu seiner Schullaufbahn und damit der Haupterzähllinie zurück und beendet das vorhergehende Thema. Die Erzählung über die spektakuläre Tat und den damit verbundenen Strafprozess wurde von ihm sozusagen als Exkurs bzw. starke Detaillierung in die Darstellung seiner Biografie eingefügt, was vermutlich hauptsächlich dazu diente, seine politische Orientierung zu verdeutlichen. Durch das „wie jesacht“ (64) versucht er nun, den Bogen wieder zu seiner Schullaufbahn zu schließen. Es ist in diesem Sinne lediglich ein Füllwort zur thematischen Überleitung, da er die folgenden Inhalte eben noch nicht dargestellt hat und bekräftigt auch sein schulisches Desinteresse zu diesem Zeitpunkt. Piet knüpft in seiner Erzählung mit der achten Klasse an. Er interessiert sich zu dieser Zeit kaum für die Schule und nimmt auch öfters nicht am Unterricht teil. Allerdings findet sein Schwänzen noch weitgehend kontrolliert statt, nämlich so, dass ihm keine weitreichenden Nachteile und Konsequenzen drohen. Dies lässt vermuten, dass Piet – auch wenn die Schule ihn eigentlich nicht interessiert – doch um die Bedeutung eines Schulabschlusses weiß und diesen nicht gefährden will. Piet akzeptiert also die mit der Schule verbundenen Regeln zwar von ihrem Grundsatz her, bricht sie aber dennoch, zumindest so lange, wie ihm keine ernsthaften Konsequenzen drohen. Durch das von Piet in Zusammenhang mit seiner Schulunlust verwendete „immer noch“ (64) wird weiterhin deutlich, dass Piet bereits über einen längeren Zeitraum kein Interesse an der Schule hatte. Es ist durchaus möglich, dass der Wechsel auf eine Sekundarschule und eben nicht auf das Gymnasium damit im Zusammenhang steht. Denkbar wären hier mehrere Varianten. Entweder Piets Ablehnung der Schule begründet sich aus einem Versagenserlebnis, also daraus, dass er die für den Besuch des Gymnasiums erforderlichen Leistungen trotz Bemühen nicht erreicht und deshalb quasi aufgegeben hat. Oder aber sein Desinteresse an der Schule bestand schon vorher, weshalb er gar nicht erst um die entsprechenden Leistungen gekämpft hat. Hier wäre wiederum denkbar, dass er trotzdem davon ausgegangen ist, seine Leistungen würden schon irgendwie für den Besuch des Gymnasiums ausreichen und durch die Konfrontation mit der Realität enttäuscht war. Interessant ist, dass auch im Zusammenhang mit seinem häufigen Schwänzen Piets Eltern bzw. deren Reaktion nicht erwähnt werden. Es scheint, als ob Piet in diesem Alter bereits sämtliche Entscheidungen alleine getroffen und keiner elterlichen Kontrolle mehr unterlegen hätte. Ob dies tatsächlich so war, oder ob Piet diesbezügliche Interventionsversuche der Eltern nicht erwähnt, bleibt offen.
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Sie scheinen aber – sofern sie stattgefunden haben – keinen nennenswerten Einfluss auf sein Handeln gehabt zu haben. Sequenz 67-73: „joah und neunte klasse hab ich s irgendwann mal mitbekommen dass es vielleicht nich spaß macht zu lern der spaß nich aber dass man wenn man zuhört dass man das eigentlich dann och kann und hab mich dann in der neunten kann man so sagen n bisschen jedreht und (langgezogen) joah ging dann och offwärts habe mich dann och zum klassen..besten entwickelt und habe dann das hab ich dann weiter bis zur zehnten fortgesetzt und habe dann das beste zeugnis bis in der zehnten absolviert“
In der neunten Klasse findet in Piets Einstellung zur Schule und zum Lernen ein grundlegender Wandel statt. Zwar hat er immer noch keinen Spaß am Lernen, jedoch entdeckt er den Spaß am Erfolg. Wie es zu dieser Veränderung gekommen ist, wird von Piet nicht thematisiert. Sein Wandlungsprozess scheint sich allerdings nicht aufgrund äußerer Zwänge, sondern eher aus einer intrinsischen Motivation heraus ergeben zu haben. Er macht die Erfahrung, dass es bereits ausreicht, im Unterricht zuzuhören, um den Stoff aufzunehmen und schließlich auch zu können.37 Das Lernen fällt ihm augenscheinlich also nicht sehr schwer. Sein verändertes Verhalten in der Schule führt zu einer gravierenden Verbesserung seiner Leistungen, die schließlich darin gipfelt, dass er zum Klassenbesten wird. Sein Handeln wirkt hier eigenständig und zielstrebig. Seine Bereitschaft, sich auf Dinge, die ihn interessieren intensiv einzulassen, erstreckt sich nun nicht mehr nur auf die rechte Szene, sondern auch auf seine schulische Karriere, womit der Beginn der Entwicklung eines biografischen Handlungsschemas verbunden ist. Sequenz 73-74: „joah dann wusst ich konnte ich mich nicht entscheiden was ich machen wollte oder besser gesagt ob ich beruflich was machen möchte oder nich (.)“
Nach seinem Realschulabschluss ist Piet bezüglich seines weiteren Ausbildungswegs unsicher. Allerdings bezieht sich seine Unsicherheit nicht auf die Möglichkeiten etwas machen zu können, sondern ausschließlich auf seine bislang noch unklaren Wünsche. Darüber zeigt sich ein hohes Selbstbewusstsein, das mögliche Schwierigkeiten bei der Berufsfindung, die in der Arbeitsmarktsituation begründet sind, nicht in Betracht zieht. Es ist wahrscheinlich, dass dies auch 37
Aus dem Kontextwissen geht hervor, dass Piet eine Rechtschreibschwäche hat, was er jedoch in der Stegreiferzählung nicht erwähnt. Vor diesem Hintergrund kann Piets vorübergehend ablehnende Einstellung gegenüber der Schule in einem anderen Licht gesehen werden. Es ist nicht auszuschließen, dass die Rechtschreibschwäche für ihn mit negativen schulischen Erfahrungen verbunden war, die schließlich zu einer Schulunlust trotz seiner eigentlich guten Leistungsfähigkeit führten. Sein in der neunten Klasse aufkommender schulischer Ehrgeiz könnte dann wiederum einem positiven Erlebnis entsprungen sein und/oder auch seiner zunehmenden Reife, durch die frühere negative Erfahrungen zugunsten von bestimmten Zielen in der Zukunft relativiert wurden.
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auf seinen schulischen Erfolg in den letzten beiden Schuljahren und seinen sehr guten Abschluss zurückzuführen ist. Auffällig ist seine Formulierung „besser gesagt ob ich beruflich was machen möchte oder nich“ (74). Dies impliziert die Alternative, nach der Schule keine weitere Ausbildung zu machen, was jedoch nicht mit dem von ihm entwickelten zukunftsorientierten schulischen Ehrgeiz zusammenpasst. Es ist denkbar, dass Piet hier dem weiteren Verlauf seiner Erzählung vorgreift, in dem das Abitur und ein mögliches Studium thematisiert werden. Möglicherweise verbindet er mit der Bezeichnung „beruflich“ (74) vorrangig eine Ausbildung, während einem Studium das Abitur vorausgehen müsste, also die Fortsetzung seiner Schullaufbahn. Dieser Weg würde dann bedeuten, dass er (zunächst) nichts „berufliches“ macht. Sequenz 74-78: „und hatte mich zwar beworben als zahntechniker da (langgezogen) war ich och also bin ich och schon durch de bewerbungstests gekomm aber der hatte dann doch dann kurzerhand jemanden vom arbeitsamt genommen der schon ausgelernt war wollte keen mehr anlern weil er unbedingt unterstützung brauchte und irgendwie ein brauchte der das schon kann (.)“
Trotz dieser für ihn ungeklärten Frage nach seinem weiteren beruflichen Lebensweg hat Piet sich für eine Lehrstelle als Zahntechniker beworben, die er jedoch nicht bekommen hat. Piet spricht allerdings nicht von einer Lehrstelle sondern von einer Bewerbung als Zahntechniker, was, da letztlich auch ein solcher eingestellt wurde, vermuten lässt, dass kein Lehrling, sondern ein fertig ausgebildeter Mitarbeiter gesucht wurde. Er betont, dass sein Scheitern nicht in seiner Verantwortung lag („bin ich och schon durch de bewerbungstests gekomm“ 75-76), sondern vielmehr in äußeren Umständen begründet war. So hat sich Piet zwar durch seine Kompetenzen für eine Lehrstelle qualifiziert, es scheiterte dann aber daran, dass die Firma einen bereits ausgelernten Mitarbeiter benötigte. Damit handelte es sich um eine Bedingung, die Piet aus seiner Sicht nicht erfüllen konnte und an der er kein eigenes Verschulden trug. Die Formulierung der potentielle Arbeitgeber hätte „dann doch dann kurzerhand jemandem vom arbeitsamt genommen“ (76-77) und der anschließende Nachtrag „weil er unbedingt unterstützung brauchte“ (78), unterstreichen die Entscheidung zu Piets Ungunsten aufgrund firmenpolitischer Notwendigkeiten. Allein die bereits abgeschlossene Ausbildung gab den Ausschlag für die Vergabe der Stelle an einen anderen als ihn. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Piet seine Ablehnung hier in dieser Form darstellt, weil er sie als unangenehm und enttäuschend erlebt hat. Eine Ablehnung seiner Bewerbung aus Gründen die in seiner Person liegen, wäre für Piet vermutlich schlecht zu verkraften gewesen und wird deshalb von ihm so stark negiert.
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Es wird weiterhin deutlich, dass Piet trotz seines im Zusammenhang mit der letzten Sequenz herausgearbeiteten Selbstbewusstseins wohl noch nicht bereit ist, sich ernsthaft mit dem Arbeitsmarkt auseinanderzusetzen, da er nur eine Bewerbung geschrieben hat und bereits bei der ersten Absage in Selbstwertkonflikte gerät, die er durch die Externalisierung möglicher Ursachen für seine Ablehnung zu regulieren versucht. Seine Idee, Zahntechniker zu werden, scheint überdies kein ausgereifter und feststehender Berufswunsch gewesen zu sein, da er sich sonst intensiver durch mehrere Bewerbungen bei verschiedenen Firmen um eine Lehrstelle bemüht hätte. Sequenz 79-85: „ja und da hatt ich aber parallel dazu hatt ich ne ähm ne bewerbung ans fachgymnasium e.-stadt mit bereich wirtschaft geschickt und dann hab ich gedacht machst erstmal noch die drei jahre stehst dann eh mitm abi dann denk ich im end.. steht man im endeffekt immer noch besser da und ermöglicht einem dann och noch mehr möglichkeiten dann irgendwie vielleicht zu studieren oder andre wege einzuschlagen joah und jetzt bin ich in der elften Klasse und mach abi (..)“
Piet ist sich darüber im Klaren, dass sich seine späteren beruflichen Chancen durch einen höheren Schulabschluss verbessern und sich ihm dadurch neben der Möglichkeit, eine Lehre zu absolvieren auch noch die Option auf ein Studium eröffnet. Das Fachabitur wird von ihm auch aus eben diesem Kalkül heraus angestrebt. Seine oben angesprochene Unsicherheit über seinen weiteren Weg nach dem Realschulabschluss bezog sich daher wahrscheinlich wie vermutet auf die Entscheidung zwischen dem Absolvieren einer Ausbildung und einem weiteren Schulbesuch mit dem Ziel, das Abitur abzulegen. Aus diesem Grund hat sich Piet in beide Richtungen beworben und kann nach dem Scheitern seiner Pläne, Zahntechniker zu werden, auf einen Alternativplan zurückgreifen. Seine sich indirekt fast durch die gesamte Schulbiografie ziehende Auseinandersetzung mit dem Thema „Gymnasium“ löst sich nun dadurch auf, dass Piet am Fachgymnasium angenommen ist. Auch hier vermittelt sich wiederum der Eindruck einer selbständig getroffenen Entscheidung und auch einer ihr vorausgehenden Beschäftigung mit dem Thema, bei der weder die Eltern noch andere Bezugspersonen eine Rolle gespielt haben. Es zeigt sich bei Piet nun ein biografisches Handlungsschema einer langfristigen Leistungsorientierung, was die Vermutung nahe legt, dass seine frühere Ablehnung der Schule möglicherweise auf Versagensängste zurückzuführen ist, die sich aus nicht benannten Gründen in der neunten Klasse gelöst haben. Denkbar wäre hier das Wiedererlangen von Selbstsicherheit und Vertrauen in die eigene Handlungskompetenz durch die soziale Einbindung in den rechten PeerZusammenhang und die darüber erfahrene Anerkennung. Erst durch das dadurch wiedererlangte Gleichgewicht werden Ressourcen frei, die eine Neuorientierung auch in anderen Handlungsfeldern ermöglichen.
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Über die Schilderung seiner Aufnahme am Fachgymnasium ist Piet mit seiner biografischen Stegreiferzählung in der Gegenwart angekommen. Er beendet seine Erzählung mit der folgenden Erzählcoda: Sequenz 85-87: „so und die interessanten stellen ausgelassen wa (...) tja (...5) ich fühl mich jetzt hier n bisschen ich weeß nich was ich noch erzählen soll (I.: lachen) das war jetzt so mein mein n kurzüberblick über mein leben sozusagen“
In dem Abschluss seiner Erzählung kommt Piets Unsicherheit bezüglich des nun folgenden weiteren Verlaufs des Interviews bzw. der Interviewsituation überhaupt zum Ausdruck – „ich fühl mich jetzt hier n bisschen ich weeß nich was ich noch erzählen soll“ (85-86). Dies wird durch das Abwarten des Interviewers, ob Piet noch etwas hinzufügen möchte noch verstärkt. Aus der vermutlich scherzhaft gemeinten Formulierung „so und die interessanten stellen ausgelassen wa“ (85) geht hervor, dass Piet unsicher ist, ob er die von ihm vermuteten Erwartungen der Interviewerin an seine Erzählung erfüllt hat, aber auch, dass es noch interessante Stellen gibt und er sich darüber im Klaren ist, vieles undetailliert gelassen zu haben. Darin könnte sich auch weiterhin eine Anspielung auf das Thema der Untersuchung verbergen, nämlich insofern dass Piet glaubt, die Interviewerin hätte weitreichendere Erzählungen über sein Rechts-Sein erwartet. Der Hinweis darauf, dass es sich um einen „kurzüberblick“ (87) über sein bisheriges Leben handelt, kann als Aufforderung für die Interviewerin verstanden werde, weitere Nachfragen zu stellen, wenn sie eine ausführlichere Darstellung möchte. Es wird deutlich, dass Piet eine Rückmeldung benötigt, ob die angesprochenen Themen von Interesse sind und mit seiner Erzählcoda auslotet, ob er sie vertiefen und verdichten, sich also dem Erzählfluss überlassen soll. In der Stegreiferzählung werden von Piet die folgenden Themenkomplexe beschrieben:
die frühe Kindheit in der Familie (insbesondere in Bezug auf die Wohnorte und die finanzielle Situation), die Scheidung der Eltern, seine Erkrankung an Krebs und die Überwindung der Krankheit, die Schullaufbahn und die Wandlung seiner Einstellung zur Schule, der Einstieg in die rechte Szene, die Straftat und das anschließende Verfahren eines gleichgesinnten Freundes.
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4.2.2 Biografische Gesamtform – Das Erleben der eigenen Ohnmacht und die Wiedererlangung von Handlungskompetenz Piet ist bis zu seinem achten Lebensjahr in einer vollständigen Familie aufgewachsen und hat die Grundschule besucht. Bereits mit seiner Einschulung kam es in seinem Leben zu einer einschneidenden, wenn auch überwiegend positiven Zäsur, die aufgrund seines jungen Alters von ihm nicht beeinflusst werden konnte. Piets Familie zog aufgrund des beruflichen Erfolges des Vaters und eines damit verbundenen finanziellen Aufstieges in ein neues Haus in einer anderen Stadt. Zeitnah zu dieser Veränderung erfolgte Piets Einschulung. Nur kurze Zeit nach diesem biografischen Einschnitt – die vermuten lässt, dass Piet sich gerade in die neuen Lebensumstände eingewöhnt hatte – kam es zu einem dramatischen Wandel sich überstürzender Ereignisse mit hohem Verlaufskurvenpotential. Piets Eltern beschlossen ihre Trennung und der Vater zog aus. Nahezu gleichzeitig wurde bei Piet Krebs diagnostiziert und es begann ein langer Krankenhausaufenthalt. Piet erlebte also bereits in seiner frühen Kindheit sowohl positive als auch gravierend negative Veränderungen, die massive Auswirkungen auf ihn persönlich hatten, von ihm jedoch nicht beeinflusst werden konnten. Dieses Ausgeliefertsein wird von Piet in der Rekonstruktion seiner Biografie zugunsten einer nicht altersgemäßen Selbständigkeit und Entscheidungsgewalt umgekehrt, wodurch die langfristigen Auswirkungen, der vor allem krankheitsbedingt erlebten Hilflosigkeit deutlich werden. Piet versucht über die gesamte Erzählung hinweg ein Bild von sich selbst zu zeichnen, dass ihn überlegen in seinen Entscheidungen, souverän und handlungskompetent erscheinen lässt, obwohl dies aufgrund seines Alters häufig noch gar nicht in dem Maße möglich war. Andere Personen kommen höchstens als „Randfiguren“ vor, nicht aber als aktiv Einfluss nehmende Bezugspersonen. Eine Ausnahme ist hier der wiedergetroffene Kumpel, der ihn als „signifikanter Anderer“ (Mead 1993) mit der rechten Szene in Kontakt bringt und damit für Piet zur Erlangung von selbstbestimmter Aktivität (nämlich bei den Rechten) beiträgt. Das Erleben der eigenen Handlungsunfähigkeit aufgrund äußerer nicht beeinflussbarer Ereignisse und Umstände erzeugten bei Piet den Wunsch nach einer machtvollen Position, die es ihm erlaubt, eigenverantwortlich zu entscheiden und zu handeln, um dem Ohnmachtsgefühl der Kindheit zu entfliehen. Obwohl es sich bei diesen Themen um die dramatischsten und intensivsten Erlebnisse seiner Kindheit handelt, werden sie von Piet äußerlich relativ emotionslos geschildert und nur knapp skizziert. Sie nehmen insgesamt in der biografischen Erzählung nur einen kleinen Teil ein, während die Themen „Schulkarriere“ und „Einstieg in die rechte Szene“ weitaus umfassender dargestellt werden, vermutlich weil Piet sich zum einen hier als Akteur sieht und zum anderen weil sie nicht so viele belastende Emotionen hervorrufen. Mit der Trennung seiner Eltern ist die
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Familienthematik in Piets biografischer Erzählung beendet, was auf einen tiefen Bruch innerhalb seiner Lebenswelt verweist, der aus der Kombination der beiden dramatischen Ereignisse resultiert, die von ihm zeitgleich verarbeitet werden mussten. Das Thema Familie wird also im Weiteren aus seiner Biografie ausgeblendet und erst auf einen erzählgenerierenden Anstoß hin im Anschluss an die Stegreiferzählung aufgegriffen. Dies spricht jedoch gerade für eine hohe Bedeutung der familialen Hintergründe und Ereignisse, da durch die mit dem „Stegreiferzählen freigesetzte Erinnerungsdynamik“ ein Vorgang in Gang gesetzt wird, der „Erinnerungsbilder(n) des Gedächtnisses [...] wieder in Erlebnisabfolgen verflüssigt“ und somit auch die damit verbundenen Emotionen „verlebendigt“, was Piet zunächst aufgrund der ungewohnten Interviewsituation vermeiden möchte (Schütze 1987b, S.40). Die Auswirkungen seiner Krebserkrankung betrafen auch seine schulische Karriere. Zwar wurde Piet im Krankenhaus weiterhin unterrichtet, musste jedoch aufgrund seines langen Krankenhausaufenthaltes nach seiner Gesundung in die dritte Klasse zurückgestuft werden. Auch hier wurde er wiederum mit einer von ihm nicht beeinflussbaren Entwicklung konfrontiert, die vermutlich auch Auswirkungen auf seine schulische Motivation und seine Leistungen hatte. Piet wechselte dann auch nach der sechsten Klasse nicht auf das Gymnasium, sondern besuchte weiter die Sekundarschule. Die Einführung des Themas „Gymnasium“ zeigt jedoch, dass ein möglicher Wechsel auf diesen Schultyp zumindest im Bereich des Möglichen lag und im Raum stand. Wiederum zeitgleich mit der anstehenden schulischen Veränderung erfolgte Piets Einstieg in die rechte Szene über einen Kumpel. Hier erlebte sich Piet endlich aktiv handelnd und sein Leben gestaltend, wodurch die Wirksamkeit des aufgeschichteten Verlaufskurvenpotentials unterbrochen wurde und Piet zu einem neuen inneren Gleichgewicht gelangte. Er selbst hat den Weg in die rechte Szene gewählt, auch wenn er zunächst nur ein Mitläufer war. Schulkarriere und rechte Karriere verlaufen nunmehr parallel, wobei Piet den Schwerpunkt seines Engagements zu dieser Zeit eindeutig auf die Szene legte. Er findet nach der Umstrukturierung der Klassen im Zuge des Wechsels auf die Realschule weiteren Anschluss an ebenfalls rechts gesinnte Mitschüler, wodurch sich die Erzählstränge „Schule“ und „rechts“ verknüpfen. Gleichzeitig kann vermutet werden, dass Piet vorher weniger Freundschaften im schulischen Kontext hatte, was möglicherweise mit den krankheitsbedingten Turbulenzen in seiner Schulkarriere zusammenhing. Wie aus dem Nachfrageteil hervorgeht, wurde er auch öfters von anderen Kindern gehänselt (131-134). Mit der neunten Klasse fand erneut eine gravierende Veränderung in Piets Leben statt, allerdings eine von ihm bewusst gewählte und eigeninitiierte: Er entwickelte sich vom unmotivierten Schüler zum Klassenbesten. Die lähmenden Auswirkungen der durch die Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential erlebten
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Handlungsunfähigkeit wichen durch einen Wandlungsprozess der aktiven Gestaltung des eigenen Lebens. Der schulische Erfolg und seine weitere Involvierung in die rechte Szene liefen dabei von nun an nahezu parallel. Beides ist Ausdruck der wiedererlangten Handlungsfähigkeit. Seine Zugehörigkeit zu einer rechten Clique kann in diesem Zusammenhang durchaus als Auslöser für sein neu erlangtes schulisches Selbstbewusstsein und seine schulische Motivation interpretiert werden, da er über sie Anerkennung erfuhr, sich von anderen auf zumindest (wenn auch angstbedingte) Respekt einflößende Weise hervorhob und somit neues Vertrauen in seine Gestaltungsfähigkeit des eigenen Lebens gewann. Durch den schulischen Erfolg bestätigt, sah Piet sich nun in der Lage das Abitur zu absolvieren. Alternativ bewarb er sich um eine Lehrstelle zum Zahntechniker, wobei das Fachabitur aufgrund der sich damit eröffnenden Optionen des weiteren Berufsweges von ihm favorisiert wird. Mit der Annahme am Fachgymnasium wurden Piets schulische Bemühungen von Erfolg gekrönt. Es ist ihm somit gelungen, im Gegensatz zum Erleben der ihn betreffenden aber nicht von ihm initiierten dramatischen Ereignisse seiner Kindheit, selbständig und aktiv handelnd das eigene Leben zu gestalten und dem ihn lähmenden Verlaufskurvenpotential seiner Kindheit ein biografisches Handlungsschema in seiner Jugend entgegenzusetzen. Allerdings kann aus seinem die eigene Unabhängigkeit und Handlungskompetenz betonenden Erzählduktus, der durch die tatsächlichen Ereignisse und sein damaliges Alter widerlegt wird, geschlossen werden, dass Piet immer noch unter den Erlebnissen der Vergangenheit leidet, sie nicht vollständig verarbeitet hat und eine Selbstwertproblematik aufweist. Aus der egozentrierten sozialen Netzwerkkarte (Abb.10) geht hervor, dass:
Piet seiner Familie den größten Bereich in seinem Leben zuordnet, wobei ihm die Mitglieder der Kernfamilie gleich nah stehen, also auch Vater und Mutter hinsichtlich ihrer Bedeutung und Bindung den gleichen Stellenwert in seinem Leben haben. Lediglich zu seinen Großeltern stellt er durch den konkreten Ausschluss aus dem Nahbereich eine größere Distanz her. Piet eine Unterscheidung zwischen Kameraden und Freunden vornimmt, indem er ihnen zwei getrennte Bereiche zuordnet, wobei der Bereich der Kameraden deutlich größer ausfällt. Die Trennung unterstreicht die Relevanz des Rechtsextremismus in seinem Leben, da dieser auch in Bezug auf Freundschaften als Kriterium zumindest der Zuordnung dient.
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ihm einzelne Kameraden näher stehen als die unter einem Punkt zusammengefassten Freunde und einer sogar in Bezug auf seine Positionierung mit der Familie gleichauf liegt.
4.2.3 Familiale Beziehungsqualität und Erziehungshintergrund – Die Sehnsucht nach Konsequenz und väterlicher Strenge Die von Piet bereits in der Stegreiferzählung kurz beschriebenen einschneidenden Lebensereignisse Krankheit und Scheidung der Eltern werden von ihm im Nachfrageteil zum Thema Familie und Erziehung nach einer kurzen Einleitung wieder aufgegriffen und konkretisiert (107-127). Dadurch bestätigt sich die Vermutung, dass es sich hierbei um die bedeutsamsten und folgenreichsten Ereignisse in Piets Vergangenheit bzw. Kindheit handelt, die sein weiteres Leben und auch seine Erziehung stark geprägt haben. Obwohl Piets Eltern bereits auseinander gingen als er knapp acht Jahre alt war und er bei der Mutter verblieb, spricht er zu großen Teilen beim Thema Familie über seinen Vater respektive stellt einen Vergleich zwischen beiden Elternteilen bezüglich ihres jeweiligen erzieherischen Einflusses auf ihn an. „ich war och so sehr anhänglich an meinen vater wie jesacht war also die das hatten se damals nur verkannt (unverständlich) denk ich mal dass se bei mir den krebs später erkannt haben weils gerade die trennungsphase war und (langgezogen) ich ziemlich an meim vater hing also n sehr gutes verhältnis zu ihm habe im.. immer noch habe damals och hatte und ebend wenn er dann so wenn das dann so umging die familie verlassen und ich war och erst acht da hatten se dann gedacht dass mich das dann ganz schön mitnimmt hat mich auch mitgenommen also jetzt so physisch in dem sinne und das bisschen erkannt verkannt“ (107-114)
Piet beschreibt das Auseinandergehen seiner Eltern und den empfundenen Verlust des Vaters. Dabei werden von ihm sehr ausdrucksstarke Formulierungen verwendet („familie verlassen“ 112, „sehr anhänglich an meinen vater“ 107). Die Trennung der Eltern bedeutete für Piet also nicht nur den Verlust des Vaters im Hinblick auf die räumliche Dimension des Zusammenlebens, sondern regelrecht seinen Austritt aus dem familiären Alltag. Die damit für ihn verbundenen emotionalen Belastungen müssen sehr groß gewesen sein, da die Eltern zunächst davon ausgingen, seine körperlichen Beschwerden würden mit den familialen Problemen zusammenhängen. Dies hat letztendlich aus seiner Sicht dazu geführt, dass seine tatsächliche Erkrankung, also der Krebs, erst später festgestellt wurde (112114). Seine starke Bindung an den Vater drückt sich in der wiederholten Betonung des guten Verhältnisses aus. Piet ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Beziehung zu seinem Vater nicht nur in der Vergangenheit gut war, sondern auch heute noch in dieser Form besteht (109-111; 145-151; 170-171). Das Unglück der Trennung besteht somit nicht nur in der Tatsache allein, dass ein Elternteil
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weniger verfügbar ist, sondern vor allem darin, dass zu diesem Elternteil eine besonders starke Bindung besteht. Aus Piets Erzählung wird deutlich, dass der Vater zwar nach wie vor eine wichtige Rolle in seinem Leben spielte und spielt, er jedoch am alltäglichen Leben des Sohnes und vor allem an seiner Erziehung nach der Scheidung nicht mehr in dem Maße Anteil hatte, wie das von Piet gewünscht worden wäre, denn aufgrund der räumlichen Distanz „hatte (er) nich so richtich (.) nja also intensiv teil an“ seinem Leben (199; vgl. auch 199-226). Vor allem „so in der pubertät“ (206), wo das „ausjetestet wird wo liegen meine grenzen was kann ich machen was kann ich nich machen“ (210-211), fehlt der als „strenger“ und „konsequenter“ (219) als die Mutter erlebte Vater. Piet sieht hierin einen Nachteil gegenüber Kumpels in seinem Umfeld, deren Väter diese Rolle während der Pubertät ihrer Söhne wahrgenommen haben. Während seine Kumpels also Grenzen setzende und Orientierung stiftende männliche Autoritätspersonen an ihrer Seite hatten, sah er sich mit der aus seiner Sicht nachgiebigen und inkonsequenten Mutter allein (206-226). Der Vater fehlte ihm dabei nicht zuletzt als „Reibungspunkt“ bei der Auseinandersetzung mit der im Laufe der Adoleszenz zu bewältigenden Entwicklungsaufgabe der Übernahme einer Rolle als Mann und der Herausbildung einer damit verbundenen Identität. Dies kommt auch im Zusammenhang mit der Entwicklung von Piets rechtsextremistischer Orientierung oder dann, wenn Piet was „angestellt“ (202) hat zum Tragen. Der Vater bekam aufgrund des getrennten Alltagslebens längere Zeit nichts davon mit und wurde von Piet darüber auch nicht informiert, wodurch sich keine Konsequenzen ergaben („wie jesacht was er nich weiß kann er nich drauf reagiern“ 203-204; vgl. auch 699-704). Hier entfaltet sich ein Widerspruch zwischen Piets Suche nach klaren Grenzen durch Autorität und seinem gleichzeitigen Vermeidungsverhalten, um eben jene Konsequenzen, die er eigentlich herbeisehnt, zu verhindern. Dies lässt darauf schließen, dass Piet Strukturen gebraucht hätte, in denen ein Ausweichen unmöglich ist, da selbst die von ihm positiv beschriebene Autorität seines Vaters nur in dem sehr eng gesetzten Rahmen des täglichen familialen Zusammenlebens wirksam war. Aus dem mangelnden Wissen des Herrn Schmidtlach um Piets problematisches Verhalten kann weiterhin gefolgert werden, dass auch Frau Schmidtlach ihn nicht darüber informiert hat. Dies kann auf eine trennungsbedingt möglichst vermiedene Kommunikation bzw. Begegnung zurückzuführen sein oder aber auch auf den Wunsch von Frau Schmidtlach, sich selbst und ihren Sohn gegenüber dem Vater bezüglich ihrer Schwierigkeiten nicht bloßzustellen. Frau Schmidtlach hat Piet somit zwar einen uneingeschränkten Umgang mit seinem Vater ermöglicht, eine weiterhin zwischen den Eltern abgestimmte Erziehung im Sinne einer „Elternallianz“ (Schneewind 2008, S.266) scheint es jedoch nicht gegeben zu haben. Der Vater war
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insgesamt durch die Trennung von der täglichen Erziehung „n bisschen ausjeschlossen“ (218) und hatte keinen entscheidenden Einfluss mehr auf Piets Entwicklung. Für Piet brach also mit dem Auszug des Vaters seine Autoritätsperson weg. Zwar wird er von ihm als „nich sehr autoritär“ (104) beschrieben, im weiteren Verlauf der Erzählung folgt jedoch „aber der war ebend so meine aut.. also die wo man jetzt sagt mami ist die liebe und papi is so n bisschen der böse“ (105106). Die Bezeichnung des Vaters als Autoritätsperson nachdem er als nicht sehr autoritär beschreiben wurde, stellt für Piet wahrscheinlich einen sprachlichen Widerspruch in seiner Erzählung dar, so dass er abbricht und stattdessen mit einer Umschreibung anknüpft. Aus der von Piet getroffenen Rollenzuschreibung der Eltern geht hervor, dass es sich beim Vater um den in der Erziehung strengeren und grenzsetzenden Part gehandelt hat, während die Mutter eher nachgiebig war. Sie wurde von ihm als „nich so ne sehr autoritäre person“ (97) wahrgenommen, sondern hat in ihrer Erziehung eher auf an die Vernunft appellierende Gespräche gesetzt (98-103)38. Piet wusste bei seiner Mutter „wo se dann nachgibt“ (222) oder wo er „noch was austesten kann“ (222-223). Der Vater dagegen war „konsequenter“ (241) und „stur“ (241), er hat sich „durchjesetzt“ (223). Piets Problem mit der Akzeptanz von Grenzen und Regeln hat sich somit mit der Trennung der Eltern und dem damit verbundenen Wegfall des täglichen Einflusses durch den Vater verstärkt. Dies wird für ihn vor allem während der Pubertät spürbar, da Piet den Vater als identitätsstiftenden und Grenzen setzenden Gegenpart vermisst. „ich hab das dann bei vielen kumpels jesehn die dann eben bei ihrn eltern immer anjeeckt bei seim vater und so […] wo dann eigentlich so so der vater da wo die wo die wo diese diese machtstellung will ich jetzt nich sagen aber wo s eben ausjetestet wird […] wo liegen meine grenzen was kann ich machen was kann ich nich machen (I.: hm) und dann irgendwo dieser dieser punkt is ah von dir lass ich mir nichts mehr sagen und der vater dann doch noch eigentlich einwirken will und das war wie jesacht das war bei meim vater nich den hab ich das wochenende jesehn“ (206-214)
Insbesondere aus der Formulierung „von dir lass ich mir nichts mehr sagen und der vater dann doch noch eigentlich einwirken will“ (212-213) wird der Hintergrund von Piets Verhalten sichtbar. Er handelte im Sinne einer jugendtypischen Provokation, die immer auch eine Reaktion heraus- und einfordert, um darüber Orientierungen für die eigene Entwicklung abzuleiten. Die an die Vernunft appellierende und auf Gespräche setzende Reaktion der Mutter scheint nicht die Intervention zu sein, die bei Piet die Impulse setzt, die er braucht. 38
Piet sagt an dieser Stelle „sie versuchts heute noch also heute nich mehr jetzt bin ich achtzehn“ (98-99), womit er seine mittlerweile in seinen Augen erreichte Unabhängigkeit vom Elternhaus und seinen Erwachsenenstatus betont.
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„ich habe grenzen jesucht irgendwo aber die lagen bei meiner mutter eben ziemlich hoch und ich denke ma dass ich also jetzt für mich jetzt persönlich würde ich sagen da.. dass ich irgendwo g.. ähm mehr autorität gebraucht hätte oder irgendwo das mer mir eher grenzen jesetzt hat“ (154-158)
Das tatsächliche Durchsetzen eines Verbotes durch die Mutter hat dementsprechend bei Piet einen solchen Eindruck hinterlassen, dass ihm das Ereignis heute noch gut im Gedächtnis ist. Er erzählt in diesem Zusammenhang von dem Erwerb seines ersten und letzten Paares Springerstiefel im Alter von vierzehn Jahren. Die Mutter hatte ihm dies zuvor ausdrücklich verboten und ihm die dennoch gekauften Stiefel mit dem Hinweis weggenommen, dass er sie zu seinem achtzehnten Geburtstag zurück erhält, was sie dann auch konsequent umsetzte (266-286). Die mittlerweile viel zu kleinen Stiefel hat Piet als „andenken“ (283) aufbewahrt. Zwar hat er gegen die damals von der Mutter gesetzte Grenze stark rebelliert und war „richtich lange sauer“ (287), das gesetzte Verbot hat er letztendlich aber akzeptiert und eingehalten. „tja und seitdem hatt ich och keine springer (.) hab ich mir och nie wieder jeholt weil (.) ähm zwecks was weeß ich dann so n versteckspiel also weil ich jenau jewusst hätte dann wärn se widder weg jewesen und was soll ich mir dann nochmal das ich meine billich warn die och nich“ (283-286)
Die tatsächlich erfahrene Konsequenz seines Handelns hat zwar damals nicht die Einsicht in den Hintergrund der gesetzten Grenze zur Folge, aber zumindest hält Piet sie ein, um erneute unangenehme Folgen zu vermeiden. Die Aufbewahrung der Stiefel im Sinne eines Andenkens an diese Auseinandersetzung mit der Mutter zeigt, wie sehr in dieses Erlebnis trotz seiner Auflehnung dagegen beeindruckt hat. Insgesamt wurden Konflikte in und mit seinem Elternhaus von Seiten der Mutter durch Gespräche zu lösen versucht, wobei Piet lange Zeit zu Jähzorn und Wutausbrüchen insbesondere gegenüber seiner Schwester neigte (100; 228-263; 266-267; 294-304). Frau Schmidtlachs Bestreben in der Erziehung war es, Piet eigenständige Erfahrungen mit seiner Umwelt machen zu lassen, damit er durch gespürte negative Konsequenzen selbst erkennt, was er zukünftig vermeidet. Insofern wurde auf sein Verhalten von ihr zumeist auch nicht mit negativen Sanktionen, sondern mit über Gespräche vermittelten Denkanstößen reagiert (397404). Die auch erziehungsbedingte Problematik innerhalb seines Aufwachsens wird von Piet klar erkannt und reflektiert. Das für Piet ungünstige Erziehungshandeln seiner Mutter und die damit einhergehende unerfüllte Sehnsucht nach Halt und Orientierung müssen für Piet einschneidende Erfahrungen gewesen sein, da er sich bereits im Alter von 18 Jahren grundlegend damit auseinandergesetzt hat.
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Nach dem Weggang des Vaters aus der Familie betrachtet sich Piet als von der Mutter „groß jezogen“ (153), wobei für ihn wahrscheinlich auch denkbar gewesen wäre, zum Vater zu ziehen (145-151). Es kann aufgrund von Piets ausführlicher Erzählung über seinen Vater auf eine starke Identifikation mit ihm geschlossen werden und er nun, allein im Haushalt mit zwei Frauen, die beide bemüht waren, erzieherisch auf ihn einzuwirken (177-181), das Gleichgewicht zu seinen Ungunsten verschoben sah. Dies erscheint umso wahrscheinlicher, weil Piets Schwester eher mit dem Erziehungsstil der Mutter harmoniert, ihm zunächst auch schulisch überlegen war und er somit als „gegenteil“ (95) der Schwester bzw. „droffgänger“ (95) und gleichzeitig Kranker zum Problemkind wurde. „also bei meiner schwester hat das immer gut angeschlagen also die war auch vernünftig und die hat die war nich so und ich war halt jemand der immer (.) immer alles so n bisschen waghalsig und da riskant“ (101-103)
Aus Piets Erzählung werden an dieser Stelle drei Dinge deutlich. Zum einen wird der Schwester Vernunft zugesprochen, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Piet sich selbst als unvernünftig betrachtet. Zum zweiten ist aber auch erkennbar, dass er seine waghalsige und riskante Art durchaus positiv im Sinne eines männlichen und vermutlich am Vater orientierten Charakterbildes einordnet. Zum dritten kann aus der Art seiner Erzählung die mittlerweile erfolgte Harmonisierung der Beziehung zu seiner Schwester geschlossen werden, da er ihre Verschiedenheit, die für ihn lange Zeit problematisch war („früher hatt ich se gehasst“ 189)39, ohne negative Wertung feststellt. Mit der Diagnose seiner Krankheit veränderte sich Piets Leben drastisch, was für ihn auch im Umgang seiner Familie sowie seines gesamten Umfeldes mit ihm spürbar wurde. „also ich denk mal ich wurde dann in der zeit ziemlich ziemlich verzogen also was heißt verzogen verzogen nich aber ich denk ich hätte ich wu.. also ich wurde später dann also immer so (.) wie soll man sagen na ja früher in meim kreis wurde immer jesagt oh der arme junge der hat ja krebs und wurde immer so n bisschen verhätschelt“ (118-122)
Seine nach der Scheidung ohnehin sehr liberale und wenig strenge Erziehung durch die Mutter wurde durch die Diagnose Krebs noch lockerer. Das Wort „verhätschelt“ (122) drückt darüber hinaus aus, dass Piet wohl aus seiner Sicht nicht 39
Piets Verhältnis zu seiner Schwester war lange Zeit von ständigen Auseinandersetzungen und Aggressionen geprägt, die wahrscheinlich aus ihrer Unterschiedlichkeit im Wesen resultierten und schließlich in den unterschiedlichen politischen Weltanschauungen eskalierten: „wir hatten uns da richtig jezofft weil ähm weil sie meiner meiner meinung oder meiner weltanschauung eigentlich ziemlich kontra is also entgegen sie war och immer offm gymnasium offm gymnasium konnte eben das nich so verstehn meine freunde meine (.) meine umgangsart und welches leben ich oder welche was ich oder was ich so gemacht habe und wie ich nur so sein kann und alles was ich mir rausnehme“ (172-177; vgl. auch 243-263).
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seinem Alter entsprechend behandelt und auch gefordert, sondern vielmehr aufgrund seiner Krankheit stark behütet und umsorgt wurde. Dies erlebte Piet einerseits als „anjenehm“ (123), anderseits hinterfragt er aus heutiger Sicht, ob das für seine Entwicklung (und auch für das damalige Leben seiner Schwester) gut war (120-131). Dazu kommt, dass Piet aufgrund seiner Krankheit nicht nur mit dem ihm entgegengebrachten Mitleid, sondern auch mit Hänseleien anderer Kinder in seinem Umfeld umgehen musste (131-133) und er somit unter Druck stand, sich anderen gegenüber behaupten zu müssen, um als gleich stark akzeptiert zu werden. Aus dieser Situation heraus, die durch die Trennung der Eltern noch gravierend verschärft wurde, hat sich bei Piet wahrscheinlich eine Selbstwertproblematik entwickelt, da er sich gegenüber Gleichaltrigen in seinen Handlungsmöglichkeiten und sicher auch möglichen Verantwortlichkeiten unterlegen sah. Daraus könnte sich zum Teil sein auffälliges Streben nach Macht und der Anerkennung seiner Autorität innerhalb einer jugendlichen Gruppierung erklären. Die Betreuung durch die Eltern während seines Krankenhausaufenthaltes und auch darüber hinaus erlebte Piet als umfassend und intensiv. Der Vater hatte die Mutter in seiner Firma pro forma angestellt, damit sie sich ohne finanzielle Sorgen rund um die Uhr um Piet kümmern konnte. Dennoch ist Piet noch die Merkwürdigkeit der zwischen den Eltern zur Verhinderung einer Begegnung abgesprochenen Besuchszeiten in Erinnerung (123-128; 136-142). Dies und die Tatsache, dass er die Thematik „Krankheit“ abbricht, um erneut auf die Trennung zu sprechen zu kommen, belegt wiederum die Dramatik, die für Piet mit dem Auseinandergehen der Eltern verbunden war. Piets massive Grenzüberschreitungen gegenüber seiner Familie schränken sich in seiner Darstellung mit dem sechzehnten Lebensjahr ein, weil ihn „de vernunft erwischt“ (160) hat und er „ruhiger“ (161) geworden ist. Ob und wenn ja welchen konkreten Hintergrund diese bereits in der Stegreiferzählung beschriebene und nun im Nachfrageteil von Piet wieder aufgegriffene Veränderung seiner Person hat, wird von ihm nicht erläutert. Nahe liegt dass hier ein Zusammenhang mit der Überwindung der Pubertät und der bereits thematisierten Selbstwertschöpfung aus der Zugehörigkeit zur rechten Szene besteht, die dazu führt, dass Piet in anderen Lebensbereichen wie Schule und Familie anders agieren kann. In diesem Zusammenhang löst sich insbesondere auch die gespannte Konkurrenzsituation zu seiner Schwester, da Piet sich ihr nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen schulischen Erfolge und dem damit verbundenen Wechsel auf das Gymnasium nicht mehr unterlegen fühlt. Im Alter von sechzehn Jahren durchläuft Piet also einen Wandel, der in einer Verselbständigung seiner Person insgesamt und einer veränderten Einstellung zu seinem schulischen Werdegang mündet. Aus seiner argumentativen und
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eigentheoretischen Formulierung „dass ich dann selbständiger geworden bin was ich vorher eigentlich lange nich war“ (167-168) kann geschlossen werden, dass Piet sich bis zu diesem Zeitpunkt als nicht selbständig handelnd wahrgenommen hat, was sicherlich noch Folgeerscheinungen seiner krankheitsbedingten Schwäche und den damit verbundenen durch die Umwelt einsetzenden Schutz- und Schonmechanismen waren und im Widerspruch zu seiner sprachlichen Selbstdarstellung und der Darlegung seiner Biografie in der Stegreiferzählung steht. Der auf die Darstellung von Autonomie und Entscheidungsgewalt ausgerichtete Erzählduktus hat für ihn wahrscheinlich die Funktion, das schmerzhafte Erleben der eigenen Schwäche, des nicht altersgemäßen Umgangs durch die Umwelt mit ihm und des Verlustes von Handlungskompetenz zu kompensieren. Piets Einschätzung seiner Unselbständigkeit wird durch die von ihm beschriebene diesbezügliche Sorge seiner Mutter bestätigt, denn die ist vorher „n bisschen mit [ihm] verzweifelt“ (168-169). Trotz seiner oben beschriebenen durchscheinenden Kritik an der nachgiebigen Erziehungshaltung der Mutter beschreibt Piet das Verhältnis zu ihr, wie auch zu seiner Familie überhaupt als sehr gut (110-111; 187-188; 233-234). Dies wird auch durch die egozentrierte-soziale Netzwerkkarte bestätigt, in der Piet seine engeren Familienmitglieder alle in etwa gleich nah an sich heranrückt. Im Gegensatz zum Vater, vor dem er Unangenehmes zum Teil verheimlicht bzw. aufgrund der räumlichen Distanz auch leichter verheimlichen kann (198-205), ist Frau Schmidtlach für Piet jedoch auch Ansprechpartnerin für seine Probleme. Ihr kann er „alles erzähln sie hört sich das och an was ihr nich passt sagt sie mir […] aber im endeffekt isses mein ding was ich mache“ (234-236). Der Grund, warum gerade Frau Schmidtlach als uneingeschränkte Vertrauensperson gesehen wird, könnte darin liegen, dass sie aufgrund des täglichen Zusammenlebens mit Piet einen intensiveren Zugang zu seiner Alltagswelt und den damit verbundenen Ereignissen und Problemen hat. Hinzu kommt, dass sie möglicherweise eben gerade aufgrund ihrer liberalen Einstellung zum Ansprechpartner wird, weil Piet von ihr Verständnis erwarten kann und kaum negative Konsequenzen zu befürchten hat. Deutlich wird in jedem Fall die gute familiale Beziehungsqualität des Eltern-Kind-Verhältnisses, wobei Piets Mutter auch hier eher als zuhörender und begleitender Beistand, denn als Rat gebende Autorität fungiert. Aus Piets verworrener und verwaschener Sprechweise, die für ihn zwar typisch ist, aber bei der Erzählung über die Trennung der Eltern und seine gleichzeitig auftretende Krankheit verstärkt auftritt, kann eine mit dieser Thematik verbundene große Emotionalität gefolgert werden.
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4.2.4 Wünsche, Werte, Zukunftspläne – „was wünsche ich mir (…) hmm das ich zaubern könnte dann kann ich mir immer so viele wünsche erfülln wie ich will“ (1050-1051) Zu den Fragen, die Emotionen, Werte und Zukunftspläne betreffen äußert sich Piet fast durchgängig auch mit rechtsorientierten bzw. rechtsextremistischen Inhalten. Daraus ist erkennbar, welche feste Größe seine Zugehörigkeit zur rechten Szene in Piets Leben ist. Seine Einstellung ist durchdacht und verfestigt, da sie sowohl emotionale Bereiche als auch seine Zukunftspläne und Vorhaben dominiert (vgl. etwa 886-889; 900-972; 980-986; 1003-1024; 1052-1054). Für seine Zukunft möchte Piet, dass seine Kinder ohne „diese janze rassenmischung“ (857) aufwachsen und er keine Angst haben muss, dass ihnen durch Ausländerkriminalität etwas zustößt. Er selbst hofft, nicht abzurutschen und sich zeitlebens finanziell versorgen zu können, nicht zuletzt auch um „diese pyramide diesen generationsvertrag aufrecht zu erhalten“ (882-883). Piet möchte in Zukunft wieder Stolz auf seine Herkunft und die Vergangenheit von Deutschland zeigen können. Seine Kinder sollen später mal nicht „mit dieser schuld erzogen werden dass se irgendjemandem was schuldich sind“ (875-876). An der Verwirklichung seiner Ziele sieht sich Piet durch den demokratischen Staat gehindert, da er seine Ideologie nicht durchsetzen kann. Die bestehenden Gesetze sind aus seiner Sicht zu „schlaff“ (894), um die von ihm gewünschten Veränderungen umzusetzen. Es ist „keene autorität keene konsequenz da“ (895). Piets Sehnsucht nach Grenzen und konsequenter Autorität, die in der Beziehung zu seiner Mutter vergeblich war und durch den Verlust des Vaters im (Erziehungs-)Alltag von dessen Seite ebenfalls nicht gegeben war, setzt sich nun über seine rechtsextremistische Einstellung und die damit verbundenen Vorstellungen von einem autoritären Staat fort. Gleichzeitig versucht er jedoch, bestehende Schranken zu übertreten und fühlt sich in den gegebenen Strukturen eingeengt. Piet befindet sich wahrscheinlich unbewusst in einem inneren Widerspruch und ist verstrickt in der Suche nach einer Grenzsetzung, die er annehmen und akzeptieren kann. Es kann vermutet werden, dass hierbei die familiale Konstellation eine zentrale Rolle spielt und Piet eine alltäglich präsente männliche Autoritäts- und Identifikationsfigur sucht. Frau Schmidtlach konnte diese fehlende Rolle in der Erziehung durch ihre eigene Person nicht kompensieren, weil ihre grundlegende Erziehungshaltung eine völlig andere ist und nicht auf klaren und durchaus auch autoritär gefärbten Grenzsetzungen beruht. Wichtig in seinem Leben sind Piet seine Freunde und die Familie sowie dass er immer wieder etwas dazu lernt und „nich irgendwo jetzt stehn“ (841) bleibt. Er möchte finanziell unabhängig sein; sich selbst und später auch seine Familie ohne Unterstützung von außen ernähren können (842-845). Darüber hinaus ist es sein Traum, im Sinne seiner politischen Orientierung „hier in deutschland was
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zu bewirken“ (846). Sein politisches Engagement in der rechten Szene ist somit fester Bestandteil seines Lebens und würde für ihn auch im Sinne einer politischen Karriere in Frage kommen. Betroffen und traurig macht Piet die Entwicklung der Jugend, weil die „jeglichen respekt (…) vorm alter verliern“ (910). Die Schuld dafür sieht er bei der antiautoritären Erziehung: „Es geht immer in die richtung alle solln antiautoritär erzogen werden“ (913-914). Darin sieht er die Hauptursache für die Probleme der und mit den Jugendlichen, die den Respekt vor „sachgegenständen find ich oder vor kulturgegenständen vor der eigenkultur“ verlieren (915-916) und auch selbst keine Perspektiven für ihre Zukunft haben. Piet belegt seine Argumentation mit einer ausführlichen Erzählung über jugendliche Drogenkonsumenten in seinem Heimatort, die bereits im Alter von zwölf Jahren abhängig sind. Er ist schockiert darüber, dass sich eine solche Szene nun auch in kleineren Orten entwickelt hat und nimmt dies zum Anlass, gemeinsam mit seinen rechtsorientierten Freunden eine „ansage“ (952) zu starten und „akzente“ (950) zu setzen. Dabei ist es für ihn bezüglich der Drogenthematik irrelevant, dass er mit seinen Freunden selbst „alkoholisiert“ (949) war. Piet macht an dieser Stelle also einen klaren Unterschied zwischen legalen und illegalen Drogen, wobei der Konsum von letzteren für ihn in Bezug auf die von ihm geschilderte negative Entwicklung der Jugend nicht thematisiert wird. Aufgrund der Drogenproblematik ist zwischen den beiden jugendlichen Gruppierungen ein „offener krieg entfacht“ (962). Als Verursacher sieht Piet dabei die Gruppe der jugendlichen Drogenkonsumenten, da sie die Auseinandersetzung in seinen Augen provoziert haben (964-966). Zwar spricht Piet die Anwendung von Gewalt nicht offen an, allerdings lassen seine diesbezüglichen Formulierungen keinen anderen Schluss zu als den, dass es auch zu tätlichen Auseinandersetzungen oder Übergriffen gekommen ist. Gemeinsam mit seinen Freunden hat Piet beschlossen „jetzt müssmer ma n paar akzente setzen so jehts nich weiter“ (969), wobei „da jetzt mit worten nichts mehr jetan is“ (972). Er selbst sieht sich dabei als Initiator der Gruppe – „dann hab ich gedacht“ (969), „fand ich für mich“ (970), „och warn die andern eigentlich einer meinung“ (970-971). Die Frage nach Dingen, die ihn persönlich traurig machen, wird von Piet als Forum zur Darstellung der gewalttätigen Aktivitäten seiner rechten Freundesgruppe in der Auseinandersetzung mit anderen Jugendlichen genutzt. Die ihn traurig machende Drogenproblematik dient dabei als Aufhänger für seine Selbstdarstellung als für Ordnung sorgender Rechter, der auch bereit ist Gewalt auszuüben, um seine Ideologie zu vertreten. Wenn man ihm mit Intoleranz begegnet, erzeugt das bei Piet Wut, wobei er selbstkritisch feststellt, dass er anderen gegenüber auch nicht tolerant ist (10031005). Der Widerspruch zwischen seiner ja grundlegend von Intoleranz
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geprägten rechten Orientierung und dem eigenen Anspruch, von anderen akzeptiert zu werden, ist ihm also durchaus bewusst. Eine weitere Auseinandersetzung mit dieser Problematik erfolgt jedoch an dieser Stelle nicht. Stattdessen leitet Piet zu einer anderen ihn wütend machenden Thematik über, nämlich dem Verhalten und der Einstellung von Ausländern in Deutschland. Besonders stört ihn die von ihm wahrgenommene Selbstverständlichkeit mit der Ausländer das Recht in Deutschland zu leben betrachten (1005-1012) und dass sie es nicht als „gnade“ (1009) oder „geschenk“ (1009) ansehen. Ein in Deutschland lebender Ausländer hat somit für Piet nicht die gleichen Rechte wie ein Deutscher, sondern wird lediglich als untergeordneter „Gast“ geduldet, der für seine Aufnahme dankbar zu sein hat. Die Ungleichwertigkeitsvorstellungen von Deutschen und Menschen anderer Herkunft werden an dieser Stelle noch einmal besonders deutlich. Insgesamt sieht Piet für Wut ähnliche Anlässe wie für Traurigkeit. Ihn frustrieren vorrangig der Staat bzw. die aktuelle Staatsform, in dem „sich jeder nur noch um sich kümmert“ (1021) und „irgendwo nichts mehr volksnah“ (1023) ist. Er befindet sich auf der Suche nach einem Lebenskonzept, in dem traditionelle Werte eine tragende Rolle spielen und kritisiert die subjektiv wahrgenommene Gleichgültigkeit der Gesellschaft und ihren Verfall (1061-1069). Es fällt auf, dass Piet an dieser Stelle sehr durcheinander und verworren spricht, immer wieder abbricht und sich selbst korrigiert. Von ihm selbst wird eingeschätzt, dass es vorrangig von seiner „gefühlslage“ (1016) abhängt, ob ihn etwas wütend macht oder nicht. Unter Einbeziehung des Kontextwissens kann vermutet werden, dass diese Thematik ihn berührt, da er mit der Kontrolle seiner Wut und Aggressionen größere Probleme hat(te) von denen auch ihm nahe stehende Menschen wie seine Mutter oder Schwester betroffen waren. Möglicherweise möchte er dieses Thema nicht noch einmal aufgreifen und gerät deshalb in diese stockende Sprechweise. Seine momentanen schulischen Erfolge machen Piet glücklich (976-979). Insgesamt fühlt er sich manchmal frustriert, aber nicht so stark, dass er „nur hass im bauch“ (981) hat. Warum das so ist, wird von Piet nicht näher begründet. Es ist aber aus dem Zusammenhang zu vermuten, dass es sich hierbei um die gleichen Gründe handelt, die ihn auch beim Thema Traurigkeit und Wut beschäftigt haben. Im weiteren sind es „die kleinen momente die een glücklich machen“ (981982) worunter Piet unter anderem die Gründung seiner „kleenen kameradschaft“ (983) versteht, durch die er Zusammenhalt und Respekt erfährt. Insbesondere ist ihm daran wichtig zu sehen, dass „doch nicht jedem alles egal is“ (987). Gegenüber den jüngeren Mitgliedern sieht er sich in der Position eines Anführers, der sie bezüglich ihrer schulischen Leistungen ermahnt: „ich sage mensch setzt euch in der schule hin und macht was und so kommt ihr nich weiter“ (989-990). Dabei
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sieht er seinen Einfluss größer als den des jeweiligen Lehrers, denn der ist nur „irgendjemand“ (992). Vor ihm dagegen haben die Jugendlichen „so bisschen respekt“ (989) und „hörn schon n bisschen“ (992-993). Seine Entwicklung vom schlechten zum guten und ehrgeizigen Schüler ist für Piet auch mit dem Bestreben verbunden, auf die Mitglieder seiner „kleenen kameradschaft“ (983) diesbezüglich positiv einzuwirken, da er Bildung als wesentliche Grundlage seiner politischen Arbeit mit der Gruppe sieht. Die Betonung des Respekts der jüngeren Jugendlichen ihm gegenüber verweist auf sein Streben nach Anerkennung und eigener Autorität. Piet findet es selbst für sich „traurig“ (997), dass ihm zum Thema Glück so wenig einfällt, dafür aber viel zu den Fragen nach negativen Gefühlen (997-999). Insgesamt sieht er sein Leben jedoch als „ausgeglichen“ (997). Glücklich machen würde ihn vielleicht ein Millionengewinn (999). Piet wünscht sich, „dass es nich allen menschen gut geht sondern dass es den deutschen gut geht dass sie dass sie z.. dass sie zu sich selbst und zu ihrer kultur finden“ (1052-1054). In einer hypothetischen Situation, die freie Wahl für sein eigenes gesamtes Leben und die Gestaltung der Welt zu haben, steht bei Piet ein durch seine rechtsextremistische Ideologie geprägter Wunsch an erster Stelle. Dabei wird die Beschränkung des „gut gehens“ auf die deutsche Bevölkerung durch die vorangestellte Formulierung „dass es nich allen menschen gut geht“ (1052) verstärkt. Piets Ungleichheitsvorstellungen resultieren also nicht nur aus einer empfundenen Konkurrenzsituation mit Menschen anderer Nationen und Kulturen, die er zugunsten des eigenen Volkes entscheiden möchte, da er sich an dieser Stelle auch Wohlstand für alle Menschen hätte wünschen bzw. den Wunsch auf den Wohlstand der Deutschen hätte beschränken können. Stattdessen besteht ein Teil seines Wunsches ausdrücklich darin, dass Menschen anderer Herkunft der Wohlstand bzw. ein gutes Leben versagt bleibt. Dies wird ihm zwar in der weiteren Argumentation zu seinen Wünsche selbst bewusst: „vielleicht denk ich och nur in vier wänden irgendwo man könnte sich ja wünschen dass es dass es jedem menschen gleich gut geht“ (1067-1068), seine diesbezüglichen Bedenken räumt er jedoch mit dem Hinweis „ich denk n bisschen neid braucht der mensch“ (1068-1069) aus. Weiterhin ist der Gedanke des „gut gehens“ der deutschen Bevölkerung damit verbunden, dass sie „zu ihrer kultur“ (1053-1054) finden. Piets Wunsch ist somit nicht auf den wirtschaftlichen Aspekt beschränkt, sondern bezieht sich auch auf kulturelle und gesellschaftspolitische Dimensionen. Seine Ungleichheits- bzw. Ungleichwertigkeitsvorstellungen basieren auf einer fest verankerten Rassenideologie und können nicht im Sinne einer Frustration durch eine eigene subjektiv empfundene Benachteiligung erklärt werden.
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Dies wird auch durch den weiteren Verlauf der Erzählung bestätigt, in dem Piet erklärt, dass ihm materielle Wünsche wie z.B. „n dickes auto“ (1055) nicht so wichtig sind, da er nicht den Wunsch verspürt, sich darüber bei anderen Menschen zu profilieren (1055-1058). Hier findet sich ein scheinbarer Widerspruch zu seinem durchgängig erkennbaren Streben nach Macht und Anerkennung. Wahrscheinlich versucht Piet auf diesem Weg zu zeigen, dass er um solches zu erreichen nicht auf materielle Dinge angewiesen ist, sondern allein auf seine Leistung und Persönlichkeit an sich setzt. Weiterhin würde Piet sich eine Frau wünschen, die so denkt wie er selbst oder seine Einstellung aber zumindest akzeptiert. In diesem Zusammenhang denkt er auch an die Gründung einer eigenen Familie (1058-1060). Allerdings schiebt er diesen Wunsch noch für die Zukunft auf, da er sich momentan „zu jung oder (.) zu unreif“ (1061) fühlt, um die „verantwortung zu übernehmen“ (1062). Auch für den Bereich der eigenen privaten Zukunft im Sinne von Partnerschaft und Familie ist Piets Einbindung in die rechtsextremistische Szene und seine diesbezügliche Einstellung von Bedeutung, da er deren Akzeptanz als wesentliche Voraussetzung für eine Beziehung sieht. Seine Zugehörigkeit zur rechten Szene ist für ihn somit ein fester Bestandteil seines Lebens und auch seiner Zukunftsplanung. Ein weiterer eher vage formulierter Wunsch bezieht sich auf sein eigenes Wohl und das von Freunden und Familie. Dabei steht die ökonomische Sicherheit im Vordergrund. Insgesamt wird deutlich, dass Piets momentane Lebensplanung bzw. Zukunftsplanung eine Planung entlang seiner politischen Orientierung ist. Piet hält sich gegenüber gleichaltrigen Jugendlichen aufgrund seiner bisherigen Lebenserfahrungen für reifer (778-785) und schon sehr selbständig, obwohl er noch „viel dazu zu…zulernen“ (815) hat und sich noch nicht als vollständig erwachsenen Mann sieht (807-817). Die das gesamte Interview durchziehende Thematik der Suche nach Autorität und Grenzen wird auch an dieser Stelle von ihm wieder aufgegriffen. Seiner Einschätzung nach hat Piet im Gegensatz zu anderen Gleichaltrigen seine Grenzen schon „ausjetestet“ (782) und „schon jefunden“ (782), was sich mit seiner Erzählung über das Einsetzen der Vernunft im Alter von 16 Jahren deckt. Er hat bereits sein „festes ziel“ (784) und weiß, „welche richtung“ (784) er einschlagen will. Im Freundeskreis bzw. der Kameradschaft sieht er sich selbst insbesondere gegenüber jüngeren Kameraden als autoritäre Führungsperson (785-793, 799-803). Älteren gegenüber sieht er sich dagegen gleichgestellt (786-787). Während Piet also von Jüngeren oder Schwächeren die Anerkennung seiner Autorität einfordert, strebt er selbst in der Beziehung zu Älteren nach Symmetrie und Akzeptanz als gleichberechtigter Partner. Aus seinen Formulierungen – „dass ich so hn mit das oberhaupt bin“ (799); „anführer“ (793); „auch in ner freundschaft fühl ich mich gleichwertig nich irgendwie ja
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höher jestellt oder so aber ebend doch jetzt (.) eben erhoben also off ner gewissen art und weise isses so“ (809-811) – wird sein Bedürfnis nach einer herausragenden Position innerhalb einer Freundesgruppe und sein Streben nach Macht und Anerkennung deutlich. „ich hab mir och irgendwo ne position erworben wo ich sage ähm ich ich stehe da und ich stehe da mit festen füßen und wo ich mir dort och den respekt erworben habe und nich irgendwie jemand nur bin jetzt n kleiner lutscher oder so wo ich da auch als wie jesacht als vollwertiges mitglied bin“ (787-790)
Es kann vermutet werden, dass Piet durch die Mitgliedschaft in der Kameradschaft und die Behauptung einer anerkannten autoritären Anführerposition diesbezügliche Defizite aus seiner Kindheit kompensiert, die mit seiner schweren Krankheit zusammenhängen. Die ihm zuteil gewordene Fürsorge und die besondere Zuwendung scheinen somit zwei Folgen gehabt zu haben. Zum einen fordert Piet die einmal erlebte Aufmerksamkeit seiner Umwelt auch in seinem jetzigen Leben ohne Krankheit ein und möchte eine herausragende Stellung einnehmen. Zum anderen ist es wahrscheinlich, dass er sich eben aufgrund der Krankheit nicht als vollwertiges Mitglied seiner damaligen Altersgruppe erlebt hat und deshalb ein starkes Bedürfnis nach der Anerkennung durch eine Gruppe hat. Weiterhin hat seine innerhalb der Familie vergebliche Suche nach grenzsetzender und Sicherheit gebender Autorität dazu beigetragen, dass er sich einer eben dies versprechenden Gruppierung angeschlossen hat. Allerdings ist die Autoritätsproblematik damit nicht gelöst, sondern setzt sich auf einer anderen Ebene fort, denn auch hier beansprucht Piet Autorität zwar für sich, umgeht aber jede ihn selbst entsprechend betreffende Hierarchie, in dem er sich eigentlich Höhergestellten gleichsetzt. Innerhalb der Familie schätzt sich Piet als „liebevoll“ (804) ein. Er schätzt und respektiert sie (808-809). Auch hier wird wieder sein Gefühl der Gleichwertigkeit innerhalb dieser Beziehungen betont (809). Aus Piets Erzählung wird an dieser Stelle des Interviews wiederum sein starkes Zugehörigkeitsgefühl zur rechtsextremistischen Szene deutlich, da er auch die Selbsteinschätzung seiner Person an dieser Gruppe festmacht. 4.2.5 Der Einstieg in die rechte Szene und die Entwicklung der rechten Orientierung – Von der „spaßkultur [...] mit politischen hintergedanken“ (364-365) zum Extremismus Piets Einstieg in die rechte Szene erfolgte im Alter von vierzehn Jahren über einen Freund. Erleichtert wurde das seiner Auffassung nach durch die relativ weite Verbreitung rechter Einstellungen und Zugehörigkeiten bei den Jugendlichen in seinem Heimatort (324-329). Es gab zu dieser Zeit dort „ebend viele (.)
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nationale“ (328) und der „skinheadkult“ war „groß im kommen“ (329). Der politische Hintergrund der rechten Szene spielte für Piet jedoch zunächst nur eine untergeordnete Rolle. Zwar vertrat er die gängigen ausländerfeindlichen Klischees („ausländer nehmen uns de arbeitsplätze weg“ 318-319), was von ihm als das typische (rechte) „sture denken“ (320) beschrieben wird, allerdings hat er sich damals „nich viel mit politik […] befasst“ (317). Gereizt haben ihn eher der rechte Skinheadkult und das damit verbundene martialische Erscheinungsbild, da er sich davon den Respekt anderer Jugendlicher versprach (309-316) sowie das Gefühl der „zusamengehörichkeit“ und der „freundschaft“ (366). Die Zuschreibung zur rechten „kategorie“ (314) erfolgte dann quasi „automatisch“ (314) durch sein Umfeld. Was von Piet mit einem „jewissen respekt“ (312) beschrieben wird, kann im Zusammenhang mit seinem biografischen Hintergrund als Befreiungsversuch aus der krankheitsbedingt empfundenen eigenen Schwäche in Verbindung mit seinem starken Hang zu autoritären Strukturen interpretiert werden. Wie aus der bisherigen Erzählung hervorgegangen ist, sah Piet sich aufgrund der Hänseleien durch andere Kinder gezwungen, ein besonderes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Es ist wahrscheinlich, dass sein neues Erscheinungsbild dazu beitragen sollte. Im Anschluss an die Beschreibung seines Einstieges in die rechte Szene knüpft Piet eine detaillierende Erzählung über seine damit verbundenen Aktivitäten an. Zusammen mit seinem neuen Freundeskreis beteiligte sich Piet an einschlägigen Auftritten der Gruppierung auf Kleinstadtfesten etc. und den darauf folgenden Auseinandersetzungen mit der Polizei (330-343), die „richtich extrem“ (337) waren. Inzwischen distanziert er sich jedoch von solchen ungerichteten gewalttätigen Aktionen, das hat sich bei ihm „jelecht“ (338). Vergleicht man diese Erzählung mit der Erzählung über die gesetzten gewalttätigen „akzente“ (969) gegenüber einigen Jugendlichen, die in seinem Heimatort öffentlich Drogen konsumieren, wird deutlich, dass Piet sich nicht von gewalttätigem Handeln an sich distanziert, sondern nur von unmotivierter „Spaß“-Gewalt. Im Rahmen seiner nunmehr entwickelten rechtsextremistischen Einstellung spielt Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ansichten und Ziele auch weiterhin eine Rolle. Seine potentielle Gewaltbereitschaft hat sich also lediglich auf eine andere, nun zweckgerichtete Ebene verschoben. Die rechte Szene seines Heimatortes hat bereits eine längere Geschichte, die von Piet dargestellt wird. Dabei erklärt er genau die Zusammenhänge und Zugehörigkeiten der einzelnen im Laufe der Zeit gegründeten Organisationen. Die quasi erste Generation der rechten Skinheadbewegung bildete sich demnach im Ort zu Beginn der 1990er Jahre (343-345), die ja bezüglich rechtsextremistischer
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Präsenz und Gewalttaten insgesamt eine hohe Belastung aufwiesen40 und wurde dann zu Beginn des neues Jahrtausends von einer weiteren Generation fortgeführt (326-333; 348-361). Die Jugendlichen im damaligen Alter von Piet wurden von den Älteren rekrutiert: „die sind dann och richtich durchs dorf jezogen und hatten sich dann die janzen jugendlichen zusammenjezogen“ (353-354). Piets Anschluss an die rechte Szene erfolgte also sozusagen im Sinne eines militärischen Einzuges, dem er sich zumal die „janzen“ (354) Jugendlichen des Ortes angesprochen waren, nicht entziehen konnte. Die Gründe für seine Hinwendung zur rechten Szene werden von Piet in externen Umständen gesucht, denen er nichts entgegensetzen kann und will, was seine Darstellung des selbstbestimmten Einstiegs in der Stegreiferzählung relativiert. Er vermittelt das Bild einer männlich dominierten, autoritären und hochgradig gewaltbereiten Jugendgruppe, die das gesellschaftliche Leben der Kleinstadt beherrscht, bis es durch die Verhaftung zahlreicher Mitglieder zu ihrer Auflösung kommt (324-368). Aus Piets Schilderung wird wiederum deutlich, dass er an gewalttätigen Auseinandersetzungen der Gruppierung beteiligt war oder diesen zumindest beigewohnt hat. Allerdings handelte es sich hierbei noch nicht um politisch motivierte und zielgerichtete Handlungen, sondern um mit der rechten Skinheadkultur verbundene, subkulturell motivierte, provokative Ausschreitungen zur Demonstration der eigenen Präsenz und Macht. Piets Erwartungen an den Zusammenhalt der Gruppe wurden langfristig enttäuscht. Das Verhalten der Kameraden in schwierigen Situationen entsprach nicht seinem Verständnis von Freundschaft. Piet beschreibt sich in diesem Zusammenhang als jemanden, der für das, was er tut, gerade steht und die Konsequenzen trägt (371-396). Seine damaligen Freunde dagegen versuchten, Schuld von sich abzuwälzen und „irgendjemanden vors loch zu schieben“ (394), wobei auch er selbst öfters davon betroffen war. Piet hat sich dadurch „so n bisschen verraten gefühlt“ (385). Er führt das Verhalten seiner Kumpels darauf zurück, dass er im Gegensatz zu ihnen zu Hause von seinen Eltern bzw. seiner Mutter kaum Konsequenzen zu erwarten hatte. Insbesondere von einem Freund, den er im Nachhinein zu den Mitläufern rechnet, ist er enttäuscht. Von ihm hat er dann „komplett abschied jenomm“ (406-407). Da sich Piets Zugehörigkeit zu der Skinheadszene vor allem über diesen Freund gestaltete, brechen seine Kontakte zu dieser Clique nach dessen Ausstieg in Verbindung mit seiner Enttäuschung darüber ab (405-409). Da Piet von den anderen Jugendlichen häufig zur Vertuschung ihres eigenen devianten oder delinquenten Verhaltens benutzt wurde, in dem die Schuld auf ihn geschoben wurde, kann davon ausgegangen werden, dass Piet zunächst nur 40
Hier vor allem die Ausschreitungen in Hoyerswerda (1991) und Rostock Lichtenhagen (1992) sowie die Mordanschläge von Mölln (1992) und Solingen (1993) (vgl. auch Pfahl-Traughber 2001).
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eine untergeordnete Stellung in der Hierarchie der Gruppe hatte. Dies könnte auch mit seinem im Vergleich zu den langfristigen Mitgliedern der Gruppe noch jungen Alter zusammenhängen. Es liegt nahe, dass sein Verlassen der Gruppe somit auch durch eine zu geringe Anerkennung seitens der anderen Gruppenmitglieder begründet war und dies insbesondere vor dem Hintergrund seines hohen Anspruches an den eigenen Status innerhalb einer Gruppe für ihn nicht akzeptabel war. Piet schließt sich dann vorübergehend wieder „normalen kumpels“ (408) an, mit denen er seine spaßkulturellen Aktivitäten fortsetzt. Vor allem mit einem zwei Jahre jüngeren Freund, für den Piet sich in einer Vorbildfunktion sieht, verbringt Piet nun seine freie Zeit. Dabei setzen sie den bei den rechten Skinheads begonnenen Lebensstil fort (409-441). Sie sind nicht davon „wegjekommen“ (414): „weiter die klamotten jetragen haben och na ja was heißt jesoffen das hört sich vielleicht scheiße an aber wie jesacht wir warn sozusagen chaoten wir warn wir warn eben nich lieb wir warn was andres und das hat uns spaß jemacht und och irgendwo dann uns respekt erarbeitet und da och alles mal ausprobiern“ (415-419)
An dieser Stelle wird klar erkennbar, dass es sich bei Piets damaligem Verhalten auch um eine besonders stark ausgeprägte jugendliche Rebellion und das Ausprobieren und Provozieren von Grenzen gehandelt hat, was wiederum seine bislang herausgearbeitete Grenz- und Autoritätsproblematik bestätigt. Das rechte Erscheinungsbild diente dabei als provokative Ausdrucksform. Fast rauschhaft wird von Piet und seinem Freund ein negatives und wildes Image gelebt. Der dahinter liegende Versuch, sich von der Erwachsenenwelt und von anderen Jugendlichen abzugrenzen, wird durch den totalen Bruch gültiger Normen und Regeln sichtbar. In diesem Sinne kann auch seine Bezeichnung „spaßkultur“ (364) gelesen werden – als Spaß an der Provokation und der Regellosigkeit nämlich („wir warn was andres“ 417). Die Formulierung „uns respekt erarbeitet“ (418) zeigt weiterhin zwei Dinge. Zum einen bezeichnet die Formulierung eigentlich den Erwerb von Anerkennung durch andere aufgrund von bestimmten erbrachten Leistungen, wozu das „Saufen“ oder grenzüberschreitendes rechtes Verhalten in der Mehrheitsgesellschaft nicht gehören. In Piets subkulturellem jugendlichen Milieu jedoch, das Werte und Regeln der Erwachsenenwelt (noch) ablehnt, erzeugt es Respekt vor seinem Wagemut und der Gründlichkeit seiner Rebellion bei anderen Jugendlichen. Zum zweiten wird auch deutlich, dass Piet immer noch in dieser jugendlichen Welt verhaftet ist und in seinem Reifegrad noch nicht einem Erwachsenen gleichzusetzen ist, da er auch aus heutiger Perspektive nur eine vage implizite Relativierung („das hört sich vielleicht scheiße an“ 416) innerhalb der Bewertung seines damaligen Verhaltens vornimmt. Konkret bedeutet dies, dass er auch aus
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heutiger Sicht ein solches Verhalten als respektabel und Anerkennung versprechend betrachtet und sich noch nicht gänzlich von seiner jugendlichen Rebellenrolle distanziert hat.41 Bezüglich des von Piet geschilderten Respekts zeigt sich erneut sein Streben nach Autorität und Macht gegenüber anderen. Im Zuge der Freizeitgestaltung mit seinem Freund lernt Piet dann im Sinne eines Schneeballsystems weitere Jugendliche kennen und findet erneut Anschluss an die rechte Szene. Interessant ist, dass Piet an dieser Stelle den Ausdruck „reinjerutscht“ (427) verwendet, er sich also diesbezüglich nicht aktiv handelnd darstellt, sondern die Gründe für die Wahl seines Freundeskreises erneut externalisiert. Das „Reinrutschen“ entspricht zwar dem herausgearbeiteten jugendtypischen Probierverhalten, nicht jedoch Piets eigener Darstellung als selbstbewusste und respekteinflößende Person. Dementsprechend korrigiert sich Piet dann auch von „reinjerutscht“ (427) auf „dazu jekomm“ (428) und zwar in seiner typischen, das gesamte Interview durchziehenden Sprechweise, ausdrucksstarke und eindeutige Formulierungen nachträglich abzuschwächen und zu ersetzen. Vermutlich wollte er durch die Formulierung „reinjerutscht“ (427) die Verantwortlichkeit für sein Handeln herunterspielen, da er um die überwiegende Nichtakzeptanz seiner Haltung innerhalb der Gesellschaft weiß und diese auch bei der Interviewerin vermutet. Gleichzeitig ist ihm jedoch wohl deutlich geworden, dass er damit seine bisherige Selbstdarstellung untergräbt. Mit der neuen rechten Clique setzt Piet seine spaßkulturellen Aktivitäten fort, allerdings auf einem anderen Niveau. Er erlebt seine erste „bunkerparty“ (430), die, wie er betont, auch „gleich von der polizei aufjelöst“ (429) wurde. Die Clique trifft sich „richtich oft off kneipen“ (435) und beteiligt sich gemeinsam an „massenschlägerei(en)“ (431). Die Transformation seiner Gewaltbereitschaft auf eine Ebene, in der Gewalt als Instrument zur Durchsetzung von (politischen) Ansichten und Zielen eingesetzt und ansonsten zum Schutz des eigenen Images vermieden wird, ist demnach zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgt bzw. gelungen. Besonders beeindruckt Piet, dass seine neuen Freunde im Gegensatz zu den alten zusammenhalten und sich „nich irgendwie verraten“ (440). Piet stellt in diesem Zusammenhang einen Vergleich zwischen den Freundesgruppen an seiner Schule und seiner rechten Clique an, die zwar auch gemeinsam ihre Freizeit gestalten, in der er aber nicht dieses Zusammengehörigkeitsgefühl erfährt. Piet scheint neben seinem Streben nach Macht auch ein starkes Bedürfnis nach gemeinsamen Erlebnissen, Beständigkeit und Zusammenhalt zu haben, das er in Verbindung mit dem jugendtypischen Hang zu normverletzenden Abenteuern innerhalb der rechten Szene erfüllt sieht. 41
Dies ist vor allem im Hinblick auf Piets noch folgende Darstellung seiner aktuellen politischen Haltung interessant, innerhalb derer er das Bild eines strukturiert politisch agierenden Erwachsenen von sich zeichnet.
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„das is immer n andres leben als eben wenn ichs jetzt mit den normalen leuten vergleiche so besser gesagt mit den normalen menschen meiner altersgruppe“ (445-447) „und mit denen das war da simmer zelten jefahrn und lagerfeuer und das war was (unverständlich) also ich bin nun eigentlich immer n mensch der nich jetzt macht über andre ausüben möchte aber nich irgendwo nur ne kleene rolle spieln möchte also was heißt ne kleene rolle nich aber irgendwo nur phh nich lutscher aber irgendjemand irgendjemand kleines also ich möchte schon dass man mich respek.. meine person respektiert (…) und wie jesacht in dem kreis wurde ich war ich dann och anerkannt“ (450-456)
Zum einen üben die gemeinsam erlebten Freizeitaktivitäten auf Piet einen starken Reiz aus, da sie das ihm bekannte Maß an Unternehmungen mit anderen Jugendlichen überschreiten. Zum anderen zeigt sich ganz klar, dass einer der entscheidenden Gründe für Piets Anschluss und wohl auch Verbleib in der rechten Szene seine dort erfahrene Akzeptanz und Anerkennung ist. In den schulischen Freundesgruppen scheint sein gesteigertes Bedürfnis nach einer Machtposition nicht angenommen worden zu sein. Innerhalb der rechten Gruppe gelingt es Piet dann, seine biografisch bedingten Selbstwertdefizite auszugleichen und ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln, da sie sowohl seiner Sehnsucht nach hierarchischen und autoritären Strukturen, als auch seinem Bedürfnis nach dem Gefühl eine eigene Führungsposition zu haben, nachkommt. Zudem bewirkt sein neuer Freundeskreis, dass Piets Auseinandersetzungen mit anderen Jugendlichen in der Schule abklingen, da diese „angst“ (463) vor seinem „kameradenkreis“ (461) und den zu erwartenden (gewalttätigen) Folgen hatten (456-463). Zwar spricht Piet Schwierigkeiten mit den Mitschülern und eine damit möglicherweise verbundene Außenseiterposition nicht direkt an, sie können bzw. kann aber aufgrund der bisherigen Erzählung vermutet werden. Zum dritten wird ersichtlich, dass Piet eine klare Trennung zwischen den nicht rechten Jugendlichen und seinen rechten Freunden vornimmt. Erstere bezeichnet er als normal, woraus abgeleitet werden kann, dass ihm seine Randgruppenzugehörigkeit durchaus bewusst und auch als solche gewählt ist. Seine diesbezügliche „Nicht-Normalität“ wird von Piet jedoch nicht als etwas Negatives wahrgenommen, da er seine Zugehörigkeit zu den Rechten vermutlich eher als eine herausragende und in diesem Sinne positive Abweichung sieht. Aus seiner Erzählung wird deutlich, dass sich die Anreize eines Anschlusses an eine rechte Gruppierung auch über den Freizeitbereich vermittelten. Weiterhin ist Piet bereits zu diesem Zeitpunkt mit zu Demonstrationen gefahren, wo er wiederum immer neue Gleichgesinnte kennengelernt hat (482-484). Mit siebzehn begann Piet jedoch seinen Lebensstil zu verändern und den Sinn seiner (Freizeit-)aktivitäten anzuzweifeln (474-489). „wo ich mir jedacht habe na ja eigentlich isses das nich hier irgendwo dir immer ma dahin ziehn kneipen dir da de birne zulöten und dich da irgendwo rumzuschlagen das s ph.. ahhh und bewirkst irgendwo nichts“ (465-467)
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Auffallend ist hier Piets Wandel vom jugendlichen Rebell, dessen einziges Ziel es ist, Spaß zu haben und sich von anderen (Erwachsenen) abzugrenzen, zum Jugendlichen mit dem Anspruch, gesellschaftlich etwas zu verändern. Seine diesbezüglichen Gedanken bespricht Piet mit einem Kumpel, der ihn weiter ermutigt. Er trifft auf andere Jugendliche, die zum einen gleichaltrig sind und zum anderen in eine ähnliche „richtung jegang“ (478) sind. Piet distanziert sich letztlich von der rechten Skinheadkultur, da ihm der dortige Lebensstil nicht mehr zusagt, weil er ihm „nüscht“ (485) bringt und nur Schwierigkeiten im Sinne von Konfrontationen mit Polizei und Justiz zur Folge hat (485-490). Entscheidend sind dabei jedoch nicht nur die drohenden oder tatsächlich geschehenen Anzeigen an sich, durch die er seine (berufliche) Zukunft gefährdet sieht, sondern auch die Sinnlosigkeit unmotivierter und zielloser Gewalt, die nicht mehr zu seinem neuen zielorientierten Lebenskonzept passt. Piet möchte seine Zukunft nicht durch Vorstrafen gefährden, deren vorangegangene Taten er als „unnötich“ (487) betrachtet. Als Folge dieser gewandelten Einstellung verändert Piet auch sein Erscheinungsbild vom „bösen skinhead“ (489) zum unauffälligen Jugendlichen, dessen Gesinnung für Außenstehende nur noch schwer zu erkennen ist, wobei er hier einem aus seiner Sicht allgemeinen Trend innerhalb der rechten Szene folgt (490-500). Seine Einstellung jedoch entwickelt sich umgekehrt proportional zu der Veränderung seiner Kleidung und seines Lebensstils von der jugendsubkulturellen Rebellion zur ernsthaften politischen Weltanschauung. Piet sucht jetzt bewusst nach Gleichgesinnten und findet letztendlich den Zugang zu einer Kameradschaft, die regelmäßige Kameradschaftsabende gestaltet und gemeinsam den Besuch von Konzerten und Demonstrationen sowie Schulungen organisiert. Ihm reichen vage Stammtischparolen à la „ich bin rechts weil ich deutsch fühle“ (513) nicht mehr aus. Das sind für ihn nur „schwache(n) argumente […] ohne hintergrund“ (514), mit denen er sich nicht zufrieden gibt (511-516). Den Ausschlag für seine Auseinandersetzung mit politischen Inhalten gab dabei seine Unzufriedenheit über die „schuldnerrolle“ (470) Deutschlands im Zweiten Weltkrieg unter der aus seiner Sicht nun alle folgenden unschuldigen Generationen leiden müssten (469-474). Die Zugehörigkeit zu einer Kameradschaft genügt Piet jedoch nicht, er möchte selbst aktiv sein und gründet gemeinsam mit seinem Freund eine eigene kleine Gruppierung, in der er sich endlich in der ersehnten Führungsrolle sieht. Dies wird von ihm zwar nicht explizit angesprochen, geht aber aus seinen Formulierungen („ich lass die dann auch also nicht vorlesen aber wir machen das so schön mit beitrag“ 526-527; „und da denk ich (unverständlich) och davon wegzuführn“ 530-531) hervor. „und jetzt treffmer uns einma.. och einmal die woche und machen da so n k.-abend und machen da och ich lass die dann auch also nicht vorlesen und s is immer so mit vortrag und s is eigentlich ne gute atmosphäre aber s is nich mehr dieses alte dieses standard sondern wir setzen eigentlich mehr ich wie jesagt n widerstand oder ne bewegung funktioniert nich ohne
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bildung und da denk ich (unverständlich) och davon wegzuführn dass se sich irgendwo sinnlos de köppe einhaun müssen sondern mehr wie jesacht für mich is es nich so wie wieviel ich trinken kann sondern eigentlich mehr für das was ich tue oder für das was ich mache zähln eigentlich mehr taten als alkohol“ (525-533)
Das Bestreben Piets, sich von der Spaß- und Saufkultur der rechten Skinheads zu distanzieren und seinen neuen intellektuellen und politischen Anspruch umzusetzen, wird durch seine willkürliche und teilweise grammatikalisch zusammenhanglose Wiedergabe von rechtsextremistischen Schulungsinhalten deutlich. Gleichzeitig wird dadurch aber auch klar, dass der eigene Anspruch (noch) nicht eingelöst werden kann, da der Wissensstand und die Anbindung der Kameradschaft an größere Organisationen noch in den Anfängen stecken. So ergeben sich z.B. Widersprüche zwischen der Distanzierung von Alkohol und dem für den Kameradschaftsabend benötigten Bier. Auch vom Verzicht auf sinnlose Gewalt zugunsten eines sauberen rechten Images müssen die Kameraden erst noch überzeugt werden. Dennoch ist Piet mit der Planung seiner politischen Aktivitäten bereits fortgeschritten, da er überlegt einen einschlägigen Verein zu gründen (534-537). Daraus kann abgeleitet werden, dass Piet zwar bezüglich der Wiedergabe von ideologischen Inhalten des Rechtsextremismus noch Defizite hat, diese aber erstens eben durch die beschriebenen „Bildungsmaßnahmen“ beseitigen will. Zweitens ist ihm bereits die neue Struktur der Organisation innerhalb der rechten Szene vertraut, die darauf abzielt, die extremen Inhalte und Ziele gegenüber der Öffentlichkeit möglichst zu vertuschen, um einen größeren Bevölkerungsteil zu erreichen und leichter politisch und öffentlich Einfluss ausüben zu können. Es ist ihm also, wie er auch erwähnt, durchaus bewusst, dass er mit der Gründung eines Vereins mehr Einfluss gewinnen kann, als mit einer eindeutig als rechts zu erkennenden und als extremistisch und damit verfassungsfeindlich eingestuften Kameradschaft. Sein Streben nach Macht wird unterstrichen, in dem er die Herangehensweise seiner Kameradschaft, die einem allgemeinen Trend innerhalb der rechten Szene entspricht und sicherlich von einer Schulung bei der vorherigen großen Kameradschaft übernommen wurde, als eigene Innovation ausgibt. Befragt nach seiner konkreten momentanen Einstellung beschreibt Piet ein umfassendes rechtsextremistisches Weltbild, das in seiner Formulierung von eindeutigen Schlagwörtern geprägt ist und ebenfalls auf seine Schulung innerhalb seiner Kameradschaftszugehörigkeit hinweist. Die folgenden Zitate sollen hierfür beispielhaft angeführt werden:
„ich bin so mehr naja also das gemeinnutz vor eigennutz geht aber eigentlich nur für volksgenossen (unverständlich) oder für ne starke also für ne starke volksgemeinschaft“ (556-557),
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„dass auch ne ne volksgemeinschaft nur dann stark sein kann wenn (.) die (langgezogen) aus ein.. also eine nich aus eine na doch eigentlich aus einer rasse“ (562-564), „ich denke och dass zu viele kulturn oder zu viele also dass ausländer jetzt groß dazu beitragen dass unsre unsre kultur verlorn geht“ (565567), „ich denke dieser staat ist zu demokratisch“ (578), „hinter der demokratie steht für mich nur der kapitalist und der und wie jesacht der kapitalist is eigentlich der der der eben den mensch eigentlich zerstört“ (579-581), „bin ich eigentlich fürn fürn führerprinzip“ (582).
Aus Piets Argumentation zu seiner rechtsextremistischen Einstellung können vier zentrale Themenkomplexe herausgearbeitet werden, die im Folgenden stark zusammengefasst dargestellt werden. Darin kommen sowohl Wohlstandschauvinismus als auch die Ablehnung universeller Freiheits- und Gleichheitsrechte des Menschen und parlamentarisch-pluralistischer Systeme (Volkssouveränität und Mehrheitsprinzip) zum Ausdruck, die in der Literatur als gängige Indikatoren für eine rechtsextremistische Einstellung gelten.42 Subjektiv empfundene Undurchschaubarkeit und mangelnde Volksnähe der Demokratie (583-605; 651-654) Das Wahlsystem und die demokratische Struktur des Staates werden von Piet abgelehnt, da er seine Interessen nicht vertreten sieht. Durch die „lange kette“ (600) von den Wahlen bis zur tatsächlichen Regierung des Landes würde der inhaltliche Wille der Wähler verfälscht und letztendlich nur noch zu einem geringen Prozentsatz umgesetzt werden. Er erlebt das Recht auf freie Wahlen und Mitbestimmung als „vorgeheuchelt“ (584) und sieht die Kluft zwischen Arm und Reich beständig größer werden. Angst vor Überfremdung und dem Verlust der eigenen Kultur sowie des Wohlstandes (544-555; 606-627; 855-859; 1006-1112) Ausländer werden von Piet nicht prinzipiell abgelehnt, er möchte jedoch nicht, dass zu viele von ihnen in seinem Land leben, da sie nicht bereit sind, sich „an(zu)passen“ (616) und „unter(zu)ordnen“ (621). In dem Anspruch, Menschen anderer Herkunft sollen sich in ihrer neuen Heimat unterordnen, wird ein grundlegender Gedanke der Ungleichwertigkeit sichtbar. Sie sind somit zwar geduldet, werden aber nicht als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft gesehen. Die 42
vgl. Stöss 1999; BMI 2002
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Zugehörigkeit zur Gesellschaft wird also nicht anhand von Merkmalen wie Integration in die Gemeinschaft und Beitrag zum Gemeinwohl fest gemacht, sondern hängt allein von der ethnischen Abstammung ab. Die Ausübung von fremden Religionen, Bräuchen und Sitten ist Piet bereit zu tolerieren, solange sie nicht öffentlich sichtbar ist. Insgesamt ist er dafür „die einwanderung erst zu stoppen“ (626) und für die wirtschaftliche Sicherheit und den Wohlstand des eigenen Volkes zu sorgen. Piet spricht sich dafür aus „nich ganz so offen tolerant zu sein allem gegenüber“ (663). Die Ungerechtigkeit der fortwährenden Schuldnerrolle Deutschlands im Zusammenhang mit dem II. Weltkrieg (630-654) Piet sieht Deutschland durch seine Rolle im Zweiten Weltkrieg zum „sündenbock“ (646) etikettiert, wodurch andere Nationen von ihren Kriegsverbrechen ablenken. Er fühlt sich durch diese Stigmatisierung persönlich betroffen, da auch die heutige Generation noch mit dieser Schuld konfrontiert wird, obwohl sie nichts mehr dafür kann. Für ihn sind die diesbezüglichen Darstellungen beispielsweise des Geschichtsunterrichtes Lügen, da sie den Kriegswillen Englands und Frankreichs verleugnen, die auch viele Menschen „versklavt“ haben (644). Durch die aus seiner Sicht häufig verfälschte Darstellung fühlt er sich gezwungen, seine Informationen anderweitig zu beziehen. Aus der fortwährenden Schuldnerrolle Deutschlands resultieren seiner Meinung nach auch die „große staatsverschuldung“ (648) und die Stagnation des Landes. Ablehnung der NPD als zu stark in der Demokratie verhaftet bei gleichzeitiger Nutzung der Partei als Forum zur Anhängergewinnung und als „Türöffner“ (664-682) Die NPD wird von Piet abgelehnt, da sie sich dem bestehenden System anpasst und somit seiner Ablehnung der Demokratie nicht genügend Rechnung trägt. Er befürchtet, dass die NPD ihre Ziele auch bei einem größeren Wahlerfolg auf demokratischem Weg umsetzen würde und sich somit nichts im Hinblick auf die von ihm gewünschte Diktatur ändern würde. Die statusbedingten Möglichkeiten der Partei nutzt er jedoch gelegentlich, denn „die npd hat mehr möglichkeiten die kann irgendwo die die ganzen demonstrationen anmelden“ (677-678). Zusammenfassend kann gefolgert werden, dass Piet sich zwar momentan noch nicht in einer tatsächlich einflussreichen Position innerhalb der rechten Szene befindet. Er ist jedoch dabei, diesen Weg zu gehen und es ist zumindest wahrscheinlich, dass er zukünftig tiefer in die entsprechenden Organisationen eindringt, da er zum einen eine hohe Bereitschaft zur einschlägigen Weiterbildung mit rechtsextremistischer Propaganda und einer Karriere innerhalb der Szene
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aufweist. Zum anderen ist aus der Interpretation seiner Wünsche, Ziele und emotionalen Befindlichkeiten deutlich geworden, dass seine rechtsextremistische Einstellung bereits sehr verfestigt ist und sämtliche Bereiche seines (Privat-)Lebens durchdringt. Insgesamt hat Piet im Zuge seiner Szene-Integration ein biografisches Handlungsschema mit dem Ziel entwickelt, ein politischer Führer zu werden, in das auch seine gemäßigte Selbststilisierung, seine zunehmende Distanzierung von aktionistischen Szene-Handlungen und sein verstärktes schulisches Engagement einzuordnen sind. Die Extremität seiner Einstellung wird auch aus der Argumentation bezüglich des Umgangs mit der NPD deutlich, da hier noch einmal seine klare Ablehnung demokratischer Strukturen betont wird. Piets Eltern lehnen seine Meinung zwar grundlegend ab, Interventionen im Sinne von eindeutigen Verboten oder Einschränkungen sind jedoch – bis auf die Wegnahme der Springerstiefel – wohl nicht erfolgt. Sein Vater wurde lange Zeit nicht über Piets Zugehörigkeit zur rechten Szene informiert, weil Piet sich „diesen stress ersparn wollte“ (701) und konnte folglich diesbezüglich nicht reagieren. Daraus wird zum einen nochmals deutlich, dass der alltägliche Einfluss des Vaters auf das Leben und die Erziehung von Piet durch die Trennung der Eltern kaum noch gegeben war, da er daran nicht mehr aktiv teilnahm. Piet hatte die Möglichkeit, Schwierigkeiten zu vermeiden, in dem er seinen Vater nicht informierte. Piet hat den mangelnden Einfluss und die mangelnde Autorität des Vaters durch die Trennung somit zwar beklagt, durch sein Verhalten aber letztendlich selbst dazu beigetragen, dass der Vater weniger Einfluss nehmen konnte und sich seiner Autorität quasi selbst entzogen, obwohl er sich danach sehnte. Zum anderen kann aber auch geschlossen werden, dass Frau Schmidtlach Piets Entwicklung mit ihrem ehemaligen Mann nicht besprochen hat. Es gab also wahrscheinlich zwischen den Eltern keine Kommunikation oder Absprache im Hinblick auf die Erziehung der Kinder. Piet konnte zwar frei über den Kontakt zu seinem Vater entscheiden, als erziehendes Elternteil wurde dieser jedoch von der Mutter außen vor gelassen. Inzwischen weiß der Vater über Piets Einstellung Bescheid, ist jedoch bereit diese zu tolerieren: „wo er aber sagt mensch junge du bist alt jenuch musst selber wissen was du tust hm was de machst“ (703-704). Mit dem Verweis auf Piets mittlerweile erreichten Erwachsenenstatus lehnt Herr Schmidtlach eine Intervention ab. Daraus kann ein Vertrauen in die Fähigkeiten und Entscheidungen seines Sohnes seitens des Vaters gelesen werden. Es ist aber auch denkbar, dass er eben aufgrund des Alters von Piet keine Einflussmöglichkeit sieht. Im Gegensatz zum Vater hat Piets Mutter seinen Weg in die und in der rechten Szene „immer high life mitbekommen“ (705).
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„klar hat sie immer versucht auf mich einzu.. an mich auf mich einzureden oder auf mich einzustimmen oder mir (.) ähm (.) nich meine meinung (unverständlich) aber vielleicht darüber nachzudenken und vielleicht davon wegzukommen oder (..) hm also sie sie war kein fürsprecher sagen wir mal so das nich aber ich sage ich hab ne sehr tolerante mutter sie hat das obwohl sie ne andere meinung annimmt und ähm (.) ne andre meinung hat das hinjenommen dass dass ich so bin und hat jetzt aber nich versucht jetzt ähm richtich (laut bis *) zwar aktiv auf mich einzuwirken indem se das jespräch oder die die diese konfrontation jesucht hat aber nich irgendwie jetzt maßnahmen oder sonstigem mich da versucht hat wie mit jesacht mit jewalt oder irgendwie mit verboten davon abzubringen oder mir (*) (.) mich da irgendwie einzuschränken“ (705-715)
Aus dem Erzählsegment können folgende Dinge geschlossen werden: Zum einen wird deutlich, dass Frau Schmidtlach aus Sicht ihres Sohnes keine rechte Einstellung vertritt oder mit ihr sympathisiert, sondern ihr vielmehr eindeutig ablehnend gegenüber steht. Zum zweiten hat sie versucht, auf Piet einzuwirken und ihn mit ihrer Ablehnung ausführlich konfrontiert. Zum dritten ist ersichtlich, dass sich ihre Interventionen hauptsächlich auf aufklärende und konfrontative Diskussionen beschränkten. Verbote erteilte sie (bis auf die Ausnahme Springerstiefel) wohl nicht, was ihrem aus Piets Erzählung bisher herausgearbeiteten Erziehungsstil entspricht. Der von Piet geschilderte Umgang der Mutter mit seiner Einstellung lässt auf eine hohe Verinnerlichung demokratischer Strukturen bei Frau Schmidtlach schließen, da sie in der Lage ist, eine zu ihrer eigenen Einstellung konträre Orientierung zu tolerieren. Piet erlebt seine Mutter also auch in Bezug auf seine rechte Einstellung als tolerant und nachgiebig. Aus seiner Formulierung „auf mich einzureden“ kann geschlossen werden, dass die Versuche seiner Mutter, ihn auf kommunikativem Wege zu erreichen und sich mit ihm auseinanderzusetzen, von ihm nicht angenommen bzw. erwidert wurden und – wie aus seiner diesbezüglichen Entwicklung hervorgeht – vor allem keinen Einfluss auf ihn hatten. Interessant ist die von Piet verwendete Untertreibung „sie war kein fürsprecher sagen wir mal so“ (708709). Stünde dieser Satz alleine, könnte angenommen werden, dass Frau Schmidtlach eine eher neutrale Haltung zu Piets Orientierung vertritt und ihr nicht klar ablehnend gegenüber steht. Durch die Betrachtung der gesamten Sequenz stellt sich dies jedoch anders, nämlich wie oben bereits beschrieben, dar. Es stellt sich nun die Frage, warum Piet diesen flapsigen Ausdruck in Bezug auf die Interventionen seiner Mutter verwendet. Es kann vermutet werden, dass sich darin erneut Piets Kritik am liberalen Erziehungsstil seiner Mutter ausdrückt, „die immer alles auf diese demokratische art und weise versucht“ (721) hat. Zwar schildert Piet, dass auch Verbote ihn nicht beeindruckt hätten, da er ein „sturkopf“ (717) sei, dies wird jedoch durch die Episode über die Wegnahme der Springerstiefel widerlegt. Dadurch kam es bei Piet zwar nicht zum Umdenken, aber zumindest zur Einhaltung des Verbotes durch die für ihn spürbare Konsequenz.
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Frau Schmidtlach hat Piets Orientierungen aus dessen Sicht schließlich „hinjenommen“ (711) was in Verbindung mit den erfolglosen Diskussionsversuchen resignativ wirkt und auf ihre begrenzte Autorität verweist. Piet sagt an dieser Stelle „dass ich so bin“ (711), wodurch noch einmal die starke Verinnerlichung seiner rechtsextremistischen Einstellung unterstrichen und die Entwicklung eines biografischen Handlungsschemas verdeutlicht wird, das auf eine aktive Rolle innerhalb einer etablierten rechten Szene ausgerichtet ist. Seine Zugehörigkeit zur Szene wird damit zum zentralen Moment seiner biografischen Planungen. Dies wird auch noch einmal durch die von Piet ausgefüllte egozentrierte soziale Netzwerkkarte unterstrichen, in der seine Kameraden (also die rechte Szene) nach der Familie den zweitgrößten Lebensbereich einnehmen.43 4.2.6 Interview mit Frau Schmidtlach – „aus meiner sicht ist mein sohn von anfang an ein kind gewesen was grenzen bis zum äußersten ausgekostet hat“ (24-25) Frau Schmidtlach ist zum Zeitpunkt des Interviews 42 Jahre alt und arbeitet in einem teilakademischen Heilberuf. Sie wirkt aufgeschlossen aber bezüglich der auf sie zukommenden Interviewsituation auch etwas unsicher. Das Interview fand sie „nett“ (371) „okay“ (374). Da Piet zur Mitwirkung bereit war, hat auch sie sich einverstanden erklärt. Im Anschluss an das Interview stellt Frau Schmidtlach Fragen über die Untersuchung und es ergibt sich ein Gespräch. 4.2.6.1 Interpretation der Stegreiferzählung von Frau Schmidtlach Der Stegreiferzählung von Frau Schmidtlach zum bisherigen Leben ihres Sohnes ging folgender Erzählstimulus voraus: I.: „so dann würd ich sie mal bitten ähm mir zu erzählen wie der piet bis heute aufgewachsen ist also wie sein leben verlaufen ist (Frau Schmidtlach: hm) und ich würds gern so machen dass ich ihnen erstmal zuhöre und dann im anschluss vielleicht noch n paar fragen stelle" Frau Schmidtlach: „wie jetzt von der geburt bis jetzt oder wie" I.: „wenn ihnen das recht ist" (3-7) Sequenz 8: „und was erzählt mer da“
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Interessant ist auch Piets vorgenommene Unterteilung der Netzwerkkarte in die Bereiche „Freunde“ und „Kameraden“, was vermuten lässt, dass er auch außerhalb der Szene noch einige Freundschaften mit nicht-rechten Jugendlichen unterhält, die er jedoch weiter entfernt einordnet als die drei namentlich angeführten Kameraden.
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Die Eröffnung der Stegreiferzählung zu Piets Biografie verweist darauf, dass Frau Schmidtlach zunächst unsicher bezüglich der von ihr erwarteten Informationen ist und nach einem Einstieg in die Erzählung sucht. Möglicherweise versucht sie durch ihre Äußerung auch eine Präzisierung im Sinne einer konkreten Frage durch die Interviewerin zu bekommen. Durch die Verwendung des unpersönlichen „mer“ (8), der mundartlichen Mischung aus ich und man, kommt eine von Frau Schmidtlach bei der Interviewerin bezüglich eines Interviews mit einer Mutter vermutete Erwartungshaltung zum Ausdruck. Sie scheint zu überlegen, ob es einen allgemeinen Konsens darüber gibt, was und wie eine Mutter in solch einer Interviewsituation über ihr Kind erzählt. Sequenz 8-9: „na gut also am XX XX XX ist der knabe geboren in a.-stadt da haben wir in der a.-straße gewohnt (..) (I.: hustet) das war alles okay von der geburt (lacht)“
Nach der anfänglichen Verunsicherung und dem Ausbleiben von weiteren Hinweisen durch die Interviewerin beginnt Frau Schmidtlach ihre Erzählung mit dem Geburtsdatum ihres Sohnes. Das „na gut“ (8) könnte dabei für ihre Entscheidung stehen, sich auf die für sie ungewöhnliche Erzählsituation ohne konkrete Fragen einzulassen. Die Nennung der Stadt und der Straße, in der die Familie zum Zeitpunkt von Piets Geburt gewohnt hat, lässt einen ersten Schluss darauf zu, dass Frau Schmidtlach ihre Erzählung anhand von Wohnorten strukturiert. Zu diesem Zeitpunkt war „alles okay“ (9). Aus der Formulierung kann geschlossen werden, dass später eine Zeit kam, in der nicht mehr alles „okay“ (9) war und sie deshalb eine Unterscheidung vornehmen will. Frau Schmidtlach nennt ihren Sohn nicht beim Namen, sondern bezeichnet ihn mit einem ironisierenden Tonfall als „knabe(n)“ (8). Dies kann als Andeutung späterer Konfliktsituationen gelesen werden. „Der knabe“ (8) verweist auf jugend- (oder jungen-)typisches Ausprobierverhalten, das Grenzüberschreitungen und auch abweichendes Verhalten beinhalten kann. Frau Schmidtlach verpackt in diesem Ausdruck auf eine distanzierte Art bereits eine Kritik am Verhalten ihres Sohnes, die jedoch durchaus humorvoll formuliert und vermutlich auch gesehen wird. Sequenz 10-11: „ich weiß jetzt echt nich was ich da erzähln soll also das is so n sehr weitläufiges feld finde ich“
Frau Schmidtlach unterbricht ihre Erzählung, um noch einmal ihre Unsicherheit bezüglich der von ihr erwarteten Informationen auszudrücken. Sie ist sich nicht sicher, wie sie ihre Erzählung strukturieren und was diese beinhalten soll. Frau Schmidtlach ist jedoch nicht unsicher, weil ihr nichts zu Piets bisherigem Lebensverlauf einfällt, sondern weil sie nicht weiß, welche Informationen sie auswählen soll, da es sich um ein „weitläufiges feld“ (10) handelt, sie also sehr vieles über Piets Aufwachsen sagen könnte. Über diese Unterbrechung der
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eigentlichen Erzählung versucht Frau Schmidtlach möglicherweise eine Rückmeldung von der Interviewerin darüber zu bekommen, welche Informationen für die Untersuchung von Interesse sind. Denkbar ist auch, dass sie versucht die Interviewerin zu einer konkreten Frage anzuregen, da ihr die von ihr gewünschte freie Erzählung seltsam und vielleicht auch unangenehm erscheint. Sequenz 11-12: „da war alles in ordnung der hat seine krippe besucht ab einem jahr kindergarten so wie s zu ddr zeiten (.) pflicht und na (holt tief luft) ja is in kindergarten gegang“
Frau Schmidtlach betont hier noch einmal, dass alles „in ordnung“ (11) war, was für die obige Interpretation spricht. Piet hat die Krippe und danach den Kindergarten besucht. Interessant ist die Formulierung „wie s zu ddr zeiten (.) pflicht“ (12), bei der sie vor dem sprachlogisch eigentlich folgenden „war“ abbricht. Der Besuch von Krippe und Kindergarten war zwar in der DDR aufgrund der Berufstätigkeit der meisten Frauen weit verbreitet, aber keine Pflicht. Es stellt sich nun die Frage, warum Frau Schmidtlach dennoch von Pflicht spricht. Denkbar wäre, dass sie die DDR-Zeit generell als eine Zeit der Reglementierung in Erinnerung hat und diese Formulierung wählt, weil sie sich in die üblichen Strukturen gezwungen fühlte. Es könnte aber auch sein, dass „pflicht“ (12) hier als Ersatzbegriff steht, über den sie die zeitige Fremdbetreuung von Piet, die in der BRD so nicht üblich war, legitimiert. Sequenz 12-15: „dann sin mer umgezogen da war ja dann wende sind wir nach b.-stadt gezogen und von dort aus (..) is er erste klasse schule dann hat er die erste klasse auch absolviert dann is er krank geworden das hat er ihnen ja erzählt ne (I.: hm) denk ich mal genau“
Der Umzug in eine andere Stadt ist für Piet gleichzeitig mit einem neuen Lebensabschnitt, nämlich seiner Einschulung verbunden. Weiterhin kann vermutet werden, dass der Umzug der Familie nach B.-Stadt in Zusammenhang mit den Veränderungen im Zuge der Wende stand. Aus dem Kontextwissen ist bekannt, dass die Familie nach wie vor im Osten Deutschlands lebt, es also hier nicht um einen Umzug nach Westdeutschland geht. Der konkrete Anlass für den Umzug geht aus der Erzählung an dieser Stelle nicht hervor. Das Festmachen der Einschulung am Umzug nach B.-Stadt spricht für die oben bereits vermutete Strukturierung der Erzählung anhand von Wohnorten. Für Frau Schmidtlach scheint es eine besondere Bedeutung zu haben, dass Piet die erste Klasse abgeschlossen hat, bevor er krank wurde. Auffallend ist auch die Formulierung „absolviert“ (14), die eher für den erfolgreichen Abschluss einer Schulkarriere, Lehre, etc. verwendet wird. Eventuell hatte die erste Klasse für sie jedoch eine besondere Bedeutung, weil es für längere Zeit die einzige Klasse war, die Piet als gesundes Kind durchlaufen hat. Da die Zukunft von Piet aufgrund der Schwere der Krankheit zum damaligen Zeitpunkt ungewiss war, könnte es für Frau Schmidtlach sozusagen ein Trost gewesen sein, dass er zumindest diese Klasse geschafft hat.
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Piets Mutter geht weiterhin davon aus, dass Piet im Interview bereits von seiner Krankheit erzählt hat. Mutter und Sohn haben sich also vermutlich über das Interview unterhalten. Da die Interviewerin dies bestätigt, führt Frau Schmidtlach die Art der Erkrankung nicht genauer aus. Sequenz 15-17: „und da war er dann zwei jahre krankenhaus (.) oder krankheitsaufenthalt oder wie mer das nennen will also ein jahr krankenhaus straff dann ein jahr zu hause“
Piets Erkrankung hat einen längeren Krankenhausaufenthalt zur Folge. Aus der stockenden Sprechweise von Frau Schmidtlach kann geschlossen werden, dass dieses Thema emotional hoch besetzt ist. Auffällig ist, dass sie ebenso wie Piet in seinem Interview Schwierigkeiten mit der Benennung des Krankenhausaufenthaltes hat – „zwei jahre war ich hier in a.-krankenhaus in (..) nh (.) krebs abteilung für kinder wenn man das so nennen kann nennen darf ja (..)“ (Interview Piet 20-21). Möglicherweise drücken sich dadurch die Angst vor der Lebensbedrohlichkeit der Krankheit und die damit verbundenen negativen Erlebnisse aus, an die sich beide nicht mehr erinnern möchten. Damit verbunden kann auch die Angst vor einer erneuten Erkrankung sein. Frau Schmidtlach spricht von einem Jahr „krankenhaus straff“ (17), wodurch noch einmal die Schwere der Krankheit verdeutlicht wird, die Piet ein ganzes Jahr lang zu einem intensiven Krankenhausaufenthalt zwang. Möglicherweise werden durch die Formulierung auch die unangenehmen und den Patienten belastenden Therapien bei einer Krebserkrankung angedeutet. Sequenz 17-19: „und dann isser (holt tief luft) mit der zweiten klasse wieder eingeschult worden und dann hat er in b.-stadt c.-stadt umgebung schule besucht aus meiner sicht n unauffälliges kind (lacht)“
Piet hat die Krankheit offensichtlich überwunden und konnte wieder die Schule besuchen. Es ist überraschend, dass die Gesundung von Frau Schmidtlach nicht thematisiert wird, da sie für die Familie eine enorme Bedeutung gehabt haben muss. Frau Schmidtlach spricht davon, dass Piet „mit der zweiten klasse wieder eingeschult“ (17-18) wurde. Da er nach der ersten Klasse zwei Jahre lang nicht die Schule besuchen konnte ist klar, dass es sich um eine Rückstufung in die zweite Klasse handelte, was von Frau Schmidtlach jedoch nicht erwähnt wird. Zwar wäre es durchaus möglich, dass Frau Schmidtlach diesen logischen Schluss bei der Interviewerin voraussetzt. Da Piets Leben und damit auch das ihre jedoch zwei Jahre lang von der Krankheit geprägt wurde und er davor nur ein Jahr lang die Schule besuchte, scheint es wahrscheinlicher, dass Frau Schmidtlach Piets Wiederaufnahme des Schulbesuchs als Einschulung bzw. den (Neu-)Beginn seines Lebens als Schulkind empfand. Er setzte mit seiner schulischen Laufbahn quasi an der Stelle wieder ein, an der er durch den Ausbruch der Krankheit aus seinem Leben als Schüler herausgerissen wurde. In dieser Sequenz
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findet sich darüber hinaus eine weitere Bestätigung für die Strukturierung des Lebenslaufes von Piet anhand von Orten – „in b.-stadt c.-stadt umgebung schule besucht“ (18-19). Frau Schmidtlach knüpft an die Erzählung des fortgesetzten Schulbesuchs von Piet mit dem Hinweis an, dass es sich bei ihm aus ihrer Sicht um ein „unauffälliges kind“ (19) handelte. Es stellt sich die Frage, warum Frau Schmidtlach an dieser Stelle darauf verweist, zumal sie einen Begriff verwendet, der in diesem Zusammenhang medizinisch anmutet. Da Frau Schmidtlach das Thema der Untersuchung kennt, liegt es nahe, dass sie auf die Normalität von Piets damaliger Entwicklung verweisen möchte und kausale Zusammenhänge zu seiner heutigen Einstellung ausschließt. Dies entspricht wiederum ihrer anfänglichen Darstellung einer Geburt bei der alles „okay“ (9) war und des Kleinkindalters in dem „alles in ordnung“ (11) war. Der hinter diesen Hinweisen eigentlich liegende Gegenstand – nämlich Piets Entwicklung zum organisierten rechten Jugendlichen – wird von Frau Schmidtlach zwar nicht thematisiert, scheint der Struktur der Stegreiferzählung jedoch (unbewusst) immanent zu sein. Frau Schmidtlach schließt über die Kennzeichnung der einzelnen Entwicklungsabschnitte von Piet als „unauffällig“ (19) oder „in ordnung“ (11) einen ursächlichen Zusammenhang zu seiner aktuellen Entwicklung aus. Piet war aus ihrer „sicht n unauffälliges kind“ (19), das heißt, in ihrer Wahrnehmung gab es keine Anzeichen für eine Entwicklung in eine unerwünschte Richtung, so dass ihrerseits auch kein Handlungsbedarf bestand. Sequenz 19-23: „ja und jetzt dann hatten sie ihm noch während der krankheit eine wie nennt man das rechtschreibschwäche aber nur ne rechtschreibschwäche diagnostiziert nicht ne leserechtschreib sondern nur diesen einen teil und da hat er sich dann entschlossen mit der siemten klasse nachdem s ihn dann selber angepiept hat lernhilfe in anspruch zu nehmen“
Mit dem Rahmenschaltelement „ja und jetzt dann“ (19) leitet Frau Schmidtlach zu einem neuen Thema über, nämlich zu der Diagnostizierung einer Rechtschreibschwäche bei Piet und einer aus diesem Grund von ihm in Anspruch genommenen Lernhilfe. Das „ja und jetzt“ (19) lässt die Vermutung zu, dass Frau Schmidtlach mit ihrer Erzählung gedanklich schon in der Gegenwart, also bei Piets aktuellem Besuch des Gymnasiums, angekommen war, ihr dann jedoch die Rechtschreibschwäche als erwähnenswert einfiel. Die Rechtschreibschwäche ist bei Piet rechtzeitig vor seiner erneuten Einschulung in die zweite Klasse festgestellt worden. Über diesbezügliche therapeutische Maßnahmen erzählt Frau Schmidtlach jedoch nichts. Es bleibt daher offen, ob welche erfolgt sind und nicht erwähnt werden oder ob Piet, was allerdings verwundern würde, keine entsprechende Förderung bekommen hat. Auffallend ist die Überlegung von Frau Schmidtlach, wie man die Lernschwäche überhaupt nennt. Da sie einen ihr sehr nahestehenden Menschen betrifft, für den sie Verantwortung trägt, ist zu vermuten, dass Frau Schmidtlach die Bezeichnung
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bekannt ist. Belegt wird diese Vermutung durch den weiteren Verlauf der Sequenz, in der Frau Schmidtlach die Unterscheidung zwischen einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) und einer Rechtschreibschwäche betont. Diese Richtigstellung scheint ihr so wichtig zu sein, dass sie dafür den angefangenen Satz offen lässt und erst nach der nochmaligen Betonung der korrekten Bezeichnung beendet – "dann hatten sie ihm noch während der krankheit eine wie nennt man das rechtschreibschwäche aber nur ne rechtschreibschwäche diagnostiziert"' (19-21). Durch den Nachtrag „nich ne leserechtschreib sondern nur diesen einen teil“ (21) wird noch einmal die Geringfügigkeit der Lernschwäche im Vergleich zu einer „ganzen“ LRS hervorgehoben. Aus dieser mehrfachen Betonung kann geschlossen werden, dass Frau Schmidtlach dieses Thema unangenehm ist und sie den Eindruck einer stärkeren Lernschwäche vermeiden möchte. Insgesamt betrachtet widmet Frau Schmidtlach in der Erzählung Piets Rechtschreibschwäche wesentlich mehr Zeit als der viel dramatischeren Krebserkrankung. Für Frau Schmidtlach kam zu dem Schock der schweren Erkrankung ihres Sohnes auch noch die Diagnose der Rechtschreibschwäche in Form einer Zuschreibung von Dritten dazu. Ihre eigene Wahrnehmung von Piet als „unauffällige(m)“ Kind oder auch der Wunsch danach wurde von außen in diesem Sinne doppelt zerstört. Erst in der siebenten Klasse entscheidet sich Piet, eine Lernhilfe in Anspruch zu nehmen. Es scheint vorher also tatsächlich keine entsprechende Förderung gegeben zu haben oder aber sie hat nicht den gewünschten Erfolg gezeigt. Deutlich wird an dieser Stelle die zeitige Selbstbestimmtheit von Piet, da er sich trotz seines jungen Alters selbst zu diesem Schritt entschieden hat, weil es „ihn dann selber angepiept hat“ (22-23). Frau Schmidtlach hat also bezüglich der schulischen Leistungen von Piet keinen Druck oder Zwang ausgeübt, sondern ihm die Entscheidung zur Annahme einer Lernhilfe selbst überlassen. Die Formulierung „nachdem s ihn dann selber angepiept hat“ (22-23) lässt jedoch den Schluss zu, dass es vorher schon jemanden anders „angepiept“ (23) hat, nämlich vermutlich Frau Schmidtlach. Dennoch hat sie ihren Sohn nicht zur Annahme einer Nachhilfe gezwungen, was als Hinweis auf einen relativ liberalen Erziehungsstil gesehen werden kann. Die eigene Vorstellung von guten schulischen Leistungen steht somit einem toleranten und ohne Zwang arbeitenden Erziehungsstil gegenüber, bei dem auch durch eine entsprechende Therapie verbesserbare Schulschwierigkeiten nicht zu einem lenkenden Eingreifen der Mutter führen. Sequenz 23-24: „hats dann eigentlich auch ganz gut gepackt so dass er jetzt meint gymnasium machen zu müssen“
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Mit der Bestätigung, dass Piets Bemühungen erfolgreich waren, leitet Frau Schmidtlach mit einem Zeitsprung zur gegenwärtigen Situation ihres Sohnes über. Piet hat seine Leistungen so sehr verbessert, dass er das Gymnasium besuchen kann. Die Formulierung von Frau Schmidtlach „ganz gut gepackt“ (23) ist ein Understatement, da Piet sich – wie aus dem Interview mit ihm bekannt ist – in der neunten und zehnten Klasse zum Klassenbesten entwickelt hat. Gemeinsam mit dem anschließenden „so dass er jetzt meint gymnasium machen zu müssen“ (24) entsteht der Eindruck, dass Frau Schmidtlach mit dem Besuch des Gymnasiums nicht einverstanden ist und ihn quasi in einer Schulkarriere überflüssig findet. Es zeigt sich allerdings wiederum, dass Piet seine diesbezüglichen Entscheidungen eigenständig trifft und Frau Schmidtlach ihn nicht an der Umsetzung seiner Vorstellungen hindert. Möglicherweise erachtet Frau Schmidtlach den Besuch des Gymnasiums als nicht unbedingt notwendig und tendiert eher in Richtung eines guten Realschulabschlusses und einer anschließenden Ausbildung im Sinne einer soliden Grundlage zur eigenen Existenzsicherung. Dies könnte auch mit Piets langjährigen Schulschwierigkeiten in Verbindung stehen, die vielleicht dazu geführt haben, dass Frau Schmidtlach ihrem Sohn die Weiterführung der Schule bis zum Abitur nicht zugetraut hat bzw. zutraut. Sequenz 24-28: „und aus meiner sicht ist mein sohn von anfang an ein kind gewesen was grenzen bis zum äußersten ausgekostet hat egal ob man was gesagt hat ihm grenzen gesetzt hat er hat sie immer wieder ausprobiert nich nur einmal mindestens fünfmal und wenn er dann so richtig auf die nase gefallen ist hat er selber den rückwärtsgang eingelegt“
Unvermittelt und abrupt geht Frau Schmidtlach von der aktuellen Schulsituation von Piet zu einer Bilanzierung seiner bisherigen (charakterlichen) Entwicklung über. Es verwundert zunächst, warum Frau Schmidtlach an dieser Stelle ihre Erzählung über den Besuch des Gymnasiums abbricht und zu einer Gesamteinschätzung der Persönlichkeit ihres Sohnes wechselt. Setzt man diese und die vorhergehende Sequenz jedoch in Beziehung zueinander kann geschlossen werden, dass Frau Schmidtlach in der Entscheidung von Piet, das Gymnasium zu besuchen, ein Austesten seiner Grenzen sieht, da sie Zweifel an einem erfolgreichen Abschluss des Abiturs hat. In diesem Fall testet Piet also seine Leistungsgrenzen, was für Frau Schmidtlach den gedanklichen Übergang zwischen den beiden Themen schafft. Durch die Betonung Piet sei „von anfang an ein kind gewesen was grenzen bis zum äußersten ausgekostet hat“ (25) weist Frau Schmidtlach die Verantwortung für dieses Verhalten von sich. Piets grenzüberschreitendes Verhalten, mit dem sie sich als Mutter konfrontiert sieht, ist in ihrer Darstellung somit quasi seit seiner Geburt als Wesensmerkmal verankert und durch erzieherische Maßnahmen nicht zu beeinflussen. Ihre Versuche, Piet Grenzen zu setzen, sind immer
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wieder gescheitert. Seinem wiederholten Ausreizen und Überschreiten der gesetzten Grenzen hat sie nichts entgegenzusetzen („egal ob man was gesagt hat ihm grenzen gesetzt hat er hat sie immer wieder ausprobiert“ 25-26). Darin zeigt sich, dass Piet in seiner Erziehung aus Sicht seiner Mutter zwar Grenzen aufgezeigt bekommen hat, ihre Überschreitung jedoch nicht mit Konsequenzen verbunden war, die zu ihrer Akzeptanz und Einhaltung geführt haben. Die einzigen Konsequenzen, die offenbar das Verhalten von Piet beeinflussen konnten, waren gravierend negative Erfahrungen, die er jedoch selbständig gemacht hat und die nicht von der Mutter ausgingen – „wenn er dann so richtig auf die nase gefallen ist hat er selber den rückwärtsgang eingelegt“ (27-28). Eine von außen auferlegte Grenze (die ja auch zum Schutz vor negativen Erfahrungen dient) oder – salopp formuliert – ein von der Mutter geforderter „rückwärtsgang“ (28), ist von Piet nicht akzeptiert worden. Negative Konsequenzen mussten für ihn also erst im Sinne schmerzlicher Erfahrungen spürbar werden. Aus den Formulierungen „bis zum äußersten“ (25) und „nich nur einmal mindestens fünfmal“ (26-27) kann gelesen werden, als wie gravierend Frau Schmidtlach das grenzüberschreitende Verhalten ihres Sohnes erlebt hat. Es kann vermutet werden, dass es dabei zu stärkeren Konflikten und Auseinandersetzungen innerhalb der Beziehung gekommen ist, die aber nicht in einer Veränderung von Piets Verhalten mündeten. Sequenz 28-29: „was wolln se jetzt noch wissen von mir könnse da nich noch n bisschen spezifischer fragen“
In der Erzählcoda der Stegreiferzählung kommt erneut die Unsicherheit von Frau Schmidtlach bezüglich der von ihr erwarteten Informationen zum Ausdruck. Darin lässt sich ihr stichpunktartiger und knapper Erzählstil begründen. Mit der Aufforderung an die Interviewerin, konkrete Nachfragen zu stellen, die ihr das Sprechen über ihren Sohn erleichtern, beendet Frau Schmidtlach ihre Erzählung. Besonderheiten der Stegreiferzählung Frau Schmidtlach nennt in der Stegreiferzählung nicht den Namen ihres Sohnes. Stattdessen spricht sie von „ihm“ (19), „mein sohn“ (24) oder „der knabe“ (8). Die Vermeidung des Namens ihres Sohnes könnte damit zusammenhängen, dass Frau Schmidtlach bezüglich der Anonymisierung des Interviews sichergehen möchte. Die Sprechweise von Frau Schmidtlach ist in der Erzählung stichpunktartig. Sie gibt einen groben Überblick über einige aus ihrer subjektiven Sichtweise wesentliche Ereignisse aus Piets Leben, die sie zum Teil für Außenstehende übergangslos aneinander reiht. Es ist zu vermuten, dass Frau Schmidtlach sich in der
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freien und relativ unstrukturierten Interviewsituation nicht wohl gefühlt hat und die Erzählung deshalb schnell beenden will, um konkrete Nachfragen der Interviewerin zu provozieren, die ihr angenehmer erscheinen. Dies bestätigt sich auch in ihrer Erzählcoda „was wolln se jetzt noch wissen könn se da nich noch n bisschen spezifischer fragen“ (28-29) Rosenthal (1995, S.120) führt das Nicht-Einlassen-Wollen bzw. -Können auf einen Erzählfluss auf eine bestehende Differenz zwischen Präsentationsinteressen und erlebter Lebensgeschichte zurück. Nun geht es zwar um Piets Lebensgeschichte und nicht ihre eigene, dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass Frau Schmidtlach den Erzählfluss nicht zulässt, da er problematische Zusammenhänge (z.B. Scheidung zur Zeit der Krebserkrankung, Angst um den Sohn) zum Vorschein bringen würde, die sie zunächst wohl nicht thematisieren will. In der Stegreiferzählung wurden von Frau Schmidtlach folgende Themenkomplexe beschrieben:
Piets Geburt, der Besuch von Kinderkrippe und Kindergarten, die Erkrankung an Krebs, die Rechtschreibschwäche, die Schullaufbahn und die Verbesserung durch Lernhilfe aus eigenem Antrieb, das grenzüberschreitende Verhalten.
4.2.6.2 Erziehung – Lernen durch Selbsterfahrung und Beziehungsqualität als oberste Prioritäten Frau Schmidtlach setzt in ihrer Erziehung wie bereits beschrieben auf das Lernen durch eigene Erfahrungen. Dieses Prinzip hat sie bereits erfolgreich bei ihrer älteren Tochter angewendet. Dabei initiiert Frau Schmidtlach Situationen, die das Ausprobieren von Dingen und somit das Sammeln von Erfahrungen bezüglich des Umgangs damit in einem geschützten Rahmen ermöglichen. Strikte Verbote gehören nicht in ihre Vorstellungen von Erziehung. „fand immer dass kinder durch selbsterfahrung rauskriegen müssen dass se irgendwelche geschichten nich machen sollen“ (89-80)
Frau Schmidtlach erzählt eine Geschichte, die ihre Erziehungsmethode verdeutlichen soll. Sie hat ihren Kindern den Herd gezeigt und sie darauf hingewiesen, dass er heiß ist und sie sich verletzen können. Die Kinder durften dabei die Herdplatte kurz anfassen, um die Hitze zu spüren, ohne dass sie sich ernsthaft
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verbrennen. Frau Schmidtlach geht davon aus, dass die Kinder dadurch an einem konkreten Beispiel erlebt haben, was „heiß“ bedeutet und in Zukunft diesbezügliche Hinweise von Frau Schmidtlach befolgen werden (76-93). Diese Art des Lernens durch Erfahrung hat bei Piet jedoch nicht funktioniert. Er probiert Dinge trotz negativer Erfahrungen immer wieder aus und lässt sich durch seine Mutter kaum davon abhalten. „die kerze war heiß er stellte das auch immer wieder fest zehnmal bis sein finger verbrannt war es w.. es tat weh und er war der meinung er muss dann immer noch mal in die kerze reinfassen um zu sehen ob die immer noch heiß ist“ (90-92)
Piets wiederholtes und ständiges Austesten und Überschreiten von Grenzen setzt sich von seiner frühen Kindheit bis heute fort. Er akzeptiert gesetzte Grenzen erst, wenn ihre Überschreitung für ihn mit massiven negativen Erlebnissen verbunden ist, er „so richtich kräftig auf de nase fiel“ (94-95). In ihrem Konzept des Lernens durch Erfahrung kann dies durchaus als Erziehungserfolg gesehen werden, allerdings nicht in dem von Frau Schmidtlach gesteckten und gewünschten Rahmen, da Piets Lernprozess erst auf einem sehr hohen negativen Niveau einsetzt. Für Frau Schmidtlach ergeben sich daraus Schwierigkeiten im Umgang mit Piet, da er von ihr gesetzte Grenzen immer wieder ignoriert und sie ihre Handlungsmöglichkeiten erschöpft sieht. „er ließ sich da wenig was sagen und wenn s ihm halt nich jepasst hat dann hat er das so überzogen und überspitzt (.) dass (langgezogen) ich richtich überlegen musste was ich mit diesem kind mache wie ich es erziehe“ (73-76)
Piet überschreitet nicht nur permanent Grenzen, er zeigt dabei auch ausgesprochen aggressives Verhalten. Gegenüber Mitschülern und auch seiner Schwester wird er öfters handgreiflich. Dabei schrecken ihn auch selbst eingesteckte Verletzungen aus den körperlichen Auseinandersetzungen nicht ab (69101). Frau Schmidtlach erlebte diese Zeit als „ätzend“ (103). Sie reagiert ihrem Erziehungsstil entsprechend mit Gesprächen, in denen sie Piet sein falsches Verhalten auseinanderzusetzen versucht. Gewalt oder aber auch Verbote und Strafen wie zum Beispiel Hausarrest lehnt sie ab (106-112). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass Piet für sein Verhalten keine unangenehmen Konsequenzen im Sinne von Strafen und Verboten zu befürchten hatte. Piets Mutter ist sich der Problematik zwar bewusst, hat ihren Erziehungsstil aber trotz seiner offensichtlichen Dysfunktionalität bei ihrem Sohn beibehalten. Die ohnehin schon schwierige Erziehungssituation um Piet wird durch seine schwerwiegende Erkrankung noch verschärft. Das bereits sehr liberale Erziehungskonzept von Frau Schmidtlach veränderte sich durch Piets Krebserkrankung dahingehend, dass nunmehr kaum noch bzw. überhaupt keine
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Grenzsetzungen mehr erfolgten. Frau Schmidtlach reflektiert an dieser Stelle ihre Angst, den Sohn zu verlieren und ihre daraus folgende Unfähigkeit, ihm gewünschte Dinge zu verweigern, als Fehler mit fatalen Auswirkungen auf die gesamte Erziehung von Piet (306-323). Dennoch sah sie für sich in der damaligen Situation keine andere Handlungsmöglichkeit, da sie nicht nur wegen des drohenden Verlustes des Kindes, sondern auch wegen der zeitgleich stattfindenden Trennung von ihrem Mann unter starkem emotionalen Druck stand. Die Ursachen für fehlende Grenzsetzungen werden von Frau Schmidtlach an dieser Stelle auf die Umstände der Krankheit externalisiert. „und in der zeit hab ich garantiert wahnsinnig viele erziehungsfehler gemacht und das heißt nicht wahrscheinlich die hab ich einfach gemacht ähm (..) mh (..) teilweise sogar bewusst weil ich wusste das is verkehrt wenn ich da einfach zu schnell nachgebe aber ich hätte mir auch nich mehr in spiegel gucken können wenn der junge es nich geschafft hätte und ich hätte irgendwas verboten das war so (.) ne absolute diskrepanz mit mir“ (306-311)
Da die Tochter von Frau Schmidtlach nicht benachteiligt werden soll, räumt sie ihr die gleichen Rechte ein wie Piet. Dadurch wird noch einmal unterstrichen, dass Frau Schmidtlach bemüht ist, ihre Kinder gerecht zu behandeln und ihnen gleichermaßen Aufmerksamkeit und Zuwendung zu geben. „und damit meine tochter da nich allzu viel (.) vorteile für den sohn sieht hab ichs bei ihr auch gemacht“ (311-312) „und tja was ich dem einen gestatte muss ich dem anderen auch gestatten“ (322-323)
Frau Schmidtlach reflektiert nicht nur aus ihrer heutigen Perspektive das damalige Geschehen, sondern war sich auch damals der Risiken eines solchen Erziehungsverhaltens bewusst (308-309). Allerdings hat sie das Ausmaß der Folgen unterschätzt. „ich hatte diesen wahn wenn alles überstanden is krieg ich das schon wieder hin diese erziehungsfehler das sollte man nicht machen (I.: hm) das ist verkehrt grundverkehrt das kriegt man nicht so schnell wieder hin ja“ (312-315)
Frau Schmidtlach befand sich aufgrund der zum damaligen Zeitpunkt zusammentreffenden Ereignisse in einer Ausnahmesituation, die es für sie erforderlich machte, klare Prioritäten zu setzen. Aus ihrer Erzählung wird deutlich, dass die Angst um Piet ihr damaliges Handeln beherrscht hat und sie mit der Gesamtsituation der Familie stark belastet war (313-324). Zwar ist ihr bewusst, dass sich ihr damaliges erzieherisches Handeln negativ auf Piets Verhalten und seine Entwicklung ausgewirkt hat, sie bringt es jedoch nicht mit seiner zunächst als provokativ zu bewertenden Hinwendung zur rechten Szene in Verbindung. Es liegt der Schluss nahe, dass Piet in seiner Suche nach Grenzen und klaren Regeln auch deshalb eine rechte Einstellung wählte, um eine eindeutige Reaktion seiner
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Mutter herauszufordern. Dies war aber für Frau Schmidtlach nicht erkennbar, da ihr eine distanzierte Betrachtung aufgrund der eigenen Involvierung in das Geschehen und die familialen Zusammenhänge nicht möglich war und auch ihrem durchgängig zugrunde liegenden Erziehungsprinzip widersprochen hätte. Frau Schmidtlach wurde von den dicht nacheinander eintretenden Schicksalsschlägen Scheidung und Erkrankung von Piet schwer getroffen und aus der Bahn geworfen. So ging die Trennung von ihrem Mann zwar zunächst von ihr selbst aus, diese war von ihr jedoch nur als eine zeitlich begrenzte, räumliche Distanzierung geplant, um die ehelichen Konflikte, die Herr Schmidtlach ihrer Ansicht nach auf dem Rücken der Kinder austrug, zu entschärfen und die Familie zur Ruhe kommen zu lassen. Frau Schmidtlachs damaliger Mann entschloss sich jedoch zur Scheidung (284-297). Die nahezu zeitgleich auftretende Krebs-Diagnose von Piet stürzte Frau Schmidtlach in eine schwere Krise. Zur Bewältigung der über sie hereinbrechenden Ereignisse nahm sie psychologische Hilfe in Anspruch, worauf sie jedoch nicht näher eingeht (200-303). Frau Schmidtlach erzählt, dass Piet ihr bezüglich ihres nachgiebigen Verhaltens inzwischen Vorwürfe macht und sein mindestens deviantes Verhalten mit ihrer Erziehung begründet (111-112; 114-116). Daraus wird deutlich, dass Piet nach Grenzen gesucht hat, um diese auch zu erfahren und einen angemessenen Umgang mit ihnen zu erlernen. Frau Schmidtlachs Vorstellungen von Erziehung und ihre in Bezug auf sein deviantes Verhalten getroffenen Maßnahmen waren für Piet nicht angemessen und daher unwirksam. Sein (aggressives) Verhalten hat sich in ihren Augen in letzter Zeit positiv verändert, was sie darauf zurückführt, dass er „och öfters mal n verstand ein(schaltet)“ (97). Es kann davon ausgegangen werden, dass Piet aufgrund seines Alters eine gewisse Reife erreicht hat, die vorrangig sein aggressives Verhalten gegenüber seiner Mutter und seiner Schwester gemildert hat. Frau Schmidtlach führt den wahrgenommenen Rückgang von Piets Aggressionen also nicht auf von ihr getroffene konsequente Maßnahmen zurück, sondern auf seine sukzessive Entwicklung zum Erwachsenen.44 Insbesondere das Verhältnis zwischen Piet und seiner Schwester hat sich aus Frau Schmidtlachs Sicht entspannt: „und ja und irgendwo weiß nich (..) so mit dem älterwerden mitm erzähln was weeß ich ham se sich so ganz langsam angenähert“ (270-272). Diese Veränderung führt sie auf einen „entwicklungsprozess“ (276) und das Entdecken von Gemeinsamkeiten (277-279) zurück und könnte auch mit der Verminderung von Konkurrenzgefühlen zusammenhängen, die aufgrund der familiären Situation entstanden sind (mögliche empfundene Benachteiligung gegenüber dem 44
Wahrscheinlich hat Piet durch seine stark verbesserten Noten und den Besuch des Fachgymnasiums ein neues Selbstbewusstsein gegenüber seiner Familie entwickelt und fühlt sich nicht mehr unterlegen, da er jetzt im Leistungsbereich mit seiner Schwester mithalten kann.
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unbeschwerten Aufwachsen der Schwester aufgrund der Krebserkrankung vs. möglicher empfundener Benachteiligung aufgrund der krankheitsbedingten hohen Aufmerksamkeit der Mutter für den Bruder) und die nun überwunden wurden. Frau Schmidtlach spricht außerdem davon, dass ihr geschiedener Mann Piet als „goldsöhnchen“ (301) gegenüber ihrer Tochter bevorzugte, während letztere „viel abjekricht“ (299) und unter der Ehe „gelitten“ (300) hat. Auch dieser Umstand kann zur Geschwisterrivalität beigetragen haben und bietet einen weiteren möglichen Grund für Piets aggressives Verhalten: Während seine Schwester augenscheinlich besser mit der Art und dem Erziehungsverhalten der Mutter harmonierte, betraf das bei ihm den Vater. Durch die Trennung der Eltern entstand nun für ihn ein Ungleichgewicht im Familiensystem, da der mit seiner Art harmonierende Gegenpart in Form des Vaters fehlte und das mit einer verschlechterten Position einherging. Frau Schmidtlach setzt auch im schulischen Bereich auf die Eigenständigkeit ihrer Kinder, deren diesbezügliche Entscheidungen sie zwar begleitend unterstützt aber keinesfalls forcieren will. Die in der Stegreiferzählung zum Ausdruck kommende Skepsis bezüglich Piets Wechsel auf das Gymnasium wird hier konkretisiert. Frau Schmidtlach hatte aufgrund von Piets Lernschwierigkeiten wohl den Eindruck, dass ein guter Hauptschul- oder Realschulabschluss mit einer anschließenden Lehrausbildung für ihren Sohn geeigneter ist (49-64). „und auf einmal hat er angefangen ehrgeiz zu zeigen und hat gelernt ohne dass ich nun dahinter stand also das ja ohne druck von meiner seite (I.: hm) sondern das kam wirklich von ihm dieser gesamte ehrgeiz und auch von ihm der entschluss mit dem abitur und ich hab das dann einfach nur noch so n bisschen in die wege geleitet geschubbt mach ma (lacht)“ (59-63)
Ein wichtiges Erziehungsprinzip ist für sie, im Leistungsbereich keinen Druck auszuüben, sondern erkennbare Talente zu fördern und den Fähigkeiten des Kindes in der gewählten Schul- und auch Ausbildungsform gerecht zu werden. Es geht ihr also darum, den für das betreffende Kind möglichen Abschluss zu erreichen und mindestens eine solide Berufsausbildung zu absolvieren. Ihre Toleranz und der Vorsatz, Druck in der Erziehung zu vermeiden, sind dabei so stark ausgeprägt, dass sie bereit ist, schlechte Leistungen bei ihrem Sohn, die zu einem niedrigeren Schulabschluss führen könnten, zu akzeptieren und diesbezüglich nicht zu intervenieren. Ihre Priorität in der Erziehung ihrer Kinder liegt somit nicht auf dem Erreichen größtmöglicher Leistung, sondern darauf, sie bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeit zu begleiten und zu unterstützen. Piets in der achten Klasse überraschend entwickelter schulischer Ehrgeiz unterlag nicht ihrem direkt ausgeübten Einfluss und muss daher aus einer anderen Motivation heraus entstanden sein. Das Erziehungsprinzip von Frau Schmidtlach – nämlich die Erziehung zur Eigenständigkeit mittels des Lernens durch Erfahrung – spiegelt sich auch in der
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von ihr gewünschten Zukunft für Piet wieder. Die Loslösung der Kinder von ihrer Herkunftsfamilie gehört für sie selbstverständlich dazu und wird auch gewünscht. Im Vordergrund steht auch hier wieder die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit in Form des Findens eines eigenen Weges. Die Art der Gestaltung von Piets Leben steht dabei für Frau Schmidtlach im Hintergrund. Wichtig sind ihr zuerst das Glück und die Zufriedenheit ihres Sohnes als eigenständige Persönlichkeit (178-182; 214-216). Insofern kann man sagen, dass Frau Schmidtlachs Vorstellungen von Piets Zukunft so lange den seinen entsprechen, wie es ihm in seiner subjektiven Wahrnehmung damit gut geht. Daraus wird erkennbar, dass sie auch bereit ist, seine mittlerweile organisierten politischen Aktivitäten zu akzeptieren, wenn sie zu seinem „weg“ (178) gehören (165-176; 185-200). Frau Schmidtlach geht allerdings davon aus, dass Piet seinen Weg erst noch finden muss. Sie sieht ihn also quasi in einer Übergangsphase zwischen jugendlichem Moratorium und der Übernahme einer eigenen Erwachsenenrolle. Konkrete Wünsche und Vorstellungen bezüglich des von Piet einmal ausgeübten Berufes, der Familienplanung etc. hat Frau Schmidtlach nicht. Mit dieser Einstellung gibt Frau Schmidtlach ihrem Sohn nicht nur die größtmögliche Freiheit bei der Gestaltung seines Lebens, sie gibt auch ein Stück Verantwortung dafür ab. Dies geschieht jedoch im Rahmen ihrer bewussten Erziehung zur Eigenständigkeit. Darüber drückt sich ein starkes Vertrauen in die Fähigkeiten und Kompetenzen ihrer Kinder aus und somit auch in die eigene Erziehung. Ein weiterer wesentlicher Grundstein der Erziehung ist für Frau Schmidtlach die Schaffung und Aufrechterhaltung einer guten Beziehungsqualität, in der auftretende Konflikte gemeinsam bewältigt werden. „was mir besonders wichtich war gott (...) na ja dass es eigentlich nie zu solchen situationen kommt zwischen (.) mutter und kind sag ich jetzt mal wo sich die fronten absolut verhärten sowas hass ich das also so n konflikt entsteht dass keiner mehr mit dem andern reden kann und dass es nich irgendwo doch ne lösung gibt und dass man sich entfremdet total“ (209-213)
Die Beziehung gefährdende Konflikte möchte Frau Schmidtlach unbedingt vermeiden. Aus ihrer drastischen Formulierung „sowas hass ich“ (211) kann geschlossen werden, dass ihre Haltung auf eigenen Erfahrungen beruht, die sie im Umgang mit ihren Kindern auf keinen Fall wiederholen möchte. Aus dieser Angst heraus erklärt sich auch die hohe Bereitschaft von Frau Schmidtlach, Dinge, die konträr zu ihrer Weltanschauung stehen zu akzeptieren, um die Beziehungsqualität zu erhalten. Steht eine zumindest grundlegende Harmonie innerhalb der Familienbeziehung derart stark im Vordergrund, müssen massive Störungen um jeden Preis vermieden werden. Frau Schmidtlach befand sich in Bezug auf Piet wahrscheinlich in einem Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit der Intervention bezüglich seines regelverletzenden und aggressiven
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Verhaltens und ihrer Angst vor dem Verlust der hohen Beziehungsqualität45, was zu einem inkonsequenten Umgang mit Normen und Regeln geführt hat. Konflikte werden in der Familie durch Diskussionen bearbeitet, in denen jedes Familienmitglied seinen Standpunkt darlegen kann. Frau Schmidtlach bemüht sich dabei, den anderen Positionen Verständnis entgegenzubringen (185-191). Auffällig ist, dass sie davon spricht, von ihren „großen kindern“ (187) nunmehr ebenfalls Zuhören und Verständnis zu verlangen. Daraus kann geschlossen werden, dass Frau Schmidtlach dies früher nicht eingefordert hat, sondern die Bedürfnisse der Kinder in den Vordergrund gestellt hat. Dass sie ihre Position rigoros durchgesetzt hat und im jüngeren Alter der Kinder auf erklärende Gespräche verzichtet hat, ist unwahrscheinlich, da dies ihrem bislang herausgearbeiteten Erziehungsstil widersprechen würde. Ziel der familieninternen Diskussionen ist das Finden eines „gemeinsamen weg(es)“ (189). Entscheidungen werden also nicht autoritär von Frau Schmidtlach allein getroffen, sondern gemeinsam mit den Kindern erarbeitet. Frau Schmidtlach ist dabei auch bereit, nicht lösbare Meinungsverschiedenheiten als solche zu akzeptieren und die unterschiedlichen Meinungen nebeneinander stehen zu lassen. „aber wir sind auch schon anander und dann stand das einfach im raum er stand auf seiner meinung und ich auf meiner und manchmal gibts auch keine annäherung in gewissen problemen wenn die total auseinandergehn“ (195-197)
Sie geht nicht davon aus, dass ihre Meinung oder Vorstellung automatisch die richtige ist und sie in einem Konflikt zwangsläufig recht hat. Stattdessen lässt sie die Bewertung solcher Situationen offen, womit sie sich selbst als gleichrangig mit ihren Kindern setzt. Das Mutter-Kind-Verhältnis ist somit nicht hierarchisch strukturiert, sondern gleicht eher einer gleichberechtigten und demokratischen Partnerschaft. „na ja welcher weg is richtich das is so und so so ne jeschichte wer hat recht in einem konflikt wer will sich das anmaßen“ (190-191)
Unterschiedliche Ansichten – darunter versteht Frau Schmidtlach auch Piets Weltanschauung – werden von ihr nicht unbedingt als problematisch wahrgenommen, was für eine sehr demokratische Einstellung von Frau Schmidtlach spricht. Allerdings wird darin auch wiederum deutlich, dass sie Piets Einstellung und vor allem seine daraus resultierenden Handlungen bagatellisiert und nicht als ernstzunehmende Problematik erkennt bzw. erkennen will.
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sowie krankheitsbedingt der Angst vor dem Verlust des Kindes überhaupt
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Verhältnis zwischen Mutter und Sohn Das Verhältnis zu ihrem Sohn wird von Frau Schmidtlach in erster Linie als „offen“ (134) und in Bezug auf seine politische Einstellung charakterisiert. Dabei beschreibt Frau Schmidtlach sich und ihren Sohn als gleichberechtigte Partner in einer Diskussion, deren Verhältnis zueinander unterschiedliche Standpunkte zulässt, ohne darüber die Beziehungsqualität zu gefährden. Frau Schmidtlach räumt dabei der politischen Einstellung von Piet die gleiche Legitimität ein wie ihrer eigenen und nimmt diesbezüglich keine Wertung vor. Im Zentrum der Beziehung steht in Frau Schmidtlachs Augen die gegenseitige Akzeptanz. Unterschiedliche Standpunkte werden sich zwar mitgeteilt, es wird jedoch nichts hinsichtlich ihrer Veränderung unternommen. Wichtig ist vor allem die Aufrechterhaltung der Kommunikation über die relevanten Themen (134-138; 185-199; 209-212). Auch hier findet sich die äußerst liberale (Erziehungs-)haltung von Frau Schmidtlach wieder, die beinhaltet, dass Piet als Person und mit seinen Meinungen und Einstellungen uneingeschränkt akzeptiert und geliebt wird. I.: "was mögen sie besonders an ihm" Frau Schmidtlach: "mh dass er so is wie er is“ (238-239)
Von Frau Schmidtlach wird auf die Frage, was sie an Piet besonders mag, keine bestimmte Eigenschaft genannt, sondern er selbst in seiner ganzen Person. Darüber verdeutlicht sich ein grundlegender Zug von Frau Schmidtlachs Beziehung zu Piet und auch ihrer Erziehung. Die Beziehung zwischen Frau Schmidtlach und ihrem Sohn wird sozusagen als „unzerstörbar“ und von seinem Verhalten unabhängig dargestellt. Ein Kind wird somit in ihrer Vorstellung unabhängig von seinen Eigenschaften aufgrund der Tatsache geliebt, dass es das eigene Kind ist. Dieser Grundsatz ist bei ihr so ausgeprägt, dass sie auch die Nennung von besonders positiv wahrgenommenen Eigenschaften und Charakterzügen verweigert. 4.2.6.3 Wahrnehmung und Umgang mit der rechten Einstellung von Piet – „na ich kanns jetzt nur noch akzeptiern“ (165) Nach ihrem Umgang mit Piets Einstellung gefragt antwortet Frau Schmidtlach: „ja das kann ich mir nich erklärn also im grunde genommen fing das weiß ich nich ich hab auch schon versucht mir das zu erklärn ich denk mal das sind viele punkte (holt tief luft)“ (144-146)
Sie weicht damit der eigentlichen Fragestellung aus und versucht stattdessen, sich mit möglichen Ursachen auseinanderzusetzen. Es ist denkbar, dass Frau Schmidtlach sich aufgefordert fühlt, Gründe zu benennen und eine
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Schuldzuweisung an sie als Mutter befürchtet. Aus diesem Grund übergeht sie zunächst die eigentliche Fragestellung. Sie steht aufgrund der Einstellung ihres Sohnes unter einem Rechtfertigungsdruck, der dazu führt, dass sie ihre eigenen diesbezüglichen Befindlichkeiten außen vor lässt. Weiterhin bricht sie die Erzählung an der Stelle über den Anfang von Piets Hinwendung zur rechten Szene ab und knüpft dann mit der Schilderung von externen Ursachen für seinen Einstieg an. Frau Schmidtlach gibt an, den Grund für Piets Zugehörigkeit zur rechten Szene nicht zu wissen, obwohl sie sich selbst mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Dieser Einleitung folgt jedoch die Aufzählung von verschiedenen zusammenspielenden Ursachen. Frau Schmidtlach sieht nicht einen Grund für Piets politische Einstellung, sondern eher ein Ursachenbündel. Die einleitende Negierung des Wissens um Hintergründe kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass Frau Schmidtlach verdeutlichen möchte, dass es keine ursächlichen Zusammenhänge mit ihr bzw. überhaupt Piets Herkunftsfamilie gibt. „b.-stadt is n bisschen (.) rechts orientiert er hat viele freunde aus dieser (..) richtung sag ich jetzt mal“ (146-147)
Der erste von Frau Schmidtlach angeführte Grund ist die in B.-Stadt weit verbreitete rechte Szene, die dazu führte, dass Piet mit vielen einschlägig orientierten Jugendlichen in Kontakt kam und befreundet ist. Dieser Begründung ist implizit, dass Piet aufgrund des Einflusses seines Umfeldes sozusagen rechts werden musste, da er sich den gegebenen örtlichen Strukturen nicht entziehen konnte. Es findet sich hier ein Widerspruch zwischen der von Frau Schmidtlach angestrebten und geforderten Eigenständigkeit ihrer Kinder und der in dieser Begründung unterstellten Beeinflussbarkeit. „fing dann so mit dreizehn vierzehn an wo ich dachte das is ne phase jeder sucht ja ne rebellion gegen das elternhaus dass mer ja dagegen stinken muss ob mer da nun linksradikal oder n bisschen rechts geht oder mer nun zeugen von jehovas wird auf einmal oder irgendwie so in diese richtung dacht ich halt das richtet sich n bisschen dagegen“ (147-151)
Piets Einstieg in die rechte Szene erfolgte mit dreizehn bzw. vierzehn Jahren. Frau Schmidtlach hat das damals als passageres jugendtypisches Protestverhalten gegen Elternhaus und Erwachsenenwelt verstanden, das dem Zweck diente, sich von eben jenen abzugrenzen und nicht als tatsächliche politische Einstellung. Aus ihrem Vergleich mit anderen möglichen Weltanschauungen, die von Jugendlichen in diesem Alter ausprobiert werden, wird deutlich, dass sie Piets damaliger Entwicklung wohl gelassen gegenüberstand und sie möglicherweise auch nicht ernst genommen hat. „dann hatte er ja nun auch zwei frauen um sich sprich also noch seine schwester die also da auch kräftig immer gegen moniert hat gegen seine meinung (.) ich nun auch noch mit und nun
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isser n bisschen n gruppentyp aus meiner sicht also er braucht die gruppe um sich bestätigt zu fühlen und da gabs nun mal nichts andres oder gibts es auch nichts andres in b.-stadt und das wird mir nun von mehreren seiten oder wurde mir von mehreren seiten bestätigt (.)" (151156)
Piets „phase“ (148) wird trotz der Einschätzung von Frau Schmidtlach als jugendtypisches Probierverhalten in der Familie negativ bewertet. Sowohl Frau Schmidtlach als auch ihre Tochter, beziehen Stellung gegen Piets Meinung und setzen sich mit ihm auseinander. Dies hat jedoch nicht den gewünschten Erfolg und Piet schließt sich einer rechten Gruppierung an. Frau Schmidtlach sieht die Ursache dafür in Piets Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bestätigung. Ihrer Ansicht nach hat somit weniger die inhaltliche Ausrichtung der Gruppe einen Reiz für Piet, sondern die Tatsache, dass es sich um eine Zusammenhalt versprechende Gemeinschaft handelt. Aufgrund der überwiegend rechten Gestimmtheit der (jugendlichen) Bevölkerung von B.-Stadt ist die einzig mögliche jugendliche Gruppierung, der sich Piet anschließen kann, in Frau Schmidtlachs Augen eine rechts orientierte. Frau Schmidtlach legitimiert diese Einschätzung gegenüber der Interviewerin, in dem sie auf Menschen aus ihrem Umfeld verweist, die sie bestätigen. Betrachtet man diesen Teil der Erzählung von Frau Schmidtlach genauer, fällt die Verknüpfung der Auseinandersetzung innerhalb der Familie mit dem Anschluss an die Gruppe ins Auge. Es ist zu vermuten, dass Piet den verbalen Auseinandersetzungs- und Diskussionsversuchen seiner Mutter und Schwester nicht gewachsen war.46 Das Gefühl der Unterlegenheit und möglicherweise auch des AusgegrenztSeins – da er erstens mit seiner Meinung gegenüber den beiden Frauen allein da stand und sich ihnen zweitens auch bezüglich der verbalen Kompetenzen in einer Auseinandersetzung nicht gewachsen fühlte – könnte letztlich dazu geführt haben, dass Piet sich verstärkt der rechten Szene zugewandt hat, da er dort Anerkennung erfahren konnte. Die von Frau Schmidtlach und ihrer Tochter gut gemeinten Versuche, Piet durch Diskussionen von seiner, zunächst wahrscheinlich wirklich aus Protest gegenüber der Erwachsenenwelt angenommenen Meinung abzubringen, haben somit zum Gegenteil des Gewünschten geführt, nämlich zu einer verstärkten Hinwendung von Piet zur rechten Szene. „und er is ja dann nun auch in b.-stadt zur schule gegangen hat also da auch diesen kontakt (..)“ (156-157)
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Frau Schmidtlach bestätigt dies an einer anderen Stelle des Interviews: „sie ist sehr schlagfertig und konnte ihn immer wahnsinnig gut mit worten reizen er war da relativ schnell gefangen ihm fielen die worte nicht so ein“ (263-265)
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Mit diesem Nachtrag weist Frau Schmidtlach darauf hin, wie Piet in die rechte Gruppierung gelangt ist. Piet knüpfte Kontakte zu rechten Jugendlichen in der Schule von B.-Stadt. Bei der Schule handelt es sich wiederum um einen Ort, der sich Frau Schmidtlachs Einfluss weitgehend entzieht. Der Einstieg von Piet in die rechte Szene erfolgte also in den Augen von Frau Schmidtlach durch eine Verkettung von verschiedenen Umständen, die sie jedoch alle außerhalb der Familie ansiedelt. „tja (laut) und das hat sich ja verfestigt so seit seinem dreizehnten lebensjahr is ja immer noch seine meinung (ironisches lachen) und (..) (leise bis *) tja kann ich dann eigentlich nur akzeptiern irgendwo (..) also jeder hat verschiedene meinungen jeder muss selber dahinter kommen was hier irgendwo wahr is oder nicht wahr (.)“ (157-160)
Die von Frau Schmidtlach zunächst angenommene und erhoffte Episodenhaftigkeit der Einstellung von Piet hat sich nicht bestätigt. Stattdessen hat sich seine Zugehörigkeit zur rechten Szene verfestigt und gesteigert. Frau Schmidtlach sieht für sich keine Möglichkeit, Piet diesbezüglich weiter zu beeinflussen. Sie erlebt sich selbst innerhalb des Rahmens ihres Erziehungskonzeptes als handlungsunfähig, mit der Akzeptanz der Meinung als einziger noch möglichen Option. Trotz der auch mit gewaltförmigen Handlungen verbundenen Entwicklung von Piet zum organisierten Rechten hält Frau Schmidtlach weiter an ihrem Erziehungskonzept, dessen oberste Priorität das Lernen anhand der eigenen Erfahrung ist, fest. Piet „muss selber dahinter kommen was hier irgendwo wahr is“ (171-171). „dass die gesellschaft nicht so ist wie man sich das als junger mensch vorstellt ist auch klar dagegen wird och moniert warum er aber grade die richtung genommen hat das dürfen sie mich nicht fragen das weiß ich nicht (I.: hm) is mir selbst n rätsel keine ahnung“ (160-163)
Obwohl Frau Schmidtlach einige Gründe für Piets Zugehörigkeit zur rechten Szene angeführt hat, schließt sie diese Erzählung mit einem erneuten Hinweis darauf, dass sie keine Erklärung hat. Es liegt der Schluss nahe, dass Frau Schmidtlach im Grunde selbst weiß, dass die ledigliche Externalisierung von möglichen Ursachen nicht ausreicht, um eine Erklärung für Piets Orientierung zu finden, aber davor zurückscheut, Ursachen im familialen Zusammenhang zu suchen. Da Frau Schmidtlach selbst eine rechte Orientierung strikt ablehnt, scheint es für sie ausgeschlossen zu sein, dass die Verstärkung von Piets Einstellung von einer jugendlichen Protestform zu einer ernsthaften politischen Überzeugung etwas mit ihrem eigenen Verhalten zu tun haben könnte. Insgesamt wird deutlich, dass Frau Schmidtlach Piets anfängliches Verhalten zwar als jugendtypische Protestform gegen die Erwachsenenwelt und auch die Eltern erkannt hat, den Schluss auf die Frage nach der gewählten Form des
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Protestes – nämlich den, dass Piet etwas gewählt hat, womit er vor allem auch die eigene Mutter schockieren und herausfordern kann – jedoch nicht gezogen hat. „na ich kanns jetzt nur noch akzeptiern (I.: ja) was solls soll ich mich mit ihm rumstreiten oder so ich meine bin in einem Heilberuf tätig ich hab so viele patienten auf arbeit und wenn ich dann das von achtzichjährigen genauso höre wie von meim sohn (holt tief luft) dann kann ich das einfach nur noch akzeptiern das nehm ich nur noch als meinungsäußerung hin das is nich meine meinung die vertret ich auch und das bleibt im raum stehn genauso wenn einer da an außerirdische glaubt ich kann nicht das gegenteil beweisen und kanns einfach nur hinnehmen ich kann zwar versuchen meim sohn meine meinung mit irgendwelchen argumenten darzulegen dass ich sowas in keinster weise gutheißen kann was damals alles abgelaufen is und warum und weswegen und dass ich deswegen also nich noch mal dulden k.. würde in so ner gesellschaft wenn da also irgendwie jemand so in dies.. in dieser richtung an die macht kommen würde aber das wars dann auch schon“ (165-176)
Die rechte Einstellung von Piet wird von Frau Schmidtlach zwar abgelehnt aber toleriert. In ihrem (Erziehungs-)Konzept der Selbsterfahrung sieht sie sich nicht in der Lage, Piet diesbezüglich durch klare Grenzsetzungen zu beeinflussen. Eine solche Intervention würde nicht ihrem auf Vernunft und Erfahrung setzenden Erziehungskonzept entsprechen. Durch ihre Formulierung „jetzt nur noch akzeptiern“ (165) wird deutlich, dass der Zeitpunkt einer möglichen Intervention aus ihrer Sicht bereits verstrichen ist. Piets rechtsextremistische Orientierung hat sich von einer jugendlich-pubertären Rebellion zu einer dauer- und ernsthaften politischen Einstellung verfestigt, der sie nun – nicht zuletzt durch Piets Alter – erst recht machtlos gegenüber steht. Es ist zu vermuten, dass Frau Schmidtlach massive Auseinandersetzungen, die in ihren Augen das Verhältnis zu ihren Kindern ernsthaft gefährden könnten, vermeidet, um eben die gute Beziehungsqualität aufrechtzuerhalten. In diesem Fall entspricht ihr Verhalten nicht nur ihrem Erziehungskonzept des Lernens durch Selbsterfahrung, sondern begründet sich auch aus der Angst, ihren Sohn durch eine zu energische Intervention zu verlieren. Piets Mutter lehnt eine rechte Meinung zwar für sich strikt ab, sie ist jedoch bereit, andere Menschen und auch ihren Sohn mit ihrer Meinung zu tolerieren, da sie aufgrund ihrer vergeblichen Bemühungen bei Piet diesbezüglich resigniert hat. Dabei wird auch deutlich, dass Frau Schmidtlach zwar eine ablehnende Haltung einnimmt, rechtsextremistische Positionen aber durch ihren Vergleich mit dem Glauben an Außerirdische (unbeabsichtigt) bagatellisiert. Vermutlich möchte Frau Schmidtlach dadurch die Unsinnigkeit einer solchen politischen Orientierung betonen, erweckt aber in Kombination mit ihrer tolerant-resignativen Haltung den Eindruck, dass sie die Thematik nicht ernst nimmt bzw. sich ihrer Gefahren nicht bewusst ist. Weiterhin wird in ihrer Argumentation ein Widerspruch deutlich. Einerseits verweist sie darauf, dass sie eine Wiederholung
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der deutschen Geschichte nicht dulden würde, andererseits ist sie aber bereit, einschlägige Einstellungen zu tolerieren und somit ihre Verbreitung in Kauf zu nehmen. Die Wirksamkeit ihrer Argumente bei ihrem Sohn stellt sie selbst durch ihr angefügtes „aber das wars dann auch schon“ (175-176) in Frage. Trotz ihrer Resignation hofft Frau Schmidtlach, dass Piet „dann irgendwann mal noch erkennt dass das vielleicht nich so n günstiger weg is“ (248-249). Auch hier wird aus der Art ihrer Formulierung die Bagatellisierung vor sich selbst und der Interviewerin deutlich. „ich meine er is ja nicht radikal oder gehört nicht zu dieser schlägertruppe würd ich jetzt ihn mal so einschätzen wissen tu ich s natürlich nich vollkommen“ (249-251)
Frau Schmidtlach ist über die aktuelle Art und Intensität der Einbindung von Piet in die rechte Szene nicht informiert oder möchte sie auch nicht wahrhaben. Es liegt nicht in ihrem unmittelbaren Interesse, mehr darüber herauszufinden, da sie das in eine Situation bringen würde, in der sie ihre tolerante Haltung nicht mehr aufrechterhalten könnte. Eine direkte Konfrontation mit ihrem Sohn gilt es für sie aber zu vermeiden, um die Beziehung nicht zu gefährden. Auf die Frage nach der Persönlichkeit ihres Sohnes wirft Frau Schmidtlach ein kokettes „oh da verrat ich ja einiges ja wenn ich das jetzt so erzähle“ (223224) ein. Sie verdeutlicht dadurch ihre Loyalität Piet gegenüber und unterstreicht, dass sie nur Informationen über ihren Sohn preisgeben möchte, mit denen er im Großen und Ganzen auch einverstanden wäre. Piets Mutter schätzt ihren Sohn insgesamt als gutmütigen Menschen ein, der sich von Menschen, die er sehr mag, auch leicht ausnutzen lässt. Bemerkt Piet dies jedoch, wird die Beziehung von ihm rigoros beendet bzw. ins Gegenteil verkehrt, dann „is schluss aus zu“ (227). Piets Reizbarkeit, die sich in ähnlichem Verhalten niederschlägt, wird von seiner Mutter als kalkulierbar beschrieben. „und genauso ist es wenn man ihn in gewissen situationen reizt also ich finde das kriegt man mit (.) gibt es so anzeichen bei ihm“ (227-228)
Zwar weiß Frau Schmidtlach, dass Piet anderen Menschen gegenüber in solchen Situationen auch gewalttätig gehandelt hat (231-232), dies wird von ihr jedoch nicht weiter vertieft. Über den Hinweis auf die Anzeichen seiner Gereiztheit unterstellt sie indirekt die Möglichkeit, der Situation auszuweichen bzw. ihre Eskalation zu verhindern und gibt damit ein Stück der Verantwortung an die Opfer von Piets Aggressionen zurück. Dies mag zunächst überraschen, da sie selbst der Anwendung von Gewalt in der Erziehung sehr ablehnend gegenüber steht (106110). Gerade deshalb jedoch und auch weil Frau Schmidtlach offene massive Auseinandersetzungen mit Piet scheut, entsteht der Eindruck, dass Piets Mutter
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die mit der Aggressivität verbundene Gewaltbereitschaft ihres Sohnes nicht wahrhaben will und bagatellisiert. Frau Schmidtlach beschreibt ihren Sohn im Weiteren als humorvoll, normal intelligent und ehrgeizig, wenn er sich ein Ziel gesetzt hat (232-237). „wenn er sich sehr stark was in kopf gesetzt hat stur so würde ichs mal nennen das versucht er auf jedem weg durchzusetzen“ (234-236)
Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob Piets Eifer, alles für die Erreichung seines gesteckten Zieles zu tun, auch die Bereitschaft zur Anwendung illegitimer Mittel beinhaltet. Bezogen auf seine rechte Orientierung bestätigt dies den bei der Interpretation des Interviews mit Piet entstandenen Eindruck, dass er auch in diesem Zusammenhang bereit ist, seine Überzeugungen und Vorstellungen mit jedem Mittel und „auf jedem weg“ (235) durchzusetzen. 4.2.7 Triangulation der Analyseergebnisse aus den Einzelinterviews – Abschließende Diskussion In diesem Unterkapitel werden die bisherigen Interpretationsergebnisse der Interviews von Piet und seiner Mutter zu einer abschließenden Falldarstellung verdichtet. Dabei steht Piets bisheriger rechtsextremistisch-orientierter Weg vor allem hinsichtlich markanter biografischer Ereignisse und möglicher Weichenstellungen durch erfolgte oder eben nicht erfolgte elterliche Erziehungsmaßnahmen, Einflussnahmen und Interventionen im Mittelpunkt. Die Triangulation der Analyseergebnisse der Interviews von Piet und seiner Mutter lässt in Bezug auf die besonders relevanten Kategorien „bisherige biografische Entwicklung von Piet und ihre Einflussfaktoren“, „familiale Beziehungsqualität“ sowie „Wirksamkeit von elterlicher Erziehung und Interventionen“ die Rekonstruktion folgender Zusammenhänge zu: Aus der umfassenden Analyse der beiden Interviews mit Piet und seiner Mutter kann zunächst herausgearbeitet werden, dass die Beziehungsqualität zwischen Mutter und Sohn gut und von Toleranz und Offenheit gekennzeichnet ist, wobei die Mutter bemüht ist, größere Konflikte zu vermeiden, um das Verhältnis nicht zu gefährden. Dies zeigt sich – neben den entsprechenden Aussagen der Interviewpartner – am hohen Grad der Übereinstimmung der Erzählungen über Piets Biografie sowie die familialen Beziehungen und auch Schwierigkeiten. Dabei stimmen häufig nicht nur die Ansichten zum jeweiligen Themenkomplex, sondern auch die innerhalb der einzelnen Themengebiete bzw. der Biografie gesetzten Akzente überein. Sowohl Piet als auch seine Mutter sind sich der Problematik der fehlenden mütterlichen Autorität in ihrer Beziehung bzw. der
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fehlenden Autorität in Piets Erziehung überhaupt teilweise bewusst und reflektieren sie. Piet sieht seine Mutter weiterhin als Vertrauensperson und klar favorisierten Ansprechpartner für Probleme. Frau Schmidtlach wiederum schätzt ihren Sohn so, wie er ist. Die politische Orientierung von Piet ist ihr bekannt, auch wenn sie das konkrete Ausmaß seiner Aktivitäten nicht genau kennt bzw. kennen will. Die Rolle des Vaters ist seit der Trennung der Eltern eher eine ergänzende und zielt nicht unmittelbar auf Erziehung ab. Das Verhältnis wird jedoch von Mutter und Sohn als sehr gut und zumindest von Piets Seite emotional hoch besetzt beschrieben, was auch die Rekonstruktion von Piets lebensgeschichtlicher Erzählung verdeutlichte. Die Geschichte der Familie Schmidtlach ist von zwei gravierend negativen Ereignissen geprägt und beeinflusst, die nahezu zeitgleich eintraten. Zum einen handelt es sich dabei um die letztlich vom Vater initiierte Scheidung. Zum anderen brach kurz darauf die Nachricht von Piets schwerer Erkrankung an Krebs über die Familie herein. Die Familie befand sich somit in einer akuten Krisensituation, die im täglichen Zusammenleben mit den Kindern vorrangig von Frau Schmidtlach bewältigt werden musste und auch Auswirkungen auf ihr Erziehungsverhalten hatte. Ihr ohnehin schon relativ liberaler, auf Selbsterfahrung und Eigenverantwortlichkeit setzender Erziehungsstil entglitt zur Regellosigkeit. Insbesondere Piet, aber im Zuge der Gleichberechtigung beider Kinder auch seiner Schwester, wurde aus Angst vor dem drohenden Verlust des Kindes aufgrund der Krankheit nahezu alles erlaubt. Hintergrund dieses Verhaltens von Frau Schmidtlach war die Angst, ihrem Sohn im Falle seines Todes in seinen letzten Lebensmonaten etwas versagt zu haben. Frau Schmidtlach war sich zwar der möglichen Konsequenzen ihres Handelns bewusst, sah jedoch aufgrund ihrer moralischen Nöte gegenüber Piet keine Handlungsalternative. Die von Mutter und Sohn beschriebenen Zusammenhänge stehen nicht in einem Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig in ihren unterschiedlichen (auch rollenbedingten) Perspektiven. Nichtsdestotrotz ist der Beziehung zwischen Piet und seiner Mutter eine Problematik immanent, die vor allem mit dem Erziehungsstil der Mutter korrespondiert und sich auch auf seinen Weg in die und in der rechten Szene auswirkt. Hierbei lassen sich mehrere Ebenen herauskristallisieren. Zum einen stößt die grundlegend liberale, auf Selbsterfahrung und an die Vernunft appellierende Aushandlungen setzende Erziehungshaltung von Frau Schmidtlach in Bezug auf Piet an ihre Grenzen. Bei ihm handelte es sich um ein Kind, das seit früher Kindheit durchaus aggressives Verhalten zeigte und klare Grenzen einforderte. Genau diese zu setzen entspricht jedoch nicht dem Erziehungsverständnis von Frau Schmidtlach. Mutter und Sohn befanden sich somit
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in einer bezüglich der jeweiligen Erwartungen an den anderen unbefriedigenden Situation (siehe Abb. 11). Zwar geht das Erziehungskonzept von Frau Schmidtlach in letzter Konsequenz auf. Das Lernen durch Selbsterfahrung funktioniert bei Piet jedoch erst auf einem sehr hohen, von Frau Schmidtlach so nicht vorgesehenen Niveau, nämlich dann, wenn er deutlich spürbare schmerzhafte Erfahrungen macht. Für Piets Bedürfnis nach klaren und eindeutigen Strukturen bedeutet die nachgiebige und demokratische Erziehungshaltung seiner Mutter, dass er sein Verhalten im negativen Sinne steigern muss, um die gesuchte Grenze auch zu erfahren. Dazu kommt der bewusste oder unbewusste Vergleich mit seiner Schwester, in dem er als das schwierigere Problemkind abschneidet, da der Erziehungsstil der Mutter wesentlich besser mit der Schwester harmoniert. Auf einer zweiten Ebene findet sich, parallel zu der ohnehin schon schwierigen Mutter-Kind-Situation, die Scheidungsproblematik und damit die dramatische Wende in der Beziehung zum geliebten Vater (siehe Abb. 12). Diese bleibt zwar in ihrer äußeren Struktur unverändert (gut), beinhaltet aber im inneren eine einschneidende Veränderung für Piet. Die eher auf Autorität setzende Erziehung des Vaters, die von Piet wohl besser angenommen und umgesetzt werden konnte, da sie seinem Bedürfnis nach Sicherheit und klarer Struktur näher kam, brach nämlich aufgrund der räumlichen Trennung weg, wobei es auch nicht gelang, sie in einer anderen, an die neuen Gegebenheiten angepassten Form aufrechtzuerhalten. Piet steht also nunmehr ohne den Ausgleich durch den Vater der für ihn unpassenden Erziehungshaltung der Mutter gegenüber. Auf einer dritten Ebene gewinnt die Problematik eine weitere Verschärfung durch das Auftreten von Piets Erkrankung. Der liberale Erziehungsstil der Mutter wandelt sich zu einem inkonsequenten Laissez-faire Konzept, dass Piet zwar einerseits genießt, welches ihn andererseits aber bezüglich seiner Suche nach Autorität und Grenzen noch weiter in Konflikte treibt. Dazu kommt eine Selbstwertproblematik die wahrscheinlich mit dem Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit zur Zeit der Krankheit sowie auch einer darin begründeten Unterlegenheit gegenüber Gleichaltrigen einhergeht und durch die Feststellung der Rechtschreibschwäche noch verstärkt wird. Aus diesem Konglomerat ungünstiger ineinander greifender Faktoren (siehe Abb. 13) ergibt sich seine Affinität zu Autorität, da er diese einerseits für sich selbst aufgrund seiner diesbezüglichen Defizite in der Erziehung ersehnt und andererseits aufgrund seines aus der Selbstwertproblematik resultierenden Machtstrebens selbst ausüben möchte. Zwar ist es übertrieben zu sagen, dass daraus die Ursache für seine Hinwendung zu und allem Anschein nach auch Karriere in der rechten Szene abgeleitet werden kann. Es kann aber festgestellt werden, dass es relativ wahrscheinlich ist,
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Abb. 11: Piet Schmidtlach: Die Mutter-Sohn-Beziehung: Eingeschränkte Wirksamkeit des erzieherischen Handelns durch grundlegend konträre Bedürfnisse
dass diese Faktoren in Verbindung mit jugendtypischem pubertärem Schockierund Probierverhalten eine Rolle dabei gespielt haben. Nahe liegt, dass es zunächst die Provokation insbesondere gegenüber seiner demokratischen, eine rechte Denkweise völlig ablehnenden Mutter war, die Piet neben den gemeinschaftlichen Freizeiterlebnissen und dem (scheinbaren) Zusammenhalt an einer rechten Haltung gereizt hat. Möglicherweise hat er darüber auch unbewusst versucht, eine autoritäre Grenzsetzung zu erzwingen, da ihm die strikte Ablehnung der Mutter gegenüber einer solchen Haltung bewusst war und er deshalb endlich eine entsprechende Reaktion erwarten konnte, die jedoch – von der Wegnahme der Springerstiefel einmal abgesehen – ausblieb. Stattdessen versuchte Frau Schmidtlach in an die Vernunft appellierenden Diskussionen, Piet von seinem „rechten Weg“ abzubringen, wobei aus seiner eigenen Beschreibung und auch der seiner Mutter geschlossen werden kann, dass er mit der verbalen Überlegenheit der Mutter und auch der Schwester überfordert war. Verbote und Strafen lehnt Frau Schmidtlach ab. Piets Mutter wusste also zwar von seiner rechten Einstellung und hat darauf auch reagiert, ihre Interventionen waren jedoch bei Piet
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Abb. 12: Piet Schmidtlach: Die Vater-Sohn-Beziehung: Einschränkung des väterlichen Einflusses durch den Verlust alltäglicher Gemeinsamkeit
nicht wirksam. Er bemerkte vielmehr, dass die Reaktionen der Eltern seiner Freunde viel konsequenter und klarer ausfielen, was ihn in zweierlei Hinsicht frustrierte. Zum einen erfuhr er auch nach dieser Provokation nicht die ersehnten Grenzen und zum anderen wurde er von seinen Freunden als Sündenbock für gemeinsam begangene Delikte benutzt, da ihm weniger Konsequenzen drohten. Piets bis dahin politisch relativ unmotivierte Zugehörigkeit zur rechten Skinheadkultur verstärkte sich zu einer ernsthaften politisch extremen Einstellung mit der entsprechenden Organisation in einer Kameradschaft. Zu der an die Mutter gerichtete Signalfunktion seines Verhaltens kam nun noch der Bewältigungsaspekt im Sinne der Kompensation von Selbstwertdefiziten durch die in der Szene erfahrene Anerkennung hinzu. Es kann vermutet werden, dass Piet sich seit dem dramatischen Zusammentreffen von Scheidung und Krankheit in einer Verlaufskurve des Erleidens von Ohnmachtsgefühlen und Hilflosigkeit befand, die durch die Verkettung der von ihm nicht beeinflussbaren Ereignisse ausgelöst wurde und die seine Handlungsfähigkeit langfristig einschränkte. Diese Verlaufskurve wurde erst mit dem durch einen Freund initiierten Anschluss an die rechte Szene unterbrochen, durch die sich Piet wieder als anerkennenswertes und selbständig handelndes Individuum wahrnehmen und gestalten konnte. In dieser
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Veränderung begründet sich der von Mutter und Sohn beschriebene plötzliche Ehrgeiz, der schließlich ja auch in einem entscheidenden Sprung in der schulischen Karriere mündete. Es ist dabei zu vermuten, dass Piets neues Selbstbewusstsein auch aus seinem veränderten Status in der Schule resultierte und er sich so insgesamt mehr zutraute. Seine Bekanntschaft mit den rechten Jugendlichen hatte dazu geführt, dass er von anderen Schülern nun (aus Angst) respektiert und weniger gehänselt wurde.
Abb. 13: Piet Schmidtlach: Gesamtdarstellung des biografischen Bedingungs- und Einflussgeflechts
Frau Schmidtlach befand und befindet sich in Bezug auf Piets Entwicklung zum rechtsextremistischen Jugendlichen in einem Konflikt. Ihr oberstes Anliegen innerhalb der Familie ist die Aufrechterhaltung von Harmonie und guter Beziehungsqualität. Auf der anderen Seite handelt es sich bei Piets Einstellung aber um eine Orientierung, die zu ihrer eigenen völlig konträr ist und von ihr aufgrund ihrer starken demokratischen Prägung eigentlich nicht akzeptiert werden kann.
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Frau Schmidtlach befindet sich also in einem Spannungsfeld zwischen ihrem Anspruch an das familiale Verhältnis einerseits und ihrer eigenen politischen und menschlichen Grundhaltung andererseits. Die Lösung dieses Konfliktes erfolgt für sie durch eine Bagatellisierung von Piets Einstellung, die es ihr ermöglicht, ihr tolerantes Verhalten und somit auch die Harmonie in der Beziehung aufrechtzuerhalten. Während Frau Schmidtlach davon spricht, dass Piet ja immerhin nicht radikal und gewalttätig sei, präsentiert ihr Sohn ein manifestes, rechtsextremistisches Weltbild, in dem Gewalt zur Durchsetzung von Zielen akzeptiert und benutzt wird. Ihre Toleranz wird über ihre demokratische Haltung begründet, obwohl die Orientierung von Piet nicht mehr im demokratischen Spektrum angesiedelt ist. Frau Schmidtlachs versuchte Einflussnahme auf Piet durch entsprechende Diskussionen über das Thema hat somit auch eine Legitimationsfunktion, die ihr letztlich die zum Zeitpunkt des Interviews durchaus resignative Haltung erlaubt. Mit den von ihr vertretenen Erziehungsmitteln hat Frau Schmidtlach aus ihrer Sicht alles getan, um ihren Sohn von seinem Weg abzubringen. Da dies nichts genützt hat, kommt nun das Prinzip des Lernens aus Selbsterfahrung zum Tragen, bei dem sie aufgrund von Piets Alter keine entscheidende Rolle mehr inne hat. Dies harmoniert auch mit einer weiteren Facette ihres Erziehungskonzeptes, welches beinhaltet, dass ihre Kinder sich in ihren Fähigkeiten und Lebensvorstellungen frei und ungehindert entfalten können sollen. Dadurch verbietet sich ein gravierender Eingriff in Piets „rechten Weg“ quasi von selbst, da er zumindest momentan zu seiner Lebensvorstellung gehört und somit von Frau Schmidtlach – wenn auch mit Widerwillen – akzeptiert werden muss, da sie sich sonst selbst in einen Konflikt mit ihren eigenen Grundsätzen bringen würde. Die angeführten Grundhaltungen von Frau Schmidtlach sind dabei auch immer unter dem Vermeidungsaspekt von die Beziehungsharmonie gefährdenden Konflikten zu sehen. Zukunftsprognose Charakteristisch für den gesamten Fall ist Piets Autoritäts- und Grenzproblematik, die sowohl von ihm als auch seiner Mutter beschrieben wird. Seine Suche nach Autorität bei gleichzeitigen Versuchen, gesetzte Grenzen massiv zu überschreiten, kann als grundlegendes Handlungs- und Verhaltensmuster herausgearbeitet werden. Daraus kann gefolgert werden, dass Piets Verbleiben in der rechten Szene sehr wahrscheinlich ist, solange er dort seine Affinität zu Autorität erfüllt sieht und sich keine Alternative dazu anbietet. Es ist weiterhin nicht unwahrscheinlich, dass Piet von führenden Köpfen der Szene, die seine autoritätsbezogene Beeindruckbarkeit erkennen und nutzen, zukünftig noch stärker einbezogen und auch instrumentalisiert wird.
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4.3 Der Fall Dennis Behnke – Zwischen „ich hab nun mal n hass“ (349), „ich will mein eltern ja och nich irgendwie in rücken fallen“ (9-10) und „offjewachsen bin ich halt janz normal“ (10-11)
Abb. 14: Dennis Behnke: egozentrierte Netzwerkkarte
Dennis ist zum Zeitpunkt des Interviews 23 Jahre alt. Er lebt – wieder – bei seinen Eltern in einem Reihenhaus am Stadtrand von A-Stadt. Seine Mutter ist in zweiter Ehe mit einem neun Jahre jüngeren Mann verheiratet. Seinen leiblichen Vater kennt Dennis nicht, die Mutter hatte sich von ihm getrennt als Dennis zwei Jahre alt war. Nachdem Mutter und Sohn eine Zeit lang allein gelebt hatten, lernte die Mutter einen neuen Mann kennen und heiratete. Aus dieser Ehe stammt Dennis erste Schwester, die schwer krank ist. Dennis Mutter und sein Stiefvater ließen sich scheiden als er ca. 14 Jahre alt war. Die Mutter lernte kurz darauf ihren zweiten Mann kennen, mit dem sie ebenfalls eine Tochter bekam und bis heute verheiratet ist. Dennis ist in der Vergangenheit mehrfach durch deviantes und delinquentes Verhalten (hauptsächlich diverse Körperverletzungen) aufgefallen. Er gehört einer rechtsextremistisch-orientierten Jugendclique an, über die auch der Kontakt mit der Interviewerin zustande kam. Nachdem er zwei Jahre lang keine Straftat mehr begangen hat, ist er jetzt wegen der Bedrohung mit einer Waffe angezeigt worden. Das diesbezügliche Strafverfahren steht zum Interviewzeitpunkt noch aus.
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Während des Interviews wirkt Dennis aufgeschlossen, höflich und interessiert. Er macht (auch in seiner Erzählweise) einen heiteren und humorvollen Eindruck. Dennis hilft bereitwillig beim Aufbau der Technik und hat keine Scheu vor der Aufzeichnung des Interviews. Im Anschluss an das Interview äußert Dennis, dass er sich gut fühlt und ihm das Gespräch etwas gebracht hat. Er konnte sich mal so richtig aussprechen.47 4.3.1 Interpretation der Stegreiferzählung Ausgangspunkt der biografischen Stegreiferzählung ist folgender Erzählstimulus: I.: „ich möchte dich nämlich erstmal bitten dass du mir erzählst wie du aufgewachsen bist und wie dein leben bis heute verlaufen ist und ich würde es gern so machen dass ich dir erstmal zuhöre und ähm hinterher noch fragen stelle.“ Sequenz 9-10: „ach so na jut ja wie bin ich offjewachsen (...) hm (..) ich will mein eltern ja och nich irgendwie in rücken fallen das is schwierig jetzt zu erklärn“
Dennis möchte seinen Eltern auf keinen Fall durch seine Erzählung „in rücken fallen“ (10). Das betont er gleich im Anschluss an die partielle Wiederholung des Erzählstimulus. Durch die Voranstellung dieses Hinweises vor die eigentliche Erzählung der Lebensgeschichte werden mehrere Dinge deutlich. Zum einen ist Dennis die Unterstreichung seiner uneingeschränkten Loyalität gegenüber seiner Familie wichtig, was für eine relativ große Verbundenheit spricht. Zum anderen entsteht der Eindruck, dass er sich über seine Aussage selbst bezüglich der folgenden Erzählung reglementiert. Zum dritten lässt sich folgern, dass in der Familie Dinge vorgekommen sind, die, würde Dennis sie darstellen, möglicherweise ein negatives Licht auf seine Eltern werfen könnten. Dennis macht gleich zu Anfang des Interviews mittels dieser „Erzählpräambel“ (Schütze 1991, S.208f.) deutlich, dass eine biografische Erzählung folgen wird, in der kritische Stellen zumindest in Bezug auf seine Familie ausgeblendet werden. Besonders ist daran die Offenheit, mit der Dennis hier vorgeht. Immerhin hätte er die betreffenden Ereignisse auch weglassen können, ohne vorher überhaupt darauf hinzuweisen. Die mit einer biografischen Erzählung verbundenen Zugzwänge des Erzählens scheinen für Dennis jedoch bereits quasi im 47
Rosenthal (1995, S.133) verweist auf die heilsame Wirkung von biografischen Erzählungen, die zu einem konstruktiveren Umgang des Biografieträgers mit „den Wechseln, den Brüchen, der Zerrissenheit des Lebens oder auch mit unangenehmen Kontinuitäten und Konsistenzen“ beitragen können. Dieser Effekt ist bei Dennis wohl eingetreten. Die Möglichkeit, seine Gedanken frei und ohne Gegenrede äußern zu können, scheinen bei ihm ein Gefühl der Befreiung und der Sortierung seiner Emotionen bezüglich seiner aktuellen Lebenslage bzw. auch Lebensgeschichte bewirkt zu haben.
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Vorfeld spürbar zu sein, weshalb er ihnen durch die Verbalisierung seines diesbezüglichen Konflikts im Sinne eines Sich-selbst-Versicherns begegnet. Die zwischen der Wiederholung des Erzählstimulus und der darauf folgenden Passage über die Eltern liegende längere Pause lässt darauf schließen, dass Dennis zunächst überlegt, wie er seine Darstellung beginnt und was er überhaupt erzählen (oder eben auch nicht erzählen) möchte bzw. darauf, dass er versucht sich zurückzuerinnern. Für Dennis ist es „schwierig jetzt zu erklärn“ (10). Es ist nicht ganz eindeutig zu erkennen, ob es für ihn schwierig ist zu erklären, wieso er seinen Eltern bei der Erzählung seiner Lebensgeschichte in den Rücken fallen könnte oder ob die Schwierigkeit in der Erzählung seiner Lebensgeschichte an sich liegt. Letzteres könnte sich wiederum aus der selbst auferlegten Reglementierung ergeben. Sequenz 10-11: „off jeden fall äh offjewachsen bin ich halt janz normal wie jedes andre kind och geh ich mal davon aus (.) im osten“
Mit dem Rahmenschaltelement „off jeden fall“ (10) setzt Dennis erneut an und leitet mittels einer weiteren Erzählpräambel (Schütze 1991, S.208f.) zu seiner Geschichte des Aufwachsens über, indem er eine eigentheoretische Bewertung der sich anschließenden Lebensgeschichte in ihrer Gesamtheit voranstellt (vgl. auch Küsters 2009): Er betont die Normalität seines Aufwachsens doppelt, indem er an die Äußerung „janz normal“ (11) noch verstärkend den Nachtrag „wie jedes andre kind och“ (10-11) anbindet. Dies verdeutlicht die hohe Relevanz, die ein „normales“ Aufwachsen für ihn hat. Es folgt allerdings noch ein zweiter Nachtrag, nämlich „geh ich mal davon aus“ (11). Dadurch wird die Vehemenz des ersten Abschnittes relativiert. Dennis ist sich also nicht hundertprozentig sicher, was die tatsächliche Beschaffenheit seines Aufwachsens im Hinblick auf die Dimension „Normalität“ betrifft. Dies lässt – in Verknüpfung mit der ersten Sequenz, in der Dennis familiale Probleme zumindest andeutet – den Schluss zu, dass er sowohl sich selbst als auch sein Gegenüber von der Normalität seines Aufwachsens zu überzeugen versucht. Es kann weiterhin davon ausgegangen werden, dass Dennis eine konkrete Vorstellung davon hat, was unter einem „normalen“ Aufwachsen zu verstehen ist, die er jedoch nicht näher beschreibt. Er setzt also ein allgemeingültiges Verständnis des Begriffes voraus, was eine Explikation gegenüber der Interviewerin aus seiner Sicht überflüssig werden lässt. Die Sequenz endet mit dem Nachtrag „im osten“ (11) nach einer kurzen Pause. Die Unterscheidung zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands scheint für Dennis von Relevanz zu sein, obwohl er zur Zeit der Wende noch sehr jung war. Er hätte statt des Hinweises „im osten“ (11) sonst beispielsweise auch sagen können „in B.-Stadt“ oder in „Thüringen“, etc. Es ist anzunehmen, dass Dennis
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hier sein impliziertes allgemeingültiges Verständnis eines „normalen Aufwachsens“ konkretisiert, in dem er seine biografische Entwicklung in der DDR verortet. Seine Vorstellung von Normalität des Aufwachsens bezieht sich also auf das, was in der DDR darunter verstanden wurde. Daraus kann abgeleitet werden, dass Dennis bezüglich des Aufwachsens in Ost und West Unterschiede vermutet. Dass er trotz seines jungen Alters zur Zeit des kollektivhistorischen Transformationsprozesses „Wende“ vom Aufwachsen spricht, deutet auf eine hohe Bedeutung dieser Zeit für ihn hin. Die kurze Pause spricht dafür, dass Dennis überlegt, ob es zu den bereits vermittelten Informationen noch etwas Wesentliches hinzuzufügen gibt, bevor er zum nächsten Thema übergeht. Sequenz 11-15: „und (.) äh (..) warte (…) bin halt in die schule jekomm mit sechs jahren ganz normal nee mit sieben da bin ich sieben jeworden jenau an dem schultag bin ich sieben jeworden wo ich eingeschult wurde und da lief eigentlich damals noch alles janz normal phhh da hat man kumpels jehabt und da war das nich so und jetze na ja“
Dennis braucht mehrere Anläufe, um seine Erzählung fortzusetzen. Im weiteren Verlauf erzählt er von seiner Einschulung mit sieben Jahren. Dieses Ereignis ist ihm fest im Gedächtnis geblieben, da er am selben Tag Geburtstag hatte. Die Zeit vor seinem Schuleintritt wird von ihm nicht thematisiert. Auffällig ist auch hier wieder die mehrfache Betonung der Normalität seiner Biografie. Allerdings spricht er davon, dass damals noch alles normal war, woraus sich ableiten lässt, dass dies inzwischen nicht mehr der Fall ist. Seine Lebenssituation hat sich irgendwann nach seinem Schuleintritt verschlechtert. Durch den Hinweis „da hat man kumpels jehabt und da war das nich so“ (14-15) kann gefolgert werden, dass Dennis freundschaftliche Beziehungen sich (zwischenzeitlich) bezüglich ihrer Quantität und Qualität in irgendeiner Form negativ verändert haben. Dennis schließt mit den Worten „und jetze na ja“ (15). Er zieht hier einen Vergleich zwischen der damaligen Lebenssituation, also dem Beginn seiner Schullaufbahn, und seiner heutigen Situation, der zu ungunsten der heutigen Lage entschieden wird. Sequenz 15-20: „und dann ging das weiter und dann wurde äh äh dann (.) da hab ich zwei scheidungen mitjemacht (..) mit mein eltern (..) und (.) nee eine scheidung und zwei hochzeiten eine scheidung zwei hochzeiten jenau und bei der ersten scheidung sag ich jetzt mal da fing das dann an also wo se s erste mal jeschieden wurden dann wurde ich och anders (.) weeß nich so in dem sinne wie aber (…) phh“
An den oben beschriebenen Vergleich schließt sich „und dann ging das weiter“ (15) an, womit Dennis den Fortgang der Verschlechterung seiner Lebensumstände im weitesten Sinne bezeichnen könnte. Er belässt es dabei und geht nicht näher auf seine ersten Schuljahre oder das Zusammenleben in seiner Familie ein, sondern knüpft gleich mit der Scheidung seiner Eltern an. Dabei wird
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deutlich, dass Dennis in dieses Geschehen und die damit verbundenen Konflikte emotional hoch involviert war, da er davon spricht zwei Scheidungen „mitjemacht“ (16) zu haben. Besonders auffallend ist Dennis Verwirrung bezüglich der Anzahl der Scheidungen und Hochzeiten und die völlig fehlende zeitliche Verortung. Zunächst spricht er von zwei Scheidungen und einer Hochzeit, korrigiert sich dann jedoch auf eine Scheidung und zwei Hochzeiten. Die Verwechslung von zwei so grundlegenden und extrem gegensätzlichen familialen Ereignissen, lässt auf verwirrende und zumindest temporär inkonsistente familiale Verhältnisse schließen. Es haben sich für die Verwechslung der Anzahl der Scheidungen zwei Varianten der Interpretation gefunden. Möglich wäre, dass Dennis an dieser Stelle die Trennung der Mutter von seinem leiblichen Vater unbewusst mitzählt, da er darunter leidet, seinen leiblichen Vater nicht zu kennen. Zwar kann Dennis die Trennung – er war erst zwei Jahre alt – kaum bewusst miterlebt haben. Wahrscheinlich empfindet er seine – salopp formuliert – „leibliche Vaterlosigkeit“ jedoch langfristig als belastend, nicht zuletzt da sie für ihn eine Identitätsproblematik beinhaltet.48 Denkbar ist jedoch auch, dass Dennis Mutter und sein Stiefvater sich zweimal getrennt haben. Für diese Interpretation würde die im weiteren Erzählen aufrechterhaltene Formulierung der „ersten scheidung“ (18) sprechen. Dennis verstärkt hier sogar noch, in dem er nachsetzt „also wo se s erste mal jeschieden wurden“ (18-19). Dieser Nachtrag schließt einen erneuten Versprecher aus. Die häufigen Sprechpausen und verwendeten Füllwörter verweisen auf eine hohe emotionale Beteiligung von Dennis beim Erzählen dieser Sequenz, die vielleicht auch etwas mit seinem klar gefassten Vorhaben, nichts Schlechtes über seine Eltern zu erzählen, zu tun hat. Es stellt sich weiterhin die Frage, wen Dennis mit der Bezeichnung „Eltern“ eigentlich meint. Es liegt nahe, dass er mit diesem Terminus die Mutter plus ihren jeweiligen Lebenspartner bezeichnet. Die Hochzeiten werden von Dennis nicht weiter kommentiert. Auch sie hat er jedoch „mitjemacht“ (16). Die erste Scheidung benennt Dennis als Zeitpunkt eines Prozesses der Veränderung seiner Selbstidentität (vgl. Detka 2005). Die Belastungen begannen nach oder mit Dennis Schuleintritt und fanden ihren Höhepunkt in der Scheidung der Eltern. Auf eine längere Dauer der familialen Schwierigkeiten verweist die ungenaue zeitliche Zuordnung und die Verwechslung der Ereignisse. Wie seine Veränderung konkret aussah, kann Dennis nicht benennen. Er bricht an dieser Stelle ab. Es ist davon auszugehen, dass es zu diesem Zeitpunkt zu einer krisenhaften Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential in Dennis Leben kam, die zu
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Das Wissen um die Hintergründe stammt aus dem Gespräch mit Dennis Mutter und wurde zum besseren Verständnis der Passage herangezogen.
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einer Veränderung seiner Person geführt hat. Daraus lässt sich eine Bewältigungsfunktion dieser Veränderung ableiten. Sequenz 20-23: „ich habe globe ma alle phasen durchgemacht so im leben ich hab mir ma äh (..) ganz normale mucke anjehört ich hab mich ma janz normal jekleidet ma mich popmäßich jekleidet und janz no.. jut ich jeh mal davon aus dass es jeder so macht die janzen phasen (.)“
Dennis bilanziert hier seine bisherige Jugendzeit im Hinblick auf sein Ausprobieren von verschiedenen jugendsubkulturellen Stilen, er hat „ma alle phasen durchgemacht“ (20). Die Beschreibung der verschiedenen von ihm ausprobierten Stile kommentiert er mit dem Hinweis auf die Üblichkeit eines solchen Ausprobierens, womit er sich wiederum der Normalität seiner biografischen Entwicklung versichert. Das Durchlaufen verschiedener Phasen in der Jugendzeit gehört für Dennis zum Aufwachsen also dazu. Es ist denkbar, dass er mit der zumindest begonnenen Aufzählung seiner ausprobierten jugendkulturellen Stile auch verdeutlichen will, dass er nicht von Anfang an rechts orientiert war. Da er von „ganz normale(r) mucke“ (21) und „janz normal jekleidet“ (21) spricht, kann hier von einem Hinweis darauf ausgegangen werden, dass rechte Musik und Kleidung von ihm nicht als „normal“, im Sinne von nicht zum Mainstream gehörend, klassifiziert werden. Sequenz 23-26: „so mh mh dann bin ich aber äh weil ich ne lese-rechtschreibschwäche hatte bin ich in ne andre schule jekomm in der schule (...) war das äh (.) lehrer und schüler verhältnis janz anders war nich so wie jetzt die lehrer hier sind ihrn stoff durchziehen oder phh die sind droff einjejang off die schüler“
Die anschließende Sequenz beginnt mit dem Markierer „so mh mh dann bin ich aber“ (23), was unter Einbeziehung der vorhergehenden Sequenz dafür spricht, dass die folgende Erzählung etwas mit der Veränderung seiner jugendkulturellen Verortung zu tun hat und zwar in eine Richtung, die nicht von allen Jugendlichen ausprobiert wird. Es handelt sich hier also um eine Überleitung zur Geschichte seines Einstiegs in die rechte Szene, auch wenn noch nichts Konkretes benannt wird. Dennis ist seiner Erzählung nach aufgrund einer Lese-Rechtschreibschwäche auf eine Förderschule gewechselt. Das ist ungewöhnlich, da eine Lese-Rechtschreibschwäche eigentlich noch kein Anlass für den Besuch einer Lernbehindertenschule ist. Es gibt spezielle Förderprogramme, die an Regelschulen durchgeführt werden können, so dass kein Wechsel nötig ist. Gibt es solche Programme an der entsprechenden Schule nicht, kann der betreffende Schüler zeitweilig eine Schule mit Sonderprogramm für Schüler mit Lese-Rechtschreibschwäche besuchen, wo die Schwäche therapiert wird oder außerschulische Hilfen in Anspruch nehmen. Das Wissen um diese Zusammenhänge lässt vermuten, dass es für Dennis Wechsel auf die Förderschule noch andere Gründe gab, die
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hier nicht von ihm thematisiert werden. Der tatsächliche Ablauf kann daher an dieser Stelle (noch) nicht rekonstruiert werden. Den Umgang von Lehrern und Schülern auf der Lernbehindertenschule erlebte Dennis im Vergleich zu seiner alten Schule als viel positiver, da die Lehrer in hohem Maße auf die individuellen Fähigkeiten der einzelnen Schüler eingingen. Seine Erfahrungen vor dem Schulwechsel waren, dass Schüler, die im Unterrichtsstoff nicht mitkamen, irgendwann jeglichen Anschluss verloren. Das wird durch die Stelle „so wie jetzt die lehrer hier sind ihrn stoff durchziehen oder phh“ (25) in diesem Abschnitt deutlich. Daraus kann geschlossen werden, dass Dennis selbst zu den Schülern mit starken Leistungsproblemen gezählt hat, was die obige Interpretation bestätigt. Auch hier nimmt Dennis keinerlei zeitliche Verortung vor, so dass unklar bleibt, in welchem Alter der Schulwechsel erfolgte. Sequenz 26-34: „und da fing das an da warn schon leute in der schule die ((*)) (.) och schon anders jedacht ham (...) und (..) da fing das dann bei mir och an dann über mein leben nachgedacht wie ich (.) wie ich überhaupt was jemacht habe wie ich was besser machen könnte oder so (..) ja (.) und weeß nich und dann bin ich irgendwie so da rein jerutscht ich hab dann die erste (.) die erste kassette von so ner musik von der rechten musik die hab ich mir anjehört da war ich wie alt war ich da (...) globe vierzehn erste kassette da hab ich die erste kassette jehabt die hab ich immer noch zu hause (.) ich mir die anjehört ((laut bis *)) da fing das so an da hab ich so drüber nachgedacht eigentlich isses jar nich mal so verkehrt was die da singen“
Die Sequenz beginnt mit einem Markierer für eine beginnende Veränderung in Dennis Leben. Auf der Lernbehindertenschule lernt Dennis Mitschüler mit einer rechten Meinung kennen. In diese Zeit fallen also seine ersten Kontakte zu rechten Jugendlichen. Er verwendet jedoch den Begriff „rechts“ nicht, sondern spricht von „Leuten“, die „och schon anders jedacht ham“ (27). Diese Mitschüler heben sich durch ihr „anders Denken“ von den anderen ab und nehmen eine Art Sonderstatus in den von ihm im Vorfeld beschriebenen jugendsubkulturellen Stilrichtungen ein. Denkbar wäre hier auch, dass Dennis seine damalige Perspektive aufgreift, aus der er die Ansichten seiner neuen Freunde tatsächlich als anders, im Sinne von ihm aus seinem bisherigen Umfeld nicht geläufig, wahrgenommen hat und sie zunächst noch gar nicht entsprechend zuordnen konnte. Dennis spricht zu Beginn der Sequenz sehr laut. Der Wechsel zwischen der Thematik der vorangegangenen und dieser Sequenz ist wiederum recht abrupt. Über die Erläuterung des positiven Lehrer-Schüler-Verhältnisses kommt Dennis ohne weiteren Übergang zum Beginn seines „Rechts-Seins“. Nach zwei Pausen fügt Dennis hinzu „da fing das dann bei mir och49 an“ (26). Seine rechte Einstellung entwickelte sich also über den Kontakt zu Mitschülern, die diese Einstellung bereits hatten. Die für ihn neuen Ansichten dieser Schüler erreichten ihn zu 49
mundartlich für „auch“
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einem Zeitpunkt, indem in seinem Leben seit längerem verschiedene Problemlagen zusammentrafen, die eine krisenhafte Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential bewirkten. Zum einen dürfte die Scheidung der Eltern etwa in diesen Zeitraum fallen oder zumindest aber die konfliktbelastete Endphase ihrer Ehe. Zum anderen musste Dennis den Schulwechsel bewältigen und war zusätzlich durch die schwere Erkrankung seiner Schwester belastet.50 In dieser, für ihn schwierigen Situation, in der er sich und sein bisheriges Leben stärker hinterfragt, („nachgedacht wie ich (.) wie ich überhaupt was jemacht habe wie ich was besser machen könnte oder so“ 28-29), findet sein Einstieg in die rechte Clique statt, da sie eine für ihn interessante Alternative darstellt. Dieser erfolgt aus seiner Sicht allerdings nicht bewusst und als Ergebnis seiner Überlegungen, sondern passiv. Dennis ist „so da rein jerutscht“ (30). Das „Reinrutschen“ erfolgt im Alter von ca. 12-14 Jahren über einschlägige Musik, in deren Inhalten er sich zumindest zum Teil wiederfinden kann. Diese Musik muss über ihre Inhalte hinaus für Dennis eine besondere Bedeutung haben, denn er bewahrt die erste Kassette immer noch zu Hause auf. Möglicherweise verbindet er damit den Beginn eines bestimmten Zugehörigkeitsgefühls zu einer Freundesgruppe bzw. den Beginn der Peers-Zeit. Sequenz 34-45: „ähm manche lieder ((*)) ich betone immer nur manche lieder das is nicht verkehrt wasse singen weil s is wirklich so aber das traut sich keiner hier auszusprechen das is das problem (I.: hm) so seh ich das (.) und äh die andern lieder so jut die sind nun jeb ich och so zu dass die äh sehr verhetzend sind aber n paar lieder wie jesacht die kann man sich dann selbst (...) mhm freunde von mir wie jesacht die hörn sich och n paar lieder hörn se sich och an sachen och dann kann man och hörn und da isses finde ich isses n janz normales klischee das diese grupp... randgruppe jibts jenauso wie ne gruppe äh linke jibts das is aber ansonsten ich finde ich finde äh das jehört in die jesellschaft so was muss weil es kann nich alles reibungslos ablaufen weil das wär ja blödsinn (.) bräuchten wir ja keen der hier janz oben sitzt“
Diese Sequenz wurde von der vorhergehenden abgeteilt, weil es sich um einen argumentativen Kommentar zu der von ihm gehörten Musik handelt. Dennis beginnt mit einer umfassenderen Bewertung rechtsextremistischer Musik, woran sich eine Belegerzählung über seine Freunde anschließt, die ebenfalls solche Musik hören. Abschließend folgt eine Argumentation über die Zugehörigkeit von rechten und linken Gruppierungen zur Gesellschaft. Dennis nimmt hier zunächst eine Relativierung seines Bezuges zur Musik rechtsextremistischer Bands und dem entsprechenden Gedankengut vor und versucht weiterhin, diese zu legitimieren. Er grenzt sich von dem Teil der Musik, der besonders „verhetzend(e)“ (39) Texte beinhaltet, ab, in dem er mehrfach 50
Auch hier wurde zugunsten einer übersichtlichen Falldarstellung auf später folgende Inhalte der Erzählung vorgegriffen.
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betont, dass er lediglich den Inhalt einiger Lieder für vertretbar hält. Für ihn beinhalten die Texte rechtsextremistischer Bands – wenigstens zum Teil – Sichtweisen, die seiner Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse entsprechen. Diese Sichtweise teilen seiner Meinung nach viele Menschen heimlich, da als rechts eingestufte Ansichten ein gesellschaftliches Tabu darstellen. Die Musik steht für ein verbindendes Element mittels dessen die nicht als gesellschaftskonform wahrgenommenen Ansichten geäußert und transportiert werden können, ohne dass die von Dennis empfundene Grenze, dessen, was unbedenklich geäußert werden kann, von ihm selbst überschritten werden muss. Der von ihm als besonders rassistisch und verfassungsfeindlich wahrgenommene Teil der Lieder führt weiterhin nicht dazu, dass Dennis sich von der Musik bzw. ihren Interpreten insgesamt distanziert. Dieser Teil wird somit von ihm zwar nicht vertreten aber zumindest hingenommen. Die von ihm unterstellte gesellschaftliche Akzeptanz der Musik versucht er mittels der Erzählung über seine Freunde zu belegen. Aus seiner Erzählung kann geschlossen werden, dass er sich auf Freunde bezieht, die prinzipiell nicht zu seinem rechten Umfeld gehören. Auch sie bestätigen die „Hörbarkeit“ der Musik, womit sie wieder in den Bereich der gesellschaftlichen Akzeptanz transportiert wird. Der hier aufscheinende Widerspruch zwischen Mehrheitsmeinung und tabuisiertem Randgruppendenken wird zum Ende der Sequenz noch einmal in Dennis Argumentation deutlich. Einerseits argumentiert er, dass sich nur keiner traut, rechtsextremistisch-orientierte Ansichten (die er bis zu diesem Zeitpunkt inhaltlich noch nicht näher beschrieben hat) zu äußern und unterstellt damit, dass die Mehrheit sie zumindest partiell teilt. Andererseits verortet er sich selbst mit seinen rechten Freunden in einer Randgruppe der Gesellschaft. Dieser Widerspruch lässt sich nun wie folgt auflösen. Da Dennis glaubt, viele Menschen würden sich nicht trauen, ihre diesbezüglichen Gedanken zu äußern, kommt der Randgruppe der Rechten die Funktion zu, sozusagen aus einer Stellvertreter-Position heraus zu agieren. Sie sind also seiner Meinung nach diejenigen, die den Mut gefunden haben, das auszusprechen, was ein Großteil der Menschen denkt.51 Gleichzeitig wird aber auch spürbar, dass Dennis sich in einer inneren Auseinandersetzung mit der rechten Ideologie befindet, deren Ausgang noch nicht abzusehen ist. Für ihn gehört die rechte (Rand-)gruppe zwangsläufig in die Gesellschaft hinein. Das gleiche gilt allerdings auch für linke (Rand-)gruppen, was für eine Toleranz auch von gegensätzlichen Positionen spricht. Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen gehören in seiner diffusen Vorstellung von einer durchaus demokratischen Gesellschaft dazu. Die Regelung der auftretenden Konflikte 51
Dieser Zusammenhang wurde bereits von zahlreichen anderen Studien aufgezeigt (vgl. hierzu z.B. die Ergebnisse von Groffmann 2001; Leggewie 1993; Liebscher/Schmidtke 1998; Breymann 2001; Fuchs u.a. 2003).
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obliegt in seiner Vorstellung der Regierung, jemandem „der hier janz oben sitzt“ (44-45) und die Funktion hat, ein friedliches Zusammenleben zu sichern. Insgesamt wird deutlich, dass Dennis durch die Zugehörigkeit zu seinen neuen Freunden und der Einbindung in die rechte Clique zwar zunächst Halt in seiner schwierigen Lebenssituation fand, er sich aber gleichzeitig in einen Widerspruch zu seinem Normalitäts-Streben und dessen Anerkennung begibt, den er durch die beschriebene Stellvertreter-Rolle der Rechten als Meinungsäußerer aufzubrechen sucht. Sequenz 47-54: „klar na ja und da hatte ich dann bin ich dann in de lehre jekomm hatt ich meine schule abgeschlossen n hauptschulabschluss (.) mehr hab ich leider nu nich jekricht (.) ja hab ich ne lehre begonn als koch (.) na ja hab ich die och durchgezogen (..) da fing das dann och so widder an so (...) so hin und her so da wusst ich och nich jetzt jenau wo ich hingehöre (.) ebend (.) (unverständlich) mein ehemaliger chef der war janz (.) jut droff der hat mich dann immer mal so an de große brust jenommen und hat jesacht da musste lang und jeh nicht den falschen weg viele leute sachen immer zu mir jeh nich den falschen weg aber das muss ich selber rauskriegen (...) ja (.)“
Nach Beendigung der argumentativen Passage fädelt sich Dennis schließlich wieder auf der Haupterzähllinie ein. Die Förderschule kann er mit dem Hauptschulabschluss abschließen. Einen Hauptschulabschluss erreichen bei dieser Schulform nicht alle Jugendlichen. Dennis ist damit jedoch offensichtlich nicht zufrieden und hätte gern einen höheren Schulabschluss. Im Anschluss an seine Schule hat Dennis eine Lehre zum Koch absolviert und erfolgreich beendet. Während der Lehre „fing das dann och so widder an so“ (49-50). Es wird nicht ganz deutlich, was Dennis hier meint. Er hatte während dieser Zeit offenbar insgesamt Probleme, sich in seinen Handlungsfeldern zu verorten und eine eigene Identität zu besetzen. Es liegt weiterhin nahe, dass Dennis hier ganz konkret die Zuordnung zu einem bestimmten Freundeskreis bzw. die Entscheidung zwischen zwei Freundeskreisen und wohl auch Ansichten und Lebensweisen meint und er auch auf sein delinquentes Verhalten anspielt. Damit würde sich die oben getroffene Interpretation seiner inneren Auseinandersetzung mit seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene bestätigen, denn das Hin und Her fing „widder“ (50) an, es muss also diesbezüglich bereits schon einmal eine Phase der inneren Unsicherheit gegeben haben. Sein ehemaliger Chef stellt für Dennis eine Bezugsperson in dieser für ihn diffusen Zeit dar, die ihm Halt und Orientierung gibt. Damit verbunden sind auch Warnungen vor dem „falschen weg“ (53). Es könnten sowohl seine rechte Einstellung als auch delinquente Handlungen oder beides in Verbindung miteinander gemeint sein. In dieser Weise wurde er schon von „viele(n) Leute(n)“ (53) aus seinem Umfeld gewarnt. Diese Hinweise führen aber nicht zu einer Veränderung von Dennis Verhalten, denn der muss selbst herausfinden, was für ihn der richtige Weg ist bzw. welche Konsequenzen der falsche Weg für ihn hat. Bereits
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hier deutet sich an, dass Dennis Entwicklung aus seiner Sicht im Sinne von „try and error“ erfolgt, wobei er zwar eine unterstützende Begleitung gern annimmt, eine direkte Lenkung aber für sich nicht umsetzen kann. Sequenz 54-60: „na ja da war ich dann arbeitslos wollte aber nun nicht arbeitslos sein nach der lehre so na ja da bin ich dann (.) offs arbeitsamt und habe och beim italiener jearbeitet also ich bin da (.) geld spielt ne riesengroße rolle da is mir ejal wer mein arbeitgeber is so lange ich das geld habe is mir das total ejal aber dann bin ich dann och widder dort arbeitslos jeworden weil ich mich mit dem ja nun halt jezofft hatte weils ging dann och widder nur ums geld joah und dann habch jetzt wieder arbeit ich bin also jetzt bin ich eigentlich ganz glücklich und zufrieden (..)“
Dennis leitet mit dem Rahmenschaltelement „na ja“ (54) zu der Erzählung über seinen weiteren beruflichen Werdegang über. Nach der Lehre war er arbeitslos. Die Gründe dafür werden von ihm nicht benannt. Da Dennis in einem Hotel gelernt hat, ist seine Arbeitslosigkeit darauf zurückzuführen, dass der Ausbildungsbetrieb ihn entweder nicht übernehmen konnte oder aber wollte. Mit der Situation war Dennis nicht zufrieden und bemühte sich um einen Arbeitsplatz, den er schließlich auch in einem italienischen Restaurant fand. Dass er als Rechter einen italienischen Arbeitgeber akzeptiert, scheint für ihn die Notwendigkeit einer Erläuterung mit sich zu bringen, so dass er hierzu eine legitimierende Argumentation einfügt, in der er auf ein Überwiegen seiner materiellen über seine rechte Orientierung verweist. Die Nationalität seines Arbeitgebers spielt für ihn eine untergeordnete Rolle. Wichtig sind die Arbeit und vor allem das damit verbundene Einkommen. Die Stringenz, mit der Dennis trotz seiner problematischen Situation seine schulische und später auch berufliche Laufbahn verfolgt, lässt insgesamt auf eine materielle bzw. Leistungsorientierung schließen. Aufgrund einer Auseinandersetzung mit seinem Arbeitgeber um das für Dennis so wichtige Thema Geld, hat er die Stelle letztendlich aber verloren. Ob seine rechte Einstellung dabei eine Rolle gespielt hat oder ob sie dadurch im Sinne einer konkreten Negativerfahrung bestätigt wurde, bleibt unklar. Nach der Kündigung hat Dennis sich eine neue Arbeitsstelle gesucht, weshalb er nun, wie er in seiner Bilanzierung ausdrückt „ganz glücklich und zufrieden“ (60) ist. Eine geregelte Arbeit und ein damit verbundenes Einkommen stellen für Dennis wichtige Bausteine bei seinem Streben nach einer Normalbiografie dar, über die er sich definieren und mit denen er sich identifizieren kann. Sequenz 60-69: „ja (.) kleine tochter hab ich och (..) aber mit der (...) frau bin ich nicht mehr zusammen sie hat mit mir sie hat jesacht du kannst jehn und meine tochter darf ich äh so in der hinsicht nicht sehen also ich kann zwar hin kann zwar meine tochter besuchen aber (..) die (.) will das nich dass ich äh mit meiner tochter alleine rausgehe das will se nich warum weeß ich och nich hab ich och keene lust mich mit ihr rumzustreiten (I.: hm) ich bezahle monatlich das jeld dahin habe noch n diverses konto für meine ((leise bis*) kleene das kriegt
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sie dann wenn se achtzehn is halt irgendwann ma kommt ja dann nu die frage wer is der papa (...5) ja (.)“
Im Zusammenhang mit der vorgenommenen Bilanzierung seines bisherigen (beruflichen) Lebensweges führt Dennis ein neues Thema sowie zwei neue Ereignisträger ein und erzählt von seiner Tochter und dem Verhältnis zu seiner ExFreundin. Das „och“ (60) zu Beginn der Sequenz deutet dabei auf die Zugehörigkeit der Tochter zur Bilanzierung hin, in der er sich ja als „ganz glücklich und zufrieden“ (60) beschrieb. Durch die weitere Erzählung wird jedoch schnell deutlich, dass die Gründung einer Eigenfamilie im Sinne eines weiteren Schrittes auf dem Weg in eine Normalbiografie zunächst gescheitert ist. Es fällt auf, dass Dennis zweimal stockt und um Worte ringt, bevor er die Kindesmutter erwähnt, die er dann mit der Bezeichnung „frau“ (61) einführt. Daraus lässt sich schließen, dass das Verhältnis zur Kindesmutter nicht gut ist. Sie hat ihn verlassen bzw., wie aus der Wiedergabe der direkten Rede – „du kannst jehn“ (61-62) – hervorgeht, wahrscheinlich rausgeschmissen. Kontakt zu seiner Tochter darf Dennis nur im Beisein der Kindesmutter haben. Sie mitzunehmen erlaubt ihm seine Ex-Freundin nicht. Aus der Formulierung „meine tochter darf ich so in der hinsicht nicht sehen also ich kann zwar hin kann zwar meine tochter besuchen“ (62-63) kann gefolgert werden, dass er, wenn überhaupt, nur selten Kontakt zu seiner Tochter hat. Die relativ rabiate Beendigung der Beziehung durch die Kindesmutter sowie deren Weigerung, Dennis das Kind allein anzuvertrauen, lassen auf einen massiven Grund schließen, der möglicherweise mit Dennis Straftaten bzw. seinem devianten Verhalten zusammenhängt. Um Streitereien, auf die Dennis keine „lust“ (64) hat, aus dem Weg zu gehen, verzichtet er offensichtlich ganz auf den Kontakt zu seiner Tochter. Dafür spricht auch der eigenartige Erzählmodus in dem Dennis von ihr spricht.52 Er erwähnt keinen Namen, sondern spricht ausschließlich von seiner Tochter. Die einzige andere Formulierung ist die Bezeichnung der Tochter mit einem Spitznamen als „meine kleene“ (67-68) in einem leisen Tonfall. Auch die Passage „irgendwann ma kommt ja dann nu die frage wer is der papa“ (68-69) weist darauf hin, dass Dennis keinen Kontakt zur Tochter hat, denn sonst wüsste sie ja, wer ihr Vater ist. Dennis bezahlt für seine Tochter Alimente und hat noch ein extra Sparkonto eingerichtet, dass er ihr übergeben will, wenn sie 18 ist. Seine Vaterrolle ist somit zumindest in der aktuellen Situation auf einen materiellen Beitrag zur Versorgung des Kindes beschränkt. Mit dem Zerbrechen seiner Eigenfamilie erlebt Dennis ein massives Scheitern bei seinem Streben nach einer Normalbiografie. 52
Dennis vergisst seine Tochter zunächst auch bei der an das Interview anknüpfenden Erstellung der egozentrierten sozialen Netzwerkkarte und fügt sie erst nachträglich ein, rückt sie dann jedoch sehr nah an sich heran, was die Interpretation in Bezug auf eine Verdrängung dieses Themas bestätigt.
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Seine sehr leise Sprechweise an dieser Stelle lässt Rückschlüsse auf seine emotionale Beteiligung und Belastung bei diesem Thema zu. Möglicherweise fühlt er sich auch an seine eigene (leiblicher) vaterlose Kindheit erinnert, die sich jetzt bei seiner eigenen Tochter reproduziert. Der nicht stattfindende Kontakt zur Tochter lässt auf eine Überforderung von Dennis mit der Situation schließen, der er sich durch Verdrängung und Vermeidung bspw. entsprechender Konfrontationen mit der Ex-Freundin zu entziehen sucht, da eine aktive Auseinandersetzung mit der Problematik sein labiles Gleichgewicht bedrohen würde. Sequenz 69-75: „wie bin ich offjewachsen so (..) eigentlich alles janz normal finde ich ((*)) ich hab eigentlich mal alles durchjemacht ich hab ja dann och mal drogen probiert also so isses nich (.) und (..) war ich glücklich (.) ich weeß eins dass ich so jetzt bei den (..) bei den drogen jetze bleibe ich nur beim alkohol und der zigarette das (...) weil das andre zeuch das hat irgendwie null punkte da immer dann fürn paar minuten schön stoned sach ich jetzt mal und dann wars das und fühlt man sich dann wie ausm arsch jekrochen und so wars bei mir (..)“
Im Anschluss an die Erzählung über das Scheitern seines Versuches, eine Eigenfamilie zu leben, kommt Dennis wieder zu seinem eigenen Aufwachsen zurück. Wahrscheinlich hat ihn die Frage „wer is der papa“ (69), die sich ja auch für ihn selbst stellt, wieder daran erinnert, so dass er sich jetzt selbst noch einmal mit dem eigenen Aufwachsen auseinandersetzt. Nach einem erneuten Aufgreifen des Erzählstimulus folgt hier die wiederholte Globalevaluation seines bisherigen Lebensweges als „normal“ (69). Diese neuerliche Selbstvergewisserung zeigt vor allem vor dem Hintergrund des gerade berichteten Scheiterns des Aufbaus eines Aspektes einer Normalbiografie die massive Verstrickung von Dennis in die Widersprüche von eigenem Anspruch und Realität. Er nimmt nun eine Evaluation seiner Jugendphase vor, wobei er sich vor allem auf seine Erfahrungen mit legalen und illegalen Drogen bezieht. Die Formulierung „mal alles durchjemacht“ (70) lässt dabei auf einen aus Dennis Sicht quasiautomatischen Prozess schließen, dem man sich im Sinne eines nahezu zwangsläufigen Vorgangs nicht entziehen kann. In Verbindung mit der vorher betonten Normalität handelt es sich aus Dennis Perspektive also um eine allgemein zu absolvierende Phase des Jugendalters. Dennis hat schon mal Drogen genommen. Die Art, wie er darüber berichtet, lässt den Schluss zu, dass dies für ihn zum Aufwachsen dazu gehört. Das Ausprobieren von Drogen scheint für ihn auch die Bedeutung zu haben, mitreden und sich darüber profilieren zu können. Er präsentiert sich hier als Experte, der die (illegalen) Drogen auf ihren Gebrauchswert getestet und für unbrauchbar befunden hat. Das beim Konsum von Drogen empfundene kurze Glücksgefühl steht für ihn in keinem Verhältnis zu den anschließenden Nachwirkungen, weshalb er sich auf legale Drogen (Alkohol und Zigaretten) beschränkt. Auffallend ist hier,
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dass Dennis Alkohol und Nikotin explizit den Drogen zuordnet. Auch waren es nicht Menschen aus Dennis Umfeld, die durch ihre Einwirkung zu seinem Verzicht auf illegale Drogen beigetragen haben, sondern das Überwiegen der subjektiven negativen Erfahrungen, die er damit gemacht hat. Damit bestätigt sich der bislang gewonnene Eindruck von Dennis Strategie des Lernens aus eigenen Erfahrungen und seinem Suchen nach dem eigenen richtigen Weg. Sequenz 75-82: „ja wie bin ich ja phh (...9) halt janz normal (.) das is komisch (...9) na ja dann bin ich dann halt in g. (Jugendclub) gekommen irgendwann durch zufall un da warn viele (.) ältre leute die sach ich jetzt ma och die meinung hatten das warn mindestens (.) ich sache jetzt mal zehn leute das warn aber och ältre leute die warn doch och dementsprechend och so jekleidet (.) da fing das dann och richtig an dann fing das an ja klamotten kaufen ma so in die richtung dann musik hörn von andern kassetten (.) besorgen lassen dann abspielen (.) also kassette widder überspielen oder cds so fing das an das ist dann so reingerutscht also ich bin da so reingerutscht (..) ja (..)“
Dennis setzt erneut mit der Wiederholung des Erzählstimulus an, bricht dann jedoch ab. Nach einer längeren Pause bilanziert er erneut die Normalität seiner Biografie. Dem schließt sich jedoch der Nachtrag „das is komisch“ (75) an. Seine bisherige Lebensgeschichte kann eher nicht gleichzeitig ganz normal und komisch sein. Es könnte sein, dass Dennis an dieser Stelle des Rekapitulierens seiner Lebensgeschichte durch die Verflüssigung der Erlebnisaufschichtung einen inneren Widerspruch zwischen seinem mit aller Macht geformten Bild des normalen Aufwachsens und seinen Erinnerungen an tatsächliche Situationen sowie auch seinem Einstieg in die rechte Szene und vor allem der damit verbundenen Delinquenz bemerkt. Oder aber Dennis spielt hier erneut auf die Schwierigkeiten des Erzählens unter seiner selbst gesetzten Prämisse des Ausklammerns negativer familialer Aspekte an. Weiterhin lassen die langen Pausen den Schluss zu, dass Dennis an dieser Stelle überlegt, ob er seiner Erzählung noch etwas hinzufügen oder sie abschließen möchte. Nach einer weiteren längeren Pause fügt er eine Erzählung über die Zeit in einem Jugendclub an, während der er Anschluss an eine rechte Clique älterer Jugendlicher gefunden hat, und beschreibt seinen weiteren Weg in die rechte Szene, was vermutlich auf den innerhalb der biografischen Erzählung wirkenden Gestaltschließungszwang zurückzuführen ist. Dennis ist „durch zufall“ (76) in den Jugendclub gekommen. Es lag hier also wiederum keine bewusste Entscheidung oder Suche nach einem neuen oder erweiterten Freundeskreis zugrunde, sondern ein zufälliges Ereignis. Auch zeitlich kann sich Dennis hier wieder nicht verorten, es geschah „irgendwann“ (76). Dennis beschreibt die Mitglieder des Jugendclubs als „ältre leute“ (77), die „och die meinung hatten“ (77). Es wird weder deutlich, was er genau unter „älter“ versteht, noch wird die „Meinung“ näher erläutert. Dennis setzt also wiederum voraus, dass bekannt ist, was er damit meint.
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In diesem Jugendclub ist Dennis auf eine größere Clique von älteren rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen getroffen, die sich auch äußerlich als solche präsentieren und zu erkennen geben. Über den Eintritt in diese Clique verstärkt sich Dennis rechte Orientierung und erreicht eine neue Qualität. Er beginnt sich nun einschlägig zu kleiden. Eine hohe Bedeutung hat auch hier die Musik rechtsextremistischer Bands, die von ihm noch verstärkt rezipiert wird. Es ist zu vermuten, dass in diese Zeit auch die von ihm begangenen Straftaten fallen. Dennis ist auch in diese Szene reingerutscht. Ähnlich wie bei seinem Zusammentreffen mit den rechten Jugendlichen auf der Lernbehindertenschule erlebt er seinen Einstieg also auch hier nicht als aktiv entschiedenen und bewusst gewählten Schritt, sondern im Sinne eines passiven Hineingleitens. Sequenz 82-91: „ja na die hatten sich jetrennt die mussten dann raus weil warn ja och dann natürlich och bisschen älter mussten dann raus ja (..) und da hattch och andre leute kennenjelernt wie so (...) den kumpel von mir den danny den habch da och kennenjelernt ja (..) wir sind och öfters in diskotheken jegangen und ham in diskotheken party jeschoben (...) da da hat man dann natürlich och die andern leute och noch mit kennenjelernt und die sind dann w.. sind dann jenauso jewesen so vom äußerlichen her hastes großartig keim angesehen aber wenn man dann so direkt nachjehakt hat hat man mitjekricht dass die doch so (.) alle son bisschen so die gleiche meinung hatten na ja und (...9) so mehr wars nich (.) na mehr kann ich och nich erzählen ich weeß nich was ich noch erzählen soll“ (lacht)
Die Clique der älteren Jugendlichen in der Dennis sich integriert hatte, muss den Jugendclub schließlich verlassen. Ob dabei außer ihrem Alter noch andere Gründe eine Rolle gespielt haben, bleibt offen. Aus der Formulierung „die hatten sich jetrennt“ (82-83) geht nicht hervor, ob sich die Clique nur aus dem Zusammenhang des Jugendclubs gelöst hat, oder aber ob sie sich auch im Anschluss daran als Gruppe aufgelöst hat. Im Jugendclub hat Dennis außer der rechtsextremistisch-orientierten Clique auch noch „andre“ (84) Jugendliche kennengelernt, darunter seinen Kumpel Danny. Aus dem Kontextwissen geht hervor, dass Danny nicht zu den sich ausdrücklich rechts präsentierenden Jugendlichen gehört. Gemeinsam mit seinen Freunden besucht Dennis häufig Diskotheken, wo sich sein mehr oder weniger rechter Bekanntenkreis stetig erweitert. Allerdings bewegen sich die neuen Bekannten eher nicht im Kreis der sich eindeutig als rechtsextremistisch zu erkennen gebenden Jugendlichen, sondern präsentieren sich weitgehend „normal“53. Die gleiche „meinung“ (90) wie Dennis teilen sie letztendlich aus seiner Sicht trotzdem. Mit der Beschreibung seiner Einbindung in die rechte bzw. rechtsextremistische Jugendszene gelangt Dennis zum Ende seiner Erzählung. Auch an dieser Stelle unterstreicht Dennis nochmals implizit die Normalität und Alltäglichkeit seiner Einstellung. Die Jugendlichen, die er beispielsweise bei 53
Das bestätigt den in Kapitel 2.1 beschriebenen Wandel im äußeren Auftreten der Szene.
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Discobesuchen kennenlernte, hatten in seiner Wahrnehmung letztlich „alle“ (89) eine rechte Meinung. Es ist naheliegend, dass Dennis im Sinne eines Schneeballsystems bei seinen Peer-Aktivitäten im Kontext der rechtsextremistisch-orientierten Clique auch überwiegend ähnlich denkende Jugendliche traf, da die Toleranz gegenüber anders denkenden Jugendlichen in solchen Gruppierungen nicht sehr hoch ist. Auch in dieser Passage benutzt Dennis das Wort „rechts“ nicht, sondern bleibt bei umschreibenden Ausdrücken. Mit der Erzählcoda „so mehr wars nich (.) na mehr kann ich och nich erzählen ich weeß nich was ich noch erzählen soll“ (90-91) schließt Dennis seine Stegreiferzählung nach einer längeren Pause ab. Die Formulierung erweckt den Eindruck, dass Dennis alles in seinem Leben bislang vorgekommene nun erzählt hat („mehr wars nich“ 90). Tatsächlich hat Dennis aber fast seinen gesamten familialen Hintergrund und sein Aufwachsen innerhalb der Familie weggelassen, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass er sich bei diesem Thema aufgrund seiner zu Beginn des Interviews auferlegten Beschränkung keinem Erzählfluss überlassen und deshalb erst gar keine Erzählung darüber beginnen konnte oder wollte. Dies verweist jedoch gerade auf schwierige familiale Konstellationen und problematische Zusammenhänge. In der Stegreiferzählung werden von Dennis die folgenden Themenkomplexe beschrieben:
Schullaufbahn, die Scheidung der Eltern, die Anfänge seines „Rechts-Seins“, Lehre und weiterer Arbeitsweg, seine Tochter, jugendliches Ausprobieren und Jugendsubkultur.
4.3.2 Biografische Gesamtform – Die Ambivalenz zur Normalität und das Streben nach Sicherheit Zu Beginn seiner biografischen Erzählung gibt Dennis mittels einer Erzählpräambel die Beschränkung des Inhalts dieser Erzählung vor, in dem er die Thematisierung von negativen familialen Aspekten ausschließt. Daran schließt sich eine Globalevaluation (Rosenthal 1995) seiner Biografie an, die er als normal verstanden wissen möchte. Die Erzählpräambel enthält also bereits implizit den Hinweis auf eine innerfamiliäre Problematik, die er jedoch nicht thematisieren will. Daraus kann eine starke Bindung an seine Familie abgeleitet werden. Seine daran anschließende
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wiederholte Betonung der Normalität verweist auf deren hohe Bedeutung in seinem Leben, wobei er davon ausgeht, dass es einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens über die Bedeutung dieses Begriffes gibt. Der angekündigten Normalität seiner Biografie folgt dann jedoch eine Erzählung, die zahlreiche Brüche und Schwierigkeiten beschreibt und schließlich in eine Verlaufskurve mündet. Auffällig sind innerhalb der Stegreiferzählung insbesondere zahlreiche Auslassungen wichtiger Ereignisse, die erst später auf konkretes Nachfragen hin beschrieben werden oder sich aus dem Kontextwissen erschließen lassen. Bei Rosenthal (1995, S.119f.) findet sich die Beschreibung eines Interviews in dem die Biografieträgerin eine ähnlich starke Betonung der Normalität ihrer Lebensgeschichte vornimmt wie Dennis, wobei auch sie einen Großteil ihrer Kindheitsgeschichte überspringt. Rosenthal spricht hier von einer „Normalität einfordernden Globalevaluation“ (S.119), die sie auf die Inkongruenz von biografischen Präsentationsinteressen und der erlebten Lebensgeschichte zurückführt. Im Fall von Dennis entstand jedoch eher der Eindruck, dass es weniger um sein Selbstpräsentationsinteresse als vielmehr um seinen starken inneren Wunsch nach einem sicheren, geregelten Leben geht, der zu dieser extremen Hervorhebung der Normalität in seiner Erzählung führt. Dennis ist in sich mehrfach wandelnden familialen Konstellationen aufgewachsen, in denen es keine konstante, positiv wahrgenommene Vaterfigur gab. Sein leiblicher Vater wird von ihm nicht erwähnt, woraus geschlossen werden kann, dass hier kein Kontakt mehr besteht. Nach der Trennung seiner Mutter von seinem leiblichen Vater hat Dennis eine Zeit lang mit seiner Mutter allein gelebt. Diese lernte dann einen neuen Mann kennen. Dennis hatte große Schwierigkeiten mit der neuen Beziehung der Mutter und der kurz darauf geborenen Schwester, da er die Aufmerksamkeit der Mutter nun teilen musste und sich innerhalb der neuen Familienstrukturen zurückgesetzt fühlte. Dies wird jedoch von Dennis an dieser Stelle nicht erzählt, sondern ergibt sich erst aus dem Nachfrageteil (94108; 424-428). Die Erzählung seiner Lebensgeschichte beginnt Dennis mit seiner Einschulung im Alter von sieben Jahren. Bis zu diesem Zeitpunkt hat er sein soziales Umfeld, in dem die Mutter die hauptsächliche Bezugsperson war, als weitgehend stabil, eben „normal“ wahrgenommen. Das Erleben der eigenen Biografie als normal endet jedoch bereits kurz nach seiner Einschulung durch zunehmende Belastungen aufgrund von (schicksalhaften) familialen Ereignissen sowie massiven Schulschwierigkeiten. Seine Verwirrung über die familialen Verstrickungen verdeutlicht sich besonders an seiner Beschreibung der eigenen Beteiligung an zwei Hochzeiten und einer Scheidung, die er zunächst in umgekehrter Häufigkeit benennt. Aus diesem Durcheinander familialer Konstellationen folgt, dass der Begriff Eltern für die Mutter und ihren jeweiligen Lebenspartner verwendet
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wird. Die Scheidung bzw. die Ereignisse um die Trennung seiner Mutter von seinem ersten Stiefvater müssen dabei für ihn ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein, da er damit einhergehend einen Prozess der Veränderung seiner Persönlichkeit beschreibt. Getreu seinem Grundsatz, wird dieses Thema jedoch nicht weiter vertieft. Obwohl Dennis sich also nahezu durchgängig in der Erzählung an seinen gefassten Grundsatz, nichts Negatives über seine Familie zu erzählen, hält, werden von ihm mehrere dramatische Ereignisse umrissen, die zu einer krisenhaften Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential führten, jedoch bezüglich der daran beteiligten Personen und konkreten Inhalte nicht näher erläutert werden. Er verortet sich in seiner gesamten Erzählung weder in einem konkreten familialen Hintergrund und bis auf den Zeitpunkt seiner Einschulung auch kaum in zeitlichen Strukturen. Es entsteht der Eindruck, dass Dennis seine Biografie auf der Folie der Genese seiner rechten Einstellung erzählt. Dies kann allerdings mit seinem Wissen um das Thema der Untersuchung, in deren Rahmen das Interview geführt wurde, zusammenhängen. Seine schulischen Probleme münden schließlich in eine Umschulung auf eine Förderschule, an der Dennis sich aufgrund des guten Lehrer-Schüler-Verhältnisses wohlfühlt. Die Erleichterung resultiert dabei vor allem auch daraus, dass Dennis auf dieser Schule sowohl Anschluss an den Lehrstoff als auch an die Schüler findet. Das neue Umfeld bietet für ihn einen mit einem Zugehörigkeitsgefühl verbundenen Halt, der einen Ausgleich zur für ihn desolaten häuslichen Situation darstellt. Über die neuen Freunde erfolgt dann auch der Einstieg in die rechte Szene, wobei es vor allem die rechte Musik war, die ihn faszinierte und auch heute noch fasziniert. Sein Bekanntenkreis erweitert sich nun nach dem Prinzip des Schneeballsystems, wobei es ähnlich wie bei Piet auch bei ihm eine ältere Generation Jugendlicher ist, an denen er sich orientiert und die ihm die in der Szene gängigen Werte, Stile und Verhaltensweisen vermitteln. Seinen Einstieg begreift Dennis dabei nicht als bewusste Entscheidung für diese Richtung und damit auch deren politische Inhalte, sondern eher als ein „Reinrutschen“, wohl aufgrund des neu erlebten Gefühls der Zugehörigkeit. Für Dennis stellen sowohl die rechte als auch die linke Szene Randgruppen innerhalb der Gesellschaft dar. Daraus resultierende innergesellschaftliche Auseinandersetzungen und Konflikte empfindet er jedoch nicht als bedrohlich, da er sie als zur Gesellschaft gehörend begreift und ihre Regulierung seiner Ansicht nach der Regierung obliegt. Insofern ordnet sich Dennis mit seinen Vorstellungen innerhalb des demokratischen Spektrums ein. Der eigentliche Inhalt seiner rechten Einstellung wird von Dennis während der Stegreiferzählung nicht thematisiert. Es kann daher vermutet werden, dass es aus seiner Sicht einen allgemeinen Konsens darüber gibt, was unter „anders denken“ (vgl. 27) bzw. „der meinung“ (77) zu verstehen
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ist, so dass eine Erläuterung entfällt. Seine rechte Orientierung wird weiterhin trotz seiner vorgenommenen Randgruppenverortung von ihm auch als „normal“ und gesellschaftlich integriert dargestellt, da es ansonsten zu einem weiteren Widerspruch in seinem eigenen Anspruch auf Normalität kommen würde. Im Gegensatz zu seinem (bisherigen) Scheitern im familialen Bereich, gelingt es Dennis nach dem Schulwechsel in beruflicher Hinsicht einen Einstieg in eine Normalbiografie zu finden (institutionelles Ablaufmuster) und diesen Weg letztlich auch konsequent zu verfolgen. Er schließt die Schule mit einem guten Hauptschulabschluss ab und absolviert danach eine Lehre zum Koch. Allerdings hat Dennis auch während dieser Zeit Probleme, sich zu orientieren und irgendwo zugehörig zu fühlen, was ihn wieder verstärkt zu den Rechten treibt. Dadurch gefährdet er nicht nur den erfolgreichen Abschluss seiner Ausbildung, sondern gleichzeitig auch sein Ziel der Normalbiografie und die Aufrechterhaltung des geschaffenen labilen Gleichgewichts. Unterstützung findet Dennis jedoch bei seinem Ausbilder, der sich seiner annimmt und auch bezüglich der Zugehörigkeit zur rechten Szene interveniert. Nach dem Abschluss der Lehre ist Dennis ein Jahr lang arbeitslos. Er bemüht sich um Arbeit, die er schließlich auch bekommt. Den ersten Arbeitsplatz verliert er nach einiger Zeit wieder, was für ihn mit einer großen – auch menschlichen – Enttäuschung verbunden ist, die seine rechte Einstellung verstärkt, da es sich bei seinem Arbeitgeber um einen Italiener handelte, bei dem er sich als einziger Deutscher im Team ausgegrenzt fühlte, obwohl er sich bemühte, die Sprache zu lernen. Er wechselt zu einem anderen italienischen Restaurant, mit dessen Besitzern, die Dennis als „Verbrecherpack“ (943) bezeichnet, es jedoch zu Streitigkeiten wegen des Gehalts kommt. Die Nationalität seiner Arbeitgeber beginnt für Dennis erst eine Rolle zu spielen, als das Arbeitsverhältnis unglücklich endet, da seine materielle Orientierung seine rechte Einstellung grundlegend überwiegt. Aufgrund seiner hohen Arbeitsorientierung bemüht sich Dennis intensiv um eine neue Stelle, die er schließlich auch findet. Sein dringender Wunsch nach einem neuen Arbeitsplatz wird von ihm mit der hohen Bedeutung finanzieller Mittel begründet. Im Vordergrund der Arbeitsorientierung steht jedoch nicht das Streben nach einer größeren Partizipation an Konsumgütern, sondern vielmehr die durch den Verdienst vermittelte grundlegende Sicherheit der Existenz. Seine durch die Arbeit und die Beziehung zu einer Frau erreichte relative Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie und weitere Stabilisierung erfährt einen massiven Rückschlag, als die Freundin sich von ihm trennt. Er gerät ins Trudeln und begeht nach zwei delinquenzfreien Jahren erneut eine Straftat, wobei nicht deutlich wird, ob die Straftat der Trennungsgrund war oder die Trennung den Rückfall begünstigt hat. Dennis verliert nicht nur die Eigenfamilie – er ist bereits Vater geworden – sondern sieht sich aufgrund seiner finanziellen Situation auch
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gezwungen, wieder bei seiner Familie zu leben. Zu seiner Tochter hat Dennis kaum Kontakt, da das Verhältnis zu seiner Ex-Freundin sehr angespannt ist. Die Rückkehr zur Herkunftsfamilie kann insgesamt auch als Versuch der Stabilisierung und der Kontrolle der Verlaufskurve gesehen werden. Dennis begibt sich mit dem Rückzug zur Familie nämlich auch wieder ein Stück weit unter die Kontrolle seiner Mutter. Es wird deutlich, dass sich Dennis Kontakte zur rechten Szenen an den Punkten seiner Biografie verstärken, an denen er besondere Probleme mit dem subjektiven Erleben von fehlender Zugehörigkeit vor allem im familialen aber auch im beruflichen Kontext hat und/oder sein Bedürfnis nach Sicherheit massiv bedroht ist. Dabei besteht das Risiko eines Teufelskreises, da Dennis Einbindung in die rechte Szene in Verbindung mit der in diesem Zusammenhang auftretenden Delinquenz den Verlust für ihn wichtiger sozialer Sicherheiten, sei es in beruflicher oder familialer Hinsicht, forciert. Es kann somit bereits an dieser Stelle festgestellt werden, dass die Zugehörigkeit zur rechten Szene für Dennis eine – wenn auch langfristig dysfunktionale – Bewältigungsfunktion bei subjektiv erlebten Problemlagen und Frustrationen hat. Seine Rückkehr in die Herkunftsfamilie kann – neben den finanziellen Aspekten – auch als Versuch von Dennis gesehen werden, ein erneutes Abgleiten in die rechte Szene und vor allem auch die Delinquenz durch die Organisation von Halt aus dem familiären Zusammenhang heraus zu verhindern. Dabei handelt es sich jedoch um ein zweischneidiges Schwert, da Dennis sich auch wieder in eine Abhängigkeit begeben hat, die eine Auseinandersetzung und Verarbeitung mit der erlebten Familiengeschichte beeinflusst und erschwert. Sein Versuch, eine vollständige Erwachsenenrolle einzunehmen, ist vorerst gescheitert und damit verbunden auch sein exzessives Streben nach einer Normalbiografie. In seiner aktuellen Situation beschreibt sich Dennis dennoch als „ganz glücklich und zufrieden“ (60), vor allem weil er eine neue Arbeitsstelle gefunden hat. Geht man von den bisherigen Analyseergebnissen aus, ist zu erwarten, dass bei einem Vorhalten der aktuellen Entwicklungstendenzen in Dennis Biografie Stabilisierung des Gleichgewichts durch Halt in der Herkunftsfamilie nach Trennung, soziale Einbindung und materieller (Teil-)Erfolg durch Arbeitsplatz, beginnende innere Auseinandersetzung mit rechter Ideologie sowie grundlegende Abkehr von delinquenten Handlungen trotz des Rückfalls, nun auch seine Einbindung zumindest in Aktivitäten delinquenter rechter Cliquenzusammenhänge abnimmt. Nichtsdestotrotz ist das aufgeschichtete Verlaufskurvenpotential noch aktiv und konnte durch Dennis bislang nicht
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abschließend bewältigt werden. Er befindet sich weiterhin in einer andauernden Verstrickung zwischen seinem (oder dem ihm oktroyierten) Anspruch auf eine Normalbiografie als oberstem Ziel und seiner subjektiven Erfahrung, dieses Ziel aufgrund seiner persönlichen und familialen Situation (noch) nicht erreichen zu können. Erst wenn ihm eine altersgemäße Ablösung von der Herkunftsfamilie und die Übernahme eines eigenverantwortlichen, straftatfreien Lebens gelingen, kann auch eine abschließende Verarbeitung der Verlaufskurve und letztlich eine Befreiung folgen. Darüber hinaus stellen auch die noch ausstehende Verhandlung und deren schwer kalkulierbarer Ausgang einen entscheidenden Faktor dar, der Dennis mühsam erlangtes und fragiles Gleichgewicht je nach Ergebnis positiv oder negativ beeinflussen kann. Die egozentrierte soziale Netzwerkkarte (Abb.14) bestätigt die bisherigen Interpretationen dahingehend, dass
den Bereichen Familie, Arbeit und Gesundheit die größte Bedeutung in Dennis Leben zukommt, die Beziehungen zum leiblichen Vater und zum ersten Stiefvater negativ zu bewerten sind, da beide nicht in der Netzwerkkarte auftauchen und die Beziehung zur Mutter für Dennis im Vordergrund steht, da er seine Geschwister sowie den jetzigen Stiefvater deutlich weiter entfernt von sich positioniert als sie.
4.3.3 Familiale Beziehungsqualität und Erziehungshintergrund – Der Kampf um die Mutter und die Exklusivität der Beziehung Im Anschluss an einen erneuten Erzählanstoß, der auf die Familienthematik fokussiert, erzählt Dennis zunächst, dass er zwei Geschwister hat (94), ohne dies jedoch näher zu erläutern. Stattdessen knüpft er umgehend mit der Beschreibung seiner Beziehung zur Mutter an (94-96), woraus sich ableiten lässt, dass sie für ihn die zentrale Rolle innerhalb der Familie spielt. Den im Erzählstimulus verwendeten Begriff „eltern“ (93) greift er nur kurzzeitig (94) auf und stellt ihm ein „na ja“ (94) voran. Nach dieser Äußerung wird ausschließlich seine Mutter erwähnt. Der Begriff „Eltern“ ist im Zusammenhang mit seiner Erinnerung an die Familie in seiner Kindheit also so nicht zutreffend. Dies kann zum einen damit zusammenhängen, dass Dennis keine konstante Vaterfigur während seines Aufwachsens hatte und die Beziehung zu seinem ersten Stiefvater von großen Spannungen gekennzeichnet war (424-428). Zum anderen sieht Dennis seine Mutter eher als eine „richtje coole freundin“ (96) bzw. „große schwester“ (107-108) denn als typische Mutter. Wie aus dem Interview mit Frau
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Behnke hervorgeht, musste Dennis aufgrund der Krankheit seiner jüngeren Schwester bereits frühzeitig Verantwortung übernehmen und selbständig werden, da die Mutter in dieser Phase wenig Zeit für ihn hatte und sich ihre ganze Kraft auf die kranke Tochter konzentrierte. Möglicherweise hat sich dadurch und auch durch das längere Alleinleben von Mutter und Sohn in dessen früher Kindheit eine eher partnerschaftliche Beziehung zwischen beiden entwickelt. Einer freundschaftlichen Mutter-Sohn-Beziehung, in der die Mutter als Freundin und nicht als Elternteil wahrgenommen wird, kann unterstellt werden, dass sie auch weniger durch elterliche Verantwortung und Autorität geprägt ist. Dennis verschiebt die Beziehung zu seiner Mutter damit auf eine Ebene, auf der das Verhältnis stärker symmetrisch und weniger hierarchisch strukturiert ist. Hintergrund der Negierung des „mutti-sohn“ (110-111) -Verhältnisses kann sein, dass Dennis sich innerhalb der Familie in einer Sonderposition sieht. Er ist als ältestes Kind derjenige, der sich gegenüber den Geschwistern generell und in der krisenhaften Situation der lebensbedrohlichen Erkrankung seiner Halbschwester insbesondere in die Pflicht und Verantwortung eines (beinahe) Erwachsenen genommen sah und der in seinen Ansprüchen auf die Mutter durch ihre jeweiligen Partner und den Zuwachs an Geschwistern aus seiner Sicht massiv zurückstecken musste. Die eigentlich für ihn schmerzliche Situation deutet er positiv um, in dem er den empfundenen Verzicht auf die Aufmerksamkeit und Fürsorge der Mutter durch die Betonung des symmetrischen Verhältnisses von einer Belastung in eine positive Beziehungsbesonderheit umwandelt. Die erlebten Belastungen relativiert er also durch seinen Sonderstatus gegenüber der Mutter und entlastet sie und sich dadurch von einem möglichen Vorwurf der Vernachlässigung seiner Person. Seine Bindung an die Mutter ist trotz des von ihm beschriebenen freundschaftlichen Charakters ausgesprochen eng. Das Verhältnis ist ein „richtich gutes“ (95), das war schon immer so und vor allem wird es immer so bleiben (94-95). Durch diese mehrfache Betonung und Verstärkung bringt Dennis die hohe Bedeutung zum Ausdruck, die die Beziehung zu seiner Mutter für ihn hat und versichert sich ihrer auch selbst noch einmal. Verantwortlich für seinen Sonderstatus ist jedoch auch noch ein anderer Konflikt, der mit den wechselnden „Vätern“ korrespondiert. Dennis ist nämlich der einzige der drei Geschwister, der keinen „richtigen“ Vater hat, da er ihn nicht einmal kennt und auch keinen Kontakt zu ihm hat. Seinen Stiefvater – also den leiblichen Vater der ersten Schwester – erlebte er sich gegenüber als sehr ablehnend. Dem aktuellen Mann seiner Mutter und Vater der jüngsten Schwester fühlt er sich zwar verbunden, dennoch ist er damit innerhalb der Familienstruktur insgesamt in einer Position, in der er sich durchaus als Außenseiter empfinden könnte. Die Betonung seiner besonders engen Bindung an die einzige konstante
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Person in diesem Familiengefüge durch die Hervorhebung der besonderen Beziehungsqualität und -symmetrie zur Mutter dient also auch der Kompensation der subjektiv gespürten Randposition. Dennis hat in den jeweiligen Partnern der Mutter wechselnde männliche Bezugspersonen, die er entsprechend als „damaligen“ (424) oder „jetzigen“ (420) Vater bezeichnet. Aus der bisherigen Interpretation wird deutlich, warum Dennis auf die konkrete Frage nach den Eltern bei der Verwendung des Begriffes zögert, auch wenn er ihn in der Beschreibung seines Alltags bzw. seiner Erlebnisse öfter verwendet. Es liegt nahe, dass Dennis an diesen Stellen von Eltern spricht, um die Erzählung zu vereinfachen. Zum Abschluss der Sequenz bekräftigt Dennis wiederum, dass er und seine Mutter kein „mutti sohn verhältnis“ (110-111) haben. Dieses Mal beschreibt er die Mutter jedoch als „große schwester die ich eigentlich nie haben werde“ (110). In diesem Sinne hat Dennis aus seiner Sicht tatsächlich keine Eltern. In dem er die Mutter auf die Ebene der Geschwister bzw. der Freunde transformiert, negiert er die Eltern-Kind-Beziehung sowie die damit verbundenen Verantwortlichkeiten zwischen seiner Mutter und sich. Dennis stellt hier weiterhin einen interessanten Zusammenhang her. Es handelt sich nämlich nicht um ein „mutti sohn verhältnis (…) weil man kann über alles reden“ (110-111). Es bleibt offen, wie Dennis zu der Annahme gelangt, dass Mutter und Sohn dies in einer „klassischen“ Eltern-Kind-Beziehung nicht können. Seine Transformation der Mutter auf die Geschwisterebene erfolgt im Anschluss an die Beschreibung seines Verhältnisses zu seinen beiden Schwestern, für die er schon frühzeitig mit Verantwortung übernehmen musste. Als Mutter im eigentlichen Sinne kann Dennis Frau Behnke aufgrund der familialen Geschichte nicht mehr wahrnehmen, da er sich dann mit seiner subjektiv schmerzhaft empfundenen Zurücksetzung auseinandersetzen müsste. In ihrer zugeschriebenen Rolle ist sie jedoch auch eine Person, die in einem gewissen Maße für ihn verantwortlich ist und zwar als Ratgeberin und Vorbild. Über die Beschreibung seiner innigen Beziehung zur Mutter hinaus, spricht Dennis nicht mehr konkret von ihr, sondern von seiner Familie insgesamt bzw. er vermeidet eine (zeitliche) Zuordnung seiner Erlebnisse und spricht verschwommen von „damals wo ich jünger war“ (96) bzw. „früher“ (115), etc. Es kann hier ein Zusammenhang zu seinem zu Beginn der Stegreiferzählung gefassten Vorsatz nichts Schlechtes über seine Familie erzählen zu wollen, hergestellt werden. Die Familiengeschichte von Dennis ist für ihn aufgrund der vielfältigen Ereignisse konfliktbeladen. Seine Mutter, die für ihn die einzige sich ihm dauerhaft zuwendende und verlässliche Bezugsperson ist, möchte er offensichtlich nicht kritisieren. Die für ihn belastenden Umstände sind jedoch auch untrennbar mit ihrer Person verbunden. Daraus ergibt sich ein Konflikt, der dazu führt, dass
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Dennis seine Erzählungen sprachlich in die Themen Mutter und Familie teilt, Probleme nur vage andeutet und nicht klar benennt. Diese Erkenntnisse decken sich mit den in Kapitel 2.3 referierten Untersuchungsergebnissen von Böttger (1998), wonach massiv belastete Beziehungen zu (Stief-)Vätern mit einer besonders intensiven bzw. auch idealisierten Bindung an die Mutter als einzigem konstanten Halt korrespondierten. Eine Infragestellung des Verhältnisses zur Mutter muss dann aus Angst vor einem völligen Orientierungsverlust unter allen Umständen vermieden werden, was zur Relativierung, Rechtfertigung oder eben wie bei Dennis zur Ausblendung von problematischen Beziehungsaspekten führt. „damals wo ich jünger war wie warn das das war och na jut es gab in jeder familie gibts och ma n bisschen keilereien wenn der eene das nich jemacht hat oder so dass man dann (.) logisch (..)“ (96-98)
Dennis ist nicht in der Lage oder gewillt, die von ihm erlebten Familienbeziehungen insbesondere zu seinem ersten Stiefvater, der ja bis zu Dennis 13./14. Lebensjahr zu seiner Familie gehörte, näher zu beschreiben. Seine einsetzende Erzählung über familiäre Auseinandersetzungen unterbricht er sofort, um die Normalität der noch nicht genauer benannten Konflikte zu betonen. Diese wird weiterhin durch die bagatellisierende Formulierung „bisschen keilereien“ (97) und die Vermeidung der Benennung am Konflikt beteiligter Personen unterstrichen, da dadurch zunächst der Eindruck entsteht, es würde sich um alltägliche Reibereien zwischen allen Familienmitgliedern handeln. Aus dem Interview mit Dennis Mutter ist jedoch bekannt, dass es ganz konkrete und massive Probleme mit dem ersten Stiefvater gegeben hat und Dennis auch von ihm geschlagen wurde. Die vage Formulierung von Dennis bezieht sich also eigentlich auf starke Konflikte und ihm gegenüber gewalttätige Auseinandersetzungen. An Stellen im Interview, an denen Dennis im Erzählfluss zu diesem Thema kommt, bricht er jedoch in der Erzählung ab, fährt mit einem Ersatzthema fort oder spricht in verallgemeinerter und verschlüsselter Form von seinen Erlebnissen. Im Zusammenhang mit der Erzählung über das Verhältnis zu seiner Mutter beschreibt Dennis, dass er in seinem Leben „extrem viel scheiße gebaut“ (112) hat, was zu Belastungen in der Beziehung führte. Danach erfolgt ein zunächst abrupt wirkender thematischer Wechsel zu seinen (nicht vorhandenen) Erinnerungen an die DDR-Zeit. „und früher naja früher war ddr zeit das war sowieso janz anders da da kann ich mich och nich so janz jenau dran äh äh will ich och jar nich das war war nich so (..) da kann ich nich drüber reden da war ich zehn jahre alt wo de nee neun jahre alt wo de mauer fiel also (.) und ja danach (…) weeß nich wie man das so bezeichnen könnte (…) viele sagen dann immer so wenn wenn bei mädels isses so wenn die dann so in dem alter sind so zwölf dreizehn jahre komm die wern zickich so das is aber nur das jeht irgendwann vorbei und ich weeß nich wie das bei n jungs so hantiert wird (.) ich bin vielleicht och so jewesen ich bin ich habe och ma
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irgendwas wiedersetzt wo ich jesacht habe nö das mach ich nich mach dein mist alleene“ (115-123)
Im ersten Teil der Sequenz sagt Dennis, dass er keine Erinnerung an diese Zeit haben will bzw. hat, obwohl das Thema von ihm selbst aufgegriffen wurde und er zur Wende bereits 9 Jahre alt war. Es kann vermutet werden, dass Dennis über die Beschreibung der Beziehung zu seiner Mutter, die trotz seines abweichenden Verhaltens gut ist, im Zusammenhang mit der von Schütze (1976) beschriebenen Verflüssigung von Erinnerungen gedanklich an dem Punkt angekommen ist, an dem dieses Verhalten seinen Anfang nahm. Dieser Anfang fällt nun aber zeitlich in etwa in die belastende Phase der Auseinandersetzungen mit dem Stiefvater und der Krankheit der Schwester und der dadurch kaum noch verfügbaren Mutter, die Dennis aufgrund seines gefassten Vorsatzes aus seiner Erzählung ausklammern muss, da er hier Kritik an der Familie bzw. insbesondere der Mutter äußern müsste. In diesem Sinne kann seine Formulierung „da kann ich nich drüber reden“ (116-117) durchaus als auf den eigentlichen Hintergrund bezogene Äußerung interpretiert werden, die nur auf die Folie der DDR-Zeit transportiert wird. Über die verschlüsselte DDR-Einleitung gelangt Dennis dann zu seinem Eintritt in die Pubertät, wobei auch hier wieder keine konkrete Benennung, sondern eine vage Beschreibung, die zudem noch beim anderen Geschlecht beginnt und sich nur langsam zur eigenen Person vortastet, erfolgt. Die innerfamiliären Konflikte haben sich also durch Dennis entwicklungsbedingtes provozierendes und auflehnendes Verhalten verstärkt. Die Beschreibung seines pubertären Verhaltens wird schließlich in einer Belegerzählung über seinen ersten Rausch detailliert (123-141). Hier kann Dennis unbefangen und konkret erzählen, da sich die Geschichte im Zusammenhang mit seinen Kumpels und abseits der eigentlichen Familienkonflikte ereignete und seine Eltern in ihrer Funktion als aufsichtspflichtige bzw. verantwortliche Erziehungsberechtigte auftraten. In diesem Sinne ist auch das geäußerte „oh was ich mir da anhörn durfte das werdch nie verjessen“ (130-131) zu verstehen. Aus Dennis Perspektive handelt es sich nämlich in der von ihm erzählten Geschichte und der elterlichen Reaktion darauf um ein „normales“ Ereignis innerhalb der Jugendphase (Jugendsünde), das er frei erzählen kann, weil es seinem eingangs festgelegten Grundsatz nicht widerspricht. Seine Eltern waren in ihrer Funktion als Erziehungsverantwortliche über sein Verhalten berechtigt verärgert und haben dies deutlich zum Ausdruck gebracht. In dieser Geschichte findet sich also aus seiner Sicht tatsächlich die von ihm postulierte Normalität. Die erfahrene Aufmerksamkeit durch die Eltern scheint er als positiv empfunden zu haben, auch wenn die eigentliche Reaktion eine negative war.
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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Reaktion der Eltern und der Kontakt zur Polizei ihn zwar im Sinne einer lebenslangen Erinnerung beeindruckt haben („das weeß ich noch janz jenau“ 126-127). Eine konkrete Wirksamkeit auf sein zukünftiges Verhalten wird von Dennis jedoch nicht beschrieben. Es scheint eher die als positiv empfundene Aufmerksamkeit durch die Eltern zu sein, die das Ereignis fest in seinem Gedächtnis verankert hat. Die von ihm aus diesem Erlebnis gezogene Konsequenz resultiert dagegen vielmehr aus den unangenehmen körperlichen Folgen und führt nicht zur Vermeidung eines übertriebenen Alkoholkonsums im Allgemeinen, sondern lediglich zu einem Verzicht auf Rotwein (139-143). Dieser kommt ihm nicht mehr „ins haus“ (143). Allerdings wird aus seiner Erzählung auch nicht umfassend deutlich, ob die elterliche Intervention auf die beschriebene verbale Reaktion des Ausschimpfens beschränkt blieb oder ob sie weitere negative Sanktionen beinhaltete. Ausschlaggebend für Veränderungen ist auch an dieser Stelle das subjektive Erleben einer deutlich spürbaren (körperlichen) Negativerfahrung (zu viel Rotwein = Kater), die direkt aus der vorangegangenen Handlung resultiert und nicht mit Reaktionen bzw. Interventionen der Umwelt korrespondiert. Aus Dennis Familiengeschichte lassen sich zwei ineinander greifende Stränge herausarbeiten, die in ihrer Kombination als deutlich belastende und ungünstige Faktoren für seine Entwicklung gesehen werden können und in ihrer Konflikthaftigkeit immer mit der Konkurrenz um die Mutter verbunden sind. Zum einen handelt es sich um Dennis Beziehungen zu seinen beiden Stiefvätern. Den leiblichen Vater erwähnt Dennis auch im Nachfrageteil nicht. Die Beziehung zum ersten Stiefvater wird von Dennis nur sehr kurz thematisiert (424428). Auch über die Scheidung der Mutter von seinem ersten Stiefvater kann bzw. will er kaum etwas sagen, obwohl die damaligen Erlebnisse ihn stark beeindruckt haben müssen, da er bereits am Anfang der Stegreiferzählung von diesem Ereignis spricht. Mögliche Kenntnisse über die damaligen Ereignisse weist Dennis weit von sich, obwohl er die Scheidung „mitjemacht“ (16) hat. Er weiß eigentlich nur, dass es „nich jeklappt hat in der ehe“ (413) und die Eltern sich gestritten haben. Dennis ordnet die Scheidung seiner Eltern und den Beginn der aktuellen Beziehung seiner Mutter weder zeitlich noch inhaltlich ein. Er wiederholt mehrmals, dass es nicht geklappt hat und bricht schließlich ab, in dem er darauf verweist, dass er nichts dazu sagen kann, weil er nichts darüber weiß und auch nicht wissen will (412-422). Sich selbst als in das damalige Geschehen involvierte Person lässt Dennis außen vor, in dem er die Kind-Perspektive ausblendet. Er spricht nicht über seine Gefühle und Befindlichkeiten zu dieser Zeit. Lediglich an die finanziellen Belastungen, die mit der Scheidung verbunden waren, will er sich erinnern. Das hat er zum Anlass genommen, eine eigene
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spätere Heirat in seinem Lebensplan auszuschließen, weil er nicht „arm“ (438) werden will (436-441). Die finanziellen Aspekte könnten stellvertretend für die Belastungen durch eine Scheidung von Dennis angeführt werden, denen er sich nicht aussetzen will. Interessant ist, dass Dennis eine Heirat direkt mit einer irgendwann folgenden Scheidung in Zusammenhang bringt. Das Eingehen einer Beziehung scheint für ihn ein absehbares Ende mit einzuschließen. Es liegt nahe, dass diese Einstellung direkt aus Dennis biografischen Erfahrungen, sowohl in seiner Herkunftsfamilie als auch aus dem gescheiterten Versuch einer eigenen Familiengründung, resultiert. Bei der Erzählung über die Scheidung seiner Eltern bricht Dennis zum ersten Mal sein selbst auferlegtes Tabu und äußert sich kritisch über seinen ersten Stiefvater, indem er ihn als „komisch“ (424) beschreibt, ohne das jedoch näher zu konkretisieren. Wahrscheinlich kann er diese Kritik zulassen, weil der Stiefvater nicht mehr zur Familie gehört, was sich vor allem in der Formulierung „der damalige (.) vater“ (424) ausdrückt. Seine diesbezüglichen Formulierungen sind jedoch auch hier zögerlich und vage. Konflikte werden nur angedeutet. Nur einmal spricht Dennis offen aus, dass er den Stiefvater schon damals nicht leiden konnte (426). Dann folgt wieder eine vage Andeutung: „das sag ich jetzt zwar so im nachhinein aber das war vielleicht damals so dass ich den och nich nja wer weeß nja und na ja“ (426-427). Dieser Nachtrag erweckt den Anschein, dass Dennis sich jetzt, wo der erste Stiefvater nicht mehr da ist, gedanklich mit den Gründen für die wohl schwerwiegenden Auseinandersetzungen mit ihm beschäftigt, aber nicht offen darüber sprechen kann oder möchte. Möglicherweise sucht er einen Anteil für das schlechte Verhältnis auch bei sich, weil er den Stiefvater damals nicht akzeptiert hat. Der Satz „dass ich den och nich nja wer weeß nja und na ja“ (427-428) könnte mit den Worten „akzeptiert habe“ enden. Dass er den Stiefvater nicht leiden konnte, hat er ja bereits ausgesprochen, womit dieses Ende des Satzes eher unwahrscheinlich ist. An Dennis Erzählung über den ersten Stiefvater schließt sich ein Vergleich mit seinem jetzigen Stiefvater an. In Dennis Wahrnehmung passt dieser viel zu seiner Mutter, da sie beide „lustich“ (419) sind. Die aktuelle Beziehung der Mutter scheint für Dennis insgesamt geradezu eine Erleichterung zu sein, da der neue Stiefvater von ihm sehr positiv beschrieben wird (419-420; 428-431). Er wird von ihm als „jetziger“ (420) Vater akzeptiert und gemocht. Die Bezeichnung seiner Väter mit „damalig“ und „jetzig“ macht deutlich, in welchem Väter-Chaos Dennis aufgewachsen ist. Es zeigt aber auch Dennis Wunsch nach einer Vaterfigur, an der er sich identitätsstiftend orientieren kann. Ein Vater ist in Dennis Verständnis offensichtlich der jeweils mit der Mutter zusammenlebende Mann, der nicht zwangsläufig eine konstante Größe in seinem Leben darstellt.
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Der zweite belastende Umstand in Dennis Familiengeschichte liegt in der Konstellation der geschwisterlichen Beziehung. „und ich habe och damals äh wo meine erste schwester (..) kam sag ich och so mir so jesagt toll bin ich ja widder nich alleene hab ich ja noch ne schwester aber (.) da hab ich mich och drum jekümmert und ich hab dann jetzt isses noch schlimmer durch meine kleene schw.. also durch die eene schwester jetzt weil die krank is (.) so und da is das verhältnis irgendwie zu ihr is das bisschen anders als zu meiner andern kleenen schwester die habe ich ich hab ja nun zwei schwestern sind die zwee und äh meine kleine schwester da is das verhältnis besser da läuft das weil die hört dann och irgendwann mal und wenn ich jetzt zu meiner eenen schwester sage die is achtzehn jahre alt jetzt mach das mal die zeigt mir n vogel so gesagt ja“ (98-106)
Die Geburt seiner ersten Schwester war für Dennis ein eher belastendes Ereignis. Dies lässt sich aus seiner Formulierung „toll bin ich ja widder nich alleene“ (99) schließen. Die Verwendung des Begriffes „widder“ (99) belegt die Interpretation, dass Dennis bereits die neue Beziehung der Mutter als störend empfunden hat, weil ihm aus seiner Sicht weniger Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Mit der Geburt der Schwester hat sich dieses Gefühl offensichtlich noch verstärkt. Trotzdem hat er sich um seine kleine Schwester gekümmert, was Dennis starke Familienorientierung verdeutlicht. Die weitere Erzählung von Dennis ist relativ verworren. Seine Position bei der Mutter sieht er wohl insgesamt durch die Geburt der zweiten Schwester und die schwere Krankheit der ersten Schwester verschlechtert. Das Verhältnis von Dennis zu seiner jüngsten Schwester ist besser als das zur älteren (kranken) Schwester. Er begründet es damit, dass seine kleine Schwester eher auf ihn hört, während seine große Schwester ihm „n vogel“ (106) zeigt. Betrachtet man den Aufbau der Sequenz genauer, fällt auf, dass Dennis zunächst einen Zusammenhang zwischen der Krankheit und dem anderen Verhältnis zur großen Schwester herstellen wollte, dies dann jedoch zugunsten der oben beschriebenen Variante korrigiert. Von der großen Schwester fühlt Dennis sich nicht in seiner Rolle als älterer Bruder akzeptiert, da sie aus seiner Sicht nicht bereit ist, auf ihn zu hören bzw. sich von ihm etwas sagen zu lassen. Dadurch gerät Dennis in eine schwierige Lage. Einerseits war er aufgrund der Umstände gezwungen, zeitig Verantwortung für seine jüngeren Geschwister zu übernehmen und in seinen kindlichen Ansprüchen auf die Mutter zurückzustecken. Andererseits wird Dennis in dieser Rolle von seiner Schwester, die ihn auch im Leistungsbereich deutlich überholt hat, nun nicht (mehr) akzeptiert. Die Beschreibung des Verhältnisses zu seinen Schwestern erfolgt direkt nach der kurzen Erzählung über die aus seiner Sicht in jeder Familie vorkommenden „keilereien“ (97), woraus geschlossen werden kann, dass sich die angedeuteten Auseinandersetzungen auch auf sie bezogen. Seine Äußerungen sind weiterhin durchweg negativ gefärbt und zwar durchaus im Sinne einer negativen Steigerung, denn „jetzt isses noch schlimmer“ (101). Auch aus der egozentrierten
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Netzwerkkarte ist ersichtlich, dass Dennis Verhältnis zu den Schwestern gespannt ist. Aufgrund seiner relativ hohen Familienorientierung stehen sie zwar als Familie insgesamt an erster Stelle in seinem Leben. Innerhalb der Familie differenziert Dennis jedoch stark. „zuerst wie jesacht kommt de mutti (.) dann kommt eigentlich normalerweise lange lange nichts (I.: hm) und dann kommt n scheißhaufen und dann kommt meine jeschwister (lacht) […] nja und papa“ (1196-1199)
In dieser scherzhaften aber ausdrucksstarken und derb formulierten Äußerung wird noch einmal deutlich, dass Dennis Sehnsucht eigentlich auf die Nähe und Exklusivität der Beziehung zu seiner Mutter gerichtet ist, wie er sie in seiner frühen Kindheit erlebt hat. Schwestern und Stiefvater sind unter diesem Aspekt sozusagen Störfaktoren, die seine enge Bindung an die Mutter beeinträchtigen. Dies spiegelt sich auch in der Netzwerkkarte wider, innerhalb derer Dennis seine Mutter sehr nah an sich heranrückt, während zu den Halbgeschwistern und dem Stiefvater ein deutlich größerer Abstand von der eigenen Person festgelegt wird. Trotz dieser Positionierung, des relativ geringen Altersunterschiedes und des Kennenlernens im Jugendalter nennt Dennis den aktuellen Mann seiner Mutter Papa, was seine Sehnsucht nach einer Vaterfigur sowie verlässlichen familialen Strukturen unterstreicht. Die Verworrenheit in Dennis Familiengeschichte vermittelt sich durch seinen vagen, von vielen Füllwörtern und Pausen durchzogenen, undeutlichen Ausdruck an diesen Stellen sowie die kaum vorhandene zeitliche Einbettung der Ereignisse (z.B. 94-108; 412-434). Seine stockende Erzählweise steht in starkem Gegensatz zu seiner flüssigeren Sprechweise bei seiner politischen Argumentation. Dadurch wird erneut deutlich, dass es ihm schwer fällt, über seine biografischen Erlebnisse in Zusammenhang mit der Familie zu sprechen. Auch erzogen worden ist Dennis ganz „normal“ (444), „wie jedes normale kind och“ (443). In der mehrfachen Betonung der Normalität auch im Zusammenhang mit seiner Erziehung wird noch einmal sichtbar, wie wichtig eine Normalbiografie für Dennis ist. Auffällig sind hier die wiederholten Wechsel der Darstellungsperspektive vom persönlichen „ich“ zum unpersönlichen und generalisierenden „man“, bei dem Dennis nicht als handelndes Subjekt in Erscheinung tritt. Detka (2005, S.359f.) sieht in letzterem einen Markierer für eine „gewisse kognitive Distanz zum Gesagten“. Der häufige Darstellungsperspektivwechsel ist daher ein Indiz für Dennis Versuch einer Distanzierung von der für ihn wohl mit emotionalen und erzählerischen Schwierigkeiten verknüpften Thematik. So erwähnt er im konkreten Bezug auf seine Erziehung auch seine Mutter nicht namentlich. Seine Erzählung ist weiterhin stockend und konfus. Dennis verweist häufig darauf, dass er sich nicht erinnern bzw. zum Thema Erziehung nichts sagen kann (444-467).
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„wie man n kind halt groß zieht man hat d dinge äh jesacht also also jesacht jekricht die man nich machen sollte wie zum beispiel wenn (.) man sollte nich an ofen jehen oder so dann hat man das och nich jemacht na obwohl ich globe ich habs jemacht (lacht)“ (445-448)
Dennis Reflexionen seiner Erziehung beziehen sich lediglich auf Verbote von für ihn gefährlichen Sachen, an die man sich zu halten hatte. Er selbst hat diese Verbote jedoch übertreten. Nach dieser scherzhaft vorgebrachten Bemerkung, die auch als Hinweis auf sein Austesten von Grenzen verstanden werden kann, schweift Dennis von der Erziehungsthematik ab und schließt unvermittelt damit an, dass seine Mutter Arbeit hatte und die Zeit als kleines Kind für ihn schön war (449-451). Er verbindet also das Thema Erziehung zunächst mit seiner frühen Kindheit, in der er mit der Mutter allein gelebt hat. Diese positive Erinnerung an die Zeit mit seiner Mutter, beendet er ausdrucksstark mit dem Satz „warum bin ich nich klein geblieben ((leise bis *)) ich arsch ((*))“ (451). Diese Zeit, nach der er sich zurücksehnt, hat er als besonders schön erlebt, weil er die uneingeschränkte Aufmerksamkeit seiner Mutter hatte. Mit der Formulierung „ich arsch“ (451) bringt Dennis Ärger über sein Erwachsenwerden und seine damit verbundene Entwicklung zum Ausdruck und wertet sich gleichzeitig selbst ab, obwohl klar ist, dass das „klein bleiben“ unmöglich ist und sich seinem Einfluss entzieht. Gleichzeitig wird daraus deutlich, dass er sein Leben insgesamt nicht zum positiven entwickelt sieht, sich daran aber auch selbst die Schuld gibt. Insbesondere die Anwendung von Gewalt in der Erziehung wird von Dennis sehr widersprüchlich dargestellt, wobei dieses Thema von ihm allein initiiert wird. Zunächst erzählt Dennis, dass es überhaupt „keene schläge“ (554) gab, berichtet dann aber doch davon. Allerdings tut er das in einer verharmlosenden Form („klar jabs da mal n arsch voll“ 455-456) und verweist gleichzeitig auf seinen Eigenanteil am Zustandekommen dieser Strafe: Er hat schließlich „was böses jemacht“ (455). Nachdem er eigene Gewalterfahrungen eingestanden hat, versucht er sie also gleichzeitig verharmlosend und eigenverantwortet darzustellen, um seinen biografischen Normalitätsanspruch aufrechtzuerhalten und seinem Grundsatz nicht zu widersprechen. Interessant ist auch, dass Dennis nicht erwähnt, wer ihn geschlagen hat. Insgesamt schätzt Dennis sich als „lieb erzogen“ (461) ein. Auf eine konkrete Nachfrage hin beschreibt er den erlebten Erziehungsstil als locker und gut. Wiederum wird die Normalität betont (443-444; 465-467). Auf keinen Fall empfindet sich Dennis als streng erzogen (474; 481), wobei eine solche Erziehung auch nicht seinem Konzept einer „Normalerziehung“ entspräche – „nee streng nich eher janz normal“ (481). Eine strenge Erziehung lehnt er ab, weil seiner Erfahrung nach so erzogene Kinder „von sechzehn zu zwanzich […] immer so hochnäsig“ (476-477) werden. Dies begründet er mit dem seiner Ansicht nach von
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strengen Eltern ausgeübten Leistungsdruck. Um diesem Druck zu entgehen, würden solche Kinder mehr leisten und dann „irgendwann mal hier de nase nach oben halten“ (480).54 Weiterhin stellt er die Wirksamkeit von Strenge in Frage, da er davon ausgeht, dass Kinder eher aus Erfahrungen lernen. „wenn das kind in der küche ist und der herd ist an man kann zwar jedes mal sagen nicht an den herd jehen die jehn da trotzdem ran und wenn se sich dann s erste mal de pfoten verbrannt ham jehn se nich mehr ran weil se wissen aha da jeh ich nich ran und dann isses gut“ (494498)
Dennis Erziehungsvorstellungen spiegeln sich auch in der Ersterzählung über seine eigene Entwicklung wieder. Hier hatte er gesagt, dass ihn viele Menschen in seinem Umfeld davor warn(t)en, den falschen Weg zu gehen. Was richtig und falsch für ihn ist, möchte und muss Dennis jedoch für sich allein herausfinden. Für sinnvoll hält er also einen Erziehungsstil, der auch Raum für das Sammeln von Negativ-Erfahrungen lässt und in dem Grenzen durch die Gelegenheit zur Selbsterfahrung vermittelt werden. Dabei plädiert er für mehr Fehlerfreundlichkeit in der Erziehung, da Fehler letztlich dazu da sind, dass man aus ihnen lernt (490-493). Die von ihm aufgrund einer subjektiv wahrgenommenen Zunahme von Gefährdungen (z.B. durch Sexualverbrechen) in der heutigen Zeit für notwendig erachtete stärkere Kontrolle der Kinder ist im Sinne seiner Erziehungsvorstellungen somit eigentlich hinderlich, da sie den selbständigen Erfahrungsraum der Kinder schmälert (481-585). In seinem eigenen Leben steht die Erfahrung, die seiner Ansicht nach mit Sicherheit dazu führen würde, dass er nicht mehr delinquent handelt, noch aus: „wenn ich eenmal im knast war ich globe dann (.) würd ich globe vieles ändern (.) im leben bei mir ich würde da (.) da wüsst ich dann wirklich das warn ding zu viel das de jemacht hast“ (516-518)
Sein Verhältnis zur für ihn letzten Grenze „knast“ (516) ist dabei zwiespältig. Einerseits betont er mehrfach, dass er eine Haftstrafe verweigern würde (obwohl so etwas natürlich nicht möglich ist) (513-515). Andererseits sieht er ein solches gerichtliches Urteil aber auch in seinem Erziehungskonzept der Selbsterfahrung als wirksame und wachrüttelnde Intervention an. Die drohende Sanktionierung mit einer Haftstrafe hat in jedem Fall bei Dennis dazu beigetragen, dass er versucht keine delinquenten Handlungen mehr zu begehen. Nachdem er zwei Jahre lang straftatfrei gelebt hat, ist er jedoch noch einmal im angetrunkenen Zustand mit einem Delikt auffällig geworden. 54
Da Frau Behnke deutliche Leistungsanforderungen an ihre Kinder stellt und auch ihre Erziehung als von autoritären Ansagen geprägt beschreibt, kann spekuliert werden, dass Dennis hier auf seine Schwestern anspielt bzw. eine verschlüsselte Kritik an der Erziehung der Mutter zum Ausdruck bringt, die er jedoch nicht frei äußern kann, da sie seinem Grundsatz widerspräche.
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„das eene ding na ja da war ich besoffen (.) aber alkohol schützt ja nich vor straftat (.) so scheiße“ (524-525)
Diese flapsige Beschreibung des Zustandekommens seiner letzten Straftat ist einer von etlichen Versuchen, seine eigentlichen Sorgen um die Folgen der Tat herunterzuspielen obwohl sie – durch Häufigkeit und Länge in der im Interview auf die Tat Bezug genommen wird – nicht verborgen werden können (siehe 502506, 508-526, 583-588, 600-625, 980-982). Dennis hat sich sogar bereits durch Gerichtssendungen und im Internet über das mögliche Ausmaß der zu erwartenden Strafe informiert (603-607). Die wiederholte Betonung seiner gelassen abwartenden Haltung gegenüber den ausstehenden Geschehnissen kann als Versuch, sich selbst zu beruhigen und damit gerade als Zeichen großer Sorge gewertet werden. Im Zusammenhang mit dem Thema der noch ausstehenden Verhandlung seiner letzten Straftat verlangt Dennis nach einer Zigarettenpause (531532), was dafür spricht, dass dieses Thema ihn stärker beschäftigt, als er zugeben will, und er sich durch das Rauchen beruhigen möchte. Einen nicht unerheblichen Einfluss auf sein Bemühen ein straftatfreies Leben zu führen, scheint neben der Angst vor einer Haftstrafe auch Dennis Mutter zu haben, die auf sein delinquentes Verhalten aus seiner Sicht relativ emotional reagiert, wobei sie sich zwischen Schreien („bläken“ 568), Weinen und (Selbst-) Vorwürfen bewegt: „meine mutti die is da (.) sehr schnell angriffs äh also angreifbar in der hinsicht fließen dann schon ein paar tränen weil (..) weil weil sie dann selber sagt ich habe irgendwas falsch jemacht ich habe dich falsch erzogen oder so je nachdem ich weeß nich (.) weeß nich wie se das dann so ich weeß nur eens ich tue mein meiner mutti in der hinsicht wenn sowas immer reinkommt immer sehr sehr verletzen das weeß ich (I.: hm) und ich versuchs in der hinsicht och immer zu meiden wie jesacht ich habs ich hab es ihr vor zwei jahren versprochen dass ich nie widder n mist mache n nu isses jetzt einmal widder dazu jekommen hn frach mich ja nich was mich halt dazu jeritten hat“ (557-564)
Dennis Versuche, sich nicht mehr delinquent zu verhalten, sind nicht auf erzieherische Konsequenzen und Maßnahmen seiner Mutter zurückzuführen, sondern begründen sich über die emotionale Ebene. Die Selbstvorwürfe und Verzweiflung seiner Mutter als Reaktion auf seine Taten treffen ihn so sehr, weil das Verhältnis zu ihr ausgesprochen eng und damit verbunden auch die Verlustangst groß ist. Der veränderungswirksame Faktor ist also nicht eine bestimmte erzieherische Konsequenz im Sinne einer konkreten Sanktion, sondern das Erleben des Kummers und der Enttäuschung der Mutter sowie damit verbunden das Risiko des Verlustes der guten emotionalen Beziehung an sich. Das Versprechen, das er seiner Mutter gegeben hat, konnte er zumindest zwei Jahre lang einhalten. Die (verborgene) Sorge über die nun kürzlich begangene Straftat gilt deshalb wahrscheinlich nicht nur der drohenden strafrechtlichen Sanktion, sondern auch
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seiner Beziehung zur Mutter. In diesem Zusammenhang ist auch die von Dennis an sich selbst gerichtete wiederkehrende Frage nach den Gründen für die Tat zu verstehen. Dabei ist ihm bewusst, dass der Genuss von Alkohol zwar eine ausschlaggebende Rolle für die Tatbegehung gespielt hat, dies jedoch als Erklärung oder Rechtfertigung nicht ausreicht. Aus den erarbeiteten Zusammenhängen kann die Tat – wie bereits vermutet – als Rückfall gesehen werden, der nun von Dennis be- und verarbeitet werden muss. Enke (2003, S.79) sieht in dieser Form eines Rückfalls in delinquentes Handeln noch kein Scheitern der Umorientierung zu einem straftatfreien Leben, sondern schreibt ihm sogar eine verstärkende Wirkung bezüglich der künftigen Einhaltung von Normen und Gesetzen zu: „Die Erfahrung eines Rückfalls konnte sozusagen als letzter Anstoß zur Besinnung beitragen und die Selbstkontrolle nachhaltig fördern. Denn damit wurde eine greifbare positive Identität unmittelbar riskiert. Das wirkte bestärkend im Bemühen, so etwas nicht wieder vorkommen zu lassen.“
Die emotionale Reaktion von Frau Behnke ist dabei ein starkes Druckmittel. Die Selbstvorwürfe der Mutter treffen Dennis in doppelter Hinsicht. Zum einen führt sein Verhalten dazu, dass die Mutter sich mitverantwortlich und schuldig fühlt, was er aufgrund der emotionalen Bindung nicht aushalten kann. Zum anderen wird ihm das Stigma des Abweichlers und damit der Unnormalität aufgedrückt (621-623). Dies stellt in seiner Normalität herbeisehnenden Welt quasi eine Katastrophe dar. Es kann vermutet werden, dass Dennis Sehnsucht nach und die daraus resultierende Betonung von Normalität sich nicht nur aus seiner wechselhaften Familiengeschichte begründet, sondern auch aus der erlebten Etikettierung seiner Person als unnormal, sei es wiederholt durch die Mutter (z.B. im Zusammenhang mit seiner Lernbehinderung) oder auch durch andere Personen (z.B. Stiefvater, schulisches Umfeld). Das Empfinden der eigenen Abweichung von der Norm kann dann möglicherweise in eine Überbetonung der Normalität gegenüber anderen gekippt sein und gleichzeitig zur Abweichung von Normen im eigenen Verhalten geführt haben, da er den Anspruch seiner Umwelt bzw. der Mutter aus seiner Perspektive sowieso nicht erfüllen kann. Selbst die Reaktion der Mutter wird von ihm in Hinblick auf ihre Normalität betont, woran die fast schon zwanghafte Affinität zur Präsentation einer Normalfamilie und Normalbiografie noch einmal deutlich wird. „nee nja aber wie jesacht was mein bisschen jekränkt isse schon (I.: hm) so ge.. we.. welche mutti is das nich (I.: hm) welche mutti is das nich die sagen sich dann jede mutti sagt sich dann was hab ich denn nur falsch jemacht (.) was wie hätt ich denn den erziehn können den hab ich doch ordentlich erzogen und et cetera et cetera (.) das kommt och bei jeder aussprache wenn ich mit mein mein eltern ma äh so diskutiere (.) jedesma kommt immer so was was hab ich denn nur falsch jemacht kannst du denn nich normal sein wie jeder andre ich sage wer ist denn heutzutage schon normal oder was ist denn normal“ (616-623)
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Dennis Konflikt mit der Normalität rührt nicht nur aus seinem eigenen Anspruch, sondern resultiert auch aus den Vorstellungen der Mutter, die er offensichtlich nicht erfüllen kann, und einem damit verbundenen Erleben des eigenen Versagens gegenüber der für ihn wichtigsten Bezugsperson. Aufgrund der starken Bindung an sie versucht Dennis jedoch, die Normalitätsvorstellungen der Mutter zu seinen eigenen zu machen. Belastend ist dabei für ihn die Selbstanklage der Mutter, die ohnehin nur auf den ersten Blick eine solche ist, indirekt jedoch Schuldzuweisungen an ihn enthält (weil er eben ein unnormales Kind ist), denn Frau Behnke hat ihren Sohn „ordentlich erzogen“ (619). Die Belastung wird dabei aus der wiederholten Betonung, dass er immer wieder damit konfrontiert wird, deutlich („das kommt och bei jeder aussprache“ 620, „jedesma kommt immer so was“ 621). Dennis versucht(e) deshalb auch, Straftaten vor seiner Mutter bzw. seinen Eltern zu verheimlichen, um der Konfrontation zu entgehen. Dies gelingt ihm aufgrund der Wohnsituation allerdings nicht (672-673). Hier zeigt sich ein Widerspruch zu seiner Äußerung, er könne mit seiner Mutter über alles reden, der darauf hindeutet, dass Dennis die Beziehung zu ihr idealisiert und der für die Interpretation der positiven Umdeutung seiner familiären Sonderposition spricht. Auch an dieser Stelle wird am Verhalten der Mutter keine Kritik geäußert. Im Gegenteil, es erfolgt eine Rechtfertigung, denn jede (618) Mutter würde sich so verhalten. Es ist diese emotionale Verstrickung, die für Dennis zur Falle wird und seine Versuche der theoretischen und praktischen Verarbeitung der Verlaufskurve bzw. der Befreiung davon so sehr erschwert. Der positive Effekt ist, dass die Delinquenz durch den Wunsch, die Mutter nicht zu belasten oder gar die Beziehung zu ihr zu gefährden, durchaus überwunden werden kann. Der negative Aspekt ist jedoch das mit der emotionalen Verstrickung in der Beziehung zur Mutter verbundene belastende Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit und Abhängigkeit. Dies könnte u.a. auch erst ein Bedingungsfaktor für seinen Einstieg in die rechte Szene und auch einer der Auslöser seines delinquenten Verhaltens an sich gewesen sein. Das oben bereits angeführte Plädoyer für eine größere Fehlerfreundlichkeit in der Erziehung hält er somit indirekt eigentlich für sich selbst im Bezug zur Mutter. 4.3.4 Wünsche, Werte, Zukunftspläne – „jesund n dach überm kopp und ruhe mehr brauch ich nich zum leben“‘ (1058-1059) Für sein Leben und seine Zukunft ist Dennis seine Gesundheit am wichtigsten. Er greift dieses Thema immer wieder auf und macht deutlich, welch hohe Bedeutung es in seinem Leben hat. Auch in der Netzwerkkarte widmet er der Gesundheit einen eigenen Bereich in seinem Leben.
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„gesundheit (.) mehr zählt nich also nirgends nur gesundheit (.) alles andre is bockwurst sach ich jetzt mal das isses einzje was zählt“ (1037-1038) „ich will nur gesund sein (I.: hm) bis ich abkratze is mir ejal nur jesund ich will hier keen weltraumherpes ham oder so“ (1054-1056)
Dass die Gesundheit, die für Jugendliche in Dennis Alter häufig selbstverständlich ist, eine so wesentliche Rolle in seinem Leben spielt, kann mit dem (Mit-)Erleben der Krankheit seiner Schwester in Verbindung gebracht werden. Dennis thematisiert die Krankheit seiner Schwester im Interview insgesamt nur am Rande, was wahrscheinlich auch mit seinem anfänglich formulierten Vorsatz, nichts Schlechtes über seine Familie erzählen zu wollen, zusammenhängt, da er deshalb auf einen Großteil Aufmerksamkeit seiner Mutter verzichten musste. Aus seiner Hervorhebung der Gesundheit als wichtigstes und erstrebenswertes Gut wird jedoch deutlich, wie sehr die Krankheit der Schwester ihn beeindruckt und das Leben der Familie sowie sein Aufwachsen bestimmt (hat). Bezüglich der Betonung der Gesundheit nimmt Dennis eine Einschränkung vor, die seiner sonstigen Darstellung und der daraus herausgearbeiteten Familienorientierung widerspricht. Ihn interessiert nämlich vordergründig nur die eigene Gesundheit – „da sach ich immer was intressiert mich andres elend (I.: hm) weil um mich kümmert sich och keener wenn ich todkrank bin“ 1039-1041). Dieser Widerspruch kann aus dem weiteren Verlauf des Interviews nicht aufgelöst werden. Es ist jedoch zu vermuten, dass Dennis hier im Sinne einer Frustration so reagiert, weil er zum einen die vergeblichen Bemühungen der Ärzte um eine Verbesserung des Zustandes seiner Schwester miterlebt, die er als „versuchskaninchen“ (1042) wahrnimmt. Zum anderen könnte an dieser Stelle erneut seine Verletzung aufgrund der Vernachlässigung durch seine Mutter wirken und auch die subjektive Wahrnehmung einer unwichtigen Rolle innerhalb der Gesellschaft, die ihn so argumentieren und sich zumindest in diesem Zusammenhang in den Vordergrund stellen lässt. Es ist jedoch auch denkbar, dass Dennis in dieser Argumentation seine Familie außen vor lässt und als am nächsten stehende Personen gar nicht in seine gedankliche Auseinandersetzung einbezieht, da sie eher auf im medizinischen Bereich tätige Personen gerichtet ist. Da Dennis zu dieser Frage keine anderen in seinem Leben wichtigen Dinge und Bereiche anführt, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der Gesundheit für ihn um eine basale und nicht zwangsläufig vorhandene Voraussetzung für seine gesamte Lebensgestaltung und Zukunft handelt. Überhaupt fällt es ihm schwer, Pläne für seine Zukunft zu entwickeln. Seine diesbezüglichen Vorstellungen beschreibt er als „schlicht und einfach“ (1060). Die Zukunft ist für ihn keine Projektionsfläche für diverse Wünsche und Träume, sondern eine eigenhändig erarbeitete und erkämpfte Lebensgrundlage, mit der fundamentale menschliche Bedürfnisse – „jesund n dach überm kopp und ruhe“ (1058) abgesichert werden können. Voraussetzung für die
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Erfüllung dieser Ansprüche ist eine Arbeit, über die er sich die ersehnte eigene Wohnung finanzieren möchte. Dennis ist Realist genug, um zu wissen, dass er mit seiner Berufsausbildung nie viel Geld verdienen wird (1051-1053). Das wird von ihm jedoch insoweit akzeptiert, dass er sich mit diesem Umstand arrangiert und seine Lebensplanung darauf einstellt. Er hat nicht das Bestreben seine diesbezüglichen Chancen zu verändern oder aber (unrealistische) Zukunftspläne zu entwickeln. Seine wenigen Zukunftsvorstellungen präsentiert er als sichere Gewissheiten, woraus ihre hohe Bedeutung deutlich wird. „ich weeß nur eens dass ich irgendwann ma äh off jeden fall weeß dass ich äh ne eigene wohnung habe und äh arbeit habe“ (1051-1052)
Die Darstellung dieser Zukunftspläne als sichere Gewissheiten kann als Dennis Angst gelesen werden, dass sie sich nicht erfüllen. Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit und dem Kampf um einen Arbeitsplatz hat Dennis bereits gemacht (927-944). Die Festlegung seiner Zukunftsvorstellungen als aus seiner Sicht mit Sicherheit eintreffende Tatsachen dient somit – ähnlich wie die mehrmalige Betonung des innigen Verhältnisses zur Mutter sowie die Sorglosigkeit bezüglich der Gerichtsverhandlung – der eigenen Versicherung über einen subjektiv als unsicher empfundenen Gegenstand. Aus anderen Stellen des Interviews geht hervor, wie groß sein Wunsch nach einer eigenen Wohnung ist, den er sich mit 23 Jahren immer noch nicht ohne größere finanzielle Schwierigkeiten erfüllen kann und auch, wie sehr ihn das frustriert (742-771). Die damit verbundenen negativen Gefühle auch der Unselbständigkeit werden jedoch positiv umgedeutet („das is cool so hotel mutti“ 773-774) und seine Ansprüche den Gegebenheiten angepasst, um den Gefühlen der Frustration und Chancenlosigkeit zu begegnen. Dies wird vor allem dadurch deutlich, dass Dennis die zunächst hervorgehobenen Vorteile des Wohnens bei den Eltern, nämlich die Rund-um-Versorgung durch die Mutter, gleich im Anschluss relativiert und auf seine Selbständigkeit verweist: „obwohl ichs och kann s nja ich hab ja nun alleene jewohnt obwohl ichs och kann so isses nich“ (778-779)
Der bisher noch nicht erfüllbare Wunsch nach einer eigenen Wohnung kann jedoch auch als Symbol für seinen inneren Wunsch nach dem Erlangen von Eigenständigkeit und altersgemäßer Loslösung von der Mutter verstanden werden, die er bislang eben noch nicht wirklich (dauerhaft) erreicht hat. In Dennis Argumentation zum Thema Glück kommen überwiegend Wünsche zum Ausdruck, die seine Zukunft betreffen. Während Dennis jedoch bezüglich seiner Zukunftsvorstellungen nur einige wenige konkrete und zum Teil schon realisierte Vorstellungen beschreibt, kommen im Zusammenhang mit dem Glück
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die Wünsche zum Vorschein, die eigentlich zu seiner Zukunftsplanung gehören: Die Sehnsucht nach einer eigenen Familie und stabilen sozialen Beziehungen sowie der Wunsch nach der Überwindung der Delinquenz und der mit ihr verbundenen belastenden Konsequenzen (1111-1117). In dem Bestreben, „den scheiß den ich jemacht habe endlich zu verjessen“ (1112-1113) sowie in seinen Vorstellungen überhaupt, kommt erneut Dennis Affinität zu einer unauffälligen Normalbiografie zum Ausdruck und wohl auch der Wunsch, nicht mehr konfrontiert zu werden. Dennis will „den scheiß“ (1112) nämlich nicht nur hinter sich lassen, sondern vergessen, was implizit auch auf die ständigen und sich wiederholenden Konfrontationen durch die Mutter abzielt. Die Darstellung dieser Lebensziele als Glück und nicht als konkrete Planung weist auf seine diesbezügliche Unsicherheit hin. Diese resultiert zum einen aus dem gerade erlebten „Rückfall“ in die Delinquenz, der Dennis im Hinblick auf seine gefassten Vorhaben und das eigene Durchhaltevermögen verunsichert. Zum anderen hat er bereits einen gescheiterten Versuch der Familiengründung erlebt und ist auch nicht zuletzt durch seine verworrene Familiengeschichte und die „mitjemacht(en)“ (16) Trennungen geprägt. Seiner Suche nach sicheren Bindungen steht somit seine bisherige Erfahrungswelt entgegen, in der Beziehungen von Instabilität und zeitlicher Begrenzung geprägt sind. Diese Unsicherheiten in der Erreichung seiner Lebensvorstellungen führen zu einer Verschiebung seiner Lebensziele von der Ebene der Zukunftsplanung auf die bezüglich ihrer Erfüllung eher vage Ebene der Vorstellung vom Glück. Aus Dennis Äußerungen, die emotionale Bereiche und grundlegende Wertvorstellungen thematisieren, wird erneut seine hohe Familien- und auch Arbeitsorientierung – beide Bereiche nehmen auch in der Netzwerkkarte den größten Raum ein – ersichtlich. Seine zentralen Lebensziele richten sich auf eine gesicherte Zukunft, wobei sich die Sicherheit auf die Stabilität von Gesundheit, Familie und Berufsleben bezieht. Besonders schlimm wäre es für Dennis, wenn seiner Familie etwas passieren würde. Allerdings wird in diesem Zusammenhang als erstes seine Schwester und nicht die Mutter genannt (1066-1067; 1072-1075). Dies lässt sich jedoch aus der phasenweise lebensbedrohlichen Erkrankung der Schwester erklären, die ihren Verlust oder zumindest eine starke Beeinträchtigung ihres Lebens im Vergleich zu den anderen Familienmitgliedern wahrscheinlicher erscheinen lässt. Aber auch die Misshandlung von Frauen oder Kindern macht Dennis traurig, wobei vermutet werden kann, dass hier seine eigenen Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit dem ersten Stiefvater, die er vor sich selbst und seinem Umfeld nicht zugeben kann, eine Rolle spielen. In der Auseinandersetzung mit dem Thema Traurigkeit kann Dennis seine eigenen Gefühle über diese Erlebnisse zulassen, ohne sie konkret zu sich in Bezug setzen zu müssen. Seine Reaktion auf Gewalt gegenüber Kindern und Frauen ist auch deutlich
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von Emotionalität, nämlich Aggressivität und Rachegedanken, geprägt, die mit großer Wahrscheinlichkeit aus seiner eigenen Betroffenheit resultieren und auf seine gegenüber dem Stiefvater vermutlich erlebten Ohnmachtsgefühle hinweisen. „da würd ich am liebsten hinrenn und den (.) den leuten an de wand stelln und krawumm nur noch abknalln“ (1071-1072)
Dennis argumentiert in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben von Wut insgesamt widersprüchlich. Er beschreibt sich zum einen als eher ruhigen Typ, der sich noch nie richtig wütend erlebt hat und versucht den Begriff „Wut“ in persönlichen Formulierungen zu vermeiden. Stattdessen spricht er davon „sauer“ (1102) zu werden. Die Wut ist für ihn ein Resultat sich steigernder Frustrationen: „das macht mich s macht mich äh äh wütend nich sondern äh sauer (I.: hm) und irgendwann isses dann aber soweit dann steigt das dann wird man wütend“ (1105-1107), was er an sich jedoch noch nicht erlebt hat (1108). Zum anderen beschreibt er sich jedoch unter Alkoholeinfluss durchaus als aggressiv. „alkohol macht mich vielleicht aggressiv (.) und dann kommt vielleicht irgendwie die wut dann kommt dann äh da wird dann drüber nachjedacht (..) was könnte man ändern oder was könnte man anders machen so und dann kommt vielleicht die wut“ (1095-1098)
Spricht Dennis von Wut und den Gründen dafür sind seine Formulierungen unpersönlich und vage. Es ist wahrscheinlich, dass Dennis unter Alkoholeinfluss subjektiv empfundene Benachteiligungen in seinem Leben besonders bewusst werden und er seine damit verbundenen negativen Gefühle aufgrund des Rauschzustandes nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Sein Konzept der Anpassung an die gegebenen Umstände und der Zurückstellung eigener Ansprüche, um Enttäuschungen und Frustrationen gering zu halten, scheint unter Alkoholeinfluss nicht mehr zu funktionieren. Zieht man hinzu, dass seine letzte Straftat (Bedrohung mit einer Waffe) unter Alkoholeinfluss stattfand, kann geschlossen werden, dass Dennis die Frage nach der Wut unangenehm ist, eben weil er im Zusammenhang mit Alkohol aggressive Aussetzer hat und dies nicht thematisieren möchte. Weitere Anlässe, die ihn wütend oder zumindest sauer machen, sieht Dennis, wenn er belogen wird, ihn jemand (verbal) angreift, es um seine Ehre geht (1099-1105) oder etwas „nich so klappt“ (1083), wie er das will. Insgesamt beschreibt sich Dennis umfassend und facettenreich, wobei er sich auch in widersprüchlichen Eigenschaften darstellt. Die Ausführlichkeit mit der Dennis versucht, einen Eindruck von seiner Person zu vermitteln und auch die darin zum Ausdruck kommende Anstrengung, ein möglichst genaues Bild von sich zu zeichnen, deuten darauf hin, dass Dennis das mit der Frage nach seiner Persönlichkeit verbundene Interesse für seine Person als angenehm empfindet und er es nutzt, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. In der
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Selbstdarstellung eigener Eigenschaften und Charakterzüge wird erneut Dennis Zerrissenheit zwischen dem eigenen Normalitätsanspruch und der Realität, in der er sich als nicht normal erlebt, deutlich: „ich bin off jeden fall kein normaler durchschnittstyp (.) weeß ich“ (951-952) „doch ich bin so globe so der so der der (.) coole typ so also cool nich grade in dem sinne aber so so der der konservative sach ich jetzt mal der der hm (.) den s eigentlich sonst och immer jibt also der normale (.) typ so“ (982-984)
Aus seiner Selbsteinschätzung kann insgesamt die bisherige Interpretation, nach der Dennis sich nach einer konservativen Normalbiografie sehnt, in der Familie und Arbeit die beiden zentralen Bezugspunkte darstellen, bestätigt werden. Dennis beschreibt sich als sehr sensibel und sieht sich als ehrlichen, lustigen und hilfsbereiten Menschen, der in sich selbst in der Gestaltung und Wahrnehmung der eigenen Identität zwischen dem männlich-coolen, unternehmungslustigen, durchaus im Mittelpunkt stehenden jungen Mann und einem schüchternen und sensiblen Jugendlichen schwankt. Thema ist jedoch in jedem Fall auch hier wieder seine Vergangenheit, für die er „hundertprozentig […] in de hölle“ (979) kommt und auch von einigen Menschen in seinem Umfeld abgelehnt wird. Rechtsextremistische Inhalte oder Bezugspunkte spielen sowohl in Dennis Wertvorstellungen als auch in seiner Zukunftsplanung und im emotionalen Bereich keine Rolle. Lediglich im Zusammenhang mit seiner Selbsteinschätzung erfolgt eine Anspielung auf den Wahrheitsgehalt des Filmes „Schindlers Liste“. 4.3.5 Rechte Parolen als Frustabbau – „das ist mein vaterland hier (.) hier wohne ich [...] da kann keen [...] türke oder keen bimbo ankommen und sagen was willsten du hier und verscheucht mich irgendwie“ (196-198) Dennis eigene Zuordnung zur rechten Szene basiert auf subjektiv empfundenen Frustrationen und Zukunftsängsten, deren Ursachen er in der wenig volksnahen Politik sieht. Dennis empfindet sich dabei vordergründig in einer Konkurrenzsituation mit Ausländern, die seiner Meinung nach in ihrer Vielzahl das Land in Kombination mit der schlechten Politik wirtschaftlich zugrunde richten (u.a. 160-178; 184-208; 225-234). Sein politisches Wissen bezieht Dennis aus allem, was „heutzutage noch legal is“ (366), worunter er hauptsächlich Zeitungen, Bücher und Dokumentationen versteht. Auch die Texte rechter Musik dienen ihm zur Information (355-356). Thematisiert werden von ihm zusammenfassend vor allem die folgenden Inhalte: Die Bedrohung der eigenen Existenz durch Überfremdung, mangelnde Integration von Migranten und falsche Politik
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Dennis fühlt sich von in Deutschland lebenden Ausländern in mehrerer Hinsicht bedroht. Zum einen sieht er seinen Arbeitsplatz bzw. seine berufliche Zukunft durch von Ausländern verrichtete Schwarzarbeit gefährdet. Dazu kommt zweitens seine Wahrnehmung einer Bevorzugung der Ausländer im deutschen Sozialhilfesystem und auf dem Arbeitsmarkt (169-184; 305-311). Diese Hintergründe sieht er auch als Ursachen für rechte Einstellungen in der Bevölkerung (271-275). Als drittes kritisiert er die von ihm wahrgenommene mangelnde Integration der hier lebenden Ausländer durch ihre Verweigerung der Anpassung aber auch diesbezügliche mangelnde staatliche Maßnahmen (186-194). Dennis fühlt sich weiterhin in seiner eigenen Sicherheit bedroht, was er durch eine Belegerzählung persönlicher Erfahrungen von gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Ausländern ausführt55 (199-206). Dabei lässt sich auch ein interessanter Zusammenhang zu seiner eigenen Familiengeschichte herausarbeiten. Dennis stört sich nämlich insbesondere auch an dem engen Zusammenhalt ausländischer Familien in Konfliktsituationen mit anderen (201-203). Es liegt nahe, dass er sich nicht nur bezüglich materieller Ressourcen und Möglichkeiten unterlegen fühlt, sondern sich auch im Vergleich der familialen Einbindung und Sicherheit benachteiligt sieht. Besonders interessant für Dennis Erzählmechanismen ist hier die folgende Sequenz, da sie eng mit seinem Vorsatz, nichts Schlechtes über seine Familie zu erzählen, korrespondiert und verdeutlicht, wie sich seine Gefühle an anderer Stelle übertragen und entladen. „ich würde mir so jerne ne wohnung mieten jeht nich kann ich nich bezahlen von was denn (.) so und un da brauchen wir da brauch man sich dann nich wundern wenn die jugend oder wenn ich dann n hass kriege n richtjen hass kriege bei sowas (.) mir isses ejal wenn die sich da unten im irak da gegenseitig de birne einschießen solln se machen ist mir total egal aber die solln uns hier in ruhe lassen die solln mich hier in ruhe lassen“ (181-186)
Dieser auf den ersten Blick unvermittelte Übergang vom Thema „eigene Wohnung“ zum Thema „Irak-Krieg“ lässt sich unter Einbeziehung des 55
Das Projekt „Politische Orientierungen von Schülern im Rahmen schulischer Anerkennungsbeziehungen“ des Zentrums für Schulforschung und Fragen der Lehrerbildung der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass eine Beziehung zwischen der Qualität der Alltagserfahrungen mit Migranten und Fremdenfeindlichkeit besteht, „wobei positive Alltagserfahrungen mit einer geringeren Ausprägung an Fremdenfeindlichkeit einhergehen und umgekehrt“ (Fritzsche 2006, S.89). Demnach bilden vor allem „Belästigungen durch Ausländer […] einen starken Zusammenhang mit dem Auftreten von fremdenfeindlichen Orientierungen“ (Fritzsche 2006, S.92). Es ist davon auszugehen, dass hierbei die subjektive Wahrnehmung und Deutung der Alltagserfahrungen eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Würtz (2000) stellt dazu anhand der Analyse von Schülergruppendiskussionen fest, dass Angst und Abwehr beim Umgang mit Migranten durch subjektiv empfundene Benachteiligungen und Risiken innerhalb der eigenen Lebenssituation sowie dem Gefühl von Konkurrenz verstärkt werden können. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch Sommerfeld (2010).
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Hintergrundwissens um den Fall entschlüsseln. Frau Behnke erzählte im Anschluss an das mit ihr geführte Interview, dass sie sich vor Jahren stark für eine irakische Familie aus der Nachbarschaft eingesetzt hat, die von ausländerfeindlichen Nachbarn zum Auszug aus dem Haus gezwungen werden sollte. Dagegen hatte sie zahlreiche Schritte unternommen und auch viel Zeit investiert. Für Dennis, der innerhalb der Familie aufgrund der verschiedenen Umstände wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen hat, dafür aber frühzeitig Verantwortung übernehmen musste, scheint das Engagement der Mutter für die irakische Familie ein weiterer Affront gewesen zu sein. Es kann vermutet werden, dass er wiederum erlebte, wie die Mutter ihre Aufmerksamkeit nicht ihm, sondern jemand anderem zukommen ließ. Besonders deutlich wird seine eigene Betroffenheit durch den Nachtrag „die solln mich hier in ruhe lassen“ (185-186). Diese Aussage ergibt erst durch die Rückbeziehung auf die damaligen Ereignisse einen Sinn. Seine mögliche Wut und Verletzung über die erlebte Zurücksetzung durch die Mutter drückt er jedoch nicht direkt aus, da er sonst seinem Vorsatz zuwider handeln würde. Die negativen Gefühle entladen sich vielmehr in der Übertragung auf die Ablehnung von Ausländern, an dieser Stelle im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg. Die Angst vor der Eskalation der von ihm subjektiv wahrgenommenen gespannten Situation zwischen Politik und Bevölkerung in bürgerkriegsähnlichen Zuständen Für Dennis sind die gespürten existenziellen Bedrohungen so zentral, dass er sogar eine Eskalation der Gewalt in Verbindung mit einem allgemeinen Anstieg der Kriminalität befürchtet. Hierzu malt er düstere Szenarien von Deutschlands Zukunft in einigen Jahren. „es is grauenvoll wenn hier nich irgendwie irgendwann mal was passiert dann krachts irgendwann“ (158-159) „es werden noch mehr deutsche arbeitslos es wern s es wird noch mehr mord und totschlag jeben“ (228-229)
Für eine solche Entwicklung sieht Dennis neben der aus einer falschen Politik resultierenden sozialen Ungerechtigkeit zwei Gründe. Zum einen handelt es sich auch hier wieder um die Ausländerproblematik (160-165). Zum anderen sieht er einen Zusammenhang zwischen schlechten Lebensbedingungen und der Auswanderung von Deutschen aus der BRD, beispielsweise nach Mallorca (165168). Seine teilweise verworrene Argumentation deutet auf ein Gefühl der Machtlosigkeit hin. Er sieht keine Möglichkeit, die für ihn widrigen Umstände zu beeinflussen, was gleichzeitig mit dem Anspruch verbunden ist, eine höhere Instanz möge seine Lebensbedingungen bzw. die aller Menschen regeln. Diese
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höhere Instanz bildet für ihn der Staat, den er für verantwortlich hält. Dabei ist seine Vorstellung vom Staat abstrakt, der Staat ist nicht mit dem täglichen Leben eines „normalen“ Bürgers verknüpft. Dennis sieht sich also nicht als ein sein Heimatland oder aber zumindest sein eigenes Leben aktiv (mit)gestaltendes Individuum an, sondern erlebt sich in seinen Möglichkeiten abhängig und eingeschränkt von der aus seiner Sicht vom Volk losgelösten Regierung. In diesem Zusammenhang kann auch Dennis Wunsch nach der Wiederherstellung der DDR verstanden werden, obwohl er zur Zeit der Wende noch ein Kind war (311-320). Mit dem Staat DDR verbindet Dennis die Vorstellung von Sicherheit und Gerechtigkeit, die ihm in dieser Gesellschaft und auch seiner Familie fehlt. Er hat aufgrund der vielfältigen Optionen der Lebensgestaltung sowie den damit verbundenen Risiken und Anforderungen an die eigenen Handlungskompetenzen innerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen ein Orientierungsproblem und sehnt sich nach Sicherheit vermittelnden, vorgegebenen Strukturen. Seine in Bezug auf die heutigen Unsicherheiten der Lebensgestaltung subjektiv gespürten existenziellen Ängste überträgt Dennis auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung Deutschlands, die er dann in der angeführten Dramatik schildert. Die fortwährende Auseinandersetzung und Konfrontation Deutschlands mit dem Zweiten Weltkrieg und die daraus resultierende Politik zum Nachteil der Deutschen Dennis möchte nicht mehr mit den Inhalten und Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges konfrontiert werden und vor allem als unbeteiligte Generation nicht mehr dafür büßen. Zwar findet er die damaligen Geschehnisse „schlimm“ (337), allerdings ist er auch dafür, einen „schlussstrich“ (383) zu ziehen. Insbesondere die daraus bis heute anhaltenden politischen Konsequenzen lehnt er ab, da er sich zu Unrecht für etwas bestraft fühlt, was er nicht zu verantworten hat (382-386; 370-372). Dabei sieht er einen Unterschied zwischen dem Faschismus und seinen Ursachen und seiner heutigen rechten Denkweise, die aus sozialer Unsicherheit und Frustration resultiert (335-342). „will ich nich verstehn wie das damals wirklich passiert is wie überhaupt jut ich habe das äh buch mein kampf (.) äh aber ich habe aber äh mir och jesacht ich möchtes einfach nich begreifen ich wills och nich begreifen wie und warum das überhaupt passiert is“ (399-402)
Dennis Weigerung, sich mit den Hintergründen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, kann vor der Folie der Legitimation seiner rechten Meinung erklärt werden. Würde er eine solche Auseinandersetzung ernsthaft zulassen, könnte er die rechte Orientierung nicht mehr als Ort des Frustrationsabbaus aufrechterhalten, da er den Auswirkungen des Nationalsozialismus bereits jetzt ablehnend gegenübersteht. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch seine Auseinandersetzung mit Adolf Hitler, den er einerseits als „nicht dumm“ (393)
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beschreibt, wobei er vor allem auf die damalige Arbeitsmarktsituation anspielt. Andererseits ist Hitler für ihn ein „brezdämlicher mensch“ (402) und wird eben wegen der verheerenden Auswirkungen seiner Politik von ihm abgelehnt. Insbesondere die Fähigkeit Hitlers, andere Menschen für sich einzunehmen und zu beeinflussen, übt dabei auf Dennis eine ambivalente Faszination aus: „off den ham alle jehört (..) das war glaube der größte fehler warum se alle off den jehört ham also dasse überhaupt off den jehört ham war der größte fehler“ (395-397) „der hat es wirklich soweit jebracht dass alle da standen (.) tja (.) warum kann das heutzutage nich klappen“ (403-404)
Bei seiner Faszination für Hitler geht es weniger um die von ihm vertretenen politischen Inhalte, sondern um Dennis Wunsch nach einer Stärke und Sicherheit vermittelnden Führungsperson, die eine klar strukturierte und sozial gerechte sowie abgesicherte Gesellschaft schafft. Auch in diesem Zusammenhang vermittelt sich also sein auf Sicherheit abzielendes Handlungs- und Orientierungsmuster, das gleichzeitig mit Schwierigkeiten des Zurechtkommens in den heute gegebenen zunehmend pluralisierten gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen verbunden ist. Dennis Gefühle der Benachteiligung und Chancenlosigkeit werden insgesamt betrachtet durch den Hass auf die Regierung, die aktuelle politische Lage und die in Deutschland lebenden Ausländer ausagiert. Sein Leben am Existenzminimum frustriert ihn vor allem deshalb, weil es mit massiver Unsicherheit einhergeht und er die Erfüllung seiner grundlegenden Bedürfnisse in Gefahr sieht. Dennis Frustration resultiert also auch aus seinem Ringen um den Aufbau einer eigenen, von den Eltern unabhängigen Existenz, wobei er sich aufgrund seiner Affinität zu Sicherheit in einem besonderen Spannungsfeld mit den heutigen Optionen aber auch Unsicherheiten und Risiken der Lebensgestaltung befindet. Die widersprüchliche und teilweise unzusammenhängende Argumentation während der Passagen, in denen er seine rechte Einstellung beschreibt, resultiert aus einem durch seine subjektiven Frustrationen entwickelten Sozialneid, der sich nicht allein gegen Ausländer richtet, sondern im Grunde gegen jeden, dem es seiner subjektiven Sichtweise nach ungerechtfertigt besser geht als ihm selbst. Dabei geht es vor allem um seine unbefriedigten Bedürfnisse nach Sicherheit und einem Lebensstandard, der zumindest eine eigene Wohnung und gelegentliche Urlaube ermöglicht. Gleichzeitig entlädt sich über seine rechte Einstellung auch seine unterdrückte Wut in Bezug auf seine familiäre Situation, wie am Beispiel der irakischen Familie oder auch der unterstellten Familienbande türkischer Familien deutlich wird. Mit seiner Zugehörigkeit zu einer Clique überwiegend rechter Jugendlicher verortet sich Dennis selbst im Spektrum gängiger Jugendkulturen. Sowohl rechts
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als auch linksgerichtete jugendliche Cliquen gehören für ihn zur Gesellschaft dazu, wobei er andere, insbesondere linke, Jugendkulturen nicht als Gegner begreift, sondern als bis auf unterschiedliche Stilmittel gleich erlebt. „sowas muss in die jesellschaft rein jenauso wie s autonome jibt da sacht och keener was die lässt man doch och in ruhe warum finde ich warum lässt man die in ruhe und uns nicht uns jehn se jedesmal an sack dann heißts ja sie ham verstoßen gegen paragraph 86a sie ham das jemacht sie ham landesfriedensbruch jemacht sie ham jenes gemacht weeßte (.) die die sitzen auf ihrn wiesen färben sich de haare toupiern se sich nach oben un saufen sich de birne zu (.) wir stehn wir machen ni.. wir machen jenau das gleiche abjesehn dass wir uns de haare hoch toupiern und färben“ (276-282)
Die negative gesellschaftliche Sonderstellung als rechte Clique wird von Dennis nicht verstanden. Er fühlt sich von Institutionen der öffentlichen Kontrolle in seinen für ihn harmlosen jugendlichen Aktivitäten ungerecht behandelt und stigmatisiert, wobei die Überschreitung der Grenze von noch im demokratischen Spektrum angesiedelten Einstellungen zu extremistischem Verhalten von ihm bagatellisiert wird. Somit ist zwar seine Einstellung gegenüber den in einer Gesellschaft vorkommenden unterschiedlichen politischen Positionen durchaus demokratisch, die von ihm begangenen Delikte sind jedoch z.T. verfassungsfeindlich. Damit finden sich im Fall Dennis die von Stöss (1999, S.23) beschriebenen möglichen Unterschiede zwischen Einstellungs- und Verhaltensebene wieder: „Rechtsextremistische Aktivitäten müssen nämlich nicht notwendigerweise unmittelbar rechtsextremistische politische Ziele verfolgen. Ihre Motivation kann auch darin bestehen, der individuellen Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen mittels provokativer Gebärden (Hakenkreuzschmierereien, ausländerfeindliche Sprüche, antisemitische ‚Witze’, etc.) Ausdruck zu verleihen.“
Stöss sieht dabei die Grenzen zwischen Protest und Zielgerichtetheit als fließend an, da ersterer eine Vorstufe zu einer manifesten rechtsextremistischen Haltung sein kann (ebd., S.24). Dennis gerät im Zusammenhang mit seiner rechten Einstellung in einen Konflikt zu seinem Streben nach Normalität. Aus der bisherigen Analyse wurde bereits deutlich, dass Dennis sich der Ablehnung rechten Gedankengutes durch viele andere Menschen im Grunde sehr wohl bewusst ist. Auch aufgrund der aus seiner Sicht ungerechten Behandlung der Rechten durch staatliche Organe und der „angst“ (290) der Gesellschaft vor ihnen, ist ihm dies gegenwärtig. Der innere Konflikt wird von Dennis gelöst, in dem er seine gegen Ausländer und die aktuelle Politik gerichtete rechte Einstellung als weit verbreitete, aber eben versteckte Ansicht umdeutet. In dem er sich immer wieder darüber versichert, dass quasi heimlich „alle“ (89) so denken, stellt er seine Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft sicher und legitimiert die eigene Meinung.
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In seiner Argumentation, in der er sich nach eigener Aussage richtig „ausjesprochen“ (348) hat, sind mehrere Dinge zentral. Zum einen fällt an seiner aufgebrachten Sprechweise auf, dass Dennis sich regelrecht in Rage redet. Zum anderen werden die ihn störenden Faktoren unvermittelt aneinander gereiht, unvermittelt abgebrochen und an anderen Stellen immer wieder aufgegriffen. Dadurch entsteht eine redundante Argumentation, die sich erst nach Dennis subjektivem Gefühl, sich ausgesprochen zu haben, erschöpft. Zum dritten verknüpft Dennis seine Argumentation immer wieder mit persönlichen Alltagserfahrungen, die er als Belegerzählungen seiner Kritik an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen anfügt. Die von Dennis angeführten Argumente und Denkweisen sind insgesamt primär auf die Sicherung der eigenen Existenz und Lebensgrundlage gerichtet, die er aktuell gefährdet sieht. Allein darüber begründet sich auch seine Ablehnung von Ausländern als störende Konkurrenten, die seine wirtschaftliche und soziale Sicherheit bedrohen. Dennis Einstellung stellt also kein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild mit den entsprechenden ideologischen Hintergründen dar, sondern bildet aus einem Zusammenspiel von jugendkultureller Provokation und eigener Frustration eine diffuse Orientierung. Seine Argumentation ist im engeren Sinne auch keine durchdacht politische, sondern eher eine widersprüchliche Aneinanderreihung von Stammtischparolen in Verbindung mit wiederholten Versuchen, eine rechte Einstellung zu rechtfertigen. Diese Einschätzung wird durch seine Äußerungen bezüglich seiner Wertvorstellungen, Zukunftspläne und Emotionen bestätigt, da darin rechtsextreme bzw. rechte Gedanken und Einstellungen überhaupt keine Rolle spielen, ja nicht einmal vorkommen. Dennis erzählt über die Stegreiferzählung hinaus nicht von seinem Einstieg in die rechte Szene und erwähnt auch seine rechte Clique nur im Zusammenhang mit seinem geplanten Rückzug aus der Delinquenz. Er hat zwar nicht vor, von seiner rechten Meinung abzulassen, möchte aber keinesfalls mehr straffällig werden, weil er seine berufliche Zukunft und auch das Verhältnis zu seiner Mutter nicht gefährden will. Um diesen Vorsatz weiterhin durchzuhalten und nicht erneut rückfällig zu werden, muss er sich seiner Ansicht nach ein Stück weit aus seinen Peer-Bindungen zurückziehen. Dabei möchte er nicht gänzlich auf seine „kumpels“ (690) verzichten, sich aber zumindest „jedem ärger“ (693) entziehen. Dennis Weg zumindest aus der Delinquenz kann durch die Kombination der drei Faktoren Einbindung in eine Arbeit, drohende staatliche Sanktionen und hohe emotionale Bindung an die Mutter durchaus gelingen. Die staatliche Sanktion in Form einer Haftstrafe bedroht dabei die zwei für ihn in seinem Leben an erster Stelle kommenden Lebensbereiche, über die er sich selbst definiert und die seine Identität maßgeblich prägen: Familie und Arbeit.
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4.3.6 Interview mit Frau Behnke – „das kann doch nich sein dass ausjerechnet dein kind halt dumm is“ (47) Frau Behnke ist zum Zeitpunkt des Interviews 43 Jahre alt und arbeitet im Verlagswesen einer Tageszeitung. Sie lebt mit ihrem zweiten Mann, Dennis und seinen beiden jüngeren Halb-Schwestern in einem Reihenhaus in A.-Stadt. Während des Interviews ist die Tür zwischen Wohnzimmer und Küche, in der sich Dennis aufhält, geöffnet. Frau Behnke bedankt sich im Anschluss des Interviews bei der Interviewerin und bietet noch einen Kaffee an. Während des Kaffeetrinkens, zu dem sich später auch Dennis dazu gesellt, setzt sie zu einer erneuten Erzählung an, die verschiedene Ereignisse in Dennis Kindheit näher beleuchtet. Sie ist durch das Interview erst auf diese Dinge gekommen und fühlt sich ohne das Aufnahmegerät freier. Die in diesem anschließenden Gespräch gewonnenen Informationen wurden als Hintergrundwissen an passenden Stellen in die Interpretation integriert, da sie zu einem wesentlich besseren Verständnis der Familiengeschichte beitragen. 4.3.6.1 Interpretation der Stegreiferzählung von Frau Behnke Ausgangspunkt der Erzählung von Frau Behnke über die Biografie ihres Sohnes ist folgender Erzählstimulus: I.: „so mh frau behnke könnten sie etwas über die kindheit von dennis erzählen ähm wie er aufgewachsen ist bis heute darum würde ich sie bitten und ich würds gern so machen dass ich ihnen erst mal zuhöre und dann später noch nachfrage“ (3-5). Sequenz 6-9: „ja dennis ist am (geburtsdatum) geborn ähm unehelich geborn ich war zwar zu der zeit mit sein vater noch zusammen wir ham uns dann getrennt als dennis zwei jahre alt war ja dann (.) ham wer n paar jahre alleine gelebt (.) so und hab ich mein mann kenngelernt dennis is dann in de schule jekomm was soll ich zur kindheit sachen“
Frau Behnke nennt zunächst das genaue Geburtsdatum von Dennis. Darauf folgt eine kurze Aufzählung der Rahmenbedingungen von Dennis Aufwachsen bis zu seiner Einschulung, die zeitlich nicht mehr an konkrete Daten gebunden wird. Durch die Detaillierung von Dennis Geburt als unehelich und die zwei Jahre später folgende Trennung von seinem Vater weist Frau Behnke auf den eher episodenhaften Charakter der Beziehung zu Dennis Vater hin. Mit ihrer Trennung von diesem Mann hat sich auch dessen Vaterrolle für Dennis erschöpft, da er in der folgenden Erzählung nicht mehr erwähnt wird. Danach haben Frau Behnke und Dennis eine Zeit lang allein gelebt. Die Formulierung „wer“ (mundartlich für „wir“) (8) deutet gegenüber einer Formulierung wie etwa „hab ich mit dem Kind allein gelebt“ ein eher partnerschaftliches Verhältnis zu Dennis an. In
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zeitlicher Nähe zu Dennis Einschulung geht Frau Behnke eine neue Beziehung ein. Im Unterschied zu Dennis Vater spricht sie hier von ihrem Mann, was auf eine intensivere Qualität der Beziehung im Sinne einer Ehe spricht, obwohl das von ihr nicht explizit erwähnt wird. Frau Behnke knüpft dann mit einer Information über ihren Sohn an, stellt jedoch keinerlei Zusammenhang zwischen ihrem neuen Mann und Dennis her, was sich auch im weiteren Verlauf der Stegreiferzählung nicht ändert. Entgegen der durch die exakte Nennung von Dennis Geburtsdatum erwarteten Erzählung von Dennis Biografie anhand markanter Lebensdaten gerät Frau Behnke ins Stocken und fragt sich, was sie zu Dennis Kindheit erzählen könnte. Dieser abrupte Abbruch der Erzählung nach dem Schulanfang kündigt im Sinne eines Markierers eine einschneidende Veränderung an, die sich in der nächsten Sequenz bestätigt. Sequenz 9-11: „also bis in bis zum schulalter wars eben war er eben noch n ganz normaler junge würd ich sagen ja“
Dennis wird von seiner Mutter bis zum Schulalter als normaler Junge wahrgenommen. Dies impliziert danach eintretende Entwicklungen, die ihn zu einem „unnormalen“ Kind werden ließen. Ähnlich wie Dennis weist auch Frau Behnke bereits frühzeitig in ihrer Erzählung auf die Normalität ihres Sohnes hin, wobei von beiden in etwa der gleiche Zeitpunkt der Veränderung beschrieben wird. Sequenz 11-16: „und in der schule fingen dann die schwierigkeiten an in der ersten bis zur vierten klasse nich (.) so gravierend aber dann ab der fünften muss dazu sagen äh dass man erst in der fünften klasse erst festgestellt hat dass der dennis nich sehen konnte (.) ja der hatte anfangs die dioptrinzahl von acht komma fünf und acht komma null dass er überhaupt bis in de fünfte klasse jekomm is is n wunder (I.: hm) ja und wie jesacht dann in der fünften klasse fingen die schwierigkeiten an er is sitzengeblieben (.)“
Der durch den Bruch in der Erzählung sowie die Unterteilung in eine normale und unnormale Kindheit angekündigte problematische Zusammenhang wird nun detailliert. Dennis hat von Anfang an Schulschwierigkeiten, auch wenn diese bis zur vierten Klasse von Frau Behnke als „nich (.) so gravierend“ (12) eingeschätzt werden. Dann wird eine massive Sehschwäche bei Dennis festgestellt. Es ist völlig unerklärlich, wie er seinen Alltag bei dieser Dioptrien-Zahl ohne Sehhilfe bewältigen konnte. Ebenso merkwürdig ist, dass die Sehschwäche erst so spät aufgefallen ist. Obwohl unklar bleibt, wie lange er schon unbemerkt schlecht gesehen hat, kann eine langfristige negative Auswirkung auf seine schulischen Leistungen angenommen werden, insbesondere auf grundlegende Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben, wobei er seine Benachteiligung eine Zeit lang wohl noch kompensieren konnte.
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Frau Behnke erzählt, dass „man erst in der fünften klasse erst festgestellt hat dass der dennis nich sehen konnte“ (12-13). Das unpersönliche „man“ (12) in Verbindung mit der Klassenstufe verweist auf die nicht vorhandene Beteiligung von Frau Behnke an diesem Vorgang. Nicht sie hat die Sehschwäche ihres Sohnes bemerkt, sondern diese wurde durch Mitarbeiter einer Instanz oder Institution entdeckt, die von ihr entpersonalisiert werden, wodurch eine maximale Distanz zu ihnen hergestellt wird. Ob die Sehschwäche im Rahmen einer Schuluntersuchung entdeckt wurde oder den Lehrern im Unterricht auffiel, kann nur spekuliert werden. Die Verantwortung für das späte Erkennen des Sehfehlers und damit indirekt auch für Dennis Schulprobleme generell gibt Frau Behnke jedoch durch ihre Formulierung an die Schule ab. Dennis Schulprobleme begründet sie also nicht mit seinen kognitiven Fähigkeiten, seiner Einstellung zur Schule oder möglichen persönlichen Problemen, sondern der ihr nicht bekannten Sehschwäche, womit sie sich ihrer Verantwortung entziehen. Die trotz dieser gravierenden Einschränkung von Dennis bis zur fünften Klasse erbrachten Schulleistungen hält Frau Behnke für ein Wunder. Obwohl ihr der langsame Aufbau seiner schulischen Probleme offensichtlich bewusst ist, beendet Frau Behnke diese Erzählsequenz mit der Feststellung, Dennis Schulschwierigkeiten hätten mit dem Erkennen seiner Sehbehinderung begonnen. Daraus kann abgeleitet werden, dass sie die schulischen Probleme erst mit dem einschneidenden Ereignis des Sitzenbleibens zur Kenntnis nahm, da sie als Mutter durch die Schule nun direkt damit konfrontiert wurde und auch von den Auswirkungen betroffen war. Weiterhin wird deutlich, dass ihre Aufmerksamkeit gegenüber ihrem Sohn stark eingeschränkt gewesen sein muss, da sie im Umgang mit ihm nichts bemerkte. Die Interpretation erlaubt den Schluss auf eine mangelnde innerfamiliale Kommunikation und auch auf eine verminderte Aufmerksamkeit der Mutter gegenüber ihrem Sohn zu dieser Zeit. Sequenz 16-19: „ich hab n dann testen lassen äh in der (..) na ja phh lernbehindertenschule nennt man das ja heute und er is dann och dort rein (.) das war glaub ich das beste was ich machen konnte hat sein hauptschulabschluss dort gemacht mit zwei“
Im Anschluss an die durch die Schule festgestellten Probleme wird Frau Behnke selbst aktiv – sie lässt eine Leistungsdiagnostik für Dennis erstellen, aufgrund deren Ergebnisse er auf eine Förderschule wechselt. Während sich Frau Behnke bis zur Eskalation der schulischen Probleme ihres Sohnes als an deren Entwicklung unbeteiligt darstellt, präsentiert sie sich bei der Bearbeitung der Schwierigkeiten als engagiert und aktiv einflussnehmend. Die Zusammenhänge zwischen seiner festgestellten Sehschwäche und den Schulschwierigkeiten bleiben in der Stegreiferzählung weitgehend unklar, weshalb an dieser Stelle bereits der Nachfrageteil des Interviews einbezogen wird. Darin erklärt Frau Behnke, dass bei Dennis eine Lese-Rechtschreibschwäche festgestellt wurde, was an sich
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jedoch kein Grund für den Wechsel auf eine Lernbehindertenschule ist. Es kann spekuliert werden, dass Dennis Schulschwierigkeiten auch aus der offensichtlich über einen längeren Zeitraum nicht bemerkten Sehbehinderung resultieren und er die daraus langfristig entstandenen Lerndefizite auf einer Regelschule nicht mehr aufholen konnte. Dafür spricht, dass er auf der Lernbehindertenschule nach kurzer Zeit bereits in eine höhere Klasse gestuft werden sollte, „weil er vom intellekt her eigentlich (..) weiter war“ (33). Es kann allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, dass Frau Behnke weitere Ergebnisse der Leistungsdiagnostik verschweigt, weil ihr die schulischen Probleme ihres Sohnes unangenehm sind. Die Zusammenhänge um Dennis Schulschwierigkeiten können aus dem vorhandenen Material leider nur ungenügend rekonstruiert werden. Sollte Dennis aber tatsächlich aufgrund dieser unglücklichen Verkettungen auf eine Lernbehindertenschule gekommen sein, obwohl seine intellektuellen Fähigkeiten eigentlich einen Besuch der Regelschule ermöglicht hätten, wäre dies eine dramatische Einschränkung seiner Schulkarriere und Beschränkung seiner eigentlichen Möglichkeiten, die sich langfristig auf seine gesamten Optionen der Lebensgestaltung auswirkt. Frau Behnkes Schwierigkeiten im Umgang mit den schulischen Problemen ihres Sohnes deuten sich in der Stegreiferzählung durch ihre Äußerung „na ja phh lernbehindertenschule nennt man das ja heute“ (17) an. Darin ist eine Abwertung enthalten, da die auf eine Entstigmatisierung abzielende heutige Bezeichnung dieser Schulform von ihr zugunsten allerdings unerwähnter früherer Namen kritisiert wird. Im Nachfrageteil wird diese Interpretation bestätigt und verstärkt. „es war natürlich nich einfach ihn da reinzustecken also ich war schon ziemlich enttäuscht als es hieß is besser er muss in die schule jehn (.) weil ich hmm weil ich das nich ich dachte das kann doch nich sein das kann doch nich sein dass ausjerechnet dein kind halt dumm is so wars und sacht man sich ja jeder ne“ (44-48)
Eine Lernbehindertenschule ist für Frau Behnke überspitzt formuliert eine Dummenschule, woraus eine hohe Orientierung an einem von ihr als gesellschaftlich „normal“ angesehenen Standard abgeleitet werden kann, was wiederum ersichtlich werden lässt, unter welchem Normalitätsanspruch und -druck Dennis stand und steht. Die Hintergründe seiner hohen, fast zwanghaft wirkenden Affinität zu einer Normalbiografie, die sich im Interview mit ihm zeigten, werden an dieser Stelle noch deutlicher. Durch Frau Behnkes Formulierung „reinzustecken“ (45) zeigt sich, dass Dennis bei der Entscheidung über den Schulwechsel kein Mitspracherecht hatte. Seine Rolle dabei war vielmehr völlig passiv. Die aus den schulischen Problemen resultierenden Interventionen wurden von Frau Behnke nicht gemeinsam mit Dennis bewältigt, sondern von ihr allein bestimmt und geregelt. Dies wird auch daraus ersichtlich, dass im Vordergrund
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ihrer Erzählung ihre Schwierigkeiten mit der Situation stehen und Dennis eventuelle Probleme nicht reflektiert werden. Für Frau Behnke ist die Lernschwäche von Dennis gleichbedeutend damit, dass ihr Sohn dumm ist. Diese subjektive Wahrnehmung äußert sich jedoch nicht in Sorge um die (berufliche) Zukunft von Dennis, sondern hauptsächlich in einer Enttäuschung ihrer eigenen (Normalitäts)Ansprüche. Dabei verfolgt Frau Behnke eine ähnliche Argumentation wie Dennis in seiner Erzählung, da sie ihr Verhalten und die entsprechenden Gefühle legitimiert, in dem sie eine Verallgemeinerung vornimmt und sie somit zur Normalität erklärt. Da Dennis – wie bereits einleitend beschrieben – während des Interviews im Haus anwesend war und durchaus die Möglichkeit zum Mithören des Gespräches für ihn bestand, kann geschlossen werden, dass die Feststellung seiner Dummheit durch seine Mutter eine ihm bereits bekannte und vertraute Tatsache ist. Die damit für ihn verbundene Verletzung seines Selbstwertes durch seine engste Bezugsperson erklärt sein Streben nach deren Anerkennung durch das Erreichen von Normalität. Dies kann durchaus im Sinne einer Motivation zu seinem bisherigen beruflichen Werdegang beigetragen haben, auch wenn dies im eigentlichen Sinne paradox ist, da die Suche nach Wertschätzung und Anerkennung wahrscheinlich auch eine Ursache für sein rechtes delinquentes Verhalten ist. Darüber erreicht er nämlich erstens die Aufmerksamkeit seiner Mutter und bestätigt zweitens auch im Sinne der Übernahme einer Negativ-Identität seinen Sonderstatus innerhalb der Familie, den er aufgrund seiner Unterlegenheit (auch gegenüber der kranken Schwester) im Leistungsbereich bereits innehat. Dennis befindet sich bezüglich seiner eigenen Position zur Normalität also insgesamt in einem ambivalenten Spannungsfeld. Auf der einen Seite ist er faktisch durch seinen bisherigen Lebensweg von einer Normalbiografie ausgeschlossen und treibt diesen Status durch die Zugehörigkeit zu einer rechten Clique und das Begehen von Straftaten voran. Auf der anderen Seite versucht er dennoch mit ganzer Kraft eine Normalbiografie zu erreichen, wobei ihm seine mit der rechten Clique verbundenen delinquenten Aktivitäten wiederum massiv im Wege stehen. Der zum Scheitern verurteilte Lösungsversuch dieser Ambivalenz besteht dabei in der subjektiven Umdeutung seines rechtsdelinquenten Verhaltens als mehrheitsgesellschaftlich akzeptiert. Der Wechsel auf die Lernbehindertenschule erweist sich aus Frau Behnkes Sicht letztlich für Dennis als positiv, da er dort einen guten Hauptschulabschluss erreicht. Diesen Erfolg rechnet Frau Behnke sich zuvorderst selbst an, da sie ihn auf die von ihr getroffene Entscheidung zum Besuch dieses Schultyps zurückführt. Sequenz 19-22: „ja dann seine lehre absolviert sind einje straftaten jewesen die er jemacht hat na ja das hamwer dann immer noch so n bisschen abwiegen können eben mit geld (.)
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bezahlt und er musste seine sozialstunden leisten und das hat er dann eben och immer gemacht hm bis heute“
Dennis delinquentes Verhalten scheint mit dem Beginn seiner Lehre zusammenzuhängen oder zumindest zu dieser Zeit akut geworden zu sein, da Frau Behnke es in Verbindung mit diesem Lebensabschnitt erwähnt, und hält bis heute an. Bemerkenswert ist, dass seine Beendigung der Schule mit dem Hauptschulabschluss und der erfolgreiche Abschluss der Lehre parallel zur delinquenten Karriere ablaufen, womit sich die obige Herausarbeitung des ambivalenten Spannungsfeldes bestätigt. Frau Behnkes Auseinandersetzung mit Dennis Straftaten beschränkt sich in der Stegreiferzählung auf die Abwiegelung bzw. Wiedergutmachung ihrer Folgen und bleibt somit an der Oberfläche. Dabei rechnet sie sich selbst einen entscheidenden Anteil an der Bewältigung der äußerlichen Folgen der Straftaten zu. Wichtig ist auch hier zunächst die Aufrechterhaltung des Normalfamilien-Status und unauffälligen Erscheinungsbildes nach außen. Das eigentliche Unrecht einer Straftat und die Auseinandersetzung damit bleiben demgegenüber zurück und werden nicht bearbeitet. Sequenz 22-23: „dann isser vater jeworden (.) was hätte nich sein müssen (lacht) lebt mit dem mädchen nich mehr zusammen (..) ja (.)"
Da Frau Behnke direkt mit der Erzählung über Dennis Vaterschaft anknüpft, kann gefolgert werden, dass dieses Ereignis von ihr ebenfalls als Abweichung wahrgenommen und zu den negativen Bereichen in seinem Leben gezählt wird („was hätte nich sein müssen“ 22-23). Das Thema Vaterschaft erschöpft sich dann sofort mit dem Hinweis auf Dennis Trennung von der Kindesmutter, der die Reife für eine Familiengründung durch die Bezeichnung als „Mädchen“ abgesprochen wird. Sequenz 23-28: „das wars eigentlich grob zuammenjefasst würd ich denken (.) im großen und ganzen mh (.) ph (.) gut würd ich nich sagen dass es ganz normaler junge gibt aber (.) es gibt schlimmeres keine drogen das is erstma wichtich arbeiten geht er also fleißig isser hat sich och arbeit jesucht gleich als er dann entlassen wurde und ja (..) (unverständlich) fragen se was wolln se jenau wissen (lacht)“
Frau Behnke erzählt die Biografie ihres Sohnes in einer Art kurzem Abriss, wobei sie sich hauptsächlich an den institutionellen Rahmenbedingungen von Dennis Aufwachsen orientiert. Am Ende erfolgt eine Bilanzierung seines bisherigen Lebens im Sinne einer Beurteilung. Dabei beschreibt sie ihren Sohn zunächst als nicht normal, wobei dies mit einer Abwertung verbunden ist. Der Hinweis „es gibt schlimmeres“ (25) scheint sich dem ersten Eindruck nach lediglich auf seine Delinquenz zu beziehen, in der Drogenkonsum nicht vorkommt. Bei näherer Betrachtung steht dieser Satz jedoch auch im Zusammenhang mit seiner Klassifizierung als unnormal. Es gibt für sie als Mutter also noch etwas
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Schlimmeres als ein unnormales Kind. Dem ist jedoch implizit, dass die von ihr konstatierte Unnormalität zumindest schlimm ist. Die Bilanz endet mit der Aufzählung von positiven Aspekten von Dennis Entwicklung, in der eine gewisse Erleichterung zum Ausdruck kommt. Besonderheiten der Stegreiferzählung Die Stegreiferzählung wird insgesamt von Frau Behnke auf der Folie von Dennis Abweichungen von einer (von ihr erwarteten) Normalbiografie erzählt. Sie ist das Kernelement der Erzählung entlang dessen Frau Behnke die Biografie von Dennis entwickelt und wird auch in der Erzählcoda im Sinne einer Bilanzierung noch einmal aufgegriffen. Die Entwicklung zu einem „normalen“ Menschen hat für sie die oberste Priorität beim Aufwachsen ihres Sohnes. Dieses Ziel konnte Dennis ihrer Ansicht nach bislang nicht erreichen, womit für sie ein Gefühl des Scheiterns verbunden ist („das kann doch nich sein dass ausjerechnet dein kind halt dumm is“, 47), das sich, wie herausgearbeitet wurde, auch auf Dennis überträgt. In der Stegreiferzählung wurden von Frau Behnke folgende Themenkomplexe beschrieben:
die Entwicklung bzw. Veränderung der familialen Struktur während Dennis Kindheit, die Schulkarriere und Dennis bzw. ihre diesbezüglichen Schwierigkeiten, seine massive Fehlsichtigkeit, von Dennis begangene Straftaten und deren Folgen, seine Vaterschaft und die Trennung von der Kindesmutter, Dennis berufliche Entwicklung.
4.3.6.2 Erziehung – Höflichkeit, Fleiß und Gehorsam: Die Vermittlung konservativer Tugenden als wichtigstes Ziel Zunächst wird von Frau Behnke eine besonders enge Beziehung zu Dennis im Kleinkindalter beschrieben, da sie nach der Trennung von Dennis leiblichem Vater einige Zeit mit ihrem Sohn allein gelebt hat. Zu dieser Zeit war Dennis der Lebensmittelpunkt von Frau Behnke, um den sich alles drehte. „dass er im grunde jenomm ausm elternhaus kommt wo er wirklich immer alles jekricht hat vielleicht war das mein fehler zurückjesteckt habe obwohl ich alleine war (.) dann lieber erst ihn und dann ich und na (.) ich weiß nich wie das andre machen (lacht) man lernt im leben nich aus“ (74-77)
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Die Formulierung „wo er wirklich immer alles jekricht hat“ (74-75) lässt darauf schließen, dass Dennis sowohl sehr viel Aufmerksamkeit bekommen hat, als auch materiell verwöhnt wurde und dass ihm insgesamt wenig verwehrt wurde. Dies betrachtet Frau Behnke aus ihrer heutigen Sicht als möglichen Fehler. Einerseits ist ihr unverständlich, wie Dennis trotz dieser Zuwendung delinquent werden konnte; andererseits sieht sie aber auch gerade ihr empfundenes eigenes Zurückstecken als mögliche Ursache. Dieser Widerspruch klärt sich insofern auf, als sie auch eigentlich gut gemeintem Verhalten mögliche negative Auswirkungen einräumt. Frau Behnke gesteht sich Fehler in der Erziehung zu (75), was wohl auch damit zusammenhängt, dass dieser mögliche Fehler eben in eine gute Absicht eingebettet war und somit nur eine geringe Wahrscheinlichkeit einer negativen Bewertung durch ihr Umfeld besteht. Interessant ist die Verwendung des Begriffes „elternhaus“ (74), obwohl Frau Behnke alleinerziehend war. Dies kann als Hinweis auf eine umfassende Versorgung von Dennis interpretiert werden, in der er aus Sicht von Frau Behnke trotz des fehlenden Vaters nichts vermissen musste, weil sie diesen Part durch ihr Engagement kompensierte und/oder über eine Unterstützung durch ihre weitere Familie bspw. die Großeltern verfügte. Die hohe Konzentration auf Dennis wurde durch den Eintritt des Stiefvaters in die Familie und die kurz darauf folgende Geburt ihrer Tochter aufgebrochen. Frau Behnke beschreibt den Verlust der Exklusivität der Beziehung im Sinne einer Zäsur in Dennis Leben, die für ihn gravierende negative Konsequenzen hatte. „das war für dennis nich so ne gute zeit erst mal im nachhinein hab ich den eindruck dass dennis den nich akzeptiert hat (.) und och nich wollte jetzt kam ja jemand dazu (.) ich war immer für ihn da und jetzt auf einmal nich mehr“ (55-58)
Dennis hatte Probleme, die neue Familiensituation zu akzeptieren, weil er die Aufmerksamkeit der Mutter nun teilen musste. Interessant an dieser Stelle ist, dass Frau Behnke die Zurückstellung von Dennis als eine tatsächliche und nicht nur von ihm subjektiv wahrgenommene beschreibt – sie war „immer für ihn da und jetzt auf einmal nich mehr“ (57-58). Dies bestätigt sich auch durch die von der Mutter nicht bemerkte starke Fehlsichtigkeit und die Schulschwierigkeiten von Dennis sowie die erst in der heutigen Reflexion erkannte Nichtakzeptanz des Stiefvaters. Das Problem hierbei ist die Diskrepanz zwischen der beschriebenen besonders hohen Zuwendung sowie sehr engen Beziehung und der dann plötzlich einsetzenden Vernachlässigung. Es kann davon ausgegangen werden, dass Dennis Befindlichkeiten bezüglich der gravierenden familialen Strukturveränderungen nur wenig berücksichtigt wurden. Die Situation verschärfte sich zusätzlich, weil der Stiefvater Dennis ablehnend gegenüber stand und ihn auch schlug:
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„und dann muss ich dazu sagen natürlich och mein exmann (.) äh na ja viel für kinder hat er nich über (.) aber das das kricht man eben alles später erst mit ja so und dennis er wurde sicherlich och jeschlagen ich bin ja nachts arbeiten jegang aber dennis hat das eben nich erzählt (.) bis dann meine tochter das dann ma erzählte“ (61-65)
Die Zurücksetzung von Dennis zugunsten ihres damaligen Mannes sieht Frau Behnke aus ihrer heutigen Sicht als „springende(n) punkt“ (60) an. Die Tatsache, dass Dennis sich ihr bezüglich der durch den Stiefvater erfahrenen Gewalt nicht anvertraute, zeigt seine empfundene Isolation zu dieser Zeit. Weiterhin kann angenommen werden, dass die Gewalt durch den Stiefvater über einen längeren Zeitraum hinweg ausgeübt wurde, da es schließlich die jüngere Schwester ist, die der Mutter davon erzählt, es müssen also bereits einige Jahre vergangen sein. Dennis geriet innerhalb der neuen Familienkonstellation in eine Außenseiterposition, in der er vor allem unter dem plötzlich veränderten Verhältnis zur Mutter litt. Zu diesen Spannungen kam die schwere Erkrankung der Schwester hinzu. Dennis musste nun Verantwortung für sich und seine Schwester, also bereits Teile einer Erwachsenenrolle, übernehmen, wenn die Mutter auf der Arbeit war. Gleichzeitig fokussierte sich die Aufmerksamkeit der Mutter verstärkt auf die Schwester, vor allem wenn diese für längere Zeit im Krankenhaus lag, was dazu führte, dass Dennis noch häufiger allein zurechtkommen musste. Die Wahrnehmung der Mutter-Sohn-Beziehung als eher freundschaftliches Verhältnis korrespondiert mit dieser frühzeitigen Verantwortungsübernahme von Dennis im Rahmen der Familienproblematik. Durch die Verschiebung der Beziehung auf die Freundschaftsebene gibt Frau Behnke ein Stück elterliche Verantwortung ab und entlastet sich wahrscheinlich auch in Bezug auf die Delinquenz, deren Ursachen sie u.a. in den damaligen belastenden Lebensumständen von Dennis vermutet (55-65). Nach der Trennung von ihrem Mann nahm Frau Behnke eine positive Veränderung in Dennis Verhalten wahr, was die belastete Beziehung zum Stiefvater bestätigt. „ja na ja wir ham uns dann ja jetrennt (.) uns scheiden lassen (lacht) na nich nur wegen dennis sondern weil es eben halt auch nich mehr ging“ (65-67) „und komischerweise nh nh ja der war ausm haus und denn gings“ (68-69)
Dennis negatives und auch delinquentes Verhalten hatte also zumindest u.a. die Funktion, auf seine familiären Probleme aufmerksam zu machen und darüber die Zuwendung der Mutter zu erlangen. Da seine Delinquenz in engem Zusammenhang mit seiner Einbindung in eine rechte Jugendclique steht, kann geschlossen werden, dass auch seiner rechten Einstellung zu diesem Zeitpunkt eine Signalfunktion zukam und sie ihm die Möglichkeit bot, Defizite der elterlichen Zuwendung zu kompensieren. Weiterhin fällt die Begründung der Trennung durch
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Frau Behnke ins Auge. Die Beziehung endete „nich nur wegen dennis“ (66), womit impliziert wird, dass er zumindest eine Ursache für das Scheitern der Ehe darstellt. Es wird aber nicht deutlich, ob hierbei die Information über die Schläge und die Nichtakzeptanz seitens des Stiefvaters ausschlaggebend für Frau Behnke waren, sie also ein solches Verhalten ihrem Sohn gegenüber nicht akzeptierte und ihn schützen wollte, oder ob es die negativen Folgen der gegenseitigen Ablehnung waren, die letztlich zur Konsequenz der Scheidung beigetragen haben. Der Unterschied zwischen beiden Ursachen liegt darin, dass Frau Behnke im zweiten Fall Dennis eine Mitverantwortung für das Scheitern ihrer Ehe zuschriebe, was die Verschiebung der Beziehung auf die Freundschaftsebene zu diesem Zeitpunkt unterstreichen würde. Im Zusammenhang mit Dennis Jugendalter und vor allem der Aufnahme einer Lehre beschreibt Frau Behnke ein deutlich autoritär geprägtes Verhältnis, das bis heute anhält (80-83; 215-226) und in einem starken Widerspruch zu der von ihr und Dennis als freundschaftlich-locker beschriebenen Beziehung steht. Damit verbunden versucht Frau Behnke eine möglichst große Kontrolle auszuüben. Es liegt nahe, dass sie Dennis aufgrund des Abdriftens in eine delinquente Karriere größere Aufmerksamkeit widmet und versucht, der Delinquenz durch autoritäres Verhalten zu begegnen. Möglicherweise versucht Frau Behnke auf diesem Weg auch, die frühere Zurücksetzung von Dennis auszugleichen. Somit hat die Signalwirkung von seinem delinquenten Verhalten zwar den gewünschten Erfolg – nämlich Aufmerksamkeit – erzielt, die Bearbeitungsversuche innerhalb der Familie waren jedoch bezüglich der völligen Bewältigung des delinquenten Verhaltens im Sinne eines straftatfreien Lebens längere Zeit nicht und aktuell noch nicht ausreichend wirksam. Die Beziehung zwischen Dennis und seiner Mutter ist von einem grundlegenden Widerspruch geprägt, der aus der Familiengeschichte erwachsen ist und sich bislang nicht aufgelöst hat. Dabei lässt sich neben einer aus den verschiedenen familialen Ereignissen resultierenden aktuellen Inkonsistenz im Mutter-KindVerhältnis (Widerspruch zwischen Freundschaftlichkeit und autoritärem Verhalten) auch eine zeitlich verlaufende Inkonsistenz bezüglich der Zuwendung von Frau Behnke zu Dennis feststellen. In der Erziehung ist Frau Behnke die Vermittlung von traditionellen Werten wie Höflichkeit, Hilfsbereitschaft und Fleiß am wichtigsten (183-191; 207-209). Dazu gehört, dass Dennis sich solange er noch in seiner Herkunftsfamilie lebt, an die dort geltenden Regeln und Normen hält und sich insgesamt seiner Mutter unterordnet (91-94). Dies beinhaltet auch die Erfüllung häuslicher Pflichten – „also hier gammeln und is nich“ (93). Innerhalb der Familie bestehen zumindest zwischen der Mutter und den Kindern aus Frau Behnkes Sicht klare hierarchische Strukturen (was in deutlichem Widerspruch zur Betonung der
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Freundschaftlichkeit steht). Die Hierarchie begründet sich dabei nicht allein aus dem Mutter-Kind-Verhältnis an sich, sondern auch über das Lebensalter der in der Familie verorteten Personen. Dies kann zum einen aus dem Anspruch von Frau Behnke, ihre Kinder vor allem zu höflichem und zuvorkommendem Verhalten älteren Menschen gegenüber zu erziehen, abgeleitet werden (207-209). Zum anderen betont Frau Behnke deutlich den Altersunterschied zwischen sich und ihrem Mann, in dem sie nicht nur angibt, dass er neun Jahre jünger ist als sie, sondern zusätzlich auf den Altersunterschied zu Dennis hinweist (71-72). Allein aufgrund dessen müsste Dennis den Stiefvater nicht mit „Vati“ ansprechen. Er tut es aber trotzdem, woraus Frau Behnke eine gute Beziehungsqualität ableitet (71-72). Mit der Formulierung „er is ja nich viel älter wie mein junge“ (71) stellt sie ihren Mann jedoch auch nahezu auf die gleiche Ebene wie ihren Sohn und stellt seine Autorität gegenüber Dennis als Vater in Frage. Frau Behnke bezeichnet sich selbst als „n altes kaliber“ (211), weil sie traditionelle Werte befürwortet und versucht, ihre in der eigenen Herkunftsfamilie erfahrene Erziehung bei ihren Kindern fortzusetzen. Dabei legt sie besonderen Wert auf eine gute schulische und berufliche Ausbildung. Im Vergleich zu ihren beiden anderen Kindern sieht sie das bei Dennis als nicht gelungen an. Das bringt sie während des gesamten Interviews immer wieder zum Ausdruck, auch wenn sie seinen Fleiß und seine Bemühungen im Arbeitsbereich lobt (45-49; 190-193). Konflikte innerhalb der Familie werden in Gesprächen gelöst, wobei Frau Behnke zunächst durchaus cholerisch reagiert und auch der Anwendung von Gewalt in der Erziehung nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber steht (80-83). „aber ansonsten setz mer uns schon gemeinsam hin (.) erstma knallts richtich und eh ich dann wieder wenn ich mich dann einjekricht habe denn (.) äh äh wird eben wie jesacht überlecht zusammen überlegt wie könnwer s beste draus machen ja“ (161-163) „brauchst dir keine sorgen machen wir holn den da schon raus kann ichn paar knalln na selbstverständlich hab ich jesacht vor allen leuten damit er weiß (.) dass er das nich zu machen hat“ (224-226)
Die wiederholte Verwendung des Begriffes „knalln“ (224) verdeutlicht ihre Vorgehensweise bei Konfliktsituationen. Bei Auseinandersetzungen innerhalb der Familie reagiert sich Frau Behnke zunächst ab, in dem sie ihren Befindlichkeiten lautstark Ausdruck verleiht und ihre Emotionen ausagiert (vgl. auch 134139). Erst danach findet unter den Familienmitgliedern eine aus ihrer Sicht konstruktive Kommunikation über das jeweilige Ereignis statt, bei dem Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Frau Behnke übernimmt bei der Umsetzung der Lösungen häufig die Initiative, wobei es hauptsächlich darum geht, den entstandenen Schaden zu begrenzen. Hierzu führt sie als Beispiel Dennis vorübergehende Schwierigkeiten in der Lehre an. Aufgrund ihrer Intervention beim Ausbilder konnte Dennis die Lehre fortführen (213-229). Weiterhin erzählt sie, wie Dennis
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das Auto eines Freundes kaputt gefahren hat. Auch hier löste letztlich Frau Behnke das Problem, in dem sie den entstandenen Schaden bezahlte (163-169). Eine über die sachlich-materielle Lösung des Problems und das Ausagieren der durch den Konflikt ausgelösten negativen Emotionen hinausgehende Bearbeitung familialer Konflikte wird von Frau Behnke nicht beschrieben. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass Probleme lediglich oberflächlich gelöst werden und hinter dem Konflikt liegende grundlegende Schwierigkeiten im Verborgenen bleiben. Interessant ist, dass Dennis Schwester ihn gegenüber der Mutter in Schutz nimmt, wenn diese sich über die aus seinem delinquenten Verhalten immer wieder resultierenden finanziellen Belastungen beschwert (169-173). Als Argument führt die Schwester die mit ihrer Krankheit im Zusammenhang stehende jahrelange besondere Zuwendung der Mutter an: „Ich hab och jenuch jekricht (.) wo ich im krankenhaus lag jahrelang“ (172). Die der Familie immanente Problematik der zeitweisen Ungleichbehandlung der Kinder scheint also auch von Dennis Schwester wahrgenommen und der Mutter signalisiert zu werden, wobei Dennis Delinquenz von ihr als Bedürftigkeit erkannt und bezüglich der mütterlichen Zuwendung mit ihrer eigenen Bedürftigkeit im Rahmen ihrer Krankheit gleichgesetzt wird. Verhältnis zwischen Mutter und Sohn Das Verhältnis zu Dennis wird von Frau Behnke als gut beschrieben, wobei erneut die zu ihrem autoritären Auftreten widersprüchliche eher freundschaftliche Struktur betont wird. Dennoch ist die Ablösung von der Mutter noch nicht erfolgt, obwohl Dennis schon 23 Jahre alt ist. Der Schritt in ein von den Eltern unabhängiges Erwachsenenleben wird von Frau Behnke als beiden Seiten sehr schwer fallend dargestellt. Damit verbunden ist auch der Autoritätsanspruch gegenüber Dennis. „s knallt im karton also das kann ich ihnen flüstern da hört ganz b-stadt mit wenns hier rumst äh heute noch da nehm ich äh (.) ob der nu vierundzwanzich oder dreißich is der würde trotzdem noch eene dran kriegen wenn ich das so denke ja (.) wobei ich ihnen da muss ich natürlich och sagen (.) er hört och noch off mich also er hat noch nich losjelassen und ich och nich s is janz schwierich dieses loslassen wo er ausjezogen war das jahr (.) das war immer wie n klos im hals weil ich nich wusste was macht er wo isser“ (80-86)
Frau Behnke hat trotz des Alters ihres Sohnes kein Vertrauen in seine Fähigkeit, sein Leben selbständig und ohne ihre Kontrolle zu gestalten. Dies kann aus der Familiengeschichte resultieren, in der Dennis erst durch sein delinquentes Verhalten wieder die volle Aufmerksamkeit seiner Mutter erlangen konnte. Die darüber wiederhergestellte Nähe innerhalb der Beziehung kann nun von beiden nur schwer aufgegeben werden, auch wenn die damit verbundenen Konflikte belasten. Während Dennis durch die mütterliche Zuwendung und Sorge sozusagen
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ein Stück verlorene Kindheit kompensiert, kann sich Frau Behnke durch ihre aus ihrer Sicht aktuelle starke Verantwortungsübernahme für ihren formal eigentlich erwachsenen Sohn bezüglich möglicher Schuldgefühle entlasten. In diesem Sinne haben beide einen Nutzen von der Aufrechterhaltung dieser Beziehungskonstellation, auch wenn ihnen die Notwendigkeit der Ablösung – Dennis träumt von einer eigenen Wohnung – bewusst ist. Dennis Bedürfnis nach mütterlicher Autorität und Führung leitet Frau Behnke daraus ab, dass er noch auf sie hört. Eine Lösung von den Eltern ist damit aus ihrer Sicht mit dem unabhängigen Treffen von Entscheidungen verbunden, das die elterliche Perspektive nicht mehr berücksichtigt. Frau Behnke schätzt an ihrem Sohn besonders seine Zuverlässigkeit und starke Familienorientierung, die sich vor allem darin ausdrückt, dass er sich bereits frühzeitig um seine jüngeren Geschwister gekümmert hat (336-347) und sie „beschützt“ (346). Auch seine Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber und sein Wille, beruflich Fuß zu fassen, werden von Frau Behnke positiv hervorgehoben. Allerdings befürchtet sie, dass andere seine Gutmütigkeit für ihre Zwecke ausnutzen und Dennis negativ beeinflussen (104-107; 326-329). „ich hab manchmal den eindruck dass er selber gar keine meinung hat so richtich (.) dasser sich das immer aufdrängen lässt ja das hört man in jesprächen raus der hat jesacht und der so“ (330-332).
In diesem Zusammenhang, der auch auf seine rechte Einstellung abstellt, erlebt Frau Behnke ihren Sohn als sehr stur und unüberlegt handelnd (Straftaten), woraus sich häufig negative Konsequenzen ergeben. Vor allem fühlt sie sich angegriffen, wenn Dennis sie anlügt, auch wenn sie weiß, dass Dennis dies hauptsächlich tut, weil er ihre Reaktion fürchtet, wenn er die Wahrheit sagt. „er sacht zwar dann immer nhjaaa du meckerst dann immer ja ha dann meckre ich noch viel mehr (I.: hm) wenns dann rauskommt“ (363-364) „das hätt er glaube müsst er schon mitjekricht ham in dreiundzwanzich jahrn dass ich das immer rauskriege das is ganz was schlimmes ja das kann ich nich leiden und das is genau das was mich stört“ (359-361)
Frau Behnke nimmt die in seinem Vermeidungsverhalten zum Ausdruck kommende und von ihm auch ausgesprochene Kritik an ihren Reaktionen nicht zum Anlass, ihre Handlungsstrategien in diesen Situationen zu überdenken, obwohl gerade die fortlaufenden Verheimlichungsversuche wider besseren Wissens verdeutlichen, als wie belastend Dennis das Verhalten seiner Mutter erlebt. In ihrer Logik ist das rechtzeitige Erzählen mit weniger gravierenden Konsequenzen („meckern“) verbunden als Dennis Vertuschungsversuche. Daraus wird ersichtlich, dass für Frau Behnke „meckern“ eine adäquate Reaktion auf Dennis Verhalten ist. Die Probleme, die sich für Dennis aus diesem Reaktionsmuster, das
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auch, wie an anderer Stelle deutlich wird, mit anklagendem und Schuldgefühle auslösendem Verhalten einhergeht, ergeben (Interview mit Dennis 557-570; 616625), werden von Frau Behnke nicht wahr- oder auch ernst genommen. Dies verstärkt die bisherigen Analyseergebnisse, nach denen es Frau Behnke in Bezug auf die Delinquenz vor allem um mögliche negative Reaktionen der Umwelt geht, von denen sie sich als Mutter in Frage gestellt sieht (114-119). Im Vordergrund stehen also nicht die negativen Folgen, die Dennis aus seinem delinquenten Verhalten erwachsen, sondern ihre eigene Betroffenheit als Mutter. Zwar hat ihre Reaktion durchaus inzwischen eine Wirkung, die zu dem Bemühen von Dennis führt, keine strafbaren Handlungen mehr zu begehen, um das Verhältnis nicht weiter zu belasten oder zu gefährden, dennoch bleiben die Hintergründe der Delinquenz auf diese Art weitgehend unbearbeitet, da sie zwischen Mutter und Sohn nicht an die Oberfläche gelangen. Frau Behnke erlebt Dennis Lügen nicht als Versuch, ihrer Reaktion zu entgehen, sondern als Provokation, da sie davon ausgeht, dass er weiß, wie sehr sie dieses Verhalten stört. Mutter und Sohn befinden sich diesbezüglich in einem Kreislauf, in dem beide das jeweilige Verhalten des anderen als Ursache und ihr eigenes als Reaktion interpretieren: Dennis lügt seine Mutter an, weil sie immer schimpft, wenn er etwas „angestellt“ hat und er sich nicht ihrem anklagenden Verhalten („was hab ich denn nur falsch jemacht kannst du nich normal sein wie jeder andre“; 621-622 im Interview mit Dennis) aussetzen möchte. Frau Behnke schimpft stärker mit ihrem Sohn, weil er sie anlügt. Watzlawick (2017, S.107ff.) bezeichnet das als unterschiedliche Interpunktion von Ereignisfolgen, deren Kreislauf nur durch Metakommunikation und dabei getroffene Absprachen für einen anderen Umgang miteinander aufgebrochen werden kann. Die Frage nach dem Anfang bzw. der Schuld für den als belastend erlebten Umgang eignet sich dagegen kaum dazu, die Situation zu entspannen (vgl. Schulz von Thun 1999, S.82ff.). Frau Behnke wünscht sich für die Zukunft von Dennis, dass er „seine arbeit behält dass er so fleißig bleibt wie er is und vor allen dingen nich immer in diese kreise jerät“ (101-102). In diesem Zusammenhang bezeichnet sie ihren Sohn als „dummgut“ (104), weil er sich in seiner Hilfsbereitschaft von anderen Menschen ausnutzen lässt. Frau Behnke möchte, dass Dennis Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt und sich die Konsequenzen seines Handelns vorher überlegt und bewusst macht. Zusammengefasst wünscht sich Frau Behnke von ihrem Sohn die Übernahme einer Erwachsenenrolle, womit zukünftig auch die Gründung einer Eigenfamilie verbunden ist.
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4.3.6.3 Wahrnehmung und Umgang mit der rechten Einstellung von Dennis – „das kann ich nich nachvollziehn weil dennis is eigentlich […] janz dolle sensibel (234-235) Frau Behnke weiß über Dennis rechte Einstellung und auch über die im Zusammenhang mit der rechten Clique begangenen Straftaten Bescheid, auch wenn Dennis teilweise versucht, diese Dinge von ihr fernzuhalten. Bezüglich der Delinquenz versucht sie immer wieder, ihm bei der Bewältigung der Folgen zu helfen, wobei einzelne Delikte von ihr bagatellisiert (vgl. 298-301) und bezüglich des ausgesprochenen Strafmaßes auch kritisiert werden. „ja mein gott wenn die da im kindergarten auf der bank sitzen (.) muss ich nich gleich dreißich arbeitsstunden machen aber (.) es is eben so und (.) er muss sich daran halten“ (122-124)
Frau Behnke erwartet von Dennis, dass er sich an die bestehenden Gesetze und auch Verbote hält, egal ob er oder auch sie als Mutter diese sinnvoll finden, da sie von strafrechtlichen Sanktionen bedroht sind. An dieser Stelle zeigt sich ein Muster im Umgang mit der Delinquenz, das sich durch die gesamte Erzählung zieht. Hauptsächlich problematisch ist für Frau Behnke nicht das delinquente Verhalten an sich, sondern es sind seine äußeren Folgen, die sie als unangenehm empfindet, da sie sich als Mutter in ihren Lebensverhältnissen stigmatisiert und auch finanziell belastet fühlt. „es heißt ja immer uneheliches kind und da jeheiratet und dort jeheiratet das is für mich als mutter unanjenehm jewesen (.) ja die richterin weiß nich wie wir leben die weiß nich ob ich arbeiten jehe die weiß das n.. die weiß nich wie ich im charakter bin (.) die äh hört das nur vom jugendamt (.) und dann wird man in ne schublade jesteckt so einfach is das“ (115-118)
In erster Linie fühlt sich Frau Behnke – ähnlich wie im Zusammenhang mit der Umschulung von Dennis auf die Förderschule – selbst von den Folgen der delinquenten Handlungen betroffen. Sie erlebt sich dabei als quasi selbst vor Gericht stehend. Da sie Dennis ein straftatfreies Leben „vorjelebt“ (120) hat, kann sie sich nicht erklären, wieso Dennis delinquent handelt. Hilfe von außen hat Frau Behnke in ihrer Wahrnehmung nicht bekommen, aber auch nicht gewollt. Sie ist nicht selbst aktiv geworden, sondern hat erwartet, dass man ihr z.B. seitens des Jugendamtes Hilfe anbietet. Da niemand an sie herangetreten ist, ging sie davon aus „wenn se mich nich sprechen wolln kann es ja halt nich so schlimm sein“ (150-151). Frau Behnke hat Dennis nur zu einer Gerichtsverhandlung begleitet, weil er damals noch keine 18 Jahre alt war und die Anwesenheit der Mutter gewünscht wurde. Die Verhandlung ist ihr heute noch in lebhafter negativer Erinnerung. Zum einen war ihr die Schilderung der Lebensumstände von Dennis sehr unangenehm, weil sie sich als Mutter stigmatisiert fühlte. Zum anderen missfiel ihr der Umgang der Jugendgerichtshelferin mit den Jugendlichen.
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„es wurde immer nur jedrückt immer nur jedrückt da war nichts gutes gar nich (.) und da hab ich jedacht also das (.) kann man im grunde jenomm nh wirklich in de tonne drücken“ (137139)
Es fällt auf, dass Frau Behnke zwar die Vorgehensweise der formellen Instanzen sozialer Kontrolle ablehnt und ihre diesbezüglichen Erwartungen enttäuscht sieht, selbst allerdings auch nichts unternimmt, um eine bessere Betreuung von Dennis zu erreichen. Auch die Tatsache, dass sie an keiner weiteren Gerichtsverhandlung teilnimmt, verweist auf ihr Bemühen, die Folgen von Dennis delinquentem Verhalten möglichst von sich fernzuhalten. Dabei wird nicht thematisiert, welche Bedürfnisse Dennis in diesen Situationen gehabt hätte oder ob sie etwas hätte bewirken können. Es stellt sich weiterhin die Frage, wie ernst Frau Behnke die delinquenten Entwicklungen ihres Sohnes und die damit verbundenen Reaktionen nimmt, da sie zum einen die rechtlichen Konsequenzen in Frage stellt und zum anderen solange nicht von einer folgenreichen Situation ausgeht, wie sich kein Mitarbeiter von formellen Instanzen sozialer Kontrolle direkt an sie wendet. Hier kann eine Parallele zu Dennis Einstellung gezogen werden, da er ja auch erst deutlich spürbare Konsequenzen oder zumindest deren Wahrscheinlichwerden braucht, um sein Handeln tatsächlich zu überdenken. Die Gefahr, dass Dennis zu einer Haftstrafe verurteilt werden könnte, wird von ihr im gesamten Interview und auch im Gespräch danach nicht erwähnt. Die möglicherweise hinter der Delinquenz liegenden Probleme von Dennis werden von Frau Behnke nicht explizit thematisiert. Sie scheinen ihr nur in Ansätzen bewusst zu sein, wie an einzelnen Stellen des Interviews deutlich wird (55-69). Konkrete Interventionen, um ihren Sohn von weiteren Straftaten im Rahmen seines rechtsextremistischen Kontextes abzuhalten, werden von ihr nicht benannt. Ihren Einfluss auf seine rechte Einstellung sah Frau Behnke vor allem während der Pubertät als begrenzt an, was im Widerspruch zu der ansonsten von ihr dargestellten Autorität gegenüber Dennis steht. „na ja da warn die alten sowieso was du mir erzählst is sowieso blöd (unverständlich) so is das nh ne einstellung ja mach mer uns nischt vor da kann ich erzähln was ich will“ (304-306)
Ursachen für Dennis rechte Einstellung sieht sie in seinem Umgang innerhalb der Peerbeziehungen (102-103; 282-304). Für Frau Behnke gehört Dennis nicht in „diese kreise“ (102), da sie nicht zu seinem sensiblen, hilfsbereiten und höflichen Charakter passen (234-240). „äh ich sage nur (.) äh wenn n film läuft wo weiß ich nich wo kinder jeschlagen werden fängt dennis heute noch an zu weinen (.) und (.) zum beispiel schindlers liste (.) ja wir ham das zusamm jeguckt kann er nich gucken heult er und deswegen is mir das völlig unbegreiflich dass er so ne meinung vertritt“ (236-239)
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Frau Behnke bemerkt zwar die Sensibilität ihres Sohnes bei bestimmten Themen, es gelingt ihr jedoch nicht, diese mit den von ihm erlebten Gewalterfahrungen durch ihren Ex-Mann in Verbindung zu bringen und darüber möglicherweise einen Zugang zu den Hintergründen seiner problematischen Entwicklung zu finden. Sie sieht ihren Sohn insgesamt eher als Mitläufer, wobei sie eine Tendenz zur Distanzierung von der Szene wahrnimmt (240-252) und hofft, dass er „irgendwann sacht also jetzt is schluss“ (252). Frau Behnkes zweiter Mann hat eine ausländerfeindliche Einstellung, die in Bezug auf die Ablehnung von mit Kriminalität in Verbindung gebrachten Ausländern mit Dennis Meinung übereinstimmt. Frau Behnke stellt hier jedoch keinen ursächlichen Zusammenhang her und erwähnt das auch nur beiläufig gegen Ende des Interviews (267-274). Da Dennis sehr an seinem „neuen“ Vater hängt und ihn bewundert, ist es aber durchaus denkbar, dass er sich auch bezüglich der rechten Einstellung an ihm orientiert. Diese Ausblendung möglicher Zusammenhänge weist darauf hin, dass Frau Behnke zwar gegen Dennis Zugehörigkeit zur rechten Szene eingestellt ist, aber keine grundlegende Auseinandersetzung mit seiner rechten Orientierung stattfindet. Außerdem zeigt sich eine gewisse Akzeptanz ausländerfeindlicher Haltungen, da sie die Einstellung ihres Partners rechtfertigt (269-287). Demnach lehnt ihr Mann nur solche Ausländer ab, die „kinder mit zwölf dreizehn an de nadel bringen“ (284-285). Hierzu knüpft Frau Behnke mit einer Belegerzählung über eine betroffene Kollegin an, deren Tochter von eben solchen Ausländern drogenabhängig gemacht wurde (285-287). Lediglich im Beisein ihrer jüngsten Tochter verlangt Frau Behnke von ihrem Sohn und ihrem Mann die Unterlassung von ausländerfeindlichen Parolen, etc., da die Tochter mit Kindern mit Migrationshintergrund in eine Klasse geht (274-280). Auch hier ist die zentrale Motivation ihres Handelns die Sorge um die Außenwirkung der Familie. Interventionen, die auf Dennis Zugehörigkeit zur rechten Szene abstellen, werden von Frau Behnke kaum beschrieben. Die Auseinandersetzung über politische Themen und Einstellungen wird von ihr größtenteils vermieden, weil sie dann „sicherlich och anander jeraten werden würden denk ich mal“ (240). Aus der Verwendung des Konjunktivs kann gefolgert werden, dass es tatsächlich bislang noch nicht zu einem intensiveren Gespräch über Dennis Einstellung gekommen ist. Dies ist bemerkenswert, weil Frau Behnke nach ihrer eigenen Beschreibung sonst keine Auseinandersetzung mit ihren Kindern scheut. Andererseits präsentiert sich Frau Behnke aber auch quasi als Expertin, die ihre Kinder über die Zeit des Nazi-Regimes aufklärt und sie zum Nachdenken animieren möchte: „deswejen zitier ich die dann immer ran wenn irgenwelche filme komm die solln die sich mit mir zusamm angucken (.) grade was diese kriegsfilme sind was mit juden“ (246-247)
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„hamwer zusamm och n dvd anjeguckt und dokumentationen un und dann hab ich grade m.. der dennis war nich da (.) musste ja arbeiten so n bisschen zumindest n klein wenich einblick jegeben was das war und was es is dasse n bisschen überlegen“ (259-262)
Auffallend ist hier, dass ausgerechnet Dennis bei diesem Ereignis nicht dabei war, wobei seine Abwesenheit von Frau Behnke mit seiner Arbeit legitimiert wird. Die geschichtlichen Ereignisse zwischen 1933 und 1945 bezeichnet Frau Behnke als ihr Hobby, dem sie nachgeht, indem sie sich so viele Dokumentationen und Filme wie möglich ansieht (257-259). Ihrer Ansicht nach wissen Jugendliche heute kaum noch etwas über die NS-Zeit. In diesem Zusammenhang wirft sie der Schule vor, ihre Aufklärungspflicht in Bezug auf das Dritte Reich zu vernachlässigen und so aus Unwissenheit geäußerten rechtsextremistischen Parolen und Meinungen Vorschub zu leisten (206-210). An der Kommunalpolitik kritisiert sie weiterhin, dass sie einschlägige Aufmärsche von Jugendlichen durch erteilte Genehmigungen „befürwortet“ (263). Frau Behnke begreift Rechtsextremismus als Jugendphänomen. Den rechtsextremistischen Jugendlichen unterstellt sie weiterhin, dass sie nicht über ein fundiertes politisches Weltbild verfügen, sondern „gar nich wissen wasse was sie da reden“ (243-244) und auch „nich begreifen was überhaupt jelaufen is“ (245246). Auch eine durch das äußere Erscheinungsbild deutlich zum Ausdruck gebrachte Zugehörigkeit zur rechten Szene wertet sie als „provoziern von angst mehr nich“ (316). Sie selbst findet das Auftreten der rechten Jugendlichen „erschreckend“ (313), erlebt sie bei einem Besuch in ihrem Haus aber auch als „höflich“ (313). Sie kann sich gut vorstellen „dass man ja och als älterer mensch wenn die durch die straßen ziehn rumpöbeln dass da angst aufkommt“ (314-315). Frau Behnke beurteilt rechte Jugendliche als „nur in der gruppe stark“ (317), aber „alleine so klein mit hut“ (317-318). Damit verharmlost sie rechtsextremistische Jugendliche zwar einerseits als eigentlich nicht ernstzunehmende Jungs, ist aber auch nahe an der Erkenntnis einer möglichen Signal- und Bewältigungsfunktion, was für die Auseinandersetzung mit Dennis Szenezugehörigkeit sehr fruchtbar sein könnte. Diese Brücke schlägt sie in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema jedoch nicht. Mögliche Ursachen für die Entwicklung von rechtsextremistischen Einstellungen bei Jugendlichen werden von Frau Behnke externalisiert, in dem sie staatliche Einrichtungen und die Politik verantwortlich macht, was eine deutliche Parallele zu Dennis diesbezüglichen Äußerungen darstellt. Durch ihre Aufklärungsversuche der Kinder über das Dritte Reich und seine Folgen entsteht zwar zunächst der Eindruck, Frau Behnke würde sich aktiv gegen Rechtsextremismus einsetzen. Dies lässt sich jedoch bei der Analyse der einzelnen Passagen nicht aufrechterhalten. Insgesamt nimmt Frau Behnke eher eine bagatellisierende, resignative und in Bezug auf ihren Mann rechtfertigende Haltung ein, was
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vermutlich auf den Wunsch nach der Vermeidung von Auseinandersetzungen zurückzuführen ist. Die rechte Einstellung von Dennis ist ihr zwar unverständlich, konkrete Einflussmöglichkeiten ihrerseits sieht sie jedoch nicht. Es scheinen letztendlich hauptsächlich Dennis delinquentes Verhalten und vor allem die damit verbundenen Folgen zu sein, die als problematisch empfunden werden und nicht so sehr seine diffuse rechtsextremistische Orientierung. 4.3.7 Triangulation der Analyseergebnisse aus den Einzelinterviews – Abschließende Diskussion Zweck dieses Unterkapitels ist die Verdichtung der aus der Interpretation der Einzelinterviews bisher gewonnenen Erkenntnisse zu einer abschließenden Fallbeurteilung, die Dennis bisherigen (rechten) Weg vor allem hinsichtlich markanter biografischer Ereignisse und möglicher Weichenstellungen durch erfolgte oder eben nicht erfolgte elterliche Erziehungsmaßnahmen, Einflussnahmen und Interventionen in den Blick nimmt. Mittels der Triangulation der Analyseergebnisse der Interviews von Dennis und seiner Mutter lassen sich in Bezug auf die besonders relevanten Kategorien „bisherige biografische Entwicklung von Dennis und ihre Einflussfaktoren“, „familiale Beziehungsqualität“ sowie „Wirksamkeit von elterlicher Erziehung und Interventionen“ folgende Zusammenhänge rekonstruieren: In der Familiengeschichte von Familie Behnke fanden mehrere ungünstige und zeitnah eintretende Ereignisse statt (siehe Abb.15), die in Kombination mit anderen biografischen Einflüssen dazu geführt haben, dass Dennis einer großen psychischen und emotionalen Belastung ausgesetzt war, die zu einer Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential führte. Da ist zunächst der Verlust der Exklusivität seiner Beziehung zur Mutter durch die Neustrukturierung der Familie und die damit einhergehende Vernachlässigung zu nennen. Hierbei ist besonders das von Frau Behnke lange Zeit nicht bemerkte oder auch nicht beachtete negative Verhältnis zum Stiefvater relevant, der Dennis schlug, wenn die Mutter nicht da war, sowie seine ebenfalls erst spät von Frau Behnke wahrgenommenen massiven Schulprobleme, die durchaus durch die Gewalterfahrungen mitverursacht sein können. Der entscheidende Punkt ist hierbei die Zurücksetzung von Dennis durch die Mutter zugunsten der neuen Familienbeziehungen. Während Dennis zuvor eine sehr hohe Aufmerksamkeit zu Teil wurde, weil sich die Mutter ganz auf ihn konzentrierte, geriet er nun in eine eher randständige Position innerhalb der Familie. Der Übergang in eine neue Familienstruktur mit mehr Familienmitgliedern ist in Bezug auf Dennis nicht gut gelungen. Er erlebte diesen Wandel nicht als positive Veränderung oder Bereicherung seines Lebens, sondern als Bedrohung seiner Position gegenüber seiner engsten Bezugsperson. Diese belastende Situation
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erfuhr eine negative Steigerung durch die Erkrankung seiner jüngeren Schwester. Die kurz darauf einsetzende Trennungsphase von Mutter und Stiefvater brachte zwar – nachdem die Trennung dann vollzogen war – einerseits eine Erleichterung für Dennis, was auch seinem Verhalten anzumerken war (57; Interview mit Frau Behnke). Andererseits bedeutete dies jedoch auch, dass die Mutter nun insbesondere in Bezug auf die Pflege ihrer kranken Tochter auf sich allein gestellt und zeitlich sehr belastet war. Weiterhin kamen der neue Mann der Mutter und nach kurzer Zeit auch eine weitere Tochter zur Familie hinzu. Innerhalb der Familie traten also innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes massive Veränderungen ein, die von Dennis verarbeitet und bewältigt werden mussten. Dies verlangte von ihm eine hohe Anpassungsleistung. Die subjektiv empfundene Konkurrenzsituation zu den Schwestern gewinnt dabei eine zusätzliche Qualität, weil Dennis im Leistungsbereich weit hinter ihrem Niveau zurück bleibt. Schulische Leistungen und ein guter Abschluss werden von Frau Behnke aber mit einer hohen Bedeutung versehen, wodurch für Dennis eine zusätzliche Drucksituation entstand. Über seine rechte Orientierung war und ist es Dennis möglich, Frust und Aggressionen abzubauen, die er innerhalb seiner Familie, besonders aber gegenüber der Mutter, nicht direkt äußern kann. Sie hat somit eine Entlastungs- und Bewältigungsfunktion. Sowohl Frau Behnke als auch Dennis nehmen in ihren Erzählungen kaum zeitliche Verortungen vor, so dass die familialen Entwicklungen nur sehr schwer in ihrer Abfolge rekonstruiert werden konnten. Es entsteht vielmehr der Eindruck, als hätten sich die einzelnen Ereignisse überschnitten und Mutter und Sohn würden von einem kürzeren Zeitraum in jüngerer Vergangenheit erzählen. Es konnte jedoch mit Hilfe der Erstellung eines Zeitstrahls herausgearbeitet werden, dass die entscheidenden Ereignisse bereits um die 10 Jahre und mehr zurück liegen. Dennis und Frau Behnke haben das Geschehen dennoch sehr intensiv vor Augen, was für die hohe Bedeutung dieser Zeit für die Familie spricht. Vor allem bei Dennis kommt durch seine fast völlig fehlende zeitliche Übersicht eine Orientierungslosigkeit zum Ausdruck, die sich in den subjektiv erlebten instabilen familialen Verhältnissen begründet. Problematisch ist dabei auch das Fehlen einer positiv wahrgenommenen orientierungsstiftenden männlichen Bezugsperson, die Dennis anerkennt und sich ihm zuwendet.
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Abb. 15: Dennis Behnke: Gesamtdarstellung des biografischen Bedingungs- und Einflussgeflechts
Diese Erfahrung konnte er erst als Jugendlicher im Zusammenhang mit dem zweiten Ehemann der Mutter machen. Das gute Verhältnis zu seinem jetzigen Stiefvater wird von Dennis auch entsprechend hervorgehoben. Obwohl der Stiefvater nur 9 Jahre älter ist als er und erst in sein Leben trat, als Dennis schon im Jugendalter war, wird er von ihm als „Vati“ anerkannt. Daran zeigt sich, wie stark das Bedürfnis von Dennis nach einer männlichen (väterlichen) Bezugsperson ist (siehe Abb.16). Sowohl von Dennis als auch von seiner Mutter wird ein gutes und vor allem sehr enges Verhältnis zueinander beschrieben, dass jedoch bezüglich seiner Struktur ambivalent ist. Spannungen und Konfliktpotentiale, die bei der Interpretation des Materials aufgefunden wurden, werden vor allem von Dennis kaum
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kommuniziert. Einerseits wird die Beziehung auf einer freundschaftlichen Ebene angesiedelt, andererseits besteht offensichtlich ein hierarchisches Mutter-KindVerhältnis, in dem die Mutter richtungsweisend ist und Dennis trotz seines Alters noch sehr autoritär begegnet.
Abb. 16: Dennis Behnke: Das Väter-Dilemma: Dennis Suche nach einer stabilen Beziehung und Anerkennung durch eine Vaterfigur
Es lassen sich viele Übereinstimmungen in den Erzählungen von Dennis und seiner Mutter finden, wobei beide problematische Zusammenhänge ihrer Beziehung zueinander nur oberflächlich reflektieren. Während Dennis es sich nicht gestattet, etwas negatives über seine Familie vor allem aber die Mutter zu erzählen, spricht Frau Behnke offen Dinge an, die sie an Dennis stören und zu Konflikten führen. Hieraus wird deutlich, dass sich Dennis gegenüber der Mutter in einer defensiven Position befindet, da er emotional stark auf die Erhaltung der Beziehungsqualität angewiesen ist, weil seine Mutter bis heute die einzige dauerhaft verlässliche Bezugsperson in seinem Leben darstellt. Während er zwar offen über sein delinquentes Verhalten, schulische Probleme u.ä. spricht, ist die Mutter bezüglich negativer Aspekte nahezu unantastbar. Negative Gefühle werden von Dennis auf andere Situationen übertragen und dort ausagiert. Lediglich im Zug des Erzählzwangs wird indirekt Kritik am Verhalten der Mutter geäußert (meckern, Vorwürfe), woran sich allerdings jeweils nahtlos die Rechtfertigung anschließt, da er – Dennis – die Situation durch sein Verhalten herbeigeführt hat. Direkte Zusammenhänge zwischen Dennis schwieriger Situation, in der er um die Aufmerksamkeit der Mutter kämpfen musste und nur wenig Anerkennung erfuhr, sowie seinem delinquenten Verhalten und der Zugehörigkeit zur rechten Szene werden sowohl von Dennis als auch von seiner Mutter nicht hergestellt. Aus der Analyse des Falls kann jedoch geschlossen werden, dass die im Rahmen seines rechtsextremistischen Kontextes begangenen delinquenten Handlungen
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eine Signalfunktion hatten und haben, über die er die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mutter erlangen möchte und schließlich auch erlangt. Dabei ist es egal, dass die Reaktion der Mutter zunächst eine negative ist, weil auch darüber Nähe hergestellt wird. Dennis konnte aufgrund seiner schulischen Schwierigkeiten und seines problematischen Verhaltens die Normalitätserwartungen seiner Mutter nicht erfüllen, was sie ihn auch deutlich spüren lässt. Vor allem seine Lernbehinderung wurde von ihr negativ aufgenommen, was sie im Interview klar zum Ausdruck bringt („dass ausjerechnet dein kind halt dumm is“ 47; Interview mit Frau Behnke). Gegenüber seinen deutlich leistungsstärkeren und verhaltensunauffälligen Schwestern steht er damit stark unter Druck. Dennis befindet sich somit in einem Spannungsfeld zwischen der familialen Konstellation an sich, innerhalb derer er sich zurückgesetzt fühlt, den Normalitätsansprüchen der Mutter, die er nicht im gewünschten Maße erfüllen kann, und seinem Wunsch nach Aufmerksamkeit und Anerkennung sowie der ausgesprochen starken Bindung an die Mutter, die seine einzige verlässliche Bezugsperson ist. Es ist ihm bislang nicht gelungen, sich von den Ansprüchen der Mutter zu befreien und sich in einem Rahmen abzulösen, der es ihm erlaubt, einen unabhängigen Lebensentwurf im Sinne eines biografischen Handlungsschemas zu entwickeln. Seine diesbezüglichen Versuche, dies durch die frühzeitige Gründung einer Eigenfamilie zu erreichen, sind gescheitert. Mit diesem erneuten Scheitern an seinen Normalitätsvorstellungen hat sich seine Unterlegenheit und Abhängigkeit gegenüber der Mutter verstärkt, so dass er sich jetzt wieder in einer quasi kindlichen Beziehung zu ihr befindet. Insgesamt mündet das emotional aufgeladene, häufig anklagende Verhalten der Mutter in Kombination mit ihrer Art, Dennis die Verantwortung für die Folgen seines delinquenten Verhaltens zwar aus der Hand zu nehmen, ihm dies dann aber gleichzeitig auch zum Vorwurf zu machen, in einer Abwertung von Dennis, wobei auch ein mangelndes Vertrauen in seine Fähigkeiten zum Ausdruck kommt. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Dennis inzwischen bereits 23 Jahre alt ist. Frau Behnke trägt durch ihr Verhalten dazu bei, eine vollständige altersadäquate Ablösung von Dennis zu verhindern. Mutter und Sohn befinden sich in einem Kreislauf, in dem sie die mangelnde Nähe in Dennis späterer Kindheit durch ein aktuell sehr enges Verhältnis zu kompensieren suchen. Es kann vermutet werden, dass Dennis Verhalten auch den Zweck hat, die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Mutter aufrechtzuerhalten. In diesem Kreislauf wirken also doppelte Botschaften: 1) Frau Behnke bringt ihren Unmut über die Unüberlegtheit von Dennis Handeln zum Ausdruck und wünscht sich sein Erwachsenwerden und die damit verbundene Ablösung von zu Hause (Auszug,
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Fallübergreifende Ergebnisse wirtschaftliche Selbständigkeit, Verantwortungsübernahme für eigenes Handeln). 2) Gleichzeitig signalisiert sie ihm durch ihr Verhalten, dass er allein nicht zurechtkommt, und bindet ihn durch ihre Verantwortungsübernahme sowie ihren Autoritätsanspruch an sich. Entzieht sich Dennis ihrer Kontrolle, z.B. durch den Versuch mit seiner Freundin und dem gemeinsamen Kind allein zu leben, fühlt sie sich unwohl und macht sich Sorgen. 3) Dennis wünscht sich sehnlichst eine eigene Wohnung und strebt die Gründung einer Eigenfamilie an. 4) Seine Mutter ist nach wie vor die wichtigste Person in seinem Leben, deren Aufmerksamkeit er unter allen Umständen auf sich ziehen möchte. Sein Verhalten spiegelt noch nicht die Übernahme eines Erwachsenenstatus wider. Der Auszug aus dem Elternhaus wird unter dem Vorwand, eine eigene Wohnung nicht finanzieren zu können, immer weiter herausgeschoben.
Dazu kommt der in beiden Interviews aufgefundene Widerspruch zwischen freundschaftlicher Beziehungsebene und deutlich autoritär gefärbter Beziehung. Die freundschaftliche Beziehungsebene resultiert aus der erzwungenen frühzeitigen Selbständigkeit von Dennis und der damit verbundenen Umdeutung der Mutter-Kind-Beziehung. Sie wird aktuell durch beider Wunsch nach Dennis endgültiger Übernahme einer Erwachsenrolle und die Darstellung der Bearbeitung von Problemen durch gemeinsame Gespräche und Lösungssuchen symbolisiert. Die autoritäre Beziehungsebene steht dagegen für das mangelnde Vertrauen in Dennis Fähigkeiten, repräsentiert die Erziehungsvorstellungen von Frau Behnke und betont ihre Verantwortlichkeit für Dennis trotz seines Alters aufgrund ihrer Mutterrolle im Sinne einer Kompensation vergangener Vernachlässigungen. Die aus dieser Widersprüchlichkeit innerhalb der Beziehung zwischen Mutter und Sohn resultierende emotionale Verstrickung lässt sich gut durch Abb.17 verdeutlichen. Problematisch ist hier nicht das Nähebedürfnis von Mutter und Sohn an sich, sondern sowohl die Art wie es kommuniziert wird, als auch die mangelnde Reflexion der Gründe dafür. Dadurch geraten beide in ein Spannungsverhältnis, bei dem nicht eindeutig ist, welches Verhalten vom jeweils anderen erwartet wird. Für Dennis kommen noch die Schädigung des Selbstwertes durch das mangelnde Vertrauen der Mutter in seine Fähigkeiten sowie die Erzeugung von Schuldgefühlen durch die Mutter hinzu, weil er ihre (Normalitäts-)Erwartungen nicht erfüllen kann.
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Abb. 17: Dennis Behnke: Die Mutter-Sohn-Beziehung: Emotionale Verstrickung durch widersprüchliche Beziehungsdefinitionen
Die Gründe für Dennis Zugehörigkeit zu einer rechtsextremistischen Clique und vor allem die in diesem Zusammenhang verübten Straftaten werden nicht erkannt, da die unterschwelligen Konflikte innerhalb der Familie nicht bearbeitet werden bzw. nicht an die Oberfläche gelangen. Zwar deutet Frau Behnke durchaus mögliche Hintergründe für Dennis Entwicklung in eine delinquente Karriere an, die immer noch nicht vollständig überwunden ist, wobei sie vor allem auf die Zurücksetzung von Dennis zugunsten der neu gegründeten Familie mit ihrem ersten Ehemann abstellt. Eine tiefgründigere Aufarbeitung und Reflexion der familialen Ereignisse und Schwierigkeiten erfolgt im Laufe des Interviews jedoch nicht. Erst im daran anschließenden Gespräch beginnt Frau Behnke, sich mit den in der Vergangenheit liegenden Ereignissen auseinanderzusetzen und Zusammenhänge zu Dennis Entwicklung und Verhalten herzustellen. Die fehlende innerfamiliale Auseinandersetzung mit den für Dennis problematischen Entwicklungen in seiner Kindheit und Jugend spiegelt sich auch in den durch die Mutter in Bezug auf seine Delinquenz und Zugehörigkeit zur rechten Szene vorgenommenen Interventionen wieder. Die mütterlichen Reaktionen
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bewegen sich zwischen stark anklagendem Verhalten, Bagatellisierung und der Regulation von negativen äußeren Folgen seines mit der rechten Orientierung verbundenen delinquenten Verhaltens. Sie sind für die Abkehr von der rechten Szene dysfunktional, da sie an Dennis Bedürfnissen nach Akzeptanz, emotionaler Nähe, echter Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Leben, der Anerkennung als „normal“, dem Zugestehen eigener Fehler und dem Ausbaden ihrer Folgen vorbeigehen. Ausschlaggebend für den einsetzenden Wandel hin zu einem zumindest straftatfreien Leben sind also in erster Linie nicht die erfolgten elterlichen Interventionen an sich, sondern die massiven negativen (vor allem strafrechtlichen) Konsequenzen, ein einsetzender Reifeprozess im Zuge des Erwachsenwerdens sowie die aus der emotionalen Verstrickung der Beziehung zur Mutter resultierende fast zwanghafte Affinität zu einer Normalbiografie in Verbindung mit der Angst vor dem Verlust der emotionalen Nähe aufgrund einer zu großen Enttäuschung der Erwartungen der Mutter. Zukunftsprognose Trotz seiner Lernschwierigkeiten, der Delinquenz und der Zugehörigkeit zu einer rechtsextremistischen Clique hat Dennis eine Lehre abgeschlossen und geht mit hoher Motivation seiner Arbeit nach. Der innere Konflikt, den er mit den Normalitätsansprüchen seiner Mutter hat, weil er sie nicht erfüllen kann oder zum Teil will, drückt sich auch darüber aus. Während er mit seinem delinquenten Verhalten und seiner Einbindung in eine rechtsextremistische Clique auch gegen seine Umwelt und nicht zuletzt seine Mutter rebelliert und seine zugeschriebene „Unnormalität“ in sein Selbstbild übernimmt, versucht er parallel dazu doch, sich ein „normales“ Leben aufzubauen. Dieser innere Konflikt wird vor allem in seiner Selbstbeschreibung offensichtlich, in der er sich widersprüchlich als „der konservative […] der normale (.) typ“ (983-984) und als „kein normaler durchschnittstyp“ (952) beschreibt. Da Dennis erkannt hat, dass die Umsetzung seiner Lebensvorstellungen, in der Familie und Arbeit die zentralen Bezugspunkte darstellen, gefährdet ist, versucht er seit längerem nicht mehr delinquent zu handeln. Dazu hat er auch die Notwendigkeit einer gewissen Distanzierung von seiner Clique erkannt, wobei die praktische Umsetzung jedoch erst in den Anfängen begriffen ist. Nachdem er zwei Jahre keine Straftat mehr begangen hat, ist er noch einmal rückfällig geworden. Es ist jedoch zu erwarten, dass die strafrechtlichen Konsequenzen in Verbindung mit der Angst vor dem Verlust von Arbeit und Familie dazu führen, dass Dennis es schafft, die Delinquenz zu überwinden und künftig nicht mehr auffällig zu werden. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Änderung seiner diffusen rechtsextremistischen Orientierung, die er zum Zeitpunkt des Interviews auch zukünftig beibehalten möchte.
5 Fallübergreifende Ergebnisse – Verlaufsstrukturen der Biografien rechter Jugendlicher und familiale Einflussfaktoren
In der vorliegenden Untersuchung ging es darum, die Bedeutung und den Einfluss familialer Beziehungen auf die Entwicklung, aber vor allem die Verfestigung und Bearbeitung/Bewältigung rechtsextremistischer Orientierungen von Jugendlichen zu untersuchen. Eine zentrale Frage war dabei, ob und welche Bedingungsfaktoren und Einflüsse der Familie bzw. der Eltern dazu beitragen, dass sich Jugendliche der rechten Szene zuwenden, dort Fuß fassen und sich diese Zugehörigkeit bei einigen von ihnen zu einer rechtsextremistischen (delinquenten) Karriere verfestigt, während sie bei anderen lediglich ein passageres Problem darstellt, das sich im Zuge der Adoleszenz verliert. Um dieser Frage nachzugehen, wurden biografische Interviews mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen und bei den Kernfällen narrativ aufgeklärte (vgl. Lenz 1991, S.59) Leitfadeninterviews mit den jeweiligen Müttern durchgeführt. Die anschließende Interpretation der erhobenen Kernfälle wurde in drei umfangreichen Fallportraits aufbereitet, wobei neben der bisherigen biografischen Entwicklung und ihren Einflussfaktoren vor allem die Bereiche familiale Beziehungsqualität sowie elterliche Erziehung und Umgang mit der rechtsextremistischen Orientierung im Vordergrund standen. Die Triangulation der Datenquellen ermöglichte dabei besonders intensive Einblicke und eine Dichte an Informationen und Hintergründen, durch die sich die Wege in die rechte Szene und in zwei Fällen auch der einsetzende Distanzierungsprozess besonders gut rekonstruieren und verstehen ließen. Dies ist zum einen auf die Analyse der Sichtweise einer anderen Person (der Mutter) in Bezug auf die biografische Entwicklung der Jugendlichen zurückzuführen. Zum anderen war es mittels der Interpretationen der Mutter-Interviews möglich, auftauchende Lücken sowie unklare Stellen in den Erzählungen der Jugendlichen für die abschließenden Falldiskussionen zu (er-)schließen. Ergebnisse aus drei weiteren Interviews mit Jugendlichen, zu denen kein separates Interview mit der Mutter durchgeführt wurde, flossen in die fallübergreifende Analyse und Fallkontrastierung ein. Die biografischen Hintergrunddaten dieser drei Jugendlichen werden an dieser Stelle zum besseren Verständnis kurz vorgestellt.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2_6
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Bastian Schnapper ist zum Zeitpunkt des Interviews 21 Jahre alt und verbüßt u.a. wegen schwerer Körperverletzung eine Haftstrafe in einer Jugendvollzugsanstalt. Seine Mutter ist 43 Jahre alt und arbeitet als Krankenschwester; sein Vater ist über 50 und Handwerker. Bastian hat keine Geschwister und ist auf dem Dorf aufgewachsen. Nach dem Realschulabschluss hat er eine Lehre als Facharbeiter im Baubereich absolviert. Danach war er jedoch arbeitslos. Vor seinem Haftantritt hat Bastian noch zu Hause bei seinen Eltern gewohnt. Sagen lässt er sich von ihnen jedoch kaum etwas. Er rechnet sich selbst zur rechten Szene und gehört seit langem einer einschlägigen, gewalttätigen Clique an. Holger Menzel ist zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt und lebt noch zu Hause bei seinen Eltern. Seine Mutter arbeitet im Einzelhandel. Der Vater ist etliche Jahre älter als die Mutter und schon Rentner. Holger hat keine Geschwister. Er besuchte zunächst das Gymnasium, musste aber auf die Realschule wechseln, weil er zweimal sitzen geblieben ist. Danach hat er sich angestrengt und den erweiterten Realschulabschluss gemacht. Bis jetzt hat Holger noch keine Lehre begonnen. Er schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch und ist Mitglied einer rechtsextremistisch orientierten Clique. Peter Krug ist zum Zeitpunkt des Interviews 20 Jahre alt, hat den Realschulabschluss gemacht und absolviert nun sehr erfolgreich eine Ausbildung zum Koch in der gehobenen Gastronomie. Er lebt noch zu Hause bei seiner Mutter, da er sich von seinem Lehrlingsgehalt keine eigene Wohnung leisten kann. Im dritten Lehrjahr möchte Peter aber ausziehen. Er hat einen Zwillingsbruder, der inzwischen in einer anderen Stadt lebt. Peters Mutter arbeitet im öffentlichen Dienst und ist 47 Jahre alt. Seine Eltern haben sich vor ca. vier Jahren getrennt, weil Peters Vater eine Affäre mit einem sechzehnjährigen Mädchen hatte, mit dem er heute noch zusammen ist. Peters Mutter hat inzwischen einen neuen Freund, zu dem Peter ein gutes Verhältnis hat. Zu seinem leiblichen Vater möchte Peter keinen Kontakt mehr, die Beziehung zu ihm war schon immer schlecht. Peter ist aktives Mitglied in der rechten Szene und war früher an mehreren Anschlägen beteiligt. Er ist in einer Kameradschaft organisiert, die sich zwecks der Vermeidung von Strafverfolgung vorübergehend zurückhält, sowie Mitglied der Republikaner und beteiligt sich an verschiedenen politischen Aktionen. Zur Wahl der Methode kann im Ergebnis festgestellt werden, dass die Einbeziehung eines Elternteils, in diesem Fall der Mutter, bedeutsam für den Erkenntnisgewinn war. Bezüglich der Analyse der Interviews erwiesen sich die triangulierten Fälle als wesentlich dichter, erkenntnisreicher und umfassender. Zwar
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konnten auch aus den einzelnen biografischen Interviews, vor allem durch die Einbeziehung entsprechender Nachfragen, Rückschlüsse auf die familialen Strukturen, Hintergründe und Einflüsse gezogen werden. Gerade im Hinblick auf die Wirksamkeit von elterlichen Interventionen und Einflüssen auf die biografische Entwicklung der Jugendlichen generell und auf die Zugehörigkeit zur rechten Szene im Besonderen sind jedoch die Sichtweisen zweier Interaktionspartner von großem Wert für die Rekonstruktion des Prozessgeschehens und das Verständnis tieferliegender Strukturen. Erst durch das In-Bezug-Setzen der elterlichen und jugendlichen Perspektiven erschlossen sich Beziehungsmuster, die maßgebend für die jugendliche Entwicklung und die Auswirkungen elterlicher Einflüsse und Interventionen waren. Darüber hinaus ließen sich dadurch auch gleichzeitig die ganz eigenen Probleme der Eltern im Umgang mit der rechtsextremistischen Entwicklung und ihr teilweise verzweifeltes Ringen um ihr Kind erfassen, was für die unterstützende pädagogische Arbeit mit Angehörigen von Interesse ist. Die Rekonstruktion der Befindlichkeiten, Wahrnehmungen und Interventionsversuche der Eltern anhand der Erzählungen der Mütter erlaubt also gleichzeitig einen Blick in die Lebenswelt von Eltern rechtsextremistischer Jugendlicher, der ein besseres Verständnis für die zwischen Eltern und Jugendlichen ablaufenden Prozesse schafft. Der Gewinn dieser Studie liegt somit im detaillierten Verständnis biografischer Prozesse und gegebener Einflüsse auf die Jugendlichen, aber auch ihrer Familien an sich, wobei der Fokus nicht nur auf ursächlichen Faktoren des Einstiegs, sondern vor allem auf dem weiteren Verlauf danach lag. Durch die mittels der umfassenden Darstellung sichtbar gemachten vielfältigen Zusammenhänge können mögliche pädagogische Ansatzpunkte identifiziert und für die konkrete pädagogische (Einzelfall-)Arbeit mit rechtsextremistischen Jugendlichen vor allem in der Sekundär- und Tertiärprävention nutzbar gemacht werden. Dies gelingt auch mittels einer kleinen Fallzahl, da die gewonnenen Erkenntnisse aufgrund der dichten und detaillierten Darstellung gut nachvollzogen und auf die praktische pädagogische Arbeit mit Jugendlichen übertragen werden können. Das Alter der untersuchten Jugendlichen lag zwischen 18 und 23 Jahren. Aufgrund der Intention der Studie, biografische und familiale Prozesse zu rekonstruieren, die Einstieg und Verfestigung rechtsextremistischer Einstellungen möglicherweise beeinflussen, wurde die Altersstruktur höher angesetzt als bei zahlreichen anderen Untersuchungen, die sich auf die Befragung von SchülerInnen bzw. jüngere Jugendliche konzentrieren (etwa Helsper u.a. 2006; Krüger/Pfaff 2001; Möller 2000; Butterwegge/Lohmann 2001; Würtz 2000). Dies hatte zum einen den Vorteil, dass bereits eine größere Fähigkeit zur Reflexion biografischer Ereignisse und zum anderen bei einem durchschnittlichen Einstiegsalter von 1315 Jahren eine längere Zugehörigkeit zu rechtsextremistischen
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Zusammenhängen zu erwarten war, was einen rein jugendtypisch provokativen Hintergrund unwahrscheinlich, schon erfolgte elterliche Interventionen dagegen wahrscheinlicher werden ließ. Hinsichtlich einer möglichst starken Kontrastierung der erhobenen Fälle wurden Jugendliche mit unterschiedlichen Bildungskarrieren befragt, die vom fehlenden Schulabschluss bis zum angestrebten Fachabitur mit anschließenden Studienplänen reichen. Die Eltern sind meist im mittleren Bildungsbereich angesiedelt und gehen Ausbildungsberufen nach, es gibt eine studierte Mutter und einen mit seinem Unternehmen sehr erfolgreichen selbständigen Vater. Probleme mit Arbeitslosigkeit gab es nur in zwei Fällen (vorübergehend) seitens der Väter. Eltern ohne Schul- bzw. Berufsabschluss sind nicht vertreten und stellen eine Lücke der Untersuchung dar. Diese Lücke ist ein zufälliges Ergebnis, da der berufliche Hintergrund der Eltern kein Kriterium bei der Fallauswahl darstellte. Aufgrund der geringen Fallzahl können zu den Umständen der Herkunftsfamilie keine verallgemeinernden Aussagen getroffen werden, es überrascht aber doch, dass das Klischee der rechten Karriere in Verbindung mit äußeren Desintegrationsmerkmalen wie Armut, fehlenden Bildungsmöglichkeiten und einem per se „schlechten Elternhaus“ nicht angetroffen wurde, obwohl einige Jugendliche aufgrund ihrer eigenen massiven sozialen Abstürze bzw. negativen Bildungskarriere auf den ersten Blick ein entsprechendes Milieu vermuten ließen (vgl. Krüger 2012, S.272; Burkert 2012, S.184; Neumann u.a. 2002, S.239f.; Quent 2016, S.2295ff.; Zick u.a. 2016, S.77f.). Im Folgenden werden zunächst die fallübergreifenden Erkenntnisse in Bezug auf die Entstehung und Ausprägung der rechtsextremistischen Orientierungen der interviewten Jugendlichen dargestellt und auf die bisher in der Literatur vorliegenden Forschungsergebnisse rückbezogen. Im zweiten Teil der fallübergreifenden Analyse werden die Erkenntnisse hinsichtlich der familialen Beziehungsqualität sowie der elterlichen Reaktionen/Interventionen und ihrer (Un-)Wirksamkeit bei den Jugendlichen referiert, wobei hier nur an wenige Forschungsergebnisse angeknüpft werden kann, da dies genau die Forschungslücke ist, an der die Studie angesetzt hat. 5.1 Facetten, Entstehungsbedingungen und Hintergründe von jugendlichem Rechtsextremismus Die trotz der kleinen Fallzahl aufgefundene Vielschichtigkeit der Einstellungen und Einbindungsvarianten in die rechte Szene bestätigt die im theoretischen Teil der Arbeit beschriebene Komplexität des Forschungsgegenstandes und unterstreicht die Notwendigkeit umfassender und differenzierter Forschungsarbeit. Das immer noch weit verbreitete Klischee des mit Glatze und Springerstiefeln
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ausgestatteten bildungsfernen rechtsextremistischen Jugendlichen aus sozial schwachem Milieu wird dem Phänomen des jugendlichen Rechtsextremismus nicht gerecht und erfasst nur einen kleinen Teil möglicher Facetten. Die aufgefundenen rechtsextremistischen Orientierungen sind vielmehr sehr differenziert und entwickelten sich aus einem komplexen Zusammenspiel von persönlichen Erfahrungen und Haltungen sowie biografischen Ereignissen und äußeren Einflüssen. Dabei spielten auch zufällige Begegnungen eine Rolle, die zeitlich mit der Suche nach Alternativen, die eine Veränderung der eigenen Situation ermöglichen, zusammen trafen. Eine begriffliche Fassung und auch Abgrenzung muss daher so weit wie möglich auf das spezifische Untersuchungsfeld zugeschnitten sein und kann dennoch kaum alle Varianten einer rechtsextremistischen Orientierung adäquat erfassen. Der in der Literatur beschriebene Begriffspluralismus ist also eine logische Konsequenz, der der in diesem Untersuchungsfeld vorherrschenden Vielschichtigkeit Rechnung trägt. Die z.B. von Krüger/Pfaff (2001) kritisierte mangelnde Systematisierbarkeit von Untersuchungsergebnissen kann ebenfalls auf die Komplexität des Phänomens zurückgeführt werden. In der Auseinandersetzung mit der Forschungslandschaft sowie der Gestaltung der eigenen Studie zeigte sich ein starkes Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach möglichst breit verallgemeinerbaren und eindeutigen Ergebnissen in Bezug auf den Inhalt, die Verbreitung und die Hintergründe rechter und rechtsextremistischer Orientierungen und der im Forschungsfeld aufgefundenen Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit sowie der dadurch notwendigen Begrenzung der jeweiligen Untersuchung. 5.1.1 Aufgefundene rechtsextremistische Ausdrucksformen, Orientierungen und Selbstpräsentationen Die aufgefundenen Einstellungen der Jugendlichen reichen von einer diffusen Orientierung ohne politische Ambitionen (Dennis, Holger) bis hin zu einem manifesten und geschlossenen Weltbild mit eindeutiger politischer Agenda (Piet). Bemerkenswert ist, dass sich die jeweilige Ausprägung und Intensität der rechtsextremistischen Orientierungen der Jugendlichen nicht auf Anhieb aus dem Interviewmaterial und dem Auftreten bzw. Erscheinungsbild erschloss, sondern sich erst mühevoll durch die wiederholte Analyse des gesamten Materials rekonstruieren ließ, wobei vor allem auch die Fragen nach persönlichen Werten, Emotionen, Zukunftsplänen und Wünschen aufschlussreich waren. Dass Gewaltakzeptanz sowie Gewaltbereitschaft im Zusammenhang mit jugendlichem Rechtsextremismus eine wesentliche Rolle spielen (vgl. Heitmeyer 1995; Becker 2008, S.251f.; Zick/Küpper 2016, S.89), kann durch die Analyse der hier untersuchten Fälle bestätigt werden. Die Bedeutung von starkem Alkoholkonsum, Gruppendynamik, rechtsextremistischer Musik und einer sich in
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diesem Zusammenhang aufschaukelnden Aggression wurde ebenfalls bereits durch zahlreiche Untersuchungen festgestellt (u.a. Wahl 2003; Kraus/Mathes 2010; Heitmeyer/Müller 1995; Frindte/Neumann/Wiezoreck 2002; Willems 1994 und Böttger 1998). Zusammengefasst ergibt sich für die befragten Jugendlichen hinsichtlich der Ausprägung ihrer rechtsextremistischen Orientierung und einer damit einhergehenden Gewalttätigkeit/-akzeptanz das in Abb.18 dargestellte Bild.
Abb. 18: Ausprägung der rechtsextremistischen Orientierung und einer damit einhergehenden Gewalttätigkeit/-akzeptanz
In Bezug auf die Gewaltakzeptanz bzw. -bereitschaft kann festgestellt werden, dass die untersuchten Jugendlichen bereits mehr oder weniger gewalttätig agiert haben bzw. bereit sind, Gewalt zu akzeptieren. Große Unterschiede gab es jedoch hinsichtlich ihrer diesbezüglichen Motivation. Während gewalttätige Handlungen bei Kai, Dennis, Holger und Bastian eher spontan begangen wurden, wobei
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zum Teil die Gruppendynamik innerhalb der Clique, persönliche Konflikte sowie Alkohol eine tragende Rolle spielten, und sie die jeweilige Tat im Anschluss, wenn auch vorrangig wegen der ihr folgenden negativen (strafrechtlichen) Konsequenzen, zumindest reflektierten (bei Dennis und Kai auch bereuten), wurde Gewalt durch Peter und Piet gezielt und geplant im Rahmen ihrer politischen Ziele eingesetzt oder zumindest akzeptiert. Dabei wird im Fall von Piet deutlich, wie sich Motivation und Hintergrund gewalttätigen Verhaltens im Laufe der Szenezugehörigkeit verändern können. Resultierte die Akzeptanz/Ausübung von Gewalt zunächst aus seiner Zugehörigkeit zu einer größeren Gruppe von rechtsextremistischen Skinheads, wandelte sich ihre Motivation im Laufe seiner zunehmenden Politisierung zu einer instrumentellen Form mit strategischen Hintergründen. Die aufgefundenen unterschiedlichen Hintergründe gewalttätigen oder gewaltakzeptierenden Verhaltens (spontan/subkulturell vs. geplant/zielgerichtet/organisiert) decken sich mit den statistischen Auswertungen des Verfassungsschutzes (vgl. BMI 2013, S.71). Die aus Kalkül akzeptierte oder selbst ausgeführte Gewalt wurde im Nachhinein nicht mit Mitgefühl oder Reue kommentiert und war eindeutig rechtsextremistisch motiviert. Bei den spontan Handelnden wurde die Gewalt zwar auch aus ihrem rechten bzw. rechtsextremistischen (Cliquen-)Zusammenhang heraus begangen, es handelte sich jedoch nicht ausschließlich um rechtsextremistisch motivierte Taten. So schlug beispielsweise Holger einen ehemaligen Freund zusammen, weil dieser ihm „irgendwelche lügen“ (Interview mit Holger, 449) unterstellt und Gerüchte über seinen angeblichen Drogenkonsum und Handel mit Schwarzafrikanern verbreitet hatte. Kai schoss unter starkem Alkoholeinfluss mit einer Waffe auf einen ehemaligen Mitschüler, weil er ihn „noch nie leiden“ konnte (Interview mit Kai, 373). Das gewalttätige Verhalten fand bei diesen Jugendlichen zwar in ihrem subkulturell rechtsextremistischen Kontext statt, war aber teilweise persönlich und nicht immer ideologisch motiviert, entweder in dem subjektiv empfundene Spannungen zwischen dem jeweiligen Jugendlichen und dem Opfer vorlagen oder in dem sich angestaute Wut unwillkürlich entlud (vgl. Neumann/Frindte 2002, S.113; Kraus/Matthes 2010, S.92). Kai wurde darüber hinaus durch höherrangige Mitglieder der Szene instrumentalisiert und stellt somit ein Beispiel für die von Frindte/Neumann (2002, S.81) konstatierte Vorgehensweise der Szene dar, bei der unbedarfte Mitglieder zu Straftaten animiert und letztlich als Bauernopfer benutzt werden. Die spontane, unüberlegt ausagierte Gewalt der Jugendlichen zog häufig strafrechtliche Konsequenzen nach sich, ihre möglichen Folgen wurden im Vorfeld nicht bedacht und es wurden somit auch keine Maßnahmen ergriffen, um die Risiken einer Strafverfolgung durch mangelnde Beweise o.ä. möglichst zu minimieren.
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Piet und Peter dagegen sind darauf bedacht, strafrechtlich nicht in Erscheinung zu treten, was bei Peter zu einem vorübergehenden, kalkulierten Rückzug in Bezug auf Gewalt- und Straftaten allgemein führte (vgl. Interview mit Peter 804812). Beide Jugendliche haben stets ihre eigene berufliche und private Zukunft im Blick, die es nicht zu gefährden gilt. Die mögliche Beteiligung an bzw. Durchführung von rechtsextremistischen Aktionen wird dementsprechend auch davon beeinflusst. Gleiches gilt für Straftaten insgesamt. Auch hier ließen sich die spontan/unüberlegt handelnden Jugendlichen von den gezielt/überlegt/planenden unterscheiden. Die von Heitmeyer/Müller (1995, S.55ff.) gebildeten Motivkategorien für Gewaltdelikte (siehe Kapitel 3.3) wurden auch im hier analysierten Material sichtbar. Eine Einordnung der Jugendlichen in diese Kategorien wurde erwogen, jedoch aufgrund der Prozesshaftigkeit mit der die Zugehörigkeit zur rechten Szene und damit auch die Motivation von Gewalttaten verbunden ist, verworfen. Darüber hinaus waren bei den Jugendlichen meist mehrere der von Heitmeyer unterschiedenen Motive miteinander verknüpft. Was die äußere Erscheinung der Jugendlichen betrifft, kann der Trend zu einem unauffälligen Auftreten und die Abkehr vom Erscheinungsbild des typischen Skinheads, der durch den Verfassungsschutz und zahlreiche Studien seit Jahren konstatiert wird (vgl. BMI 2013, S.80f.; 2005, S.60; Albrecht u.a. 2012, S.224; Pfeiffer 2013, S.44; Möller 2007, S.18; Böttger 1998, S.254), bestätigt werden. Zwar spielten typische rechtsextremistische Skinhead-Insignien wie Springerstiefel, Glatze und Bomberjacke zum Teil noch eine Rolle (vor allem bei Kai und Bastian), allerdings distanzierten sich die Jugendlichen im Laufe ihrer Szenezugehörigkeit und mit fortschreitendem Alter überwiegend davon. Das Auftreten in der Öffentlichkeit ist insgesamt dezenter und unauffälliger, wobei die eigene Überzeugung nur noch für Gleichgesinnte anhand codierter Erkennungszeichen sichtbar wird.56 Auch wenn hier die Aufgabe extremer Kleidungsstile im Zuge des Erwachsenwerdens und teilweise auch eine beginnende Distanzierung von den subkulturell-rechtsextremistischen Zusammenhängen eine Rolle spielen mögen, wird der seit längerem vorangetriebene Imagewandel der Szene zur Infiltrierung der gesellschaftlichen Mitte deutlich. Auftreten und Kleidungsstil wurden in den Interviews von mehreren Jugendlichen explizit thematisiert, was eine fortlaufende Auseinandersetzung mit der Präsentation in der Öffentlichkeit innerhalb der Szene erkennen lässt, die bis weit in die jugendsubkulturellen Kontexte hineinreicht und die den (in Kapitel 1.1) erläuterten Einfluss des organisierten 56
Auch die Beobachtungen und gesammelten Erfahrungen in der Untersuchungsregion während der Feldphase bestätigen dieses Analyseergebnis.
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rechtsextremistischen Kerns bis in die Ausläufer der Szene in Form rechter Jugendcliquen unterstreicht. Schedler (2016, S.290) beschreibt die rechte Szene in seinen Ausführungen zur Bewegungsforschung treffend als „heterogenes Netzwerk von Gruppen und Organisationen“, das „langfristig und bundesweit“ agiert. Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass die auf den ersten Blick erkennbare äußere Erscheinung nur bedingt etwas über die Ausprägung der rechtsextremistischen Orientierung aussagt. Die Einstellung gegenüber Ausländern bzw. Menschen mit Migrationshintergrund war bei den Jugendlichen ganz unterschiedlich. So etikettiert Bastian sein Opfer bei der Beschreibung seiner Tatbeteiligung an einer schweren Körperverletzung abfällig als „Vietnamesenfrau“ (Interview Bastian 307). Andere betonen, dass sie vereinzelt auch Jugendliche mit Migrationshintergrund in ihrem Freundeskreis haben, die sie akzeptieren und mögen (vgl. Sommerfeld 2010, S.219; Becker 2008, S.308). Zum Teil wurde zwischen „guten“ Ausländern, sprich solchen, die angepasst, unauffällig und arbeitend in Deutschland leben und „schlechten“ Ausländern, also jenen, denen kriminelles und/oder unangepasstes Verhalten und der Bezug von staatlichen Leistungen zugeordnet wurde, unterschieden. Häufig spielten auch subjektive negative Erfahrungen und empfundene Konkurrenzsituationen eine Rolle, was die Ergebnisse von Würtz (2000) stützt, wonach der Grad der Ablehnung von Fremden stark mit dem der subjektiv empfundenen Benachteiligung zusammenhängt. So beschreibt beispielsweise Dennis negative Erfahrungen mit seinem italienischen Arbeitgeber sowie von ihm als unfair wahrgenommene Auseinandersetzungen mit türkischen Jugendlichen, die seine Abneigung gegen Ausländer verstärkt haben. Auslösendes Moment für Feindseligkeit war also nicht in jedem Fall eine angenommene rassistisch begründete Minderwertigkeit von Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft per se, sondern auch eine – von Möller/Schuhmacher (2007, S.19) als „interethnisches Konkurrenzerleben“ beschriebene – subjektiv empfundene Bedrohung der eigenen Lebenssituation, die teilweise auf real erlebte Auseinandersetzungen konkurrierender Jugendgruppen zurückging (vgl. Glaser/Schlimbach 2009, S.23f.), sowie Gefühle der Konkurrenz und Benachteiligung in Bezug auf die Verteilung von Lebenschancen. Die von Sommerfeld (2010) beschriebene, auf persönlichen Motiven beruhende Variabilität und Kontextabhängigkeit bei der Ablehnung von Ausländern bzw. Menschen mit Migrationshintergrund wurde bei den hier untersuchten Fällen teilweise wiedergefunden. Die Abneigung bezog sich in diesen Fällen auf Migranten, die aus Sicht der Jugendlichen negative Effekte auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben, sei es durch kriminelles Verhalten oder die Belastung des Staatshaushaltes durch
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das Beziehen von staatlichen Leistungen. Holger unterscheidet hier beispielsweise zwischen Ausländern, die sich um Arbeit bemühen und keine finden – diese kann er akzeptieren – und solchen, die seiner Meinung nach von vornherein auf den Bezug von Sozialleistungen aus sind. Sommerfeld (2010, S.228) spricht in diesem Zusammenhang von „(kollektiven) Bedrohungswahrnehmungen und Deprivationsempfindungen“, wobei die „Formulierung restriktiver politischer Ideen bezogen auf Ausländer […] eine Reaktion auf die als Schädigung der Eigengruppe bzw. als Angriff auf die soziale Identität erlebten Verhaltensmotive von Ausländern“ darstellt und die Jugendlichen sich aufgrund der von ihnen als ungerecht wahrgenommenen Realität mit ihrer Einstellung im Recht fühlen. Darüber hinaus wurden jedoch auch ideologisch begründete ablehnende Haltungen sichtbar. Bei Piet zum Beispiel fand sich eine rassistische Überhöhung der Deutschen in seinem Wertesystem, die mit einer Abwertung anderer Völker und Kulturen einhergeht. Er wünscht sich, dass „es hm nich allen menschen gut geht sondern dass es den deutschen gut geht“ (Piet, 1052-1053). Antisemitische Einstellungen wurden von den Jugendlichen nicht geäußert. Lediglich Peter trägt bewusst eine Kufiya („Pali-Tuch“) zu seiner unauffälligen schwarzen Kleidung. Er will sich mit seinem Kleidungsstil abheben und gleichzeitig bezüglich seiner optischen Einordnung als „links“ oder „rechts“ verwirren, da beide Lager das Tuch mit unterschiedlicher Bedeutung tragen (vgl. Albrecht u.a. 2012, S.224). Von den Jugendlichen angegebene Motive für ihre inhaltliche Zugehörigkeit zur rechten Szene sind eine starke Unzufriedenheit mit der Politik, die aus ihrer Sicht an den kleinen Leuten vorbeigeht und sie nicht wahrnimmt, während sich ihre Lebenssituationen (Arbeitslosigkeit, Rente, Verdienstmöglichkeiten) weiter verschlechtern, sowie Gefühle der Überfremdung und Bedrohung der eigenen Kultur und Sicherheit (vgl. hierzu Zick/Küpper 2016, S.89). Damit verbunden kommt bei einigen eine Chancen- und Perspektivlosigkeit zum Ausdruck, die die empfundene Konkurrenzsituation mit den aus ihrer Sicht hofierten und begünstigten Ausländern weiter begründet. Es besteht eine Sehnsucht nach einer klaren, am „kleinen Mann“ orientierten Führung, gesellschaftlichem Zusammenhalt, der in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus verklärt dargestellt wird, und nach Gerechtigkeit. Die Konfrontation mit der Zeit des Nationalsozialismus und der deutschen Schuld in schulischen und anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen empfinden die Jugendlichen als überholt und ungerechtfertigt, da sie persönlich mit der Vergangenheit nichts zu tun haben. Die rechte Szene bietet die Möglichkeit, Nationalstolz offen zu empfinden und auszudrücken, was den Deutschen aus Sicht der Jugendlichen aufgrund der Vergangenheit sonst nicht zugestanden wird.
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Weiterhin wurden auch mit einem übersteigerten Nationalismus verbundene Wünsche nach einer mit starker Hand geführten Volksgemeinschaft deutlich, was mit einer Ablehnung gleicher Lebenschancen und -rechte für alle Menschen einherging.
Abb. 19: Bildungshintergründe
Wie eingangs bereits beschrieben und aus Abb.19 ersichtlich, kamen die hier untersuchten Jugendlichen nicht aus bildungsfernen oder sozial schwachen Elternhäusern, was ein Zufallsergebnis ist, da der elterliche Bildungs- und Berufsstand kein Auswahlkriterium bei der Erhebung der Fälle darstellte. Es bestätigt jedoch den Befund von Möller/Schuhmacher (2007, S.168), die in ihrer Untersuchung ebenfalls eine starke ökonomische „Mittelklassebasierung des sozialen Hintergrundes der Befragten“ sowie einen hohen Beschäftigungsgrad der Eltern konstatieren. Bezüglich des Bildungshintergrundes zeigt sich ein Unterschied zwischen den beiden Jugendlichen, die aufgrund ihrer eigenen hohen Motivation schulisch/beruflich erfolgreich sind und deren Eltern ebenfalls in einer guten beruflichen Position sind und denen, die noch keinen Einstieg in oder konkreten Plan von ihrer beruflichen Zukunft haben: Ersteren ist die Gefährdung ihrer Zukunft durch delinquentes Verhalten bewusst und sie suchen deshalb eine strafrechtliche
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Verfolgung durch wohlüberlegte Handlungen und genaues Abwägen zu vermeiden. Ihre rechtsextremistische Orientierung ist deshalb jedoch keinesfalls geringer ausgeprägt. Im Gegenteil, bei Peter und Piet handelt es sich um diejenigen, deren Orientierung nicht nur sehr stark ist, sondern die sich auch besonders für politische Inhalte der rechten Szene interessieren und diese durch ihr Engagement unterstützen. Die hier untersuchten Fälle zeigen, dass Forschungsergebnisse, die eine Abnahme von rechten Orientierungen mit einem steigenden Bildungsgrad konstatieren (vgl. Krüger u.a. 2012, 2006, 2003; Kleinert 2004; Zick/Küpper 2016, S.98), relativiert werden müssen und eine Ausdifferenzierung wichtig ist. Die beiden Jugendlichen mit einem höheren Bildungsgrad wiesen die mit am stärksten ausgeprägten rechtsextremistischen Orientierungen auf. Sie waren gleichzeitig sehr an politischer Aktivität und Teilhabe interessiert, was die Ergebnisse von Oesterreich (2002) und Kleinert (2004) bestätigt, wonach ein höherer Bildungsgrad mit einem größeren Interesse für Politik einhergeht. Aus diesen Ergebnissen kann die These abgeleitet werden, dass der Bildungsgrad möglicherweise nicht entscheidend für die Entwicklung einer rechtsextremistischen Orientierung ist, wohl aber für das damit verbundene Verhalten und Auftreten, das wesentlich unauffälliger ist, sich an sozial erwünschtes Auftreten anpasst (vgl. Zick/Küpper 2016, S.98f.) und spätestens dann auf die Vermeidung von negativen Sanktionen abzielt, wenn erste Konsequenzen – wie beispielsweise bei Peter, der seine erste Lehrstelle aufgrund seines radikalen Auftretens verlor – spürbar waren. Dies lässt Rückschlüsse auf höhere Kompetenzen in Bezug auf Strategien der Selbstpräsentation aber auch der Einschätzung von Risiken zu. Salopp formuliert scheinen rechte Jugendliche mit niedrigerem Bildungsgrad stärker durch rechts-delinquentes Verhalten aufzufallen, wodurch sie in den gesellschaftlichen Fokus geraten, während sich rechte Jugendliche mit höherem Bildungsgrad eher in politisch-strategischen Zusammenhängen wiederfinden, in denen ein negatives (strafrechtliches) Auffallen zugunsten eines sauberen Images vermieden wird. 5.1.2 Einstiegsursachen, -hintergründe und -auslöser Im Hinblick auf den Einstieg der Jugendlichen in die rechte Szene gilt es zwischen ursächlichen Bedingungsgefügen und Einflussfaktoren z.B. durch die Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential sowie den tatsächlich einstiegsauslösenden Momenten, meist in Form eines positiv wahrgenommenen Kontaktes, zu unterscheiden. Bei allen Jugendlichen erfolgte der Anschluss an die rechte Szene im Zusammenhang mit sich krisenhaft zuspitzenden Ereignissen und Konstellationen ihres Lebens, die mit innerfamilialen und/oder schulischen Desintegrationserfahrungen verbunden waren. Dies stützt zwar die von Heitmeyer (1992) betonte
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Bedeutung von Desintegration, bezieht sich jedoch vor allem auf den sozio-emotionalen Bereich (vgl. Heitmeyer/Müller 1995, S.174f.) und nicht auf die meist rezipierten gesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen. Von Kai wurde hier eindrucksvoll das Motiv des „sich irgendwohin Rettens“ (vgl. 118) angeführt, das die von den Jugendlichen subjektiv empfundene Ausweglosigkeit und Belastung gut beschreibt. Entscheidend für die krisenhafte Zuspitzung war dabei jedoch nicht das Ereignis an sich, sondern die subjektive Wahrnehmung durch die Jugendlichen. Dadurch wird in der Gesamtschau eine Bandbreite von Problemlagen sichtbar, die in ihrer Art und Schwere sehr unterschiedlich ausfallen, für den betreffenden Jugendlichen zum jeweiligen Zeitpunkt jedoch seine Lebenssituation dominierten (vgl. Lützinger 2010, S.70ff.). Die sich hier ausdrückende Ohnmacht korrespondiert mit den Ergebnissen von Burkert (2012) sowie Sturzbecher/Landua (2001), die in ihren Untersuchungen die von rechtsextremistischen Jugendlichen häufiger angegebene subjektiv empfundene Machtlosigkeit in Bezug auf die Gestaltungsmöglichkeit ihnen wichtiger Lebensbereiche beschreiben. Weiterhin bestätigen die herausgearbeiteten Strukturen ein Untersuchungsergebnis von Möller (2000), wonach es vor allem subjektiv erlebte Gefühle der Benachteiligung und Frustration sind, die rechte Einstellungen begünstigen und weniger objektiv gegebene Faktoren. Oepke (2005, S.470f.) weist im Rahmen ihrer Untersuchungsergebnisse ebenfalls auf die Bedeutung persönlicher, als kaum kontrollierbar erlebte, Problemlagen hin, ebenso Köttig (2004, S.331ff.), die gleichzeitig die Rolle der Familie/Eltern betont. Auch Böttger (1998, S.267f.) stellt einen Zusammenhang zu aus Sicht der Jugendlichen kaum erfüllbaren Anforderungen im schulischen und familialen Bereich her, die mit Erfahrungen der Überforderung und des Scheiterns verbunden waren. Bei den Jugendlichen, bei denen auch die Mütter interviewt wurden, ließ sich in den Fallportraits besonders deutlich ein Konglomerat aus zeitnah auftretenden ungünstigen Faktoren herausarbeiten, die sich zu einer krisenhaften Aufschichtung von Verlaufskurvenpotential zuspitzten und schließlich eine Verlaufskurve auslösten (vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Heitmeyer/Müller 1995 S.125ff.). Diese Jugendlichen äußerten sich sehr offen und detailliert über krisenhafte Ereignisse und Probleme, was möglicherweise mit ihrer grundlegenden Bereitschaft, einen Einblick in ihre Familie zu erlauben, zusammenhängt. Bei den Einzelinterviews von Holger und Bastian dagegen blieben die Erzählungen über das Aufwachsen in der Familie vage, Nachfragen wurden nur knapp abgehandelt oder abgewehrt, was jedoch zu ihrer eher distanzierten Haltung ihren Eltern gegenüber passt. Peters Erzählung war von mehr Offenheit geprägt, wobei bei ihm ein tieferes Nachfragen nicht ratsam erschien.57 Die Ausgangssituation 57
Bastian war während des Interviews hochgradig offen aggressiv, was die Interviewführung massiv erschwerte und intensivere Nachfragen bei als heikel wahrgenommenen Themenbereichen
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kumulierter subjektiv belastender Lebensumstände zum bzw. vor dem Zeitpunkt des Einstiegs in die rechte Szene sowie der Erstkontakt sind in Abb.20 zusammengefasst: In der Zusammenschau sticht neben biografisch-familialen Belastungen die Bedeutung schulischer Problematiken hervor, was eine weitere Sensibilisierung der Schule für die entsprechenden Prozesse nötig macht (vgl. Krüger/Pfaff 2002, S.84f.; Neumann u.a. 2002, S.239f.; Kraus/Mathes 2010, S.84ff.; Burkert 2012, S.175; Möller/Schuhmacher 2007, S.20f.). Dabei ging es neben negativen Erfahrungen aufgrund von Leistungsschwierigkeiten und randständigen Positionen innerhalb der Schulgemeinschaft auch um schulische Wechsel, die von den Jugendlichen schlecht verkraftet wurden, da sie sich nicht genügend begleitet fühlten. Die rekonstruierten subjektiv belastenden Lebensumstände der Jugendlichen lassen sich zu emotionalen Ausgangslagen verdichten, die die Suche nach und Offenheit für neue rückhaltversprechende soziale/jugendkulturelle Einbindungen begründen und erkennen lassen, welche Funktion der Anschluss an die rechte Szene für die Jugendlichen hatte. Entscheidend ist hier, dass die sich Jugendlichen durch die Selbstpräsentation der Szene und die darüber vermittelten Strukturen von Spaß, Zusammenhalt, Respekt und Freizeiterleben, aber auch der Möglichkeit, Aggressionen auszuleben und dafür sogar positive Resonanz zu bekommen, emotional angesprochen fühlten. Sie bot damit einen Ausweg aus der als unbefriedigend und belastend erlebten Lebenssituation. Die hohe Bedeutung sozialer und emotionaler Aspekte für den Anschluss an eine rechte Gruppierung wird auch bei Borstel (2011, S.298ff.) betont. Bezüglich der von ihm unterschiedenen Einstiegsmuster – über die Familie, die Peers oder im Zuge einer systemkritischen Suche nach Alternativen – kann festgestellt werden, dass der (seltene) Einstieg über ein Aufwachsen in einer rechtsextremistisch orientierten Familie bei den hier untersuchten Fällen nicht aufgefunden wurde.
nahezu unmöglich machte. Peter vermittelte wiederum bereits beim Vorgespräch den Eindruck eines Pulverfasses, das jederzeit explodieren könnte. Trotz seiner höflichen und ruhigen Art war seine im Inneren verborgene starke Aggression deutlich spürbar und musste von ihm bei ihm unangenehmen Themen und Situationen sichtbar mühsam unterdrückt werden. Diese Aggression wird von ihm selbst in der Erzählung angedeutet – er beschreibt dort, dass seine Freunde ihn in Momenten, in denen er sich gereizt fühlt, absolut in Ruhe lassen, damit er die Kontrolle nicht verliert (646-653). Da Peter während des Interviews bewaffnet war, gebot sich eine besonders sensible Interviewführung, bei der Nachfragen geschickt eingeflochten und abgewogen wurden.
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Abb. 20: Ausgangssituation der Lebensumstände
Eine schleichende und teilweise unbemerkte rechtsextremistische Indoktrinierung im Anschluss an den Einstieg in eine rechte Clique findet sich bei Holger, Dennis, Kai und Piet. Peter und Bastian scheinen bewusst auf der Suche nach Alternativen zu ihrem bisherigen Peerzusammenhang gewesen zu sein, wobei hierfür eher persönliche Motive eine Rolle spielten, die mit unbefriedigenden Beziehungen und Desintegrationserfahrungen einhergingen und weniger auf den von Borstel beschriebenen gesellschafts- und systemkritischen Haltungen fußten. Die bei den Jugendlichen rekonstruierten emotionalen Ausgangslagen bzw. Motivationen zeigt Abb.21 in stark verdichteter Form.
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Abb. 21: rekonstruierte emotionale Ausgangslagen bzw. Motivationen
Hinsichtlich der viel diskutierten Frage nach den Einflüssen und der Bedeutung von Familie und Peers lässt sich konstatieren, dass bei den hier untersuchten Fällen die familiale Situation eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von subjektiv empfundenen Problemlagen und krisenhaften Zuspitzungen spielte, die bei den Jugendlichen die Bereitschaft zu einem Anschluss an eine starke, Anerkennung und Zusammenhalt versprechende Jugendclique begründete. Meist lag zumindest ein Teil der problematischen Konstellationen in der Familie selbst oder aber die Jugendlichen empfanden nicht genügend Rückhalt bei der Bewältigung von Schwierigkeiten in anderen Lebensbereichen, vor allem der Schule. Erdrückend und unaushaltbar erlebten die Jugendlichen nicht nur das Problem an sich, sondern vor allem den empfundenen Mangel an Aufmerksamkeit, Verständnis und eine für ihre jeweilige Persönlichkeit passende Bezugnahme (vgl. Lützinger 2010, S.21f.). Es fehlte die für den jeweiligen Jugendlichen individuell passende Hilfe nahestehender Personen beim Finden eines möglichen Ausweges oder zumindest die Erfahrung von Erleichterung in Form emotionalen Rückhaltes. Das Gefühl akzeptiert, verstanden und angenommen zu werden, wurde dann durch die Szene geboten und verband sich mit der Chance auf ein neu gewonnenes Selbstbewusstsein. Für den Prozess des Einstiegs selbst waren wiederum die Peers entscheidend (vgl. Krüger u.a. 2012, S.270f.; Schuhmacher 2011, S.267), die auch im Laufe
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des Weges tiefer in die Szene hinein eine bedeutende Rolle spielten, während die Familie zu diesem Zeitpunkt an Einfluss verlor (vgl. Möller 2012, S.197). Dies ist jedoch nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einer per se abnehmenden Bindung, sondern begründet sich darüber, dass die Jugendlichen in der rechten Szene etwas fanden, was ihnen in ihrem Alltagsleben verwehrt blieb und fehlte. Die rechte Clique/Szene stellte somit in diesem Moment eine für die Jugendlichen mit subjektiv positiv ausgleichenden Effekten verbundene Alternative zu ihrer bis dato unbefriedigenden Lebenssituation dar. Der konkrete Einstieg erfolgte bei Holger, Dennis, Kai und Piet über einen als besonders vertrauenswürdig beschriebenen Freund bzw. eine Freundin, wobei die Musik einschlägiger Bands eine große Rolle spielte (vgl. Möller 2012, S.204; Möller/Schuhmacher 2007, S.504f.; Pfeil 2016, S.118ff.). Bei Peter war die Begegnung mit seinem von ihm aufgrund seines Wissens als Autorität anerkannten Gastwirt ausschlaggebend für sein Engagement bei den Republikanern. Der Einstiegsmoment in die Szene an sich konnte in seinem Fall nicht aus dem Material rekonstruiert werden. Bastian beschreibt seinen ersten Kontakt als selbstinitiiert und bewusst gewählt. Die Einstiegsprozesse der Jugendlichen waren darüber hinaus mit ganz unterschiedlichen Grundhaltungen zur rechtsextremistischen Ideologie an sich verbunden. Während Kai und Dennis ihren Einstieg als eine Art „Reinrutschen“ begreifen, dem keine bewusst gewählte Haltung oder zumindest reflektierte Auseinandersetzung mit den thematischen Inhalten der Szene vorausging (vgl. hierzu Schuhmacher 2011, S.269; Möller 2012, S.205f.; Schedler 2016, S.305ff.), scheint bei Bastian ein Interesse an rechtsextremistischen Haltungen vorangegangen zu sein. Bei Piet folgte dem Moment des „Reinrutschens“ eine thematische Auseinandersetzung, die in der Übernahme einer rechtsextremistischen Ideologie und der Gründung einer eigenen Kameradschaft mündete (vgl. hierzu den „Typ 1“ bei Quent 2016, S.310f.). Holger dagegen hielt Jugendliche, die der rechten Szene angehörten, für „runtergekommen“ (vgl. Interview Holger, 266) bis er sich im Zusammenhang mit einer persönlichen Krise und einer wiedergetroffenen Bekannten aus Kindertagen vom Gegenteil überzeugen ließ. Auffallend war die hohe Bedeutung von Musik58 und auch von älteren Jugendlichen, die die Einführung und Schulung neu in die Clique oder die jeweilige 58
Glaser/Schlimbach (2009, S.25ff.) konnten in ihrer Untersuchung nur für einen kleinen Teil der Befragten eine ausschlaggebende Funktion rechtsextremistischer Musik für den Szeneeinstieg feststellen. Hier gilt es jedoch wieder zwischen dem aufgezeigten multifaktoriellen Bedingungsgefüge im Vorfeld des Einstiegs und den im Zusammenhang mit den Peers tatsächlichen ersten Kontakten zu unterscheiden, bei denen Musik eine Schlüsselfunktion als „entscheidende(s) Kriterium jugendkultureller Identitätsbildung“ (Möller/Schuhmacher 2007, S.504) inne haben kann. Die Musik mag somit kein Einstiegsgrund an sich sein, wohl aber ein Faktor, der die Attraktivität der „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ (Glaser/Pfeiffer 2009) massiv erhöht.
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Organisationsform aufgenommener Mitglieder übernahmen (vgl. Pfeiffer 2013, S.44; Wörner-Schnappert 2013, S.120; Becker 2008, S. 190ff.; Hafeneger/Jansen 2001, S.229; Pfeil 2016, S.196f.). Möller/Schuhmacher (2007) konstatieren in ihrer Untersuchung eine wesentliche Funktion älterer Szenemitglieder bei der Vermittlung von Inhalten und Positionen, aber auch bei der Strukturierung von „Handlungs- und Erfahrungsräumen“ (ebd. S.283). Die Darstellung der für den Einstieg relevanten Freunde bzw. auch der älteren Mitglieder als besonders vertrauenswürdig und respektabel, begründet die Akzeptanz und auch Neugier gegenüber den von ihnen propagierten rechtsextremistischen Inhalten. Maßgebend für die Jugendlichen war oft die gute persönliche Beziehung, die die vermittelte Ideologie erst bedenkens- und annehmenswert erscheinen ließ. So fand beispielsweise Holger „alle total nett (..) nu (.) konnte mit denen über alles reden (.) das fand ich eijentlich richtich jut (…)“ (Interview mit Holger, 274-275). Dazu kam das als positiv empfundene Gefühl, dem Gegenüber die entgegengebrachte Aufmerksamkeit wert zu sein, ernst genommen und respektiert zu werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass bei den hier untersuchten Fällen subjektiv belastende, mit familialen und schulischen Desintegrationserfahrungen verbundene Lebensumstände aufgefunden wurden, über die sich der Drang nach einer Rückhalt und Anerkennung versprechenden Einbindung in eine Gemeinschaft und die Offenheit für die rechte Szene begründete (vgl. hierzu die Ergebnisse von Lützinger 2010, S.43ff.). Der Einstieg selbst erfolgte über andere, als vertrauenswürdig wahrgenommene und teilweise ältere Jugendliche, wobei einschlägig radikale Musik eine nicht unwesentliche Rolle spielte, da sie die Jugendlichen emotional ansprach und ein dem Jugendalter nahestehendes Gefühl der Rebellion vermittelte. Auch eine gewisse Zufälligkeit der Begegnung ist zu konstatieren, die bei den Jugendlichen aufgrund ihrer persönlichen Umstände jedoch zu einem entscheidenden Wendepunkt ihres bisherigen Lebens führte. Zur viel diskutierten Frage danach, ob die Familie oder die Peers den entscheidenden Einfluss haben (vgl. Krüger/Pfaff 2006; Oepke 2005), ist festzuhalten, dass beide eine wesentliche Rolle spielen, die sich jedoch auf unterschiedliche Momente bzw. Aspekte der Entwicklung einer rechtsextremistischen Orientierung bezieht. Der von Möller (2000, S. 319) beschriebene stärkere Einfluss der Peers muss deshalb dahingehend relativiert werden, dass dieser nicht nur mit den „Familienerfahrungen […] in inhaltlichem Zusammenhang“ steht, sondern sich auch daraus ergibt. 5.1.3 Rechtsextremistische Karrieren und mögliche Distanzierungstendenzen Der weitere Weg verlief nach dem Einstieg in die Szene zunächst bei allen Jugendlichen ähnlich. Es kam zu einer subjektiv empfundenen Verbesserung der
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Lebenssituation, wie sie auch bei Schuhmacher (2011, S.275) beschrieben wird. Die Jugendlichen waren wieder wer, empfanden Rückhalt, Stärke und ein neues Selbstbewusstsein, wobei die propagierte Kameradschaft sowie die Möglichkeit, sich gegen andere Jugendliche zur Wehr zu setzen, eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Darüber hinaus konnten die Jugendlichen ihre subjektiven und z.T. lange unterdrückten Frustrationen und Aggressionen durch die Übernahme einfacher Feindbilder ausagieren, was zu einem Gefühl der Erleichterung beitrug. Sie befreiten sich ihrer Wahrnehmung nach aus ihren Außenseiterrollen, entweder, in dem sie sich in ihrem schulischen und/oder Peer-Umfeld durch das Auftreten in der Gruppe und die damit auch verbundene körperliche Überlegenheit Respekt verschafften (Kai, Dennis, Piet, Peter) oder in dem sie sich aus diesen Zusammenhängen soweit wie möglich zurückzogen und sich auf ihre Freunde innerhalb der Szene konzentrierten (Holger, Bastian). Darüber hinaus spielte auch die gemeinsame Freizeitgestaltung mit den neuen Kumpels eine wesentliche Rolle für die zunehmende Anbindung (vgl. Pfeiffer 2013, S.44). Im weiteren Verlauf kam es jedoch dann zu ganz unterschiedlichen Entwicklungen. Einen Überblick über die persönliche Situation und den aktuellen Status bzgl. der Szenezugehörigkeit bietet Abbildung 22. Auf der Einstellungsebene kam es vor allem bei Peter und Piet zu einer zunehmenden mit dem Interesse an politischen Zusammenhängen verbundenen Ideologisierung, die bei den anderen vier Jugendlichen so nicht rekonstruiert werden konnte. Zwar durchliefen auch Kai und Bastian eine massive Radikalisierung, diese spielte sich aber eher auf einer emotionalen Ebene des „blinden Hasses“ und einem damit einhergehenden massiven Verhalten ab und betraf weniger eine an politisch-ideologischen Inhalten orientierte Dimension. Dies bestätigt die Einschätzung von Birsl (2011, S.246), wonach sich erst im weiteren Verlauf von Jugendphase und Adoleszenz entscheidet, ob sich die diffusen Orientierungen der Einstiegsphase zu einer manifesten rechtsextremistischen Einstellung verdichten. Während sich die kurze Phase der Stabilisation bei Kai, Dennis und Bastian als trügerisch erwies und sie in eine Abwärtsspirale aus kumulierendem delinquenten Verhalten gerieten, aus dem sie sich kaum befreien konnten, scheint bei Peter und Piet ein Wandlungsprozess ausgelöst worden zu sein, der zu einem starken Engagement im schulischen/beruflichen Bereich und dem unbedingten Willen, etwas zu erreichen, geführt hat.59 Obwohl beide sehr stark in die rechte Szene eingebunden sind und eine manifeste Orientierung entwickelt haben, gelang es ihnen, die Kontrolle zu behalten und eine Strafverfolgung durch 59
Möller/Schuhmacher (2007, S.21) stellten in ihrer Untersuchung ebenfalls fest, dass die Zugehörigkeit zur rechten Szene auch mit einer „erhöhte Bereitschaft zu individueller Leistung“ im schulischen Bereich verbunden sein kann, die sie mit „dem Gedanken, einer Art Elite anzugehören“ begründen.
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geschicktes Verhalten sowie genaues Abwägen strafrechtlich relevanten Verhaltens zu vermeiden. Peter stellte nach einer straftatreichen und exzessiven Zeit fest, dass seine Zukunft gefährdet ist und initiierte den Übergang in Richtung eines taktischen, sich moderat gebenden, aber politisch aktiven Rechtsextremismus. Beide Jugendliche sind strafrechtlich noch nicht verfolgt worden und arbeiten an der Umsetzung ihrer beruflichen und politischen Ziele. Anders sieht es bei Dennis, Kai und Bastian aus. Sie gerieten in einen gefährlichen Strudel aus Alkohol, Aggression und Gewalt, den sie immer weniger kontrollieren konnten und der ihr bürgerliches Leben nahezu völlig zerstörte. Während Dennis und Bastian die Schule noch mit Abschluss beendeten und eine Ausbildung absolvierten, stürzte Kai bereits während der Schulzeit so massiv ab, dass er ohne Abschluss abging. Alle drei wurden letztlich nur durch verhängte oder drohende Haftstrafen aufgehalten, die zumindest eine vorübergehende praktische Distanzierung von ihren Szenezusammenhängen erzwangen. Holger wiederum geriet bislang nicht in eine delinquente Karriere, da er sich von einer stark innerhalb der Szene aktiven Gruppierung nach kurzer Zeit wieder distanzierte und sich einer gemäßigteren Clique anschloss, die kaum delinquent in Erscheinung tritt. Bei ihm zeigt sich schließlich ein Stillstand bezüglich seiner weiteren Entwicklung – er findet keinen Ausbildungsplatz und ist aufgrund mangelnder Alternativen der Alltagsgestaltung auf seine rechten Freunde angewiesen. Bei ihm sind weder Distanzierungstendenzen noch eine weitere Radikalisierung zu erkennen. Die massiv negativ spürbaren (strafrechtlichen) Konsequenzen, die ihre Vorstellungen und Träume von ihrem zukünftigen Leben gefährden, haben letztlich bei Kai und Dennis einen Prozess des Nachdenkens ausgelöst. Kai brauchte den äußeren Impuls durch formale Instanzen sozialer Kontrolle, da er es aus eigener Kraft nicht mehr schaffte, die Spirale aus Alkohol, Gewalt und rechtsextremistischem Verhalten zu durchbrechen. Seine diesbezüglichen Versuche scheiterten wiederholt. Das Verbüßen seiner Strafe in der Haftanstalt schaffte den nötigen Abstand, der es ihm ermöglichte, sein Leben in Ruhe zu überdenken. Getrennt von der Szene kann Kai sein Verhalten der letzten Jahre nur noch schwer nachvollziehen: „man kann sich das selber jar nich mehr erklärn aus welchen aus welcher verzweiflung raus das janze passiert is und (.) was mer (.) sich dabei jedacht hat“ (393-394). Der Fall Kai bestätigt die von Rommelspacher (2006) und Möller/Schuhmacher (2006) aufgefundene Wirksamkeit von Haftstrafen bei Jugendlichen, die bereits erste Zweifel an der Szene und damit verbundene Distanzierungsgedanken hegen. Auch bei Dennis werden Distanzierungstendenzen sichtbar. Er weiß, dass er sich aus der Szene zurückziehen muss, wenn er ein weiteres Abrutschen in eine
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Abb. 22: Situation und Status zum Zeitpunkt des Interviews
delinquente Karriere vermeiden will. Entscheidend bei beiden ist, dass der Grund für ihre Verstrickung in eine rechts-delinquente Karriere nicht auf eine manifeste rechtsextremistische Orientierung zurückzuführen ist, die sie konsequent verfolgten, sondern auf persönliche Verzweiflung an den eigenen Lebensumständen in Verbindung mit gruppendynamischen Prozessen, bei der Alkohol und der Halt einer vertrauten Freundesgruppe die entscheidende Rolle spielten. Das rechtsextremistische Verhalten scheint vor allem bei Dennis, aber durchaus auch bei Kai eine Ausdrucksform zu sein, mittels derer sie ihre Frustrationen ausagieren können. Hierin liegt auch der Fallstrick, der bei beiden zu einem Scheitern ihrer Distanzierungsbemühungen führen könnte. Erst die Zukunft wird zeigen, ob es ihnen gelingt, sich von ihren vertrauten Freunden und Kameraden fernzuhalten und sich ein alternatives Leben aufzubauen. Der Unterschied zu Bastian, der ebenfalls seit Längerem eine Haftstrafe verbüßt, besteht darin, dass letzterer seiner deutlich rechtsextremistischen Orientierung und der damit verbundenen Einbindung in die Szene treu bleiben will. Zwar toleriert Bastian inzwischen auch wieder Leute in seinem Freundeskreis, die seine rechtsextremistische Orientierung nicht teilen. Ein Prozess der inhaltlichen Auseinandersetzung oder Distanzierungstendenzen in Bezug auf die Szene waren jedoch nicht zu erkennen. Die Auseinandersetzung mit seinem „kleenen absturz“ (276) bezieht sich ausdrücklich nur auf die innerhalb der Szene begangenen Gewalt- und andere Straftaten, da sie mit stark negativ besetzten
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Konsequenzen (Haftstrafe) verbunden sind, was er mittlerweile durchaus als Gefährdung für den Aufbau einer erfolgreichen persönlichen Zukunft begreift. 5.1.4 Fazit: Orientierungsmuster und Typenbildung Durch die bei der Analyse der Interviews aufgefundenen komplexen Zusammenhänge ist deutlich geworden, dass eine Unterscheidung zwischen den Ebenen Einstellung, (strafrechtlich relevantes) Verhalten und Organisation sinnvoll ist, da diese drei Komponenten die Ausprägung eines rechtsextremistischen Orientierungsmusters bestimmen. Zunächst ist also die Einstellungsebene festzuhalten, wobei sich die hier untersuchten Fälle zwischen einer hauptsächlich emotional unterlegten, teilweise aus negativen Alltagserfahrungen und eigener Frustration resultierenden, diffus-ideologischen Orientierung und einer im engeren Sinne politisch ausgerichteten Denkweise bewegen, die stark ideologisch begründet ist. Die Übergänge sind dabei aufgrund der Prozesshaftigkeit fließend. Die Jugendlichen, bei denen eher eine emotional-diffuse Orientierung sichtbar wurde, zeigten sich weniger an Hintergründen und politischen Inhalten interessiert. Ihr Wissen über die politische Richtung, die sie vertreten, sowie historische Zusammenhänge ist eher gering und verworren. Sie beschrieben kaum ernsthafte Aktivitäten, die auf ein Interesse an einer ideologischen Weiterentwicklung ihrer Einstellung durch Schulungen oder anderweitige Materialien der Wissensgewinnung schließen lassen. Meinungen zur aktuellen staatlichen Politik und subjektiv wahrgenommenen Problemen werden vielmehr, wenn überhaupt, innerhalb der Clique diskutiert und bleiben auf der Ebene einfacher Feindbilder (Ausländer, Staat, System), mittels derer aufgestaute Frustrationen ausagiert werden können. Bei einer eher ideologisch-intellektuell orientierten Einstellung stand die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten, die Verwirklichung politischer Ziele und der Wunsch nach einer bedeutsamen Position innerhalb der örtlichen rechtsextremistischen Szene stärker im Vordergrund. So ärgert sich Piet über das geringe Interesse seiner Kameraden an Schulungen sowie ihre mangelnde Ernsthaftigkeit. Peter hat in einem Gastwirt ein Vorbild gefunden, an dem er sich inhaltlich stark orientiert und dem er glaubt, weil er „nur de wahrheit“ sagt (Interview Peter, 570). Bei diesen Jugendlichen steht der Wunsch, etwas für die und innerhalb der Szene erreichen zu wollen, im Vordergrund. Dabei sind sie bereit, die Autorität eines ihnen aus ihrer Sicht überlegenen Anderen anzuerkennen, wenn sie von seinem Wissen und seiner Persönlichkeit überzeugt sind. Sie interessieren sich für Politik und setzen sich mit den in der Gesellschaft herrschenden Verhältnissen auseinander. Peter zum Beispiel findet Politik „is n wichtiges thema […] weil s geht ja um einen selbst persönlich auch“ (Interview Peter, 440441).
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Die zweite zu unterscheidende Ebene betrifft das unmittelbare (strafrechtlich relevante) rechtsextremistische Verhalten, worunter hier u.a. negatives, aggressives Vorgehen gegen abgelehnte Bevölkerungsgruppen in jeglicher Ausprägung, sämtliche Handlungen gegen die demokratische Grundordnung der Gesellschaft sowie das Verbreiten und zelebrieren rechtsextremistischen Gedankenguts (mittels Musik, Ritualen, Propagandamaterial u.ä.) verstanden wird. Die dritte Ebene betrifft den Grad der Organisation in Strukturen der rechten Szene, der stark mit der Einstellungsebene verknüpft ist, aber nur bedingt mit strafrechtlich verfolgtem unmittelbarem Verhalten und aufzeigt, inwieweit der jeweilige Jugendliche für die Szene aktiv ist. Aus den erstellten Kategorien konnte für die untersuchten Jugendlichen eine Einstufung abgeleitet werden, die zwischen den Stufen gering, mittel, stark und sehr stark unterscheidet (Abb.23). Beim Vergleich des rechtsextremistischen Verhaltens zeigt sich anhand des Falls Dennis, dass eine hohe strafrechtliche Relevanz nicht zwangsläufig mit einer manifesten Einstellung einhergehen muss, sondern auch bei einer schwächer ausgeprägten diffusen Orientierung im Rahmen der Zugehörigkeit zu einer delinquenten rechten Clique auftreten kann. Umgekehrt ist ein bislang überwiegend unauffällig gebliebenes Verhalten kein Indikator für eine geringere Ausprägung der rechtsextremistischen Orientierung wie die Fälle Piet und Peter zeigen. Interessant ist, dass es bei drei Jugendlichen trotz begangener Straftaten zu keiner Strafverfolgung gekommen ist, da ihre Taten oder ihre Tatbeteiligung den Behörden nicht bekannt wurden.
Abb. 23: persönliche Einstellung, Verhalten und Grad der Organisation
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Im Fall von Holger erfolgte durch den geschädigten Jugendlichen keine Anzeige, der Polizei wurde die begangene Körperverletzung also nicht bekannt. Von Piets Mutter wurden kleinere Delikte angedeutet, er wurde jedoch ebenfalls nicht „erwischt“ und bei Peter gelang die Vertuschung der begangenen Anschläge, so dass er nicht mit ihnen in Verbindung gebracht wurde.60 Anhand der Rekonstruktion der biografischen Verläufe können folgende Ergebnisse der Gruppe um Heitmeyer (1992) bzw. von Möller (2000) bestätigt werden:
das Umschlagen erlebter Ohnmachtserfahrungen in (zumindest partielle) Gewaltakzeptanz, die Suche nach Gewissheit aufgrund erfahrener Handlungsunsicherheit. Der Einstieg in die rechte Szene erfolgte im Zusammenhang mit einer Identitätskrise oder zumindest in einer zugespitzten Krisensituation und hat somit auch eine identitätsbildende bzw. -erhaltende Funktion.
In der Gesamtschau bemerkenswert ist, dass alle untersuchten Jugendlichen subjektiv empfundene sozio-emotionale Desintegrationserfahrungen im Zusammenhang mit der Familie und/oder Schule sowie Gefühle des Ausgeschlossenund Alleinseins beschreiben, sich in einer krisenhaften Situation befanden und die rechte Szene zum Zeitpunkt des ersten Kontaktes eine Art Anker- und Rettungspunkt darstellte. Je nach Problemlage fungierte die rechte Clique als eine Ersatzgemeinschaft für die Klassen bzw. Schulgemeinschaft oder übernahm quasi-familiale emotionale Rückhalte- und Hilfefunktionen für die Jugendlichen. Sie bot weiterhin die Möglichkeit, sich von anderen abzuheben und subjektive Frustrationen auszuagieren. Das multifaktorielle Bedingungsgefüge aus biografischen Ereignissen sowie familialen und schulischen Komponenten löste bei den Jugendlichen eine Art Suchhaltung und die Bereitschaft aus, sich einem neuen, haltversprechenden zwischenmenschlichen Zusammenhang anzuschließen. Die Übernahme einer rechtsextremistischen Ideologie war diesem Anschluss eher nachgeordnet. Im Zuge des Einstiegs in die rechte Szene stieg der Einfluss der Peers massiv an, während der der Eltern sank. Anhand dieser Erkenntnisse kann die These gewagt werden, dass das Erkennen der persönlichen Belastungen und Probleme des jeweiligen Jugendlichen und eine adäquate Reaktion in Form von Beistand und Hilfe, die Hinwendung zur rechten Szene vielleicht hätte verhindern können. 60
Bei Kai wurde hier auf die Zeit vor dem Einsetzen seines Distanzierungsprozesses rekurriert.
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Hier ist neben den Eltern insbesondere die Schule im Hinblick auf eine sensiblere Wahrnehmung der Situationen und Entwicklungen ihrer SchülerInnen gefragt. Aufgrund der häufig an sich schon stark belasteten Arbeitssituation von LehrerInnen eine große Herausforderung, die nur mittels einer optimierten Vernetzung zwischen Schule, Elternhaus und Jugendhilfe bewältigt werden kann. Trotz dieser grundlegenden Gemeinsamkeit sowie der kleinen Fallzahl kristallisierten sich bei der fallübergreifenden Analyse der rekonstruierten Einzelfallergebnisse zwei unterschiedliche Typen von rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen heraus. Diese ermöglichen mittels der aufgefundenen Muster interessante Einblicke in Hintergründe und Motivation der jeweiligen Jugendlichen und bieten damit auch Hinweise für pädagogische Ansatzpunkte. Die Typisierung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, da eine theoretische Sättigung aufgrund der Fokussierung der Studie auf eine intensive Einzelfallanalyse anhand der Triangulation nicht im Vordergrund stand, soll aber dennoch gewagt werden. Typ1 – Der emotional-subkulturelle Bei den Jugendlichen des Typ 1 – dazu gehören Dennis, Holger, Kai und Bastian – wird in Bezug auf die rechtsextremistische Einstellung eher diffus-emotional argumentiert. So resultiert die häufig angeführte Ablehnung von anderen (andere Jugendsubkulturen, Migranten, etc.) sowie die Kritik an Staat und Politik nicht nur aus ideologischen Motiven sondern auch stark aus subjektiv frustrierenden Alltagserlebnissen und dem Gefühl der eigenen Benachteiligung innerhalb der Gesellschaft und/oder des privaten Umfeldes. Die Jugendlichen unterscheiden sich bezüglich ihrer Bildungsabschlüsse, die vom fehlenden Schulabschluss bis zum erweiterten Realschulabschluss reichen, weisen jedoch die Gemeinsamkeit auf, dass es ihnen bislang, wenn überhaupt, nur teilweise gelungen ist, einen Einstieg in eine berufliche Karriere zu finden und den Übergang von der Jugendphase in das Erwachsenenleben erfolgreich zu meistern. Sie treiben vielmehr mehr oder weniger orientierungslos in ihrem jugendlichen Moratorium und haben trotz ihres Alters sowie der bis auf bei Kai vorhandenen Schulabschlüsse und in zwei Fällen abgeschlossenen Ausbildungen noch keinen Einstieg in eine Erwachsenenrolle gefunden. Alle vier haben den Haushalt der Eltern noch nicht endgültig verlassen oder sind wieder in ihn zurückgekehrt (Dennis). Die rechtsextremistische Einstellung ist bei diesen Jugendlichen unterschiedlich stark ausgeprägt und korrespondiert nur bedingt mit der Intensität ihres Verhaltens, das zum Teil wesentlich radikaler ausfällt, als die politische Dimension ihrer diffusen Meinungen und Gestimmtheiten. Drei von ihnen sind bereits mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. So verbüßen Kai und Bastian eine Haftstrafe, bei Dennis steht ein Urteil noch aus. Lediglich Holger scheint noch
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keine Berührung mit Polizei und Justiz gehabt zu haben, aber auch er hat schon mindestens eine schwere Körperverletzung begangen. Die begangenen Straftaten reichen von Propagandadelikten und Fällen der Volksverhetzung bis hin zu schwerer Körperverletzung und der Bedrohung mit Schusswaffen. Sie wurden überwiegend spontan, häufig unter Alkoholeinfluss und aus der Gruppe heraus begangen, was die Einschätzung des Verfassungsschutzes (BMI 2013, S.71), der subkulturelle Zusammenhänge bei der Begehung von einschlägigen Gewalttaten weit vorne sieht, bestätigt. Im Vordergrund bei Jugendlichen dieses Typs stehen Emotionen (Wut, Hass, Verzweiflung), die vor allem in Momenten der Tatbegehung unkontrolliert zum Ausbruch kommen, wobei Alkohol als Enthemmer eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Der Organisationsgrad fällt sehr unterschiedlich aus und reicht von der Zugehörigkeit zu einer rechten Clique bis zur Mitgliedschaft in Kameradschaften und einer stark gewaltbereiten extremistischen Untergrundorganisation. Das verbindende Element ist die mit einem geringen Interesse an einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit politischen Inhalten verbundene Emotionalität über die sich der Rechtsextremismus hier begründet. So bewegt sich auch der subjektive Nutzen, den die Jugendlichen aus ihrer Zugehörigkeit zur Szene ziehen, stark auf der emotionalen Beziehungsebene: Sie suchen nach Halt, Anerkennung und Zugehörigkeit. Das gemeinsame Freizeiterleben steht im Vordergrund, was die Beteiligung an politischen Aktionen der Szene jedoch nicht ausschließt, die durchaus hoch sein kann (Kai und Bastian). Aktionen werden jedoch eher von Führungspersönlichkeiten der Szene angeregt und von ihnen als Mitläufer loyal umgesetzt. Die Jugendlichen nehmen trotz ihrer zum Teil starken Involvierung in die Szene selbst keine Führungsposition ein. Sogar Kai, der tief in der rechten Szene verankert war, ließ sich überwiegend instrumentalisieren, weil er um jeden Preis dazugehören wollte. Auch bei ihm basierte sein Engagement in der Szene nicht auf einem intellektuell durchdachten, geschlossenen rechtsextremistischen Weltbild, sondern auf einer Art unbändigen Wut und Hass sowie einem durch Alkohol bedingten totalen Kontrollverlust. Die politische Dimension ihres Verhaltens scheint bei diesen Jugendlichen inhaltlich nur wenig gefüllt zu sein. Die aktuelle Politik wird abgelehnt, erscheint ihnen abstrakt und aus ihrer Position heraus kaum beeinflussbar, wodurch die Szene eine quasi revolutionäre Qualität zur Befreiung aus den aktuellen Zuständen gewinnt. Ihr Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus ist dünn und durch die Agitation der Szene, die auch weit in rechte Jugendcliquen hineinreicht, ideologisch verklärt. Die Jugendlichen fühlen sich in ihrer Welt des „kleinen Mannes“ durch die Politik nicht wahrgenommen und sehnen sich nach einer klaren und gerechten, am einfachen Volk orientierten Führung, die jedoch durchaus eine demokratische sein darf (vgl. Heitmeyer/Müller 1995, S.142f.). So
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schwankt beispielsweise Dennis in seiner Argumentation zu Hitler zwischen „brezdämlicher mensch“ (402) und der Sehnsucht nach einer starken Führerfigur: „der war nicht dumm“ (393), „der hat es wirklich soweit jebracht das alle da standen (.) tja (.) warum kann das heutzutage nich klappen“ (Interview mit Dennis, 403-404). Eine Motivation für die Zugehörigkeit zur rechten Szene ist somit in subjektiv erlebten Gefühlen der Macht- und Perspektivlosigkeit sowie des Gefangen-Seins in den eigenen Verhältnissen zu sehen. Die Jugendlichen erfahren in der Szene, dass ihre subjektiven Frustrationen geteilt werden, mittels einfacher Feindbilder abgebaut werden können und bekommen die Orientierung, die ihnen im Alltagsleben fehlt. Sie haben im Zusammenhang mit ihrer jeweiligen rechtsextremistischen Organisationsform die Möglichkeit, die durch die subjektiv erlebten Desintegrationserfahrungen aufgestauten Emotionen in der Gemeinschaft mit anderen auszuleben und sie in etwas aus ihrer Sicht Positives – nämlich einen vermeintlichen Beitrag zur Rettung des Volkes vor dem Untergang – umzuwandeln (vgl. Zick/Küpper 2016, S.88). Verbunden mit der starken Freizeitorientierung und dem damit einhergehenden Spaßfaktor stellt die rechte Szene damit eine attraktive Alternative zu ihrem unerfüllten Alltagsleben dar. Das verbindende Element ist die häufig ausufernde Freizeitgestaltung und das darüber erlebte Gefühl von Gemeinschaft. Der Absturz in eine rechts-delinquente Karriere wird von den Jugendlichen zwar bemerkt und auch reflektiert, dies geschieht jedoch erst zu einem Zeitpunkt, zu dem massive negative Konsequenzen einsetzen oder drohen und führt nicht unbedingt zu einem Rückzug aus der Szene, da die dort gefundenen Freunde (aufgrund mangelnder Alternativen) kaum aufgegeben werden können und wollen. Ausnahme ist hier Holger, der sich rechtzeitig aus einer radikalen Gruppierung zurückzog und einer eher gemäßigten Clique anschloss. Typ 2 – Der strategisch-machtorientierte Die Einstellungen der Jugendlichen dieses Typs – darunter fallen Peter und Piet – sind durchdacht, überlegt und haben eine klare politische Intention. Sie trachten danach, ihr einschlägiges Wissen zu erweitern, wozu sie sich durch von ihnen als besonders kompetent eingeschätzte Mitglieder der rechten Szene entsprechend schulen lassen. Beide sind in hohem Maße in politisch aktiven Gruppierungen/Parteien organisiert und aktiv an der Planung und Umsetzung von Aktionen der rechten Szene beteiligt. Ihr unmittelbares rechtsextremistisches Verhalten erfolgt dementsprechend ebenfalls geplant, wobei strafrechtliche Sanktionen durch cleveres Vorgehen nach Möglichkeit vermieden werden (vgl. Neumann/Frindte 2002, S.81). Eine Strategie, die aufzugehen scheint, denn sowohl Peter als auch
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Piet haben noch keine nennenswerten Begegnungen mit Polizei und Justiz gehabt, obwohl vor allem Peter bereits an mehreren Anschlägen beteiligt war. Beide Jugendliche verfolgen nach einer Phase größerer schulischer Schwierigkeiten engagiert ihre berufliche Zukunft, von der sie konkrete Vorstellungen haben. Auch sie leben noch mit ihren Familien zusammen, präsentieren sich jedoch wesentlich eigenverantwortlicher und unabhängiger. Sie befinden sich im fortgeschrittenen Prozess des Übergangs ins Erwachsenenleben. Die Zugehörigkeit zur Szene scheint bei beiden zu einer Stabilisierung nach einer Phase der Unsicherheit und des Absturzes beigetragen zu haben. Während die Jugendlichen des Typ 1 im Zuge ihrer rechtsextremistischen Karriere zunehmend ins Trudeln gerieten, was bei Kai und Bastian zu einem kompletten Zusammenbruch ihres bürgerlichen Lebens führte und auch Dennis in massive Schwierigkeiten bislang ungewissen Ausgangs brachte, scheint sie bei Typ 2 mit einem Aufschwung der persönlichen Entwicklung einherzugehen. Die Jugendlichen sind mit Strategien und Inhalten der Szene vertraut und wenden diese auch an (vgl. Glaser/Pfeiffer 2013, S.15; Klare/Sturm 2016, S.190ff.). So argumentiert beispielsweise Peter: „ich bin keen nazi ich bin patriot […] weil der nationalsozialismus wurde in deutschland verboten und der neonazionalsozialismus (.) also ham wer dro.. uns jeeinicht wir sind patrioten die fürs land kämpfen“ (Interview mit Peter, 499502). Sie bewundern die von der Szene propagierten Bilder des harten und gerechten Mannes, der für sein Vaterland einsteht und kämpft. Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit politischen Inhalten und das gemeinschaftliche Streben nach den eigenen politischen Zielen, wobei sich beide zwar bereitwillig aus ihrer Sicht kompetenteren Persönlichkeiten unterordnen, aber auch selbst nach Führungsrollen und Macht streben. Das verbindende Element ist hier das gemeinsame (politische) Handeln.\ Während der diffus-emotionale Typ sich mangels Handlungs- und Verortungsalternativen selbst aus dem strafrechtlich relevanten Bereich seines Verhaltens nur schwer lösen kann, ändert der strategisch-machtorientierte Typ seine Taktik, um Schwierigkeiten zu vermeiden. Hafeneger/Jansen (2001, S.212) typisieren die von ihnen untersuchten rechten Cliquen in „weich“ (jugendkulturelle Aspekte stehen im Vordergrund), „mittel“ (jugendkulturelle und ideologische Anteile sind etwa gleich wichtig) und „hart“ (politische Dimension und die entsprechenden Aktivitäten stehen im Vordergrund). Dieses Ergebnis lässt aufgrund der unterschiedlichen Untersuchungsgegenstände (Clique vs. einzelne Jugendliche) zwar keinen direkten Vergleich zu den hier aufgefundenen Mustern zu, eine interessante Ähnlichkeit in Bezug auf die Gewichtung von jugendsubkultureller und ideologisch-politikorientierter Dimension in den einzelnen Typen kann jedoch festgestellt werden.
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Die Spannbreite der aufgefundenen Orientierungsmuster lässt sich gut an den beiden maximal kontrastiven Fällen Dennis und Piet veranschaulichen: Bei Dennis basiert seine nach außen getragene rechte Einstellung auf einer diffusen Orientierung mit der Funktion subjektiv erlebte Belastungen und Frustrationen abzubauen. Dahinter steht kein explizit rechtsextremistisches Weltbild, sondern Unsicherheit bezüglich der eigenen Existenz und Lebenschancen, die sich in der Abwertung subjektiv als Bedrohung empfundener Konkurrenten niederschlägt. In diesem Zusammenhang kann der von Breymann (2000, S.120) geprägte Begriff der „spezifischen Gemütsverfassung“ wiederaufgegriffen werden. Zwar verhält sich Dennis im Zusammenhang mit seiner rechten Clique massiv rechtsextremistisch im strafrechtlichen Sinne. Dies ergibt sich jedoch aus seiner Zugehörigkeit zu dieser Jugend(sub)kultur und resultiert nicht aus im engeren Sinne politisch ambitionierten rechtsextremistischen Überzeugungen. Bei Dennis besteht somit eine Diskrepanz zwischen der Intensität seines Verhaltens und der seiner Einstellung. Sein mittels der Emotions- und Zukunftsfragen erschlossenes Wertesystem bietet keine Bezugspunkte zu einem rechtsextremistischen Weltbild, spiegelt aber wohl das Gefühl wider, die eigenen als knapp empfundenen Ressourcen sowie die seines sozialen bzw. gesellschaftlichen Umfeldes gegen bestimmte Gruppen subjektiv negativ wahrgenommener Menschen mit Migrationshintergrund verteidigen zu müssen. Bei Piet dagegen findet sich eine ausgeprägte und fundierte rechtsextremistische Orientierung, die seine gesamten Lebensbereiche durchdringt und beeinflusst. Hintergrund dafür ist seine starke Affinität zu Autorität und sein damit verbundenes Streben nach einer eigenen Machtposition. Sowohl Dennis als auch Piet sind anhand ihres Äußeren nicht (mehr) als rechte Jugendliche zu erkennen. Während dies bei Dennis mit einem zugunsten eines straftatfreien Lebens verbundenen schrittweisen Rückzug aus der Szene zusammenhängt, handelt es sich bei Piet um eine strategische Entscheidung. Mittels eines unauffälligen Äußeren und dem entsprechenden angenehmem Auftreten soll eine breitere Masse der Bevölkerung angesprochen und für die eigenen Ideen gewonnen werden. Piet ist zwar in strafrechtlicher Hinsicht unauffällig, dies liegt jedoch nicht in einer gesetzeskonformen Haltung begründet. Im Gegenteil, Piet ist durchaus bereit, zur Umsetzung seiner Ziele auch Gewalt und weitere Rechtsverstöße zu akzeptieren. Kriminelle Handlungen sind hier jedoch zielgerichtet und eindeutig politisch motiviert. Im Unterschied zu Dennis, der zwar die aktuelle Politik, nicht aber die Demokratie an sich ablehnt, möchte Piet ein totalitäres System und ist auch in den entsprechenden rechtsextremistischen Strukturen organisiert. Die möglichen Folgen von strafrechtlich relevanten Handlungen werden von Piet vorher überdacht und abgewogen. Dennis dagegen handelt spontan und wird sich
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der Konsequenzen erst im Nachhinein bewusst, wobei er sein Verhalten dann bereut. Die Darstellung der zwei beschriebenen Typen zeigt, dass die Motivation für die Zugehörigkeit zur rechten Szene trotz einer auf den ersten Blick ähnlichen Erscheinung der Orientierung sehr unterschiedlich sein kann und somit auch eine differenziert zugeschnittene pädagogische Herangehensweise erfordert. Jugendlichen, die dem emotional-diffusen Typ zuzurechnen sind, begegnet man in der pädagogischen Praxis häufig. Sie können mittels der Vermittlung von Handlungs- und Lebensgestaltungsalternativen erreicht werden, wobei ein emotionaler Zugang sinnvoll ist, der ihnen die Wahrnehmung und Reflexion ihrer Erfahrungen ermöglicht. Hier besteht die Herausforderung darin, eine rechts-delinquente Karriere zu verhindern bzw. zu unterbrechen. Bei den strategisch-machtorientierten Jugendlichen gestaltet sich eine pädagogische Bezugnahme sehr schwierig, da sie, wenn sie überhaupt in den Fokus pädagogischer Instanzen geraten, aufgrund ihrer festen ideologischen Fixierung und damit verbundenen Loyalität kaum die Herstellung eines pädagogischen Bezuges zulassen, der einen Einblick in ihr Innenleben erlaubt. Hier kann die Herstellung einer Beziehung über politische Debatten und fundierte Argumentationen zu Nationalsozialismus aber auch Belangen der rechten Szene gelingen, da diese Jugendlichen eine hohe Affinität zu als kompetent eingeschätzten Anderen haben. Die vorgestellten Untersuchungsergebnisse zeigen, dass es sinnvoll ist, Auftreten und ersten Eindruck bei rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen zu hinterfragen und ihnen Raum zu geben, ihr bisheriges Leben, ihre Erfahrungen und ihre Einstellung darzustellen und zu reflektieren, um ihre diesbezügliche Motivation und somit Ansatzpunkte für pädagogisches Handeln zu erfassen. Die hohe Bedeutung ganz persönlicher Hintergründe für den Einstieg in die rechte Szene – und vor allem den längeren Verbleib in ihr – begründet die Notwendigkeit eines pädagogischen Bezuges auf den Einzelnen, der über gängige Präventionsmaßnahmen hinausgeht. 5.2 Familienverhältnisse rechter Jugendlicher – Familiale Beziehungen und elterliche Interventionen Für die fallübergreifende Betrachtung der familialen Hintergründe und Zusammenhänge wurden strukturelle Aspekte des familialen Zusammenlebens, familiale Beziehungsqualität, elterliches Erziehungsverhalten, Wahrnehmung und Umgang mit der rechten Einstellung sowie die elterlichen Interventionen und ihre jeweilige Wirkung auf die Jugendlichen in den Blick genommen.
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Dabei profitiert der Erkenntnisgewinn erheblich aus der Triangulation der Analyseergebnisse der Befragungen der Jugendlichen und ihrer Mütter, der durch die Ergebnisse aus den Einzelinterviews mit Bastian, Peter und Holger verdichtet wurde. Dadurch gelang es, Prozesse der Eltern-Kind-Interaktionen zu rekonstruieren, die Einstieg, Verfestigung aber auch eine Distanzierung von der rechten Szene begleiteten sowie fehllaufende familiale Bearbeitungsstrategien sichtbar zu machen. In der hier vorgenommenen Darstellung werden die Ergebnisse der Interpretationen der Interviews aller Befragten zu einer perspektivenübergreifenden Gesamtauswertung verdichtet, da eine intensive Einzelanalyse mütterlicher und jugendlicher Perspektiven bereits in den umfangreichen Fallportraits erfolgte. Lediglich beim Thema der elterlichen Wahrnehmung und des Umgangs mit der rechtsextremistischen Orientierung werden die Sichtweisen der Mütter und ihrer Söhne noch einmal separat gegenübergestellt, um die Mechanismen der familialen Interaktionen hinsichtlich ihrer Auswirkungen effektiv aufzuzeigen. Besonders interessant sind die in Bezug auf biografische Prozesse und familiale Beziehungen bei den triangulierten Fällen aufgefundenen hohen Übereinstimmungen der jugendlichen und mütterlichen Erzählungen, die Rückschlüsse auf eine zum Zeitpunkt des Interviews erreichte weitgehend offene Kommunikation zwischen Mutter und Sohn erlaubt, aber auch die Art, in der beide Erzählungen die Lücken der jeweils anderen ergänzen und somit einen intensiveren Einblick in die familialen Prozesse erlauben. 5.2.1 Strukturelle Aspekte des familialen Zusammenlebens Von den sechs befragten Jugendlichen haben vier im Laufe ihres Aufwachsens eine Scheidung miterlebt, zwei sind durchgängig in einer vollständigen Familie mit den leiblichen Eltern aufgewachsen. Keiner der Jugendlichen kommt aus einer sozial-schwachen, durch die Jugendhilfe betreuten Familie oder aus Verhältnissen, die von sehr häufigen Partnerwechseln und einer generell unsteten familialen Struktur geprägt sind. Die Jugendlichen aus den drei triangulierten Kernfällen, bei denen auch die Mutter befragt wurde, sind in Familien aufgewachsen, in denen es zu einer Trennung der leiblichen Eltern kam und in denen z.T. durch das Hinzukommen von Stiefvätern sowie Halbgeschwistern eine Patchwork-Situation entstand. Dies ist eine zufällige Parallele, die im Vorfeld der Erhebung nicht bekannt war und ging nicht zwangsläufig mit einem Kontaktverlust zum leiblichen Vater einher. Trotz der strukturellen Gemeinsamkeit Scheidung gab es bei diesen Jugendlichen große Unterschiede im Hinblick auf die mit diesem Ereignis verbundenen Auswirkungen sowie die weitere familiale Entwicklung insgesamt.
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Um eine möglichst breite Streuung unterschiedlicher Formen familialen Zusammenlebens zu erhalten, wurden kontrastive Fälle gesucht und zwei Jugendliche befragt, die aus formal vollständigen Familien stammen (Holger und Bastian) sowie ein Jugendlicher, der nach einer späten Scheidung mit seiner Mutter, die einen neuen Freund hat, allein lebt (Peter). Mit den hier erhobenen Fällen sind die gängigsten familialen Konstellationen abgedeckt. Nicht vertreten sind Jugendliche, die ohne Mutter, beim Vater, bei Verwandten oder im Heim aufgewachsen sind sowie Jugendliche, die in einer Familie mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen leben. Die aufgefundenen strukturellen familialen Hintergründe zeigt Abb.24. Den vier Biografien von Jugendlichen mit strukturell turbulenten und teilweise massiv von Schicksalsschlägen geprägten familialen Hintergründen stehen die Biografien von zwei Jugendlichen gegenüber, die in einer formal intakten Familie ohne größere dramatische strukturelle Einschnitte aufgewachsen sind. Dennoch konnten auch bei diesen beiden jungen Männern biografische Situationen rekonstruiert werden, die mit Erfahrungen des Alleinseins, der fehlenden emotionalen Ein- und Anbindung und vor allem einem fehlenden Halt in Verbindung mit der Vermittlung von Orientierung verbunden waren.
Abb. 24: strukturelle familiale Hintergründe
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Dies bestätigt die Ergebnisse von Möller/Schuhmacher (2007, S.167), die in ihrer Untersuchung der Ein- und Ausstiegsprozesse von Skinheads die Bedeutung der subjektiven Wahrnehmung einer „relativen sozialen Isolation“ sowie häufig aufgefundener biografischer Einschnitte hervorheben (ebd., S.181). 5.2.2 Beziehungsqualität und innerfamiliale Kommunikation Die fallübergreifende Analyse der jugendlichen Perspektiven ergab Unterschiede in Bezug auf die Intensität der familialen Bindung und den Grad der emotionalen Nähe der Jugendlichen zu ihren Eltern sowie deren Bedeutung als Ratgeber und Ansprechpartner. Insgesamt kann aber eine hohe Bedeutung der Familie für die Jugendlichen festgestellt werden. Weiterhin zeigten sich nicht die äußeren familialen Strukturen als entscheidendes Kriterium für das Aufwachsen der untersuchten Jugendlichen, sondern es wurde die hohe Relevanz der inneren familialen Beziehungs- und Bindungsqualität sowie des subjektiven Erlebens familialer Veränderungen und Ereignisse deutlich (vgl. Schneewind 2010; 2008). Trennungen, eine formale Unvollständigkeit der Familie sowie die Konstitution von Patchworkfamilien gingen zwar mit familialen Veränderungsprozessen einher, bedeuteten jedoch nicht eine damit zwangsläufig verbundene schlechtere innerfamiliale Beziehungsqualität und geringere Bindung im Vergleich zu den Jugendlichen, die – im Fall von Peter zumindest bis zum 16. Lebensjahr – in einer vollständigen Familie aufgewachsen sind. So beschreibt Dennis seine frühe Kindheit, in der er mit seiner Mutter allein lebte als „jut“ und „schön“ (449-451), weil er ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuwendung erhielt. Piet erzählt von einem guten Verhältnis zu beiden Elternteilen, das auch nach der Scheidung Bestand hatte, wobei er seinen Vater jedoch im Alltag aufgrund der räumlichen Distanz stark vermisste. Der aus einer vollständigen Familie stammende Bastian dagegen berichtet von einer Kindheit, in der er hauptsächlich auf sich allein gestellt war, weil seine Eltern die meiste Zeit aufgrund beruflicher Verpflichtungen außer Haus waren. Dementsprechend distanziert ist seine Beziehung zu seinen Eltern, die er zwar schätzt, denen er jedoch kaum Einfluss und Autorität in Bezug auf sein heutiges Handeln zugesteht. Seine aus der in der Kindheit erlebten Einsamkeit und Verlassenheit resultierenden Probleme mit dem Aushalten von Nähe, dem Eingehen von Bindungen und dem Umgang mit Emotionen sind also trotz der theoretischen Verfügbarkeit beider Elternteile in einer vollständigen Familie entstanden. Auch Holgers Verhältnis zu seinen Eltern wird von ihm als gut, aber hinsichtlich ihres Einflusses auf sein aktuelles Leben als eher distanziert beschrieben. Peter wiederum, der aufgrund der späten Scheidung seiner Eltern bis zu seinem 16. Lebensjahr in einer vollständigen Familie aufwuchs, beschreibt ein
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ausgesprochen schlechtes Verhältnis zu seinem Vater, aber ein gutes zur Mutter. Die hier untersuchten Fälle können natürlich nur als Beispiele dienen, sie zeigen jedoch schon, dass die formale Struktur der Familie kaum Rückschlüsse auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung zulässt. Eine Scheidung und die anschließende Reorganisation des Familienlebens stellte die jeweilige Familie unabhängig von ihrer beziehungsqualitativen Ausgangslage jedoch in allen vier Fällen vor große Herausforderungen in Bezug auf nötige Anpassungsleistungen und Verarbeitungskompetenzen und war mit einer starken Belastung aller Familienmitglieder verbunden. Verschieden waren jedoch die Art und vor allem der Zeitpunkt dieser Belastungen für die untersuchten Jugendlichen. Während sie bei Piet und Kai tatsächlich durch die Trennung der Eltern entstand, lag sie bei Peter und Dennis im Vorfeld derselben. Letztere litten unter den der Trennung vorausgehenden Streitigkeiten und dem schlechten, von Abwertung sowie psychischer und physischer Gewalt geprägten Verhältnis zum Vater bzw. Stiefvater. Die Scheidung selbst trat dem gegenüber in den Hintergrund und wurde sogar geradezu als Befreiung erlebt. Für Piet und Kai dagegen kam die Trennung der Eltern überraschend und wie aus heiterem Himmel. Für sie brach damit eine zuvor als heil empfundene Welt auseinander, was die Verarbeitung des Geschehens erschwerte. Kai litt unter dem auf seinem Rücken ausgetragenen Konkurrenzkampf der Eltern um den künftigen Wohnort der Kinder. Beide vermissten ihren Vater trotz eines (zunächst) weiterbestehenden guten Kontaktes massiv in den alltäglichen Lebenszusammenhängen. Von keinem der in der Untersuchung Befragten wurde allerdings explizit eine stark kooperierende „Elternallianz“ (Schneewind 2008, S.266) beschrieben. Selbst in den Fällen von Kai und Piet, in denen nach der Scheidung weiterhin ein gutes Verhältnis der Söhne zum Vater bestand, wird von den Müttern keine Involvierung in die täglichen familialen Abläufe geschildert. Im Gegenteil, während Frau Kranich die mangelnde Unterstützung durch ihren Ex-Mann und sein die Kinder verwöhnendes Verhalten bei seinen seltenen Besuchen beklagt, findet der ehemalige Partner in der Erzählung von Frau Schmidtlach über die Scheidung/Trennung hinaus überhaupt keine Erwähnung. Die sich im weiteren Verlauf bis auf den Fall Piet konstituierenden Patchwork-Familien wurden von den Jugendlichen in Abhängigkeit von der Qualität des Verhältnisses zum neuen Partner der Mutter angenommen. Als problematisch erwies sich hier bei Dennis (in Bezug auf Stiefvater 1) und Kai, dass die Mütter (und ihre neuen Partner), die schwierige Situation ihrer Kinder innerhalb der neuen Konstellation nicht genügend beachteten bzw. dass die Jugendlichen dies so empfanden und aus ihrer Sicht in eine randständige Position gerieten. Kai und Dennis fühlten sich von ihren Stiefvätern nicht akzeptiert, sondern
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drangsaliert, abgelehnt und im Stich gelassen. Eine Einschätzung, die aus heutiger Sicht auch von den Müttern geteilt wird, zum Zeitpunkt des Geschehens jedoch zugunsten des Aufbaus einer neuen Familie mehr oder weniger hingenommen bzw. nicht in dem von den Jugendlichen beschriebenen negativen Ausmaß wahrgenommen wurde. Bei einem positiven Eindruck von der Person des neuen Partners der Mutter wurde dieser dagegen gern und dankbar als Bezugsperson angenommen (Peter, Stiefvater 2 bei Dennis). Die Mütter von Kai und Dennis reflektieren in ihren Interviews eine von Konflikten geprägte Beziehung zwischen neuem Partner und Sohn, was von ihnen aber erst aus der heutigen Perspektive in seinem ganzen Ausmaß erkannt wird und zum Zeitpunkt des Auftretens zugunsten des neuen Lebensglückes und des Aufbaus der Patchworkfamilie verdrängt wurde. Zwar fielen die Probleme von Kai und Dennis mit der veränderten familialen Situation und die Konflikte mit den Stiefvätern auch zu ihrem aktuellen Zeitpunkt auf, sie wurden jedoch eher als temporäre Anpassungsschwierigkeiten interpretiert. Die Aufmerksamkeit von Frau Behnke und Frau Kranich wurde zu diesem Zeitpunkt stark durch den neuen Partner und die kurz darauf geborenen Kinder beansprucht. Die familialen Schwierigkeiten von Kai und Dennis zeigen, dass die Gründung einer Patchworkfamilie vor allem auch in Bezug auf die Geburt weiterer Kinder eine Herausforderung darstellt, die eine besonders sensible und aufmerksame Beziehungsarbeit erfordert. Es gilt, alle Familienmitglieder zu integrieren sowie Gefühle der Konkurrenz und Ängste vor Beziehungsverlust anzunehmen und konstruktiv zu bearbeiten. Weiterhin wird anhand dieser beiden Fälle deutlich, dass der Faktor Zeit bei der Entwicklung einer Patchworkfamilie eine wesentliche Rolle spielt, da Beziehung und Beziehungsarbeit unter einem überstürzten Vorgehen leiden und die Familienmitglieder, vor allem Kinder und Jugendliche, bezüglich der nötigen Anpassungsleistungen überfordert. Der Aufbau einer positiv besetzten, tragfähigen Beziehung zum Stiefvater ist bei Kai und Dennis letztendlich nicht gelungen und war zusätzlich mit einem subjektiv empfundenen Verlust der engen Bindung an die Mutter als verlässliche Bezugsperson verbunden, wodurch beide Jugendliche in eine krisenhafte Belastungssituation gerieten. Beim Vergleich der Jugendlichen, bei denen die Mütter befragt wurden mit denen, bei denen dies nicht geschah, kristallisiert sich ein distanzierteres Verhältnis letzterer zu ihren Eltern heraus, dass sich vor allem darin widerspiegelt, dass diese Jugendlichen ihnen weniger Einfluss auf ihre aktuelle Lebenssituation zugestehen und sie weniger an ihren Entscheidungen, alltäglichen Erlebnissen und Gefühlen teilhaben lassen. Die größere emotionale Distanz ist dabei nicht mit einer per se schlechteren Beziehung zu den Eltern verbunden, sondern ging
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bei Bastian und Holger mit einem ihrer Einschätzung nach unproblematischen Verhältnis zu beiden Eltern einher, bei Peter betraf das nur seine Mutter. Der hier aufgefundene Unterschied kann ein zufälliges Ergebnis sein, es liegt jedoch nahe, dass das bei den triangulierten Fällen rekonstruierte enge Verhältnis mindestens zur Mutter mit einer intensiveren innerfamilialen Kommunikation und Gegenseitigkeit zusammenhängt, welche auch die Bereitschaft zur gemeinsamen Teilnahme an der Untersuchung begründet. Das Verhältnis zum Vater Auffällig sind die bei den Trennungsfamilien häufig schwierigen Beziehungen zum Vater oder Stiefvater, die die Jugendlichen belasten und dazu führen, dass ihnen eine männliche, ihnen zugewandte Orientierungsfigur fehlt, die sie teilweise verzweifelt herbeisehnen. Dies wird unter anderem daran deutlich, dass die Jugendlichen auch im fortgeschrittenen Jugendalter noch den engen Kontakt zu neu hinzukommenden Partnern der Mutter suchen und sie relativ schnell als Vaterfigur annehmen. So sagt Peter, der zum Zeitpunkt der Trennung seiner Eltern schon 16 Jahre alt war, über den neuen Partner seiner Mutter: „Der is eigentlich relativ nett jut droff mit dem kann mer och sein spaß ham wenn man mich jetzt neben ihn stellt könnte man denken er sei mein vater das aussehn und alles“ (Interview mit Peter, 70-72). Gegenüber seinem leiblichen Vater entwickelte er dagegen solch einen Hass, dass er den Kontakt nach der Scheidung der Eltern vollständig abbrach und im Interview mehrfach die Befürchtung eines strafrechtlich relevanten Kontrollverlustes äußert, sollte es zu einem Aufeinandertreffen kommen. Dennis beschreibt ebenfalls ein gutes Verhältnis zum zweiten Stiefvater und bezeichnet ihn in der Erzählung trotz des relativ geringen Altersunterschiedes zu ihm und seines Eintritts in die Familie als Dennis schon im Jugendalter war als „papa“ (Interview mit Dennis, 1199). Und sogar bei Kai, der unter dem schlechten Verhältnis zu seinem Stiefvater stark gelitten hat, wird eine gewisse Trauer über dessen kürzlich vollzogene Trennung von der Mutter deutlich, die auch aus dem damit verbundenen Ende seiner Beziehung zu diesem Mann und der Klarheit darüber, dass sich diese Beziehung nicht mehr zum Guten wenden wird, resultiert. Doch auch Bastian, der in einer vollständigen Familie aufgewachsen ist, scheint der Vater in seiner Funktion als orientierungsstiftende Bezugsperson zu fehlen. Er bezeichnet eher seine Mutter als Ansprechpartnerin für Probleme, denn sein Vater „der is meistens nich da (...) und so viel kricht der nich mit eigentlich“ (Interview mit Bastian 156). Eine elterliche Trennung scheint auch bei einem guten Verhältnis zum Vater eine große Herausforderung für die Vater-Sohn-Beziehung zu sein, wie die Fälle
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von Piet und Kai zeigen. Beide haben große emotionale Schwierigkeiten mit der räumlichen Distanz zu ihren Vätern und ihrem wegbrechenden Einfluss in ihrem alltäglichen Leben. Auch wenn die Beziehungsqualität in diesen beiden Fällen gut bleibt, bringt die elterliche Scheidung für Piet und Kai also einen subjektiv empfundenen Verlust mit sich, an dem sie schwer zu tragen haben. Insgesamt wird bei den Jugendlichen ein starkes Bedürfnis nach einer väterlichen/männlichen Bezugsperson deutlich, die auf dem schwierigen Weg zur Übernahme einer männlichen Erwachsenenrolle Halt und Orientierung bietet. Während die Beziehung zu den Müttern trotz ihr häufig immanenter Probleme durchweg positiv dargestellt wird, fällt in Bezug auf einen konstruktiven väterlichen Einfluss vor allem eins auf: Er fehlt. Die Gründe hierfür sind verschieden und reichen von räumlicher Distanz im Alltagsleben über Desinteresse und Ablehnung bis hin zum Tod. Auch Kraus/Mathes (2010, S.83ff.) verweisen in ihrer Untersuchung auf das häufige Fehlen einer Vaterfigur bei den von ihnen befragten rechten Jugendlichen. In den Erzählungen der Jugendlichen vermitteln sich bezüglich dieses Problems Verdrängungsversuche sowie Trauer, Wut, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sie fühlen sich im Stich gelassen und wirken auf ihrer Suche nach väterlichem Halt teilweise geradezu verzweifelt. So beschreibt Frau Kranich (104-106) Kais Bemühen um die Zuneigung seines Stiefvaters als „suche irgendwo mal liebe und freundlichkeit zu bekommen weil sein leiblicher vater war dann nich mehr da“, letztlich hat er jedoch „halt immer nurn tritt dann in hintern bekommen“. Das Verhältnis zur Mutter Im Hinblick auf die Mutter wird vor allem bei Kai und Dennis eine ausgesprochen starke Bindung sichtbar, die auch darauf zurückzuführen ist, dass sie diese als einzig konstante Bezugsperson erlebten. Die Mütter wurden im Gegensatz zu den Vätern kaum massiv kritisiert, die Beziehung wird von allen Jugendlichen trotz teilweise sichtbar werdender Konfliktpotentiale und Schwierigkeiten als positiv beschrieben. Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch Böttger (1998, S.260ff.), der feststellt, dass das Verhalten der Mutter durch die von ihm untersuchten rechten Jugendlichen deshalb nicht in Frage gestellt wurde, weil dies zur totalen Orientierungslosigkeit hätte führen können, da die Jugendlichen aufgrund der fehlenden oder sehr schlechten Vater-Sohn-Beziehung stark auf sie fixiert waren. Es entstand bei allen Fällen bis auf Holger der Eindruck, als würde mit den Müttern eine vertrautere und intimere Kommunikation stattfinden, was sich nicht nur durch das teilweise an sich schlechte Verhältnis zum (Stief-)Vater begründet, sondern auch aus der häufig mangelnden Verfügbarkeit der Väter im Alltagsleben resultieren kann (vgl. Rieker 1997, S.139). Daran wird die hohe Bedeutung
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von gemeinsam verbrachter Zeit, des alltäglichen Miteinanders, aber vor allem der Anteilnahme an der Lebenswelt der Jugendlichen für eine enge Eltern-KindBeziehung deutlich. Die Mütter werden von den Jugendlichen als ihre zuvordersten familialen Ansprechpartner bezeichnet. Lediglich Holger scheint diesbezüglich andere Präferenzen zu haben. Er versteht sich mit beiden Elternteilen gleich gut, was auch anhand seiner egozentrierten sozialen Netzwerkkarte deutlich wird, in der er Mutter und Vater gleich nah an sich heranrückt und mit dem Label „Eltern“ versieht. Trotzdem wendet er sich bei Bedarf aber lieber zunächst an seinen Vater, da die Mutter sich aus seiner Sicht zu schnell aufregt. Die drei befragten Mütter berichten von vielfältigen Bemühungen um die (schulische, gesundheitliche und berufliche) Zukunft ihrer Söhne, wobei sie einen besonderen Zuwendungsbedarf im Kindes-/Jugendalter beschreiben, der aus verschiedenen schicksalhaften Ereignissen und gesundheitlichen Problemen resultierte und sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit brachte. Bei Piet handelte es sich hierbei um seine schwere Krebserkrankung sowie die damit verbundenen sozialen und schulischen Folgen. Bei Kai betrifft es seine mit der Legasthenie verbundenen Schulprobleme und den Tod seines leiblichen Vaters. Dennis hatte ebenfalls massive schulische Probleme, die mit seiner Legasthenie und einer unerkannten massiven Fehlsichtigkeit zusammenhingen. Die Mütter mussten darüber hinaus gleichzeitig vielfältige weitere Herausforderungen bewältigen, wie beispielsweise die mit einer Neuorganisation des Alltagslebens sowie der finanziellen Situation verbundenen, emotional belastenden Folgen der Trennung vom Partner, zeitintensive berufliche Tätigkeiten, den Aufbau einer neuen Partnerschaft sowie die Geburt und Versorgung weiterer Kinder. Auch bei ihnen ist daher von einem hohen Druck, allem gerecht zu werden, auszugehen, der mit einer Überforderung und einer daraus resultierenden verminderten Aufmerksamkeit verbunden ist. Unterstützende Ressourcen werden nur wenige erwähnt, so benennt zum Beispiel Frau Kranich ihre Eltern als Helfer bei der Alltagsorganisation, Frau Schmidtlach suchte sich im Zusammenhang mit Piets Krebserkrankung und der gleichzeitigen Trennung von ihrem Mann therapeutische Hilfe. Darüber hinaus schienen die Mütter den zu bewältigenden Aufgaben jedoch relativ allein gegenüberzustehen, auch die beiden Mütter mit neuen Partnern schreiben ihnen kaum entlastende oder unterstützende Funktionen zu, sie sind vielmehr eher Teil von auftretenden innerfamilialen Spannungen. Das Verhältnis zu den Söhnen ist aus mütterlicher Sicht aufgrund der Probleme, die die Jugendlichen machen, und den damit verbundenen Belastungen sowie Anforderungen an die mütterlichen Kompetenzen ambivalent. Einerseits kommt eine besonders intensive Zuneigung zum Ausdruck, die aus dem
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mindestens zeitweisen besonderen Unterstützungsbedarf und den damit verbundenen gemeinsamen Erlebnissen resultieren kann, andererseits werden auch Wut und Resignation über die permanenten An- bzw. Überforderungen deutlich. Insgesamt wurde trotz verschiedener sichtbar werdender Konflikte von keinem Jugendlichen ein zerrüttetes oder auch nicht vorhandenes Verhältnis zur Mutter beschrieben. Hinsichtlich der Beziehungen zu den Vätern dagegen ist das bei Dennis (in Bezug auf den leiblichen Vater und Stiefvater 1), Peter (leiblicher Vater) und Kai (Stiefvater, leiblicher Vater durch Tod) der Fall. Die Ergebnisse der Untersuchung widersprechen bezüglich des familialen Hintergrundes damit denen von Hopf u.a. (1995). Zwar steht auch hier die Qualität der Familienbeziehungen im Vordergrund. Allerdings wurden nur ursächliche Zusammenhänge zwischen einer schlechten frühkindlichen Beziehung zur Mutter und der Genese von rechtsextremistischen Orientierungen hergestellt, während die Rolle des Vaters nur wenig beachtet wird. Bei den hier untersuchten Fällen zeigt sich aber gerade die hohe Bedeutung einer positiv zugewandten, Orientierung stiftenden väterlichen Bezugsperson bei der Entwicklung einer sicheren Identität. Die aus der Analyse gewonnenen Erkenntnisse knüpfen weiterhin an die Ergebnisse von Möller (2000, S.318f.) an, der im Gegensatz zu Hopfs Fokussierung auf Erfahrungen der frühen Kindheit, auch den Zusammenhang von früher Adoleszenz und familialer Beziehungsqualität für besonders bedeutsam erachtet. Die herausgearbeitete hohe Bedeutung der Väter deckt sich ebenfalls mit den Untersuchungsergebnissen von Möller/Schumacher (2007) und widerspricht der von Hopf postulierten Konzentration auf die Beziehung zur Mutter. Aus der Analyse des Materials lassen sich für die einzelnen Jugendlichen die in Abb. 25 dargestellten familialen Beziehungshintergründe und -qualitäten zusammenfassen. Betrachtet man ausschnitthaft die in den egozentrierten sozialen Netzwerkkarten von den Jugendlichen festgelegte Nähe der Eltern zu sich selbst, ergibt sich folgendes Bild, das die anhand der Erzählungen rekonstruierten Eltern-KindVerhältnisse eindrucksvoll untermauert (Abb.26). Die beiden Jugendlichen (Piet und Holger), die ein dauerhaft unproblematisches und gutes Verhältnis zum Vater beschreiben, drücken dies auch bei der Einteilung der Netzwerkkarte durch deren große Nähe zum eigenen Selbst aus, wobei auffällt, dass beide Elternteile gleichauf liegen. Bastians gutes, aber aufgrund des häufigen Alleinseins und der damit verbundenen emotionalen Vernachlässigung distanziertes Verhältnis zu seinen Eltern wird anhand des von ihm gewählten größeren Abstandes deutlich. Die große emotionale Nähe und auch Abhängigkeit von Kai und Dennis zu bzw. von ihren Müttern spiegelt sich in der Positionierung derselben nah an ihrem Selbst wider.
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Abb. 25: familiale Beziehungshintergründe und -qualitäten
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Abb. 26: emotionale Nähe zu den Eltern
Die Väter und Stiefväter wiederum werden von beiden bis auf Dennis aktuellen „Pappa“ überhaupt nicht auf der Netzwerkkarte verzeichnet, was die massiven emotionalen Verletzungen und Enttäuschungen unterstreicht. Hier zeigt sich die ansonsten von Kai nicht thematisierte Wut über den Suizid seines Vaters, der ihn in einer subjektiv bereits nahezu unaushaltbaren Situation zurückließ und seine mögliche Hilfe für immer entzog. Besonders interessant ist die egozentrierte soziale Netzwerkkarte von Peter (Abb. 27). Er hat keine Einteilung in einzelne Lebensbereiche, sondern zeitliche Abschnitte vorgenommen, und die zu den einzelnen Zeitpunkten jeweilige Beziehung zu seinem Umfeld visualisiert. Anhand dieser Darstellung können die belastende familiale Situation sowie seine rechtsextremistische Karriere und beruflichen Entwicklungen hervorragend nachvollzogen werden, weshalb sie nochmals gesondert betrachtet wird: Peter erlebte eine belastete, von den verbal und körperlich gewalttätigen Ausbrüchen seines Vaters geprägte Kindheit, in der er zwar durch eine ihm liebevoll zugewandte Mutter auch eine positive elterliche Beziehung, jedoch keinen wirksamen Schutz vor dem Vater erfuhr, auch wenn die Mutter diesen öfters in seine Schranken wies. Dies drückt sich in der Positionierung der Eltern zu diesem Zeitpunkt und die Bezeichnung als „schreckliche Zeit“ aus. Der Vater ist sehr weit von Peters Selbst entfernt eingezeichnet, spielt aber als elterliche Bezugsperson
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Abb. 27: Peter Krug: egozentrierte Netzwerkkarte auf Zeitebene
noch eine Rolle für ihn, da er in seinem kindlichen Alter eine zwar ambivalente, aber dennoch emotionale Bindung zu ihm hat. Die Mutter wird im Vergleich zu den Eintragungen der anderen Jugendlichen ebenfalls relativ weit entfernt positioniert, was damit korrespondieren kann, dass sie das Verhalten des Vaters nicht dauerhaft unterbunden hat und somit keine sichere Zuflucht für Peter bot. Im Zuge der Scheidung rückt der Vater weiter von Peter weg, die Mutter dagegen näher heran, was eine verbesserte Beziehung aufgrund ihrer Distanzierung vom Vater nahe legt. Mit der erneuten dramatischen Enttäuschung über den Vater – das der Scheidung vorausgegangene aufgeflogene Verhältnis mit einem 16jährigen Mädchen wird vom Vater fortgesetzt – rückt dieser auf die größtmögliche Distanz, während Peter eine Allianz mit der Mutter und seiner restlichen Familie bildet, wodurch eine neue emotionale Nähe entsteht, die sich anhand der näheren Verortung zu seinem Selbst zeigt. Die der Scheidung vorausgehenden langjährigen und in der väterlichen Affäre mit dem minderjährigen Mädchen gipfelnden belastenden Ereignisse führten jedoch zu einer sich aufstauenden Aggressivität bei Peter, die sich im Zusammenhang mit seinem Einstieg in die rechte Szene und die dann folgende „gefährliche Zeit“ (vgl. Interview Peter, 778782) in Form von Anschlägen und anderweitigen (unentdeckten) Straftaten entlud.
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Im Zuge seiner massiven Involvierung in rechtsextremistische Zusammenhänge, die bis hin zu einem versuchten Anschluss an eine terroristische Untergrundorganisation reichten, erfolgte eine neuerliche Distanzierung von der Mutter sowie der restlichen Familie und eine Entfernung vom Vater, die die vollständige Zerrüttung des Verhältnisses unterstreicht. Der mit seinem exzessiven rechtsextremistischen Verhalten einhergehende drohende Verlust seiner Lehre, die Angst vor dem Erwischt-Werden und der damit verbundenen Strafverfolgung sowie die Erkenntnis, dass die von ihm geplante Zukunft dadurch stark gefährdet ist, führten zu einer Mäßigung und einem vorübergehenden Rückzug aus strafrechtlich relevanten Zusammenhängen. Dies ist jedoch nicht einer tatsächlichen Distanzierung von der Szene gleichzusetzen, die weiterhin eine entscheidende Rolle in Peters Leben spielt und in der er sich nach wie vor stark engagiert. Während sich sein Verhältnis zur Mutter vermutlich durch die Erlangung eines neuen Gleichgewichtes zwischen Szene und übrigem Leben sowie eine insgesamte Neustrukturierung der Familienbeziehungen nach den Turbulenzen der Scheidung wieder intensiviert hat und sie ihm nun näher steht als in den Phasen davor, taucht sein Vater nicht mehr auf. Ihn hat Peter aus seinem Leben verbannt, allein der Gedanke an ihn löst starke Aggressionen in ihm aus. Das Beispiel Peter zeigt eindrucksvoll die Zusammenhänge zwischen belastenden Ereignissen/Entwicklungen (gewalttätiger Vater), dysfunktionaler bzw. mangelnder Unterstützung (Mutter) und einem Ausbrechen in problematische Zusammenhänge, in denen sich die aufgestaute Aggressivität entladen kann (rechte Szene). Natürlich ist diese Entwicklung nicht zwangsläufig, es sind auch zahlreiche andere jugendliche Reaktionen respektive Bewältigungsversuche denkbar. Dennoch wird anhand dieses Falles sehr gut nachvollziehbar, wie eine rechtsextremistische Karriere entstehen und sich zu einem Lebensentwurf verfestigen kann. Die familialen Kompetenzen, Verarbeitungs- und Bewältigungsfunktionen wurden nicht nur durch den Prozess einer Scheidung, sondern ebenso durch andere veränderungs- bzw. belastungsintensive Umstände, wie eine starke Arbeitseinbindung der Eltern (Bastian), bedrohliche Krankheiten (Dennis, Piet), schulische Schwierigkeiten (Dennis, Kai, Piet, Holger, Peter) oder das Eintreten neuer Familienmitglieder in die Familie (Dennis, Peter, Piet, Kai) gefordert. Das Problem des fehlenden Halts und Auffangens der Jugendlichen durch die (Stief-)Eltern in für sie subjektiv belastenden und scheinbar ausweglosen Situationen wurde in allen untersuchten Fällen gefunden. Dabei ging es weniger darum, dass die Eltern sich gegenüber ihren Kindern wissentlich bzw. absichtlich ignorant oder ablehnend verhielten. Es zeigte sich vielmehr, dass die ElternKind-Beziehung in Bezug auf die jeweils als problematisch empfundene Situation dysfunktional war. So wurde das Ausmaß der Belastung ihrer Kinder durch
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die Eltern aufgrund eigener Lebensumstände und -beanspruchungen, die sie für sich bewältigen mussten, oft nicht erkannt oder aber die Bezugnahme wurde von dem jeweiligen Jugendlichen nicht als solche bzw. als hilfreich wahrgenommen. Die Familie belastende Veränderungen, Entwicklungen oder auch Schicksalsschläge stellten ihre Mitglieder also auch vor große Herausforderungen bezüglich der Anpassung des Umgangs miteinander und der Beziehungen an sich. Für die Eltern bestand der Spagat darin, ihre eigenen Sorgen und Probleme zu bearbeiten und gleichzeitig die Belange und Schwierigkeiten ihrer Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, was nicht immer gelang. Für die Jugendlichen war es besonders problematisch, wenn zu familialen Belastungen auch noch außerfamiliale, beispielsweise durch schulische Probleme, hinzukamen. Sie befanden sich dann in einer schier ausweglosen Situation, die aus ihrer subjektiven Sicht keinen Rückzugsort mehr offen ließ und eine Kompensation mittels vertrauter sozialer Bezüge unmöglich machte. Hierin wird eine mögliche Ursache für die Bereitschaft gesehen, sich einer neuen emotionalen Rückhalt versprechenden Gruppierung anzuschließen. Die ungenügende bzw. nicht passgenaue Wahrnehmung von und Bezugnahme auf die für die Jugendlichen schwierigen Situationen durch die Eltern lässt sich am Beispiel von Holger gut aufzeigen. Obwohl er in einer vollständigen Familie mit qualitativ von ihm als gut beschriebenen familialen Beziehungen aufgewachsen ist, in der Konflikte gemeinsam bearbeitet werden, erwies sich die elterliche Bezugnahme in einer Krisensituation als für ihn dysfunktional: In einer für ihn schwierigen schulischen Situation, in der er sich zunehmend als Außenseiter empfand und auch im Leistungsbereich einbrach, konzentrierte sich die Intervention der Eltern auf die Leistungsproblematik sowie einen vermuteten Drogenkonsum, während seine emotionalen Nöte übersehen wurden: „na ja also wo ich dann sitzen jeblieben bin das war halt stress dann aber so ham se nie was mitjekricht (.) also sie wussten zwar dass die andern kiffen hatten mich och jefracht ob ich och drogen nehme hab ich jesacht nein nehm ich nich oft jenuch auch und das ham dann meine eltern auch jeglaubt so wie s is“ (Interview mit Holger, 62-65).
Die von den Eltern nicht erkannten Bedürfnisse der Jugendlichen, die mit ihren vordergründigen Problemen verbunden waren, stellen natürlich nicht den Grund für ihren Einstieg in die rechte Szene dar. Es geht nicht darum, den Eltern Schuld zuzuweisen oder ihnen ein Versagen zu unterstellen. Der Moment der dysfunktionalen Bezugnahme in für die Jugendlichen krisenhaften Lebenssituationen und das aus den verschiedensten Gründen resultierende Übersehen ihrer eigentlichen emotionalen Nöte und Sorgen hat jedoch den elterlichen Einfluss geschwächt und dazu beigetragen, dass die Jugendlichen nach anderen Möglichkeiten des Rückhaltes suchten. So hat auch bei Bastian das häufige Alleinsein im Kindesalter massive Spuren hinterlassen. Zwar haben sich
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seine Eltern aus seiner Sicht um vordergründige Belange wie die Unterstützung bei bzw. Kontrolle von Schulaufgaben bemüht oder auch darum, im Rahmen ihrer Anwesenheit Ansprechpartner für Probleme zu sein, seine emotionale Vereinsamung wurde jedoch nicht bemerkt. Die von Ecarius u.a. (2011, S.114f.) konstatierte steigende Orientierung an den Peers mit zunehmenden Konflikten mit den Eltern, muss daher erweitert werden: Eine verstärkte Orientierung an Gleichaltrigen-Gruppen resultiert nicht nur aus per se schwierigen familialen Beziehungen, sondern kann auch mit Problemen in anderen Lebensbereichen zusammenhängen, bei deren Bearbeitung und Bewältigung die elterliche Wahrnehmung und Hilfe von den Jugendlichen als unzureichend empfunden wird. Die hieraus resultierende Enttäuschung über das Unvermögen der Eltern sowie das Gefühl des Allein- und Unverstanden-Seins scheint einen emotionalen Rückzug auszulösen, der mit einem geschwächten Einfluss der Eltern hinsichtlich ihrer Bedeutung als moralische sowie Halt und Rat vermittelnde Instanz einhergeht und somit auch die Annahme elterlicher Interventionsversuche erschwert. 5.2.3 Erziehung Die aufgefundenen Erziehungsstile und -hintergründe sind sehr unterschiedlich und konnten vor allem für die Fälle, in denen auch die Mutter befragt wurde, gut herausgearbeitet werden (siehe Abb. 28). Auch hier zeigte sich wieder der große Nutzen einer Triangulation der Datenquellen, da nicht nur rekonstruiert werden konnte, wie die Jugendlichen ihre Erziehung wahrnehmen, sondern zumindest in drei Fällen auch, was die Mütter mit ihren Interventionen bezweckten und welche Intentionen sie mit ihrer Art der Erziehung verbinden (siehe Darstellung in den Einzelportraits). Es ging hierbei nicht darum „Fehler“ aufzudecken, sondern mögliche Hintergründe für die rekonstruierten Entwicklungen in den familialen Beziehungen und des Jugendlichen an sich aufzuspüren. Von den Jugendlichen (und auch den Müttern) wurde sowohl autoritäres als auch sehr liberales, auf Eigenverantwortung und Selbstverwirklichung setzendes elterliches Erziehungsverhalten beschrieben. Teilwiese zeigten sich gravierende Diskrepanzen zwischen dem erzieherischen Umgang der Mütter und dem der Väter bzw. Stiefväter mit den Jugendlichen. So beschreibt Peter einen autoritären und brutalen Vater, der seine Kinder massiv unter Druck setzte, sie häufig abwertete, anschrie, misshandelte und emotional verletzte, während seine Mutter die Kinder „ordentlich“ (271) erzog und trotz ihrer Autorität, die ihm Gehorsam abverlangte, aus seiner Sicht „immer lieb“ (273) war. Piet dagegen erzählt, dass ihm die konsequente Art seines Vaters nach der Scheidung der Eltern im Alltag fehlte und er Grenzen gebraucht hätte, die ihm seine auf Harmonie und Selbsterfahrung bedachte, nachgiebige Mutter nicht setzen konnte.
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Insgesamt äußerten die Jugendlichen nur wenig Kritik an den Erziehungsmethoden ihrer Mütter, klagten aber vermehrt über die Behandlung durch ihre (Stief-)Väter. Bezüglich der Erziehungsstile der Eltern kann festgestellt werden, dass das elterliche Erziehungsverhalten einem bestimmten Erziehungsstil zwar grob zugeordnet werden kann, dies jedoch der Komplexität der über viele Jahre andauernden Eltern-Kind-Beziehung nicht immer gerecht wird. Auch das elterliche Erziehungsverhalten unterliegt einer prozesshaften Struktur, die von der persönlichen Entwicklung und vielseitigen familialen Veränderungen beeinflusst wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Familie Schmidtlach. Frau Schmidtlach entglitt ihr Erziehungsverhalten aufgrund von Piets schwerwiegender Krankheit von einer autoritativ-liberalen Erziehung hin zu einem Laissez-faire Stil, da sie ihrem Sohn im Angesicht seines möglichen Todes alles ermöglichen und nichts abschlagen wollte und Piets Vater aufgrund der elterlichen Trennung im Alltag nicht mehr als ausgleichendes Element zur Verfügung stand. Auch Frau Behnke beschreibt für die Zeit ihres Alleinlebens mit Dennis ein verwöhnendes, liebevolles und ihm besonders zugewandtes Verhalten, das sich dann im Zuge der auftretenden Probleme mit dem hinzukommenden Stiefvater sowie der zeitlichen Belastung durch Beruf und Krankheit der Tochter in einen Selbständigkeit fordernden sowie teilweise restriktiv und (zeitlich) vernachlässigenden Umgang wandelte. Das Hinzukommen von neuen Partnern aber auch die mindestens räumliche Trennung von einem Elternteil durch Scheidung bedingt also ebenfalls veränderte erzieherische Einflüsse, mit denen sich die Jugendlichen auseinandersetzen müssen. So sieht sich Kai nach der Trennung der Eltern einer liebevollen, aber zeitlich stark beanspruchten Mutter gegenüber und muss sich im weiteren Verlauf mit dem häufig schimpfenden und ihn kaum wertschätzend behandelnden Stiefvater auseinandersetzen. Darüber hinaus befinden sich die Jugendlichen aufgrund ihres Alters zum Zeitpunkt der Untersuchung im Prozess der Ablösung vom Elternhaus, was ebenfalls Veränderungen im Umgang zwischen Eltern und Kind sowie eine Verringerung des erzieherischen Einflusses mit sich bringt. Aus der Rekonstruktion des in den einzelnen Fällen stark unterschiedlichen elterlichen Erziehungshandelns kann für die hier untersuchten Fälle kein Zusammenhang zwischen einem bestimmten Erziehungsstil und der Übernahme einer rechten Einstellung hergestellt werden.
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Abb. 28: Elterliches Erziehungsverhalten und Reaktion der Jugendlichen
Deutlich wird jedoch, dass ein abwertendes und psychisch und/oder physisch gewalttätiges Verhalten der Eltern eine Belastung darstellt, die aufgrund der erfahrenen Ohnmacht und Demütigungen Aggressionen auslöst, die eine Affinität zu gewalttätig agierenden Gruppierungen bedingen kann. Weiterhin kann festgestellt werden, dass Inkonsistenz in der elterlichen Erziehung, plötzliche Veränderungen sowie eine – oftmals durch die eigene elterliche Belastung hervorgerufene – mangelnde Beachtung emotionaler Bedürfnisse Belastungen für die Jugendlichen darstellen, die sie mittels den ihnen in der jeweiligen Situation zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bewältigen suchen und die sie für Rückhalt und Akzeptanz versprechende Zusammenhänge empfänglich machen (vgl. Ecarius 2007, S.149ff.).
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5.2.4 Die innerfamiliale Bearbeitung von jugendlichem Rechtsextremismus und die (Un-)Wirksamkeit von Interventionen Die Familien der untersuchten Jugendlichen stehen deren Zugehörigkeit zur rechten Szene und der damit verbundenen rechtsextremistischen Einstellung unterschiedlich stark ablehnend gegenüber. Eine Ausnahme scheint hier der aktuelle Stiefvater von Dennis zu sein, der nach Aussage von Frau Behnke selbst eine zumindest rechtsorientierte Meinung vertritt. Während einige Eltern sich an der rechtsextremistischen Orientierung an sich stören, scheint es bei anderen vor allem das negativ auffallende und teilweise mit strafrechtlichen Konsequenzen verbundene Verhalten der Jugendlichen zu sein (vgl. hierzu die Ergebnisse von Möller/Schuhmacher 2007, S.173f.). Die drei befragten Mütter wissen über die Einstellung ihrer Söhne und deren Einbindung in die rechte Szene grundsätzlich Bescheid, dabei ist ihnen – vor allem Frau Schmidtlach – das Ausmaß in den Einzelheiten jedoch nicht umfassend bekannt, da die Jugendlichen mit ihrer fortschreitenden Involvierung in die Szene bemüht sind, ihre (delinquenten) Aktivitäten zu verbergen, um negative Konsequenzen aber auch eine emotionale Belastung ihrer Mütter zu vermeiden. Ähnliches berichteten zwei Jugendliche, bei denen die mütterliche Perspektive nicht erhoben wurde. So versucht Peter, seine massiv rechtsextremistischen Tätowierungen vor seiner Mutter zu verbergen. Holger äußert seinen Eltern gegenüber zwar deutlich seine Meinung, vermeidet aber weitere Provokationen, in dem er sich in Bezug auf seinen Kleidungsstil zurückhält und beispielsweise einschlägige Musik leise hört. Dies zeigt, dass den Jugendlichen nicht nur die kritische Haltung ihrer Eltern, sondern mindestens zum Teil auch ihre Sorge bewusst ist. Die Väter spielen in Bezug auf die elterlichen Interventionen in der Erzählung der Jugendlichen kaum eine Rolle, was mit ihrer häufig geringen Rolle im Alltagsleben zusammenhängen, aber auch ein Hinweis auf eine geringere Bezugnahme sein könnte. So erzählt beispielsweise Piet, dass sein Vater lange nicht über seine Einbindung in die rechte Szene Bescheid wusste, da er ihn diesbezüglich belogen hat, um Auseinandersetzungen und Stress zu vermeiden. Die von Köttig (2004), Quent (2016) und Böttger (1998) beschriebene teilweise Bedeutung der Großeltern als Multiplikator einer glorifizierenden Darstellung des Nationalsozialismus konnte für die hier untersuchten Fälle nicht festgestellt werden. Die Großeltern wurden im Zusammenhang mit der rechtsextremistischen Orientierung lediglich von Frau Kranich im Fall von Kai erwähnt, wobei ihnen die Funktion von über die Schrecken der NS-Zeit aufklärenden Zeitzeugen zukommt, was jedoch nicht den von Frau Kranich angestrebten Effekt einer Distanzierung bewirkte. Die Intensität der elterlichen Bezugnahme und Interventionen fällt also unterschiedlich aus und scheint mit der Intensität und emotionalen Nähe der Beziehung zusammenzuhängen. Das heißt, dass die Jugendlichen, die
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ein enges Verhältnis zu ihren Eltern beschreiben, auch von vielfältigeren Interventionsversuchen berichten. Der Begriff der emotionalen Nähe kann daher als ein Merkmal der Eltern-Kind-Beziehung festgehalten werden, das zwar nicht ausschließlich über die Qualität der Beziehung entscheidet, wohl aber den Grad der empfundenen gegenseitigen Verantwortlichkeit beeinflusst. Die Sicht der Jugendlichen Zunächst fällt auf, dass die drei Jugendlichen, bei denen auch die Mütter interviewt wurden, ein enges Verhältnis zu ihnen beschreiben, was bei den anderen Jugendlichen in diesem Ausmaß so nicht rekonstruiert werden konnte. Damit einher gehen auch Unterschiede in Bezug auf die Wahrnehmung der elterlichen Interventionen bzw. des elterlichen Einflusses an sich. Während Piet, Dennis und Kai bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur rechten Szene im ständigen Austausch respektive Konflikt mit ihren Eltern stehen und deren Interventionen und Meinungen so sie auch keine grundlegende Veränderung bewirken, doch zumindest einen Störfaktor darstellen, der den Jugendlichen die negativen Aspekte ihres Handelns immer wieder aufzeigt, bleibt die Beschreibung des elterlichen Einflusses bei den anderen drei Jugendlichen eher blass. Weiterhin lösen die enge Bindung an die Mutter sowie deren Bemühungen um die Jugendlichen eine Art moralischen Druck aus, der besonders von Kai und Dennis, aber auch von Piet nur schwer ignoriert werden kann. Das Gefühl, die Mutter zu enttäuschen und damit möglicherweise die einzig sichere Beziehung aufs Spiel zu setzen, setzt Kai und Dennis zu und verstärkt in Kombination mit den erfahrenen (und drohenden) staatlichen Sanktionen ihre Distanzierungsbemühungen. Ein als gut beschriebenes, formal konfliktfreies Verhältnis ist daher kein ausreichender Faktor für die Bestimmung der Beziehungsqualität und die Stärke des elterlichen Einflusses. Letzterer begründet sich vielmehr über eine hohe emotionale Nähe, die sich nicht zuletzt über eine offene sowie stetige Kommunikation und gegenseitige Zugewandtheit manifestiert. Davon beeinflusst wird auch der Grad, in dem die elterlichen Ansichten und Interventionen die Jugendlichen überhaupt noch interessieren. Dies wird bei den drei Jugendlichen deutlich, bei denen zwar ein gutes, aber emotional eher distanziertes Verhältnis zu den Eltern bzw. zur Mutter rekonstruiert werden konnte. So beschreibt Holger eine positive und unbelastete Beziehung zu seinen Eltern, ihre Meinung in Bezug auf seine Lebensgestaltung und damit verbunden auch seine Zugehörigkeit zur rechten Szene ist ihm jedoch einerlei. Ähnlich argumentiert auch Bastian, der von Diskussionen berichtet, in denen seine Eltern seine Zugehörigkeit zur rechten Szene und die damit verbundene rechtsextremistische Einstellung kritisierten, was ihn jedoch nicht beeindruckt:
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„naja begeistert warn se nich ham sich hinjesetzt ham versucht mir das auszureden mehr oder wenjer aber s hat halt nich funktioniert (.) bin dabei jeblieben ham immer jesacht die finden das nich jut aber (...5) pech jehabt sach ich dazu“ (Interview mit Bastian, 163-165) „ich lass mir doch nüscht mehr von mein eltern sagen“ (Interview mit Bastian, 281-282)
Lediglich Peter erzählt, dass er zumindest seine massiv rechtsextremistischen Tätowierungen vor seiner Mutter zu verbergen sucht, da sie ihm in diesem Falle damit gedroht hat, ihn vor die Tür zu setzen. Die mütterliche Perspektive Wahrnehmung und Umgang Die befragten Mütter erkennen die rechtsextremistische Entwicklung ihrer Söhne nicht auf Anhieb und werden von deren Rasanz überrascht (vgl. hierzu auch die Ergebnisse von Becker 2008, S.314). Während sie zunächst von einer passageren jugendsubkulturellen Phase ausgehen, deren Motivation sie entweder in jugendtypischem Protest- und Provokationsverhalten oder aber in den örtlichen Strukturen der jugendlichen Subkulturen sehen, müssen sie schließlich erkennen, dass ihre Söhne bereits tiefer in die rechte Szene verstrickt sind. Die Mütter beschreiben eine hohe Belastung. Sie fühlen sich hilflos und in Bezug auf die von ihnen in ihrer elterlichen Verantwortung geforderten Interventionen überfordert. Dabei befinden sie sich in einem Spannungsverhältnis zwischen ihrer Zuneigung und Liebe zum Kind und der Befremdung über dessen rechtsextremistische Entwicklung, die sie sich nicht erklären können. Dieser innere Konflikt kann eine Begründung für die teilweise aufgefundenen Bagatellisierungen sowie auch das Wegschauen im Sinne eines Nicht-Wahrhaben-Wollens sein. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Becker (2008, S.301ff. u. S.348ff.), der ebenfalls elterliche Gefühle der Ohnmacht, Hilflosigkeit und Zerrissenheit konstatiert. Vor allem Frau Schmidtlach, die sich selbst als eher links orientiert und sehr tolerant begreift, aber auch Frau Kranich, die rechtsextremistischen Einstellungen stark ablehnend gegenüber steht, sind von der Entwicklung ihrer Söhne emotional angeschlagen. Frau Behnke beansprucht zwar für sich, eine rechte Orientierung nicht nachvollziehen und teilen zu können, ist aber diesbezüglich toleranter. Sie stört sich vor allem an den von Dennis im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zu einer rechten Clique begangenen Straftaten, die ihren sowie den Ruf ihrer Familie schädigen, die Außendarstellung belasten und seine Chancen auf den Aufbau der von ihr gewünschten Normalbiografie behindern. Es wird eine starke Ambivalenz zwischen der Ablehnung und auch Wut über die Zugehörigkeit zur rechten Szene und das damit verbundene Verhalten sowie der Wahrnehmung der Persönlichkeit ihrer Kinder und der mütterlichen Liebe zu ihnen deutlich, die die untersuchten Mütter belastet. Sie können nicht
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nachvollziehen, wie ihre Söhne, deren Charakter sie kennen und schätzen, eine rechtsextremistische Orientierung vertreten können. Ihr im Kontext der rechten Szene verändertes Auftreten und Verhalten erschreckt und befremdet sie. Besonders pointiert wird das im Interview von Frau Kranich ausgedrückt, die vor allem Kais im Kontext der rechten Szene gezeigtes gewalttätiges Verhalten bedrückt: „das is wie jekyll und hyde wenn wenn se wenn ich als mutter wie ich ihn kenne ja auf der einen seite so ein lieber guter netter junge ja (lacht) (I.: hm) und hilfsbereit und auf der andern seite kann der so aggressiv auch werden und böse auch werden eben unter alkohol ja“ (Frau Kranich, 293-296)
Konstruktive, als hilfreich und entlastend erlebte Unterstützung wird von den Müttern kaum beschrieben. Frau Kranich, die aktiv nach professioneller Hilfe suchte, fühlt sich unverstanden und schlecht beraten. Frau Behnke dagegen sieht sich durch die Instanzen der sozialen Kontrolle an den Pranger gestellt und staatliche Reaktionen auf das delinquente Verhalten von Dennis teilweise als übertrieben an. Interessant ist dabei das unterschiedliche Vorgehen der beiden. Während Frau Kranich aktiv auf der Suche nach professionellen Unterstützungsmöglichkeiten ist, steht Frau Behnke Jugendhilfe, Polizei und Gericht sehr kritisch gegenüber und versucht den Kontakt zu vermeiden. So reguliert sie beispielsweise durch Dennis verursachte Schäden finanziell, um die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen, nimmt jedoch nicht an ihn betreffenden Gerichtsverhandlungen teil. Beide Mütter setzen aber letztlich ihre Hoffnungen auf eine durch staatliche Sanktionen vermittelte Grenze, die ihre Söhne zur Vernunft bringen soll. Hierin wird noch einmal die Hilflosigkeit sichtbar, mit der die Mütter der rasanten negativen Entwicklung ihrer Kinder gegenüberstehen: Sie hoffen auf eine externe regulierende Kraft, der eine wirksame Intervention gelingt. Frau Schmidtlach bleibt demgegenüber ihrem Konzept des Lernens aus Erfahrung treu und greift nur wenig grenzsetzend ein, was möglicherweise jedoch auch mit Piets bislang positiver schulischer Entwicklung und seinem strafrechtlich relativ unauffälligen Lebenswandel zusammenhängt. Sie beschreibt auch keine Erfahrungen mit professioneller Unterstützung durch Beratungsstellen o.ä. und scheint diesbezüglich bislang auch keinen Kontakt gesucht zu haben. Interventionen Die drei befragten Mütter reagierten ganz unterschiedlich auf die rechtsextremistische Entwicklung ihrer Söhne (siehe Abb. 29). Frau Behnke interveniert vor allem hinsichtlich des mit der Zugehörigkeit zur rechten Szene verbundenen delinquenten Verhaltens von Dennis, während sich Frau Kranich und Frau Schmidtlach auch massiv an der rechtsextremistischen Orientierung an sich stören.
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Insgesamt ergibt sich ein Spektrum von stark konfrontativ-restriktiven bis hin zu tolerant-gesprächsbereiten Interventionen. Allen unternommenen Interventionsversuchen ist jedoch eins gemeinsam – sie kamen zu spät und blieben weitgehend wirkungslos, während die Involvierung in die rechte Szene weiter voranschritt. Dies ist jedoch nicht allein auf den verpassten Zeitpunkt zurückzuführen, sondern resultiert auch aus einem mangelnden Passungsverhältnis von mütterlicher Reaktion und jugendlichem Bedürfnis. Piet zum Beispiel ist auf der Suche nach klaren Grenzen, Struktur und Orientierung, seine Mutter jedoch setzt auf Eigenverantwortung, Selbsterfahrung und Toleranz. Die von Piet ersehnte durchaus autoritäre Grenze bleibt (bis auf eine Ausnahme: die Wegnahme seiner Springerstiefel) aus, in den von seiner Mutter und seiner Schwester angeregten Diskussionen fühlt er sich unterlegen. Kais Einstieg in die rechte Szene ist der Versuch, sich aus seiner subjektiv verzweifelten und dramatischen Situation zu befreien. Seine Mutter reagiert jedoch nur auf sein rechtsextremistisches Verhalten, während seine inneren Nöte mit der familialen und schulischen Situation weiter übersehen und nicht bearbeitet werden. Damit bleibt die problematische Situation für Kai bestehen und er rutscht immer tiefer in die Szene hinein. Was den Müttern also fehlt, ist nicht die Bereitschaft in Bezug auf die rechtsextremistische Karriere ihrer Söhne zu handeln und entsprechend einzuschreiten. Es gelingt ihnen jedoch nicht, die Situation aus ihrer familialen Innenperspektive heraus adäquat wahrzunehmen, einzuschätzen und das eigene Verhalten bzw. die familiale Situation zu reflektieren, was zu einer unzureichenden Bearbeitung der zugrunde liegenden Problemlagen führt und wirksame Interventionen verhindert. Direkte Konfrontationen der Jugendlichen, die sich auf ihre rechtsextremistische Orientierung beziehen, fallen Frau Behnke und Frau Schmidtlach mitunter nicht leicht, da sie Auseinandersetzungen befürchten und das an sich gute Verhältnis zu ihren Söhnen nicht gefährden wollen. Frau Kranich dagegen konfrontiert Kai massiv und ausdauernd, was aufgrund der vielen Auseinandersetzungen schließlich zu einem Zustand der Erschöpfung und Ratlosigkeit führt, der sie Kais zu verbüßende Haftstrafe als Erleichterung erleben lässt. Insgesamt wird deutlich, dass es den Müttern schwerfällt, in Auseinandersetzungen angekündigte Maßnahmen konsequent umzusetzen, was u.a. aus der Angst eines vollständigen Beziehungsverlustes resultiert. Es scheint, dass sich Familie und rechte Szene im Zuge einer rechtsextremistischen Karriere in einer direkten Konkurrenzsituation befinden, die die Eltern bezüglich ihres Vorgehens massiv unter Druck setzt. Eine konsequente Grenzsetzung kann von den Jugendlichen angenommen werden, sie kann aber auch zu einer weiteren Distanzierung von der Familie bei gleichzeitiger Verstärkung der Zugehörigkeit zur Szene
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führen. Der Grat dazwischen ist schmal und von den sich in diesem Dilemma befindlichen Eltern nur schwer auszuloten. Den drei Müttern gemeinsam sind Gefühle der Überforderung und Ohnmacht, da ihre Bemühungen zu einem bestimmten Zeitpunkt der fortgeschrittenen Einbindung in die rechte Szene nicht mehr fruchten und ihre Interventionen weitgehend unwirksam bleiben. Dennoch setzen alle drei ihre Bemühungen um die Beziehung zu ihren Söhnen fort, wobei es ihnen vor allem darum geht, deren Tragfähigkeit zu erhalten und mit ihren Söhnen im Gespräch zu bleiben. Damit stellen sie einen wichtigen Anker- und Anlaufpunkt dar, der von den Jugendlichen genutzt wird und ihnen Unterstützung im Falle eines möglichen Rückzuges aus der Szene bietet.
Abb. 29: Interventionen der Mütter
Während Frau Kranich und Frau Behnke sich auch weiterhin aktiv um eine Distanzierung ihrer Söhne von der rechten Szene bemühen und sie in ihrem diesbezüglichen Bestreben bestärken und unterstützen, hat Frau Schmidtlach resigniert und hofft auf eine irgendwann bei Piet einsetzende Selbsterkenntnis. Das im Vergleich zu den beiden anderen Müttern geringere Engagement Frau Schmidtlachs kann jedoch, neben ihrer grundsätzlich differenten Erziehungshaltung, auch mit der ansonsten unauffälligen Entwicklung und dem schulischen Erfolg Piets zusammenhängen, die die Notwendigkeit von massiven Interventionen möglicherweise geringer erscheinen lassen.
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5.2.5 Die Bedeutung der familialen Beziehungen für die Entstehung, Verfestigung und mögliche Überwindung der rechtsextremistischen Karriere – Ein Fazit Insgesamt können die Analyseergebnisse den von Winkler (2012) konstatierten großen Bedarf der Jugendlichen an elterlicher Zuwendung und Unterstützung bei der Bewältigung alltäglicher aber auch außergewöhnlicher Anforderungen bestätigen. Diesbezüglich konnte für alle Jugendliche eine mindestens dysfunktionale elterliche Bezugnahme rekonstruiert werden. Zu berücksichtigen ist dabei die in der Jugendphase schrittweise erfolgende Loslösung von den Eltern, die eine zusätzliche Dynamik in das Eltern-Kind-Verhältnis bringt und beide Seiten vor neue Herausforderungen bezüglich des Umgangs miteinander stellt. Die Gleichzeitigkeit dieser neuen Anforderungen und einer beginnenden rechtsextremistischen Karriere wird von Becker (2008, S.356) treffend als „doppeltes Belastungsmoment“ bezeichnet, das eine Verunsicherung der Eltern mit sich bringt. Weiterhin können die von Böttger (1998) beschriebenen Probleme mit der Erfüllung elterlicher Anforderungen und Erwartungen bestätigt werden, die die Jugendlichen belasten, wobei die diesbezüglich aufgefundene große Bandbreite zu betonen ist. Im Falle der hier untersuchten Jugendlichen war dies der elterliche Anspruch:
bezüglich des Aufbaus einer Normalbiografie (Dennis), an Eigenverantwortlichkeit und selbständiges Lernen aus Erfahrungen (Piet), der schnellen Anpassung an sich rasant verändernde Lebensumstände (Kai, Dennis), hinsichtlich des Aushaltens des häufigen Alleinseins (Bastian, Kai, Dennis) und die Forderung der damit verbundenen tatsächlichen und emotionalen Selbständigkeit sowie an die schulische Leistungsfähigkeit (Peter, Holger, Dennis), der den jeweiligen Jugendlichen überforderte.
Auffällig sind die vorgefundenen biografischen Brüche und als dramatisch empfundenen persönlichen Problemlagen der Jugendlichen, die sowohl bei den von Scheidung betroffenen als auch bei den in einer vollständigen Familie aufgewachsenen Jugendlichen zu finden waren. Dies korrespondiert mit den Ergebnissen von Heitmeyer/Müller (1995, S.55ff.), die in ihrer Gewalttäterstudie ebenfalls eine Häufung als dramatisch empfundener Lebenseinschnitte verzeichneten (vgl. auch Frindte/Neumann 2002, S.149).
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Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung machen deutlich, dass protektive und risikoerhöhende Elemente familialer Beziehungen nicht nur von der grundsätzlichen Einstellung der Eltern sowie ihren erzieherischen Kompetenzen abhängen, sondern auch von den Einflüssen und Ereignissen, mit denen die Familie im Laufe ihrer Familiengeschichte konfrontiert wird. Akute Belastungen der Eltern durch einschneidende Lebensereignisse, aber auch dauerhaft auftretende Stressoren können zur Erschöpfung elterlicher Ressourcen, einer verminderten Aufmerksamkeit und Überforderung mit den Anforderungen der jeweiligen Lebenssituation führen, die sich negativ auf die familialen Beziehungen und das Erziehungsverhalten auswirken. Die von Frindte/Neumann (2002, S.174) beschriebene "innerfamiliale Gleichgültigkeit" kann für die hier untersuchten Fälle nicht umfänglich bestätigt werden. Es muss vielmehr verstärkt hinterfragt werden, aus welchen Gründen elterliche Kontrolle und Aufmerksamkeit (phasenweise) nicht in einem ausreichenden Maß vorhanden ist. Familien müssen bei der Bewältigung herausfordernder Lebenslagen verstärkt in Bezug auf die Wahrnehmung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder sowie hinsichtlich einer konstruktiven Kommunikation sensibilisiert werden. Die in der Literatur betonten Risikofaktoren (vgl. etwa Heitmeyer/Müller 1995; Heitmeyer u.a. 1998; Clemenz 1998; König 1998; Hopf 1995; UtzmannKrombholz 1994; Bohnsack u.a. 1995) wie mangelnde Zuwendung, fehlende Aufmerksamkeit und Gleichgültigkeit von Eltern gegenüber ihren Kindern müssen daher auch vor dem Hintergrund der Prozesshaftigkeit des familialen Lebens betrachtet werden, wodurch sich ein differenzierteres Bild fehllaufender elterlicher Bezugnahme auf kindliche bzw. jugendliche Entwicklungsprozesse ergibt. Konkret bedeutet dies, dass Risikofaktoren nicht nur bei den „typischen“ Problemfamilien zu verorten sind, mit denen die Jugendhilfe in ihrer täglichen Arbeit häufig konfrontiert ist, sondern dass sie auch in durchschnittlichen Familien mit grundsätzlich kompetenten Eltern auftreten können, wenn ihre Ressourcen aufgrund verschiedener Lebensereignisse und -entwicklungen erschöpft sind und die Familie in ihrer Funktion als „Knautschzone der Gesellschaft“ (Wahl 1997, S.102) mit der Bewältigung der auftretenden Anforderungen überfordert ist. Die von Frindte/Neumann (2002) sowie Heitmeyer/Müller (1995) beschriebenen und auch hier rekonstruierten biografischen Brüche sind daher immer vor dem Hintergrund ihrer Auswirkungen auf die Familie als Ganzes zu betrachten, was einen systemischen Ansatz in der pädagogischen Praxis sinnvoll erscheinen lässt. Anhand der rekonstruierten Einstiegs-, Verlaufs- sowie im Falle von Kai und Dennis auch Distanzierungsprozesse zeigen sich folgende Muster in den familialen Interaktionen: Die der Hinwendung zur rechten Szene zunächst immanente
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Signalfunktion und die damit auch verbundenen Intentionen, zu schockieren, zu provozieren, auf sich und die eigene Notlage aufmerksam zu machen, aber sich auch von der Erwachsenen-/Elternwelt abzugrenzen, werden von den Eltern aus verschiedenen Gründen nicht genügend beachtet, bemerkt, oder auch ernst genommen. Dies kann beispielsweise mit der oben erläuterten eigenen fordernden Lebenssituation zusammenhängen, daraus resultieren, dass die Eltern aufgrund des Jugendalters eine geringere elterliche Kontrolle ausüben und/oder sie zunächst von einer vorübergehenden jugendtypischen Phase ausgehen. Des Weiteren könnte die Problematik einer verspäteten Wahrnehmung bzw. Intervention auch mit der Beschaffenheit der Eltern-Kind-Beziehung an sich zusammenhängen, da die mit der starken emotionalen Bindung an das eigene Kind einhergehende positive Wahrnehmung seiner Persönlichkeit das Erkennen einer problematischen Entwicklung erschweren kann. Erst im weiteren Prozess der Einbindung in die Szene werden die Mütter respektive die Eltern aktiv (vgl. Becker 2008, S.358). Der günstigste Zeitpunkt für wirksame Interventionen ist dann jedoch bereits verpasst, da die Jugendlichen schon zu sehr in die Szene involviert sind, diese zu ihrem zentralen Bezugspunkt und vermeintlichen Rückhalt geworden ist (Möller 2000; vgl. hierzu die Ergebnisse von Becker 2008, S.354). Die Enttäuschung der Jugendlichen über die aus ihrer Sicht mangelnde oder dysfunktionale Bezugnahme der Eltern in der von ihnen als dramatisch und verunsichernd empfundenen Lebenssituation verstärkt den emotionalen Rückzug und die Konzentration auf den neuen Stabilität versprechenden Freundeskreis. Die elterliche Unaufmerksamkeit und die durch die jeweiligen Umstände bei den Jugendlichen auftretende (Beziehungs-)Unsicherheit schafft eine Lücke, die durch die Szene gefüllt und besetzt wird. Dennoch zeigt sich anhand der Fälle von Dennis und Kai, dass fortlaufende Interventionen und Bemühungen der Eltern im Sinne von „Störfaktoren“ von Bedeutung sind und den Jugendlichen immer wieder massiv vor Augen führen, dass ihr Verhalten nicht toleriert wird. Entscheidend ist dabei jedoch der Grad der grundlegenden emotionalen Bindung, die einen entscheidenden Aspekt der Beziehungsqualität darstellt. Eine starke emotionale Verbundenheit mit den Eltern ist mit einer gegenseitigen Verantwortlichkeit verknüpft und trägt dazu bei, dass die Beziehung trotz der mit der Zugehörigkeit zur rechten Szene verbundenen massiven Konflikte bestehen bleibt und diese aushält. Dies kann, wie die Fälle von Kai und Dennis zeigen, eine wichtige Rolle bei der Distanzierung von der rechten Szene spielen. Die Rückbesinnung auf die Familie und die damit verbundene Möglichkeit, Unterstützung und Rückhalt bei einem Neuanfang zu erfahren, stellen entscheidende Ressourcen für einen gelingenden Ausstieg aus der Szene dar. Die stabilisierende Wirkung familialen Rückhalts beim
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Ausstiegsprozess wird ebenfalls durch die Untersuchung von Möller/Schuhmacher (2007) bestätigt. Der Fall Holger verdeutlicht die Bedeutung einer engen auf emotionale Gegenseitigkeit ausgerichteten Beziehung: Obwohl er aus einer vollständigen Familie mit als unproblematisch beschriebenen Beziehungen zu den Eltern stammt, sind sowohl der Einfluss der Mutter als auch der des Vaters nur von geringer Bedeutung für ihn. Er bezieht seine Eltern kaum noch in seine Entscheidungen aber auch Probleme ein. Der Grad, in dem die Jugendlichen im fortgeschrittenen Jugendalter den Rat oder auch die Interventionen ihrer Eltern annehmen, hängt also stark mit der Ausprägung der emotionalen Bindung zusammen (vgl. Bowlby 2014). Eine tragfähige, von gegenseitiger Wärme und Zuneigung geprägte Beziehung stellt somit den Schlüssel für erfolgversprechende Ansatzpunkte dar. Hierfür soll der Begriff der emotionalen Achtsamkeit geprägt werden, worunter die elterliche Aufmerksamkeit in Bezug auf die innere Verfassung und das persönliche Empfinden ihrer Kinder verstanden wird, was über eine Wahrnehmung, Beurteilung und Bearbeitung der äußeren Ereignisse hinausgeht. Umgekehrt werden Jugendliche in einer von emotionaler Achtsamkeit geprägten Beziehung auch die Sorge und Belastung ihrer Eltern durch ihr Verhalten eher wahr- und annehmen. Die Väter bzw. Stiefväter spielen eine wesentliche Rolle bei den von den Jugendlichen als dramatisch empfundenen Problemlagen, in dem sie entweder eine Ursache derselben darstellen oder aber aufgrund verschiedener Umstände nicht genügend als die identitätsstiftenden sowie Halt und Orientierung vermittelnden Bezugspersonen zur Verfügung stehen, als die sie von den Jugendlichen dringend gebraucht werden. Die vorliegende Untersuchung kann daher die von Möller (2000) in Widerspruch zu den Ergebnissen der Autoritarismusforschung (Hopf 1995) betonte Relevanz der Väter bestätigen. Es zeigte sich jedoch gleichzeitig die besondere Bedeutung der Mutter als Vertraute und sichere Basis (vgl. hierzu die Ergebnisse von Böttger 1998, der ebenfalls massiv belastete Beziehungen zum Vater und enge zur Mutter beschreibt). Im Hinblick auf die von den Eltern unternommenen Anstrengungen, der rechtsextremistischen Karriere Einhalt zu gebieten, wird den (Stief-)Vätern dagegen kaum eine bedeutsame Funktion attestiert. Dies mag auch mit den Gegebenheiten der jeweiligen Familien zusammenhängen, es fällt aber dennoch ins Auge, dass bei keinem Jugendlichen eine Konstellation aufgefunden wurde, bei der ein stark engagierter Vater intensiv gegen die Zugehörigkeit zur rechten Szene interveniert. Insgesamt zeigt sich in Bezug auf den Einstieg in die rechte Szene aber vor allem die Verfestigung einer rechtsextremistischen Karriere ein Geflecht an
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äußeren Bedingungen, familialen Problemen, unterschiedlichen Perspektiven und emotionalen Aspekten, dessen hohe Komplexität erst durch die Triangulation von mütterlicher und jugendlicher Befragung sichtbar wird. Dadurch konnten bislang bekannte Zusammenhänge hinsichtlich familialer Einfluss- und Risikofaktoren verdichtet, aber auch konkretisiert und erweitert werden. Eine entscheidende Rolle für wirksame Interventionen spielen sowohl eine zeitnahe Reaktion, die den richtigen Zeitpunkt – also den des Einstiegs – nicht verpasst, sowie die emotionale Achtsamkeit der Eltern, die sie die tatsächlichen Nöte und Sorgen der Jugendlichen erkennen und belastenden Entwicklungen rechtzeitig gegensteuern lässt. Dazu ist eine hohe elterliche Selbstreflexion von Nöten, bei der Eltern auf eine sensible professionelle Unterstützung zurückgreifen können sollten. Aus pädagogischer Sicht gilt es die Eltern daher darin zu bestärken, frühzeitig Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen und sie dabei zu unterstützen, verborgene Problemlagen ihrer Kinder zu erkennen und effektiv zu bearbeiten. Darüber hinaus wären weitere Erhebungen, die auch die väterliche Perspektive einbeziehen von großem Wert für den Erkenntnisgewinn. 5.3 Biografische Prozesse und familialer Kontext – Lebenszusammenhänge rechter Jugendlicher In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Biografie-Verläufe rechtsextremistisch orientierter Jugendlicher sowie ihre familialen Hintergründe rekonstruiert, deren Einfluss auf die Entwicklung einer rechtsextremistischen Karriere von zentralem Interesse war, und die hieraus gewonnenen Erkenntnisse in einer fallübergreifenden Analyse dargestellt. Bei einer Zusammenführung der biografischen und familialen Auswertungsebenen ist zunächst die in Kapitel 1.2 dargelegte hohe Bedeutung der Familie als zentrale Sozialisationsinstanz und emotionale Basis für die hier untersuchten Jugendlichen zu bestätigen, die mit einer hohen Sensibilität gegenüber Störungen und Belastungen in den Beziehungsgefügen einhergeht, wobei vor allem eine konstruktive Kommunikation sowie Aufmerksamkeit gegenüber den emotionalen Befindlichkeiten der Jugendlichen aber auch eine Auseinandersetzung mit elterlichen Belastungen und Belastungsgrenzen ein Rolle spielen. Die anhand der fallübergreifenden Analyse gebildeten zwei Typen rechtsextremistischer Jugendlicher sind von den familialen Hintergründen unabhängig und konnten nicht auf die Familien angewendet werden. Als bedeutsam für den Einstieg in die rechte Szene erwies sich bei den hier untersuchten Jugendlichen ein komplexes Zusammenspiel von schicksalhaft eintretenden biografischen Ereignissen, aber auch langfristig belastenden
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Situationen, wobei schulische Schwierigkeiten neben gesundheitlichen und innerfamilialen Problemen eine große Rolle spielten (vgl. die Ergebnisse von Peucker, Gaßebner und Wahl 2003) sowie einer aus unterschiedlichsten Gründen dysfunktionalen Bezugnahme der Eltern. Die daraus resultierende Offenheit für Rückhalt versprechende Beziehungen mündete durch (zufällige) Begegnungen mit als vertrauenswürdig und annehmend wahrgenommenen Peers, das Fehlen eines adäquaten erwachsenen Ansprechpartners sowie jugendsubkulturelle Reize (Musik, Kleidung, Freizeitgestaltung, Stärke) in einem Anschluss an eine rechte Clique, wobei dieser z.T. als eine Art „Reinrutschen“ erlebt wurde. Von Bedeutung für die weitere Entwicklung in der Szene waren nicht die problematischen Situationen an sich, sondern die jeweilige subjektive Wahrnehmung durch die Jugendlichen, die von ihnen aktivierbaren oder eben nicht aktivierbaren unterstützenden Ressourcen und die fehlende Passgenauigkeit von Interventionen und Hilfen durch die Eltern, wobei sowohl zeitliche als auch inhaltliche Faktoren eine Rolle spielten. Die in den vorliegenden Fällen aufgefundene Häufung von wenig verfügbaren Elternteilen, insbesondere Vätern, wird durch die von Hohnstein/Greuel (2015, S.62) im Rahmen ihrer Studie zu pädagogischen Ansätzen und Erfahrungen befragten Fachkräfte bestätigt. Die familialen Gegebenheiten stellen insgesamt einen wichtigen Einflussfaktor sowohl hinsichtlich des Einstiegs in die rechte Szene, als auch in Bezug auf eine unterstützende Funktion bei einer möglichen Distanzierung dar. Die Bedeutung des familialen Einflusses auf die Entwicklung einer rechtsextremistischen Karriere bezieht sich bei den hier untersuchten Jugendlichen, wie im letzten Kapitel ausführlich dargestellt wurde, jedoch nicht auf eine per se negative, vernachlässigende bzw. das Kindeswohl gefährdende häusliche Situation, eine etwaige Vermittlung rechtsextremistischer Einstellungen und Positionen durch die Eltern oder Großeltern61 und auch nicht auf einen konkret herstellbaren Zusammenhang zu einem bestimmten Erziehungsstil der Eltern oder strukturellen Aspekten. Es bestätigt sich vielmehr die im theoretischen Teil der Untersuchung herausgearbeitete hohe Bedeutung der sozio-emotionalen Funktion der Familie sowie ihrer Aufgabe als Verarbeitungsinstanz. Gerät diese Funktion aufgrund verschiedenster Umstände aus dem Gleichgewicht und finden die Jugendlichen nicht das nötige Gehör und die nötige Aufmerksamkeit für ihre im Zuge von biografischen 61
Lediglich die mindestens kritische Einstellung gegenüber (strafrechtlich auffälligen) Menschen mit Migrationshintergrund des aktuellen Stiefvaters von Dennis könnte hier als bestärkender Einfluss angesehen werden. Die Herstellung eines solchen Zusammenhangs ist allerdings hauptsächlich spekulativ, da diesbezüglich außer der Beschreibung eines guten Verhältnisses zwischen beiden kaum Anhaltspunkte für eine konkrete Beeinflussung rekonstruiert werden konnten.
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Prozessen und Ereignissen auftretenden Bedürfnisse und Probleme, stellt das einen Risikofaktor bezüglich einer fehllaufenden Entwicklung dar, die in einer rechten Karriere münden kann. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht unbedingt auf der tatsächlichen Lösung eines Problems, sondern vor allem auf dem Gefühl des Verstanden-, Angenommen- und Unterstützt-Seins. Familiale Desintegrationserfahrungen, aber auch ein für sie subjektiv nicht passendes elterliches Erziehungshandeln setzten den Jugendlichen schwer zu. Von herausragender Bedeutung sind also nicht die strukturellen Bedingungen des Familienlebens, sondern eine sich über emotionale Achtsamkeit und Nähe der bzw. zu den Eltern manifestierende enge Bindung, die den Jugendlichen den entsprechenden Rückhalt bietet und eine Kommunikation ermöglicht, die die offene Thematisierung problematischer Zusammenhänge erlaubt (vgl. Bowlby 2015, S.45). Die in der vorliegenden Untersuchung anhand der biografischen Erzählungen rekonstruierten multifaktoriellen Bedingungsgefüge, die die Jugendlichen belasteten und verunsicherten, führten im Zuge der Wahrnehmung neuer Möglichkeiten des jugendsubkulturellen Anschlusses auch zu einer Offenheit gegenüber neuen Ansichten. Eine rechte oder rechtsextremistische Orientierung wurde meist erst im Laufe der Zugehörigkeit zu einer entsprechenden Clique entwickelt oder aber dort zumindest inhaltlich geschärft und radikalisiert. Hinsichtlich der Auswirkungen von elterlichen Interventionen ließ sich eine Abhängigkeit vom Interventionszeitpunkt sowie der Art und Weise feststellen, in der diese sich auf das aufgeschichtete Verlaufskurvenpotential sowie auf die von den Jugendlichen als besonders belastend empfundenen Lebensumstände und/oder Beziehungsprobleme bezogen. Hierin liegt ein wichtiger Ansatzpunkt für elterliche Interventionen, aber auch eine professionelle pädagogische Bezugnahme. In den Fällen, in denen auch die Mutter befragt wurde, zeigte sich eine hohe Übereinstimmung in den lebensgeschichtlichen Erzählungen, völlig gegensätzliche Sichtweisen wurden nicht gefunden. Dies zeigt die vorhandene Reflexivität der Familien – die sicherlich auch ihre Bereitschaft zur Teilnahme an einem Interview mit begründete – verweist aber auch darauf, dass die Kommunikation miteinander über eben jene bedeutsamen lebensgeschichtlichen Ereignisse und Zusammenhänge nicht gut gelang. Dies könnte daran liegen, dass das Sprechen über problematische und konfliktträchtige Zusammenhänge mit einem neutralen, unbeteiligten Dritten leichter fällt, da keine belastenden Eskalationen und Auseinandersetzungen, aber auch ungewollte Verletzungen des Gegenübers zu befürchten sind, Gedanken sich so freier entwickeln können. Hieraus lässt sich ein Bedarf nach moderierenden und vermittelnden Hilfen in der Arbeit mit Familien ableiten, der im folgenden Kapitel u.a. aufgegriffen wird.
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Zusammenfassend erbrachte die vorliegende Untersuchung weiterhin folgende Erkenntnisse:
Die Ursachen für eine rechtsextremistische Karriere sind vielfältig, komplex und von einer Vielzahl von verschiedenen Faktoren abhängig. Trotz der Vielzahl der Theorien, die die Ursachen für Rechtsextremismus zum Gegenstand haben und die mögliche Zusammenhänge erklären, gibt es keine Theorie, die allumfassend gültig ist (vgl. hierzu auch Schuhmacher/Möller 2007). Wenn es keine allgemeingültigen Erklärungen bzw. kein Finden der Ursache gibt, ist es nützlich, das Augenmerk auf die Rekonstruktion rechter Karrieren zu richten, um den jeweiligen subjektiven Nutzen einer rechtsextremistischen Szenezugehörigkeit sowie Einstiegs- , Verlaufs- und mögliche Ausstiegsprozesse zu erschließen und pädagogische Handlungskonzepte entwickeln bzw. anbieten zu können. Dazu sind qualitative Untersuchungen nötig, die einer detaillierten Darstellung des Phänomens anhand von Einzelfällen mehr Raum geben und die die mittels quantitativer Studien und stark zusammenfassender qualitativer Studien geschaffene Datenlage sinnvoll erweitern und ergänzen. Eine Debatte um Begrifflichkeiten und immer neue Bezeichnungen für das Phänomen „Rechts“ mag theoretisch gerechtfertigt und für den wissenschaftlichen Disput im Sinne neuer Zugänge zum Phänomen interessant sein, bringt aber für die Praxis nur dann einen Nutzen, wenn damit ein Instrumentarium verbunden ist, das dabei hilft, die rechte bzw. rechtsextremistische Entwicklung der Klientel adäquat einzuschätzen. Die Rekonstruktion der Biografie-Verläufe sowie der familialen Zusammenhänge erbrachte Erkenntnisse, die für eine konkrete pädagogische Bezugnahme im jeweiligen Fall nützlich und handlungsleitend wären. Für die pädagogische Praxis bedeutet dies, dass das biografische Arbeiten durch erzählgenerierende Techniken im Sinne Schützes ein wertvolles Instrument in Bezug auf jugendlichen Rechtsextremismus sein kann, das Hintergründe sichtbar macht, Reflexionen auslöst und damit auch Optionen für die Lösung von Konflikten, die Bewusstmachung von problematischen Konstellationen oder einer fehllaufenden Kommunikation bietet. Die in fünf der sechs Fälle rekonstruierten schulischen Probleme in Form von Leistungsschwierigkeiten, aber auch Situationen der Überforderung, des sozialen Ausschlusses und der Anpassungs-
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schwierigkeiten an veränderte schulische Bedingungen zeigen auf, dass hier eine höhere Aufmerksamkeit seitens der Schule sowie eine verstärkte Kooperation mit den Familien wichtig wäre, was unter den aktuellen schulischen Bedingungen nur schwer umsetzbar scheint. Das Augenmerk in der pädagogischen Arbeit sollte zukünftig auch stärker auf eine mögliche Verkettung von schulischen Desintegrationserfahrungen mit einem subjektiv als nicht hilfreich empfundenen elterlichen Rückhalt gerichtet werden, wobei neben Problemen im Leistungsbereich vor allem eine ungenügende soziale Integration in die Klassen- und Schulgemeinschaft von Bedeutung ist. Bedeutsam ist die aufgefundene Problembelastung der Familien durch Schicksalsschläge oder anderweitige Problemlagen, die nicht nur die Jugendlichen belasten, sondern auch die Aufmerksamkeit und Belastbarkeit der Eltern bzw. der Mütter bindet und eine adäquate Wahrnehmung und Reaktion in Bezug auf die jugendlichen Bedürfnisse und Entwicklungen erschwert. Zum Teil wurden hochproblematische Beziehungen zu den Vätern rekonstruiert, während die Beziehungen zu den Müttern, trotz ihnen immanenter Probleme von den Jugendlichen als gut beschrieben wurden. Selbst wenn die Beziehung zu den Vätern nicht von Konflikten geprägt war, fehlte den Jugendlichen ein umfassender an ihrem Alltagsleben teilnehmender väterlicher Bezug und Einfluss. Für zukünftige Forschungsvorhaben wären daher triangulierende Zugänge interessant, die auch die Perspektive der Väter einbeziehen und stärker auf die Vater-Sohn- bzw. Vater-Tochter-Beziehung fokussieren. Die Zugehörigkeit zur Szene war für die Jugendlichen mit einem subjektiven Nutzen verbunden, der ihre persönliche Situation für den Moment aus ihrer Sicht verbesserte und hatte somit mindestens zunächst eine kompensatorische Funktion. Es gilt diesen Nutzen in der Arbeit mit rechten und rechtsextremistischen Jugendlichen herauszufinden, um (Handlungs-)alternativen anbieten zu können, die für den jeweiligen Jugendlichen passend sind. Die Interventionen der Eltern der hier untersuchten Fälle kamen zu spät, berücksichtigten die subjektiv empfundenen jugendlichen Problemlagen nicht genügend und/oder waren nicht passgenau. Sind die Jugendlichen erst einmal fester in der rechten Szene verankert und wurde der Zeitpunkt für eine Intervention zu Anfang verpasst, sind sie nur noch schwer zu erreichen. Eine positive, starke familiale Bindung stellt dennoch einen Anker und ein Gegengewicht
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zum Einfluss der Szene dar, die vor allem dann greift, wenn Zweifel an der Szenezugehörigkeit aufflammen. Für eine Distanzierung von der rechten Szene stellt die familiale Unterstützung und der damit verbundene Rückhalt eine entscheidende Ressource dar. Die befragten Mütter sind durch die rechtsextremistische Karriere ihre Söhne stark belastet, was mit Gefühlen der Hilflosigkeit und Überforderung einhergeht und einen Unterstützungsbedarf generiert, der nicht nur darauf gerichtet ist, eine Abkehr der Jugendlichen von der Szene zu erreichen, sondern Strategien des Umgangs und der Verarbeitung für die Mütter selbst bietet.
Aus den angeführten Untersuchungsergebnissen wird ein hoher Unterstützungsbedarf von Familien rechter und rechtsextremistischer Jugendlicher deutlich, dem nicht ausreichend Rechnung getragen zu werden scheint, der für die Verhinderung rechtsextremistischer Karrieren aber von hoher Bedeutung wäre. Die angeführten Punkte zeigen mögliche Ansatzpunkte für eine adäquate Unterstützung der Familien durch eine Beratung, die durch eine Perspektiven übergreifende Draufsicht Impulse für eine veränderte, konstruktive Lösungsansätze befördernde Wahrnehmung geben kann. Interessant wäre hier ein Ansatz, der biografisches Arbeiten mit nicht-direktiven Gesprächstechniken und systemischen Sichtweisen verknüpft.
6 Pädagogischer Bezug auf jugendlichen Rechtsextremismus – Ein Ausblick
Mittels der hier erhobenen Fälle wurden individuelle und vor allem familiale Prozesse sichtbar gemacht, die die Offenheit von Jugendlichen für die rechte Szene und die Übernahme bzw. Entwicklung einer rechtsextremistischen Orientierung begünstigen. Dabei konnten zum einen ursächliche Faktoren rekonstruiert werden, die zum Einstieg in die rechte Szene beitrugen. Zum zweiten wurden für die Jugendlichen ungünstige (familiale) Zusammenhänge aufgedeckt, die einer Verfestigung und einem Fortschreiten der eingeschlagenen rechtsextremistischen Entwicklung in die Hände spielten und es wurden elterliche Interventionen hinsichtlich ihrer Funktionalität betrachtet. Im Hinblick auf eine mögliche Distanzierung von der Szene wurden drittens durch die Fälle von Kai und Dennis hilfreiche Mechanismen sichtbar gemacht, die zu einer Überwindung der rechtsextremistischen Karriere beitragen können, aber auch – wie in den Fällen von Piet, Bastian und Peter – Zusammenhänge deutlich, in denen eine erfolgreiche Intervention nur schwer vorstellbar erscheint. Ein vierter Erkenntnisbereich bezieht sich auf die teilweise verzweifelte, von Hilflosigkeit und Schuldgefühlen geprägte Situation der Mütter, aus der sich ein besonderer Unterstützungsbedarf für Eltern ableitet. Im Folgenden soll es in einem kurzen Überblick darum gehen, wie die gewonnenen Erkenntnisse für die Prävention und den pädagogischen Umgang mit rechtsextremistischen Jugendlichen und ihren Familien fruchtbar gemacht werden können und welche Forderungen sowie Notwendigkeiten sich daraus für die pädagogische Praxis ableiten lassen. Bezüglich der vorhandenen Ansätze in der Rechtsextremismus-Prävention62 und -bearbeitung lässt sich (im Jugendbereich) eine große Bandbreite ausmachen, die von der aufsuchenden und offenen Jugendarbeit, über gezielte Projekte gegen Fremdenfeindlichkeit, Beratungsarbeit, politische Bildung und 62
Hinsichtlich des Präventionsbegriffes wird sich an der gängigen kriminologischen Definition orientiert, nach der der Adressat der Primärprävention die Allgemeinheit ist und die Entwicklung rechter bzw. rechtsextremistischer Orientierungen durch verschiedene Ansätze und Strategien verhindert werden soll. Die Sekundärprävention richtet sich an bestimmte Risikogruppen – hier z.B. rechte Jugendcliquen etc., deren weitere Radikalisierung auch bezüglich des Begehens von einschlägigen Straftaten verhindert werden soll. Ziel der Tertiärprävention sind dann schließlich Jugendliche, die stark in die Szene eingebunden sind.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2_7
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verschiedene Ausstiegsprogramme reicht. Während bis in die 1980er Jahre hinein hauptsächlich mit Mitteln der historischen und politischen Bildung gearbeitet wurde und im Anschluss an die Gewaltexplosion zu Beginn der 1990er Jahre auf Jugend- und Sozialarbeit gesetzt wurde, lässt sich seit der Jahrtausendwende eine ausgesprochene Vielfalt an präventiven Ansätzen feststellen, wobei vor allem im Bereich der Ausstiegsarbeit eine starke Entwicklung zu verzeichnen ist, deren Ursprung im 2002 in Norwegen entstandenen Aussteigerprogramm EXIT liegt (vgl. Rieker 2014, S.8f.). Hohenstein/Greuel (2015, S.7) stellen in diesem Zusammenhang jedoch das Fehlen einer Systematisierung „der aktuellen Projektlandschaft, der praktizierten Ansätze sowie der Bedingungen, unter denen diese Arbeit heute realisiert wird“ fest, was einen Überblick über bestehende Strukturen erschwert. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit einer besseren Vernetzung der im Tätigkeitsfeld handelnden Akteure und einer generell größeren öffentlichen Präsenz entsprechender Projekte. So beklagen Glaser u.a. (2014, S.55) beispielsweise, dass Aussteigerprogramme potentiell Ausstiegswilligen zu wenig bekannt sind und ihre Angebote durch die Adressaten nur unzureichend genutzt würden, weil ihr Ansatz zu hochschwellig ist. Definitions-, Systematisierungs- und Abgrenzungsprobleme durchziehen also die gesamte wissenschaftliche und praktische Beschäftigung mit dem Thema des (jugendlichen) Rechtsextremismus, angefangen bei der Begriffsfassung, über die Vergleichbarkeit von Studien bis hin zu den Konzepten und Projektansätzen in der praktischen Arbeit. Ein Fazit der vorliegenden Studie ist somit auch: Es ist kompliziert und die Schaffung von Klarheit und Übersichtlichkeit liegt in weiter Ferne. Die hier vorgestellten Fallportraits belegen einmal mehr die Komplexität des Phänomens und die Fallstricke, die entstehen können, wenn der verständliche Wunsch nach übergreifenden, effektiv wirkenden Konzepten, zu einer zu starken Reduktion von Zusammenhängen führt – der Gefahr unwirksamer Konzepte, die an der Lebensrealität der Adressaten vorbei gehen. Eine Forderung, die sich aus den Analyseergebnissen ergibt, ist somit, die vorhandene Komplexität und Unübersichtlichkeit anzunehmen und in der Forschung ein Gleichgewicht zwischen einer fraglos dem Erkenntnisgewinn und der Theoretisierung ausgesprochen nützlichen Abstraktion und einer detaillierteren Darstellung und Analyse zu schaffen, da hierdurch Erkenntnisse generiert werden, die für die erfolgreiche praktische Arbeit unverzichtbar sind. Eine intensivere Verzahnung quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden ist sinnvoll. Weiterhin braucht es eine qualitative Vorgehensweise, die der besagten Komplexität stärker Rechnung trägt, die weniger quasi-quantitative Auswertungen erbringt und die einen praktischen Nutzen für die Arbeit im Themenfeld generiert.
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Darüber hinaus ist in diesem emotional hoch besetzten Forschungs- und Arbeitsfeld für eine nicht-moralisierende Grundhaltung zu plädieren und dafür, nicht jede ablehnende/kritische Aussage zu einer rechtsextremistischen Grundhaltung zu stilisieren. Eine offen-fragende Haltung kann verdeckte Zusammenhänge und Hintergründe von Ressentiments zum Vorschein bringen und damit auch Ansatzpunkte für eine Auflösung derselben bieten (vgl. Greuel 2012, S.112ff.; Krafeld 1992, S.28ff.). So beziehen sich ablehnende Haltungen von Jugendlichen teilweise auf bestimmte Migrantengruppen, mit denen sie in ihrem konkreten Lebensalltag subjektiv negative Erfahrungen gemacht haben (vgl. Glaser/Rieker 2006, S.66). Dies konnte vor allem im Fall von Dennis gut rekonstruiert werden. Möller Schuhmacher (2007, S.75) sprechen hier im Anschluss an Willems (1993) konflikttheoretischen Ansatz von „schlecht verarbeitete(n) Fremdheitserlebnissen […] sowie sich ausbreitende(n) Konkurrenzsituationen durch Immigration“ und kritisieren deren mangelhafte politische Bearbeitung. Nimmt man negative Erfahrungen an und ernst und arbeitet sie mit den Jugendlichen auf, kann dies zum Abbau rechter Einstellungen beitragen bzw. eine Radikalisierung verhindern. Verteufelt man ihre Ressentiments jedoch von vorneherein, treibt man die Jugendlichen unter Umständen erst recht dorthin, wo sie sich dann verstanden fühlen – in die rechte Szene. Neben den vielfältigen inhaltlichen Ansprüchen stellt ein besonderes Problem der Arbeit in der Rechtsextremismus-Prävention die häufig nur kurz- oder mittelfristige Förderung von Projekten dar, die den Aufbau tragfähiger und fundierter Konzepte massiv behindert und neben Projekten aus dem Bereich der Sekundärprävention, auch professionelle Ausstiegshilfen betrifft – ein Umstand, der bereits Mitte der 1990er Jahre von Krafeld (1996, S.99ff.) kritisiert wurde, was erschreckend aufzeigt: Es hat sich trotz der anhaltenden politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussion in diesem Bereich nicht viel geändert. Dieser Umstand führt u.a. dazu, dass die Erfahrungen aus innovativen und erfolgversprechenden Unternehmungen, die beispielsweise im Rahmen der Bundesmodellprogramme XENOS oder entimon gefördert wurden, mit dem Auslaufen eben dieser Förderung verloren gehen und gut etablierte Projekte enden (vgl. Glaser u.a. 2014, S.74, vgl. auch Hohenstein/Greuel 2015, S.6). Für einen nachhaltigen Erfolg der Arbeit ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass Projekte und Stellen auf lange Sicht angelegt und entsprechend finanziell abgesichert sind, da Konzepte erstens erst durch ihre Erprobung in der Praxis und die damit verbundenen Erfahrungen zielführend weiterentwickelt werden können und zweitens gerade im Bereich der Sekundär- und Tertiärprävention eine langfristige Begleitung angezeigt ist (vgl. Boumaiza 2013, S.328f.). Glaser und Rieker (2006, S.88) kritisieren in diesem Zusammenhang auch, dass potenzielle Förderer Finanzierungsbedingungen zum Teil bspw. in Bezug
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auf „Elemente formaler Bildung“ vorgeben, deren Umsetzung durch Erfahrungen in der Praxis von den Projekten als nicht zielführend eingeschätzt wird. In diesem Konflikt bliebe den Projektanbietern dann nur die Möglichkeit „Angebote zu entwickeln, von deren Misserfolg sie überzeugt sind oder auf die Finanzbeihilfe zu verzichten“ (ebd. S.89). Darüber hinaus kritisieren sie in ihrer Untersuchung von Projekten, die sich der Prävention von Fremdenfeindlichkeit mittels interkulturellen Lernens verschrieben haben, das Fehlen konkreter und realistischer Praxisziele in der Konzeption, die zugunsten von übergreifenden, abstrakten und vor allem förderfähigen Leitzielen vernachlässigt werden. Dies führt zum einen zu einer kaum möglichen Überprüfbarkeit von Projektergebnissen und zum anderen zu einer mangelnden Transformation übergeordneter Ziele in umzusetzende Maßnahmen und Projektstrukturen. Die hier angeführten Kritikpunkte können aus eigenen Erfahrungen in der Praxis bestätigt werden. Statt des Aufbaus von nachhaltigen und wissenschaftlich begleiteten Strukturen präventiver Ansätze und Strategien im Umgang mit Rechtsextremismus, liegt der Schwerpunkt auf moralisierenden Anklagen und Debatten der Begrifflichkeiten, deren Fokus mit jedem neuen spektakulären rechtsextremistischen Vorfall auf der Suche nach dem bzw. den Schuldigen liegt. Die eigene praktische Arbeit in einschlägigen Projekten unterstreicht weiterhin die Erkenntnis, dass Jugendliche nur dann zu einer aktiven Mitarbeit bereit oder vielmehr fähig sind, wenn sie belastende und bedrückende Problemlagen berücksichtigt und zumindest in Ansätzen bearbeitet werden (vgl. Glaser u.a. 2014, S.62f., vgl. hierzu auch den Mehrebenenansatz von Krafeld 1992, Hohenstein/Greuel 2015, S.102f.). Konkret heißt das, dass ein an einem wie auch immer ausgerichteten Projekt teilnehmender Jugendlicher überhaupt erst aufnahme- oder im besten Falle auch veränderungsbereit ist, wenn sein dringendstes Problem – beispielsweise ein drohender Wohnungsverlust, eine massive Überschuldung oder ein als besonders prekär erlebter Beziehungskonflikt in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld – zur Sprache kommt bzw. erkannt wird und es nach Möglichkeit konstruktiv gelöst, wenigstens aber angenommen und bearbeitet wird. Demgegenüber stehen die im Projektansatz verankerten Ziele beispielsweise des interkulturellen Lernens, der politischen Bildung und der Gewaltprävention. Die pädagogische Fachkraft sieht sich hier einem Anspruch gegenüber, der aufgrund der häufig sehr eng gestrickten personellen Besetzung entsprechender Projekte zu einem Spagat führt, der kaum zu bewältigen ist. Buchheit (2014, S.84) formuliert diesbezüglich pointiert: „Die ideologischen Fragen direkt anzugehen, hieße die Maslow'sche Bedürfnishierarchie zu ignorieren: Zunächst steht in vielen Fällen eine Stabilisierung und Strukturierung in vielen Feldern der persönlichen Lebensbezüge an.“ Darüber hinaus gestaltet es sich schwierig, die für ein derartig
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anspruchsvolles und sensibles Tätigkeitsfeld nötigen hoch qualifizierten Mitarbeiter zu gewinnen und vor allem zu halten, wenn eine adäquate Stellenabsicherung nicht gegeben und Konzepte nur notdürftig konkretisiert sind. Die Rekonstruktion ursächlicher Faktoren, die den Einstieg in die rechte Szene begünstigt haben, zeigt, dass sich die Jugendlichen fast immer in einer für sie scheinbar ausweglosen Situation befanden, in der mehrere problematische Entwicklungen/Ereignisse zusammentrafen und ihre Bewältigungskompetenzen überforderten. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Eltern diesen Umstand aus verschiedensten Gründen nicht rechtzeitig erkannten. Wie jedoch kann dieser sich im privaten Raum und in vielen Fällen unbemerkt abspielenden Entwicklung begegnet werden? Zunächst gilt festzuhalten, dass mittels einer professionellen Pädagogik nicht gelöst werden kann, was gesamtgesellschaftlich und ordnungspolitisch bislang nicht gelungen ist. Der Anspruch an pädagogische Ansätze und Konzepte, ein Allheilmittel für rechtsextremistische (jugendliche) Bestrebungen zu bieten, ist unrealistisch und schlicht nicht erfüllbar. Insofern kann der Anspruch der diesbezüglichen Forschung auch nicht die Lösung des Problems oder Entwicklung einer Strategie sein, die Rechtsextremismus künftig verhindert. Sie kann jedoch dazu beitragen, dass Zusammenhänge sicht- und verstehbar werden, was zu einer Optimierung präventiver Ansätze beitragen kann. Es gilt daher, die Ansprüche an die im Bereich Rechtsextremismus-Prävention tätigen Fachdisziplinen an die lebensweltliche Realität des Phänomens anzupassen und unrealistische Erwartungshaltungen zu relativieren. In diesem Zusammenhang muss auch klar gesagt werden, dass jegliche pädagogische Ansätze in Bezug auf manifest orientierte Jugendliche mit starker Szeneanbindung an ihre Grenzen stoßen. Hier können nur eventuell irgendwann in den Jugendlichen selbst reifende Wünsche nach einer Distanzierung greifen, die aus verschiedensten Faktoren resultieren können. Eine professionelle Pädagogik kann diesbezüglich nur ihre Unterstützungsbereitschaft signalisieren, sollte es zu einem Ausstiegsinteresse kommen, aktiv jedoch kaum etwas erreichen. Entsprechende Beispiele dafür konnten auch bei den hier untersuchten Fällen gefunden werden. So ist es eher unwahrscheinlich, dass Piet oder Peter, in ihrer aktuellen Situation zu einem Ausstieg bewegt werden können. Beide profitieren in ihrer persönlichen Entwicklung zum Zeitpunkt des Interviews subjektiv stark von ihrer Zugehörigkeit zur rechten Szene, sind beruflich/schulisch erfolgreich, sozial eingebunden und strafrechtlich nicht bedroht – es gibt für sie schlichtweg keinen Grund auszusteigen. In diesen Fällen wäre abzuwägen, ob der Aufbau eines sozialen Drucks sinnvoll sein könnte, wie dies zum Teil in der Schweiz gehandhabt wird (vgl. Eser/Gabriel 2014, S.104f.) oder ob dies die Jugendlichen nur noch weiter in die Szene treiben und auch noch die Chance auf eine langfristige Distanzierung von der Szene durch die Entwicklung neuer Lebensziele im Zuge des
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Übergangs ins Erwachsenenleben gefährden würde. Anders sieht es bei den Jugendlichen aus, deren Gesamtsituation prekär ist und deren weitere Entwicklung durch die Zugehörigkeit zur Szene subjektiv negativ bedroht ist. Bei ihnen kann das Angebot funktionaler Handlungsalternativen und Lebensentwürfe einen Ausstieg aus der Szene befördern. Ein weiterer zu klärender Aspekt ist die Frage, was unter einer Distanzierung von der rechten Szene bzw. einer rechtsextremistischen Orientierung überhaupt konkret zu verstehen ist und unter welchen Gesichtspunkten eine pädagogische Intervention als erfolgreich zu werten ist. Folgt man Möller/Wesche (2014, S.23) so ist eine Distanzierung erst erreicht, wenn zusätzlich zu einer Abkehr von rechtsextremistischen Gruppierungen und der Einstellung krimineller Handlungen sowie „entsprechenden extremistischen Verhaltens auch eine Veränderung der politischen Vorstellungen“ erfolgt und zwar „in Richtung auf die Gewinnung demokratischer Überzeugungen“. So wünschenswert solche Idealfälle auch sind, scheinen sie als Ziel einer erfolgreichen pädagogischen Arbeit doch sehr hoch gegriffen. In der Arbeit mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen ist bereits viel erreicht, wenn sie dazu animiert werden können, gewalttätiges Verhalten zu unterlassen und sich bei der Äußerung ihrer mehr oder minder politischen Meinung auf eine gewaltfreie Kommunikation zu beschränken. Erreicht man bspw. eine Irritation ihrer feindlichen Haltung gegenüber anderen Kulturen und Menschen mit Migrationshintergrund, ist zumindest ein Anstoß für eine langfristige Entradikalisierung ihrer Ansichten geschaffen, die Grundlage des Ideals eines nachhaltigen Ausstieges ist. Diesbezüglich hat die eigene Arbeit in einschlägigen Projekten gezeigt, dass interkulturelles Lernen sehr gut mittels direkter und sinnlicher Erfahrungen funktioniert (vgl. Krafeld 1996, S.26f.). So haben beispielsweise von der Verfasserin betreute Jugendliche in einem XENOS-geförderten Projekt gegen Fremdenfeindlichkeit positiv auf die in diesem Zusammenhang angebotenen Trommelkurse mit einem mosambikanischen Referenten sowie verschiedene afrikanische Kochveranstaltungen und Obstworkshops reagiert, bei denen die interkulturellen Bildungsinhalte indirekt bzw. über konkret spürbare Erfahrungen transportiert wurden, während auf politische Bildung und Sachinformationen setzende Projektanteile in Form von Vorträgen weniger gut angenommen wurden und auch weniger nachhaltig waren. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Glaser/Rieker (2006, S.69) die feststellten, dass „Informationseinheiten“ in Settings des interkulturellen Lernens immer dann eine größtmögliche Aufmerksamkeit erfuhren, wenn „persönliche oder sinnlich erfahrbare Zugänge zu den Seminarinhalten geschaffen wurden.“
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Die Mitglieder einer Familie stehen heute unter einem starken gesellschaftlichen Druck – Arbeit, Kinder, Schule, Freizeit, eine extrem gestiegene Informationsdichte durch moderne Medien, kaum langfristig planbare Lebenswege, wirtschaftliche Unsicherheiten, unvorhersehbare dramatische Entwicklungen, hohe Ansprüche an Zusammenleben und Beziehungsqualität – all das muss die Familie ausbalancieren und bewältigen. Zunächst wäre es daher wichtig, die Gesellschaft, insbesondere aber Eltern und Jugendliche bezüglich der möglichen eigenen Überforderung und der vielfältigen Ansprüche an Familie und Individuum zu sensibilisieren, Anzeichen und Zusammenhänge ins Bewusstsein zu transportieren und Hilfen anzubieten. Hier könnten beispielsweise Schulen, Kindergärten und Kinderärzte als Multiplikatoren fungieren, die Informationsmaterial zu heutigen Ansprüchen an die Familie sowie An- und Überforderungen unkompliziert transportieren. Dabei sollte es in erster Linie darum gehen, empfundenen Druck nach Perfektion zu minimieren und den Mut, sich Probleme einzugestehen und Unterstützung zu suchen, zu befördern. Klar ist aber auch, dass solche Angebote überwiegend jene Eltern erreichen dürften, die bereits ein Problembewusstsein entwickelt haben und offen für neue Impulse sind. Eine weitere Möglichkeit liegt in einem aufmerksameren Umgang in der Schule, aber auch im Bereich von Freizeiteinrichtungen. Auch wenn Lehrer aufgrund der aktuell vielfältigen an sie herangetragenen Anforderungen und Ansprüche am Rande ihrer Kapazitäten agieren, ist eine entsprechende Aufmerksamkeit gegenüber Veränderungen einzelner SchülerInnen enorm wichtig (vgl. Krüger u.a. 2012, S.272f.) und durch einen Ausbau der Schulsozialarbeit zu unterstützen. Auch hier ist die professionelle Vermittlung von möglichen Anhaltspunkten für eine problembelastete Situation und eine insgesamt bessere Vernetzung zwischen Schule und (sozial-)pädagogischen Instanzen angezeigt. Darüber hinaus sollte die Einbindung aller SchülerInnen in die Klassengemeinschaft auch mit dem Fortschreiten der Klassenstufe im Auge behalten und im Falle des fehlenden Anschlusses einzelner SchülerInnen eine zeitnahe und fundierte pädagogische Intervention erfolgen, die eine Vereinsamung des betreffenden Jugendlichen und eine damit einhergehende mögliche Offenheit gegenüber rechts-, aber auch anderweitig extremistischen Cliquen und Gruppierungen verhindert. Jugendliche brauchen erwachsene Ansprechpartner, an die sie sich in schwierigen Situationen wenden können und bei denen sie sich mit ihren Sorgen und Nöten ernst genommen fühlen. Im Falle der hier untersuchten Jugendlichen hätte ein aufmerksamer, in der belastenden Lebenssituation als vertrauenswürdig und zugewandt wahrgenommener, erwachsener Ansprechpartner oder ein den jeweiligen Jugendlichen auffangendes jugendkulturelles Angebot, den entscheidenden Unterschied machen können, der den Einstieg in die rechte Szene verhindert oder aber zumindest zu einem passageren Problem verkleinert hätte.
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Ein gesamtgesellschaftliches Ziel muss daher die Entwicklung einer verstärkten Achtsamkeit gegenüber den in ihr aufwachsenden Kindern und Jugendlichen sein, die trotz der starken Individualisierung dem Gemeinschaftsgedanken Rechnung trägt. Eine erhöhte gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber den Bedürfnissen und Problemlagen von Jugendlichen stellt somit ein zentrales Präventionsprinzip dar, zu dem viele Gesellschaftsmitglieder einen Beitrag leisten könnten, auch wenn das noch so phrasenhaft klingen mag. Als Beispiel für eine stärkere gesellschaftliche Verantwortlichkeit gegenüber rechten jugendlichen Radikalisierungstendenzen kann Norwegen gelten, da dort vor allem kommunales Engagement eine Rolle in der Prävention spielt und auf entsprechende Vorfälle mit der schnellen Bildung von fachübergreifenden Arbeitsgruppen reagiert wird, in denen ein individuell auf das jeweilige Problem zugeschnittener Handlungsplan erstellt wird. Auch die Bildung von Elterngruppen kann hier positiv hervorgehoben werden, da die Vernetzung mit anderen betroffenen Familien eine Entlastung der Familie befördern sowie Ressourcen stärken und aktivieren kann. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Wiedereingliederung der Jugendlichen in die Gesellschaft und dem Erreichen einer Abkehr von der rechtsextremistischen Orientierung durch soziale Einbindung und angebotene Alternativen der Lebensgestaltung (vgl. Fangen/Carlsson 2013, S.350ff.; Rieker 2014, S.9f.). Die (Wieder-)Einbindung in soziale Zusammenhänge trägt nicht zuletzt dem von Krafeld (1996, S. 15) eingebrachten Gedanken Rechnung, dass Ausgrenzung „jeden kommunikativen Zugang und damit entscheidende Veränderungsmöglichkeiten“ verbaut. Aus der Rekonstruktion der Interviews der drei befragten Mütter wurde die enorme elterliche Belastung deutlich, die die Zugehörigkeit eines Jugendlichen zur rechten Szene und die damit häufig einhergehende wiederholte Straffälligkeit mit sich bringt. Vor allem die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung stellt ein elterliches Problem dar, das mit Schuldgefühlen und der Frage nach den Gründen für den Anschluss an die Szene einhergeht, die sich die hier befragten Mütter nur begrenzt beantworten konnten (vgl. Lodenius 2014, S.129). Die rechtsextremistische Entwicklung der Jugendlichen wird von den Eltern häufig erst zu spät wahrgenommen, weil sie aufgrund eigener akuter Belastungssituationen über nicht genügend Ressourcen für eine umfassende Aufmerksamkeit verfügen und/oder sie aber mit den Anzeichen in Form von einschlägigen Symbolen etc. nicht vertraut sind. Zum Teil werden bedenkliche Entwicklungen aber auch als jugendtypisch-subkulturelles Abgrenzungsverhalten (fehl)interpretiert und zunächst nicht entsprechend ernst genommen. Die Situation der Eltern ist schwierig, der Grad, ab wann eine Intervention sinnvoll und angebracht ist, schmal, da ein massives bzw. als massiv empfundenes Einschreiten auch einen
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gegenteiligen Effekt hervorrufen und den Jugendlichen weiter in die rechte Szene treiben kann. Rieker (2014, S.213) verweist darauf, dass betroffene Eltern sich häufig zunehmend sozial isoliert fühlen, weil sie für die Entwicklung ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden oder sich aber aufgrund eigener Versagensgefühle zurückziehen. Ein entsprechendes Unbehagen bezüglich ihrer Außenwahrnehmung durch das soziale Umfeld wurde vor allem von Frau Kranich, aber auch von Frau Behnke beschrieben. Sind die Jugendlichen erst einmal in die rechte Szene integriert, stehen die Eltern dem Geschehen häufig hilflos gegenüber, da ihr elterlicher Einfluss in dem Maße sinkt, in dem die Jugendlichen tiefer in die Szene hineingeraten. Vor allem der Spagat zwischen dem Bild der ihnen vertrauten, charakterlich positiv wahrgenommen Persönlichkeit ihres jeweiligen Kindes und der als fremd erlebten, gewalttätig und hasserfüllten rechten Inszenierung stellt für die befragten Mütter eine emotionale Belastung dar, an der sie verzweifeln und die sie kaum bewältigen können. Dazu kommt, dass Jugendämter und Beratungsstellen mit dem Thema häufig überfordert sind und es nur wenige Anlaufstellen für Eltern gibt, die thematisch-fachliche und pädagogische Kompetenzen in sich vereinen. Die Familie spielt bei einer Distanzierung von der Szene eine wichtige Rolle als Halt und Orientierung gebende Ressource, kann den entscheidenden Impuls für den Ausstiegswunsch aber nur selten auslösen. Dieser resultiert vielmehr meist aus negativen Erfahrungen, einer Diskrepanz zwischen Erwartungen und Realität, Strafverfolgungsdruck und der damit verbundenen Gefährdung der eigenen Zukunft sowie dem Erwachen anderer Interessen durch den Statusübergang zu einem Erwachsenenleben (Partnerschaft, berufliche Karriere, Familiengründung). Dennoch kann auch der Druck, der durch die Gefährdung einer essentiell bedeutsamen Beziehung zu einem oder beiden Elternteilen entsteht, eine weitere Motivation für eine einsetzende Veränderung und Distanzierung von der Szene sein, wie das Beispiel Dennis zeigt. Ähnliches berichtet auch Rieker (2014, S.159) von einem Jugendlichen, den der Wunsch nach dem Beziehungserhalt zum Vater als „einzige(r) gute(n) Bezugsperson“ zum Ausstieg motivierte. Trotz dieser Einschränkung in Bezug auf einen möglichen Ausstiegsimpuls stellt die Familie eine entscheidende unterstützende Ressource im Distanzierungsprozess dar, wobei Hohenstein/Greuel (2015, S.113f.) die Relevanz der Mutter hervorheben, mit der eine Annäherung auch aufgrund der von ihnen gefundenen häufigen Konflikte zum Vater, eher möglich scheint, was die hier erlangten Erkenntnisse bestätigt. Die von Rieker (2014) evaluierte Beratung von Familienangehörigen setzt aufgrund der starken familialen Belastung in erster Linie auf eine von den
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Jugendlichen unabhängige Stärkung der Eltern und die Wiederherstellung ihrer Lebensqualität und erst in zweiter Linie auf die Ausstiegsarbeit. Das ist vor allem deshalb interessant, da die in der vorliegenden Studie befragten Mütter kaum ein Bewusstsein für die eigene Entlastung sowie ein Konzept für den Umgang mit der eigenen Belastung hatten, sondern voll und ganz auf ihre Kinder fokussiert waren. Die eigene (elterliche) Bewältigung der Situation und das Recht darauf zu bestärken, auch für sich selbst und die eigene Lebensqualität Sorge zu tragen, kann daher eine wichtige Aufgabe der Elternarbeit und -beratung sein. Ziel ist es weiterhin, die Eltern darin zu unterstützen, die aktuelle Situation ertragen zu können und zu akzeptieren, dass das Erreichen eines Ausstiegs des Jugendlichen bei einer starken Szeneinvolvierung wahrscheinlich nicht in ihrer Macht steht. Gleichzeitig gilt es, sie darin zu bestärken, „eine klare Alternative zum rechtsextremen Milieu“ (Rieker 2014, S.217) darzustellen und die Jugendlichen so der Möglichkeit des Aufgefangen-Werdens im Falle eines Ausstiegs zu versichern, da in diesem Fall „das mehrheitlich nahezu vollständig szenisch geprägte außerfamiliale Umfeld“ wegbricht und die Jugendlichen auf sich allein gestellt sind. Besonders das Signalisieren einer grundsätzlichen Gesprächs- und Zuwendungsbereitschaft ist wichtig, um die Beziehung zum Jugendlichen aufrechtzuerhalten. Dies zeigt sich sehr gut anhand des Falls von Kai: Trotz ihrer Verzweiflung und Machtlosigkeit in Bezug auf Kais rasante Abwärtsspirale, die mit einer massiven Überforderung und psychosozialen Belastung verbunden ist, macht Frau Kranich immer wieder Beziehungsangebote und stellt sich als Vertrauens- und Bezugsperson zur Verfügung. Sie gibt Kai nicht auf, was letztlich zu einer Wiederannäherung und Stärkung der Beziehung führt, als Kai die Dysfunktionalität seiner Entwicklung erkennt und beginnt, der Szene den Rücken zu kehren. Der (emotionale) Rückhalt durch seine Familie stellt für Kai die entscheidende Ressource dar, die ein langfristiges Gelingen seines Ausstiegs erst möglich erscheinen lässt. Rieker (2014, S.214f.) spricht in Bezug auf die Elternarbeit von einer nötigen Abgrenzung der Eltern von den Jugendlichen, die es ihnen erlaubt, Kräfte zu sammeln und Ressourcen aufzubauen, die eine Bewältigung der Situation befördern. Für die beratende Arbeit mit Eltern rechtsextremistischer Jugendlicher ist es daher nicht nur wichtig, dass mögliche Interventionen besprochen und Kompetenzen vermittelt werden, die Eltern befähigen, rechtsextremistische Entwicklungen anhand von Symbolen, Freizeitverhalten und Auftreten zu erkennen, sondern auch, dass sie dazu ermutigt werden, ihrer emotionalen Belastung zu begegnen und einen Umgang mit der Situation zu finden, der deeskalierend wirkt und die Aufrechterhaltung der Beziehung zum Kind ermöglicht. Darüber hinaus sollten nicht nur die aktuellen Probleme fokussiert werden, die mit der Zugehörigkeit zur rechten Szene für die Familie verbunden sind,
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sondern es sollte gemeinsam mit den Eltern eine Aufarbeitung der familialen Situation erfolgen, um Anhaltspunkte dafür zu finden, was der betreffende Jugendliche mittels seiner Szenezugehörigkeit zu bewältigen suchen könnte und welchen persönlichen Nutzen er aus ihr zieht. Die Analyse der Interviews hat die oft krisenhaft zugespitzte Belastungssituation der Jugendlichen gezeigt, die von den Eltern weitgehend unbemerkt blieb und dem Einstieg in die rechte Szene vorausging. Über die Bewusstmachung und Aufarbeitung dieser problematischen Konstellationen kann zum einen ein Verständnis der Eltern für das Verhalten ihres Kindes geschaffen werden. Zum anderen bietet sich eine Möglichkeit der Entlastung der Jugendlichen, indem ihre Eltern ihnen vermitteln, dass sie Probleme nun wahrnehmen und sich ihrer annehmen wollen. Dies kann zu einer Annäherung und Stärkung der familialen Beziehungen beitragen und die Funktionalität der Szene als Entlastung, Orientierung und Halt vermittelnden Sozialbezug schwächen. Die Stärkung der innerfamilialen Kommunikation ist somit ein weiteres wichtiges Ziel der Beratung. Krafeld (1996, S.15) betont in seinem umstrittenen Konzept Akzeptierender Jugendarbeit, dass „Jugendliche nur dann ihre Auffälligkeiten ablegen werden, wenn sie für sich selbst sinnvollere und gleichzeitig befriedigendere Wege“ entdecken. Dazu gehört nach den Erkenntnissen der vorliegenden Untersuchung auch der offene Austausch mit den Eltern über problematische innerfamiliale Prozesse, der das Erkennen der Probleme, die die Jugendlichen wirklich haben, durch die Eltern beinhaltet. Die dazu nötigen reflexiven Prozesse können in einem pädagogischen Beratungsprozess durchaus durch die Anregung biografischer Erzählungen bzw. von Erzählungen über das Aufwachsen des Jugendlichen aus jugendlicher und elterlicher Sicht befördert werden. Dies zeigt sich anhand der jugendlichen und mütterlichen Erzählungen der in Kapitel 5 dargestellten Biografie-Verläufe und elterlichen Darstellungen, die zahlreiche Ansatzpunkte für eine pädagogische Bezugnahme böten. Eser und Gabriel (2014, S.101) betonen daher sehr richtig die Notwendigkeit einer Zuwendung zu „den biografischen Themen der Jugendlichen, die mit dem 'Rechts-Sein' verknüpft sind […] um sinnvoll intervenieren zu können“ und kritisieren weiterhin, dass „professionelle Interventionen biografische Themen der Jugendlichen verkennen und zum Teil durch ihre Interventionen sogar verstärken.“ Eine treffende Einschätzung, die durch die vorliegenden Untersuchungsergebnisse bestätigt werden kann. Die von Glaser im Anschluss an Böhnisch (2012) betonte Notwendigkeit der gemeinsamen Herausarbeitung der spezifischen Funktionalität, die die rechtsextremistische Orientierung und Zugehörigkeit zur Szene für den jeweiligen Jugendlichen hat, ist zu unterstreichen und als wesentliches Kriterium für die pädagogische Arbeit hervorzuheben. Erst das Wissen um den persönlichen Nutzen,
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den die Jugendlichen aus der Szene ziehen, ermöglicht die Suche von adäquaten Alternativen. Für die Arbeit mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen und ihren Eltern ist es darüber hinaus wichtig, eine Beratungsatmosphäre zu schaffen, in der beide Parteien unabhängig voneinander erfahren, dass sie sich frei von moralischem Druck und etwaigen Schuldzuschreibungen äußern können. Narrative Verfahren, die mit aktivem Zuhören und einer sensiblen Spiegelung des durch den Berater Verstandenen arbeiten, können dabei gut eingesetzt werden, da sie zum einen eine befreiende Wirkung des sich „einmal ungestört Aussprechens“ entfalten und zum anderen wichtige Erkenntnisprozesse in Gang setzen können (vgl. Hohnstein/Greuel 2015, S.92). So kamen die hier befragten Mütter fehllaufenden oder dysfunktionalen familialen Prozessen im Laufe ihrer Erzählung auf die Spur, die Jugendlichen setzten sich zum Teil mittels ihrer Erzählung mit begangenen Taten oder ihrer Zugehörigkeit zur Szene an sich auseinander. Insgesamt ist festzustellen, dass betroffene Familien verstärkt niedrigschwellige, thematisch kompetente und Stigmatisierungen möglichst vermeidende Unterstützungsangebote brauchen, bei denen im Bedarfsfall schnell und unkompliziert Rat gesucht und so eine Entlastung erreicht werden kann. Darüber hinaus hat der von Krafeld bereits in den 1990er Jahren formulierte Ansatz, nach dem nicht nur darauf fokussiert werden sollte, welche Probleme Jugendliche machen, sondern vor allem darauf, welche sie haben in Verbindung mit der Forderung nach einer Trennung von Person und Einstellung/Tat in der pädagogischen Arbeit mit rechtsextremistisch orientierten Jugendlichen nichts von seiner Aktualität und Bedeutung eingebüßt.
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Transkriptionsregeln (.) (..) (...) (...Zahl) Unterstrichen jaaaaa
Pause von einer Sekunde Pause von zwei Sekunden Pause von drei Sekunden Anzahl der Sekunden der Pause, die über drei hinausgehen starke Betonung gedehnt gesprochen, je mehr Laute aneinander gereiht sind, desto länger ist die Dehnung Großmutt... Abbruch eines Wortes hm Verstehen/Zuhören bzw. Überlegen signalisierender Laut ((laut bis*)) höhere Lautstärke im Vergleich zur sonstigen Sprechweise ((*)) Ende des lauten Sprechens ((leise bis*)) niedrigere Lautstärke im Vergleich zur sonstigen Sprechweise ((*)) Ende des leisen Sprechens (unverständlich) Wörter oder auch Satzteile, die bei der Transkription des Interviewmitschnittes akustisch nicht verstanden werden konnten. (hustet) non-verbale Äußerung Äußerungen, die gleichzeitig während der Rede des Probanden oder der Interviewerin erfolgen, werden in der Transkription in Klammern an der entsprechenden Stelle des jeweiligen Transkriptes angeführt. Im Transkript wurde auf die Groß- und Kleinschreibung sowie Satzzeichen verzichtet, um möglichst jegliche Beeinflussung des Materials zu vermeiden. Darüber hinaus wurden sprachliche Eigenheiten, die aus der Alltagssprache oder der jeweiligen Mundart des Probanden resultieren, originalgetreu wiedergegeben und weder orthografisch noch grammatikalisch angepasst.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Fahrig, Rechte Jugendliche und ihre Familien, Studien zur Kindheits- und Jugendforschung 4, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31190-2