Risiken des Widerstandes: Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen [1. Aufl.] 9783839427958

An insight into the ordinariness of racism: A challenge in the light of restrictive social structures which young people

220 110 3MB

German Pages 478 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Dank
Einleitung
I. Verortungen und Perspektiven der Forschungsarbeit
II. Rassismusforschung
III. Theoretische Zugänge und methodologische Annäherungen
IV. Forschungspraxis
V. Jugendliche und Rassismuserfahrungen
VI. Resümee
Epilog
Literatur
Transkriptionsregeln
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Risiken des Widerstandes: Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen [1. Aufl.]
 9783839427958

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Wiebke Scharathow Risiken des Widerstandes

Kultur und soziale Praxis

Wiebke Scharathow (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Sie lehrt und forscht im Arbeitsbereich Sozialpädagogik zu Fragen sozialer Differenz und Ungleichheit.

Wiebke Scharathow

Risiken des Widerstandes Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen

Zugleich Dissertation, Oldenburg 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2795-4 PDF-ISBN 978-3-8394-2795-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Dank

7

Einleitung

9

I Verortungen und Perspektiven der Forschungsarbeit

17

1 Konturen des Diskurs- und Forschungsfeldes 1.1 Verortung im Forschungsfeld 1.2 Rassismus im deutschen Diskurs

17 18 29

2 Theoretisch-analytische Perspektiven 2.1 Rassismus 2.2 Rassismuserfahrungen

36 37 49

II Rassismusforschung

55

1

Krise und Kritik der Repräsentation

55

2

Rassismus- und repräsentationskritische Perspektiven

66

III Theoretische Zugänge und methodologische Annäherungen

1

Qualitativ-interpretative Sozialforschung

81 82

2 Cultural Studies 2.1 Theoretisch-analytische Verhältnisbestimmungen 2.2 Forschungsmethodologische Implikationen

88 92 107

3 Kritische Psychologie 3.1 Theoretisch-analytische Verhältnisbestimmungen 3.2 Forschungsmethodologische Implikationen

112 113 118

4

Cultural Studies und Kritische Psychologie im Vergleich

125

5

Bedeutung der Zugänge für die eigene Forschung

128

IV Forschungspraxis

139

1

Forschungspraktischer Hintergrund

139

2 2.1 2.2 2.3

Datenerhebung Datenerhebung I: Forschungswerkstatt Datenerhebung II: Einzelinterviews Datenerhebung III: Kunstprojekt

144 145 183 190

3

Datenauswertung

191

V Jugendliche und Rassismuserfahrungen

201

1 1.1 1.2 1.3

Eröffnung des Forschungsdiskurses Rassistische Diskriminierung als gemeinsame Erfahrung Diskriminierung – Differenzierungen und Grenzziehungen Rassistische Diskriminierung als gemeinsames Thema

203 203 207 214

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Rassismuserfahrungen, Herausforderungen und Handlungsweisen Zugehörigkeitsverhältnisse Rassistische Artikulationen Rassismus als unlogische Erfahrung Rassismus als Erfahrung einseitiger Sichtbarkeit Rassismusverdacht als Rassismuserfahrung Rassismus als verschwiegene Erfahrung Rassismus als unsichtbare Erfahrung

215 216 248 266 286 324 356 407

VI Resümee

1

Die Normalität von Rassismus

413 414

2 Ambivalenter Widerstand in risikoreichen Verhältnissen 2.1 Risikoreiche Verhältnisse 2.2 Ambivalenter Widerstand

420 421 428

3

Eine rassismuskritische pädagogische Praxis

433

4

Schlussbemerkung

444

Epilog

445

Literatur

449

Transkriptionsregeln

475

Dank

Den vielen Menschen, die zum Gelingen der vorliegenden Arbeit auf unterschiedlichste Weise beigetragen und mich auf dem Weg zu ihrer Fertigstellung vielfältig unterstützt haben, gilt mein herzlichster Dank. An erster Stelle und ganz besonders herzlich möchte ich mich bei den Jugendlichen bedanken, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, die mir ihr Vertrauen geschenkt und ihre Erfahrungen mit mir geteilt haben. Des Weiteren gilt mein Dank Rudolf Leiprecht, der nicht nur diese Arbeit von Beginn an mit wichtigen Anregungen und voller Wertschätzung betreut hat, sondern mich auch darüber hinaus auf meinem wissenschaftlichen Weg immer gefördert und begleitet hat. Christine Riegel danke ich ebenfalls sehr, nicht nur für ihre Bereitschaft, meine Arbeit als Zweitgutachterin zu betreuen, sondern auch für ihre inhaltlichen Hinweise und die motivierende Unterstützung auf den letzten Metern. Darüber hinaus danke ich allen Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen, die mit mir gemeinsam nachgedacht, diskutiert und interpretiert haben, die hilfreiche Rückmeldungen zum entstehenden Text gaben und die mit mir und den Jugendlichen zusammengearbeitet haben. Sie alle haben zur vorliegenden Studie wertvolle Beiträge geleistet. Ich bedanke mich bei den Teilnehmenden der Forschungswerkstätten von Bettina Dausien und Paul Mecheril sowie den Teilnehmenden des Kolloquiums von Rudi Leiprecht. Mein besonderer Dank gilt Lalitha Chamakalayil, Bozzi Schmidt, Katrin Ratz, Thomas Guthmann, Inger Petersen, Sara Appelhagen, Ute Wicke, Ahmet Sinoplu, Mona Motakef, Ulrike Hormel, Birgit Frosch, Malve von Möllendorff, Katja Worch-Fouhakue und Jan Sparsam. Schließlich danke ich meinen Eltern für ihr grenzenloses Vertrauen in mich.

Einleitung

Ein nicht unerheblicher Teil von Jugendlichen, die in Deutschland leben und auf wachsen, die hier zur Schule gehen, ihre Freundschaften pflegen und ihren Hobbies nachgehen, die vielleicht hier geboren sind, machen die Erfahrung, als ‚Andere‘, als ‚nicht-deutsch‘ zu gelten. Sie sehen sich in ihrem Alltag mit Strukturen, Bildern und Vorstellungen konfrontiert, die ihnen signalisieren, dass sie in den Augen anderer nicht so wie ‚deutsche‘ Jugendliche sind. Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, in der Perspektiven auf die Migrationsgesellschaft wirksam sind, die jene, die in Deutschland als ‚Andere‘, als ‚nicht-deutsch‘ markiert werden, als verantwortlich für Problemlagen und migrationsgesellschaftliche Herausforderungen identifizieren: In Diskursen über Integration wird viel über die ‚Kultur‘, die Religion oder die Werte und Normen von Migranten und Migrantinnen gesprochen, in Debatten über den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund sind Sprachkenntnisse und familiäre Bildungsaspirationen zentrale Themen. Männliche Jugendliche werden häufig in Zusammenhang mit Kriminalität und Gewalt zum Gegenstand öffentlichen Interesses, weibliche Jugendliche gelten nicht selten als per se in familiären Strukturen ‚unterdrückt‘. In solchen verbreiteten Perspektiven, Debatten und Diskursen bleiben oftmals nicht nur gesellschaftliche Strukturen und Regelungen unhinterfragt und die Frage nach dem ‚Wir‘ einer Gesellschaft, das den ‚Anderen‘ implizit gegenübersteht, unthematisiert. In ihnen werden auch soziale Bedeutungskonstruktionen, stereotype Bilder und Vorstellungen wirkungsvoll angerufen und hervorgebracht, die diese Jugendlichen erst als ‚Andere‘ konstruieren, sie häufig in defizitärer und homogenisierender Weise als problematische soziale Gruppe darstellen und ‚Erklärungen‘ – nicht zuletzt auch für ihre Benachteiligung – in ihrer ‚Herkunft‘, ihrer ‚Kultur‘ oder Religion und mit diesen vermeintlich in Beziehung stehenden Orientierungen, Eigenschaften und Fähigkeiten suchen. Bedeutungskonstruktionen dieser Art sind relevanter Bestandteil der sozialen Ordnung migrationsgesellschaftlicher Wirklichkeit. Sie entscheiden etwa darüber,

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wer in Deutschland zum ‚Wir‘ gehört und wer als ‚nicht-deutsch‘ außerhalb dieses ‚Wirs‘ bleibt. Sie sind darüber hinaus aber auch relevanter Bestandteil subjektiver Wirklichkeiten von Jugendlichen, die sich in ihrem Alltag mit stereotypen Zuschreibungen, rassistischen Praktiken und diskriminierenden Verhältnissen konfrontiert sehen. Allerdings werden diese sowie ihre Konsequenzen für Jugendliche, die ihr Leben in Deutschland unter der Prämisse gestalten, als ‚Andere‘ zu gelten, kaum thematisiert. Über Rassismus, über die vielfältigen, alltäglichen Formen, in denen er sich in jugendlichen Lebenswelten manifestiert, wird selten gesprochen. Über die subjektiven Erfahrungen mit Rassismus, die die Selbst- und Weltbilder von Jugendlichen erheblich beeinflussen, noch seltener. Danach, was dies für Jugendliche bedeutet, wird nur selten gefragt. Bislang zeigten sich Wissenschaft und auch die Pädagogik, nur wenig interessiert daran, wie Jugendliche Rassismus in dieser Gesellschaft erfahren, wie sie mit Rassismus umgehen, mit welchen Wirkungen sie dies tun und auf welche Handlungsherausforderungen sie dabei stoßen. In der vorliegenden Forschungsarbeit wird diesen Fragen u.a. mit dem Ziel nachgegangen, einen differenzierten Beitrag zu Diskursen und Debatten in der Migrationsgesellschaft zu leisten, in denen nicht nur Rassismus ein noch immer unterrepräsentiertes Thema ist, sondern auch die Perspektiven und Stimmen jener, die meist im Mittelpunkt dieser Debatten stehen, nur wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Mit dem Ausblenden dieser Perspektiven werden spezifische Bestandteile von gesellschaftlicher Wirklichkeit ignoriert – in diesem Fall Rassismus als subjektiv bedeutsamer, vielfach Einfluss nehmender und restriktiv wirkender Teil von jugendlichen Lebenswelten in Deutschland. Diese Realität als Teil von gesellschaftlicher Realität zu erkennen und sichtbar zu machen, ist gesellschaftspolitisch relevant. Nur so kann Rassismus als Gesellschaft strukturierendes Ungleichheitsverhältnis mitsamt seinen vielfältigen Konsequenzen analysiert, beschrieben, kritisiert und auch verändert werden. Vor diesem Hintergrund sind die aufgeworfenen Fragen auch für die Pädagogik bzw. die Soziale Arbeit, die als Professionen subjektorientiert in gesellschaftlichen Verhältnissen im Horizont sozialer Gerechtigkeit agieren, von zentraler Bedeutung. Die Feststellung etwa, dass Jugendliche subjektiv bedeutsame Rassismuserfahrungen machen und gleichzeitig (auch in pädagogischen Arbeitsfeldern) nur selten über Rassismus und Rassismuserfahrungen gesprochen wird, geht mit Fragen einher, denen sich auch die Pädagogik zuzuwenden hat. Entstehungskontext und Forschungssetting Das Forschungsprojekt, dessen Ergebnis die vorliegende Arbeit ist, hat sich aus meiner Tätigkeit in der außerschulischen Jugendarbeit entwickelt. Im Zuge dieser wurde immer wieder deutlich, dass die Jugendlichen, mit denen ich gearbeitet habe und die einen sogenannten Migrationshintergrund haben, in ihrem Alltag vielfältige Erfahrungen mit Diskriminierung machen, und dass sie mit diesen Erfahrungen auf

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vielfältige Weise umgehen (müssen). Allerdings hatten meine Kollegin und ich auch den Eindruck, dass Zeit und Raum, um sich im Jugendtreff-Alltag mit den – oft le diglich als Anspielungen in den Raum geworfenen – Diskriminierungserfahrungen angemessen ausführlich auseinanderzusetzen, häufig zu knapp waren. Auch außerhalb der Einrichtung, so schien es uns, mangelte es sowohl an Gelegenheiten für Jugendliche, sich auszutauschen, als auch an Unterstützung im Umgang mit solchen Situationen. Als Pädagoginnen war es unser Anliegen, den Jugendlichen Raum und Gelegenheit zur Verfügung zu stellen, sich gemeinsam über ihre Erfahrungen, ihre Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten auszutauschen. Darüber hinaus interessierte es mich, wie Jugendliche diese alltäglichen Erfahrungen deuten, was sie für sie bedeuten, wie sie mit ihnen umgehen und vor allem, wie ihre Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten mit den gesellschaftlichen und sozialen Kontexten verwoben sind, in denen sie sich bewegen. Als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung wurde daher ein pädagogisches Forschungssetting gewählt. Dieses habe ich in Form eines viertägigen Seminars konstruiert. Es sollte sowohl den Jugendlichen als auch mir als ‚Forschungsraum‘ dienen. Ziel war es, Jugendlichen mit diesem Setting eine Gelegenheit zu bieten, die es ihnen erlaubt, ihren eigenen Fragen im Themenbereich Diskriminierung mit pädagogischer Unterstützung nachzugehen, sich auszutauschen und gegenseitig bei der Erkundung der eigenen Möglichkeitsräume, ihrer Begrenzungen sowie ihrer Handlungsmöglichkeiten zu unterstützen. Als pädagogischer Raum der Selbsterkundung, der Reflexion und des Forschens diente dieses Setting, das ich ‚Forschungswerkstatt‘ nannte, zugleich der Erhebung von Daten in Form von Gruppendiskussionen für die vorliegende Untersuchung. Im Abstand von ein bis drei Wochen nach der Forschungswerkstatt wurden zudem leitfadengestützte Interviews durchgeführt, in denen u.a. Themen und Aspekte, die in der Forschungswerkstatt für die Jugendlichen relevant waren, im Einzelgespräch aufgegriffen und vertieft wurden. Ergänzt wird das so erhobene Datenmaterial durch Statements, die Jugendliche zum Thema Rassismuserfahrungen in einem Dokumentarfilm (Willems/Leiprecht 2009) und im Rahmen eines Kunstprojektes geäußert haben, welche quasi Folgeprojekte der Forschungswerkstatt waren. Bereits zu Beginn dieses Forschungsprozesses wurde sehr schnell deutlich, dass die eindeutig dominierenden Themen der Jugendlichen Zugehörigkeits-, Zuschreibungs- und Diskriminierungserfahrungen waren, die auf rassistische Bedeutungskonstruktionen verweisen. So verschob sich dann auch der Schwerpunkt der vorliegenden Forschungsarbeit von der ursprünglichen Idee, mit Jugendlichen über ihre Involviertheit in vielfältige Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse nachzudenken, auf Rassismus als für sie bedeutsamstes Differenzverhältnis. 1 1

Den Verschränkungen von Rassismus mit anderen sozialen Differenzverhältnissen schenke ich zwar durchaus Aufmerksamkeit, jedoch liegt der deutliche Fokus der Arbeit auf

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Erkenntnisinteresse und Forschungsperspektive Mein wissenschaftliches Interesse in dieser Forschungsarbeit gilt dem Zusammenspiel von Rassismus als einem sozialen Ungleichheitsverhältnis und den individuellen Lebenswelten von Jugendlichen, die in Deutschland Rassismuserfahrungen machen müssen. Ausgangspunkt dieser Erkundungen sind die subjektiven Perspektiven von Jugendlichen: Ich frage in dieser Arbeit nach ihren Erfahrungen mit Rassismus, danach, was diese Erfahrungen für sie bedeuten und wie und mit welchen Effekten sie mit Rassismuserfahrungen umgehen. Die Erfahrungen, Deutungen und Handlungsbegründungen der Jugendlichen werde ich mit Blick auf die Kontexte, die sozial-nahräumlichen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse analysieren, um so Aussagen über Voraussetzungen und Bedingungen treffen zu können, die dazu beitragen, dass diese erst möglich werden. Damit geht es mir in dieser Arbeit zum einen um die Analyse von sozialen Bedeutungen und Strukturen, die (in oftmals begrenzender Weise) quasi als Möglichkeitsbedingungen das Deuten und die subjektiven Handlungsmöglichkeiten von Jugendlichen in Situationen von Rassismus rahmen. Zum anderen gilt mein Interesse bezüglich der Eingebundenheit des Deutens und Handelns der Jugendlichen in gesellschaftliche Diskurse und Bedeutungssysteme der Frage, inwiefern ihr Handeln zur (Re-)Produktion von sozialen Bedeutungen mit potenziell restriktivierenden Konsequenzen beiträgt; aber auch, inwiefern es zu Umdeutungen und Bedeutungsverschiebungen führt und als widerständig, etwa gegenüber Zuschreibungen und Otheringprozessen oder Ungleichbehandlungen, beschrieben werden kann. Im Nachgehen dieser Fragen folgt die vorliegende, qualitativ-interpretative Untersuchung nicht nur rassismustheoretischen, sondern auch rassismuskritischen Forschungsperspektiven (vgl. Melter/Mecheril 2009; Scharathow/Leiprecht 2009). Das heißt zum einen, dass mit dieser Arbeit Kritik an rassistischen Verhältnissen geübt und in Bedeutungssysteme und Ungleichheitsverhältnisse verändernd eingegriffen werden soll. Zum anderen bedeutet es, dass in Konzeption und Durchführung dieser Forschung zu Rassismus dem Umstand, dass diese selbst in rassistisch strukturierten Verhältnissen stattfindet, reflexive Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vor diesem Hintergrund ist es für das Forschen in rassismuskritischer Perspektive von zentraler Bedeutsamkeit, dass Macht- und Ungleichheitsverhältnisse als potenziell relevante Aspekte nicht nur mit Bezug auf das zu analysierende empirische Material in die Überlegungen mit einbezogen werden, sondern auch im Forschungsprozess selbst als das forschende Tun kontextualisierende Aspekte reflexive Berücksichtigung finder Analyse des Ungleichheitsverhältnisses Rassismus. Obwohl Jugendliche immer mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten und Identitätsaspekten umgehen und verschiedene Differenzverhältnisse in ihren Lebenswelten von Bedeutung sind, nehme ich deren theo retische und analytische Vernachlässigung in dieser Arbeit zugunsten der intensiven Auseinandersetzung mit Rassismus in Kauf.

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den; und zwar sowohl im Hinblick auf die Gestaltung des Forschungsdesigns als auch hinsichtlich der analytischen Arbeit mit dem empirischen Material. Eine rassismuskritische Forschungsperspektive heißt also, Forschung selbst als Prozess zu begreifen, in dem immer auch die Gefahr besteht, rassistische Ungleichheitsverhältnisse zu (re-)produzieren (vgl. Mecheril 1999). Dies impliziert die Notwendigkeit, sich zum einen die Frage zu stellen: „Wo wiederhole ich, was ich kritisiere?“ 2 und zum anderen einen methodisch-reflexiven Umgang zu finden, mit dem dem Risiko der Reproduktion möglichst angemessen begegnet werden kann. Ein zentrales Dilemma, mit dem es in diesem Zusammenhang reflexiv umzugehen gilt, stellt der Umstand dar, dass Forschung zu Rassismus(-erfahrungen) nicht umhinkommt, an Differenzkonstruktionen anzuknüpfen, die zentraler Bestandteil eines rassistischen Unterscheidungswissens sind. Zum einen ist es nur so möglich, diese zu untersuchen, zu bearbeiten und aufzubrechen. Zum anderen werden sie aber auf diese Weise im Forschungsprozess selbst immer auch hervorgebracht (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 106). Forschung bzw. mir als Forscherin kommt demnach auch Repräsentationsmacht in Verhältnissen zu, in denen Mittel und Möglichkeiten der wirkungsvollen (Selbst-)Repräsentation sehr ungleich verteilt sind. Entsprechend muss auch das Verhältnis zwischen mir als Forschender und den Jugendlichen, mit denen ich forsche, als Teil der Konstruktions- und Wissensproduktionsbedingungen methodisch-reflexiv in den Forschungsprozess einbezogen werden – dies insbesondere, aber nicht nur, im Hinblick auf die Tatsache, dass ich, im Gegensatz zu den Jugendlichen, mit denen ich forsche, in Deutschland keine Rassismuserfahrungen machen muss. In der forschungstheoretischen und -methodologischen Konkretisierung dieser Perspektive greife ich vor allem auf Ansätze zurück, wie sie innerhalb der British Cultural Studies entwickelt wurden, sowie, in Ergänzung, auf Überlegungen der Kritischen Psychologie. Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit ist in sechs Abschnitte gegliedert. Sie beginnt im ersten Teil mit der Einbettung der Untersuchung und ihrer Fragestellungen in das Forschungsfeld sowie ihrer Verortung im Diskurs über Rassismus. Für letzteres Anliegen wird zunächst der dominante Diskurs zu Rassismus, wie er in Deutschland geführt wird, nachgezeichnet. Im Anschluss daran wird ein alternatives Rassismusverständnis sowie das Verständnis von Rassismuserfahrungen dargelegt, welche die Forschungsarbeit als theoretisch-analytische Perspektiven rahmen. Die folgenden zwei Abschnitte sind der Auseinandersetzung mit forschungstheoretischen und -methodologischen Überlegungen gewidmet, in der ich nach ge2

So Astrid Messerschmidt in ihrem Beitrag auf der IDA-NRW Tagung ‚Für eine ‚andere‘ Welt? Beiträge der Rassismuskritik zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse‘ am 9./10.12.2011 in Münster.

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eigneten Zugängen frage, die es mir erlauben, Zusammenhänge zwischen Subjekt, Erfahrungen und Rassismus, verstanden als gesellschaftliches Ungleichheitsverhältnis, theoretisch zu fassen und empirisch zu untersuchen. Dazu werden in einem ersten Schritt unter Rückgriff auf repräsentationskritische und rassismustheoretische Perspektiven Anforderungen an eine Forschung formuliert, die sich als rassismuskritische Forschung begreift. Unter Berücksichtigung der hier erarbeiteten rassismuskritischen Forschungsperspektive werden dann in einem zweiten Schritt theoretische und methodologische Ansätze und Perspektiven entwickelt, die die Rekonstruktion der genannten Zusammenhänge angemessen ermöglichen. Hier greife ich Prämissen qualitativ-interpretativer Forschung auf und ergänze und konkretisiere diese unter Rückgriff auf Theoreme, die im Rahmen der British Cultural Studies, insbesondere von Stuart Hall, entwickelt wurden. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht die Frage, wie Repräsentations- und Wahrheitsregime sich als zentraler Bestandteil von Rassismus bzw. rassistischen Bedeutungssystemen diskursiv etablieren und in welchem Verhältnis das Subjekt zu ihnen steht. Von weiterem zentralem Interesse ist die Frage, wie Subjekte, die erfahrend, d.h. deutend, fühlend und handelnd, in machtvolle diskursive Formationen involviert sind, als handlungsmächtig denkbar sind. Bezüglich dieser Frage werden die Überlegungen der Cultural Studies bzw. Stuart Halls in einem nächsten Schritt mit Aspekten einer subjektwissenschaftlichen Theorie, wie sie in der Kritischen Psychologie nach Klaus Holzkamp formuliert wurde, ergänzt. Diese bietet aufgrund ihrer Fokussierung auf das Subjekt als Ausgangspunkt für die Untersuchung von gesellschaftlichen Verhältnissen und der ihnen zentralen Frage nach den subjektiv wahrgenommenen Möglichkeitsräumen des Handelns in gesellschaftlichen Verhältnissen eine Ergänzung zu den Cultural Studies, in denen die Frage nach dem Subjekt, den subjektiven Bedeutsamkeiten und der individuellen Handlungsfähigkeit eher marginale Aufmerksamkeit erfährt. Die methodologischen Implikationen der in Abschnitt II und III aufgegriffenen Ansätze fasse ich dann zunächst im Hinblick auf das eigene Forschungsvorhaben resümierend zusammen und beschreibe in Abschnitt IV schließlich ihre Umsetzung in der Konstruktion des eigenen Forschungsdesigns. In diesem Teil der Arbeit lege ich den Entstehungskontext der Studie dar und beschreibe, begründe und reflektiere mein methodisches Vorgehen bei der Datenerhebung und der Datenauswertung. Der umfangreiche fünfte Abschnitt ist dann der Vorstellung der Ergebnisse der Datenanalyse gewidmet. Unter Rückgriff auf die zuvor entwickelten analytischen Instrumente werden hier die unterschiedlichen Formen, in denen sich Rassismus in den Lebenswelten der Jugendlichen manifestiert und von ihnen erfahren wird sowie die diesbezüglichen Handlungsweisen der Jugendlichen und ihre Konsequenzen rekonstruiert. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Rekonstruktion der sozial-nahräumlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, die das Handeln der Jugendlichen er-

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möglichen und behindern, sowie auf der Rekonstruktion der Möglichkeiten und der Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit in rassistisch strukturierten Situationen und Verhältnissen. Mit einer resümierenden Darstellung der Ergebnisse der Forschungsarbeit sowie der Formulierung von Hinweisen für eine zu etablierende rassismuskritische pädagogische Praxis, welche die Ergebnisses der vorliegenden Arbeit implizieren, wird die Untersuchung abgeschlossen.

I

Verortungen und Perspektiven der Forschungsarbeit

Im Folgenden geht es mir zunächst um die Annäherung an das Diskurs- und Forschungsfeld, in dem meine Untersuchung zu verorten ist, um ihre Einbettung in dieses und die Erläuterung und Präzisierung meines Forschungsinteresses. In einem nächsten Schritt wende ich mich dominanten Perspektiven auf Rassismus zu, wie sie in Deutschland in öffentlichen sowie in wissenschaftlichen Diskursen und Forschungsperspektiven auszumachen sind und kontextualisiere diese vor dem Hintergrund deutscher (historischer) Entwicklungen, um – in Abgrenzung von diesen – im Anschluss das theoretische Verständnis von Rassismus sowie von Rassismuserfahrungen zu markieren, das meine Untersuchung als analytische Perspektive rahmt. Der Anspruch der folgenden Ausführungen ist es zum einen, die Position deutlich zu machen, vor deren Hintergrund das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit formuliert sowie die Untersuchung konzipiert und durchgeführt wurde und zum anderen analytische Perspektiven zu konturieren, die in dieser Arbeit von zentraler Bedeutung sind. Ich erhebe hier keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern verfolge das Ziel, die für die vorliegende Forschungsarbeit relevanten theoretischen Bezugspunkte deutlich zu machen, um so eine erste theoretische Kontextualisierung und Verortung der Untersuchung vorzunehmen.

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Im Folgenden soll es nun zunächst um die Konturierung des Diskurs- und Forschungsfeldes gehen, innerhalb dessen das Thema Rassismus in Deutschland verhandelt wird. Dabei ist es im ersten Teil dieses Abschnitts mein Ziel, mein Forschungsprojekt und Erkenntnisinteresse im Rahmen des Forschungsfeldes argumentativ zu verorten. Im zweiten Teil werden mit dem Ziel, die diskursive Rahmung zu verdeutlichen, innerhalb derer Rassismus in Deutschland vorherrschend diskutiert

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wird, Perspektiven im Mittelpunkt stehen, die einflussreich in öffentlichen, aber auch in wissenschaftlichen Diskursen (re-)produziert werden. Wenngleich die Zielperspektiven der Kapitel also unterschiedliche sind, so sind sie inhaltlich doch eng miteinander verwoben. Leichte Überschneidungen lassen sich daher nicht gänzlich vermeiden. 1.1 Verortung im Forschungsfeld Wenn man auf die Suche nach empirischen Forschungsarbeiten zum Thema Rassismus geht, fällt zunächst auf, dass es nur sehr wenige Forschungsarbeiten gibt, die das Wort ‚Rassismus‘ im Titel tragen. Sucht man auf dieser Grundlage dann noch nach Untersuchungen, die die Perspektive jener in den Blick nehmen, die Rassismus erfahren, dezimiert sich das Suchergebnis noch einmal um ein Vielfaches. Bevor ich mich jenen (wenigen) Studien zuwende, in denen Rassismuserfahrungen (von Jugendlichen) eine explizite Rolle spielen, möchte ich mich daher im Folgenden zunächst dem Diskurs- und Forschungsfeld annähern und – ohne das Thema der vorliegenden Arbeit aus den Augen zu verlieren – einen konturierenden Blick auf diese werfen. Zunächst gilt meine Aufmerksamkeit hier der qualitativen Forschung im Gegenstandsbereich ‚Jugend und Migration‘. Diesbezüglich ist zu konstatieren, dass für die Migrationsforschung Jugendliche lange Zeit ebenso wenig ein Thema gewesen sind, wie es das weite Thema Migration für die Jugendforschung war (vgl. Geisen 2010, 27). In Bezug auf die allgemeine Jugendforschung kann dabei festgestellt werden, dass migrationsbezogene Fragestellungen nach wie vor relativ randständig verhandelt werden (vgl. Geisen/Riegel 2009, 15). Erst zu Beginn der 2000er Jahre ist Thomas Geisen (2010) zufolge eine Veränderung zu verzeichnen. Auch Paul Mecheril, Claus Melter und Farah Melter stellen fest, dass nach „einer Jahrzehnte währenden Vergessenheit“ (2008, 61) „in den letzten Jahren“ auch die Lebenswelten von „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ (ebd.) innerhalb der Jugendforschung zunehmend Aufmerksamkeit erfahren. Obgleich dies durchaus zu begrüßen ist, weil auf diese Weise alle Jugendlichen – und nicht, wie bisher, vor allem Jugendliche ohne Migrationshintergrund – zum Thema werden, sehen die Autoren und die Autorin auch die Gefahr, dass diese Forschung aufgrund der Tatsache, dass sie sich vornehmlich als Auftragsforschung und damit in Abhängigkeit von Geldgebern und politischen Förderperspektiven entwickelt hat, zur gesamtgesellschaftlichen „Wahrnehmung von Migration als ‚Problem‘ und ‚den Menschen/Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘ als Ursache des Problems“ beiträgt (ebd., 68). Forschung im Gegenstandsbereich ‚Jugend und Migration‘ ist oftmals in spezifischer Weise konnotiert: Jugendliche mit einem sogenannten Migrationshintergrund, und hier insbesondere die männlichen Jugendlichen, so konstatiert Christine

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Riegel (2004, 37), geraten in der Jugendforschung häufig in Verbindung mit sozialer Auffälligkeit in den Blick: Kriminalität, Gewaltbereitschaft, Bandenbildung oder religiöser Fundamentalismus sind hier verhandelte Themen. Jugendliche werden mithin als ‚Problem‘ zum Gegenstand einer Forschung, die so nicht nur an ihrer Konstruktion als problematische ‚Andere‘ beteiligt ist, sondern auch an der potenziellen Ethnisierung und Kulturalisierung jugendlicher Problemlagen sowie der einseitigen Verantwortungsübertragung für gesellschaftliche ‚Integrationsprozesse‘ an Jugendliche (vgl. ebd.)1. Auszumachen sind vor allem in der Anfangsphase des Erscheinens von Forschungsarbeiten im Themenbereich Jugend und Migration vornehmlich solche Studien, die Jugendliche in defizitärer Weise in den Blick nehmen und die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, vornehmlich als kulturell homogene konstruieren (vgl. Geisen/Riegel 2009, 16). So ist es naheliegend, dass Jugendliche in dieser Perspektive nicht nur mit der Fokussierung auf soziale Problemlagen wie etwa Sprach- und Bildungsdefizite oder Gewaltproblematiken in den Blick geraten, sondern diese darüber hinaus als durch ihre ‚Kultur‘ in besonderer Weise geprägt angesehen werden (vgl. ebd.). Vor allem bis in die 1990er Jahre hinein werden ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘ im Kontext pädagogischer Diskurse der, zunächst ‚Ausländer‘-, dann interkulturellen Pädagogik, in homogenisierender, auf ‚kulturelle Eigenheiten‘ fokussierender Weise zum Gegenstand von Wissenschaft, deren Herangehensweise häufig durch eine an politische und pädagogische Interessen und Problemdefinitionen anknüpfende ‚Lösungsorientierung‘ motiviert ist. Und das Problem, das ausgemacht wurde, war die ‚Kultur der Anderen‘ als Anpassungs- und Integrationshindernis (vgl. ebd., 10f.; Juhasz/Mey 2003, 32f.). Forschungen beschäftigen sich in dieser Zeit oft in defizitorientierter Perspektive mit einem vermeintlichen ‚Kulturkonflikt‘, dem Kinder und Jugendliche ausgesetzt wären. Sie bringen sie so als kulturell ‚Andere‘ zur Geltung, „pathologisierten […] sie vor allem als passive Opfer ihrer Situation und nicht als aktiv handelnde Individuen“ (Juhasz/Mey 2003, 33) und nehmen damit eine unzulängliche Perspektive ein, die kulturalistisch und individualistisch verkürzt ist und etwa strukturelle Verhältnisse und Diskriminierung ausblendet (vgl. ebd.). Ab Mitte der 1980er Jahre erscheinen zwar vermehrt auch solche Studien, die das Differenzparadigma stärker in den Vordergrund rücken und mit positiven statt defizitären Perspektiven verbinden. Hier stehen dann Diskurse um einen positiv konnotierten Multikulturalismus und ‚Migration als Bereicherung‘ im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die ‚Beforschten‘ werden jedoch weiterhin vornehmlich als ‚kulturell Andere‘ in den Blick genommen und beschrieben – wenn1

Vgl. als Beispiele für solche Studien: Heitmeyer/Müller/Schröder (1998): Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland – erschienen in der SuhrkampEdition ‚Kultur und Konflikt‘; Baier/Pfeifer (2008): Erhöhte Gewaltbereitschaft bei nichtdeutschen Jugendlichen – Ursachen und Präventionsvorschläge.

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gleich unter anderen Vorzeichen (vgl. Geisen 2010, 32ff.). In den 1990er Jahren ist dann sowohl eine zunehmende Subjektorientierung, einhergehend mit der Fokussierung auf individuelles Erleben sowie Ressourcen und Handlungsfähigkeit (vgl. Mecheril/Melter/Melter 2008, 65ff.), als auch eine beginnende Berücksichtigung von strukturellen und insbesondere bildungsinstitutionellen Aspekten als Rahmungen der Migrationssituation zu verzeichnen (vgl. Rose 2012, 50). Zunehmend wird von Seiten (vornehmlich qualitativ) forschender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Kritik laut, die auf die Unangemessenheit und die (u.a. politischen) Folgen einer Forschung aufmerksam macht, die mit solchen Perspektiven und den damit verbundenen verkürzten Konstruktionen von Jugendlichen und ihren Lebenswelten einhergehen (vgl. die Sammelbände von Bukow/Ottersbach 1999; Badawia/Hamburger/Hummrich 2003). Mit Beginn der 2000er Jahre erscheinen dann vermehrt solche Untersuchungen, welche, zunächst mit einem Fokus auf Identitätsentwicklung (Dannenbeck 2002; Badawia 2002), die Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit sowie Selbstpositionierungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen berücksichtigen. Zunehmend wird nun, in der Tradition poststrukturalistischer und konstruktivistischer Ansätze, auch Kritik an den differenzorientierten, essentialisierenden und homogenisierenden Vorstellungen und Forschungen über Jugendliche als ‚kulturell Andere‘ geübt. Ethnisierende Konstruktionsprozesse selbst sowie ihre Konsequenzen werden zum Gegenstand des forschenden Interesses (vgl. z.B. Weber 2003; Rose 2012) und zu einem wichtigen, zu berücksichtigenden und reflektierenden Aspekt einer sich als kritisch verstehenden Migrationsforschung. In diesem Zuge werden vermehrt die Lebenswelten von Jugendlichen und von jungen Erwachsenen sowie gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse bzw. Theorien sozialer Differenz und Ungleichheit in Analysen miteinbezogen. Hier sind zum einen ethnografische Studien zu erwähnen, die sich vornehmlich auf die Rekonstruktion konkreter Lebensverhältnisse konzentrieren und Migration als einen Teil von Alltagswelten betrachten, ohne diese zu problematisieren oder zu besondern (vgl. Riegel 2004, 46). Zum anderen erfolgt insbesondere in subjektorientierten Migrationsforschungen, so konstatiert Nadine Rose (2012, 51), mit dem Rückgriff auf Cultural Studies, Poststruktualismus, postkoloniale Theoriebildung sowie sozialkonstruktivistische Geschlechtertheorien eine strukturbezogene Perspektivenerweiterung, die in der Lage ist, auch Repräsentations- und Herrschaftsverhältnisse in den Blick zu nehmen und essentialisierende Differenzkonstruktionen sowohl zu kritisieren als auch hinsichtlich ihrer Bedeutungen zu befragen. Im Zuge dieser Entwicklungen ist auch eine zunehmende thematische Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes festzustellen. Mit unterschiedlichsten Schwerpunktsetzungen widmen sich Forscherinnen und Forscher den pluralen Lebenswelten sowie subjektiven Perspektiven von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ‚mit

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Migrationshintergrund‘ unter der Berücksichtigung von Ungleichheitsstrukturen. 2 So sind in einer subjekt- und strukturorientierten Perspektive etwa Lebensrealitäten junger Frauen (Gültekin 2003; Riegel 2004), Männlichkeiten und Kriminalität/Kriminalisierung (Spindler 2006; Spies 2010), Ethnisierungsprozesse und Diskriminierung im Kontext von Bildung/Bildungserfolg (Hummrich 2002; Weber 2003; Rose 2012), das Zusammenleben von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund (Räthzel 2008), Rassismuserfahrungen (Terkessidis 2004; Melter 2006), der Kompetenzerwerb im Zuge von Migration und Flucht (Seukwa 2006) und das subjektive (Er-)Leben von Integration bzw. Intergrationszumutungen (Mannitz 2006; Schramkowski 2007) Gegenstand von qualitativen Forschungsarbeiten zu und mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen ‚mit Migrationshintergrund‘. Die letztgenannten Prämissen und Studien weisen die Richtung, die auch die vorliegende Untersuchung einschlagen wird: Anspruch dieser Forschungsarbeit, die sich in subjektorientierter Perspektive den Lebenswirklichkeiten von Jugendlichen zuwendet, ist es, gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und je spezifische lebensweltliche Kontexte und Strukturen in den Blick zu nehmen und Jugendliche als in diesen verortete, diese deutende und sich zu ihnen in Beziehung setzende, handelnde, gestaltende und potenziell widerständige Subjekte zu betrachten. Die Lebenswirklichkeiten, die es hier zu betrachten gilt, zeichnen sich dabei in besonderer Weise dadurch aus, dass die Jugendlichen in Deutschland als ‚Andere‘, als ‚Ausländer‘ und ‚Ausländerinnen‘ oder ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘ gelten. Dass dieser Umstand mit alltäglichen Erfahrungen von Nicht-Zugehörigkeit in Deutschland mit Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismuserfahrungen einhergeht, wurde in verschiedenen Studien sowohl quantitativ (vgl. BoosNünning/Karakaşoğlu 2005; Salentin 2008; Leiprecht/Langerfeldt 2014) als auch qualitativ (vgl. Terkessidis 2004; Riegel 2004; Schramkowski 2007 in Untersuchungen mit jungen Erwachsenen sowie Melter 2006 mit Jugendlichen) belegt. Aussagen über das Ausmaß und die Entwicklungen von rassistischer Diskriminierung in Deutschland können angesichts einer fehlenden systematischen Dokumentation von Rassismus sowie des Mangels an empirischen Untersuchungen zu Rassismuserfahrungen allerdings kaum getroffen werden (vgl. Addy 2005, 9). 3 Zwar spielen in den 2

Eine Studie, die sich mit dem Phänomen Migrationsgesellschaft und ihrer Bedeutungen für z.B. Selbstverständnisse oder Alltagsleben in der Perspektive von Jugendlichen (oder Erwachsenen) ohne Migrationshintergrund untersucht, ist mir – mit Ausnahme von Studien, die der Rechtsextremismus- und Rassismusforschung zuzuordnen sind – nicht bekannt, was meines Erachtens auch auf die Normalisierung dieser sozialen Position und Perspektive verweist.

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Quantitative Erhebungen, die das vielfache Vorhandensein rassistischer Vorfälle in Deutschland dokumentieren sind etwa jene der FRA (European Union Agency for funda-

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oben erwähnten neueren, Subjektivität und Struktur integrierenden Studien die Konstruktion Jugendlicher und junger Erwachsener als ‚Andere‘ und auch Diskriminierung bzw. Rassismus – mal mehr, oft weniger prominent – eine Rolle. Studien die explizit und schwerpunktmäßig nach den subjektiven Bedeutungen von Zuschreibungen, Unterscheidungspraktiken und Rassismus für Jugendliche oder Erwachsene fragen, die in Deutschland als (kulturell, national, ethnisch oder religiös) ‚Andere‘ konstruiert werden, und in diesem Zusammenhang auch ihre Handlungsund Umgangsweisen in den Blick nehmen, liegen jedoch kaum vor. Rassismus, so wird deutlich, bleibt ein unterrepräsentiertes Thema in der qualitativen Forschung. Insbesondere Studien zu Rassismus, die auf Selbstäußerungen von (vor allem jugendlichen) Migranten und Migrantinnen oder jenen, die als solche konstruiert werden, basieren, sind kaum vorhanden. Auch Rose (2012, 65) kommt zu dem Schluss, dass Forschungsarbeiten, die nach dem subjektivem Erleben und dem individuellen Umgang mit Diskriminierung fragen, selten sind. Es lässt sich also sowohl eine Vernachlässigung von Rassismus und Diskriminierung als zentralem Bestandteil von Migrationsgesellschaft in der Forschung feststellen (vgl. auch Mecheril/Melter/Melter 2008, 70f.) – was zugleich auf diskursiv dominante Perspektiven verweist, unter denen ‚Migrationsgesellschaft‘ (nicht) verhandelt und diskutiert wird – als auch eine Vernachlässigung der Perspektiven und Handlungsweisen jener, die von diesen benachteiligenden Verhältnissen betroffen sind. Studien, in denen diesen Aspekten in Ansätzen nachgegangen oder relativ viel Raum zugestanden wird, sind etwa die von Tarek Badawia (2002), Paul Mecheril (2003), Anne Juhasz und Eva Mey (2003), Christine Riegel (2004), Claus Melter (2006), Barbara Schramkowski (2007) und Nadine Rose (2012). Neben der Tatsache, dass Diskriminierung bzw. Rassismus in der Perspektive jener Jugendlichen, die von ihm in ihrem Alltag betroffen sind, sowie ihre Handlungs- und Umgangsweisen bisher kaum zum Gegenstand von Forschung wurden, ist zudem zu konstatieren, dass sich nur in wenigen Studien, in denen Ein- und Ausgrenzungsverhältnisse zum Thema werden, auch explizit auf eine rassismuskritische bzw. rassismustheoretische Analyseperspektive bezogen wird. Im Gegenteil ist auffällig, dass auch in Studien, die sich explizit mit den Erfahrungen und Perspekti ven von Jugendlichen beschäftigen, die als ‚Ausländer/innen‘ markiert und diskriminiert werden, auf den Rassismusbegriff verzichtet wird (Mannitz 2006) oder statt von Rassismus etwa von „Erfahrungen mit ethnischen Stereotypen“ (Hirschauer mental rights, www.fra.europe.eu). Hinweise auf die Verbreitetheit rassistischer und antisemitischer Einstellungen in Deutschland gibt z.B. die Langzeituntersuchung ‚Deutsche Zustände‘ (2002-2012) des Forschungsteams um Wilhelm Heitmeyer, in der nach ‚Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ gefragt wird oder die diskursanalytischen Arbeiten des DISS, die alltägliche und medial verbreitete Artikulationen von Rassismus fokussieren (vgl. z.B. Jäger 1992; Jäger/Jäger 2007).

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2012) oder „Fremdenfeindlichkeit“ (Keim 2003) die Rede ist. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass Rassismusforschung nach wie vor häufig in einem Atemzug mit Rechtextremismusforschung4 genannt wird (so z.B. auch bei Keim). Tatsächlich handelt es sich bei Rassismus um ein Phänomen, das als Gegenwartsproblematik in Deutschland lange Zeit vor allem in diesem Kontext thematisiert und erforscht wurde und wird. Existierte Rassismusforschung in Deutschland nach 1945 lange lediglich als historische Forschung im Kontext von Kolonialismusforschung – quasi parallel zur deutschen Antisemitismusforschung, die Antisemitismus ebenfalls als Problem der Vergangenheit untersuchte – so ist das Problem der Gegenwart, dem sich verstärkt seit Beginn der 1990er Jahre forschend zugewandt wird, jenes des ‚Rechtsextremismus‘ (vgl. Räthzel 2012, 192). In diesem Rahmen wird Rassismus – häufig unter dem Begriff ‚Ausländer-‘ oder ‚Fremdenfeindlichkeit‘ – nun als zentrales Ideologem des Rechtsextremismus, als Teil einer politisch rechten Überzeugung untersucht. Rechtsextremismusforschung jedoch erfasst nur spezifische Formen von Rassismus und kann in keinem Fall mit Rassismusforschung, wie sie in dieser Arbeit verstanden wird, gleichgesetzt werden. Es handelt sich mitnichten, wie zum Teil argumentiert wird, um zwei verschiedene theoretische Ansätze, die aber letztlich das gleiche empirische Phänomen, eben Rassismus, in den Blick nehmen, sondern um unterschiedliche Gegenstandskonstruktionen, die mit den jeweils gewählten Perspektiven einhergehen (vgl. Scherr 2009). Der überwiegende Teil der Arbeiten im Feld der Rechtsextremismusforschung befasst sich mit Rassismus als einem Teilelement einer rechtsextremistischen Weltsicht (vgl. Stöss 2010, 13). In zumeist sozialpsychologischer Manier werden (politische) Einstellungen und das Verhalten 5 jener – meist (männlichen) Jugendlichen –, 4

Thomas Guthmann (2014) weist darauf hin, dass der Begriff Rechtsradikalismus durch den vom Verfassungsschutz geprägten Begriff ‚Rechtsextremismus‘ abgelöst wurde, um mit ihm vor allem Organisationen, soziale Bewegungen und Parteien, die ein rechtes Weltbild vertreten, das sich gegen die Verfassung richtet, zu bezeichnen (vgl. auch Stöss 2010; Decker/Kies/Brähler 2012). Es handelt sich also – im Gegensatz zum Rassismusbegriff – nicht um einen Begriff, der das Verstehen sozialer Zusammenhänge oder das Üben von Kritik ermöglichen soll (vgl. Guthmann 2014). Kritik erfährt der Extremismusbegriff dafür, dass er die ‚Mitte‘ ausblendet (und diese damit zugleich in spezifischer Weise kon struiert) und Rechts- und ‚Linksextremismus‘ parallelisiert (vgl. Burschel 2011a, 2011b, Decker/Kies/Brähler 2012, 16f). Decker, Kies und Brähler (vgl. 2012, 16) weisen zudem auf seine Ungenauigkeit hin: In 13 sozialwissenschaftlichen Studien zählen sie 37 unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs.

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Als zentrale Dimensionen, die in „[s]ozialwissenschaftlichen Analysen über Verbreitung und Ursachen des Rechtsextremismus“ (Stöss 2010, 20f.) zu berücksichtigen sind, benennt Richard Stöss, orientiert an Heitmeyer (1987), rechtsextremistische Einstellungen und ihr Entstehen sowie rechtsextremistisches Verhalten.

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die rassistische Gewalt ausüben, untersucht. In der Regel werden darunter verbale und körperliche Übergriffe verstanden, die mit intentionalen und expliziten rassistischen und nationalistischen Begründungen, Abwertungen und Ausgrenzungen operieren. In dieser einflussreichen Perspektive, in der mittels Wissenschaft Rassismus und Rechtsextremismus als individualisierbares Problem Jugendlicher und expliziter Gewalt konstruiert werden (vgl. Scherschel 2006, 9ff.), werden historische, gesellschaftliche und diskursive Bedingungszusammenhänge vernachlässigt (vgl. Scherr 2009, 84f.). Der Großteil dieser Forschungsarbeiten nähert sich ihrem Erkenntnisinteresse mittels quantitativer Methoden. Forschung, die sich im Kontext von Rechtsextremismusforschung mit Rassismus beschäftigt, konstruiert diesen mehrheitlich als ein mit offensichtlicher Gewalt verbundenes, ideologisches ‚Randproblem‘ und ‚Randgruppenphänomen‘. Sie widmet sich in diesem Zusammenhang entweder lediglich dem Ziel, Aussagen über die Verbreitung rassistischer und/oder rechtsextremer Einstellungen und Haltungen zu treffen (vgl. bspw. Decker et al. 2006, 2008, 2012) oder aber den ‚Tätern‘ und ihrer Motivation (vgl. Heitmeyer 1992), häufig unter Rückgriff auf individual- und sozialpsychologische Erklärungsmuster (vgl. Zick/Küpper 2009; Menschik-Bendele/Ottomeyer 1998). 6 Gleichwohl wird mittlerweile vermehrt darauf hingewiesen, dass Rechtsextremismus nicht als vereinzeltes Phänomen, sondern in seinen gesamtgesellschaftlichen Dimensionen betrachtet werden muss, was auch die Einbeziehung der ‚Mitte der Gesellschaft‘ impliziert (vgl. Stöss 2010; Decker/Kies/Brähler 2012; früh: Jäger/Jäger/Wölk 1992). Die Opfer rassistischer Gewalt erfahren in der Rechtsextremismusforschung so gut wie keinerlei Aufmerksamkeit. So konnte ich keine Studie ausfindig machen, die schwerpunktmäßig nach der Perspektive von Menschen fragt, die (potenziell) Opfer rechtsextremer Gewalt (geworden) sind, 7 und auch David Nii Addy konsta6

Selbstverständlich gibt es auch andere, qualitative Studien: Etwa die Studie von Seddik Bibouche und Josef Held (2009) oder die Untersuchung von Michaela Köttig (2004), die sich mit Frauen als Teil der rechten Szene befasst.

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Die Mobile Beratung der RAA Mecklenburg-Vorpommern teilte mir diesbezüglich auf Anfrage mit, dass „es […] keine konkrete Forschung zu den Opfern rechter Gewalt [gibt]. Sie werden allenfalls randständig mit einem gewissen Exotismus an andere Forschungsfelder angehängt, haben eher Illustrationscharakter. Gegenstand werden sie wenn, dann in engagierten Qualifikationsarbeiten. Dies wiederum macht Hoffnung für die Pra xis der dahinterstehenden zukünftigen Fachkräfte. Aber Forschung im akzeptierten, deutungsmächtigen Sinne ist das nicht.“ (Susanne Theilmann per E-Mail, 28.03.2013). Eine Ausnahme ist die Arbeit von Uta Döhring (2008), die in ihrer qualitativen Forschungsar beit „Angstzonen“ ‚national befreite Zonen‘ untersucht. Sie bezieht die Perspektiven (po tenziell) Betroffener mit ein. Dokumentationen zu Erfahrungen von Opfern rechter Gewalt existieren vor allem bei entsprechenden Opferberatungsstellen: Zusammenfassend http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/materialien/statistiken/ (Zugriff: 10.03.2013).

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tiert, dass diesbezüglich [q]ualifizierte Studien […] Mangelware [sind]“ (Addy 2005, 21). Rassismusforschung, die mit einem Rassismusbegriff arbeitet, der Rassismus weder auf ein ‚Randgruppenphänomen‘ noch auf ein individualisierbares Phänomen reduziert, sondern ihn als soziales, Gesellschaft strukturierendes Phänomen begreift – wie es in dieser Arbeit der Fall ist – hat in Deutschland hingegen eine vergleichsweise junge Geschichte vorzuweisen (vgl. Mecheril/Melter 2009, 13). Die erste empirische Untersuchung, die mit dem Rassismusbegriff als theoretischem und analytischem Instrument arbeitete, legte Rudolf Leiprecht 1990 vor. Und obwohl im Bereich der Wissenschaft Begriffe wie ‚Ausländer-‘ und ‚Fremdenfeindlichkeit‘ mittlerweile zum einen aufgrund ihres schwachen begrifflich-theoretischen Konzepts und daraus resultierender analytischer Möglichkeiten und zum anderen aufgrund zunehmender Internationalisierung vermehrt – zumindest an rhetorischer – Bedeutung verlieren und Rassismus, wenngleich mit beeindruckender Verspätung, mehr und mehr Eingang auch in wissenschaftliche Debatten findet, so befindet sich eine Etablierung der Rassismusforschung in Deutschland, so konstatieren Paul Mecheril und Karin Scherschel (2009, 41), doch immer noch sehr am Anfang. Begründungen hierfür sind sowohl in der (noch anhaltenden) Ablehnung des Rassismusbegriffes und Aspekten der deutschen Geschichte (vgl. unten) sowie der Tradition der Rechtsextremismusforschung zu finden als auch in der oben geschilderten Tradition von Ansätzen sozial- und erziehungswissenschaftlicher Forschungen, die ‚Kultur‘ als zentralen Topos von Migrationsgesellschaft fokussier(t)en und konstruier(t)en. Während diese Ansätze, stilisiert formuliert, rassistische Individuen oder Migrantinnen und Migranten sowie Folgegenerationen zum (Problem-)Gegenstand erklär(t)en, verweist kritische Rassismusforschung auf eine Perspektive, die sozio-historische Prozesse, gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse sowie soziale Strukturen als (potenziell) problematische Kontexte und zentrale Aspekte von Rassismus in den Blick nimmt. Die Einnahme solcher rassismustheoretischen und -kritischen Perspektiven der analytischen Betrachtungsweise (migrations-)gesellschaftlicher Wirklichkeiten sowie damit verbundene Perspektiven der Kritik und der Veränderung rassistischer Verhältnisse und des rassismuskritischen Handelns (vgl. Melter/Mecheril 2009; Scharathow/Leiprecht 2009), wie sie auch in dieser Arbeit eingenommen werden, sind jedoch Herangehensweisen, die in der bundesdeutschen Forschungslandschaft noch wenig Verbreitung gefunden haben. Die weitgehende Vernachlässigung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rassismus als alltäglichem Phänomen, das soziale Ordnung hervorbringt und legitimiert, das in der ‚Mitte‘ der Gesellschaft operiert, verweist auch auf eine Struktur der Forschungslandschaft, in der Perspektiven auf Rassismus und Migration dominieren, die sowohl zu oben genannten Gegenstands- und Problemkonstruktionen führen als auch zu einer wissenschaftlichen Wissensproduktion, in der Rassismus in

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diesem Sinne kaum als wichtige Problematik erscheint und als Forschungsgegenstand in den Blick gerät. Auf diese Weise werden, bestärkt durch die ‚Täterfixiert heit‘ der Rechtextremismusforschung, auch die Perspektiven jener als bedeutungsvoll verkannt, für die Rassismus sehr wohl eine relevante Problematik und eine allgegenwärtige Bedrohung darstellt (vgl. Kap. 2.2). Eine sich erst langsam etablierende, kritische Rassismusforschung – von Scherr (2009, 86) immer noch als „Angelegenheit akademischer Außenseiterinnen und Außenseiter“ eingeschätzt – ist vor diesem Hintergrund auch als Konturierung einer Gegenposition zu verstehen (vgl. ebd.), die die Aufmerksamkeitsrichtung etwa hin zu jenen rassistischen Artikulationen verschiebt, die sich als Teil (postnationalsozialistischer und postkolonialer)8 gesellschaftlicher, sozialer Verhältnisse und Strukturen überall, auch in der sogenannten ‚Mitte der Gesellschaft‘, vielfältig, auch subtil und latent, manifestieren (vgl. Leiprecht 2001; Weiß 2001; Scherschel 2006). Vor allem Ansätze, die im Rahmen der postkolonialen Theorie und Kritik diskutiert werden, widmen sich seit einiger Zeit auch in Deutschland der Kritik und Analyse von Strukturen und Verhältnissen, die die Stimmen und Perspektiven jener ‚zum Schweigen bringen‘ (Spivak), die in postkolonialen, rassistischen Verhältnissen marginalisiert sind und kritisieren (u.a. wissenschaftliche) Formen ihrer Repräsentation. Vor diesem Hintergrund fragen diese Ansätze auch nach Möglichkeiten der ‚angemessenen‘ (Selbst-)Repräsentation und Sichtbarmachung dieser Positionen, Stimmen und Perspektiven. Ihr Hauptaugenmerk gilt in Theorieentwicklung, Analyse und Kritik den historischen und gegenwärtig fortwirkenden Mechanismen und Manifestationen (kolonial-)rassistischer Bilder und ihrer Dekonstruktion (vgl. z.B. Steyerl/Gutiérrez Rodríguez 2003; Castro Varela/Dhawan 2005; Ha 2007; Ha/Lauré al Samarai/Mysorekar 2007). Über die Beschaffenheiten und Manifestationen von Rassismus sowie seine vielfältigen Auswirkungen vermögen vor allem Selbstäußerungen von Menschen aufschlussreich Auskunft zu geben, die in Deutschland von rassistischen Distinktions- und Diskriminierungspraktiken betroffen sind. Darauf machen auch Vertreterinnen und Vertreter postkolonialer Perspektiven aufmerksam. Eine solche Perspektive allerdings, die zur Analyse von Rassismus den Blickwinkel jener wählt, die in ihrem Leben mit restriktivierenden Effekten rassistischer Artikulationen und Be8

Die Begriffe postkolonial und postnationalsozialistisch verweisen nicht nur auf Kolonia lismus und Nationalsozialismus als Teil der Geschichte Deutschlands, sondern vor allem darauf, dass diese Geschichte nicht abgeschlossen ist, sondern auch gegenwärtig weiter nachwirkt. Weder die koloniale noch die nationalsozialistische Vergangenheit sind von der Gegenwart Deutschlands zu trennen. Auf dieses Nachwirken, auf die nicht zu trennende Beziehung von Vergangenheit und Gegenwart verweisen die Beschreibungen der gegenwärtigen Gesellschaft als postkolonial und/oder postnationalsozialistisch (vgl. Messerschmidt 2009a, 143ff.).

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nachteiligungen konfrontiert sind, die nach ihrem Erleben von Rassismus und nach Umgangs- und Handlungsweisen sowie -möglichkeiten fragt, ist nach wie vor selten.9 International war und ist hier noch die Studie von Philomena Essed (1984, 1991) hervorzuheben, die in den Niederlanden und in den USA Interviews mit Schwarzen Frauen zu ihren Erfahrungen und ihrem Wissen zu Rassismus im Alltag durchgeführt hat.10 Hierzulande sind die Arbeiten von Paul Mecheril (1997, 2003) zu nennen, der (Mehrfach-)Zugehörigkeits- und Rassismuserfahrungen von ‚Anderen Deutschen‘11 zum Ausgangspunkt seiner Analysen wählt. Ausgehend von den Rassismuserfahrungen Schwarzer Frauen legt Grada Kilomba (2008) eine Analyse 9

Dies gilt zumindest für die qualitative Sozialforschung zu Rassismus(-erfahrungen). Hingegen gibt es in Deutschland mehrere Zusammenschlüsse und Initiativen, die diese Perspektive schon seit langem politisch in den Diskurs über Rassismus einbringen, einfordern und stark machen sowie (Self-)Empowerment-Arbeit leisten. Zu nennen sind hier etwa die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. (www.isdonline.de), ADEFRA e. V. (www.adefra.de), Der braune Mob e.V. (www.derbraunemob.de), Die Unmündigen e.V. (www.die-unmuendigen.de) sowie Kanak Attak (www. kanak-attak.de), die als Netzwerk allerdings nicht mehr existieren.

10 Ich konnte nur wenige englischsprachige qualitative Studien ausmachen, die sich in der Perspektive der Betroffenen mit Rassismuserfahrungen im Alltag und ihren Deutungen und Umgangsweisen befassen. Die meisten Studien, in denen Rassismuserfahrungen thematisiert werden, sind Untersuchungen, die entweder nach dem Einfluss von Rassismus/Rassismuserfahrungen auf Identität fragen (‚racial/cultural identity‘/raceconsciousness) (vgl. auch Seltzer/Johnson 2009, xxii) oder Rassismuserfahrungen (meist quantitativ) im Kontext von Gesundheit (Health and Care Studies) sowie im Hinblick auf psychologische Effekte (stress, health, trauma) untersuchen. Zu erwähnen sind jedoch die Studien von Barry Troyna und Richard Hatcher „Racism in children‘s lives“ (1992) aus Groß britannien und von Richard Seltzer und Nicole E. Johnson „Experiencing Racism“ (2009) aus den USA. Für den US-amerikanischen Kontext konstatieren Seltzer und Johnson, die in ihrer Studie Erfahrungen Studierender, die aufgefordert wurden to „write an essay on your worst racial experience“ (ebd., ix) thematisch auswerten, dass nur sehr selten danach gefragt wird, „how people define their racist experiences. How do they know they have experienced racism, how do they cope with such experiences, and how do such experi ences change them?“ (ebd., xxvii). Auch Michael L. Birzer und Jachquice Smith-Mahdi (2006) geben zum Forschungsstand in den USA an, dass zwar viele quantitative Studien Auskunft über das Ausmaß vorhandener Diskriminierungserfahrungen geben, qualitative Studien, „that lend voice and meaning to discrimination among minority groups“ (ebd. 25), jedoch kaum vorhanden aber dringend notwendig sind (vgl. ebd.). 11 „Andere Deutsche“ (Mecheril 2003, 10) meint bei Mecheril Menschen, „die in Deutschland leben, aber keine konventionelle ‚deutsche Geschichte‘ aufweisen, weil sie zwar in Deutschland aufgewachsen sind, jedoch als Fremde angesehen werden“ (ebd.).

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von Alltagsrassismus in postkolonialer und psychoanalytischer Perspektive vor. Manuela Bojadžijev (2008) nähert sich der Konstitution von Rassismus, indem sie in ihrer Untersuchung den sozialen Widerstandskämpfen von Migranten und Migrantinnen der sogenannten ersten Generation in Deutschland nachgeht. Mark Terkessidis (2004) widmet sich in seiner Arbeit den Wissensbeständen über Rassismus von Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation. Snežana Kuster-Nicolić (2012) fragt Migrantinnen, die Klientinnen in der sozialpädagogischen Beratung sind, nach ihrem Erleben von und ihrem Umgang mit dort stattfindendem Rassismus. Und Claus Melter (2006) nimmt in seiner Forschungsarbeit quasi eine zweifache Perspektive auf Rassismus ein und fragt nach den Kommunikationspraktiken zwischen Sozialpädagoginnen bzw. -pädagogen und Jugendlichen, die Rassismuserfahrungen machen, über eben diese. Die Untersuchung von Melter ist hier die einzige, die auch Jugendliche in den Blick nimmt. Die Ausführungen resümierend bleibt festzuhalten, dass nur sehr wenige Forschungsarbeiten vorhanden sind, die ausgehend von den subjektiven Perspektiven derer, die in Deutschland als ‚Andere‘, als ‚nicht-deutsch‘ konstruiert werden, Rassismus als soziales Verhältnis untersuchen. Dies gilt insbesondere für Arbeiten mit Jugendlichen. Es liegen kaum Untersuchungen vor, die danach fragen, was es für sie heißt, in ihrem Alltag als (kulturell, national, ethnisch oder religiös) ‚Andere‘ kategorisiert zu werden, wie rassistische Distinktions- und Diskriminierungspraktiken von ihnen erfahren werden, was diese für sie bedeuten und wie und mit welchen Effekten sie mit ihnen umgehen. Noch seltener jedoch, so ist festzustellen, wird danach gefragt, was ihre subjektiven Erfahrungen, ihr Deuten sowie ihre Umgangs- und Handlungsweisen über die unterschiedlichen Modi und Manifestationen von Rassismus sowie über die Kontexte aussagen, in denen diese stattfinden. Diesbezüglich ist zu fragen, auf welche Rahmungen, sozialen Verhältnisse und Möglichkeitsbedingungen bzw. Machtzustände und Kräfteverhältnisse (vgl. Foucault 2008/1983, 1098) die alltäglichen subjektiven Erfahrungen, Deutungen und Handlungsweisen jener Jugendlichen verweisen, die in Deutschland aufgefordert sind, ihren Alltag u.a. unter der Prämisse zu gestalten, als ‚Andere‘, als ‚nicht-deutsch‘, als ,nicht-zugehörig‘ zu gelten und deren Lebenswelten in spezifischer Weise von einer Normalität gekennzeichnet sind, in der ein rassistisches Unterscheidungs- und Erklärungswissen stetig zur Verfügung steht und zur Anwendung kommt. Auf welche Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen und sozialen Rahmungen sowie individuellen Erfahrungen und Handlungsweisen verweisen die Schilderungen der Jugendlichen? Welche Verhältnisse und Bedingungen sind auszumachen, die eben diese Rassismuserfahrungen, diese Deutungen und Interpretationen und diese Umgangsweisen von Jugendlichen erst möglich machen? Oder, so ließe sich auch fragen, welche Zusammenhänge sind erkennbar, die ein anderes Deuten und Handeln

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erschweren, nicht nahelegen, verunmöglichen? Diesen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit, die ausgehend von Berichten und Schilderungen Jugendlicher über ihre alltäglichen, häufig latenten und subtilen Rassismuserfahrungen, nach Antworten sucht. Rassismustheoretische und -kritische Überlegungen sowie subjektorientierte Ansätze stellen bei dieser Unternehmung zentrale Perspektiven sowohl der Konstruktion des Forschungsvorhabens als auch der Analyse dar. Bevor ich mich aber der theoretischen Bestimmung von Rassismus und Rassismuserfahrungen sowie den forschungstheoretischen und -methodologischen Ansätzen und Überlegungen widme, mit deren Hilfe ich mich diesen Fragen anhand des empirischen Materials nähere, werde ich im Folgenden zunächst Perspektiven auf Rassismus darstellen, die im Hinblick auf die obigen Fragestellungen von analytischer Relevanz sind. Wie bereits deutlich wurde, ist die Bestimmung dessen, was Rassismus ist, in Deutschland umkämpft. Deshalb wird es zunächst darum gehen, Hintergründe dieser Bedeutungskämpfe darzustellen. Dies ist auch insofern wichtig, als sozio-historisch situierte Diskurse, in denen das Phänomen Rassismus in Deutschland diskutiert wird, einen wirkmächtigen Rahmen bilden, innerhalb dessen soziale Bedeutungen, die darüber Auskunft geben, was in Deutschland gemeinhin als Rassismus gilt und was nicht, zur Verfügung gestellt und verhandelt werden. In diesem diskursiven Prozess lassen sich vor dem Hintergrund deutscher Vergangenheit, politischer Debatten und dominanter Forschungstraditionen Diskurse und Prozesse der Wissensproduktion ausmachen, die in Form dominierender Bedeutungen Eingang in ein weithin geteiltes Verständnis von Rassismus in Deutschland gefunden haben. Dieses wiederum hat weitreichenden Einfluss auf den Kontext, vor dessen Hintergrund und unter Bezugnahme auf den Rassismus in Deutschland hervorgebracht, gedeutet, verhandelt, behandelt, identifiziert, verkannt und erfahren wird – und welches es daher in der analytischen Auseinandersetzung mit dem empirischen Material zu berücksichtigen gilt. 1.2 Rassismus im deutschen Diskurs Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Analyseperspektive ‚Rassismus‘ sowie mit Ansätzen der Kritik rassistischer Verhältnisse ist in Deutschland, wie gesagt, noch ein recht junges Phänomen. Zu erklären ist dies auch mit der deutschen Geschichte. Rassismus war in Deutschland – und ist zum großen Teil noch immer – vor allem mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrem neofaschistischen Erbe assoziiert. Als Phänomen und Begriff war Rassismus bis Anfang der 1990er Jahre im postnationalsozialistischen Deutschland sowohl politisch als auch sozialwissenschaftlich weitgehend tabuisiert und fand lediglich in Verbindung mit der Analyse und Thematisierung von am Nationalsozialismus orientierten

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politischen Ideologien und entsprechenden – vor allem mit physischer Gewalt einhergehenden – Phänomenen und Tendenzen am ‚Rande‘ der Gesellschaft Verwendung (vgl. Mecheril/Scherschel 2009, 40). Aber auch heute – obwohl eine diesbezügliche Veränderung in Teilen zivilgesellschaftlicher, pädagogischer und wissenschaftlicher Diskurse durchaus auszumachen ist – ist ein Bezug auf Rassismus und die Verwendung des Rassismusbegriffs insbesondere im politischen und medialen, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs eher marginal – insbesondere dann, wenn es nicht um massive und manifeste Formen der physischen Gewaltausübung oder eine explizite Verbindung zu faschistischen rechtsradikalen Ideologien geht. Aber selbst in Studien zu „Rechtsextremismus“, so konstatiert Rommelspacher (2009, 33), „taucht der Rassismusbegriff kaum auf.“ Diese (zu) enge Verwendung des Rassismusbegriffes in Deutschland erfährt auch internationale Kritik, etwa 2009 durch den UN-Sonderberichterstatter zu Rassismus Githu Muigai. Die Vermeidung des Rassismusbegriffs, die wenigen Forschungsarbeiten in diesem Bereich, die fehlenden öffentlichen Auseinandersetzungen, die internationale Kritik; all dies kann als Ausdruck dafür gelesen werden, dass die Dethematisierung, Verleugnung und Verharmlosung rassistischer Realität in Deutschland nach wie vor weit verbreitet und fest verankert sind (vgl. Mecheril/Melter 2009, 14). Eine Begründung hierfür lässt sich unter anderem in dem Bemühen Deutschlands finden, sich im Zuge der Neukonstitution der Bundesrepublik nach der nationalsozialistischen Herrschaft und des neu zu etablierenden Staats- und Gesellschaftsverständnisses, deutlich, mit einem klaren Bruch, von der nationalsozialistischen Vergangenheit abzugrenzen und sich von dieser Vergangenheit ‚zu befreien‘. Rassismus wird nach 1945 als Phänomen der Vergangenheit tabuisiert. Die öffentliche Thematisierung von ‚Migration‘ findet erst mit der Zuwanderung von Arbeitskräften im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs ab Mitte der 1950er Jahre und ohne die Berücksichtigung von etwaigen Kontinuitäten und Verbindungen zur nationalsozialistischen und kolonialen Geschichte statt. Auch, dass Deutschland bereits vor der Arbeitskräfteanwerbung eine Einwanderungsgesellschaft war, bleibt unerwähnt.12 Mit Einsetzen der ersten größeren Rezession in Deutschland 1966/67 wurden Stimmen laut, die behaupteten, ‚die ‚Ausländer‘ nähmen den ‚Deutschen‘ die Arbeitsplätze weg‘ (vgl. Meinhardt 2005, 35). Ressentiments gegenüber ‚Ausländern‘ und Forderungen nach Rückkehr und Ausreise nahmen im Nachgang des Anwerbestopps – als sich herausstellte, dass die Einwanderung keineswegs ein ‚vorübergehendes‘, sondern ein sich verstetigendes Phänomen darstellte – sowie mit Zunahme der Einreise von Geflüchteten kontinuierlich zu und wurde durch eine 12 Vgl. ausführlich zur Kritik an diesen Verkürzungen und Auslassungen sowie zur Analyse der deutschen Migrationspolitik mit Blick auf Rassismus als auszumachender Kontinuität in postkolonialer Perspektive Ha 2003, zu einem migrationshistorischen Überblick Meinhardt 2005; Castro de Varela/Mecheril 2010.

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restriktive ‚Ausländerpolitik‘ ab 1982 sowie polemisierende, demagogische, rassistische politische Debatten verstärkt (vgl. ebd., 36ff.). Der sich im Zuge dieser Entwicklungen vor allem medial und politisch manifestierende und insbesondere gegenüber Geflüchteten zunehmende Rassismus, der Anfang der 1990er Jahre schließlich in einer Reihe von Pogromen, Überfällen und Mordanschlägen mündete, wurde unter den Begriffen ‚Ausländer‘- und ‚Fremdenfeindlichkeit‘ thematisiert. Eine Position, die in Deutschland Rassismus behauptete und den Begriff zur Beschreibung eines gesellschaftlichen Phänomens in politischen und medialen Diskursen sowie als zentrale Analysekategorie in Bezug auf gesellschaftliche Beziehungen und Verhältnisse im Kontext von Migrationspolitik und -forschung forderte, wie es Kalpaka und Räthzel 1986 in ihrem für diese Debatte wegweisenden Buch ‚Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein‘ taten, war vor dem historischen Hintergrund und dem Bemühen um einen auch sprachlich möglichst bereinigten ‚Neubeginn‘ im Nachkriegsdeutschland unhaltbar. Rassismus als aktuelle Vorkommnisse, Diskriminierung und Ungleichheitsverhältnisse bezeichnender Terminus wurde mit der Begründung abgelehnt, so Kalpaka und Räthzel, dass dieser die „Leute verschreckt“ und/oder aktuelle „Formen von Rassismus in der Bundesrepublik mit dem Antisemitismus im deutschen Faschismus gleichsetzt“ (Kalpaka/Räthzel 1994/1986, 18). Stattdessen wird im postnationalsozialistischen Deutschland der ‚Rechtsextremismus‘ als Ort ausgemacht, an dem „Rassismus stattfinden kann, ohne die Nation zu gefährden“ und dem die Notwendigkeit gegenüber steht, „rassistische Artikulationen in der Mitte zu bagatellisieren“ so Thomas Guthmann (2014, 105) in seiner Analyse zum (funktionalen) Verhältnis von Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland. Auf diese Weise konstituiert Deutschland sich nach dem Holocaust als Verantwortungsgemeinschaft und Demokratie, in welcher ‚Rechtsextremismus‘ anzeigen soll, dass Rassismus außerhalb des nationalen Konsenses liegt (vgl. ebd., 106). Mecheril und Scherschel (2009, 40) erklären die Ablehnung des Begriffs im Rückblick damit, dass „auf der einen Seite damit eine Banalisierung nationalsozialistischer Praxis einherzugehen drohte, andererseits eine Überbewertung gegenwärtiger Diskriminierungsphänomene verbunden zu sein schien.“ Die koloniale Geschichte Deutschlands und der koloniale Rassismus wurden vor diesem Hintergrund der Konstruktion einer ‚Stunde Null‘, eines ‚Neuanfangs‘ nach dem Nationalsozialismus, der Gleichsetzung von Rassismus und Nationalsozialismus und also der Idee, man hätte mit der nationalsozialistischen Herrschaft auch den Rassismus überwunden, weitgehend ausgeblendet und werden auch heute noch vernachlässigt (vgl. z.B. Arndt 2001; Messerschmidt 2009a, 151f.). Vor diesem Hintergrund ist auch zu betonen, dass es nicht nur die Stimmen von Sozialwissenschaftlerinnen und -wisschenschaftlern waren, die im Kontext von (Arbeits-)Migration und der Beschreibung Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft sowie im Zuge gewalttätiger, rassistischer Übergriffe auf Eingewanderte und Geflüchtete

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zu Beginn der 1990er Jahre forderten, sich mit Rassismus in Deutschland auseinan derzusetzen und auch von Rassismus zu sprechen (vgl. z.B. Autrata 1989; Leiprecht 1990; Kalpaka/Räthzel 1992; Jäger 1992). Es waren vor allem auch Schwarze deutsche Feministinnen, die ab Mitte der 1980er Jahre auf die „koloniale Kontinuität deutscher Geschichte“ (Gutiérrez Rodríguez 2003, 17) und den gegenwärtigen und alltäglichen, strukturellen und institutionalisierten Rassismus in Deutschland aufmerksam machten, ihre Geschichte in Deutschland – auch in Verbindung mit dem nationalsozialistischen Regime (vgl. Lauré al-Samarai 2004; Okpara-Hofmann 2004) – dokumentierten, Rassismuserfahrungen als Deutsche in Deutschland artikulierten und den Rassismusbegriff in die politische und wissenschaftliche Diskussion trugen und tragen.13 Zurecht plädieren mithin nicht nur Kalpaka und Räthzel für die Verwendung des Rassismusbegriffs als Terminus, der das, worum es auch im gegenwärtigen Deutschland eigentlich geht, angemessen zu analysieren und zu beschreiben vermag – nämlich keineswegs lediglich um eine ‚Feindlichkeit‘ gegenüber vermeintlichen, so konstruierten ‚Fremden‘ und Menschen ohne deutschen Pass in Deutschland.14 Trotz der Tatsache, dass sich in Deutschland zunehmend Positionen etablieren, die Rassismus sowohl als analytischen als auch als politischen Begriff zur Beschreibung spezifischer gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse einfordern, erfahren der Begriff sowie die Anerkennung von Rassismus als eine gesellschaftliche Normalität nach wie vor weitreichende Abwehr und Ablehnung in der Gesellschaft. Astrid Messerschmidt identifiziert vier Formen des abwehrenden Umgangs mit Rassismus als eine aktuelle Normalität in der deutschen postnationalsozialistischen Gesellschaft (vgl. Messerschmidt 2010): Skandalisierung, Verlagerung in den Rechtsextremismus, Kulturalisierung und Verschiebung in die Vergangenheit. Als „mehrschichtige[...] Distanzierungen“ (Messerschmidt 2010, 41; Herv. i. O.) erfüllen diese abwehrenden Umgangsweisen unterschiedliche Funktionen: Während die beiden erstgenannten Umgangsweisen Messerschmidt zufolge Rassismus als ein Randphänomen und als „nicht zum ‚Eigentlichen‘ der Gesellschaft“ (ebd.) gehörend repräsentieren, dienen insbesondere die zwei letztgenannten dem Schutz eines Selbstbildes als für Rassismus nicht verantwortlich und der Grenzziehung zwischen 13 So erschien 1984 das Buch ‚... und wenn du dazu noch schwarz bist‘, in dem Schwarze Frauen über Rassismus in Deutschland berichten (Fremgen 1984) und 1986 das Buch ‚Farbe bekennen‘, in dem Afro-Deutsche Frauen ihre Geschichte und Gegenwart doku mentieren (Oguntoye/Ayim/Schultz 1986). Mitte der 1980er Jahre gründeten sich verschiedene Zusammenschlüsse Schwarzer bzw. Afro-Deutscher, so etwa die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und die Gruppe ‚Afro-deutsche Frauen (ADEFRA) (vgl. Ayim 2001, 83ff.; Wiedenroth-Coulibaly/Zinflou 2004; Ekpenyong 2004). 14 Vgl. zur Kritik der Begriffe ‚Ausländerfeindlichkeit‘ und ‚Fremdenfeindlichkeit‘ z.B. Kalpaka/Räthzel 1994/1986; Leiprecht 2003; Terkessidis 2004.

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der gegenwärtigen Gesellschaft und ihrer rassistischen Geschichte (vgl. ebd.). Damit geht sowohl eine Distanzierung gegenüber „jenen, die nicht dazu gehören sollen und deren Diskriminierung deshalb auch nicht anerkannt wird“ einher als auch gegenüber „der eigenen Geschichte mit Rassismus und Antisemitismus, die als überwunden gilt“ (ebd.). Rassismus wird mithilfe dieser Abwehrmuster in Deutschland in ein außen und in die Vergangenheit verbannt. Er wird als ‚Extremismusproblem‘ definiert und damit am Rand und nicht in der Mitte der Gesellschaft, die als demokratisch imaginiert wird, verortet. Eigene Involviertheiten, Vorstellungen und Einstellungen müssen so nicht hinterfragt werden. Rassistische Denkweisen haben andere, die die Ausnahme bilden, und die, so der gesellschaftliche Konsens der ‚Mitte‘, als ‚Extremisten‘ bekämpft werden müssen. Auseinandersetzungen mit rassistischen Ausdrucksformen, die nicht als ‚extrem‘ gelten, nicht physische Gewalt sind, können so ebenso umgangen werden wie auch die Auseinandersetzung mit Rassismus als einem gesellschaftlich verankerten, normalisierten Problem der Gegenwart. Rassismus scheint in diesen Definitions- und Erklärungsmodellen vielmehr ein Problem ‚ewig Gestriger‘ zu sein. Zu dieser Vorstellung trägt auch die Ablehnung des Rassismusbegriffs für alltägliche machtvoll hierarchisierende Unterscheidungen bzw. seine dezidierte Verknüpfung mit der nationalsozialistischen Ideologie bei. Die enge Verknüpfung von Rassismus mit der NS-Rassenpolitik, das Verständnis von Rassismus als „Programm einer fundamentalistisch-völkischen Politik“ (Messerschmidt 2009b, 69), die überwunden zu sein scheint, und die damit verbundene Abwehr von Rassismus „als analytischer Kategorie zur Untersuchung gesellschaftlicher Segregationsprozesse im deutschen Kontext […], weil man nichts so sehr fürchtet wie die Diagnose, rassistisch zu sein“ (ebd. 2010, 52), kann nach Messerschmidt auch als eine der Praktiken beschrieben werden, mit denen stetig versucht wird, den Nationalsozialismus als abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte zu repräsentieren. Und eben dies ist ein Zeichen für „die Nachwirkungen einer Geschichte, die nicht zu Ende ist“ (ebd.). Diese Formen der Verschiebung von Rassismus in eine vermeintlich abgeschlossene nationalsozialistische Vergangenheit bringen nicht nur gegenwärtige Formen des Rassismus und des Antisemitismus, sondern auch die koloniale Vergangenheit Deutschlands zum Schweigen und behindern die Auseinandersetzung mit aktuellen, alltäglichen Rassismen – auch als Folge deutscher Geschichte. Im öffentlichen Bewusstsein wird Rassismus mithin vornehmlich als etwas konstruiert, das nichts mit gesellschaftlicher Alltäglichkeit und nichts mit der eigenen Person zu tun hat, sondern als ein Problem, das individualisierbar ist, das woanders stattfindet, in das andere involviert sind und das andere betrifft. Eine solche im Alltag nahegelegte Betrachtungsweise geht auch mit einer personalisierenden und psychologisierenden Perspektive einher, die sich auf ‚Fremdenfeindlichkeit‘ konzen-

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triert. Rassismus wird in dieser Perspektive auf ‚Einstellungen‘ und individuelle ‚Vorurteile‘ gegenüber ‚Fremden‘ und ‚Anderen‘ sowie auf pathologische Ursachen reduziert. Dieses im öffentlichen Diskurs und Alltagsverständnis auszumachende Verständnis kann auch als ein Resultat prominenter und einflussreicher psychologischer Forschungsperspektiven gelesen werden, in denen gesellschaftliche Verhältnisse sowie sozio-historische Prozesse ausgeklammert werden. So blenden klassische individualpsychologische und psychoanalytische Ansätze gesellschaftlich-historische Hintergründe aus und nehmen eine Perspektive ein, die in erster Linie Individuen und ihre psychische Struktur betrachtet (vgl. Rommelspacher 1997, 153ff.). Psychoanalytische Ansätze analysieren Rassismus bzw. ‚Fremdenfeindlichkeit‘ quasi als auf ‚Fremde‘ projizierte Abwehr von eigenem Verdrängten (vgl. kritisch: Holzkamp 1997d). Die (wohl eher der Biologie zuzuordnende) humanethologische Forschung spricht von ‚angeborener Fremdenfeindlichkeit‘ (vgl. Eibl-Eibesfeld 1995) und sozialpsychologische Ansätze fokussieren die Beziehung zwischen verschiedenen Gruppen (vgl. Rommelspacher 1997, 153). Zwischen individual- und gruppenpsychologischen Fokussierungen sind die Einstellungs- und Vorurteilsforschung zu verorten (vgl. Allport 1954; Zick 1997; kritisch: Hormel 2007, 25ff.) sowie die Studien zum autoritären Charakter von Adorno et al. (vgl. Adorno 1995). 15 Letztere fragen zumindest in Ansätzen auch nach dem sozialen Umfeld und sozialen Entstehungsbedingungen, so Rommelspacher (vgl. 1997, 157), und es gibt einige wenige US-amerikanische Ansätze, in denen auch gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse Berücksichtigung finden (vgl. Hormel 2007, 52ff.). Eine generelle Tendenz der individualisierenden Reduktion von Rassismus auf einen ‚rechten Extremismus‘ sowie auf Einstellungen und ‚Vorurteile‘, die sozio-historische Entwicklungen und gesellschaftliche Verhältnisse weitgehend ausblenden, wie etwa Ute Osterkamp sie 1996 beklagt, kann leider noch immer als konstitutiver Bestandteil eines Großteils der gegenwärtigen öffentlichen Debatten und Diskurse ausgemacht werden.16 Die auf Rassismus bezogenen Interventions15 Ulrike Hormel (2007, 25f.) weist zudem darauf hin, dass Erklärungsansätze aus der Vorurteilsforschung sich insbesondere in den Sozial- und Erziehungswissenschaften mittlerweile einflussreich verselbständigt haben: Ohne, dass die der Vorurteilsforschung zugrunde liegenden Prämissen noch hinterfragt werden würden, beziehen sich Studien hier oft mals auf ein in Lehrbüchern zusammengefasstes und sich so tradierendes Wissen, das kaum mehr hinterfragt und diskutiert wird. 16 Zur Veranschaulichung dazu zwei Beispiele. Eines von der Nachrichten-Seite Spiegel Online (www.spiegel.de), wo 2001 in einem Artikel über neue psychologische Forschungsergebnisse zum Thema Rassismus berichtet wird. Der Artikel trägt den Titel: „Ist Rassismus heilbar?“ und erklärt in der einleitenden Zusammenfassung: „Fremdenfeindlichkeit gilt vielen Pessimisten als Übel, das zur Natur des Menschen gehört. Experimente von US-Psychologen scheinen das nun zu widerlegen: Rassismus lässt sich womöglich

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möglichkeiten beschränken sich in dieser Perspektive „auf die moralische Verurteilung der ‚Rassisten‘“ (Osterkamp 1996, 86), auf das ‚Verändern der Rassisten‘, ihrer Einstellungen und ihrer Vorurteile (vgl. Holzkamp 1997c) – wie es nach wie vor dominanter Inhalt von Konzepten interkultureller und antirassistischer Erziehungsund Bildungskonzepte ist (vgl. kritisch: Cohen 1994; Holzkamp 1997c; Kalpaka 2003)17 – sowie auf das Bekämpfen jener ‚extremen‘ Formen von Rassismus, die die bestehende Ordnung gefährden (vgl. Osterkamp 1996, 87). Bei all diesen Erklärungsmustern sowie den ihnen entsprechenden Interventionen wird der alltägliche und gesellschaftlich verankerte Rassismus verkannt und weder die Involviertheit jener thematisiert, die sich selbst nicht als von Rassismus betroffen sehen, noch die herrschende soziale Ordnung in Frage gestellt. Rassismus ist in diesem Zusammenhang als normativ aufgeladene Begrifflichkeit zu begreifen, mit der auch eine deutliche Trennung zwischen ‚Rassisten‘ und ‚Nicht-Rassisten‘ möglich zu sein scheint: „Die einen verkörpern das Böse bzw. die ‚häßlichen Deutschen‘, die anderen hingegen die ‚besseren Deutschen‘. Die Möglichkeit, daß die ‚guten Deutschen‘ etwas mit den ‚häßlichen Deutschen‘ zu tun haben könnten, bleibt in dieser Sicht ausgeschlossen“ (ebd., 86). Doch auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Bedeutung des Begriffes Rassismus keineswegs immer in dieser Weise verkürzt, sondern diskursiv durchaus sehr umstritten und umkämpft ist und in wissenschaftlichen Diskursen und Forschungsperspektiven eine zunehmende Ausdifferenzierung auszumachen ist, besteht doch weitgehende Einigkeit darüber, dass mit diesem Begriff auf etwas hingewiesen wird, das illegitim und zu verurteilen ist. Auch deswegen – so ließe sich in anderer Perspektive formulieren – ist das, was als Rassismus bezeichnet wird, sind die Grenzen dessen, was rassistisch ist und was nicht, umkämpft: weil eben jene Grenzen auch Ausdruck von ‚legitimen‘ und ‚illegitimen‘ Praktiken und Verhältnissen sind. Der Umstand, dass wenn von Rassismus gesprochen wird, auch immer diese normative Dimension virulent ist, hat, so Mecheril und Scherschel (vgl. 2009, 50), insbesondere im deutschsprachigen Raum lange Zeit zu einem vorherrschenden Modus der NichtThematisierung von Rassismus geführt.

kurieren.“ Ein weiteres aus der ‚Ärzte Zeitung‘ vom 2.4.2012 (www.aerztezeitung.de), wo verkündet wird: „Betablocker hilft gegen Rassismus“. Berichtet wird von den Forschungsergebnissen einer Experimentalpsychologin von der Uni Oxford, die „die Pille für Toleranz entdeckt“ haben will. Als Erklärung für die vermeintliche Wirksamkeit der ‚Pil le‘ gegen Rassismus wird angegeben, dass Rassismus mit Angst verbunden sei und der Betablocker Propranolol hier wirke. 17 Vgl. kritisch zu Konzepten interkultureller und antirassistischer Bildungsarbeit z.B. Leiprecht 2003, Elverich/Kalpaka/Reindlmeier 2006; Hormel/Scherr 2005.

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Die hier dargelegten Perspektiven auf Rassismus, welche Rassismus auf individuelle Vorurteile und Einstellungen sowie rechtsextreme Ideologie reduziert und in ein Außen verschiebt, kann nach wie vor als eine dominante Betrachtungsweise in öffentlichen Diskursen und Debatten beschrieben werden, die auch das in Deutschland vorherrschende Alltagsverständnis von Rassismus ausmacht. Ein solches Verständnis ist deshalb als verkürzt und ungenügend zu kritisieren, weil Rassismus auf diese Weise als ein Phänomen verkannt wird, das gesellschaftlich verankert ist, das sich in Strukturen und institutionalisierten Abläufen ebenso wie in sozialen Praktiken alltäglich manifestiert und eben nicht zu individualisieren ist. Über die Involviertheiten jener, die in Deutschland als ‚Deutsche‘ akzeptiert werden und den hier dargelegten Perspektiven auf Rassismus zufolge keine Rassisten und damit auch nicht rassistisch sind – d.h. ggf. über eigene Involviertheiten –, muss in dieser Perspektive nicht nachgedacht werden, denn sie scheinen nicht von Rassismus betroffen zu sein. Ein solches Verständnis ist nicht geeignet, Rassismus als komplexes gesellschaftliches Phänomen zu analysieren, zu reflektieren und zu kritisieren. Soll dies gelingen, sollen Zusammenhänge von Subjekt und Gesellschaft ebenso in den Blick geraten wie alltägliche latente und subtile Formen rassistischer Manifestationen, so braucht es ein differenzierteres Verständnis von Rassismus. Ein solches wird im Folgenden vorgestellt.

2 T HEORETISCH - ANALYTISCHE P ERSPEKTIVEN Im Folgenden geht es zunächst um die Darstellung meines theoretischen Verständnisses von Rassismus. Im Anschluss werde ich erörtern, was ich unter Rassismuserfahrungen verstehe. Das hier dargestellte theoretische Verständnis von Rassismus und Rassismuserfahrungen liegt der vorliegenden Arbeit in Form der zentralen Analysekategorien zugrunde. Im Hinblick auf das Anliegen der Arbeit und die Analyse des empirischen Materials müssen sie in der Lage sein, Rassismus und Rassismuserfahrungen so zu fassen, dass sowohl gesellschaftliche und strukturelle als auch individuell-subjektive Aspekte und Zusammenhänge in den Blick geraten. Darüber hinaus muss auch jenen Aspekten und Mechanismen Aufmerksamkeit zukommen, die der Analyse alltäglicher, auch subtiler Manifestationen, Praktiken und Erfahrungen zuträglich sind. Ich konzentriere mich daher im Folgenden auf Aspekte, die mir diesbezüglich besonders bedeutsam erscheinen.18

18 Eine ausführliche Genealogie und Geschichte des Rassismus kann u.a. nachgelesen wer den bei Geulen 2007, Hund 2007 und Mosse 1990, eine ausführliche Diskussion ver schiedener Rassismustheorien bei Terkessidis 2004.

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2.1 Rassismus Knapp formuliert verstehe ich unter Rassismus ein soziales und gesellschaftliches System von Diskursen und Praktiken der machtvollen Unterscheidung und Kategorisierung von Menschen, mit welchen Ungleichbehandlung und ungleiche Machtverhältnisse legitimiert werden. Rassismus fungiert demzufolge als ein umfassendes, strukturierendes Prinzip gesellschaftlicher Wirklichkeit und ist weder zu individualisieren, also nicht auf individuelle ‚Haltungen‘ oder ‚Einstellungen‘ zu reduzieren, noch als ‚Randphänomen‘, als Problem spezifischer Gruppen oder Einzelner am Rande der Gesellschaft, zu marginalisieren. Vielmehr sind „rassistische Strukturen und Prozesse als allgemein wirksame Zusammenhänge […], welche auf generelle Muster der Unterscheidung von Menschen verweisen“ (Scharathow/Melter/Mecheril/Leiprecht 2009, 10) zu verstehen, die auf allen Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit sowohl produziert als auch wirksam werden. „Differenz schafft Bedeutung. Sie ‚spricht‘“ (Hall 2004b, 112). Im Zentrum von Rassismus steht nach Stuart Hall die Markierung von Differenz, wobei die Markierung von Differenz ihm zufolge niemals ohne die gleichzeitige Konstruktion von Bedeutung möglich ist. Denn das Unterscheidungswissen, mit welchem spezifische Merkmale als Differenz markiert und als relevant begründet werden, beruft sich auf soziale Bedeutungskonstruktionen, auf spezifische Signifikationen (vgl. auch Miles 1991, 93ff., Miles/Brown 2003; 19ff.). Auf diese Weise entstehen nicht nur Vorstellungen über voneinander ‚begründet‘ zu unterscheidende Menschen bzw. soziale Kategorisierungen von Menschen zu sozialen Gruppen, sondern auch je spezifische Bedeutungen, die diesen sozialen Gruppen bzw. ihren Mitgliedern zugeschrieben werden. Solche Bedeutungen der Unterscheidung werden fortlaufend in dynamischen und komplexen sozio-historisch situierten Prozessen des sozialen Austausches zwischen Menschen in Form von Praktiken und Diskursen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also auf interaktionaler, institutioneller, diskursiver und struktureller Ebene produziert, zur Verfügung gestellt und zur Wirkung gebracht. Da also Diskurse und Signifikationen nicht stabil und monolithisch sind (vgl. Solomos 1992, 347), ist Rassismus auch kein statisches, sondern ein sich im Laufe der Geschichte und im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Kontexten vielfach wandelndes Phänomen (vgl. Hall 2000e, 11). Es werden bedeutungsvolle soziale Wissensbestände konstruiert, die Auskunft über vermeintliche Fähigkeiten, Eigenschaften und Wesensmerkmale geben, die als unveränderlich vorgestellt werden und die voneinander abgegrenzte, als different behauptete soziale Gruppen in stereotypisierender Weise repräsentieren. So geht Stereotypisierung als signifizierende Praxis der Repräsentation von Differenz sowohl mit essentialisierenden, reduktionistischen und Differenz festschreibenden Effekten

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als auch mit der Errichtung symbolischer Grenzen und Ausschluss einher (vgl. ebd. 2004b, 143ff.). Soziale Unterschiede zwischen Menschen werden im Rassismus auf diese Weise naturalisiert, als natürliche und unveränderliche Differenz behauptet und festgeschrieben. Sozial konstruierte Gruppen wie ‚Rassen‘, ‚Völker‘, ‚Nationen‘, ‚Ethnien‘ oder ‚Kulturen‘ werden so mit dem Verweis auf sie unterscheidende soziale Bedeutungskonstruktionen hervorgebracht. Solche konstruierten sozialen Gruppen werden als jeweils homogen und statisch vorgestellt. Es wird zudem ihre Ungleichheit und Unvereinbarkeit behauptet und die Gruppen hierarchisch voneinander abgegrenzt. Ihre vermeintlich grundsätzliche Unterschiedlichkeit wird vor diesem Hintergrund nicht lediglich postuliert, sondern auch als Deutungsmuster mit vielfachen sozialen Wirkungen etabliert und plausibilisiert. Als „ein flexibles, historisch und kontextuell variables ‚System‘ von Erklärungen“ (Mecheril/Scherschel 2009, 47) dienen Bedeutungskonstruktionen bzw. Deutungsmuster der Legitimation von Unterscheidungen und bilden das Fundament des Rassismus. Als eine mit Macht ausgestattete Repräsentationsstrategie wirkt Stereotypisierung bzw. die machtvolle Hervorbringung und Durchsetzung eines solchen ‚Erklärungs-Wissens‘ folglich auch als „Strategie der ‚Spaltung‘“ (Hall 2004b, 144): Es wird eine symbolische Grenze gezogen, die das ‚Normale‘ vom ‚Nicht-Normalen‘ trennt und Menschen entsprechend einer Norm bzw. als abweichend von einer Norm konstruiert (vgl. ebd., 144f.). Im Zentrum der rassistischen Unterscheidung steht eine entsprechende binäre Kategorisierung, die entlang dieser Grenze zwischen einem ‚Wir‘ und einem ‚Nicht-Wir‘ differenziert (vgl. ebd. 2000e, 13ff.; Miles 1999, 11). Dabei repräsentiert das ‚Wir‘ dominante und normalisierte (‚rassische‘, ethnische, nationale, kulturelle und/oder religiöse) Zugehörigkeiten und daran geknüpfte Bedeutungskonstruktionen, die in der Regel jedoch nicht benannt werden. Das ‚Nicht-Wir‘ hingegen wird als von dieser vermeintlichen Normalität abweichend vorgestellt. Mit der Konstruktion der Gruppe der ‚Anderen‘ wird so – auch wenn dies nicht expliziert wird – immer auch die ‚eigene‘ Gruppe als Gegenbild konstruiert. Die Gruppe der als ‚Andere‘ Konstruierten ist somit gewichtiger Teil der Ordnung, in der machtvoll bestimmt wird, was ‚normal‘ ist; denn ohne das ‚Andere‘, welches das repräsentiert, was nicht-normal ist, würde auch die Normalität nicht deutlich strukturiert werden können, fehlte dem normalisierten ‚Wir‘ der Antagonist, ohne den das ‚Wir‘ nicht deutlich zu bestimmen wäre. ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ sind daher Teil der gleichen Konstruktionsprozesse und also auch in den sie repräsentierenden Bedeutungskonstruktionen immer eng miteinander verbunden. Spätestens hier wird deutlich, dass die Konstruktion von ‚Anderen‘ etwas mit dem Standpunkt zu tun hat, von dem aus diese macht- und damit wirkungsvoll konstruiert werden (können). Im Rahmen von Rassismus, darauf weisen etwa Robert Miles und Malcolm Brown (2003, 19ff.) hin, sind diese Repräsentationen histo-

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risch, etwa im Zuge europäischer ‚Entdeckungsreisen‘, des Sklavenhandels oder des Kolonialismus, „generated within the Western world about populations elsewhere“ (ebd., 20). In der hier zugrunde gelegten, diskurstheoretisch orientierten Konzeptionen von Rassismus folgenden Perspektive (vgl. z.B. Miles 1991, Miles/Brown 2003; Balibar 1989; Hall 2000e), ist ein sozial konstruiertes ‚Wissen‘, das in der Lage ist, machtvoll zu unterscheiden, Bedeutungen zuzuschreiben, zu hierarchisieren und Kategorien von ‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘, von ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ herzustellen, Ungleichheit und Ausgrenzung zu legitimieren und zu plausibilisieren, immer auch Ausdruck von gesellschaftlichen Macht- und Dominanzverhältnissen. Insbesondere Hall und Miles verweisen in ihren Theorien vor diesem Hintergrund auch auf den ideologischen Aspekt von Rassismus und machen so auf seine legitimierenden, soziale Verhältnisse naturalisierenden Funktionsweisen innerhalb von Macht- und Herrschaftsstrukturen aufmerksam. Ideologie und Diskurs schließen sich in ihren Überlegungen nicht aus, sondern sind eng miteinan der verknüpft. Miles spricht von Rassismus als Ideologie. In seinem Buch ‚Racism‘ von 1989 definiert er Ideologie als „a specific form of discourse“ (1989a, 42). Jedoch bleibt sein Ideologiebegriff weitgehend unexpliziert und vage – und Miles selbst sagt, dass die genaue Definition dessen, was Ideologie heißt, für seine Konzeption von Rassismus auch nicht bedeutsam sei. Er verweist stattdessen auf den Gehalt der Ideologie des Rassismus (vgl. Miles/Brown 2003, 8) und definiert Rassismus „as an ideology that is characterised by its content“ (ebd., 84). 19 Rassismus ist Miles zufolge eine Ideologie, deren zentrales Konzept die soziale Konstruktion von ‚Rassen‘ 19 In der Erstauflage seines 1989 veröffentlichten Buches ‚Racism‘ definiert Miles Ideologie als „any discouse which, as a whole (but not necessarily in terms of all its component parts) represents human beings, and the social relations between human beeings, in a distorted manner“ (1989, 42). Für diese Definition wurde er u.a. von Nura Yuval-Davis und Floya Anthias (1993, 13 zit. n. Miles/Brown 2003, 8) kritisiert, weil er mit dieser polari sierend zwischen ‚ideologischen‘, verstanden als ‚falschen‘ auf der einen und implizit ‚richtigen‘ Einsichten auf der anderen Seite unterscheiden würde. Im Vorwort der 2003 erschienenen Neuauflage des Buches, nehmen Miles und Brown Stellung zu dieser Kritik und schreiben: „the precise definition of ideology is not important. Rather, it is the content of this ideology that is important. Is the notion that humanity is divided into biologically or somatically determined ‚races‘ false? Does racism represent human beings in a distorted manner? Does it represent the relation between human beings in a distorted manner? Is it part of the historic and hegemonic Weltanschauung? The answer to all these questions is affirmative. Racism is an ideology in all these senses“ (Miles/Brown 2003, 8). Eine Definition von Ideologie fehlt in der Ausgabe von 2003. Stattdessen beschreiben Miles und Brown auführlich die Inhalte, die Rassismus als Ideologie ihrem Verständnis nach ausmachen. Der oben zitierte Absatz ist in der Neuauflage nicht mehr enthalten.

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ist, welche aufgrund der hierarchisierenden, dialektischen Form der Repräsentation des ‚Anderen‘ (und indirekt des ‚Eigenen‘) „zwangsläufig als eine Ideologie der Ein- und Ausschließung funktioniert“ (Miles 1989b, 359; vgl. ebd. 2001). Rassismus als Ideologie umfasst Miles und Brown zufolge relativ unstrukturierte, inkohärente Behauptungen, stereotype Beschreibungen und symbolische Repräsentationen bzw. Ansichten, die zwar bewusst vertreten werden, jedoch nicht logisch strukturiert sind (vgl. Miles/Brown 2003, 83). Und dies, so Miles und Brown, „is the stuff of everyday life“ (ebd.) und relevant „to negotiate everyday life“ (ebd., 104). In diesem Sinne ist Rassismus „produced ideologically and discoursively“ (ebd., 8) and „reproduced in everyday life“ (ebd., 104). Als dynamisches, mit anderen sozialen Verhältnissen und Ideologien – insbesondere jener des Nationalismus – zusammenwirkendes, fluides Phänomen historischer Kontinuität, das auf „imagined distinctions produced in discourses“ (ebd., 6) beruht, fungiert Rassismus als Ideologie Miles zufolge als Erklärungswissen, das je situativ und variierend zum Einsatz kommen kann und damit als „Sinngebungsinstanz“ für reale Erfahrungen von Welt zur Verfügung steht (vgl. Miles 1989b, 360). Genau deshalb, so Miles, wäre es auch verfehlt, Rassismus lediglich als „Irrlehre“ zu denken (vgl. ebd.; Miles/Brown 2003, 105). Hall definiert: „Ich verwende den Begriff [Ideologie, W.S.], um mich auf solche Bilder, Konzepte und Prämissen zu beziehen, durch die wir bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens darstellen, interpretieren und ihnen einen Sinn geben“ (Hall 1989a, 151). Sowohl Miles als auch Hall distanzieren sich von einem Verständnis von Rassismus als „Ansammlung falscher Wahrnehmungen“ (Hall 1978, 35 zit. n. Miles 1989b, 360). Sie gehen vielmehr davon aus, dass Ras sismus als Ideologie Menschen in Form verschiedener Repräsentationen zur Sinngebung und Erklärung von Erfahrungen, Widersprüchlichkeiten und Problemen in Gesellschaft dient. Diese Formen der Repräsentation, bestimmte Bedeutungskonstruktionen als Elemente des Sinngebungswissen, sind diskursiv produziert, stehen in Diskursen zur Verfügung, sind flexibel und dynamisch. Sie sind immer Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse und nie Resultat eines individuellen Bewusstseins oder individueller Absichten (vgl. Hall 1989a, 151). Sie sind keine statische Ideolo gie und treten, so Miles (1989b, 360), nicht unbedingt als kohärente Theorie, sondern oft als Ansammlung „von Stereotypen, Bildern, Zuschreibungen und Erklärungen auf, die konstruiert und benutzt werden, um den Alltag zu bewältigen“ (ebd.); denn „the ideology of racism can constitute a description and explanation of the way in which the world is experienced to work“ (Miles/Brown 2003, 105). Ideologien, so Hall (1989a, 152), gehen ins Alltagswissen ein und stellen Wissenspositionen bereit, die es Subjekten ermöglichen, ideologische Wahrheiten als authentische und richtige Wahrheiten zu äußern. Sie sind dann am wirksamsten, wenn Subjekten nicht bewusst ist, dass eine Aussage auf ideologischen Prämissen basiert (vgl. ebd.). Ideologie, so könnte hier demzufolge auch beschrieben werden, setzt sich aus ver-

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schiedenen, imaginierten – in (ideologischen) Diskursen produzierten – Bedeutungskonstruktionen zusammen, auf die zur Sinngebung und Erklärung von Welt zurückgegriffen wird.20 Unter rassismustheoretischen und -analytischen Gesichtspunkten erscheint mir wesentlich, was Miles und Hall mit ihren Beschreibungen von Rassismus als Ideologie zu fassen suchen: nämlich die Naturalisierung sozial konstruierter Unterschiede, die die jeweilige soziale Organisation vorgeblich notwendig machen, und das damit einhergehende Verständnis, Strukturen, Institutionen und Prozesse seien zeitlos und unveränderbar und entzögen sich dem Einfluss menschlichen Handelns (vgl. Miles 1989b, 364). Zentral hierfür ist die Verknüpfung von Bedeutung und Macht bzw. von Wissen und Macht mit der Funktion, Ein- und Ausschließung zu legitimieren und die Verschränkung dieser Verknüpfung mit Diskursen, die, gesellschaftlich vermittelt, auch ins Alltagsverständnis eingehen und Menschen ein sinngebendes Erklärungswissen für die Interpretation von Erfahrungen sozialer Wirklichkeit bereitstellen, ohne dass die Funktionen dieser Deutungen und Interpretationsfolien ihnen immer bewusst wären (vgl. Hall 1989a, 2000e; Miles 1989b; Miles/Brown 2003). Der Historiker George L. Mosse (1990) nähert sich Rassismus ideengeschichtlich in erster Linie als Ideologie (womit auch Verkürzungen einhergehen, so Terkessidis 2004, 72f.). Seine Überlegungen sind hier vor allem für die historische Einordnung des Phänomens relevant. Mosse datiert das Aufkommen des Rassismus als „Denksystem“ (Mosse 1990, 7), als umfassendes System der Unterscheidung und Legitimierung von Ungleichheit – und damit auch von Unterdrückung, Ausbeutung und Ausrottung – auf die Moderne, die Zeit der Aufklärung im Europa des 18. Jahrhunderts (vgl. Mosse 1990; Hund 2007; Miles 1999). Als „wesentlicher Bestandteil europäischer Erfahrung“ (Mosse 1990, 26) wurzelt Rassismus in den intellektuellen Strömungen der Aufklärung, der neuen Wissenschaften, dem Streben nach Klassifi20 Es geht also weniger um ein individuelles falsches Bewusstsein als vielmehr um ein un angemessenes, ein ‚falsches‘, Erklärungswissen. Die Trennung zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Wissensbeständen und Sinngebungsweisen bleibt dabei erhalten. Miles beschreibt 1989 noch, dass es Aufgabe von Wissenschaft sei, „to demonstrate the falsity of the discourse defined as ideology“ (42). In der Neuausgabe von 2003 tun Brown und Miles dies nicht mehr. Stattdessen beschreiben sie, dass einer Rassismusanalyse die Aufgabe zukommt, die Komplexität der Konstruktion und Reproduktion von Rassismus als Interaktion zwischen historischen Erbschaften und den individuellen und kollektiven Versuchen, Welt Sinn zu verleihen, zu beschreiben (vgl. 2003, 169f.). Hall wendet sich im Gegensatz zu Miles der Entgegensetzung von ‚richtigem‘ wissenschaftlichen und ‚falschem‘ rassistischem Wissen als analytischem Problem zu. Indem er seinen Ideologiebegriff, bezugnehmend auf Foucault und Gramsci, diskurstheoretisch wendet, versucht er dieser Entgegensetzung beizukommen (vgl. Scherschel 2006, 48ff.; Kap. III 2.1).

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zierung und Ordnung der Natur – und des Menschen. In diesem Kontext, so rekon struiert Mosse, wurde Differenz nicht nur markiert, sondern in einem kategorisierenden Ordnungssystem naturalisiert. Der Schritt zur ideologischen Naturalisierung von Differenz zwischen Menschen, zum Aufkommen des Rassismus innerhalb Europas, fand statt, als vormals religiöse Differenzen in einen Unterschied zwischen konstruierten ‚Rassen‘ transformiert wurden und aus christlichem Antijudaismus rassistischer Antisemitismus wurde (vgl. z.B. Mosse 1990; Reemtsma 1998; Rommelspacher 2002, 21ff.; Miles/Brown 2003, 30ff.). Nach außen wirkte Rassismus indes im Kontext von Imperialismus und Kolonialismus: Die Konstruktion von ‚Rassen‘ anhand phänotypischer Merkmale als sichtbare Bedeutungsträger diente den Kolonialmächten Europas als vermeintlich biologisch-natürliche Grundlage der Konstruktion spezifischer kultureller Unterschiede, welche wiederum die Begründung für die Behauptung von Minderwertigkeit und Unterlegenheit von Bewohnerinnen und Bewohnern der kolonialisierten Gebiete lieferte. Die soziale Konstruktion von ‚Rassen‘ ist daher nicht Grundlage, sondern Produkt des Rassismus (vgl. Solomos 2002, 160). Auch der ‚koloniale‘ oder „Rassenrassismus“ (Hund 2007) operiert also bereits mit der Konstruktion kultureller Unterschiede und der Naturalisierung sozialer Unterscheidungen. Auf diese Weise konnten Herrschaft, Unterdrückung und die kapitalistische Ausbeutung legitimiert und sozioökonomische Ungleichheitsverhältnisse naturalisiert werden. Als eine „Strategie der Repräsentation“ zielt Naturalisierung Hall zufolge darauf, „‚Differenz‘ festzuschreiben, und sie so für immer zu sichern. Sie ist ein Versuch, das unvermeidbare ‚Entgleiten‘ von Bedeutung aufzuhalten und eine diskursive und ideologische Schließung sicherzustellen“ (Hall 2004b, 130; Herv. i. O.). Auf diese Weise etabliert Rassismus eine hegemoniale Ordnung, mithilfe derer die Interessen der Kolonialpolitik oder jene des Nationalsozialismus machtvoll verfolgt und gerechtfertigt werden (vgl. Miles 1991, 1999; Messerschmidt 2009a). 21 Der ‚kulturelle‘, von Etienne Balibar (1989) als ‚Neo-Rassismus‘ bezeichnete, Rassismus verzichtet als „Rassismus ohne Rassen“ (Balibar 1989, 373) nicht nur auf den ‚Rasse‘-Begriff, sondern erklärt ihn zudem für obsolet (vgl. Hund 2007, 11). Es findet eine Verschiebung von ‚Rasse‘ zu ‚Kultur‘ statt – obwohl auch der 21 Vgl. Messerschmidt 2009a auch zum Zusammenwirken von Rassismen der nationalsozialistischen und kolonialen Geschichte Deutschlands sowie zum Zusammenhang bzw. zur Unterscheidung von Rassismus und Antisemitismus. Betonen möchte ich, dass Antisemitismus und Rassismus ideologisch und strukturell nicht das Gleiche sind und bei aller historischer Verwobenheit und Ähnlichkeit im Hinblick auf bestimmte Mechanismen doch auch auf sehr unterschiedliche historische und strukturelle Verankerungen und Logiken verweisen. Antisemitismus sollte daher nicht als eine Form des Rassismus subsumiert werden. Die analytische Trennung ist für die Analyse und Beschreibung von Unterdrückungs- und Ungleichheitsverhältnissen in Vergangenheit und Gegenwart wichtig.

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koloniale Rassismus sich „einerseits aus einem kulturell argumentierenden Rassismus der Differenz entwickelte und […] selbst nicht auf kulturalistische Argumente verzichtete“ (ebd., 93). Bereits 1955 beschreibt Theodor W. Adorno diese Verschiebung als Form der ‚Vertuschung‘ und der Abwehr: „Das vornehme Wort ‚Kultur‘ tritt anstelle des verpönten Ausdrucks ‚Rasse‘, bleibt aber bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“ (Adorno 1955, 277). Auch Wulf D. Hund interpretiert diese Verschiebung als Versuch, „die Diskreditierung des Rassenbegriffs dadurch zu unterlaufen, dass er durch Vorstellungen von Kultur ersetzt wird“ (Hund 2007, 11). Entsprechende Konstruktionen statischer und essentialisierender ‚kultureller‘ Unterschiedlichkeiten dienen der Rechtfertigung von Benachteiligungen und ungleichen Verhältnissen – wobei das, was mit ‚Kultur‘ gemeint ist, vage bleibt und einem Containerbegriff gleich Bezüge zu nationalen, ethnischen und/oder religiösen Zugehörigkeiten hergestellt oder nahe gelegt werden. ‚Kultur‘ dient, so Leiprecht (2001, 28f.) in Anlehnung an Adorno, im Neorassismus nur allzu oft als „Sprachversteck für Rasse“. Diese Entwicklung verdeutlicht auch – wie oben bereits im Hinblick auf Bedeutungsveränderungen erwähnt – dass Rassismus wandelbar ist, sich im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen transformiert und sich als Strukturprinzip nicht immer in gleicher Form manifestiert. So sind manche Formen des Rückgriffs auf bestimmte Bedeutungskonstruktionen heute nicht mehr in gleicher Weise legitim, wie sie es einmal waren. Stattdessen formieren sich Zuschreibungen, die zwar in gleiche Richtungen wirken, Ausgrenzung und Benachteiligung aber anders, nämlich in den gegenwärtigen Verhältnissen in einer gesellschaftlich akzeptierten Form zu legitimieren in der Lage sind. So ändern sich gesellschaftliche Legitimationsbedingungen, Strukturen und Institutionen und mit ihnen sowohl Bedeutungskonstruktionen als auch Manifestationen von Rassismus. Ein Resultat scheint zu sein, dass Rassismus, gegenwärtig mehrheitlich moralisch geächtet, sich immer mehr in einem subtilen, latenten Bereich manifestiert. Paul Mecheril spricht dann auch von einer Normalisierung des Rassismus (2007) und Mark Terkessidis von der Banalität des Rassismus (2004), die ihn allgegenwärtig und doch in gewisser Weise ‚unsichtbar‘ machen. Grada Ferreira (2003, 156) schreibt: „Nicht nur süße und bittere Worte machen es schwer, Rassismus zu identifizieren, sondern das Spiel süßer und bitterer Worte ist eine Form in der Rassismus produziert wird. Die Schwierigkeit, Rassismus zu identifizieren, ist nicht nur funktional für Rassismus, sondern ein Teil des Rassismus selbst.“ Allerdings verschieben und ändern sich Bedeutungskonstruktionen aufbauend und bezugnehmend auf historisch situierte soziale Konstruktionen. ‚Alte‘ Wissensbestände bleiben so immer auch virulent. Die Wissensbestände jedoch, die in solchen weitverzweigten „rassistischen Erklärungssystemen“ (Scharathow/Melter/Leiprecht/Mecheril 2009, 11) als Deutungs- und Begründungswissen in allen Berei-

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chen gesellschaftlichen Lebens bereitgestellt sind, müssen „den Subjekten nicht immer bewusst sein; [sie gehören] vielmehr zum Haushalt der selbstverständlich plausiblen Bilder und Imaginationen, die in einem von kolonialen, nationalistischen und eben rassistischen Schemata beeinflussten gesellschaftlichen Zusammenhang gelten und wirken“ (ebd.). Diesen Vorgang der Produktion von (rassistischem) Wissen – insbesondere auch durch die Wissenschaft und ihrem, so lässt sich im Anschluss an Foucault beschreiben, ‚Willen zum Wissen‘ – und seines Transportes in Diskursen hat Edward Said in seiner Studie über den ‚Orientalismus‘ nachgezeichnet (vgl. Said 1981). Mithilfe der Foucaultʼschen Diskursanalyse zeigt er auf, wie in einem hegemonialen Verhältnis zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘ westliche Gelehrte, Wissenschaftler, Künstler und Literaten durch verschiedene Praktiken der Repräsentation – z.B. in Forschung und Literatur – das, was sie zu beschreiben meinen, vor dem Hintergrund sozio-historischer, diskursiver Wissensbestände und Interessen und in spezifischer, machtvoller Perspektive und Position erst als solches hervorbringen, es qua spezifisch situierter Wissensproduktion als das ‚Andere‘ des ‚Westens‘ repräsentieren.22 Unter Bezugnahme auf Saids Studie werden Prozesse der Repräsentation sozialer Gruppen und ihrer Konstruktion als ‚Andere‘ mittels sozialer Bedeutungszuschreibungen in Abgrenzung zum (meist unbenannten) ‚Eigenen‘ aus einer machtvollen Postion heraus – insbesondere in postkolonialen Theorien, in denen Saids Konzept des Orientalismus als ein ‚Schlüsselwerk‘ und gar als „Gründungsdokument“ (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005, 29ff.) gilt – als ‚Othering‘ bezeichnet. 23 Diese Prozesse sind immer als eingebettet in Machtverhältnisse und als Praktiken der Legitimation und der Stabilisierung von Macht(-ansprüchen) zu verstehen. Die Repräsentationsmacht, die bei solchen diskursiven und sozialen Otheringprozessen 22 Saids Werk wurde durchaus kontrovers rezipiert. Kritisiert wurde Said u.a. dafür, dass er in seinem Versuch, die Struktur der machtförmigen Repräsentation des ‚Orients‘ durch den ‚Okzident‘ bzw. ‚den Westen‘ – die sich in einem ungleichen Dualismus widerspiegelt – eben jene Binarität reproduziert, deren Hervorbringung durch intellektuelle Repräsentation er kritisiert. Indem er etwa bestehende gegenläufige Diskursfragmente ‚des Westens‘ oder Widerstandsdiskurse der Kolonisierten nicht in seine Analyse einbezieht, eine Kontinuität von Diskursen postuliert, die in sich jedoch auch durchaus widersprüchlich und unstetig sind und also Ambivalenzen, Brüche und Widersprüche weitgehend ausblendet, bleibt er dieser Dichotomie verhaftet und bringt sie erneut hervor (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005, 37ff.). 23 Said nutzt den Begriff in seinem Buch nicht. Vielmehr hat Gayatri C. Spivak ihn in An lehnung an die psychoanalytischen Studien Lacans im Kontext der Postkolonialen Theorie 1985 neu geprägt (vgl. Thomas-Olalde/Velho 2011, 27, 33f.). In der postkolonialen Rezeption von Saids Werk wurde seine Analyse jedoch als paradigmatisch für Othering interpretiert und zum Ausgangspunkt weiterer Theorieentwicklung (vgl. ebd., 29f.).

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als Form symbolischer Gewalt24 wirksam wird, bezeichnet die Möglichkeit, „innerhalb eines bestimmten ‚Repräsentationsregimes‘“ (Hall 2004b, 145) 25 zuweisen, klassifizieren und Menschen also auf eine bestimmte Weise repräsentieren zu können. Stereotypisierung stellt Hall zufolge in diesem Rahmen eine Form der Aus übung symbolischer Gewalt dar (vgl. ebd., 145f.).26 Auf diese Weise ist das Zusammenspiel von stereotypisierenden Zuschreibungen, sozialen Bedeutungskonstruktionen und Macht mit der Etablierung und Aufrechterhaltung einer hierarchisierten sozialen und symbolischen Ordnung verbunden, eines Systems von Bedeutungen: Es wird so „eine symbolische Grenze [errichtet] zwischen dem ‚Normalen‘ und dem ‚Devianten‘, dem ‚Normalen‘ und dem ‚Pathologischen‘, dem ‚Akzeptablen‘ und dem ‚Unakzeptablen‘, dem was ‚dazu gehört‘ und dem, was ‚nicht dazu gehört‘ oder was ‚das Andere‘ ist, zwischen ‚Insi dern‘ und ‚Outsidern‘, Uns und Ihnen“ und zugleich „das ‚Zusammenbinden‘ und ‚Zusammenschweißen‘ zu einer ‚imaginierten Gemeinschaft‘ [vereinfacht]“ (ebd., 144). Diese Zugehörigkeitsregime sind eng mit der Idee der Nation, der Ideologie des Nationalismus verbunden (vgl. z.B. Miles 1999, 16f.). Rassismus und Nationalismus, so Miles und Brown (2003, 6f.), „depend on each other.“ Und sie manifestieren sich in unterschiedlichen Praktiken: z.B. in der Frage ‚Wo kommst du her?‘, die an bestimmte, als nicht-zugehörig konstruierte Personen gerichtet wird und dem ihr innewohnenden Verweis aus dem ‚Wir‘, bei gleichzeitig impliziter Herstellung dieses ‚Wirs‘ (vgl. Ferreira 2003; Kilomba 2008). Auf diese Weise wird über Zugehörigkeitsregime auch die Verteilung symbolischer Macht organisiert. Das ‚Norma24 Der Begriff der symbolischen Gewalt wird hier in Anschluss an Bourdieu benutzt. Lothar Peter fasst dieses Konzept nach eingehender Analyse seiner Verwendung in Bourdieus Werk zusammen: „‚Symbolische Gewalt‘ ziel darauf ab, Menschen mithilfe symbolischsinnhafter Bedeutungen von oder Zuschreibungen zu Sachen, Personen, Handlungs- und Verhaltensweisen zur Hinnahme, Bejahung und Verstetigung von Strukturen, Institutionen und Akteuren gesellschaftlicher Herrschaft zu bewegen“ (Peter 2011, 12). Dabei sind die durch Herrschaft bedingten Gegensätze und Ungleichheiten sowie der Repressionsgehalt symbolischer Gewalt nicht unmittelbar bewusst (vgl. ebd., 17). Peter weist aber auch darauf hin, dass nach Bourdieu symbolische Gewalt auch in Form von ‚symbolischen Kämpfen‘ von den ‚Opfern‘ gesellschaftlicher Herrschaft ausgehen kann (vgl. ebd., 14). 25 Als rahmendes Repräsentationssystem, auf das in den Zuweisungen und Klassifizierungen zurückgegriffen wird, fungiert ein Diskurs, verstanden als eine „Gruppe von Aussagen, die eine Sprechweise zur Verfügung stellen, um über etwas zu sprechen […], eine besondere Art von Wissen über einen Gegenstand“ (Hall 1994b, 150). 26 Hall selbst hat in seiner Untersuchung der „Formierung des ‚Diskurses‘ von ‚der Westen und der Rest‘“ (Hall 1994b, 137) dargelegt, wie mittels eines Repräsentationssystems die Welt entsprechend einer vereinfachenden, dichotomen Differenzkonzeption zwischen ‚dem Westen und dem Rest‘ als zweigeteilt dargestellt wird (vgl. Hall 1994b).

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le‘, das ‚Wir‘, das ‚Dazugehörige‘ und also das in diesem Verhältnis Privilegierte wird in diesem Prozess der Unterscheidung meist lediglich im ‚Spiegel‘ des konstruierten ‚Anderen‘ sichtbar. Der machtvolle Ort, von dem aus das ‚Andere‘ repräsentiert und das ‚Eigene‘ normalisiert wird, bleibt in der Regel unbenannt und unsichtbar. In Anlehnung an antirassistische und akademische Auseinandersetzungen in den USA zu White Privilege rückt dieser ‚unsichtbare‘ und normalisierte Ort der Privilegierung unter dem Titel Critical Whiteness Studies auch in Deutschland zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Auseinandersetzungen (vgl. z.B. Wachendorfer 2006; Wollrad 2005; Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2005 für den deutschen, Frankenberg 1993; Rothenberg 2002 für den US-amerikanischen Kontext). Ein solches „Regime“ der selbstverständlichen Unterscheidung und Organisation von (Nicht-)Zugehörigkeit ist, so z.B. Birgit Rommelspacher (2009, 31), „eines der zentralen Formen, in dem sich der Rassismus im Alltag wie auch in den Institutionen und in der Politik durchsetzt.“ Artikulationen, Deutungen und Verweisungen, die auf rassistische Wissensbestände Bezug nehmen, wirken so auch unabhängig von den Intentionen der Akteure und Akteurinnen in alltäglichen, vor dem Hintergrund normalisierter ‚Selbstverständlichkeiten‘ vermeintlich ‚harmlosen‘ Praktiken. Diese Mechanismen und sozialen Praktiken der Unterscheidung sowie ihre Einbindung in ein rassistisches Wissens- und Erklärungssystem und in die Organisation eines Zughörigkeitsregimes sind für die vorliegende Untersuchung und die eingenommene analytische Perspektive von besonderer Relevanz. Rassismus als strukturierendes Element gesellschaftlicher Verhältnisse Als Strukturprinzip gesellschaftlicher Wirklichkeit wirken Praktiken der Unterscheidung und Bedeutungskonstruktionen, die mit Macht einhergehen, gleichsam als soziale ‚Platzanweiser‘, die in einer sich so erst etablierenden sozialen Ordnung die Position von sozialen Gruppen und Einzelnen nahe legen. Rassismus lässt sich damit als ein außerordentlich machtvolles und komplexes System von Gesellschaft strukturierenden Diskursen und Praktiken der Abgrenzung und Unterscheidung unter Bezugnahme auf vermeintliche kulturelle, nationale, ethnische oder religiöse ‚Andersheit‘ von in dieser Weise konstruierten sozialen Gruppen beschreiben, durch welches hegemoniale Strukturen und Machtverhältnisse sowie daraus hervorgehende ungleiche Zugänge zu Ressourcen, Praktiken des Ausschlusses und der Ungleichbehandlung sowohl möglich gemacht als auch legitimiert werden (vgl. Scharathow 2009, 13). „Rassismus als machtvolles Ideensystem“ (Mecheril/Scherschel 2009, 39) strukturiert die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen und geht mit Diskriminierung einher bzw. macht diese erst möglich, bedeutet also – wiederum auf struktureller, institutioneller, diskursiver und individueller Ebene –, dass soziale Gruppen, die aufgrund eines rassistischen Unterscheidungswissens marginalisiert werden, im Vergleich zur – in Bezug auf das Unterscheidungssystem Rassis-

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mus – privilegierten Majorität mit verschiedenen Ausgrenzungspraktiken konfrontiert sind und einen benachteiligten Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen haben. Birgit Rommelspacher bezeichnet Rassismus daher auch als eine „Legitimationslegende“, mit deren Hilfe die Ungleichbehandlung von Menschen in einer prinzipiell von der Gleichheit aller Menschen ausgehenden Gesellschaft ‚rational‘ erklärt werden soll (vgl. Rommelspacher 2009, 26). Rassismus kann demnach auch als ein System von Diskursen und Praktiken der Unterscheidung und Bedeutungszuschreibung mit herabwürdigenden, diskriminierenden sowie Diskriminierung legitimierenden und plausibilisierenden Effekten verstanden werden, die in ein binäres Repräsentationssystem eingelassen sind, in dem zwischen einem konstruierten nationalen, kulturellen, rassialisierten und/oder religiösen ‚Wir‘ und einem entsprechenden ‚Nicht-Wir‘, zwischen Zugehörigkeit und Andersheit, Normalität und Abweichung in Migrationsgesellschaften wirkmächtig unterschieden und so eine symbolische und soziale Ordnung hergestellt und legitimiert wird, die auf das Zusammenleben und Interagieren von Menschen einwirkt. Dabei sind Unterscheidungs- und mit ihnen einhergehende Ausgrenzungspraktiken nicht immer Folge intentionaler Handlungen, sondern oftmals selbstverständlicher Teil und Effekt normalisierter sozialer Wissensbestände, eines Alltagsbewusstseins. Zu betonen ist, dass Rassismus ein Gesellschaft strukturierendes Machtverhältnis ist, das immer auch mit ökonomischen und anderen sozialen Ungleichheitsverhältnissen zusammenwirkt. Es kann daher nicht unabhängig von anderen gesellschaftlich verankerten Differenzverhältnissen betrachtet werden. Statt dessen sollte eine analytische Aufmerksamkeit für ein kontextuell je unterschiedliches Zusammenwirken verschiedener Differenzverhältnisse und Zuschreibungen aufgebracht werden. Solche Wechselwirkungen und Verschränkungen gilt es sowohl in der analytischen Betrachtung gesellschaftlicher Verhältnisse als auch in konkreten Situationen, mit der Perspektive auf je subjektive Relevanzen verschiedener Differenzmarkierungen und Bedeutungszuschreibungen, zu berücksichtigen. Auf die Notwendigkeit des Zusammendenkens verschiedener Ungleichheitsverhältnisse machten Vertreterinnen der Schwarzen Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten erstmals aufmerksam. Sojourner Truth, Schwarze Frauenrechtlerin und freigelassene Sklavin, stellte in ihrer Rede auf der Women‘s Rights Convention in Akron, Ohio (USA) 1851 die noch heute viel zitierte Frage ‚Ain‘t I a woman?‘ und forderte damit weiße Frauenrechtlerinnen dazu auf, sich mit den Rechten Schwarzer Frauen auseinander zu setzen. Ihre Rede gilt als zentraler Bezugspunkt des Black Feminism. In den 1970er Jahren waren es wiederum Schwarze Aktivistinnen, die in den USA die „Androzentrik der schwarzen Befreiungs- und Bürgerrechtsbewegung, die die spezifischen Exklusionserfahrungen schwarzer Frauen nicht wahrnehme, sowie die Frauenbewegung, die sich an den Bedürfnissen weißer Mittelschichtsfrauen orien-

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tiere“, kritisierte (Lutz 2001, 217; vgl. das Manifest ‚A Black Feminist Statement‘ des lesbisch-sozialistischen Combahee River Collective 1982). Auch in Deutschland waren es Schwarze Frauen, die das Bild eines homogen-weißen Deutschlands herausforderten (Oguntoye/Ayim/Schultz 1986) und zu Beginn der 1990er Jahre Migrantinnen, die auf das Zusammenwirken von Rassismus, Sexismus und Klassenverhältnissen hinwiesen (vgl. FeMigra 1994). Auf ihren Status als ‚Geduldete‘ und schwierige Lebens- und Arbeitsbedingungen machten 1970 türkische Arbeiterinnen und Arbeiter unter dem Motto ‚Wir sind keine Sklaven‘ aufmerksam (vgl. Bojadžijev 2008, 130ff.). Die Verschränkung von Rassismus mit anderen Ungleichheitsverhältnissen wird schon seit langem diskutiert. Ausgehend von sozialen Bewegungen fand das Thema Eingang in die Wissenschaft und wurde hier zunächst vor allem in den Gender Studies aufgegriffen. Aber auch in rassismustheoretischen Auseinandersetzungen erfährt diese Thematik bereits seit einiger Zeit Aufmerksamkeit (z.B. Miles 1989; Hall 1994c; Phoenix/Bhavanani 1994; Gilroy 1994). In den letzten Jahren ist eine zunehmende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Zusammenwirken verschiedener sozialer Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse, insbesondere auch in der Perspektive der Entwicklung geeigneter Analysekonzepte, unter dem Terminus Intersektionalität zu verzeichnen (vgl. z.B. Crenshaw 1994; Lutz 2001; Davis 2008; Degele/Winker 2009; Riegel/Scharathow 2012). Um die Relevanz einer Perspektive wissend, die verschiedene Ungleichheitsverhältnisse in den Blick nimmt, werde ich in der vorliegenden Arbeit diesen Verschränkungen gegenüber aufmerksam sein. Dennoch werden zugunsten einer differenzierten Analyse von Rassismus und Rassismuserfahrungen andere soziale Ungleichheitsverhältnisse in den Hintergrund rücken. Eine intensive Beschäftigung mit der Mehrdimensionalität von Privilegierungs- und Benachteiligungspositionierungen kann und wird hier nicht erfolgen. Subjekte in rassistischen Verhältnissen Rassismus bzw. rassistische Wissensbestände sind allgegenwärtig. Sie stehen sowohl strukturell und institutionell als auch kulturell und individuell verankert als Deutungsangebote, Begründungs- und Handlungsmuster zur Verfügung. Rassismus kann all dem zufolge keineswegs auf ein ‚Randphänomen‘ oder auf die (intentionalen) individuellen Handlungen Einzelner reduziert werden. Der hier eingenommene Blick auf Rassismus als einem gesellschaftlichen Phänomen und Verhältnis führt indes vielmehr zu der „Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“, wie Annita Kalpaka und Nora Räthzel diese Perspektive 1986 ausdrücken, da Menschen in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt sowohl gewollt als auch ungewollt auf rassistische Wissensbestände und Strukturen zurückgreifen. Als gesellschaftliches und Gesellschaft strukturierendes Verhältnis, das auf allen Ebenen des Zusammenlebens zu finden ist, betrifft Rassismus alle in einer Gesellschaft lebenden Menschen – wenn-

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gleich in sehr unterschiedlicher, in privilegierender und in deprivilegierender, außerordentlich restriktiver Weise. Rassismus ist allerdings nicht nur in Form von soziale Ordnung organisierenden Diskursen, Repräsentationen, sozialen Praktiken und Strukturen auf den verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu analysieren. Nicht vergessen werden darf, dass Rassismus sich – wie andere gesellschaftlich verankerte Differenzverhältnisse – in diesem Zusammenhang auch in Strukturen von Bevor- und Benachteiligung sowie als symbolische Ordnung überaus machtvoll in den konkreten Lebenswelten von Subjekten manifestiert und auf diese, etwa als rechtliche (De-)Privilegierung, in Form von Zugangsmöglichkeiten zu Ressourcen und Teilhabechancen (vgl. z.B. Flam 2007; Gomolla/Radtke 2007), als Aspekt von Identitätsarbeit und der Ausbildung von Selbstverständnissen (vgl. Hall 2000e, 1994a; Broden/Mecheril 2010b; Rose 2012) und in alltäglicher Kommunikation (vgl. Melter 2006), Einfluss nimmt. So wirken sowohl Erfahrungen mit Rassismus, Othering und Marginalisierung auf Subjekte, ihre Lebenswelten und ihre subjektiven Möglichkeitsräume als auch die (häufig unbewusste und/oder unbenannte) soziale Positionierung als Privilegierte bzw. Privilegierter in rassistisch strukturierten Verhältnissen. Dennoch ist zu betonen, dass Rassismus keineswegs als deterministisch und unveränderbar zu denken ist. Er beruht auf sozialen, ergo ‚mensch-gemachten‘ und daher veränderbaren Unterscheidungspraktiken, Bedeutungskonstruktionen und diskursiven Formationen. Denn Subjekte leben nicht nur in gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern (re-)produzieren diese auch. Rassistische Wissensbestände stehen immer auch in Konkurrenz zu anderen, gegenläufigen sozialen Wissensbeständen. Subjekte sind zwar in rassistische Strukturen und Diskurse eingebunden, die ihre Erfahrungen, ihr Denken, ihr Deuten und Handeln nicht unberührt lassen. Sie können sich jedoch zu diesen Diskursen und Verhältnissen im Rahmen ihrer je spezifischen Möglichkeiten auch widerständig verhalten und verändernd auf sie einwirken – wenngleich ihnen u.a. aufgrund der sozialen Positionierungen im gesellschaftlichen Machtgefüge mitunter sehr unterschiedlich große Spielräume von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (vgl. Scharathow 2009, 16f.; Leiprecht 2013). 2.2 Rassismuserfahrungen Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis, das auf sozialen Konstruktionen basiert, hat außerordentlich reale Effekte für die Menschen, die in diesen sozialen Verhältnissen leben und ihr Leben gestalten. Sie erleben und deuten Rassismus und seine lebensweltlichen Manifestationen jedoch auf unterschiedliche Weise und nehmen in vielfältiger Weise handelnd auf diesen Bezug. Sie erfahren Rassismus verschiedentlich.

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‚Erfahrung‘ kann nach Paul Mecheril und Britta Hoffarth als Bedeutungszuschreibung und Repräsentation verstanden werden, die im Kontext von Handlungen konstitutiv sind und sich in Handlungsvollzügen herausbilden (vgl. Mecheril/Hoffarth 2009, 243). Unter Bezug auf John Dewey führen sie aus, dass Erfahrungen weder aktiv noch passiv seien, sondern sich als Verschränkung von ‚Tun‘ und ‚Erleiden‘ ergeben. Erfahrungen sind im Anschluss daran zum einen als das subjektive Erleben sozialer Verhältnisse zu verstehen – als gesellschaftlich vermitteltes, subjektives Erfahren von Welt, von Gesellschaft, von Rassismus. Dieses je subjektive Erfahren gesellschaftlicher Verhältnisse geschieht vermittelt über ein „Geflecht von Elementen, Diskursen oder Praxen, deren Beziehungsgefüge es [im Verlauf der vorliegenden Arbeit, W.S.] zu analysieren gilt“ (Engelmann 1999, 18). Ein (Er-)Leben und Erfahren außerhalb dieser Repräsentationssysteme halte ich in Anschluss an Norman Denzin und Stuart Hall für nicht möglich (vgl. Denzin 2005, 147; Kap. III). Zum anderen beinhaltet Erfahrung immer auch den Aspekt der Interaktion, der (konflikthaften) Auseinandersetzung mit Welt, mit den erlebten Verhältnissen in alltäglichen Handlungs- und Kommunikationspraktiken. Über Erfahrungen bilden sich so spezifische Formen des (Erfahrungs-)Wissens und damit auch Selbst- und Weltverständnisse, Fähigkeiten, Kenntnisse, Einschätzungen und Handlungsweisen heraus. Erfahrungen sind also produktiv. Statt von Verhältnissen auf Verhalten zu schließen, so kommentiert Rolf Lindner mit Blick auf die Entwicklung der British Cultural Studies, „sollte menschliche Erfahrung als Agens der Geschichte“ (Lindner 1998, 86; zit. n. Engelmann 1999, 17) ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten. Erfahrungen existieren diesem Verständnis zufolge „nicht an sich und nicht für sich, sondern sind in einer umfassenden Weise in diskursive Zusammenhänge eingebettet“ (Mecheril/Hoffarth 2009, 245) und werden in „sozialen, sprachlich-kulturellen und politischen Kontexten“ hervorgebracht (ebd.). Mit einem solchen Verständnis, das Erfahrung „als aus Strukturen resultierend“ (ebd.) begreift, ist auch betont, dass diese „bestimmte Bedeutungszuschreibungen und Praxisformen ermöglichen, andere verhindern“ (ebd.). Erfahrungen mit Rassismus machen demzufolge also sowohl jene, die in diesem Verhältnis eine privilegierte Position einnehmen als auch jene, die in diesem Verhältnis deprivilegiert sind. Erfahrungen mit Rassismus sind demnach in bedeutsamer Weise auch von Zugehörigkeitsordnungen strukturiert (vgl. ebd.). Dies führt dazu, dass Erstere diese Erfahrungen meist nicht als mit rassistischen Verhältnissen in Zusammenhang stehend erleben, da sie diese als unhinterfragte Zugehörigkeit und in Form von Selbstverständlichkeiten und Normalitäten erleben, die keinen Anlass für Irritationen geben. Letztere hingegen machen in der Regel Erfahrungen mit Rassismus, die sich in Form von Nicht-Zugehörigkeitserfahrungen, Zuschreibungen, Herabwürdigungen und Ausgrenzung auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen von Lebenswelten restriktiv und als Handlungsherausforde-

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rungen manifestieren. Sie sind gezwungen, sich mit diesen Erfahrungen und mit Rassismus auseinanderzusetzen. Auch die Erfahrungsräume von Jugendlichen, in denen diese sozial experimentieren und sich in der Adoleszenz prozesshaft, so Paul Mecheril und Britta Hoffarth (2009, 242), „auf das dialektische Wechselspiel von Wissen und Nicht-Wissen, von kulturell Vertrautem und Unvertrautem, von sozialer Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit ein[…]lassen, dieses Spiel selbst […] gestalten und in der Gestaltung dieses Spiels sich selbst sozial und gesellschaftlich […] erfahren“, sind also von Rassismus, wie auch von anderen sozialen Verhältnissen und Zugehörigkeitsordnungen, durchdrungen. Damit sind adoleszente Erfahrungsräume immer auch mit vielfältigen sozialen Bedeutungen und Begrenzungen ausgestattet, die für die in ihnen experimentierenden und handelnden Jugendlichen real spürbar werden (vgl. ebd., 243). „Das Erleben und das (Wieder-)Erzählen dieser Beschränkungen und Grenzen sowie die sich darin und daraus ergebende eigene Positionierung formieren sich als Erfahrung des Subjekts“ (ebd.); und dies im Falle des hier fokussierten so zialen Verhältnisses Rassismus nicht erst in der Phase der Adoleszenz. Denn als grundlegende gesellschaftliche Ordnungskategorie nimmt Rassismus „biographisch früh strukturierend auf Erfahrungen, Verständnisweisen und Praxisformen“ Einfluss (ebd., 245). Rassismus wirkt sozialisierend, indem er qua Erfahrung Selbst- und Weltverständnisse prägt und soziale Positionen vermittelt (vgl. ebd., 245f.). In dieser Arbeit geht es um Erfahrungen mit Rassismus, die Jugendliche, die als ‚Andere‘ konstruiert werden, in ihrem Alltag machen. Es geht um die unterschiedlichen Weisen, wie sich das gesellschaftliche Verhältnis Rassismus in den konkreten Lebenswelten von Jugendlichen manifestiert und von ihnen erfahren und gedeutet wird, wie sie mit diesen Manifestationen umgehen, sich zu ihnen verhalten. Die Erzählungen über Erfahrungen mit Rassismus dienen als Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der sozialen Strukturen und Verhältnisse, die die Lebenswelten der Jugendlichen, ihr Erleben und Handeln rahmen. Mit Rassismuserfahrungen bezeichne ich im Folgenden die negativen Erfahrungen mit Rassismus. Rassismuserfahrungen meint in dieser Arbeit „sozial kontextualisierte, subjektive Zustände“ (Mecheril 2003, 69), die nicht nur die gesellschaftlich vermittelten Erfahrungen von Rassismus umfassen, sondern zugleich auch den gesellschaftlich vermittelten und sozial vorstrukturierten Umgang mit diesen (vgl. ebd. 1997a, 179; 2003, 69). Paul Mecheril versteht unter Rassismuserfahrungen „jede Erfahrung von Angriff oder von Geringschätzung der eigenen Person oder nahe stehender Personen durch Andere […], die physiognomische Merkmale (wie Haarfarbe, Hautfarbe) oder soziale Merkmale (wie Kleidung, Sprache) vor dem Hintergrund von Abstammungs- und Herkunftskonstruktionen als Hinweise auf moralische oder intellektuelle Unterschiede lesen, die zu ihren Gunsten laufen und die bei dieser Art von Unterschieden das Recht auf Angriff oder Geringschätzung zu haben meinen“ (ebd. 2005,

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468f.; vgl. ebd. 2003, 69f.; 1997a, 180). Rassismuserfahrungen sind Konsequenz von Praktiken der Unterscheidung und Differenzkonstruktion, die zwischen – einem nationalen, ethnischen, kulturellen, religiösen – Wir und Nicht-Wir trennen und mit der Tendenz einhergehen jene, die als ‚Andere‘ markiert werden zu degradieren, herabzuwürdigen, zu beschämen und anzugreifen (vgl. ebd. 2003, 70). Zu ihnen gehören Mecheril zufolge auch solche Praktiken, die „direkt an Traditionen der rassistischen Unterscheidung anknüpfen“ (ebd. 2005, 469). Als Beispiele für solche ‚Unterscheidungstraditionen‘ sind etwa die oben bereits erwähnte Frage ‚Woher kommst du?‘ und andere, mitunter subtile Praktiken der selbstverständlichen Unterscheidung zwischen ‚Dazugehörig‘ und ‚Nicht-Dazugehörig‘ zu nennen, die an Differenzmarkierungen anschließen, welche im Erklärungs- und Wissenssystem Rassismus als relevant und bedeutungsvoll konstruiert zur Verfügung stehen und so immer auch entsprechende Bedeutungskonstruktionen der Abgrenzung, Unterscheidung und Herabwürdigung aufrufen. – Und dies auch dann, und hier möchte ich Mecheril, der lediglich in einem Nebensatz von einer „gewisse[n] Unabhängigkeit von den Intentionen der beteiligten Akteure“ (2003, 67) spricht, ergänzen bzw. diesen Nebensatz betonen, wenn diese nicht expliziert werden und/oder eine solche Handlung nicht mit dem Ziel der Unterscheidung zwischen Dazugehörigen und Nicht-Dazugehörigen zur Anwendung kommt und/oder wenn sie nicht als Praxis mit ausgrenzenden und herabwürdigenden Effekten intendiert ist. Die Realität von Rassismus bzw. Rassismuserfahrungen ist dementsprechend nicht abhängig von den Intentionen und Motiven, die hinter Handlungen und Unterscheidungspraktiken stehen. In Anlehnung an das Thomas-Theorem ist stattdessen zu betonen, dass Rassismuserfahrungen real sind, weil sie als Wirklichkeit erlebt werden und damit ihre Auswirkungen real sind. Mecheril (2004, 469f.; 2003, 70f.) unterscheidet Rassismuserfahrungen analytisch nach vier Bedeutungsdimensionen: a) ihrer Ausprägungsart: massiv, subtil, b) ihrem Vermittlungskontext: institutionell, individuell, c) der Art und Weise der Vermittlung: kommunikativ, medial oder imaginativ (z.B. die antizipierte Befürchtung von Rassismus/rassistischer Erfahrung) und d) der Art und Weise der Erfahrung: persönlich (eigene Rassismuserfahrungen), identifikativ (nahestehende Personen erfahren Rassismus), vikariell (Personen, die als Stellvertretende der eigenen Person wahrgenommen werden, erfahren Rassismus), kategorial (das Machen von Rassismuserfahrungen aufgrund von Rassismen, die auf die Gruppe mit der eine Person sich identifiziert und/oder identifiziert wird, gerichtet sind). In ähnlicher Weise kategorisiert Philomena Essed (1991, 58) einige Jahre zuvor Rassismuserfahrungen als a) „personal experiences“: sowohl persönlich erfahrenen oder als Zeuge bzw. Zeugin (mit-)erfahrenen Rassismus als auch Rassismus, von dem berichtet wurde, b) „vicariaous experiences“: wie oben, Personen, die als Stellvertretende der eigenen Person wahrgenommen werden, erfahren Rassismus, c) „mediated expe-

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riences“: Rassismus der sich, oftmals medial vermittelt, gegen größere soziale (Sub-)Gruppen richtet und d) „cognitive experiences“: antizipierter Rassismus bzw. in Esseds Worten, „the impact of knowledge of racism opon oneʼs perception of reality“ (ebd.). Rassismus ist für bestimmte Personen somit eine ständige Bedrohung auf allen Ebenen von Lebenswirklichkeiten. Er ist eine allgegenwärtige Möglichkeit des Degradiert-, Ausgegrenzt- und Benachteiligt-Werdens, die zwar mit unterschiedlichen subjektiven Bedeutungen einhergeht, jedoch immer einflussreich auf Selbst- und Weltverhältnisse, auf Handlungsmöglichkeiten sowie Deutungs- und Umgangsweisen der als ‚anders‘ markierten Subjekte in rassistischen Verhältnissen wirkt. Diese unausweichlichen Folgen der rassistisch strukturierten sozialen Ordnung machen „das Leben in dieser sozialen Ordnung zu einem prekären Leben“ (Mecheril 1997a, 196). Denn der Umgang mit diesen Verhältnissen ist anstrengend, auch weil es keine absehbare, individuell zu bewerkstelligende Lösung gibt: „Diese Spannungen werden bestehen bleiben, denn Deutschland ist rassistisch“ (ebd.). Als Handlungsbedingungen nehmen rassistische Verhältnisse Einfluss auf Handlungsspielräume. Jedoch kann das subjektive Handeln, können die Umgangsweisen mit Rassismuserfahrungen nicht aus dem Ungleichheitsverhältnis Rassismus abgeleitet werden. Sowohl das subjektive Erleben von als auch die subjektiven Bedeutungen und die Umgangsweisen mit z.B. struktureller oder institutionalisierter rassistischer Benachteiligung, mit der potenziell stetig lauernden Option der rassistischen Erfahrung in Interaktionssituationen sowie mit konkreten Situationen, in denen Rassismuserfahrungen gemacht werden, sind, im Gegenteil, sehr unterschiedlich und vielfältig und gehen mit vielerlei weiteren Faktoren einher – wie den subjektiven Deutungen, den situativen Machtverhältnissen, anderen in spezifischen Kontexten relevanten Differenzverhältnissen und persönlichen Dispositionen. Es stellt sich daher die Frage, wie Jugendliche, die mit Rassismus in benachteiligender, restriktivierender Weise konfrontiert sind, diesen erfahren und deuten und angesichts der für sie je kontextuell geltenden Handlungsbedingungen mit diesen Rassismuserfahrungen umgehen. In der vorliegenden Arbeit befasse ich mich mit den von Rassismus geprägten Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und individuellen Lebenswelten. Zentral ist in dieser Auseinandersetzung die Frage nach den vielfältigen Manifestationen von Rassismus wie sie sich in den Lebenswelten von Jugendlichen konkretisieren und wie diese von Jugendlichen erfahren werden. Im Anschluss an die vorausgegangenen Ausführungen richtet sich meine analytische Aufmerksamkeit auf von Jugendlichen erfahrene Konfrontationen mit Bedeutungskonstruktionen, die sie als ‚Andere‘ konstruieren und damit ab- und ausgrenzen sowie auf Benachteiligungserfahrungen, die – direkt oder indirekt – auf rassistische Wissensbestände und Konstruktionen Bezug nehmen. Von Interesse ist zudem, wie und unter

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Rückgriff auf welches Erklärungswissen Jugendliche solche Erfahrungen deuten, was sie für sie je subjektiv bedeuten und wie sie mit ihnen umgehen. Die Schilderungen der Jugendlichen über ihre Erfahrungen und ihren Umgang mit Rassismus zum Ausgangspunkt nehmend, gilt mein Interesse darüber hinaus vor allem der Re konstruktion der sozialen (Macht-)Verhältnisse, den deutungs- und handlungsrelevanten, ermöglichenden und begrenzenden Rahmungen und Bedingungen, auf die diese verweisen. Im Folgenden wende ich mich forschungstheoretischen und methodologischen Überlegungen mit dem Ziel zu, geeignete analytische Zugänge zum empirischen Material zu finden, die es mir erlauben, Zusammenhänge zwischen Subjekt und Rassismus ausgehend von den Erfahrungen jener zu rekonstruieren, die in diesem sozialen Ungleichheitsverhältnis deprivilegiert positioniert sind. Dabei geht es vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen in einem ersten Schritt darum, Perspektiven und Herangehensweisen zu formulieren, die einer Forschung, die sich als rassismuskritische Forschung versteht, gerecht werden können. In einem zweiten Schritt steht dann die Entwicklung von theoretisch-methodologischen Zugängen zentral, die, rassismuskritische Perspektiven berücksichtigend, das Rekonstruieren von Zusammenhängen zwischen Subjekt, Erfahrung und Rassismus ermöglichen.

II

Rassismusforschung

Die Feststellung, dass Rassismus zum einen ein soziales Verhältnis ist, in das alle Menschen in unterschiedlicher Weise deutend, handelnd, bedeutungsschaffend und -reproduzierend involviert sind und dass zum anderen insbesondere auch Wissenschaft und Forschung einen nicht unerheblichen Beitrag zu einer Wissensproduktion leisten, in der soziale Bedeutungskonstruktionen hervorgebracht werden, welche Eingang in ein rassistisches Unterscheidungs- und Erklärungswissen finden, verlangt nach einer diesbezüglich reflektierten Forschungsperspektive. Eine Auseinandersetzung damit, was es heißt, in rassistisch strukturierten Verhältnissen zu Rassismus zu forschen, ist unerlässlich und geht mit spezifischen Anforderungen einher. Zur Bestimmung dieser Anforderungen werde ich mich auf der Grundlage wissenschaftstheoretischer Ansätze zunächst den Fragen der Repräsentation und der Objektivität in wissenschaftlicher Wissensproduktion zuwenden. Diese Überlegungen werden anschließend mit Überlegungen zu einer rassismuskritischen Forschungsperspektive verbunden.

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Den Sozialwissenschaften kam – ähnlich wie es noch heute in den Naturwissenschaften weit verbreitet ist – lange Zeit die Aufgabe zu, Realität zu beschreiben und so ein Wissen bereitzustellen, das als ‚objektiv‘, als ‚neutral‘ und ‚wahr‘ gelten kann. Entwicklungen in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen haben jedoch dazu geführt, dass insbesondere in der qualitativen Sozialforschung mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber besteht, dass mittels Wissenschaft zwar Wissen hervorgebracht wird, dass jedoch – wenngleich dieses Wissen methodisch kontrolliert und reflektiert produziert wird – keineswegs ein universeller Gültigkeits- oder Wahrheitsanspruch erhoben werden kann. Ausgegangen wird in dieser wissenschaftstheoretischen Perspektive vielmehr von der „Unmöglichkeit eines […] Abbild- oder

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Korrespondenzverhältnisses zwischen Aussagen und Aussagesystemen auf der einen Seite und einer Welt von vorsprachlichen, ‚an sich‘ existierenden Elementen auf der anderen Seite“ (Reckwitz 2003, 85f.). Vom Empirismus zum Post-Empirismus Bereits Karl Mannheim, einer der Begründer der heutigen Wissenschaftssoziologie, so Arno Bammé (vgl. Bammé 2009, 21), ging in den 1920er Jahren davon aus, „dass jedes Wissen nicht einfach nur den Gegenstand reflektiert, auf den es bezogen ist, sondern dass es durch außertheoretische Faktoren (‚Seinsfaktoren‘) sowohl in seiner Entstehung als auch in seiner Geltung beeinflusst ist“ (ebd.). Mannheims Anliegen war es, dieser ‚Seinsverbundenheit‘ des Wissens nachzugehen und sie zu begründen. Ihm zufolge gibt es keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit, sondern ist Wissen im Gegenteil immer standortgebunden (vgl. ebd.). Mit einer Perspektive, die das Bestehen eines solchen ‚privilegierten Zugangs zur Wahrheit‘ und die Möglichkeit der neutralen Beschreibung von ‚Realität‘ verneint, wird Abstand von einem Wissenschaftsverständnis genommen, das dem zuvor herrschenden Paradigma des Empirismus folgt – einem Verständnis, das davon ausgeht, dass Welt bzw. Elemente von Welt als natürliche und beständige Tatsachen mittels wissenschaftlicher Bemühungen zu beschreiben wären. Dem Empirismus zufolge ist die Beschreibung der ‚Wirklichkeit an sich‘ deshalb möglich, weil „wir die gesellschaftliche Wirklichkeit kennen, weil wir in ihr leben“ und da „wir auf Grund unseres empirischen Wissens die Dinge und Verhältnisse als sicher unterstellen“ dürfen (Thomas/Znaniecki 2004/1927, 248). Erfahrung gilt dem Empirismus damit als Ursprung allen Wissens, das direkt zugänglich und beschreibbar ist und aus dem sich wissenschaftlich ‚objektive Wahrheiten‘ ableiten lassen. Der Übergang von diesem zu einem auch als post-empiristisch benannten Wissenschaftsverständnis, in dem das neutrale Re-Präsentieren von Wirklichkeit nicht weiterhin vertretbar zu sein scheint, wird auch als Krise der Repräsentation bezeichnet (vgl. Reckwitz 2003, 85f.; Winter 2009a). Diese Entwicklung bringt eine Reihe von Konsequenzen mit sich. Die folgenreichste ist wohl die Frage nach dem (Selbst-)Verständnis von Wissenschaft und Forschung im Hinblick auf ihre Aufgabe und Möglichkeiten: Denn wenn davon auszugehen ist, dass Wissenschaft ein prinzipiell offener, unabgeschlossener Prozess ist, wissenschaftliches Wissen immer kontingent ist, und wenn empirische Beobachtungen und Interpretationen immer von Perspektivitäten und (alltags- und wissenschafts-)theoretischen Vorannahmen beeinflusst sind (vgl. Bammé 2009, 21ff.), dann gibt es „kein absolutes, erst recht kein empirisches Kriterium, das ein für allemal über die Wahrheit einer theoretischen Aussage entscheidet“ (ebd., 22), dann gibt es kein „unabhängiges Außenkriterium mehr für die Beurteilung wissenschaftlicher Aussagen. Dann stellt sich die Frage,

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nach welchen Kriterien in der Wissenschaft eigentlich über den ‚Wahrheitsgehalt‘ von konkurrierenden Theorien entschieden wird“ (ebd., 24). Mannheim begegnet diesem Relativismusproblem, indem er ein Konzept für Objektivität vorschlägt,1 „demzufolge Objektivität nicht dadurch zu erzielen sei, dass die dem Denken inhärente Perspektivität aufgehoben wird, sondern dadurch, dass man zu verstehen sucht, weshalb sich dem einen ein Gegenstand so darstellt und dem anderen anders. Das heißt, Objektivität lässt sich nur auf Umwegen herstellen, indem man ‚das in beiden Aspektstrukturen richtig, aber verschieden Gesehene aus der Strukturdifferenz der beiden Sichtmodi zu verstehen bestrebt ist und sich um die Formel der Umrechenbarkeit und Übersetzbarkeit dieser verschiedenen perspektivistischen Sichten ineinander bemüht‘“ (ebd., 21f.; Binnenzitat: Mannheim 1929, 258). Eine solche „synthetisierende Sicht“ ergibt sich im Verständnis Mannheims aus den differenten Denkweisen von Individuen, die er in ihren unterschiedlichen sozialen Herkünften begründet sieht (vgl. Bammé 2009, 22). Andreas Reckwitz nimmt die ‚konstruktivistische Wende‘ in der Ethnologie, im Zuge derer es unter anderem zu einer Debatte um Fragen der (Selbst-)Reflexivität kam (vgl. Reckwitz 2003, 95f.), zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu einer angemessenen Reaktion auf die Konsequenzen einer ‚post-empiristischen Öffnung‘. Er plädiert für ein ‚reflexives Kontingenzbewusstsein‘ als neuem wissenschaftlichen Selbstverständnis (vgl. ebd., 94ff.). Kern eines solchen Selbstverständnisses bildet der Anspruch einer „politisch-ethischen Selbstreflexivität“, „einer beständigen wissenschaftlichen Selbstbefragung“ hinsichtlich der „im weitesten Sinne politischen Konsequenzen außerhalb der Wissenschaft[, die] die innerwissenschaftlichen Interpretationen mit sich bringen“ und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit „eine[r] beständige[n] Selbstpositionierung der intellektuellen Tätigkeit in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen politischer und ethischer Bezüge“ (ebd., 95). Ein wesentlicher Bezugspunkt ist hier Giddens Konzept vom „Umlauf sozialen Wissens in der doppelten Hermeneutik“, wonach es „im inneren Wesen des reflexiv […] angewandten Wissens [liegt], daß es die Umstände, auf die es sich ursprünglich bezogen hat, verändert“ (Giddens 1995, 74). Nach Reckwitz ergibt sich aus diesem Verständnis einer unter anderem auch für die ‚zu Beforschenden‘ effektvollen wissenschaftlichen Interpretationstätigkeit zum einen die Notwendigkeit für Forschende, gegenüber den eigenen Lesarten „eine skrupulöse Grundhaltung [zu] entwickeln“ und ihre „interpretativen Spielzüge einer Selbstkontrolle zu unterziehen“ (Reckwitz 2003, 96). Diese Forderung begründet sich jedoch nicht aus einem ‚Willen zur Wahrheit‘ (Foucault), dem wissenschaftlichen Begründungsmuster vor der empiristischen Wende, sondern aus einer normativen Verantwortung für die Defini-

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Die Naturwissenschaften und die Mathematik nahm er von seinen Überlegungen aus (vgl. Bammé 2009, 21f.).

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tions- und Transformationsmacht von wissenschaftlichen Interpretationen (vgl. Reckwitz 2003, 96). Zum anderen fordert ein solches Verständnis Reckwitz zufolge dazu auf, die zuvor behauptete und in sozialen Praktiken und Diskursen nach wie vor reproduzierte Annahme von der Selbstverständlichkeit, Allgemeingültigkeit und letztlich auch Natürlichkeit gesellschaftlicher Phänomene (z.B. ‚ökonomische Effizienz‘, ‚Geschlechtlichkeit‘, ‚kulturelle Differenzen‘, soziale ‚Normalitäten‘) zu widerlegen, indem ihre soziale Konstruiertheit, gesellschaftliche Verankertheit und Kontingenz herausgearbeitet und auf die erheblichen sozialen Wirkungen dieser sozial-kulturell ‚geschaffenen‘ sozialen Praktiken, Phänomene und Deutungsmuster aufmerksam gemacht wird (vgl. ebd., 97f.). Mittels einer so gestalteten Intervention in universalisierende und festlegende gesellschaftliche Diskurse gilt es, „strategisch die gesellschaftlichen Invisibilisierungen von Kontingenz zu unterminieren und in den sozialen Konflikten einen Sinn für die kulturelle Konstruiertheit bestimmter scheinbar ‚natürlicher‘, ‚allgemeingültiger‘ oder ‚notwendiger‘ Strukturen zu installieren“ (ebd., 98). Objektivität und Neutralität in der Perspektive feministischer Wissenschaftskritik Vertreterinnen der feministischen Wissenschaftskritik und -theorie, wie Sandra Harding und Donna Haraway, heben vor allem die Partialität und Situiertheit von (For schungs-)Perspektiven sowie die damit einhergehende Notwendigkeit hervor, Reflexivität als immanenten Bestandteil wissenschaftlichen Tuns zu begreifen. Mit ihrer Kritik an einer von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern behaupteten ‚Objektivität‘ ist bei Harding und Haraway nicht nur die Betonung der prinzipiellen Kontingenz von Wissen sowie die Warnung vor kontraproduktiven Konsequenzen universalisierten Wissens verbunden, sondern vor allem auch die Kritik einer damit zugleich behaupteten Wertfreiheit von Forschung. Harding und Haraway wenden sich der Situiertheit von Wissen und einer Neubestimmung dessen zu, was Objektivität vor diesem Hintergrund bedeuten kann (vgl. Haraway 1995; Harding 1995). Mit der „new objectivity question“ (Harding 1995, 332) geht es Harding zufolge nicht mehr um eine Positionierung auf der ‚Relativismus-‘ oder der ‚Objektivitätsseite‘, um die Frage „which side are you on?“ (ebd.), sondern um Fragen, die mit weniger explizit vorausgesetzter und verlangter Eindeutigkeit gestellt werden. In ihnen manifestieren sich Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten: „Which of competing grounds for claims about nature and social relations should we prefer? How can we block ‚might makes right‘ in the realm of knowledge production? How can we systematically identify widespread cultural assumptions about both nature and social relations that have distorted so much of what heretofore has passed as universally valid scientific knowledge?“ (ebd.). Dennoch, so Harding, beinhalten

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auch diese ‚neuen Fragen‘ indirekt grundlegende Aspekte der ‚alten Frage‘, mit denen es gilt, sich auseinanderzusetzen: „[W]hat should be rejected and what saved of the older objectivism? How can the notion of objectivity be modernized (postmodernized?) so that it is more useful for contemporary attempts to understand nature and social relations?“ (ebd.). Hardings „response to the new objectivity question“ ist ein Plädoyer für das, was sie „strong objectivity“ nennt (ebd. 1993; 1995). Im Zentrum ihrer Überlegungen steht dabei die Kritik an der von ihr sowohl im Relativismus als auch im Objektivismus verorteten Tendenz, Neutralität zu proklamieren. Diese würde von der Verantwortung für die Konsequenzen entbinden, die Forschung für Menschen haben kann, wenn Ergebnisse beispielsweise politisch genutzt werden, etwa um soziale Gerechtigkeit zu verhindern – oder auch zu befördern (vgl. ebd. 1995, 333f.). Neutralität und das Streben nach Objektivität gelte es daher strikt voneinander zu trennen. Ihre Argumentation für ‚strong objectivity‘ findet ihren Ausgangspunkt in feministischen „standpoint epistemologies“ (ebd. 1993; 1995, 334ff.), also erkenntnistheoretischen Überlegungen, die die Standortgebundenheit bzw. die partiale Perspektivität von Wissen betonen, mit der auch immer Werte und Interessen, „politics“2, implizit oder explizit einhergehen (vgl. ebd. 1995, 335). Harding wendet sich deshalb strikt gegen eine vermeintliche Neutralität von Wissenschaft: Wird Wissen in einem Konstruktionsprozess hervorgebracht, an dem nicht alle gleichberechtigt teilhaben können, ist die Forderung nach Neutralität kontraproduktiv, weil sie Machtverhältnisse verschleiert und diese so als ‚natürlich‘ und ‚normal‘ legitimiert. Das idealisierte Bild der vermeintlich ‚neutral‘ forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist ihr zufolge ein Bild, das auch Gefahren birgt und von dem es Abstand zu nehmen gilt: „The idealized egalitarianism of a community of scholars has shown itself to be a rigid hierarchy of scientific authorities integrated into the general class structure of the society and modeled on the corporation “ (ebd., 334). 2

Harding unterscheidet zwei Arten von ‚politics‘: Zum einen eine offenkundige, die rahmt, was Wissenschaft tut, wie Ergebnisse interpretiert und also auch Bilder und soziale Verhältnisse hervorgebracht werden. Wissenschaft selbst wird dabei als ‚an sich‘ nicht politisch gedacht (vgl. Harding 1995, 335). „This is the kind of relationship between politics and science against which the ideal of objectivity as neutrality – objectivism – works best“ (ebd.): Es geht darum von außen eindringende Interessen und Werte ‚abzu wehren‘, denn sie gelten potenziell als Gefahr. Zum anderen ‚politics‘ als der Wissenschaft inhärent: Paradoxerweise wirkt ‚politics‘ hier gerade durch die De-Politisierung von Wissenschaft: „The institutionalized, normalized politics of male supremacy, class exploitation, racism and Eurocentrism […] depoliticize Western scientific institutions and practices, thereby shaping our images of the natural and social worlds and legitimating past and future exploitative public policies“ (Harding 1995, 336).

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Vertreterinnen und Vertreter feministischer Standpunkttheorien gehen zum einen davon aus, dass Wissen immer lokalisiert, partiell und eingebettet ist in je spezifische kulturelle Selbstverständlichkeiten (vgl. ebd., 341). Zum anderen verorten sie diese Situiertheit von Wissen und Wissensproduktion in Bedingungen sozialer Ungleichheit und unterstreichen damit die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Machtverhältnissen, die sich auf das auswirken, was Menschen, die in diesen Verhältnissen sozial positioniert sind, ‚wissen‘ (können) und was sie hörbar sagen, also zum Wissensdiskurs beitragen können (vgl. Harding 1993, 54ff.). In hierarchisch organisierten Gesellschaften sind es Harding zufolge die täglichen Handlungsweisen der Mitglieder privilegierter Gruppen, die spezifische, wirkmächtige Grenzen ihrer Denkweisen hervorbringen. Es sind solche Denkweisen hervorbringende Aktivitäten, so Harding, die als „the form of ‚ruling‘ in our contemporary modern societies“ bezeichnet werden können (ebd. 1995, 341); und aufgrund derer auch „the conceptual frameworks of our disciplines“ geformt werden (ebd.). Vor diesem Hintergrund fordert Harding: „In order to gain a causal critical view of the interests and values that constitute the dominant conceptual projects, one must start oneʼs thought, oneʼs research project, from outside those conceptual schemes and the activities that generate them; one must start from the lives excluded as origins of their design – from ‚marginal lives‘“ (ebd., 342).3 Es geht ihr im Sinne einer ‚starken Objektivität‘ darum, Standpunkttheorie als ein Instrument zu nutzen, das a) Werte und Interessen von Forschungsprojekten aufzudecken vermag, b) solche Werte und Interessen identifizieren kann, die nicht zwischen legitimierten Beobachtenden variieren und c) den Unterschied zwischen solchen Werten und Interessen sichtbar machen kann, die unsere Beschreibungen, Erklärungen und Verstehensweisen sozialer Beziehungen erweitern und solchen, die diese begrenzen (vgl. ebd., 346). Auf diese Weise sind auch der „Kontext des Entdeckens“ sowie die Interessen und Werte, die Forschende vertreten und die inner3

Die Formulierung „from outside“, die Harding verwendet, um auf die notwendige Ein nahme marginalisierter Perspektiven und Positionen hinzuweisen, halte ich für unange messen. Suggeriert sie doch zum einen, es könne gelingen, sich von ‚etablierten konzep tionellen Schemata‘ und den ihnen inhärenten dominanten Denkweisen gänzlich frei zu machen. In Anlehnung an diskurstheoretische Perspektiven nach Foucault und Hall (vgl. Kap. III 2.2) gehe ich davon aus, dass die Einnahme eines Standpunktes gänzlich außerhalb dominanter Diskursformationen und Wissensbestände kaum möglichst ist – wohl aber eine kritische Inblicknahme von Machtbeziehungen sowie dominanten Wissensbeständen und entsprechende Distanzierungen sowie widerständige Praktiken. Zum anderen suggeriert die Formulierung Hardings, dass marginalisierte Lebenswelten per se frei wä ren von solchen Diskursformationen, Strukturen und etablierten Schemata. Davon jedoch ist in keinster Weise einfach auszugehen. Vielmehr gilt es auch die Perspektiven und Le benswelten gesellschaftlich marginalisierter Menschen diesbezüglich zu befragen.

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halb einer wissenschaftlichen Community geteilt werden, einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen (vgl. ebd.). Durch die reflexive Betrachtung auch der Beobachtenden strebt Harding eine möglichst ‚starke Objektivität‘ an, „that can function more effectively for knowledge projects faced with the problem of sciences that have been constituted by the values and interests of the most powerful social groups“ (ebd. 1995, 346). Mit der Annahme, dass Wissensproduktionen auf partielle Wissensbestände zurückzuführen sind, die es in ihrer Situiertheit zu beachten gilt, ist zugleich die not wendige Berücksichtigung von Subjektivitäten und damit auch von Erfahrungen angesprochen: und zwar sowohl die Subjektivität der zu beforschenden Subjekte und ihre „ihrem Denken inhärente Perspektivität“, die es im „Zusammendenken ihrer unterschiedlichen, strukturdifferenten Sichtmodi“ zu verstehen gilt, wie Mannheim es vorschlägt (1929, 258, zit. n. Bammé 2009, 21f.), als auch die Subjektivität der oder des Forschenden. Zudem gilt es den Verbindungen, die zwischen verschiedenen Wissenspositionen entstehen, Aufmerksamkeit zu schenken: „Objectivity becomes the means by which connections are made between different knowing subjects who are always located […]. Thus validity is not just based on rigour, standards, responsibility and recognition of situatedness and partiality, but also on the connections that are made in the relationships established“ (Skeggs 1997, 33). Symbolischer Interaktionismus Mit der Relevanz, die Bedeutungen und Bedeutungsproduktion in Interaktionen u.a. im Forschungsprozess zukommt, hat sich insbesondere Herbert Blumer in seiner Theorie des symbolischen Interaktionismus auseinandergesetzt. Diese beschreibt er als auf drei einfachen Prämissen beruhend (vgl. Blumer 2004/1969, 322): a) Menschen handeln gegenüber ‚Dingen‘ – verstanden als wahrnehmbare Aspekte von Lebenswelten wie etwa physische Gegenstände, Menschen, soziale Gruppen, Institutionen, Ideale, Handlungen Anderer oder Situationen – auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese für sie besitzen, b) diese Bedeutungen entstehen in der sozialen Interaktion zwischen Menschen und werden c) „in einem interpretativen Prozeß, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert“ (ebd.). Insbesondere die letzte dieser Prämissen, nach der der Rückgriff auf Bedeutungen durch Subjekte nicht lediglich als „Aktualisierung und Anwendung bereits bestehender Bedeutungen“ (ebd., 325) verstanden wird, sondern als Interpretationsprozess, in welchem vom Subjekt nicht nur die Elemente bestimmt werden, die in einer spezifischen Situation für das eigene Agieren bedeutsam sind, sondern diese zugleich transformiert werden, ist für Blumers Ansatz zentral (vgl. ebd., 325f.). Akteure reagieren mithin nicht einfach auf Bedeutungen, sondern interpretieren und verändern Bedeutungen in sozialer Interaktion mit anderen. Ihr Handeln begründet

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sich in interpretierten Bedeutungen und stellt für andere wiederum zu interpretierende Bedeutungen als Grundlage ihres Handelns dar. In Bezug auf Wissensproduktion im Forschungsprozess bedeutet dies „einfach ausgedrückt“, so Blumer (2004/1969, 375), dass „die Menschen in Bezug auf Dinge auf der Grundlage der Bedeutung, die diese Dinge für sie selbst haben, nicht auf der Grundlage der Bedeutung, die diese Dinge für den außenstehenden Wissenschaftler haben“, handeln. Weiterhin lässt sich aus der Annahme, dass Bedeutungen in sozialer Interaktion und wechselseitiger Interpretation entstehen, ableiten, dass Interaktion als bedeutungsschaffend auch im Forschungsprozess ernst zu nehmen ist, Interaktion zwischen Forschenden und ‚zu Beforschenden‘ also als produktiv berücksichtigt und reflektiert werden muss. Dementsprechend wird in der Interaktion auch das, was es zu erforschen, gilt in spezifischer Weise durch die gemeinsame Interaktion hergestellt, womit der Gegenstand der Forschung im Forschungsprozess entsteht und nicht in seiner ‚tatsächlichen‘, ‚ursprünglichen‘ oder ‚wahren‘ Form durch Forschung entdeckt werden kann. In dieser Weise, durch das wechselseitige Verhältnis von Bedeutungsproduktion, Interpretation und Handeln, wird Blumer zufolge auch Gesellschaft durch das Wirken der Akteure hervorgebracht. Er vertritt ein „Bild menschlicher Gesellschaft als Handlung“ (ebd., 327) und fordert, dass jeglicher empirische Versuch, Gesellschaft bzw. soziale Wirklichkeit zu analysieren, dies stets zu berücksichtigen hat (vgl. ebd.). Denn menschliche Interaktion ist immer als „ein Prozeß, in dem Objekte geschaffen, bestätigt, umgeformt und verworfen werden“, zu betrachten (ebd., 333). Fazit Ein Verständnis von Wissensproduktion, wie es hier in der Perspektive einer kritischen Betrachtung von wissenschaftlichen Repräsentationen und Bedeutungskonstruktionen dargelegt wurde, geht mit weitreichenden Implikationen für meinen Forschungsprozess einher: So schließt die grundlegende Annahme, dass Forschende keine neutralen Beschreibungen und Analysen in einer von ihnen vermeintlich unabhängig existierenden Wirklichkeit liefern können, selbstverständlich auch ein, dass dies ebenso wenig in Bezug auf das Beschreiben und Analysieren von subjektiven Erfahrungen von Rassismus möglich ist, die in eben dieser sozialen Welt gemacht werden und in der vorliegenden Arbeit als vermittelt über soziale Bedeutungen und Repräsentationssysteme sowie als Ergebnis von Interaktion und Auseinandersetzung mit sozialer Welt vorgestellt werden (vgl. Kap. I 2.2). Die „‚Welt der Wirklichkeit‘“, so Blumer (2004/1996, 344), besteht „nur in der menschlichen Erfahrung“ und ist „in die Form menschlicher Vorstellung gegossen.“ Sollen diese Vorstellungen und Erfahrungen nun zum Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse und Wissensproduktionen genommen werden, so gilt es nicht nur, Erfahrung als in sozialen Prozessen situiert, sich verändernd und kontextabhängig

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variierend zu betrachten, sondern auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass sie den Forschenden nicht direkt zugänglich ist, „dass gelebte Erfahrung nicht direkt wiedergegeben oder repräsentiert werden kann“ (Winter 2009a, 6). Stattdessen ist eine Wissensproduktion, die auf Erfahrungen in der sozialen Welt Bezug nimmt, als Prozess und Ergebnis einer Interaktion zwischen Forschenden und ‚zu Beforschenden‘ zu begreifen. Dieser dialogische Prozess des Forschens zeichnet sich zum einen durch Prozesse der Interpretation aus und geht also mit Bedeutungsverschiebungen und -produktionen einher und ist zum anderen immer auch durch soziale und interindividuelle (Macht-)Verhältnisse strukturiert. Es ist die Tätigkeit des Forschens und Schreibens, die Wissen erst in spezifischer Weise hervorbringt. Und dies ist folgenreich: Denn als Praktiken der Repräsentation machen die Ergebnisse dieser ‚Schaffensprozesse‘ soziale Welt und Erfahrungen in spezifischer Weise sichtbar und zugänglich. In diesen Praktiken der Repräsentation werden also nicht nur Rassismus und Rassismuserfahrungen sowie zudem ein spezifisches Wissen über die ‚Anderen‘, über die ‚zu Beforschenden‘, konstruiert. Sie stellen darüber hinaus auch Bedeutungen bereit, auf die zurückgegriffen wird, wenn wiederum Erfahrungen gemacht, gedeutet und beschrieben werden: „These practices transform the world. They turn the world into a series of representations“ (Denzin/Lin coln 2005, 3 zit. n. Winter 2009a, 7). Damit sind die „Politiken der Repräsentation […] grundlegend für die Erforschung von Erfahrungen“, wie Denzin (2005, 146) Bezug nehmend auf Stuart Hall schreibt. Denn der „Frage nach dem Wie der Repräsentation eines Gegenstandes ist ein Kampf um Macht und Bedeutungen eingeschrieben“ (ebd.). Repräsentationen sind als Produktionen spezifischer Formen von Wissen also immer auch mit Macht verbunden, mit einem Kampf um Bedeutungen, mit der Hervorbringung von verschiedenen Zugängen der Interpretation und des Verständnisses sozialer Wirklichkeit – und Wissenschaft und Forschung sind Teil dieses Kampfes um Bedeutungsund Wissensproduktion. In diesen komplexen Verhältnissen kommt Forschenden, kommt mir, nun die Aufgabe zu, die geschilderten Erfahrungen anderer, nämlich die der Jugendlichen, als subjektive Interpretationen des Sozialen zum Ausgangspunkt für die eigene Forschung zu nehmen und wiederum zu interpretieren. Dabei beziehe ich mich – wie alle Subjekte – auf ausgewählte Kategorien und Repräsentationssysteme, mittels derer ich nicht nur den geschilderten Erfahrungen Sinn und Bedeutung verleihe sondern diese auch in spezifischer Weise zugänglich mache. Forschende sind daher – ebenso wie die von ihnen ‚zu Beforschenden‘ – als Subjekte der Forschung zu ver stehen, deren Perspektiven, Erfahrungen sowie Kategorien- und Repräsentationssysteme Eingang in die Forschung finden. Jedoch kommt Forschenden, die (unter anderem) über die Relevanz von Erfahrungen im Kontext der Forschung entscheiden (vgl. Skeggs 1997, 29) und diese in spezifischer Weise repräsentieren, eine

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macht- und verantwortungsvolle Position zu. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der reflexiven Betrachtung der Positionalität von Wissensbeständen, des Forschungsprozesses und damit dem Prozess des Wissen-Schaffens und seiner Bedingungen sowie der strukturellen und diskursiven Rahmungen, in denen Forschungsergebnisse zur Geltung kommen. In diesen Verhältnisbestimmungen und den ihnen inhärenten komplexen Wechselbeziehungen liegen nun meines Erachtens sowohl die vielfältigen Herausforderungen qualitativer Sozialforschung als auch das Potenzial einer sich als kritisch verstehenden Rassismusforschung begründet, in der die kritisch-reflexive Berücksichtigung möglicher (intendierter und unintendierter) Effekte von Forschung auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten des Intervenierens, des Veränderns von und des Kritikübens an rassistischen Verhältnissen zum Thema (nicht nur) der methodologischen Auseinandersetzungen gemacht wird. 4 Im folgenden Kapitel werden die oben angestellten Überlegungen daher mit rassismuskritischen Perspektiven zusammengeführt und spezifiziert, um zunächst Anforderungen an ein rassismuskritisches Forschen zu Rassismus in rassistisch strukturierten Verhältnissen zu formulieren. Zuvor jedoch möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Einschub zur gewählten Begrifflichkeit der ‚zu Beforschenden‘ und ‚Beforschten‘ einfügen. Denn die Benennung jener, die zu Objekten von Forschung werden (in behavioristischen Forschungen einst als ‚Versuchspersonen‘ bezeichnet), ist vor dem Hintergrund obiger Ausführungen herausfordernd und will begründet sein: Ich denke, dass der Begriff ‚Beforschte‘ zur Bezeichnung jener Subjekte, die einschließlich ihrer lebensweltlichen Erfahrungen von Forschenden ‚beforscht‘ werden, wohl in den meisten Untersuchungen treffend ist; auch wenn diese Art der ‚objektivierenden Benennung‘ im Zuge der Feststellung und Forderung, dass an Forschung Beteiligte immer als Subjekte zu betrachten sind, seltsam anmutet und vielleicht sogar mit Unbehagen behaftet ist. Jedoch ändert meines Erachtens allein der Anspruch an Forschung, Beteiligte als reflektierende, deutende und handelnde Subjekte zu berücksichtigen, deren Perspektiven und Subjektivität in den Prozess der wissenschaftlichen Interpretati4

Um Missverständnisse zu vermeiden: Keineswegs geht es hier darum, strategisch selektiv zu forschen, Forschungsergebnisse zu verfälschen oder zu unterschlagen, um gesellschaftspolitisch in spezifischer Weise zu intervenieren. Forschenden kommt stattdessen die Aufgabe zu, sich der eigenen Repräsentationsmacht, der notwendigen Selektivität und Kontingenz sowie der machtdurchdrungenen Kontextgebundenheit ihres forschenden Tuns und ihrer Wissensproduktion bewusst zu sein, um einen möglichst differenzierenden und (hinter-)fragenden Blick auf gesellschaftliche Phänomene, den Forschungsgegenstand und seine Konstruktion entwickeln zu können und in diesem Zuge eine reflexive, analytische Perspektive auf die Kontexte einzunehmen, die das eigene Forschen rahmen. Dies ist für mich notwendiger Bestandteil eines verantwortungsvollen Forschens und Umgangs mit Repräsentationsmacht.

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ons- und Konstruktionsprozesse eingehen, noch wenig an ihrem ‚Objektstatus‘ im Zuge von Forschung, deren Interesse eben ihnen und ihren Erfahrungen gilt. Franz Breuer spricht vor dem Hintergrund einer humanistischen Grundsätzen folgenden Forschung von „Untersuchungspartnern“ und „Gesprächspartnern“ (Breuer 2009, 20). Die damit einhergehende Konnotation eines ‚partnerschaftlichen‘ und damit gleichrangigen Verhältnisses halte ich jedoch für problematisch, laufen damit doch Prozesse von Objektivierung und Machtungleichheit im Forschungsverhältnis Gefahr, verschleiert und quasi unsichtbar zu werden. Ihnen sollte in einer reflexivkritischen Forschung jedoch besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Psychologie sprechen von ‚Mitforschenden‘. Auch dieser Ausdruck ist keineswegs unproblematisch im Hinblick auf eine implizierte ‚Gleichrangigkeit‘. Jedoch geht mit ihm eine über die bloße Bestimmung der Forschungssubjekte als Subjekte hinausgehende Forschungskonzeption einher, die der Objektivierung von Individuen im Forschungsprozess entgegenzuwirken versucht (vgl. Kap. III 3.2; Holzkamp 1983a, 540-545). Darüber hinaus betont das ‚Mit-‘ eher einen partizipativen als einen partnerschaftlichen Ansatz des Forschens, der deutlich macht, dass zwischen Forschenden und ‚Mitforschenden‘ ein Unterschied besteht. Im weiteren Verlauf der Arbeit, werde ich zum einen von ‚Mitfor schenden‘ sprechen, und zwar insbesondere dann, wenn es mir darum geht die Partizipation der Jugendlichen, mit denen ich geforscht habe, zu betonen. In deutlicher Abgrenzung zu Morus Markard (2009), der betont, dass mit der Differenz, die das ‚Mit-‘ aufmacht, keine hierarchische Differenz zwischen Forschenden und Mitforschenden gemeint sei,5 möchte ich dabei allerdings betonen, dass ich diese durchaus auch als hierarchische Differenz verstanden wissen möchte, die zu bedenken aufgrund der geschilderten Verhältnisse und den Verantwortlichkeiten, die den professionell Forschenden insbesondere in Bezug auf Selektivität und Repräsentation und der damit einhergehenden Definitions- und Repräsentationsmacht im Forschungsprozess obliegt, wichtig ist. Zum anderen werde ich aber auch von ‚zu Beforschenden‘ oder ‚Beforschten‘ sprechen. Dies vor allem in den forschungstheoretischen Auseinandersetzungen, in denen es mir darum geht, das (ungleiche) Verhältnis und die unterschiedlichen Positionen der forschenden und ‚beforschten‘ Subjekte im Forschungsprozess zu beleuchten. Mit den einfachen Anführungsstrichen möchte ich auf die Ambivalenz der Begrifflichkeiten sowie auf den immer mitgedachten Subjektstatus aller an der Forschung Beteiligten aufmerksam machen. 5

Für ihn ergibt sich die Differenz zum einen aus unterschiedlichen ‚Aufgaben‘, die die an Forschung Beteiligten unterscheide. So sei etwa die Transkription die Arbeit, die dem Wissenschaftler bzw. der Wissenschaftlerin obliege und von der „die Mitforscher verschont bleiben“ (Markard 2009, 275). Zum anderen verfügten Forschende und Mitforschende jeweils über unterschiedliche Kenntnisse, was Markard aber nicht als hierarchisierende Differenz interpretiert (vgl. ebd.).

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Als machtvolles System von Diskursen und Praktiken der Unterscheidung von Menschen in (selbstverständlich) Dazugehörige und nicht (fraglos) Dazugehörige und den mit dieser Kategorisierung in soziale Gruppen einhergehenden Bedeutungskonstruktionen, trägt Rassismus zur Strukturierung einer hierarchisierten sozialen Ordnung bei, in der gesellschaftliche Ungleichheit ihre Legitimation findet. In Form eines Wissens- und Erklärungssystems, das in erheblichem Maße in wissenschaftlicher Wissensproduktion hervorgebracht wurde und wird, steht Rassismus diskursiv allgegenwärtig in sozialen Beziehungen, institutionalisierten Strukturen, öffentlichen Debatten und auch in Wissenschaft und Forschung zur Verfügung und manifestiert sich in unterschiedlicher Weise auch in subjektiven Erfahrungs-, Interpretations- und Handlungsweisen. Vor dem Hintergrund der oben dargelegten Anforderungen an Forschung in repräsentationskritischer Perspektive wird im Folgenden darüber nachgedacht, was es heißt, im Rahmen rassistisch strukturierter Verhältnisse und Repräsentationssysteme in interpretierender, Bedeutungen konstruierender Interaktion subjektorientiert zu forschen. Ziel dieses Kapitels ist es, Anhaltspunkte für den Forschungsprozess zu formulieren, die dazu beitragen, dass Wissen und also ein spezifischer Zugang zu sozialer Wirklichkeit möglichst rassismuskritisch bereitgestellt wird. Das heißt zum einen, dass der stetigen Gefahr der Reproduktion rassistischer Verhältnisse durch das forschende Tun und Wirken in diesen Verhältnissen kritisch-reflexiv begegnet wird und zum anderen, dass über die Möglichkeiten einer Forschungs- und Repräsentationspraxis nachgedacht wird, die in der Lage ist, rassistische Verhältnisse und Strukturen kritisch zu hinterfragen und verändernd auf diese einzuwirken. 6 Verhältnisse der Ungleichheit Studien empirischer Sozialforschung im Bereich von Differenz und Ungleichheit, Migration und Rassismus, deren Ausgangspunkt die Erfahrungen, Kenntnisse und Meinungen von im öffentlichen Diskurs als ethnisch, kulturell oder religiös ‚anders‘ Markierten sind, liegt die naheliegende Annahme zugrunde, dass diese Menschen in einer hegemonial und rassistisch strukturierten Gesellschaft andere Erfahrungen machen als Menschen, deren Zugehörigkeit zu einem majorisierten ‚Wir‘ nicht in Frage gestellt wird, die nicht aufgrund vermeintlicher Abweichungen von einer imaginierten ‚Normalität‘ als ‚anders‘ und nicht-dazugehörig wahrgenommen werden. Damit einher geht die Vorstellung, dass Menschen mit spezifischen Erfahrungen auch über einen spezifischen Zugang zu sozialer Wirklichkeit verfügen, ihre 6

Die folgenden Ausführungen enthalten überarbeitete Passagen, die bereits in Scharathow 2010 und Scharathow 2013 veröffentlicht wurden.

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Deutungen und Meinungen entsprechend von jenen derer abweichen, die diesen Zugang nicht haben. Sie verfügen also über ein spezifisches Wissen. Dies ist – auch den oben dargelegten Prämissen folgend – eine durchaus berechtigte Annahme. Winter zufolge liegt in der Beschreibung und Entwicklung solcher „alternative[r] Sicht- und Schreibweisen, die den (bisher) akzeptierten und dominanten wissenschaftlichen ‚Wahrheiten‘ widersprechen“ (Winter 2009a, 11), das kritische Potenzial qualitativer Forschung, das nutzbar gemacht werden muss: Das Ziel wissenschaftlicher Tätigkeiten sieht er im Bereitstellen verschiedener Perspektiven auf Wirklichkeit, um so einen Beitrag zu einer kritischen Auseinandersetzung mit u.a. sozialen Ungleichheiten zu leisten. Nun ist es in rassistisch strukturierten Verhältnissen jedoch gerade diese Unterscheidung zwischen einem ‚Wir‘ und einem ‚Nicht-Wir‘, dem ‚Normalen‘ und dem ‚Abweichenden‘ oder ‚Besonderen‘, die Rassismus immer wieder neu hervorbringt und vermeintlich legitimierbar macht. Für Forschende, die, wie ich, von den oben beschriebenen Annahmen ausgehen und die Erfahrungen, Meinungen und Perspektiven von als ‚anders‘ Konstruierten zum Ausgangspunkt wählen, zugleich jedoch den Anspruch erheben, rassismuskritisch zu forschen, ergibt sich hier ein Dilemma: Denn Forschungen über Rassismus ist die Thematisierung und damit auch die (Re-)Konstruktion von Differenz, das Beschreiben und Benutzen von Kategorien des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ inhärent. So werden Menschen durch das voraussetzungsvolle Ansprechen als anders-erfahrende, -denkende und -wissende im Forschungsprozess wiederum zu ‚Anderen‘ gemacht. Sozialwissenschaftliche Forschung trägt damit, wie auf allgemeiner Ebene bereits oben erläutert, „nicht nur zur Analyse sozialer Differenzen, nicht nur zur Produktion von Erkenntnissen über den Gegenstand soziale Differenz bei, sie ist zugleich auch an der Konstruktion und Fortschreibung des Gegenstandes beteiligt“ (Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 106). Diese Differenz- und Bedeutungs(re)produktionen im Forschungsprozess entfalten auch insofern soziale Wirksamkeit, als dass sie immer in dem spezifischen Raum produktiv werden, in dem Unterscheidungen in Kategorien eines majorisierten ‚Wir‘ und eines minorisierten ‚die Anderen‘ und damit auch Hierarchisierungen und Ungleichheiten sowie gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse beständig verhandelt, konstruiert und reproduziert werden. Damit ist wissenschaftliches Arbeiten zu Differenz bzw. zu Rassismus Teil jener Diskurse und Praktiken, in und mit denen immer wieder aufs Neue fest-gestellt wird, wer dazugehört und wer nicht dazugehört, wer von Ungleichheitsverhältnissen profitiert und auf wessen Kosten ein Teil der Gesellschaft ihre Privilegiertheit leben kann. Auf diese Weise birgt Rassismusforschung immer auch die potenzielle Möglichkeit des Unterscheidens, Kategorisierens, Festschreibens, Reproduzierens und Homogenisierens – aber eröffnet eben auch Räume des potenziellen Irritierens, Umdeutens, Neu-Ordnens und Verschiebens.

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Untersuchungen, die sich diesem Gegenstandsbereich widmen, können demnach niemals nicht politisch sein: Denn „ob absichtlich oder nicht“, so Paul Mecheril (1999, 242), „Forschungen zu Migration und Ethnizität beziehen […] Stellung in den gesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung zwischen ethnischen oder aufgrund ihres Migrationsstatus differenzierten Gruppen.“ Entsprechend muss Rassismusforschung, da sie immer auch Gefahr läuft, rassistische Ungleichheitsverhältnisse zu reproduzieren und zu verstärken – etwa indem Forschungsergebnisse zur Legitimation von Ungleichheitsverhältnissen bemüht werden (vgl. ebd.) – als unter Umständen folgenreiche Unternehmung verstanden und reflektiert werden. In rassismuskritischer Perspektive bedeutet dies, dass mögliche (unintendierte) Effekte von Forschungsvorhaben antizipiert und in Konzeption und Durchführung berücksichtigt werden müssen; und zwar sowohl hinsichtlich etwaiger Konsequenzen für den wissenschaftlichen und den politischen Diskurs als auch im Hinblick auf die (direkten und indirekten) Effekte, welche die Forschung für die an ihr Beteiligten als individuelle Einzelne und als vermeintliche Repräsentantinnen und Repräsentanten sozialer Gruppen möglicherweise hat. In einem Prozess der (rassismus-)kritischen Reflexion von Forschungsvorhaben und -konzeptionen besteht also die Notwendigkeit, sowohl nach dem Beitrag zu fragen, den (die eigene) Forschung und Wissenschaft eventuell zur Aufrechterhaltung von Ungleichheitsverhältnissen leistet, als auch nach den eigenen Verstrickungen in gesellschaftliche Machtverhältnisse sowie den eingenommenen Perspektiven und ihrem Einfluss auf den ‚Dinge‘ und Bedeutungen hervorbringenden Forschungsprozess. Neben der Entwicklung einer reflexiven Sensibilität im (interpretativen) Forschungsprozess gilt es meines Erachtens zudem offensiv die Frage zu stellen, welchen Nutzen ein Forschungsvorhaben für die ‚zu Beforschenden‘ hat. Keinesfalls geht es mir bei der Forderung, Forschen und Forschung hinsichtlich etwaiger reproduzierender und Ungleichheit stabilisierender Konsequenzen und Effekte kritisch zu befragen, um die ‚Manipulation‘ von Forschung und Forschungsergebnissen. Plädieren möchte ich stattdessen für einen verantwortungsvollen Umgang und eine machtsensible Planung von Projekten durch Forschende, die sich ihren eigenen Involviertheiten und ihrem Tun als effektvoll in einem politischen Diskurs bewusst sind. Ziel ist es hier, Rassismus- und Ungleichheitsverhältnisse reproduzierende Effekte zu vermeiden. Positioniertes Wissen Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass gesellschaftliche Verhältnisse und auch disziplinäre Strukturen, in denen Forschung und Wissensproduktion stattfinden, die Positionierung der an der Forschung Beteiligten in diesen sowie die Frage der Perspektivität und die mit diesen Faktoren möglicherweise einhergehenden rassistischen Unterscheidungspraktiken und Ungleichheitsverhältnisse (re-)produzierende Konsequenzen berücksichtigt und thematisiert werden müssen.

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Darüber hinaus manifestieren sich Ungleichheitsverhältnisse auch in den Beziehungen der an Forschung Beteiligten. Am Offensichtlichsten werden diese wohl, wenn Forschungsprojekte hinsichtlich ihrer Konstellationen von Forschenden und ‚zu Beforschenden‘ betrachtet werden: Dann ist zu beobachten, dass in einer Vielzahl von Forschungen auf der Seite der Forschenden jene stehen, die in Diskursen, Repräsentations- und Partizipationsfragen machtvoll 7 positioniert sind, während auf der Seite der ‚zu Beforschenden‘ jene stehen, die in Bezug auf diese weniger machtvolle Positionen einnehmen; auch dies – unter anderem – Effekt einer rassistisch strukturierten Normalität, in der hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen, z.B. zu Ausbildung, nicht von gleichberechtigten Möglichkeiten gesprochen werden kann. Forschende und ‚zu Beforschende‘ repräsentieren so in ihren Positionen von ‚Forschungs-Subjekt‘ und ‚Forschungs-Objekt‘ von ‚privilegiert‘ und ‚benachteiligt‘ im Hinblick auf eine rassistisch organisierte soziale Ordnung gesellschaftliche Dominanzverhältnisse. Auch meine Untersuchung ist von dieser Konstellation gekennzeichnet und verlangt nach diesbezüglicher Reflexion. Zu bedenken ist hierbei also, dass der soziale Ort, von dem aus (Forschungs-)Fragen formuliert werden, von dem aus geschrieben und gesprochen wird, nicht nur in dem Sinne ein machtvoller Ort ist, als dass von hier aus Vorgehen und Inhalte von Forschung sowie Interpretationen und Wissensproduktionen bestimmt werden. Es ist auch ein Ort, der mit gesellschaftlich verankerten Machtpositionen, Perspektiven und wirkungsvollen (öffentlichen wie wissenschaftlichen) Strukturen und Diskursen verwoben ist, die wiederum Einfluss auf das wissenschaftliche Tun an diesem Ort nehmen. Die soziale und diskursive Produktion von Wissen steht somit immer auch in engem Zusammenhang mit der Perspektive, in der bzw. mit dem Ort, von dem aus geforscht, gesprochen und geschrieben wird. Jedoch wird dieser Ort des ‚Sprechens über‘ häufig nicht als ein auf die Forschung Einfluss nehmender Ort benannt und thematisiert. In Anlehnung an Ruth Frankenberg, die sich mit der Unsichtbarmachung eines solchen privilegierten Ortes im Rahmen der Auseinandersetzung mit ‚Whiteness‘ beschäftigt hat, lässt sich formulieren, dass von einem solchen Ort der unhinterfragten Normalität und Privilegierung aus, a) Menschen nicht nur sich selbst, sondern auch andere und die Gesellschaft betrachten und bestimmen, dass b) dieser Ort selbst unthematisiert, unsichtbar und unmarkiert bleibt, aber dennoch mit Praktiken verbunden ist, die als ‚Selbstverständlichkeiten‘ wahrgenommenen werden, die Normen setzen und durch die ‚Normalität‘ produziert wird und c) dass das ‚Nicht-Anders-Sein‘ eine Position struktureller Vorteile und Privilegien ist (vgl. Frankenberg 1993). Donna Haraway schreibt von einem „[e]robernden Blick“, der sich „in alle markierten Körper [einschreibt] und […] der unmarkierten 7

Machtvoll sind sie sowohl hinsichtlich ihrer Position als Forschende im Forschungsprozess als auch im Hinblick auf ihre soziale Positionierung als Majorisierte in Bezug auf den Gegenstand der Forschung und die mit dieser verbundenen Privilegien.

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Kategorie die Macht [verleiht] zu sehen, ohne gesehen zu werden sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen“ (Haraway 1995, 80). Forschende sprechen von einem Ort aus, der durch ihre sozialen Zugehörigkeiten und Positionierungen in spezifischer Weise geformt und mit Bedeutungen sowie verschiedenen Machtpositionen – z.B. Gehör zu finden oder ‚Normalität‘ definieren zu können – ausgestattet ist. Sie sind eingebunden in institutionelle Strukturen und vielfältige Diskurse etwa zu Rassismus, Migration und Integration und in rassistischen Verhältnissen von Dominanz und Unterdrückung sozialisiert. Verinnerlichte Selbstverständlichkeiten von Forschenden, die in Bezug auf ihren Gegenstand privilegiert positioniert sind – beispielsweise in Bezug auf unhinterfragte Zugehörigkeiten, auf Dominanzpositionen, die mit Definitionsmacht und angemessener Repräsentation ausgestattet sind – liegen neben anderen Faktoren dem Sehen und NichtSehen, Wahrnehmen, Deuten und Handeln ebenso zugrunde, wie Bilder und Bedeutungskonstruktionen über die ‚zu Beforschenden‘. Diese (häufig unhinterfragte und unthematisierte) Position des oder der Forschenden, Bilder und Repräsentationen über ‚die Anderen‘ sowie von spezifischen Perspektiven geprägte strukturelle Bedingungen von Wissenschaft bringen bestimmte Rahmungen, innerhalb derer Forschung stattfindet, sowie einen sozialen Wissensvorrat hervor, auf den bei der Konzipierung von Forschungsprojekten ebenso zurückgegriffen wird, wie er bei der Datenanalyse Deutungsangebote bereitstellt. Da Wissen (bzw. auch Erfahrungen) also immer auch in Anschluss an und in Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen sozialen Wissensbeständen generiert, reproduziert und transformiert wird, ist Wissensproduktion niemals als unabhängig von wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Diskursen, Debatten und Positionen zu betrachten. Da auch Forscherinnen und Forscher in diesem gesellschaftlichen Gefüge in spezifischer Weise positioniert sind, ist mit ihrer Positionierung gleichfalls ein spezifischer Zugang zu sozialer Wirklichkeit verbunden, der ein bestimmtes ‚Angebot‘ vorhandener Bedeutungen und Wissensbestände nahelegt, auf welche zurückgegriffen werden kann. Aufgabe und Herausforderung für Forschende bestehen darin, sich den eigenen Zugang zu sozialer Wirklichkeit und damit verbundene naheliegende Deutungsangebote bewusst zu machen – also etwa Vorwissen, Präkonzepte und Vorannahmen zu reflektieren – sowie bewusst andere, alternative Perspektiven wahrzunehmen. Erkenntnis- und Wissensproduktion in Forschungsprozessen als Ergebnis von sozialen Konstruktionsprozessen zu begreifen, bedeutet jedoch nicht nur, dass es sich bei dem so generierten Wissen nicht um objektives, im Sinne eines wahren, neutralen Wissens, sondern um soziales Wissen handelt, das unter Bezugnahme auf soziale Wissensbestände in Interaktion hervorgebracht wird. Es bedeutet selbstverständlich auch, dass die ‚zu Beforschenden‘ – wenn auch, aufgrund ihrer Positioniertheit im gesellschaftlichen wie im Forschungsverhältnis, in anderem Maße –

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ebenfalls zur Wissensproduktion in diesem Interaktionsprozess beitragen. Konsequenterweise erfordert ein Verständnis von Wissen als situiert, „daß das Wissensobjekt als Akteur und Agent vorgestellt wird und nicht als Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herrn, der durch seine einzigartige Handlungsfähigkeit und Urheberschaft von ‚objektivem‘ Wissen die Dialektik abschließt“ (Haraway 1995, 93). Aus eben diesen Gründen der diskursiven und sozialen Verstrickungen und des Lebens und Wirkens in hierarchisierten Strukturen dürfen die Positionierungen und Perspektiven der ‚zu Beforschenden‘ nicht unberücksichtigt bleiben: Sie sind „von einer kritischen Überprüfung, Dekodierung, Dekonstruktion und Interpretation keineswegs ausgenommen, d.h. sie entziehen sich weder den semiologischen noch den hermeneutischen Ansätzen einer kritischen Forschung“ (ebd., 84). Denn auch sie sind durch machtvolle Diskursformationen und Repräsentationsverhältnisse beeinflusst (vgl. Spivak 1988), greifen auf Diskursinhalte und soziale Wissensbestände zurück, reproduzieren oder transformieren diese in Interaktionen oder entwickeln Gegenpositionen. Sie tragen also zu Bedeutungsproduktionen bei, wenngleich ihr Möglichkeitsraum ein engerer ist als der jener Personen, die im Forschungsprozess von einem etablierte(re)n Ort aus sprechen. Würde die Reflexion auf die Position des bzw. der eine Dominanzposition innehabenden Forschenden beschränkt, so käme dies einer Entsubjektivierung der ‚zu Beforschenden‘ gleich, denen in einer solchen Logik die Fähigkeit des bewussten Handelns und Entscheidens und die Möglichkeit des Sich-aktiv-verhalten-Könnens zu Diskursinhalten und des Einfluss-nehmen-Könnens auf soziale Wissensbestände abgesprochen würde. Da Positionen der Dominanz und Positionen der Unterdrückung unauflösbar miteinander verbunden sind, gilt es, beide Perspektiven in ihrer Dialektik, in ihren je spezifischen Verstrickungen und dementsprechend das Verhältnis zwischen Forschenden und ‚zu Beforschenden‘ zu berücksichtigen und in die Konzeption ebenso wie in die Analyse von Datenmaterial als konstitutives und konstruierendes Merkmal einzubeziehen. Dabei finden Verhältnisse von privilegierter und marginalisierter Positionierung sich jedoch nicht nur hinsichtlich der für rassistische Ungleichheitsverhältnisse zentralen Differenzkategorien wie Ethnizität, Kultur, physiognomische Merkmale, Sprache oder Religion: Vielfältige, mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen verbundene Zugehörigkeitskategorien wie etwa Alter, Geschlecht oder soziale Klasse wirken in die Forschungspraxis – etwa in Form von Erfahrungen und damit verbundenen Erwartungen und Interpretationen – hinein, überlagern sich und sind in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich wirksam. So können sich die Machtpositionen – obgleich der oder die Forschende bereits qua Funktion im Forschungsprozess eine mit Definitionsmacht ausgestattete Position innehat – bezüglich der situativen Relevanz unterschiedlicher Differenzkategorien durchaus verschieben. Den Einfluss und das Zusammenwirken verschiede-

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ner Differenzkategorien gilt es in der Reflexion von Wissenskonstruktionen zu berücksichtigen. Was bis hierher deutlich geworden sein sollte ist, dass es hinsichtlich des Einflusses von Forschenden auf den Forschungsprozess und die Wissensproduktion nicht um das Bestreben gehen kann, den Einfluss der Forschenden zu vermeiden. Ziel sollte stattdessen sein, sich die „Produktivität des Forschungsprozesses […] bewusst zu machen“ (Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 109) sowie eine besondere Aufmerksamkeit hinsichtlich der Spuren, die das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Positionierungen bzw. Forschenden und ‚zu Beforschenden‘ im Forschungsprozess und insbesondere im Datenmaterial hinterlässt, zu entwickeln. Das Kenntlichmachen des Ortes, von dem aus gesprochen wird, ist für Donna Haraway unerlässlich: „Positionierung ist […] die entscheidende wissensbegründende Praktik […]. Positionierung impliziert Verantwortlichkeit für die Praktiken, die uns Macht verleihen“ (Haraway 1995, 87). Mit der Betonung der Situiertheit des Wissens verbindet Haraway die Hoffnung „eine Verantwortlichkeit dafür zu entwickeln, zu welchem Zweck wir zu sehen lernen“ (ebd., 82). Repräsentationsverhältnisse Aus der ungleichen Verteilung der Mittel und Möglichkeiten, sich (u.a. im wissenschaftlichen Diskurs) selbst wirkungsvoll zu (re-)präsentieren, resultiert, dass der Großteil der Forschungen im Bereich sozialer Differenz, Migration und Rassismus aus einer gesellschaftlich privilegierten Position heraus über Menschen, die eine eher deprivilegierte, mit weniger Repräsentations- und Definitionsmacht ausgestattete Position einnehmen, durchgeführt wird (s.o.). Eine angemessene strukturelle Verteilung der Machtmittel zur wissenschaftlichen (Selbst-)Repräsentation ist unbedingt erforderlich. Ein Mehr an Untersuchungen und Forschenden, die aus Positionen von als ethnisch, religiös oder kulturell ‚anders‘ Markierten ihren Blick auf den Forschungsgegenstand richten und sprechen, ist überaus wünschens- und erstrebenswert. Jedoch kann die Antwort auf die Frage nach wirkungsvollen Instrumenten, mithilfe derer eine angemessene Forschung und Repräsentation gelingt, nicht in der Forderung ‚nur Minorisierte sprechen über Minorisierte‘ liegen. Denn allein aufgrund einer von Forschenden und ‚zu Beforschenden‘ geteilten sozialen Positionierung kann noch nicht davon ausgegangen werden, dass tatsächlich gleiche Erfahrungen der Marginalisierung und Diskriminierung aufgrund von Kategorisierungen und Bedeutungskonstruktionen gemacht, geschweige denn übereinstimmende Interpretationen vorgenommen werden. Eine solche Annahme würde nicht nur zu unzulässigen Homogenisierungen führen, sondern auch das interpretative Paradigma der qualitativen Sozialforschung bzw. des symbolischen Interaktionismus ignorieren, wonach Erfahrungen immer bereits Repräsentationen von Welt darstellen und niemals direkt zugänglich sind. Auch in dieser Konstellation ist keine ‚Abbildung‘ von

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Welt möglich, sondern es bedarf immer der Interpretation und Deutung. Ein derartiges Verständnis ginge zudem mit Reduktionen auf isoliert betrachtete Differenzkategorien bzw. mit der Ignoranz sozialer Positionierungen entlang anderer, Einfluss nehmender Differenzkategorien einher, wie etwa der sozialen Schicht oder Gender. Davon abgesehen kann das Forschen in einer solchen Konstellation noch kein Garant für eine ‚bessere‘ Forschung sein, die sich dann quasi von selbst ergibt – denn soziale Zugehörigkeiten allein sagen über das subjektive Erleben und Deuten ebenso wenig aus, wie über vorhandenes theoretisches Reflexionswissen, wissenschaftliche Fähigkeiten, Motivation, Interessen oder die Forschungshaltung. Allerdings, so lässt sich berechtigterweise einwenden, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass in den Blick gerät, was bei Mehrheitsangehörigen aufgrund verinnerlichter Selbstverständlichkeiten und ‚unproblematischer‘ Normalitäten, aufgrund fehlender Rassismuserfahrungen unberücksichtigt bleibt. Das Sehen und Wahrnehmen ist mitunter ein anderes und das Einnehmen von Perspektiven, die von einer mit Macht ausgestatteten Position abweichen, muss nicht in gleicher Weise ‚geübt‘ werden. Zudem ist damit zu rechnen, dass die Artikulationen von ‚zu Beforschenden‘ gegenüber Forschenden, denen ähnliche Erfahrungen unterstellt werden bzw. die diese transparent machen, unter Umständen andere sind, als dies gegenüber Forschenden der Fall ist, die nicht mit rassistischer Ausgrenzung oder Erfahrungen prekärer Zugehörigkeit (vgl. Mecheril 2003) konfrontiert zu sein scheinen. Obgleich diese Faktoren auf eine reflexive Forschung mit Sicherheit in positiver Weise Einfluss nehmen können, lassen sie sich doch keinesfalls verallgemeinern. Die Forderung nach ‚authentischen Stimmen‘, ungeachtet ihres Kontextes und Gehaltes, birgt neben der weiteren Verfestigung von ‚Wir-Sie‘-Gruppen auch die Gefahr, dass Inhalte dann in besonderer Weise Legitimation erfahren und Gehör finden, wenn sie bestimmten Herrschaftsinteressen zuträglich sind. Die „bloße Inklusion von mehr ‚Minorisierten‘“, so María do Mar Castro Varela und Niktia Dhawan, kann „nicht die gewaltvollen Grenzziehungen ins Wanken bringen, die eine gleichwertige Partizipation differenter Kollektive verhindern“ (Castro Varela/Dhawan 2007, 41; vgl. Spivak 1988).8 Harding plädiert in Anschluss an ihre Überlegungen zu dominanten Denkweisen und Zugängen zu wissenschaftlichen Diskursen bzw. Verstehens- und Repräsentationsmöglichkeiten dafür, marginalisierte Lebenswelten zum Ausgangspunkt von Forschung zu nehmen (vgl. oben). Auf diese Weise würde ein ursächlich kritischer Blick auf Interessen und Werte möglich, die dominante Begriffsapparate und Mo8

Spätestens mit diesem Absatz wird das oben erwähnte Differenzdilemma, das dieser Ar beit innewohnt, überdeutlich: Das Dilemma, durch die Benennung von Gruppen zur Reproduktion dieser und zu Kategorien des ‚Eigenen‘ und des ‚Anderen‘ beizutragen, ob gleich das ‚eigentliche‘ Ziel die Kritik eben dieser Kategorisierung bzw. der aus ihr her vorgehenden Effekte und Verhältnisse ist.

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delle (der Wissenschaft) konstituieren (vgl. Harding 1995, 341f.). Harding geht es bei dieser Forderung nicht nur darum „how to get a less limited understanding of marginal lives […]. Instead, research is to start off from such locations (not to take as truth what people in those locations think or say) in order to explain not only those lives but also the rest of the micro and macro social order“ (ebd., 343). Darüber hinaus geht Hardings Plädoyer keineswegs mit der Behauptung einher, dass nur Marginalisierte in angemessener Weise Wissen zu marginalisierten Lebenswelten generieren könnten: „[I]t is not an ‚identity politics‘ project“ (ebd.). 9 Die Tatsache, dass alle Menschen „have a determinate location in […] a social matrix“ bedeutet Harding bzw. Standpunkt-Theoretikerinnen und -Theoretikern zufolge nicht, dass „that location does […] determine one’s consciousness“ (ebd., 345). Auch für Vertreterinnen und Vertreter dominanter sozialer Gruppen ist es Harding zufolge möglich, marginalisierte Lebenswelten zum Ausgangspunkt von Forschung zu nehmen, weil immer auf verschiedene, miteinander konkurrierende Diskurse und Wissensbestände zurückgegriffen werden kann (vgl. ebd., 346). Häufig, so Oliver Geden, geben sich als kritisch verstehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, dass das Ziel der von ihnen durchgeführten Untersuchungen, die Angehörige marginalisierter Gruppen fokussieren, sei, den ‚zu Beforschenden‘ zu einer Stimme zu verhelfen und ihre Perspektive sichtbar zu machen; „den Prozessen und Mechanismen der Marginalisierung also zumindest diskursiv entgegen zu treten“ (Geden 2004, 77). Das Hörbarmachen dessen, was nicht zu hören ist, ist zwar dringend notwendig. Es bedeutet jedoch immer auch, dass, wenn Forschende über ‚zu Beforschende‘ sprechen und schreiben, der Forscher oder die Forscherin quasi stellvertretend für andere deren Repräsentation übernimmt und somit keine Stimme gibt, sondern mit „geliehener Stimme“ anstelle und im Namen anderer selber spricht (vgl. Straub 1999, 9). Dieses ‚Sprechen über‘ als machtvolle diskursive Praxis ist nun nicht nur ‚Wiedergabe‘ der Stimmen anderer, ihrer Meinungen und Perspektiven, sondern als Bedeutungen erzeugende Repräsentation des Interpretierten immer auch ein Beitrag zur Produktion dessen, was vermeintlich ‚nur‘ beschrieben wird: Das Nicht-Hörbare, der oder die ‚Andere‘ bzw. ihre Stimmen werden durch wissenschaftliche Beschreibungspraktiken in spezifischer Weise hervorgebracht und laufen immer auch Gefahr, verallgemeinert und festgeschrieben zu werden. Eine weitere, bereits oben thematisierte Ambivalenz ergibt sich aus der eigentlich zu begrüßenden Erkenntnis, dass ein „Repräsentant […], will er fremde Wirklichkeiten adäquat darstellen, zunächst in Erfahrung bringen [muss], wie die ande9

Eine solche Annahme führt sie auf ein Missverständnis zurück, das seine Begründung im Objektivismus findet: „objecitivism insists that the only alternatives to its view from nowhere are special interest claims and ethno-knowledges that can be unterstood only within a relativist epistemology“ (Harding 1995, 343f.).

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ren sich selbst und ihre Welt beschreiben, verstehen und erklären“ (ebd., 9f.). Jürgen Straub spricht sich hier für eine Perspektive aus, die sich an den Interpretatio nen von Welt orientiert, wie sie sich aus der Sicht der ‚zu beforschenden‘ Subjekte darstellen. Mit dem Hervorheben dieses durchaus wichtigen Aspektes, dass es auf die Untersuchung der je ‚besonderen‘ Perspektiven, Erfahrungen und Selbstverständnisse von Individuen ankommt, wird jedoch zugleich eine ‚besondere‘, ‚andere‘ und ‚fremde‘ Wirklichkeit und damit Differenz als bereits vorgängig vorausgesetzt und die ‚zu Beforschenden‘ wiederum als ‚Andere‘ markiert. Vernachlässigt wird hingegen in der Regel der Blick auf die Konstruktionsbedingungen und das Verhältnis zwischen als ‚anders‘ Markierten und ‚Nicht-Anderen‘, zwischen ‚zu Beforschenden‘ und Forschenden und zwischen Individuum und Gesellschaft (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 108), obgleich das ‚Andere‘ weder aus den gesellschaftlichen Bedingungen herauszulösen noch vom ‚Eigenen‘ zu trennen ist. Denn die „Konstruktion des Anderen ist in verschiedener Weise der Erzeugung und Bewahrung des Nicht-Anderen dienlich. Die Konstruktion ermöglicht die Identität der Nicht-Anderen, sie diszipliniert die Nicht-Anderen und schließt sie zusammen, zugleich bringt die Konstruktion des Anderen die eigene, auf Differenziertheit und Einzigartigkeit zurückgehende Vielgesichtigkeit ins Spiel“ (ebd.). Eindrucksvoll deutlich machte diese Prozesse der Erzeugung von ‚Anderen‘ (und – implizit – ‚Nicht-Anderen‘) sowie der Konstruktion wirkmächtiger Bedeutungen und ihre Einbettung in Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Rahmen von Beschreibungsund Verstehensprozessen Edward Said in seinen Untersuchungen zum „Orientalismus“ (1981). Festzustellen ist in diesem Zusammenhang also auch, dass es Forschungen im Bereich von Migration und Rassismus in dieser Konstellation von Forschenden und ‚zu Beforschenden‘ keineswegs mit vollkommen ‚Fremdem‘ und zu erforschendem Unbekannten zu tun haben: Aufgrund vielfältiger, in Diskursen zirkulierender sozialer Wissensbestände ‚kennt‘ das ‚Wir‘ die ‚zu Beforschenden‘ in gewisser Weise bereits, greifen Forschende auf bereits vorhandene Theorien und Bedeutungen zurück, bringen sie neu hervor oder transformieren sie im Forschungsprozess. Es handelt sich also mitnichten um einen weißen Fleck auf der Landkarte, der seiner Ent deckung harrt. Die Verbindung zum ‚Eigenen‘ der Repräsentierenden gerät in Forschungen, die das Ziel haben, ‚Andere‘ zu verstehen, nur allzu leicht aus dem Blick. Ebenso wie in der Repräsentation anderer Perspektiven, Erfahrungen, Meinungen usw. die Berücksichtigung einer gesellschaftlichen Ordnung, in deren Kräfteverhältnisse diese Stimmen gleichermaßen eingelassen sind wie die Beschreibungs- und Interpretationspraktiken der Repräsentierenden, mitunter schnell ins Hintertreffen gerät. Darüber hinaus, darauf machen Said (1981) und Spivak (1988) aufmerksam, sind Forschende institutionell eingebunden und verfolgen auch strategische Interessen, was es zu berücksichtigen und zu reflektieren gilt (vgl. Kap. III 5). Wissen und

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Macht, darauf weist Michel Foucault hin (vgl. Kap. III 2.1), sind untrennbar miteinander verbunden. Und Ernst von Kardorff konstatiert, Bezug nehmend auf die qualitative Sozialforschung, dass Kenntnisse über „ausgeforschte Lebenswelten“ auch zu „verstärkter sozialer Kontrolle, Disziplinierung, geschickter Einbindung in Organisationsziele oder auch zur Manipulation genutzt werden“ können (Kardorff 2005, 619f.). Und dies auch dann, wenn Forschung sich „programmatisch humanistischen und demokratischen Idealen oder Benachteiligten gegenüber verpflichtet“ fühlt (ebd.). Es stellt sich nun nicht nur die Frage, wessen Aussagen wann gehört bzw. nicht gehört werden und wessen Stimmen damit überhaupt repräsentiert werden ‚müssen‘, damit sie Gehör finden, sondern auch die Frage, wer sich eigentlich wann und in wessen Interesse zu Wort melden und also legitimiert die Repräsentierendenrolle einnehmen darf. Castro Varela und Dhawan gehen davon aus, dass trotz der Dilemmata, die mit einer Repräsentation von minorisierten Gruppen einhergehen, eine Form gefunden werden muss, die dies ermöglicht. Spivak schlägt als eine solche Form der Vermittlung von „subaltern conciousness“ einen ‚strategischen Essentialismus‘ vor (vgl. Spivak 1996, 204ff.). Dieser ermöglicht es, neben dem über vor allem auch für minorisierte Gruppen zu sprechen (vgl. Castro Varela/Dhawan 2007, 32). Castro Varela und Dhawan verbinden die Aufgabe der Repräsentation dabei nicht nur mit dem Ziel des Hörbarmachens, sondern auch mit einer Verantwortung für das Hörbarmachen von marginalisierten Stimmen, die jenen obliegt, die in der Lage sind, wirkmächtig zu sprechen. Repräsentierende bzw. „Fürsprecherinnen“ (ebd., 42), darauf weisen die Autorinnen hin, übernehmen damit auch eine hohe Verantwortung für Konstruktionsprozesse, Bedeutungszuweisungen und Positionierungen der ‚Beforschten‘ und die damit einhergehenden möglichen Konsequenzen bezüglich des Wirkens auf gesellschaftliche Positionierungen und politische Instrumentalisierungen. Repräsentation zu verweigern ist ihnen zufolge also kein möglicher Weg. Stattdessen sehen sie die Notwendigkeit, die „Kategorien selbst, die unhinterfragt als Instrumente der Kritik fungieren“, möglichst effektvoll zu problematisieren (ebd., 32). Wenn nun einerseits Beschreibungen und ‚hörbare‘, weil aus relativ machtvoller Position heraus artikulierte Repräsentationen das produzieren, was sie vorgeben, lediglich ‚zu beschreiben, um zu verstehen‘, andererseits aber auf Repräsentationen nicht verzichtet werden kann, weil es in der Verantwortung der hörbar SprechenKönnenden liegt, für (und nicht lediglich über!) Marginalisierte zu sprechen, dann ergeben sich hieraus zwei Fragen: a) Wie kann repräsentierende Forschung unter Berücksichtigung der genannten Dilemmata möglichst angemessen gestaltet werden? Und b): Wie kann vor allem auch auf die die Stimmen Marginalisierter begrenzenden Strukturen und Verhältnisse sowie auf die Ausweitung der Möglich-

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keitsräume des hörbaren Sprechens Einfluss genommen werden? In diesem Sinne kann also das Ziel reflexiv-kritischer Forschung nicht nur die möglichst angemessene und schadensbegrenzende Repräsentation bzw. das Sprechen über und für ‚Andere‘ sein. Vielmehr kommt dann Forschung bzw. in Forschung generiertem Wissen als hörbarem, verhältnismäßig machtvollem Diskursbeitrag in erster Linie die Aufgabe zu, Selbstverständlichkeiten und Normalisierungen sowie etablierte Bedeutungskonstruktionen kritisch zu hinterfragen und Kategorien so zu öffnen, zu erweitern oder zu verändern, dass auf ungleiche Machtverhältnisse verändernd eingewirkt wird. Die Herausforderung besteht folglich nicht allein in der Inklusion marginalisierter Stimmen und ihrer Perspektiven auf Bedeutungen sozialer Wirklichkeit sowie deren möglichst angemessenen Repräsentation, sondern vor allem auch in der Transformation von begrenzenden Strukturen mit dem Ziel, Diskurs- und Handlungsräume auszuweiten und somit herrschaftskritische Perspektiven und Wissensbestände hörbar zu machen. Fazit Forschung im Gegenstandsbereich Migration und Rassismus(-kritik), so kann hier festgehalten werden, geht mit einer Vielzahl von Herausforderungen einher, die nicht nur auf der erkenntnistheoretischen Ebene von Forschungsvorhaben zu verorten sind. Insbesondere dann, wenn in dem beschriebenen Repräsentations- und Machtungleichverhältnis geforscht und über Forschung als ein mögliches Mittel der Intervention, des Eingreifens und Veränderns, des Kritik-Übens nachgedacht wird, ergeben sich vielfältige Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen sowie Herausforderungen einer kritisch-reflexiven Forschung. Die Bestimmung von Forschung im Kontext von Differenz und Ungleichheit als produktiv, machtvoll und – ob gewollt oder nicht – politisch, als Wirken in und Teilnahme an einem diskursiven Kampf um Zuweisungen von sozialen Bedeutungen und Positionen, die soziale Ordnung strukturieren, impliziert zudem die Notwendigkeit der Übernahme von Verantwortung für die durch Forschung und Wissenschaft induzierten Effekte. Dazu gilt es unter anderem, auch die Forschenden als gewichtigen Teil der Wissensproduktion im Forschungsprozess reflexiv zu berücksichtigen: Forschende und ‚Beforschte‘ befinden sich während des Untersuchungsprozesses in einem unauflösbaren, dialektischen Verhältnis zueinander, das nicht ignoriert, sondern dessen spezifischer, produktiver Beitrag in den Forschungsprozess als konstituierendes Merkmal miteinbezogen werden muss. Eine kritische Reflexion des Einflusses des Ortes, von dem aus geforscht und gesprochen wird, der eigenen Involviertheiten in hierarchisierte Verhältnisse, auf den Forschungsprozess sind unerlässlich. Notwendig ist daher neben einem reflexiven Fragen nach den möglichen (unintendierten) Effekten auch ein selbstkritisches Fragen nach den Motiven und Zielen, die mit einem Forschungsvorhaben verbunden sind. Hierbei gilt es neben der Dimension des wissen-

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schaftlichen Erkenntnisgewinns auch die persönliche Ebene der Motivation in den Blick zu nehmen. Notwendig ist es zudem, nach dem ‚Nutzen‘, der sich aus der Untersuchung für die an der Forschung beteiligten Subjekte und den Konsequenzen, die sich sowohl auf individueller als auch auf diskursiver Ebene ergeben (können), zu fragen. Insbesondere sollte darüber nachgedacht werden, ob die Forschung zur Reproduktion bestehender gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse beiträgt oder Anknüpfungspunkte für ihre politische Legitimation bietet; oder aber, ob sie – im Sinne einer rassismuskritischen Forschung – Ansätze bereitstellt, um soziale Ungleichheitsstrukturen zu hinterfragen und ins Wanken zu bringen. Ein zentraler Bezugspunkt für eine diesbezügliche Reflexion kann folglich auch die Frage nach dem Beitrag sein, die eine Forschung zur Aufrechterhaltung der Konstruktion von Gruppen der ‚Nicht-Anderen‘ und ‚der Anderen‘ leistet. Eine Wiederholung von Differenzbeschreibung und damit die Reproduktion von Differenz lässt sich, sofern sich das Forschungsinteresse auf Differenzproduktion und -erleben bezieht, nicht vermeiden (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 109), denn Differenzen müssen benannt werden, um nach ihren gesellschaftlichen und personellen Funktionen oder den Strukturen und Mechanismen ihrer Produktion befragt werden zu können. Damit ist qualitative Forschung im Bereich der Analyse sozialer Differenzen immer ein „erkenntnisgenerierendes und zugleich gegenstandskonstituierendes Medium“ (ebd.). Jedoch lassen sich die etablierten Bedeutungsinhalte der Differenzkategorien mittels Forschung kritisch hinterfragen, vervielfältigen, anders akzentuieren und in gewisser Weise mit ‚neuen‘ Inhalten, Perspektiven und Bedeutungen füllen. Als Forschende, so stellt Beverly Skeggs in der Perspektive feministischer Forschung fest, „we are in a position to contribute to knowledge normalization“ (Skeggs 1997, 37). Bezüglich der Macht, dieses Wissen zu legitimieren, sieht sie die Herausforderung und die Aufgabe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zum einen darin, nach den eigenen institutionellen Eingebundenheiten und diesbezüglichen Spielräumen der Kritik zu fragen, zum anderen darin, to „challenge those who have the power to legitimate partial accounts as if representative of the whole of knowledge and to challenge the classificatory systems which position ‚others‘ as fixed“ (ebd.). Letzten Endes kann mittels der kritischen Prüfung etablierter Kategorien auch verdeutlicht werden, dass eine homogenisierende, essentialisierende und statische Aufteilung in Kategorien eines normalisierten ‚Wir‘ und eines abweichenden ‚Anderen‘ eine unangemessene soziale Konstruktion ist, die jedoch sehr reale Effekte hat. Für die Beschreibung von sozialer Wirklichkeit taugen diese Binarität reproduzierenden Konstruktionen in der Regel genauso wenig, wie sie für die Entwicklung geeigneter ‚Lösungsansätze‘ für Probleme geeignet sind, die auf der strukturellen Ebene der Gesellschaft zu verorten sind. Gleichwohl lässt sich das Differenzdilemma, die Hervorbringung von ‚Anderen‘ als ‚Andere‘ in der rassismuskritischen Forschung wohl kaum vermeiden. Al-

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lerdings, und das ist meines Erachtens ein relevanter Unterschied, der im Zuge kritischer Rassismusforschung unbedingt zu berücksichtigen ist, gilt es ‚Beforschte‘ keineswegs als Anders-Seiende, sondern als soziale Verhältnisse – unter bestimmten Gesichtspunkten – Anders-Erfahrende in den Blick zu nehmen: Die vorherrschende, von einer als‚deutsch‘ imaginierten Homogenität gekennzeichnete gesellschaftliche Normalität wird von ihnen mitunter in spezifischer Weise erlebt, nämlich als vielfältig restriktiv, beschränkend und diskriminierend, wohingegen eben diese Normalität für jene, die nicht als ‚Andere‘ markiert werden, vor allem mit weitgehend unsichtbar bleibenden Privilegien einhergeht. Für sie wirken sich die gleichen Verhältnisse nicht in gleicher Weise problematisch aus. Vielmehr erscheinen sie als un problematisch und selbstverständlich. Keineswegs jedoch – und auch dies zählt zu den Herausforderungen einer Forschung in diesem Gegenstandsbereich – darf der Eindruck entstehen, es handle sich hier um zwei mehr oder weniger homogene und deutlich von einander abzugrenzende Gruppen: jene der Dominanten und jene der Dominierten, der Mächtigen und der Machtlosen, der Täter und der Opfer. Die eingenommenen sozialen Positionierungen, etwa im Hinblick auf weitere Differenzkategorien, sind ebenso vielschichtig wie etwa Erfahrungen, Persönlichkeiten und entwickelte Taktiken einzelner Menschen. Und in Abhängigkeit von je konkreten Kontexten führt das Zusammenspiel verschiedener Einfluss nehmender Faktoren zu je spezifischen Deutungen, Handlungsweisen und auch Ambivalenzen. Kritischer Rassismusforschung kommt in diesem Sinne auch die Aufgabe zu, Subjekte als nicht determiniert, sondern als handelnd, als in und gegen Bedingungen agierend zu erkennen und sie nicht zu Objekten des Interesses der Forschenden werden zu lassen. Dazu gehört auch die Bereitschaft von Forschenden, gegenüber der möglichen Relevanz verschiedener, sich überschneidender Differenzkategorien aufmerksam zu sein und Menschen als mit vielfältigen Identitätsaspekten und Zugehörigkeiten umgehende Subjekte wahrzunehmen und zur Geltung zu bringen, um einem tendenziellen Reduktionismus entgegenzuwirken, der mit der Fokussierung auf – im Hinblick auf rassistische Diskriminierung – vermeintlich bedeutsame Differenzkategorien einhergeht: Die (zugeschriebene) ethnische, religiöse und/oder kulturelle Zugehörigkeit macht lediglich einen, subjektiv mal mehr, mal weniger bedeutsamen Aspekt von Identität aus, welcher mit anderen Zugehörigkeiten, die (kontextabhängig) ebenfalls in je spezifischer Weise bedeutungsvoll sein können, vielfach verschränkt ist – und dies auch in Kontexten von Forschung, Diskriminierung und Rassismus. Kritische Rassismusforschung ist ein ambivalentes, komplexes und herausforderndes Unterfangen. Es bedeutet vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen, vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Normalitäten zu hinterfragen sowie etablierte Kategorien und ihre Bedeutungsinhalte hinsichtlich ihrer Machtförmigkeit und den ihnen innewohnenden Herrschaftsinteressen kritisch zu beleuchten,

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Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen subjektivem Erleben und Handeln und gesellschaftlichen Verhältnissen deutlich zu machen sowie Strukturen und Bedingungen der ungleichen Repräsentationsverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten zu identifizieren und zu kritisieren. Ziel einer solchen Forschung ist es, einen Beitrag zum Abbau von etablierten Begrenzungen zu leisten, wie sie etwa in Form von soziale Positionen festschreibenden Bedeutungszuweisungen existieren und so Einfluss zu nehmen auf die Ausweitung von Handlungsmacht, Selbstrepräsentations- und Partizipationsmöglichkeiten von jenen, die von Rassismus restriktiv betroffen sind.

III Theoretische Zugänge und methodologische Annäherungen

Unter Berücksichtigung der obigen repräsentations- und rassismuskritischen Darlegungen geht es nun darum, forschungstheoretische Zugänge zu finden und methodologische Ansätze zu entwickeln, mit denen es möglich ist, das Verhältnis von Subjekt, Rassismuserfahrungen und rassistisch strukturierter Gesellschaft als vermittelt über machtvolle und zugleich dynamische soziale Bedeutungskonstruktionen und Repräsentationssysteme, in denen Erfahrungen gemacht, gedeutet und kommuniziert werden, in subjektorientierter Perspektive in den Blick zu nehmen und im Hinblick auf subjektive Handlungsbedingungen und -möglichkeiten zu untersuchen. Als grundlegende, sich überlagernde und in wechselseitigen Beziehungen zueinander stehende Verhältnisse, die es im Rahmen dieser Unternehmung und ihrer Konzeption zu berücksichtigen gilt, lassen sich bis hierher zusammenfassend die folgenden Punkte nennen: • •



Verhältnis zwischen Theorie und Empirie: Forschung als soziale Wirklichkeit, Phänomene und Ordnungen untersuchend und hervorbringend Verhältnis zwischen Forschenden und ‚Beforschten‘: Forschungssubjekte als je unterschiedlich in ungleiche Macht- und Repräsentationsverhältnisse involviert und in einem dialektischen Verhältnis mittels Interaktion an gemeinsamer Wissenskonstruktion Beteiligte Verhältnis zwischen Forschung und Gesellschaft: Wissenschaft als politische, an diskursiven Kämpfen um Bedeutungszuweisungen und mit diesen einhergehenden Hervorbringungen sozialer Repräsentationen und Positionierungen in von Rassismus geprägten gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen beteiligte Unternehmung

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Wissensproduktion als in ungleichen gesellschaftlichen Verhältnissen situiert zu begreifen, bedeutet sowohl die Forschungssubjekte als auch die interpretativen Prozesse der Wissensbildung selbst als in Bedingungen ungleicher Machtverhältnisse entstanden und entstehend in den Blick zu nehmen und folglich das eigene Involviertsein als produktiv zu reflektieren. Eine sich an diesen komplexen Verhältnissen und den ihnen zugrunde liegenden Annahmen orientierende interpretative und reflexive Untersuchung, das liegt nahe, kann nicht das Ziel haben, Hypothesen-überprüfend zu forschen. Anliegen ist, im Gegenteil, vielmehr ein Hypothesen-generierendes Vorgehen: Es geht darum, im Forschungsprozess und in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material Zusammenhänge und Konzepte zu entdecken und Modelle und Theorien aus dem Material heraus zu entwickeln. Eine so verstandene qualitative Forschung wird auch als „entdeckende Wissenschaft“ bezeichnet (Flick/Kardorff/Steinke 2004, 24) bzw. als Sozialforschung, die einer „Logik des Entdeckens“ folgt (Rosenthal 2008, 13). Damit bilden die Prämissen einer qualitativ-interpretativen Sozialfoschung neben rassismuskritischen Ansätzen den grundsätzlichen Rahmen der hier eingenommenen forschungstheoretischen und -methodologischen Perspektiven.

1 Q UALITATIV- INTERPRETATIVE S OZIALFORSCHUNG Als wesentliche Bezugstheorie qualitativ-interpretativer Sozialforschung ist hier die Theorie des symbolischen Interaktionismus samt seiner methodologischen Fokussierung auf ein interpretatives Paradigma, das die Interpretationsleistungen handelnder Subjekte zum Ausgangspunkt von Forschung nimmt, zu bestimmen (vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 2005, 22). In dieser Theorie- und Forschungstradition, deren zentrale Prämissen bereits in den Ausführungen zur Krise und Kritik der Repräsentation dargelegt wurden (vgl. Kap. II 1; Blumer 2004/1969, 321), sind eine Vielzahl forschungsmethodologischer Ansätze entstanden (vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 2005, 22). Auch in der vorliegenden Studie bzw. den zentralen forschungstheoretischen und -methodologischen Ansätzen, insbesondere den Cultural Studies und der Grounded Theory aber auch in der Kritischen Psychologie, wird auf den symbolischen Interaktionismus zurückgegriffen. Denn da der handlungstheoretische Ansatz Blumers insbesondere den „subjektiven Bedeutungen und individuellen Sinnzuschreibungen“ nachgeht (ebd.), indem „den Bedeutungen, die die Dinge für die Menschen haben, ein eigenständiger zentraler Stellenwert zuerkannt“ wird (Blumer 2004/1969, 323) und dabei das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft grundsätzlich als unauflöslich gedacht wird, bietet er im Rahmen der vorliegenden Untersuchung, in der die Bedeutungen von Rassismus sowie die Umgangsweisen mit Rassismus in subjektorientierter Weise rekonstruiert und zum Aus-

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gangspunkt genommen werden sollen, um eine Analyse sozialer Wirklichkeit vorzunehmen, diesbezügliche methodologische Anschlussmöglichkeiten. Zu den zentralen Überlegungen Blumers, die für dieses Unterfangen relevant sind, gehört hier zum einen die Annahme, dass subjektive Interpretationen und Bedeutungszuweisungen sowohl in der sozialen Auseinandersetzung mit und also der Erfahrung von Welt entstehen, als auch das Erfahren von Welt strukturieren, zum anderen die Überzeugung, dass diese Interpretationen, Einschätzungen und Bedeutungszuweisungen die Grundlage für Handlungsentscheidungen, -ausgestaltungen und -ausrichtungen darstellen (vgl. ebd., 335ff.). Handlungen sind entsprechend in interpretierten Bedeutungen begründet (und stellen zugleich wiederum zu interpretierende Bedeutungen für andere dar). Diesen Prozessen bedeutungsvermittelter Interaktion, in denen Welt konstruiert und erfahren wird, in denen Entscheidungen getroffen, Handlungen entworfen und koordiniert werden sowie der Frage, „wie sich diese Prozesse vollziehen, wie Erfahrungen strukturiert sind und gelebt werden“ (Winter 2010, 85), gilt das Interesse der vorliegenden Untersuchung. 1 Genereller Ausgangspunkt qualitativ-interpretativer Sozialforschung in dieser Tradition ist somit also ein Verständnis von sozialer Wirklichkeit, das diese als Prozess und in alltäglicher Interaktion von sozialen Akteuren hervorgebracht, als sozial konstruiert annimmt. Entsprechend sind in dem Bemühen um das Verstehen dieser sozialen Wirklichkeiten die subjektiven Interpretationen der sozialen Welt und ihrer Phänomene, die für das Handeln von Menschen – und damit wiederum für das Hervorbringen von Bedeutungen und sozialer Wirklichkeit – bedeutsam werden, von zentraler Relevanz (vgl. Breuer 2009, 19; Blumer 2004/1969). Auch die als objektiv bestimmbaren Faktoren, wie etwa soziale Ungleichheitsverhältnisse, die die spezifischen Lebenslagen von Menschen rahmen, werden diesem Verständnis zufolge als 1

Problematisch an Blumers Konzept der symbolvermittelten Interaktion ist meines Erachtens, dass er sich entschieden gegen die Bedeutsamkeit von objektivierbaren Bedingungen als Begründung menschlichen Handelns wendet (vgl. Blumer 2004/1996, 382). Er vertritt ein Konzept, das „Gesellschaft als Handlung“ beschreibt (ebd., 327) und in dem Macht- und Ungleichheitsverhältnisse nicht als bedeutsame Faktoren für Handlungsentscheidungen und -möglichkeiten berücksichtigt werden. Jedoch, obwohl diese das Han deln von Subjekten nicht determinieren, sondern ebenfalls bedeutungszuweisend interpretiert und so zur Grundlage von Handlungsentscheidungen gemacht werden, beeinflussen sie in entscheidendem Maße die Möglichkeitsbedingungen des Handelns. Ein erweitertes Verständnis des symbolischen Interaktionismus formuliert Norman K. Denzin unter Bezugnahme auf Giddens (1981): Er betont, dass das Handeln der Akteure immer auch von „strukturbildenden Regeln, materiellen Ressourcen und den strukturierten Prozessen begrenzt wird“ (Denzin 2005, 138), die mit sozialen Positionierungen wie sozialer Schicht, Geschlecht, ethnisch-kultureller oder religiöser Zugehörigkeit, der Nationalität oder der lokalen Gemeinschaft in Verbindung stehen (vgl. auch Winter 2010, 86ff.).

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Teil der Lebensumstände von den Subjekten „sinnhaft“ gedeutet. Vermittelt über diese subjektiven Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen werden objektive Lebensbedingungen, zu denen also auch Rassismus als Gesellschaft strukturierendes Verhältnis gehört, für Subjekte in spezifischer Weise handlungsrelevant. Damit ist auch gesagt, dass soziale Wirklichkeit – und damit auch soziale Ungleichheitsverhältnisse – erst durch subjektive Sinngebungsprozesse eine für Forschende interpretierbare Bedeutung gewinnen (vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 2005, 20) und soziale Wirklichkeit daher nur analysiert und sinnvoll beschrieben werden kann, wenn die Deutungsprozesse und das soziale Handeln von Menschen zum wesentlichen Bezugspunkt von Forschung gemacht werden. Diesem interpretativen Paradigma folgend, werden Forschende und ‚zu Beforschende‘ in solchen Deutungs- und Sinngebungsprozessen als aktiv handelnde soziale Akteure vorgestellt, die Bedeutungen und also soziale Wirklichkeit gemeinsam herstellen (vgl. Rosenthal 2008, 15; Flick/Kardorff/Steinke 2005, 20; Breuer 2009, 19). Es wird daher Wert darauf gelegt, dass auch Forschende im Forschungsprozess als interpretierende und deutende, handelnde und in Interaktion Bedeutungen und soziale Wirklichkeiten hervorbringende Subjekte betrachtet werden, denen eben nicht die Möglichkeit obliegt, einen ‚objektiven‘ oder ‚neutralen‘ Standpunkt einzunehmen, von dem aus entsprechend ‚neutrale‘ Beschreibungen und ‚objektives‘ Wissen produziert werden könnte. Alfred Schütz spricht aufgrund der Tatsache, dass weder soziale Wirklichkeit noch die Erfahrungen von Menschen direkt zugänglich sind, sondern Forschung eben nicht umhin kommt, die Deutungs- und Interpretationsprozesse von Subjekten zu analysieren, wenn sie Theorien über soziale Wirklichkeit generieren möchte, auch von re-konstruktiver Sozialforschung: Denn die von Forschenden beobachtete Sozialwelt hat „eine besondere Sinn- und Relevanzstruktur für die in ihr lebenden, denkenden und handelnden Menschen“ (Schütz 2004/1953, 159), wobei es „gedankliche Gegenstände dieser Art [sind], die ihr Verhalten bestimmen, ihre Handlungsziele definieren und die Mittel zur Realisierung solcher Ziele vorschreiben“ (ebd.). Da nun „die gedanklichen Gegenstände, die von Sozialwissenschaftlern gebildet werden“ (ebd.) sich auf diese, von Menschen in ihrem Alltag gebildeten gedanklichen Gegenstände beziehen und gründen, sind die „Konstruktionen, die der Sozialwissenschaftler benutzt […] sozusagen Konstruktionen zweiten Grades. Es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft zu erklären versucht“ (ebd.). Es lässt sich also sagen, dass es sich bei der interpretativen Auseinandersetzung mit Bedeutungskonstruktionen in Form von Daten und Text nicht lediglich um Rekonstruktionen, sondern auch um „Ko-Konstruktionen“ handelt (Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 106).

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Ein solches forschungstheoretisches Verständnis qualitativer Sozialforschung, das zentral auf das interpretative Paradigma Bezug nimmt, verlangt nun nach angemessenen methodologischen Ansätzen, mittels derer die etwa von Schütz und Blumer geforderten Rekonstruktionsleistungen im Rahmen von Forschung reflektiert vollzogen werden können. Ich werde daher zunächst Prinzipien vorstellen, wie sie in der qualitativen Sozialforschung sowie in der Grounded Theory vertreten werden und die es auch in der Konzeption meines Forschungsdesigns zu berücksichtigen gilt. Bei der Grounded Theory handelt es sich um einen forschungsmethodologischen Ansatz der qualitativen Sozialforschung, der von Barney Glaser und Anselm L. Strauss (vgl. z.B. 1967) bzw. später auch von Juliet Corbin und Strauss (vgl. z.B. 1996) im Kontext des symbolischen Interaktionismus nach Blumer entwickelt wurde und in deren Mittelpunkt die von strukturellen Bedingungen gerahmten „Deutungen sozialer Wirklichkeit handelnder Personen sowie die Interaktionen, in denen diese Deutungen entwickelt und modifiziert werden“, stehen (Corbin/Hildenbrand 2003, 159). Als forschungsmethodischer Ansatz wird die Grounded Theory in der vorliegenden Arbeit insbesondere in der Entwicklung eines geeigneten interpretativen Analyseansatzes im Umgang mit den erhobenen Daten eine bedeutende Rolle einnehmen (vgl. Kap. IV 3). In einem weiteren Schritt werde ich zudem forschungstheoretische Ansätze vorstellen, die sich explizit als gesellschaftskritisch verstehen und mir in dieser Perspektive eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt, Erfahrungen, Handeln und Rassismus ermöglichen (Kap. III 2, 3). Sie stellen mir damit auch über die zunächst vorgestellten allgemeinen Prämissen qualitativ-interpretativer Sozialforschung hinausgehende und weiterführende Anknüpfungspunkte für die Entwicklung einer rassismuskritischen analytischen Perspektive zur Verfügung, die es forschungsmethodologisch ebenfalls zu berücksichtigen und methodisch umzusetzen gilt. Prinzipien qualitativer Sozialforschung ‚Qualitative Forschung‘ ist ein Oberbegriff für eine Vielzahl von heterogenen Forschungsansätzen – unter ihnen die Grounded Theory –, die aufgrund unterschiedlicher theoretischer Annahmen, methodischer Foki und Gegenstandsverständnisse differieren (vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 2004, 18; Rosenthal 2008, 13). Dennoch lassen sich Flick, von Kardorff und Steinke sowie Mayring zufolge Gemeinsamkeiten und Prinzipien herausarbeiten, die den unterschiedlichen Perspektiven gemein sind. Während Philipp Mayring die Grundsätze qualitativer Forschung in ‚fünf Postulaten‘ und ‚13 Säulen qualitativen Denkens‘ zusammenzufassen versucht (vgl. Mayring 2002), bemühen Flick, von Kardorff und Steinke sich um eine Systematisierung in vier ‚theoretische Grundannahmen qualitativer Forschung‘ einschließlich daraus abzuleitender methodologischer Ansatzpunkte sowie zwölf

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‚Kennzeichen qualitativer Forschungspraxis‘ (vgl. Flick/von Kardorff/Steinke 2004). Da ich zentrale forschungstheoretische Grundannahmen, auf denen die vorliegende Untersuchung fußt, bereits ausführlich beschrieben habe, beschränke ich mich im Folgenden auf die Darlegung der von Flick et al. abgeleiteten methodologischen Ansatzpunkte sowie auf ausgewählte Prinzipien qualitativer Forschung, die im Hinblick auf mein eigenes Forschungsdesign relevant sind. Flick et al. beschreiben vier Ansatzpunkte für die Methodologie qualitativer Forschung: Aus der Annahme, soziale Wirklichkeit sei das Ergebnis gemeinsamer, in alltäglichen Interaktions- und Interpretationsprozessen hergestellter, flexibler Bedeutungen, die in Abhängigkeit der je subjektiven Interpretationen und Relevanzzuweisungen zur Grundlage von Handeln werden, ergibt sich a) „die Konzentration auf die Formen und Inhalte dieser alltäglichen Herstellungsprozesse über die Rekonstruktion der subjektiven Sichtweisen und Deutungsmuster der sozialen Akteure“ (ebd., 20), b) „die Analyse von Kommunikations- und Interaktionssequenzen“ (ebd.) und c) die Erhebung von Daten in dialogischer und kommunikativer Weise (vgl. ebd., 21). Die Feststellung, dass unterschiedliche Lebenslagen durch als ‚objektiv‘ bestimmbare Faktoren (z.B. Einkommen, Alter etc.) gerahmt werden und als solche in die subjektiv sinnhaften Deutungen und Interpretationen von Menschen Eingang finden, führt zu d), der „hermeneutischen Interpretation subjektiv gemeinten Sinns, der im Rahmen eines vorgängigen, intuitiven alltagsweltlichen Vorverständnisses für jede Gesellschaft objektivierbarer und idealtypisch beschreibbarer Bedeutungen verstehbar wird und damit individuelle und kollektive Einstellungen und Handlungen erklärbar macht“ (ebd.). Die gewählten Forschungsmethoden müssen im Hinblick auf die Anforderungen, die die zu Grunde liegenden Annahmen sowie das Untersuchungsinteresse und der zu untersuchende Gegenstand stellen, angemessen sein. Dieses Gegenstandsadäquatheit genannte Prinzip ist ein zentrales Kennzeichen qualitativer Forschung. Strauss spricht sich vehement gegen eine zu starke Systematisierung von methodischem Vorgehen und die „falsche Vorstellung“ aus, „derzufolge eine effektive Forschungsarbeit exakt, präzise und klar in der Technik sei“ (Strauss 1991, 32). Hingegen betont er, dass es vielmehr gilt, die jeweiligen konkreten Bedingungen einer Untersuchung und ihren Einfluss in der Konzeption des methodischen Vorgehens zu berücksichtigen, anstatt Methoden zu standardisieren (vgl. ebd.). Dazu bedarf es Offenheit, womit ein weiteres Prinzip und wesentliches Kriterium qualitativer Forschung benannt ist. Das Prinzip Offenheit kritisiert eine zu enge theoretische Strukturierung und Hypothesengeleitetheit und besagt, dass dem Gegenstand möglichst offen gegenüber Unerwartetem begegnet sowie den subjektiven Perspektiven und Relevanzen der ‚zu Beforschenden‘ bzw. der ‚Mitforschenden‘ möglichst viel Raum geboten werden soll (vgl. Mayring 2002, 27f.; Flick/Kardoff/Steinke 2004, 23; Rosenthal

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2008, 13f., 48f.). Letzteres ist vor allem auch vor dem Hintergrund der Feststellung von Bedeutung, dass es sich bei wissenschaftlichen Interpretationen immer um Konstruktionen zweiter Ordnung handelt (vgl. Schütz 2004/1953): Im Mittelpunkt des Forschungsprozesses sollten zunächst die Relevanzsysteme, oder, allgemein, die soziale Welt in der Perspektive der ‚zu Beforschenden‘ bzw. der ‚Mitforschenden‘, die Konstruktionen erster Ordnung, stehen. Dafür braucht es zum einen Flexibilität bzw. die besagte Offenheit im Forschungsprozess, die es ermöglicht, Forschungsfragen dem Prozessverlauf entsprechend zu ändern und den letztendlichen Gegenstand einer Untersuchung erst im Prozess des Forschens zu entdecken. Insbesondere von Vertreterinnen und Vertretern der Grounded Theory wird vor dem Hintergrund dieser Annahme dafür plädiert, Erhebungs- und Auswertungsphase nicht strikt von einander zu trennen, sondern ineinander zu verzahnen, indem erste Erhebungen ausgewertet und zur Grundlage neuer, spezifizierter Erhebungen – ggf. mit anderen Instrumenten – werden (vgl. Strauss 1991; Strauss/Corbin 1996; Breuer 2009). Zum anderen braucht es offene, kommunikative Verfahren und Methoden – offene Situationen der Erhebung, die es den (etwa im Interview) Befragten erlauben, die Kommunikationssituation selbst mitzugestalten und z.B. entlang ihrer eigenen Relevanzen über ihren Alltag zu sprechen. Gleichzeitig ermöglichen offene Verfahren der Auswertung, den subjektiven Interpretationen von Welt und ihrer interaktiven Herstellung nachzugehen (vgl. Rosenthal 2008, 14f., 44f., 53). In der interpretativen Sozialforschung geht es Gabriele Rosenthal zufolge „dabei nicht nur um die Perspektive und die Wissensbestände der Akteure, die ihnen bewusst und zugänglich sind, sondern auch um die Analyse des impliziten Wissens und die jenseits ihrer Intentionen liegende interaktive Erzeugung von Bedeutungen“ (ebd., 15). Breuer spricht im Zusammenhang mit seiner Interpretation einer reflexiven Grounded Theory auch von ‚reflektierter Offenheit‘. Ausgehend von der Feststellung, dass es absolute Offenheit im Sinne von nicht vorhandenen Vorverständnissen nicht geben kann, plädiert er mit diesem Begriff für den bewussten Versuch, sich als For schende oder Forschender den eigenen Vorannahmen, den Präkonzepten, möglichst bewusst zu sein und reflexiv und (selbst-)kritisch mit ihnen umzugehen (vgl. Breuer 2009, 26ff.). Damit ist ein weiteres zentrales Kennzeichen qualitativer Forschung angesprochen: Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven der an Forschungsprozessen Beteiligten sowie die hiermit einhergehende notwendige Reflexivität des oder der Forschenden bezüglich des Einflusses, den das eigene Wahrnehmen, Deutens und Handeln auf den Forschungs- und Erkenntnisprozess hat; ohne dass es hier darum ginge, diese „als eine zu kontrollierende bzw. auszuschaltende Störquelle“ zu betrachten (Flick/von Kardoff/Steinke 2004, 23). Die Grounded Theory etwa begreift Forschung als „Interaktionsprozeß zwischen Forschern und ihrem Gegenstand“, in dem „Wirklichkeit theoriebildend gestaltet [wird]“ (Strauss 1991, 12).

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Ein zentrales methodisches Mittel der Reflexivität, mithilfe dessen die unterschiedlichen Perspektiven, Haltungen und Voraussetzungen von den an der Forschung Beteiligten – aber auch von Außenstehenden, die etwa im Datenauswertungsprozess im Rahmen von Interpretationsgruppen oder Kolloquien hinzugezogen werden können – als Ressource produktiv genutzt werden können, stellt die Kontrastierung dar (vgl. ebd.): Mittels des Vergleichs „von Beteiligtensichtweisen“ wird das Sichtbarund also auch das Thematisierbarmachen der „Standpunktgebundenheit der Konzeptualisierung“ angestrebt (Breuer 2009, 121). So soll der „Perspektivität der Weltwahrnehmung und -deutung sowie der Reflexion der subjektiven Erkenntnisvoraussetzungen“ Rechnung getragen werden und sollen „das einschlägige Spektrum von Wahrnehmungs- und Interpretationsmöglichkeiten und die jeweiligen Bedingungshintergründe der verschiedenen Varianten“ Eingang in den Forschungsprozess finden (ebd.). „Auf diese Weise wird ein Austausch, eine Selbst-/Reflexion und Dezentrierung von Positionen und Konstruktionen ermöglicht: Der übliche Blick aus einem Muster kann bei solchen Kontrastierungen unter Umständen zu einem reflexiven Blick auf das Muster gewandelt, umgearbeitet werden“ (ebd., 122; Herv. i. O.). Darüber hinaus bedürfen laut Breuer aber auch institutionelle, soziale und subkulturelle Merkmale und Kontexte sowie Forschungsinstrumente als Komponenten von Erkenntnisprozessen reflexiver Aufmerksamkeit (vgl. ebd., 116). Die im Folgenden vorgestellten Theorien und Forschungsperspektiven können die hier benannten Ausgangspunkte in je spezifischer Weise konkretisieren und ergänzen und bergen im Hinblick auf das Forschungsinteresse sowie im Hinblick auf den formulierten Anspruch, eine rassismuskritische Forschung vorzulegen, ein Potenzial, das zu nutzen mir für die Entwicklung eines Forschungsdesigns sinnvoll er scheint. In diesem Sinne sollen die für mich zentralen Überlegungen und Forschungsperspektiven der Cultural Studies sowie, diese ergänzend, der Kritischen Psychologie im Folgenden vorgestellt werden.

2 C ULTURAL S TUDIES Mithilfe von Theorie- und Forschungsansätzen der Cultural Studies wird im Folgenden zunächst den Bedeutungen, Repräsentationssystemen und sinngebenden Praktiken Aufmerksamkeit geschenkt, über die symbolvermittelt Interaktion stattfindet sowie soziale Welt – bzw. auch Rassismus – hervorgebracht und erfahren wird. Mit Bezug auf Stuart Hall, der einen diskursiven Ansatz in Anlehnung an Michel Foucault zur Analyse von Repräsentationen vertritt, welcher insbesondere die Machtverhältnisse, die Bedeutungs- bzw. Wissensproduktionen inhärent sind, wird sich diesen genähert. Von hier aus wird mit Halls Konzept der Artikulation das Verhältnis von Subjekt und Diskurs beschrieben, wobei vor allem nach der Handlungs-

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mächtigkeit von Subjekten gefragt wird, die als involviert in machtvolle Diskursformationen und Wahrheitsregime gedacht werden. Bezogen auf das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit geht es also darum, in der Perspektive der Cultural Studies bzw. Stuart Halls der Frage nachzugehen, wie Repräsentations- und Wahrheitsregime, als Teil von Rassismus, sich diskursiv etablieren und in welchem Verhältnis Subjekte zu diesen stehen. Hier gilt es insbesondere danach zu fragen, inwiefern Subjekte, die erfahrend, das heißt fühlend, deutend und handelnd, in machtund bedeutungsvolle rassistische diskursive Formationen involviert sind, als handlungsmächtig denkbar sind. Auch in den Cultural Studies wird davon ausgegangen, dass die Welt des Menschen eine symbolisch vermittelte Welt ist und das Menschen Bedeutungen in sozialer Interaktion schaffen, was eine fruchtbare Zusammenführung von symbolischen Interaktionsimus und Cultural Studies möglich macht (vgl. Krotz 2008). Während der symbolische Interaktionismus jedoch als „konstruktivistisch orientierte Handlungstheorie“ zu beschreiben ist, müssen die Cultural Studies, so Friedrich Krotz (2008, 128), „als kontextorientierte, kulturell dependente, aber hoch komplexe und integrationsfähige Strukturtheorie verstanden werden.“ Ein entscheidender Unterschied zwischen den Ansätzen besteht darin, dass in den Cultural Studies Überlegungen zur Hervorbringung von Bedeutungen und Repräsentationssystemen in Verhältnissen von Machtbeziehungen einen zentralen Platz auch beim Nachdenken über subjektive Handlungsfähigkeit in diesen Verhältnissen einnehmen. Im Gegensatz zu Blumers Theorie finden in den Cultural Studies die Bedingungen, die die Hervorbringungen von Bedeutungen beeinflussen, besondere Berücksichtigung. Ihr Augenmerk gilt insbesondere dem Zusammenhang von Subjekt und Gesellschaft bzw. von Subjekt und Diskurs sowie von Macht als immanentem Teil von Bedeutungsproduktionen, weshalb sie mir zur Analyse von subjektiven Rassismuserfahrungen in rassistisch strukturierten Verhältnissen besonders geeignet erscheinen. Vom Schließen von Verhältnissen auf das Verhalten von Menschen Abstand nehmend, rücken die Cultural Studies die menschliche Erfahrung, die ‚gelebte Wirklichkeit‘, die „alltäglichen Lebensäußerungen der Subjekte mit ihren Artikulationsformen, Deutungs- und Handlungsmustern“ (Lindner 1998, 86; zit. n. Engelmann 1999, 17) in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit und widmen sich der Analyse des Beziehungsgefüges von (ideologisierten) Diskursen und Praktiken, die die Bedeutungen bereitstellen, auf denen Alltagserfahrungen – also auch Rassismuserfahrungen – beruhen (vgl. Engelmann 1999, 18). ‚Kultur‘ und ‚kulturelle Praktiken‘ verstanden als „soziale Zirkulation von Bedeutungen“ werden in ihrer „Verwobenheit mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen“ untersucht (ebd., 25). Angesichts des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit erscheint die Auseinandersetzung mit der Forschungsperpektive der Cultural Studies, in der also der Zusammenhang zwischen von Menschen interpretierten und hervorgebrachten Bedeutun-

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gen, Machtverhältnissen und gesellschaftlicher Ordnung fokussiert wird, lohnend – auch im Hinblick auf den kritisch-intervenierenden Anspruch der Cultural Studies und meiner Untersuchung. Dabei bleibt die hier vorgenommene Darstellung dieser Perspektive notwendigerweise selektiv. Denn wenngleich meine Ausführungen sich auf ein Verständnis bzw. auf Ansätze der Cultural Studies beschränken, wie sie im Kontext der British Cultural Studies in Birmingham am CCCS entstanden sind, so sind auch diese nicht zu ‚vereinheitlichen‘ und es bleibt schwer, ‚allgemeingültige‘ Aussagen zu treffen. Hall versteht die Cultural Studies zwar als „ein kollektives intellektuelles Projekt“ (2000c, 75). Bei dem Gedanken an seine „Kodifizierung“ jedoch, so Hall, „sträuben sich mir die Haare“ (ebd.). Er sieht diese vielmehr als eine diskursive Formation, die aus einer Reihe unterschiedlicher theoretischer Positionen und Methoden sowie Auseinandersetzungen über diese hervorgegangen ist (vgl. ebd. 2000b, 35): „Die theoretische Arbeit im Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) lässt sich besser als theoretischer Lärm beschreiben“, so Hall (ebd., 36; Herv. i. O.). Dennoch wehrt Hall sich gegen einen simplen Pluralismus, der dazu führt, dass letztlich alles was Menschen tun und als Cultural Studies bezeichnen auch Cultural Studies sind (vgl. ebd.). Als offenes und „ernsthaftes Unternehmen“ (ebd.) oder Projekt ist es allerdings dennoch durch eine, den Arbeiten gemeinsame Zentralität gekennzeichnet, die in dem Aspekt des ‚Politischen‘ der Cultural Studies liegt (vgl. ebd.). „Das heißt nicht, dass es eine einzige Politik gibt, die schon in sie eingeschrieben wäre. Aber es steht etwas auf dem Spiel in den Cultural Studies“ (ebd.). Für die Cultural Studies heißt das, dass sie Position beziehen ohne die Endgültigkeit von Positionierungen zu behaupten. In dialogischer Arbeit mit Theorie weigern sie sich zum einen, ein „Feld abzuschließen, einzugrenzen, es zu kontrollieren“ und sind zum anderen entschlossen, „einige Positionen darin zu markieren und für sie einzutreten“ (ebd.). Hall sieht in der Herausbildung und Einnahme von spezifischen Standpunkten die einzige Möglichkeit, „etwas in der Welt zu verändern“ (ebd., 36). Dass die Verbindung zwischen der theoriebildenden Auseinandersetzung mit dem Diskursiven, der Textualität – die Hall als beweglich und als „Quelle von Bedeutungen“ (ebd., 45), „Quellen der Macht“ und „Ort der Repräsentation und des Widerstandes“ (ebd., 46) begreift – auf der einen und der ‚Weltlichkeit‘, den „anderen wichtigen Fragen“ (ebd., 47), mit Politik auf der anderen Seite, eine Verbindung der Uneindeutigkeit bleibt, gilt es ihm zufolge auszuhalten (vgl. ebd., 46f.). Cultural Studies zeichnen sich dadurch aus, dass sie „die theoretischen und die politischen Fragen in einem stets unlösbaren, aber niemals sich auflösenden Spannungsverhältnis halten. Sie erlauben den einen immer, die anderen zu irritieren, zu belästigen und zu stören, ohne auf einer endgültigen theoretischen Schließung zu bestehen“ (ebd., 47). Cultural Studies werden von Hall daher auch als „politisches Theorieprojekt“ (ebd. 2000a) und von Lawrence Grossberg als „politisch motiviertes Projekt“

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(Grossberg 1999, 72) beschrieben. Als „engagierte Form der Gesellschaftsanalyse“ (Hörning/Winter 1999, 8) verfolgen sie das Ziel, wie Grossberg es formuliert, „zu einem besseren Verständnis der Machtbeziehungen […] in einem bestimmten Kontext zu gelangen“ (Grossberg 1999, 54) und so ein „Wissen zu produzieren, das dazu beiträgt, zu verstehen, dass und wie die Welt sich verändern lässt“ (ebd., 72). Hier geht es also nicht lediglich um ‚erklären‘ und ‚verstehen‘, sondern darüber hinaus immer auch um ein interventionistisches Anliegen. Denn mit der Bereitstellung eines solchen Wissens ist die Überzeugung verbunden, dass es „die Menschen in eine bessere Position versetzt, den konkreten Kontext und damit die Machtbeziehungen, in denen sie sich befinden, zu verändern“ (ebd., 55). Grundlegend für diese Überlegung ist die Einsicht, dass Menschen handlungs- und entscheidungsfähige, wenngleich nicht autonome Subjekte sind, die Bedeutungen und kulturelle Formen in ihrem Alltag in verschiedener Weise interpretieren und verwenden können. Diese „Kunst des Eigensinns“ (Winter 2005), die kreative Aneignung und Rezeption von mit Intentionen und Interessen verbundenen Bedeutungen, kann Winter zufolge auch als eine „Kritik der Macht“ (ebd., 209) verstanden werden. Projekte der Cultural Studies zeichnen sich also dadurch aus, dass sie „immer politisch“ sind und ver suchen, „nicht nur die Strukturen der Macht, sondern auch die Möglichkeiten des Kampfes, des Widerstands und der Veränderung zu verstehen“ (Grossberg 1999, 55). Grossberg beschreibt Cultural Studies als eine intellektuelle Praxis, die von dem Glauben getragen ist, dass Wissenschaft bedeutungsvoll ist und die Theorie politisieren und Politik theoretisieren will (vgl. ebd., 55f.). Im Mittelpunkt der Untersuchungen, die im Kontext von Cultural Studies entstehen, stehen Hörning und Winter zufolge „soziale Ungleichheiten und soziale Auseinandersetzungen“, „das Verhältnis von Macht und Widerstand“ sowie die „vielfältigen widerspenstigen und kreativen Praktiken der Gegenwart“ (Hörning/Winter 1999, 8). Ein- und Ausschlussverhältnisse, die mit der Durchsetzung von Machtverhältnissen einhergehen, müssen Hall zufolge Gegenstand jeder Analyse sein. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt es diesbezüglich „all jene[n] Stimmen, Positionen, Erfahrungen, die aus dominanten intellektuellen und politischen Formationen ausgeschlossen sind“, zu widmen (Hall 2000d, 141). Ihren Ausgangspunkt finden Untersuchungen der Cultural Studies im Alltag der Menschen. Sie gehen davon aus, dass die „‚mikropolitischen‘ Handlungen des Alltagslebens […] eine ‚makropolitische‘ Dimension [besitzen], die uns, verstrickt in unsere alltäglichen Praktiken, weitgehend unbewusst bleibt“, jedoch zur „hegemonialen Stabilisierung der Gesellschaftsformation als ganzer“ beiträgt (Marchart 2008, 13). Dieses Feld alltäglicher sozialer Praktiken, die deshalb politisch sind, weil sie in Machtverhältnisse eingebettet sind, die im sozialen Leben allgegenwärtig sind, begreifen Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies als Kultur bzw. kulturelle Praktiken. Das Konzept von Kultur in den Cultural Studies ist u.a. ge-

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kennzeichnet durch die Betonung ihrer Dynamik und Widersprüchlichkeit sowie ihrer Produktivität und Konflikthaftigkeit hinsichtlich des Hervorbringens und Veränderns von Identitäten, Bedeutungen und Unterscheidungen in Strukturen „von Differenz im Sinne eines Beziehungsgefüges zwischen Positionen der Macht und der Machtlosigkeit“ (Grossberg 1999, 54). Kultur wird verstanden als der Bereich, in dem Bedeutungen geschaffen und verändert und Handlungen durch sie beeinflusst werden (vgl. Hall 1999b, 151), wobei die Instanz des Politischen, verstanden als „ein anderer Name für Konflikt, Macht, Widerstand, Dominanz und Unterordnung“ (Marchart 2008, 16), stets mitgedacht wird. Macht ist für die Cultural Studies, in Anlehnung an den Machtbegriff Foucaults (vgl. unten), ein widersprüchlicher Gegenstand, der „entlang einer Vielzahl von Achsen und Dimensionen auf komplexe Art organisiert“ (Grossberg 1999, 61) und auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens wirksam ist. Sie ist jedoch niemals total, sondern es gibt „immer Sprünge und Risse, die zu Geburtsstätten von Veränderungen werden können“ (ebd., 62). Das Interesse der Cultural Studies besteht nun darin, diese Machtbeziehungen sowohl hinsichtlich ihres Einflusses auf „die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben auf würdige und sichere Art zu verbringen“ (ebd.) – und also ihrer restriktiven und ermöglichenden Wirkungen – zu untersuchen, als auch auf die die Menschen einschränkenden Machtbeziehungen verändernd einzuwirken, wozu es Grossberg zufolge notwendig ist, bei den Menschen und ihrem alltäglichen Leben anzusetzen (vgl. ebd.). Gegenstand der Analysen der Cultural Studies kann konsequenterweise nicht das ‚Wesen‘ der Dinge sein. Die Annahme, von Fakten auf Wirkungen schließen zu können, weisen Vertreterinnen und Vertreter weit von sich. Vielmehr wenden sie ihre Aufmerksamkeit den – weder als essentialistisch noch als anti-essentialistisch, sondern als „immer real, aber niemals notwendig“ (ebd., 64) verstandenen – changierenden Beziehungen zu, die als Bedeutungen relevant werden. Bedeutungen werden also grundsätzlich als Beziehung zu etwas verstanden, die zwar flexibel und veränderbar, zugleich aber auch real in dem Sinne sind, als sie reale Auswirkungen haben (vgl. ebd., 65). Diese Beziehungen, die entstehen, die real bestehen und als Bedeutungen relevant werden, nennt Hall Artikulationen (vgl. Hall 2000c, 65; Grossberg 1999, 64). Macht ist immer Teil dieser Beziehungen, formiert diese mit und ist keinesfalls eine externe Kraft. 2.1 Theoretisch-analytische Verhältnisbestimmungen Um deutlich zu machen, wie diese bedeutungsvollen (Macht-)Beziehungen zum Gegenstand von (intervenierender) Forschung werden können, werden im Folgenden vor allem auf Stuart Hall zurückgehende Theoretisierungen vorgestellt. Diese konzeptualisieren das Verhältnis zwischen Bedeutungsbeziehungen, Macht, Subjekt

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und Gesellschaft, in das u.a. Rassismus und Rassismuserfahrungen eingelassen sind. Darüber hinaus liefern sie sowohl einen theoretischen Hintergrund als auch Ansatzpunkte, die als Bezugsrahmen für die forschende Umsetzung der oben genannten Ziele und Prämissen der Cultural Studies fungieren können, aber auch die erwähnten Prämissen in spezifischer Weise zu explizieren vermögen. Repräsentation und Bedeutungskonstruktion Zunächst zu den Bedeutungen und ihrer Entstehung: Hall theoretisiert die Produktion von Bedeutung als die Herstellung einer Beziehung zwischen Signifier und Signified, die mittels Sprache hervorgebracht und stetig transformiert wird. Er unterscheidet zwei Systeme der Repräsentation, unter Rückgriff auf welche Bedeutung sozial konstruiert wird: Zum einen ein System, welches allen Dingen – seien es Objekte, Menschen, Begebenheiten, Geschichten, Mythen Emotionen oder Erfahrungen – Konzepte zuweist bzw. Systeme von Bedeutungen, welche zur sinngebenden Kategorisierung, Interpretation und zum ‚Verstehen‘ der Dinge benötigt werden (vgl. Hall 1997b, 28f.). Die von Subjekten je individuell zugewiesenen Bedeutungen sind damit immer auch abhängig von diesen Konzepten und Bildern, die das Erleben von Welt strukturieren. Dabei greifen Menschen auf unterschiedliche Konzepte zurück, vergleichen sie miteinander und setzen sie zueinander in Beziehung (vgl. ebd., 17). Diese bedeutungsvollen Konzepte bzw. Systeme bezeichnet Hall auch als „conceptual maps“, welche in einer Gesellschaft bzw. Kultur 2 weithin geteilt werden und es so ermöglichen, miteinander zu kommunizieren, die Welt in im weitesten Sinne ähnlicher Weise zu interpretieren, ihr Sinn zu verleihen und sie so zugleich als sinnhafte zu konstruieren (vgl. ebd., 18). Auf diese Weise werden „conceptual maps“ sozial wirkmächtig: „cultural meanings are not only ‚in the head‘. They organize and regulate social practices, influence our conduct and consequently have real, practical effects“ (ebd. 1997a, 3), „they help to set the rules, norms and conventions by which social life is ordered and governed“ (ebd., 4). Zum anderen brauchen Menschen für den Austausch, die Kommunikation dieser Bedeutungen und Konzepte eine geteilte Sprache. Wobei diese nicht als Spiegel funktionieren kann, sondern als aus Zeichen bestehend zu denken ist, welche wiederum lediglich Bedeutung vermittelnden und repräsentierenden Charakter haben. Sprache ist für Hall also das zweite System der Repräsentation, mit welchem Bedeutungen konstruiert, den ‚Dingen‘ Bedeutung verliehen und Sinn produziert und ausgetauscht 2

Wenngleich Hall Kultur vor allem unter dem Gesichtspunkt der geteilten Bedeutungen, der „shared meanings“ (Hall 1997a, 1) bzw. „shared conceptual maps“ (ebd.) fokussiert, betont er doch auch, dass Kultur nicht etwa homogen und kognitiv, sondern vielmehr vielstimmig ist: „In any culture, there is always a great diversity of meanings about any topic, and more than one way of interpreting or representing it“ (ebd., 2). Neben Konzepten und Ideen umfasst Kultur auch Gefühle und Emotionen (vgl. ebd.).

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wird. Hall sieht hierin die Funktion von Sprache: „Language, in this sense, is a signifying practice“ (ebd., 5) und Bedeutung „is the result of signifying practice – a practice that produces meaning, that makes things mean“ (ebd. 1997b, 24).3 In Anlehnung an Saussure spricht Hall von Sprache als aus ‚signs‘ bestehend (einzelne Worte, Bilder etc.), welche wiederum in zwei Elemente zu unterscheiden sind: Zum einen die Form (signifier) (z.B. das tatsächliche Wort) und zum anderen die Idee oder das Konzept (signified), das mit diesem von Menschen verbunden wird (vgl. ebd., 31). In dem Konzept Halls zur Bedeutungskonstruktion verbinden sich diese zwei Systeme der Repräsentation – conceptual maps und Sprache: „The first enables us to give meaning to the world by constructing a set of correspondences or a chain of equivalences between things – people, objects, events, abstract ideas, etc. – and our system of concepts, our conceptual maps. The second depends on constructing a set of correspondences between our conceptual map and a set of signs, arranged or organized into various languages which stand for or represent those concepts. The relation between ‚things‘, concepts and signs lies at the heart of the production of meaning in language. The process which links these three elements together is what we call ‚representation‘“ (ebd., 19). Diese Beziehungen sind nun keineswegs unbeweglich und unveränderbar. Vielmehr sind sowohl ‚Signifier‘ als auch ‚Signified‘ Produkte sozialer Prozesse und ändern ihre Bedeutungen im Verlauf kontextbezogener, sozio-historischer Entwicklungen (vgl. ebd., 32): „If the relationship between a signifier and its signified is the result of a system of social conventions specific to each society and to specific historical moments – then all meanings are produced within history and culture. They can never be finally fixed but are always subject to change, both from one cultural context and from one period to another. There is thus no single, unchanging, universal ‚true meaning‘“ (ebd.). Damit betont Hall also, dass Repräsentationen, die bedeutungsvollen Beziehungen zwischen Signifier und Signified, stetig und in je spezifischen Verhältnissen verändert werden. Sie unterliegen dem ständigen Spiel der Bedeutungsverschiebung und Produktion neuer Bedeutungen und Interpretationen (vgl. ebd.). Darüber hinaus steckt in dem Moment der Vermittlung und Repräsentation, der Verbindung und Übersetzung zwischen Signifier und Signified, den ‚Dingen‘, Konzepten und signs mittels bedeutungsvoller Sprache auch immer die Notwendigkeit der Interpretation. Da Bedeutungen sozial produziert und den Dingen nicht inhärent sind, Sprache die Welt daher nicht abbildet, sondern erst in spezifisch bedeutungsvoller Weise hervorbringt, kann es ein ‚Wesen der Dinge‘, eine absolute Wahrheit, die wahre Bedeu tung nicht geben, is „[t]he reader […] as important as the writer in the production of 3

Sprache umfasst in diesem Sinne alle Praktiken, mit deren Hilfe Bedeutungen produziert und kommuniziert werden, mit denen wir versuchen etwas auszudrücken und anderen unsere Ideen, Konzepte, Gefühle und Gedanken zu vermitteln.

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meaning. Every signifier given or encoded with meaning has to be meaningfully interpreted or decoded by the receiver“ (ebd., 33). In diesem Sinne lässt sich mit Halls Konzept zur Bedeutungsproduktion bzw. Repräsentation an die Prämissen qualitativ-interpretativer Forschung anschließen. Hall selbst konstatiert als gemeinsamen Bedeutungs-Zusammenhang, dass „Cultural studies of this interpretative kind, like other qualitative forms of sociological inquiry, are inevitably caught up in this ‚circle of meaning‘“ (ebd., 42). Diskurs, Wissen und Macht In Erweiterung eines solchen, sich auf die Linguistik konzentrierenden semiotischen Ansatzes ist Halls Konzept der Repräsentation als soziale Produktion von Bedeutung mittels Sprache eng mit der Betonung von Diskursivität, Wissen und Macht in Anlehnung an die Arbeiten von Michel Foucault verbunden. In dieser Perspektive geht es zentral um sozio-historisch situierte Prozesse der Produktion von Wissen in Verbindung mit Machtverhältnissen. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht so der Prozess der Wissensproduktion (statt der Bedeutungskonstruktion) in und durch Diskurse (anstelle von nur Sprache) (vgl. Hall 1997b, 43) in ihrer Verwobenheit mit Machtverhältnissen sowie die Hervorbringung unterschiedlicher Wissens- (bzw. Bedeutungs-)formationen. Der zentrale Unterschied im Vorgehen Foucaults im Vergleich zu jenem der Semiotiker liegt Hall zufolge darin begründet, dass Foucault nicht nur an der Analyse des einzelnen Textes, der spezifischen Repräsentationen interessiert ist, sondern an der gesamten diskursiven Formation, d.h. an einem Bündel verschiedener zusammenhängender, zu einander in Beziehung stehender Aussagen und Praktiken (vgl. ebd., 49ff). Auf diese Weise gerät in den Blick, was der semiotische Ansatz Saussures vernachlässigt hat: Es sind die Machtbeziehungen, die im diskursiven Ansatz Foucaults bedeutsam sind, und nicht die Bedeutungsbeziehungen. Es geht um Diskurs, Macht und Wissen und – wenngleich, wie Hall findet unzureichend, so doch mehr als bei dem Semiotiker Sassure – auch um die Frage nach dem Subjekt (vgl. ebd., 43; vgl. unten). Die Erweiterung des Konzepts zur Analyse von Repräsentationen in Anlehnung an Foucault, mit der ein größerer Schwerpunkt auf Repräsentationen „as a source for the production of social knowledge – a more open system, connected in more intimate ways with social practices and questions of power“ liegt (ebd., 42; Herv. i. O.), ermöglicht es, die (Macht-)Effekte und Konsequenzen von Repräsentationen und Repräsentationspraktiken, etwa von stereotypen Zuschreibungen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Obwohl Bedeutungen nicht ‚natürlich‘, sondern sozial konstruiert sind, sind sie doch keineswegs bloße Erfindung, sondern wirkmächtige, strukturierende und Einfluss nehmende Bestandteile sozialer Welt. Der diskursive Ansatz ist nicht nur daran interessiert, wie Bedeutung produziert wird, sondern wie Wissen, das in spezifischen Diskursen hervorgebracht wird, sich mit Macht verbindet und wie dieses machtvol-

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le Wissen effektvoll wirkt: how it „regulates conduct, makes up or constructs identities and subjectivities, and defines the way certain things are represented, thought about, practiced and studied“ (ebd. 1997a, 6). Der diskursiv orientierten Analyse geht es dabei immer um konkrete, historisch spezifische Formen oder auch ‚Regime‘ von Repräsentationen und die Frage, wie sie sich zu einer spezifischen Zeit an einem spezifischen Ort manifestieren und in konkreten Praktiken zur Anwendung kommen (vgl. ebd.). Der Fokus dieses erweiterten, auf Foucault Bezug nehmenden Ansatzes der Untersuchung von Repräsentationen liegt also auf der Produktion von sozialem Wissen in Diskursen. Diskurse werden hier verstanden als ein Gesamtsystem bedeutungsgenerierender Praktiken, die sich in einem Repräsentationsregime verbinden, 4 das nicht auf Sprache im linguistischen Sinne beschränkt ist, sondern auch nichtsprachliche soziale Praktiken oder institutionelle Regulationen als Bedeutungen hervorbringend mit einbezieht und sich immer aus mehreren Aussagen, Texten, Handlungen oder Quellen speist. Diskurse als Bedeutungs- und Repräsentationssysteme stellen auf diese Weise eine Gruppierung von Aussagen, Bedeutungen und Wissen bereit, die es ermöglichen, über etwas zu sprechen, Wissen zu einem spezifischen Gegenstand und zu einem spezifischen historischen Moment zu repräsentieren (Hall 1994b, 150). Diskurs bedeutet also sowohl die Hervorbringung von Themen in spezifischer Weise als auch die Produktion von Wissen: „It defines and produces the objects of our knowledge“ (ebd. 1997b, 44). So wird im Diskurs darüber entschieden, in welcher Weise über ein Thema gesprochen werden kann, was als akzeptiertes Wissen Teil eines Diskurses sein kann und wie ein Thema konstruiert werden kann. Komplementär dazu wird zugleich entschieden, welche Formen des Sprechens und welches Wissen über ein Thema nicht akzeptiert werden und ausgeschlossen bleiben (vgl. ebd. 1994b, 150). „It governs the way that a topic can be meaningfully talked about and reasoned about“ (ebd. 1997b, 44) – und beeinflusst darüber hinaus wie wir uns verhalten. Es definiert, was akzeptiertes Verhalten und was die Grenzen akzeptierten Verhaltens im Hinblick auf ein Thema oder einen Gegenstand sind (vgl. ebd.). Auf diese Weise manifestieren Diskurse sich in allen sozialen Praktiken bzw. haben alle sozialen Praktiken, da sie bedeutungsvoll sind, auch einen diskursiven Aspekt (vgl. ebd. 1994b, 150). Diskurse bringen soziale ‚Regelungen‘ hervor, manifestieren sich wirkmächtig als eine charakteristische Art des Denkens und in Form von spezifischen Wissensbeständen in verschiedensten Texten, Verhaltenscodexen oder auch institutionalisierten Räumen in der Gesell-

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Hall hat in dieser Weise, mit dem Schwerpunkt auf Diskurs und Macht, seine Untersu chung zu ‚Der Westen und der Rest‘ (vgl. Hall 1994b) angelegt und definiert Diskurs in diesem Zusammenhang als „eine besondere Weise, ‚den Westen‘, ‚den Rest‘ und die Be ziehungen zwischen ihnen zu repräsentieren“ (Hall 1994b, 150; Herv. i. O.).

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schaft. Insofern nehmen Diskurse Einfluss darauf, “how ideas are put into practice and used to regulate the conduct of others“ (ebd. 1997b, 44). Für Hall und für Foucault ist Diskurs bzw. Wissen also immer auch mit Macht verknüpft bzw. machtdurchdrungen. Macht und Wissen schließen einander unmittelbar ein. Foucault spricht daher von Macht-Wissen-Komplexen (vgl. Foucault 2008/1976, 730). Nur unter Berücksichtigung von Macht und Machtverhältnissen kann der Frage nachgegangen werden, welches Wissen wann und unter welchen Umständen zur Geltung kommt, akzeptierter Teil eines Diskurses wird und als soziales Wissen – ähnlich den ‚shared meanings‘ – weithin geteilt wird, als ‚wahr‘ gilt und sich in Form von Regelungen und Normalitäten in verschiedenen Bereichen des Lebens manifestiert. Soziales Wissen, das mit entsprechenden Machtbeziehungen verknüpft ist, so ließe sich sagen, hat die Möglichkeit, sich selbst zur ‚Wahr heit‘ zu machen. Es erlangt auf diese Weise Gültigkeit und hat daher auch reale Effekte. Die Produktivität machtvollen, gültigen Wissens ergibt sich also keineswegs aus einem ‚objektiven Wahrheitsgehalt‘ von Wissen, sondern geht Foucault zufolge aus Strategien und Techniken hervor, die in spezifischen Situationen, historischen Kontexten und institutionellen Regimen wirksam werden (vgl. ebd., 729f.; Foucault 1980). Auf diese Weise stützen diskursive Formationen Wahrheitsregime (vgl. Hall 1997b, 49). Wahrheit ist demzufolge ein historisch situierter Effekt, der in Diskursen machtvoll produziert wird, die an sich weder ‚richtig‘ noch ‚falsch‘ sind (vgl. Foucault 1980, 118): „The important thing here“, so Foucault (1980, 131) „is that truth isn’t outside power, or lacking in power: […] truth isn’t the reward of free spirits, the child of protracted solitude, nor the privilege of those who have succeeded in liberating themselves. Truth is a thing of this world: it is produced only by virtue of multiple forms of constraint. And it induces regular effects of power. Each society has its regime of truth, its ‚general politics‘ of truth: that is, the types of discourse which it accepts and makes function as true; the mechanisms and instances which enable one to distinguish true and false statements, the means by which each is sanctioned; the techniques and procedures accorded value in the acquisition of truth; the status of those who are charged with saying what counts as true.“ ‚Wahrheit‘ ist also umkämpft – umkämpft als ein System von Regeln und ordnenden Praktiken, nach denen Aussagen produziert und reguliert werden und Verbreitung finden können (vgl. ebd., 133). Macht ist demzufolge nicht nur mit Diskursen verknüpft, sondern Diskurs ist eines der Systeme, durch die Macht zirkuliert. Wissen und Macht schließen sich im Diskurs zusammen (vgl. ebd. 2008/1983, 1104f.). ‚Wahrheit‘ wiederum ist dementsprechend „linked in a circular relation with systems of power which produce and sustain it, and to effects of power which it induces and which extend it. A ‚regime‘ of truth‘“ (ebd. 1980, 133). Hier deutet sich nun auch Foucaults Verständnis von Macht an, auf das sich Hall sowie andere Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies zentral beziehen.

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Foucaults Machtbegriff, so Oliver Marchart (2008, 181), „ist von kaum zu unterschätzender Bedeutung für das Diskurskonzept der Cultural Studies.“ Foucault nimmt Abstand von einer Vorstellung, die Macht in der Binarität von ‚machtvoll‘ versus ‚machtlos‘ beschreibt, als klar zu trennendes Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten, als Regierungsmacht oder repressive Macht. Macht ist vielmehr produktiv – auch in ‚positivem‘ Sinne. So fragt Foucault: „If power were never anything but repressive, if it never did anything but to say no, do you really think one would be brought to obey it?“ (Foucault 1980, 119). Macht ist nach Foucault deshalb wirkungsvoll, weil sie produktiv ist: „[I]t traverses and produces things, it induces pleasure, forms knowledge, produces discourse. It needs to be considered as a productive network which runs through the whole social body, much more than as a negative instance whose function is repression“ (ebd.). Macht entspringt Foucault zufolge keiner eindeutig auszumachenden Machtquelle, sondern ist vielmehr als dezentriert, als zirkulierend, situativ und kontextuell wirksam und niemals als von einem ‚Zentrum der Macht‘ ausgehend zu begreifen. Foucault beschreibt Macht als „die Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern oder organisieren“ (ebd. 2008/1983, 1088). Jene Kräfteverhältnisse begreift er als ständig miteinander ringend, als instabil, immer lokal, widerspruchsvoll und dynamisch. Mittels verschiedener Strategien und Techniken entfalten sie ihre Wirkung, manifestieren sich im Sozialen und im Alltäglichen „bis in die ‚periphersten‘ Verzweigungen“ sowie „in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien“ (ebd.). Macht manifestiert sich auch in Subjekten, die „‚sie nicht haben‘“: „die Macht verläuft über sie und durch sie hindurch; sie stützt sich auf sie, ebenso wie diese sich in ihrem Kampf gegen sie darauf stützen, da sie von der Macht durchdrungen sind“ (ebd. 2008/1976, 729). Nicht, weil es eine Macht gäbe, die alles umfasst, sondern weil Macht von überall kommt, „sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (ebd. 2008/1983, 1099), ist sie allgegenwärtig, so Foucault, jedoch niemals absolut. „Und ‚die‘ Macht mit ihrer Beständigkeit, Wiederholung, Trägheit und Selbsterzeugung ist nur der Gesamteffekt all dieser Beweglichkeiten […]. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“ (ebd., 1089). Dieses Verständnis von Macht als stetiges Ringen von Kräfteverhältnissen impliziert zum einen, dass auch Widerstand Teil von Macht ist. „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand“, so Foucault (2008/1983, 1100), wobei Widerstand nicht außerhalb von Macht liegen kann, sondern – in der „Rolle von Gegnern, Zielscheiben, Stützpunkten, Einfallstoren“ (ebd.) – immer Teil von Machtbeziehungen ist. Da diese „Widerstandspunkte […] überall im Machtnetz präsent“ sind, „gibt es im Verhältnis zur Macht nicht den einen Ort der großen Weigerung“, so Foucault (ebd.). „Widerstand funktioniert vielmehr als Versuch einer taktischen Umkehrung der lo-

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kalen Machtverhältnisse“ (Sarasin 2010, 153). Widerstände treten in unterschiedlichster Form, vereinzelt und kontextuell, als Teil je spezifischer Machtbeziehungen auf: als „mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriegerische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände“ (Foucault 2008/1983, 1100). Obwohl Foucault selbst es in seinem Text ‚Der Wille zum Wissen‘, in dem er sein Verständnis der Zusammenhänge von Diskurs, Wissen, Macht und Widerstand darlegt, nicht thematisiert, so legt sein Verständnis des Verhältnisses von Macht und Widerstand doch auch nahe, dass Menschen immer Teil dieser Macht- und Kräfteverhältnisse sind. In einem Aufsatz von 1982 konstatiert Foucault im Rückblick auf sein bisheriges Werk, dass es ihm bei der Untersuchung von Macht immer um das Subjekt gegangen ist. Seine Absicht war es, so Foucault (vgl. 1996/1982, 14), eine Geschichte verschiedener Verfahren zu entwerfen, durch die Menschen zu Subjekten gemacht werden. „Nicht die Macht, sondern das Subjekt ist deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung“, so Foucault (1996/1982, 15). Die Analyse der Macht ist zur Analyse des Subjektes unumgänglich, denn „wenn das menschliche Subjekt innerhalb von Produktions- und Sinnverhältnissen steht, dann steht es zugleich auch in sehr komplexen Machtverhältnissen“ (ebd., 21), als unterworfenes und unterwerfendes Subjekt. Subjekte sind in Bezug auf Diskurse und Macht demnach als affirmativ und widerständig, als Macht ausübend und an ihr partizipierend sowie sich ihr widersetzend zu begreifen. Während Foucault seine analytische Aufmerksamkeit hier ganz auf die konkreten, lokalen, aber dennoch abstrakt bleibenden Machtbeziehungen richtet und fragt, wie diese spezifische ‚Wahrheiten‘ erzwingende Diskurse hervorbringen bzw. auf Diskurse Bezug nehmen (vgl. ebd. 2008/1983, 1102), ist es Halls Interesse, sich darüber hinaus der Leerstelle zu widmen, die er in Fou caults Werk bemängelt – nämlich sich auch dem Individuum als Teil dieser Verhältnisbestimmung und als in diesen Verhältnissen handelnd zuzuwenden. Mit dem Konzept der Artikulation beschreibt und analysiert Hall Beziehungen und Verbindungen, die auch das Subjekt als erfahrend und handelnd in die Verhältnisbestimmungen von Macht, Wissen/Bedeutung und Diskurs einbeziehen. Artikulationen: Subjekt, Diskurs und Handlungsfähigkeit Das Konzept der Artikulation meint die Verbindung von verschiedenen, temporär und kontextspezifisch relevant werdenden Elementen sozialer Wirklichkeit (zum Beispiel Bedeutungen, Erfahrungen, Gefühle, Interessen und immer auch Macht). Im Anschluss an die Theorien von Chantal Mouffes und Ernesto Laclau begreift Hall Diskurse, die aus vielfältigen Artikulationen bestehen, als Ausdruck von sozialer Wirklichkeit und als Ausdruck von Gesellschaft. 5 Diese Artikulationen, die die 5

Das methodisch-theoretische Konzept der Artikulation von Hall geht auf die Diskurstheorie von Mouffes und Laclau zurück (vgl. Spies 2010, 109ff.). In ihrer Diskurstheorie

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Diskurse und das Soziale einer Gesellschaft ausmachen, sind dynamisch, unbeständig und flexibel: „Die sogenannte ‚Einheit‘ eines Diskurses ist in Wirklichkeit die Artikulation verschiedener, unterschiedlicher Elemente, die in sehr unterschiedlicher Weise artikuliert werden können, weil sie keine notwendige ‚Zugehörigkeit‘ haben“ (Hall 2000c, 65). Das Konzept der Artikulation nach Hall steht darüber hinaus, so formuliert es Ines Langemeyer (2009, 79), „für eine nicht reduktionistische Analyse des gesellschaftlichen ‚Konsens‘ 6 und vielfältiger sozialer Spaltungen, die auf Klassen-, ‚Rassen‘- und Geschlechterverhältnissen beruhen und ineinander übergreifen können.“ Es steht aber auch für die Positionierungen und Handlungsweisen von Subjekten, die als mit diesen Verhältnissen und sozialen Spaltungen eng verbunden betrachtet werden. Hall nutzt mit dem Konzept der Artikulation die doppelte Bedeutung, die dieser Begriff im Englischen hat. Zum einen ist damit die sprachliche Fähigkeit des Sichausdrückens, des Formens von Sprache gemeint, zum anderen aber auch das Verkoppeln von Führerhaus und Anhänger bei Lastwagen – und diese Verkoppelung ist eine mögliche, eine wieder auflösbare, aber keine feste, zwanghafte Verbindung: „Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist“ (Hall 2000c, 65; Herv. i. O.). Hall macht mit dieser Definition sowohl auf die Dynamik von Artikulationen als auch auf die Bedingungskontexte aufmerksam. Erst spezifische Bedingungen machen das Auftreten einer Artikulation überhaupt möglich (vgl. ebd. 2004c, 65). Eine Artikulation, die, wie Hall sagt, „nicht ‚ewig‘ ist“, sondern in Prozessen immer wieder aktiv hergestellt werden muss „wird durch die Einspeisung des linguistic turn in die gramscianische Hegemonietheorie […] das Soziale diskursanalytisch zugänglich und Gesellschaftstheorie wird in letzter Instanz zu Diskurstheorie“ (Marchart 2008, 184). Diskurs umfasst ihnen zufolge „nicht-linguistische Praxen genauso […] wie linguistische, inklusive deren Verfestigung in soziale Institutionen, Strukturen und Funktionen“ (ebd.). Hall, der sich laut Marchart gegenüber der „Ausweitung des Diskursbegriffes auf den gesamten Umfang des Sozialen“ zunächst skeptisch zeigte, hat sich diese Sichtweise letztlich dennoch angeeignet (vgl. ebd.). 6

Unter ‚Konsens‘ ist nach Hall weder „eine einzelne, einheitliche Position, der sich die ge samte Gesellschaft verschrieben hat“ (Hall 1989b, 145), noch Zustimmung zu verstehen (vgl. ebd., 136). Vielmehr beschreibt Konsens „den grundsätzlich gemeinsamen Boden – die zugrunde liegenden Werte und Prämissen“ (ebd., 145; Herv. i. O.), welche dominante Deutungen rahmen. Konsens ist ein mehrheitliches Übereinkommen darüber, eine „Angelegenheit in dieser Weise zu deuten“ (ebd., 137; Herv. i. O.) bzw. dies nahezulegen und ist so in der Lage, den Schein von ‚Objektivität‘ zu erwecken (vgl. ebd., 137f.). Er wird diskursiv hergestellt, ist umkämpft und konflikthaft und in seiner Etablierung mit Macht verbunden.

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(ebd.), kann unter „bestimmten Umständen verschwinden oder verändert werden […], was dazu führt, dass die alten Verknüpfungen aufgelöst oder neue Verbindungen – Re-Artikulationen – geschmiedet werden“ (ebd.). Es stellt sich nun die zentrale Frage, wie Artikulationen zustande kommen. Dabei kann auf zwei relevante Aspekte verwiesen werden: zum einen auf die Rolle von Subjekten, zum anderen auf die Funktion der Bedingungen im Prozess der Entstehung von Artikulationen. Für Hall ist das Subjekt immer aktiver Teil von Artikulationen. Es ist artikuliert mit Diskursen. Es ist das reale Individuum, so Grossberg (2000, 135, zit. n. Winter 2009b, 205), das Artikulationen vollzieht und das selbst „Schauplatz fortdauernder Kämpfe um Artikulationen“ ist. Die Entstehung von Artikulationen kann daher Grossberg zufolge nur untersucht werden, wenn das Verhältnis zwischen Subjekten zu ihrer Handlungsfähigkeit untersucht wird (vgl. Winter 2009b, 205). Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies – und hier sieht Winter ein sie alle verbindendes Element – insistieren darauf, dass „Individuen oder Gruppen nie vollständig passiv sind oder manipuliert werden“ (ebd.). Stattdessen werden sie als handelnd, wenn auch nicht autonom und unabhängig von begrenzenden Bedingungen und Verhältnissen vorgestellt: Vielmehr „wird die Subordination aktiv gelebt, wobei an den Praktiken der Macht partizipiert wird“ (ebd.). Artikulations- und Handlungsmöglichkeiten werden von Vertreterinnen und Vertretern der Cultural Studies in Anlehnung an Gramsci als „eingeschränkt durch tendenzielle Kräfte“ (ebd.) wie etwa Kapitalismus, Nationalismus und Rassismus begriffen, in die sie eingebunden sind. Diese „Kräfte“ werden aber eben nicht als deterministisch wirkend vorgestellt, so dass es dennoch die Menschen sind, die Artikulationen in und durch ihre sozialen Praktiken hervorbringen – und verändern. Praktiken können entsprechend auch neu artikuliert werden, „um partikularen Machtstrukturen zu widerstehen, zu opponieren oder zu entkommen“ (ebd.). In Bezug auf Handlungsmöglichkeiten stellt sich so die Frage, wie „ein Raum besetzt werden [kann], allerdings unter Bedingungen, die nicht selbst kontrolliert werden können?“ (ebd.) Eine Antwort auf diese Frage versucht Hall mit der Verknüpfung von Subjekt und Diskurs, welche er mithilfe des Artikulationsansatzes theoretisiert: Er konzipiert die Beziehung zwischen Diskurs und Subjekt als mögliche jedoch keinesfalls determinierte Beziehung. Im Diskurs bereitgestellte Subjektpositionen, in die das Subjekt ‚hineingerufen‘ wird, benötigen ihm zufolge immer auch das aktive Moment des ‚Sich-Identifizierens‘ und des Einnehmens dieser Position durch das Subjekt selbst (vgl. Hall 1996). Damit verwirft das Konzept der Artikulation als Verhältnisbestimmung von Subjekt und Diskurs bzw. Gesellschaft zum einen die Idee eines autonomen, ganzheitlichen, souveränen Subjektes als „the centred author of social practice“ (ebd., 2). Hall geht stattdessen von einem ‚dezentrierten Subjekt‘ aus (vgl. Hall 1994; Supik 2005). Zum anderen überschreitet das Konzept der Artikulation die Subjektkonzeption Foucaults, der Subjekte als Effekte von Diskursen

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und nicht auch als Produzenten von Bedeutung versteht, was Hall und andere kritisieren (vgl. Hall 1996, 10; 1997b, 55).7 Dies u.a. auch deshalb, weil auf diese Weise kaum Möglichkeiten des Erklärens von Handlungsmacht und subversivem Potenzial von Subjekten besteht, auf welche jedoch etwa im Zuge biografischer Forschungen immer wieder verwiesen wird (vgl. Spies 2010, 110). Hall – und auch Grossberg im Namen der Cultural Studies insgesamt – distanziert sich daher deutlich von Theorien der Interpellation, die Subjektanrufung und Subjekt-Sein in einen kausalen Zusammenhang bringen und dem Subjekt jegliche Möglichkeit absprechen, sich an der Einnahme einer diskursiv zugewiesenen Position auch affirmativ oder widerständig zu beteiligen (vgl. Hall 1996; Winter 2009b, 205). Auf eine solche Weise, so Grossberg (zit. n. Winter 2009b, 205), würde die Handlungsfähigkeit von Menschen ungenügend berücksichtigt und würden sich die Strukturen der Geschichte fortwährend selbst reproduzieren. Ähnlich kritisiert Hall an Foucaults Diskurstheorie, dass sein Konzept zwar erhellend in Bezug auf die Konstruktion von Subjektpositionen im Diskurs ist, es jedoch kaum zu erklären vermag, warum bestimmte Individuen bestimmte Subjektpositionen eher als andere einnehmen. Außerdem würden die Wechselwirkungen von sozialen Positionen und der Konstruktion diskursiver Subjektpositionen nicht analysiert werden (vgl. Hall 1996, 10). In Foucaults Theorie, so kritisiert Hall, „[d]iscoursive subject positions become a priori categories which individuals seem to occupy in an unproblematic fashion“ (ebd.). Hingegen, so Hall (1996, 11), schenkt Foucault dem, „what might in any way interrupt, prevent or disturb the smooth insertion of individuals into the subject positions constructed by these discourses“ zunächst keinerlei Aufmerksamkeit. Auch zu der Frage nach psychischen Mechanismen oder inneren Prozessen, die solche Anrufungen generieren, zu Widerstand ihnen gegenüber oder zu Aushandlungen, bietet Foucault Hall zufolge kaum Ansätze (vgl. ebd., 12). Erst in den späten, leider unvollendeten Schriften, so Hall, wird offenbar, „[t]hat this became obvious to Foucault“ (Hall 1996, 12) und er widmete sich Fragestellungen, die das Subjekt zurück in seine Theorie brachten. Dennoch, so Hall weiter: „There is certainly no single switch to ‚agency‘, to intention and volition“ (ebd., 13), jedoch gestehe Foucault dem Subjekt ein gewisses Maß an reflexivem Bewusstsein in Bezug auf das eigene Verhalten zu (vgl. Hall 1997b, 55). Vor dem Hintergrund seiner Kritik an Foucault ist es Halls Anliegen, jene Lücke zu theoretisieren, die Foucault vernachlässigt habe und zu erklären, welche Mechanismen dazu führen, dass Individuen sich als Subjekte mit spezifischen diskursiven Subjektpositionen, in die sie gerufen werden, die ihnen nahegelegt werden, identifizieren. Darüber hinaus wird auch das Wie in den Blick genommen. Hier geht es um die Frage, 7

So wie bei Saussure die ‚Sprache uns spricht‘, so konstatiert Hall, so ist es bei Foucault der Diskurs, der Wissen hervorbringt, nicht die Subjekte, die ihn Sprechen (vgl. Hall 1997b, 55).

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wie Menschen diese Positionen einnehmen, ausfüllen, ihnen widerstehen und mit ihnen kämpfen (vgl. ebd. 1996, 13f.). Was offenbleibt, so fasst Hall zusammen, is „the requirement to think this relation of subject to discursive formations as an articulation“ (ebd., 14; Herv. i. O.). Bei aller Kritik geht jedoch auch Hall davon aus, dass die möglichen Beziehungen zwischen Diskurs und Subjekt, die diskursiv konstituierten Positionierungen, die einzunehmen möglich sind, nicht als beliebig und der Identifizierungsprozess durch die Subjekte nicht als immer bewusst und autonom gewählt vorzustellen sind. Allerdings sind sie auch keinesfalls als vollkommen äußerlich, wie er es bei Fou cault kritisiert, zu betrachten. Das Individuum wird in den Cultural Studies vielmehr als „kulturell vermitteltes und gesellschaftlich situiertes verstanden, das freilich durch seine Formung unter dem Einfluss unterschiedlicher gesellschaftlicher Agenturen gebrochen und widersprüchlich ist, und dessen Handeln und Interpretieren vor allem diskurs- und perspektivenabhängig ist“ (Krotz 2008, 132). Mit dem Modell der Artikulation betont Hall eben diese widersprüchlichen und komplexen Verbindungen und Involviertheiten, die Individuum und Diskurs je spezifisch verknüpfen (können). Er betont dabei sowohl die Veränderbarkeit von Artikulationen und diskursiv angebotenen Subjektpositionen als auch die Handlungsfähigkeit von Subjekten, indem er deutlich macht, dass Subjekte stets vielfältige Positionen in unterschiedlichen Kontexten einnehmen und diese in ihrer Ausgestaltung und subjektiven Bedeutung veränderbar und flexibel sind (vgl. Hall 1994c). Diese „öffentliche und soziale Stellung, die jeder Einzelne durch Diskurse einnimmt“ (Hall ebd., 147), die Beziehung zwischen Subjekt und diskursiven Praktiken bezeichnet Hall als Identität (vgl. ebd. 1996). 8 Identität ist ihm zufolge das temporäre Resultat des wirkungsvollen ‚Vernähens‘ von Subjekt und durch diskursive Praktiken hervorgebrachte Subjektpositionen (vgl. ebd., 5f). In diesem Prozess kommt es zur Konstruktion von sozialen bzw. kulturellen Identitäten, d.h. zur Subjektkonstitution (vgl. ebd.). Soziale Identität geht für Hall ausschließlich aus Diskursen hervor, wird diskursiv konstruiert und repräsentiert (vgl. ebd., 4f.; Marchart 2008, 179), jedoch ohne diese Verbindung als einseitig determinierend und festlegend zu denken. Identität wird vielmehr erst vor dem Hintergrund diskursiver For mationen überhaupt möglich: „In jenem Moment, in dem man einen Diskurs spricht, nimmt man die von der diskursiven Formation, in die man eintritt, zugewiesene Subjektposition ein; d.h. man übernimmt eine bestimmte soziale Identität“ (ebd., 180). Hall betont jedoch auch, dass jede Position, die Individuen einnehmen, um von hier aus zu handeln, nicht nur mit diskursiven, sondern auch mit emotiona8

Dabei bildet bei Hall der Begriff Identität gemeinsam mit anderen Begriffen wie Indivi duum, Subjekt und Subjektivität ein Begriffsfeld (vgl. ebd. 1999b, 147). Die Begriffe Subjekt und Individuum benutzt er durchaus synonym, wohingegen er Subjektpositionen deutlich von diesen unterscheidet (vgl. Spies 2010, 114).

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len und psychischen Aspekten verbunden ist (vgl. Hall 1999b, 147), weshalb er bei der Einnahme einer solchen Position durch ein Subjekt auch von Identifikation spricht (vgl. ebd. 1996, 2f, 6.). Identifikation begreift Hall als „constructed on the back of a recognition of some common origin or shared characteristics with another person or group, or with an ideal“ and „a process never completed“ (ebd., 2). Durch eine emotionale, psychische Verbindung zwischen Diskurs und Subjekt wird ein bestimmter Diskurs, so Hall, für Individuen möglich (vgl. ebd. 1999b, 147), „denn wenn man sich nicht mit der Position, die man vertritt, identifiziert, nimmt man sie nicht wirklich ein“ (ebd.). Grundlegend ist in diesem Konzept der Verbindung von Diskurs und Subjekt also der Gedanke der Aktivität bei der Einnahme von im Diskurs bereitgestellten Positionen, mit denen Subjekte sich zur Einnahme immer auch ‚identifizieren‘ müssen (vgl. ebd.). Das Subjekt wird nicht nur in Diskurspositionen ‚gerufen‘, sondern ist immer auch aufgefordert, in diese Positionen zu investieren (vgl. ebd. 1996, 6). Daher ist Subjektivität Hall zufolge immer Teil von Identität, denn die aktive Einnahme einer Position setzt immer ein Subjekt voraus. Die den Subjekten zugewiesenen bzw. nahegelegten Positionen sind jedoch zum einen – zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher, sich überlagernder Gesellschaft strukturierender Differenzverhältnisse bzw. „ideologischer Systeme sozialer Differenz“ (Winter 2009, 205) – als komplex und widersprüchlich zu denken. Zum anderen bieten nicht alle Diskurse für alle Menschen die gleichen Möglichkeiten der Positionierung. Identifikation, Identität, das ‚Vernähen‘ (vgl. Hall 1996, 5) von Subjekt und Diskurs ist also ein vielschichtiger Prozess der Artikulation und ebenfalls ‚a signifying practice‘. „It obeys the logic of more-than-one. And […] operates across difference, it entails discursive work, the binding and marking of symbolic boundaries, the production of ‚frontier-effects‘. It requires what is left outside, its constitutive outside, to consolidate the process“ (ebd., 3). Identität ist Hall zufolge demnach positionierend, insbesondere auch immer im abgrenzenden Verhältnis zum ‚Anderen‘. Sie ist vielfältig und dynamisch, obwohl Identitäten nicht ‚beliebig‘, frei verfügbar oder immer bewusst gewählt sind. Identität ist als „Summe unterschiedlichen Positionalitäten“ (Hall 1999b, 148) ein (historisch entstandenes und vorläufiges) Produkt eines dynamischen Verhältnisses zwischen Subjekt und Diskurs, das immer auch mit Macht verbunden ist. Hall beschreibt Identität als „point of suture between on the one hand, the discourses and practices which attempt to ‚interpellate‘, speak to us or hail us into place as the social subjects of particular discourses, and on the other hand, the processes which produce subjectivities, which construct us as subjects which can be ‚spoken‘. Identities are thus points of temporary attachment to the subject positions which discursive practices construct for us“ ( Hall 1996, 5f.; Herv. i. O.). Identität kann entsprechend auch als instabiles Produkt diskursiver Aushandlungsprozesse gesellschaftlicher Bedeutung verstanden werden (vgl. Marchart 2008, 180).

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Nun stellt sich auch hier zum einen die Frage nach den Bedingungen, die zur Produktion spezifischer Subjektpositionierungsmöglichkeiten im Diskurs führen, zum anderen nach den Bedingungen und Begründungen, die das Subjekt zur Einnahme dieser veranlassen. Mit der „Theorie der Artikulation“ ließe sich in diesem Zusammenhang auch fragen, so Hall (2000c, 65), ,,wie eine Ideologie ihre Subjekte entdeckt und nicht wie das Subjekt die notwendigen und unvermeidlichen Gedanken denkt, die zu ihm gehören. Sie ermöglicht es uns zu denken, wie die Ideologie Menschen handlungsfähig macht und es ihnen ermöglicht, auf einsichtsvolle Weise ihre historische Situation zu begreifen, ohne diese Formen der Einsicht auf ihre sozioökonomische, Klassen- oder soziale Position zu reduzieren.“ Es stellt sich in diesem Zusammenhang – unter Berücksichtigung der Handlungsfähigkeit von Subjekten – zudem die Frage, wie Subjekte die vom Diskurs bereitgestellten Positionen einnehmen, auf welche Weise sie sie füllen und gestalten und welche Bedeutung sie für sie haben. Ob und in welcher Weise es an dieser Stelle zu Reproduktionen kommt oder aber zu Bedeutungsverschiebungen und Neubesetzungen, zur Auflösung oder Neu-Herstellung von Artikulationen, ist eine weitere Frage. Diese gilt es unter Berücksichtigung der verschiedenen Machtbeziehungen zu stellen, in welche das Handeln von Subjekten eingebunden ist. Denn die Möglichkeiten, hier widerständig, verändernd und verschiebend handeln zu können, lassen sich nicht aus der Positionierung von Subjekten im System sozialer Differenz ablesen, sondern sind immer je konkret zu kontextualisieren (vgl. Grossberg 1992, 123). Demzufolge kann es auch keine allgemeingültige Theorie der Handlungsfähigkeit geben, sondern „agency can only be described in its contextual enactments. Agency is never transcendent; it always exists in the differential and competing relations among the historical forces at play“ (ebd.). Bedeutung für die empirische Analyse Die hier vorgestellten Theoretisierungen betonen insbesondere Macht bzw. Machtverhältnisse als konstitutiven Teil von diskursiv hervorgebrachten sozialen Bedeutungen bzw. von Wissen. Sie formen als Macht-Wissen-Komplexe einen wirkungsvollen Rahmen, auf den Bezug nehmend Subjekte sich verorten, deuten und agieren. Hier ist die analytische Frage, wie Wissen, wie ‚Regime der Repräsentation‘, wie Wahrheitsregime sich in spezifischen Kontexten als konkrete Praktiken manifestieren, relevant. Die analytische Aufmerksamkeit Halls gilt darüber hinaus jedoch insbesondere der Eingebundenheit der Subjekte in diese Verhältnisse, den machtdurchdrungenen Artikulationen zwischen Diskurs und Subjekt 9: Ihm geht es primär um die Verbindungen zwischen diskursiv vermittelten Bedeutungsangeboten 9

Dass das Konzept der Artikulation nach Hall eine fruchtbare Forschungsperspektive darstellt, kann Tina Spies in ihrer Studie zu ‚Migration und Männlichkeit‘ (2010) zeigen, in der sie das Zusammenspiel zwischen Diskurs, Subjekt und Biographie untersucht.

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– die von Hall als zu analysierender Ausdruck von Gesellschaft und gesellschaftlichen Verhältnissen konzeptionalisiert werden – und den auf diese Bezug nehmenden Individuen. Artikulationen – das können etwa Bedeutungen, Erfahrungen oder Gefühle und Interessen sein – mit Elementen sozialer Wirklichkeit werden für Subjekte kontextspezifisch und temporär relevant. Das heißt, dass die Frage, wie Subjekte in diese Verhältnisse eingebunden sind, in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt: Welche Subjektpositionen nehmen Subjekte wann und in welcher Form ein? Wann nehmen Subjekte wie und auf welche Bedeutungskonstruktionen und Wissensbestände in ihrem Fühlen, Erfahren, Deuten und Handeln Bezug? Inwiefern bringen Subjekte Artikulationen in Verhältnissen von Macht interpretierend und handelnd selbst hervor, verschieben sie Bedeutungen oder deuten sie um? In dem Wie der Bezugnahme auf Bedeutungskonstellationen und in dem Wie der Einnahme von Subjektpositionen durch Individuen konkretisiert sich in Halls Konzept nicht nur der Einfluss von Diskursen und sozialen Bedeutungskonstruktionen auf die Subjekte, sondern auch ihre (widerständige) Handlungsfähigkeit. Sie gehen mit diesen um und re-interpretieren, verschieben oder reproduzieren und bestätigen soziale Bedeutungskonstruktionen. Subjekte werden damit als handlungsfähige, nicht aber als autonome Subjekte gedacht. Es geht hier also auch um das Ausleuchten von Handlungsfähigkeiten im Rahmen machtvoller Bedeutungskonstruktionen und diskursiver Formationen. Relevant ist damit bei all diesen Fragen immer auch die Frage nach den Bedingungen, unter denen bestimmte Artikulationen und (widerständige) Handlungsweisen möglich werden; und damit die Frage nach den Gesellschaft strukturierenden Verhältnissen sozialer Differenz und den Macht-WissenBeziehungen, die die Prozesse der Artikulation machtvoll rahmen sowie auf das (Er-)Leben und die Handlungsmöglichkeiten von Menschen Einfluss nehmen. Sowohl Rassismuserfahrungen als auch individuelle Handlungsweisen in Bezug auf Rassismuserfahrungen sind demnach als flexible, dynamische und machtdurchdrungene Artikulationen von Subjekten mit dem Diskurs zu verstehen. Rassismuserfahrungen generieren sich aus der Konfrontation mit sozialen Praktiken, in denen sich Bedeutungskonstruktionen manifestieren, die ein rassistisches Wissen transportieren. Die subjektiven Erfahrungen sind dabei durch diskursive Bedeutungskonstruktionen strukturiert und von Subjekten unter Rückgriff auf diskursive Bedeutungskonstruktionen gedeutet und ausgelegt. Im Anschluss an diese Überlegungen gilt es, in der analytischen Auseinandersetzung mit dem empirischen Material folgende Fragen zu stellen: •

In welcher Form und in welchen sozialen Praktiken manifestieren sich soziale Wissensbestände, die an rassistische Bedeutungskonstruktionen der Unterscheidung, Ausgrenzung und Benachteiligung anschließen, als Teil machtvoller dis-

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kursiver Formationen und Wahrheitsregime in den untersuchten Lebenswelten der Jugendlichen? Wann und in welchen Kontexten werden diese Formen/Praktiken sich manifestierender sozialer Bedeutungskonstruktionen für die Jugendlichen als Rassismuserfahrungen relevant und warum? Wie werden diese dann für die Jugendlichen relevant? Wie deuten die Jugendlichen die Manifestationen, die – direkt oder indirekt – auf ein rassistisches Erklärungs- und Wissenssystem verweisen? Was bedeutet dies für die Jugendlichen? Welche Gefühle gehen damit einher? Auf welche Elemente sozialer Wirklichkeit und Bedeutungskonstruktionen nehmen Jugendliche in ihren Deutungen von Rassismuserfahrungen sowie in ihren Handlungsentscheidungen und Umgangsweisen Bezug? Wie und warum? Welche Artikulationen stellen sie dabei her? Sind widerständige, umdeutende, verschiebende, reartikulierende Handlungsweisen auszumachen? Welche Bedingungen sind in spezifischen Kontexten auszumachen, die bestimmte Artikulationen und Handlungsweisen ermöglichen und/oder nahelegen und andere verhindern und/oder erschweren?

2.2 Forschungsmethodologische Implikationen „Als eine Forschungspraxis“, so Grossberg, „führen Cultural Studies uns dazu, darüber nachzudenken, woher unsere Forschungsfragen kommen […]. Cultural Studies sind ein Versuch die grundlegende Frage zu beantworten: ‚Was geht vor sich?‘“ (Grossberg 2008, 24). Vor dem Hintergrund der dargelegten Theoreme wird deutlich, dass Cultural Studies sich auch als Forschungsperspektive in dynamischen und widersprüchlichen sowie machtvollen und produktiven, die Forschenden selbst involvierenden Verhältnissen bewegen. Die Produktion akademischen Wissens mittels Forschung, die „die Beziehung zwischen Diskursen, Alltagsleben und den Maschinerien der Macht“ (ebd., 26) zu rekonstruieren sucht, wird im Sinne des ‚politischen Theorieprojektes‘ Cultural Studies als intervenierender Beitrag zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden. Forschen in dieser Perspektive und vor dem Hintergrund der aufgezeigten Ambivalenzen und Dynamiken verlangt methodologisch zum einen nach radikaler Kontextualität, zum anderen nach Reflexivität. Radikale Kontextualität „Articulation is the production of identity on top of difference, of unities out of fragment, of structures across practices. Articulation links this practice to that effect, this text to that meaning, this meaning to that reality, this experience to those politics. And these links are themselves articulated into larger structures, etc.“ (Grossberg 1992, 54). Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen Dynamiken und Ein-

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gebundenheiten sozialer Phänomene macht Grossberg als zentrales Kriterium der Cultural Studies die Forderung nach radikaler Kontextualität von Analysen und die Inblicknahme „des je besonderen Verhältnisses zwischen Kontext, Wissen und Macht“ aus (ebd. 1999, 56). Das bedeutet für die Analyse von Rassismuserfahrungen und Umgangsweisen mit Rassismus, dass es unerlässlich ist, den je spezifischen Kontext, in dem die Erfahrung und das Handeln stattfindet, das jeweilige Macht- und Beziehungsnetzwerk, das diese rahmt, zu (re-)konstruieren. Mit ‚Kontextualität‘ ist in den Cultural Studies nicht nur ein ‚Rahmen‘ gemeint, innerhalb dessen Handlungen, Phänomene, Ereignisse stattfinden und die von ihm beeinflusst werden. Unter Kontexten wird in den Cultural Studies vielmehr die jeweils spezifische Formation ineinandergreifender Macht- und Kräfteverhältnisse verstanden, in die die konkreten Praktiken eingebettet sind und innerhalb derer diese ihre Effektivität erst entfalten können (vgl. Marchart 2008, 39). Der Kontext sozialer Phänomene ist damit „nicht nur ein bloßer Hintergrund, sondern die Bedingung dafür, daß etwas möglich wird. […] Er ist genau das, was man zu analysieren versucht, und stellt die am Schwierigsten zu konstruierende Sache dar“ (Grossberg 1999, 59). Kontexte, in die Rassismuserfahrungen und Handlungsweisen je spezifisch eingebettet sind, mit deren Elementen sie artikuliert sind und die die Bedin gungen bereitstellen, die diese erst in spezifischer Weise ermöglichen und wirkungsvoll werden lassen, sind also nicht einfach gegeben, sondern müssen und sollen in dieser Arbeit in der Auseinandersetzung mit den empirischen Daten rekonstruiert werden. Der Rekonstruktion der Möglichkeitsbedingungen, jener Kräfteverhältnisse und Machtzustände (vgl. Foucault 2008/1983, 1098), die zum einen Rassismus und Rassismuserfahrungen im Alltag der Jugendlichen erst ermöglichen und in spezifischer Weise effektvoll werden lassen und zum anderen Umgangs- und Handlungsweisen in solchen Situationen erlauben und nahelegen, während sie andere erschweren, gilt in der vorliegenden Arbeit ein zentrales Interesse; ebenso wie dem Beitrag, den Umgangs- und Handlungsweisen wiederum zur (Re-)Konstruktion des (ermöglichenden und behindernden) Kontextes leisten. Im Prozess der Kontext(re)konstruktion bedingen Theorie und Kontext sich gegenseitig, so Winter (vgl. 1999, 182; 2005, 208), und Grossberg konstatiert, dass die „zur Debatte stehenden politischen Fragen“ (Grossberg 1999, 59) – hier also eine rassismuskritische Perspektive – ebenfalls zentrale Bezugspunkte bei der Kontextkonstruktion darstellen. Diese Perspektiven fungieren somit als spezifische Ressourcen, derer Forschende sich in der Auseinandersetzung mit sozialen Phänomenen, mit dem empirischen Material zum Zwecke ihres Verstehens bedienen. Wissensproduktion ist entsprechend auch in diesem Sinne durch bestimmte Perspektiven bestimmt und damit kontextspezifisch. Die Einnahme spezifischer Perspektiven bzw. das Stellen von spezifischen (politischen) Fragen als Teil der Kontextkonstruktion einer Forschung bietet so auch die Möglichkeit, und dies ist ein Ziel der Cultu-

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ral Studies, zu einer Veränderung der Kontexte beizutragen (vgl. Winter 1999, 182): Zum einen, indem – wie bereits oben angemerkt – mittels der Bereitstellung von Wissen Menschen sowohl zu einem besseren Verstehen von Phänomenen und Prozessen verholfen wird als auch Handlungs- und Widerstandsmöglichkeiten in Verhältnissen von Ungleichheit aufgezeigt werden. Zum anderen, indem in den ‚Kampf um Bedeutungen‘ (vgl. Hall 2004b) eingegriffen wird. Dies kann beispielsweise bedeuten, gelernte und als selbstverständlich akzeptierte Deutungsmuster und Artikulationen hinsichtlich ihrer Machtförmigkeit und der mit ihnen einhergehenden Funktionalitäten zu untersuchen und zu hinterfragen – etwa, indem Rassismus aus der Perspektive jener Jugendlicher betrachtet wird, für die seine lebensweltlichen Manifestationen von alltäglicher Relevanz sind, und Bedeutungen und Artikulationen von hier aus rekonstruiert werden. Auf diese Weise wird es möglich, die Formationen von Macht in der Gesellschaft und in sozialen Beziehungen in spezifischer Perspektive zu analysieren und zu beschreiben und damit zugleich neue Verbindungen und Beziehungen, neue Perspektiven herzustellen und somit neue Bedeutungen hervorzubringen bzw. ‚gängige‘ Bedeutungen und Interpretationsmuster zu verschieben, quasi eine Re-Artikulation von Bedeutungen: „Wenn man einen Kontext als die Beziehungen, die durch das Wirksamwerden von Macht im Interesse bestimmter Machtpositionen entstanden sind, begreift, dann beinhaltet die Auseinandersetzung zur Veränderung des Kontextes auch das Bemühen, diese Beziehungen zu verstehen, jene Beziehungen, deren Artikulation gelöst werden kann, aufzuspüren und sich dann zu bemühen, sie neu herzustellen“ (Grossberg 1999, 68). Reflexivität Von den vielfältigen Konsequenzen des Prinzips der radikalen Kontextualität (vgl. Grossberg 1999, 59-68) betroffen ist auch das methodische Vorgehen der Cultural Studies.10 So ergibt sich aus der Forderung nach radikaler Kontextualität und dem Anspruch, das je spezifische Verhältnis von Wissen und Macht zu untersuchen, eine für dieses Vorhaben notwendige Praxis der Selbstreflexivität. Die Überzeugung, dass „der oder die Forschende auch gleichzeitig Teilnehmer/in an den Praktiken, Allianzen und Kontexten ist, die er/sie analysiert“ (ebd., 77), macht Selbstreflexivität notwendig. Nach Grossberg ist Bezugspunkt der Selbstreflexivität der Forschenden jedoch weniger die eigene Identität, „sondern eine der Reflexion der eigenen Beziehungen zu den verschiedenen Linien und Dimensionen, Orten und Räumen, zum Kontext, den man erforscht und darlegt und zwar theoretisch, politisch, kulturell 10 Dieses wird auch als „Bricolage“ (Winter 2005, 205), als Bastelei, bezeichnet: „Für ein besonderes Forschungsprojekt werden aus verschiedenen Feldern Theorien und Methoden nach pragmatischen und strategischen Gesichtspunkten ausgewählt, kombiniert und angewendet, werden auch, aufbauend auf dem Verfügbaren, neue Theorien und Methoden ‚gebastelt‘ oder entwickelt“ (ebd.).

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und institutionell“ (ebd.). Damit stehen im Vordergrund der Reflexivität Aspekte der Selbstpositionierung, ein Nachdenken über den Ort (sowohl des/der Forschenden als auch des Forschungsvorhabens) und die Benennung der Begrenzungen der vorgenommenen Analyse und nicht so sehr ‚psychologische‘ Aspekte der Reflexivität: „Worum es hier geht, ist weniger eine Frage der persönlichen Ethik, des psychologischen Zustandes oder einer Auflistung von Subjektpositionen, sondern eine Form der diskursiven Praxis und eine Analyse institutioneller Bedingungen“ (ebd.). Reflexivität in diesem Sinne ist also nicht mit einer Benennung der subjektiven Positionierung ‚erledigt‘. Ich verstehe Selbstreflexivität im Anschluss an die dargelegten Annahmen als eine kontinuierliche, reflexiv-fragende Praxis nach den potenziellen Wirkungsweisen der verschiedenen Momente des ‚Ortes‘, von dem aus geforscht wird, im For schungsprozess. Denn diese Wirkungsweisen stehen der Logik der Cultural Studies zufolge nicht bereits im Vorhinein fest. Vielmehr gilt es, potenziell Einfluss nehmende Aspekte und Wirkungsweisen wiederum kontextuell, vor allem in der Auseinandersetzung mit den Daten, beständig zu rekonstruieren. Eine bloße ‚Selbstbeschreibung‘ der oder des Forschenden im Sinne einer ‚Aufzählung‘ der eigenen sozialen Positionierungen kann in diesem Sinne noch kein Kriterium für eine Studie mit selbstreflexivem Anspruch sein – legte dies doch eine zuvor feststehende ‚Vollständigkeit‘ möglicher Einflussfaktoren sowie ihrer Wirkungsweisen nahe, bzw. überließe sie es den Rezipientinnen und Rezipienten einer Untersuchung, sich die Frage nach den möglichen Effekten der von Forschenden benannten eigenen sozialen Positionierung zu stellen. Darüber hinaus, so betont Beverly Skeggs in der Reflexion ihres Forschungsprozesses (vgl. Skeggs 1997), ist es nicht nur in Bezug auf ‚Beforschte‘, sondern im Hinblick auf Forschende unangemessen, diese auf ihre sozialen Positionierungen zu reduzieren. Sie betont die (graduelle) Flexibilität und die Vielschichtigkeit sozialer Positionierungen und wendet sich von der Idee eines deutlich zu fixierenden Standpunktes, von dem aus sie sprechen würde, ab. Gleichwohl bestreitet sie nicht, dass ihre sozialen Positionierungen ihre Fragen und ihr Verstehen im Forschungsprozess beeinflussen: „It was traces from all of these [shifting and stable locations, W.S.] that informed my interpretative frameworks which themselves shifted through the interactions with the women“ (Skeggs 1997, 34). Vereinbar mit den Prämissen qualitativer Forschung und aufbauend auf den Prämissen des symbolischen Interaktionismus, erweitern und konkretisieren die hier vorgestellten Perspektiven der Cultural Studies diese vor allem in dem zentralen Aspekt von Macht bzw. Macht-Wissen-Komplexen als stetem Bestandteil dynamischer und vielfältiger Artikulationen von sozialen Phänomenen sowie der damit einhergehenden methodologischen Forderung nach radikaler Kontextualität.

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Cultural Studies beginnen ihre Studien, so Grossberg, „immer mit der Zuwendung zu Diskursen“ (2008, 26) und begreifen sich als „kontextspezifische Theorie und Analyse, die sich damit beschäftigen, wie Kontexte als Strukturen von Macht und Herrschaft hergestellt, aufgelöst und neu gestaltet werden“ (ebd.). Subjekte werden als mit Diskursen bzw. den in diesen bereitgestellten Macht-Wissen-Komplexen und ihren Manifestationen in vielfältiger Weise artikuliert vorgestellt, die unter Rückgriff auf diese soziale Phänomene bedeutungsschaffend interpretieren und agieren sowie mit (widerständiger) Handlungsfähigkeit ausgestattet sind und nicht als bloße Effekte von Diskursen konzeptualisiert werden. Dennoch, so kritisiert Friedrich Krotz, bleiben die Cultural Studies mit ihrer Konzeption von Subjekt und Gesellschaft/Diskurs einer Vorstellung verhaftet, die zu einem „kulturellen Determinismus“ tendiert, da sie alle „kommunikativen Aktivitäten der Individuen recht rigide auf die kulturelle Wirklichkeit eines strukturierten gesellschaftlichen Lebens“ beziehen (Krotz 2008, 132). Das Subjekt und seine Handlungsfähigkeit bleibt Krotz zufolge auf diese Weise in gewisser Hinsicht eindimensional und unterbelichtet. Über eine Vorstellung davon, inwieweit konkretes, situatives subjektives Handeln „zwar als gesellschaftlich präformiertes und entscheidend bestimmtes Geschehen, aber zugleich doch auch als individuelles kreatives Handeln verläuft […], verfügen die Cultural Studies nicht“ (ebd.). Diese ‚andere Seite‘ menschlichen Handelns, das Besondere und Kreative, das Individuelle, das etwa auf der Basis von je spezifischer Biografiekonstruktionen stattfindet, wird in den Theorien der Cultural Studies nicht explizit berücksichtigt und gerät so lediglich als Randbedingung in den Blick (vgl. ebd.). Auch Brigitte Hipfl und Matthias Marschik bescheinigen den gegenwärtigen Cultural Studies „eine Schwachstelle oder sogar einen blinden Fleck“ bezüglich der Berücksichtigung „alltäglicher Denk- und Verhaltensweisen“ von Individuen sowie ihrem Erleben. Der „subjektive Faktor“, die subjektiv erlebten Erfahrungen seien „weitgehend verschwunden“ (Hipfl/Marschik 2009, 316). Diesem vernachlässigtem ‚subjektivem Faktor‘, also den subjektiven Bedeutungen von Erfahrungen und individuellen Handlungsweisen, möchte ich mich im Folgenden widmen, indem ich die obigen Überlegungen durch die theoretisch-methodologische Perspektive, wie sie in der Kritischen Psychologie erarbeitet wurde, ergänze. Obwohl beide Ansätze unterschiedliche epistemische Programme verfolgen, erscheint mir der Ansatz der Kritischen Psychologie ein im Hinblick auf meine Forschung notwendiges Korrektiv und weiterführender Zugang zu meinem Forschungsgegenstand zu sein.

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3 K RITISCHE P SYCHOLOGIE Auch in den subjektwissenschaftlichen Forschungsprämissen der Kritischen Psychologie nach Klaus Holzkamp spielen soziale Bedeutungen eine zentrale Rolle. Ähnlich wie Hall Bedeutungen als relevant werdende Beziehungen, als Artikulationen begreift, die u.a. Subjekte und Diskurse miteinander verbinden, kommt Bedeutungen in den subjektwissenschaftlichen Überlegungen die Funktion einer Verbindung zu: Als Beziehungen zwischen Subjekten und gesellschaftlichen Verhältnissen repräsentieren sie subjektiv relevant werdende soziale bzw. gesellschaftliche Bedeutungssysteme. Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Psychologie gehen davon aus, dass gesellschaftliche Bedingungen Subjekten in ihrer Komplexität nicht direkt zugänglich sind, sondern sich ihnen vermittelt über soziale Bedeutungen bzw. gesellschaftliche Bedeutungssysteme in Ausschnitten präsentieren. In diesen sozialen Bedeutungssystemen und ihrer Rezeption finden Individuen (begrenzende und ermöglichende) Prämissen für ihr Handeln. Wo Hall nach den Bedingungen für das Zustandekommen von spezifischen Artikulationen fragt, fragen Forschende, die einen subjektwissenschaftlichen Ansatz nach der Kritischen Psychologie vertreten, nach Bedingungen, insbesondere in Form von gesellschaftlichen Verhältnissen aber auch nach biografischen Elementen, auf die subjektiv relevant werdende soziale Bedeutungen – etwa in Form von Handlungsprämissen – verweisen. Hauptanliegen von Analysen im Rahmen kritisch-psychologischer Subjektforschung ist es, die Vermittlung zwischen Gesellschaftsstruktur und Individuum herauszuarbeiten (vgl. Markard 2000, 14) bzw. gesamtgesellschaftlich vermitteltes Handeln zu untersuchen. Für mich sind im Rahmen der vorliegenden Untersuchung Aspekte eines kritisch-psychologischen Analyserahmens vor allem hinsichtlich des Zusammendenkens von Individuum und Gesellschaft als in einem komplexen wechselseitigen, nicht deterministischen Verhältnis zueinanderstehend sowie der damit einhergehenden Perspektive auf Individuen als handlungsfähige Subjekte bzw. insbesondere der Konzeption von subjektiver Handlungsfähigkeit von Interesse. Als Ausgangspunkt zur Analyse dieses Verhältnisses wählt die kritisch-psychologische Subjektwissenschaft das handlungsfähige Subjekt. Sie formuliert den Anspruch, eine Wissenschaft vom Standpunkt des Subjektes aus zu betreiben, um subjektiv relevant werdende soziale Bedeutungen in ihrer Vermittlungsfunktion und ihren Verweisungen auf gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Damit legt der subjektwissenschaftliche Forschungsansatz auch konkrete Anhaltspunkte für einen methodologischen Zugang vor, die mir im Hinblick auf mein Forschungsdesign relevant und weiterführend erscheinen und die infolgedessen eine zentrale Rolle einnehmen. Überlegungen zum Subjekt, das in gesellschaftlichen Bedingungen handelt, nehmen in der Kritischen Psychologie einen zentralen Stellenwert ein

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und können die Perspektiven der Cultural Studies auf das handlungsfähige Subjekt gewinnbringend ergänzen. Im Folgenden werde ich mich insbesondere auf die mir in Bezug auf meine Untersuchung zentral und gewinnbringend erscheinenden Aspekte dieser Forschungsperspektive konzentrieren. 3.1 Theoretisch-analytische Verhältnisbestimmungen Gesellschaftliche Verhältnisse stellen im Sinne der Kritischen Psychologie keine determinierenden Bedingungen für das Handeln und Leben von Menschen dar. „Weltgegebenheiten“ erscheinen Menschen „nicht einfach als ‚Bedingungen‘, die irgendwelche ‚Ereignisse‘ nach sich ziehen“ (Holzkamp 1997b, 261). Vielmehr sind sie „als ‚Bedeutungen‘ zu fassen, die für Menschen Handlungsmöglichkeiten [und -begrenzungen, W.S.] repräsentieren, zu denen sie sich verhalten können und müssen“ (Markard 2000, 8; vgl. ebd. 2010b, 170). „In der Art und Weise und soweit ein Individuum Bedingungen und deren Bedeutungen für sich als Handlungsmöglichkeiten bzw. -behinderungen wahrnimmt und für sich akzentuiert, macht es sie für sich zu seinen ‚Prämissen‘“ (Markard 2010, 170). Damit sind Prämissen die je spezifischen Bedeutungen, die für das Subjekt handlungsrelevant werden und also individuell bestimmte Aspekte von Realität, aufgrund derer Subjekte ihr Handeln in einer bestimmten Situation als ‚vernünftig‘, ‚sinnvoll‘ oder ‚im eigenen Interesse liegend‘ begründen (vgl. Holzkamp 1997b, 261; Markard 2010, 170). Gesellschaftliche bzw. soziale Bedeutungen, die in konkreten Situationen und Kontexten für Subjekte in spezifischer Weise relevant werden, werden immer auch als in übergreifende gesellschaftliche Strukturen eingebunden vorgestellt (vgl. Markard 2010, 170). Andersherum ließe sich auch formulieren, dass die gesellschaftlichen Bedingungen für Individuen in Form von Handlungsmöglichkeiten bzw. -einschränkungen bedeutsam werden. Mit der Betonung der Eingebundenheit konkreter, lebensweltlicher Situationen in gesellschaftliche und also Macht- und Dominanzverhältnisse, ihrer Verknüpfung mit ‚objektiven‘ gesellschaftlichen Strukturen – Holzkamp spricht hier von „konkret historischen Lebensbedingungen als lage- und positionsspezifische […] Ausschnitte der gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen“ (Holzkamp 1990a, 4; Herv. i. O.) – und ihrer Relevanz für die sich dem Subjekt präsentierenden, relevant werdenden sozialen Bedeutungen als Grundlage seiner Handlungsprämissen, stellt der Ansatz der Kritischen Psychologie Markard zufolge eine notwendige Erweiterung von Auffassungen in der Tradition des symbolischen Interaktionismus dar, in dessen Annahme, es bräuchte nur die Berücksichtigung der spezifischen Situation, um menschliches Erleben und Handeln fassen zu können, er, wie andere auch (vgl. oben), eine unzulässige Verkürzung insofern sieht, als weder die Situation noch das Erleben und Handeln von Menschen ohne die gesellschaftlichen Strukturen, die die-

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se rahmen, verstanden werden könnten (vgl. Markard 2010, 170). Auch Holzkamp kritisiert, dass die im symbolischen Interaktionismus vorgenommene „Universalisierung ‚subjektiver‘ Welt- und Selbstsicht“ (Holzkamp 1983a, 345) eine angemessene Einbeziehung ‚bedingender‘ Verhältnisse und damit eine Untersuchung „des Verhältnisses zwischen der ‚Bedingtheit‘ und der Subjektivität/Freiheit menschlicher Lebenstätigkeit“ ausschließt (ebd.). Kritisch-psychologischer Forschung geht es demzufolge auch nicht lediglich um die Rekonstruktion subjektiver Sinnstiftungen (vgl. Markard 2010, 170), sondern um die Analyse des Handelns und Agierens von Menschen im Verhältnis zu den ermöglichenden und begrenzenden Strukturen, die ihren Alltag, ihre Lebenswelt und darin stattfindende Situationen rahmen. Hierbei wird eine Perspektive eingenommen, die nach der in subjektiver Perspektive sinnhaften Bezugnahme auf und also Interpretation von soziale/n Bedeutungen in konkreten Situationen fragt, die gleichsam immer auch auf die gesellschaftlichen Strukturen verweisen und über situations- und subjektspezifische Möglichkeitsräume im Hinblick auf ein ‚spezifisches Problem‘ Auskunft geben. Dabei gilt es die je konkreten Lebensbedingungen von Individuen, verstanden als Ausschnitte der „gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen, die als ‚Prämissen‘ in die vielfältigen, widersprüchlichen Erscheinungsformen ‚je meiner‘ Handlungsbegründungen eingehen“ (Holzkamp 1990a, 41; Herv. entf.), zu berücksichtigen. Mit einem solchen ‚Subjektstandpunkt‘ geht nicht nur eine bestimmte Perspektive einher, sondern auch „eine besondere Diskursform“ (ebd. 1997b, 261, Herv. i. O.). Da Subjekte von ihren eigenen Handlungen nicht als Bedingungs-Ereignis-Zusammenhänge sprechen, sondern diese vor dem Hintergrund der herangezogenen Prämissen vielmehr als ‚vernünftig‘ und ‚begründet‘ beschreiben, spricht Holzkamp hier von einem ‚Begründungsdiskurs‘, der – in Anbetracht der vom Subjektstandpunkt ausgehenden Perspektive – immer ‚erster Person‘ ist (vgl. ebd.). Eine in diesem Sinne verstandene subjektwissenschaftlich orientierte Untersuchung erhebt den Anspruch, Prämissen-Gründe-Zusammenhänge „innerhalb von bestimmten Bedeutungskonstellationen als Inbegriff der jeweiligen ‚Prämissenlage‘, wie sie von je mir erfahren wird“ (ebd.) und nicht Bedingungs-Ereignis- oder Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zu formulieren. Ansatzpunkt für die Rekonstruktion dieses Zusammenhanges, der spezifischen Beziehung von Prämissen und Gründen als Artikulationen von subjektiven Sinnzusammenhängen und Ausdruck subjektiv guter Gründe (vgl. Markard 2000, 31), stellen der Kritischen Psychologie zufolge die Begründungen von Subjekten für das eigene Handeln dar. Diese verweisen, wie oben beschrieben, auf die Prämissen des Handelns, welche wiederum als in je spezifischer Weise relevant werdende Bedeutungen, als Repräsentationen von Handlungsmöglichkeiten in gesellschaftlichen Bedingungen, zu verstehen sind. In gleicher Weise sind auch die subjektiven Begründungen etwa für Einschätzungen, Meinungen oder Haltungen gegenüber sozialen Phänomenen und Alltagswelt rele-

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vant. Subjektive Handlungsbegründungen werden von Holzkamp in diesem Sinne als „Vermittlungskategorie“ (Holzkamp 1983a, 348) gefasst, deren Charakter darin liegt, dass Handlungsbedingungen weder als den Subjekten äußerlich gegenübergestellt gedacht, noch als Resultat lediglich subjektiver Bedeutungsstiftung verstanden werden (vgl. ebd.). Vielmehr werden in dieser Konzeption „Begründungszusammenhänge im ‚Medium‘ von Bedeutungsstrukturen und deren Repräsentanz in Denk- und Sprachformen als ‚subjektiv‘-handlungsrelevanter Aspekt der Bedingungszusammenhänge gefaßt“ (ebd.; Herv. entf.). Menschliche Handlungen, Einschätzungen, Meinungen o.Ä. sind Holzkamp zufolge „in den Lebensbedingungen ‚begründet‘“ (ebd.; Herv. entf.) und damit auch als nicht beliebig zu verstehen. Den Standpunkt des Subjektes zum Ausgangspunkt nehmend widmen sich subjektwissenschaftliche Analysen also der ‚Begründungsanalyse‘, um von hier aus die je spezifische Relevanz von Bedingungen und Strukturen zu eruieren, und stellen damit Markard zufolge „die andere Seite der Medaille ‚Bedingungsanalyse‘“ dar (Markard 2000, 15). Die Konzentration auf den Begründungsdiskurs der Subjekte als Verbindung zwischen Subjekt und gesellschaftlichen Bedingungen verlangt entsprechend nach einer Wissenschaft vom Standpunkt des Subjektes aus. Wesentlich im analytischen Prozess einer kritisch-psychologischen Forschung ist daher die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Vermitteltheit des Handelns Einzelner und ihrer subjektiven Begründungen. Josef Held weist darauf hin, dass selbstverständlich nicht davon auszugehen ist, dass geäußerte Handlungsbegründungen individuelle, selbst konstruierte Begründungen sind, sondern dass bei der Konstruktion von Handlungsbegründungen auch auf ein Angebot von konventionellen Begründungsmustern bzw. nahe gelegten Handlungsoptionen zurückgegriffen wird, wie sie im öffentlichen Diskurs zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund ist es ihm zufolge notwendig – in Abhängigkeit von dem ‚Thema‘, das im Zentrum der Analyse steht – Überlegungen zur Theoretisierung der diesbezüglichen gesellschaftlichen Situation anzustellen (vgl. Held 1994, 112f.). Wichtiges Moment einer in dieser Weise ausgerichteten Forschung ist also das Verständnis von Subjekten als Handelnde, als ihre Lebenswelt Interpretierende, Deutende und Sinngebende, als sich zu den gesellschaftlichen Bedingungen, die sich ihnen in Form gesellschaftlicher Bedeutungssysteme präsentieren, und den in diesen liegenden Handlungsmöglichkeiten aktiv ‚So-oder-auch-anders‘-verhaltenKönnende, keinesfalls determinierte, sondern immer subjektiv sinnvoll handelnde Subjekte. Handlungen sind Holzkamp zufolge immer als in den Lebensbedingungen begründet zu denken; wobei mit diesen Bedingungen „nicht nur die äußeren Lebensbedingungen, sondern auch die personalen Bedingungen gemeint sind“ (Holzkamp 1983a 353; Herv. i. O.), die sich in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt im Laufe seines Lebens entwickelt haben (vgl. ebd.). Die Möglichkeit der Menschen, sich zu ihren Lebensbedingungen, zu den diese in spezifischer

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Weise repräsentierenden Bedeutungen zu verhalten, findet ihren Ausdruck in Holzkamps Konzept des ‚subjektiven Möglichkeitsraumes‘ (vgl. ebd., 367ff.). Das Ausmaß des Handlungsspielraumes, die jeweiligen Möglichkeiten und Begrenzungen innerhalb dieses Möglichkeitsraumes, hängen Holzkamp zufolge „nicht unvermittelt von der historisch bestimmten Eigenart der gesamtgesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen ab, sondern von den Bedeutungskonstellationen, wie sie mir in meiner je konkreten Lebenslage/Position und den darin liegenden objektiven Verweisungen auf das Ganze der gesellschaftlichen Verhältnisse gegeben sind. Mein mir jeweils aktuell vorliegender Möglichkeitsraum ist mithin sowohl in seinen Dimensionen wie in seiner Reichweite, obwohl durch gesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge bestimmt, dennoch ein individueller, nur von meinem konkreten subjektiven Standort innerhalb der gesellschaftlichen Bedeutungskonstellationen ausmachbarer Handlungsspielraum“ (ebd., 368). Neben den gesellschaftlichen Bedingungen und den sozialen Bedeutungen, die die Weite des Möglichkeitsraumes bestimmen, macht Holzkamp zwei weitere relevante Variablen aus, die in diesen eingehen: Zum einen den erwähnten personalen und zum anderen einen situationalen Pol (vgl. ebd., 368f.). Der personale Pol bezieht sich auf die jeweiligen Biographien und die gemachten Erfahrungen von Menschen sowie ihr spezifisches Verhältnis zum gesellschaftlichen und soziokulturellen Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte (vgl. ebd. 368; Leiprecht 2001, 17). Holzkamp betont hier den individuellen Umgang mit Bedeutungen, die in Diskursen vermittelt werden, z.B. in Form von Annahme, Abwehr, Umdeutung und Interpretation. Hingegen steht der situationale Pol für die „jeweils aktuelle handlungsbezogene Konstellation von gesellschaftlichen Möglichkeiten und Behinderungen, vor die sich die Einzelne oder der Einzelne gestellt sieht“ (Leiprecht 2001, 17). Möglichkeitsräume sind demnach nicht nur grundsätzlich vorhandene, je subjektive Spielräume von Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen, sondern nehmen auch mit sich verändernden Kontexten und Situationen je spezifische Form an. Sowohl ‚äußere‘ als auch ‚personale‘ Bedingungen gehen situationsspezifisch in diesen ein und repräsentieren die je kontextspezifischen, subjektiv relevant werdenden Prämissen des Handelns. Die Handlungsfähigkeit der Subjekte ist in diesem Zusammenhang immer durch die ‚doppelte Möglichkeit‘ des Handelns, der Nutzung und der Erweiterung von Handlungsräumen gekennzeichnet (vgl. Holzkamp 1983a, 352ff.): entweder im Rahmen der durch die Lebensbedingungen gegebenen Möglichkeiten (restriktive Handlungsfähigkeit) oder in dem Versuch, diese eingeschränkten Möglichkeiten (gemeinsam mit anderen) auszuweiten (verallgemeinerte Handlungsfähigkeit) (vgl. ebd., 352ff.; 370ff.; Markard 2010, 169). Mit dieser ‚doppelten Möglichkeit‘ des Handelns zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung geht, so formuliert Markard, auch ein ‚doppeltes Problem‘ einher – nämlich „im Arrangement auf Lebensmöglichkeiten zu verzichten bzw. mit der Erweiterung von Lebens-

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möglichkeiten Konflikte zu riskieren“ (ebd.). Ohne auf diese beiden von Holzkamp kategorisierten Formen der Handlungsfähigkeit hier näher einzugehen (vgl. dazu z.B. Holzkamp 1983a, 1990a), möchte ich den für mich zentralen Punkt dieser Konzeption festhalten: Subjekten obliegt es nicht nur innerhalb der Bedingungen und Strukturen, als diesen ‚unterworfene‘ Subjekte zu handeln, sondern es besteht zumindest potenziell auch immer die Möglichkeit, auf restriktive, Lebensqualität und Handlungsmöglichkeiten einschränkende Bedingungen Einfluss nehmend zu handeln und also in Verhältnisse bzw. Lebensbedingungen verändernd einzugreifen. Gesellschaftliche Lebensbedingungen werden nicht als Determinanten, sondern als Bedeutungen relevant, zu denen Individuen sich „nach Maßgabe der von ihnen wahrgenommenen Verfügungsnotwendigkeiten, die nicht ‚als solche‘ bestehen, sondern subjektiv in der Erfahrung konkreter Verfügungseinschränkungen in Erscheinung treten“, verhalten (Markard 2010, 169). In dieser unbedingten Handlungsfähigkeit des Menschen, der grundsätzlichen Möglichkeit der „Verfügungserweiterung“, sieht Holzkamp die Spezifik menschlichen Seins begründet. Für ihn ist der Mensch immer Subjekt und in seiner Subjektivität nicht relativierbar, reduzierbar oder eliminierbar (vgl. Holzkamp 1983a, 355). Obgleich Ausgangspunkt subjektwissenschaftlicher Forschung also handlungsfähige Subjekte und ihre Begründungen sind, so steht in erster Linie doch „nicht das Subjekt, sondern die Welt, wie das Subjekt sie – empfindend, denkend, handelnd – erfährt“ (Markard 2000, 18), im Mittelpunkt des Interesses subjektwissenschaftlicher Forschung. Die Aufmerksamkeit gilt dem Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft, der gesellschaftlichen Vermitteltheit von (Handlungs-)Bedingungen, wie sie von Subjekten als einschränkend, ermöglichend und widersprüchlich erfahren werden. Markard zufolge sind aus diesem Grund „subjektwissenschaftliche Aussagen auch keine Aussagen über Menschen, schon gar keine zu Klassifikationen von Menschen […], sondern Aussagen über erfahrene – und ggf. verallgemeinerbare – Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen“ (ebd.). Bedeutung für die empirische Analyse Die Bedeutsamkeit der Überlegungen der Kritischen Psychologie im Hinblick auf die vorliegende Studie liegt für mich insbesondere in ihrer analytischen Perspektive, mit der es möglich ist, über die Deutungen, Begründungen, Meinungen, Einschätzungen und Handlungsweisen, die Jugendliche im Zusammenhang mit Situationen, in denen sie Rassismus erfahren, artikulieren, subjektiv relevant werdende Bedingungen zu rekonstruieren, die in einer Rassismussituation für Jugendliche als Prämissen (deutungs- und handlungs-)relevant werden. Denn die sozialen Bedeutungen, auf die Jugendliche so Bezug nehmen, werden in der Kritischen Psychologie als Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft und Individuum, als subjektiv relevant werdende gesellschaftliche Bedingungen bzw. Repräsentationen von Hand-

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lungsmöglichkeiten in gesellschaftlichen Bedingungen vorgestellt. Daher lassen sich über ihre Analyse Aussagen über subjektive Möglichkeitsräume, über subjektiv wahrgenommene behindernde und ermöglichende Bedingungen, über Handlungsmöglichkeiten und -begrenzungen im Kontext von Rassismuserfahrungen und gesellschaftlichen Verhältnissen treffen. Wichtig ist hier, dass neben gesellschaftlichen Bedingungen auch personale, etwa auf biografischen Erfahrungen begründete Aspekte, als handlungsrelevante Bedingungen in der Rekonstruktion solcher subjektiven, je situationsspezifischen Möglichkeitsräume zu berücksichtigen sind. Eine Analyse der Begründungen der Jugendlichen für ihre Formen des Umgangs mit Rassismuserfahrungen, für ihre Meinungen und Einschätzungen von Situationen rassistischer Erfahrung vermag also nicht nur Aufschluss darüber zu geben, wie Rassismus von Jugendlichen erlebt wird, was diese Erfahrungen und Situationen für Jugendliche bedeuten, welche Bedeutungen sie einer Rassismussituation, Rassismus und Rassismuserfahrungen in der sinnhaften Interpretation des Erfahrenen zuweisen. Die sozialen Bedeutungen, auf die die Jugendlichen in ihren Interpretationen zurückgreifen, geben darüber hinaus auch Auskunft darüber, welche Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen sich ihnen für den Umgang mit Rassismus in rassistischen Situationen je präsentieren. 3.2 Forschungsmethodologische Implikationen Das beschriebene subjektwissenschaftliche Paradigma und der sich daraus ableitende „wissenschaftliche Standortwechsel“ (Holzkamp 1990b, 3), den es generell vorzunehmen gilt, impliziert natürlich auch methodologische Anforderungen. So verlangen die Überzeugung, dass Wissenschaft vom Standpunkt des Subjektes aus im Feld des Begründungsdiskurses zu betreiben ist und ein Verständnis, das davon ausgeht, dass „Gründe als solche immer ‚erster Person‘, also ‚je meine‘ Gründe sind“ (ebd.), nach einem Forschungsdesign, in dem Forschungsfragen nicht als Fragen über Menschen formuliert werden, sondern in dem die Möglichkeit angestrebt wird, die Fragen der Betroffenen selbst ins Zentrum der Forschung zu stellen. „Es geht hier also – wie Ute Osterkamp dies ausgedrückt hat – nicht darum, die Menschen zum Problem zu machen, sondern die Probleme der Menschen aufzugreifen“ (ebd., 4). Wesentliches Anliegen einer subjektwissenschaftlichen Forschung ist es daher, „Theorien zur Selbstverständigung der Subjekte“ zu formulieren, die den an Forschung Beteiligten „über eigene Interessen, Motive, Gründe und über die Konsequenzen des Handelns in wichtigen bzw. problematischen Lebenssituationen“ (Markard 2000, 15) Aufschluss zu geben vermögen. Für den Forschungsprozess bedeutet das, dass etwa mittels der Rekonstruktion der „Vermittlung zwischen gesellschaftlicher Situation, Lebenssituation und spezieller Situation“ (Held 1994, 113) sowie der Analyse des begründeten Handelns einer Person „Gründe, die vorher nicht be-

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wusst waren, bewusst gemacht werden“ (ebd.). Der Anspruch, zur Klärung von Möglichkeitsräumen in Verhältnissen von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung für die beteiligten Subjekte beizutragen (vgl. Markard 2010, 171; Holzkamp 1983a, 354) sowie die „Klärung ihrer Möglichkeiten und Grenzen der Bedingungsverfügung und Lebensqualität“ (Holzkamp 1983a, 545; Herv. entf.), nimmt im Forschungsprozess entsprechend einen zentralen Stellenwert ein. Pointiert formuliert Ute Osterkamp, dass Kritische Psychologie ein „theoretisches Instrument [ist], um […] zu begreifen, was vor den eigenen Augen vor sich geht und das eigene Handeln daraufhin überprüfen zu können, wieweit es das, was es anzielt, eher verhindert als zu verwirklichen hilft“ (Osterkamp 2000, 39). Wenn im Forschungsprozess nun gemeinsame, problemzentrierte ‚Verhältnisklärungen‘ und ‚Selbstverständigungen‘ angestrebt werden, die dazu notwendiger Weise zu analysierenden Begründungen jedoch immer erster Person und PrämisseGründe-Zusammenhänge infolgedessen als subjektiv-funktional nur vom Standpunkt des Subjektes aus zu formulieren sind (vgl. Holzkamp 1997b, 261; ebd. 1990b; Markard 2000, 15), dann führt dies zu der Frage, wie je spezifische Begründungen und Sinnzusammenhänge, subjektiv relevant werdende Bedeutungszuweisungen, Relevanzsetzungen und Interpretationen auch für forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugänglich werden können, wie sie quasi von außen nachzuvollziehen sind und wie es also möglich sein kann‚ dem Anspruch einer ‚Wissenschaft vom Standpunkt des Subjektes‘, des Forschens von einem Subjektstandpunkt aus, der nicht der eigene ist, gerecht zu werden. „Gründe für mein interessengeleitetes Handeln“, so Holzkamp (1997b, 261), kann zwar „immer nur ‚ich‘ haben, […] niemals jemand anders“. Jedoch ist es offenbar möglich – nämlich bereits dann, wenn ich in alltäglichen Situationen über die vermeintlichen Gründe von jemand anderem nachdenke oder spreche, wenn ich „Hypothesen über die Befindlichkeiten, Motive, Beweggründe von Menschen“ bilde (ebd. 1985, 25) –, einen anderen Subjektstandpunkt ‚einzunehmen‘ bzw. mich zu bemühen, dies zu tun. Holzkamp zufolge scheint dies mit dem Blick auf ein von Menschen alltäglich gemeinsam geteiltes Leben in der Regel recht gut zu funktionieren. Er begründet diese Möglichkeit damit, dass „[m]enschliche Handlungen, samt den subjektiven Befindlichkeiten, aus denen sie sich begründen, […] als Realisierungen allgemeiner gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten prinzipiell, indem sie für mich bedeutungsvoll sind, auch für andere Bedeutung“ haben (ebd., 32). Weil die gesellschaftlichen Bedeutungszusammenhänge, die unsere Lebenswelt ausmachen, Handlungsmöglichkeiten präsentieren, wie sie im Prinzip für alle in diesen Bedeutungszusammenhängen lebenden Menschen verstehend zugänglich sind, ist es Holzkamp zufolge grundsätzlich möglich, den Subjektstandpunkt anderer einzunehmen und die individuelle, spezifische Realisierung allgemeiner Handlungsmöglichkeiten von Individuen „von da aus“ (ebd., 25), von ihrem Standpunkt

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aus als bedeutungsvolle und begründete Handlungen und Befindlichkeiten zu verstehen (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund objektivierbarer gesellschaftlicher Bedingungen und der in diesen vermittelten Handlungsmöglichkeiten ist ein „Verständigungsrahmen intersubjektiver Bedeutungs- und Begründungszusammenhänge“ (ebd., 26) vorhanden, in dem menschliche Kommunikation und Interaktion stattfinden. Dieser ist Holzkamp zufolge deshalb verallgemeinerbar bzw. prinzipiell auch anderen zugänglich, weil individuelle Erfahrungen lediglich eine Variante von Erfahrungen sind, die auf einer abstrakteren Ebene auf objektive gesellschaftliche Verhältnisse und Handlungsmöglichkeiten verweisen, von denen auch andere Menschen in ihren Handlungsspielräumen betroffen sind. „Meine Erfahrungen sind demnach in diesem intersubjektiven Erfahrungszusammenhang, soweit darin die Art und Weise meiner persönlichen Verarbeitung und Umsetzung konkreter gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen fassbar wird, als subjektive Erfahrungen objektivierbar und verallgemeinerbar“ (ebd., 32). Holzkamp spricht daher auch von einer Psychologie, die notwendiger Weise von ‚je meinem‘ Standpunkt auszugehen hat. Er verweist damit nicht nur darauf, dass „‚Selbsterfahrung‘ oder ‚Bewusstsein‘ immer ‚meine‘ Erfahrung“ ist (ebd. 1984, 8), eine Erfahrung, die immer auch begrenzt ist, weil sie sich auf eine „ Realität, soweit und in den Zügen, wie sie mir von meinem Standpunkt aus in meiner Perspektive zugänglich ist“, bezieht (ebd.; Herv. i. O.). Zugleich möchte er mit dieser Terminologie auch ausdrücken, dass es innerhalb eines intersubjektiven Verständigungsrahmens möglich ist, auch andere Subjektstandpunkte einzunehmen, über die Handlungsbegründungen anderer nachdenken und sprechen zu können, weil sie vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlich vermittelter Handlungsmöglichkeiten prinzipiell verallgemeinerbar sind (vgl. ebd. 1997b, 261). Damit ist auch ein für mein Vorhaben zentrales Anliegen beschrieben: Nämlich der Versuch, die individuelle Realisierung von Handlungsmöglichkeiten anderer und ihre Begründungen nachzuvollziehen und so spezifische Perspektiven ‚einzunehmen‘ und einen spezifischen Zugang zu sozialer Wirklichkeit zu erhalten. Diese Überzeugung Holzkamps, dass die Einnahme eines anderen Subjektstandpunktes trotz der Tatsache, dass Erfahrungen immer ‚je meine‘ Erfahrungen sind, möglich ist, gründet auf der Annahme, dass „soziale Beziehungen auf menschlichem Niveau ‚intersubjektive‘ Beziehungen sind, d.h. Beziehungen, in denen verschiedene subjektive ‚Intentionalitätszentren‘ aufeinander bezogen sind, also jeweils ich, indem ich den anderen von meinem Standpunkt wahrnehme, gleichzeitig mitwahrnehme, daß dieser mich von seinem Standpunkt aus als einen ihn Wahrnehmenden wahrnimmt, und in diesem Sinne unsere Perspektiven miteinander verschränkt sind“ (ebd. 1985, 31). An anderer Stelle beschreibt Holzkamp dies auch als „Beziehung zwischen solchen Individuen, die jeweils von sich und vom andren wissen, dass sie Ursprung von Veränderungen und Verfügung über Lebensbedingungen

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sein können“ (ebd. 1983b, 23) und dass Kommunikation in einem intersubjektiven Beziehungsmodus den Austausch wechselseitig aufeinander bezogener Handlungsbegründungen bedeutet (vgl. ebd. 1990b, 3). Mit der Bezeichnung von Subjekten als ‚Intentionalitätszentren‘ möchte Holzkamp ausdrücken, dass Individuen sich ‚von hier aus‘ zur Welt ins Verhältnis setzen, sie sich ‚zu ihr‘ verhalten. Sowohl Forschende als auch „‚Mitforschende‘ des Forschungsprozesses“ (ebd. 1983a, 544) sind in ihrer Interaktion im Forschungsprozess somit als fühlende, denkende und handelnde Subjekte unter gesamtgesellschaftlichen Bedingungen kommunizierend zu begreifen (vgl. ebd.). Forschen bedeutet dem zufolge, dass sowohl Forschende als auch ‚Mitforschende‘ in ein intersubjektives Verhältnis treten, das dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre jeweiligen Subjektivitäten in die Interaktion einfließen, dass auch Forschende als Subjekte Teil dieses Verhältnisses sind, das Holzkamp als „spezifisch menschliche[s] Beziehungsniveau“ fasst (ebd. 1985, 31). Diese Subjektivität der Forschenden gilt es ebenso wie die Subjektivität der mitforschenden Teilnehmenden als miteinander verschränkten, relevanten Teil der zu beforschenden empirischen Welt einzubeziehen. Holzkamps Formulierungen zum ‚verallgemeinerbaren Subjektstandpunkt‘ und der prinzipiellen Möglichkeit der Einnahme des Subjekstandpunktes anderer mögen den Eindruck erwecken, als ginge er davon aus, dass die Einnahme des Subjektstandpunktes anderer durch Forschende gewissermaßen ‚eins zu eins‘ möglich ist, und damit nicht nur ein ‚unverfälschtes‘ Verstehen oder Nachvollziehen, sondern – implizit – auch eine entsprechende Repräsentation des ‚Verstandenen‘. In Holzkamps Konzept der Subjekte als Intentionalitätszentren ist jedoch auch die unhintergehbare Subjektivität von Individuen enthalten. Insofern ist zwar davon auszugehen, dass ich als Subjekt den Subjektstandpunkt einer anderen Person ‚einnehmen‘ kann, dies jedoch nicht, ohne meine eigene Subjektivität, mein eigenes begründetes ‚Verhalten-Zu‘ quasi ‚mitzunehmen‘. Mir ist es wichtig, zu betonen, dass ich – auch vor dem Hintergrund der in Abschnitt II geschilderten Annahmen – einen von der eigenen Subjektivität bereinigten Zugang zu den sozialen Wirklichkeiten anderer, in diesem Fall von Jugendlichen, die Rassismuserfahrungen machen, oder ein ‚Verstehen‘ in diesem Sinne für nicht möglich halte. Vielmehr gehe ich davon aus, dass mit dem Versuch, die Welt von einem anderen Subjektstandpunkt zu sehen, in der Regel lediglich eine Annäherung erfolgen kann, die weniger mit der ‚Einnahme‘ der Perspektive oder der Position anderer, als vielmehr mit ihrer Rekonstruktion zu tun hat. Mit dem Versuch, spezifische Erfahrungen von Jugendlichen, Rassismuserfahrungen, ihre diesbezüglichen Perspektivitäten, Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen – auch in Kommunikation – zu rekonstruieren und aus diesen heraus soziale Wirklichkeit zu beschreiben, geht zwar durchaus ein ‚Verstehen‘ und ‚Nachvollziehen‘ ihrer Lebenswirklichkeiten und Handlungsgründe einher. Jedoch ist diese Rekonstruktion niemals ein Abbild, sondern enthält immer auch meine eigene Subjektivi-

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tät und damit entsprechende bedeutungsschaffende, (ko-)konstruierende Interpretationen. Aus den beschriebenen Überzeugungen Holzkamps leitet sich für ihn auch die theoretische Begründung der bereits oben erwähnten Forderung nach Verfahrensweisen ab, die der ‚Selbstverständigung‘ und der ‚Verhältnisklärung‘ aller am Forschungsprozess beteiligten Forschungssubjekte dienen. Sein Verständnis vom Subjekt als Intentionalitätszentrum und die daraus resultierende Notwendigkeit einer Standort- und Perspektivenverortung geht mit der Annahme einher, dass „Realität immer mehr ist, als ich von ihr schon erkannt oder handelnd ergriffen habe […]. Indem ich mich so als Erkennender/Handelnder immer der Realität als Inbegriff bestimmter situativer Möglichkeitsräume gegenübersehe, ist die Intentionalität eine Möglichkeitsbeziehung zur Welt und zu mir selbst, in welcher die Dimensionen und die Reichweite meiner Handlungsalternativen zwar durch den situativen Möglichkeitsraum selegiert bzw. begrenzt sind, in der ich aber im ‚Verhalten-Zu‘ notwendig Alternativen habe“ (Holzkamp 1984, 8; Herv. i. O.). Holzkamp zufolge gilt es, Theorien und Methoden zu nutzen, die in dem Sinne ‚für‘ die Menschen sind, als dass sie ihnen im günstigsten Fall bei der Klärung ihres Standpunktes bzw. ihres Verhältnisses zu gesellschaftlichen Verhältnissen als Handlungen ermöglichende und begrenzende Strukturen hilfreich sind (vgl. ebd. 1985, 31). Dies wiederum verlangt nach Methoden, die alle an Forschung beteiligten Subjekte als tatsächlich an Forschung Partizipierende und nach Klärungen Forschende begreift. ‚Mitforschende‘ sind also nicht zum Gegenstand von Forschung zu erklären, sondern sie sind quasi ebenfalls auf der ‚Forschungsseite‘ zu positionieren (vgl. ebd. 1983a, 540545; Markard 2000, 18). Holzkamps Überlegungen zu ‚Verhältnis-‘ und ‚Selbstklärungsprozessen‘ der Subjekte (vgl. Holzkamp 1983a, 354, 545) gelten sowohl für die an einer Forschung teilnehmenden ‚Mitforschenden‘ als auch für forschende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Obgleich den Worten Holzkamps auch ein ‚aufklärerisches‘ Element innewohnt, so verstehe ich dies nicht als einen einseitigen Prozess, in dem der oder dem Forschenden die Aufgabe zukommt, ihre oder seine ‚Mitforschenden‘ zur ‚Erkenntnis‘ im Rahmen eines ‚Nicht-Wisser‘-‚Besser-Wisser‘-Verhältnisses zu führen. Vielmehr betreffen Holzkamps Überlegungen für mich auch die Forschenden, die ja ebenfalls als spezifisch positioniert und erfahrend in gesellschaftlichen Verhältnissen zu denken sind, und für die daher sowie angesichts der Überlegungen zur ‚Einnahme‘ der Subjektstandpunkte anderer eine offene, fragende und eben nicht ‚wissende‘ Haltung unerlässlich ist. Gleichwohl ist auch anzumerken, dass sich – aufgrund verschiedenster Faktoren, von denen einige in repräsentations- und rassismuskritischer Perspektive oben vorgestellt wurden – dennoch kein hierarchiefreies Verhältnis zwischen Forschenden und ‚Mitforschenden‘ realisieren lässt. Den forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kommt auch im Zuge von

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subjektwissenschaftlicher Forschung eine ‚Vormachtsposition‘ zu, die u.a. die (einflussnehmende) Verantwortung für den Forschungsprozess und seine Ausgestaltung beinhaltet – z.B. im Hinblick auf das Schaffen von Bedingungen, die Selbstverständigungsprozesse ermöglichen oder das Anbieten des oben beschriebenen Analyseschemas als Interpretationsfolie für eigene Erfahrungen. Die vorgestellten Prämissen und Ziele einer in diesem Sinne verstandenen subjektorientierten Forschung machen deutlich, dass es nicht darum gehen kann, einseitig andere Individuen zu objektivieren und zu beforschen. Die Fragen, Motivationen, Problemdefinitionen, Handlungsprämissen etc. der ‚Mitforschenden‘ sind im Forschungsprozess ebenso wenig zu vernachlässigen wie jene der forschenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Im Mittelpunkt der gemeinsamen Auseinandersetzungen im Forschungsprozess mit einem Problem steht das subjektive Erleben von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen der Forschungssubjekte. Holzkamp beschreibt, dass die Kommunikation zwischen Forschenden und Mitforschenden im Forschungsprozess vor dem Hintergrund der dargelegten Annahme intersubjektiver Verständigung nur als Praxis „wechselseitiger Handlungsbegründungen auf der Basis gemeinsamen Erkenntnisinteresses (‚Mitforscherverhältnis‘) zu realisieren“ ist (Holzkamp 1990b, 3). 11 Markard spricht hier von problemzentrierter Forschung. Im Zentrum von Forschung steht – so auch Holzkamp (1983a, 545) – ein Problem, das notwendigerweise „auch ein Problem der Betroffenen sein“ oder „in Kooperation mit den Betroffenen so formulierbar sein [muß], daß es sich als deren Problem verdeutlicht“. Ein in dieser Weise vorausgesetztes bzw. erforderliches Interesse aller Forschungssubjekte an der Auseinandersetzung sowie die Notwendigkeit ihrer aktiven Partizipation am Forschungsprozess verlangt nach der Konstruktion eines Forschungsdesigns, das in der Lage ist, solche Räume des gemeinsamen Forschens bereit zu stellen, in denen Prozesse der ‚Selbstverständigung‘, der – auch kontroversen oder widersprüchlichen – Auseinandersetzung und Reflexion stattfinden können. Mit diesen Ansprüchen sind relativ hohe Anforderungen an ein entsprechendes methodisches Vorgehen verbunden. Ein geeignetes Forschungsdesign für die vorliegende Untersuchung ist diesen entsprechend so zu entwickeln, dass gemeinsam mit den Jugendlichen in einer Weise zu Rassismus und Diskriminierung sowie zu Handlungsweisen geforscht werden kann, die zu einer Erkundung 11 Damit geht auch die Notwendigkeit einher, die jeweiligen Handlungsbegründungen der Beteiligten „in ihrem Aufeinanderbezogensein empirisch offenzulegen“ (Holzkamp 1990b, 3) und so das oftmals „verdeckte Verhältnis“ (ebd.) zwischen Forschenden und Mitforschenden zu einem Teil des Erkenntnisprozesses werden zu lassen. Dem Prinzip der Intersubjektivität als Perspektive auf das Verhältnis zwischen Forschenden und ‚Mitforschenden‘ kommt sowohl im Hinblick auf die Gestaltung von Datenerhebungssituationen als auch hinsichtlich seiner notwendigen Reflexion als Teil von Wissensproduktion ein bedeutender Stellenwert im Forschungsprozess zu.

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der je eigenen Möglichkeitsräume beiträgt. Um dies zu ermöglichen, muss das gewählte Vorgehen Bedingungen, Instrumente und Möglichkeiten bereitstellen, die es sowohl mir vor allem aber auch den Jugendlichen erlauben, im gemeinsamen Forschungsprozess eigenen Fragen und Interessen im Themenbereich Diskriminierung, Rassismuserfahrungen und Handlungsmöglichkeiten in gewollter Auseinandersetzung und Kommunikation mit anderen nachzugehen. Mit ihrem Anspruch des gemeinsamen, problemorientierten – und implizit also auch dementsprechend lösungsorientierten – Forschens weist der Forschungsansatz der Kritischen Psychologie eine Nähe zu Ansätzen der Handlungs- und Aktionsforschung auf (vgl. Altrichter/Lobenwein/Welte 2007; Schneider 1980). In diesen Ansätzen geht es immer – wie Markard dies auch für die Subjektwissenschaft der Kritischen Psychologie formuliert – um die „Einheit von Erkennen und Verändern“ (Markard 2010, 174). Als methodische ‚Hilfestellung‘ für solche, Veränderungen anstrebende Forschungsprozesse wurde die ‚Entwicklungsfigur‘ konzipiert, ein die verschiedenen Phasen eines solchen gemeinsamen Forschungsprozesses beschreibender Ablauf (vgl. ebd. 2000). Markard sieht das Ziel einer subjektwissenschaftlichen Forschung, in der Problemstellungen an subjektive Handlungsmöglichkeiten gebunden sind, darin, „unmittelbarkeitsfixierte Vorstellungen und Problemsichten so zu reformulieren, dass andere Handlungsmöglichkeiten konzipierbar werden“ (ebd. 2010, 178). Jedoch ist das Anstreben der Realisierung von Entwicklungsfiguren nicht für alle Projekte kritisch-psychologischer Forschung sinnvoll. Denn nicht alle Probleme, die im Rahmen von Forschungsprojekten in den Blick geraten, sind „einer individuell umsetzbaren Lösung zugänglich“ (Huck 2006, 126, zit. n. Markard 2010, 176), sondern bedürfen stattdessen in erster Linie „Veränderungen in gesellschaftlicher Größenordnung und damit kollektiver Zusammenschlüsse“ (Markard 2010, 178). Angestrebt werden dann auch nicht in erster Linie praktische Veränderungen individuellen Handelns. Dies gilt auch für die vorliegende Untersuchung. Im Forschungsdesign zu dieser Arbeit wird den beteiligten Jugendlichen zwar die Möglichkeit gegeben, sich als ‚Mitforschende‘ mit ihren Positionierungen in komplexen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen auseinanderzusetzen und dem gemeinsamen Nachdenken über Handlungsbedingungen und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung ein zentraler Stellenwert zukommen. Im besten Fall führt dies auch zur Reflexion und (Weiter-)Entwicklung von Handlungs- und Umgangsweisen. Jedoch wird es trotzdem nicht zentral darum gehen, das von Rassismus betroffene Jugendliche ein lösungsorientiertes verändertes Handeln in rassistischen Verhältnissen entwickeln, um auf die rassistischen Verhältnisse verändernd einzuwirken. Analytisch weiterführend sind die Überlegungen der Kritischen Psychologie für mich daher auch weniger in der Perspektive eines ‚zu verändernden‘ Handelns im

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Sinne einer angestrebten strukturellen Veränderung, sondern vielmehr im Hinblick auf Rassismus als weitverzweigtes, sich vielfältig manifestierendes Phänomenen, dessen zu interpretierende Bedeutungen für Subjekte sowohl zum Handlungsanlass werden können, als auch einen Teil ihrer Handlungsbedingungen ausmachen. Daher ist der subjektwissenschaftliche Ansatz für mich insbesondere aufgrund des analytischen Zugangs, den dieser zu den subjektiven Handlungsprämissen von Jugendlichen bietet, die in rassistischen Verhältnissen und vor dem Hintergrund von Rassismuserfahrungen stetig aufgefordert sind, sich zu diesen Verhältnissen zu verhalten und mit Rassismuserfahrungen umzugehen, relevant. Von Interesse ist für mich die Analyse der subjektiv wahrgenommenen Möglichkeitsräume, der Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen, die Jugendliche ausmachen sowie die subjektiv relevant werdenden, behindernden und ermöglichenden Bedingungen, die in den subjektiven Perspektiven der Jugendlichen, in ihren subjektiv sinnhaften Bedeutungsinterpretationen zum Ausdruck kommen.

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Zusammenfassend und vergleichend kann hier zu den Ergänzungsmöglichkeiten der Kritischen Psychologie im Hinblick auf die vorgestellten theoretischen und methodischen Konzepte der Cultural Studies zunächst festgehalten werden, dass die Kritische Psychologie als Subjektwissenschaft forschungsrelevante Aspekte thematisiert und berücksichtigt, die sich in ähnlicher Weise auch in den Cultural Studies wiederfinden: Die Cultural Studies richten ihr Augenmerk insbesondere auf Kultur und kulturelle Praktiken als diskursives und soziales Feld von Interaktionen, in dem Beziehungen und soziale Bedeutungen in Verhältnissen von Macht und Ungleichheit hergestellt und verändert werden, welche Subjekten wiederum für Deutungsund Sinngebungsprozesse zur Verfügung stehen. Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies fragen nach den Artikulationen zwischen diesen machtförmigen Bedeutungen, menschlichem Handeln und sozialen Praktiken. Derweil betrachten Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Psychologie soziale Bedeutungen als Vermittlungsinstanz zwischen (gesellschaftlichen) Bedingungen und individuellem Handeln. Ihnen zufolge beinhalten soziale Bedeutungen, die in Begründungen von Menschen für ihr Handeln, Meinen und Deuten offenbar werden, den Verweis auf subjektiv bedeutungsvoll werdende gesellschaftliche Bedingungen, auf die Bezug nehmend Menschen agieren. Im Mittelpunkt der Analysen der Kritischen Psychologie steht das Verhältnis zwischen diesen je spezifischen Manifestationen von gesellschaftlichen Bedingungen in Form von subjektiv und situationsspezifisch relevant werdenden Bedeutun-

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gen in individuellen Lebenswelten und individuellem Agieren. Als Ausgangspunkt für ihre Untersuchungen wählen Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Psychologie, die sich als als Subjektwissenschaft versteht, den Standpunkt des Subjektes. Die Cultural Studies hingegen wenden sich in ihren Studien nicht in erster Linie dem Subjekt, sondern vor allem dem Diskurs als Ort zu, an dem Wissen machtvoll hervorgebracht wird und von dem aus es in konkreten Praktiken effektvoll zur Wirkung kommt, und den Hall als Ausdruck des Sozialen in einer Gesellschaft begreift. Auf Diskurse bzw. diskursive Formationen Bezug nehmend gilt es in den Cultural Studies, die Kontexte, in die soziale Phänomene eingebettet sind, die Aspekte, mit denen sie artikuliert sind und die sie erst möglich machen, quasi als Möglichkeitsbedingungen zu rekonstruieren. Gemein ist beiden Forschungsperspektiven, dass es ihnen nicht in erster Linie um das Verstehen von Menschen, von Individuen, von ‚Anderen‘ geht, sondern sie vielmehr um das Verstehen der Kontexte, der Machtbeziehungen, der Verhältnisse, der Bedingungen bemüht sind, die sich u.a. auf die Handlungsfähigkeiten von Menschen ermöglichend oder behindern auswirken. Sowohl in den Cultural Studies als auch in der Kritische Psychologie werden Subjekte dabei, wenngleich nicht als autonom, so doch als handlungsfähig, als aktiv mit sozialen Bedeutungen umgehend und auf diese Einfluss nehmend vorgestellt. Darüber hinaus verfolgen beide Forschungsansätze einen intervenierenden Anspruch: Während in den Cultural Studies mittels Forschung Reartikulationen und Bedeutungsverschiebungen sowie mit diesen einhergehende Kontextveränderungen angestrebt werden, ist es das Ziel von Forschung im Sinne der Kritischen Psychologie, Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, mittels derer der u.a. durch Machtverhältnisse begrenzte subjektive Möglichkeitsraum des Handelns ausgeweitet werden kann, indem auf begrenzende Bedingungen und Verhältnisse verändernd Einfluss genommen wird. Die dargestellten Kriterien qualitativer Sozialforschung erfüllend, stellen beide Ansätze also eine – meiner Ansicht nach notwendige – Erweiterung des symbolischen Interaktionismus insofern dar, als ausdrücklich auch die Frage nach den Bedingungen, den Kontexten bzw. den Machtverhältnissen gestellt wird, die die Interaktion, das Deuten und Handeln und damit wiederum die Wissens- und Bedeutungsproduktion beeinflussen. Wissens- und Bedeutungsproduktion, die Hervorbringung sozialer Wirklichkeit sowie das deutende und handelnde Bezugnehmen auf diese werden hier als eng verbunden mit ermöglichenden und begrenzenden Macht- und Ungleichheitsverhältnissen begriffen. Macht bzw. Machtverhältnisse sind sowohl in den Theoretisierungen der Kritischen Psychologie als auch in jenen der Cultural Studies relevant. Jedoch wird in den beiden Forschungsperspektiven auf unterschiedliche Verständnisse von Macht zurückgegriffen: In der Kritischen Psychologie wird Macht vornehmlich als objektivierbaren Bedingungen innewohnend und eher als ein Herrschaftsverhältnis konzi-

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piert. Trotz der Vermittlung über die Bedeutungsebene scheinen sich diesem Konzept zufolge gesellschaftliche Strukturen, die sich begrenzend und ermöglichend auf subjektive Möglichkeitsräume auswirken, und ‚vereinzelte‘ Individuen als handlungsfähige Subjekte einander gegenüber zu stehen. Demgegenüber thematisieren Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies Macht in Anlehnung an Foucault vor allem als changierende und flexible Verhältnisse, als Macht-WissenKomplexe, die sich kontextspezifisch auf unterschiedliche Art auch in (umkämpften) Bedeutungen, Artikulationen und Subjekten verkörpern und die die sozialen Beziehungen in dynamischer und auch widersprüchlicher Weise und damit auch die „‚wirkliche‘ Welt der Leute“ (Hoggart 1999) effektvoll durchdringen. Gesellschaftliche Verhältnisse werden hier nicht als binäres Herrschaftsverhältnis vorgestellt, sondern als mit Macht in vielfältiger Weise durchzogene, wirkmächtige und bedeutungskonstruierende soziale Beziehungen und Interaktionen, die in Diskursen und, vermittelt über diese, in konkreten sozialen Praktiken ihren Ausdruck finden. Hier ziehe ich das Verständnis, wie es in den Cultural Studies vertreten wird, sowohl in sozialwissenschaftlicher als auch in forschungtheoretischer Perspektive vor. Ich halte es für angemessener, um soziale Wirklichkeit zu beschreiben und für differenzierter und damit ergiebiger im Hinblick auf eine Analyse, die Machtverhältnisse in den Blick nehmen möchte. Während die Kritische Psychologie mit ihrem Verständnis des Zusammenhangs von Subjekt und Gesellschaft meines Erachtens zu einem in gewisser Weise reduzierten Bild beiträgt, mit dem auch begrenzte analytische Möglichkeiten einhergehen, können mit der machtanalytischen Konzentration auf soziale Beziehungen und Interaktionen der Cultural Studies auch solche Machtverhältnisse in den Blick geraten, die in der Perspektive der Kritischen Psychologie Gefahr laufen, übersehen zu werden; etwa dann, wenn die Beschränkungen, auf die subjektive Begründungen verweisen – und von dieser Möglichkeit gehe ich aus – nicht in erster Linie auf eine verallgemeinerbare gesellschaftliche Ebene verweisen, sondern auf soziale Beziehungen im Nahbereich. Diese stehen u.U. zwar auch mit strukturellen Verhältnissen in Beziehung, jedoch müssen sie nicht für jede Situation von primärer Relevanz sein. Zwar ist innerhalb der Kategorie der Lebenslage der Kritischen Psychologie, die den ‚Standort‘ des Subjekts beschreibt, „‚das Soziale‘ […] irgendwie vorhanden“, so Josef Held (1994, 45), jedoch kommt ihm kaum Bedeutung zu und es wird „nicht gesondert thematisiert“ (ebd.). Da aber gerade der Eingebundenheit von Menschen in soziale Kontexte und ihrer Interaktion mit anderen ein zentraler Stellenwert zukommt – Held spricht davon, dass das Soziale auch als etwas Primäres zu denken sei, aus dem sich dann das Individuelle ergäbe (vgl. ebd., 41) – messe ich dem Sozialen, der sozialen Interaktion und den sozialen Kontexten in meiner Untersuchung eine überaus bedeutsame Rolle bei. Es fungiert als Vermittlungskategorie zwischen Subjekt und Gesellschaft (vgl. ebd., 43ff.), wie es im Prinzip auch im Konzept der Cultural Studies gedacht wird: Das Soziale bzw. Kultur

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stellt hier das zentrale Feld dar, auf dem soziale Bedeutungen und Artikulationen hergestellt und verhandelt werden – dies immer eingebettet in Machtverhältnisse und diskursive Formationen. Insofern gilt für die vorliegende Untersuchung, dass immer, wenn es um die Rekonstruktion von ermöglichenden und behindernden Kontexten, Bedingungen und Verhältnissen geht, auch soziale Beziehungen im Sinne sozial-nahräumlicher Verhältnisse gemeint sind, in denen Individuen bzw. die Jugendlichen sich bewegen. Eine im Hinblick auf die vorliegende Forschungsarbeit gewinnbringende Ergänzung der auf die sozialen Konstruktionen und Artikulationen konzentrierten Perspektive der Cultural Studies, ist jedoch der Fokus, den die Kritische Psychologie auf die Handlungsfähigkeit von Subjekten legt. Zwar betont die hier vorgestellte Perspektive der Cultural Studies neben der Notwendigkeit, eine machtanalytische Perspektive bei der Untersuchung des Zustandekommens von Artikulationen einzunehmen sowie die Dynamik und Unabgeschlossenheit dieser zu berücksichtigen auch die zentrale Rolle, die der Handlungsfähigkeit der Individuen bezüglich des Verschiebens von Bedeutungen und der Schaffung neuer Artikulationen zu kommt. Allerdings bleibt sie bezüglich der Analyse des Zusammenhangs von handlungsfähigen Subjekten und der Hervorbringung von (Re-)Artikulationen relativ vage. Die Kritische Psychologie hingegen stellt mit ihrem Konzept des Möglichkeitsraumes und dem Schema der Bedingungs-Bedeutungs-Begründungsanalyse analytische Instrumente bereit, die es mir erlauben, Subjekte als in gesellschaftlichen Bedingungen Handelnde zu fassen. Als theoretisches System bzw. analytisches Instrument ermöglicht es die Kritische Psychologie, konkrete Erfahrungen und Probleme in ihrer ‚gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit‘ zu sehen und zu untersuchen, ohne dabei das Individuum als handlungsfähiges Subjekt und als eingebunden in vielfältige soziale Kontexte aus den Augen zu verlieren (vgl. Held 1994, 39). Der ergänzende Rückgriff auf den Forschungsansatz der Kritischen Psychologie ermöglicht mir damit die Einnahme einer erweiterten Forschungsperspektive – sowohl in Bezug auf methodische Herangehensweisen als auch im Hinblick auf notwendige Reflexionen.

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In diesem Abschnitt der Arbeit wurde unter Berücksichtigung der An- und Herausforderungen, die das Forschungsinteresse sowie die Rahmungen des Interesses als Forschung zu Rassismus in rassistisch strukturierten Verhältnissen stellen, zunächst die qualitativ-interpretative Sozialforschung samt ihrer Prämissen als grundlegender Rahmen der forschungstheoretischen und -methodologischen Perspektiven der vorliegenden Untersuchung begründet. In einem zweiten Schritt wurden dann der for-

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schungstheoretische Ansatz der Cultural Studies und insbesondere Überlegungen Stuart Halls sowie daraus hervorgehende methodologische Implikationen mit dem Ziel vorgestellt, zum einen eine genauere theoretische Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt, Erfahrungen, Handeln und gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. Rassismus zu ermöglichen und zum anderen so nicht nur die theoretischen, sondern auch die methodologischen Prämissen qualitativ-interpretativer Sozialforschung zu konkretisieren. Ergänzend hierzu habe ich im Anschluss Aspekte des Forschungsansatzes der Kritischen Psychologie vorgestellt, die vor allem im Hinblick auf die Theoretisierung und die Analyse der individuellen Handlungsfähigkeit von Subjekten in gesellschaftlichen Bedingungen wichtige methodologische Anregungen für die Konstruktion eines Forschungsdesigns geben, das den Anspruch verfolgt, rassismuskritisch sowohl zu den Bedingungen von Rassismuserfahrungen zu forschen als auch zu den auf Rassismuserfahrungen Bezug nehmenden Handlungsweisen. In dem letzten Kapitel dieses Abschnittes soll es nun darum gehen, zusammenfassend darzustellen, inwiefern mir die vorgestellten Zugänge für ein möglichst adäquates, analytisch-reflexives methodisches Vorgehen nützlich sind und in Bezug auf die Konstruktion des eigenen Forschungsdesigns berücksichtigenswert erscheinen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werde ich diese Überlegungen in Orientierung an den in repräsentations- und rassismuskritischer Perspektive bereits herausgearbeiteten Prämissen wiederum als (bewegliche) Verhältnisse kategorisieren. Aufgrund der engen Verwobenheiten einzelner Aspekte ist diese Anordnung weniger als deutliche, kategoriale Abgrenzung, als vielmehr als Versuch zu verstehen, eine nützliche ‚Sortierung‘ vorzunehmen. Theorie – Empirie: (Re-)Produktionen Als qualitativ-interpretative Untersuchung folgt diese Arbeit einem ‚entdeckenden‘ Ansatz des Forschens, womit, dem ‚Prinzip der Offenheit‘ folgend, die empirischen Daten gegenüber theoretischen Vorannahmen Vorrang haben (vgl. z.B. Mayring 2002, 27ff.; Held 1994, 135; Rosenthal 2008, 48ff.) und den Ausgangspunkt für die Theoriebildung darstellen. Wie oben erläutert ist jedoch trotz dieses Primats der Daten davon auszugehen, dass theoretische Vorverständnisse in vielfältiger Form – nicht nur als Theoriewissen, das sich aufgrund der wissenschaftlichen Auseinandersetzung konstituiert, sondern auch in Form von Erfahrungs- und Alltagswissen – in die Untersuchung einfließen (vgl. Rosenthal 2008, 49) und die Perspektiven der Forschenden beeinflussen sowie, so die Cultural Studies, als Teil des Kontextes von Forschung ihren Gegenstand mit konstruieren. Das Ziel einer Theoriebildung einzig auf der Grundlage empirischer Daten scheint damit unmöglich und die Überprüfung vorgängiger Theorien anhand einzelner Untersuchungen unangebracht. Vor diesem Hintergrund ist es zum einen notwendig, die (theoretischen) Vorannahmen, welche die Auseinandersetzung mit der empirischen Realität wie die Theorieentwicklung

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mit beeinflussen, zu explizieren (vgl. Held 1994, 135); und zum anderen ist es nötig, die gewählten theoretischen Perspektiven und Zugänge hinsichtlich ihres Potenzials, das Erkenntnisinteresse auch in rassismuskritischer Perspektive angemessen zu verfolgen, einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Wenngleich das Ziel dieser Untersuchung also u.a. das Generieren von Theorien und Hypothesen aus dem empirischen Material ist, so ist die ‚Entstehung‘ dieser doch keineswegs von vorgängigen Theorien ‚befreit‘, lassen sich Daten nicht ohne den Rückgriff auf Theorien und Kontextwissen interpretieren. Interpretationen und Erklärungsversuche empirischer Daten sind immer Konstruktionen, in die die machtdurchdrungenen Subjektivitäten und das Kontextwissen der Forschenden einfließt: Alle Theoretisierungen und Interpretationen, „wie sorgfältig sie auch immer getestet oder belegt sein mögen, bleiben am Ende das Werk eines Autors“ (Hall 1996, zit. n. Denzin 2005, 146). Theorie und Empirie stehen also in einem unauflösbaren, wechselseitig aufeinander Einfluss nehmenden Verhältnis zueinander und ‚Erkenntnis‘ ist demzufolge als das Produkt einer Spiralbewegung zwischen Vorverständnissen, Theorien und empirischen Phänomenen zu begreifen (vgl. Breuer 2009, 48), die zudem immer von Machtverhältnissen gerahmt ist. Gleichwohl darf Interpretation und Theoriebildung doch in keinem Fall zur subjektiven Beliebigkeit werden. Notwendig ist daher eine methodische Reflexion der Interpretationsarbeit und der Kontexte des Interpretierens (vgl. Berg/Milmeister 2007, 46), der ich mich insbesondere in Abschnitt IV zuwende. Das Kontextwissen, die Vorannahmen und Wissensbestände der Forschenden sind somit sowohl als die Forschung immer und notwendigerweise rahmend als auch als Ressource beim Umgang mit dem empirischen Material zu verstehen, die die Sensitivität bei der Theoriebildung erhöhen. Sie gilt es als ‚sensibili sierende Konzepte‘ (vgl. Blumer 2004/1969; Strauss/Corbin 1996) und Teil der Kontextkonstruktion (vgl. Kap. III 2.2) reflexiv zu nutzen (vgl. Strauss 1991, 36f.). Forschungsinstrumente und Methoden, die vor dem Hintergrund dieser Prämissen entwickelt werden, müssen in der Lage sein, ein hohes Maß an Offenheit, im Sinne einer größtmöglichen Orientierung an den Relevanzsystemen der ‚zu beforschenden‘ Subjekte, zu ermöglichen (vgl. Rosenthal 2008, 128). In diesem Sinne wird das Schaffen von Bedingungen angestrebt, in denen die Entfaltung subjektiver Perspektiven auf den Alltag und die Lebenswelt der Subjekte, ihre Wissensbestände, Deutungen und Bedeutungen zur Geltung kommen können (etwa in Situationsbeschreibungen, Handlungsbegründungen und Argumentationen), um diese auf ihre Machtförmigkeit, ihre Eingebundenheiten in Diskurse und gesellschaftliche Verhältnisse untersuchen zu können, wie es in den obigen Kapiteln zu den Perspektiven der Cultural Studies und der Kritischen Psychologie ausgeführt wurde. Den Forschungsprämissen der Kritischen Psychologie folgend, sind Forschende am gemeinsamen Forschungsprozess mit den ‚Mitforschenden‘ handelnd beteiligt.

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Mit Blick auf das Forschungsverhältnis zwischen Forschenden und ‚Mitforschenden‘ ist in dieser Beziehung die Reflexion des Verhältnisses von „Nähe und Distanz“ (Held 1994, 137) notwendig, beziehungsweise ist die Frage zu stellen, inwieweit eine Beteiligung der oder des Forschenden an Prozessen der Datenerhebung, die sich an den Relevanzen der ‚zu beforschenden‘ Subjekte orientieren sollen, angemessen ist. Auf der einen Seite ist es – im Interesse des Erkenntnisprozesses – von entscheidender Wichtigkeit, dass alle Forschungssubjekte sich mit ihren Subjektivitäten am kommunikativen Prozess der Datenerhebung beteiligen. Auf der anderen Seite braucht der bzw. die Forschende ein gewisses Maß an reflexiver Distanz, um den kritischen Blick ‚von außen‘ auf das Forschungsgeschehen nicht zu verlieren (vgl. ebd.). Hier ist es besonders wichtig zu betonen, dass die Beteiligung von Forschenden am kommunikativen Geschehen in der Phase der Datenerhebung nicht dem Prinzip der Offenheit widersprechen darf. Das heißt, dass eine solche Beteiligung keinesfalls mit dem ‚Überstülpen‘ von Interpretationen und Relevanzsetzungen oder mit einer Haltung des ‚Besser-Wissens‘ von Seiten der oder des Forschenden einhergehen darf, sondern dass die Beteiligung in einem Modus dialogischer Kommunikation erfolgen sollte, die auch das provokative und kontroverse Sprechen und Diskutieren erlaubt, um so Vertiefungen und Reflexionen anzuregen. Um dies zu ermöglichen, bedarf es des Interesses aller an der Untersuchung Beteiligten an der Forschung. Insbesondere in der vorliegenden Arbeit ist hier nicht nur ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen mir als Forschender und den an der Forschung partizipierenden Jugendlichen notwendig, sondern auch ein stetiges Reflektieren dieses Verhältnisses hinsichtlich der unterschiedlichen Involviertheiten in Rassismus sowie in andere Machtverhältnisse. Dieses Reflektieren ermöglicht erst ein solches dialogisches Sprechen im Sinne eines ‚fruchtbaren‘ Erkenntnisprozesses. Während Vertreterinnen und Vertreter der Kritischen Psychologie die Relevanz der intersubjektiven Beziehung zwischen Forschenden und ‚Mitforschenden‘ betonen, die es im Datenerhebungsprozess zu berücksichtigen gilt, damit eine Forschung vom Standpunkt des Subjektes aus gelingen kann, sprechen sich Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies für eine dem Gegenstand von Forschung angemessene ‚Bricolage‘ in der Entwicklung von theoretischen wie methodologischen Vorgehens- und Zugangsweisen aus. Insbesondere in rassismuskritischer Forschungsperspektive ist daher zu betonen, dass hier solche Methoden zu wählen sind, welche die mitforschenden Jugendlichen nicht objektivierend als ‚besondere Andere‘ ansprechen, hervorbringen und festschreiben. Vielmehr sind solche Vorgehensweisen zu entwickeln, die es vermögen, Jugendliche als widersprüchliche, vielfältig positionierte und handelnde Subjekte zu betrachten und zur Geltung zu bringen. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es entsprechend, Räume der Selbsterkundung und -präsentation zu schaffen (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003,

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104), in denen in bewusster und gewollter Interaktion zwischen den am Forschungsprozess beteiligten Subjekten kommuniziert und geforscht wird. Eine bloße Selbstdarstellung der jugendlichen ‚Anderen‘, der ‚Beforschten‘ zum Zwecke der Wissensvermittlung an mich als Forschende – ein Vorgehen, wie auch Paul Mecheril, Karin Scherschel und Mark Schrödter (2003) es kritisieren – kann insbesondere angesichts des Anliegens, hier eine rassismuskritische Forschungsarbeit vorzulegen, keinesfalls das Ziel sein. Die Frage, wer von wem (auf wessen Kosten) lernt, ist in einem solchen Prozess keine einseitig zu beantwortende, sondern eine überaus komplexe Frage: Im Idealfall wird die Untersuchung zu einem dialogischen, wechselseitigen Prozess des Erkenntnisgewinns. Mit der Frage, ob dies in dieser Studie ‚gelungen‘ ist, werde ich mich in der Reflexion insbesondere des ersten Datenerhebungsprozesses in Abschnitt IV auseinandersetzen. Forschende – ‚Beforschte‘: Reflexivität Forschenden, die sich empirischen Wirklichkeiten mit einem Erkenntnisinteresse nähern, kommt nicht nur die Aufgabe zu, die von ihnen beobachteten, methodisch untersuchten sozialen Wirklichkeiten anderer Subjekte als spezifische Erfahrungen in gesellschaftlichen Verhältnissen, als eingebunden in machtförmige Debatten und Diskurse zu begreifen und zu interpretieren. Sie sind außerdem gefordert, auch die eigenen Deutungen zum einen als mit den gewählten theoretischen Überlegungen und Zugangsweisen in Zusammenhang stehend zu betrachten und zum anderen als verbunden mit dem Involviert-Sein der eigenen Erfahrungen in soziale Kontexte, Verhältnisse und Diskurse zu sehen. Forschende und ‚zu Beforschende‘ sind entsprechend gleichermaßen als Subjekte von Forschung zu begreifen, deren Denken, Fühlen und Handeln in den Forschungsprozess mit einfließen – jedoch kann in einem Forschungsprozess keinesfalls von einem hierarchiefreien, gleichberechtigten Verhältnis zwischen ihnen gesprochen werden. Die verschiedenen, miteinander verwobenen Orte und Positionierungen in einem sozialen Gefüge kontextspezifischer (Machtungleichheits-)Verhältnisse und die von diesen beeinflussten Handlungsmöglichkeiten und subjektiven Perspektiven, die sich in dem interaktiven Prozess des Interpretierens, Verhandelns und Hervorbringens von Bedeutungen und Wissen zwischen forschenden und ‚zu beforschenden‘ Subjekten manifestieren und aufeinandertreffen, müssen reflexiv in den Prozess der Erkenntnisgewinnung einbezogen werden – und dies als Mittel der Erkenntnis, nicht als zu ‚beseitigender‘, ‚störender‘ Faktor. (Selbst-)Reflexivität ist daher unabdingbarer Bestandteil von Forschung.12 12 Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass es die Forschenden sind, denen, aufgrund der ihnen in letzter Instanz zukommenden Interpretations-, Definitions- und Repräsentationsmacht, die Verantwortung für im Diskurs wiederum produktiv werdende Repräsentationen zukommt.

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In Anlehnung an die Cultural Studies verstehe ich hierunter nicht die bloße Benennung der eigenen sozialen Gruppenzugehörigkeiten, sondern vielmehr eine kontinuierliche Praxis des reflexiv-fragenden Einbezuges möglicher, auf das Forschungsgeschehen Einfluss nehmender Dimensionen und Aspekte des Ortes, an dem und von dem aus geforscht wird (vgl. Kap. II 1; III 2.2.). Dies umfasst nicht nur die eigene soziale – in meinem Fall: überwiegend gesellschaftlich normalisierte und also privilegierte – Positionierung, sondern auch weitere Faktoren dieses Ortes, wie etwa seine Ausgestaltung oder institutionelle Einbindungen. Darüber hinaus müssen selbstverständlich auch die sozialen Positionierungen und Kontexte der an der Forschung teilnehmenden ‚Beforschten‘ im Hinblick auf ihre möglichen Relevanzen im Forschungsgeschehen stetig befragt werden. In Anlehnung an das Konzept der Artikulation nach Hall, aber auch auf Intersektionalitätstheorien Bezug nehmend, verstehe ich diese ‚Orte‘ nicht als monolithische Gebilde, auf die Subjekte festzulegen sind, sondern als je individuell ausgestaltete Formen der Einnahme von Positionen in einer positionierenden Ordnung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die spezifische Form der Einnahme von im Diskurs offerierten Subjektpositionen durch Subjekte ist dabei maßgeblich durch die subjektiven Interpretationen und Sinnzuschreibungen in spezifischen Kontexten bestimmt, in denen unterschiedliche Aspekte und Differenzverhältnisse subjektiv relevant und bedeutungsvoll werden. Auch Bourdieu warnt in Bezug auf die Forderung nach Selbstreflexivität der Forschenden vor einem Verständnis, bei dem, einem ‚Kurzschluss‘ gleich, eine direkte Verbindung zwischen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Bedingungen und den von den Produzenten und Produzentinnen – die als Produkt der sozialen Bedingungen vorgestellt werden – produzierten Produkten angenommen wird (Bourdieu 1995, 370). Selbstreflexivität, so Bourdieu, meint daher nicht nur – aber auch – Reflexivität hinsichtlich des eigenen biografischen Hintergrundes oder sozialer Gruppenzugehörigkeiten wie ethnische oder geschlechtliche Herkunft, also der „sozialen Bedingungen der Produktion des Produzenten“ (ebd.). Stattdessen plädiert er für die Berücksichtigung der ‚wesentlichen Vermittlung‘ in der gesellschaftlichen Welt als Feld kultureller Produktionen (vgl. ebd.) und verweist im Zuge dessen auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung struktureller und institutioneller Orte. Bourdieu macht diesbezüglich zum Beispiel auf „die unbewußten Vor-Urteile, die in die Theorien eingeschrieben sind, […] die Fragestellungen, die Kategorien […] des Wissenschaftsverständnisses“ aufmerksam (ebd., 366). Es geht ihm hier vor allem auch um die Positionierung im wissenschaftlichen Feld, „das heißt in dem objektiven Raum sozialer Positionen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb einer bestimmten wissenschaftlichen Welt darbieten“ (ebd., 370). Der für mich als zentral zu bestimmende Ansatz von Reflexivität in Forschung ist entsprechend die im Rahmen der Cultural Studies geforderte konsequente Kon-

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textualisierung: die stetige Frage nach den machtvollen sozialen Beziehungen, Verhältnissen und Bedingungen, auf die Subjekte deutend und sich positionierend Bezug nehmen und im Rahmen derer Interaktion, Erfahrung, Handeln, Begründen etc. stattfinden; und damit auch die Frage, welche Aspekte eines Kontextes dazu beitragen, dass ein spezifisches Handeln überhaupt erst möglich wird. Bourdieu geht in seiner Auseinandersetzung mit Reflexivität davon aus, dass „die Primärerfahrung des Gesellschaftlichen ein Verhältnis unmittelbaren Glaubens darstellt, das uns dazu veranlaßt, die Welt zu akzeptieren, wie sie ist“ (Bourdieu 1995, 367), und dass diese Tatsache zu der Notwendigkeit führt, „über die bloße Beschreibung hinaus[zu]gehen und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser doxischen Erfahrung [zu] stellen“ (ebd.). Denn erst dann, so Bourdieu, lässt sich erkennen, „daß die Übereinstimmung der objektiven Strukturen mit den verinnerlichten, einverleibten Strukturen […] ein besonderer Fall im Universum der möglichen Beziehungen zur Welt darstellt“, dass „diese Bedingungen [jedoch, W.S.] keine universelle Geltung besitzen“ (ebd.). Wichtiger noch als diese Erkenntnis ist aber die sich auf diese Weise, mittels des ‚Soziologisierens‘ (vgl. ebd.) ermöglichende, kritische Bezugnahme auf gesellschaftliche Verhältnisse, die es erlaubt, aufzuzeigen, dass diese unreflektierte, erlebte Selbstverständlichkeit des Erfahrens einer quasi ‚natürlichen‘ Welt auch mit der Akzeptanz von ungleichen Bedingungen einhergeht, mit einer Zustimmung zur herrschenden Ordnung, „die dazu führt, Existenzbedingungen für natürlich zu halten, die empörend wären für jemanden, der unter anderen Bedingungen sozialisiert worden ist und der sie nicht durch die Wahrnehmungskategorien jener Welt erfasste“ (ebd., 368). Forschung – Subjekt – Gesellschaft: Repräsentation und Intervention Die dargelegten forschungstheoretischen Rahmungen berücksichtigend und davon ausgehend, dass Forschung im Gegenstandbereichen Rassismus und Migration immer auch eine politische Stellungnahme, eine Positionierung im politischen Diskurs ist und zur Folge hat, darf und kann sich Forschung in diesem Feld – ebenso wenig wie Forschende – nicht als objektiv, unpolitisch und/oder neutral beschreiben. Im Gegenteil sollte neben der Reflexion der Kontexte und eigenen Involviertheiten auch über das – im Sinne der Cultural Studies – ‚Politische‘ oder das kritische Potenzial bzw. über die mit einer Forschungsarbeit einhergehenden Bestrebungen und Herausforderungen auf der Ebene der gesellschaftlichen Verhältnisse nachgedacht werden. Die vorliegende Studie stellt den Versuch dar, einen analytischen Blick auf die subjektiven Bedeutungen zu werfen, die gesellschaftliche und soziale Verhältnisse bzw. machtvolle Diskurse für das Erfahren, Deuten und Handeln von Jugendlichen haben, die in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft als ‚Andere‘ markiert werden. In diesem Zusammenhang gilt meine analytische Aufmerksamkeit auch den

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Handlungsweisen dieser Jugendlichen, die in rassistisch strukturierten Verhältnissen aufgefordert sind, mit sozialen Praktiken umzugehen, in denen sich Bedeutungen und Wissensbestände manifestieren, die an ein rassistisches Erklärungs- und Wissenssystem anschließen. Bezug nehmend auf die Forschungsperspektiven der Cultural Studies und der Kritischen Psychologie gehe ich dabei davon aus, dass eine Analyse des Erfahrens, Deutens und Handelns von Menschen nur unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnisse und machtvollen diskursiven wie sozialen Kontexte vonstatten gehen kann, in denen diese eingebunden sind. Ferner gehe ich davon aus, dass darüber hinaus eine Analyse des subjektiven Erfahrens, Deutens und Handelns Aufschluss über die Verhältnisse und Kontexte und die ihnen innewohnenden Machtverhältnisse zu geben vermag, in denen Erfahren, Deuten und Handeln begründet liegen. Diese hier eingenommenen Perspektiven scheinen mir zunächst geeignet zu sein, die Gefahr essentialisierender und homogenisierender Beschreibungen von ‚Anderen‘ als anders Seiende ein Stück weit zu vermeiden und die an dieser Forschungsarbeit partizipierenden Jugendlichen vielmehr als gesellschaftliche und soziale Verhältnisse in spezifischer Weise, nämlich in Relation zu jenen, die keine Rassismuserfahrungen machen, in anderer Weise Erfahrende zu betrachten. Denn ein Anliegen dieser Forschung ist es, die beteiligten Jugendlichen nicht als „jene in den Blick [zu nehmen, W.S.], die ‚für uns‘ Andere sind“ (Mecheril 1999, 249) und sie damit als ‚Anders-Seiende‘ weiter in dominanten Kategorien des ‚Anders-Seins‘ festzuschreiben. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit sollen stattdessen vielmehr Fragen danach stehen, wie „diese ‚Anderen‘ mit der beständigen Zuschreibung, für ‚uns‘ andere zu sein, […] umgehen“ (ebd.), wie sie ausgrenzende und benachteiligende Strukturen und Praktiken erfahren und deuten, sich gegenüber diesen positionieren und handeln. Diesbezüglich lässt sich auch auf den subjektwissenschaftlichen Ansatz verweisen, demzufolge nicht das Subjekt als Repräsentantin oder Repräsentant einer sozialen Gruppe im Mittelpunkt der forschenden Aufmerksamkeit steht, sondern eben die soziale Wirklichkeit sowie Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen in je subjektiver Perspektive (vgl. Markard 2000, 15ff.). Hinsichtlich eines angestrebten intervenierenden Charakters meiner Untersuchung beabsichtige ich, ein Wissen bereitzustellen, das (sowohl im System des Rassismus privilegierte wie deprivilegierte) Menschen darin unterstützt, Zusammenhänge zu erkennen und widerständige Praktiken in Verhältnissen sozialer Ungleichheit zu entwickeln. Mit dem Anliegen des ‚Sichtbarmachens‘ einer rassistisch strukturierten Welt in der marginalisierten Perspektive der von Rassismus betroffenen Jugendlichen ist auch das Ziel verbunden, machtvolle und als ‚wahr‘ geltende Wissensbestände und Artikulationen kritisch in Frage zu stellen. Sie sind hinsichtlich ihres Konstruktionscharakters und ihrer Machtförmigkeit zu untersuchen, um auf diese Weise in den Kampf um Bedeutungen einzugreifen – und damit auch auf

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Kontexte und Bedingungen, die etwa rassistische Bedeutungsproduktionen und Praktiken in spezifischer Weise ermöglichen, verändernd Einfluss zu nehmen. 13 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass auch die Jugendlichen in Prozessen des Interpretierens und Umgehens mit Wissensbeständen und Bedeutungskonstruktionen Bedeutungen hervorbringen und somit u.U. ebenfalls in rassismuskritischer Weise an diesem Ringen um Bedeutungen beteiligt sind, was es in der Auseinandersetzung mit den Daten zu analysieren gilt. Auf einer subjektbezogenen Ebene geht es mir darum, den Forschungsprozess so zu gestalten, dass eine gemeinsame Reflexion der eigenen Subjektpositionen und des Handelns in gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen stattfinden kann. Diese Reflexion trägt im besten Fall dazu bei, zu erkennen, inwiefern das eigene Handeln in solche Verhältnisse involviert ist, die sich als begrenzend oder auch ermöglichend auf Handlungsbedingungen auswirken und darüber nachzudenken, wie – gemeinsam mit anderen – auf diese Bedingungen eingewirkt werden kann, bzw. wo sich Möglichkeiten der Ausweitung von Handlungsspielräumen sowie Spielräume für widerständige Handlungspraktiken ergeben. Obwohl es mir also durchaus auch um die Erweiterung von Möglichkeitsräumen und widerständiger Handlungsfähigkeit geht, kann das Ziel der vorliegenden Untersuchung doch nicht sein – auch wenn dies als Ziel in kritisch-psychologischer Forschung formuliert wird – im Sinne der Realisierung von Entwicklungsfiguren (vgl. oben; Markard 2000) zu einem veränderten Handeln beizutragen, um auf diese Weise zu Problemlösungen auf struktureller Ebene zu kommen. Implizierte ein solches Ziel doch, dass die Verantwortung für die Veränderung rassistisch strukturierter Ungleichheitsverhältnisse den von Rassismus betroffenen Jugendlichen und ihrem Handeln zukäme. Bezugnehmend auf Huck (vgl. 2006, 126, zit. bei Markard 2010, 176) lässt sich diesbezüglich formulieren, dass ein Interesse an Lösungsansätzen, die auf der individuellen Handlungsebene zu verorten sind, nur unter der Prämisse des Wissens um ihre Unzulänglichkeit geschehen kann. Die hier eingenommene Perspektive konzentriert sich auf die Bestimmung von restriktiven gesellschaftlichen und situationsspezifischen sozialen Faktoren und Verhältnissen, die individuelle Handlungsmöglichkeiten und Lebensqualitäten einschränken, als primär zu verändernde, jedoch nicht primär durch das Handeln der Jugendlichen zu verändernde Aspekte. Dies soll nicht heißen, dass nicht auch die Jugendlichen auf ambivalente Weise in rassistische Verhältnisse verstrickt sind. Auch die analytische Be13 In Perspektive der Kritischen Psychologie ließe sich hier mit Ute Osterkamp ergänzen, dass aufgrund der Vermitteltheit von objektiven Bedingungen über ihre gesellschaftlichen Bedeutungen „eine zentrale Aufgabe subjektwissenschaftlicher Forschung […] darin [besteht], die Standortgebundenheit und ‚Oberflächlichkeit‘ herrschender Sichtweisen sowie die ihnen implizite Parteinahme für die bestehende Ordnung aufzuzeigen, um die vielen ‚Selbstverständlichkeiten‘, die unser Denken und Handeln bestimmen, auf ihre Interessenverhaftetheit hin überprüfen zu können“ (Osterkamp 2000, 36).

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trachtung ihrer Deutungen und Handlungen hinsichtlich des Beitrags, den diese etwa zur Reproduktion von rassistisch wirkenden Artikulationen oder zur Aufrechterhaltung problematischer Situationen leisten, ist notwendiger Bestandteil einer Forschung, die ihre Forschungssubjekte nicht zu kategorisierbaren Objekten (z.B. als ‚ohnmächtige Opfer‘) machen möchte, sondern ihren Subjektstatus ernst nimmt. Vor dem Hintergrund dieser Prämissen kann ‚eingreifendes Forschen‘ – im Sinne von ‚erkennen und verändern‘ (vgl. Markard 2010, 174) –, das Anstreben eines ‚angemesseneren‘ oder ‚veränderten‘ individuellen oder auch kollektiven Handelns etwa bedeuten, im Zuge des Forschungsprozesses der gesellschaftlichen Dimension der ‚eigenen‘ Problemlagen gewahr zu werden und zu erkennen, dass diese weder allein der individuellen Verantwortung geschuldet sind, noch allein auf individueller oder interpersonaler Ebene lösbar sind. Mögliche Konsequenzen könnten sein, nach Handlungsweisen zu forschen, die soziale Bedeutungen und soziale Ordnungen hinterfragen und diese in ihrer anscheinenden Akzeptanz und Normalität stören. Es kann aber auch das Forschen nach Umgangsweisen mit Rassismuserfahrungen im Sinne von ‚Bewältigung‘ bedeuten. Die möglichen Effekte solcher Erkenntnisprozesse über das eigene Involviertsein in machtvolle Verhältnisse können für die Jugendlichen vielfältig sein. Sie reichen vermutlich von der Erleichterung, nicht individuell verantwortlich zu sein, dem Wunsch nach Austausch, nach Solidarisierung oder politischem Handeln gemeinsam mit anderen, bis hin zu Resignation und gefühlter Handlungsunfähigkeit. Letztere möchte ich als unintendierte Effekte im Forschungsprozess unbedingt vermeiden. Sollten sie sich dennoch in einzelnen Fällen nicht vermeiden lassen, muss eine pädagogische Intervention sichergestellt werden. Hier gilt, was oben bereits thematisiert wurde: dass der oder dem Forschenden eine hohe Verantwortung für die Forschung und den Forschungsprozess zukommt – hinsichtlich der Repräsentation, aber auch hinsichtlich der Prozesse, die im Forschungsprozess initiiert werden, und ihrer individuellen Auswirkungen. Die hier vorgestellten ‚kritischen Interventionen‘, die diese Forschungsarbeit anstrebt, können an dieser Stelle mit der Forderung Mecherils ergänzt werden, demzufolge es gilt, Erkenntnisproduktion reflexiv so zu organisieren, dass die Ergebnisse „Kommunikationen zur Folge haben, welche einen Beitrag zum Bewusstmachen von Herrschaft und sozialer Benachteiligung leisten sowie eine Auseinandersetzung mit Mitteln ihrer Überwindung unterstützen“ (Mecheril 1999, 245). Und auf diese Weise, so ließe sich ergänzen, wiederum den Menschen, mittels einer Kritik ungleicher sozialer Verhältnisse und der Unterstützung des Entwickelns widerständiger Praxis, zugute kommen. Unternommen wird hier also der Versuch eines Verhältnisse verändernden Forschens und Sprechens für anstelle eines Forschens und Sprechens über Menschen.

IV Forschungspraxis

Im Folgenden werde ich zunächst den Entstehungshintergrund der vorliegenden Studie und meinen Zugang zum Feld sowie die an der Forschung beteiligten Jugendlichen vorstellen (vgl. Kap. 1), bevor ich im Anschluss mein methodisches Vorgehen in dieser Untersuchung beschreibe und begründe. Hier werde ich mich zunächst den Datenerhebungsphasen zuwenden (vgl. Kap. 2), mein jeweiliges Vorgehen darlegen und vor dem Hintergrund der Kontexte, die die Erhebungssituationen rahmen, reflektieren, um diese als Teil der Erkenntnis- und Wissensproduktionen, auch im Hinblick auf die sich anschließende Datenanalyse, transparent zu machen. Dies gilt insbesondere für das erste von drei Settings der Datenerhebung, in dem im Rahmen eines ‚pädagogischen Forschungssettings‘ mit Jugendlichen zum Thema Diskriminierung gearbeitet und geforscht wurde (vgl. Kap. 2.1), aber auch für die Einzelinterviews, die ich mit Jugendlichen in einer zweiten Datenerhebungsphase im Anschluss an dieses geführt habe (vgl. Kap. 2.2). Ergänzend fließen zudem Daten ein, die im Rahmen eines Film- und eines Kunstprojektes mit Jugendlichen entstanden sind, die ursprünglich nicht als Teil der Datenerhebung zur vorliegenden Arbeit gedacht waren (vgl. Kap. 2.3). Abschließend werde ich in diesem Abschnitt mein Vorgehen bei der Datenauswertung beschreiben und begründen (vgl. Kap. 3).

1 F ORSCHUNGSPRAKTISCHER H INTERGRUND Entstehungskontext Das Anliegen, ein Forschungsprojekt zu Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen und ihren Umgangsweisen mit diesen durchzuführen, ist aus meinen praktischen Tätigkeiten und Erfahrungen in einer Einrichtung der außerschulischen Jugendarbeit entstanden: Immer wieder wurde dort deutlich, dass die Jugendlichen, mit denen ich zusammen gearbeitet habe, vielfältige Erfahrungen mit Diskriminie-

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rung im Alltag machen, und dass sie mit diesen Situationen und Erfahrungen – sehr unterschiedlich – umgehen. Die Situationen und Erlebnisse, von denen die Jugendlichen im Jugendtreff-Alltag berichteten, beinhalteten diskriminierende Erfahrungen, bei denen auf unterschiedliche Diskriminierungsformen Bezug genommen wurde: So wurde etwa von Geschehnissen berichtet, in denen ihr ‚Jugendlich-Sein‘ oder ihr Geschlecht zum Anlass für Zuschreibungen und Ausgrenzung herangezogen wurden. Weitaus häufiger ging es jedoch um Situationen, in denen die Jugendlichen mit kulturalisierenden, ethnisierenden und religionisierenden Zuschreibungen konfrontiert waren – häufig in Verbindung mit ihrem Alter und/oder ihrem Geschlecht. Als pädagogisches Team in der Einrichtung hatten wir jedoch den Eindruck, dass es sowohl im persönlichen Alltag der Jugendlichen als auch im gemeinsamen Alltag des offenen Jugendtreffs zu wenige Gelegenheiten und Möglichkeiten für die Jugendlichen gab, sich mit ihren Erfahrungen, den Kontexten, in denen sie diese machen und ihren Handlungsmöglichkeiten und Umgangsweisen ernsthaft und mit Zeit auseinanderzusetzen, sich auszutauschen und Unterstützung von Anderen zu erfahren. Ein angemessener Rahmen, um über die häufig lediglich als Anspielungen in den Raum geworfenen Erlebnisse und Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung adäquat sprechen zu können, so unser Empfinden, fehlte. Als in der Jugendarbeit tätige Pädagogin war es mein Anliegen, den Jugendlichen einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem dieser Austausch von Erfahrungen und Handlungspraktiken sowie gegenseitige Unterstützung potenziell möglich sind und die Jugendlichen einzuladen, diesen zu nutzen. Als Wissenschaftlerin interessierte mich, wie die Erfahrungen der Jugendlichen, ihr Erleben von Diskriminierung sowie ihr Umgang mit Situationen, in denen sie mit Zuschreibungen und mit Verweisungen auf Positionen der Nicht-Zugehörigkeit konfrontiert sind, mit den gesellschaftlichen Bedingungen zusammenhängen, welche die Lebenswelten der Jugendlichen in spezifischer Weise rahmen. Auf der Grundlage dieser beiden Interessen kam es zur Konzeption des vorliegenden Forschungsprojektes. Thematischer Rahmen Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Erfahrungen, die Jugendliche im Jugendtreff-Alltag schilderten, in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei den Besucherinnen und Besuchern des Jugendtreffs fast ausschließlich um sogenannte ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘ handelte sowie angesichts migrationspädagogischer Überlegungen (vgl. Mecheril 2004) und rassismuskritischer sowie qualitativ-interpretativer Forschungsprämissen habe ich mich entschieden, in der Konzeption des Forschungsdesigns Raum für die Thematisierung verschiedener Formen von Diskriminierung zu geben, Rassismus und Rassismuskritik aber besondere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen (vgl. unten).

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In der Konsequenz habe ich zum einen zur Teilnahme an dem Forschungsprojekt nur Jugendliche eingeladen, bei denen ich davon ausging, dass sie in ihrem Alltag Rassismuserfahrungen machen: Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund – wobei dies auch die Jugendlichen waren, mit denen ich im Zuge meiner Tätigkeiten im Jugendtreff vornehmlich zu tun hatte. Auf diese Weise wollte ich einen Rahmen bereitstellen, der den Austausch über Rassismuserfahrungen im Kreise jener, die vermutlich Ähnliches erfahren, u.U. erleichtert. Zum anderen habe ich mich bemüht, im Vorfeld und während des Forschungsprozesses deutlich zu machen, dass alle für sie wichtigen Themen, die mit Diskriminierung in Zusammenhang stehen, relevante Themen der Auseinandersetzungen sind. 1 In Anlehnung an den Intersektionalitätsansatz war es mein Anliegen, Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Diskriminierung und Zugehörigkeitsverhältnissen sowie ihre Überschneidungen in den Blick zu nehmen. Rassismus wurde daher in der Kommunikation mit den Jugendlichen nicht in besonderer Weise hervorgehoben. Stattdessen wurde allgemein von Diskriminierung gesprochen. Im Mittelpunkt sollten die Relevanzen der Jugendlichen stehen, eine Reduktion der Jugendlichen und ihres Erlebens von Diskriminierung auf Rassismuserfahrungen wollte ich vermeiden. – Die Auseinandersetzungen im Forschungsprozess wurden dann allerdings deutlich von solchen Erfahrungen dominiert, die mit Rassismus zu tun haben, womit dieses Ungleichheitsverhältnis auch ins Zentrum der vorliegenden Arbeit gerückt ist. Dies verweist zum einen auf die Relevanz des Themas in den Lebenswelten der Jugendlichen, zum anderen kann davon ausgegangen werden, dass diese Entwicklung bzw. der gewählte Themenschwerpunkt auch durch die Zusammensetzung der Gruppe beeinflusst wurde. Zugang zum Feld Im Rahmen des ‚Projektes zur interkulturellen Kinder- und Jugendarbeit‘, so die offizielle Umschreibung der oben erwähnten Einrichtung der außerschulischen Jugendarbeit, einem Jugendtreff, in dem verschiedene Projekte und Aktivitäten für Kinder und Jugendliche angeboten werden, habe ich über sieben Jahre hinweg ehrenamtlich und als Referentin Projekte und Aktivitäten begleitet. Den Kern meiner Arbeit bildete eine jährlich stattfindende Ausbildung für Jugendliche zu Jugendgruppenleiterinnen und -leitern (Juleica-Ausbildung), die ich in Kooperation mit der den Treff leitenden Pädagogin durchgeführt habe.2 Ein Teil der insgesamt etwa 60 1

Z.B. auch in der Einladung zur Forschungswerkstatt und den vorbereitenden Informationstreffen.

2

Es waren fast ausschließlich Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund, die die Angebote des Jugendtreffs nutzten. Die Juleica-Ausbildungen waren Teil eines größeren Projektes und richteten sich vor dem Hintergrund seiner Zielsetzungen in den ersten Jahren ausschließlich an Jugendliche, die selbst oder deren Eltern Migrationserfahrungen ge -

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Jugendlichen, die zwischen 2005 und 2009 an einer der jährlich stattfindenden Juleica-Ausbildung teilgenommen hat, traf sich bis zum Frühjahr 2011 weiterhin regelmäßig einmal im Monat als Gruppe, um sich in Begleitung der hauptamtlichen Pädagogin und mir über Praxiserfahrungen in ihrer ehrenamtlichen Arbeit auszutauschen, sich fortzubilden und gemeinsame ‚Arbeitseinsätze‘ (z.B. bei Stadtfesten o.Ä. zur Kinderbetreuung, Kinderschminken usw.) zu planen. Ein anderes zentrales Projekt, das ich mit der bereits erwähnten Kollegin und einer Kunstpädagogin begleitete, war ein Kunstprojekt zu Rassismuserfahrungen, an dem 15 Jugendliche teilnahmen, die ich zum Teil bereits aus dem Juleica-Projekt kannte. Meine Arbeit mit Jugendlichen im Zusammenhang des Jugendtreffs zeichnete sich zum Zeitpunkt des Forschungsprojektes und der Datenerhebung also durch ein gewisses Maß an Vertrauen und Kontinuität aus – mit den ‚Ältesten‘ arbeitete ich sechs Jahre zusammen –, obgleich meine Rolle in der Gruppe aufgrund der Struktur und des Rahmens unserer Begegnungen, die in der Regel projektzentriert waren, in erster Linie die einer Bildungsreferentin, einer pädagogischen Fachberatung und Fortbildnerin war und nicht so sehr die einer ihren Alltag begleitenden Sozialpädagogin. Über die Familiengeschichten, privaten Wünsche und Sorgen der Jugendlichen wusste ich, insbesondere im Vergleich zu der Pädagogin vor Ort, nur wenig. Beteiligte Jugendliche und erhobene Daten Insgesamt waren 22 Jugendliche an den verschiedenen Etappen der Forschung und den Projekten, die in diese Eingang gefunden haben, beteiligt. Alle an dem Haupt teil der Forschung – der Forschungswerkstatt (vgl. Kap. 2.1) und den Einzelinterviews (vgl. Kap. 2.2) – sowie dem Filmprojekt beteiligten Jugendlichen nahmen zum Zeitpunkt der Datenerhebung unterschiedliche Angebote des Jugendtreffs wahr, weshalb ich sie alle kannte. An dem Kunstprojekt nahmen hingegen auch Jugendliche teil, die ich erst in diesem Rahmen kennenlernte. 3 Zum Zeitpunkt der Datenerhebungen waren die 16 Jugendlichen, von denen letztlich verbale Daten ins zu analysierende Material einflossen, zwischen 13 und 22 Jahren alt, wohnten in Kleinstädten im ländlichen Raum und besuchten verschiedene Schulen. Drei besuchten die Hauptschule, einer die Gesamtschule, drei das Gymnasium, sechs die Fachoberschule und drei das Fachgymnasium – wobei die Mehrzahl der Schulkarmacht haben und deren Erstsprache nicht Deutsch war. Erst in den letzten beiden Jahrgängen entstand aufgrund einer Kooperation mit einem Projekt der Gesamtschule des Ortes eine auch diesbezüglich heterogene Gruppe. 3

Im Folgenden auf größtmögliche Anonymisierung Wert gelegt. Das bedeutet etwa, dass es keine ‚Übersicht‘ gibt, aus der personalisierte ‚Fakten‘ über die Jugendlichen, wie etwa die besuchte Schulform, hervorgehen. Auch die Herkunftsländer sind anonymisiert. Sofern notwendig, werden Informationen zu den Biografien der Jugendlichen an der entsprechenden Stelle in der Analyse gegeben.

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rieren der Jugendlichen sich durch ‚Umwege‘ auszeichnet: Fast alle Wege zum (Fach-)Gymnasium oder zur Fachoberschule führten über Sonder-, Haupt- und/oder Realschulen. Von den acht Jugendlichen, die am Hauptteil der Forschung beteiligt waren,4 hat mit einer Ausnahme mindestens ein Elternteil im Land der Herkunft eine akademische Ausbildung genossen; wobei die Eltern aufgrund der mangelnden Anerkennung von Bildungsabschlüssen und Berufsausbildungen in Deutschland nicht in ihren Berufen arbeiten können. Die Migrationshintergründe (Migrationsund Fluchtgeschichten, Gründe/Ursachen der Migration, Land der Emigration) sind vielfältig: Wiederum mit einer Ausnahme sind die Familien der Jugendlichen nach Deutschland geflohen, weil sie in ihren Herkunftsländern der politischen Opposition angehörten oder vor Krieg Zuflucht in Deutschland suchten. Die Eltern einer Jugendlichen sind auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland gekommen. Fünf der Jugendlichen sind, als sie noch Kinder waren, gemeinsam mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen, zwei sind nach der Flucht der Eltern in Deutschland geboren. Eine Jugendliche ist in Deutschland geboren, jedoch entschließen sich die Elten als sie drei Monate alt ist, in das Herkunftsland zurück zu gehen, wo sie aufwächst, bis sich die Eltern entscheiden, erneut nach Deutschland zu migrieren. Ihr Kind kommt in Deutschland in den Kindergarten. Fünf der Jugendlichen haben einen deutschen Pass, zwei haben keinen deutschen Pass, aber einen gesicherten Aufenthalt in Deutschland, eine Jugendliche hat lediglich eine Duldung in Deutschland. Was die Jugendlichen bei aller Verschiedenheit verbindet ist die Tatsache, dass sie – zumindest von außen betrachtet und an den ‚üblichen‘ Maßstäben gemessen – vermutlich als ‚sehr gut integriert‘ gelten würden: Sie sind relativ erfolgreich in der Schule, wollen Frisörin, Ingenieur, Lehrerin oder Krankenschwester werden, Politik, Medizin oder Physik studieren. Alle haben ihr ganzes oder den weitaus größten Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht und sprechen – neben anderen Sprachen – fließend Deutsch. In ihrer Freizeit engagieren sie sich ehrenamtlich im Sportverein oder beim Nachhilfeunterricht, sind Klassensprecher, Jahrgangsvertreter, Schülersprecher, Schülersprecherin und vertretende Schülersprecherin und aktiv in der Kinder- und Jugendarbeit als Jugendgruppenleiter und Jugendgruppenleiterinnen. Sie spielen Fußball, Handball, Football oder Turnen und nehmen an Projekten und Angeboten eines lokalen Jugendprojektes teil. Alle Jugendlichen berichten von einem oder mehreren Freundeskreisen und davon, ‚eigentlich‘ Teil ihrer jeweiligen Klassengemeinschaft zu sein. Und alle Jugendlichen machen die Erfahrung als ‚Andere‘, als ‚nicht-deutsch‘ kategorisiert zu werden und mit stereotypisierenden Zuschreibungen in Bezug auf angenommene ethnisch-nationale, religiöse oder kulturelle Zugehörigkeiten konfrontiert zu werden. Die Jugendlichen sind somit 4

Die folgenden Aussagen beziehen sich lediglich auf diese Jugendlichen, da ihre Aussagen im zu analysierendem Material im Mittelpunkt stehen, und weil mir vergleichbare Informationen aufgrund der differenten Arbeitsweise insbesondere im Kunstprojekt fehlen.

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ebenso partizipierende, engagierte Mitglieder der deutschen Gesellschaft, wie sie Teil gesellschaftlicher sozialer Ordnung und Normalität sind. Sie positionieren sich selbst zu diesen gesellschaftlichen Verhältnissen und werden in Bezug auf diese positioniert. Sie agieren in diesen Verhältnissen, mit und gegen sie und sind in diese involviert. All dies ist ihnen gemein. Aus der Zusammenarbeit mit diesen Jugendlichen im Hauptteil der Forschung fließen in das zu analysierende Datenmaterial drei Gruppendiskussionen und zwei Ausschnitte aus Plenumsgesprächen ein, die in der ersten Forschungsphase stattfanden – der ‚Forschungswerkstatt‘ –, aus dem zweiten Erhebungsschritt kommen dann acht themenzentrierte Einzelinterviews hinzu, die mit den Jugendlichen im Abstand von ein bis drei Wochen nach der Forschungswerkstatt realisiert wurden. Ergänzt werden diese Daten mit Aussagen, die drei Jugendliche im erwähnten Dokumentarfilm machen sowie mit sechs Kurzinterviews, die ich mit Jugendlichen im Rahmen des ebenfalls bereits erwähntem Kunstprojektes geführt habe. Alle Aussagen wurden, sofern sie nicht im Rahmen des Films (vgl. Willems/Leiprecht 2009) oder des Ausstellungskatalogs zum Kunstprojekt (vgl. Paritätisches Jugendwerk 2011) veröffentlicht wurden, anonymisiert. In das Datenmaterial fließen damit insgesamt Aussagen von neun weiblichen Jugendlichen – Amina (18 Jahre), Aynur (14 Jahre), Duygu (17 Jahre), Filiz (17 Jahre), Frannie (13 Jahre), Gülhan (14 Jahre), Husai (18 Jahre), Nesrin (15 Jahre) und Rima (22 Jahre) – und von sieben männlichen Jugendlichen – Harun (16 Jahre), Jamil (14 Jahre), Ibrahim (16 Jahre), Milot (18 Jahre), Qerim (17 Jahre), Samir (19 Jahre) und Yousef (19 Jahre) – ein.

2 D ATENERHEBUNG Angesichts des Entstehungskontextes dieser Arbeit und der im vorherigen Abschnitt dargelegten Erkenntnisinteressen sowie forschungstheoretischen Zugänge und methodologischen Ansprüche und Anregungen ging es mir bei der Konzeption des Forschungsdesigns auch, wie bereits erwähnt, um die Ermöglichung einer Verbindung von pädagogischen Anliegen und wissenschaftlichen Interessen. Relevant ist hier jeweils der Anspruch, diskriminierungs- und rassismuskritische Perspektiven und Herangehensweisen zu entwickeln, die das Potenzial haben, sowohl im Hinblick auf wissenschaftliche Erkenntnisproduktion als auch in der Perspektive eines direkten Nutzens für die an der Forschung beteiligten Jugendlichen Prozesse eines intervenierenden Forschens zu initiieren (vgl. Kap. III 5). Wie herausgearbeitet wurde, ist es dabei von zentraler Bedeutsamkeit, dass die teilnehmenden Jugendlichen im Forschungs- aber auch im pädagogischen Prozess als in gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse (mitunter widersprüchlich) invol-

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vierte, handlungsfähige Subjekte mit eigenen Belangen, Fragen und Interessen ernst genommen werden. Der Forschungsraum muss daher auch ein Raum sein, der Selbsterkundungen und -präsentationen (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 104) ebenso zulässt, wie Prozesse der Selbstverständigung und der Selbstklärung (vgl. Holzkamp 1983a, 354, 545). Das heißt, dass ein solches Setting so gestaltet sein muss, dass Jugendliche dieses als ihnen sinnvoll erscheinende Möglichkeit nutzen, sich miteinander und mit mir als Forschender in Interaktion quasi als ebenfalls forschend mit Fragen im Themenbereich Diskriminierung, mit sozialen Phänomenen und Praktiken auseinanderzusetzen. Nur auf diese Weise kann es gelingen, Reflexionsprozesse bei allen am Forschungsprozess Beteiligten anzuregen, die zentral für die angestrebte Erkenntnisproduktion dieser Arbeit sind, und helfen, Zusammenhänge zwischen machtförmigen sozialen Bedeutungen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten sowie individuellen Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen bzw. der eigenen Subjektposition zu erkennen. Darüber hinaus ergibt sich im Anschluss an ein Verständnis von Interaktion als produktiv, als Bedeutungen interpretierend, nutzend und hervorbringend, dass auch der Forschungsprozess als produktive Unternehmung der Interaktion zu bestimmen ist; und damit auch als potenzielle Möglichkeit des Kategorisierens, Festschreibens und Reproduzierens, aber eben auch als potenzielle Option des Irritierens, Umdeutens, Neu-Ordnens und Verschiebens von sozialen Bedeutungen. In diesem Sinne sollte der Datenerhebungsprozess selbst zu einem Teil kritisch-intervenierender Forschung werden. 2.1 Datenerhebung I: Forschungswerkstatt Vor dem Hintergrund der aufgeführten Zielsetzungen und Ambitionen bot sich – zum ‚Auftakt‘ des Forschungsprojektes – die Entwicklung eines ‚pädagogischen Forschungssettings‘ an, das sowohl die Möglichkeit bietet, Datenerhebung im Sinne der dargelegten wissenschaftlichen Erkenntnisinteressen und Forschungsprämissen zu verfolgen als auch (Bildungs-)Gelegenheiten schafft, die – im Sinne einer subjektorientierten Bildung nach Albert Scherr (1997) – den Jugendlichen die Möglichkeit eröffnen, sich selbstreflexiv mit eigenen Erfahrungen, Empfindungen und Bedürfnissen sowie mit gesellschaftlichen Sachverhalten, Wissensbeständen und Ideologien auseinanderzusetzen (vgl. ebd. 2006, 53). Ein solches Setting des Forschens und der Auseinandersetzung, das die Fragen und Belange der beteiligten Jugendlichen ernst nimmt, birgt die Chance, einen Beitrag auf dem Weg zu einer emanzipierten, eigenverantwortlichen und mündigen Lebenspraxis zu leisten (vgl. ebd.) und über die Aneignung eines ‚kritischen Reflexionswissens‘, über die Reflexion von Bedingungen und eigenen Positionierungen in diesen, u.U. Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung auszuweiten. (Lern-)Prozesse, die durch ein solches Vorgehen angestoßen werden, werden in dieser Arbeit als Teil der empirischen Forschung

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begriffen: Denn, so Held (1994, 138), „Lernen im Forschungsprozess ist sowohl eine Aufgabe für den Forscher als auch für alle anderen Beteiligten. In diesen wechselseitigen Lernprozessen […] entstehen Erkenntnisvoraussetzungen, die in einem bloß kontemplativen Wirklichkeitsbezug nicht gegeben sind.“ Der Rahmen, in dem ein solcher Raum des Forschens und Reflektierens, der Selbsterkundung und der Selbstpräsentation vornehmlich etabliert wurde, bildete ein mehrtägiges Seminar, das ich konzipiert habe und zu dem ich gemeinsam mit einem Kollegen und einer Kollegin die oben vorgestellten Jugendlichen einlud: die Forschungswerkstatt. An einem langen Wochenende wurde unter Zuhilfenahme pädagogischer Methoden, die Reflexionen anregen und diese sowie Diskussionen strukturieren sollten, nach Erfahrungen mit Diskriminierung, nach Begründungen für und Bedingungen von Ausgrenzung und nach Handlungsweisen und Handlungsbegründungen geforscht. In diesem Setting wurden Daten in Form von Gruppendiskussionen und Plenumsgesprächen sowie teilnehmender und offener, nicht-teilnehmender Beobachtung erhoben. Das gemeinsame Arbeiten in der Forschungswerkstatt erstreckte sich über insgesamt vier Tage 5 – wobei der erste und der letzte Tag aufgrund von An- und Abreise je halbe Tage waren – und fand in einem Seminarhaus statt. Neben den vier weiblichen, den vier männlichen Jugendlichen und mir waren noch drei Erwachsene Teil der Forschungswerkstatt: •





5

Ahmet, ein Sozialpädagoge, der mich vor allem in der inhaltlichen Arbeit mit den Jugendlichen unterstützte und den die Jugendlichen erst bei dem letzten Vorgespräch zur Forschungswerkstatt kennen lernten,6 Maike, die den Jugendlichen vertraute Pädagogin, die sich um das leibliche Wohl und die Abendgestaltung kümmerte und während der Werkstattzeit nicht anwesend war. Als Vertrauensperson war sie trotz und vielleicht auch wegen ihrer Abwesenheit während der inhaltlichen Arbeit eine wichtige Ansprechpartnerin für die Jugendlichen, sowie Mascha, eine Kollegin, die als nicht-teilnehmende Beobachterin (vgl. unten) während der Werkstattzeit anwesend war und deren Notizen und Beobachtungen eine wichtige Grundlage zur Reflexion der Forschungswerkstatt waren und die die Jugendlichen aus anderen Zusammenhängen zum Großteil flüchtig, teilweise auch näher kannten.

Einer der Jugendlichen musste die Forschungswerkstatt bereits am Nachmittag des dritten Tages verlassen.

6

Neben vielen informellen Gesprächen gab es vor der Forschungswerkstatt ein ‚offizielles‘ Infotreffen, bei dem wir noch einmal von der Idee der Forschungswerkstatt und auch meinem Forschungsvorhaben berichtet haben und die Jugendlichen ihre Fragen loswerden konnten. Darüber hinaus wurden organisatorische Dinge die Fahrt betreffend geklärt.

D ATENERHEBUNG

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Bei der Gestaltung der Forschungswerkstatt haben wir u.a. besonderen Wert auf das Kreieren einer entspannten und einladenden Atmosphäre – etwa durch eine entsprechende Abendgestaltung – gelegt. Diese und vor allem auch das gemeinsame Verreisen und damit das Abstandnehmen vom Alltag war ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Aspekt, der sich sowohl auf die Gruppendynamik und das Verhältnis zwischen allen Beteiligten als auch auf das ‚konzentrierte‘, nicht von Alltagsangelegenheiten abgelenkte Teilnehmen an der Forschungswerkstatt positiv auswirkte. Darüber hinaus war die Entscheidung, in den Werkstatteinheiten mit möglichst offenen Methoden zu arbeiten, die die Auseinandersetzung mit den Themenkomplexen Zugehörigkeiten, Diskriminierungserfahrungen und Handlungsstrategien in Form von Selbstreflexion und Diskussion anregen sollten, von besonderer Bedeutung. Beide Aspekte begründeten sich aus der Wahrnehmung heraus, dass die Jugendlichen in ihrem Alltag zwar mit Diskriminierung konfrontiert werden, es jedoch an Räumen und damit auch an ‚Übung‘ fehlt, über diese Erfahrungen zu sprechen, sie zu reflektieren und über Möglichkeiten des Umgangs nachzudenken. Um diese Prozesse der Reflexion, des Denkens und Sprechens angemessen zu unterstützen, erschienen sowohl ein etwas längerer Zeitraum in vertrauensvoller und -fördernder Atmosphäre als auch strukturierende Hilfestellungen zur Sensibilisierung und Reflexion sinnvoll. Da mit einer Ausnahme alle beteiligten Jugendlichen mit Methoden der Seminararbeit (d.h. Diskussionen im Stuhlkreis, Rollenspiele, Aufwärmspiele, Gruppenarbeiten, Übungen etc.) aus ihrer Juleica-Ausbildung vertraut waren und sich darüber hinaus untereinander recht gut kannten, war davon auszugehen, dass diese Form der Auseinandersetzung nicht zu Unwohlsein und Widerständen führen würde. Die gemeinsame Zeit in der Forschungswerkstatt wurde als (Forschungs-)Prozess verstanden, und wir haben uns bemüht, diesen den Jugendlichen auch als solchen zu vermitteln. Die Übungen und Methoden wurden – auch im Sinne des Grundsatzes der Offenheit in der qualitativen Sozialforschung – unter der Prämisse ausgewählt, dass sie den Jugendlichen möglichst viel Raum für eigene Schwerpunktsetzungen und die Thematisierung und Reflexion ihrer eigenen Wichtigkeiten, Erfahrungen, Deutungsmuster und Begründungen ließen und für Bedingungen und Bedeutungen sensibilisierten. Der Verlauf orientierte sich an den Relevanzen der Jugendlichen: Die von ihnen eingebrachten Themen wurden im weiteren Fortgang der Werkstatt aufgegriffen bzw. es wurde Raum gelassen, die ihnen wichtigen Punkte zu vertiefen. Aufgrund der sich in der Gruppe entwickelnden Dynamiken kam es auch immer wieder zu Änderungen im Ablauf, um die Angebote der inhaltlichen Arbeit den Themen und Bedürfnissen der Jugendlichen so gut wie möglich anzupassen. Obgleich Wert auf größtmögliche Offenheit gelegt wurde, müssen Dynamik, Ablauf und Inhalte der Forschungswerkstatt, die von uns als pädagogischem Team

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in entscheidendem Maße mitgestaltet wurden, ebenso wie unsere Interpretationen und Entscheidungen für die je nächsten Schritte als Aspekte, die nicht nur die Dynamik eines pädagogischen Seminars, sondern auch die in diesem Setting erhobenen Daten beeinflussen, reflexive Berücksichtigung finden. Vorannahmen und das theoretische Wissen der Seminarleitung, die eigenen Erfahrungen, Deutungsmuster, Wirklichkeitskonstruktionen und Involviertheiten, dies alles fließt in den Werkstattprozess mit ein und beeinflusst in gewisser Weise den Rahmen, innerhalb dessen gedacht und gesprochen werden kann, was wie zum Thema gemacht wird und worüber geschwiegen wird. Konkret: Sowohl in der Konzeption des Ablaufes der Forschungswerkstatt, in der Auswahl der Übungen und ihren Zielsetzungen, als auch in den Impulsen, die mit Auswertungs- und Reflexionsfragen in die Gruppe gegeben werden, offenbaren sich Deutungen, Vorwissen und -annahmen, die die Interaktion und damit auch die ‚Ergebnisse‘ bzw. die Daten beeinflussen. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir notwendig, im Folgenden nicht nur die Datenerhebungs- und Reflexionsinstrumente, mit denen gearbeitet wurde, sondern auch die Inhalte der Forschungswerkstatt sowie die pädagogischen Methoden, darzustellen und zu begründen, um den Ablauf und das Vorgehen in der Forschungswerkstatt und bei der Datenerhebung möglichst transparent zu machen. Dabei ist anzumerken, dass eine klare Trennung zwischen pädagogischen Methoden und Datenerhebungsmethoden in diesem Setting weder möglich ist noch angestrebt wurde. Thematische Aspekte, Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten sowie Herausforderungen, die mit diesem Teil des Forschungssettings einhergehen und/oder mir im Hinblick auf die erhobenen Daten und den weiteren Forschungsprozess relevant erscheinen, werden markiert und reflektiert. Reflexions- und Erhebungsinstrumente Instrumente der Prozessreflexion: Beobachtungsprotokolle und Feldnotizen Als zentrale Instrumente zur Reflexion der Abläufe, Interaktionen und Dynamiken innerhalb der Forschungswerkstatt dienen von mir angefertigte Feldnotizen, die halbstrukturierten Beobachtungsprotokolle der Kollegin, die die Prozesse der Forschungswerkstatt als nicht-teilnehmende Beobachterin verfolgt hat (vgl. Flick 2007, 282f.),7 sowie allabendliche Reflexionsgespräche im Team, in welchen wir – mein Kollege Ahmet, die Beobachterin Mascha und ich – uns über unsere Eindrücke und Notizen austauschten. Die Ergebnisse dieser Reflexionsgespräche fasste ich in einem Forschungstagebuch zusammen. 8 Diese Form des Vorgehens bei der Reflexion der Geschehnisse und Prozesse in der Forschungswerkstatt war sowohl für die 7

Mascha war Teil der Gruppe und hatte ein gutes Verhältnis zu den Jugendlichen. Jedoch hat sie an den Interaktionen, Diskussionen und Übungen während der Forschungswerk statt nicht teilgenommen, sondern diese beobachtet. Die Jugendlichen wussten um ihre Rolle und ihre Funktion. Es handelt sich also um offen geführte Beobachtungsprotokolle.

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(nachfolgende) schriftliche Dokumentation und Reflexion der Forschungswerkstatt in wissenschaftlicher Perspektive relevant, die auf der Grundlage der so entstandenen Protokolle erfolgt, als auch für das Treffen möglichst reflektierter und angemessener Entscheidungen für den konkreten Ablauf und die je nächsten Schritte und zu berücksichtigenden Aufmerksamkeitsrichtungen während der Forschungswerkstatt von zentraler Bedeutung. Etwa eine Woche nach der Forschungswerkstatt fand zudem ein Auswertungs- und Rückblickgespräch zwischen mir und der beobachtenden Kollegin statt, in dem wir unsere Notizen noch einmal durchgingen und offene Fragen sowie Unsicherheiten besprachen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Forschungswerkstatt sowohl ein pädagogisches Setting als auch ein Forschungsfeld darstellte sowie meiner Einbindung in dieses Projekt als Forscherin, die ein an Grundsätzen qualitativer Forschung orientiertes, wissenschaftliches Promotionsprojekt verfolgt, und als Pädagogin, der an einer möglichst fruchtbaren Auseinandersetzung im Sinne der Jugendlichen gelegen war, war dieses reflexive Vorgehen von großer Wichtigkeit: Zum einen, um einen ‚Blick von außen‘ auf die Interaktion zwischen mir bzw. uns Teamenden und den Jugendlichen und damit ein mögliches ‚Korrektiv‘ der eigenen Wahrnehmung in die Reflexion mit einbeziehen zu können. Zum anderen war es aufgrund der Doppelrolle, die ich in der Forschungswerkstatt eingenommen habe, mitunter schwierig, den Blick sowohl für den Prozess der Beteiligten als auch für ggf. relevantes Datenmaterial und besondere Auffälligkeiten und Reflexionspunkte offen zu halten. Alle während der Forschungswerkstatt stattfindende Interaktion aufzuzeichnen würde eine unüberschaubare Menge an Datenmaterial ergeben, die ausschließliche Konzentration auf die Aufnahmen der Gruppendiskussionen angesichts der allgegenwärtigen Dynamiken und des fortlaufenden Prozesses unbefriedigend sein. Auch diesbezüglich erwies sich das gewählte Vorgehen als hilfreich. Die Beobachtungsprotokolle und die Feldnotizen wurden entlang einiger Beobachtungspunkte auf Beobachtungsbögen geführt, deren Interesse sich auf die Interaktion zwischen den an der Forschungswerkstatt beteiligten – den teilnehmenden Jugendlichen und der Seminarleitung – konzentrierte. Dies aus verschiedenen, jedoch eng miteinander verwobenen Gründen: •

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Mittels der Beobachtung der Interaktion insgesamt sollten Aspekte, die die aufgezeichneten und später transkribierten Äußerungen der Beteiligten rahmen, als zu berücksichtigende Kontextualisierungen des Sprechens festgehalten werden – etwa Hinweise auf Begründungen und Bedingungen von Interaktionen in der Forschungswerkstatt. Die Beobachtungsprotokolle und das Forschungstagebuch dienen als Grundlage dieser Dokumentation und Reflexion, gehen jedoch nicht als zu analysierende Texte in das Da tenmaterial ein.

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Ein wichtiger Anspruch, dem Ahmet und ich in der Forschungswerkstatt gerecht werden wollten, war, den Jugendlichen den Raum für ihre Suchbewegungen und Reflexionen im Gegenstandsbereich ‚Diskriminierung‘ weitestgehend zu überlassen. Um dies zu gewährleisten, galt es subtile oder offene Bewertungen von Aussagen, Überzeugungsversuche, das Überstülpen eigener ‚Wahrheiten‘ oder Ähnliches zu vermeiden und in erster Linie dem Prozess der Jugendlichen zu folgen. Um etwaige Eingriffe dieser Art reflexiv einbeziehen zu können, galt ein Bobachtungsschwerpunkt der Interaktion zwischen der Seminarleitung und den Jugendlichen. Darüber hinaus galt die Aufmerksamkeit der (Veränderung der) Stimmung und der Atmosphäre in der Werkstatt sowie der Gruppendynamik – etwa bezüglich auftretender ‚Spannungen‘ o.Ä.; und zwar in der Gesamtgruppe, zwischen den Jugendlichen und zwischen den Jugendlichen und den Pädagoginnen bzw. dem Pädagogen. Von eher sekundärer Relevanz war es, auf einer inhaltlichen Ebene aufmerksam gegenüber Äußerungen oder Diskussionsinhalten zu sein, die zu einem späteren Zeitpunkt im Prozess der Forschungswerkstatt noch einmal aufgegriffen werden sollten, oder die als Diskussionsausschnitte interessant hinsichtlich einer genaueren Textanalyse schienen. Hier sollte es vor allem um Inhalte gehen, in denen Aussagen über das Verständnis der Jugendlichen von Diskriminierung und die Positionen im Zusammenhang mit Diskriminierung offenbar werden und um Beiträge, in denen Zugehörigkeiten und Zugehörigkeitserfahrungen oder Handlungsweisen und -strategien thematisiert werden.

Instrument der Datenerhebung: Gruppendiskussion Im Verlauf der Forschungswerkstatt wurden drei Gruppendiskussionen sowie mehrere vornehmlich der Auswertung und Reflexion von Übungen und Kleingruppenarbeiten dienende Plenumsgespräche geführt und aufgezeichnet. Diese wurden methodisch in Anlehnung an die Prinzipien von Gruppendiskussionen, wie sie im Folgenden beschrieben werden, gestaltet. Die stattfindenden Plenumsgespräche und Gruppendiskussionen waren somit neben einer Methode der thematischen Auseinandersetzung und Reflexion auch eine Methode der Datenerhebung, was in Anschluss an die forschungstheoretischen Überlegungen methodisch adäquat ist. Denn eine klare Abgrenzung zwischen ‚pädagogischer‘ und ‚wissenschaftlicher‘ Methode kann es in diesem Forschungskontext nicht geben und ist auch nicht gewollt. Im Sinne des in Kapitel III 3 eingeführten subjektorientierten Forschungsansatzes sowie vor dem Hintergrund der Überlegungen zu rassismuskritischer Forschungsarbeit (vgl. Kap. II) steht jeweils das methodische Schaffen eines Raumes der Selbstbeschreibung und -positionierung sowie der Erkundung des eigenen Erlebens, Mei-

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nens und Handelns im Mittelpunkt, welcher sowohl der Selbsterkenntnis der beteiligten Subjekte als auch der Datenerhebung gleichermaßen dient. Mithilfe des Instrumentes der Gruppendiskussion lassen sich die Dynamiken, die innerhalb eines Gruppenprozesses entstehen, zu Nutze machen, um Daten zu erheben, die vor allem auf kollektive Erfahrungen und Orientierungen sozialer Gruppen zielen. Teilnehmende äußern sich in Gruppendiskussionen in der Regel spontaner und intuitiver. Die Auseinandersetzung mit anderen in einer Gruppe regt zu Re flexionen an und fordert zur Artikulation von Argumentationen heraus. Im Sinne einer subjektorientierten Forschung eignet sich die Methode der Gruppendiskussion daher besonders gut, um Teilnehmende eigene Meinungen und Erfahrungen in der Gruppe reflektieren zu lassen und über den Austausch von Erfahrungen und das Verhandeln von Themen und Ansichten einen Beitrag zum Erkennen der je eigenen, aber auch der gruppenbezogenen Lebensverhältnisse zu leisten und Möglichkeiten sowie Begrenzungen des Handelns aufzudecken. Der je spezifische Kontext einer Gruppendiskussion (z.B. Ort, Zusammensetzung der Gruppe, Zeit) und die Dynamiken, die sich in dieser entwickeln, können als Bedingungen, die das Sprechen in der Gruppe rahmen, unterschiedlichen Einfluss auf das Geschehen nehmen; beispielsweise im Hinblick auf das, was in diesem sich etablierenden Rahmen sagbar ist. So ist etwa damit zu rechnen, dass Einzelmeinungen, die einer offensichtlichen Gruppenmeinung widersprechen, nicht unbedingt geäußert werden. In diesem Fall kann eine ‚starke‘ Gruppenmeinung für einzelne Gruppenmitglieder bedrohlich wirken. Auf der anderen Seite kann das Setting einer Gruppendiskussion aber auch einen ‚geschützten‘ oder ermutigenden Raum der Artikulation bieten: Zum Beispiel wenn die Mitglieder der Gruppe den Raum nutzen, um über ihnen gemeinsame Be dürfnisse oder Anliegen zu sprechen oder wenn aufgrund ähnlicher Lebensumstände und Erfahrungen mit Rückhalt in der Gruppe zu rechnen ist. Teilnehmenden an einer Gruppendiskussion steht darüber hinaus relativ viel Spielraum zur Verfügung, selbst zu entscheiden, ob sie sich äußern möchten oder nicht. Die Beziehungen zwischen Teilnehmenden innerhalb der Gruppe sowie die Dynamik der Diskussion führen also zu anderen Beiträgen und Äußerungen als in Einzelinterviews. Mayring (2002, 77) begründet dies mit der starken Eingebundenheit vieler subjektiver Bedeutungsstrukturen in soziale Zusammenhänge, die nur in Gruppendiskussionen zum Ausdruck kommen und erhebbar sind. Die Dynamiken von Gruppendiskussionen gilt es also zu nutzen, um subjektive, vor allem aber auch kollektive Bedeutungsstrukturen und Begründungen sichtbar zu machen: Gruppendiskussionen erlauben es, kollektive Meinungen und den Weg der Aushandlung dieser zu erheben und Raum zu geben, um auch kollektive Erfahrungen zur Sprache zu bringen bzw. zur Diskussion zu stellen: „[K]ollektive Erfahrungen [werden] dort zur Artikulation gebracht, wo diejenigen in Gruppen sich zusammenfinden, denen diese Erfahrungen gemeinsam sind. Zu ihrer Artikulation bedarf

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es der wechselseitigen Bezugnahme und Herausforderung im (Gruppen-)Diskurs“ (Bohnsack 2003, 492). Im Mittelpunkt stehen hier daher weniger die Erfahrungen und Argumentationen Einzelner, als vielmehr die Erfahrungen, Meinungen und Orientierungen einer sozialen Gruppe. ‚Gruppenmeinungen‘ sind in diesem Sinne nicht als Summe von Einzelmeinungen, sondern als Produkt gemeinsamer Interaktion zu begreifen, welche sich nicht erst während der Diskussion in der Gruppe konstituieren, sondern lediglich aktualisieren. In der Realität der Mitglieder sind diese bereits abgebildet (vgl. ebd. 2005, 370 bezugnehmend auf Werner Mangold). David Morley und Paul Willis vom Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) verstehen die Teilnehmenden an Gruppendiskussionen, welche in ihren Forschungen nach demographischen Kriterien ausgewählt wurden, als „Repräsentanten umfassenderer (makrosozialer) Entitäten“ sowie „milieuspezifischer ‚diskursiver Formationen‘, deren struktureller Ausdruck die ‚interpretativen Codes‘ sind, also homologe Muster von milieuspezifischen Sinnzuschreibungen und Orientierungen“, so Ralf Bohnsack (2005, 373). Die Methode der Gruppendiskussion ist daher geeignet, in einem Prozess kollektiver Interaktion unter wechselseitiger Bezugnahme und vor dem Hintergrund geteilter Zugehörigkeiten ‚konjunktive Erfahrungsräume‘ (vgl. ebd. 2003, 497) zu konstituieren, in welchen die kollektiven Erfahrungen, die „Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte[n]“ (ebd.) und die kollektiven Orientierungsstrukturen deutlich werden.9 Ziel der während der Forschungswerkstatt geführten Gruppendiskussionen ist es, „die unterschiedlichen milieuspezifischen Wirklichkeiten, an denen das Individuum teil hat“ (ebd., 498), wie auch die oben erwähnten subjektiven Bedeutungsstrukturen einer Analyse zugänglich zu machen. Im Vordergrund stehen hier also die Bedingungen und die Begründungen kollektiver Orientierungsmuster der Teilnehmenden, die sich aufgrund geteilter Zugehörig-

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Zumindest oberflächlich betrachtet, teilen die Teilnehmenden der Gruppendiskussionen in der vorliegenden Forschung zwei bzw. drei Zugehörigkeiten: Migrationserfahrungen in der Familie, Generation und – in den zweiten Gruppendiskussionen – Sex/Gender. Neben diesen Differenzkategorien, die ihre Zugehörigkeit zu gemeinsamen sozialen Gruppen bestimmen, ist ihnen zudem das Leben im gleichen Landkreis sowie die Teilnahme an der Forschungswerkstatt gemein. Innerhalb der Gruppe ist also mehr als nur eine gemeinsame Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorhanden. Zugleich ist aber auch zu beto nen, dass die Teilnehmenden der Gruppendiskussionen darüber hinaus auch solche Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen besitzen, die sie von anderen Teilnehmenden unterscheidet. Auf welche gemeinsamen Zugehörigkeitserfahrungen von den Teilnehmenden Bezug genommen werden wird und welche je individuellen Zugehörigkeiten und Zugehörigkeitserfahrungen unthematisiert bleiben oder zu einem ‚Schweigen‘ oder zu Zurückhaltungen Einzelner in der Diskussion führen, ist nicht voraussagbar, jedoch ein unter Um ständen aufschlussreicher Aspekt einer späteren Analyse.

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keiten und der mit diesen verbundenen Strukturen gemeinsamer Erfahrungen ergeben. Damit sich diese Strukturen angemessen entfalten können, sind Bedingungen vonnöten, die genug Raum für die Aushandlungen der Gruppe lassen. Grundbedingung ist ein relativ offenes Verfahren, welches es zum einen den Gruppenmitgliedern ermöglicht, innerhalb des fokussierten Themas die eigenen wichtigen Punkte zu bestimmen, zu besprechen und zu entfalten und zum anderen die Selbstläufigkeit der Diskussion unterstützt. Angeregt durch einen Diskussionsanreiz soll die Möglichkeit gegeben werden, möglichst frei zu diskutieren (vgl. ebd. 2005, 380). Nachfragen von Seiten der Diskussionsleitung sind laut Bohnsack (vgl. ebd.) zunächst nur dann zulässig, wenn die Diskussion ins Stocken gerät und haben vor allem zum Ziel, die Selbstläufigkeit der Diskussion zu erhalten. Nicht behandelte, jedoch relevante Themengebiete innerhalb des thematisch fokussierten Rahmens sollen ihm zufolge erst in der zweiten Phase von außen initiiert werden (vgl. ebd. 2003, 499), wobei auch in dieser Phase des Diskursprozesses vor allem die Eigendynamik der Gruppe unterstützt werden soll. Bohnsack betont darüber hinaus, dass immanente Nachfragen, die auf bereits angesprochene Inhalte oder einen sichtbar gewordenen Orientierungsrahmen gerichtet sind, gegenüber exmanenten Nachfragen, die die Initiierung eines neuen inhaltlichen Bereiches innerhalb des Forschungsthemas bezwecken, immer Vorrang haben (vgl. ebd. 2005, 382). Entgegen dem Vorschlag Bohnsacks, widersprüchliche und in anderer Weise auffällig erscheinende Beiträge erst ganz am Ende der Gruppendiskussion aufzugreifen und zu thematisieren (vgl. ebd.), halte ich es für angemessen und sinnvoll, diesen Schritt bereits in der Phase der immanenten Fragestellungen zu tun: Ähnlich wie ein verständnisgenerierendes Nachfragen halte ich auch die Paraphrasierung von Inhalten sowie das Aufmerksammachen auf Widersprüche (solange angemessen und nicht mit einem ermahnenden, auf ‚Falsches‘ hinweisenden Zeigefinger geäußert oder auf ein gänzlich neues Thema verweisend) für eine u.U. hilfreiche Intervention, um die Diskussion zu vertiefen, Reflexionen anzuregen und den Gesprächsfluss zu unterstützten. Erst wenn die Diskussionsinhalte der Teilnehmenden auf diese Art vertieft und erschöpfend behandelt wurden, ist es meiner Meinung nach sinnvoll, neue inhaltliche Punkte einzubringen. Unbedingt vermieden werden muss jedoch, dass durch den Versuch der Diskussionsleitung, eine Auseinandersetzung mit neuen, bisher nicht bearbeiteten, aber relevant erscheinenden Aspekten des Themas in einer nächsten Phase der Gruppendiskussion zu initiieren, Hinweise auf einen vermeintlich ‚gewünschten‘ Orientierungsrahmen gegeben werden, innerhalb dessen das Thema diskutiert werden soll. In diesem Sinne ist darauf zu achten, dass das Einbringen von neuen Bereichen eines Themas immer nur den Charakter von Vorschlägen hat, die von der Gruppe nicht notwendiger Weise engagiert aufgegriffen werden müssen, und Vorgaben oder (versteckte) Hinweise darauf, in welcher Weise oder in welcher Richtung

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ein Thema bearbeitet werden soll, auf keinen Fall gegeben werden dürfen (vgl. ebd., 380). Bei diesem Vorgehen, das handlungsleitend für die Moderation der Gruppendiskussionen und der Plenumsgespräche während der Forschungswerkstatt war, geht es mir um das Generieren möglichst detaillierter Darstellungen, Erzählungen und Argumentationen in einer Atmosphäre, die aufeinander bezogenes Nachdenken, gemeinsame Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse und/oder kontroverse Auseinandersetzungen zulässt. Diese sind für mich wiederum Zugang zur Rekonstruktion von subjektiv aber auch kollektiv relevant werdenden Deutungen und Bedeutungen alltagsweltlicher Phänomene und (kollektiver) Erfahrungen als mögliche Prämissen des Handelns und ihren Verweisen auf soziale und/oder gesellschaftliche Bedingungen. Prozessdokumentation und -reflexion Die folgenden Ausführungen zum Gruppen- und Forschungsprozess beschreiben und begründen in einzelnen, dem chronologischen Ablauf der Forschungswerkstatt weitgehend folgenden Abschnitten zunächst die je angewendeten Methoden. Sodann werden unter Rückgriff auf die Feldnotizen, die Beobachtungsprotokolle und das Forschungstagebuch Auffälligkeiten und ‚Merkpunkte‘ benannt, die es im Verlauf der Forschungswerkstatt zu berücksichtigen galt und/oder die im Hinblick auf das weitere Vorgehen in der vorliegende Forschungsarbeit und insbesondere bei der Analyse der transkribierten Texte von Bedeutung sind. Insgesamt kann konstatiert werden, dass das gemeinsame Arbeiten während der Forschungswerkstatt von einer Atmosphäre gerahmt war, die als überaus positiv beschrieben werden kann: Von Beginn an herrschte ein sehr vertrautes und offenes Miteinander vor, welches sich im Laufe der Zeit verstetigte. Der Umgang untereinander war überwiegend von gegenseitigem Vertrauen, Zugewandtheit und Respekt gekennzeichnet. Die Jugendlichen waren außerordentlich motiviert, ließen sich auf alle Übungen und Diskussionen ein und haben sich auf ihre Weise und nach ihren Möglichkeiten engagiert beteiligt. Darüber hinaus war unser Eindruck, dass die Jugendlichen jeweils sehr ‚bei sich‘ waren: Es ließen sich keine Situationen erkennen, in denen sie einander ‚kopierten‘ oder mit ihren Beiträgen in ‚Konkurrenz‘ zu einander standen. Vielmehr erschien es uns, als seien alle sehr ehrlich und authentisch bei der Sache. Gruppendiskussionen Nach dem Ankommen und Aufwärmen bildete eine erste Gruppendiskussion mit allen Jugendlichen zum Thema Diskriminierung den Einstieg in den Forschungs- und Reflexionsprozess. Neben einer ersten Annäherung an das Thema diente dieser ers-

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te Schritt vor allem auch der Erhebung von Erfahrungen, Meinungen, Perspektiven und Relevanzen in der Gruppe und damit einer Art ‚Sondierung des Feldes‘. In einem die Gruppendiskussion einleitenden Brainstorming – „Woran denkt ihr, wenn ihr das Wort Diskriminierung hört? […] Und was kennt ihr für Begründungen von Leuten, die andere diskriminieren?“ (Interviewerin GD1, 4, 6) 10 – wurde von den Jugendlichen eine umfangreiche Sammlung von Assoziationen und vermeintlichen Begründungen, mit denen Diskriminierung legitimiert wird, zusammengetragen. Die von den Jugendlichen genannten ‚Gründe‘ und Assoziationen wurden auf Metaplankarten notiert und für alle gut sichtbar aufgehängt. 11 Die Einstiegsfrage in die eigentliche Gruppendiskussion lautete im Anschluss „Was hat Diskriminierung mit euch zu tun?“ (Interviewerin GD1, 149). Die Impulsfragen für das Brainstorming und die anschließende Diskussion waren bewusst so offen wie möglich gewählt, um zum einen ein möglichst breites Spektrum an potenziell relevanten Diskriminierungsformen besprechbar zu machen und zum anderen zu signalisieren, dass alle Formen von Diskriminierung sowie alle für sie im Zusammenhang mit Diskriminierung relevanten Themen im Rahmen der Werkstatt besprochen werden können und nicht einzelne Formen und Aspekte als besonders bedeutsam vorgegeben sind. Meinen Einfluss auf mögliche Inhalte und die Themenwahl wollte ich auf diese Weise möglichst gering halten. In der sich an die Einstiegsfrage anschließenden Diskussion nahmen die Jugendlichen vornehmlich auf Herkunft, Nationalität, Religion und ‚Ausländer sein‘ sowie auf ‚Vorurteile‘ 12, die mit diesen 10 Bereits nach dem ersten Teil meiner Eingangsfrage zum Brainstorming, werde ich hier von einer eifrigen Teilnehmerin mit: „Ungerechtigkeit!“ unterbrochen. Ich sage, dass es gleich losgehen wird und lese den zweiten Teil der Frage vor. 11 Folgendes wurde genannt: Vorurteile, Ungerechtigkeit, Soziale Herkunft, Religion, Neid, Hautfarbe, Intelligenz, Herkunft, Körperform, Aussehen, Anders-Sein, Geschlecht, Mobbing, Behinderung, Sexualität, Schwächen, Cliquen, Unwissend sein, Schwul sein, Wenn man neu irgendwo ist, Medien, Fremd sein, Politik. Und: Leute diskriminieren: um cool zu sein, weil sie Aufmerksamkeit wollen, weil sie Mitläufer sind. 12 Der Begriff ‚Vorurteil‘ ist ein schwieriger Begriff, weil er impliziert, es gäbe ein ‚richti ges‘ Urteil über…. Damit unterstellt der Begriff ein individuelles ‚Fehlurteil‘, einen individuellen Irrtum, dem die ‚Schuld‘ für die (diskriminierende, rassistische) Zuschreibung zugewiesen wird. Die sozio-historische Vermitteltheit und gesellschaftliche Verankerungen von Stereotypen bleiben so ausgeblendet. Zudem impliziert der Begriff, dass das Ob jekt des Urteils als solches bereits vorhanden wäre, womit die Tatsache, dass eben dieses Objekt durch seine Beschreibung erst konstruiert wird, verkannt wird (vgl. Kalpaka 2003, 59). Im Zuge der Datenanalyse verwende ich den Begriff, der den Jugendlichen als geläufiger Alltagsbegriff zur Beschreibung von stereotypen Zuschreibungen dient, und auf den auch ich in der Forschungsarbeit mit den Jugendlichen zurückgegriffen habe, dennoch, sofern ich mich direkt auf die Aussagen von Jugendlichen beziehe.

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Differenzkategorien einhergehen, Bezug. Die Thematisierung anderer zuvor gesammelter Schlagworte stand häufig in Verbindung mit diesen Kategorien (Intelligenz, Anders-Sein, Geschlecht, Vorurteile, Wenn man neu irgendwo ist, Aussehen): Beispielsweise griffen die Jugendlichen in der Diskussion ‚Intelligenz‘ auf und schilderten die Erfahrung, dass ihnen von anderen aufgrund ihres vermeintlichen ‚Ausländer-Seins‘ unterstellt werde, nicht ‚intelligent‘ zu sein und keine ‚erfolgreiche‘ Bildungsbiografie hinter sich oder vor sich zu haben. 13 Der deutliche Schwerpunkt der Inhalte lag auf Zuschreibungen und Erfahrungen, die mit rassistischer Diskriminierung verbunden sind, wenngleich die Themen ‚Körperform‘ und ‚Aussehen‘ als Aspekte von ‚Schönheitsidealen‘ für Diskriminierungserfahrungen von einigen Teilnehmerinnen ebenfalls als relevant thematisiert wurden. Dieses ‚Sprechen über‘ (rassistische) Zuschreibungen und Diskriminierung gestaltete sich in weiten Teilen der Diskussion als ein Austausch von Erfahrungen in Form von ‚Berichterstattungen‘ über eigene Erlebnisse in kleinen Sequenzen, die meist in eher distanzierter und zusammenfassender Manier präsentiert wurden. Auch eigenes diskriminierendes Verhalten wurde hier thematisiert. Darüber hinaus kamen in den Interaktionen zwischen den Jugendlichen vor allem gemeinsame ‚Suchbewegungen‘ zum Vorschein, in denen versucht wurde, zu klären, worüber eigentlich gesprochen wurde: Ausgehend von eigenen Erfahrungen suchten sie in der gemeinsamen Diskussion nach Erklärungen für diese und verhandelten die Bedeutungen von sozialen Praktiken und Begrifflichkeiten. So wurde, recht kontrovers, über die Grenzen zwischen Diskriminierung als einer verletzenden, moralisch zu verurteilenden Praxis und Diskriminierung als einer legitimen jugendlichen ‚Spaßpraxis‘ diskutiert.14 Alle Jugendlichen beteiligten sich an diesen Auseinandersetzungen mit eigenen Positionen, waren konzentriert und ließen sich gegenseitig (zumeist) ausreden. Dies kann zum einen als Indiz dafür gelesen werden, dass die Jugendlichen die Diskussion als Gelegenheit nutzten, eigenen Klärungsbedürfnissen nachzugehen. Zum anderen kann es als Ausdruck einer weitgehend angstfreien Kommunikationssituation interpretiert werden, die es den Einzelnen erlaubt hat, in der Gruppe eigene und auch oppositionelle Standpunkte zu äußern. Die in dieser ersten Gruppendiskussion verhandelten Inhalte, Themen und Definitionen bildeten weitestgehend den Rahmen, innerhalb dessen auch im weiteren Verlauf des Forschungsgeschehens gesprochen wurde. Etwas über eine Stunde diskutierten die Jugendlichen in dieser eröffnenden Gruppendiskussion. Die Kamera und das Aufnahmegerät, welche die Diskussion aufzeichneten, schienen ebenso wenig ein Problem für den Diskussionsprozess darzustellen wie die Anwesenheit der Beobachterin.

13 Vgl. dazu ausführlich Kap. V 2.2. 14 Vgl. dazu ausführlich Kap. V 1.2.

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In der Schlussphase der Forschungswerkstatt wurden zwei Diskussionen in geschlechtergetrennten Gruppen zum Thema ‚Ungleichheit‘ durchgeführt. 15 Die Frage nach Ungleichheit und Ungerechtigkeit ergab sich aus dem Prozess der Forschungswerkstatt heraus. Obgleich die Jungen in der Gruppendiskussion eher unkonzentriert und müde wirkten und das Gespräch zuweilen eher ‚schleppend‘ war, sprachen sie 40 Minuten über verschiedene Erlebnisse und Themen. Die Mädchen diskutierten sehr lebhaft. Ein Grund dafür ist vermutlich auch meine Einführung in die Gruppendiskussion: Im direkten Anschluss an die Auskunft, dass es „gleich noch mal um Ungleichheit oder sich ungerecht behandelt fühlen, ungleich behandelt sein“ (Interviewerin GD2M, 23) gehen würde, erkläre ich ihnen, warum wir die Gruppe in eine Mädchen- und eine Jungengruppe aufgeteilt haben: Weil wir davon ausgehen, „dass es bestimmt manchmal Situationen oder Themen gibt, wo Mädchen andere Erfahrungen machen als Jungs“ (Interviewerin GD2M, 23). Eine Teilnehmerin reagierte daraufhin unmittelbar mit einem Klatschen in die Hände und dem Ausruf: „Ja! Ey, ich hab mich so auf das Thema gefreut, ich mach die gleich alle fertig“ (Filiz GD2M, 24). Gender spielte in der darauf folgenden, über weite Strecken sehr emotional geführten Diskussion eine zentrale Rolle: Im Mittelpunkt standen hier vor allem auf Frauen und Mädchen bezogene Zuschreibungen, häufig in Verbindung mit kulturalisierenden und vor allem religionisierenden Zuschreibungen, mit denen sie konfrontiert sind.16 In geringerem Maße wurden Ungleichbehandlungen von Männern und Frauen explizit thematisiert. Die Atmosphäre und die Gesprächsbeiträge der Diskussion unter den Mädchen interpretiere ich auch als Zeichen dafür, dass es einen Bedarf an Räumen gibt, in denen ein vertrauter Austausch unter Mädchen stattfinden kann, ihnen solche jedoch selten zur Verfügung stehen. Dafür spricht auch die wiederholte Benennung der Diskussionen in der Mädchengruppe als positiver Aspekt in der Auswertung der Forschungswerkstatt sowie der Wunsch nach weiteren Treffen in der Mädchengruppe, der am Ende der Forschungswerkstatt geäußert wurde. Meine Rolle nahm ich in weiten Teilen der Diskussion als die einer 15 Die Arbeit und der Austausch in geschlechtshomogenen Gruppen war ein wichtiger und wiederkehrender Bestandteil der Reflexionen: Sowohl für die Jungen als auch für die Mädchen boten diese Einheiten einen Raum, in dem Erfahrungen in besonderer Weise Platz hatten, die auch mit Geschlechterverhältnissen einhergehen (vgl. zu gegenderten Zuschreibungserfahrungen Kap. V 2.2). Zugleich ging mit der Entscheidung für geschlechtergetrennte Seminareinheiten zum einen eine Einteilung in binäre, vereindeutigende Geschlechterkategorien und damit ihre Reproduktion einher. Zum anderen bedeutete diese Aufteilung für mich, dass ich die Suchbewegungen der Jungen nicht im glei chen Maße intensiv verfolgen konnte wie die Prozesse der Mädchen. Auch Mascha, die Beobachterin, war in diesen Werkstattphasen in der Gruppe der Mädchen dabei. 16 Angesprochene Themen waren u.a. Zuschreibungen bezüglich der vermeintlichen Rolle ‚der Frau im Islam‘, ‚Zwangsheirat‘ und Familienhierarchien.

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Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft wahr, die über die ‚wahren‘ Verhältnisse in ‚Familien mit Migrationsgeschichte‘ und die Rolle der Frau in diesen in der Regel nicht Bescheid weiß und quasi stellvertretend darüber aufgeklärt wird, wie es ‚wirklich‘ ist. Soziale Gruppenzugehörigkeiten Am ersten Werkstatttag fand neben der Gruppendiskussion eine Auseinandersetzung mit den je eigenen Zugehörigkeiten und ihren jeweiligen subjektiven Bedeutungen statt: Die Jugendlichen wurden aufgefordert, in Halbgruppen – es waren die Mädchen, die entschieden, dass in einer Jungen- und einer Mädchengruppe gearbeitet werden sollte – gemeinsam eine Blume mit vier Blütenblättern zu malen. In die Mitte schrieben sie soziale Gruppen, denen sie sich alle zugehörig fühlen, in die einzelnen Blütenblätter ihre je besonderen Zugehörigkeiten. Mit der ‚Zugehörigkeitsblume‘ sollte sowohl für die Mehrfachzugehörigkeiten und die Pluralitäten der Identitäten der Jugendlichen sowie für die Individualität und die Unterschiedlichkeiten der je eigenen Verortungen sensibilisiert werden, als auch die in der Gruppe bestehenden Gemeinsamkeiten in den Blick genommen werden. In einem zweiten Schritt unterstrichen alle die Zugehörigkeit, die ihm oder ihr aktuell am Wichtigsten war.17 In der Kleingruppe sollte die Wahl begründet und über ein positives und ein negatives Erlebnis mit dieser ‚Zugehörigkeitsgruppe‘ berichtet und sich ausgetauscht werden, um die Bedeutungen, die für die Einzelnen mit verschiedenen Zugehörigkeiten in Zusammenhang stehen, zu erkunden. Die Thematisierung von Zusammenhängen zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten und mit ihnen verbundenen Bewertungen auf verschiedenen Ebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven, Privilegien bzw. Deprivilegierungen, sowie Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen sollte so ermöglicht werden. Mit dieser Form der reflexiven Selbstthematisierung wollte ich zum einen eine Selbstpräsentation der Jugendlichen initiieren, bei der sie sich an ihren je eigenen Wichtigkeiten orientieren und also ihre Selbstdefinitionen in den Vordergrund stellen. Zum anderen wollte ich im Anschluss an die Reflexion Verhältnisse von Fremd- und Selbstdefinitionen besprechbar machen. Eine solche Reflexion von Zugehörigkeiten bedeutet auch, sofern sich niemand für seine oder ihre Zugehörigkeiten rechtfertigen muss, diese „gewissermaßen zu ‚ent-selbstverständlichen‘“ (Kalpaka 2006, 120). Es ging also nicht um „die affirmative Bestätigung, sondern um die Schaffung einer Sicherheit, die Verunsicherung ermöglichen kann, um einen geschützten Raum, in dem das Auf-Distanz-Gehen zu eigenen Zugehörigkeiten und 17 Mit der Ausnahme von Nesrin, die ‚Familie‘ als ihre wichtigste soziale Gruppe unterstrichen hat, haben alle Jugendlichen als wichtigste Zugehörigkeit ihre bzw. die Herkunft ihrer Eltern oder ihre Religion angegeben, obgleich in den einzelnen Blütenblättern sehr unterschiedliche Dinge standen.

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Selbstdefinitionen möglich wird und in dem andere Positionierungen ausprobiert werden können“ (ebd.). Nachdem die Jugendlichen ihre ‚Zugehörigkeitsblumen‘ zunächst in den Kleingruppen diskutierten, sollte eine abschließende Auswertung – etwa hinsichtlich der Begründungen für die aufgeschriebenen und die nicht aufgeschriebenen Gruppen, zu eher privilegierten und deprivilegierten Gruppen und zu selbstgewählten und fremdbestimmten Gruppen – im Plenum erfolgen. Die Plenumsdiskussion wurde, im Gegensatz zu den Diskussionen in den Kleingruppen, aufgezeichnet. Während der Kleingruppenphase war ich in der Mädchengruppe, mein Kollege in der Jungengruppe anwesend. In der Mädchenrunde wurde sich über viele verschiedene Themen ausgetauscht, darunter auch viel Persönliches. Nach Aussage von Ahmet verlief die Diskussion in der Jungengruppe weniger intensiv. Das anschließende Gespräch in der Großgruppe erschien mir leider nicht so ‚ergiebig‘ zu sein wie die Kleingruppenarbeit; was auch daran gelegen hat, dass uns die Auswertung im Plenum nicht besonders gut gelungen ist. Zu einigen Auswertungsfragen, wie etwa welche Vor- und Nachteile aus Zugehörigkeiten entstehen oder ob es sich bei den genannten Gruppen um selbstgewählte oder fremdbestimmte Zugehörigkeiten handelt, sind wir nicht gekommen, weil die Diskussion eine andere Dynamik entwickelte. Hierfür waren neben den Diskussionsbeiträgen der Jugendlichen auch eine ungenaue Absprache im Team sowie mein Bestreben verantwortlich, einzelne Aspekte, die in der Mädchengruppe diskutiert worden sind, ins Plenum zu tragen, was sich im Nachhinein als eine schlechte Idee erwies: Die Mädchen hatten diese Aspekte bereits besprochen und zeigten verständlicherweise wenig Interesse, das Gesagte – in gemeinsamer Runde mit den Jungen – noch einmal zu besprechen. Insgesamt habe ich die Plenumsdiskussion als relativ unkonzentriert und chaotisch empfunden. Dennoch kamen viele Themen 18 zur Sprache. Transkribierte Auszüge der Plenumsdiskussion werden in das zu analysierende Datenmaterial mit einfließen. Bei der Auswertung ist der Einfluss zu berücksichtigen, den mein ‚Bestreben‘ u.U. auf die Aussagen und Diskussionsverläufe in der Gruppe hatte. Biografische Selbstreflexion Biografische Selbstreflexion meint nach Herbert Gudjons, Marianne Pieper und Birgit Wagener (2003, 24) „den Versuch, die Erfahrungen, die unsere Identität geprägt haben und in unser heutiges Handeln eingehen, transparent zu machen. “ Durch das Erinnern von Situationen, Erlebnissen, Erfahrungen und Gefühlen, das Vergegenwärtigen vergangener Lebenssituationen und die ‚Wiederbelebung‘ dieser, sollen ihr Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung reflektiert und alltägliche Begründungsmuster hinterfragt bzw. erweitert werden (vgl. ebd.). Dabei, so betonen 18 Bspw. sich rechtfertigen müssen für die eigene Religion oder Herkunft, die Frage warum ‚Ausländer‘ eigentlich ‚Ausländer‘ sind, Sprachcodes in verschiedenen Gruppen etc.

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Gudjons et al., „geht es nicht um das Erkennen der negativen (Leidens-)Aspekte unserer Erfahrung […]. Es sollen vielmehr auch gerade die aktiven Anteile aufgespürt und der Frage nachgegangen werden: ‚Wo habe ich mich nicht nur als ohnmächtiges Opfer von Bedingungen empfunden, sondern mein Leben aktiv gestaltend verändert?‘“ (ebd.) Das Verknüpfen von individuellen Erfahrungen mit gesellschaftlichen und sozialen Positionierungen und Bedingungen stellt ein wichtiges Ziel biografischen Arbeitens dar. Hier ist der Anspruch, persönliche Erfahrungen auch hinsichtlich der ihnen innewohnenden Aspekte gesellschaftlicher, historischer und sozialer Verhältnisse zu reflektieren und nach dem Einfluss dieser auf die eigene Lebenssituation zu fragen (vgl. Behrendt o.J., 57). Ähnlich wie Forscherinnen und Forscher, die sich an kritisch-psychologischen Forschungsansätzen orientieren (vgl. etwa Held 1994, Leiprecht 2001, Riegel 2004), gehen auch Gudjons et al. davon aus, dass jeder Mensch Erfahrungen macht, die einerseits eine spezifisch persönliche Bedeutung haben, andererseits aber aufgrund ihrer Eingebundenheit in gesellschaftliche Verhältnisse zugleich verallgemeinerbar sind. In den Erzählungen über Erfahrungen, so Gudjons et al. (2003, 28), können auch objektivierbare soziale Bedingungen zum Ausdruck kommen, die diese, aber eben auch die Erfahrungen anderer beeinflussen und insofern verallgemeinerbar sind. Darüber hinaus, so Gujons et al. weiter, sind Erfahrungen im Hinblick auf die Art der Aneignung gesellschaftlicher Verhältnisse verallgemeinerbar. Ihnen zufolge, und auch Holzkamp geht von einer solchen Prämisse aus, kann angenommen werden, dass „es nur eine begrenzte Anzahl möglicher Aneignungsweisen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen gibt“ (ebd.). Damit ist jede Art der persönlichen Aneignung gesellschaftlicher Verhältnisse zugleich eine allgemein mögliche Art (vgl. ebd.; Holzkamp 1985, 31f.; Kap. III 3.2). Um diese Verknüpfungen wissend, wählt die biographische Selbstreflexion die je eigene, individuelle Geschichte zum Ausgangspunkt, um von hier aus abstrahierend und reflektierend über ‚größere Zusammenhänge‘ nachzudenken, in die die je eigene Biografie eingebunden ist. Gudjons et al. sehen in diesem Vorgehen den „Versuch, den Ansatz der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung auf das eigene Leben anzuwenden und für die eigene Identitätsentwicklung fruchtbar zu machen“ (Gudjons/Pieper/Wagener 2003, 25; Herv. i. O.). Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von ‚Selbstaufklärungsprozessen‘, in denen „der einzelne Mensch sich selbst als durch seine Lebensgeschichte in besonderer Form geworden erfährt“ (ebd., 27; Herv. i. O.). Im Zuge dessen sollen Menschen auch verstehen lernen, warum und in welcher Weise – nicht nur aber auch – gesellschaftliche Bedingungen Einfluss auf ihr je spezifisches Handeln haben und wie sie mit diesen Einflüssen umgehen (vgl. ebd.). Das ‚Verstehen‘ des eigenen Gewordenseins impliziert dabei immer auch eine Perspektive, die das Erkennen von Veränderungsmöglichkei-

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ten und erweiterten Handlungsperspektiven zulässt. Ein so verstandenes biografisches Arbeiten, in dessen Zentrum die Intention der „Selbstaufklärung statt Fremdaushorchung“ (ebd., 25) steht, entspricht damit auch forschungstheoretischen Prämissen, die dieser Arbeit zugrunde liegen (vgl. Kap. III 5). In der Einheit zum biografischen Arbeiten mit den Jugendlichen hielt ich es für sinnvoll, diese so zu gestalten, dass Prozesse der ‚Selbstaufklärung‘ möglichst erleichtert und unterstützt werden würden. Ich nutzte dazu eine Methode, die ich ‚Fluss des Lebens‘ nannte, und die ich als Angebot zur biografischen Selbstreflexion und als Strukturierungshilfe eines solchen Prozesses verstand. Nach einer kurzen Einführung, in der der Sinn und Zweck der Übung transparent gemacht wurde, baten wir die Jugendlichen, einen Fluss zu malen, der ihr Leben symbolisiert. In diesem sollten sie die für sie wichtigen Ereignisse und Erlebnisse ihres Lebens festhalten. Annita Kalpaka betont bezüglich der Anleitung einer Übung zur Biographiearbeit, dass es wichtig sei, den Auftrag an die Gruppe „möglichst präzise zu formulie ren, aber zugleich bewusst offen zu halten“ (2006, 107). Offenheit meint hier, dass die Fragestellung bzw. der Arbeitsauftrag genug Spielraum für die je eigene Auswahl von Aspekten und ihre Bewertung lässt und nicht etwa schon durch die Fragestellung eine Richtung impliziert wird, die Leiden und Defizite unterstellt (vgl. ebd.). Dies ist bedeutungsvoll, da davon auszugehen ist, dass bereits die Auswahl und der Stellenwert von Themen relevanter Bestandteil der je eigenen biografischen Reflexion und diesbezüglicher Suchbewegungen ist (vgl. ebd.). Im Anschluss an die von den Jugendlichen sehr intensiv verfolgte Einzelarbeit an ihren Flüssen hatten sie die Möglichkeit, diese zunächst in geschlechtsbezogenen Gruppen zu besprechen und im Anschluss im Plenum zu präsentieren. Obwohl ich beim Einstieg in den Austausch, wie schon bei der einführenden Vorstellung der Methode, versucht habe, sehr deutlich zu machen, dass niemand seinen bzw. ihren Fluss präsentieren muss und dass sie auch nicht zu allen Ereignissen, an die sie gedacht haben oder die sie markiert haben, etwas aufschreiben oder sagen müssen, haben alle Jugendlichen ihre Flüsse sowohl in der Kleingruppe vorgestellt als auch im Plenum präsentiert. In der Kleingruppenphase begleitete ich die Mädchen- und Ahmet die Jungengruppe. Mascha, die Beobachterin, war in der Mädchengruppe anwesend. Die Mädchen präsentierten ihre Flüsse und Geschichten mehrheitlich zunächst recht sachlich. Sie beschrieben Stationen in ihrem Leben, ohne dabei allzu detailliert zu werden und auf Gefühle einzugehen. Jedoch wurde das gemeinsame Sprechen über die einzelnen Erlebnisse und Lebensgeschichten im Prozess zunehmend emotional. Thematisiert wurden die, zum Teil ambivalenten, Beziehungen zu wichtigen Freundinnen und Familie, Erfahrungen der Orientierungslosigkeit und des Sich-Ausgeschlossen-Fühlens nach der Migration sowie Fluchterfahrungen. Zwei der vier Mädchen sind nach Deutschland geflohen, eines von ihnen sagte, dass es das erste Mal sei, dass sie von ihren Erlebnissen spricht. Dieses Mädchen musste

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sehr bald nach dem Beginn der Vorstellung ihres Flusses anfangen zu weinen, jedoch bestand sie darauf, ihren Fluss zu Ende vorzustellen. Zwei der anderen Mädchen begannen ebenfalls zu weinen, eines berichtete, dass sie bereits beim Malen des Flusses weinen musste. Die Mädchen waren in dieser Arbeitsgruppe einander besonders zugewandt und unterstützend. Es entstand ein sehr enges, vertrautes Klima in der Gruppe. Nach einer Weile konnte von der angespannten, traurigen Ebene auf eine etwas abstraktere, entlastende Ebene gewechselt werden. Am Ende berichteten zwei Mädchen von eher lustigen Kindheitserlebnissen und es wurde viel gelacht. Die Atmosphäre wirkte am Ende gelöst und entspannt. Auf die abschließende Frage, wie sie sich jetzt fühlten, erklärten sie, dass es ihnen gut gehe und sie den Austausch gut und wichtig gefunden hätten. Das Sprechen über die Erfahrungen hätten sie als gut und erleichternd empfunden. Es wurde gesagt, dass Weinen zusammen schweiße und dass es befreiend gewesen sei. Darüber hinaus sei es schön zu sehen, dass man nicht alleine ist mit Erfahrungen, die nicht so schön gewesen sind und dass es Gemeinsamkeiten gibt, von denen man vorher nicht gewusst hätte, dass es sie gibt. Das Vertrauen in die anderen wurde als schönes Gefühl beschrieben. Die Mädchen zeigten sich zudem erstaunt über ihr Nicht-Wissen über die Geschichten der je anderen, was indirekt auch durch das sehr interessierte Nachfragen untereinander während der Übung deutlich geworden war. Auch in der Jungengruppe wurde sich engagiert und offen ausgetauscht. Themen waren hier Familie, die Beziehung zu Freunden oder sozialen Gruppen, Diskriminierungserfahrungen und Erfahrungen mit physischer Gewalt – sowohl als diejenigen, die Gewalt ausüben, als auch als diejenigen, die Opfer von Gewalt geworden sind. Dass das Thema Gewalt bei den Jungen einen besonderen Stellenwert einnimmt, kristallisierte sich in dieser Arbeitsphase recht deutlich heraus. Es blieb auch im weiteren Verlauf der Forschungswerkstatt ein wiederkehrendes Thema. Handlungspraktiken und Handlungsmöglichkeiten Eine weitere Arbeitsform während der Forschungswerkstatt stellte die Arbeit mit Methoden der Theaterarbeit dar. Mit ihrer Hilfe sollten erlebte Situationen von Diskriminierung leichter besprech- und analysierbar werden. Insbesondere Machtungleichheiten, Unterdrückungsverhältnisse und Handlungsspielräume der Beteiligten sollten hierbei in den Blick genommen werden. Ausgangspunkt für das Anregen von Lernprozessen Einzelner zu Macht- und Unterdrückungsverhältnissen sind nach Kalpaka die subjektiven Lernbegründungen von Teilnehmenden an entsprechenden pädagogischen Angeboten und ihr Wunsch nach erweiterter Handlungsfähigkeit (vgl. Kalpaka 1994, 105). 19 In ihren Überle19 Ich beziehe mich hier und im Folgenden zentral auf einen Artikel von Kalpaka, in dem sie ein eigenes Konzept pädagogischer Theaterarbeit vorstellt. Obgleich in diesem vornehmlich Angehörige der Mehrheitsgesellschaft Zielgruppe sind, sind ihre Überlegungen

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gungen zur Gestaltung bzw. Begleitung solcher (verändernder) Lernprozesse bezieht sich Kalpaka auf Erkenntnisse der Kritischen Psychologie. In Anlehnung an Holzkamp geht sie davon aus, dass Vergesellschaftung ein Prozess der aktiven Aneignung ist, in welchem Unterdrückungsstrukturen als gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zwar wirksam, aber nicht determinierend und in Form einer ‚Einbahnstraße‘ nur in eine Richtung wirksam sind, sondern von in den Strukturen lebenden Menschen beständig mit (re-)produziert werden. Von dieser Grundprämisse ausgehend ist folglich ein veränderndes Handeln möglich, das auch Einfluss auf Strukturen hat (vgl. ebd.). Jedoch begrenzen bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse den Raum, innerhalb dessen Handeln möglich ist und behindern die Ausweitung der je eigenen Handlungsfähigkeit auf je spezifische Weise. „Auf beschränktem Niveau handlungsfähig zu bleiben, bedeutet“, so Kalpaka (1994, 106), „u.a. im eigenen Vergesellschaftungsprozeß die Bereiche, in denen Kompetenzen nicht ermöglicht werden, umzuinterpretieren, nicht wahrzunehmen, aus dem Bewußtsein auszugrenzen.“ Der Versuch der Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten ist daher immer auch mit Verunsicherung und dem Hinterfragen von ‚Altbewährtem‘ verbunden. Kalpaka spricht deshalb von „Lernen als Verunsicherung“ (vgl. ebd., 105f.). Ein Lernkonzept, welches die Erweiterung von Handlungsfähigkeit unterstützen will, sollte aus diesem Grund zum Ziel haben, auch die eigene Eingebundenheit in Macht- und Herrschaftsstrukturen der Reflexion zugänglich zu machen und darüber hinaus „Mut machen, um sich aus diesen herauszuarbeiten“ (ebd.). Theater als Methode kann nach Kalpaka eine diesbezüglich geeignete Form sein, mit welcher Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie eigene Positionierungen in Konstellationen von Macht und Ohnmacht sowie Gefühle in Positionen von Unterdrückenden und Unterdrückten thematisiert und reflektiert werden können (vgl. ebd., 107). Augusto Boal, auf den auch Kalpaka sich in ihrer Konzeption von Theaterworkshops zu Macht- und Unterdrückungsverhältnissen bezieht, formuliert als Ziel aller Übungen und Techniken seines ‚Theater der Unterdrückten‘, 20 „Zwänge sichtbar zu machen, soziale Rituale, in denen wir befangen sind, durchschauen zu lernen, soziale Masken, die uns aufgezwungen wurden, zu erkennen, kurz: uns der Unterdrückung in all ihren Formen bewusst zu werden und sie zu durchbrechen“ (Boal 1989, 241). Denn „Erkennen heißt verändern: die persönliche, verinnerlichte in weiten Teilen auch für die Arbeit mit den jugendlichen Teilnehmenden der vorliegenden Untersuchung relevant und adaptierbar. 20 Entstanden ist das Theater der Unterdrückten als Antwort auf die Repressionen in Latein amerika Ende der 1960er Jahre (vgl. Boal 1989, 66). Als „Volkstheater“, in dem „gesell schaftliche Probleme aus der Perspektive des Volkes und nicht der der herrschenden Klasse“ (ebd., 18) dargestellt werden, sollte es Menschen politisieren, ihnen Handlungsmöglichkeiten aufzeigen und Unterdrückungsverhältnisse verändern helfen. Boal bezeichnet sein Theater der Unterdrückten daher auch als Theater der Befreiung (vgl. ebd., 5).

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Unterdrückung erkennen, die allgemeine Unterdrückung erkennen, heißt, konkretes Handeln zur Veränderung der Realität einüben, heißt, die Realität verändern, und genau das ist das Ziel des Theaters der Unterdrückten“ (ebd., 261). Das Theater der Unterdrückten mit seinen Techniken und Methoden liefert wertvolle Hinweise und Anregungen dafür, wie eine erweiterte Handlungsfähigkeit erarbeitet werden kann und war daher für die Konzeption der Forschungswerkstatt von Bedeutung. Da im Mittelpunkt der Arbeit mit Ansätzen aus dem Theater der Unterdrückten eigene Geschichten und Erfahrungen stehen, kann auch diese als eine Form der Biografiearbeit betrachtet werden. Um sich auf der Bühne aus der sonst üblichen Position der Zuschauenden befreien und zu Akteurinnen und Akteuren werden zu können, bedarf es nach Boal mehrerer Phasen (vgl. ebd., 46ff.). In Anlehnung an die zweite und die dritte der von Boal angeführten Phasen habe ich die Methoden für die theaterpädagogische Arbeit in der Forschungswerkstatt konzipiert: Die zweite Phase besteht aus einer „Folge von Spielen, in deren Verlauf man sich nur mit seinem Körper, unter Verzicht auf gewohnte und alltägliche Mitteilungsformen auszudrücken lernt“ (ebd.; vgl. ebd., 49ff.). In der sich anschließenden dritten Phase sollen die sonst Zuschauenden in drei Stufen zu Handelnden werden: a) simultane Dramaturgie 21, b) Statuenbau und c) Forumtheater (vgl. ebd., 51, 53ff.). Von Beginn an haben wir in der Forschungswerkstatt viele theaterpädagogische Übungen und Spiele eingesetzt – etwa zum Aufwärmen am Morgen oder zur Auflockerung zwischendurch –, die den Einsatz des Körpers als ‚Material‘, als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel forderten und auf die spätere Körperarbeit im Statuenbau – das ‚Modellieren‘ von Standbildern aus Teilnehmenden – und im Forumtheater vorbereiteten. Für den Statuenbau baten wir die Jugendlichen zunächst, sich an erlebte Situationen, die in einem Zusammenhang mit Diskriminierung stehen, zu erinnern und sich dann, aufgeteilt in zwei Kleingruppen, über diese auszutauschen. Innerhalb der Kleingruppen einigten die Jugendlichen sich dann auf eine Szene, die sie der anderen Gruppe vorstellen wollten und überlegten sich eine geeignete Statue. Die Statuen bzw. die dargestellten Situationen sowie die möglichen Rollen und Gefühle der Beteiligten wurden im Anschluss an die Präsentation zunächst von den Zuschauenden und dann von den Darstellenden interpretiert und gemeinsam besprochen. Die Methode des Statuenbaus diente zum einen als Zugang zu erlebten Szenen und den damit verbundenen Erinnerungen, Gefühlen und Assoziationen. Zum Anderen sollte das Interpretieren und Hineinversetzen in die verschiedenen Teilnehmenden zu Perspektivwechsel und einer möglichst breiten und vielschichtigen Wahrnehmung der 21 Hier geben die Zuschauenden professionellen Schauspielenden ‚Aufträge‘, die diese dann spielen. Da diese Stufe auf professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen angewiesen ist, kommt sie für das Konzept der Forschungswerkstatt nicht in Frage.

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Situation beitragen. Dabei verweisen die Deutungen der Situationen durch diejenigen, die sie erfahren haben, wie auch durch diejenigen, die sie als Zuschauende interpretieren, darauf macht Kalpaka aufmerksam, sowohl auf subjektive Wahrnehmungen und Deutungsmuster als auch auf hinter diesen liegende gesellschaftliche Deutungsmuster, auf die zurückgegriffen wird. In den Interpretationen zeigen sich „gesellschaftliche Denkformen, in denen Erfahrungen der TeilnehmerInnen Sinn bekommen“ (Kalpaka 1994, 109). Ziel ist es mit diesen zu arbeiten und „nach den Entstehungsbedingungen der Bilder bzw. der Interpretationen zu suchen, die sowohl in der individuellen Geschichte der Einzelnen als auch in gesellschaftlichen Strukturen begründet sind“ (ebd.). In den beiden Szenen, die die Jugendlichen vorgestellt haben, thematisierten sie Situationen, in denen die Hauptdarstellerin bzw. der Hauptdarsteller in ihrer/seiner Schulklasse Ausgrenzung erfahren haben, indem sie von der Teilnahme am Versteckenspielen (in der Grundschule) bzw. von einer gemeinsamen Prüfungsvorbereitung (im Fachgymnasium) ausgeschlossen wurden. In beiden Fällen begründeten die Jugendlichen das Verhalten der Mitschülerinnen und Mitschüler damit, dass diese die „Ausländer“ nicht dabei haben wollten. Dennoch wurde von allen Betroffenen der jeweiligen Szenen versichert, dass sie sich eigentlich sehr wohl in ihrer Klasse gefühlt hätten bzw. fühlen. Und dies trotz sich wiederholender Erfahrungen von Ausgrenzung, obwohl – so die Betroffene der einen Szene – sie und andere „Ausländer mit schwarzen Haaren“ (im Gegensatz zu den „blonden Russinnen und Polen“) regelmäßig ausgeschlossen wurden; etwa, wenn es um die Bildung von Kleingruppen in der Schule ging. Zwei Teilnehmende berichteten davon, dass sie zu Treffen außerhalb der Schule nicht nur nicht eingeladen wurden, sondern mit der Aussage „Ausländer kommen bei mir nicht rein“ explizit abgewiesen wurden. Angesprochen auf den vermeintlichen Widerspruch tendierten die Jugendlichen dazu, das sie verletzende Verhalten ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler zu relativieren und argumentierten, dass diese im Prinzip ganz nett seien und eigentlich ja nur ‚Spaß‘ machen würden.22 In einem nächsten Schritt baten wir die Jugendlichen, sich für das Forumtheater an Situationen zu erinnern, in denen sie im Nachhinein betrachtet gerne anders gehandelt hätten, als sie es getan haben bzw. mit ihrem eigenen Handeln unzufrieden waren. In zwei Gruppen tauschten die Jugendlichen sich über Erlebtes aus und wählten gemeinsam ein Ereignis, das als Theaterszene erarbeitet und in Szene gesetzt wurde. Die Jugendlichen hatten die Möglichkeit, die Szene an beliebiger Stelle zu stoppen und in einem ersten Schritt die Gedanken und Gefühle der Beteiligten zu interpretieren und auszusprechen. Wie schon im Statuenbau wurde auch hier versucht, eine möglichst große Vielfalt von möglichen Perspektiven und Interpretationen der Situation sichtbar zu machen sowie darin wahrgenommene Themen zu ex 22 Vgl. hierzu ausführlich Kap. V 2.5

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plizieren, auch um Ansätze der Veränderung zu finden. Daran anschließend konnten die Jugendlichen den Protagonisten austauschen und die Szene durch ein alternatives Handeln verändern. In diesem Prozess des Ausprobierens verschiedener Handlungsmöglichkeiten kann, so Kalpaka (1994, 112) „einerseits die resignative Haltung: ‚Man kann sowieso nichts machen‘ konterkariert werden, und zum anderen werden immer wieder die (gesellschaftlichen und individuellen) Grenzen angestrebter Veränderung sichtbar.“ Die Szene wurde sooft gespielt, wie es Vorschläge und Ideen für alternatives Handeln gab. Neben der Gelegenheit, gemeinsam über alternative Handlungsmöglichkeiten nachzudenken, bot diese Form der Auseinandersetzung auch die Chance, die Konsequenzen verschiedener Handlungen abzuwägen und den Sinn bzw. Unsinn verschiedener Strategien genauso zu reflektieren wie auch die Gründe, die zu bestimmten Handlungen Anlass gaben sowie die hinter diesen stehenden Vorannahmen und Theorien. Bei der dargestellten Szene handelte es sich um eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen von männlichen Jugendlichen, in die zwei der Teilnehmenden verwickelt waren. Beide erklärten, dass sie die anderen Jugendlichen gekannt hätten, weil alle hin und wieder die gleiche Kneipe besuchen würden. Mit dieser Gruppe, so berichteten die beiden Jugendlichen, habe es schon öfter mal ‚Stress wegen rassistischer Sprüche‘ gegeben. Die Jugendlichen erzählten auch, dass es in der Gruppe auch ein paar ganz nette Leute gäbe und sie manchmal zu sammen Karten spielen oder etwas trinken würden.23 Der Jugendliche, der die Szene eingebracht hatte, hat einen Jugendlichen aus der Gruppe, mit der es zu Streite reien kam, so geschlagen, dass dieser eine Platzwunde hatte, während es in der Auseinandersetzung ansonsten bei Rangeleien und Schubsereien blieb. Er beschrieb sich selbst in der Szene als Täter, als denjenigen, der durch sein Schlagen jemand anderen diskriminiert habe. Es ging ihm darum, Ideen zu sammeln, wie in der Phase der Auseinandersetzung, in der es bereits zu Handgreiflichkeiten auf dem Parkplatz vor der Kneipe gekommen war, anders als mit Gewalt hätte (re-)agiert werden können. Die Vorgeschichte, die Auseinandersetzung in der Kneipe, bei der rassistische Beleidigungen offensichtlich der oder zumindest ein Auslöser des Konfliktes waren, wurde von den Jugendlichen nicht thematisiert. Körperlich gewaltvolles Handeln wurde hier, wie auch in anderen Situationen während der Forschungswerkstatt, als Diskriminierung bezeichnet. Das Arbeiten mit der Szene in Form des Forumtheaters stellte sich grundsätzlich als produktiv heraus: Keine und keiner der Teilnehmenden zeigte Scheu davor, auf die ‚Bühne‘ zu gehen. Im Gegenteil schien diese Form der Bearbeitung für einige 23 In der Beschreibung der Szene und ihres Kontextes werden ähnliche Ambivalenzen zwischen Dazugehören und Ausgeschlossensein beschrieben, wie sie schon in der Einheit zum Statuenbau zur Sprache kamen. Auch an anderer Stelle berichtet ein Jugendlicher von einem Bekannten, „eher so’n Nazi“, der aber „eigentlich auch ganz nett“ sei.

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eine ansprechendere und einfachere Weise des Zugangs und der Auseinandersetzung mit Erlebtem zu sein als die vorherigen Übungen, in denen es um gemeinsames Sammeln und Aufschreiben (Zugehörigkeitsblume) und Visualisieren in Einzelarbeit (Fluss des Lebens) ging. Gleichwohl bot die gemeinsam gewählte Szene nicht für alle Teilnehmenden das gleiche Identifikationspotenzial: Offenbar konnten sich vor allem die Jungen mit ihr identifizieren, für die Gewalt ein wichtiges Thema war. Die meisten Mädchen, so machte es den Anschein, fanden weit weniger Anknüpfungspunkte an ihre Lebenswelt und eigene Erfahrungen. Sie wurden im Laufe der Zeit zurückhaltender und waren gen Ende mit weit weniger Enthusiasmus bei der Sache. Für das Spielen und Arbeiten mit weiteren Szenen blieb leider keine Zeit mehr, was insbesondere vor dem Hintergrund, dass es hier sehr konkret um den zentralen Punkt der Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten ging, zumindest für mich unbefriedigend blieb. Positionierungen und Begründungen Weiterer Bestandteil der Arbeit in der Forschungswerkstatt waren Methoden und Übungen, die die Jugendlichen aufforderten, zu bestimmten Themen oder Aussagen Stellung zu beziehen und ihre Position zu begründen. Auf diese Weise versuchten wir sowohl Reflexionsprozesse zu konkreten, im Seminarverlauf auftretenden Themen als auch den Austausch von Meinungen, Perspektiven und Einschätzungen zwischen den Jugendlichen anzuregen. Zugleich versprach ich mir so etwas über die Deutungsmuster, auf die die Argumentationen und Begründungen der Jugendlichen verweisen, zu erfahren. Methoden dieser Form der Auseinandersetzung ließen wir je nach Werkstattprozess ‚spontan‘ einfließen. Sie erfüllten über die genannten Aspekte hinaus also auch jeweils prozessimmanente Bedarfe. So wurden die Jugendlichen in einer Übung gebeten, sich zu bestimmten Aussagen emotional zu positionieren (‚Das lässt mich kalt‘, ‚Das regt mich ein bisschen auf‘, ‚Da werde ich sauer‘, ‚Da gehe ich voll ab‘) und dazu angehalten, ihre Positionen zu begründen. Der Grund für diese Übung war unser Eindruck, dass die Jugendlichen an vielen Stellen sehr distanziert über verletzende Zuschreibungen und stereotype Bilder sprachen, mit denen sie konfrontiert werden. Mithilfe der Übung wollten wir die mit diesen Zuschreibungen einhergehenden Gefühle thematisieren. In ihrem Verlauf wurde deutlich, dass Ungerechtigkeiten und Zuschreibungen bei allen mit Verletzungen und Gefühlen wie Wut und Trauer in Verbindung stehen; und vor allem, dass diese Gefühle legitim sind. Darüber hinaus gelang es uns, anknüpfend an die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Bewertungen der verschiedenen Situationen durch die Jugendlichen, über unterschiedliche Perspektiven, Standpunkte und (kontextabhängige) Bedeutungen ins Gespräch zu kommen. An anderer Stelle wurde ein eher strittiger und diffuser Diskussionspunkt, der in einer Plenumsdiskussion aufkam (‚Diskriminierung ist immer gleich schlimm‘), in

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Form einer strukturierten Pro-Kontra-Diskussion zwischen denen, die der These zustimmen und denen, die sie ablehnen, aufgegriffen. Wir versuchten auf diese Weise, den Austausch von Argumenten zu strukturieren. Darüber hinaus erhofften wir uns über den auf diese Aussage fokussierten Austausch von Argumenten einen Zugang zur strukturellen, gesellschaftlich relevanten Ebene von Diskriminierung. Nach dem Austausch von Argumenten und Diskussion kamen die Jugendlichen beider Gruppen darin überein, dass nur der- bzw. diejenige, der oder die von Diskriminierung betroffen ist, beurteilen kann, wie schlimm Diskriminierung ist. Aus dieser individuellen Perspektive betrachtet macht es nach Aussage der Jugendlichen keinen Unterschied, ob Menschen wegen ihrer Sprachfähigkeiten, ihres Dickseins oder ihrer Schulleistungen diskriminiert werden. Gesellschaftliche Verhältnisse thematisierten die Jugendlichen nicht als relevanten Aspekt der Fragestellung bzw. einer Antwort. Gegen Ende der Forschungswerkstatt baten wir die Jugendlichen, in Paaren den Versuch zu unternehmen, eine eigene Definition von Diskriminierung zu erarbeiten. Die Definitionen wurden im Plenum vorgestellt und begründet, Gemeinsamkeiten und Unterschiede wurden diskutiert. Auf diese Weise wollten wir die Jugendlichen dazu animieren, die bisherigen Auseinandersetzungen und Diskussionen noch einmal Revue passieren zu lassen und die für sie wichtigen Merkmale und Aspekte von Diskriminierung zusammen zu fassen und zu begründen. Darüber hinaus war es unser Anliegen, so noch einmal konkretere Einblicke in ihre Diskriminierungsverständnisse, etwa aufgrund der geäußerten, für sie relevanten Formen von Diskriminierung, zu erhalten. Es ging hier nicht, und das haben wir versucht deutlich zu machen, um ein ‚Abfragen‘ von erlerntem Wissen oder eine Auswertung der Forschungswerkstatt. Da wir während der Werkstatt keine ‚Inputs‘ oder Definitionen gegeben haben, sondern ihre Meinungen und Perspektiven im Vordergrund standen, vermute ich, dass die Jugendlichen sich nicht unter Druck gesetzt fühlten, eine vermeintlich von uns erwartete, ‚richtige‘ Antwort zu liefern. Dennoch sollte dieser Aspekt bei der Auswertung des Plenumsgespräches, welches in Auszügen als zu analysierender Text Teil des Datenmaterials ist, berücksichtigt werden. Am Nachmittag des dritten Tages der Forschungswerkstatt versuchten wir, in der Diskussion zur Definition von Diskriminierung angeschnittene Themenbereiche unter der Einstiegsfrage ‚Was fällt euch ein zum Thema Ungleichheit und ungleiche Behandlung?‘ in den zwei parallel laufenden, nach Geschlechtern getrennten Gruppendiskussionen aufzugreifen. Auswertung und Ausblick Der letzte Tag der Forschungswerkstatt stand im Zeichen des Resümierens, der Auswertung und des Ausblicks. Zum Abschluss der Auseinandersetzungen in der Forschungswerkstatt sind als kleines Resultat in ‚Gemeinschaftsproduktion‘ zwei Rap-Texte entstanden.

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In der sich anschließenden Auswertung baten wir die Jugendlichen, entsprechend der Finger ihrer Hand, die sie auf ein Blatt Papier malten, zu fünf Aussagen etwas festzuhalten: ‚Das kam zu kurz‘, ‚Das nehme ich mit‘, ‚Das war scheiße‘, ‚Darüber denke ich weiter nach, da bleibe ich dran‘, ‚Das war super‘. Die Jugendlichen wurden später gebeten, zwei der Punkte im Plenum vorzustellen und mir ihre ‚Hände‘ im Anschluss an die Auswertung mitzugeben, sofern sie das wollten. Im Folgenden werden die inhaltsbezogenen Aussagen, die zu den einzelnen Punkten gemacht wurden, dargestellt.24 ‚Das nehme ich mit‘ • Erfahrungen • keine Ausländer, sondern People of Color • Diskussion in der Mädchengruppe • Gemeinsame Erfahrungen • Das was ich gelernt habe über Diskriminierung • Das man nicht gleich zuschlägt • Gespräch zu Anti-Gewalt-Training • Die vielen Eindrücke und Ansichten ‚Da denke ich weiter drüber nach, da bleibe ich dran‘ • Reaktion bei Diskriminierung • Anti-Gewalt-Training • Erfahrungen • Wie man allgemein umgeht, gegen Rassismus im Staat • Wie man Schlägereien aus dem Weg geht • Diskriminierung allgemein ‚Das fand ich super‘ • Fluss des Lebens • Uns • Gruppenklima • Gruppenarbeiten • Diskussion mit der Mädchengruppe • Die Zeit hier mit uns allen 24 Alle nicht hier aufgeführten Aussagen – u.a. alle Aussagen die bei ‚Das kam zu kurz‘ und bei ‚Das war Scheiße‘ gemacht wurden – beziehen sich, mit zwei Ausnahmen, auf das Haus oder die Zeit außerhalb der Werkstattzeit während des Wochenendes. Die Ausnah men: Bei ‚Das kam zu kurz‘ schrieb eine Teilnehmerin ‚weiß ich nicht. Haben wir die Erwartungen erfüllt?’‘(vgl. hierzu ausführlicher unten), bei ‚Das war Scheiße‘ ‚nicht scheiße, aber nicht mit so vielen Emotionen gerechnet‘.

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Wir alle Diskussion Atmosphäre/Laune Arbeit abwechslungsreich Der Austausch mit den Anderen/deren Sichtweise! Allgemein das ganze Programm war super.

In einem zweiten Teil fragten wir die Jugendlichen, ob und wie es nach der Forschungswerkstatt weitergehen sollte und baten sie, eventuelle Ideen zunächst nur für sich schriftlich festzuhalten. Die Ideen sammelten wir dann an der Flipchart: • • • • • • • • • • • • • • •

Noch mal treffen… (einen Tag?) Weiter über Diskriminierung reden/über neue Erfahrungen sprechen Andere Leute, die Interesse haben integrieren Noch mal treffen, vielleicht auch ein Wochenende, aber nicht so weit weg Aktiv werden, was gegen Diskriminierung zu tun Wieder treffen, wenn wir uns vermissen Wieder treffen, wenn bei jemandem was passiert worüber wir reden müssen Um was Schönes zusammen zu machen Andere Leute informieren Versuchen, Diskriminierung zu vermeiden Informationsveranstaltung Flyer drucken Viele Leute informieren Öffentliche Diskussion Artikel über Forschungswerkstatt in die Zeitung

Nach der Auswertung und dem Ausblick hatten abschließend alle Teilnehmenden in einer Blitzlichtrunde die Gelegenheit, noch etwas zu sagen. Für mich war es nicht nur erstaunlich, dass alle Jugendlichen diese Möglichkeit wahrnahmen, sondern auch, dass fast alle lange, ‚eigene‘ Statements machten, ohne einfach auf das zu verweisen, was bereits von anderen gesagt wurde. In der Abschlussrunde wurde mehrmals betont, dass die gemeinsame Zeit in der Gruppe schön war, dass die thematische Auseinandersetzung für sie spannend und gewinnbringend war und dass sie gerne an dem Thema weiterarbeiten möchten. In zwei Beiträgen haben Jugendliche gesagt, dass sie überrascht seien, dass ihnen die Tage tatsächlich etwas gebracht haben, dass sie eigentlich vor allem mitgefahren seien, um mir einen Gefallen zu tun (vgl. unten). Es wurde auch geäußert, dass es gut war, dass „endlich mal jemand mit echtem Interesse“ nach ihren Erfahrungen und ihren Perspektiven gefragt hat.

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Besonders betont wurde von mehreren – und hier vor allem von den Jungen – dass sie es prima fanden, dass Ahmet dabei war. Reflexionen zur doppelten Funktion der Forschungswerkstatt Ein Setting wie das der Forschungswerkstatt, das sowohl mit dem Anliegen entwickelt wurde, (pädagogische) Räume der Selbsterkundung, der Selbstpräsentation und der Reflexion bereitzustellen als auch von meinem Forschungsinteresse und der Erhebung von Daten geprägt ist und darüber hinaus ‚Spielräume der Kritik‘ eröffnen und nutzbar machen möchte, ist selbstredend nicht frei von Herausforderungen und Ambivalenzen. Es handelt sich bei der Forschungswerkstatt um einen Raum (mindestens) doppelter Funktion. Zwar ist es in meinen Augen recht gut gelungen, ein Forschungssetting zu arrangieren, in dessen Mittelpunkt nicht nur die Erhebung von Daten und das mit der Forschung verbundene Erkenntnisinteresse steht, sondern auch die Prozesse, Interessen und Bedürfnisse der an dem Projekt beteiligten Jugendlichen als relevanter Teil von Forschung Aufmerksamkeit erfahren. Sowohl auf einer Erkenntnis produzierenden als auch auf einer teilnehmendenzentrierten Ebene wurde auf diese Weise das Anliegen verfolgt, zu kritisch-interventionistischen Effekten, wie sie oben beschrieben wurden, beizutragen. Dennoch ist uns diese Verbindung unterschiedlicher Interessen nicht immer zufriedenstellend geglückt. Das Finden einer angemessenen Balance zwischen der Orientierung an den Jugendlichen und ihren Bedürfnissen und den eigenen forschungstheoretischen und -methodischen Prämissen stellte sich mitunter als schwierig heraus. Aus diesem Grund und weil Erkenntnisproduktion in dieser Arbeit als Prozess bedingungsgerahmter, interaktiver Konstruktion verstanden wird sowie angesichts der Überzeugung, dass weder Pädagogik noch Wissenschaft im Gegenstandsbereich Rassismus nicht politisch sein können, werden im Folgenden die Prozesse und Interaktionen der Forschungswerkstatt reflektiert. Im Mittelpunkt der Reflexion stehen Einflüsse und Wechselwirkungen, die mit der doppelten Funktion der Forschungswerkstatt als pädagogisches Setting und als Datenerhebungsraum einhergehen. Ich konzentriere mich dabei auf drei, mir wesentlich erscheinende Aspekte, die die Interaktion und die Kommunikation, den Werkstattprozess und damit die Datenerhebung rahmen: a) Ambivalenzen, die mit dem methodischen Vorgehen einhergehen, b) soziale Beziehungen und Positionierungen der an der Werkstatt Beteiligten und c) die verschiedenen Interessen und Motivationen der Beteiligten. Methodisches Vorgehen Eine Prämisse, die mit der Forschungswerkstatt in ihrer Funktion als Datenerhebungssetting in engem Zusammenhang stand, war, dass der inhaltliche Prozess den Relevanzen der Jugendlichen folgte und nicht die von mir oder uns Teamenden als

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relevant erachteten Aspekte in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen rückten; zugleich war es im Sinne eines kritisch-interventionistischen Forschens aber auch mein Anliegen, mit den Jugendlichen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, in die individuelles Deuten und Handeln eingelassen sind, nachzudenken. Beide Prämissen standen zuweilen quasi in einem ‚Prioritäten-Konflikt‘ miteinander: Als eine Folge der ersten Prämisse dominierte in der Forschungswerkstatt der Austausch von Positionen und Meinungen sowie zu Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus, die auf eine individuelle bzw. eine interpersonelle Ebene, zuweilen auch auf eine kulturell-diskursive Ebene (Fernsehen, Computerspiele, ‚die Medien‘) Bezug nahmen, die Auseinandersetzungen. Institutionelle Diskriminierung wurde wenig thematisiert. Eine Auseinandersetzung mit strukturellen Formen der Diskriminierung, mit Machtverhältnissen und mit den eigenen Verstrickungen in diese fand kaum statt. In Orientierung an der zweiten Prämisse sind diese Ebenen aber immanenter Bestandteil der angestrebten Auseinandersetzungen. In der Praxis stellte es sich als schwierig heraus, beide Prämissen miteinander zu verbinden und diesen ‚Abstraktionsschritt‘ in Anknüpfung an Themen der Jugendlichen zu initiieren. An zwei Stellen griffen wir Äußerungen der Jugendlichen auf und gaben sie mit der Idee, dass die vertiefte Diskussion dieser zu einer Auseinandersetzung mit Diskriminierung auf struktureller Ebene führen könnte, in die Gruppe zurück: Die Frage, ob Diskriminierung ‚immer gleich schlimm‘ nahmen wir in Form der strukturierten Pro-Contra-Diskussion auf, in der die Jugendlichen darin überein kamen, dass immer nur die Betroffenen selbst entscheiden können, was ‚schlimm‘ ist (vgl. oben). Mit Verweisen auf gesellschaftliche Zusammenhänge wurde nicht argumentiert. Ein anderes Mal wurde im Zusammenhang mit der Definition von Diskriminierung geäußert, dass ‚die Mehrheit immer mächtiger ist‘ und somit überhaupt erst in der Lage, andere zu diskriminieren. Bei der Diskussion dieses Punktes thematisierten die Jugendlichen Mehr- und Minderheitsverhältnisse auf der Ebene sozialer Gruppen wie Cliquen oder Freunde. Auch hier wurde nicht auf die gesellschaftliche Dimension von Machtverhältnissen Bezug genommen. In beiden Diskussionen wurde von uns im Anschluss an ihre Diskussionen auf Zusammenhänge mit der gesellschaftliche Ebene verwiesen; jedoch wurde dies kaum aufgegriffen. Es schien, als sei diese Ebene für die Jugendlichen sehr abstrakt und nur schwer mit den konkreten, lebensweltlichen Erfahrungen zu verknüpfen. Soziale Beziehungen und Positionierungen Die Vertrauensbeziehung, die zwischen mir und den Jugendlichen aufgrund der Zusammenarbeit in anderen pädagogischen Projekten bereits vor der Forschungswerkstatt bestand, aber auch das vertrauensvolle Verhältnis, das die Jugendlichen untereinander hatten, waren meiner Meinung nach eine wichtige Voraussetzung für die Konstruktion des Forschungsdesigns und den Ablauf der Forschungswerkstatt – ins-

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besondere vor dem Hintergrund der sehr persönlichen Thematik und der Tatsache, dass ich, im Gegensatz zu den Jugendlichen, in Deutschland keine Rassismuserfahrungen machen muss. Im Laufe der Forschungswerkstatt intensivierte sich dieses Vertrauensverhältnis untereinander aufgrund des Teilens von Erfahrungen und der gemeinsamen Zeit.25 Durch das wiederholte Arbeiten in geschlechtergetrennten Gruppen war dies vor allem auch innerhalb der Mädchen- bzw. der Jungengruppe zu beobachten. Ahmet nahm im Hinblick auf die Beziehung zu den Jugendlichen eine gänzlich andere Rolle ein als ich: Er und die Jugendlichen lernten sich erst kurz vor der Forschungswerkstatt bei einem Infotreffen kennen. Eine vorausgehende Geschichte der Zusammenarbeit und des Einander-Kennens hatten er und die Jugendlichen nicht. Im Gegensatz zu mir war Ahmet allerdings schnell in ein ‚Wir‘ der ‚Schwarzköpfe‘ – wie die Jugendlichen sich und andere, die als ‚Ausländer‘ stigmatisiert und mit entsprechenden Zuschreibungen und Rassismen konfrontiert sind, nennen – integriert. Auf dieser Ebene gab es in der Wahrnehmung der Jugendlichen einen gemeinsamen Erfahrungshorizont, der sie und Ahmet miteinander verband und der mich nicht einschloss. Darüber hinaus stellte es insbesondere für die männlichen Jugendlichen eine neue bzw. seltene Erfahrung dar, dass ein männlicher Pädagoge als Teil eines solchen pädagogischen Settings sich als Vertrauensperson und Ansprechpartner anbot: Ein Angebot, das von den Jugendlichen schnell angenommen wurde.26 Diese sozialen Positionierungen, die Beziehungen zueinander sowie die verschiedenen Rollen, die wir jeweils füreinander und in Bezug auf den konkreten Gegenstand der Auseinandersetzungen einnahmen, waren auch Bestandteil der Kommunikation und beeinflussten die Formen der Interaktion in der Forschungswerkstatt. So agierten Ahmet und ich der dem Prozess beiwohnenden Beobachterin zufolge in Diskussionen und Plenumsgesprächen unterschiedlich: Ahmet vermittelte durch die Art seiner Kommunikation eine verstehende und zustimmende Position, während sich mein Auftreten eher durch eine unterstützende und anregende Kom25 Sowohl im Hinblick auf das pädagogische Setting als auch auf das Setting eines For schungsprojektes ist hier selbstverständlich eine erhebliche Asymmetrie bezüglich der ‚Gemeinsamkeit‘ und des ‚Teilens‘ auszumachen. 26 Betonen möchte ich an dieser Stelle, dass es mit Sicherheit nicht in erster Linie die sozia le Positionierung Ahmets als ‚Mann mit Migrationshintergrund‘ war, die es ihm ermöglichte, sehr schnell einen sehr guten Draht zu den Jugendlichen herzustellen, sondern vor allem seine Qualitäten als Sozialpädagoge mit langjährigen Erfahrungen in der Jugendarbeit. Dennoch waren diese Zugehörigkeiten insbesondere vor dem thematischen Hintergrund der Werkstatt ein Faktor, der nicht nur in der Kommunikation, sondern auch beim Aufbau der Beziehungen zu den Jugendlichen bzw. der Jugendlichen zu ihm eine wichtige Rolle spielte.

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munikationsweise sowie eine fragende Haltung auszeichnete, die insgesamt zurückhaltender und weniger provokativ war. Gleichwohl wir als Personen natürlich unterschiedliche Formen der Gesprächsführung und der Kommunikation pflegen, ist diese Beobachtung auch im Zusammenhang mit der benannten Differenz der sozialen Positionierung und damit einhergehender Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft zu sehen. Der von Ahmet und den Jugendlichen geteilte Erfahrungshorizont erlaubte es Ahmet in der Diskussion, Erfahrungen mit Zuschreibungen nicht nur nachvollziehend zu kommentieren, sondern, laut Beobachtungsprotokoll, auch „verstehend zu lächeln.“ Dieses wiedererkennende Verstehen bzw. die diesem zugrunde liegende Tatsache der geteilten Erfahrung von Rassismus legitimierte zuweilen auch provokative Nachfragen in spezifischer Weise: nämlich ohne dass die von Jugendlichen berichteten Erfahrungen durch seine Provokationen grundsätzlich angezweifelt oder hinterfragt worden wären.27 Ein Beispiel dafür, was die Verbindung von einem ‚Wir‘ der Rassismuserfahrenden und legitimer Provokation für die Arbeit in der Forschungswerkstatt bedeutete, lässt sich an folgender Situation veranschaulichen: In der bereits erwähnten, von Ahmet angeleiteten Übung zur emotionalen Positionierung (vgl. oben) wurden die Jugendlichen gebeten, sich zu Aussagen, wie sie in öffentlichen Debatten zu vernehmen sind, entsprechend des Ärgers, den diese bei ihnen hervorrufen, zu positionieren. Ich saß während der Übung als Beobachterin außerhalb des Geschehens auf dem Boden. Zu den Aussagen gehörten Sätze wie „Es ist Wahlkampf und das Thema ‚kriminelle Ausländer‘ wird zum Thema gemacht“ oder „‚Ausländer‘ wollen sich nicht integrieren“. Die Jugendlichen waren zum Großteil recht emotional an den von Ahmet provozierten Diskussionen beteiligt. Immer wieder kam es in den Begründungen ihrer Positionen auch zu starken Abgrenzungen zwischen „den Deutschen“ und „uns Ausländern“. Ich gehe davon aus, dass die Diskussionen weniger deutlich, vielleicht ‚vorsichtiger‘ und nicht so emotional geführt worden wären, wenn ich als Vertreterin ‚der Deutschen‘ den Jugendlichen als der Gruppe ‚der Ausländer‘ gegenüber gestanden hätte. Überaus deutlich wurde dies an einer Stelle der Diskussion, an der Filiz, eine Teilnehmerin, sich über ‚die Deutschen‘ aufregte, um sich dann mit einem Schulterblick bei mir für das Gesagte zu entschuldigen. Auf mich machte es den Eindruck, als hätte sie während ihres Beitrages vergessen, dass ich anwesend bin. Dass nicht nur die Reaktionen auf solche Provokationen, sondern auch die Provokationen selbst nicht unabhängig von der jeweiligen Zugehörigkeit bzw. der Betroffenheit, die mit rassistischen Äußerungen einhergehen, betrachtet werden können, wurde an einer anderen Stelle in der gleichen Übung sichtbar: Im 27 Dies war zumindest unsere Wahrnehmung im Kontext der je konkreten ‚Provokationen‘ Ahmets. Keinesfalls kann jedoch verallgemeinert davon ausgegangen werden, dass ein naheliegender geteilter Erfahrungshintergrund mit Rassismus automatisch dazu führt, dass konkret geschilderte Rassismuserfahrungen nicht als solche hinterfragt werden.

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Anschluss an die Aussage „‚Ausländer‘ wollen sich nicht integrieren“ entspann sich eine Diskussion. Nesrin beteiligte sich nicht an dieser Diskussion, positionierte sich aber – wie mit einer Ausnahme alle anderen auch – bei „Da gehe ich voll ab“ und machte nonverbal deutlich, dass sie nicht nur wegen der Aussage sauer war. Auf die Frage von Ahmet, ob sie sauer auf ihn sei, entgegnete sie: „Klar bin ich sauer! Du tust einen auf typisch deutsch!“ Es ist davon auszugehen, dass das Handeln und Sprechen aller Beteiligten u.a. von unterschiedlichen Zugehörigkeitsverhältnissen und komplexen sozialen Beziehungen beeinflusst ist. Wie sich diese sozialen Verhältnisse jedoch im Einzelnen auswirken, wie sie sich in Interaktion und Kommunikation niederschlagen, ist nicht verallgemeinerbar oder vorhersagbar. Vielmehr gilt es, dies in der interpretativen Auseinandersetzung mit den Daten als Einfluss nehmenden Aspekt zu berücksichtigen und ggf. kontextspezifisch zu rekonstruieren. Motivationen, Interessen und Erwartungserwartungen Einflüsse, die mit diesen Aspekten in Zusammenhang stehen, lassen sich auch in der Motivation der Jugendlichen erkennen, an der Forschungswerkstatt teilzunehmen und sich im Prozess einzubringen. So war die bereits bestehende Beziehung zwischen den Jugendlichen und mir nicht nur eine Voraussetzung in dem Sinne, dass die Jugendlichen mir ihr Vertrauen entgegenbrachten und sich auf das gemeinsame Vorhaben einließen: Vielmehr war die Beziehung indirekt auch eine Motivation für die Jugendlichen, an dem Projekt teilzunehmen. Zum einen, weil sie wussten, dass ein Angebot, das von ‚ihrer‘ Pädagogin Maike und mir gemacht wird, so schlecht nicht sein kann, zum anderen aber auch, weil sie mich bei meiner Promoti onsarbeit unterstützen wollten. Bereits bei der Projektvorstellung im Vorfeld der Forschungswerkstatt kam es zu Aussagen von zweien der anwesenden Jugendlichen, die Letzteres deutlich machten: Sinngemäß sagte einer der beiden, dass sie mich natürlich bei meiner Arbeit unterstützen würden; ich hätte ihnen ja auch schon soviel geholfen. Die andere meinte zuversichtlich zu mir, dass ‚wir‘ das mit der Doktorarbeit schon hinbekommen würden. Aber auch während der Forschungswerkstatt kam es wiederholt zu Äußerungen, die darauf schließen lassen, dass diese Unterstützungsmotivation zumindest ‚anwesend‘ war: Bereits bei einer zu Beginn des Wochenendes stattfindenden Kartenabfrage zu Befürchtungen, Wünschen und Fragen, die die Jugendlichen zur Forschungswerkstatt mitbringen, fragte ein Teilnehmer, was geschähe, wenn wir nicht ‚fertig‘ würden, woraufhin ein anderer entgegnete, dass sich diese Frage gar nicht erst stellen würde: Natürlich würden wir fertig werden; solange alle ernst blieben und sich nicht auf so viele andere Sachen konzentrierten. Selbiger hatte auf ein Kärtchen zu ‚Befürchtungen‘ geschrieben: ‚Dass wir uns zu viel mit anderen Dingen beschäftigen‘. Dass dieser Dialog und die Kärtchen sich auf ihren Wunsch be-

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zogen, mich bei meiner Arbeit möglichst effektiv und für mich zufrieden stellend unterstützen zu wollen, habe ich erst auf Nachfrage verstanden. Das Anliegen, mich unterstützen zu wollen, vermutlich in Kombination mit einer Verunsicherung durch die doppelte Funktion der Forschungswerkstatt, ging zum Teil einher mit dem Bedürfnis etwaige Erwartungen, von denen sie vermuteten, dass ich sie hätte, erfüllen zu wollen bzw. mit dem verunsichernden Wunsch, ‚alles richtig zu machen‘. So wurde ich in einer Pause von zwei Teilnehmenden gefragt, ob das, was sie machten, denn alles so richtig sei und ob sie mir wirklich weiterhel fen würden mit dem was sie hier tun; sie hätten nämlich nicht das Gefühl. Eine an dere Teilnehmerin fragte in der Abschlussrunde, ob sie die Erwartungen erfüllt hätten. Die Doppelstruktur des Reflexions- und Forschungsraumes, der – paradoxer Weise – einerseits einen geschützten Raum der Reflexion und Auseinandersetzung für die Jugendlichen bieten soll und andererseits den Rahmen für die Erhebung von Daten für ein Promotionsprojekt darstellt, so zu vermitteln, dass meine Forschung und die damit verbundenen (und mir unterstellten) Interessen für die Jugendlichen gänzlich in den Hintergrund rücken oder gar verschwinden, war – trotz diesbezüglicher Bemühungen im Vorfeld und während der Forschungswerkstatt – nicht vollends möglich. Vielmehr muss die Tatsache, dass die Teilnehmenden selbstverständlich darum wissen, dass Gesagtes und Beobachtetes eben nicht nur Äußerungen und Diskussionspunkte zur Selbsterkundung sind, sondern zugleich zentrale Daten einer Forschungsarbeit darstellen, als Faktor beschrieben werden, der auch die Jugendlichen in ihrem Handeln und in ihren Beiträgen während der Forschungswerkstatt (und auch in den späteren Interviews) durchaus beeinflusst haben könnte. Dass den Jugendlichen diese doppelte Funktion der Forschungswerkstatt durchaus bewusst war, wurde auch deutlich, als Filiz die Hoffnung und die Erwartung geäußert hat, dass das Forschungsprojekt als kritischer Diskursbeitrag in ihrem Sinne wirksam werden und entsprechende Effekte generieren könnte: Auf die Äußerung eines Teilnehmers im Rahmen der bereits oben erwähnten Übung, dass man nichts dagegen unternehmen könne, wenn ‚kriminelle Ausländer‘ zum Thema von Wahlkämpfen gemacht werden, entgegnet sie: „Klar kann man was machen! So zum Beispiel wie Wiebke jetzt. Die schreibt eine Doktorarbeit und auch ein Buch. Und das lesen dann .. das liest dann vielleicht nicht ganz Deutschland, aber ein Teil und vielleicht merken die Leute das dann mal. […] Man kann ja ruhig auch zeigen, dass wir nicht alle so sind.“ Vor dem Hintergrund dieser Szene kann der Wille bzw. die Motivation einiger Jugendlicher, mich zu unterstützen, nun auf unterschiedliche Weise gelesen werden: Etwas polemisch ließe sich formulieren, dass der von einigen geäußerte ‚Unterstützungswunsch‘ sowohl altruistische als auch egoistische Begründungsfacetten haben kann: nämlich ein Unterstützen ‚mir zuliebe‘ und ein Unterstützen im Sinne der eigenen Interessen, ein Unterstützen in meinem individuellen Vorhaben eine Dissertation zu verfertigen oder ein Unterstützen der Verferti-

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gung einer Dissertation als Vorhaben, das ihnen als Sprachrohr wichtig erscheint, als Medium, das besser und mächtiger als sie selbst in der Lage ist, zu „zeigen, dass wir nicht alle so sind“. Filiz macht in dieser Situation deutlich, welche Erwartungen sie an mich und meine Forschung stellt und welche Hoffnungen sie mit ihr verbindet. Ein Aspekt ihrer Motivation zur Teilnahme an der Forschung(-swerkstatt), so lässt sich vermuten, ist auch die Absicht, diese als ‚Sprachrohr‘ und Interventionsmöglichkeit zu nutzen. Mit ihrer Aussage überträgt sie mir in gewisser Weise einen ‚Auftrag‘ – nämlich ‚etwas gegen Rassismus zu machen‘ – und unterstellt mir hier die dafür notwendige Kompetenz und gibt mir die Verantwortung, quasi in ihrem Sinne zu sprechen; in der Hoffnung, dass auf diese Weise intervenierend, nämlich soziale Wissenskonstruktionen verändernd, in Diskurse eingegriffen werden kann. Unter dem Aspekt der Handlungsfähigkeit und der Taktiken des Umgangs der Jugendlichen mit Rassismus kann hier also auch darüber nachgedacht werden, inwiefern Filiz und andere die Forschungswerkstatt taktisch klug nutzen, um gegen Rassismus zu handeln: Als über wenig Repräsentationsmacht im migrationsgesellschaftlichen Diskurs verfügend, ‚beauftragt‘ Filiz eine Sprecherin, von der sie denkt, dass diese als Teil des von ihr als machtvoll wahrgenommenen Sprechapparats ‚Wissenschaft‘ ungleich mehr Gehör findet: Mich, die sie bei ihrem wissenschaftlichen Vorhaben zu Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Jugendlicher unterstützt. Mit diesen Beispielen sind sowohl Fragen nach den unterschiedlichen, zum Teil auch Herausforderungen generierenden Interessen, die mit der Forschungswerkstatt verbunden sind, gestellt, als auch solche nach den in einer solchen Forschung steckenden ungleichen Macht- und Repräsentationsverhältnissen: In wessen Interessen und zu wessen Nutzen findet Forschung statt? Wer ‚hilft‘ hier wem? Wer funktionalisiert wen wofür in welcher Weise? Wer spricht wie für wen in wessen und welcher Absicht? Mit der Untersuchung sind mithin vielfältige Perspektiven und Interessen verbunden, die jedoch nicht ‚gleichwertig‘ nebeneinander stehen, sondern mit unterschiedlich viel (Durchsetzungs-)Macht einhergehen. Auch das zugrunde liegende Vertrauensverhältnis zwischen den an der Forschung Beteiligten bedeutet keinesfalls, dass die in die Interaktion hineinreichenden ungleichen Positionierungen und Machtverhältnisse zwischen mir und den Jugendlichen damit vernachlässigt werden könnten oder gar beseitigt wären: Qua meiner sozialen Rollen, Positionen und Funktionen als Pädagogin und Forscherin sowie als Leiterin und Organisatorin der Forschungswerkstatt, und nicht zuletzt als erwachsene Frau, die keine Rassismuserfahrungen in Deutschland machen muss, bin ich es, die in der Regel relativ machtvoll Entscheidungen treffen kann. Zwar sind auch die Jugendlichen handlungsfähig und bestimmen Abläufe und Dynamiken in entscheidendem Maße mit, zwar nehmen auch sie in diesem gemeinsamen Prozess unterschiedliche Rollen ein, mit de-

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nen sowohl unterschiedliche Interessen als auch unterschiedliche soziale Positionen verbunden sind – u.a. als Teilnehmende an einem Forschungsprojekt, als Teilnehmende an einer ‚Wochenendfahrt‘, als junge Männer und junge Frauen. Jedoch bleibt ein Missverhältnis etwa bezüglich der Repräsentationsmacht zwischen mir und den Jugendlichen bestehen.28 Die unterschiedlichen sozialen Rollen und Positionierungen, die in der Forschungswerkstatt vertreten waren, gilt es also nicht nur als mit verschiedenen Perspektiven, sondern auch als mit unterschiedlichen Interessen, Privilegien und Begrenzungen verbunden wahrzunehmen bzw. die je situationsspezifischen Verhältnisse, die aus diesen hervorgehen, als möglichen Einfluss auf Interaktionen zu berücksichtigen. Fazit zum Forschen in einem komplexen Raum (Re-)Produktionsraum Gleichwohl der Fokus dieser Arbeit den Verhältnissen gilt, die spezifische Erfahrungen, Deutungen und Handlungsweisen erst ermöglichen und also gewissermaßen (mit-)produzieren, so sind subjektive Erfahrungen, Deutungen und Handlungsbegründungen als Ausgangspunkte der Rekonstruktion der subjektiven Bedeutsamkeit und damit des Wirksamwerdens von gesellschaftlichen Verhältnissen doch ebenso wenig auszulassen, wie sie als Ausgangspunkte für das Nachdenken über das eigene Involviertsein in gesellschaftliche Verhältnisse übergangen werden können. In der Praxis der Forschungswerkstatt zeigte sich allerdings auch, wie oben beschrieben, dass die reflexive Abstraktion von den eigenen konkreten Lebenswelten und den dort stattfindenden, vor allem als in Interaktion beschriebenen Erfahrungen, auf allgemeinere Verhältnisse und gesellschaftliche Bedingungen, für die Jugendlichen relativ herausfordernd war. Auch der durchaus mit Bedacht gewählte Forschungsrahmen konnte vor diesem Hintergrund und angesichts des Gegenstandes sowie der beschriebenen Konstellationen nicht verhindern, dass gesellschaftliche Machtverhältnisse in diesem Setting (wie auch in den sich anschließenden Datenerhebungen) reproduziert wurden. Denn im Sprechen, Forschen und Schreiben zu Differenz wiederholt sich die Differenz. Dieses Differenzdilemma kam in der Forschungswerkstatt auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck: So kann das Sprechen über Differenz auf der einen Seite als Teil von Otheringprozessen und sozialen Unterscheidungspraktiken beschrieben werden, und damit als Teil von Gruppenkonstruktionsprozessen, wie sie auch Teil von Rassismus sind. Von Jugendlichen selbst wird das eigene Sprechen über Differenz und Ungleichheitserfahrungen teilweise sogar als ‚Selbstausgrenzung‘ be28 Ein Missverhältnis, um das auch die Jugendlichen wissen, in dem sie aber, wie oben be reits ausgeführt, unter Umständen für sich auch eine Möglichkeit sehen, dieses in ihrem Interesse als eine Taktik zu nutzen.

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schrieben und erlebt (vgl. Kap. V). Auf der anderen Seite wird das Sprechen über Differenz und Ungleichheit aber von den Jugendlichen auch als mögliche widerständige Praxis mit dem Ziel des Differenzierens, Verschiebens, Hinterfragens und Neubestimmens wahrgenommen und genutzt. Diese Ambivalenz ist Teil der Forschung zu Differenz und Ungleichheit, und auch Teil des pädagogischen Aspekts der Forschungswerkstatt als Reflexions- und Bildungsraum. Und sie ist auch Teil der Lebenswelten der Jugendlichen. Die thematische Fokussierung auf rassistische Diskriminierung und Zuschreibungserfahrungen, bei denen auf ein vermeintliches ‚Anders-Sein‘ aufgrund der (den Jugendlichen unterstellten) nationalen Herkunft, Religion oder Kultur Bezug genommen wird, die ich sowohl auf die oben beschriebene Gruppenzusammensetzung als auch auf die prominente Relevanz dieser Diskriminierungsform in ihrem Alltag zurückführe, ging auch mit einer (Re-)Produktion von entsprechenden Differenzkategorien einher. Das vermeintliche, aber, unabhängig vom ‚Wahrheitsgehalt‘ der Konstruktion, konsequenzenreiche ‚Anders-Sein‘ in Abgrenzung von einer homogenisierten, als ‚deutsch‘ vorgestellten Mehrheits- und Dominanzgesellschaft wurde in der Forschungswerkstatt (wie auch in den sich anschließenden Interviews) erneut reproduziert. Entsprechende Stereotype wurden – wenn auch aus der Perspektive der von ihnen Betroffenen – erneut benannt und so in gewisser Weise ‚ak tiviert‘. Andere Zugehörigkeiten und Identitätsaspekte der Jugendlichen gerieten in Anbetracht der Dominanz der genannten Differenzkategorien in den Hintergrund, womit auch die Gefahr der Reduktion der Jugendlichen auf eben diese, hier thematisierten Facetten und Zugehörigkeitsaspekte sowie Problematiken einhergeht. Neben der inhaltlichen Fokussierung waren weitere Konstellationen und Umstände auszumachen, die zu Praktiken der Unterscheidung beitrugen: So etwa der sowohl in der Vorbereitung als auch in der Forschungswerkstatt betonte Expert_innenstatus der Jugendlichen: Als Expertinnen und Experten für ihre Lebenswelt lud ich die Jugendlichen zur Forschungswerkstatt ein. Auf diese Weise sollte betont werden, dass nicht mein Wissen oder die Wissensvermittlung – wie etwa bei der Juleica-Ausbildung – im Zentrum der Forschungswerkstatt steht, sondern die Jugendlichen von ihrem Standpunkt aus als Subjekte mit ihren Alltagserfahrungen und ihrem Alltagswissen die Inhalte der Werkstatt zu einem großen Teil bestimmen, dass ihre Meinungen, Perspektiven und Positionen von besonderer Bedeutung sind. Zugleich kann dieses Vorgehen aber auch implizieren, dass die Jugendlichen als Stellvertreterinnen und Stellvertreter sozialer Gruppen angesprochen werden. Konkret sprach ich sie in der Einladung zur Forschungswerkstatt als Jugendliche, als Mädchen, als Jungen und als Jugendliche an, die von anderen ‚Ausländer‘ genannt werden. Durch das Betonen ihres Expert_innenstatus machte ich eine Differenz zwischen ihnen und mir auf: Sie sind diejenigen, die sich auskennen, die die ‚Wissenden‘ sind. Ich verfüge nicht über dieses Wissen, gehöre nicht zu ‚ihrer‘ Gruppe. Mit

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dem Herausstellen dieser Differenz machte ich zunächst deutlich: ‚Ihr seid anders als ich‘: Ihr gehört anderen sozialen Gruppen an, macht andere Erfahrungen, lebt in einer anderen Lebenswelt oder wisst andere Dinge. Die Jugendlichen bekamen von mir auf diese Weise wiederum eine Position als ‚Andere‘ zugewiesen; diese er scheint zunächst zwar noch recht offen, im Zusammenhang mit dem sich herausbildenden Fokusthema wurde sie allerdings zunehmend durch eine Abgrenzung als ‚Herkunfts-Andere‘ dominiert. Auch das Ansprechen als Jungen und Mädchen sowie die Einteilung in geschlechtergetrennte Gruppen während verschiedener Kleingruppenphasen, mit der versucht wurde, den genderbezogenen Zuschreibungen und Erfahrungen, mit denen die Jugendlichen – unabhängig von ihrem subjektiven Zugehörigkeitsgefühlen in Bezug auf Gender – konfrontiert werden, Rechnung zu tragen, entspricht einer kategorialen Zuordnungspraxis, die den herrschenden Dualismus eindeutiger, nach äußerlich sichtbaren Merkmalen kategorisierbarer Zweigeschlechtlichkeit verstärkt. Gegenüber diesen Ambivalenzen und Gefahren von Reduktion und Differenzreproduktion, die in dem methodischen Vorgehen angelegt sind, gilt es – trotz und wegen der Unvermeidbarkeit des Differenzdilemmas – aufmerksam zu sein. Bildungsraum und Spielraum der Kritik Nach Auskunft der Jugendlichen war die Werkstatt eine für sie wichtige, zum Teil auch die erste Möglichkeit, über ihre Erfahrungen ernsthaft zu sprechen, sich intensiv auszutauschen und sich gegenseitig ‚beraten‘ und unterstützen zu können; des Weiteren aber auch von den Erfahrungen und Perspektiven anderer zu hören, zu erkennen, dass es sich bei den eigenen Erfahrungen – bei aller Unterschiedlichkeit des Erlebens und Handelns – keineswegs um zu individualisierende Probleme handelt, und Einschätzungen – zum Teil kontrovers – zu diskutieren. Das gemeinsame Wochenende – so meine Einschätzung im Anschluss an die Prozessreflexion – stellte trotz der anfänglich bei einigen vorherrschenden Motivation, mich in meinem Forschungsvorhaben unterstützen zu wollen, einen Raum zur Verfügung, den die Jugendlichen in ihrem eigenen Interesse nutzten. Zum einen als Möglichkeit des Forschens und Suchens nach Zusammenhängen und Erklärungen: Die Diskussionen und Auseinandersetzungen im Rahmen der Forschungswerkstatt zeichneten sich in überwiegendem Maße durch eine fragende und suchende Haltung der Jugendlichen aus. Dabei wurden auch Widersprüchlichkeiten zwischen bekannten und verbreiteten sozialen Wissensbeständen oder kategorialen Selbstverständlichkeiten, auf die die Jugendlichen auch selbst in ihren Erklärungsversuchen und Deutungen zurückgriffen, und dem eigenen Erleben und Erfahren deutlich (vgl. Kap. V). Zum anderen nutzten die Jugendlichen die Forschungswerkstatt als Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen, was mit vielen positiven, empowernden

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und solidarisierenden Effekten einherging. 29 Zentral war hier meines Erachtens die Erfahrung, dass andere nicht nur Ähnliches erleben, sondern dass rassistische und diskriminierende Erfahrungen sowie damit einhergehende Verletzungen ernst genommen und keineswegs als individuelle Schwäche gedeutet werden, für die der oder die Einzelne selbst die Verantwortung zu tragen hat. Das Erkennen, dass alle Jugendlichen in der Gruppe von stereotypisierenden und homogenisierenden Zuschreibungen, aber auch von selbstverständlich erscheinenden Bedingungen und vermeintlichen ‚Normalitäten‘ in ähnlicher Weise betroffen sind oder es schon einmal waren, und die Deutlichkeit, mit der die Jugendlichen eben diese verurteilten – es also nicht darum ging, die Einzelnen und ihre vermeintlich zu große Sensibilität oder ihr ‚Falschverstehen‘, ihr Deuten oder ihren Umgang mit Erfahrungen oder Situationen abzuwerten – trug zu einer gewissen Solidarisierung und auch Politisierung bei. Mit den Auseinandersetzungen waren auch Prozesse der (Selbst-)Erkenntnis sowie ein gesteigertes Selbst-Bewusstsein verbunden: so etwa hinsichtlich der Einnahme eines von anderen anerkannten, eigenen Standpunktes und der akzeptierten Vieldeutigkeit genutzter Selbst-Beschreibungen im Gegensatz zu der gemachten Alltagserfahrung, zu eindeutigen Positionierungen aufgefordert bzw. eindeutig positioniert zu werden, sich also akzeptiert als deutsch und kosovo-albanisch beschreiben zu können statt in solchen ‚Bindestrich-Identitäten‘ hinterfragt und zu entweder-oder Entscheidungen aufgefordert zu werden (vgl. Kap. V 2.1). Darüber hinaus konnte auch hinsichtlich des Benennens von Selbstverständnissen ein Zuwachs an Selbst-Bewusstsein beobachtet werden: Die Äußerung von Amina etwa, die in der Auswertung zu der Frage, was sie aus dem Wochenende mitnehmen würde, sagte, dass sie „keine Ausländerin“ sei, würde ich durchaus auch als eine Form der Entfaltung von kritischem Potenzial und der Politisierung innerhalb der Forschungswerkstatt beschreiben. Ein weiteres Resultat der gemeinsamen Auseinandersetzungen war der Wunsch der Jugendlichen, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen und auch andere dazu einzuladen dies zu tun sowie weiterhin über Diskriminierungserfahrungen in der Gruppe zu sprechen. Darüber hinaus wollten sie konkret gegen Rassismus und Diskriminierung aktiv werden und also weitere widerständige Praktiken entwickeln. 30 Daher fanden auch nach der Forschungswerkstatt im Rahmen des ‚Jugendtreffalltags‘ Gespräche statt und es gab einige kleinere, von den Jugendlichen initiierte antirassistische Aktionen. Zwei größere Folgeprojekte waren zum einen der Dreh des 29 Dafür sprechen auch die Aussagen zweier Teilnehmender in der Abschlussrunde, in der sie angaben, dass sie zunächst zwar nur mitgefahren seien, um mich bei meiner Arbeit zu unterstützen, nun aber froh sind, mitgekommen zu sein, weil ihnen die Werkstatt auch persönlich etwas gebracht hätte. Ähnliches spiegelt sich nicht zuletzt auch in der Auswertung und den von den Jugendlichen dort benannten Aspekten wider (vgl. oben). 30 Vgl. oben die Ergebnisse von Auswertung und Ausblick am Ende der Werkstatt.

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bereits erwähnten Dokumentarfilms (Willems/Leiprecht 2009), in dem einige der Jugendlichen sich in ihrem Alltag und mit ihren Meinungen und Erfahrungen zum Thema Diskriminierung präsentieren, und zum anderen das erwähnte Kunstprojekt, in dem Jugendliche ihre Erfahrungen mit Rassismus mittels Kunst bearbeiten und antirassistische Botschaften präsentieren (vgl. Kap. IV 2.3). Beide Projekte und insbesondere der Film sind auch Produkt von Auseinandersetzungen, die in der Forschungswerkstatt stattgefunden haben; und beide Projekte sind vor allem auch als Instrumente der Kritik und der Handlungsfähigkeit von Jugendlichen zu betrachten, mit denen sie offensiv an die Öffentlichkeit gehen, sich und ihre Perspektiven präsentieren und auf diese Weise einen Beitrag zu Diskursen leisten, in denen in der Regel über sie gesprochen wird, sie selbst aber kaum zu Wort kommen und ihre Perspektiven nur selten Gehör finden (vgl. Scharathow/Leiprecht 2011). Meiner Einschätzung nach ist es uns gelungen, in der Forschungswerkstatt vielfältige (Bildungs- und Reflexions-)Prozesse anzustoßen, die auch im Hinblick auf das Initiieren und Verstärken von Prozessen der Solidarisierung, Politisierung und Selbstermächtigung, in denen ich sowohl ein kritisches Potenzial als auch die potenzielle Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten sehe, durchaus positiv zu bewerten sind; die es aber auch unbedingt weiterzuverfolgen, zu vertiefen und weiter zu betreuen gilt. Diese Möglichkeit war aufgrund der engen Zusammenarbeit mit dem Jugendprojekt und Maike als Pädagogin und verlässlicher Ansprechpartnerin vor Ort gegeben. Forschungs- und Datenerhebungsraum Ein wesentliches Ziel der Forschungswerkstatt war es, den teilnehmenden Jugendlichen als ebenfalls Forschenden ein adäquates Setting und eine methodische Unterstützung anzubieten, die sie für ihre Forschungs- und Bildungsprozesse möglichst gut nutzen können. Gleichzeitig sind die Jugendlichen in diesem Setting jedoch nicht nur ‚Mitforschende‘, sondern auch ‚Beforschte‘. Ihre Forschungsprozesse, Diskussionen und Auseinandersetzungen sowie die hier zu Tage tretenden Themen und Relevanzen sind auch Ausgangspunkt für die Konkretisierung des Erkenntnisinteresses und Gegenstand dieser Arbeit: Die von den Jugendlichen aufgegriffenen Themen und Schwerpunktsetzungen, ihre Perspektiven und Erfahrungen sowie sich offenbarende Widersprüche und Ambivalenzen gilt es im weiteren Verlauf des Forschungs- und Datenerhebungsprozesses aufzugreifen und vertiefend weiter zu verfolgen. Ein erstes Herausarbeiten solcher Aspekte ist in der vorausgegangenen Reflexion geschehen. Hier wurden sowohl erste Schwerpunkte formuliert, denen auf thematisch-inhaltlicher Ebene weiter nachgegangen wird31, als auch solche, die auf der 31 Deuten von Phänomenen und Erlebnissen vor dem Hintergrund dominanter Erklärungsmodelle und damit einhergehende Reproduktionen und Verschiebungen, Erfahrungen mit

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reflexiven Ebene des weiteren Vorgehens Berücksichtigung finden 32. Diese Ergebnisse in Kombination mit einer ersten groben Auswertung des erhobenen Datenmaterials, bei der dann auch individuelle Ansichten, Themen und Erfahrungen Berücksichtigung finden, dienen der Präzisierung des Gegenstandsbereiches, auf deren Grundlage die zweite Phase der Datenerhebung, das Durchführen von Interviews, erfolgt (vgl. Kap. IV 2.2). Als zu analysierende Texte fließen aus der Forschungswerkstatt ein: das Transkript der ersten einleitenden Gruppendiskussion (GD1) sowie die Transkripte der geschlechtergetrennten Gruppendiskussionen (GD2M; GD2J) am Ende der Forschungswerkstatt. Darüber hinaus Ausschnitte der Plenumsdiskussionen im Anschluss an die ‚Zugehörigkeitsblume‘ (PZ) sowie die Gruppenarbeit zur Definition von Diskriminierung (PD). Diese Auswahl begründet sich damit, dass hier längere, konzentrierte Diskussionen in der Gesamtgruppe stattfanden, während – etwa bei der Biografiearbeit – die Diskussionen vor allem in intensiver Kleingruppenarbeit stattfanden, welche nicht aufgezeichnet wurden. Auch die Diskussionen, die sich rund um den Statuenbau und die Theaterszene entspannten, werden nicht als transkribierter Text in die Analyse miteinbezogen, da es sich hier in erster Linie um Videoaufzeichnungen der dargestellten Szenen handelt, die einer anderen Art der Analyse bedürften. 2.2 Datenerhebung II: Einzelinterviews Im Anschluss an die Forschungswerkstatt fanden in einem Zeitraum von drei Wochen mit allen acht an der Forschungswerkstatt teilnehmenden Jugendlichen Einzelinterviews statt, die in Anlehnung an das problemzentrierte Interview nach Andreas Witzel (vgl. 1982; 2000) konzipiert wurden, wobei narrativen Elementen bzw. einer erzählgenerierenden Vorgehensweise eine besondere Aufmerksamkeit zukam, da Erzählungen sich Rosenthal zufolge (vgl. 2008, 139f.) besonders gut für eine Erfahrungs- und Handlungsanalyse eignen. In Ergänzung zu den bis zu diesem Zeitpunkt in Gruppensituationen erhobenen Daten, in denen vor allem kollektive Erfahrungen und Perspektiven verhandelt werden und im Vordergrund stehen, nehmen in den Einzelinterviews die je subjektiven Erzählungen, Deutungen und Perspektiven der einzelnen Jugendlichen im Kontext des Erlebens von und Handelns in ihren individuellen Lebenswelten den zentralen Platz ein. Darüber hinaus wird den Jugendlichen in den Einzelinterviews die Gele– mehrdimensionalen – Zuschreibungen/Diskriminierungen und der Umgang mit ihnen, Zugehörigkeiten und ihre Bedeutungen, Verhältnis von Diskriminierung und ‚Spaß‘ 32 Erwartungserwartungen, Aufklärungsintention: ‚zeigen, wie es wirklich ist‘, Initiierung und Kontext von Gesprächen/Auseinandersetzungen, Zugehörigkeiten und soziale Beziehungen, Reduktionen und Differenz(re)produktionen

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genheit gegeben, eigene Sichtweisen und Begründungen, individuelle Erfahrungen und Gedanken, die während des vorangegangenen Gruppenprozesses zu kurz gekommen sind oder nicht vor der Gruppe geäußert werden wollten, möglichst frei und selbstbestimmt mitzuteilen. Dabei fließen in dieser Phase der Datenerhebung auch Ergebnisse der ersten Datenerhebungsphase (vgl. oben) mit dem Ziel ein, diese hier individuell zu vertiefen. Instrument der Datenerhebung Das problemzentrierte Interview nach Witzel arbeitet mit einer Kombination erzählund verständnisgenerierender Kommunikationsformen (vgl. Witzel 1982, 92). Ziel ist „die Generierung und Aufrechterhaltung einer möglichst vom Befragten aufgebauten Erzähllogik“ (vgl. ebd.). Auf diese Weise sollen vor allem subjektive Sinnzusammenhänge erfasst werden, die zugleich Grundlage und Ausgangspunkt für (Nach-)Fragen darstellen, mit denen ein tieferes Verständnis, weitere Ausdifferenzierungen und die „Klärung von kontextgebundenen Einzelelementen“ (ebd.) angestrebt werden. Dabei gilt es zum einem der Erzählung des/der Interviewten zu folgen, zum anderen aber auch – und in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Vorgehen von biografisch-narrativen Interviews (vgl. z.B. Rosenthal 2008, 143ff.) – die Erzählung zu unterbrechen, um Verständnisfragen aber auch Fragen zu Widersprüchen, Unklarheiten usw. zu stellen. Sofern die Effekte dieser Interventionen auf die Erzählungen der Interviewpartnerinnen und -partner bei der Auswertung des Materials mitreflektiert werden, halte ich diese Art des Vorgehens im Kontext der vorlie genden Untersuchung für sinnvoll. Dies insbesondere auch deshalb, weil so die Reflexion und das Nachdenken über sowie die Verbalisierung von (Handlungs-)Begründungen und subjektiven Deutungen angeregt wird. Als Kommunikationsstrategien schlägt Witzel in diesem Zusammenhang ‚allgemeine Sondierungen‘ durch Nachfragen vor – z.B. „Was passierte da im Einzelnen?“ oder „Woran denkst du da im Besonderen?“ (Witzel 1982, 99) –, an welche sich wiederum Erzählaufforderungen anschließen können: ‚Erzähl doch mal!‘. Auf diese Weise wird den Befragten laut Witzel der Wunsch nach detaillierten Äußerungen signalisiert und darüber hinaus der narrative Erzählfluss stimuliert (vgl. ebd.). Spezifische Sondierungen sollen durch zurückspiegeln (Paraphrasierung, Zusammenfassung, Interpretationsangebote), Verständnisfragen und Konfrontation mit Widersprüchlichkeiten das tiefere Verständnis des bzw. der Interviewenden fördern (vgl. ebd., 100f.; Flick 2007, 211). Witzel zufolge geben spezifische Sondierungen dem bzw. der Interviewten zudem die Möglichkeit der Korrektur vorgreifender Interpretationen (kommunikative Validierung) und fördern durch das in den Fragen sichtbar werdende Interesse an der Problemsicht der Interviewten das Gesprächsklima. Darüber hinaus unterstützen sie, so Witzel (vgl. ebd.), die Gesprächsbereitschaft, weil die Interviewpartnerinnen und -partner das Bemühen um Verständnis und die Bereitschaft sich auf seine bzw.

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ihre Problemsicht einzulassen, erkennen und honorieren. Im Sinne der subjektwissenschaftlichen Orientierung der Erhebung kann ergänzt werden, dass das Nachfragen und die Aufforderung zu Explikationen u.U. auch förderlich für das Anstoßen weiterer Reflexionsprozesse und also anregend für die Lern- und Erkenntnisprozesse der Beteiligten sind. Ein der Orientierung und als ‚Gedächtnisstütze‘ dienender Leitfaden, in welchem das theoretische – in diesem Fall auch das aus der Forschungswerkstatt und den Gruppendiskussionen stammende – Vorwissen thematisch organisiert ist, hat nach Witzel in erster Linie die Aufgabe, die Ausdifferenzierung von Erzählungen zu unterstützen (vgl. ebd., 90). Obgleich in erster Linie also ein möglichst selbstgesteuerter Erzählfluss angestrebt wird, darf das Instrument ‚Leitfaden‘ flexibel eingesetzt werden. Sollte kein Erzählfluss zustande kommen oder das Gespräch stocken, kann der Leitfaden auch flexibel zur Formulierung von Ad-hoc Fragen genutzt werden, um „Themenfelder in Ergänzung zu der Logik des Erzählstranges seitens des Interviewten“ abzutasten, „in der Hoffnung, für die weitere Erzählung fruchtbare Themen zu finden“ (ebd.) oder um Themenbereiche einzubringen, die von den Interviewten ausgeklammert wurden, die für die Vergleichbarkeit der Interviews aber wichtig sind (vgl. ebd. 2000, 15). Vorgehen In Anlehnung an die oben formulierten Überlegungen Witzels habe ich Interviewleitfäden konstruiert und Einzelinterviews mit den Jugendlichen durchgeführt. Mithilfe der vorgeschlagenen Kommunikationsstrategien wurde das Erschließen von kontextualisierten Zusammenhängen zwischen Erfahrungen, Deutungen und Handeln sowie Begründungen, Bedeutungen und Bedingungen angestrebt. Insbesondere Handlungsmotivationen und -begründungen sollten dabei möglichst mittels Erzählungen ergründet werden. Argumentationen, die auf ‚Warum-Fragen‘ folgen, wollte ich dabei möglichst vermeiden, da im Kontext der Interviewsituation – u.U. stärker als bei Erzählungen – vermutete soziale Erwünschtheit oder das Überzeugenwollen der Interviewerin eine Rolle spielen (vgl. Rosenthal 2008, 139) – Dynamiken, wie sie bereits in der Forschungswerkstatt zu beobachten waren. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass ‚Warum-Fragen‘, die Begründungen fordern, immer auch einen Rechtfertigungsdruck implizieren können, was – insbesondere angesichts der Thematik – weder förderlich noch angemessen ist. In allen Interviews wurden die gleichen drei Themenkomplexe angesprochen: Zugehörigkeiten, Diskriminierungserfahrungen sowie Reflexionsräume, Unterstützungsstrukturen und Handlungsweisen. Jeder der drei Schwerpunkte wurde mit einer öffnenden, erzählgenerierenden Frage eingeführt, die möglichst viel Raum für die Selbstpräsentationen und die Erzählungen der Jugendlichen ließ und es ihnen ermöglichte, verschiedene Situationen, Aspekte, Zugehörigkeiten oder Formen von

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Diskriminierung als je relevante zu thematisieren. (In keinem der Interviews habe ich direkt nach Rassismus bzw. Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung gefragt. Erst, wenn Jugendliche selbst rassistische Erfahrungen zur Sprache gebracht haben, habe ich diesbezüglich nachgefragt und Rassismus thematisiert.) Eröffnet wurden alle Interviews mit der Bitte, mir von „Situationen und Erlebnissen in deinem Leben zu berichten, die etwas mit ‚dazugehören‘ bzw. ‚nicht dazugehören‘ zu tun haben.“ Mein Anliegen war bei allen Interviewfragen, insbesondere aber bei der ersten Frage, die das Interview einleitete und damit für die sich etablierende Kommunikationskultur und -struktur besonders relevant war, eine narrative Gesprächsstruktur aufzubauen, die in Inhalten und Ablauf weitestgehend von den Jugendlichen selbst bestimmt wird und ihnen als Interviewerin in ihren Themen und Relevanzsetzungen zu folgen. An die Erzählungen der Jugendlichen und die Sondierungen, die auf die Einstiegsfragen folgten, schlossen sich in einem zweiten Teil konkrete Bezugnahmen auf die Forschungswerkstatt an. In dieser Phase ließ ich auch erste Ergebnisse der Grobauswertung der Daten aus der Forschungswerkstatt einfließen. Hier habe ich zum einen mit ‚Gruppenergebnissen‘ und Zitaten aus der Werkstatt gearbeitet, die für die Jugendlichen sowohl Anlass waren als auch die Möglichkeit boten, weitere Erzählungen anzuschließen oder Aussagen zu ergänzen, zu differenzieren und/oder zu vertiefen.33 Zum anderen habe ich mithilfe von Fragen, die Aspekte und Themen der Forschungswerkstatt aufgriffen, an die dort angestoßenen Prozesse sowie an individuelle Positionen und Erzählungen der jeweils interviewten Jugendlichen angeknüpft. An dieser Stelle umfasste jeder Leitfaden also zusätzlich spezifische, auf die 33 So habe ich allen Jugendlichen eine Abschrift der Begriffe zum Thema Diskriminierung vorgelegt, die wir am ersten Tag der Forschungswerkstatt im Brainstorming gesammelt hatten, und sie gefragt, ob ihnen dazu eigene Erlebnisse und Situationen einfallen, von denen sie mir erzählen würden. Ich brachte zu den Interviews auch die Liste der Zugehö rigkeiten mit, die in der Kleingruppe der oder des Interviewten im Rahmen der ‚Zugehö rigkeitsblume‘ festgehalten wurden, und fragte, ob sie mir zu den Bedeutungen von einigen Zugehörigkeiten etwas erzählen wollten. Auf Kärtchen notierte ich zudem Aussagen von Jugendlichen aus der Forschungswerkstatt, die mir entweder im Hinblick auf die herausgearbeiteten Schwerpunktthemen der Gruppe oder im Hinblick auf die jeweilige Interviewpartnerin bzw. den jeweiligen Interviewpartner zentral oder relevant erschienen und bat darum, die eigenen Aussagen noch einmal genauer zu erläutern bzw. Diskussionsbei träge und Äußerungen anderer zu kommentieren. Einer der beiden Rap-Texte, die am letzten Tag der Forschungswerkstatt entstanden sind, wurde ebenfalls in die Interviews miteinbezogen: Der Text, der den Titel ‚Heimat‘ trägt, wurde allen Jugendlichen mit der Bitte vorgelegt, die Zeilen, die sie zu dem Text beigetragen haben, zu identifizieren und zu erklären, warum sie diese Zeilen geschrieben haben, woran sie dabei gedacht haben und was sie damit ausdrücken wollten.

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jeweilige Interviewpartnerin bzw. den jeweiligen Interviewpartner abgestimmte Elemente. Auf diese Weise habe ich auch versucht, den Prozess der Selbsterkundung und -darstellung etwa durch die Möglichkeit der detaillierteren Schilderung individuell relevanter Themen fortzuführen. Mit zwei Ausnahmen fanden alle Interviews in den den Jugendlichen vertrauten Räumen des Jugendtreffs statt. Aufgrund der Schließungszeit in den Sommerferien hatten wir die Räumlichkeiten jeweils für uns und waren ungestört. Ein Interview wurde in einem Café am Wohnort des Interviewpartners geführt, ein anderes bei mir zu Hause. Das kürzeste Interview war knapp 45 Minuten, das längste über zwei Stunden lang. Im Schnitt sprach ich etwa anderthalb Stunden mit den Jugendlichen. Alle Interviews wurden komplett transkribiert und anonymisiert. Reflexionen Im Gegensatz zum Sprechen innerhalb der Gruppe berichteten Jugendliche in den Einzelinterviews ausführlicher und detaillierter von erlebten Situationen. Häufig sind ihre Erzählungen in den Einzelinterviews emotionaler, als es das Berichten von Erfahrungen in der Gesamtgruppe war. Das Sprechen im Einzelgespräch war auch aufgrund der Tatsache, dass nun nur ich als Gesprächspartnerin diente, in spezifisch anderer Weise gerahmt, als es das Sprechen während der Forschungswerkstatt war: Während die Jugendlichen in den Gruppendiskussionen in der Regel von einem als relativ selbstverständlich gesetztem ‚Wir‘ bzw. aus einer ‚Wir‘-Position heraus sprechen, wird insbesondere in den Einzelinterviews zuweilen deutlich, dass ich diesem ‚Wir‘ gegenüber die Rolle der ‚Anderen‘ einnehme: als nicht zum ‚Wir‘ gehörend, nicht jugendlich seiend und nicht zur Gruppe der als ‚Ausländer‘ und ‚Schwarzköpfe‘ kategorisiert werdenden dazugehörend, als nicht Rassismuserfahrende. Ein Effekt dieser Kommunikationskonstellation zwischen ‚Anderer‘ (ich) und ‚Nicht-Anderen‘ (die Jugendlichen) im konkreten Kontext der Forschung ist, dass mir gegenüber bestimmte Dinge in besonderer Weise erklärt werden, weil davon ausgegangen wird, dass ich mit Aspekten ihrer Lebenswelt nicht vertraut bin oder sie für mich schwer zu verstehen sind. Zum Beispiel werde ich darüber aufgeklärt, wie Jugendliche untereinander kommunizieren. Filiz verbalisiert diese Schwierigkeit meiner Position als ‚Außenstehende‘ in unserem Gespräch: In einer Passage, in der wir über nationale Zugehörigkeiten, Mehrfachzugehörigkeiten und ihre Erfahrung mit verweigerter Zugehörigkeit sprechen, sagt sie nach einem längeren Bemühen mir zu erklären, was dies für sie bedeutet: „[I]ch weiß nicht, ich weiß nicht Wiebke wie ich dir das erklären soll, weil, du kommst ja aus Deutschland. […] Du kennst das Gefühl nicht und ich weiß nicht […] wie ich dir das sagen soll“ (Filiz IF, 63-66).

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Auf abstrakterer Ebene betrachtet, stellt sich die Kommunikationskonstellation als hierarchisches Verhältnis zwischen ‚Nicht-Anderer‘ (ich) und ‚Anderen‘ (die Jugendlichen) dar, die zudem durch das konkret-situative Machtverhältnis von Forschender und ‚Beforschten‘ verstärkt wird. Ein Effekt dieses Verhältnisses, das gesellschaftliche Dominanzverhältnisse widerspiegelt und zugleich eng mit meiner Rolle als Forscherin und dem damit verbundenen Erkenntnisinteresse verknüpft ist, ist, dass Fragen, die ich stelle, mitunter an Zuschreibungserfahrungen aus dem Alltag von Jugendlichen anschließen und damit sowohl zur Reproduktion von Differenz als auch zur Reproduktion der Erfahrung von Othering und homogenisierender Reduktion beitragen. Darüber hinaus werden meine Fragen von Jugendlichen auch vor diesem Erfahrungshintergrund interpretiert, was in ihren Antworten in Form einer Sensibilität gegenüber antizipierten Stereotypen bzw. der Befürchtung zum Ausdruck kommt, ich könne quasi in Ermangelung des ‚richtigen Wissens‘ auf dominante Zuschreibungen und rassistische Deutungsmuster zurückgreifen. So informiert mich zum Beispiel Filiz, die ich, nachdem sie mir erzählt hat, dass ihr die Zu gehörigkeit zu einer Religion wichtig ist, frage, was diese Zugehörigkeit für sie bedeutet, über verschiedene Möglichkeiten, wie Menschen diese Religion leben sowie über spezifische familiäre Verhältnisse (vgl. Filiz IF, 43-45). Eine weitere Situation, in der Aspekte der sozialen Positionierung in Bezug auf Migrationserfahrungen, Differenzproduktion und Forscherinneninteressen deutlich und ambivalent ineinandergreifen, ist während meines Gesprächs mit Amina auszumachen, welche ich hier etwas ausführlicher darstellen möchte, um die vielfältigen Verwobenheiten des gemeinsamen Kommunizierens, denen ich in der Analyse meiner Daten versucht habe besondere Aufmerksamkeit zu schenken, beispielhaft zu verdeutlichen: Ich zeige Amina im Laufe unseres Gespräches noch einmal die Zugehörigkeiten, die sie in der Forschungswerkstatt zur Zugehörigkeitsblume aufgeschrieben hat und bitte sie, mir zu Zugehörigkeiten ihrer Wahl ein bisschen genauer zu erzählen, was diese für sie bedeuten. Amina erzählt mir von der Bedeutung, die Schule und ihre Freunde für sie haben. Die von ihr in diesem Setting gewählte Selbstpräsentation befriedigt meine (Forschungs-)Interessen aber offenbar nicht: Interviewerin: „Ok. … Und bei den anderen Gruppen? .. Also du hast hier unterstrichen als deine wichtigste Zugehörigkeit hast du Z-Land hingeschrieben.“ Amina:

„Ja.“

Interviewerin: „Was bedeutet dir das?“ (IA, 87-89)

Ich gebe Amina zwar noch ein wenig Zeit auch noch etwas über andere Gruppen zu erzählen, frage sie aber schließlich mit der Begründung, dass sie dies als ihre wichtigste Zugehörigkeit angegeben hat, nach der Bedeutung, die das Land ihrer Geburt

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für sie hat und akzeptiere also ihre Entscheidung, nicht über Z-Land zu sprechen, nicht – obgleich davon auszugehen ist, dass sie gute Gründe dafür hat, nicht selbst aktiv Bezug auf diese Zugehörigkeit zu nehmen. Damit wiederhole ich im Forschungssetting eine Erfahrung aus Aminas Alltag: Das Fragen nach ihrer Herkunft, das besondere Interesse an dem Land ihrer Geburt, das sie in vielen Situationen als reduktionistische Besonderung, als Othering erlebt und – damit eng verknüpft – das gleichzeitige Aufrufen gesellschaftlich virulenter stereotyper, reduktionistischer und verallgemeinernder sozialer Bedeutungskonstruktionen zu ihrem Herkunftsland und einer dort vermeintlich vorherrschenden ‚Kultur‘, die die Menschen aus diesem Land in spezifischer Weise prägen würde, und mit denen Amina sich in ihrem Alltag beständig konfrontiert sieht. Amina reagiert auf meine Frage mit einer Antwort, die zunächst zum einen, ähnlich wie bei Filiz oben, eher an eine vorwegnehmende Korrektur antizipierter Stereotype und zum anderen an eine Rechtfertigung dafür erinnert, dass das Land ihrer Herkunft für sie bedeutungsvoll ist: „Ja, weil halt, ist ja, da komme ich ja ursprünglich her und deswegen, und, ich weiß nicht, das ist mir schon wichtig. Weil, bei uns in der Familie ist immer so, meine Schwester, die ist ja eine, die, will lieber so mehr Freizügigkeit und so. Hat sie auch von meinen Eltern auch, sehr, wie ich- Meine Eltern sind ja gar nicht streng. Wenn ich so mit manchen anderen vergleiche, wir haben ja ziemlich viel Freiheit gehabt, und sie hat ja, (leise) ich sag jetzt einfach, sie hat ja einen deutschen Freund gehabt, und am Anfang, da waren meine Eltern ja gar nicht damit einverstanden und so.“ (Amina IA, 90)

In Aminas Antwort ist eine Selbstverständlichkeit der persönlichen Bedeutsamkeit ihrer nationalen Herkunft zu lesen, die sie im ‚Ursprünglichen‘ verortet und deren Wichtigkeit sie mit der Darstellung ihrer Familiennormalität begründet. Z-Land, so lässt sich interpretieren, bedeutet für Amina Ursprung und Herkunft, wie sie sich in der konkreten Lebenswelt, in der Familie bedeutungsvoll und in spezifischer Weise manifestieren: als Aspekt der privaten Lebenswelt, als Aspekt einer Familienkultur, als Teil von Familiennormalität. Mit der Hervorhebung spezifischer Aspekte ihrer Familienkultur mir gegenüber zieht Amina zugleich eine klare Grenze zu einem weit verbreiteten sozialen ‚Wissen‘ über Z-Land bzw. seine ‚Kultur‘ (Unfreiheit, Genderbiases und patriarchale Strukturen), mit dem sie regelmäßig konfrontiert wird und das sie vielleicht auch bei mir vermutet. Vor dem Hintergrund von Aminas alltäglichen Erfahrungen sind solche dominanten, gesellschaftlich zirkulierenden Wissensbestände implizit auch in meiner Frage und dem Raum, den diese eröffnet, virulent. Dies führt dazu, dass Amina auf der Grundlage ihrer erfahrungsbegründeten Deutung meiner Frage eine durch diese forcierte Subjektposition einnimmt, von der aus sie quasi präventiv versucht, solche Bedeutungskonstruktionen zu korrigie-

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ren, damit ich ‚richtig‘ verstehe, wie es „bei uns in der Familie [...] immer so [ist]“ und nicht auf dominante, Amina gut bekannte Deutungsmuster zurückgreife. Aminas Antwort auf meine Frage ist damit zugleich als ein aktives, widerständiges Umgehen mit einer Situation der drohenden Wiederholung von Rassismuserfahrungen zu lesen: Indem sie das tatsächlich Gelebte, Private in den Vordergrund rückt, baut sie, etwaige Zuschreibungen vorwegnehmend, eine Gegenposition auf, korrigiert präventiv mögliche stereotypisierende Bedeutungskonstruktionen und unternimmt also den Versuch einer diskursiven Bedeutungsverschiebung. Mein durch mein Erkenntnisinteresse motiviertes ‚Nachhaken‘ im Gespräch mit Amina führt letztlich dazu, dass Amina sich in einer Situation der drohenden Wiederholung von Zuschreibungen wähnt und eine Subjektposition als ‚Andere‘ einnimmt; mit dem Ziel, Rassismus vorzubeugen und sich selbst zu schützen – und um den Preis des Offenlegens von Privatem zum Zwecke meiner Aufklärung über die ‚tatsächlichen Verhältnisse‘. 2.3 Datenerhebung III: Kunstprojekt Etwa ein Jahr nach den ersten beiden Datenerhebungen war ich als Pädagogin Teil eines Kooperationsprojektes, das zugleich ein ‚Anschlussprojekt‘ nach der Forschungswerkstatt war. In dem Kunstprojekt setzten Jugendliche sich mit ihren Rassismuserfahrungen auseinander und hatten die Gelegenheit, sich mittels Kunst Gehör zu verschaffen bzw. ihre Botschaft zum Themenbereich Erfahrungen mit Rassismus als Kunstwerk umzusetzen. Teilnehmende waren 15 Jugendliche zwischen 13 und 22 Jahren. Einen Teil von ihnen kannte ich, einen anderen nicht, einige der Teilnehmenden waren auch bei der Forschungswerkstatt dabei. Die Kunstwerke, die die Jugendlichen im Rahmen dieses Projektes, das vom Paritätischen Jugendwerk getragen wurde, umsetzten, waren Teil einer Wanderausstellung, an der noch andere Jugendgruppen beteiligt waren und die ein Jahr lang landesweit an verschiedenen Orten zu sehen war (vgl. Paritätisches Jugendwerk im Paritätischen Wohlfahrtsverband Niedersachsen e.V. 2011). Im Gegensatz zur Forschungswerkstatt war dieses Projekt ein pädagogisches Projekt, das nicht als Datenerhebungsprojekt geplant war. Im ersten Teil des Projektes, in dem es um das Erarbeiten der Themen, Ideen und Botschaften ging, die dann in einem zweiten Teil künstlerisch umgesetzt werden sollten, arbeiteten wir pädagogisch jedoch nach den gleichen Prinzipien wie bei der Forschungswerkstatt: Ziel war es, Prozesse der Selbsterkundung und Reflexion anzustoßen sowie die Selbstpräsentation der Jugendlichen und die Erweiterung ihrer Handlungsspielräume zu unterstützen. Methodisch nutzten wir vor allem verschiedene Medien, in denen Menschen ihre eigenen Rassismuserfahrungen künstlerisch bearbeitet haben (Gedichte, Filme, Musik, Comedy), die als ‚Inspiration‘ für den je eigenen Prozess der

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Auseinandersetzung und der Entwicklung des eigenen Themas, der eigenen Wichtigkeit und der eigenen Botschaft dienten. Darüber hinaus gaben wir Informationen zu den einzelnen Künstlerinnen und Künstlern bzw. Gruppen, die künstlerisch und/oder medial zu Rassismus und Rassismuserfahrungen Position beziehen (z.B. Kanak Attak, May Ayim, Brothers Keepers, Sisters Keepers, die Unmündigen, Pat Parker). Während der gemeinsamen Diskussionen und Suchbewegungen, die während dieses Prozesses stattfanden, ließen wir zuweilen auch ein Aufnahmegerät laufen, weil eine Idee war, im Rahmen der Ausstellung auch ein ‚Hör-Werk‘ mit O-Tönen und Versatzstücken der Diskussionen zu installieren. Das Aufnahmegerät lag während des Wochenendes offen herum, jede und jeder konnte es sich nehmen und benutzen, um eigene Botschaften, Wichtigkeiten oder Kleingruppendiskussionen aufzunehmen. Darüber hinaus habe ich, zu einem späteren Zeitpunkt, mit jedem und jeder Teilnehmenden des Projektes ein Kurzinterview zu seinem oder ihrem Kunstwerk geführt, die sprachlich geglättet und teilweise gekürzt im Ausstellungskatalog zu den einzelnen Kunstwerken abgedruckt wurden. Diese Interviews waren zwischen zwei und zwölf Minuten lang. Ich bat die Jugendlichen zunächst, mir zu be schreiben, was für ein Kunstwerk sie gemacht haben und habe sie dann gefragt, ob sie mir erklären können, was sie mit dem Kunstwerk ausdrücken möchten und inwiefern das Kunstwerk auch etwas mit ihnen persönlich zu tun hat. Von den Aufnahmen, die im Rahmen dieser Arbeit entstanden sind, werden zum einen die transkribierten Kurzinterviews und zum anderen ein Ausschnitt aus einem Dialog, der sich zwischen zwei Teilnehmenden entspann, in das Datenmaterial einfließen.

3 D ATENAUSWERTUNG Das Hauptmaterial für die Datenanalyse bilden die Transkriptionstexte der drei Gruppendiskussionen (GD1, GD2M, GD2J) und der Ausschnitte aus zwei Plenumsgesprächen zu Zugehörigkeiten (PZ) und zu Diskriminierung (PD), die im Rahmen der Forschungswerkstatt erhoben wurden, sowie der acht Einzelinterviews (I plus Anfangsbuchstabe des Vornamens), die ich im Anschluss an diese führte. Ergänzt werden diese Daten durch die Transkripte eines Dialogs und von sechs Kurzinter views, die im Rahmen des Kunstprojektes entstanden sind (KP), sowie einiger Redebeiträge von Jugendlichen, die sich im Dokumentarfilm zu Wort melden (FP). Mit Ausnahme der Kurzinterviews und der Filmbeiträge wurden alle Daten anonymisiert. Im Zuge der Überlegungen zum analytisch-methodischen Umgang mit den Transkriptionstexten habe ich mich vor dem Hintergrund der in Abschnitt III herausgearbeiteten forschungstheoretischen und -methodologischen Rahmungen für

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eine Kombination aus unterschiedlichen Analysemethoden entschieden: Dabei sind sowohl Elemente eines fallrekonstruktiven, sequenziellen Vorgehens und der Abduktion relevant, wie sie von Gabriele Rosenthal (vgl. 2008) im Zusammenhang mit rekonstruktiver Sozialforschung und in Anlehnung an die objektive Hermeneutik vorgeschlagen werden, als auch Aspekte des Kodier- und Analyseverfahrens nach der Grounded-Theory-Methodologie, wie sie von Anselm L. Strauss sowie von Anselm L. Strauss und Juliet Corbin vertreten wird (vgl. Strauss 1991; Strauss/Corbin 1996). Im Folgenden wird die Konstruktion des Auswertungsverfahrens, das in dieser Arbeit zur Anwendung kommt, beschrieben und begründet. Rekonstruktion der Kontexte des gemeinsamen Sprechens Rosenthal plädiert für ein analytisches Vorgehen, das in der Lage ist, die Fallstruktur sowie wechselseitige Wirkungsbeziehungen einzelner Komponenten, die als einflussnehmende Faktoren das Handeln und Deuten in einer Kommunikationssituation mitbestimmen, anhand eines Textes zu rekonstruieren (vgl. Rosenthal 2008, 22, 43ff.). In der von ihr präferierten Methode der Abduktion werden ausgehend von einem empirischen Phänomen mögliche allgemeine Regeln und Hypothesen aufgestellt, die das Phänomen erklären könnten (abduktives Schließen). Sowohl wissenschaftliche als auch Alltagstheorien nehmen in diesem Prozess einen heuristischen Stellenwert ein, wobei die entwickelten Hypothesen und Deutungen lediglich einen vorläufigen Charakter haben, den es im weiteren Textverlauf sequenziell zu überprüfen gilt (deduktives Schließen) (vgl. ebd., 60). 34 Im Rahmen meiner Arbeit, in der es nicht so sehr um Fallstrukturen, sondern vielmehr um die subjektive Konstruktion von Sinnzusammenhängen im Kontext individuell erfahrener Lebenswel34 Besonders weit verbreitet und bekannt ist ein sequenzielles, abduktives Vorgehen in der objektiven Hermeneutik nach Ulrich Oevermann. Sein Ansatz verfolgt das Ziel, fallspezifisch latente Sinnstrukturen bzw. objektive Strukturen zu erkennen. Darunter versteht er die abstrakten, vom Subjekt selbst „sinnlich nicht wahrnehmbaren Konfigurationen und Zusammenhänge […], die in ihrem objektiven Sinn […] unabhängig von unserer je subjektiven Interpretation objektiv gelten“ (Oevermann 2002, 2). Der ‚Fall‘, der in der objektiven Hermeneutik im Mittelpunkt steht, wird verstanden als abgrenzbares, soziales Gebilde mit einer ihm eigenen Struktur (vgl. Corbin/Hildenbrand 2003, 164). Oevermann geht davon aus, dass Subjekte (als Fall) in solchen objektiven Bedeutungsstrukturen bzw. latenten Sinnstrukturen, die für sie selbst in der Regel nicht zugänglich sind, handeln und dass diese Strukturen das Handeln von Subjekten anleiten (vgl. Oevermann et al. 1979, 378ff.). Ihm geht es in seiner Methode explizit um Objektivität (im Sinne der Rekon struktion von objektiv geltenden Sinn- und Bedeutungsstrukturen) und nicht um Subjektivität (im Sinne einer verstehenden Rekonstruktion subjektiver Dispositionen und Perspektiven). Erst die Rekonstruktion objektiver Strukturen, so Oevermann (vgl. 2002, S. 5f.), lässt Rückschlüsse auf das an Forschung beteiligte Subjekt zu.

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ten und fallübergreifender Strukturen geht, erscheint mir ein sequenzielles, abduktives Vorgehen im Sinne Rosenthals vor allem wertvoll, um die jeweiligen Kontexte der Kommunikationssituationen während der Datenerhebung zu rekonstruieren. Das von Rosenthal vorgeschlagene Konzept der sequenziellen Feinanalyse mittels Abduktion wende ich daher an, um quasi den Raum auszuleuchten und sichtbar zu machen, der zwischen den Kommunizierenden als Raum des Sagbaren konstruiert wird (und um damit auch Anhaltspunkte über das ‚Nicht-Sagbare‘ in diesem Raum zu gewinnen). Meine besondere Aufmerksamkeit gilt hier zum einen meinem Handeln als Forscherin im Kommunikationskontext und den Möglichkeiten des (Re-)Agierens und Thematisierens (bzw. Nicht-Thematisierens), die durch dieses eröffnet werden. Zum anderen aber auch dem möglichen Zusammenwirken verschiedener sozialer Positionierungen und Beziehungsaspekte zwischen den an einer Kommunikationssituation Beteiligten als möglichem Teil des Kontextes, den es auf diese Weise als Kommuniktationskontext zu rekonstruieren gilt. Dieses Vorgehen scheint mir sowohl in Anbetracht des zugrunde liegenden Verständnisses von Interaktion angemessen zu sein, wonach diese immer durch strukturelle Bedingungen sowie Machtverhältnisse gerahmt ist und als gemeinsame Konstruktionsleistung wiederum einen Rahmen in Form von Bedeutungen als Bezugspunkte für weiteres Handeln und Interaktion hervorbringt (vgl. Kap. II), als auch angesichts der Forderung nach ‚radikaler Kontextualität‘ (vgl. Grossberg 1999) – auch als Teil von (Selbst-)Reflexivität, wie sie in den Cultural Studies vertreten wird. In Abgrenzung zur objektiven Hermeneutik und anderen Verfahren, die mit einer sequenziellen Analysemethode arbeiten, geht es mir also weder um die Rekonstruktion handlungsleitender, objektiver Sinnstrukturen oder des regelgeleiteten Prozesses der individuellen Auswahl unter objektiv möglichen Deutungen und Handlungsalternativen (vgl. Rosenthal 2008, 43; Corbin/Hildenbrad 2003, 163, 169), noch um die Rekonstruktion einer internen Struktur von einzelnen Fällen (vgl. Oevermann et al. 1979; Flick 2007, 387). Mein Anliegen mit dieser Vorgehensweise ist die Rekonstruktion des Kontextes bzw. die Rekonstruktion der gemeinsamen Konstruktion des Rahmens, innerhalb dessen während der Erhebungssituation gesprochen wurde. Passagen, in denen diese Vorgehensweise grundsätzlich zur Anwendung kommt, sind die Eingangssequenzen der Interviews und Gruppendiskussionen sowie Passagen, in denen im Gespräch ein neues Thema eingeführt wird. Deutungen, Ideen und Hypothesen, die während dieses Analyseschritts zu den Rahmungen der Gespräche oder auf inhaltlicher Ebene zum Transkriptionstext entstehen, fließen als Aufmerksamkeitsrichtungen in den weiteren Analyseprozess ein. Interpretation der Bedeutungen des Gesprochenen Neben der Rekonstruktion der jeweiligen Kommunikationskontexte bzw. ihrer Artikulationen, die ich als relevanten Teil des Erkenntnisprozesses verstehe, verfolge

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ich mit meiner Datenanalyse auf einer mehr inhaltsbezogenen Ebene das Ziel, Manifestationen von Rassismus in subjektiven Lebenswelten sichtbar zu machen und nach den Bedingungen und dem ‚Wie‘ der Manifestation von Macht-Wissen-Komplexen und Wahrheitsregimen zu fragen, die Rassismuserfahrungen erst ermöglichen. Darüber hinaus geht es mir darum, Bedingungen und Verhältnisse zu identifizieren, die die Handlungsfähigkeit von Jugendlichen im Kontext von Zugehörigkeitsregimen, Zuschreibungen und Rassismus in ermöglichender bzw. behindernder Weise beeinflussen. Ausgangspunkt für diese Rekonstruktionen sind die subjektiven Deutungen von Situationen und Phänomenen sowie die Handlungsbegründungen der Jugendlichen, über die es gilt, die subjektive Bedeutsamkeit von machtförmigen sozialen Bedeutungen und sozialen sowie gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie sich in ihren Lebenswelten manifestieren und relevant werden, kontextspezifisch zu rekonstruieren. Des Weiteren ist es mein Anliegen, die Formen des Umgangs mit Zuschreibungen, Zugehörigkeitsregimen und Rassismus, das Handeln der Subjekte, welches sich auf diese relevant werdenden Bedingungen bezieht, zu analysieren und dabei die Frage zu stellen, inwiefern die betroffenen Subjekte durch ihr Handeln wiederum auf soziale Bedeutungskonstruktionen sowie Handlungsmöglichkeiten einschränkende Kontexte (reproduzierend oder verändernd) Einfluss nehmen. Es geht mir also um ein doppeltes Ausleuchten der subjektiven Möglichkeitsräume der Jugendlichen: einerseits hinsichtlich der Verhältnisse und Bedingungen, die den jeweiligen Möglichkeitsraum und seine Grenzen konstituieren, und andererseits hinsichtlich des Handelns der Jugendlichen in ihren Möglichkeitsräumen und dessen Konsequenzen in Bezug auf Artikulationen und Bedeutungskonstruktionen in machtvollen Verhältnissen. Damit gilt mein Interesse der Eingebundenheit der Subjekte in rassistische Verhältnisse, der Artikulation von Subjekt und Diskurs. Mein Anliegen ist es, auf dieser Grundlage gegenstandsbegründete Konzepte und Theorien zu entwickeln, die es erlauben, neben den Besonderheiten des Einzelfalls auch die Ebene des Allgemeinen in den Blick zu nehmen, auf die der Einzelfall verweist (vgl. unten).35 35 Sowohl Holzkamp als auch Strauss und Corbin lassen sich einer fallrekonstruktiven Sozi alforschung zuordnen, die jedoch von der Fallrekonstruktion, wie Oevermann sie ver steht, abzugrenzen ist: Im Gegensatz zu Oevermann, dem es um die Rekonstruktion objektiver Sinnstrukturen eines Falles geht, aus welchen ihm zufolge erst Aussagen über Subjektivität, das Erleben und Deuten sozialer Wirklichkeit ableitbar sind (vgl. Oevermann 2002, 5f.; Oevermann/Leber 1994, 385f.), die also quasi hinter dem subjektiven Erleben und Deuten sozialer Wirklichkeit stehen (vgl. Corbin/Hildenbrand 2003, 167), sind das Verständnis von rekonstruktiver Sozialforschung nach Corbin/Strauss sowie die forschungstheoretischen Prämissen bei Hall und Holzkamp anschlussfähig an die Prämissen des symbolischen Interaktionismus, wonach die soziale Konstruktion von Wirklichkeit ein zentraler, auch in Forschung direkt zu berücksichtigender Prozess ist. Im Gegensatz

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Dazu werde ich mich bei der Interpretation meiner Daten an Aspekten des von Strauss und Corbin vorgeschlagenen Analysevorgehens der Grounded-Theory orientieren und mit Kodes und Kategorien als Brücke zwischen Daten- und Textebene (vgl. Breuer 2009, 71) arbeiten. Auf diese Weise können Forschende, so Juliet Corbin und Bruno Hildenbrand unter Bezugnahme auf die Auswertungsmethodologie der Grounded Theory, „Konzepte im Datenmaterial finden, die Konzepte systematisch miteinander verbinden und diese Konzepte und Verknüpfungen während des Forschungsprozesses validieren“ (Corbin/Hildenbrad 2003, 175). Im Mittelpunkt der Bemühungen, auf diese Weise das Allgemeine im Besonderen zu entdecken, steht der kontinuierliche Dialog zwischen den Daten und meinem Kontextwissen 36 auf der Basis von theoretischer Sensibilität. Das heißt, dass wissenschaftliche wie auch alltagsweltliche Theorien, Ideen und Assoziationen – möglichst in reflexiver Offenheit (vgl. Breuer 2009, 28f.) und in dem Wissen um den ko-konstruierenden Einfluss von Forschenden – in Form von Fragen, Vergleichen und Kontrastierungen mit dem Ziel an die Daten herangetragen werden, eine Balance zwischen „dem Eigenwert der Daten“ und meinen „prä-konzeptuellen Wahrnehmungs-, Verstehensund Deutungsmöglichkeiten“ (ebd., 74) bei der datenbegründeten Entwicklung von Kodes und Kategorien und letztlich auch von Konzepten und Theorien zu finden. Interpretationen und Konzepte, die so im Analyseverfahren zum Transkriptionstext entstehen – in der vorliegenden Arbeit in weiten Teilen auf der Grundlage von Ideen und Deutungen, die in Interpretationsgruppen entstanden sind –, begreife ich also nicht als in den Daten ‚natürlich‘ vorhanden, die es lediglich noch zu ‚finden‘, zu ‚entdecken‘ oder zu rekonstruieren gilt, sondern in Anschluss an Schütz (2004/1953, 159) als Konstruktionen zweiten Grades bzw. als „Ko-Konstruktionen“ (Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003, 106). Ähnlich wie bei der sequenziellen Feinanalyse nach Rosenthal schlagen auch Strauss und Corbin für das methodisch analytische Vorgehen nach der Grounded zu Oevermann, dem es vor allem um das Herausarbeiten einer objektivierbaren Struktur geht, der das Handeln folgt, betonen Corbin/Strauss, Hall und Holzkamp in ihren Methodologien das die soziale Wirklichkeit deutende und hervorbringende, handelnde Subjekt. Hier ist quasi die gesamte soziale Wirklichkeit der Fall. 36 Unter Kontextwissen versteht Strauss unterschiedlichste Wissensarten: Wissen zu Theorien und Kenntnisse der Fachliteratur gehören ebenso dazu wie persönliche, alltagsweltliche Erfahrungen oder Forschungserfahrungen. Er geht davon aus, dass Kontextwissen „ein wesentlicher Datenfundus“ (Strauss 1991, 36) ist, der u.A. die Sensitivität bei der Theoriebildung erhöht oder das Stellen von generativen Fragen an den Text bzw. an die Daten unterstützt (vgl. ebd., 36ff). Zu meinem Kontextwissen gehört hier etwa das bis hierher erarbeitete und dargestellte theoretische Wissen, mein Wissen um den Kontext, in dem die Datenerhebung stattfand, um die vorangegangenen Auseinandersetzungen in der Forschungswerkstatt etc.

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Theory vor, Forschungsdokumente bzw. Passagen in kleine Sinneinheiten zu unterteilen und in einem ersten Schritt, dem offenen Kodieren, hinsichtlich möglicher und damit vorläufiger Bedeutungen und Lesarten zu analysieren, „und zwar Zeile für Zeile oder sogar Wort für Wort“ (Strauss 1991, 58; vgl. Strauss/Corbin 1996, 53f).37 Grundsätzlich ähnelt dieses Vorgehen der bereits vorgestellten abduktiven Herangehensweise. Auch hier geht es darum, wie oben beschrieben, verschiedene Formen von Wissen heuristisch für die Textinterpretation zu nutzen. Auf diese Weise, durch das stetige Pendeln zwischen Daten und theoretischem sowie anderem Kontextwissen, sollen die Daten ‚aufgebrochen‘ werden (vgl. Strauss/Corbin 1996, 45). Interpretationsarbeit, das Aufbrechen der Daten, wird in der Grounded Theory als kreativer Prozess verstanden, in dem auf vielfältige Möglichkeiten zurückgegriffen werden darf, um die notwendige Kreativität und die ‚theoretische Sensibilität‘, das „Bewusstsein für die Feinheiten der Bedeutung der Daten“ (ebd., 25) zu erweitern. Auf diese Weise sollen Perspektiven und Herangehensweisen entwickelt und genutzt werden, die es ermöglichen, auch abseits gewohnter und verinnerlichter Denkweisen der Forschenden die Daten zu analysieren, ihnen Bedeutungen zu verleihen und ‚Entdeckungen zu machen‘ (vgl. ebd., 56-74). Die auf diese Weise rekonstruktiv entstehenden (vorerst provisorischen) Ideen und Konzepte sind die nach Strauss und Corbin die grundlegenden Bausteine einer Theorie (vgl. ebd. 54f.). Sie werden – im Unterschied zu streng sequenziellen Analysemethoden – am Text kodiert und, nach ausführlicher Analyse des Textes, in einem nächsten Schritt kategorisiert. Im weiteren Analyseprozess nach Strauss und Corbin steht dann das Weiterverfolgen und Verwerfen der entwickelten Ideen, Kodes und Kategorien zentral. Durch das Erhöhen des Abstraktionsniveaus und das Differenzieren, Anreichern, Vergleichen, Kontrastieren und so In-Beziehung-Setzen von Kategorien und Konzepten wird in weiteren Schritten versucht, eine oder mehrere Schlüsselkategorien herauszuarbeiten, die als in den Daten begründete Theorie in der Lage ist, möglichst viele der herausgearbeiteten Kategorien und Konzepte zu integrieren (axiales und selektives Kodieren) (vgl. Strauss 1991; Strauss/Corbin 1996). Das beständige Stellen analytischer Fragen an die Daten auch im Hinblick auf ein Kodierparadigma, das Strauss und Corbin in Anschluss an „eine kompakte Version einer interaktionistischen Handlungstheorie“ (Berg/Milmeister 2008, 33) entworfen haben und in dem nach „den Bedingungen, der Interaktion zwischen den Akteuren, den Strategien und Taktiken sowie den Konsequenzen“ (Strauss 1991, 57) gefragt wird, unterstützt insbesondere als Teil des axialen Kodierens im Analyseprozess die Entwicklung von Beziehungen zwischen Phänomenen, Konzepten 37 Strauss spricht von einer „line-by-line analyses“ und meint damit eine „sorgfältige Diskussion dessen, wie jemand einzelne Wörter, Ausdrücke und Sätze gebraucht“ (Strauss 1995a zitiert nach Corbin/Hildenbrand 2003, 168).

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und Kategorien (vgl. Strauss/Corbin 1996, 76; Flick 2007, 393f). Das Kodierparadigma – oder auch paradigmatische Modell – stellt eine Art Präkonzept dar, das von Strauss als vorgängig vorausgesetzt wird und daher nicht aus den Daten selbst zu entwickeln ist (vgl. Breuer 2009, 85). Orientiert an dem Kodierparadigma von Strauss und seiner Funktion als Analysehilfe lässt sich in Anlehnung an die vorgestellten Ansätze der Cultural Studies und der Kritischen Psychologie eine ganz ähnliche vorgehensleitende Heuristik formulieren, die das Herausarbeiten relevanter Prämisse-Gründe-Zusammenhänge bzw. von Artikulationen von Subjekt und Diskurs unterstützt: Auch hier geht es um die Frage nach den Zusammenhängen von machtförmigen gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen 38 und Bedeutungen bzw. von Macht-Wissen-Komplexen sowie den Deutungen und Umgangsweisen der handelnden Subjekte und ihrer Konsequenzen (vgl. oben). Mit ihrem Plädoyer für ein abduktives und sequenzielles Vorgehen im Rahmen konsequent rekonstruktiver Forschung (vgl. Rosenthal 2008, 56) wendet sich Rosenthal gleichsam gegen Verfahren, die einzelne Segmente aus dem Gesamttext und „damit aus dem Sinnzusammenhang ihrer Entstehung“ (ebd.) herauslösen, um sie, wie es bei mit Kodes und Kategorisierungen arbeitenden Verfahren der Fall ist, neu anzuordnen und zusammenzusetzen. „Strukturell“, so ihre Kritik auch am Analyseverfahren der Grounded Theory nach Strauss und Corbin, „besteht dabei kein Unterschied, ob induktiv vorgegangen wird, indem das Klassifikationssystem anhand des vorliegenden Datenmaterials entwickelt wird […] oder ob die Kategorien vor der Analyse deduktiv aus Theorien abgeleitet werden“ (ebd., 60). In beiden Fällen, so Rosenthal, besteht die Gefahr, die Bedeutsamkeit von einzelnen Passagen für den Gesamttext nicht zu rekonstruieren und aufgrund der gebildeten Kategorien Offenheit gegenüber dem Text zu verlieren sowie statt hypothesengenerierend hypothesenüberprüfend zu arbeiten und damit vorschnell in ein subsumtionslogisches Vorgehen zu verfallen. Neben den oben beschriebenen Aspekten des methodischen Vorgehens von Rosenthal halte ich auch diese Gefahren-Hinweise für durchaus relevant: die Gefahr, den offenen Blick für ‚neue‘ Phänomene im Text zugunsten eines Blickes, der nach Indizien für die Bestätigung aufgestellter Hypothesen sucht, zu verlieren und Bedeutungen von Textpassagen im Hinblick auf den Gesamttext zu übersehen bzw. Passagen unangemessen zu dekontextualisieren. Das reflexiv-interpretative Arbeiten mit den Transkriptionstexten im ersten Schritt des offenen Kodierens bildet daher in der vorliegenden Analyse den Kern der rekonstruktiven Arbeit mit dem Material. Sie erfolgt text-chronologisch, d.h. sie 38 Unter ‚Bedingungen‘ verstehe ich im Zuge der Analyse sowohl Strukturbedingungen, die auf gesamtgesellschaftlicher oder institutioneller Ebene zu verorten sind, als auch solche, die eher auf einer individuell-relevanten Mikroebene des Sozialen wirkungsvoll sind. Be rücksichtigt werden zudem die Wechselwirkungen und Überschneidungen zwischen den unterschiedlichen Bedingungsebenen.

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folgt der Struktur und der zeitlichen Ordnung des Textes. Im Mittelpunkt der Interpretation steht also zunächst ausschließlich ein Text in seiner Ganzheitlichkeit, ohne dass mit Kategorien anderer Textanalysen gearbeitet wird. Auch vor dem Hintergrund der gewählten Rahmentheorien ist es in der vorliegenden Arbeit wichtig, dass „die subjektive Sinneinheit des Falles analytisch nicht verloren geht“ (Markard 2000, 31). Mithilfe eines kontinuierlich kontextualisierend-reflexiven Vorgehens, wie ich es in Kapitel III 5 beschrieben habe, werde ich versuchen, Gefahren wie solche, auf die Rosenthal hingewiesen hat, zu umgehen, und den aufgezeigten Forschungsherausforderungen, die das Forschen zu Rassismus in rassistisch strukturierten Verhältnissen stellt, auch in der Datenanalyse möglichst angemessen zu begegnen. Das Allgemeine im Besonderen – Verallgemeinerbarkeit und Theorieentwicklung Dem Verständnis der Grounded Theory folgend werden die alltagsweltlichen Phänomene, die in den empirischen Daten zum Ausdruck kommen „als Indikatoren, als Anzeichen für etwas Allgemeineres, Grundlegenderes verstanden“, die das „Unmittelbare und Sichtbare“ (Breuer 2009, 71) darstellen, während quasi hinter diesen die allgemeinen Konzepte verborgen sind, die es gilt mittels forschender Bemühungen offenzulegen. Ich gehe entsprechend davon aus, dass ein spezifischer Fall immer Allgemeines und Besonderes zugleich ist. Mein Anliegen ist es, das Allgemeine zu erfassen, ohne dabei das Besondere zu nivellieren. In der Grounded Theory geschieht die Annäherung an das Allgemeine durch das Herausarbeiten von Konzepten aus dem Besonderen und ihrer Verdichtung auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau mittels eines Interaktionsprozesses zwischen Forschenden und ihrem Gegenstand, der von einem Erkenntnisinteresse geleitet ist (vgl. Strauss 1991, 12): Es geht darum, sich unter enger Bezugnahme auf die Daten mit bestehenden Theorien auseinander zu setzen und so eine neue Theorie zu entwickeln, die ausgehend von den eigenen Daten „auf einem wirklichen Austausch zwischen der bereits bestehenden und der sich erst entfaltenden Theorie beruht“ (ebd., 40). In der vorliegenden Studie beziehe ich mich auf theoretische und forschungsmethodologische Ansätze, deren Anliegen es ist, wechselseitige Verhältnisse von Individuum und Gesellschaft empirisch-methodisch zu erfassen und theoretisch zu konzeptualisieren. Obwohl Subjektstandpunkte mir als Ausgangspunkt der empirischen Untersuchung dienen, bedeutet dies vor dem Hintergrund der gewählten (forschungs-)theoretischen Ansätze doch keineswegs, dass mithilfe der hier vorgenommenen Analysen lediglich solche Aussagen getroffen werden können, die auf einzelne Subjekte, auf Individuen zu beschränken sind. Vielmehr lassen sich unter Rückgriff auf die Kritische Psychologie als eine hier wesentliche Forschungsperspektive die obigen Überlegungen nach der Grounded

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Theory zur Theoretisierung bzw. Verallgemeinerbarkeit durch das Herausarbeiten des Allgemeinen in der Auseinandersetzung mit dem Besonderen konkretisieren: Bezugspunkt ist hier das bereits in Kapitel III 3 dargelegte Verständnis zum Zusammenhang von Subjekt und Gesellschaft, demzufolge davon ausgegangen wird, dass Subjektstandpunkte bzw. die mit ihnen einhergehenden Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen vor dem Horizont gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse verallgemeinert werden können. In subjektwissenschaftlicher Perspektive geben in der Analyse herausgearbeitete Prämisse-Gründe-Zusammenhänge als vom Subjekt in Bezug auf Welt gestiftete Sinnzusammenhänge bzw. Begründungsmuster aufgrund eines sie rahmenden intersubjektiven Bedeutungs- und Begründungszusammenhangs nicht nur über subjektspezifische, sondern immer auch über gesellschaftliche Handlungsmöglichkeiten und -einschränkungen Auskunft und weisen entsprechend über das konkrete Subjekt hinaus (vgl. Holzkamp 1983a, 1985). In dieser Logik wird der Einzelfall nicht hinsichtlich der Häufigkeit, in welcher Aspekte in anderen Fällen wiederkehren, verallgemeinert, sondern in Bezug auf ‚den allgemeinen Fall‘: „‚Verallgemeinerung‘ bedeutet hier Erfassung und Inrechnungstellung derjenigen Vermittlungsebenen und -aspekte, durch welche ein je vorliegender Fall subjektiv-intersubjektiver Erfahrungen/Befindlichkeiten als spezielle Ausprägungsform eines allgemeinen Falles begreifbar wird“ (Holzkamp 1985, 33). Ausgangspunkt ist dabei die historisch-konkrete Konstellation eines Phänomens und die Annahme, „dass in individuellen Handlungen über-individuelle, nämlich gesellschaftliche Bedingungen/Bedeutungen in der jeweiligen Lage und Position fallspezifisch realisiert werden, indem sich die Individuen […] unter diesen und zu diesen Bedingungen und Bedeutungen verhalten“ (vgl. Markard 2010, 173). Die Besonderheiten der je individuellen Handlungsfähigkeit werden folglich als subjektive Variante der Realisierung allgemeiner gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten begriffen, deren Besonderheit aus den unterschiedlichen Realisierungsbedingungen und den darauf bezogenen subjektiven Prämissen hervorgeht. In der Verallgemeinerung geht es hier also darum, das Verhältnis zwischen je Besonderem und Allgemeinem zu erörtern: das Verhältnis zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und der besonderen Weise ihrer Realisierung (vgl. Holzkamp 1983a, 548f.) – unter der besonderen Berücksichtigung, so möchte ich hinzu fügen, der je kontextspezifischen sozial-nahräumlichen Beziehungen und Verhältnisse. „‚Verallgemeinern‘ bedeutet hier also nicht Wegabstrahieren, sondern Begreifen von Unterschieden als verschiedene Erscheinungsformen des gleichen Verhältnisses“ (ebd. 1983a, 549, Herv. entf.). Theorien und Konzepte, die im Prozess dieser Arbeit entstehen, können nach dem hier zugrunde liegenden Verständnis von sozialer Welt als symbolvermittelt und in machtvollen Verhältnissen konstruiert keinen universalistischen Anspruch erheben. Vielmehr stellen sie den Versuch dar, Zusammenhänge herauszuarbeiten und

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zu beschreiben, die zu einem besseren Verständnis von sozialer Wirklichkeit, ihren (Macht-)Verhältnissen und Phänomenen beitragen – und darüber auch zur Entwicklung von Veränderungsperspektiven und Handlungsmöglichkeiten im Sinne eines Mehr an sozialer Gerechtigkeit beizutragen.

V

Jugendliche und Rassismuserfahrungen

In diesem Abschnitt der vorliegenden Arbeit erfolgt nun, im Anschluss an die beschriebenen forschungstheoretischen Prämissen, methodologischen Implikationen und methodischen Herangehensweisen, die Auseinandersetzung mit dem empirischen Material und die Präsentation der Ergebnisse der Datenanalyse. Der Einstieg in das empirische Material geschieht mit der Analyse der ersten einleitenden Gruppendiskussion, mit der auch der Einstieg in den Forschungsprozess mit den Jugendlichen während der Forschungswerkstatt erfolgte. In dieser Diskussion verhandeln die Jugendlichen (u.a.) den Gegenstand im Themenfeld ‚Diskriminierung‘, um den es ihnen im Forschungsprozess gehen soll. Der Rekonstruktion dieser Verhandlungen und damit auch der Rekonstruktion der Herstellung eines ersten gemeinsamen inhaltlichen Orientierungsrahmens, innerhalb dessen die Suchbewegungen der Jugendlichen sich daraufhin bewegen, gilt hier mein Interesse (Kap. 1). In Kapitel 2.1 und 2.2 werden dann zunächst grundlegende Bestandteile der Rassismuserfahrungen der Jugendlichen, auf die fast alle ihre Erzählungen verweisen – Kategorisierungs-, (Nicht-)Zugehörigkeits- und Zuschreibungserfahrungen –, sowie erste ‚allgemeine‘ Deutungen der Jugendlichen bezüglich der Ursachen ihrer Erfahrungen nachgezeichnet. Im Anschluss folgt die Darstellung von Rassismuserfahrungen in fünf Unterkapiteln, in deren Mittelpunkt jeweils die intensive Analyse konkreter Situationen, mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen steht (Kap. 2.3-2.7). Fokussiert werden hier gesellschaftliche und unmittelbare sozialnahräumliche Rahmungen des Erlebten als quasi ‚ermöglichende‘ Kontexte spezifischer Erfahrungen sowie in diesen Kontexten praktizierte Handlungsweisen und subjektiv wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten bzw. -unmöglichkeiten. Die Anordnung der Unterkapitel erfolgt im Hinblick auf die zunehmende Latenz und Subtilität von Manifestationen des Rassismus, den die Jugendlichen erfahren. Anzumerken ist hier, dass, obwohl Schwerpunkte in einzelnen Unterkapiteln gesetzt werden, eine deutliche Trennung zwischen verschiedenen Aspekten von Rassismus bzw. Rassismuserfahrungen nicht möglich ist. Vielmehr sind gleiche und ähnliche

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Facetten Bestandteil unterschiedlicher Erfahrungen; und dies natürlich auch über Kapitelgrenzen hinweg. Bevor ich mich der detaillierten Analyse zuwende, möchte ich jedoch noch einen Hinweis zu den im Folgenden verwendeten Begrifflichkeiten geben – und damit bereits Ergebnisse der Datenanalyse vorwegnehmen: Im gesamten Verlauf des Forschungsprozesses nutzen die Jugendlichen den Begriff Rassismus kaum. Stattdessen sprechen sie in der Regel von Diskriminierung; wobei auch festzustellen ist, dass beide Begriffe von den Jugendlichen weitestgehend synonym verstanden und gebraucht werden.1 Es ist durchaus denkbar, dass die Vermeidung des Rassismusbegriffes auch darin begründet liegt, dass der Forschungsprozess zu Gunsten möglichst breiter Thematisierungsmöglichkeiten mit dem allgemeinen Begriff Diskriminierung eingeleitet und der Begriff Rassismus als Spezifikation nicht genutzt wurde (vgl. Kap. IV 2). Überaus deutlich wird in der Analyse jedoch vor allem, dass der Rassismusbegriff den Jugendlichen aufgrund des dominanten Diskurses (vgl. Kap. I 1.2) zur Beschreibung ihrer alltäglichen Rassismuserfahrungen unpassend und auch riskant erscheint.2 Allerdings, obgleich die Jugendlichen auch über Erfahrungen mit manifestem, offenem Rassismus sprechen, machen latente bzw. subtile und verdeckte Formen verweigerter Zugehörigkeit, rassistischer Zuschreibungen, Herabsetzung und Ungleichbehandlung ganz offensichtlich den weitaus größeren Teil ihrer Erfahrungen mit Rassismus im Alltag aus; auch wenn diese häufig nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie erstere thematisiert werden und eben kaum als Rassismus benannt werden. Im Gegensatz zu den Jugendlichen, werde ich, gemäß des Verständnisses wie ich es in Kapitel I 2 dargelegt habe, im Folgenden von Rassismus bzw. Rassismuserfahrungen sprechen; und dies auch dann, wenn Rassismus, 1

So fassen Filiz und Nesrin im Zusammenhang mit der Vorstellung ihrer Definition von Diskriminierung während der Forschungswerkstatt Diskriminierung, die mit Ausgrenzung unter Bezugnahme auf „Religion, Kultur und Nationalität“ einhergeht, unter dem „Oberbegriff Rassismus“ zusammen (Filiz PD, 90).

2

Auch Philomena Essed (1984, 1991), Mark Terkessidis (2004) und Barbara Schramkowski (2007) konstatieren in Bezug auf ihre Studien, dass Rassismus ein nicht oder kaum genutztes Wort ist. Essed zufolge wurde selbst Diskriminierung kaum als Terminus von Interviewpartnerinnen in den Niederlanden benutzt (1984, 66). Auch sie führt die Vermeidung des Rassismusbegriffes darauf zurück, dass das (niederländische) Tabu bezüglich des Wortes sowie das dominierende Verständnis von Rassismus, das impliziten Alltagsrassismus ausschließt (vgl. ebd., 12-47), auch von den interviewten Frauen geteilt wurde (vgl. ebd., 164) und Rassismus vor diesem Hintergrund als unangemessen, als „een ‚te groot‘ woord“ (ebd.), ein ‚zu großes‘ Wort zur Beschreibung für das Erfahrene erscheint. Terkessidis und Schramkowski sehen ebenfalls einen engen Bezug zum öffentlich vorherrschenden Rassismusverständnis in Deutschland bzw. der Nicht-Thematisierung von Rassismus jenseits offener Übergriffe.

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der sich in den Schilderungen der Jugendlichen erkennen lässt, von ihnen selbst nicht als Rassismus oder Diskriminierung benannt oder erkannt wird. Notwendig sind diese Abgrenzungen vor allem unter analytischen aber auch unter begriffspolitischen Gesichtspunkten: Denn eine Verwendung der Begriffe in der Perspektive der Jugendlichen würde sowohl eine begriffliche Ungenauigkeit bedeuten als auch zu analytischen Verkürzungen führen. So kann zum einen der Nicht-Gebrauch des Rassismusbegriffes durchaus als Teil bzw. als eine Konsequenz von Rassismus beschrieben werden, wie im Verlauf der Analyse noch deutlich werden wird. Zum anderen macht die Komplexität des Gegenstandes Rassismus und das reduktionistische Verständnis, das in öffentlichen Diskursen und Debatten vorherrscht, eine analytische Trennung, insbesondere auch im Hinblick auf mein Forschungsinteresse, unumgänglich. Mark Terkessidis argumentiert diesbezüglich, dass es „[a]ngesichts der Probleme, welche die deutsche Gesellschaft mit Rassismus hat“, ein wiederholt auszumachender „Fehler vieler empirischer Untersuchungen“ zu Rassismus sei, „die Befragten den Gegenstand definieren zu lassen“ (Terkessidis 2004, 115). Darüber hinaus würde durch ein verallgemeinerndes Sprechen über Diskriminierung – einem gleichermaßen komplexen wie diffusen, im Vergleich zu ‚Rassismus‘ aber auch ‚harmloser‘ konnotierten Begriff – der Tabuisierung eines Rassismusverständnisses, das alltägliche und subtile Manifestationen einschließt, weiter Vorschub geleistet und eine diesbezügliche Sprachlosigkeit reproduziert. Das genaue Gegenteil ist jedoch ein Ziel der vorliegenden Arbeit.

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In der ersten Gruppendiskussion geht es um die gemeinsame Suche nach einer Bestimmung dessen, was Diskriminierung eigentlich ist, um das Ausmachen von Merkmalen und Zusammenhängen und erste Versuche, dieses Phänomen zu erklären. In zuweilen relativ kontroversen Verhandlungen werden in der gemeinsamen Kommunikation Inhalte und Bestandteile des Begriffs sowie ein inhaltlich-thematischer Rahmen konstruiert, der auch in den folgenden Debatten als Orientierungsrahmen – sowohl in den Gruppen- als auch in den Einzelgesprächen – relevant ist. 1.1 Rassistische Diskriminierung als gemeinsame Erfahrung Nach dem einleitenden Brainstorming zum Thema Diskriminierung, dessen Ergebnisse auf Kärtchen gesammelt wurden (vgl. Kap. IV 2.1), eröffne ich die Diskussion mit der Bitte und der Frage „darüber zu diskutieren, darüber zu sprechen: was hat Diskriminierung mit euch zu tun?“ (Interviewerin GD1, 149). Mit der Euch-Formulierung lege ich zunächst eine Adressierung der Jugendlichen als Gruppe nahe und

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impliziere damit eine Antwort, die wiederum auf die Gruppe als ein ‚Wir‘ Bezug nimmt. Es folgen zwei Beiträge – von Milot und Amina – in denen genau dies geschieht, bevor ich auf die Bitte von Filiz, die Frage noch einmal zu wiederholen, differenziere: „Was hat Diskriminierung mit euch zu tun. Mit euch persönlich. Mit euch einzelnen“ (Interviewerin GD1, 154). Aminas und Milots Antworten auf die einleitende Frage, in denen sie begründen, warum sie denken, dass die Gruppe der Jugendlichen von Diskriminierung betroffen ist, klingen dann so: Amina:

„Ja ich würde sagen, weil wir irgendwie schon etwas anders sind, als die meisten anderen Leute, gerade wegen unserer Herkunft oder wegen überhaupt Aussehen, deswegen, meiste Gründe, warum wir diskriminiert werden ist deshalb.“

Milot:

„Ja halt weil wir mit- äh, einen Migrationshintergrund haben und wahrschein lich jeder von uns wahrscheinlich eine andere Religion hat, als die Deutschen, die hier leben in Deutschland und dadurch halt anders angesehen werden.“ (GD1, 150-151)

Neben der – sowohl von mir als auch von ihnen selbstverständlich vorausgesetzten – Annahme, dass sie als Gruppe (der teilnehmenden Jugendlichen) von Diskriminierung betroffen sind, teilen Amina und Milot weiterhin die Einschätzung, dass es sich bei dieser gemeinsamen Form der Betroffenheit um rassistische Diskriminierung handelt – obwohl das Wort Rassismus nicht fällt. Differenz und Normabweichung: „... weil wir irgendwie schon etwas anders sind“ Sowohl Milot als auch Amina geben sich Mühe, so ist ihren Formulierungen zu entnehmen, die angeführten Begründungen vorsichtig auszudrücken. Sie erscheinen so weniger als ‚sicheres‘ Wissen, sondern vielmehr als je eigene Zusammenhangsvermutungen und Erklärungsversuche: Amina „würde sagen“, dass die Begründung für ihre Rassismuserfahrungen ist, dass „wir irgendwie schon etwas anders sind“. Und auch Milot hält es für „wahrscheinlich“, dass sie sich in mancher Hinsicht (Religion und Migrationshintergrund) von den „Deutschen“ unterscheiden und deshalb „anders“ gesehen werden. Das ‚Anders-Sein‘ betrifft laut Amina eine Minderheit, die sich von den „meisten anderen Leute[n]“ unterscheidet, weil ihre „Herkunft“ oder die ihnen aufgrund ihres ‚Aussehens‘ zugeschriebene Herkunft eine andere ist als jene dieser „meisten anderen“. Sie identifiziert damit die Merkmale, die zum Anlass dieser Unterscheidung genommen werden, und die in ihren Augen die zentralen „Gründe“ für ihre Diskriminierung sind: „warum wir diskriminiert werden ist deshalb“. Milot ergänzt die von Amina vorgebrachten Merkmale der Differenz um den

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„Migrationshintergrund“ und die „andere Religion“, die zu einer ‚Abweichung‘ von der Mehrheit führen. Eine weitere Differenzierung nimmt Milot in Bezug auf die „meisten anderen Leute“ und auf die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse vor: Die Mehrheit, das sind „die Deutschen“ und der Kontext dieses Verhältnisses, in dem Amina und Milot und ihr ‚Wir‘ die Minderheitsposition gegenüber den „meisten anderen Leuten“, den „Deutschen“ einnehmen, ist „in Deutschland“. Als weitere Aspekte eines Begründungszusammenhanges für erfahrene Diskriminierung führt Milot zudem Fremdwahrnehmung und Bewertung von außen ein. In Milots Erklärung führen die genannten Merkmale der Abweichung von der ‚Norm‘ (den „meisten anderen Leuten“, auf die er sich in Anschluss an Amina bezieht und den „Deutschen“) dazu, dass sie „anders angesehen werden“. Amina hingegen formuliert, dass sie „anders sind“ – wobei ihre Ausdrucksweise auf ein Unbehagen der Selbstbezeichnung und -positionierung als ‚Andere‘ hinweist, wenn sie sehr vorsichtig und relativierend erklärt: „[I]ch würde sagen, weil wir irgendwie schon etwas anders sind [...].“ Relativierung und Normalisierung: „... jeder Mensch wird mal diskriminiert. Oder macht das.“ Nachdem Amina und Milot in ihren einleitenden Beiträgen Begründungszusammenhänge für eigene Rassismuserfahrungen thematisieren, schaltet Filiz sich in das Gespräch ein, indem sie die von Milot und Amina eingenommene Perspektive um einen weiteren Aspekt zur Eingangsfrage ergänzt und so relativiert: „Ich würde mal sagen, jeder wird irgendwo diskriminiert, das ist halt jetzt nicht so, dass das jetzt nur wir Ausländer speziell sind“ (Filiz GD1, 155). Filiz nimmt Abstand von einer ‚besondernden‘ Perspektive, nach der „wir Ausländer“ als ‚Opfer‘ ins Zentrum der Debatte rücken und bringt indirekt zugleich die eigenen Handlungsmöglichkeiten – nämlich selber auch diskriminieren zu können – in die Diskussion ein: „[A]lso ich würde mal sagen, Diskriminierung .. also jeder Mensch wird mal diskriminiert. Oder macht das“ (GD1, 155). Mit ihrem Perspektivwechsel bezieht sich Filiz nicht auf andere Formen der Diskriminierung, auch ihr geht es, wie Amina und Milot, um rassistische Diskriminierung. Jedoch geht sie davon aus, dass ‚Täter-‘ und ‚Opfer‘Positionen sich mit dem jeweiligen Ort und unterschiedlichen Mehrheits- und Minderheitsverhältnissen verändern, diese also nicht festgeschrieben, sondern quasi kontextabhängig sind. Als Beispiel für ihren Einwurf gibt sie an, dass „ein Deutscher irgendwo in einem anderen Land“ auch mit Zuschreibungen wie etwa „Ja, die Deutschen sind ja so und so und die sind alle gleich“ konfrontiert sein kann (Filiz GD1, 155).

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Entindividualisierung: „... und deswegen werden wir automatisch mit reingezogen“ In Anschluss an Filiz' Beitrag führt Milot einen weiteren möglichen Begründungsaspekt ins Feld. Er mutmaßt, dass eine Ursache von Rassismus in einer automatisierten Verallgemeinerung liegt, die dazu führt, dass er und die anderen anwesenden Jugendlichen als Teil einer Gruppe von Rassismus betroffen sind: „Vielleicht auch weil halt die meisten Leute das auf die Mehrheit beziehen […] und deswegen werden wir automatisch mit reingezogen“ (Milot GD1, 156, 158). Die Ursache für rassistische Diskriminierungserfahrungen liegt diesem Erklärungsansatz zufolge nicht in einer vermeintlichen Differenz, nicht weil die Jugendlichen „anders aussehen oder […] andere Sachen so machen“, erfahren sie Diskriminierung, sondern, so Milot, weil es „automatisch“ zu einer Homogenisierung kommt; und zwar „wegen der Mehrheit“ (Milot GD1, 158). Auf Nachfrage führt Milot weiter aus, dass er vermutet, dass Diskriminierung das Resultat einer Entindividualisierung und Verallgemeinerung ist, für die eine „Mehrheit“ der Gruppe, der auch er und die anderen Jugendlichen zugeordnet werden, verantwortlich ist: „Ja, dass […] die Leute die diskriminieren, dass die jetzt […] nicht nur uns ansehen dass die direkt was gegen uns haben sondern halt sehen, die Mehrheit hat das und das gemacht ihr gehört dazu, weil ihr auch, zum Beispiel zu dem Land gehört oder sonst was und […] deswegen die Mehrheit, also dass man uns auf die Mehrheit bezieht, und nicht so direkt auf einen viel leicht.“ (Milot GD1, 161)

Milot verortet die Begründung für Diskriminierung damit im Verhalten einer vermeintlichen „Mehrheit“ von sozialen Gruppen, der er und andere Jugendliche fälschlicherweise zugeordnet werden. Er beschreibt entsprechend sich und andere anwesende Jugendliche quasi als ‚Ausnahme von der Regel‘ und hinterfragt also Negativbilder und Zuschreibungen nicht grundsätzlich, sondern teilt sie gar; wenngleich nicht auf eine ganze so doch auf eine „Mehrheit“ einer sozialen Gruppe bezogen. Damit bleibt er auch dominanten rassistischen Diskursen immanenten verallgemeinernden Zuschreibungen verhaftet. Auch Amina geht davon aus, dass für Rassismus Prozesse der Entindividualisierung und Verallgemeinerung verantwortlich sind. Jedoch geht sie, im Gegensatz zu Milot, davon aus, dass „Vorurteile“, die sozialen Gruppen und Einzelnen, die diesen Gruppen (vermeintlich) angehören, entgegengebracht werden, verantwortlich dafür sind, und nicht das tatsächliche Verhalten und ‚Sein‘ einer ‚Mehrheit‘ einer sozialen Gruppe: „Das sind ja auch diese Vorurteile, die man ja von den meisten haben, ja die sind ja so und denken ja das alle stempeln alle gleich ab, als wären die alle gleich“ (Amina GD1, 159).

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Zusammenfassend ist festzustellen, dass im direkten Anschluss an die Eröffnung der Gruppendiskussion in dieser anfänglichen, abstrakt geführten Diskussion in wenigen Sätzen eine relativ differenzierte Beschreibung dessen erfolgt, was Rassismus ist – und zwar unter dem ‚Label‘ Diskriminierung. Als zentrales Merkmal von Diskriminierung wird die Kategorisierung von Einzelnen zu homogenen Gruppen aufgrund von zugeschriebener und/oder tatsächlicher Differenz, „Vorurteilen“ und/oder dem vermeintlichen Verhalten einer „Mehrheit“ sozialer Gruppen ausgemacht. Als weitere Aspekte werden Kontextgebundenheit und flexible Täter-OpferPositionen genannt. 1.2 Diskriminierung – Differenzierungen und Grenzziehungen An die eher abstrakten Bestimmungsversuche, die die Diskussion eröffnen, schließt sich der Austausch der Jugendlichen über konkrete Beispiele und Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung an. Mehrheitlich werden Rassismuserfahrungen in Situationen individueller Interaktion beschrieben, aber auch als Effekt einer Muslime und „Ausländer“ verallgemeinernden Medienberichterstattung und eines homogenisierenden und subjektive Zugehörigkeitsaspekte verkennenden Diskurses thematisiert. Relativ unvermittelt stellt Qerim in diesem Austausch – zunächst vorsichtig und leise, dann selbstbewusst und die Antwort vorwegnehmend – folgende Frage: Qerim:

(flüsternd) „Dürfen wir auch sagen, dass wir auch diskriminieren?“

Interviewer:

„Was sagst du?“

Qerim:

„Ich hab gesagt, ob wir das auch erwähnen sollen, dass wir selber auch disalso diskriminieren. Ja gut also ich und meine Freunde machen das täglich ei gentlich (lacht). Ja, ist so. Wenn wir irgendwelche Dullies sehen, die uns […] nicht gefallen oder so diskriminieren wir die auch eigentlich. Ist ja nicht nur, nicht so, dass die nur uns diskriminieren wegen unseres Aussehens oder so. Sondern wir machen genau dasselbe.“ (GD1, 216-224)

Qerim greift mit diesem Perspektivwechsel gewissermaßen den von Filiz bereits thematisierten Aspekt der eigenen Handlungsfähigkeit auf, der mit (Selbst-)Normalisierung einhergeht, und bringt seine eigene ‚Täterschaft‘ ins Spiel. Im Gegensatz zu Filiz' Argument steht in seinem Beitrag jedoch nicht rassistische Diskriminierung zentral, sondern Diskriminierung als ‚alltägliche‘, jugendkulturelle Praxis gegenüber jenen, die ihm und seinen Freunden ‚nicht gefallen‘. Qerims Frage ist Anlass für eine inhaltliche Wende in der Diskussion. Die anfängliche Selbstverständlichkeit und weitgehende inhaltliche Einigkeit, mit der über rassistische Diskriminierung gesprochen wurde, wird hier in Frage gestellt. Das aufgeworfene Spannungsverhältnis zwischen erfahrener Diskriminierung und eige-

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nem diskriminierenden Handeln ist Anlass für die Jugendlichen, sich einer genaueren Bestimmung und Abgrenzung dessen anzunähern, was Diskriminierung ist und was sie nicht ist. Dabei nehmen sie Diskriminierung als Handlungspraxis in den Blick und befragen diese hinsichtlich unterschiedlicher Bedeutungen. In einer ausführlichen Auseinandersetzung (vgl. GD1, 216-321) stoßen die Jugendlichen auf Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten und verhandeln ausgehend von der aufgemachten Ambivalenz den Gegenstand, um den es ihnen in der gemeinsamen Diskussion eigentlich gehen soll.3 Diskriminierung als jugendliche ‚Spaßpraxis‘ Das in der Gruppe geteilte Verständnis von Diskriminierung als rassistischer Diskriminierung wird auch nach Qerims Einwurf nicht in Frage gestellt. Jedoch wird der Begriff im Zuge der gemeinsamen Diskussion inhaltlich ausdifferenziert und abgegrenzt. Im Wesentlichen geht es darum, ob und wann diskriminierende Handlungspraktiken „heftig“, „nicht so heftig“ oder „spaßig“ sind. Zu diesen (fließenden) Grenzen und ihrer Bestimmung entspinnt sich eine engagierte Diskussion. Die meisten Jugendlichen sind sich darin einig, dass es – sofern gewisse Spielregeln beachtet werden – so etwas wie eine ‚Spaßdiskriminierung‘ gibt. Diese wird vor allem als eine Praxis bestimmt, die zwischen Freunden stattfindet, 4 denn „unter Freunden ist das was ganz anderes, […] unter Freunden ist klar, dass man sich ein bisschen beschimpft und so“ (Milot GD1, 269), und als gängige Kommunikationspraxis und als Teil der ‚normalen‘ Dynamik in einer Clique gegenüber anderen Formen der Diskriminierung abgegrenzt: Qerim:

„Wir sind damit gewohnt. Wir machen das immer.“

Interviewer:

„Also irgendwie so Spaß hab ich wohl mitbekommen, so und“

Qerim:

„(Ja, hab ich doch gesagt?) ( ) und Gruppenzwang und so.“ (GD1, 280-282)

Die Jugendlichen benennen verschiedene Komponenten, die den Rahmen und die Spielregeln einer solchen ‚Diskriminierung als Spaßpraxis‘ unter Freunden ausmachen: Diskriminierende Äußerungen „aus Spaß“, zwischen Freunden unterscheiden 3

Da die Verhandlungen aufgrund der Unschärfe des Begriffs vielschichtig und unsystematisch waren, ist der im Folgenden unternommene Versuch einer Bestimmung der Begrifflichkeiten in der Perspektive der Jugendlichen als eine zusammenfassende Systematisie rung der vorgebrachten Facetten zu verstehen, in der wesentliche Punkte benannt werden, ohne dass letztlich von ‚eindeutigen‘ Begrifflichkeiten oder Ergebnissen die Rede sein kann. Die ‚Ränder‘ der Definitionen bleiben im Detail uneindeutig; geteilte, die weiteren Diskussionen rahmende Orientierungen werden dennoch deutlich abgesteckt.

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Es sind vor allem die Jungen, die diese Form der Diskriminierung als gemeinsame Um gangsform im eigenen Freundeskreis thematisieren.

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sich Samir zufolge dadurch von „richtiger Diskriminierung“, dass es sich um (decodierbare) Scherze handelt, die mit eher kleinen, temporären Verletzungen einhergehen, die schnell wieder vergessen sind: „unter Freunden aus Spaß machen die ein paar Scherze hin und her und so, verletzen einen ein bisschen, aber dann ist auch irgendwann wieder gut“ (Samir GD1, 284). Hingegen ist für ihn „richtige Diskriminierung, wo jemand wirklich etwas schlechtes über jemanden denkt und das dann auch wirklich sagt oder es so rüber bringt“ (Samir GD1, 284). Wesentliche Aspekte der ‚Spaßpraxis Diskriminierung‘ sind demnach die Intention von Äußerungen auf der einen und das Verstehen von Äußerungen auf der anderen Seite. Denn damit Scherze, bei denen sich diskriminierender Ausdrücke bedient wird, als Scherze decodiert werden können – und nicht etwa als verletzende und damit „heftige“ Diskriminierung ihre Wirkung entfalten –, braucht es ein Gegenüber, das diese als eben solche zu decodieren in der Lage ist. Für Milot ist es vor allem eine stabile Bezie hung zwischen Freunden, vor deren Hintergrund dies gewährleistet ist und klar ist, dass nicht „wirklich schlecht“ über den Anderen gedacht wird und es sich also nur um eine ‚Spaßpraxis‘ handeln kann, weil: „wie gesagt, bei Freunden ist das einfach so, bei guten Freunden mit denen man halt täglich ist […] und so was dann, ich finde da kann man nicht wirklich diskriminieren so wirklich, weißt du? […] [W]enn man jemanden wirklich gern hat und wenn man das weiß, wenn man einen guten Kontakt zu einander hat, zum Beispiel Samir und ich wir könnten alles zueinan der sagen uns würde das nicht wirklich stören so.“ (Milot GD1, 293-297)

In engem Zusammenhang mit dieser Voraussetzung steht auch das Achten der persönlichen Grenze, an der aus Spaß Ernst wird und eine Verletzung entsteht. Handelt es sich um eine ‚Spaßpraxis‘, so muss für die Person, die mit potenziell diskriminierenden Äußerungen adressiert wird, zudem die Möglichkeit bestehen, die Situation durch Grenzsetzung beenden zu können: „[U]nter Freunden“, so Milot, „müsste man das dann schon verstehen, dass er das nicht will oder so, dass ihn das verletzt und dann hört man halt auf“ (Milot GD1, 312). Im Gegensatz dazu besteht die Möglichkeit, eine verletzende Situation durch ein „Stopp“ zu beenden, so vermutet er, bei intendierter, ‚echter Diskriminierung‘ eher nicht: „[I]ch weiß nicht ob das derjenige der diskriminiert hat ob der das ernst nehmen würde. […]. Der denkt: ‚Mir ist das doch scheißegal was der denkt‘“ (Milot GD1, 312). Damit wird Diskriminierung von Milot als eine Form der Missachtung bzw. gar der Verachtung interpretiert. Für die Jugendlichen ist eine so von ‚echter Diskriminierung‘ abgegrenzte ‚Diskriminierung aus Spaß‘, sofern die spezifischen Regeln eingehalten werden, eine akzeptierte Praxis. Zwar sind auch solche Stimmen in der Gruppe zu vernehmen, die den Standpunkt vertreten, dass es keine ‚Spaß-Diskriminierung‘ gibt: „[A]us

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Spaß, das ist dann eigentlich gar keine Diskriminierung“ (Samir GD1, 315); denn Diskriminierung ist etwas, das nicht – auch nicht unter Freundinnen und Freunden – mit Spaß einhergeht. Zwar „kannst [du] mal einen Scherz machen und zu deiner Freundin was sagen, aber ich finde bei Diskriminierung gibt es keinen Spaß“ (Filiz GD1, 288). Im Laufe der Diskussion kristallisiert sich heraus, dass durchaus Einigkeit darüber besteht, dass es eine ‚Spaßpraxis‘ unter Freunden und Freundinnen gibt, die sich durch Aspekte, wie sie oben beschrieben sind, auszeichnet; und dass es darüber hinaus ein Anliegen ist, diese Form des Umgangs untereinander als ‚normale‘ Praxis jugendkultureller Kommunikation zu definieren und zu legitimieren. In der Konsequenz, so resümiert Milot nach einer recht kontroversen Diskussion, „darf man das nicht mehr Diskriminierung nennen, weil es gibt so Spaß halt […] dann hat das halt einen anderen Ausdruck. Dann hat das einen anderen Namen oder so was, […] dann darf man das auch nicht Diskriminierung nennen.“ (Milot GD1, 289-291)

In der Perspektive der Jugendlichen lässt sich diese Praxis, in der auf potenziell diskriminierende Bedeutungen Bezug genommen wird, als eine gemeinsame Praxis bestimmen, die auf der Grundlage stabiler sozialer Beziehungen, auf gleicher Augenhöhe und ohne relevante Machtunterschiede stattfindet. Die Intention dieser jugendkulturellen Form des Umgangs und der Kommunikation unter Freundinnen und Freunden kann das gegenseitige Ärgern und Provozieren sein, ist jedoch niemals das Herbeiführen von ernsthaften Verletzungen. Die persönlichen Grenzen der an der ‚Spaßpraxis‘ Beteiligten werden gewahrt. Darüber hinaus handelt es sich um eine Praxis, die auf Gegenseitigkeit beruht und durch ein diesbezügliches Machtgleichgewicht gekennzeichnet ist. Das unterstreicht auch Qerim: Interviewerin: „Und der Felix aus eurer Clique, der findet das auch spaßig?“ Qerim:

„Ja, nö! (lacht) Aber der macht das ja wenn er über jemanden- Die diskrimi nieren mich auch dann irgendwann, aber und da macht er dann mit halt so. Das ist immer wieder so hin und her dann.“

Jamil:

„So ein Diskriminierungskreislauf.“

Qerim:

„Ja, so ist das. Jeden Tag ist mal ein anderer dran.“ (GD1, 259-263)

Die Jugendlichen halten in der Diskussion an der grundsätzlichen Legitimität einer solchen ‚Spaßpraxis‘ als Teil ihrer Kommunikationskultur fest, die auch als eine Form der adoleszenten Auflehnung gegen adulte Normen gelesen werden kann. Sie thematisieren sich sowohl als Ausübende als auch als Adressierte solcher Praktiken. Ihre Definition von ‚Spaßpraktiken‘ nehmen sie in einer Perspektive vor, in der vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen in Freundeskreisen ‚Spaß‘ zum einen als eine nicht ernstgemeinte Artikulation verstanden wird und zum anderen das Erzeu-

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gen von Vergnügen meint. In der konkreten Situation wird dieses Vergnügen zunächst vor allem für jene hergestellt, die die Praxis ausüben. Im Sinne einer innerhalb einer Gemeinschaft ausgeübten Praxis, die sich durch Wechselseitigkeit auszeichnet, sind letztlich aber alle an einer ‚Spaßpraxis‘ Beteiligten auch am Vergnügen beteiligt. Dass mit Sprachhandlungen, die auf potenziell rassistisch und diskriminierend wirkende Artikulationen zurückgreifen und als ‚Spaß‘ codiert werden, jedoch auch diverse Ambivalenzen einhergehen, dass die Unterscheidung zwischen ‚Spaßpraxis‘ und ‚Diskriminierung‘ nicht immer eindeutig zu treffen ist und dies eine Reihe von Dilemmata mit sich bringt, wird in Kapitel 2.5 erörtert. ‚Ernste Diskriminierung‘ Quasi spiegelverkehrt zur Bestimmung von ‚Spaßpraktiken‘ lassen sich die Merkmale von (‚ernster‘) Diskriminierung bestimmen. Zentrales Bestimmungs- und Unterscheidungsmerkmal ist hier, wie oben bereits von Samir thematisiert, die mit einer Praxis einhergehende Verletzung sowie die Intention einer Handlung. Qerim etwa erklärt: „[D]as ist so spaßmäßig so diskriminieren, aber das machen wir unter uns halt so, und das andere ernst ist halt so, dass man einen zum Heulen bringt oder sonst irgendwas“ (Qerim GD1, 258), Amina erörtert, Leute „fertig zu machen, […] das ist für mich eher diskriminierend“ (Amina GD1, 275) und Samir meint: „Diskriminierung ist, wenn ich jemanden fertig mache und dabei wirklich ernst bin“ (Samir GD1, 315). Milot sieht eine entscheidende Grenze zwischen einer ‚Spaßpraxis‘ und Diskriminierung dort, wo persönliche Grenzen missachtet werden: „Das Ding ist halt, die Grenze ist da, wo jemand sagt: ‚Schluss‘, da ist vorbei für mich. Wenn jemand sagt zu mir: ‚Hör auf.‘ Wenn ich dann nicht aufhöre, dann ist das Diskriminierung, wenn ich dann aber aufhöre .. hört es halt auf.“ (Milot GD1, 303)

Ein weiterer relevanter Aspekt, der zur Unterscheidung zwischen ‚Spaß‘ und Diskriminierung angeführt wird, ist das Merkmal, auf das legitimatorisch Bezug genommen wird, und die damit in Verbindung stehenden Objekte von Diskriminierungspraktiken. Für Qerim ist Religionszugehörigkeit ein Merkmal, das für ‚Spaßpraktiken‘ Tabu ist, weil damit nicht Einzelne diskriminiert werden, sondern eine ganze soziale Gruppe. Er erklärt: „Wir machen ja nicht so mit Religion und so was. Wir machen halt auf die Person. Also auf den Einzelnen und nicht dann sofort einen ganzen Haufen“ (Qerim GD1, 231).5 5

Bei ‚Spaßpraktiken‘ geht es Qerim und seinen Freunden ihm zufolge darum, Einzelne aufzuziehen und zu „diskriminieren“. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass bis hierher lediglich über Diskriminierung als individueller Praxis gesprochen wird, schließt seine Aussage jedoch keineswegs aus, dass nicht auch auf konstruierte Gruppenmerkmale Be-

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Dass die Religionszugehörigkeit eine Kategorie ist, die dazu benutzt wird, entindividualisierend „einen ganzen Haufen“ zu homogenisieren und zu diskriminieren, entspricht auch Qerims persönlichen Rassismuserfahrungen. Praktiken, bei denen so „ein ganzer Haufen“ zum Objekt von Diskriminierung wird, lehnt Qerim ab. Neben Religion scheinen auch andere soziale Gruppen Bezugspunkte für Diskriminierung darzustellen, die Qerim als legitimatorische Bezugspunkte ablehnt („und so“). Dazu gehört auch die Kategorie „Behinderung“: „Also bei Behinderung, würde Diskriminierung bei uns gar nicht vorkommen, bei mir und bei meinen Freunden so. Über solche Leute machen wir keine Späße oder sonst irgendwas. Die schließen wir auch nicht aus“ (Qerim GD1, 314). Ambivalenzen: Betroffener und Akteur von Diskriminierung sein Im Gegensatz zu „Behinderung“ scheint Homosexualität für Qerim allerdings eine Kategorie zu sein, bei der diskriminierendes Verhalten durchaus vorstellbar ist. Er fährt fort: „Aber bei .. wie heißt das (lacht) bei Schwulen, (lacht) da (lacht), ich hab ja nichts gegen Schwule, aber […] .. sonst (plötzlich sehr ernst, nicht mehr lachend) da würden die wahr scheinlich so lange weitermachen bis der so ein Ha-, bis der, der diskriminiert wird so einen Hass auf die hat, dass er wahrscheinlich nie wieder mit denen, auch nicht mal mehr in die Augen gucken würde oder so.“ (Qerim GD1, 314)

Qerims Sprechen erscheint in dieser Passage ambivalent: Mit einem „Aber“ führt er das Legitimationsmerkmal Homosexualität in die Debatte um Diskriminierung ein. Durch diese Entgegensetzung bzw. Abgrenzung zur vorherigen Differenzkategorie „Behinderung“, die für ihn und seine Freunde als legitimatorischer Bezugspunkt für ‚Spaßpraktiken‘ ein Tabu darstellt, entsteht unwillkürlich der Eindruck, dass Homosexualität hingegen ein durchaus legitimes Merkmal für eine solche Praxis ist oder zumindest potenziell denkbar wäre. In der sich anschließenden Konkretisierung versucht er diese Implikation zu relativieren, indem er zunächst – lachend – betont, dass er „ja nichts gegen Schwule“ habe.6 Des Weiteren rückt er seine Freunde als zug genommen werden kann, um einzelne, die solchen Gruppen zugehören, – in seiner Perspektive spaßeshalber – zu diskriminieren. 6

In Qerims Lachen kommt eine Ambivalenz zum Ausdruck, die den Inhalt des Gesagten rahmt. Es kann darauf hinweisen, dass „Schwule“ im Gegensatz zu Menschen mit Behinderung für ihn keine Gruppe darstellen, der gegenüber Diskriminierung illegitim ist. Das Lachen kann aber auch eine gewisse Befangenheit beim Sprechen über sexuelles Begehren anzeigen, wie es (nicht nur) unter Jugendlichen in einer solchen Runde wohl relativ verbreitet ist. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass für einen Jugendlichen, dem es, wie Qerim, wichtig ist, sich als ‚cool‘ zu präsentieren, schwul sein nicht mit einem immer

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Akteure in den Mittelpunkt einer vorstellbaren diskriminierenden Handlungspraxis und distanziert sich damit selbst von einer aktiven Rolle: Qerim vermutet, dass „die“ keine Grenzen kennen würden, sondern im Gegenteil eine überaus verletzende Diskriminierungspraxis gegenüber Schwulen vorstellbar sei. Unabhängig von Qerims persönlicher Einstellung gegenüber Schwulen oder Schwul-Sein und seinem eigenen Handeln deutet der plötzliche Wechsel in ein sehr ernsthaftes Sprechen darauf hin, dass die diskriminierende Handlung, die sich an Negativeinstellungen gegenüber Schwulen anschließen kann, für Qerim zumindest im Kontext der stattfindenden Gruppendiskussion nicht mehr in den Bereich des Spaßigen fällt. Seine Aussage zur diskriminierenden Handlungsmacht seines Freundeskreises gegenüber Schwulen überschreitet die Form einer in der Gruppe mehrheitlich akzeptierten ‚legitimen Täterschaft‘ gemäß den gemeinsam verhandelten Spielregeln einer ‚Spaßpraxis‘. Ihm scheint bewusst zu werden oder zu sein, dass es sich hier nicht lediglich um eine ‚Spaßpraxis‘, sondern um die ‚echte‘ Diskriminierung handelt, die mit ‚wirklichen‘ Verletzungen einhergeht. Auch in jugendkulturellen Kommunikationspraktiken (insbesondere in Cli quen), so wird hier deutlich, sind die Grenzen zwischen Spaß und Ernst fließend, sind die Jugendlichen als Betroffene und als Akteure und Akteurinnen nicht nur in ‚verletzungsarme‘ ‚Spaßpraktiken‘ involviert – was der Rahmen ist, innerhalb dessen sie die eigene ‚Täterschaft‘ vornehmlich thematisieren –, sondern auch in ausgrenzende Diskriminierungsdynamiken. Analysiert werden hier nicht nur Bedeutungen des Diskriminierungsbegriffs, sondern auch eigene (gruppenbezogene) ‚Opfer‘und ‚Täter‘-Rollen. Bereits in der Einleitung der inhaltlichen Wende des in der Gruppe stattfindenden Diskriminierungsdiskurses weist Qerim auf eine Praxis hin, die ihn und seine Freunde als machtvolles, diskriminierendes ‚Wir‘ thematisiert, deren Objekte die sind, „die uns nicht gefallen“ (Qerim GD1, 224). Er beschreibt eine Praxis, in der das Wir des Freundeskreis über die Diskriminierung anderer hergestellt wird, und bringt das Verhalten in der Clique auch mit „Gruppenzwang“ in Verbindung (Qerim GD1, 282). Schon im die Diskussion einleitenden Brainstorming war „Clique“ für Qerim ein Punkt, der für ihn in Bezug auf das Thema Diskriminierung relevant erscheint (vgl. Qerim GD1, 72, 74.). Ebenso betont er bereits hier, dass Menschen andere diskriminieren und ausgrenzen, „um cool zu sein“ (Qerim GD1, 90), „weil sie cool sein wollen“ (Qerim GD1, 103). Und auch Rima merkt an, dass sie „eine Begründung“ für diskriminierendes Verhalten in der Dynamik und dem Druck, der innerhalb einer Gruppe herrschen kann, sieht: „Mitläufer. Wenn man in einer Clique ist“ (Rima GD1, 141), und ist mit dieser Einschätzung keineswegs allein. Auch für Samir, der sich auf Rimas Beitrag hin beeilt zu versichern,

noch verbreiteten Bild von Männlichkeit zu vereinbaren ist. Um die eigene Männlichkeit zu betonen, erscheint eine Abgrenzung von ‚Schwul-Sein‘ funktional zu sein.

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dass er diesen Punkt während der Diskussion „schon die ganze Zeit im Kopf“ hatte (Samir GD1, 142), ist dies ein relevanter Aspekt. 1.3 Rassistische Diskriminierung als gemeinsames Thema Nach der anfänglichen Selbstverständlichkeit, mit der auf die Frage nach der Verbindung zwischen Diskriminierung und den Jugendlichen Rassismus ins Zentrum der Diskussion gerückt wird, verhandeln die Jugendlichen nach der Intervention Qerims den Begriff der Diskriminierung. In der gemeinsamen Auseinandersetzung nehmen die Jugendlichen Differenzierungen vor, an deren Ende zum einen die Unterscheidung zwischen Formen einer (freundschaftlichen) ‚Spaßpraxis‘ und (verletzender) Diskriminierung steht, zum anderen Ambivalenzen im Hinblick auf eigene Involviertheiten in ‚spaßige‘ und ‚schlimme‘ Diskriminierung offenbar werden. Im Fokus der weiteren gemeinsamen Auseinandersetzungen, darin sind sich die Jugendlichen nach ihrem Exkurs einig, soll jedoch ‚ernste‘ Diskriminierung stehen, und nicht die ‚Spaßpraxis‘, wie sie unter Freunden und Freundinnen mehr oder we niger üblich ist. Es ist wiederum Qerim, der das Ende der Verhandlungen über ver schiedene Diskriminierungskategorien und ‚(il)legitime‘ Täterschaft mit einer offenbar konsensfähigen Definition des Gegenstandes ‚Diskriminierung‘ einleitet: Qerim:

„Aber unter Diskriminierung verstehe ich eigentlich- So die Hauptwörter sind bei mir […] Vorurteile und Ausgrenzung. Diese beiden, das ist für mich eigentlich Diskriminierung.“

Amina:

(leise) „Bei mir auch.“ (GD1, 318-319)

Diese Bestimmung ‚eigentlicher Diskriminierung‘ bestätigt nicht nur Amina. Sie wird auch in anderen Redebeiträgen deutlich; und zwar sowohl in solchen, in denen die Jugendlichen Diskriminierung in Abgrenzung zur ‚Spaßpraxis‘ beschreiben (vgl. oben), als auch in den Beiträgen und Beispielen, mit denen die Jugendlichen die Debatte zum Thema Diskriminierung sehr selbstverständlich eröffnet haben (vgl. GD1, 150-215). Damit erfolgt hier, die vielschichtige Diskussion zu Differenzierungen diskriminierender Handlungspraktiken abschließend, ein übereinstimmendes Wieder-Anschließen an ‚eigentliche‘ Diskriminierung, wie sie in Form rassistischer Diskriminierungserfahrungen und ihrer vermuteten Begründungen bereits zuvor im Mittelpunkt standen. Erfahrungen mit dieser Form der Diskriminierung, mit rassistischer Diskriminierung, werden fortan im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen7 – wenngleich diese von den Jugendlichen kaum als Rassismus 7

Filiz und Nesrin thematisieren darüber hinaus auch Erfahrungen mit Ausgrenzung aufgrund des Abweichens von konstruierten Schönheits- und Schlankheitsidealen als ‚schlimme‘ Diskriminierung. Diese werden jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit sein.

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benannt und negative Erfahrungen keineswegs immer eindeutig und explizit als Diskriminierung kategorisiert und beklagt werden.

2 R ASSISMUSERFAHRUNGEN , H ERAUSFORDERUNGEN UND H ANDLUNGSWEISEN Als zentrales Thema der gemeinsamen Auseinandersetzungen bestimmen die Jugendlichen eine ausgrenzende, mit Verletzungen verbundene Diskriminierungspraxis, die sich aus Kategorisierungen und „Vorurteilen“, aus stereotypisierten Zuschreibungen speist. Den Jugendlichen ist die Erfahrung gemein, von anderen als ‚nicht-deutsch‘ identifiziert, in einer entsprechenden Zugehörigkeitsordnung als ‚anders‘ und nicht-zugehörig positioniert und auf dieser Grundlage mit entsprechenden Zuschreibungen konfrontiert zu werden, die ausgrenzende und reduktionistische Effekte mit sich bringen. Den Schwerpunkt der Erzählungen der Jugendlichen bilden Schilderungen über Erfahrungen, die sie auf einer interindividuellen bzw. als individuell interpretierten Ebene machen. Obwohl dies nicht bedeutet, dass sie keine Erfahrungen mit institutionellen und strukturellem Rassismus machen – diesen deuten sie in der Regel jedoch nicht als rassistisch oder interpretieren ihn nicht als Problem, das in Institutionen und Strukturen eingelassen ist –, rückt die individuelle Ebene des Rassismus und der Rassismuserfahrungen so nicht nur in ihren Erzählungen, sondern auch in dem zu analysierenden Material und den nachfolgenden Analysen in den Vordergrund. In den folgenden Kapiteln (Kap. 2.1 und 2.2) werden zunächst die Konstruktion der Jugendlichen als nicht-zugehörig, als ‚Andere‘ im Zugehörigkeitskontext ‚Deutschland‘ sowie ihre Erfahrungen mit entsprechenden, dominanten Zuschreibungen fokussiert. Das ambivalente Wechselspiel ihrer Selbst- und Fremdpositionierungen in diesem Zugehörigkeitsverhältnis sowie die hier herausgearbeiteten Bedeutungskonstruktionen sind immanent wichtiger Bestandteil und Grundlage aller Erzählungen und Berichte der Jugendlichen zum Thema ‚Diskriminierungserfahrungen‘. Im Anschluss erfolgt dann die intensive Auseinandersetzung mit konkreten Erlebnissen der Jugendlichen und die Analyse ihrer Deutungen und Handlungsbegründungen mit dem Ziel, die Kontexte ihrer Erfahrungen zu rekonstruieren und hinsichtlich ihrer Erfahrungs- und Handlungsräume begrenzenden und ermöglichenden Aspekte zu untersuchen (Kap. 2.3-2.7).

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2.1 Zugehörigkeitsverhältnisse Ausgangspunkt der von den Jugendlichen geschilderten Erfahrungen mit Rassismus und ihren Zusammenhangsannahmen bildet, wie bereits erwähnt, meist die Erfahrung, von konkreten Personen als vermeintlich ‚nicht-deutsch‘, als ‚anders‘ identifiziert zu werden und so in ihrer Zugehörigkeit 8 zu Deutschland hinterfragt zu werden, bzw. die Erfahrung zu machen, dass ihnen diese verweigert wird. Ihnen gegen über werden symbolische Grenzen angerufen, die über soziale Bedeutungskonstruktionen hergestellt werden, welche Teil eines rassistischen Unterscheidungswissens sind. Diese Grenzziehungen zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, zwischen ‚Nicht-Anderen‘ und ‚Anderen‘, die unter anderem in der erlebten Interaktion immer wieder aktiv hergestellt werden, sind elementarer Teil von Rassismuserfahrungen (vgl. Kap. I 2). 9 Zugehörigkeitsordnungen dieser Art, so Paul Mecheril und Britta Hoffarth, strukturieren adoleszente Erfahrungen in der Migrationsgesellschaft auf bedeutsame Weise (vgl. Mecheril/Hoffarth 2009, 245). Mecheril (2003) und Mecheril/Hoffarth (2009) nutzen ‚Zugehörigkeit‘ als Begriff und Konzept, mit welchem das Verhältnis von Individuum und sozialem Kontext in den Blick genommen wird: Mit ihm beschreiben sie „die Relation zwischen einem Individuum und einem sozialen Kontext, in dem Praxen und Konzepte der Unterscheidung von ‚zugehörig‘ und ‚nicht-zugehörig‘ konstitutiv für den Kontext sind“ (Mecheril/Hoffarth 2009, 246). Zugehörigkeitserfahrungen können entsprechend, so Mecheril (1997b, 296, Bezug nehmend auf Greverus 1979), als „Verhältnissetzung von Individuen zu sozialen oder symbolischen Kontexten“ verstanden werden, welche „dann als Zugehörigkeit repräsentiert [wird], wenn das Individuum sich zum einen als Mitglied des sozialen Kontextes erkennt und anerkennt, das Individuum zum anderen aber auch als Mitglied der Gemeinschaft anerkannt und erkannt wird“. Zugehörigkeitserfahrungen sind somit „Phänomene, in denen die Einzelne ihre Position in einem sozialen Zusammenhang und darüber vermittelt sich selbst erfährt“ (Mecheril/Hoffarth 8

Vgl. zur ausführlichen Theoretisierung von Zugehörigkeit und Zugehörigkeitskonzepten in diesem Zusammenhang die Studie von Paul Mecheril (2003). Mithilfe eines differen ziert ausgearbeiteten Zugehörigkeitsbegriffes untersucht er „Zugehörigkeitserfahrungen und […] Selbstverständnisse sowie Umgangsweisen“ (Mecheril 2003, 118) von sogenannten „Anderen Deutschen“ (ebd., 9) in spezifischen Zugehörigkeitskontexten, die er als Möglichkeitsbedingungen in den Blick nimmt.

9

Entsprechend zieht sich diese Binariät als eine grundlegende Struktur durch das gesamte Material: Explizit wie implizit trennen die Jugendlichen immer wieder zwischen den Kategorien ‚(Wir) Ausländer‘ und ‚(Die) Deutschen‘; obwohl sie auch bemüht sind, diese als durchlässig zu präsentieren und immer wieder relativierend auf die Unmöglichkeit einer absoluten Verallgemeinerung hinweisen.

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2009, 247) und auf dieser Grundlage konkreter Erfahrungen in Zugehörigkeitsordnungen Zugehörigkeitsverständnisse ausbildet (vgl. ebd. 2003, 132f.). Auf der Ebene des Subjektes lässt sich entsprechend fragen, „unter welchen sozialen, politischen und gesellschaftlichen und von diesen vermittelten individuellen Bedingungen Individuen sich selbst als einem Kontext zugehörig verstehen, erkennen und achten können“ (ebd. 2009, 247). Dies ist auch im Kontext der vorliegenden Arbeit eine zentrale Frage. Im Folgenden soll anhand der Darstellung und Analyse von Kategorisierungsund Benennungspraktiken bzw. -erfahrungen, die im Alltag der Jugendlichen einen zentralen Platz einnehmen, verdeutlicht werden, in welcher Weise eine sich auf den Zugehörigkeitskontext Deutschland beziehende Zugehörigkeitsordnung Erfahrungen der Jugendlichen mit Zugehörigkeit, Nicht-Zugehörigkeit und rassistischer Ausgrenzung sowie diesbezügliche Prozesse der Selbstpositionierung und -benennung ambivalent beeinflussen. ‚Heute schon abgestempelt?‘ In der Regel werden von den Jugendlichen physiognomische Merkmale als Marker bestimmt, die zum Anlass für Zuschreibungen genommen und zur Begründung für das Hinterfragen oder die Verweigerung ihrer ‚deutschen‘ Zugehörigkeit werden. Aber auch ein „ausländischer Name“ (Ibrahim KP, 5) oder die Sprache (vgl. Qerim IQ, 151-167; Qerim, Amina, Samir, Rima GD1, 334-347) kann ihrer Erfahrung zufolge Anlass für ihre Konstruktion als ‚Andere‘, als ‚Ausländerin‘ oder ‚Ausländer‘, als ‚nicht-deutsch‘ und der Auslöser für andere sein, sie zu beurteilen und auszugrenzen (vgl. Ibrahim KP, 5). Welchen Stellenwert das eigene Äußere und die damit verbundenen Folgen von Kategorisierung, Zuschreibungen und Verweisungen für die Jugendlichen haben, kommt eindrücklich und pointiert in den Werken zum Ausdruck, die die Jugendlichen im Rahmen des Kunstprojektes (vgl. Kap. IV 2.3) erstellt haben: Fast alle Botschaften der Kunstwerke der Jugendlichen beziehen sich grundlegend auf das ‚Aussehen‘, das zum Merkmal für vermeintliches Anders-Sein und eine daraus resultierende Diskriminierung genommen wird. Frannie, eine Schwarze deutsche Jugendliche, möchte mir ihrem Kunstwerk etwa darauf aufmerksam machen, dass sie, „obwohl man hier geboren ist, einen deutschen Pass hat, vielleicht auch die Eltern hier geboren sind, trotzdem immer noch als Ausländer bezeichnet“ wird (Frannie KP, 9). Sie fordert, „die Leute […] sollten sich mal in eine andere Perspektive […] in meine“ hineinversetzen und darüber nachdenken, wie das ist, „wenn man eine andere Hautfarbe hat und trotzdem hier geboren ist und nicht anerkannt wird“ (Frannie KP, 31). Es ist „schwierig, [...] dazu zu gehören“, sagt Frannie. Sie lässt sich mit einer blonden Perücke und blauen Kontaktlinsen sowie einem Schild, auf dem „Gehöre ich jetzt dazu?“ steht, vor dem Rathaus der Stadt fotografieren.

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Duygu versucht in ihrem Kunstwerk alle äußerlichen Merkmale von vier Frauen, die auf Porträtfotos zu sehen sind, mit weißer Kleidung und weißer Schminke zum Verschwinden zu bringen. Zu ihrer Intention sagt sie, sie „möchte einfach, dass sie [die Menschen, die ihr Kunstwerk betrachten, W.S.] sich ein bisschen Gedanken darüber machen, […] ob man wirklich Leute nach ihrem Aussehen beurteilen muss“, „ob man Leute ausgrenzen muss […]. Dass man halt wirklich darüber nachdenkt, dass das wirklich so ist, dass man durch eine Haarfarbe einfach mal bestimm[t] […], wie die Persönlichkeit einer Person ist, oder was sie im Leben er reicht hat oder nicht erreicht hat“ (Duygu KP, 19). Auf meine Frage: „Und hat das auch was mit dir zu tun, das Projekt?“ (Interviewerin KP, 20), fährt sie fort: „Ja, das hat echt mit mir zu tun, weil ich färbe mir die Haare ja immer gerne hell. Und dann werde ich auch nie als Ausländerin bezeichnet. Und wenn die Leute meinen Namen dann auch nicht kennen, weil mein Name ist ja so typisch türkisch so, da kann man auch nicht ir gendwie was mit einem deutschen Namen verbinden oder so. Also bis ich meinen Namen nenne glauben alle, dass ich eine Deutsche bin durch dann die helleren Haare und durch demalso wie ich rede oder wie ich mich unterhalte oder so. Und wenn sie mich dann fragen: ‚Ja, wie heißt du denn?‘ und ich sage dann meinen Namen, dann haben die einen ganz anderen Eindruck von mir als davor.“ (Duygu KP, 21)

Haruns Kunstwerk heißt „Heute schon abgestempelt?“ Er erklärt, „dass man jemandem einen Stempel aufdrückt, nur durch […] äußeres Aussehen- […] wenn Menschen meinen, sie würden jemanden kennen nur durch das Sehen […] damit wollte ich das ausdrücken, dass Leute andere Leute sehr schnell abstempeln und deswegen habe ich die ses Projekt in Angriff genommen.“ (Harun KP, 5)

Ich frage Harun, was er den Leuten mit seinem Kunstwerk zeigen möchte, und er antwortet, dass Menschen andere Menschen einen Stempel aufdrücken, „aber gar nicht [wissen], was sie damit anrichten. Wissen gar nicht, was sie indirekt damit machen. Dass diese Menschen eh schon genug Probleme haben und dass sie einfach auf sol che Vorurteile verzichten könnten. Das checken die Leute im dem ersten Augenblick nicht .. und ja, ich wollte darauf hinweisen, dass man ach- man sollte darauf achten auf seine Wort wahl. Darauf, wie man mit Leuten umgeht. Darauf, dass man Leuten keine Vorurteile an den Kopf werfen sollte. .. Und, ja- und dass man auch mal was sagen sollte, wenn man mitbe kommt, dass so was geschieht. Einfach niemandem einen Stempel aufdrücken.“ (Harun KP, 29)

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In seiner gemeinsamen Performance mit Gülhan schminkt Harun sich komplett grün, Gülhan sich rot. Auf ihren T-Shirts steht: „Bin ich jetzt anders?“ Harun:

„Unsere Botschaft ist .. egal- egal wie ein Mensch-“

Gülhan:

=„aussieht, es ist immer noch derselbe Kern .. Und man sollte ihn immer mit gleichem Respekt behandeln. Es ist doch nicht gleich jemand anders, nur weil er anders aussieht .. Bin ich jetzt anders?“ (Gülhan und Harun KP, 45-46)

Deutlich identifizieren die Jugendlichen das Markiert- und Kategorisiert-Werden als ‚Andere‘ sowie die sich daran anschließenden Bewertungen als zentrales Element ihrer Rassismuserfahrungen. Dabei ist ihr Äußeres der Aspekt, der ihnen zufolge am häufigsten zu einer solchen Markierung als ‚anders‘ genutzt wird, also etwas, das von den Jugendlichen nicht zu beeinflussen ist – oder zumindest kaum: Duygu gelingt es offenbar erfolgreich, mit dem Aufhellen ihrer Haare eine Auffälligkeit als Marker für ‚nicht-deutsch‘ zu ‚löschen‘. Hingegen sagt Husai im Dokumentarfilm (vgl. Kap. IV 2): „Dadurch, dass ich jetzt schwarze Haare habe, werde ich immer als Ausländerin bezeichnet, immer. Obwohl ich einen deutschen Pass habe, obwohl ich mich selbst teils als deutsch ansehe, werde ich immer als Ausländerin bezeichnet. Ich glaube, das werde ich auch nie los. Ich glaube auch nicht, wenn ich meine Haare jetzt blond färbe“ (Husai FP)10. In den Lebenswelten der Jugendlichen ist die Erfahrung, von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft machtvoll in den Blick genommen, kategorisiert und bewertet zu werden, überaus präsent. Duygu bringt diese mit Repräsentationsmacht verbundene Erfahrung sehr pointiert zum Ausdruck, als sie mir zu ihrem Kunstwerk erklärt, dass es ihr auch darum ginge, „da jetzt nicht wieder so die Migranten hin[zustellen] und die Deutschen gucken wieder aus derselben Perspektive, sondern“, so erklärt Duygu zu den vier Frauen, die auf großen Portraitfotos zu sehen sind und in Sprechblasen Fragen zu ihrer eigenen Person stellen, „das ist ja eigentlich so, dass wir oder dass die Leute die auf den Fotos sind so gucken und sa gen: ‚Ja, jetzt sagt doch mal was.‘ […] [D]as [ist] schon aus einer anderen Perspektive […], als wenn man jetzt wieder immer so auf die Migranten herab guckt“ (Duygu KP, 18, 20).

Ähnlich eindringlich wie die Jugendlichen beschreibt Franz Fanon in seinem Buch ‚Black Skin, White Masks‘, was es für ihn bedeutet, Sklave der eigenen Erscheinung (vgl. Fanon 2008, 95) und gefangen in den Blicken der Weißen zu sein (vgl. ebd., 92), in denen ein Konzept offenbar wird, das deutlich macht, dass diese nicht lediglich schwarze Haut sehen, sondern gleichsam soziale Bedeutungen: „Beneath 10 Das Transkript der Redebeiträge der Jugendlichen im Dokumentarfilm ist in Scharathow/Leiprecht (2011) veröffentlicht.

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the body schema I had created a historical-racial schema. […] [T]he white man […] had woven me out of a thousand details, anecdotes, and stories“ (ebd., 91). Mit Hall lässt sich an dieser Stelle auf das Konzept der ‚signifying practices‘ verweisen (vgl. Kap. III 2.1). In diesem Fall ist es der Körper, der als ‚signifier‘ eingebunden ist in ein „system of classifying difference“ (Hall 1997c, 15), mehr noch, in ein rassistisches System der Unterscheidung, in welchem er ‚gelesen‘ und mit Bedeutung versehen wird. „You can read body as a text“, so Hall (ebd.). Dabei ist Körper, ist ‚Aussehen‘, nicht an sich mit essentiellen Bedeutungen versehen, sondern die Bedeutung liegt „in the shifting relations of difference, which they establish with other concepts and ideas in a signifying field“ (ebd., 8). Und dennoch, trotz der Beweglichkeit der Bedeutungen in Abhängigkeit von Kontext und Zeit, trotz des diskursiven Ansatzes der Bedeutungskonstruktion, ist der Körper, ist das Aussehen der Jugendlichen als Teil eines bedeutungsvollen, historisch etablierten Differenzsystems ein relevanter, ein machtvoller Marker, und sind die Effekte, die mit diesem einhergehen, überaus real. Als Maßstab, anhand dessen hier bedeutungsvoll bestimmt wird, wer ‚Andere‘ oder ‚Anderer‘ ist, fungiert die Imagination einer ethnisch homogenen deutschen Gemeinschaft und Nation, die wiederum keine politischen Entitäten sind, sondern „etwas, das Bedeutungen produziert – ein System kultureller Repräsentationen. […]. Eine Nation ist eine symbolische Gemeinschaft“ (Solomos 2002, 165). Wer abweicht von dieser „imagined community“ (Anderson 1983), von den Vorstellungen dessen, was diese ‚Gemeinschaft‘ ausmacht, des typischen ‚Deutsch-Seins‘ – etwa aufgrund des Aussehens (Deutsch-Sein ist u.a. eng mit Weiß-Sein verbunden, vgl. Wollrad 2005; Ferreira 2003) oder der Sprache –, wird als ‚nicht-deutsch‘, als von dieser konstruierten Normalität abweichend markiert.11 Im Kontext von Rassismus geht es Hall zufolge nun darum, ein Verständnis für diese Differenzmarker als bedeutungs- und wirkungsvoll zu entwickeln und zu begreifen, wie „ideas and knowledges of difference organize human practices between individuals“ (Hall 1997c, 9). Es geht also nicht nur um das Lesen des Körpers als Text, sondern auch um das Lesen sozialer Unterschiede und die Reflexion der daraus resultierenden sozialen Praktiken, die Ungleichheiten produzieren und reproduzieren. Diesbezüglich ist es im vorliegenden Kontext wichtig zu betonen, dass bei der binären Unterscheidung in ‚Deutsch‘ – ‚Nicht-Deutsch‘ die Kategorie des ‚Nicht-Deutsch‘ wiederum mit der Unterscheidung in eine Vielzahl unterschiedlicher, ethnisierter Kategorien und damit verknüpfter Bedeutungszuschreibungen und also Bewertungen einhergeht, die z.B. in Bezug auf daran anschließende Deutungs- und Handlungsmuster relevant sind: So macht es einen Unterschied, ob Menschen als ‚nicht-deutsch‘, aber (west-)europäisch identifiziert werden, oder als ‚nicht-deutsch‘ und nicht-(west -) europäisch, wie es bei den Jugendlichen hier 11 Vgl. zur Konstruktion von Nation und nationaler Identität in Prozessen der Abgrenzung und des Ausschlusses im deutschen Kontext Räthzel 1997.

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der Fall ist. Denn unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen und Repräsentationsformen sind mit Unterscheidungen verbunden, die sich – u.a. in der symbolischen Ordnung von Gesellschaft – manifestieren und spezifische Benachteiligungs- und Bevorteilungsstrukturen hervorbringen. Der Vorgang der Kategorisierung und die damit verbundene Zuweisung eines deprivilegierten Platzes innerhalb der sozialen Zugehörigkeitsordnung ist unmittelbar, damit unvermeidbar und konsequenzenreich. Diese Erfahrung beschreibt nicht nur Fanon (vgl. 2008), sondern sie wird auch von an der hier vorgestellten Forschung teilnehmenden Jugendlichen geschildert, wie sich an folgendem Beispiel von Amina nachzeichnen lässt: Nachdem Amina mir von ihren ersten zwei Jahren in Deutschland und in der deutschen Grundschule sowie ihren Leistungsproblemen dort berichtet hat, frage ich sie: „Und wann wurde es besser?“ (Interviewerin IA, 32), denn ich weiß, dass sie mittlerweile eine erfolgreiche Schülerin ist. Amina berichtet mir daraufhin von ihrem Umzug aus der Unterbringung für Geflüchtete nach B-Stadt und dem Wechsel in die vierte Klasse dort. Auf der neuen Schule, so Amina, hat sie „so, Ausländermädels“ kennengelernt. Und die, so fährt sie fort, „waren ja halt auch die, mit denen ich mich am besten verstanden habe“ (Amina IA, 33), nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland die „ersten Freunde, die ich […] in Deutschland [hatte]“ (Amina IA, 37). Amina berichtet also von einer sozialen, nicht von einer schulleistungsbezogenen Verbesserung ihres Lebens; davon, dass die zwei Mädchen für sie eine wichtige (soziale und emotionale) Unterstützung waren: „Die saßen halt auch immer neben mir, haben auch immer alles mit mir was gemacht, obwohl ich halt nichts verstanden habe, und so“ (Amina IA, 33). In Aminas rückblickender Deutung waren die beiden Freundinnen und ihre Unterstützung der Grund, warum sie sich auch bald mit den anderen gut verstanden hat, denn im Kontakt mit den beiden haben sich auch ihre Deutschkenntnisse verbessert, die in ihrer Perspektive dafür essentiell waren. Ich frage Amina, warum sie meint, dass die beiden sich besonders gekümmert haben, und Amina antwortet mit einem kontrastiven Beispiel, quasi mit einem negativen Spiegel, der deutlich macht, dass die beiden Freundinnen und die von ihnen erfahrene Unterstützung und Solidarität sich in prägnanter Weise von ihren sonstigen Erfahrungen in der neuen Klasse unterscheiden. Sie illustriert, wie bereits die Anfangs- bzw. Ausgangssituation in der Klasse das Gegenteil dessen war, was sie mit ihren neuen Freundinnen erfahren hat: „Ich weiß nicht, warum. Aber, gleich am Anfang auch, als die- Ich weiß nicht da- Ich kann mich auch an den einen Spruch erinnern, als ich auch gleich in die, als erstes in die Klasse kam. Hat der Junge, mit dem ich immer noch befreundet bin, aber hat auch gleich am Anfang so einen Spruch abgelassen: ‚Hey, die sieht ja genauso wie du aus! Hat auch so schwarze Haare‘ und so. So .. das hab ich dann ja verstanden, das so. Weil da hatten wir in der vierten Klasse, haben wir halt, irgendwie, als wir neu gekommen sind, da haben wir so einen Kreis

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gemacht und da hat er die ganze Zeit mich irgendwie Fatma genannt, weil dieses eine Mäd chen, hieß ja Fatma […]. Und immer zu mir: ‚Fatma, Fatma‘ und so. Weil, ich sah ... ihr ähn lich, weil ich auch so schwarze, lange Haare hatte wie sie. Deswegen, ja.“ (Amina IA, 41-43)

Mit der starken Betonung der Anfangssituation unterstreicht Amina die Unmittelbarkeit und Unvermeidbarkeit der Kategorisierung. Ohne ihr Zutun, allein durch ihre Erscheinung ist es zu einer unausweichlichen kategorisierenden Zuordnung gekommen, die ihr neuer Mitschüler ungehemmt verbalisiert. Amina hat ob der Unmittelbarkeit keine Möglichkeit, diese Kategorisierung zu verhindern. Aufgrund phänotypischer Merkmale, ihrer ‚langen, schwarzen Haare‘, wird Amina augenblicklich entindividualisiert und zu ‚Fatma‘ erklärt. Ihr Äußeres wird zuvorderst relevant gesetzt, um sie zu objektivieren, zu bestimmen. Die Schublade ‚Schwarzhaarige‘, die nach Fatma, einem Mädchen aus der Klasse mit schwarzen Haaren, benannt ist, wird aufgemacht und Amina hinein gesteckt. Auf ein individuelles Kennenlernen – Wie heißt du? Auf welcher Schule warst du? Was machst du? – wird zunächst kein Wert gelegt. Die von Amina geschilderte Situation erinnert an Fanon, der die ‚versklavende‘ Präsenz seines Körpers in den Augen der Weißen verdeutlicht, indem er davon berichtet, wie er auf der Straße benannt und fixiert wird: „‚Look! A Negro!‘ (Fanon 2008, 91). „The white gaze, the only valid one“, so Fanon über das Erfahren des weißen, objektivierenden Blicks, „is already dissecting me. I am fixed“ (ebd., 95; Herv. i. O.). Obwohl von dem Jungen in Aminas Erzählung keine Bedeutungszuschreibung expliziert wird, ist diese implizit doch präsent: Die vorgenommene Homogenisierung unter Bezug auf das Merkmal ‚schwarze Haare‘ und das Wissen um die damit einhergehenden diskursiv-dominanten Bedeutungszuschreibungen „[v]erletzt einen schon“, so Amina (IA, 53). Denn „zu sagen: ‚Ja, die sieht genauso wie du aus.‘ So. ‚Ja, guck mal.‘ Und dann auch nur, ja, dann die ganze Zeit Fatma genannt zu werden, klar stört einen das, mit einem fremden Namen angesprochen zu werden“ (Amina IA, 55); und damit, so ließe sich ergänzen, in der eigenen Identität und Individualität nicht wahrgenommen zu werden. Bei Aminas Erzählung handelt es sich um eine für sie brisante Geschichte. Sie liegt zum Zeitpunkt des Interviews fast neun Jahre zurück – Aminas halbes Leben. Die Geschichte von der unmittelbaren, unausweichlichen Kategorisierung in diskriminierender, entsubjektivierender und entindividualisierender Weise steht im krassen Gegensatz zum erlebten ‚Erkannt-Werden‘ durch vermeintlich Gleiche, durch „Ausländermädels“, als jemand, die neu ist, die Sprache noch nicht so gut kann und sich nach Zugehörigkeit sehnt, und das damit verbundene unterstützende und solidarisierende Handeln. Das (positive) ‚Erkannt-Werden‘ durch die „Ausländermädels“ kann in Aminas Geschichte ebenso wie das (negative) ‚Ver-Kannt-Werden‘ durch den Jungen auch als Kategorisierung beschrieben werden, mit der bestimmte,

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implizite Bedeutungszuschreibungen einhergehen; jedoch mit dem bedeutsamen Unterschied der Konsequenzen, die diese für das Handeln ihrer neuen Mitschülerinnen und ihres Mitschülers und damit für Aminas Erleben des ‚Neu-Seins‘ in der Klasse haben: der positiven und der negativen Zugehörigkeitserfahrung. Die Antwort auf meine Frage, warum Amina meint, dass die beiden Mädchen sich besonders gekümmert haben, wird von Amina indirekt formuliert. Vermutlich geht sie davon aus, dass es den beiden im Gegensatz zu den anderen in ihrer Klasse – repräsentiert durch den Jungen – aufgrund einer vermuteten geteilten Erfahrung nicht in den Sinn käme, ihr auf diese homogenisierende und entsubjektivierende Weise zu begegnen, sondern dass sie, im Gegenteil, vermutlich um Situationen wie diese aus eigener Erfahrung wissen. Das vorausgesetzte geteilte Wissen wiederum führt dazu, dass sie von ihnen Unterstützung erfährt, wo andere, die diese Erfahrung, dieses Wissen nicht teilen, keinen Unterstützungsbedarf sehen. Die Erfahrung, als ‚nicht-deutsch‘ kategorisiert zu werden, machen alle Jugendlichen in ihrem Alltag.12 Sie werden als ‚Ausländer‘ bezeichnet oder als ‚Türken‘, was ihnen zufolge synonym für ‚Ausländer‘ benutzt wird. „Jeder Schwarzkopf [wird] als Türke bezeichnet“, fasst Filiz (IF, 41) die auch begrifflich vereinheitlichende Kategorisierung zusammen, von der nicht nur sie betroffen ist. 13 Für Selbstpositionierungen wird ihnen häufig kein Platz gelassen. Sie werden positioniert. Harun und Gülhan drücken das folgendermaßen aus: Harun:

„Ich sag mal so, in der Gesellschaft brauchst du dich selber nicht einzustufen. Das machen die anderen für dich. Und die lassen dir auch keinen Raum, die lassen dir auch keine Zeit dich selbst einzustufen […], selbst zu finden, wo du hingehörst. Du wirst als erstes /in deine Schublade gesteckt./“

Gülhan:

„/abgestempelt/“

12 Diese Erfahrung ist zentral für Rassismuserfahrungen und wurde auch in anderen empirischen Studien nachgewiesen (vgl. Badawia 2002; Mecheril 2003; Keim 2003; Terkessidis 2004; Melter 2006). 13 Annita Kalpaka und Nora Räthzel machen bereits 1986 darauf aufmerksam, dass in den öffentlichen Debatten und Diskursen in Deutschland „der Begriff ‚Ausländer‘ […] sich nicht mehr auf alle, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben[, bezieht], sondern […] offenbar mit TürkInnen gleichgesetzt [wird]“ (Kalpaka/Räthzel 1994/1986, 16). In den letzten Jahren ist auch ‚Muslime‘ ein solcher ‚Vereinheitlichungsbegriff‘ geworden. Schwarze Menschen in Deutschland sind von dieser Form der Vereinnahmung nicht betroffen, denn in ihrem Fall werden andere physisognomische Merkmale, vor allem die Hautfarbe, als primär relevant gesetzt und zum Anlass für Kategorisierungen und Stereotypisierungen genommen.

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Harun:

„Abgestempelt, in deine Schublade gesteckt. Erst danach musst du diese

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Schublade aufbrechen, musst dir diese Stempel von dir reißen, […] um deine Meinung laut zu machen, aber als erstes wirst du abgestempelt, als erstes wirst du in die Schublade gesteckt.“ (Gülhan und Harun KP, 55-57)

‚Dieser schwarze Tisch‘…, ‚weil die ja alle schwarzköpfig waren‘ Die Erfahrung, für andere selbstverständlicher Teil der Gruppe der ‚Ausländer‘ zu sein, aber keineswegs selbstverständlich zur Gruppe der ‚Deutschen‘ zu gehören, machen alle Jugendlichen. Dies geschieht sowohl in der objektivierenden Form diskursiver Fremdpositionierung und -zuschreibung als auch als Teil nicht-diskursiver Zugehörigkeitserfahrungen. Was sich in Aminas Erzählung von ihrem Einstieg in die neue Schule schon andeutet, ist im Datenmaterial bei verschiedenen Jugendlichen auszumachen: Sie machen in ihrem Alltag die Erfahrung, dass es mitunter leichter ist, mit ‚Ausländern‘ befreundet zu sein (vgl. Samir IS, 90-101), dass dies die soziale Gruppe ist, der sie nicht nur selbstverständlich zugeordnet werden, sondern auch die Gruppe, der sie sich selbst unhinterfragt zuordnen können, wenn sie dies wollen.14 Es sind mithin noch andere, spezifische Zugehörigkeitskontexte für die Jugendlichen (positiv) relevant. Mit Bettina Dausien und Paul Mecheril kann hier auch von der „Normalität lokaler Ordnung“ (Dausien/Mecheril 2006, 169) gesprochen werden. Im Kontext von Überlegungen zu „Normalität und Biografie“ in migrationswissenschaftlicher Perspektive (ebd. 2006) benennen sie so „die Weise […], in der dem Anspruch darauf, dass das, was ich bin, als normal angesehen wird (als nicht aus dem Bereich des üb lich Erwartbaren herausfallend), und dem Anspruch darauf, an dem teilzuhaben, was als normal gilt, dass diesem Anspruch auf Normalität an diesem konkreten Ort entsprochen wird“ (ebd., 170). Viele Jugendliche sprechen von einem solchen konkreten Ort, an dem „eine Ordnung vorhanden ist, die mit der Idee des eigentlich Er wartbaren deskriptiv und präskriptiv operiert“ (ebd.): In der Regel sind es eben jene Freundeskreise, von denen Jugendliche berichten, in denen sich die zusammenfinden, die von anderen als ‚Ausländer‘ kategorisiert werden; und für die – so expli14 Das bedeutet jedoch weder, dass Jugendliche nicht auch mit ‚Nicht-Ausländern‘ befreundet wären, noch dass sie ihre Freundeskreise deutlich voneinander abgrenzen würden oder dass ‚Ausländer‘ das bestimmende Moment zur Beschreibung von Freunden und Freundinnen wäre. So verdeutlicht Qerim in seiner Antwort auf die Frage, wer eigentlich das ‚Wir‘ ist, von dem er redet, dass es sich um eine Gruppe von Freunden handelt, die sich weder durch ihren ‚Ausländer‘-Status auszeichnet (im Mittelpunkt steht ein jugend kultureller Umgangs- und Sprachcode, der auch die Möglichkeit der Mehrsprachigkeit enthält) noch eine geschlossene Gruppe bildet. Erst durch den Blick von außen wird ein Teil seines Freundeskreises in Qerims Beschreibung zur ‚Ausländergruppe‘. Seine ‚deutschen Freunde‘ sind je nach Kontext Teil des ‚Wirs‘ oder des ‚Sies‘ (vgl. GD1, 358ff.).

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ziert es Amina (vgl. unten) und lässt es sich für andere vermuten – kategorisierende Verweisungen aus der ‚Normalität‘ der dominanten Zugehörigkeitsordnung, für die Rassismuserfahrungen zum Alltag gehören. Dausien und Mecheril beschreiben, dass ein geteiltes soziales Wissen, das in Zusammenhang mit spezifischen migrationsgesellschaftlichen und Rassismuserfahrungen steht, sich in lokalen, im Sinne von konkreten Kontexten, „als Bestandteile biographischer Erfahrungen, Reflexionen und Praktiken des Umgangs mit diesen Erfahrungen“ herausbildet (vgl. Dausien/Mecheril 2006, 170f.). Amina merkt bezüglich dieser Zugehörigkeitskontexte selbstkritisch an, dass kategoriale Einordnungen entsprechend nicht nur von außen vorgenommen werden, sondern eben auch von den von diesen Kategorisierungen betroffenen und nach ‚Normalität‘ und Zugehörigkeit suchenden Jugendlichen selbst: „wir werden ja halt immer eigentlich in diese- teilen wir uns eigentlich auch selber ein. Dass wir in diese Gruppe, diese Ausländer sind und so“ (Amina IA, 134). In Aminas Aussage kommt das von ihr als Dilemma empfundene Wechselspiel von Fremd- und Selbstkategorisierung zum Ausdruck, das auf eine soziale Gruppe Bezug nimmt, die sie als homogene Konstruktion zwar ablehnt – „diese Gruppe, diese Ausländer“ –, mit der sie sich als lokalem Ort, der Normalität und Zugehörigkeit bietet, aber zugleich auch identifiziert. Anhand einer Schilderung zum eigenen Zugehörigkeitserleben und Handeln führt Amina dieses Dilemma weiter aus und verdeutlicht, dass Orte der „Zugehörigkeit[…] lokaler Ordnung“ (Mecheril/Hoffarth 2009, 254) immer auch in einem Verhältnis zur dominanten (Zugehörigkeits-)Ordnung stehen: Sie berichtet davon, wie sie nach ihrem Schulwechsel auf das Fachgymnasium – welches Teil eines großen Schulzentrums ist – den Kontakt zu einer Gruppe von Mädchen sucht (und findet), die sich in der Cafeteria der Schule immer an einem Tisch treffen. An diesem einen Tisch, so Amina, sitzen „halt nur Ausländermädels“ (Amina IA, 134). Er wird in der Schule der „schwarze Tisch“ genannt, „weil die [Mädels] ja alle schwarzköpfig waren“ (Amina IA, 160). Weil Amina, wie sie sagt, „mit niemandem von meiner Klasse zu tun hatte“, ist sie „irgendwie […] dann halt auch irgendwann hingegangen“ (Amina IA, 134). Amina erklärt, dass sie mit einer Ausnahme „eigentlich“ keines der Mädchen kannte; dennoch scheint es für sie einfach gewesen zu sein, Kontakt aufzunehmen und in diese Gruppe ‚aufgenommen‘ zu werden. Sie hat sich, so berichtet Amina, „einfach dazu gesetzt“, obwohl sie „die meisten […] auch eigentlich nicht [kannte] […], mit denen geredet und auch eine Zeit lang richtig gut verstanden“ (Amina IA, 134). Im Gegensatz zu ihrer Klasse, so impliziert Aminas Aussage, sei dies „so eine Gruppe“, so sagt sie, wo „man sich halt wohl[fühlt], […] da fühlt man sich auch dazugehörig“ (Amina IA, 134). Dieses Wohl-Fühl- und Zugehörigkeitsgefühl resultiert Amina zufolge daraus, dass „die einen halt verstehen“, und „genau wissen“, wie man sich in Situationen fühlt, in denen man sich ungerecht behandelt fühlt (vgl. Amina IA, 134); zum Beispiel, so er-

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klärt sie weiter, wenn sie von Lehrern Rassismus erfährt. Sie fühlt sich mit den Mädchen verbunden, weil sie ähnliche Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung machen wie Amina. Sie „kennen“ es, „Scheiße behandel[t]“ zu werden, „aus dem Grund, dass du halt .. irgendwie Ausländerin bist“ (Amina IA, 136). Die Kategorisierung als „Ausländerin“, so wird in vielen Passage deutlich, ist für Amina – insbesondere aufgrund der mit ihr verbundenen Bedeutungskonstruktionen – eine gewaltvolle Fremdpositionierung, gegen die sie sich wehrt. Gleichzeitig ist es eine soziale Gruppe, mit der sie sich nicht nur identifiziert, weil sie mit ihr identifiziert wird, sondern auch, weil jene, die die Erfahrung machen, hier machtvoll platziert zu werden, ebenfalls die Erfahrung machen, von rassistischer Be- und Abwertung, von Ausgrenzung betroffen zu sein. Diese (vermuteten und tatsächlichen) geteilten Erfahrungen von Rassismus, von Einteilung, Abgrenzung und Nicht-Zugehörigkeit führen dazu, dass sich eine konkret-lokale, soziale Gruppe konstituiert, in der als ‚Ausländerin‘ Kategorisierte offenbar mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit unhinterfragte Zugehörigkeit erfahren können; und zu der auch Amina sich zugehörig fühlt. Amina beschreibt diese Zusammenhänge als einen Automatismus, der sich notwendigerweise aus den gesellschaftlichen bzw. sozialen Zugehörigkeitsverhältnissen zu ergeben scheint: Sie erklärt, dass sie „eigentlich“ gar nicht darüber nachgedacht hat, warum sie irgendwann zu den Mädchen aus der Cafeteria gegangen ist, dass sie sich rückblickend „eigentlich gar nicht vorstellen kann […] warum das eigentlich so war.“ Nach einer kurzen Denkpause begründet sie dann jedoch: „[W]enn man sowieso in so eine Gruppe eingeteilt wird, geht man automatisch so: Ja, okay, wenn ich dazugehöre, gehe ich dann halt, da gehöre ich ja wenigstens noch dazu, geht man eigentlich automatisch schon dahin.“ (Amina IA, 148)

Ihre Zuwendung zur Cafeteria-Gruppe erklärt Amina als Folge ihrer Kategorisierung als ‚nicht-deutsch‘, als ‚anders‘. Sie schildert, dass die Gruppe der ‚Anderen‘ jene Gruppe ist, wo sie „wenigstens noch“ dazugehört. Es ist die Gruppe, zu der ihre Zugehörigkeit nicht hinterfragt wird, wo sie sich nicht erklären oder rechtfertigen muss. „Wenigstens hier“ – und implizit steht ‚wenn schon nicht anderswo‘ –, so Amina, gehöre sie selbstverständlich dazu. Dies ist der Grund, warum sie sich „automatisch“ dieser Gruppe anschließt. Amina stellt so einen kausalen Zusammenhang zwischen ihrer Konstruktion als zugehörig zur Gruppe der ‚Anderen‘ und ihrer subjektiven Zugehörigkeit zu dieser Gruppe her. 15 – Wobei, so ergänzt Amina später, dieses subjektive Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die erst einmal 15 Amina belegt diese These mit ihrer eigenen Erfahrung: Denn die Mädchen aus der Cafeteria „waren ja auch nicht so, dass man gleich so abgestoßen wurde oder komisch ange guckt wurde oder so. Und zum Beispiel in meiner Klasse war es ja so!“ (Amina IA, 148)

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nichts gemein hat, außer der (zunächst lediglich vermuteten) gemeinsamen Erfahrung von Fremdpositionierung und Rassismus, auch eine Konstruktion ist, die auf den wiederkehrenden Erfahrungen mit Ausgrenzung beruht: „[W]enn man schon automatisch ausgegrenzt wird und so, gehört man ja eigentlich so- Ich weiß nicht, .. redet man sich das auch ein“ (Amina IA, 160). Selbst- und Fremdpositionierung, lokale und dominante Zugehörigkeitskontexte und -ordnungen, so macht Amina in der Reflexion ihres Handelns deutlich, stehen also in einem nicht zu trennenden Verhältnis zueinander. Die Zugehörigkeit zu ‚lokalen Normalitäten‘ hebt noch nicht die Nicht-Zugehörigkeit zur ‚dominanten Normalität‘ auf; im Gegenteil: Erstere wird durch letztere erst hervorgebracht (vgl. Dausien/Mecheril 2006, 171), eine Abweichung von der ‚dominanten Normalität‘ bleibt bestehen. In Aminas Perspektive wird diese Abweichung durch das eigene Zugehörigkeitsbedürfnis zur ‚lokalen Normalität‘ sogar verstärkt. In ihrer Interpretation trägt es gar zur ‚Selbstausgrenzung‘ bei. Eine Deutung und Erfahrung, die deutlich auch auf die Binarität von machtvollen Strukturen von Normalität und Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft verweist. Das Phänomen des ‚Schwarzen Tisches‘, das Amina hier beschreibt, ist keineswegs ein Einzelfall. Die Psychologin Beverly Daniel Tatum, die zu „Black childrenʼs racial identity development“ forscht (vgl. Tatum 2003, xiii), spricht in Bezug auf die Vereinigten Staaten parallel vom „Black Table“ und hat ein Buch mit dem Titel „Why Are All the Black Kids Sitting Together in the Cafeteria?“ (2003) geschrieben, in dem es, u.a., um eben dieses Phänomen geht. Ähnlich wie Amina beschreibt auch Tatum, dass die Bildung solcher Gruppen, einer Notwendigkeit gleich kommt, die sie mit der Identitätsentwicklung von afroamerikanischen Jugendlichen im Kontext einer weiß dominierten, rassistischen Gesellschaft erklärt: „Why do Black youths, in particular, think about themselves in terms of race? Because that is how the rest of the world thinks of them. Our self-perceptions are shaped by the messages that we receive from those around us, and when young Black men and women enter adolescence, the racial content of those messages intensifies“ (Tatum 2003, 53f.). Als zentrale Funktionen, die eine solche Gruppe bzw. die ‚Selbstausgrenzung‘, wie Amina sagt, oder die „so-called self-segregation“, wie Tatum sagt (ebd., 59), für Einzelne erfüllt, beschreibt Tatum zum einen den Wunsch, sich vor (weiterem) Rassismus selbst zu schützen (vgl. ebd., 54-59), zum anderen das Bedürfnis, im Hinblick auf eigene Rassismuserfahrungen Verständnis und Unterstützung zu erfahren: „The Black students turn to each other for the much needed support they are not likely to find anywhere else“ (ebd., 60). In der Konsequenz kommt Tatum zu dem Schluss, dass das Phänomen der ‚Schwarzen Tische‘ oder ‚Black Tables‘ für die sich hier treffenden Jugendlichen sowohl Teil eines identitären Ent-

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wicklungsprozesses als auch eine Coping-Strategie ist, die beide auf Rassismus antworten (vgl. ebd., 62).16 Zuordnungs- und Einteilungsprozesse dieser Art sind für Amina überaus ambivalent, ihre konkrete Selbstverortung findet in einem schwierigen Spannungsverhältnis statt: Sie lehnt die binäre Kategorisierung ab, sie möchte sich weder in der einen noch in der anderen Kategorie eindeutig verorten, sagt von sich „Teils bin ich auch Deutsche“ (Amina IA, 164) und würde sich selbst „nicht Ausländerin nennen“ (vgl. unten). Zugleich hat diese Einteilung in Form von objektivierenden Zugehörigkeitsverhältnissen und subjektiven Zugehörigkeitsgefühlen Einfluss auf ihr Leben. Amina handelt und äußert sich in vielen Situationen widerständig gegenüber den vereindeutigenden Zuordnungen und ist sich doch zugleich bewusst, dass sie mit ihrer emotional ‚wohltuenden‘ Selbstzuordnung zur Gruppe der Mädchen aus der Cafeteria, die sie verstehen und akzeptieren, eben diese binäre Gruppenbildung für den Gewinn von Zugehörigkeitsgefühlen, Selbstschutz und Unterstützung ebenso mit unterstützt, wie Prozesse des Othering. Denn durch die sichtbare Selbstzuordnung zu der als ‚Schwarzer Tisch‘ benannten Gruppe wird sie im Blick von Außenstehenden einmal mehr zur ‚Anderen‘. Auf eine andere Ambivalenz der ‚Selbsteinteilung‘ stößt Filiz. Während meines Gesprächs mit ihr werden Widersprüche und Paradoxien deutlich, die mit einer ‚Glorifizierung‘ der ‚eigenen Gruppe‘ als Gruppe, die absolute Zugehörigkeitssicherheit verspricht, einhergehen: Sie ist „froh“, sagt sie, „dass, bei uns so der Zu sammenhalt […] ist“ (Filiz IF, 41). Ich frage sie: „Wer ist denn ‚uns‘? Wo gibt es einen Zusammenhang- äh -halt?“ (Interviewerin IF, 42). Filiz erklärt daraufhin, dass es unter V-Ländern „immer so [ist], dass die zusammenhalten, egal was ist. […] [B]ei den V-Ländern ist das automatisch immer so“ (Filiz IF, 43). Darüber hinaus ist Filiz stolz auf sich und ihre „Persönlichkeit“ als emanzipierte, selbstbestimmte und unabhängige junge Frau. Und es ist ihr ein Anliegen, dies auch nach außen zu zeigen. Insbesondere auch als Muslimin und „V-Länderin“, die nicht den stereotypen Vorstellungen entspricht, mit denen sie häufig konfrontiert ist: „[I]ch kann da einfach stehen und sagen: ‚Nein, ich bin eine V-Länderin, ich trage kein Kopftuch, ich kann einen Bikini anziehen, ich kann meinen Freund mit nach Hause nehmen, ich kann auf Diskotheken gehen und, mach grade mein Abitur‘, so dass ich denen zeigen kann, so, das kommt nicht auf die Herkunft an“ (Filiz IF, 41). 16 Tatum (vgl. 2003, 71-74) berichtet von einem Projekt, das die Bedürfnisse Schwarzer Ju gendlicher, die sich in den ‚Black Tables‘ manifestieren, zum Anlass nimmt, einen solchen Raum pädagogisch begleitet an Schulen bereit zu stellen. Im Ergebnis konnte fest gestellt werden, dass dieser eine wichtige Gelegenheit für die Jugendlichen war, sich auch über Faktoren auszutauschen, die ihre Schulleistungen beeinträchtigten. Neben Aspekten wie Auftreten und Selbstbewusstsein konnte beobachtet werden, dass auch die Noten der teilnehmenden Jugendlichen sich im Laufe des Projektes deutlich positiv veränderten.

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Zu einem späteren Zeitpunkt während des Gesprächs erzählt Filiz dann jedoch ausführlich und detailliert von Erfahrungen mit Mitgliedern der vermeintlichen ‚eigenen‘, muslimischen Community, die nicht zu diesem Bild passen: „Ich werde auch diskriminiert“, berichtet sie, „weil ich irgendwie um acht Uhr abends noch draußen bin […] oder weil ich mal feiern gehe, dann heißt es: ‚Ah, guck mal, die Eltern sind ja so und so‘“ (Filiz IF, 107). Über Filiz und ihre Familie wird ‚geredet‘: „‚Was sind das für Moslems‘ und so“ (Filiz IF, 109), und das, so Filiz, „das zählt für mich auch als Diskriminierung“ (Filiz IF, 107). Überaus wütend wird Filiz, wenn sie aufgrund dieses Lebensstils von Männern oder Jungen bewertet und zurechtgewiesen wird. Sie ereifert sich darüber, dass sie mit vermeintlichen Verhaltensregeln konfrontiert wird, die Frauen andere Rechte zugestehen als Männern. Filiz' Wut über diese Ungleichheiten kommt in ihrem Bericht über einen Streit mit einem Jungen zum Ausdruck: „[Der] meinte so: ‚Ja, warum bist du eigentlich draußen? […]. Ich so: ‚Ach so, weil ich jetzt Moslem bin, soll ich den ganzen Tag zu Hause verbringen (). Warum habe ich nicht das Recht rauszugehen und du schon?‘ Ich meinte so: ‚Was unterscheidet uns denn außer dass bei dir unten in der Hose was schaukelt und bei mir nicht?‘ So: ‚Ja bei Jungens ist das anders, bei Männern ist das anders.‘ Ich so: ‚Ja, natürlich sagst du das.‘ Ich so: ‚Für dich ist da was anders.‘ Ich so: ‚Da ist aber nichts anders‘. Ich meine so: ‚Oder hast du extra bei deiner Geburt eine Genehmigung bekommen, dass du das und das machen darfst und ich nicht?‘ und so. Und da gab es dann halt auch total Streit, weil ich das total schwachsinnig finde auch zwi schen Männern und Frauen so.“ (Filiz IF, 111)

Nachdem Filiz ausführlich von diesen Ungerechtigkeiten erzählt hat, frage ich sie: „Das heißt, da ist dann irgendwann- da ist dann kein Zusammenhalt mehr zwischen V-Ländern bei solchen Sachen?“ (Interviewerin IF, 114). Filiz relativiert daraufhin, dass ein V-Länder so etwas noch nie zu ihr gesagt hätte, gibt aber zu, dass das „bei manchen V-Ländern […] auch so [ist]“ (Filiz IF, 115). Letztlich scheint zu gelten, was Filiz schon während ihrer Schilderung von Diskriminierungserfahrungen innerhalb der ‚Community‘ festgestellt hat: Dass man zum einen „jetzt nicht sagen [muss], Diskriminierung ist nur Rassismus zwischen migrationshintergründigen Menschen und Deutschen, das ist nicht so. Es gibt auch unter denen, also unter den Leuten und das ist da genauso“ (Filiz IF, 107). Sie gesteht sich ein, dass der immer währende „Zusammenhalt“, den sie zu Beginn hervorhebt, doch nicht immer zutrifft, dass es auch innerhalb der Gruppe der V-Länder Diskriminierung gibt. Filiz berichtet von Sexismus; und damit auch von fehlendem Zusammenhalt in Bezug auf Geschlechterverhältnisse. „Bei so was“, so Filiz, „da ist echt kein Zusammenhalt“ (Filiz IF, 115). In ihrer Erzählung stellt Filiz zunächst einen sicheren (Wunsch-)Ort unbedingter Zugehörigkeit in der ‚Gemeinschaft der V-Länder‘ her,

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der sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Trugschluss, als unzutreffende Verallgemeinerung erweist. (Unhinterfragte) Zugehörigkeit changiert vielmehr, ist menschen- und kontextabhängig und ändert sich, in diesem Fall mit der fokussierten Differenzkategorie bzw. Diskriminierungsform. ‚Alle sagen ja Ausländer‘ Mit den beschriebenen Praktiken der Kategorisierung gehen, wie bereits zum Ausdruck kam, zugleich Benennungspraktiken einher, die sowohl einen Teil dieser Einteilungs- und Zuordnungspraktiken als auch der Zugehörigkeits- und Nicht-Zugehörigkeitserfahrungen der Jugendlichen darstellen. Die Jugendlichen werden als ‚nicht-deutsch‘ kategorisiert, als ‚Ausländerinnen und Ausländer‘, als ‚Türkinnen und Türken‘ benannt und angerufen. Darüber hinaus bezeichnen fast alle Jugendlichen sich selbst und Freundinnen und Freunde in den Gesprächen relativ selbstverständlich als ‚Ausländer‘ bzw. ‚Ausländerin‘ oder beschreiben, dass sie „zu den Ausländern“ gehören würden. Sie begründen die Wahl dieses Wortes auf Nachfrage auf unterschiedliche Weise, z.B. mit einer notwendigen Markierung, um zwischen verschiedenen Gruppen differenzieren zu können: „[H]ier in X-Stadt ist das ziemlich multikulturell, halt von jedem Land welche und so. Und das kann man ja nicht zusammenfassen. […] Deswegen sagt man halt dann einfach entweder Immigranten oder Ausländer zu denen“ (Qerim IQ, 67).17 Milot argumentiert ähnlich wie Qerim und gibt an, auf diese Weise deutlich zu machen, welche seiner Freunde gemeint sind: „Wenn ich sage: ‚Meine Freunde‘, dann kommt immer gleich: ‚Ja, welche Freunde? Welche dies, welche?‘ Und wenn ich sage: ‚Meine ausländischen Freunde‘, so: ‚Die Ausländer‘ dann wissen alle gleich: ‚Ja, okay, der und der‘“ (Milot IM, 41). Kontextualisiert und auf die konkrete Situation in der Forschungswerkstatt bezogen, hört sich die von Milot ausgemachte Benennungsnotwendigkeit dann so an: „Wir sagen ja jetzt Ausländer hier, weil damit ihr [gemeint sind Ahmet und ich, W.S.] wisst, mit welchen Kumpels ich- wir davon gerade reden. Mit welchen Kumpels wir gerade uns identifizieren wollen“ (Milot PZ, 223). Im Rahmen der vorliegenden Erhebung meint das ‚Wir‘ der ‚Ausländer‘ meist eine konkrete Freundesgruppe, oft wird aber auch auf eine abstraktere Gruppe Bezug genommen. Es ist die Bezeichnung für eine ‚Wir‘-Gruppe, die sich durch geteilte Erfahrungen (vgl. PZ, 168-198) und durch positive Zugehörigkeitserfahrungen auszeichnet, mit der sie sich identifizieren – und identifiziert werden. Mit ihrer eigenen Benennungs- und Unterscheidungspraxis reproduzieren die Jugendlichen auch die Trennung zwischen zwei sozialen Gruppen, die sich konträr und in sich homogen gegenüber zu stehen scheinen, und in der die Binarität der Zugehörigkeitsordnung im Kontext ‚deutscher‘ Zugehörigkeitsverhältnisse zum Ausdruck 17 Wobei ich Qerim nie das Wort ‚Immigranten‘ habe sagen hören.

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kommt: ‚wir Ausländer‘ und – häufig implizit – ‚die Deutschen‘. Jugendliche selbst bestimmen diese Praxis der Kategorisierung und Unterscheidung an anderer Stelle als die wesentliche Grundlage für Diskriminierung und Rassismus. Jedoch ist dieser Zusammenhang im alltäglichen Sprachgebrauch offenbar nur schwer zu reflektieren. Sie sind Teil einer im Alltag kaum hinterfragten Praxis der Unterscheidung, die sowohl von „den Deutschen“ als auch „bei vielen Ausländern“ selbstverständlich vorgenommen wird: „Das wird- bei den Deutschen wird das, und bei vielen Ausländern wird das unterschieden, dass- also wird, ja- bei vielen Leuten wird das halt unterschieden so Ausländer und Deutsche“ (Samir GD2J, 47). Vielfach übernehmen sie diese Praxis der selbstverständlichen Unterscheidung, obwohl sie sehr genau um die Heterogenität der Gruppen wissen, wissen, dass auch das konstruierte ‚Wir‘ sehr heterogen ist: Interviewer:

„Gibt es […] bei den Ausländern denn Unterschiede? Weil das hört sich immer so an als wäre das eine Gruppe […] die unter sich anscheinend total klar kommt.“

Samir:

„() gar nicht eigentlich.“

Milot:

„/Doch es gibt Unterschiede. […]/“

Jamil:

„/() gar nicht. Ja es gibt ja viele Unterschiede/“ (GD2J, 49-52).

Wenngleich das Wort ‚Ausländer‘ im gesamten Verlauf der Datenerhebung immer wieder sehr selbstverständlich Verwendung findet, die Jugendlichen es zur Bezeichnung anderer Personen, ‚ihrer‘ Gruppe oder von sich selbst verwenden, wird trotz aller ‚Normalität‘ der Verwendung auch deutlich, dass der Begriff für sie durchaus außerordentlich ambivalent, seine Verwendung paradox und absurd ist. Das Gros der Jugendlichen verwendet den Begriff bei genauerem Hinsehen keineswegs widerspruchsfrei, viele sind mit seiner Verwendung nicht ‚glücklich‘. Dass sie ihn dennoch verwenden, hat sowohl etwas mit ihrer Benennung von außen, mit einem Wechselspiel aus Fremd- und Selbstbezeichnung, sowie damit einhergehender Ausgrenzung, als auch mit einem Mangel an begrifflichen Alternativen und sehr begrenzten Möglichkeiten zu tun, innerhalb des diskursiv-dominanten Rahmens der deutschen Gesellschaft akzeptierte Positionen einzunehmen. Entweder-Oder: Positionierungszwang in binären Zugehörigkeitsverhältnissen Eine Widersprüchlichkeit, die auf Nachfrage zur Sprache kommt, ist, dass der Begriff ‚Ausländer‘ für die Jugendlichen zum einen ein absolut gängiger, normalisierter Begriff ist, der überall selbstverständliche Verwendung findet, ihnen jedoch zum anderen, da sie selbst sich „zum Teil“ oder „mehr“ als deutsch sehen, „eigentlich“ und „im Prinzip“ gleichsam unangemessen, teilweise auch kontraproduktiv er-

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scheint. So spricht Samir, der einen deutschen Pass besitzt, im Interview von sich als „Ausländer“. Als ich ihn frage: „Wer sind Ausländer?“ (Interviewerin IS, 110) wiederholt er lachend die Frage, als sei sie absurd. Ich begründe meine Frage daraufhin mit dem Widerspruch, der sich für mich daraus ergibt, dass er zum einen „auch einen deutschen Pass [hat]“ und zum anderen sagt, er „gehöre […] zu den Ausländern“ (Interviewerin IS, 112). Samir formuliert dann ernst: Samir:

„Ja, also ich bin eigentlich, also ich finde, dass ich mehr, dass ich schon zu den Deutschen gehöre, weil ich b- ja, weil ich hier geboren bin, weil alles, ich lebe hier seitdem und alles. Fahr halt nur Urlaub ab und zu weg, aber auch selten so. In mein Land zurück sag ich mal, mein- von meinen Eltern das Land, um es besser zu formulieren. Ja, und aber für den, für den ganzen, für die ganzen Deutschen und so, bleibe ich ja ein Ausländer, weil meine Haare, ich bin schwarz und meine Eltern kommen aus W-Land und ja, denken nicht daran, dass ich hier geboren bin und seitdem hier lebe und alles. Ja.“

Interviewerin: „Und wie findest du das?“ Samir:

„Ja, eigentlich ein bisschen blöd so, aber .. ich weiß auch nicht, die wissen ja selber- die wissen, die kennen mich vielleicht nicht vorher so und wissen nicht was sie sagen sollen, so was sie- wie die mich einschätzen sollen. Deswegen denken die bestimmt erst mal so: ‚Ja, der Ausländer‘ oder so.“ (IS, 113-115)

Samir findet es zwar „ein bisschen blöd“, dass er „für die ganzen Deutschen […] ein Ausländer“ bleibt, obwohl er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Aber dennoch nimmt er die Diskursposition als ‚Ausländer‘ auch ein. Er übernimmt nicht nur die Bezeichnung, die ihm von außen zugeschrieben wird, sondern auch die diskursiv vorhandenen Begründungen, die mit der Einnahme dieser Position wirkmächtig werden: Schwarze Haare, Eltern, die woanders geboren sind. Im alltäglichen Sprechen kategorisiert er sich selbst als „Ausländer“, obwohl er selber ‚eigentlich schon findet, dass er (mehr) zu den Deutschen gehört‘. Die Kategorisierung scheint für ihn, wenngleich nicht schön und auch nicht angemessen, so doch ‚normal‘ zu sein; und zwar auf eine Weise, dass er die Selbstverständlichkeit dieser unmittelbaren und machtvollen Kategorisierung jenen, die ihn ‚nicht kennen‘ und daher, weil sie ihn nicht ‚einschätzen‘ können, nicht ‚wissen, was sie sagen sollen‘, ihn zunächst und als allererstes als ‚Ausländer‘ kategorisieren, zumindest nachvollziehend zugesteht. Es ist Normalität, dass diese Kategorie zuvorderst aktiviert wird, dass Samirs vermeintlicher ‚Ausländer-Status‘ als erstes relevant gesetzt wird, er über diese Kategorie wahrgenommen wird, wenn es darum geht, ihn ‚kennen zu lernen‘, ihn ‚einzuschätzen‘ und also etwas über ihn zu erfahren. Auch Nesrin übernimmt die Fremdbenennung und -positionierung der anderen mitsamt ihren grenzziehenden Begründungen für sich selbst – allerdings ohne diese

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als unpassend zu reflektieren. Auf die Frage: „Sagst du von dir selber, du bist Ausländerin?“ (Interviewerin IN, 158), mit der ich ihren Begriff aufgreife, antwortet sie: „Ja. […] Alleine wie die Deutschen, die sagen so ja: ‚Ausländer, Ausländer‘ und so. Man weiß ja, dass man einen Unterschied hat. Sei es Religion, sei es Aussehen, sei es was weiß ich was. Du bist ja eine Ausländerin. Du bist ja nicht gleich wie eine Deutsche. Okay, ich mein, ich bin hier geboren und so […]. Du bist eine Ausländerin. .. Du bist ja keine Deutsche.“ (Nesrin IN, 161)

Als ich sie daraufhin frage, warum nicht, immerhin sei sie doch hier aufgewachsen und es gäbe ja auch Deutsche, die sich zum Islam bekennen und also ihre Begrün dung und auch ihre Selbstpositionierung als „Ausländerin“ hinterfrage, entgegnet sie: „Ja, aber was Papa ist, das bist du ja. Und Papa ist ja Ausländer. .. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll“ (Nesrin IN, 163). Nicht nur in Samirs und Nesrins Aussagen wird deutlich, dass sowohl die dominanten, diskursiven Bezeichnungen übernommen werden, denen sie in ihrem Alltag ausgesetzt sind, als auch die Begründungsmuster, mit denen die diskursive Verweigerung ‚deutscher Zugehörigkeit‘ legitimiert wird (vgl. z.B. auch Jamil IJ, 121127). Deutlich spiegeln sich in diesen auch gesellschaftliche Entwicklungen und Verhältnisse wider, die auf nationalstaatliche Entwicklungsprozesse und damit verbundene Mythen der Homogenität, politische Diskurse und rechtliche Bestimmungen zurückzuführen sind (vgl. Räthzel 1997; Hall 1994d). ‚Nation‘ wird hier als ein „System kultureller Repräsentation“ (Hall 1994d, 200), das „sowohl unsere Handlungen als auch unsere Auffassungen von uns selbst beeinflußt und organisiert“ (ebd., 201), wirksam. So kommt in Nesrins Aussage deutlich auch die politische Institutionalisierung solcher Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit zum Ausdruck: Nesrin naturalisiert ihre Nicht-Zugehörigkeit, ihre Selbstbeschreibung als nicht-deutsch, indem sie auf die generationale Vererbbarkeit dieses Status und damit auch auf das in Deutschland geltende Abstammungsprinzip (ius sanguinis) zum (Nicht-)Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit hinweist. Ihr erscheint die Unterscheidungspraxis so selbstverständlich, die Trennung so deutlich und ‚natürlich‘ im ‚Sein‘ verankert, dass sie am Ende auch nicht mehr ‚weiß, wie sie das erklären soll‘. Und Samir lacht zum einen über die Frage, die ihm vermutlich ob der vermeintlichen Klarheit der Antwort absurd vorkommt und hat zum anderen – obgleich er ‚das eigentlich blöd findet‘ – Verständnis dafür, wenn andere ihn unmittelbar als ‚Ausländer‘ kategorisieren. In beiden Äußerungen wird deutlich, dass die diskursiv normalisierte Benennungs- und Unterscheidungspraxis mit wirkmächtigen Effekten einhergeht, 18 die so18 Vgl. auch Badawia 2002.

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wohl die Selbstverständnisse der Subjekte als auch die begrenzten Möglichkeiten des Benennens betreffen. Ihre stetige Benennung und Kategorisierung als ‚Ausländer‘ vor dem Hintergrund des herrschenden Zugehörigkeitsregimes führen dazu, dass Jugendliche diese Fremdpositionierung zu einem – mehr oder weniger akzeptierten – Teil ihres eigenen Zugehörigkeitsverständnisses werden lassen. Auch die Ausschließlichkeit, mit der Jugendliche zum einen positioniert werden und zum anderen aufgefordert sind, selbst diese Position des oder der ‚Anderen‘ zu beziehen, offenbart sich in ihren Erzählungen: Entweder man ist ‚Ausländer‘ oder man ist ‚Deutsch‘. Und ‚Deutsch‘, das machen die diskursiv vermittelten ‚Wahrheiten‘, das soziale Wissen um Zugehörigkeit, machen „die Deutschen“ deutlich, sind sie nicht. Entsprechend erscheint eine Selbstbenennung als ‚deutsch‘ angesichts einer selbstverständlichen Binarität von Zugehörigkeitsoptionen, die sowohl rechtlich in der Struktur deutscher Nationalstaatlichkeit verankert, als auch diskursiv allgegenwärtig ist, und in der sie als ‚Andere‘ gelten, kaum möglich und legitim. Und zwar auch dann nicht, wenn sie, wie etwa Amina, sich selbst nicht ‚Ausländer/in‘ nennen würden, weil sie „ja einen deutschen Pass“ (Amina IA, 162) und das Gefühl haben ‚eigentlich schon zu den Deutschen zu gehören‘. In den Lebenswelten der Jugendlichen entsprechen die Machtwirkungen von Unterscheidung und Benennung nicht den ‚offiziellen‘ Kriterien des ‚Ausländer‘Status. Die offiziell propagierten Definitionen und Logiken auf der einen und das Erfahren von Welt auf der anderen Seite widersprechen sich. Die inoffiziellen Marker, die nicht der offiziellen (Pass-)Logik entsprechen, wie etwa ‚schwarze Haare‘, ‚schwarze Haut‘ oder die Sprache, sind die eigentlich wirkmächtigen Bedingungen, die Platzanweiser innerhalb einer sozialen Zugehörigkeitsordnung, nach denen darüber entschieden wird, wer legitime/r Deutsche/r ist, wer dazu gehört und wer nicht und in der ein ‚auch‘, eine Bindestrich-Identität, keine naheliegende, selbstverständliche oder akzeptierte Möglichkeit der Selbstbezeichnung darstellt. 19

19 Die Fremd- und Selbstbezeichnung ‚Ausländer‘ bzw. ‚Ausländerin‘ ist damit nicht nur widersprüchlich in ihren Begründungen sowie ihren diskursiven und nicht-diskursiven Machtwirkungen, sondern darüber hinaus auch insofern absurd, als sie faktisch ‚falsch‘ ist. Denn viele besitzen den deutschen Pass, sind also formal Deutsche, machen aber in ihrem Alltag die Erfahrung, dass dieser Status ihnen nicht zuerkannt wird, sie nicht zur deutschen Gesellschaft dazugehören, keine Deutschen, sondern ‚Andere‘, eben ‚NichtDeutsche‘ sind. Während ihnen also formal gesagt wird, sie seien ‚Deutsch‘, wird ihnen diskursiv vermittelt, sie seien es nicht. Paradoxerweise wird aber zuweilen gleichzeitig ein Bekenntnis zum ‚Deutsch-Sein‘, die Identifikation mit Deutschland und Deutsch-Sein gefordert – etwa im Zuge von Integrationsdebatten –, eine Selbstbeschreibung Jugendlicher unter Bezugnahme auf die Herkunftsnationalität (der Eltern) beklagt und zum Vorwurf gemacht sowie als Zeichen mangelnden Integrationswillens bewertet.

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‚Deutsch kann man nicht werden‘ Vor diesem Hintergrund scheint es schwierig, alternative Begriffe zu finden, mit denen Selbstverständnisse und nationale Mehrfachzugehörigkeiten 20 gedacht und verbalisiert werden könnten. Milot startet einen zaghaften Versuch der Neu-Definition, indem er sagt: „Ich bin ein Y-Länder mit deutschem Staatsaufenthalt“ (Milot PZ, 214) – woraufhin er sofort verbessert wird: „Staatsangehörigkeit“ (Qerim PZ, 215). Eigentlich, so wird schnell deutlich, kann Milot sich auch mit einer solchen ‚Kompromiss-Bezeichnung‘ nicht identifizieren. Sie klingt fremd und seltsam. Er entgegnet: „Staatsangehörigkeit oder so was“ (Milot PZ, 216). Und im Grunde genommen geht es ihm vor allem darum, dass es für ihn, wie für die anderen auch, nicht möglich ist, sich als ‚deutsch‘ zu bezeichnen; mit all den Bedeutungen und Verwehrungen, die mit diesem Begriff verbunden sind. Und dennoch ist Deutschland überaus relevant, ist es das Land, in dem die Jugendlichen leben und aufgewachsen sind, das sie alle als ihre „Heimat“ bezeichnen und zu dem sie eine starke Verbindung haben, in das sie „eingewachsen“ sind: „Ich bekenne mich nicht wirklich als Deutscher, weil ich bin- ich kann auch nicht werden wie ein Deutscher, weil ich bin auch kein Deutscher. Aber ich hab halt- Ich bin hier einfach so .. eingewachsen. Oder wie sagt man, eingelebt […]. Ich bin eingelebt, sozusagen.“ (Milot PZ, 216, 218)

Das selbstverständliche Benutzen von Bindestrich-Identitäten hat sich in Deutschland (noch) nicht durchgesetzt – anders als in anderen Ländern, in denen das starre ‚Entweder-Oder-Prinzip‘ etwas aufgeweicht ist, indem etwa relativ selbstverständlich von British-Asian oder Arab-American die Rede sein kann. Der einzige Begriff, den ihnen der deutsche Diskurs zumindest offiziell als Alternative zu offerieren vorgibt, nämlich ‚Deutsch‘, stellt für die Jugendlichen keine Option dar. Nicht nur, weil sie von außen nicht als solche erkannt und benannt werden, eine solche Benennung in ihrer Lebenswelt also nicht als tatsächliche Option vorkommt, sie eher das Gefühl haben, das ‚Ausländer-Label nie loszuwerden, egal was sie machen‘ (vgl. Husai FP in Kap. 2.1), und sie die stetige Erfahrung machen, als ‚Andere‘ kategorisiert und entsprechend in der dominanten Zugehörigkeitsordnung, die auf Deutschland Bezug nimmt, positioniert zu werden. Die Jugendlichen verstehen sich darüber hinaus auch nicht nur als deutsch – wenngleich auch; was angesichts der eigenen Biografien und der stetigen Alltagserfahrung des Deplatziert-Werdens überaus nachvollziehbar ist. In einer Plenumsdiskussion wird eben dies in Aminas Begründung auf die – ebenfalls Binarität reproduzierende – Frage, „warum […] es 20 Mecheril kommt in seiner Studie zu dem Schluss, dass „natio-ethno-kulturelle Mehrfach zugehörigkeit“ vor dem Hintergrund von Gesellschaften, die sich national unterscheiden, „als von vornherein prekäres Phänomen“ (Mecheril 2003, 388) zu beschreiben ist.

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einfacher [ist] zu sagen: ‚Ich bin Ausländerin‘ als ‚Ich bin Deutsche‘?“ deutlich, wenn sie sagt: „Weil man hier irgendwie schon sich fremd fühlt […]. Dass man merkt- man ist ja- kann man sich nicht wirklich mit den anderen identifizieren“ (PZ, 235-236). Dann, so die alternative Option im Entweder-Oder-Diskurs, wählen die Jugendlichen lieber das Land ihrer Geburt bzw. das ihrer Eltern, mit dem sie sich im beengten Rahmen dieses ‚Entscheidungsmodells‘ eher identifizieren können – auch wenn sie „da nicht so viel [kennen]“, so wie zum Beispiel Yousef, der nur „zweimal da [war]“ (Yousef FP). Hinsichtlich ihrer ausgrenzenden Effekte wird die Bezeichnung ‚Ausländer‘ von einigen der Jugendlichen scharf kritisiert: Denn „Ausländer, heißt ja schon Ausländer. Und das ist ja von Aus- von außerhalb des Landes. Und ich lebe ja in diesem Land“ (Amina IA, 166). Ähnlich auch Duygu: „Aber zu sagen ‚Ausländer‘, das fängt ja schon mit Aus an! Das hört sich bei mir schon so an, als würde man nicht dazu gehören“ (Duygu FP). Filiz besteht darauf, nicht als ‚Ausländerin‘ und auf keinen Fall als ‚Deutsche‘ bezeichnet zu werden und sagt von sich, sie ist V-Länderin. In der Forschungswerkstatt erzählt sie, dass sie vorhat, nach V-Land auszuwan dern. Im Einzelinterview frage ich sie nach den Gründen, und Filiz gibt an, dass sie sich beiden Ländern, Deutschland und V-Land, stark verbunden fühlt, und sie über Auswanderung deshalb nachdenkt, „[w]eil, das ist auch schon wieder so Zugehörigkeit. Ich gehör hier nirgendwo zu. […] Und das ist halt auch wegen der Zugehörigkeit. Weil, ich weiß nicht, ich fühl mich in Deutschland manchmal nicht wohl so. Das ist schon alles schön hier und es gibt auch so und so, aber immer wirst du irgendwo dann als Ausländer bezeichnet oder so. Oder wenn irgendwas passiert oder so, dann kommen die Leute immer direkt erst zu dir an und sagen: ‚Ja, weißt du irgend was davon?‘ oder so. Zum Beispiel mit Klauen oder was halt auch immer. Das habe ich auch schon so ein paar Mal erlebt, obwohl ich sagen würde, ich würde mir lieber die Hand abhacken lassen anstatt mir irgendwas einzustecken.“ (Filiz IF, 55)

Obwohl Filiz eigentlich keine Gelegenheit auslässt, sich über den Ausländer-Begriff, vor allem als ausgrenzende und ausschließende Fremdbezeichnung, zu beschweren, zieht sie ihn als Selbstbezeichnung dennoch der Bezeichnung ‚deutsch‘ vor und bringt dies in der Plenumsdiskussion zu Zugehörigkeiten folgendermaßen auf den Punkt: Interviewerin: „[A]lso ihr sagt ja alle von euch: ‚Wir sind Ausländer‘-“ Interviewer:

„Wollt ich jetzt auch gerade-“

Interviewerin: „wenn ich euch richtig verstanden hab-“ Interviewer:

„Was meint ihr mit Ausländern?“

Filiz:

„Wir gehören nicht zu diesem Land.“ (PZ, 176-180)

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Dass Jugendliche solche Selbstbezeichnungen in der Regel vorziehen, hat also mit einem Gefühl von Nicht-Zugehörigkeit und Identifikations(un)möglichkeiten im Zugehörigkeitskontext Deutschland zu tun. Während ihre Zugehörigkeit zu Deutschland stetig hinterfragt wird, sie eine „prekäre Zugehörigkeit“ (Mecheril 2003, 295) erfahren, die sich durch mangelnde Anerkennung und das Wissen, dass sie aufgrund ihrer Abweichung von einem imaginierten deutschen Prototyp keine ‚eigentlichen‘ Mitglieder dieser Gesellschaft sind, auszeichnet (vgl. ebd., 299), bleibt die Wahl der Selbstbezeichnung als ‚Ausländer‘ bzw. ‚Ausländerin‘ 21 oder gemäß einer vermeintlichen ‚Herkunftsnationalität‘ meist nicht nur unwidersprochen, sondern wird zudem, diskursiv wie auch rechtlich institutionalisiert, von außen immer wieder als selbstverständliche Position nahegelegt. Diese kategoriale (Nicht-)Zugehörigkeit entspricht, wie oben erwähnt, auch den Erfahrungen der Jugendlichen im sozialen Nahraum: Unhinterfragte Zugehörigkeit, Verständnis und Solidarität insbesondere im Hinblick auf ‚Migrationsfragen‘, so schildern einige Jugendliche, erleben sie vor allem in Gruppenzusammenhängen mit jenen, die ebenfalls als ‚Ausländer‘ kategorisiert werden, die in dieser Hinsicht ähnliche Erfahrungen machen, an ‚Orten lokaler Normalität‘ (vgl. oben; Dausien/Mecheril 2006). Die nationalen Zugehörigkeitsverständnisse der Jugendlichen jedoch sind eigentlich als doppelte oder auch Mehrfachzugehörigkeiten zu beschreiben, als ‚sowohl-als auch‘ statt ‚entweder-oder‘; für welche sie jedoch weder Worte noch Akzeptanz finden. Mecheril und Hoffarth (2009, 258f.) sprechen auch von einem „Doppel-Status“, der „von einer auf die Einwertigkeit sozialer Zugehörigkeit angewiesenen Ordnung hervorgebracht und von dieser Ordnung nicht anerkannt“ wird. Angesichts dieser Verhältnisse und in Ermangelung für sie sichtbarer Alternativen und gangbarer Wege bezeichnen Jugendliche sich selbst und andere entweder gemäß der nationalen Herkunft (der Eltern) oder – zusammenfassend – als ‚Ausländer‘ und ‚Ausländerinnen‘, nehmen viele die ihnen diskursiv nahegelegte Subjekt- und Diskursposition als ‚ethnisierte Andere‘ oder ‚Ausländer‘ – mitunter widerwillig, aber auch widerständig – ein. Grund hierfür ist die binäre Struktur des Positionierungszwangs, wie sie sowohl in diskursiven Bedeutungskonstruktionen normalisiert als auch rechtlich – im deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz, als Abstammungsprinzip oder, unter spezifischen Voraussetzungen, als binäres Optionsmodell 22 – verankert ist. 21 Der Euphemismus ‚mit Migrationshintergrund‘ ist für die Jugendlichen übrigens ganz offensichtlich keine Alternative. 22 Dieses bzw. der ‚Optionszwang‘ [sic!] verlangt in der Regel, dass Kinder ausländischer Eltern, die mit der Geburt in Deutschland die Staatsangehörigkeit der Eltern und die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, spätestens mit dem 23. Lebensjahr eine Entscheidung für die eine oder die andere Staatsbürgerschaft treffen. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD von 2013 heißt es jedoch: „Für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder ausländischer Eltern entfällt in Zukunft der Optionszwang.“

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Nora Räthzel interpretiert Formen der Einnahme von ethnisierten Subjektpositionen, wie Jugendliche sie hier schildern, vor dem Hintergrund eigener Studien (vgl. Räthzel 2008) als Praktiken widerständiger „Selbstethnisierung“ und „Strategie des Umgangs mit ethnischer Ausschließung“, die von Jugendlichen „in einem Akt des (vergeblichen) Widerstandes zur Selbstdefinition benutzt wird“ (Räthzel 2003, o.S.). Auch Kien Nghi Ha spricht von „Selbstethnisierung“ (Ha 2000, 378) und interpretiert solche Praktiken in ähnlicher Weise: als Reaktion, die auf das vergebliche Bemühen folgt, sich zu assimilieren (vgl. ebd.). Ihm zufolge kann die Betonung ethnischer Identität als Eingliederung in eine größere Gemeinschaft verstanden werden, die vor dem Hintergrund erfahrener Ablehnung in einer rassistisch strukturierten Migrationsgesellschaft ein Gefühl persönlicher Selbstbestätigung und -aufwertung vermitteln kann, indem „die eigene ethnische Herkunft vom Zeichen der Minderwertigkeit und Unterlegenheit zum identitätsstiftenden Privileg umgewertet wird“ (ebd., 379). Er sieht hierin eine Strategie, mit der Zusammengehörigkeit, Solidarität und Handlungsfähigkeit erzeugt werden können (vgl. ebd.). In der vorliegenden Analyse wurde jedoch auch deutlich, dass trotz aller Widerständigkeit, die sich in der Einnahme dieser Position durch Jugendliche auch spiegelt, keinesfalls übersehen werden darf, dass die Einnahme solcher Subjektpositionen ganz wesentlich von mangelnden Alternativen, von einem binär strukturierten Positionierungszwang und der Unmöglichkeit des (akzeptierten) ‚Deutsch-Seins‘ gekennzeichnet sind. Den Begriff der „Selbstethnisierung“, wie Räthzel und Ha ihn nutzen (ähnlich bspw. auch Akka 2008; Can 2008), der diesen Druck, die identitären Ambivalenzen und die Begrenztheit der Möglichkeiten in einem machtvollen Zwangsverhältnis binärer Zugehörigkeit kaum widerspiegelt und stattdessen eher einen Unterton der ‚freien, widerständigen Entscheidung‘ impliziert, halte ich daher für problematisch. Diskursive ‚Selbstausgrenzung‘ Deutlich kommen in den Aussagen der Jugendlichen sowohl die Widersprüche des Rückgriffs auf den Begriff ‚Ausländer‘ und seine Unzulänglichkeiten zum Ausdruck als auch die Wechselwirkungen dieser ‚beidseitigen‘ Benennungspraxis, die die Jugendlichen zum Teil selbst identifizieren und benennen. So begründet Jamil, dass er alle, die wie ‚Ausländer‘ aussehen – einschließlich sich selbst –, „deswegen“ auch als „Ausländer“ bezeichnet: „Ich sehe so aus wie ein Ausländer und er sieht so aus wie ein Deutscher“ (Jamil IJ, 124). An anderer Stelle betont er hingegen auch, dass „wir […] uns ja eigentlich nicht selber […] in diese Ausländerpackung gesteckt [haben]“ (Jamil GD2J, 53). Diskursive Bedeutungskonstruktionen, Fremd- und Selbstbezeichnung, ihnen selbstverständlich offerierte und für sie nicht vorgesehene Subjektpositionen sowie Identifikationen sind ambivalent miteinander artikuliert. Wenn „es immer Ausländer, Ausländer“ heißt, dann, so erklärt

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Amina ähnlich wie Nesrin, „automatisch sagt man das auch selber“ (Amina IA, 374). Milot und Amina erkennen in dieser Ambivalenz von Fremd- und Selbstbeschreibung eine Ausgrenzungspraxis, an der sie durch ihre Selbstbenennung und -kategorisierung aktiv beteiligt sind. Ähnlich wie mit der selbstbestimmten Zuordnung zur Gruppe der Mädchen in der Cafeteria (vgl. oben) verhält es sich auch mit der Nutzung des Ausländerbegriffs: Auf diese Weise, so Amina, „[s]chließen wir uns selber aus“ (Amina PZ, 200; vgl. Amina IA, 447). Und auch Milot meint: „wenn wir halt selber schon anfangen so zu sagen: ‚Ja, wir Ausländer […]‘ dann […] grenzen wir uns ja sozusagen selber aus, weil wir ja selber schon sagen: ‚Ja, wir Ausländer‘ […]. Wie sollen die da schon damit umgehen, wenn wir das auch schon so sagen, ist doch klar, dass die dann auch so weitermachen.“ (Milot IM, 39)

In Milots Deutung der Verwobenheit von Fremd- und Selbstbezeichnung ist es die Selbstbezeichnung, die Einfluss auf das Handeln von ‚denen‘ hat. Die Selbstbenennung als ‚Ausländer‘ führt zur Legitimation für andere, sie als ‚Ausländer‘ betiteln zu können und ist damit verantwortlich für die eigene Kategorisierung als ‚Andere‘ von außen und die damit einhergehende Unterscheidungspraxis; sie ist verantwortlich für die eigene Ausgrenzung: ‚Selbstausgrenzung‘. Auch das alltägliche, unreflektierte Sprechen über ‚Ausländer‘ ist in den Perspektiven von Milot und Amina mit (Selbst-)Ausgrenzung verbunden, und mit Automatismen. Benennungs- und Ausgrenzungspraktiken stehen in einem engen Zusammenhang, dessen sind sich die beiden bewusst; und dennoch ist das Vermeiden des Begriffes im Alltag für beide schwierig. Amina erklärt, „man wird ja automatisch schon abgegrenzt“, wenn „immer über Ausländer, Ausländer geredet“ wird und sagt daher auch, sie würde sich „eigentlich […] gar nicht als Ausländerin bezeichnen! Aber dadurch, dass alle so zu mir sagen, kann ich dann auch nicht irgend wie einen anderen Begriff sagen oder so, sage ich natürlich auch Ausländerin“ (Amina IA, 160). Hingegen fragt Milot sich im Gespräch offensichtlich zum ersten Mal, woher dieser Begriff kommt und wieso er ihn überhaupt verwendet: „das kommt halt automatisch so, ich weiß nicht woher das so- wo ich das aufgeschnappt habe so, dass ich das jetzt so immer selber schon sage […] keine Ahnung damit, ja ich weiß auch nicht, keinen Plan, ich- das ist einfach selber so, das kommt halt von alleine.“ (Milot IM, 49)

Der diskursiven Macht von Sprache sind die beiden sich also durchaus bewusst. Je doch ist nur aufgrund eines Bewusstseins dafür, dass Sprache auch Realitäten hervorbringt, ein widerständiges Sprechen oder ein Sprechen jenseits der im dominanten Diskurs nahegelegten Begrifflichkeiten und den damit verbundenen Bedeu-

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tungszuweisungen noch nicht einfach praktizierbar. Auf die Frage, warum er den Begriff benutze, wenn er doch zu ‚Selbstausgrenzung‘ beitrage, sagt Milot: „Ja. ich weiß nicht, weil ich gar nicht so- Also, ich persönlich so ich sage das, das kommt einfach so, von Gewohnheit her so, weil ich weiß gar nicht wie ich das sonst sagen soll“ (Milot IM, 41). Amina spricht von dem „Standardbegriff“ (Amina IA, 166), an dem man nicht vorbeikommt, weil es keinen anderen Begriff gibt; denn: „Alle sagen ja Ausländer. […] Und wenn die keinen anderen Begriff sagen, sagt man auch irgendwann selber auch“ (Amina IA, 166). Beiden, so scheint es, mangelt es sowohl an ‚Übung‘, im Alltag jenseits vorherrschender Normalitäten zu denken und zu sprechen, vor allem aber auch an alternativen (und akzeptierten) Worten und Bezeichnungen. Sich im alltäglichen Sprechen widerständig gegenüber den normalisierten Benennungen und Kategorisierungen und ihren Machtwirkungen zu zeigen, gestaltet sich für die Jugendlichen vor dem Hintergrund ihrer relativ marginalisierten Position gegenüber dieser Dominanz und angesichts mangelnder Alternativen schwierig. Deutlich ist die machtvolle Wechselwirkung zwischen Fremd- und Selbstbezeichnung bei allen Jugendlichen auszumachen. Mit der Selbstbezeichnung ‚Ausländer‘ nehmen sie oberflächlich betrachtet eine im herrschenden Diskurs nahegelegte Position ein und reproduzieren damit in gewisser Weise Binarität 23 – allerdings geschieht dies bei genauerem Hinsehen subjektiv begründet und oftmals im Bewusstsein damit einhergehender Widersprüchlichkeiten und negativer Effekte. So wird die Fremdbezeichnung zum einen von den Jugendlichen entsprechend des herrschenden Diskurses zur Markierung mitsamt den ‚gängigen‘ Unterscheidungsmerkmalen verwendet und zum anderen – auch identifikatorisch – als Selbstbezeichnung übernommen, die in der Regel subjektiv sehr spezifische und ambivalente Bedeutungen hat. ‚Ausländerin‘ und ‚Ausländer‘ wird als Selbstbezeichnung benutzt, weil ihnen deutlich gemacht wird, dass sie nicht deutsch sind, sie nicht zum selbstverständlichen ‚Wir‘, der Gesellschaft gehören, in der sie leben und aufgewachsen sind und ‚Ausländer‘ im Rahmen des vorherrschenden binären Positionierungszwangs die vermeintliche Alternative zum ‚Deutsch-Sein‘ darstellt. Als Resultat verweigerter Zugehörigkeit und mangelnder Alternativen wird ‚Ausländer‘ bzw. ‚Ausländerin‘ oder eine ethnisierte Selbstbezeichnung entsprechend der eigenen nationalen Herkunft bzw. jener der Eltern – obwohl sie von sich sagen, dass sie eigentlich auch deutsch sind, auch zu ‚den Deutschen‘ gehören – zur ambivalenten und zu23 Ähnlich wie Hall (vgl. Kap. III 2.1) weisen Mecheril und Messerschmidt darauf hin, dass Menschen, die als ‚Andere‘ gelten, dazu gezwungen sind, auf ihr vermeintliches AndersSein sowie die Kategorien, die ihnen dazu im dominanten Diskurs zur Verfügung gestellt werden, Bezug zu nehmen, um sich innerhalb bestehender sozialer Strukturen als Subjekte artikulieren zu können (vgl. 2007, 280).

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gleich widerständigen Selbstbezeichnung. Mit Hall lässt sich dies auch als Akt der Artikulation zwischen Subjekt und Diskurs theoretisieren, in dem „the question of identity recurs“, bzw. „the question of identification“, „if one prefers to stress the process of subjectification to discursive practices, and the politics of exclusion which all such subjectification appears to entail“ (Hall 1996, 2; Herv. i. O., Kap. III 2.1). Benennungspraktiken lassen sich mithin als ambivalente, den Jugendlichen in ihrer Ambivalenz zum Teil durchaus bewusste, kontextabhängige diskursive Praktiken rekonstruieren, die sich vor dem Hintergrund machtvoller Verhältnisse zum einen im Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit und ‚(Selbst-)Ausgrenzung‘, zum anderen zwischen Problematisierung von Normalität und Normalisierung dieser Normalität bewegen. ‚Ausländer‘, so wird deutlich, ist für Jugendliche eine normalisierte, alternativlos erscheinende Fremdbezeichnung, der sie sich trotz des Wissens um ambivalente Effekte kaum zu entledigen vermögen. Einerseits lassen gesellschaftlich normalisierte Benennungspraktiken kaum Raum für das Denken von alternativen Bezeichnungen, die besser zu den eigenen Selbstverständnissen und Relevanzen passen würden, andererseits stellt die Bezeichnung ‚Ausländer‘ sich in den Lebenswirklichkeiten der Jugendlichen als eine so dominante Fremdbezeichnung dar, dass selbst, wenn ihnen eine eigene, passendere Selbstbezeichnung einfiele, das Durchsetzen dieser entgegen der dominanten Fremdbezeichnung überaus viel Kraft kosten würde. Es stellt sich also die Frage, wie es möglich ist, über etwas zu sprechen und sich zu etwas zu verhalten, von dessen allgemein geteilten Bedeutungen man sich eigentlich distanzieren will, gegen dessen Effekte man sich eigentlich wehren will, das subjektiv betrachtet aber dennoch und auch deswegen von Bedeutung ist? Wie ist es beispielsweise möglich, innerhalb eines sehr dominanten, relativ engen und vereindeutigenden Diskursrahmens der Interviewerin deutlich zu machen, dass dieses Etwas in besonderer Weise wichtig ist und Lebenswirklichkeiten ausmacht – aber eben nicht so, wie in der Regel von außen, und vielleicht auch von der Interviewerin, unterstellt und vermutet wird? Es scheint kaum möglich, die je eigenen Relevanzen deutlich zu machen, ohne auf das dominante Kategorien- und Bedeutungssystem zurückzugreifen. Es ist schwierig, den Lücken im Bedeutungssystem neue Namen zu geben, herrschende Bedeutungen zu verschieben und Kategorien neu zu benennen und zu besetzen. Es ist schwer, mit bedeutungsschwangeren Worten etwas zu beschreiben, das subjektiv eine andere Bedeutung besitzt, als das allgemeingültige Bedeutungszusammenhänge selbstverständlich nahe legen. Und es stellt sich die Frage, wo die neuen Worte herkommen sollen.

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Anders als andere ‚Andere‘ Wie Milot und Amina, aber auch Filiz bereits festgestellt haben (s. oben), sind Benennungspraktiken und Effekte der Ein- und Ausgrenzung nicht voneinander zu trennen. Und so ist der Rückgriff auf den Begriff ‚Ausländer‘ bzw. ‚Ausländerin‘ als Selbstbezeichnung und als Markierung für andere auch nicht nur ein Effekt dominanter Diskurse, sondern gleichfalls Produkt von Rassismuserfahrungen, die mit dieser Benennungspraxis einhergehen. Das Bezeichnen von sich und anderen als ‚Ausländer‘ auf der Grundlage des äußeren Erscheinungsbildes ist also nicht lediglich ein unhinterfragtes Übernehmen und Reproduzieren wirkmächtiger Bedeutungskonstruktionen (Deutsch [= ‚deutsch‘ aussehend] versus Nicht-Deutsch [= nicht ‚deutsch‘ aussehend]), sondern zugleich die kategorisierende Bezeichnung für die Gruppe jener, denen die gleichen Erfahrungen von verweigerter Zugehörigkeit und Rassismus zugeschrieben werden (vgl. oben). Dies spiegelt sich auch in den Kategorisierungen wider, mit denen Jugendliche zwischen jenen, die Rassismuserfahrungen machen, und jenen, die diese Erfahrungen nicht machen müssen, unterscheiden. Die binäre Aufteilung in ‚Ausländer‘ und ‚Deutsche‘ auf Grundlage von Pass- und Herkunftslogiken reicht dafür in ihren Augen für eine ‚angemessene‘ Kategorisierung jedoch nicht aus. Es ist auffällig, dass Jugendliche wiederkehrend eine deutliche Grenze zwischen ‚schwarzen‘ und ‚weißen Ausländern‘ ziehen (vgl. GD1, 510ff.) 24, zwischen 24 Während die Jugendlichen im Gespräch nach den Spielregeln suchen, nach denen ver schiedenen Jugendlichen an verschiedenen Tagen Einlass in eine Diskothek gewährt bzw. verwehrt wird, fasst Samir die gemeinsamen Beobachtungen zusammen und stellt fest, dass es einmal „Black-Party“ gibt und einmal „White-Party“. ‚Black‘ bezieht sich dabei sowohl auf die Musik als auch auf das Publikum: ‚Black-Party‘ ist, wenn „wir Südländer oder Schwarze halt reinkommen“ (Samir GD1, 514), „dann kommt immer jeder rein“, so auch Filiz (GD1, 370). „White Party“ ist entsprechend, „[w]enn zum Beispiel nur Russen, Deutsche, Polen oder so reinkommen“ (Samir GD1, 512). Samir denkt darüber nach, ob die Türsteher „vielleicht schon unter sich selber so im Kopf [haben]: ‚Ja, einmal brauchen wir die weiße Party, einmal die braune Party‘“ (Samir GD1, 510). Diese ‚grobe Sortie rung‘ entspricht den Beobachtungen und Erfahrungen der meisten Jugendlichen. Allerdings bleibt auch diese binäre Kategorisierung nicht frei von Widersprüchen: Milot wirft cool ein: „Ja, ich bin weiß“ (GD1, 517), und es wirkt, als sei ihm Samirs These zu einfach, denn auch wird regelmäßig an Diskothekentüren abgewiesen, obwohl er sich als ‚weiß‘ beschreibt. Milot fühlt sich durch diesen Erklärungsansatz offenbar nicht repräsentiert bzw. zweifelt an seiner Gültigkeit. Samir versucht seine These mit einem weiteren Beispiel zu stützen und sagt abschließend über Milot in die Runde: „Er ist ein Y-Länder. Da gibt es braune und halt weiße von.“ Er lacht – und Milot entgegnet lachend: „Schnauze!“ (GD1, 522, 523). Die Spielregeln für Ein- und Ausgrenzung auszumachen, ist hier wie auch in anderen Passagen ein schwieriges Unterfangen (vgl. Kap. 2.3).

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‚Schwarzhaarigen‘ und ‚Blonden‘ (vgl. z.B. Filiz IF, 11). Ihre Begründungen für diese Grenzziehung, die sie mit Beispielen aus ihrem Alltag belegen, sind immer ähnlich: Zum einen würden Letztere von außen nicht als ‚Ausländer‘ bezeichnet werden, zum anderen (bzw. deshalb) würden diese keine Rassismuserfahrungen machen – zumindest nicht in gleichem Maße wie sie –, sondern eher die Privilegien der ‚Deutschen‘ genießen. Einige Jugendliche berichten von Situationen, in denen sie miterlebt haben, wie diesen eine privilegiertere Behandlung zugekommen ist als ihnen selbst (was zu der Annahme führt, das sie keine Rassismuserfahrungen machen würden). Dies ist der Grund, warum sie – auch wenn diese qua nationaler Herkunft (der Eltern) „auch Ausländer“ (Jamil IJ, 101; Amina IA, 184) sind, wie etwa Jamil (vgl. IJ, 121-128), Filiz (vgl. IF, 11) und Amina (vgl. IA, 179-186) betonen –, von vielen Jugendlichen nicht gemeint sind, wenn von ‚Ausländern‘ die Rede ist. Sie seien eher die gleiche Kategorie wie „die Deutschen“: Ihnen wird, den Beob achtungen von Jugendlichen zufolge, zum Beispiel in Diskotheken ungehindert Einlass gewährt (auch dann, wenn sie männlich sind und nicht Black-Beat-Abend ist) (vgl. GD1, 511-514), beim Einkauf werden sie keiner Taschenkontrolle unterzogen (vgl. Jamil IJ, 101-111) und in der Schule müssen sie nicht mit Ausgrenzung oder Sonderbehandlungen rechnen (vgl. Amina IA, 184). Darüber hinaus solidarisieren sie sich Amina und Filiz zufolge teilweise sogar mit ‚den Deutschen‘, wenn es um rassistische Ausgrenzungspraktiken geht (vgl. Amina IA, 172-184; Filiz IF, 5-29). 25 Dass sich in ihrem Erleben von Welt nicht nur hierarchisierende Differenzen zwischen als ‚ausländisch‘ und als ‚deutsch‘ kategorisierten Personen manifestieren, sondern es zudem offensichtlich eine soziale Ordnung innerhalb der Kategorie ‚Ausländer‘ gibt, die unausgesprochenen und der ‚offiziellen‘ Regelung – die qua Pass und nationaler Herkunft ‚Deutsche‘ von ‚Nicht-Deutschen‘ trennt – widersprechenden Regeln folgt, wird unter anderem in einer Erzählung von Filiz deutlich: Sie berichtet, wie sie und zwei andere Mitschülerinnen, die in ihrer Grundschulklasse „in der Minderheit [waren]“, beim gemeinsamen Spiel auf dem Schulhof mit den Worten: „‚[L]ass uns doch mal ohne Ausländer spielen‘“ ausgegrenzt wurden (Filiz IF, 11). Auf dem Schulhof entwickelte sich daraufhin eine rassistische Willkür-Kultur, die für Filiz und ihre beiden Mitschülerinnen zur Folge hatte, dass Mitspielen oder Nicht-Mitspielen, „je nachdem wie die es wollten so ein Glücksspiel [war]: ‚Ja, heute spielt ihr mal mit. Nee, heute haben wir keine Lust auf Euch‘“ (Filiz IF, 11). Die drei ausgegrenzten Mädchen sahen sich dieser machtvollen Handlungspraxis gegenüber machtlos: „[W]ir konnten halt nichts machen, so wir waren die Min25 Es soll hier noch einmal betont werden, dass sich diese ‚Einteilungen‘ und mit ihr einher gehende Bedeutungszuschreibungen keineswegs automatisch auf das persönliche Verhältnis Jugendlicher zu Personen auswirken, die diesen Gruppen zugeordnet werden: Alle Jugendlichen sind auch mit ‚Deutschen‘ und anderen Jugendlichen, die sie nach diesem Prinzip nicht als ‚Ausländer‘ kategorisieren würden, befreundet.

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derheit, drei Mädchen.“ Aber „eigentlich“, so fährt Filiz fort, waren sie gar nicht zu dritt in der Minderheit: „Und das war halt eigentlich auch so, da waren auch ausländische Mädchen dabei so oder die ursprünglich nicht aus Deutschland kommen, die waren dann aber blond und dann fiel das nicht auf, dann hieß es: ‚Nee, das ist aber was anderes‘. Und wir waren halt die einzigen dunkelhaarigen und so. .. Ja. Tat auch ganz schön weh, wenn man als Kind schon so was mitkriegt.“ (Filiz IF, 11)

Auch Amina berichtet in einer Passage unseres Gespräches, dass ausschließlich sie als ‚besondere Andere‘ ins Visier der Aufmerksamkeit gerät, ihre zwei Mitschülerinnen, die „ursprünglich aus Polen kommen“, scheinen hingegen gar nicht aufzufallen: „[W]enn irgendein Lehrer, irgendwas hat, dann [werde] sofort ich angesprochen“, so Amina (Amina IA, 184). Das führt zu der widersprüchlichen Erfahrung, dass Amina sich als ‚Ausländerin‘ in der Klasse, wie sie während der gesamten Datenerhebung betont, alleine und Filiz sich ‚zu dritt in der Minderheit‘ sieht und fühlt; obwohl das dem Kriterium der nationalen Herkunft folgend nicht stimmt. Amina wird von ihrem Lehrer angesprochen, weil sie augenscheinlich „dann als einzige da sitz[t], aber dabei“, so Amina, „habe ich noch zwei andere Mitschüler, die halt auch ursprünglich aus Polen kommen“ (Amina IA, 184). Diese werden Amina zufolge nicht, wie es bei ihr der Fall ist, als ‚Ausländerinnen‘ kategorisiert und vom Lehrer als ‚besondere Andere‘ angesprochen und damit anders als der Rest der Klasse behandelt. Filiz erlebt, dass sie und ihre „dunkelhaarigen“ Mitschülerinnen ausgegrenzt werden, wohingegen jene, die „ursprünglich nicht aus Deutschland kommen, […] die dann aber blond [waren] […] nicht auf[fielen]“ und nicht zur Zielscheibe von Rassismen wurden: Die, „[d]ie vom Typ heller waren“ durften mitspielen (Filiz IF, 13).26 26 Filiz berichtet im Rückblick, dass sie über diese rassistische Erfahrung noch nie gespro chen hat. Als Kind hätten sie sich „nie [wirklich] darum gekümmert. Wir habe nicht mit unseren Eltern darüber gesprochen, wir haben auch nicht mit unseren Lehrern darüber ge sprochen, weil wir noch kleiner waren, weil wir gar nicht verstanden haben, was die jetzt eigentlich von uns wollen und so. Dann haben wir einfach immer ‚Ok‘ gesagt und haben uns gefreut, wenn wir wieder gemeinsam spielen konnten“ (Filiz IF, 11). Für Filiz schien diese Ausgrenzungserfahrung, die sie „ohne bestimmten Grund“ (Filiz IF, 23) bzw. ohne für sie zu diesem Zeitpunkt ersichtlichen Grund, in der dritten Klasse machen musste, zwar schmerzhaft, sie sah sich zugleich aber offenbar einer Form der ‚Normalität‘ ausgesetzt, der gegenüber sie sich machtlos fühlte, die sie zudem nicht verstand und daher, so ihre Begründung, auch nicht beklagte, sondern in gewisser Weise für ‚normal‘ hielt und akzeptierte, nicht wusste, „dass es irgendwas Schlimmes ist“ (Filiz IF, 27). Darüber hinaus schien die Erfahrung aber auch mit Scham besetzt gewesen zu sein. Denn Filiz kann

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Amina, die sich jetzt, mit achtzehn Jahren, mit einer ähnlichen Ungleichheitserfahrung konfrontiert sieht wie Filiz in der Grundschule mit acht oder neun Jahren, denkt über mögliche Ursachen und Zusammenhänge nach. Die zugrunde liegenden Konstruktionskriterien und -effekte erscheinen ihr intransparent, unlogisch und unfair: Weil, „wenn man zu mir Ausländer sagt, sind die natürlich für mich auch Ausländer. Weil die auch ursprünglich aus einem anderen Land kommen“ (Amina IA, 184). Was Amina hier als überaus logische und in der Konsequenz richtige Überlegung erscheint, entspricht nicht ihren Erfahrungen. Und sie vermutet, dass diese ‚unlogische‘ Kategorisierung dennoch vorgenommen wird, weil: „[D]as sehen die anderen vielleicht nicht ein“ (Amina IA, 184). Amina spekuliert über die möglichen Gründe dafür. Sie überlegt, dass die implizite Hierarchisierung innerhalb dieser Kategorie etwas mit dem Grad der Abweichung von der ‚Normalität‘, von ‚den Deutschen‘ zu tun haben könnte: „Vielleicht hat sie ja die gleiche Religion, ja, das ist, okay. Da ist- haben die gleich“ (Amina IA, 184). Als ‚natürliche‘ Tatsache stellt sie darüber hinaus fest, dass „natürlich nur die Schwarzhaarigen […] als Ausländer bezeichnet [werden]“ (Amina IA, 184) – womit die ‚Polinnen‘ implizit und selbstver ständlich zu ‚Nicht-Schwarzhaarigen‘ werden –, und vermutet daraus ableitend, dass „die […] eigentlich die Leute, die .. aus Ost-Asien oder überhaupt so, nicht aus Europa kommen [meinen]. Das sind für die Ausländer dann“ (Amina IA, 186).27 sich zwar daran erinnern, dass sie versucht hat, die Situation zu verstehen und ihre Mutter gefragt hat: „‚Was ist eigentlich ein Ausländer?‘“ (Filiz IF, 25). Auf die Gegenfrage, die nach der Erklärung von ihrer Mutter folgte: „‚Warum?‘“, traute Filiz sich aber nicht, ihrer Mutter den Grund für ihre Frage zu erörtern: „Und ich habe mich dann auch nicht getraut irgendwas zu sagen. Dann habe ich gesagt: ‚Nee, das hat nur heute jemand zu mir gesagt‘, ich so: ‚Mehr nicht‘“(Filiz IF, 25). Auf meine Frage, „warum hast du das deinen Eltern nicht erzählt?“ (Interviewerin IF, 26), entgegnet Filiz: „Wiebke, das weiß ich jetzt doch nicht mehr. (beide lachen) Ich weiß nicht, ich weiß ehrlich nicht warum, habe aber mit niemandem darüber geredet. Habe ich in der Forschungswerkstatt das erste Mal irgendwie so darüber geredet. Weil ich- Schon alleine dass ich nach Hause gehe und sage: ‚Mama, was ist ein Ausländer?‘, dann weiß ich dass ich die Situation überhaupt nicht verstanden habe, was da überhaupt los war und so und ich dachte mir nur so (). Ich weiß nicht, wir haben uns jetzt nicht gedacht, dass es irgendwas Schlimmes ist oder so“ (Filiz IF, 27). Die Tatsache des ‚Nicht-Verstehens‘ und Nicht-Einordnen-Könnens der Rassismuserfahrung im Alter von acht, neun Jahren ist für Filiz im Rückblick ein zentraler Punkt, warum diese „erst recht“ „scheiße“ ist (Filiz IF, 29) und dazu geführt hat, dass sie sich nicht ‚gewehrt‘ hat, sie sich der Situation machtlos ausgeliefert sah: „[W]enn du älter bist, dann weißt du worum es geht, dann kannst du dich wehren und so und da waren wir so machtlos irgendwie“ (Filiz IF, 29). 27 Spiegelverkehrt zu diesen Überlegungen zur Kategorisierung als ‚Gleiche‘, als ‚NichtAusländer‘ sind in den Äußerungen von Amina auch die Kriterien zu lesen, mit denen sie

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Neben dem eher ‚unauffälligen‘, einem imaginierten ‚Normaltypus‘ von ‚DeutschAussehen‘ entsprechenden Äußeren sowie der Religion als vermeintlich verbindende Aspekte, gibt es jedoch auch Differentes, wie etwa die Sprache. Ein weiterer Grund für die Hierarchisierung könnte demzufolge auch die unterschiedliche Bewertung der Unterschiede sein: Amina berichtet, dass sie gemaßregelt und mit Anpassungsforderungen konfrontiert wird, wenn sie in ihrer Herkunftssprache spricht. Die beiden Mädchen hingegen, so Amina, können miteinander polnisch sprechen und bekommen von den Mitschülerinnen und Mitschülern dafür positive Aufmerksamkeit: „[D]a hören die natürlich sofort so, ja, hören die zu, und: ‚Ja, ich finde es interessant, wie die polnisch reden‘ und so. Aber wenn ich […] dann halt irgendwas so sage, oder so. So: ‚Ja, nee, man sollte sich anpassen‘ und so“ (Amina IA, 184). Ganz offenbar, so Aminas Schlussfolgerung, wird hier mit zweierlei Maß gemessen. Amina macht Unterscheidungen aus, die auf nicht-explizierte Spielregeln verweisen und für Amina nicht nachvollziehbar sind: „[A]npassen heißt ja eigentlich, dass alle dann sich anpassen müssen. Warum müssen dann halt […] bestimmte Person[en] sich anpassen? Das verstehe ich dann auch nicht“ (Amina IA, 184). In ihrer Reflexion von Unterscheidungen innerhalb ihrer Schulklasse stellt Amina dreierlei fest: Zum einen, dass die Regeln, nach denen sie und andere von außen als ‚Ausländer‘ definiert werden, andere hingegen nicht, zuweilen ziemlich flexibel und intransparent auftreten, und dass sie diese Regeln der anderen eigentlich gar nicht wirklich kennt: „Ich weiß nicht. Hab auch noch nie so gefragt, was für die Ausländer sind, aber .. ist schon interessant zu wissen, was die jetzt genau damit meinen“ (Amina IA, 186). Zum anderen, dass es eine soziale Ordnung gibt, innerhalb derer nicht nur die Kategorie ‚Ausländer‘ von der Kategorie ‚Nicht-Ausländer‘ getrennt ist, sondern es darüber hinaus offenbar eine Hierarchisierung innerhalb der Kategorie ‚Ausländer‘ gibt. Und des Weiteren, dass sie in dieser sozialen Ordnung vergleichsweise deprivilegiert positioniert ist: Gegenüber Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und gegenüber einer spezifischen Kategorie ‚anderer Anderer‘. Amina erfährt engere Möglichkeitsräume der Selbstpositionierung und des ‚Unauffällig-Seins‘, des ‚Normal-Seins‘, als sie dies bei anderen beobachtet, die ‚eigentlich auch Ausländer‘ sind; zugleich ist es Amina selbst jedoch ein zentrales Anliegen, insbesondere innerhalb ihrer Schulklasse, nicht aufzufallen, wie die anderen behandelt zu werden und dazuzugehören. Damit scheint ihren beiden Klassenkameradinnen in Aminas Perspektive zu gelingen, was ihr selbst nicht gelingt: Sie fallen nicht als ‚Andere‘ auf, werden nicht fortwährend in diese Subjektposition gerufen. Darüber hinaus „sieht sich“ zumindest eine von den beiden laut Amina selbst auch „eigentlich nicht als Ausländer“ (Amina IA, 186) und wird in diesem Selbstbild, im die Kategorisierung ihrer Person als ‚Ausländerin‘ als legitimiert erfährt: Neben ihrem Aussehen, den schwarzen Haaren, ist dies die Religion, der Islam, und die Herkunft aus einem Land außerhalb Europas.

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Gegensatz zu Amina – die sich selbst zwar auch als ‚teils deutsch‘ beschreibt (vgl. Amina IA, 164), in ihrer Selbstbeschreibung aber keine Akzeptanz erfährt – offenbar nicht hinterfragt. Amina vermutet, dass dies eng mit dem Äußeren zusammenhängt, wie im weiteren Verlauf dieser Passage deutlich wird, wenn sie fortfährt: „Ich weiß nicht, ob sie es, ob die es jetzt nur auf, wegen schwarze Haare, ob die deswegen das alles darauf beziehen“ (Amina IA, 186). Die Selbst- und die Fremdwahrnehmung sind in Aminas Perspektive deckungsgleich. Ihre Mitschülerin, ‚sie‘ sieht sich nicht als ‚Ausländerin‘ (vielleicht wegen den nicht-schwarzen Haaren?) und ‚die‘ sehen sie auch nicht so (und beziehen das vielleicht auch auf die nichtschwarzen Haare?). In den Augen von Amina ist den beiden Mitschülerinnen möglich, was für sie unmöglich ist: Sich erfolgreich als ‚Nicht-Ausländerin‘ zu positionieren und in dieser Positionierung akzeptiert zu werden. Dies ist in Aminas Augen ungerecht und scheint zugleich so etwas wie Neid bei ihr auszulösen. Was Amina jedoch kritisiert, ist, dass die beiden sich ihr und der sozial konstruierten Gruppe der ‚Ausländer‘ gegenüber ebenfalls ausgrenzend verhalten, indem sie aus ihrer Position als akzeptierte ‚Nicht-Ausländerinnen‘ heraus z.B. ebenfalls Anpassungsforderungen stellen. Was Amina aber von ihnen erwartet, ist Solidarität mit jener Gruppe, zu der sie ihr und der ‚Herkunftslogik‘ zufolge doch ‚eigentlich‘ auch ge hören, statt ein ‚Bündnis‘ mit ‚Nicht-Ausländern‘ einzugehen. Und eben dies, Unterstützung und Solidarität, wünscht Amina sich insbesondere in ihrer Schulklasse, in der die Selbstverständlichkeit, mit der Amina zur ‚Anderen‘ gemacht wird, unwidersprochen bleibt und sie die Rolle der „Alleinkämpferin“ (Amina IA, 464) gegen Rassismus einnimmt (vgl. Kap. 2.4). Wenngleich Aminas Argumentation und ‚Beschwerde‘ in subjektiver Perspektive und insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Position in ihrer Schulklasse und ihrem Wunsch nach Veränderung für mich durchaus nachvollziehbar sind, so greifen sie paradoxerweise doch auf ähnliche kategorisierende Logiken zurück, wie sie gleichfalls immanenter Bestandteil von Rassismen sind. Letztlich kritisiert sie nicht die grundsätzlich problematische Unterscheidung in verschiedene soziale Gruppen, die mit spezifischen, homogenisierenden Bedeutungen versehen sind, und die damit einhergehende ungleiche Machtverteilung zwischen Mehr- und Minderheiten. Nicht der zu Ungleichheiten führende, zugrunde liegende Mechanismus der homogenisierenden Unterscheidung wird beanstandet, sondern die Art, die Form der Kategorisierung, womit sie diese letztlich reproduziert. Die von Amina und Filiz geschilderten Situationen geben beispielhaft Auskunft darüber, dass sich die kategorisierende ‚Ausländer-Logik‘ nicht nur als widersprüchliche und unangemessene Bezeichnung, nicht nur als eine wirkungsvolle, zwischen ‚Ausländern‘ und ‚Nicht-Ausländern‘ unterscheidende Logik manifestiert, die mit spezifischen (Nicht-)Zugehörigkeitserfahrungen einhergeht. Sie präsentiert sich zu-

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dem als inkonsistente Praxis, die neben der vielfach explizierten ‚Herkunftslogik‘ ganz offenbar noch anderen, weniger expliziten Regeln folgt, welche für weitere Unterscheidungen innerhalb der ‚Ausländer-Kategorie‘ sorgen. Die ‚offizielle‘ Definition des Begriffs ‚Ausländer‘, die offizielle Logik der Unterscheidung nach Staatsangehörigkeit oder nationaler Herkunft (‚mit Migrationshintergrund‘), die allen Jugendlichen theoretisch bekannt ist, passt nicht zu ihrer täglich erlebten Wirklichkeit, zu der sich lebensweltlich manifestierenden Logik. Vor dem Hintergrund des alltäglichen Konfrontiert-Seins mit dominanten Bedeutungskonstruktionen und Rassismus erscheinen andere Kriterien der Unterscheidung, nämlich das ‚deutsche Aussehen‘ und das Abweichen bzw. sogar der Grad der Abweichung von einem solchen imaginierten phänotypischen Idealbild des oder der Deutschen für das Deuten ihres Erlebens von Welt sehr viel passender zu sein. So findet diese Logik über das Deuten hinaus auch Eingang in die eigene Unterscheidungs- und Zuordnungspraxis. Am deutlichsten erklärt Jamil diese Logik zur Prämisse seiner Einteilungspraxis: „Ich sehe so aus wie ein Ausländer und er sieht so aus wie ein Deutscher“ (Jamil IJ, 124). Personen, die phänotypisch nicht in seine ‚Ausländer‘-Kategorie passen, so Jamil weiter, „die [nenne ich] nicht Ausländer […]. Obwohl die ja vom Immigrationshintergrund Ausländer sind, aber […] ich sage zu denen dann nicht Ausländer, weil ich würde ja nicht sagen, dass sie so aussehen. Ich teil die ja nur so ein wie die aussehen“ (Jamil IJ, 126, 128). Zugehörigkeitsverhältnisse, die mit wirkungsmächtigen, ein- und ausgrenzenden Bedeutungskonstruktionen einhergehen, führen dazu, dass Jugendliche als in ambivalenter Weise in diese Zugehörigkeitsverhältnisse involvierte Subjekte sowohl in negativer Weise von ihren Konsequenzen betroffen sind als auch an ent sprechenden Kategorisierungsprozessen der Binarität und der Über- und Unterordnung beteiligt sind. Letztere können auch als Teil ihrer Umgangsweisen mit deplatzierenden und ausgrenzenden Kategorisierungen in restriktiven Möglichkeitsbedingungen, die von einem machtvollen Zugehörigkeitsregime strukturiert werden, interpretiert werden, als Versuch, ihr Leben im binären Schema des Entweder-Oder mitsamt seinen undeutlichen Regeln als sinnhaft zu deuten und zu organisieren. 2.2 Rassistische Artikulationen „Ungerechtigkeit“ und „Vorurteile“ sind die ersten Worte, die im Rahmen des Brainstormings fallen, das den Werkstatt- und Forschungsprozess einleitet. Sicher identifizieren die Jugendlichen auch im weiteren Fortgang der Forschungswerkstatt „Vorurteile“, stereotypisierende Zuschreibungen, als zentrale Ursache für Rassismus und Diskriminierung. Im Zusammenhang mit Diskriminierung sind „Vorurteile“, so etwa Filiz (GD1, 326), „ja so ein großer Punkt […] Ich meine Vorurteile .. gibt es genügend eigentlich. Das ist ein ganz großer Punkt.“ Im Alltag der Jugendli -

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chen sind sie überaus präsent: „[M]an kriegt ja ständig in der Schule auch irgendwas mit [...]. .. Überall auch [in der, W.S.] Freizeit so kriegt man auch mit, diese Vorurteile“ (Amina, GD1, 173). Die „meisten“ Menschen, so Amina, haben „Vorurteile“ und denken: „[D]ie sind ja so und denken ja das alle, stempeln alle gleich ab, als wären die alle gleich“ (Amina GD1, 159). Als „dieses eine Bild“ (Amina GD1, 175) entfaltet dieses macht- und bedeutungsvolle soziale Wissen über die ‚Anderen‘, über die Jugendlichen, seine homogenisierenden, festschreibenden und ausgrenzenden Wirkungen. Die wiederkehrende Konfrontation mit Zuschreibungen stellt eine zentrale Diskriminierungserfahrung der Jugendlichen dar. Dann, so Filiz, „fühle [ich] mich schon so verurteilt“ (Filiz IF, 173). In den Zuschreibungen spiegelt sich ein dominantes Wissen und Wahrheitsregime wider, in dem in stereotypisierender Weise ‚Auskunft‘ über in dieser Form gleichsam als ‚Andere‘ Konstruierte in Deutschland gegeben wird. Als diskursiv ‚gültiges Wissen‘ wird es an die Jugendlichen herangetragen. Alltäglich erleben sie, wie (mitunter zugeschriebene) Differenzen und Zugehörigkeiten zum Anlass genommen werden, um allerlei Verbindungen zu vermeintlichen Eigenschaften, Verhaltensweisen und Lebensumständen herzustellen und zu behaupten, die aus dominanten Diskursen wohlbekannt sind (und die hier – auch in Anbetracht des Umfangs – nicht vollständig wiederholt werden sollen). Vor allem Interaktionen, in denen Jugendliche mit einem solchen ‚Wissen‘ konfrontiert werden und damit zugleich immer auch (direkt oder indirekt) aufgefordert sind, spezifische Diskurspositionen einzunehmen und Stellung zu beziehen, werden von den Jugendlichen thematisiert. Aber auch stereotypisierte Wissensbestände über Personen oder soziale Gruppen, mit denen sie sich identifizieren (und identifiziert werden), die nicht nur in ihrem konkreten Alltag, sondern auch in der medialen Repräsentation zum Ausdruck kommen, finden in den Beschreibungen der Jugendlichen als Phänomene Platz, die sie wütend machen und verletzen. Deutlich zu erkennen ist zudem, dass Bedeutungskonstruktionen, die als rassistische Unterscheidungspraxis zu identifizieren sind oder auf solche verweisen, zugleich auf weitere Differenzverhältnisse Bezug nehmen, also auf Formationen verweisen, in denen unterschiedliche Differenzverhältnisse und -konstruktionen aktiviert werden, sich überlagern und miteinander verwoben sind. Solche intersektional wirkenden Formationen rassistischer Bedeutungskonstruktionen lassen sich vor allem mit Bezug auf Alter, soziale Klasse und Gender feststellen. Jugendliche machen zum Beispiel die Erfahrung, mit kulturalisierenden Bildern, wie etwa dem der unterstellten Herkunft aus kinderreichen Familien (vgl. GD1, 636-645), konfrontiert zu werden; darüber hinaus machen sie aber auch die Erfahrung, mit rassistischen Deutungen konfrontiert zu sein, die an solche vermeintlich ‚harmlose‘ Zuschreibungen nahtlos anschließen – und die zudem mit weiteren Negativ-Zuschreibungen einhergehen und sich je spezifisch überlagern, welche auf so-

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ziale Schicht- und Klassenverhältnisse Bezug nehmen: So muss Amina sich anhören, dass Vermutungen darüber angestellt werden, dass „deswegen meine Eltern so viele Kinder haben, um Geld zu kriegen von der Stadt“ (Amina GD1, 640). Und Filiz berichtet, dass sie im Zug „gehört [hat], dass die gesagt haben: ‚Ja, die Ausländer […] produzieren ja nur Kinder, damit sie bald Deutschland einnehmen können‘“ (Filiz GD1, 643). An diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, wie Fragmente aus öffentlichen Diskursen und Debatten Eingang in die Lebenswelten von Jugendlichen finden. Rassistische Konstruktionen, wie sie etwa von Thilo Sarrazin (vgl. 2010) neu angefacht wurden, die ökonomische Interessen und soziale Klassenverhältnisse im Kapitalismus mit Rassismus verweben und in diesem Rahmen ‚steigende Geburtenraten als Eroberungsstrategie‘ von Migrantinnen und Migranten propagieren oder eine ‚Einwanderung in die Sozialsysteme‘ behaupten, schlagen sich in Form von stereotypisierten Zuschreibungen und rassistischen Deutungen in solchen subjektiv relevanten rassistischen Erlebnissen nieder. Im Folgenden sollen kategorial jene Bedeutungszuschreibungen genauer beschrieben werden, auf die die Jugendlichen in ihren Schilderungen und Erzählungen am häufigsten verweisen und die in der Regel ‚Grundlage‘ ihrer Erfahrungen mit Rassismus sind. Sie lassen sich zum einen als Bedeutungskonstruktionen zusammenfassen, die auf Vorstellungen über den Bildungserfolg von Jugendlichen Bezug nehmen und deutlich an laufende Bildungsdiskurse anschließen. In diesen werden rassistische Artikulationen offenbar, die zugleich mit Vorstellungen und Zuschreibungen über soziale Schicht- und Klassenzugehörigkeit einhergehen. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass den Jugendlichen nicht nur ein ‚Nicht-Deutsch-Sein‘ unterstellt wird, sondern implizit auch eine vermeintliche Zugehörigkeit zu einer niedrigen, bildungsfernen sozialen Schicht mit dieser Kategorisierung verknüpft ist und nahegelegt wird. Zum anderen lassen sich in einer Vielzahl der geschilderten Erlebnisse Bedeutungskonstruktionen ausmachen, die deutlich auch geschlechtsbezogene Unterscheidungen vornehmen.28 Solche gegenderten rassistischen Bedeutungskonstruktionen führen als Teil des Inventars rassistischer Wissensbestände zu vergeschlechtlichten Repräsentationen und gesellschaftlich virulenten Deutungsangeboten sowie daraus resultierenden Ausgrenzungspraktiken (vgl. z.B. Leiprecht/Lutz 2009). In der Fachdebatte wird ebenfalls, auch in Bezug auf Bedeutungskonstruktionen, die den Bildungserfolg von Jugendlichen betreffen, auf die Relevanz solcher intersektional verschränkter Zuschreibungen verwiesen. So stellt etwa Thomas Quehl unter Bezugnahme auf Geißler (2008) und Scheibelhofer (2008) fest, dass 28 Vgl. auch Essed 1991, Kilomba 2008, Riegel 2004, 335ff. und Spindler 2006, die in ihren Studien mit Schwarzen Frauen (Essed, Kilomba), mit jungen Migrantinnen (Riegel) und mit jungen Migranten (Spindler) ebenfalls das Ineinandergreifen von vergeschlechtlichten und ethnisierten Bedeutungszuschreibungen herausgearbeitet haben.

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sich als typische „bildungssoziologische Figur“ heute jene „des Migrantenjungen aus ‚bildungsschwacher‘ Familie“ ausmachen lässt, welche wiederum „Anschlussstellen für den Topos des männlichen muslimischen Jugendlichen bzw. jungen Mannes aus der Großstadt, dem im populären rassistischen Diskurs eine wesentliche Rolle zukommt“, bietet (Quehl 2010, 187). Rassismus ist folglich als verwoben mit weiteren Ungleichheitsverhältnissen und entsprechenden intersektionalen Bedeutungszuschreibungen zu denken (und empirisch zu beobachten). Sowohl gesellschaftlich-diskursiv – etwa in der medialen Repräsentation von ‚Jungen mit Migrationshintergrund‘ als wenig bildungserfolgreich – als auch in den konkreten Lebenswelten der Jugendlichen sind die Kategorien ‚Race, Class, Gender‘ und Alter eng miteinander verbunden. Dementsprechend sind auch die Rassismuserfahrungen der Jugendlichen gegendert und gehen mit Zuschreibungsmustern einher, die indirekt auch – aufgrund ihrer Identifikation als ‚nicht-deutsch‘ – mit Vorstellungen über Klassenzugehörigkeiten verbunden sind. In Bezug auf das oben angesprochene und diskursiv starke Bild vom ‚männlichen Bildungsverlierer‘ ist mit Blick auf das in der vorliegenden Arbeit analysierte Material jedoch festzustellen, dass Jungen wie Mädchen sich zum einen über Zuschreibungen beklagen, die auf den Bildungsdiskurs Bezug nehmen und etwa mit Unterstellungen mangelnder Leistungsfähigkeit einhergehen, und sich zum anderen bei Jungen wie Mädchen diese Zuschreibungen negativ auf ihre Bildungskarrieren auswirken, wie in späteren Kapiteln dieser Arbeit deutlich werden wird. Eine genderspezifische Unterscheidung in Bezug auf diesbezügliche Zuschreibungen ließ sich nicht feststellen. ‚Leute denken, dass wir alle Hauptschüler oder Sonderschüler sind‘ Für die männlichen wie für die weiblichen Jugendlichen stellt die Unterstellung, dass sie, „so als wäre das so was Selbstverständliches“ (Filiz IF, 165), nicht bildungserfolgreich seien, ein Ärgernis dar; dass „Leute“ – aufgrund des kategorisierenden und bedeutungsvollen Blickes („wenn die mich sehen“) – „ja sowieso [denken], dass wir alles Hauptschüler oder Sonderschüler sind“ (Qerim IQ, 178), keinesfalls aber vermuten, dass die Jugendlichen etwa das Fachgymnasium besuchen und das Abitur und ein Studium anstreben. Filiz, die die Erfahrung macht, dass ihr nicht einmal ihre Klasse zutraut, dass sie studieren wird, sieht die Begründung für solche Erfahrungen darin, dass die dominanten Vorstellungen über die Zukunft von als ‚nicht-deutsch‘ markierten Jugendlichen spezifische Bilder umfassen: nämlich, dass „Ausländer […] eh nichts [machen], zum Schluss bekommen die alle Hartz IV oder so oder Schwarzarbeit, klauen, dealen und kriegen so Geld zusammen“ (Filiz GD1, 620). Oder, so vermutet Amina, die denken, „[man] arbeitet in so einem Dönerladen“ (Amina IA, 394). In der Regel berichten Jugendliche davon, dass sich diese Artikulationen in Form von überraschten Reaktionen zeigen, wenn sie von der Schule oder ihren Zukunftsplänen berichten. Dann ernten sie Reaktionen, die Ver-

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blüffung – „‚Hä? Wie? Ehrlich?‘“, „‚Was? Du studieren?‘“, „‚Ja? Echt?‘“ – über gute Schulleistungen, hohe Bildungsaspirationen oder Planungen für ein Studium ausdrücken: „[S]o ‚Hätte ich ja gar nicht gedacht‘ und so was sagen die dann. Also sind dann voll beeindruckt und so, weil die so was gar nicht von uns erwarten“ (Qerim IQ, 172). Qerim verallgemeinert hier diese Erfahrung; und tatsächlich berichten alle Jugendlichen von solchen Erlebnissen und Reaktionen, in denen für sie „diese typischen Vorurteile“ (Milot IM, 311) deutlich werden: „Denken halt nur weil ich halt jetzt woanders her komme oder so was, dass ich jetzt nicht gut in der Schule bin“. Solche Menschen „fragen dann: ‚Ehrlich?‘ nur, weil die völlig erstaunt sind, weil die das gar nicht gedacht hätten“ (Milot IM, 311). Solche Begegnungen signalisieren Jugendlichen, so Aminas Interpretation, dass „die meisten denken: ‚Ja, zu dumm‘“ (Amina IA, 390). Ebenso unvermittelt und automatisch wie die Kategorisierung als ‚Schwarzkopf‘, als ‚Ausländerin‘ (vgl. oben), erfolgt gleichsam mit dieser Kategorisierung die damit verknüpfte Bedeutungszuschreibung: „dumm“, so Amina. „Man wird automatisch so als dumm abgestempelt. Vorurteile wieder“ (Amina IA, 390). Solche Reaktionen, das „stört dann halt ziemlich“, sagt Milot (Milot IM, 311). Diese Form der Bedeutungskonstruktion und Zuschreibung ist allerdings mehr als nur ‚störend‘ – das räumt auch Milot an anderer Stelle ein. Sie nimmt sowohl Einfluss auf das Selbstvertrauen und die Selbstver ständnisse der Subjekte, indem diese fortwährend hinterfragt werden und damit auch zum Ausdruck gebracht wird, dass der ihnen zugedachte Platz eben nicht das Gymnasium und die Universität, sondern die Hauptschule und der „Dönerladen“ ist. Darüber hinaus nehmen diese machtvollen Diskursinhalte, in denen sich Bedeutungskonstruktionen der Unterscheidung etwa in Bezug auf ‚ethnisch‘ – ‚nicht-ethnisch‘ oder ‚sozial benachteiligt‘ – ‚sozial privilegiert‘ überlagern 29 und auf die die Erzählungen der Jugendlichen verweisen, als gesellschaftliche und soziale Bedeutungen auch Einfluss auf die Möglichkeitsräume der Jugendlichen, wenn es um Bildungschancen geht. Beispielhaft ist hier die Überrepräsentation von Kindern und Jugendlichen ‚mit Migrationshintergrund‘ an Haupt- und Sonderschulen zu nennen, die im Diskurs ihre Begründung häufig einseitig in vermeintlich mangelnden Sprachkenntnissen, ‚bildungsfernen Mileus‘ und unterstellten fehlenden Bildungsaspirationen sowie Defiziten im Elternhaus findet (vgl. z.B. Quehl 2010), oder ihre mediale Repräsentation im Zusammenhang mit sozialen Problemlagen etwa als ‚Unterschichtsangehörige‘, kriminell oder eben als ‚Bildungsversager‘. So ist etwa das ‚Zutrauen‘ von Leistungen und Bildungserfolg, das ihnen so häufig nicht entgegengebracht wird, wie sie berichten, ein entscheidender Faktor, nicht nur für Anerkennung und die Entwicklung von Selbstvertrauen, sondern auch im Hinblick auf institutionell vermittelte Bildungschancen bzw. Diskriminierung. Darauf verweisen nicht nur die Bildungskarrieren der Jugendlichen sowie ihre Er29 Vgl. Hormel 2010 in Bezug auf Diskriminierung im Bildungssystem.

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fahrungen mit Rassismus in der Schule, 30 sondern auch die Studien zu institutioneller Diskriminierung von Mechthild Gomolla und Frank-Olaf Radtke (2007) sowie Helena Flam (2007). Die subjektive Bedeutsamkeit dieser Art der Zuschreibungen, die Bildungserfolg sowie Leistungsbereitschaft und -fähigkeit aberkennen, auch für das eigene Selbstverständnis, drückt sich etwa in Milots Äußerung aus, der auf die Frage, wie es ihm ginge, wenn er mit solchen Reaktionen konfrontiert sei, sagt: „Ja das ist dann, so erniedrigend ist das halt so, weil, man denkt wieso- die denken halt, dass zum Beispiel wir, die Leute die aus dem Ausland kommen, im Ausland gar nicht lernen oder so, dabei es gibt Leute die kommen von da, die sind viel schlauer als hier oder sonst was und deswegen finde ich das voll blöd so. Das ist so richtig dumm.“ (Milot IM, 319).

Für Qerim sind solche bedeutungs- und machtvollen Artikulationen offenbar ebenfalls sehr bedeutsam. Bereits beim Brainstorming zu Diskriminierung (vgl. Kap. IV 2.1) nennt er „Intelligenz“ und formuliert in der sich anschließenden ersten Gruppendiskussion: „[B]ei mir glauben manche nicht, dass ich gut in der Schule bin“ (Qerim GD1, 582). Daher müsse er „die erst mal davon überzeugen, dass ich .. (lachend) intelligent bin“ (Qerim GD1, 589). In seiner Zugehörigkeitsblume (vgl. Kap. IV 2.1) schreibt Qerim als eine seiner Zugehörigkeiten „Intelligenz“ auf und erklärt im Interview, er finde, das „liegt mir irgendwie einfach“ (Qerim IQ, 36). Deutlich erklärt Qerim Intelligenz zu einem ihm wichtigen Teil seiner Identität, der ‚irgendwie, einfach so‘ quasi selbstverständlich und natürlich zu ihm gehört und eine offenbar bedeutsame Eigenschaft für ihn darstellt. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass die Konfrontation mit Menschen, die ihm mit ihren Reaktionen zeigen, dass sie ihn – so seine Interpretation – offenbar für dumm halten, für ihn auch Situationen sind, in denen ein wichtiger Teil seines identitären Selbstverständnisses angegriffen wird (vgl. Qerim IQ, 36). Jedoch sagt Qerim selbst, dass er es zwar „nicht gut“ findet, „dass die mir das [den Besuch der Fachoberschule, W.S.] nicht zugetraut hätten“ (Qerim IQ, 186), als ich ihn aber frage, ob es „nicht irgendwie doof [ist], wenn es einem auf der einen Seite total wichtig ist, dass man irgendwie intelligent ist und auf der anderen Seite ständig Leute trifft, die sagen: ‚Du gehst doch bestimmt zur Förderschule‘?“ (Interviewerin IQ, 189), betont er, dass sein Umgang mit solchen Erlebnissen eher ein ‚sportlicher‘ sei. Er nimmt solche Situationen als Herausforderung: „ich überzeuge die halt von mir selber und das finde ich halt immer wieder ein bisschen spannend“ (Qerim IQ, 190). Auch Milot übernimmt in solchen Situationen für das Liefern des Gegenbeweises die individuelle Verantwortung:

30 Vgl. auch den Exkurs zu institutionellem Rassismus in der Schule in Kapitel 2.6.

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„Ja, ich versuch denen das zu beweisen und so, dass ich das wirklich kann. Also versuche ich auch vielleicht ein bisschen so besser zu sprechen oder so was, damit die mich da auch wirk lich ernst nehmen so und nicht dabei zu lachen oder so was. Und keinen Plan. Ja.“ (seufzt) (Milot IM, 322)

Der Versuch des ‚Beweisens‘ liest sich in Milots Beitrag im Gegensatz zu Qerim nicht ‚sportlich-spannend‘. Eher scheint es, als empfände er diese Verantwortung, die es zu übernehmen gilt, als Beweislast. Offenbar kostet das ‚Denen-das-zu-Beweisen‘, der Versuch, ernst genommen zu werden, viel Kraft und Disziplin. Die Handlungsmöglichkeiten scheinen darüber hinaus sehr begrenzt. Milot versucht den Stereotypen, die mit einer solchen Klassifizierung und Zuschreibung (‚nichtdeusch‘ = ‚dumm‘) im Diskurs einhergehen, individuell mit einer größtmöglichen ‚Anpassung‘ und Signalen der ‚Integration‘ zu begegnen: Er versucht, „ein bisschen besser [...] zu sprechen“. Denn vermeintlich ‚Nicht-Deutsche‘, so das gängige Bild, das ihm selbstverständlich bekannt ist, können kein (gutes) Deutsch – was unter anderem als Grund für fehlenden Bildungserfolg ausgemacht wird – und ‚wollen sich nicht integrieren‘. Milot ist sich der Absurdität sowohl einer solchen Reaktion vor dem Hintergrund seines tatsächlichen Bildungserfolgs als auch der Absurdität der Bedingungen, die solche Situationen überhaupt erst entstehen lassen, sowie seiner begrenzten Möglichkeiten der wirkungsvollen Reaktion innerhalb dieses Diskurses und seiner Bedeutungen für ihn als Einzelperson offenbar (mehr oder weniger) bewusst. So zumindest ließe sich seine etwas resignierend wirkende Kommentierung „keinen Plan“ und der abschließende Seufzer deuten. Auch Amina sieht sich von solchen Situationen in eine Subjektposition gerufen, mit der die Aufgabe der Beweisführung verbunden ist. Eine Situation solcher Art, so Amina, „reizt ja erst recht einen, so zu beweisen, ja ich bin halt nicht so, so wie ihr denkt, genau das Gegenteil zu beweisen“ (Amina GD1, 635). Amina wirkt fest entschlossen und kämpferisch. Auch Qerim, der angibt, dass er später einmal Polizist werden möchte, erklärt in diesem Zusammenhang, dass solche Situationen Ehrgeiz in ihm wecken würden. Allerdings führt er hier als Begründung für seinen Ehrgeiz nicht Motive an, die mit einer notwendigen Beweisführung aus der Defensive heraus in Zusammenhang stehen. Vielmehr zeichnet sich in seiner Antwort der Wunsch nach Stärke und Überlegenheit, nach der Möglichkeit offensiv statt defensiv zu handeln, ab, die ihm im Rahmen der gegenwärtigen Machtverhältnisse, in die er sich in solchen Situationen eingebunden sieht, nicht gegeben ist. Qerim begründet seinen Ehrgeiz ironisch – übrigens auch etwas, das ihm liegt – mit der Möglich keit, dann in Zukunft eine Machtposition besetzen zu können, von der aus es ihm möglich wäre, ‚Vergeltungsphantasien‘ umzusetzen: „Also bei mir weckt das nur Ehrgeiz. Weil wenn ich Bulle bin, dann verhafte ich die alle“ (Qerim GD1, 630).

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Verbunden mit einem von Jugendlichen geschilderten ‚Ehrgeiz‘ des Beweisenund Überzeugen-Wollens, des individuellen Widerstands gegen sich manifestierende Bedeutungskonstruktionen der abwertenden Unterscheidung, die im Bildungsdiskurs unter Bezugnahme auf soziale Klassenzugehörigkeit und Ethnizität verhandelt werden, ist tendenziell immer auch der Druck, sich besonders anstrengen zu müssen. Dieser Druck wird nicht nur bei Amina deutlich. Aynur spricht im Gegensatz zu Amina statt von Ehrgeiz von einem ‚enormen Druck‘, unter den sie sich gesetzt fühlt, besser zu sein als alle anderen, damit sie Akzeptanz und Anerkennung erfährt: Würde sie sich nicht so sehr anstrengen, so Aynur wütend, „dann wäre ich überhaupt nicht integriert und das verstehen die dann irgendwie nicht, dass es viel viel mehr Arbeit für mich ist so zu sein als für irgendjemand anderen! […] Und dann heißt es: ‚Du wirst hier doch anerkannt‘. Ja, aber nur wenn ich wirklich gute Leistungen bringe und dieser Druck ist echt enorm“ (Aynur KP, 5, 8). Jungen, die ‚Scheiße bauen‘ – Mädchen, die ‚verheiratet werden‘ In den Berichten der Jugendlichen wird deutlich, dass es sowohl ‚allgemeingültige‘ Zuschreibungen gibt, von denen alle in der Gruppe mehr oder weniger stark betroffen sind, darüber hinaus jedoch vor allem auch genderspezifische Zuschreibungsbzw. Rassismuserfahrungen gemacht werden. Während sich in den Zuschreibungserfahrungen der männlichen Jugendlichen ein spezifisches, gesellschaftlich dominantes Bild von jugendlicher Männlichkeit im intersektionellen Zusammenwirken mit der Kategorisierung als ‚nicht-deutsch‘, häufig in Überlagerung oder Gleichzeitigkeit mit ihrer Kategorisierung als muslimisch, offenbart, verweisen die Erfahrungen der weiblichen Jugendlichen vor allem auf Bilder, die in Bezug auf ungleiche Geschlechterverhältnisse insbesondere im Islam die deutsche Debatte um Migration und Geschlecht dominieren (vgl. z.B. Attia 2007, 11ff.; Rommelspacher 2007). Männlich konnotiert So berichten die männlichen Jugendlichen davon, dass sie, als (vermeintliche) Muslime, als Terroristen tituliert werden. Sie erzählen auch, dass ihnen unterstellt wird, sie würden nicht im Haushalt helfen. Letztere Zuschreibung nun, so könnte man meinen, ist eine Zuschreibung, die sich auf Männer oder männliche Jugendliche allgemein bezieht. Jedoch machen die Jungen die Erfahrung, dass solche geschlechtsbezogenen Zuschreibungen in der Regel gleichsam kulturalisiert werden. Hier geht es nicht nur um Jungs, die angeblich nicht im Haushalt helfen, sondern um ‚nichtdeutsche‘ und, vermutlich, muslimische Jungen, die nicht im Haushalt helfen würden; und damit um eine Konstruktion, die gleichsam unbenannt und verdeckt das Gegenbild eines vermeintlich emanzipierten, geschlechtersensiblen ‚deutschen Mannes‘ produziert, der auf Gleichberechtigung bedacht ist. Dieses Bild vom typisch ‚deutschen Mann‘ ist Teil der dialektischen sozialen Konstruktion, die sich

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positiv über die Konstruktion der ‚Anderen‘ und ihrer Abwertung herstellt. Ein anderes Beispiel dafür, wie Bilder von Männlichkeit und entsprechende jugendliche Handlungsweisen in direkten Bezug zu ‚Nicht-Deutsch-Sein‘ gesetzt werden, obschon diese weniger mit Ethnizität als vielmehr mit Männlichkeitsvorstellungen und -konstruktionen zu tun haben, gibt Milot, der berichtet: „[W]enn wir ein Wochenende mal weg waren oder so und uns dann geschlagen haben erzählen wir dann so, wie Jungens halt miteinander sind: ‚Ja, ich hab dem so gegeben und so‘ und dann erzählen wir halt, dass wir unter Ausländern und so waren zum Beisp-, also so, unter un seren Freunden so. Und dann kommt dann gleich: ‚Ja, ihr scheiß Kanacken’ und so was.“ (Milot IM, 28)

Zuschreibungen, die sich unter einer Überschrift zusammenfassen ließen, wie sie Filiz formuliert, kommen in den Äußerungen der Jungen am häufigsten zur Sprache: „Thema [ist] immer Ausländer machen immer Stress“ (Filiz GD1, 380). Laut Milot „ist einfach so, der Ruf von uns Ausländern […], dass wir uns oft gerne schlagen“ (Milot IM, 213). Aggressivität, Kriminalität und Vandalismus werden ihnen zugeschrieben: „[A]ls wäre irgendwie jeder ein Verbrecher, wenn er irgendwie fremd ist“ (Jamil GD1, 184). Insbesondere, wenn die Jungs nicht allein, sondern in einer Gruppe unterwegs sind, müssen sie mit solchen Zuschreibungen und mit Diskriminierung rechnen: „[M]it einer Gruppe […] werden wir halt ziemlich schnell diskriminiert“, so Qerim (Qerim IQ, 265). Beispielsweise ist es bei Diskotheken so, berichtet er an anderer Stelle, dass, „wenn ich nur mit Ausländern komme, dann […] kommst du nirgendwo mehr rein, egal wo du hingehst, weil die Angst haben wenn Ausländer in einer Gruppe sind, […] dass die nur Scheiße bauen“ (Qerim IQ, 120). Seiner Erfahrung zufolge denken „andere Leute […] halt gleich, dass man auch gleich brutal ist und so was, dass man aggressiv ist, wenn man auf seiner eigenen Sprache da spricht“ (Qerim GD1, 334). Die Jugendlichen berichten von Situationen, in denen sich solche Zuschreibungen sehr offensichtlich in Form von ungleicher Behandlung bemerkbar machen; etwa, wenn sie im Gegensatz zu anderen, die sich gemeinsam mit ihnen in einem Geschäft aufhalten, einer Taschenkontrolle unterzogen werden, „wenn der Ausländer durchsucht wird [Samir spricht hier von sich, W.S.] und die Deutschen nicht“ (Samir GD2J, 34), oder sie der Beschädigung von Produkten im Supermarkt beschuldigt werden (vgl. Jamil IJ, 101). Am häufigsten jedoch, wenn ihnen in Diskotheken – schon gar nicht in einer Gruppe – kein Einlass gewährt wird (vgl. Kap. 2.3). Zuweilen manifestieren sich die Zuschreibungen aber auch sehr subtil in ihrem Alltag, zum Beispiel, wenn Milot und seine Freunde „in der Stadt [abhängen], Eis essen oder so was. Und die Leute, wenn die da so lang gehen, gucken die immer so und reden […] und machen halt einen Bo gen um uns, weil sie halt Angst haben“ (Milot IM, 255). Meine Frage, ob das auch

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etwas „mit jugendlich sein […] zu tun“ hat (Interviewerin IM, 263), verneint Milot: „Nee, nee eigentlich nicht. So Jugendliche gehen uns eigentlich auch aus dem Weg“ (Milot IM, 264). Aber auch alleine macht er die Erfahrung, dass, „wenn welche grade so lang gehen und ich komm irgendwie hin, die die Straßenseite wechseln oder so was“ (Milot IM, 257). Weiblich konnotiert Auch weibliche Jugendliche berichten davon, dass sie verdächtigt werden zu „klauen“ (Filiz IF, 55), oder in der Bahn Schaffnern begegnen, die denken, „ja, nur weil ich jetzt schwarze Haare habe, heißt auch gleich dass ich schwarz fahre“ (Amina GD1, 187), oder dass ihnen zugeschrieben wird, „aggressiv“ zu sein (Filiz IF, 194). Dominant sind in den Erzählungen der Mädchen im Gegensatz zu jenen der Jungen jedoch solche Zuschreibungen, die sich auf ein stereotypes Bild der unterdrückten „Frauen […] im Islam“ zurückführen lassen, 31 wonach diese „im Islam nur total vernachlässigt oder überhaupt schlecht behandelt [werden]“ und „mit Kopftuch irgendwo sitzen [müssen]“ (Amina GD1, 175), in denen „die Frau alles tut, und der Mann sitzt mit den Füßen hoch“ (Rima GD2M, 234). Solche und ähnliche Zuschreibungen äußern sich zum einen über Feststellungen, in denen ihnen ‚Verbote‘, Verhaltensweisen und Einstellungen unterstellt oder gar Lebenswege prognostiziert werden. Das Sprechen mit der konkreten Person scheint in solchen Fällen, wie Filiz erlebte Situationen zusammenfassend beschreibt, ebenso wenig notwendig zu sein, wie das Hinterfragen dieses vermeintlichen ‚Wissens‘: „‚Eure Mütter sind halt ständig den ganzen Tag in der Küche, Vater hat die Füße auf dem Tisch und Rausgehen und so gibt es ja gar nicht. Und Jungs und dies das auch nicht. Und ver heiratet werdet ihr ja von euren Eltern.‘ Ein Schwachsinn. […] Ja, das sagen natürlich Leute zu mir. Und ich denke dann immer .. Ich weiß nicht aus welchem .. A-Loch die das echt zie hen, ne.“ (GD2M, 246-253)

Zum anderen nehmen solche Erzählungen der Mädchen viel Raum ein, in denen Zuschreibungen, die als abwertend und diskriminierend empfunden werden, ihnen gegenüber in Frageform geäußert werden – wobei sich ein vermeintlich ‚richtiges‘ und diskursiv ‚gültiges‘ Wissen bereits in den Fragen offenbart, die die Antwort implizit gleich mitliefern. Häufig sind dies solche Situationen, in denen sie in der Rolle von Repräsentantinnen für eine ganze, sozial konstruierte Gruppe befragt werden. In Ausfragepraktiken, mittels derer andere sie auffordern, als vermeintliche Expertinnen zu einem Thema Auskunft zu geben oder Stellung zu beziehen, manifestieren sich Zuschreibungen in diskriminierender Weise (vgl. Kap. 2.4). So wurde Rima 31 Nicht alle Teilnehmerinnen sind Musliminnen. Aber alle machen diese Zuschreibungserfahrungen.

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etwa im Zusammenhang mit der als offenbar selbstverständlich vorausgesetzten, aber nicht explizierten Annahme, dass sie irgendwann verheiratet werden würde, schon mal gefragt: „‚Wozu gehst du zur Schule?‘“; und Rima wiederholt, selbst ungläubig und fassungslos ob der Absurdität der Frage, noch einmal: „‚Wozu gehst du zur Schule!‘“ (Rima GD2M, 277). Auch Amina berichtet, dass ihr immer wieder unterstellt wird, sie würde von ihren Eltern „zwangsverheiratet“, dann auch die Schule abbrechen und „bestimmt Hausfrau“ werden (Amina IA, 374; Amina GD2M, 276). Und Nesrin stellt aufgebracht fest: „[K]ein Thema nervt mich so, wie diese Zwangshochzeit. Ohne Scheiß! […] ‚Ab wann musst du heiraten? Wann musst du Schule abbrechen?‘“ (Nesrin GD2M, 385). Zusammenfassend stellt Amina fest, woher solche Fragen kommen: „[D]ie Meisten […] haben wieder dieses typische Bild von uns, dass wir später einfach an irgendjemand verheiratet werden und zu Hause sitzen, aufräumen, die Männer gehen arbeiten. Und deswegen“ (Amina GD2M, 278). Neben einem allgemeinen Bild patriarchaler Unterdrückung schwingt in diesen Fragen immer auch eine Unterstellung von unterdrückter, nichteigenständiger und/oder erzwungener Sexualität mit. Die Mädchen machen die Erfahrung, dass offenbar jede und jeder meint, ihnen solche ‚bedeutungsvollen‘ und vor allem auch grenzüberschreitenden Fragen stellen zu können: Freundinnen und Freunde, Bekannte, Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen und Lehrer oder auch Fremde. Selbst an der Tür zur Diskothek wird ein Mädchen vom Türsteher gefragt: „‚Wissen denn deine Eltern überhaupt, dass du hier bist?‘ In der Art von: Die ausländischen […] Mädchen dürfen ja gar keinen Spaß haben“ (Filiz GD1, 441). Und auch Klassenkameradinnen fragen: „‚Ja, darfst du das?‘“ (Amina GD1, 568). Wobei Nesrin der Meinung ist, dass das zwar blöd, aber immer noch besser sei, als von vornherein von Aktivitäten ausgeschlossen zu werden: „Zum Beispiel abends weggehen […], dass die einen überhaupt nicht fragen so, dass die sagen so: ‚Ach, die darf ja bestimmt eh nicht‘ und so, ‚lass uns die gar nicht fragen‘“ (Nesrin GD1, 579). In den Zuschreibungserfahrungen, von denen die weiblichen Jugendlichen berichten, spielt damit die Absprache von Entscheidungsmacht und Selbstbestimmung eine zentrale Rolle. Sie machen „ständig“ die Erfahrung, dass ihnen zugeschrieben wird, keine eigene Meinung zu haben, dass sie nicht in der Lage sind, Entscheidungen selber zu treffen oder selbständig Verantwortung für ihr Leben übernehmen können. In ihren Schilderungen lassen sich deutlich gesellschaftlich geteilte soziale Bedeutungen erkennen, die Mädchen, die als ‚ausländisch‘, ‚türkisch‘ und/oder ‚muslimisch‘ kategorisiert werden, als unterdrückt und handlungsunfähig beschreiben. Solche sozialen Wissensbestände führen in den konkreten Lebenswelten der Mädchen nicht nur zu ihrer Konstruktion als ‚Andere‘, sondern auch dazu, dass sie von ihrer Umwelt häufig nicht als handlungsfähige Subjekte anerkannt und ernst genommen werden. Stattdessen werden sie und ihr Handeln als Produkt einer be-

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stimmten (vermuteten) Gruppenzugehörigkeit vorgestellt und diesbezügliche Zuschreibungen werden zum dominanten Erklärungsmodell gemacht. Andere Perspektiven haben dann kaum mehr Platz, und eigene Entscheidungen der Mädchen sind offenbar keine Deutungsoption: In der Regel „kommen [die] halt gar nicht darauf, dass ich das [keinen Sex vor der Ehe haben, W.S.] für mich mache, nicht für meine Eltern oder so. […] Ja, die denken immer nur wir machen alles das, was wir machen für unsere Eltern.“ (Filiz GD2M, 493, 495)

Und Amina bestätigt: „immer auf Eltern bezogen. Als würde ich das [Schweinefleisch essen, W.S.] nur wegen meinen Eltern nicht machen. Denken [nicht] daran, dass ich das […] selber nicht will, denken, […] meine Religion hat das gesagt, aber das ist ja auch meine Entscheidung, wie ich halt Re ligion interpretiere. Und wenn ich […]. das halt nicht mache, dann […] aus persönlichen Gründen nicht, und nicht, […] weil ich das machen muss, weil meine Eltern mich dazu zwin gen oder so.“ (Amina GD2M, 501)

Auch, dass es „[j]edem Menschen […] frei[steht], ob man es [Kopftuch tragen, W.S.] machen will oder nicht […] wollen die meisten eigentlich nicht verstehen. Auch wenn ich so erzähle: ‚Nee.‘ Glauben die mir auch gar nicht […] so: ‚Nee, die werden ja von ihren Ehemännern, oder von den Vätern gezwungen, dass die es anziehen müssen, und die werden ja sowieso- die Frauen werden ja sowieso benachteiligt von den Männern und schlecht behandelt‘ und so.“ (Amina IA, 272)

So gehört zu den Rassismuserfahrungen insbesondere der teilnehmenden Mädchen, dass sie lediglich als ‚Marionetten ihrer Kultur‘ (vgl. Leiprecht 2004), ihrer Religion – „‚Das steht ja in deren Koran, dass die es machen müssen‘“ (Amina IA, 272) – oder ihrer Eltern wahrgenommen werden. Die Meinungen, Äußerungen und Handlungen, das Tun und Nicht-Tun der Mädchen, aber auch ihre Lebensläufe, so die Erfahrungen, werden von außen oftmals als Resultat eines Zusammenspiels von deterministischer Kultur und Religion und den die Mädchen angeblich unterdrückenden „Eltern“, „Ehemännern“, „Vätern“ oder allgemein „Männern“ interpretiert. Darüber hinaus ist bezüglich dieser vergeschlechtlichten Bedeutungszuschreibungen, mit denen die Mädchen sich konfrontiert sehen, festzustellen, dass diese zugleich machtvolle Bedeutungskonstruktionen darstellen, die die Jungen betreffen: Quasi als ‚Spiegelbild‘ werden diese in den Diskursen, die sich als ausgrenzend in den Lebenswirklichkeiten der Mädchen manifestieren, als ‚Unterdrücker‘ und Patri-

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archen, als sexistisch und frauenfeindlich konstruiert. Jedoch scheinen diese Artikulationen sich in den Lebenswelten der Jungen entweder nicht als subjektiv bedeutungsvoll zu zeigen oder sie sprechen nicht über diese: Zwar gibt es ein paar wenige Stellen, an denen Jungen davon berichten, dass von ihnen gedacht würde, sie würden nicht im Haushalt helfen. Von Relevanz scheint dieses ‚Macho‘-Bild für sie aber kaum zu sein, denn es lässt sich in ihren Erzählungen selten finden oder rekonstruieren. Dies könnte damit zusammenhängen, dass mit einem solchen Bild auch ein Bild von Männlichkeit einhergeht, das die Jungen als stark und handlungsmächtig konstruiert – was für (männliche) Jugendliche ja durchaus attraktiv sein kann. Die wahrscheinlichere Begründung ergibt sich meines Erachtens jedoch aus der Tatsache, dass sich eine konstruierte privilegierte Position – im Kontext von Geschlechterverhältnissen – nicht im gleichen Maße negativ auf das eigene Erleben von Wirklichkeit auswirkt, wie die Konstruktion einer deprivilegierten Position, die auch immer mit dem defizitären Zweifel und dem Hinterfragen dieser Position sowie mit dem Ringen um Anerkennung dieser bzw. um eine ‚bessere‘ Position verbunden ist. Fazit In den Berichten der Jugendlichen lassen sich eine Vielzahl vergeschlechtlichter gesellschaftlicher Bedeutungskonstruktionen rekonstruieren, die sich in ihren Lebenswirklichkeiten als subjektiv bedeutungsvoll werdende Zuschreibungen und Ausgrenzungslegitimationen manifestieren. Die männlichen Jugendlichen berichten vor allem von ‚manifesten Ausgrenzungssituationen‘, in denen sie Ausschluss und Ungleichbehandlung aufgrund eines ihnen unterstellten rücksichtslosen, aggressiven und kriminellen „Benehmens“ (Qerim IQ, 142) und Handelns erleben, das sich in der Unterstellung der Verursachung von Ärger und Schlägereien, von Vandalismus und Kriminalität Bahn bricht. In den Berichten der weiblichen Jugendlichen ist dies nicht als bedeutsam auszumachen. Stattdessen spielen in ihren Erzählungen weitaus subtilere Formen der Ausgrenzung – die nicht minder gewaltvoll sind – eine zentrale Rolle. Die Zuschreibungen, die in ihrem Alltag dominant sind, verweisen auf gesellschaftliche Bedeutungskonstruktionen der Entmündigung und manifestieren sich unter anderem in subtilen Entsubjektivierungen, indem ihnen, oft indirekt, eigenmächtige Handlungsfähigkeit, Selbstbestimmung und selbständiges Denken abgesprochen und nicht zugetraut wird, sowie in Frageformen, in denen sie als Repräsentantinnen für eine ganze soziale Gruppe aufgefordert werden, Rede und Antwort zu stehen. Häufig geschieht dies, indem von ihnen erwartet wird, dass sie ihr Privatleben den ‚Interessierten‘ und ‚Lernenden‘ öffentlich zur Verfügung stellen, ohne dass Grenzen dabei beachtet werden würden (vgl. Kap. 2.4). Eine auffällige Tendenz der Unterschiedlichkeit zwischen den vergeschlechtlichten Zuschreibungen, die sich als relevant in den Erzählungen und Lebenswirk-

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lichkeiten der männlichen und der weiblichen Jugendlichen manifestieren und also jeweils auf gesellschaftlich virulente Bedeutungskonstruktionen verweisen, kann insofern konstatiert werden, als dass den Jungen eine spezifische, gewaltvolle Handlungsfähigkeit und -mächtigkeit zugeschrieben wird, während den Mädchen selbstwirksame Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Während die Jungen im Kontext vergeschlechtlichter Zuschreibungen vornehmlich von rassistischen Ausgrenzungserfahrungen berichten, die ihre ‚Begründung‘ und Legitimation in ihrer Konstruktion als ‚bedrohliche Subjekte‘ finden, sprechen die Mädchen diesbezüglich in der Regel von subtileren Ausgrenzungserfahrungen, in denen ihnen ihre Subjektivität und Handlungsmöglichkeiten abgesprochen werden, sie nicht als Subjekte anerkannt und ernst genommen werden.32 ‚Also allgemein: Unser Ruf ist im Arsch‘ Obwohl die Jugendlichen im Forschungsprozess hauptsächlich von Erfahrungen mit verweigerter Zugehörigkeit und mit der Konfrontation mit „Vorurteilen“ und Ausgrenzung auf einer interpersonalen Ebene in konkreten Interaktionssituationen berichten, verorten sie insbesondere in Passagen, in denen eher abstrakt über die Ursachen von verallgemeinernden Bildern und Zuschreibungen gesprochen wird, eine Hauptverantwortlichkeit für diese in öffentlichen Diskursen und Debatten. Eine Ursache für Kategorisierungs- und Otheringprozesse sowie für „Vorurteile“ sehen die Jugendlichen entsprechend in einer einseitigen, unzulänglichen Medien32 Die stereotypen Vorstellungen über männliche wie weibliche Jugendliche sind auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktionalität zu befragen. Da im Spiegel der Konstruk tion der ‚Anderen‘ immer auch die Konstruktion des ‚Eigenen‘ erscheint, wird in Abgrenzung und Umkehrung zu Jugendlichen, die als ‚Andere‘ beschrieben werden, zugleich etwa das Bild emanzipierter und gleichberechtigter ‚deutscher‘ Mädchen und Frauen hergestellt, denen in Deutschland alle Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten offen stehen, und die mit ebenfalls emanzipierten ‚deutschen‘ Jungen und Männer gleichge stellt sind. Geschlechterungleichheit wird in ein Außen verlagert, als ‚nicht-deutsch‘ konstruiert, Gleichberechtigung der Geschlechter damit implizit als selbstverständlich ‚deutsch‘ behauptet. Auch Gewalt, Kriminalität und Vandalismus werden mittels solcher Zuschreibungen in dieses Außen (das natürlich keines ist) verschoben. Christine Riegel und Thomas Geisen machen darauf aufmerksam, dass Bilder über männliche Jugendliche als „gewalttätig und patriarchal geprägt“ (2010, 15) der Legitimation einer restriktiven Integrationspolitik dienen. Weibliche Jugendliche erfahren ihnen zufolge hingegen weniger Aufmerksamkeit, weil ihre ethnisierten Lebenslagen nicht als Bedrohung gelten. Als Tendenz machen Riegel und Geisen diese ‚Schwerpunktaufmerksamkeit‘ auch in der Migrations- und Jugendforschung aus, was in der Konsequenz zu der Gefahr führe, jugendliche Problemlagen zu ethnisieren und die Verantwortung für ‚gelingende‘ Integrationsprozesse einseitig an die Jugendlichen abzugeben (vgl. ebd.).

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berichterstattung. So meint etwa Qerim, stellvertretend für viele Aussagen ähnlicher Art: „[Z]um Beispiel[, dass] in der Zeitung steht, dass irgendwelche Ausländer Scheiße gebaut haben und dann schreiben die auch ‚Ausländer‘ und wenn das Deutsche sind schreiben die halt nur ‚Jugendliche‘ […]. [D]ie könnten doch einfach bei Ausländern auch einfach Jugendliche hinschreiben. Dann würden wir Ausländer einen viel besseren Ruf haben.“ (Qerim IQ, 216)

Die Jugendlichen zweifeln nicht an der Wirkungsmacht der Medienberichterstattung. Schließlich werden sie in ihrem Alltag mit genau den Themen und dazugehörigen stereotypen Wissensbeständen konfrontiert, die mediale Aufmerksamkeit und Verbreitung finden. „Das kommt alles vom Fernsehen bestimmt“, so etwa Milot (IM, 259). Auch „die Politik“ spielt in ihren Zusammenhangsannahmen eine Rolle und wird zuweilen mit ‚Medien‘ gleichgesetzt. Sie wird von Jugendlichen als relevant und außerordentlich machtvoll erachtet, wenn es um ihre Kategorisierung als ‚Andere‘, die Verweigerung von Zugehörigkeit im Kontext ‚Deutschland‘ und die Produktion von stereotypen Bildern geht; jedoch erscheint Politik auch als nur schwer greifbar und weit entfernt von ihrem konkreten Alltag und den sich dort manifestierenden Problemen.33 „Politik“, so lässt sich diese Entfernung symbolisch in Filiz Worten ausdrücken, „war zum Beispiel was ich einmal im Fernsehen gesehen habe“ (Filiz GD1, 137). Trotz dieser Entfernung und der Schwierigkeit, gesellschaftliche und strukturelle Verhältnisse als Teil ihrer alltäglichen Rassismuserfahrungen zu denken (vgl. auch Kap. 2.7), sind sich die Jugendlichen doch sehr bewusst, dass Politik als Gestalterin von Gesellschaft in entscheidendem Maße zu ihren Lebenswirklichkeiten beiträgt. So wünscht Amina sich etwa, dass es „Politik […] nicht geben würde“ (Amina IA, 494) und erhofft sich damit eine Lösung für das Problem der kategorialen Trennung zwischen sozialen Gruppen und der Hervorbringung verallgemeinernder Zuschreibungen: „Politik ist auch so ein Thema, wo ich eigentlich total gegen bin, weil ich finde, dadurch ent stehen auch die meisten Probleme. Auch wenn die versuchen, ja, so das Mit- das Leben miteinander zu erleichtern, oder so durch Regeln oder wie auch immer, dadurch wird es- ich fin de, machen die es eigentlich schlechter. Weil die nie genau- .. Keiner kann eine Person dann 33 ‚Politik‘ wurde von den Jugendlichen nicht im Zuge der Auseinandersetzungen mit möglichen Begründungen für Rassismus(-erfahrungen) während der Forschungswerkstatt thematisiert. Sie wurde lediglich in den Einzelinterviews, entweder im Zusammenhang mit der Frage, ob sie eigentlich meinten, dass Diskriminierung auch ein gesellschaftliches Problem sei, oder als Teil der Antwort auf die Utopiefrage, die die Interviews abschloss, erwähnt: ‚Wenn du etwas ändern könntest, hier in der Gesellschaft, was wäre das?‘

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genau einschätzen, weil jeder anders ist. Und die Politiker versuchen das immer so einzuteilen. Ja dies- .. Ich weiß nicht .. Ich finde Politik- Ich mag Politik nicht.“ (Amina IA, 496)

Nesrin wünscht sich Zusammenhalt in der Gesellschaft und sieht, ähnlich wie Amina, in den kategorisierenden, trennenden Praktiken der Politik, die zwischen ‚Deutsch‘ und ‚Nicht-Deutsch‘ unterscheiden, ein entscheidendes Hindernis: „Politik, da machen die doch auch so, Deutsche auf eine Seite, Ausländer auf eine Seite“, stellt sie fest (Nesrin IN, 327). Die Tatsache, dass „Politik“ zwar als bedeutsam und einflussreich, jedoch auch als weit entfernt und abstrakt wahrgenommen wird, trägt dazu bei, dass sie für die Jugendlichen kaum mit alltäglichen Erfahrungen und Geschehnissen zusammen zu denken ist und über eine Ebene des Politischen (oder Gesellschaftlichen) – im Gegensatz zu lebensweltlich konkreten, unmittelbaren Interaktionen – im gesamten Forschungsprozess nur sehr wenig gesprochen wird. Politik, auch das kommt deutlich zum Ausdruck, wird von den Jugendlichen zudem ausschließlich mit konservativen Positionen gleichgesetzt, wie sie den öffentlichen Diskurs zu Migrations- und Integrationsthemen dominieren. Alternative, oppositionelle politische Gegendiskurse, antirassistische Diskurse finden keinerlei Erwähnung. Sie scheinen nicht (erwähnenswerter) Teil der Erfahrungsräume der Jugendlichen zu sein und nicht zu ihrem Begriff des ‚Politischen‘ zu gehören. Stattdessen stellt „die Politik“ in den Schilderungen der Jugendlichen eher eine feindliche Übermacht dar, die unabhängig von ihnen agiert und weit außerhalb der von ihnen wahrgenommenen Möglichkeitsräume des Handelns liegt. „Gegen Politik“, so Qerim, „kann man wenig machen halt“ (Qerim IQ, 292). Die einzige Möglichkeit, auf Politik und damit tatsächlich auf gesellschaftliche Verhältnisse Einfluss zu nehmen, sieht Jamil in der Berufswahl: „Vielleicht werde ich so ein Politiker. Dann könnte ich auch was ändern“ (Jamil IJ, 202). Stereotype Bilder finden sich in den Lebenswelten der Jugendlichen als machtund wirkungsvolle Alltäglichkeiten. Nesrin bringt ihre Wahrnehmung der allgegenwärtigen Zuschreibung gegenüber „Ausländern“ auf den Punkt, indem sie zusammenfasst: „Also allgemein: Unser Ruf ist im Arsch“ (Nesrin GD1‚ 549). Ihr zufolge gibt es gegenüber als ‚Ausländer‘ konstruierten Personen so viele homogenisierende, machtvolle negative Zuschreibungen, so expliziert sie auf Nachfrage im Interview, dass es unmöglich sei, sich individuell von diesem „Ruf“ frei zu machen: „Egal was für ein Engel du bist, du wirst da mit reingezogen, weil die sagen: ‚Ja, das ist auch ein Ausländer und alle Ausländer sind gleich‘“ (Nesrin IN, 287). In ihrer Deutung der Ursachen dafür, dass ob der vielen „Vorurteile“ auch ihr „Ruf im Arsch“ sei, führt Nesrin jedoch nicht mediale oder politische öffentliche Debatten und Diskurse an. In ihrer Argumentation findet sich ein anderer, von verschiedenen Jugendlichen vorgebrachter Erklärungszusammenhang: Sie verortet die

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Verantwortung bei als ‚Ausländer‘ konstruierten Jugendlichen, „die irgendeine Scheiße [machen]“. Dann, so Nesrin, „schämt man sich halt, dass man Ausländerin ist“, und zugleich „sind die andern Ausländer auch am Arsch“ (Nesrin IN, 265). Auf einer eher individuumszentrierten Ebene wird zuweilen auch die Sozialisation derer, die „Vorurteile“ haben, verantwortlich gemacht: Die Familie bzw. das Übernehmen von „Vorurteilen“ von Freunden oder den Eltern; denn „ein neunjähriges Mädchen kommt ja nicht einfach so mal auf die Idee, morgens früh aufzustehen und zu sagen: ‚Also ich habe heute keine Lust mit Ausländern zu spielen‘“ (Filiz IF, 19). Insgesamt gehen die Jugendlichen davon aus, dass „Vorurteile“ gelernt, von der Umwelt vermittelt und angeeignet werden. Ausgehend von eigenen Erfahrungen in Cliquen stellt Qerim fest, dass in diesem Zusammenhang eine besondere Gefahr darin besteht, dass sich „Vorurteile“ als ‚falsches Wissen‘ verselbständigen und eine Eigendynamik entwickeln, so dass letztlich viele darauf zurückgreifen, ohne dass es einen realen Bezug zur konkreten Person gibt (vgl. Qerim GD1, 321). Pointiert formuliert Nesrin stellvertretend für ihre Kleingruppe, in der sie über Diskriminierung gesprochen haben, in ähnlicher Weise: „Diskriminierung ist ansteckend“ (Nesrin PD, 96). Zusammenfassender Rückblick und Ausblick Bis hierher lässt sich zusammenfassen, dass die Jugendlichen die Erfahrung machen, kategorisiert und in einem gesellschaftlichen Außen als ‚Nicht-Deutsch‘, als nicht zu dieser als homogen vorgestellten Gesellschaft zugehörig positioniert zu werden – weil sie von einem imaginierten Bild des oder der typisch Deutschen phänotypisch, aufgrund ihrer Sprache oder ihres Namens abweichen; obwohl sie in dieser Gesellschaft aufgewachsen, teilweise auch geboren sind, zum Großteil einen deutschen Pass besitzen und, trotz allem, (auch) Deutschland ihre Heimat nennen. Mit den selbstverständlich erscheinenden Benennungen und Deplatzierungen gehen die Jugendlichen auf unterschiedliche Weise um. Zuweilen akzeptieren sie die für sie offenbar vorgesehene Position der ‚Ausländerin‘, ohne sie zu hinterfragen, weitaus öfter jedoch übernehmen sie die Fremdbezeichnung in ambivalenter und/oder widerständiger Weise oder positionieren sich gemäß des Herkunftslandes der Eltern. Dies geschieht häufig aufgrund wiederkehrender Ausgrenzungserfahrungen und in Ermangelung alternativer Optionen der Selbstbenennung und -positionierung angesichts eines wirkungsmächtigen, rechtlich und diskursiv etablierten binären Systems der Zugehörigkeitsordnung. Darüber hinaus gehört auch die Erfahrung zu ihrem Alltag, mit vermeintlichem ‚Wissen‘ über sie, ihre Familien und konstruierte nationale, religiöse und/oder kulturelle Gruppen konfrontiert zu werden, denen sie angeblich oder tatsächlich zugehören. Diese Zuschreibungen werden häufig als deterministisch vorgestellt, wider-

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sprechen den individuellen Selbstverständnissen der Jugendlichen und tragen zudem fortwährend zu einer Fremdpositionierung und also Ausgrenzung sowie zur Aberkennung von Individualität und Subjektivität bei. Sie beziehen sich vornehmlich auf solche Diskurs- und Debatteninhalte (etwa zu ‚Integration‘, ‚Kriminalität‘, ‚Islam‘ oder ‚Bildung‘), in denen ein problematischer Zusammenhang zwischen als ‚Ausländer‘ oder ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘ konstruierten Personen und einer ebenfalls konstruierten ‚deutschen Normalität‘ hergestellt wird. Die fokussierte ‚Problematik‘ zeichnet sich dabei jedoch nicht etwa durch die Inblicknahme der Probleme aus, die Migrantinnen, Migranten und ihre Nachkommen in Deutschland haben, sondern durch die Thematisierung von ‚Problemen‘, die sie vermeintlich verursachen. Vor diesem Hintergrund machen die Jugendlichen die Erfahrung als, (problematische) ‚Andere‘ konstruiert und einem normalisierten, (nicht-problematischen) ‚Wir‘ gegenübergestellt zu werden. Ein Umstand, den sie zum einen als „nervig“, „verletzend“ und „erniedrigend“ empfinden und der sie „wütend“ macht, zum anderen aber auch zu (widerständigen) Umgangsweisen führt, mit denen sie zeigen wollen, dass sie als Individuen nicht dem Bild, das sich andere von ihnen machen, entsprechen. In ihrem Alltag sind die Jugendlichen stetig aufgefordert, in diesem komplexen und ambivalenten Raum zwischen Fremdpositionierungen, zugeschriebenen Bedeutungskonstruktionen, gesellschaftlich wirksamen politischen und medialen Diskursen, expliziten und impliziten, institutionalisierten und individuellen Diskriminierungspraktiken eigene Selbstverständnisse, Meinungen und Haltungen zu entwickeln und sich mit diesen – widerständig – zu positionieren, in diskriminierenden Situationen zu reagieren, zu handeln, Stellung zu beziehen oder auch, ihnen ‚präventiv‘ zu begegnen. Wurden in den letzten Abschnitten grundlegende Mechanismen von Rassismus in den Blick genommen, wie sie Jugendliche wiederkehrend als ihnen gemeinsame Erfahrung vor allem auch in den gemeinsamen Diskussionen thematisieren, so soll im Folgenden vor allem auf Schilderungen zu konkreten Situationen, in denen Jugendliche Rassismus erfahren haben, und ihre detaillierte Analyse fokussiert werden. Dabei sind die bisher herausgearbeiteten Aspekte ihrer Rassismuserfahrungen auch hier immanenter bedeutungs- und wirkungsvoller Bestandteil der Auseinandersetzungen. Im Zentrum des Interesses stehen in den folgenden Analysen jedoch die Deutungen und Zusammenhangsannahmen sowie Handlungsbegründungen und Umgangsweisen der Jugendlichen, um von hier aus die sozialen Kontexte, Verhältnisse und Bedingungen zu rekonstruieren, die diese Erfahrungen, Deutungs- und Handlungsweisen ermöglichen und auf die diese verweisen. Denn da die Jugendlichen in ihren Deutungen und Verstehensbemühungen auf soziale Bedeutungen zurückgreifen, die für sie und ihre Suchbewegungen im Interesse des Erklärens relevant werden, die zugleich aber auch auf gesellschaftlich bedeutsame Konstruktionen verweisen, welche ihnen als gesellschaftlich vermittelte Deutungsangebote zur

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Verfügung stehen, lassen sich auf diese Weise auch die kontextualisierenden, sozialnahräumlichen wie gesellschaftlichen sozialen Bedingungen des Deutens und Erfahrens herausarbeiten. Diese geben nicht nur Auskunft über die Verhältnisse, die die Erfahrungs- und Möglichkeitsräume der Jugendlichen und also auch ihr Handeln begrenzend und ermöglichend rahmen, sondern auch über das Verhältnis von Subjekt und Diskurs bzw. von Subjekt und Gesellschaft (vgl. Kap. III). Obwohl im Mittelpunkt dieser Analysen mehrheitlich die Berichte Einzelner stehen, sind diese nicht als ‚Ausnahmen‘ oder Einzelerfahrungen misszuverstehen. Vielmehr stehen die zur Feinanalyse gewählten Situationen quasi stellvertretend für Erfahrungen, von denen auch andere berichten, wie jeweils eingangs anhand von Beispielen eher deskriptiv deutlich gemacht wird. Es handelt sich insofern um ‚typische‘ Erfahrungen, die Jugendliche in ihrer Freizeit und, vor allem, in der Schule machen. Im Folgenden geht es um die gemeinsame Deutung einer allen bekannten Ausgrenzungspraxis: Den verweigerten Einlass in Diskotheken. 2.3 Rassismus als unlogische Erfahrung Obgleich die Jugendlichen die allgegenwärtigen stereotypen Bilder als wesentlichen Bestandteil ihrer alltäglichen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen identifizieren, reichen ihr Wissen um ‚Vorurteile‘ und entsprechende Zusammenhangsannahmen nicht immer aus, um konkrete Erlebnisse für sie zufriedenstellend erklären zu können. Sie müssen dann feststellen, dass die Erfahrungen, die sie machen, sich häufig komplexer darstellen, als es die ihnen zur Verfügung stehenden Wissensbestände und Deutungsmuster sind. Dies soll im Folgenden am Beispiel der Deutungen und Zusammenhangsvermutungen herausgearbeitet und aufgezeigt werden, die die Jugendlichen in ihren Diskussionen zum Einlass- bzw. Nicht-Einlass in Diskotheken führen. ‚Manchmal denke ich, die Türsteher haben einfach Spaß dabei‘ Samir, der wie alle männlichen Jugendlichen in der Runde die Erfahrung macht, regelmäßig keinen Einlass in Diskotheken gewährt zu bekommen, 34 vermutet aufgrund eigener Erfahrungen, dass rassistische Ausgrenzung in diesem Fall etwas mit der ‚Lust und Laune‘ des Türstehers zu tun hat. Er schildert folgende für ihn absurde Situation: 34 Diese Form rassistischer Diskriminierung ist vielfach nachgewiesen. In den letzten Jahren wird vermehrt auch rechtlich gegen diese Praxis vorgegangen. So etwa vom Antidis kriminierungsbüro Sachsen, das 2006, 2008 und 2011 „Testings“ in Leipziger Diskotheken durchführte – 2011 mit dem Ergebnis, dass 50% der getesteten Clubs „den nichtdeutsch aussehend[en] Gäste[n]“ den Einlass verweigerten (vgl. http://www.adb-sachsen.de/rassistische_einlasskontrollen.html, zuletzt geprüft am 18.3.2013).

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Samir:

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„Manchmal denke ich, die Türsteher haben auch einfach Spaß dabei einfach mal zu sagen: ‚Nee, du kommst hier nicht rein.‘ Das war auch im City in FStadt da in der Diskothek. Wir waren wirklich zwei Monate hintereinander jedes Wochenende da. Und dann nach zwei Monaten das Wochenende, so ungefähr, wir waren achtmal hintereinander oder so da, und dann waren wir da und genau der selbe Türsteher, obwohl wir ihn immer gegrüßt haben mit Hand und alles und so, hat der gesagt: ‚Ja, tut mir leid Jungs, heute nicht.‘ .. Und ich fand das auch nicht witzig da hab ich auch gleich gesagt: ‚Was soll das?‘ und so und bin auch einfach weiter gegangen. Hat er mich zurückgezogen und gesagt: ‚Nee, geht nicht.‘ Hab ich gesagt: ‚Ja, willst mich jetzt verarschen, oder..?‘ Ja, war nicht so nett von ihm.“

Interviewer: Samir:

„Was ist dann passiert?“ „Ja, nichts. Die haben mich alle sofort zurückgezogen und dann sind wir wieder weggefahren.“ (GD1, 398-400)

Samir schildert in dieser Passage, wie die Spielregeln, von denen er glaubt, dass diese Gültigkeit besitzen und logisch sind, in der nächtlichen Ausgeh-Praxis auf einmal nicht funktionieren. Es sind offenbar nicht die ‚richtigen‘ Spielregeln: Er beschreibt sich und seine Freunde als loyale Stammkunden der Diskothek, die – so ist ob der nachdrücklich beschriebenen Regelmäßig- und Problemlosigkeit ihrer Besuche zu vermuten – noch nie Ärger gemacht haben, die durch ihr Verhalten noch nie Anlass für einen Rausschmiss gegeben haben. Zudem, so Samir, haben sie eine gute Beziehung zu dem Türsteher. Und dennoch, „obwohl wir ihn immer gegrüßt haben mit Hand und alles und so“, wird ihnen nach acht Wochen regelmäßigen und unproblematischen Besuchs der Zutritt unvermittelt verwehrt. Weder das angemessene Verhalten noch die gute persönliche Beziehung zu dem Mann, der in Samirs Augen darüber entscheidet, wer eingelassen wird und wer nicht, können das verhindern. Das erscheint ihm nicht logisch und nicht korrekt: Samir verortet die Entscheidungsmacht und damit auch die Verantwortung für diese diskriminierende, unlogische Praxis auf individueller Ebene, zuvorderst beim Türsteher. Darüber hinaus sieht er aber auch sich selbst als involviert, als Teil der Interaktion vor der Tür. Mögliche Begründungen für die Entscheidung des Türstehers können Samir zufolge daher nur auf der interpersonalen Ebene liegen, in der Interaktion oder dem Verhältnis zwischen ihm und dem Türsteher. Aber während Samir meint, alles, was in seinem Bereich der Handlungsmöglichkeiten auf dieser Ebene liegt, ‚richtig‘ zu machen, reagiert der Türsteher als Interaktionspartner nicht in angemessener Weise. Damit verstößt der Türsteher gegen die eigentlich doch logischen, bisher an dieser Tür gültigen – und offiziell vermutlich auch so kommunizierten – Einlassregeln. Samir geht davon aus, dass diese Einlassregeln die Regeln des Türstehers sind, nach

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denen dieser autonom entscheidet, wer Zugang erhält und wer nicht. Sie ließen sich in seiner Perspektive wohl folgendermaßen zusammenfassen: ‚Ich lasse dich rein, wenn du keinen Stress machst. Wenn ich dich darüber hinaus auch noch kenne und nicht nur aus Erfahrung weiß, dass du keinen Stress machst, sondern dich womöglich zudem noch ganz sympathisch finde, steht dem Einlass (eigentlich) nichts mehr im Wege.‘ Samir muss feststellen, dass die Logik, die zum einen als diskursive Wahrheit Normalitätsanspruch erhebt, wenn es um den Einlass in Diskotheken geht (Gewalt verhindern), und zum anderen auf eigentlich doch selbstverständlichen, zwischenmenschlichen Regeln der Interaktion beruht, in dieser Situation offenbar keine Gültigkeit besitzt. Mit dem Ausbleiben dieser vermeintlichen ‚Normalität‘ wird die Situation für Samir absurd: „‚Was soll das?‘ […] ‚Ja, willst mich jetzt verarschen, oder..?‘“ Das Verhalten des Türstehers ist für Samir weder nachvollziehbar noch einschätzbar in seinen Begründungen, was für Samir zum einen mit Verunsicherung und einem Verlust an Handlungssicherheit, zum anderen mit Fassungslosigkeit und Wut über den Verstoß gegen die ‚Regeln‘ von Seiten des Türstehers einhergeht. Da Samir sich nichts vorzuwerfen hat, hat der Türsteher keine für Samir nachvollziehbaren Gründe, ihn so zu behandeln, und Samir mutmaßt im Rückblick konsequenterweise, dass dem Handeln des Türstehers ein irrationaler Grund zugrunde liegt: Vermutlich, so Samir, handelt der Türsteher nach Lust und Laune: Er hatte vielleicht „einfach Spaß dabei einfach mal zu sagen: ‚Nee, du kommst hier nicht rein‘“(Samir GD1, 404). Neben einer solchen Erklärung, dass der Türsteher „einfach Lust dazu [hatte]“ (Samir GD1, 404), hält Samir es auch für möglich, so spekuliert er weiter, dass dieser „an dem Tag vielleicht Ärger mit Ausländern“ hatte: „Wollte einfach keinen mehr sehen“ (Samir GD1, 404). Samir kommt letztlich zu dem Schluss, dass das Verhalten des Türstehers keinen sozialen Regeln der Interaktion folgt. In seiner Perspektive stellt sich sein Handeln vielmehr als willkürliches, nicht vorhersehbares, reines Machthandeln dar und „war nicht so nett“, wie er sagt. Es begründet sich entweder aus dem individuellen ‚Spaßbedürfnis‘ des Türstehers, so Samirs Deutungen, oder seinen Erfahrungen mit „Ausländern“ und den daraus erwachsenen Launen an diesem spezifischen Abend. Samirs Erklärungsmodell lässt lediglich auf der interpersonalen Ebene Raum für das Nachdenken über mögliche Begründungen für diese Erfahrung. Die ihm bekannten, naheliegenden Begründungen für rassistisches Handeln – nämlich generelle „Vorurteile“ gegenüber „Ausländern“ und „so Glatzköpfe“, die „ausländerfeindlich“ sind (Samir IS, 9-13) – liefern für diese Erfahrung keine hinreichende Erklä rung. Zwar wirft Samir dem Türsteher situatives diskriminierendes Handeln vor, und letztlich wird er – nach seiner zweiten Begründungsthese – als zur Gruppe der ‚Ausländer‘ gehörend Identifizierter kategorial mit verweigertem Einlass bestraft,

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jedoch tut er dies eher im Modus des Verstehens als des Anklagens. Eine rassistische Verhaltensweise oder gar das ‚Rassist-Sein‘ wirft Samir ihm nicht vor; vermutlich auch, weil der Türsteher die Jungs bisher sehr wohl in die Diskothek gelassen hat und sie eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihm haben. Rassismus kommt in den von Samir hier artikulierten Suchbewegungen nicht als expliziertes Deutungsmuster vor. Dass dem so ist, so ließe sich interpretieren, hat etwas mit dem ihm zur Verfü gung stehenden, (legitimen) Erklärungswissen zu tun, durch das eine Situation sich als rassistische Situation (legitim) beschreiben ließe, und das die von Samir erlebte Situation nicht zu erklären vermag. Ein zur Verfügung stehendes binäres Erklärungsmuster, das auf individueller Ebene ‚Rassisten‘ von ‚Nicht-Rassisten‘ trennt, wird der Komplexität des Erfahrenen nicht gerecht. Die erlebte rassistische Ausgrenzungspraxis stellt sich Samirs vielmehr als absurdes, unvorhersehbares und kaum zu erklärendes Phänomen dar: In der erlebten Situation werden weder die Spielregeln des Einlasses noch die ihm bekannten Spielregeln des Rassismus befolgt. Die Handlung erfolgt außerhalb beider ihm für diese Situation passend erscheinenden, logischen Erklärungsmodelle. Offenbar, so Samir, folgt das Handeln des Türstehers also anderen Regeln; Regeln, die nicht transparent, nicht logisch und nicht gerecht, dafür aber außerordentlich machtvoll sind, und über die Samir hier spekuliert. Die Verantwortung für diese Regeln verortet Samir beim Türsteher als individuell und selbstbestimmt Handelndem, was solche Situationen zusätzlich unberechenbar und eine ‚allgemeingültige‘ Erklärung noch schwieriger macht. In einer solchen Situation des Diffusen, die zudem durch ein gewaltiges Machtgefälle gekennzeichnet ist, handlungsfähig zu bleiben bzw. zu sein, scheint so gut wie unmöglich. So bleibt Samir in der konkreten Situation nichts anderes übrig, als sich der als willkürlich empfundenen Entscheidung des Türstehers wütend, fassungs- und ratlos zu unterwerfen und darauf zu hoffen, dass die gleiche Willkür beim nächsten Mal zu einer für ihn offenen Tür führt. ‚Ausländer diskriminieren Ausländer?‘ Obwohl in der Diskussion über die Erfahrungen des verweigerten Einlasses und bei der Suche nach möglichen Begründungen im Anschluss an Samirs Schilderung auch institutionelle Begründungen eine Rolle in den Erklärungsvermutungen der Jugendlichen spielen (vgl. unten), konzentriert sich ihre Zusammenhangssuche letztlich doch vornehmlich auf eine individuelle Ebene. Die Erfahrung, dass „der Besitzer“ die Regeln macht und nicht die Türsteher, wird zwar von allen geteilt. Vor dem Hintergrund ihrer konkreten Erfahrungen und ihres Verstehensbedürfnisses ist dies jedoch offenbar noch keine hinreichende Erklärung, um die Spielregeln, die über Zutritt und Nicht-Zutritt entscheiden, befriedigend durchschauen zu können (vgl. unten). Die rassistischen (Nicht-)Einlass-Spielregeln präsentieren sich als überaus komplex. Samir, der in seiner Suchbewegung bereits festgestellt hat, dass

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weder die offiziellen Regeln des Einlasses noch die Regeln der vorurteilsbasierten rassistischen Diskriminierung vom Türsteher verlässlich eingehalten werden, über diese kategorialen Feststellungen also kein ‚Verstehen‘ der diskriminierenden Situation möglich ist, macht im Verlauf des Gesprächs auf eine weitere Absurdität aufmerksam, die die Komplexität dieser Situationen noch erhöht und ihr Erklären zusätzlich erschwert. Vorsichtig und quasi im Vertrauen zur Gruppe merkt Samir an: „Also, ganz ehrlich, bei den Diskotheken in unserer Umgebung, sind das, finde ich, meistens die ausländischen Security, die sagen: ‚Nein, du kommst nicht rein.‘“ (Samir GD1, 483)

Diskriminierungen am Eingang von Diskotheken, so gibt Samir hier zu bedenken, sind eigentlich noch vielschichtiger, denn häufig beinhalten sie noch einen weiteren verkomplizierenden Aspekt, der von der Gruppe bisher nicht verhandelt wurde. Das „ganz ehrlich“, mit dem Samir hier einleitet, hat den Charakter einer Ankündigung, mit der er seine Zuhörer und Zuhörerinnen möglicherweise darauf hinweist, dass nun etwas Wichtiges gesagt werden wird, etwas, das sonst vielleicht nicht, nicht oft oder nicht gerne gesagt (oder gehört) wird. Behutsam, indem er betont, dass es sich ‚nur‘ um seine persönliche Meinung handelt – „finde ich“ –, und dass diese ledig lich aus einem beschränkten Beobachtungsradius hervorgeht –, „in unserer Umgebung“ – also unter Umständen nicht verallgemeinerbar ist, macht er darauf aufmerksam, dass die selektive Einlasspraxis in Diskotheken keineswegs dem rassistischen Muster entspricht, von dem gemeinhin selbstverständlich die Rede ist: ‚die Deutschen‘ diskriminieren ‚die Ausländer‘. Auch diese vermeintliche Regel des Rassismus stellt sich in den konkreten Erfahrungen von Jugendlichen vor Diskotheken-Türen – Samirs Hinweis wird von anderen, die Gleiches erfahren, bestätigt – anders dar, wird nicht eingehalten und ist ein (weiteres) Argument dafür, dass diese Situationen nicht eindeutig als Rassismus zu klassifizieren sind. „Das ist wieder- Ich weiß nicht, was man da unter Diskriminierung versteht so, aber die Deut schen sind das meistens nicht, die sagen: ‚Nee, du kommst nicht rein.‘ Sondern die Ausländer. Die sagen: ‚Ey, komm, du machst sowieso nur Probleme, bleib einfach draußen‘.“ (Samir GD1, 483)

So wenig wie dem Türsteher aus dem ersten Beispiel, mit dem sie sich immer per Handschlag gegrüßt haben und der sie eigentlich auch immer reingelassen hat, kann den ‚ausländischen‘ Türstehern der Rassismusvorwurf gemacht werden, so Samir. Denn die Erfahrung in der Realität erfüllt nicht die Kriterien der Definition. Damit handelt es sich um einen weiteren Aspekt, der im ‚Außerhalb‘ einer möglichen Regelhaftigkeit zu verorten ist. Dieser stiftet neben noch mehr Komplexität und Erklä-

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rungsnot auch noch mehr Orientierungslosigkeit in der Benennungs- und Kategorisierungsfrage: „Ich weiß nicht, was man da unter Diskriminierung versteht.“ Samir macht wiederholt darauf aufmerksam, dass die ihm (und den anderen) bekannten und diskutierten Modelle nicht zu den tatsächlich gemachten Erfahrungen passen, und er fragt sich und die anderen, wie eine solche Situation jenseits der bekannten Modelle, die hier nicht greifen, zu deuten, zu kategorisieren und zu erklären ist. Samirs Nachdenklichkeit und Irritation kommen hier deutlich zum Ausdruck. Und er sucht nach einem Ausweg aus diesem Paradox zwischen ‚gültigem‘ Erklärungsmodell und gemachter Erfahrung. Allerdings bleibt sein Erklärungsversuch ein weiteres Mal stark an das ‚herkömmliche‘ Konzept von Rassismus/Diskriminierung angelehnt, das er versucht, an die erlebte Situation anzupassen. Wenn die Diskriminierung von ‚Ausländern‘ gegenüber ‚Ausländern‘ ausgeübt wird, „dann kann man nicht sagen gegen Ausländer, so, sondern … ich weiß nicht gegen (wen?) …“ (Samir GD1, 490). Gegen wen, wenn nicht gegen ‚Ausländer‘ richtet sich hier Diskriminierung? Qerim schlägt vor: „[D]ann ist das gegen Aussehen“ (Qerim GD1, 491), und Milot findet seinen Ausweg aus dem Paradox in der Ironie: „Ich glaube, jeder der breiter ist als der Türsteher kommt nicht rein“ (Milot GD1, 492) und erntet damit Lacher in der Runde. Samir hingegen denkt weiter laut über alternative Erklärungsmöglichkeiten nach: „Nee, dann ist das so, nicht direkt gegen Ausländer so, sondern gegen .. weiß ich nicht, die Person gefällt ihm einfach nicht“ (Samir GD1, 493). Auch in dieser Passage wird deutlich, wie schwierig es ist, außerhalb der gängigen Kategorisierungen und Deutungsangebote zu denken. Und zwar auch dann, wenn die eigene Erfahrung ist, dass die gängigen Kategorien nicht passen, um das Erlebte angemessen zu beschreiben. Wenn die erlebten, ausgrenzenden Praktiken nicht auf generelle individuelle ‚Vorurteile‘ gegenüber ‚Ausländern‘ zurückzuführen sind, es sich nicht um Rassismus im Modell ‚Deutsche‘ versus ‚Ausländer‘ handelt, was ist dann in einem solchen Fall Diskriminierung? Und wie kann Diskriminierung von einem allgemein gültigen Standpunkt aus („man“) bestimmt werden? Was sind dann ihre – geheimen – Spielregeln? Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Samirs alternativer Erklärungsvorschlag ist wiederum in der individuellen und damit nicht generalisierbaren Entscheidung des Türstehers verortet. Allerdings scheint er selbst keineswegs von dieser Erklärung überzeugt zu sein. Eher wirkt es so, als sei dies die einzige für ihn vorstellbare Möglichkeit, der einzige Ausweg aus dem Paradox. Im Gegensatz zu ihrer Definition von „schlimmer“ Diskriminierung (vgl. Kap. 2.1), nimmt die hier interpretierte Form nicht auf eine Gruppenzugehö rigkeit Bezug, sondern auf die konkrete Person. In diesem Fall: auf ihn, Samir. Er ist ‚die Person, die dem Türsteher einfach nicht gefällt‘. Damit schließt Samir an vorangegangene individualisierte Erklärungsversuche an, in denen er die einzige

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Lösung für eine kategorial nicht zu erklärende Praxis sieht: Willkür, Lust und Laune sowie Spaß an der Diskriminierungspraxis sind auf der einen Seite verantwortlich für den selektiven Einlass. Auf der anderen Seite ist es die Person, die um Einlass bittet – was allerdings die ‚Merkmale‘ sind, die Kriterien, die über Einlass und Nicht-Einlass entscheiden, bleibt im Dunkeln. Das System hinter diesen machtvollen Praktiken erfährt von Samir keine Aufmerksamkeit. Die Erklärungsversuche Samirs, die dem erlebten Widerspruch von zur Verfügung stehenden Deutungsmustern und erlebten Situationen entspringen, so unbefriedigend sie auch sein mögen, führen zwangsläufig auch zu einem Mehr an Differenziertheit. So weist er mit seinem Einwand, dass es „meistens die ausländischen Security [sind], die sagen: ‚Nein, du kommst nicht rein‘“, auch darauf hin, dass auch die Gruppe der ‚Ausländer‘, der er sich selbst zugehörig fühlt, zu potenziellen ‚Tätern‘ werden können, dass auch sie ausgrenzend handeln. Es geht hier also nicht um Schuldzuweisungen und die Repräsentation von Gruppen als ‚Täter‘ oder ‚Opfer‘. Stattdessen steht hier, wie in den anderen Passagen auch, die Suche nach Antworten in komplexen Verhältnissen zentral. Gleichzeitig gelingt es Samir und anderen bei ihren Erklärungs(ver)suchen jedoch nicht, jenseits der grundsätzlichen Kategorisierung in ‚Ausländer‘ und ‚Deutsche‘ zu denken, sich von dieser Binarität zu distanzieren oder sie zu hinterfragen. So ist ein Nebeneffekt, dass selbstverständlich erscheinende kategoriale Zuordnungen, die ein gewichtiger Aspekt von Rassismus sind, reproduziert werden. ‚Wir feiern zusammen‘ Es ist Milot, der, in Bezug auf Samirs Überlegungen zu möglichen Begründungen für das Handeln des Türstehers, der ihn und seine Freunde nach einer längeren Phase des verlässlichen Einlasses auf einmal nicht in die Diskothek hinein lässt, an merkt, dass das Verhalten des Türstehers nicht unbedingt etwas mit seinen persönlichen Präferenzen oder mit Samirs Verhalten zu tun haben muss. Er ergänzt Samirs Erklärungsversuche der Situation um den Aspekt der institutionellen Regeln, die durch den Chef der Diskothek verkörpert werden: „[D]as kommt doch meistens von dem […] Besitzer oder so. Dass die sagen: ‚Ja, heute nicht so viele reinlassen‘ oder so“ (Milot GD1, 405). Milot illustriert seine Aussage mit einem eigenen Erlebnis – nämlich, dass, als er „noch 20 Meter vom Eingang“ entfernt war, „die: ‚Nee, heute nicht‘“ gesagt haben. „Von 20 Meter Entfernung! (Gelächter) ‚Nee, heute kommst du nicht rein.‘“ (Milot GD1, 405). Auf das Gelächter hin bestätigt Qerim Milots Geschichte – „Ist so!“ –, mit der dieser deutlich macht, dass diese Situationen nichts mit ihnen persönlich zu tun haben müssen. Es ist egal, ob sie bekanntermaßen keinen Ärger machen oder immer nett zum Türsteher waren. Diese Regeln beziehen sich auf die Gruppe der „Ausländer“, nicht auf sie als Einzelne. Auch Samir fällt daraufhin ein, dass er diese Erfahrung schon „voll oft so im Moskau“ gemacht hat:

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„[D]a meinte er: ‚Ja, tut mir leid geht nicht mehr, wir haben schon knapp 30 Ausländer reingelassen und der Chef will nicht, dass da mehr reinkommen. Der hat heute diese Zahl genannt und dann ist das so“ (Samir GD1, 407). Milots Feststellung wirft ein neues Licht auf das Handeln von Türstehern. Statt eine Erklärung in den jeweiligen individuellen Präferenzen zu suchen, lenkt er den Blick auf institutionelle Regeln bzw. auf Regeln, die von einer ‚höheren‘ Machtinstanz vorgegeben werden. Entsprechend wird das Handeln von Türstehern mit Entscheidungsmacht erklärt, die auf einer anderen Ebene zu verorten ist. Das eigentliche ‚Problem‘, das die Jugendlichen umtreibt, nämlich eine Erklärung dafür zu finden, was die verdeckten Spielregeln sind, anhand welcher Kriterien sie aufgestellt werden und wie sie mit ihnen umgehen, auf sie Einfluss nehmen können, wird durch das Verschieben des Ortes, an dem die Macht, Spielregeln zu machen, zu lokalisieren ist, bzw. durch das Verschieben der Verantwortlichkeit von einer individuellen Person zur anderen jedoch nicht gelöst. Auch nach Milots Einwurf kommen Jugendliche, obwohl sie diese Vorgehensweise bestätigen können, immer wieder auf die individuelle Ebene zurück, auf der sie nach Erklärungen suchen. Und auch für Milot stellt diese Erklärungsvariante nur eine Möglichkeit neben anderen dar. So deutet auch er Situationen, in denen der Einlass in Diskotheken verwehrt wurde, an anderen Stellen mit der gleichen individuellen Willkür wie Samir: „Weil er [der Türsteher, W.S.] einfach keinen Bock auf die [Qerim und seine Freunde, W.S.] hatte“ (Milot GD1, 416). Ob Einlass gewährt wird, „das kommt halt ganz drauf an, wie die Leute [die Türsteher, W.S.] halt drauf sind“ (Milot GD1, 520). An Milots Hinweis, der den Fokus der Erklärungssuche für verweigerten Einlass vom Handeln des Türstehers auf die Entscheidungsmacht des Besitzers verschiebt, schließt Qerim mit einer Situationsschilderung an. Für ihn scheint unter den Erfahrungen mit verweigertem Zutritt ein Erlebnis beim Schützenfest das einprägsamste gewesen zu sein: „Schützenfest in X-Stadt“, beginnt Qerim seine Erzählung, „das ist das Schlimmste“ (Qerim GD1, 409, 411). Seine Erklärung dafür, warum das „das Schlimmste“ ist, folgt auf dem Fuße: „das ist das Schlimmste, weil... Da haben wir.. in X-Stadt, wenn die da in der Halle da feiern, die Schützen, dann sieht man da so Schilder, na: ‚Wir feiern zusammen‘ dann so eine TürkeiFlagge und Deutschland-Flagge. Wir sagen so: ‚Wieso ist da eine Türkei-Flagge?‘ Wir sindWeil in X-Stadt gibt es keine Türken. Vielleicht eine Familie. Ja, wir sagen: ‚Wir sind doch gar keine Türken‘ und so. Und die Türsteher kennen wir richtig gut, die lassen uns trotzdem rein und so. Aber dann kommt der Chef immer und sagt so: ‚Nee, das ist geschlossene Ge meinschaft. Hier kommen heute keiner außer die Schützen rein.‘ So. Da sehen wir die ganze Zeit andere, die auch keine Schützen sind, reinkommen. Bloß wir Ausländer, wir kommen dann nicht rein. Wir müssen dann draußen bei dem (Regen?) bleiben.“ (Qerim GD1, 411)

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Qerims Erklärung dafür, dass das Schützenfest „das Schlimmste“ war, hat zunächst einmal etwas mit der Beschilderung der Veranstaltung zu tun. Die angebrachten Schilder sollen offensichtlich den Eindruck eines freundschaftlichen, gemeinschaftlichen, vielleicht auch eines ‚interkulturellen‘ Festes zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Türken‘ vermitteln: „Wir feiern zusammen“, symbolisch untermalt mit einer deutschen und einer türkischen Flagge. Qerim ist sich offenbar unmittelbar bewusst, dass die „Türkei-Flagge“ auch ihn als vermeintlich ‚Nicht-Deutschen‘ symbolisieren soll. Er kennt – wie andere auch – ein Vorgehen, bei dem als vermeintlich ‚nicht-deutsch‘ identifizierte Personen synonymisiert als ‚Ausländer‘ bzw. als ‚Türken‘ benannt und kategorisiert werden und macht wie andere die Erfahrung, in seinem Alltag einer solchen klassifizierenden Benennungspraxis ausgesetzt zu sein. Eine solche Ansprache und positionierende Kategorisierung erfolgt auch durch die Schilder. Die Türkei-Flagge, so die für Qerim naheliegende Intention, stellt verallgemeinernd das Symbol für ‚Nicht-Deutsch‘ dar und soll somit auch ihn symbolisieren. „‚Wieso ist da eine Türkei-Flagge?‘ […] ‚Wir sind doch gar keine Türken‘“, sagen er und seine Freunde, für die offenbar klar ist, dass sie mit dieser Flagge ge meint sind; genauso klar, wie es für sie auch zu sein scheint, dass die Deutschland-Flagge nicht sie meint. Während Qerim mit der Bezeichnung als ‚Ausländer‘ keine Probleme hat, er diese Kategorie selbst als ‚Sammelbegriff‘ benutzt, um Menschen aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel seine Freunde, ‚zusammenzufassen‘ (vgl. oben, Qerim GD1, 66), ist die Kategorisierung als ‚Türke‘ für ihn, der so wenig Türke ist wie seine Eltern, offenbar eine absolute Fehlplatzierung, die keinerlei Berechtigung hat: Weder taugt sie als Symbol für Qerim und seine Freunde, die sich mit einer solchen Kategorisierung nicht identifizieren können, noch ist sie ‚formal‘ richtig: „Weil in X-Stadt gibt es keine Türken. Vielleicht eine Familie.“ Das ‚Wir‘, das mit dem Schild konstruiert werden soll und im ‚Titel‘ der Veranstaltung zu lesen ist, gibt vor, für eine freundschaftliche Feier zu stehen, ist also entweder ein ‚Wir‘ bestehend aus ‚Deutschen und Türken‘ oder ein ‚Wir‘ bestehend aus ‚Deutschen und Ausländern‘. Beide ‚Wirs‘ jedoch, darüber ist Qerim sich im Klaren, sind leere Hülsen und Ver sprechungen, die nach außen wirken sollen, nach innen aber keinerlei Konsequenzen für das Schützenfest haben: Das erste ‚Wir‘ ist faktisch in X-Stadt nicht vorhanden, das zweite ‚Wir‘, das auch ihn symbolisieren soll, ist praktisch nicht gewollt und wird über eine diskriminierende Einlasspraxis verhindert. Nur weil er die Türsteher gut kennt, die ihn dann „trotzdem“ reinlassen, überwindet er die erste Hürde des Zutritts35 – bevor er vom Chef der Veranstaltung hinausgeworfen wird. Dieser bezieht sich in seiner Begründung auf ein weiteres Kriterium des vermeintlich freundschaftlichen ‚Wirs‘: Das ‚Wir‘ beinhaltet ihm zufolge nur Schützen. Aber 35 Zuweilen funktioniert also die Taktik, die auch Samir thematisiert hat (zumindest kurzfristig): Sich mit dem Türsteher anfreunden, um Einlass gewährt zu bekommen.

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auch diese Begründung – die in Anbetracht des Schildes noch absurder wird, weil es, zumindest laut Qerim, „keine ausländischen Schützen“ in X-Stadt gibt – ist Qerim zufolge, wie die vermeintlich einladende Symbolik der Flaggen auch, bloß vorgeschoben: Denn er sieht „die ganze Zeit andere, die auch keine Schützen sind, reinkommen“. Trotz aller Konstruktionen eines vermeintlich heterogenen ‚Wirs‘ und legitimierender Kriterien läuft am Ende doch alles auf ein bekanntes Muster des Einlasses hinaus: „Bloß wir Ausländer, wir kommen dann nicht rein. Wir müssen dann draußen bei dem (Regen?) bleiben“, so Qerim. Assoziativ wird für mich persönlich nach dieser letzten, seine Erzählung abschließenden Aussage Qerims das „Wir feiern zusammen“-Schild zu einem Schild, das zuweilen vor Geschäften zu finden ist: Ein stilisierter Hund und die Aufschrift: Wir müssen draußen bleiben. Bei der hier präsentierten Nicht-Einlass-Erfahrung handelt es sich in den Augen Qerims um „das [s]chlimmste“ Erlebnis in solch einem Zusammenhang, zumindest jedoch um eine besonders gemeine, in Erinnerung bleibende Erfahrung der rassistischen Diskriminierung. Dies, so lässt sich vermuten, hängt wohl auch damit zusammen, dass die Schützenfest-Situation sich von anderen Situationen, die geschildert werden, insofern unterscheidet, als es hier Spielregeln des Einlasses zu geben scheint, die transparent gemacht werden: „‚Wir feiern zusammen.‘“ Dieser Schriftzug und zwei Flaggen entsprechen einer typischen Symbolik für Interkulturalität, Toleranz, Offenheit usw.. Diese scheint einen garantierten Einlass für alle – unabhängig von ihrer nationalen Herkunft – zu garantieren, entpuppt sich aber für Qerim und seine Freunde im ‚Praxistest‘ lediglich als verfehlte Kategorisierung sowie als Tarnung für praktizierte rassistische Diskriminierung. Während der Veranstalter sich nach außen eines interkulturellen Festes rühmt, findet unter diesem Label Rassismus statt. Für jene, die in dieser Situation nicht von Ausgrenzung betroffen sind oder eine Einlassverweigerung mitbekommen, bleibt die rassistische Praxis an der Tür unsichtbar. Stattdessen entsteht sogar der Eindruck, man würde sich hier für ein ‚Zusammen‘-leben und -feiern, für ein heterogenes ‚Wir‘ engagieren. Zusammenhangsannahmen Filiz vermutet hinter der Beschilderung eine Strategie des Veranstalters, der dies „bestimmt gemacht [hat], weil er wusste in X-Stadt gibt es keine Türken“ (Filiz GD1, 417), womit das Schützenfest trotz Interkulturalitätsanstrich eine rein ‚deutsche‘ Veranstaltung bleiben kann. Auch Milots interpretative Begründung für das Schild liest sich eindeutig. Er meint zu wissen, dass das Schild lediglich legitimatorischen Charakter habe, weil der Chef schon in der Vergangenheit mit rassistischen Handlungsweisen aufgefallen sei und es deshalb „Probleme“ gab: „Die letzten Male beim Schützenfest gab es da immer Probleme und so wegen dieser Sachen, weil der Chef da, der Besitzer vom Saal hat immer gesagt: ‚Nee, die Ausländer kommen nicht rein‘“ (Milot GD1, 416). Das Schild stellt auch in Milots Augen kein ernstge-

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meintes Symbol dar, sondern eine Strategie des Besitzers, auf diese Weise ein Bild nach außen zu präsentieren, das den ‚Problemen‘ (vielleicht dem Rassismusvorwurf) vom Vorjahr entgegenwirken soll, indem er „versucht das irgendwie hinzukriegen, dass ein paar wenigstens reinkommen, die auch so ordentlicher sind“ (Milot GD1, 416); indem er eventuell ein paar ausgewählte ‚Alibi-Ausländer‘ reinlässt, um das Bild von ‚Interkulturalität‘, das sein Schild vermitteln soll, zu bekräftigen. Während Milot und Filiz darüber nachdenken, welche Funktion das Schild für den Besitzer des Veranstaltungssaals wohl hat, denken Qerim und Samir darüber nach, welche Motivation der Chef hat, ‚Ausländer‘ vom Schützenfest fernhalten zu wollen. Samir gibt zu bedenken, dass die Verweigerung des Zutritts für Qerim und seine Freunde auch darin begründet sein könnte, dass deren Verhalten oder das Verhalten von ‚Ausländern‘ nicht dem Verhalten entspricht, das „der Chef“ sich wünscht. Dieser, so Samir, „will dass die Leute reinkommen und trinken, trinken, trinken und er Geld verdient. Mehr will er nicht.“ Qerim „und seine Freunde“ hin gegen würden stattdessen, so spekuliert Samir, „vielleicht […] da rein gehen und keine Ahnung irgendwas machen […] einfach nur reinkommen und sich hinsetzen und keine Ahnung, vielleicht noch irgend so ne Kacke dann machen“ (Samir GD1, 418). Was „der Chef“ will, scheint für Samir ganz klar zu sein. Der möchte Geld verdienen und hat ansonsten keine Interessen. Dementsprechend sind für den verweigerten Einlass bzw. für den Rausschmiss jene verantwortlich, die dazu beitragen, dass den Wünschen und Interessen des Wirts nicht entsprochen wird – entweder, indem „Ausländer“ kein oder zu wenig Geld im Laden lassen, „einfach so sinnlos da sind“ (Samir GD1, 422), oder „[w]enn dann irgendwelche Ausländer rein gehen und .. irgendwie Scheiße machen“ (Samir GD1, 422). Ein solches Verhalten ist für Samir in Anbetracht der vermeintlichen ökonomischen Interessen eine ‚normale‘ Begründung für einen Rausschmiss: „[D]ann find ich das auch normal, dass der irgendwann sagt: ‚Ey .. Ich hab nichts davon, ich verdiene nichts dadurch‘ .. und das ist einmal im Jahr, ich mein, irgendwie muss er auch sein Geld kriegen“ (GD1, 418). Auch auf die Nachfrage von Ahmet: „Dann ist was normal? Dass er sagt: ‚Ausländer kommen hier nicht rein‘ oder was?“ (Interviewer GD1, 419) bleibt Samir – wenngleich er zunächst etwas abwiegelt – letztlich bei seiner Deutung, dass das ‚Fehlverhalten‘ von „irgendwelche[n] Ausländer[n]“ zu einem Rausschmiss führen könnte und fügt hinzu: „[M]anchmal kann ich den Chef da verstehen“ (GD1, 425). Als ich ihn daraufhin frage, ob „der Chef dann auch Leute- deutsche Leute raus[schmeißt], die nichts trinken“ (Interviewerin GD1, 426), räumt er ein, dass das „[e]igentlich nicht“ der Fall sei, Qerim sagt: „Nö .. nie“ (GD1, 427, 428). Samirs Argumentationsfigur, dass Leute, die nichts konsumieren und sich schlecht benehmen, zu Recht rausgeschmissen werden würden, verengt sich im Laufe des Gesprächs auf das ‚schlechte Benehmen‘ von als ‚Ausländer‘ kategorisierten Jugendlichen, das zu einem generellen Rausschmiss dieser führe und letzt-

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lich, wenn man Samirs Argumentation folgt, diese Form der rassistischen Diskriminierung legitimiert. Er präzisiert und unterstreicht seine Argumentation auf die letzte Nachfrage hin und schließt nach einer langen Pause nach dem „[e]igentlich nicht“ an: „Aber .. da wurde ja auch schon mal was geklaut und so, da wurden die auch erwischt und da waren das auch Ausländer. Deswegen .. ist der Chef auch ein bisschen gegen-“ (Samir GD1, 428). Samir gibt sich hier große Mühe, das Verhalten des Chefs empathisch nachzuvollziehen und sucht verständnisvoll nach Ursachen und ‚normalen‘ Begründungen für seine Entscheidung, ‚bestimmten Menschen‘ den Zutritt zu seinem Fest zu verwehren. Und er sucht vor allem auch nach ‚alternativen‘ Begründungen, Begründungen, die nichts mit einem vermeintlichen ‚Nicht-Deutsch-Sein‘, mit Rassismus zu tun haben. Es macht den Eindruck, als würde Samir gerne vermeiden wollen, dass am Ende der Zusammenhangssuche ein rassistisch handelnder Chef steht. Und obwohl dies im Prinzip letztlich das ‚logische‘ Ende seiner Überlegungen ist, versucht er diese Konsequenz noch möglichst ‚sanft‘ zu präsentieren: „Deswegen .. ist der Chef auch ein bisschen gegen-“, sagt Samir und beendet den Satz nicht. Ein Rassismusvorwurf wird weder hier von Samir noch von Jugendlichen an einer anderen Stelle im Datenmaterial expliziert. 36 Insbesondere Samir versucht immer wieder, mögliche Motive für die Verweigerung des Einlasses empathisch nachzuvollziehen, und greift in diesen Verstehensbemühungen auch auf diskursiv virulente Erklärungsmuster zurück, in denen Diskriminierung mit einem vermeintlich spezifischen Verhalten und Benehmen von Jugendlichen legitimiert wird. Auf diese Weise reproduziert er zugleich homogenisierende Gruppenkonstruktionen und Zuschreibungen und normalisiert diskriminierende Praktiken. Filiz versucht sich hingegen an einer Bedeutungsverschiebung. Sie greift die Argumentation, wonach das Verhalten von Personen, die als ‚Ausländer‘ identifiziert werden, in Diskotheken zu (legitimen) Verallgemeinerungen und einem generellem Einlassverbot für alle führt, an anderer Stelle auf. Ihr Blick unterscheidet sich von den zuvor eingenommenen insofern, als sie zunächst versucht, das Handeln der von Diskriminierung betroffenen Jugendlichen – nicht jenes der diskriminierenden Türsteher – nachzuvollziehen. Diese Perspektive bildet den Ausgangspunkt ihrer Argumentation, mit der sie dann versucht, die Entstehung der immer wieder angeführten Begründungslogik für die rassistische Praxis zu erklären: Filiz geht davon aus, dass als ‚nicht-deutsch‘ Klassifizierte in Diskotheken Provokationen ausgesetzt sind, gegen die sich diese zur Wehr setzen. Weil, „die meisten Aus länder […] sich nicht gerne was gefallen [lassen]“, sondern „da ja so ein bisschen empfindlicher [sind] sag ich mal, also einige von denen“ (Filiz GD1, 458), kommt es zu Reaktionen auf Situationen, in denen „was weiß ich, der beleidigt wurde oder 36 Terkessidis (2004, 204) und Schramkowski (2007, 335) betonen, dass ihre Interviewpart nerinnen und -partner, keinerlei verallgemeinerte Stereotype gegenüber ‚den Deutschen‘ ins Feld führen, um sich Rassismuserfahrungen zu erklären.

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angerempelt wurde“ (Filiz GD1, 458). Denn, so Filiz, „die sagen halt auch nicht: ‚Ja, egal, ist jetzt in Ordnung. Ich gehe jetzt meinen Weg und du gehst deinen Weg.‘“ (Filiz GD1, 458). Letztlich werden ihr zufolge dann aber die, die „sich nicht gerne was gefallen [lassen]“, aufgrund von Zuschreibungen, die sie als gewalttätig und aggressiv konstruieren, von hinzugerufenen Türstehern unmittelbar und unberechtigterweise als jene identifiziert, die für Streitereien ursächlich verantwortlich sind. Eine daraus anscheinend automatisch folgende Verallgemeinerung, so Filiz, wirke sich dann als generelle Einlassbeschränkung auf alle aus, die von Türstehern als ‚Ausländer‘ kategorisiert werden: „[D]ann kommen die, sehen die einen Ausländer, okay, das nächste Mal so und so viele Ausländer kommen schon mal nicht rein, weil wir keine Lust haben, jedes Mal wieder reinzugehen und die rauszuholen, nach Hause zu schicken, weil die zu viel Stress machen“ (Filiz GD1, 458). Filiz klagt in ihrer Argumentation einen automatisierten Prozess von Identifikation – Zuschreibung – Verallgemeinerung – Ausgrenzung an, der zum einen die Bestrafung von Reaktionen statt Aktionen und zum anderen die ‚präventive‘ Ausgrenzung aller als ‚nicht-deutsch‘ kategorisierten Personen zur Folge hat. Dazu stellt sie der Begründungslogik, wonach angeblich das generell schlechte Benehmen und die Aggressivität von als ausländisch markierten männlichen Jugendlichen für rassistische Diskriminierung an Diskothekentüren verantwortlich sind, eine vorgängige, negatives Verhalten der Jugendlichen in spezifischer Weise begründende Logik voran, einen Erklärungsansatz, der verstehbar machen soll, was zu einem solchen Verhalten führt. Auf diese Weise versucht sie für Reartikulationen zu argumentieren, die zum einen die prominente rassistische Legitimationslogik delegitimieren und zum anderen ein Bild der Jugendlichen etablieren, das den gängigen Zuschreibungen entgegensteht. In ihrer Argumentation ist negativ-auffälliges oder aggressives Verhalten von Jugendlichen nicht ‚Eigenschaft und Wesensmerkmal‘, sondern Produkt erfahrener Provokation und Ausdruck widerständiger Handlungsfähigkeit – womit sie die von rassistischer Diskriminierung Betroffenen als wehrhafte, handlungsfähige Subjekte skizziert, die zwar Provokationen ausgesetzt und Leidtragende rassistischer Diskriminierung sind, jedoch ebenso wenig handlungsunfähige ‚Opfer‘ wie aggressive Unruhestifter sind. Konflikte in Diskotheken unter Beteiligung von als ‚nicht-deutsch‘ kategorisierten Jugendlichen weisen Filiz' Deutungsmuster zufolge also weder auf deren Schuld an Konflikten hin noch auf eine in ihrem ‚We sen‘ liegende Aggressivität. In ihrer Bedeutungskonstruktion bedeuten sie vielmehr Stärke, Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit gegenüber (rassistischen) Provokationen. Jedoch, und hier beißt sich die Katze in den Schwanz, gründen auch diese letztlich offenbar auf ‚im Wesen‘ der Betroffenen liegenden, homogenisierend konstruierten Eigenschaften: Empfindlichkeit und „sich nicht gerne was gefallen [lassen]“. Damit gelingt es auch Filiz in ihrer Begründungsthese nicht, den Deutungsrahmen

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einer binär unterscheidenden Logik, mit der als ‚nicht-deutsch‘ identifizierte Jugendliche als ‚Anders-Seiende‘ konstruiert werden, zu verlassen. Auch sie geht letztlich von einem spezifischen Verhalten ‚der meisten‘ der von ihr als ‚Ausländer‘ bezeichneten Gruppe aus, das in seiner Begründung nicht erkannt wird und von Türstehern daher fälschlicherweise zum Anlass für Rausschmiss und generalisierte Einlassverbote genommen wird. Allerdings scheint Filiz sich durchaus bewusst zu sein, dass die vorgenommene Homogenisierung, die ihrer Argumentation zugrunde liegt, in gewisser Weise ‚gefährlich‘ und kontraproduktiv, zumindest aber ambivalent ist, und sie versucht diese nicht nur mit Formulierungen wie „die meisten“ oder „einige von denen“ zu relativieren, sondern beginnt ihren Beitrag auch mit den Worten: „Ja, ich würde mal sagen jetzt .. ist irgendwo auch ein Vorurteil aber ich sag mal, die meisten Ausländer sind ja so […]“ (Filiz GD1, 458). Filiz versucht sowohl gängige Zuschreibungen als auch die Ausgrenzungspraxis, die mit diesen begründet wird, zu delegitimieren. Mit ihrer Konstruktion eines möglichen Begründungszusammenhangs geht zwar sowohl eine Verschiebung der Aufmerksamkeitsrichtung als auch von Bedeutungen einher, jedoch verlässt sie mit ihrer Argumentation letztlich nicht den dominanten Rahmen kategorisierender Zuschreibungs- und Legitimationslogiken. In dem Bestreben, sich gegenüber solchen Logiken widerständig zu positionieren, zu argumentieren und zu handeln, bestätigt Filiz mit ihrem Erklärungsansatz letztlich auch eine Rassismus legitimierende, binär unterscheidende Verallgemeinerungslogik.37

37 Filiz scheint diese Widersprüchlichkeit nicht bewusst zu sein. Denn keineswegs möchte sie die rassistische Praxis in Diskotheken mit ihrer Argumentation gutheißen. Auf die Frage Ahmets: „Bestätigst du damit nicht irgendwie, dass das eigentlich okay ist?“ entgegnet sie: „Nein, also ich finde das überhaupt nicht in Ordnung“ (GD 1, 459-460) und fordert sodann indirekt die Jungen auf, in solchen Situationen widerständiger aufzutreten: „Also wäre ich ein Junge, dann … würde ich da anders reagieren. […] [W]enn ich ein Junge wäre, dann würde ich da nicht so locker reagieren so. Zum Beispiel wie bei Milot wenn er aus zwanzig Metern Entfernung sagt: ‚Nee, heute nicht.‘ Dann würde ich nicht sagen: ‚Ja, okay, ich fahr jetzt nach Hause‘ oder so. Ich würde schon dahin gehen und sagen: ‚Ja, was ist eigentlich dein Problem? Wenn ich Stress mache, kannst du mich ja raus holen, aber so brauchst du ja kein Vorurteil zu machen.‘ Denn ich fahr den ganzen Weg dahin, freue mich vielleicht auf den Abend, was dann auch immer, und dann muss ich wieder zurück fahren, oder was. … Würde ich nicht machen“ (Filiz GD1, 460). Damit überträgt Filiz ihr Bild von wehrhaften und handlungsfähigen ‚Diskriminierten‘ auf die anwesenden Jungs und fordert von ihnen, sich entsprechend widerständig zu verhalten, statt Ausgrenzung und damit die ‚Opfer-Rolle‘ ‚hinzunehmen‘.

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Herausforderungen in uneindeutigen Verhältnissen Resümierend kann in diesem Kapitel festgehalten werden, dass sich in dem suchenden und nachdenklichen Sprechen der Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit Rassismus unübersehbar allerhand Unerklärlichkeiten und Widersprüchlichkeiten manifestieren, die sich vor allem in ihren Deutungen und Zusammenhangsvermutungen niederschlagen und darauf hinweisen, dass Rassismus sich ihnen oftmals als kaum zu greifendes und schwer zu erklärendes Phänomen darstellt. Anstelle von einfachen Erklärungsmustern dominieren Komplexitäten. Rassismus als disparates Erklärungsmodell Selbst ein Rassismus, wie er in den vorangegangenen Episoden beschrieben wird, der sich durch die explizite Begründung von diskriminierendem Handeln mit der Kategorisierung der Jugendlichen als ‚Ausländer‘ auszeichnet, stellt sich Jugendlichen als intransparentes und willkürliches Phänomen dar, das sie sich mit dem sozialen Wissen, das ihnen als Deutungsangebot zur Verfügung steht, nicht ausreichend erklären können. Diesem zufolge, so lässt sich aus den Interpretationen und Begründungsannahmen der Jugendlichen rekonstruieren, ist rassistische Diskriminierung eine von Individuen ausgeübte Praxis, die zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Ausländern‘ stattfindet und sich als eine bewusste, ‚Ausländer‘ generell ablehnende und ausgrenzende Handlungsweise aus ‚Vorurteilen‘ begründet. Damit entspricht ihr Verständnis von Rassismus weitgehend den sozialen Wissensbeständen, wie sie als ‚gültiges‘ Wissen im dominanten Diskurs zu Rassismus in Deutschland vorherrschend sind (vgl. Kap. I 2.1). Das, was die Jugendlichen erfahren, entspricht jedoch nicht unbedingt diesen Definitionsmerkmalen oder lässt sich mit ihnen nur unzureichend erklären. Die vermeintlichen Spielregeln, nach denen Rassismus dem allgemein anerkannten und auch ihrem Wissen zufolge funktioniert, versagen in der Realität. Rassismus wird so zu einer unlogischen und absurden, zu einer namenlosen Erfahrung, denn der erfahrene Rassismus passt nicht zu dem unterkomplexen Erklärungswissen über Rassismus, das ihnen zur Deutung des Erfahrenen diskursiv zur Verfügung steht. Das eingeschränkte Wissen zu Rassismus ist ein gewichtiger Grund dafür, dass sich nicht nur das Identifizieren von rassistischen Situationen als solchen als schwierig erweist, sondern auch das Anklagen dieser als rassistisch. Dies wiederum geht mit Unsicherheiten in Bezug auf Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten einher. Auch Mark Terkessidis, der in Anlehnung an die Studie von Philomena Essed (1991) das bei ‚bildungserfolgreichen Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation‘ vorhandene „generelle Wissen“ zu Rassismus untersucht hat (Terkessidis 2004), kommt zu dem Schluss, dass ein Wissen auf einer abstrakteren Ebene, ein explizierbares Erklärungswissen zu Mechanismen und Funktionsweisen von Rassis-

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mus, nur sehr marginal38 vorhanden ist (vgl. Terkessidis 2004, 118, 128f., 203ff.). Er führt dies ebenfalls auf das in Deutschland vorherrschende Rassismusverständnis zurück (vgl. ebd.), und konstatiert gleichfalls, dass die hier diskutierte Form nicht dem täglichen Erleben von Rassismus im Alltag von Migrantinnen und Migranten entspricht (vgl. ebd.). Die unzureichende gesellschaftliche wie wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus, so vermutet Terkessidis, mag ein Grund dafür sein, dass Auseinandersetzung mit Rassismus auch unter Migrantinnen und Migranten „weitgehend unsystematisch und anlassbezogen statt[findet]“ (ebd., 203) und ein grundlegendes Wissen oder eine „gemeinsame Sprache“ (ebd.), um über Rassismus zu sprechen, nicht existiert (vgl. ebd.). Suchbewegungen Auf den Widerspruch zwischen erlebter Realität und unzureichendem Erklärungswissen zu Rassismus reagieren die Jugendlichen mit der Suche nach den ‚zusätzlichen‘ oder den ‚wahren‘ Spielregeln von Diskriminierung, die ihnen nicht als explizites Wissen zur Verfügung stehen. Hierbei handelt es sich um jene Regeln und Mechanismen, die nicht Teil des formalen Wissens, nicht transparent und offensichtlich sind, die für die erlebte Realität aber offenbar Gültigkeit besitzen und in der Lage sind, das Erfahrene zu erklären. Diese Form des suchenden und nachdenklichen Sprechens, die in den ausgewählten Episoden dieses Kapitels deutlich zum Ausdruck kommt, kann als eine allgemeine Grundstruktur sowohl in den Gruppendiskussionen als auch in den Einzelinterviews ausgemacht werden. Der Forschungsprozess gestaltet sich über weite Strecken als Suche nach den Begründungen für erfahrene Diskriminierung und nach Zusammenhängen bzw. der ‚Logik‘ diskriminierender Handlungen, die die Jugendlichen sich zu erschließen versuchen, wobei sie auch nach der eigenen Position als agierende Subjekte in diesen Verhältnissen fragen.39 Individualisierende Deutungsmuster Vor dem Hintergrund ihres Rassismusverständnisses greifen Jugendliche bei diesen Suchbewegungen nun immer wieder auf individualisierende Deutungen zurück. Ein hinter ihren Erfahrungen stehendes ‚System‘ Rassismus vermuten sie nicht – im Gegensatz zu den Interviewpartnerinnen und -partnern von Terkessidis, die fanden, 38 Dies auch im Vergleich zu den Ergebnissen der Studie von Essed in den Niederlanden und den USA (vgl. Essed 1984, 1991). 39 Es kann konstatiert werden, dass die Jugendlichen als ‚ebenfalls Forschende‘ aktiv in den Forschungsprozess involviert sind. Der Prozess des gemeinsamen Austauschens, Kontrastierens und Vergleichens von Meinungen in Diskussionen, die auf individuelle oder auch geteilte Erfahrungen Bezug nehmen, sowie das Suchen nach Erklärungen kann als Reflexions- und Selbstklärungsprozess beschrieben werden (vgl. Kap. III 5).

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dass „irgendetwas Systematisches, Strukturelles, Organisiertes darin stecke“ (Terkessidis 2004, 206f.). Die Grundlage ihres Deutens bilden, wie oben bereits ausgeführt, Kategorisierungen und ‚Vorurteile‘; und obwohl die Jugendlichen auch Medien und Politik – und damit gesellschaftliche ‚Teilsysteme‘ – für eine Trennung in ‚Ausländer‘ und ‚Deutsche‘ und die Verbreitung von stereotypen Bildern für verantwortlich halten, verorten sie die Begründungen für konkrete Rassismuserfahrungen in ihren Suchbewegungen und Zusammenhangsannahmen doch ausschließlich in den Handlungen Einzelner, die sich auf diese Bilder aus individuellen Gründen und Motivationen oder aufgrund eines fehlenden ‚richtigen‘ Wissens beziehen. Eine in dieser Weise beschränkte Suche und ein vorhandenes Erklärungswissen, welche erfahrenen Rassismus kaum als eingelassen in institutionelle und gesellschaftliche Strukturen zu interpretieren vermögen, führen auch dazu, dass Jugendliche sich ‚kontraproduktiver‘ Erklärungsmuster wie jenem bedienen, das im Verhalten derjenigen, die rassistische Ausgrenzung erfahren, eine Mitschuld an rassistischer Diskriminierung verortet. Durch den Rückgriff von Jugendlichen auf dieses Legitimationsmodell zur Erklärung der eigenen rassistischen Ausgrenzung, kommt nicht nur das begrenzte Wissen zu Rassismus, sondern auch die Wirkungsmächtigkeit dominanter Bedeutungskonstruktionen zum Ausdruck, die auf diese Weise von den betroffenen Jugendlichen selbst reproduziert werden. Wie diese Begrenztheit individualisierender Deutungen fast zwangsläufig zu letztlich selbstschädigenden Interpretationen und Effekten führt, soll an dieser Stelle anhand einer Sequenz aus meinem Gesprächs mit Filiz noch einmal verdeutlicht werden: Filiz klagt im Interview – wie andere auch – darüber, dass ihr kein Bildungserfolg und schon gar kein Studium zugetraut wird (vgl. oben), dass darüber gelacht wird, wenn sie erklärt, dass sie nach der Schule studieren möchte. Weil, so Filiz, sie V-Länderin ist. So haben Mitschülerinnen ihr gesagt, dass sie als V-Länderin aggressiv sei und der gewünschte Beruf für sie daher nicht in Frage käme (vgl. Filiz IF, 195). Ein anderes von Filiz als diskriminierend empfundenes Argument, mit dem an ihren Plänen gezweifelt wird und das für sie mit der ethnisierten Aberkennung von Bildungserfolgsmöglichkeiten und ihren Zukunftsperspektiven einhergeht, ist, dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sagen: „‚Ja, man sieht doch eigentlich keine V-Länder die studieren‘“ (Filiz IF 199). Filiz versucht ihren Mitschülerinnen und Mitschülern in solchen Fällen widerständig entgegenzutreten, indem sie argumentiert, dass dies lediglich eine Behauptung und ein Vorurteil sei, ebenso wie das Bild, dass „V-Länder nur auf der Hauptschule sind‘“ (Filiz IF, 201). Als ich Filiz darauf aufmerksam mache, dass „es […] tatsächlich so [ist], dass an der Uni wenig V-Länder sind“ (Interviewerin IF, 204), hinterfragt sie meine Aussage zunächst scharf: „Ja, woher willst du das wissen?“ (Filiz IF, 205). Ich verweise auf Statistiken, und Filiz, mit der ich schon viel über ihren Wunsch zu studieren gespro-

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chen habe, die ich versucht habe, in diesem Wunsch zu unterstützen, die mich an der Uni besucht hat und mit der ich bei der Studienberatung gewesen bin, glaubt mir. Sie unterstellt mir nicht, dass ich dieses Argument aus den gleichen Gründen vorbringen würde, wie sie es ihren Mitschülerinnen und Mitschülern unterstellt. Händeringend sucht Filiz daraufhin nach möglichen Erklärungen für diese Unterrepräsentation, die nicht das Stereotyp der ‚nicht-intelligenten, leistungsschwachen oder zum Studium ungeeigneten Migrantinnen und Migranten‘ stützen. Jedoch verbleibt sie bei ihrer Suche auf einer individuellen Ebene, was das Finden von Be gründungen, die dieser Zuschreibung nicht in die Hände spielen, fast unmöglich macht (z.B. individuelle Berufswünsche, die keines Studiums bedürfen, Phasen, in denen Menschen faul sind, das primäre Anliegen schnell Geld zu verdienen, statt lange zu studieren – wobei sie bei diesem letzten Argument die ökonomische Situa tion vieler Migrantinnen und Migranten erwähnt und also eine individuelle Entscheidung mit ökonomischen Bedingungen verknüpft [vgl. IF, 204-221]). In Filiz' Zusammenhangssuche für die Unterrepräsentation von Studierenden mit sogenanntem Migrationshintergrund werden letztlich nur zwei mögliche Begründungen sichtbar: Entweder, „die Universität sagt: ‚Wir nehmen nur die und die Anzahl von Ausländern an‘“ (Filiz IF, 219), was Filiz aber nicht glaubt. 40 Oder es liegt an den einzelnen Personen und ihren Entscheidungen. Da Filiz die erste Option ausschließt, bleibt in der Konsequenz die individuelle Verantwortlichkeit übrig. Filiz geht davon aus, dass es daran „liegt […] wie die Personen sind“ (Filiz IF, 219): „Also ich würde sagen, das liegt einfach bei jedem so“ (Filiz IF, 221). Jedoch räumt sie abschließend auch ein, dass es Gründe geben mag, die sie nicht kennt, wie etwa mangelnde ökonomische und unterstützende Ressourcen, womit sie indirekt und tastend institutionelle und strukturelle Benachteiligung thematisiert, jedoch ohne dass ihnen in ihren Erklärungsbemühungen ein relevanter oder ‚reflektiert-wissender‘ Stellenwert zukäme: „[V]ielleicht hat es einen andern Grund. Vielleicht können die das nicht finanzieren, vielleicht wissen die nicht, dass die Unterstützung oder so bekommen“ (Filiz IF, 221). Die wiederkehrende Suche nach Verantwortungen für rassistische Diskriminierung auch bei den rassistisch Diskriminierten kommt einer Täter-Opfer-Umkehr gleich: Letztlich wird so erklärt, die als ‚Ausländer‘ markierten Personen seien 40 Diese Begründung, die auf die Institution Universität Bezug nimmt, erinnert sehr an die Formulierung, mit der auf den „Besitzer“ einer Diskothek als verantwortlich für diskriminierende (Nicht-)Einlassregeln verwiesen wird. Dieser entscheidet: „‚Ja, heute nicht so viele reinlassen‘ oder so ‚Heute ein Limit von so und so vielen‘“ (Milot GD1, 405). Es ist durchaus möglich, dass Filiz hier versucht, ihr Wissen um institutionelle, diskriminierende Regelungen in Diskotheken, das sich aus Situationen speist, in denen Türsteher legitimierend auf die Struktur bzw. auf eine höhere, nicht direkt sichtbare Verantwortungsebene verweisen, auf die Institution Universität zu übertragen.

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selbst schuld an rassistischer Ausgrenzung. 41 Ein Erklärungsmodell, das in öffentlichen Debatten und Diskursen immer wieder zu vernehmen ist und gleichzeitig ein prominentes Erklärungsmodell für Rassismus unter Jugendlichen darstellt, wie Rudolf Leiprecht (2001) in seiner Studie zu Alltagsrassismus bei Jugendlichen herausgearbeitet hat. Viele der Erklärungsweisen, die von Jugendlichen ohne Rassismuserfahrungen bemüht werden, so Leiprecht, zeichnen sich dadurch aus, dass „die Verantwortung für Rassismen bei denjenigen, die selbst zur Zielscheibe solcher Ideologien und Ausgrenzungspraxen werden“, gesucht werden: Statt Rassismen zu thematisieren, so Leiprecht, wurden hauptsächlich „Probleme formuliert, die ‚Ausländer‘ den ‚Einheimischen‘ machen“ (ebd., 426). In der vorliegenden Untersuchung ist festzustellen, dass Jugendliche, die zum einen von dieser „Legitimationslegende“ (vgl. Rommelspacher 2009, 26) in negativer Weise betroffen sind, zum anderen als Teil dieser Gesellschaft solchen sozialen ‚Wissensbeständen‘ und ‚Legenden‘ sowie verkürzten Rassismusdefinitionen ausgesetzt sind, im Versuch, sich Welt zu erklären, selbst auf Benachteiligungen legitimierende Deutungsmuster zurückgreifen. Mit Hall ließe sich zu diesem Phänomen auch anmerken, dass sich hier nicht nur die Macht des Otherings in dem Sinne Bahn bricht, dass Menschen im Rahmen der gängigen Wissenskategorien als ‚Andere‘ konstruiert und gesehen werden, sondern dass Repräsentationsregimes als Machtregimes zudem die Macht haben, „uns dazu zu bringen, daß wir uns selbst als ‚Andere‘ wahrn[e]hmen und erf[a]hren“ (Hall 1994a, 30). Durch ihren Rückgriff auf binäre Gruppenkonstruktionen und rassistische Bedeutungskonstruktionen tragen einige der an der vorliegenden Forschung teilnehmenden Jugendlichen zum einen auch zur Konstruktion einer sozialen Gruppe ‚der Ausländer‘ bei, die sich angeblich durch ‚schlechtes Benehmen und Verhalten‘ auszeichnet. Zum anderen laufen sie letztlich ihren eigenen In41 Auf diese Form der Zusammenhangsdeutung verweisen z.B. auch Nesrins und Milots Statements zu Beginn der Gruppendiskussion. Beide vermuten, dass die Ursache für erfahrenen Rassismus darin liegt, dass sie nicht als Einzelne, sondern als Teil einer sozialen Gruppe rassistische Diskriminierung erfahren, die von anderen und auch von ihnen selber als tatsächlich ‚problematisch‘ konstruiert wird. So erklärt Milot: „[D]ie Mehrheit hat das und das gemacht, ihr gehört dazu […], also dass man uns auf die Mehrheit bezieht“ (Milot GD1, 161). Eine Konsequenz dieses Erklärungsmusters ist, dass Jugendliche, die darauf Bezug nehmen, sich gleichzeitig von dieser „Mehrheit“ abgrenzen und erklären, dass sie ‚anders‘ sind. Denn in der Regel wird nicht das eigene, sondern das Verhalten ‚der anderen‘, die der gleichen sozialen Gruppe zugeordnet werden, verantwortlich gemacht für – z.T. als nachvollziehbar beschriebene – Verallgemeinerungen, durch welche letztlich auch sie zum Objekt rassistischer Ausgrenzungspraktiken werden: „[W]ir sind halt nicht so wie die anderen Ausländer“ (Milot IM, 245) – wobei diese Aussage im Interview auf eine mehr oder weniger reale Gruppe Bezug nimmt, nämlich auf die Jugendlichen aus der gleichen Kleinstadt.

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teressen zuwider, indem durch diese ein entsprechender Diskurs gestärkt und immanente Aspekte von Rassismus bedient und reproduziert werden. Die Erklärungssuche der Jugendlichen ist mithin von Widersprüchlichkeiten begleitet: Verallgemeinerungen mit diskriminierenden und/oder Rassismus legitimierenden Effekten werden von den Jugendlichen grundsätzlich als ‚Vorurteile‘ angeklagt, im Bemühen des Verstehens jedoch werden sie mitunter auch legitimiert und in den eigenen Erklärungsmustern reproduziert. Diese Widersprüchlichkeiten verweisen auch auf die Komplexität von Rassismus als einem gesellschaftlich verankerten Verhältnis, für dessen Erklärung sich die verfügbaren ‚gültigen‘ Wissensbestände als unzulänglich erweisen. Die Dominanz eines unterkomplexen und lückenhaften Deutungsrahmens, innerhalb dessen Rassismus als Phänomen üblicherweise verhandelt wird, und dem auch die Jugendlichen kaum zu entkommen vermögen, wird so sichtbar. Vor diesem Hintergrund präsentiert sich Rassismus den Jugendlichen oft als ein irritierendes, kaum zu erklärendes Phänomen, das zudem offenbar keinen verlässlichen Regeln folgt und somit unvorhersehbar und willkürlich auftritt; auch dort, wo es doch ‚eigentlich‘ keinen Rassismus gibt, es sich ‚eigentlich‘ nicht um Rassismus handelt: etwa auf einem als ‚interkulturell‘ deklarierten Fest, im Handeln jener Akteure und Akteurinnen, die nicht in das bekannte Schema eines ‚Rassisten‘ passen oder in Institutionen, in denen keine verantwortlichen Akteure und Akteurinnen auszumachen sind. In den Lebenswelten der Jugendlichen ist Rassismus somit eine unberechenbare, stetig drohende und zugleich häufig absurde Erfahrung. Ein ‚sicheres‘ Deuten und Entwerfen entsprechender ‚angemessener‘ Handlungsoptionen ist den Jugendlichen auch angesichts der fehlenden, verlässlichen Logik und mangelnden Erklärbarkeit ihrer Erfahrungen nicht möglich. Entsprechend kommen die Umgangsweisen der Jugendlichen im Falle des allzeit drohenden und willkürlichen Rassismus an den Türen von Diskotheken einem ‚Trial and Error‘-Handeln gleich: Es wird immer wieder aufs Neue versucht, Einlass gewährt zu bekommen, in der Hoffnung, dass es ‚diesmal‘ klappen wird und mit dem Wissen darum, dass der Versuch genauso scheitern könnte. Eine verlässliche ‚Lösung‘ für dieses Problem zu finden, scheint niemandem ein realistisches Ziel zu sein. Eher wird versucht, durch Kleinigkeiten, wie etwa das Auftreten, die Kleidung oder das Pflegen einer guten Beziehung zum Türsteher, die Einlass-Chancen zu erhöhen. Eine Möglichkeit, mit der zum Beispiel Qerim und Milot versuchen, ihre Chancen zu erhöhen, stellt die Wahl der Begleiter und Begleiterinnen dar. Denn im Wissen um Zuschreibungen, die als ‚nicht-deutsch‘ identifizierte männliche Jugendliche als Bedrohung konstruieren, erhöht zum Beispiel eine kleinere Gruppe die Chancen, eingelassen zu werden (vgl. Qerim und Milot GD1, 520-522). Ebenso kann es von Vorteil sein, eine weibliche Begleitung zu haben: „[D]ann sagen die: ‚Ja, okay, das Mädchen mit Be-

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gleitung‘ dann ist die Wahrscheinlichkeit halt höher, aber heißt nicht, dass man da rein .. also unbedingt rein kommt“ (Filiz GD1, 526).42 2.4 Rassismus als Erfahrung einseitiger Sichtbarkeit Bei der Mehrzahl der Rassismuserfahrungen, von denen die Jugendlichen berichten, handelt es sich um solche Erlebnisse, bei denen nicht deutlich explizierte, offensichtliche Praktiken rassistischer Ausgrenzung im Vordergrund stehen, sondern kategoriale Zuschreibungen, Otheringprozesse und rassistische Diskriminierung subtil und latent vermittelt werden. Im Gegensatz zu dem im vorangegangenen Abschnitt behandelten Beispiel (Jugendliche und ihre Versuche, an Diskothekentüren Einlass zu erhalten), ist den betroffenen Jugendlichen bei diesen Erfahrungen nicht immer klar, ob die erfahrenen Besonderungen und Ausgrenzungen auch intendiert sind. Stereotypisierende Bedeutungskonstruktionen, die Ausgrenzungspraktiken zugrunde liegen, werden in diesen Fällen häufig nicht benannt und/oder die Intention von Praktiken der Unterscheidung wird nicht oder zumindest nicht erkennbar mit Herabwürdigung oder Ungleichbehandlung und Ausgrenzung verbunden. So werden in den Erzählungen der Jugendlichen viele Situationen offenbar, in denen Ausgrenzung und Diskriminierung für sie selbst sicht- oder spürbar sind, während sie für andere offensichtlich unsichtbar bleiben. Relativ typische Praktiken, die einer solchen Erfahrungskategorie einseitiger Sichtbarkeit zuzuordnen sind und im Folgenden in ihren herausfordernden Effekten für die Jugendlichen analysiert werden, sind die bereits erwähnten Ausfragepraktiken, in denen sich normalisierte Repräsentationserwartungen und Zuschreibungen manifestieren (vgl. auch Terkessidis 2004, 161ff.). Diese und andere Praktiken, in denen selbstverständlich auf ein vermeintliches ‚Anders-Sein‘ der Jugendlichen Bezug genommen und damit erst hergestellt wird, werden von den Fragenden hinsichtlich ihrer Konsequenzen augenscheinlich nicht befragt, bedeuten für die betroffenen Jugendlichen aber eine stetige Erfahrung des abwertenden Otherings und der hinterfragten oder abgesprochenen Zugehörigkeit.

42 An diesem Beispiel wird in einer konkreten Situation nochmals die unterschiedliche Kon struktion von Bildern über weibliche und männliche Jugendliche deutlich, die zur Hand lungsgrundlage werden: Als bedrohlich erscheint der männliche Jugendliche, wohingegen die weibliche Jugendliche nicht nur als ‚harmlos‘, sondern darüber hinaus auch als ‚be gleitungsbedürftig‘ konstruiert wird. Beide werden also nicht nur in Bezug auf einen ver meintlichen ‚Bedrohungsfaktor‘ unterschiedlich positioniert, sondern parallel dazu auch noch in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt, in dem der Junge das Mädchen begleitet (nicht sie ihn), was impliziert, dass er sie ‚schützt‘ oder sie ohne seine Beglei tung die Disko nicht besuchen dürfe.

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Insbesondere die weiblichen Jugendlichen berichten ausführlich von Situationen, in denen sie ausgefragt werden: „Zum Beispiel […] fragen die: ‚Ja, wie ist das denn bei dir eigentlich so, warum trägst du kein Kopftuch und sagen deine Eltern nicht ja du musst Kopftuch tragen und darfst du das und das auch?‘ und dass die halt total viele Fragen stellen und so. Oder dass das gleich heißt so: ‚Ja, du darfst ja eh nichts‘ oder so.“ (Filiz GD1, 561)

Häufig werden solche Fragen nicht innerhalb von Kontexten gestellt, in denen die Mädchen das Gefühl haben, das ein ernstzunehmendes Interesse an ihrer Person besteht, aus dem heraus angemessen und quasi ‚ergebnisoffen‘ gefragt wird. Stattdessen werden – unter Umständen gar ‚gut gemeinte‘ – Fragen in einer Art und Weise gestellt, in der einseitige Verortungen oder abwertende Zuschreibungen sofort präsent sind oder der Eindruck entsteht, dass Fragende sich stereotypes Wissen lediglich bestätigen lassen wollen. Derartige Fragen werden von den Mädchen keinesfalls als legitim, sondern als „nervig“ (Nesrin GD1, 575) und „verletzend“ (Amina IA, 53) empfunden. Sie fühlen sich durch solche Fragen „angegriffen“ (Amina IA, 200, 426), sind „sauer“ (Filiz GD2M, 396), werden „wütend“ (Amina IA, 426), „raste[n] sofort immer aus“ (Nesrin IN, 43) oder „raste[n] innerlich aus“ (Filiz GD2M, 392). Objektivierende Praktiken, in denen insbesondere weibliche Jugendliche als vermeintliche Repräsentantinnen einer als homogen konstruierten sozialen Gruppe zu ihren privaten Verhältnissen und Gepflogenheiten befragt und/oder aufgefordert werden, als vermeintliche Expertinnen zu spezifischen Themen Stellung zu beziehen, scheinen für sie insbesondere in der Schule Normalität zu sein. Als ich Amina fragen möchte, wo ihr solche Frage-Situationen widerfahren, unterbricht sie mich, noch bevor ich die Frage zu Ende gestellt habe, und erklärt: Amina:

(unterbricht) „Ja, in der Schule /ist ja eigentlich/ meistens, ist ja eigentlich immer so.“

Interviewerin: Amina:

„/In der Schule/“ „In der Schule. Auch wenn das- Es ist ja klar, manchmal kommt man automatisch auch selber auf solche Themen, wo man halt darüber redet oder so. Und manchmal wird es auch- An den Schulen gibt es ja diese bestimmten Themen, wo man automatisch darauf hinaus kommt, oder so. Und wenn man darüber halt redet, und dann wird man halt auch über die Personen, die halt in der Klasse sind auch ausgefragt. So: ‚Ja, wie ist es denn bei euch?‘ so. Und, des wegen. Und wird ja auch meistens so darüber geredet. Echt, das hatte ich ei gentlich bisher .. bei jeder Schule, wo ich war, dass ich halt immer gefragt wurde: ‚Ja, wie ist es denn bei dir?‘ so. .. Immer.“ (IA, 344-346)

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Deutlich identifiziert Amina die Schule als den Ort, an dem sie regelmäßig in stereotypisierender und/oder unangenehmer Weise „ausgefragt“ wird, und fügt zudem erklärend hinzu, dass die institutionalisierten (Unterrichts-)Praktiken in der Schule, „diese bestimmten Themen“ im Unterricht und die Form des Sprechens über „solche Themen“ „automatisch“ die Konfrontation mit homogenisierenden Befragungen und stereotypisierenden Wissensbeständen zur Folge haben. Von einem solchen Automatismus, der spezifische Unterrichtsthemen und -praktiken mit Rassismuserfahrungen in Form von diskriminierenden Zuschreibungs- und Otheringerfahrungen in einen kausalen, nicht aufzuhaltenden Zusammenhang bringt, spricht Amina mehrfach: Wenn „in der Schule, dann so solche Themen [kommen]“ (Amina IA, 372), sobald „wir so Themen haben“ (Amina IA, 190). Auch Filiz erklärt in ähnlicher Weise: „Weil das ist immer so, wenn ich, sagen wir mal, wir sind in der Klasse […] dann ist das im mer so, du redest über ein Thema, was eigentlich immer so .. ein bisschen so ins Negative geht, und dann wirst dann plötzlich du auf einmal gefragt: ‚Na, wie sieht es denn in deiner Familie aus?‘ In der Art von … […] irgendwie immer so .. [als ob die] unsere Kultur oder so, immer so .. negativ sehen oder so. […] Dann: ‚Wie sieht es denn bei euch aus?‘ Dann bin ich total genervt und denke: ‚Ja, okay. Verbindest du uns gleich mit diesem negativen Scheiß!‘“ Tut mir leid, wenn ich das sage, aber ist so. Und dann okay, dann bin ich auch sauer, beant worte das aber aus Respekt vor dem Lehrer so.“ (Filiz GD2M, 394, 396)

„Themen“, die im Unterrichtskontext aufgegriffen und zum Anlass für Fragen werden, sind, so berichten mir die Jugendlichen, zum Beispiel Terrorismus, Kopftuch tragen43, ‚Zwangsheirat‘, Steinigung oder, allgemeiner, der Islam. „Thema Nummer Eins“, so Amina, ist „Religion, und dann halt Herkunft. Aus welchem Land man kommt und so“ (Amina IA, 356). Jugendliche werden dann als Repräsentantinnen einer konstruierten sozialen Gruppe befragt: „‚Wie ist es denn bei euch?‘ und so […] immer wieder […], fragen die mich auch immer ständig was, wie es ist bei uns und warum und was auch immer“ (Amina PZ, 60) – aber auch, mindestens ebenso absurd, als Expertinnen, wenn es zum Beispiel um „andere Länder“ geht: Dann sagt der Lehrer im Unterricht, wenn „er über andere Länder redet […]: ‚Ja, ich weiß ja nicht, wie es in anderen Ländern ist.‘ Und dann, […] spricht er mich an, und so. Ja, das ist dann klar“ (Amina IA, 190). Situationen der fortwährenden Fremdpositionierung und Besonderung, die mit solchen Praktiken einhergehen, gehören zum Schulalltag: „Echt, das hatte ich eigentlich bisher .. bei jeder Schule, wo ich war, dass ich halt immer gefragt wurde: ‚Ja, wie ist es denn bei dir?‘ so. .. Immer“ (Amina IA, 346) und führen in der Konsequenz zu Gefühlen von Fremdheit und Nicht43 Gemeint ist selbstredend das Kopftuch, das das Bekenntnis zum islamischen Glauben symbolisiert.

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Zugehörigkeit, zu Rassismuserfahrungen und Ausgrenzung; „Ja, immer dieses: ‚Und wie ist es bei euch?‘“, beschwert etwa Rima sich entnervt, „Als wären wir so anders!“ und findet: „[A]llein die Frage ist ein bisschen frech“ (Rima GD2M, 383). Die ihnen zugewiesene Rolle als Repräsentantinnen scheint für Fragende Legitimation genug zu sein, um zudem das Privatleben der Jugendlichen in zum Teil grenzüberschreitender Manier zum Objekt legitimen, öffentlichen Interesses zu erklären, obgleich, wie es zum Beispiel Rima und Nesrin ausdrücken, es „niemand anderes zu interessieren [hat] was zu Hause abgeht“ (Rima GD2M, 226), „[w]eil es gibt ja so was wie Privatsphäre“ (Nesrin GD2M, 232). So wird Filiz in der Klasse „vor tausend Leuten gefragt […] ‚Wirst du auch umgebracht, wenn du mit einem Jungen schläfst?‘“ (Filiz, GD2M, 394), und Amina muss die Erfahrung machen, vor all ihren Klassenkameradinnen und -kameraden vom Lehrer zu überaus intimen Themen befragt zu werden: „[W]as Sex angeht, und mit der Ehe und so […] wegen der Religion“ (Amina IA, 194) und „[a]uch mit der Zwangsehe. Fragt er mich sofort vor der ganzen Klasse: ‚Ja, wie ist es denn bei euch so?‘“ (Amina GD2M, 380). Mit großer Selbstverständlichkeit, so scheint es, stellt Aminas Lehrer ihr intimste Fragen und erwartet von ihr Antworten zu „überhaupt, so manche[n] Sachen, was eigentlich die anderen Leute, so […] gar nichts angeht“ (Amina IA, 346). Es ist Amina, die bei „so Themen“ zu einem Statement, etwa zu „Sex vor der Ehe“ (Amina IA, 346), aufgefordert wird; ihre Mitschülerinnen und Mitschüler werden nicht befragt. Es geht hier also nicht darum, über individuelle Meinungen und Haltungen ins Gespräch zu kommen, sondern etwas über die als abweichend vom vorausgesetzten Klassenkonsens vorgestellten Einschätzungen von Amina als Vertreterin einer bestimmten, einer ‚anderen‘ sozialen Gruppe zu erfahren. Sie wird so zur ‚Abweichlerin‘ von einer zugleich konstruierten Normalität erklärt, als nicht-zugehörig zur Klasse und dem dort vorgestellten Konsens. Situationen wie diese stellen Besonderungen dar, die weder im Sinne der Jugendlichen noch in irgendeiner Form gerechtfertigt sind. Nicht Anfeindungen, direkte Herabwürdigungen oder offensichtliche Ausgrenzungspraktiken, mit denen die Mädchen intendiert zum Ziel verletzender und diskriminierender Handlungsweisen gewählt werden, stehen im Zentrum ihrer Erzählungen. Vielmehr ist es die wiederkehrende Erfahrung, als sich mit sozialen Gruppen Identifizierende und als von außen mit diesen Gruppen Identifiziert-Werdende von homogenisierenden, essentialisierenden und stereotypisierenden Zuschreibungen betroffen und getroffen zu sein. Mittels Zuschreibungen, die den Formen des Ausfragens und Expertisierens inhärent sind, als solche jedoch offenbar nur für die Befragten sichtbar werden, für die Fragenden und andere Zuhörende hingegen lediglich normales und legitimes Interesse zu sein scheinen, wird Jugendlichen implizit immer wieder deutlich gemacht, dass sie von einer vermeintlich vorhandenen ‚(deutschen) Normalität‘ abweichen. Es finden sich mannigfaltige Beispiele, in de-

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nen Jugendliche so objektiviert und auf eine spezifisch ‚andere‘, von einer konstruierten Normalität abweichende Zugehörigkeit reduziert werden. Dabei bleiben für sie wichtige Identitätsaspekte, ihre Individualität oder ihre Subjektivität zugleich unberücksichtigt. Ignoriert wird so etwa ihre Fähigkeit, auf der Grundlage eigener Abwägungen und Überzeugungen selbstbestimmt und begründet Entscheidungen treffen und handeln zu können. Nahegelegt wird stattdessen häufig ein religiöser oder kultureller Determinismus, der individuelles Handeln homogenisiert und auf das Befolgen religiöser Vorschriften oder national-ethnischer Traditionen reduziert, wie oben bereits beschrieben. Mögliche Differenzen, die es zu berücksichtigen gilt, werden von Lehrerinnen und Lehrern hingegen offenbar nicht wahrgenommen: Dass Jugendliche unter ihrem Expertinnenstatus und ihrer Besonderung leiden, dass es einen Teil ihrer Erfahrungen des Nicht-Dazugehörens ausmacht und das Gefühl des Nicht-Dazugehörens verstärkt, findet ebenso wenig Berücksichtigung wie die Möglichkeit, dass sie aufgrund ihrer ihnen zugeschriebenen Zugehörigkeiten, vorgeblicher Eigenschaften und vermeintlicher Handlungsbegründungen Rassismuserfahrungen machen. Auch, dass voraussetzungs- und bedeutungsvolle Fragen wie etwa jene nach Sex vor der Ehe nicht nur in hohem Maße grenzüberschreitend sind, weil hier sehr persönliche Dinge zum Gegenstand eines vermeintlich legitimen öffentlichen Interesses erklärt werden, sondern zudem ein rassistisches Wissen transportieren, scheint Lehrerinnen und Lehrern in den Erzählungen der Jugendlichen ebenso wenig aufzufallen wie der Umstand, dass sie auf diese Weise auch zu einer Normalisierung stereotyper Wissensbestände sowie von symbolischen Ordnungs- und Ungleichheitsverhältnissen beitragen, die mit einem solchen machtvollen ‚Wissen‘ legitimiert werden. ‚Zeigen, wie es wirklich ist. Nicht so wie die denken.‘ Mit solchen alltäglichen Fremdmachungen umzugehen, stellt hinsichtlich verschiedenster Aspekte, um die es im Folgenden gehen soll, eine Herausforderung dar. Im Mittelpunkt der Handlungsherausforderungen in Situationen von normalisierten, offenbar nicht als ausgrenzend und verletzend intendierten, jedoch als solche erlebten Zuschreibungskonfrontationen in vertrauten, vermeintlich ‚sicheren‘ Kontexten wie der Schule stehen vor allem komplexe, subtil-machtvolle und empfindliche Ungleichheits- und Zugehörigkeitsverhältnisse. In Aminas umfangreichen Ausführungen zu diesen im Schulkontext erlebten Praktiken kommen verschiedene Dilemmata zum Ausdruck, die die unsichere Grundlage für ihre Handlungsentscheidungen in solchen Situationen bilden. Im Folgenden möchte ich die machtvollen Bedingungen, die den Kontext für Abwägungen und Überlegungen zu möglichen Handlungsoptionen bilden, an ihrem Beispiel rekonstruieren. Grundsätzlich ist es Aminas Anliegen, stereotypen Wissensbeständen in ihrer Schulklasse entgegenzuwirken, indem sie Heterogenität betont und sich gegen Ver-

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allgemeinerungen und homogenisierende Zuschreibungen zu Wehr setzt sowie ein ‚richtiges Wissen‘ zu vermitteln versucht, über das sie, im Gegensatz zu Lehrerinnen und Lehrern sowie Mitschülerinnen und -schülern, zu verfügen meint. Etwa indem sie, „wenn die so Vorurteile haben […] sagen würde, ja, ist gar nicht so. Es ist ja so und so“, ohne jedoch, dass sie dieses Wissen „auf alle bezieh[t]“ (Amina IA, 350). Denn in der Regel, so erklärt Amina die Notwendigkeit ihrer Korrekturen, „haben die immer dieses typische Bild von einem“. Ein Bild also, das recht einheitlich ist, das dazu führt, dass „immer das gleiche von einem [gedacht]“ wird (Amina IA, 350) und vermeintlich ‚allgemeingültige‘ Eigenschaften, Einstellungen, Lebensweisen etc. unterstellt. Rassistische, verallgemeinernde und abwertende Meinungen, so Aminas Deutung, sind das Resultat von Unwissenheit: „Und das können die dann halt auch nicht verstehen, oder wissen es auch nicht. Aus Unwissenheit machen die sich halt ihre eigene Meinung, die natürlich nicht wirklich richtig ist“ (Amina IA, 358). Statt Wissen, so vermutet Amina, sind bestimmte Annahmen und unzulässige Verallgemeinerungen für viele – zum Beispiel für ihren Deutschlehrer oder für ihre Mitschüler und Mitschülerinnen – handlungsleitend. Diese ‚Unwissenden‘ sind zum Beispiel bezüglich Handlungsweisen von Musliminnen und Muslimen nicht in der Lage zu „unterscheiden, ob es […] Tradition ist oder Religion“ (Amina IA, 356) und vermuten Zusammenhänge zwischen bestimmten Handlungen und bestimmten Zugehörigkeiten, die sie dann verallgemeinern. So entsteht ein Bild, das auf alle, die der gleichen sozialen Gruppe zugeordnet werden, Anwendung findet: „‚Ja, ist bestimmt in der Religion so. Machen bestimmt alle anderen Leute das auch so, die halt die gleiche Religion haben.‘ Und dann haben die halt dieses Bild, ja, alle sind so“ (Amina IA, 356). ‚Ob es wirklich was bringt, wenn ich meine Meinung sage?‘ Als jene mit dem richtigen Wissen, jene, die weiß, wie es ist, die eine andere, diffe renziertere Sichtweise ihr eigen nennt, begreift Amina es als ihre Aufgabe, diesem falschen Wissen und damit auch den falschen Meinungen entgegenzuwirken, indem sie ‚Aufklärungsarbeit‘ betreibt. Jedoch stellt sich diese Form des angestrebten Widerstandes in einem Geflecht machtvoller sozialer Beziehungen und Abhängigkeiten als nicht einfach dar. Sie muss abwägen, wie groß die Erfolgsaussichten sind, etwas an diesen stereotypen Bildern zu verändern, „[o]b es wirklich was bringt, wenn ich da […] meine Meinung sage“ (Amina IA 348) und wie groß im Verhältnis dazu die Risiken des Einschreitens sind. Letztere ergeben sich aus Aspekten des je spezifischen Kontextes: Zum Beispiel, „in was für einem Umfeld ich bin“, „[o]b ich den Leuten vertraue“ oder welche „Lehrer […] mich fragen“ (Amina IA, 348).

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Prekäre Zugehörigkeit: Balancieren zwischen ‚Selbstnormalisierung‘ und ‚Selbstausgrenzung‘ Grob lassen sich die Möglichkeiten, in solchen Situationen zu handeln, in zwei Kategorien unterteilen: Entweder Jugendliche (wider-)sprechen oder sie schweigen zu den vermittelten Zuschreibungen bzw. verweigern eine Antwort, sofern sie direkt aufgefordert werden, sich zu äußern. Parallel zu diesen grundsätzlichen Möglichkeiten des Agierens sind zudem verschiedene Anliegen auszumachen: So hat Amina nicht nur das Bedürfnis, sich gegenüber stereotypen Zuschreibungen widerständig zu positionieren, sondern auch, zur Klassengemeinschaft dazuzugehören. Obwohl Amina in der Perspektive ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler sowie ihrer Lehrerinnen und Lehrer offenbar ganz selbstverständlicher Teil der Klassengemeinschaft ist, bewertet sie selbst ihre soziale Position in der Klasse gänzlich anders, nämlich weitaus prekärer: „Ich fühle mich auch manchmal total fremd“, beschreibt Amina (IA, 372) ihr Gefühl zur Klassengemeinschaft, das mit einer grundsätzlichen Unsicherheit einhergeht. Nach den passenden Worten suchend formuliert sie: „[U]nd überhaupt so. Ich weiß jetzt gar nicht so. Ja, was jetzt, ich gehöre ja wirklich nicht dazu, oder .. ich weiß nicht“ (Amina IA, 372). An späterer Stelle im Gespräch wird Amina deutlicher, wenn sie sagt: „[I]ch fühle mich auch total unwohl in dieser Klasse“ (Amina IA, 482). Aminas Gefühle von Nicht-Zugehörigkeit, von Unsicherheit und Unwohlsein in der Schulklasse, trotz einer offenbar gänzlich anderen Einschätzung zu ihrer sozialen Position in der Klasse von außen, stehen in engem Zusammenhang mit wiederkehrenden, normalisierten rassistischen Zuschreibungen und subtilen Ausgrenzungspraktiken, die im Schulkontext offenbar lediglich für sie sicht- und spürbar sind. Amina macht Rassismuserfahrungen in der Schule, dem, wie sie sagt, „Hauptplatz, wo so was eigentlich vorkommt“ (Amina IA, 372). Und niemand scheint es zu bemerken. Angesichts dieses Kontextes versucht Amina prinzipiell nicht aufzufallen, sich möglichst ‚angepasst‘ und so ‚normal‘ wie möglich zu verhalten, nett und ruhig zu sein und keinen Anlass für „solche Themen“, für Besonderungen und Situationen des Hinterfragens ihrer Zugehörigkeit zur Klassengemeinschaft bzw. zu dieser Gesellschaft zu bieten. Dieser Wunsch nach Normalität und Unauffälligkeit geht auch damit einher, dass Amina zuweilen versucht, zuschreibende und ausgrenzende Handlungsweisen zu ignorieren, um sich selbst nicht als ‚abweichend‘ zu positionieren.44 Dies ist jedoch nicht nur deshalb schwer, weil Amina eigentlich den An44 Unauffällig werden stellt objektiv betrachtet eine unmögliche Handlungsstrategie dar, denn die Bedingungen des Handelns erzeugen Auffälligkeit: In einer Struktur, in der so fort identifiziert wird, wer nicht dazugehört und in einem Kontext, in dem die Forderung nach kompletter Assimilation gleichzeitig mit der Erwartung von exotischer Repräsentanz des oder der ‚Anderen‘ gestellt wird, ist Unauffälligkeit, der Versuch der Selbstnormalisierung durch Anpassung, kaum zu bewerkstelligen. Amina befindet sich, wie Nora Räth-

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spruch hat, hier zu intervenieren. Amina schildert zudem als relevanten Umstand, der ihre Situation erschwert, dass sie in ihrer Schulklasse „die Einzige“ ist, die als ‚Andere‘ kategorisiert wird: „Und dann sitze ich halt als einzige Schwarzköpfige und werde dann halt immer so ausgefragt: ‚Ja, wie ist es denn bei dir.‘“ (Amina IA, 196). Sobald es um spezifische Themen geht, wird sie angesprochen und in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Sie kann dieser Ansprache nicht entgehen, es gibt niemand anderen in ihrer Klasse, der oder die die ihr zugewiesenen Positionen und Rollen in entsprechenden Situationen mit ihr teilen oder zuweilen übernehmen würde. Amina fühlt sich mit dieser ‚Bürde‘ allein und allein gelassen und findet es „doof, so zu wissen, ja ich bin ja dann halt hier in der Mitte, und deswegen, und alle gucken mich an und überhaupt […] als einzige dann, so“ (Amina IA, 358, 360). Aus dieser Position als ‚Einziger‘ heraus macht sie die Er fahrung, weder von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern noch von Lehrerinnen und Lehrern Verständnis für ihre Situation zu erfahren sowie keinerlei Unterstützung im Widerstand gegen die beschriebenen, von der Klassengemeinschaft als normal akzeptierten und unhinterfragten Praktiken erwarten zu können. Im Gegenteil gibt es viele Situationen, in denen sie die Dominanz der Klasse und des dort herr schenden ‚Wissens‘-Konsenses zu spüren bekommt. Vor diesem Hintergrund ist es trotz Aminas dringlichem Anliegen, gegen diskriminierende und stereotype Wissensbestände, die in ihrer Schulklasse breite Zustimmung finden, anzugehen und in entsprechenden Situationen zu intervenieren, wenig verwunderlich, dass sie im Kontext ihrer Schulklasse eigentlich „aus Prinzip nicht“ erzählen möchte, was „Privatsphäre [ist und die anderen] gar nichts angeht“ und „manche Sachen […] halt für sich behalten [will]“ (Amina IA, 346). Dies insbesondere, weil, wovon Amina aufgrund ihrer Erfahrungen ausgeht, die Zuhörenden von ihr vorgebrachte „Gründe […] nicht verstehen“ (Amina IA, 346) und sie, wenn sie entgegen der in der Klasse dominierenden, stereotypen Wissensbestände argumentiert, „natürlich wieder komisch behandel[n]“ (Amina IA, 228). Dennoch hält Amina es für eine Notwendigkeit und ihre Verantwortung, den Zuschreibungen in diesen Momenten etwas entgegenzusetzen, „halt trotzdem erzählen [zu müssen], umdamit die halt genau wissen wie es halt […] ist“ (Amina IA, 346); nämlich: „Nicht so wie die denken“ (Amina IA, 262). In einer sich also als außerordentlich verletzlich und risikoreich darstellenden sozialen Position im Klassenkontext ginge Schweigen für Amina zwar mit Selbstschutz einher, aber eben auch mit einem ‚Stillhalten‘ und einem scheinbaren Akzeptieren der herrschenden Zuschreibungen, von denen Amina letztlich selbst betroffen ist. So kommt Amina als Einziger, die Zuschreibungen als falsch und diskriminierend erkennt und über ‚alternatives‘, in ihren Augen ‚richtiges‘ Wissen verfügt, so zel es beschreibt, in einer Situation des „double-bind“: Sie steht „unter der widersprüchlichen Anforderung, normal und anders zu sein“ (Räthzel 2003, o.S.).

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ihre Perspektive, letzten Endes auch die alleinige Verantwortung zu, diese zu bekämpfen. Angesichts ihres Anliegens sieht Amina sich daher trotz widriger Umstände unter Druck gesetzt, intervenieren zu müssen: Denn wenn sie nichts tut oder sagt, tut oder sagt niemand etwas. Jedoch geht ein widerständiges Sprechen für Amina immer auch mit einer (Selbst-)Positionierung einher, die sie einmal mehr außerhalb der ‚Normalität‘ des herrschenden Schulklassendiskurses verortet und ihr vermeintliches ‚Anders-Sein‘ bestätigt und verstärkt.45 Um aber überhaupt hörbar und widerständig sprechen zu können, muss Amina diese, im Diskurs nahegelegte und im konkreten Kontext angerufene Subjektposition als ‚Andere‘ einnehmen (vgl. Hall 1996, 16f., Kap. III 2.1).46 Ihrem Bedürfnis nach Normalisierung und Unauffälligkeit, nach gleicher Behandlung und also einem ‚So-wie-die-Anderen-Sein‘ wird sie auf diese Weise nicht gerecht. Im Gegenteil: Amina gibt im Zusammenhang mit den wiederkehrenden Ausfragepraktiken an, dass sie sich „in der Klasse, klar, […] auch total ausgegrenzt [fühlt]“ und fügt im selben Satz bezogen auf ihre Interventionen hinzu: „[I]ch grenze mich teilweise auch selber aus“ (Amina IA, 196). Die beschriebene Notwendigkeit der Einnahme einer Subjektposition als ‚Andere‘, mit der immer auch die Hoffnung verbunden ist, von dieser aus auf stereotype Bedeutungskonstruktionen verschiebend, umdeutend oder re-artikulierend Einfluss nehmen zu können, stellt sich Amina, so verdeutlicht sich auch im weiteren Verlauf unseres Gesprächs, als ambivalente ‚Selbstausgrenzung‘ dar (vgl. Kap. 2.1). Der Kampf, den Amina führt, ist ein paradoxer, ihr Verhältnis zur Position der Expertin ein ambivalentes. Sie bewegt sich in einem Spannungsfeld, das gekennzeichnet ist von dem Wunsch nach ‚Normalität‘ und Zugehörigkeit auf der einen Seite und dem Wunsch, diskriminierenden, rassistischen Wissensbeständen und Handlungsweisen etwas entgegenzusetzen auf der anderen Seite. Sie bewegt sich zwischen ‚Selbstnormalisierung‘ und ‚Selbstausgrenzung‘, Selbstschutz und Widerstand. Sie agiert aus Überzeugung gegen Zuschreibungen und ‚Unwissenheit‘ und verfolgt zugleich das Anliegen, ihre fragile Zugehörigkeitsposition innerhalb der Klasse nicht zu gefährden.

45 In diesem Sinne enthält auch die Entscheidung gegen ein offensives, intervenierendes Widersprechen durchaus ein widerständiges Moment insofern, als Amina sich auf diese Weise weigert, eine ihr immer wieder zugeschriebene Rolle als ‚Andere‘ einzunehmen und diese mit ihrem Widerspruch zu reproduzieren. 46 Die Frage nach dem Wie der Einnahme bleibt jedoch relevant, denn in ihr konkretisiert sich u.a. Aminas (widerständige) Handlungsfähigkeit (vgl. Kap. III 2.1). Dieser Frage gehe ich unten detailliert nach.

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Spezifische Machtverhältnisse und Abhängigkeiten im Unterrichtskontext Neben prekären Zugehörigkeitsverhältnissen spielen im Kontext des Unterrichts zudem Abhängigkeiten eine Rolle, die Aminas Möglichkeitsraum, sich für oder wider ein intervenierendes Sprechen zu entscheiden, in relevantem Maße beeinflussen. Kaum Entscheidungsmöglichkeiten sieht Amina etwa, wenn sie als Repräsentantin oder Expertin von Lehrerinnen oder Lehrern direkt zu sprechen aufgefordert wird. Dann fällt es ihr schwer, die Aussage zu verweigern. Theoretisch, so Amina, bestünde natürlich die Möglichkeit, eine Antwort zu verweigern, niemand könne sie zwingen sich zu äußern, wenn sie das nicht will: „Und klar, ich glaube nicht, dass mein- irgendein Lehrer mich zwingen könnte: ‚Ja, nee, erzähle mal‘ und so. Wenn ich sagen würde: ‚Das passt mir nicht. Ich würde das nicht so gerne erzählen‘, dann so: ‚Ja, okay.‘ Fertig, aus.“ (Amina IA, 362)

Dies klingt zunächst logisch und relativ unproblematisch. Aufgrund der Machtverhältnisse in der Schulklasse stellt sich diese Option jedoch als weitaus komplizierter dar. Denn Amina ist nicht nur gegenüber dem in der Klasse herrschenden dominanten Wissen relativ schwach positioniert, sondern auch gegenüber ihren Lehrerinnen und Lehrern, die als Autoritäten u.a. über die Notenvergabe entscheiden. Amina ist sehr daran gelegen, in der Schule gute Noten zu bekommen. Sie hat eine hohe Bildungsaspiration und möchte nach der Schule studieren. Zudem wird in anderen Passagen deutlich, dass sie aufgrund von Bedeutungskonstruktionen, die sie als ‚nicht bildungserfolgreich‘ beschreiben, den Ehrgeiz entwickelt hat, sich in der Schule „jetzt erst recht“ anzustrengen und ‚extra gut‘ zu sein (vgl. Kap. 2.2). Die praktische Konsequenz der theoretischen Möglichkeit einer Verweigerung, so Aminas Befürchtung, könnten schlechtere Noten sein: Amina:

„Aber dann ist dann wieder so eine Frage, was die Lehrer so von einem so denken, wenn man sagt: ‚Nee, möchte ich nicht erzählen‘ oder ‚Nee, sage ich jetzt nicht‘, so. Ob die dann auch so eine schlechte Note für einen schreiben, oder so? Weil, dann- wenn man sich halt in dem Thema nicht beteiligt hat? So, ich weiß nicht, manchmal denke ich auch so, ja, sollte ich lieber sagen, oder nicht, so? Weil, immer bin ich bei dem Thema bin ich- wenn es mir unangenehm ist, melde ich mich halt einfach nicht. Aber wenn ich dann trotzdem dran genommen werde und was sagen muss, dann, ich weiß nicht, ob ich dann jetzt sagen soll, um halt meine Note zu verbessern oder es ganz lassen soll. Ich weiß nicht. Ist halt auch wieder so ein .. so, so .. /Stimmungsschwankung/ Ja.“

Interviewerin:

„/Dilemma/“ (IA, 362-363).

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Die komplexen Verhältnisse sowie die daraus möglicherweise hervorgehenden Konsequenzen, die mit Schweigen bzw. Sprechen in diesen Situationen verbunden sind, führen bei Amina zu Unsicherheit und Unentschlossenheit. In der konkreten Unterrichtssituation stellt zwar der wenig aussichtsreiche Versuch der Vermeidung eine für Amina gangbare Möglichkeit dar, nicht aber die Verweigerung, die sie sich ‚manchmal denkt‘: Interviewerin: „Und machst du es aber manchmal, dass du sagst: ‚Nee, das will ich nicht er zählen‘?“ Amina:

„Nee, eigentlich nicht so. Selten. Sehr selten.“ (IA, 363-364)

Zusätzlich zum Notendruck führt Amina ergänzend weitere Begründungen dafür an, dass sie sich zum Sprechen genötigt sieht: „Weil, ich weiß nicht, so. .. Kommt auch komisch rüber: ‚Nee, will ich nicht erzählen.‘ Dann könnten die- denken die vielleicht erst recht so: ‚Ja, vielleicht hat sie was zu verstecken‘ oder: ‚Nee, ist bestimmt so und sie will sich dazu nicht äußern, nur weil sie sich dafür schämt‘ oder so. Könnte ich mir auch vorstellen, dass die meisten, so, das denken würden, wenn ich das sagen würde. .. Und deswegen. Sagen, ja, egal. .. Ja.“ (Amina IA, 362)

Aminas Optionen des Reagierens auf eine direkte Anrufung als Repräsentantin scheinen nicht nur begrenzt, sondern obendrein noch außerordentlich ambivalent. Die Zwickmühle, in der sie sich befindet, nimmt mit den spezifischen Machtverhältnissen in der Schule an Komplexität noch weiter zu: Nicht-Sprechen hätte den Vorteil, die Position der ‚Anderen‘, die machtvoll bereits durch die Frage hergestellt wird, nicht auch noch einzunehmen und damit zu unterstützen. Zugleich ginge damit aber zum einen auch das Risiko der Verschlechterung ihrer Noten einher, zum anderen befürchtet sie, dass auch ein Schweigen ihre prekäre Zugehörigkeit in der Klasse gefährden könnte, indem u.U. Vorstellungen über ‚die Anderen‘, die sie in der Klasse – ob sie will, oder nicht – repräsentiert, so bestätigt werden. Denn ihre Zurückhaltung, so Aminas Befürchtung, könnte wiederum als Teil stereotyper Bilder bzw. ihres vermeintlichen ‚Anders-Seins‘ gedeutet werden. Ihr Schweigen böte folglich nicht nur keinerlei Möglichkeit, den gängigen Stereotypen etwas entgegenzusetzen, dem Mainstream-Diskurs in ihrer Schulklasse zu widersprechen, sondern könnte stattdessen indirekt stereotype Bilder reproduzieren, was womöglich wiederum Einfluss auf ihre soziale Position in der Klasse hätte. Sprechen könnte hingegen zwar bedeuten, dass sie die Gelegenheit hat, stereotypen Wissensbeständen entgegenzuwirken, bedeutete aber auch das Preisgeben von Privatem und die wahrscheinliche Gefahr, wiederum in eine Stellvertreterinnenposition zu geraten, in der sie nicht als Subjekt, sondern als Repräsentantin einer

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homogenisierten sozialen Gruppe, reduziert auf Herkunft und Religion, spricht und ihre ihr zugewiesene Position als ‚Andere‘ weiter bestätigt; was, in ihren Worten, wiederum ‚Selbstausgrenzung‘ bedeutete. Zudem weiß sie sehr genau, dass sie mit ihren Positionen oft kein Gehör findet, dass ihre Meinungen und Einschätzungen oft nicht nur nicht akzeptiert, sondern gar für ungültig erklärt werden (vgl. unten). Amina, so könnte man sagen, befindet sich hier in einer Lose-Lose-Situation. Es scheint, als hätte sie nur die Wahl zwischen zwei schlechten Optionen. Besonders perfide erscheint hier zusätzlich die Tatsache, dass es rassistische Bedeutungskonstruktionen und mithin Rassismuserfahrungen sind, die Amina in besonderem Maße zu Anstrengungen in der Schule und zu Bildungserfolg antreiben. Die Angst um die guten Noten kann sowohl als Konsequenz von rassistischen Zuschreibungen als auch als Begründung für das Sprechen und die damit wiederum einhergehenden Otheringeffekte interpretiert werden. Mit anderen Worten: Das Streben nach guten Noten ist eine Form des Widerstandes von Amina gegen rassistische Bedeutungskonstruktionen, die zugleich einen Teil der sich für sie darstellenden Unmöglichkeit ausmachen, sich in dieser Konstellation widerständig gegenüber der Einnahme einer Position als ‚Anderer‘ zu zeigen. Marginalisiert im Macht-Wissen-Komplex47 In Aminas Klasse manifestieren sich alltagstheoretische ‚Wahrheiten‘ über ‚die Anderen‘, über ‚die Muslime‘ und ‚die Nicht-Deutschen‘, die Amina immer wieder aufgefordert ist, zu repräsentieren, in außerordentlich macht- und effektvoller Weise. Denn auch wenn sie ständig als Repräsentantin und Expertin angerufen wird, ist doch das geteilte, vermeintlich ‚gültige‘ Wissen, wie es in der Klassengemeinschaft übernommen wird und vorherrscht, dominant, sind die dieses ‚Wissen‘ vertretenden Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrerinnen und Lehrer weitaus mächtiger in der Möglichkeit, ihre ‚Wahrheit‘ durchzusetzen, als Amina es ist. Deutlich wirkt in Aminas Klasse ein Wahrheitsregime und weist so auch auf eine sich hier konkretisierende Machtbeziehung hin: Machtvoll gelingt es ihnen, ein Ensemble von Aussagen unter Bezugnahme auf eine diskursive Formation, die gesellschaftlich weithin als ‚wahr‘ akzeptiert ist, entgegen Aminas Argumentationsbemühungen als ‚gültige Wahrheit‘ durchzusetzen. Unter Bezugnahme auf Foucaults Arbeiten zum Verhältnis von Macht, Wissen und Wahrheit beschreibt Hall solche Konstellationen: „Das Wissen, das ein Diskurs produziert, konstituiert eine Art von Macht, die über jene ausgeübt wird, über die ‚etwas gewusst wird‘. Wenn dieses Wissen in der Praxis ausgeübt wird, werden diejenigen, über die ‚etwas gewusst wird‘, auf eine besondere Weise zum Gegenstand der Unterwerfung“ (Hall 1994b, 155). Ihre Perspektive, 47 Ich beziehe mich bei der Analyse der konkreten Macht-Wissen-Komplexe und den ver wendeten Begrifflichkeiten in diesem Kapitel – ‚gültiges Wissen‘, ‚Wahrheit‘, Wahrheits regime‘ – auf die Ausführungen zu Foucaults Machtbegriff in Kap. III 2.1.

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so Aminas Erfahrung, die in ihren Augen das ‚richtige Wissen‘ transportiert, ihre Bemühungen darüber aufzuklären, „wie es wirklich ist“ (Amina IA, 486), finden in der Regel kein Gehör in ihrer Klasse, ihre Argumente stoßen nicht auf Offenheit oder gar Verständnis. Stattdessen werden diese von einer machtvollen Mehrheit abgewehrt und abgewertet sowie für irrelevant und illegitim erklärt. Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern kommt in der Klasse vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wahrheitsregimes, der Diskurse, die eine Gesellschaft „accepts and makes function as true“ (Foucault 1980, 131), die Fähigkeit „to distinguish true and false“ und der Status jener zu, „who are charged with saying what counts as true“ (ebd.). Das in der Klasse geteilte und vertretene Diskurswissen stellt sich, auch im Kontext der Schulklasse, als überaus mächtig und nur schwer aus der Welt zu schaffen dar. So unterstellt Amina nach verschiedenen aufklärerischen Bemühungen, in denen „die mir auch gar nicht [glauben]“, wenn sie mit einem differenzierten, ‚richtigen‘ Expertinnenwissen argumentiert, das sie sich in sorgfältiger Recherche für ein Referat angeeignet hat (vgl. Kap. 2.4), frustriert ein absichtsvolles Festhalten an Zuschreibungen bzw. eine fehlende Offenheit gegenüber Musliminnen und Muslimen: „[D]as wollen die meisten […] nicht verstehen“ (Amina IA, 272). Dabei sind Aminas Erfahrungen zufolge nicht nur Mitschülerinnen und Mitschüler von ‚Unwissenheit‘ betroffen und gehen von einem ‚falschen‘ Wissen aus. Selbst vermeintliche Expertinnen und Experten erliegen dem gültigen, vermeintlich ‚richtigen‘, in ihren Augen aber ‚falschen‘ Wissen, welches „in der Politik“ noch verstärkt werde. So berichtet Amina, wie ein Lehrer ihrer früheren Realschule, ein Pastor – also ein vermeintlicher Religionsexperte –, der an der Schule die Fächer Politik und ‚Werte und Normen‘48 unterrichtete, verallgemeinernd einen Zusammenhang zwischen dem Islam und Terrorismus erklärt: „‚Ja, das sind ja diese Moslems, die halt sich töten, um in den Himmel zu kommen und dreißig Frauen zu kriegen, Jungfrauen zu kriegen‘ und so was ‚Ja, und die Muslime tun das ja immer‘ und was weiß ich. ‚Das steht ja in deren Koran, dass die es machen müssen‘ und so was halt. Hat total auch, Werte und Normen, als wir darüber geredet haben, und halt, wir wussten alle, dass er halt versucht das ein bisschen Scheiße darzustellen. Und wir haben ja halt erst recht damit angefangen so mit ihm zu diskutieren und das anders darzustellen. ‚Nee, ist nicht so.‘ Und der war auch sowieso, hat sich nie irgendwie was anderes einreden lassen, oder 48 ‚Werte und Normen‘ ist ein Unterrichtsfach, an dem Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen teilnehmen müssen, die nicht den Religionsunterricht besuchen. Laut dem Niedersächsischen Schulgesetz, sind im „Fach Werte und Normen […] religionskundliche Kenntnisse, das Verständnis für die in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen und Normen und der Zugang zu philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Fragen zu vermitteln“ (NSchG §128 Abs. 2).

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überhaupt so andere so, zugehört so. ‚Nee, ist so‘ und ‚Ja .. Nee‘ und .. nie genau darauf eingegangen.“ (Amina IA, 272)

Von dieser Szene berichtet Amina rückblickend auf ihre Zeit an der Realschule. Zum Zeitpunkt des Interviews besucht sie eine weiterführende Schule, auf die sich ihre Ausführungen hauptsächlich beziehen. Aminas Realschulzeit unterscheidet sich eklatant von ihrer Zeit an der weiterführenden Schule. Denn während sie in ihrer gegenwärtigen Klasse die einzige ist, die ihr zufolge Rassismuserfahrungen machen muss und von ihren Mitschülerinnen, Mitschülern und Lehrerinnen und Lehrern kaum Unterstützung und Solidarität oder Empathie erfährt, sondern im Gegenteil abwertende Zuschreibungen und Rassismus, sich zudem in ihrer Klasse nur prekär zugehörig fühlt, wusste sie in der Realschule, dass sie „da wirklich […] so bei je dem so dazugehört [hat]“ (Amina IA, 82). Dort hat sie in rassistischen Situationen Solidarität und Unterstützung erlebt, wie in dieser Passage deutlich wird, und sie hat sich nicht „total alleine in der Klasse gefühlt“ (Amina IA, 486), stand nicht „immer wegen so was im Mittelpunkt“ (Amina IA, 196). Amina beschreibt sich selbst in ihrer aktuellen Klasse als Einzelkämpferin, die dort die einzige ist, die „weiß wie es ist, wenn man […] mit solchen Vorurteilen kämpfen muss“ (Amina IA, 447). So malt sie das Bild einer außerordentlich machtvoll-trennend erscheinenden Front, die sie in Bezug auf das Thema Rassismus deutlich vom homogenisierten Rest der Klasse abgrenzt. Im Gegensatz zum selbstverständlich anmutenden ‚Wir‘ in der Realschule, wie es oben in der gemeinsamen Solidarisierung gegen den antimuslimischen Rassismus des Lehrers deutlich wird, gibt es hier kein ‚Wir‘, sondern ein ‚Amina gegen den Rest‘ als Nebeneffekt ihrer Bildungsaspirationen. Die offensichtlich als Übermacht erfahrene Dominanz des herrschenden Wissens der Klassengemeinschaft, verbunden mit ihrer unsicheren Zugehörigkeit in ihrer Klasse und ihrem Wunsch nach fragloser, selbstverständlicher Zugehörigkeit führt, zu der Furcht, ihre eigenen Ansichten und Meinungen in der Klasse gegen eine sehr machtvolle Mehrheit zu vertreten, die ‚abweichende‘ Meinungen kaum akzeptiert: „Und, ich weiß nicht, […] wenn ich da jetzt auch so- […] so voll [meine] Meinung sag[e] und so. So könnte ich mir auch vo- hundert Pro vorstellen, dass die [ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, W.S.] auch total mich fertig machen würden, weil die dann halt nicht akzeptieren würden, dass ich so eine Meinung habe oder so, bei manchen Sachen. Deswegen.“ (Amina IA, 228)

Neben Aminas Befürchtung, für ihre Meinung Ausgrenzung zu erfahren und damit einmal mehr zur ‚Anderen‘ zu werden, gehört es auch zu ihrer Erfahrung, dass nur solche Beiträge von ihr Gehör finden, die das allgemein gültige Wissen, das den

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Klassenkonsens offensichtlich beherrscht, bestätigen, jene Beiträge, die zu den dominanten Bildern ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer und des Wahrheitsregimes passen. Instrumentalisierung, Definitions- und Repräsentationsmacht In Aminas Realität stellt sich das in der Klasse vorherrschende Diskurswissen so als sehr viel mächtiger dar, als es ihr ‚Expertinnenwissen‘ ist; obgleich dieses Wissen nicht auf ‚echtem‘ Wissen beruht, obgleich es in Aminas Augen keinerlei legitime Begründung dafür gibt, ihr nicht zu glauben – denn „von denen“ hat „keiner […] irgendwie überhaupt Ahnung davon, oder überhaupt einmal [den] Koran in der Hand gehabt“ und damit auch nicht die Legitimation zu behaupten, „zu wissen, was da wirklich drin steht und zu sagen: ‚Ja, das ist wirklich so‘“ (Amina IA, 272) – und obgleich ihr Expertinnen- und Repräsentantinnenwissen doch immer wieder gefragt zu sein scheint. Tatsächlich erlebt Amina Situationen, in denen ganz offensichtlich ein bestimmtes Wissen gefragt ist. Etwa dann, wenn sie zum Thema Islam befragt wird: „Und auch mit dem Kopftuch so. Ja, wenn ich da jetzt was dafür sage, sagen die ‚Ja, nur weil du jetzt an die Religion glaubst, versuchst du das zu befürworten.‘“ (Amina IA, 196)

Der zunächst verliehene Expertinnen-Status wird Amina hier von ihren Mitschülern und Mitschülerinnen wieder entzogen und ihr stattdessen jener einer religionsdeterminierten Gläubigen verpasst. Unter Rückgriff auf stereotype Zuschreibungen werden nicht nur Aminas Argumente, die nicht dem Klassenkonsens entsprechen, delegitimiert, sondern ihr zugleich ihre Fähigkeit, begründet eigene Meinungen und Haltungen ausbilden zu können, abgesprochen (vgl. Kap. 2.2). Amina macht wiederholt die Erfahrung, dass Mitschüler, Mitschülerinnen, Lehrer und Lehrerinnen von ihr erwarten, in widersprüchlicher Weise Auskunft zu spezifischen Themen zu geben: Zum einen soll sie ‚authentische‘ Einblicke aus der Perspektive der ‚Anderen‘ geben. Zum anderen soll diese Perspektive den Vorstellungen der Dominanzgemeinschaft entsprechen. Hieran wird dann die Legitimität ihrer Aussagen gemessen. Die Macht zu definieren, was in diesem Rahmen gültig, was hörbar, was gewollt ist, liegt nicht bei Amina, sondern bei den (Nicht-)Anderen. Vor diesem Hintergrund ist weder davon auszugehen, dass Amina mit einer oppositionellen Bezugnahme auf stereotypisierte Bedeutungszusammenhänge gehört, ernst genommen und akzeptiert wird – vielmehr geht sie das Risiko ein, Ausgrenzung zu erfahren – noch davon, dass dominante Bilder aufgrund einer ausbleibenden Bestätigung dieser oder einer kritischen Selbstpositionierung keine weitere Aufmerksamkeit erfahren. Ganz im Gegenteil kommt es sogar vor, dass Amina aufgefordert wird, nachträglich affirmativ auf solche Bilder Bezug zu nehmen und ras-

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sistische Bedeutungskonstruktionen zu bestätigen. Beispielhaft deutlich wird dies in ihrem Bericht über ein Referat über den Islam, in dem sie aufgrund ihrer Erfahrungen mit ihrem Lehrer auf der Realschule antizipierend auch das Thema ‚Islam und Terrorismus‘ aufgreift, um etwaigen Zusammenhangskonstruktionen, mit denen sie rechnet, offensiv zu begegnen und sie zu widerlegen, noch bevor sie mit ihnen konfrontiert wird – eine Umgangsweise, die auf Rassismus als ständige Bedrohung und die entsprechende Herausbildung von kritischer Aufmerksamkeit gegenüber solchen Situationen potenzieller Rassismuserfahrungen verweist. Amina erklärt, dass „[i]m Koran […] genauso wie in der Bibel [steht], dass man nicht töten darf“, gläubige Muslime infolgedessen auch keine Terroristen sein können – denn „dann würde es sich ja eigentlich widersprechen“ – und Menschen, die den Koran als Legitimation für Terrorismus benutzen, diesen „dann halt falsch interpretieren“ (Amina IA, 274). Das Resultat dieser sehr mutigen Offensive Aminas ist jedoch ernüchternd: Ihr – eigentlich gefragtes – Expertinnenwissen wird einmal mehr nicht akzeptiert: „‚Nee, das ist nicht so‘“ (Amina IA, 274) ist die Reaktion der Mitschülerinnen und Mitschüler. Auch hier findet Amina kein Gehör mit ihrem als ‚richtig‘ erachteten Wissen, das nicht zu den dominierenden Bildern passt. Stattdessen fordert Aminas Lehrerin (wie der erwähnte Realschullehrer ebenfalls zuständig für das Fach ‚Werte und Normen‘) Amina dazu auf, stereotypisierte, antimuslimisch-rassistische Wissensbestände als vermeintlich wahres Wissen, quasi mit authentischer Stimme, zu benennen: „[M]eine Lehrerin hat ja auch am Ende halt gesagt: ‚Ja, warum hast du es halt nicht gesagt?‘ Und ich so: ‚Ja, was erwarten Sie, was ich hätte sagen sollen?‘ Sie so: ‚Ja, dass die halt die Terroristen‘, wollte sie auch eigentlich darauf hinaus, dass ich sagen sollte, dass die halt- auch im Koran steht, dass die sich töten, und andere auch töten, die ungläubig sind, damit die in Himmel kommen und so, ne. Schon- Das war- hat sie irgendwie von mir verlangt, weil dasich weiß nicht, auch eine Lehrerin, die Werte Normen unterrichtet, aber selber keine Ahnung hat. […] Und .. sie sagt ja: ‚Ja, nee, die Muslime sind ja nicht tolerant gegenüber Christen und Juden‘ und was auch immer ‚die versuchen nur ihre Religion gut darzustellen‘ und was weiß ich, und so. Und deswegen. Und die hat eigentlich von mir erwartet, dass ich das halt auch so sage.“ (Amina IA, 274)

In den Augen von Aminas Lehrerin besitzt dieses Wissen ganz offensichtlich unhinterfragte Gültigkeit. Dafür spricht auch, dass es der Lehrerin nicht unangenehm zu sein scheint und ihr offenbar nicht seltsam vorkommt, dass sie Amina als gläubige Muslimin dazu auffordert, dieses Wissen zu bestätigen. Im Gegenteil würde diese vermeintliche ‚Wahrheit‘ in ihren Augen, so ließe sich spekulieren, noch um einiges an Gültigkeit hinzugewinnen, wenn Amina diese in ihrer Rolle als Expertin und Muslimin bestätigen würde. Diese Situation, in der eine ‚Werte und Normen‘-Leh-

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rerin von einer sich zum Islam bekennenden Schülerin erwartet, vor der eigenen Schulklasse zu behaupten, Muslime seien Terroristen und Christen und Juden gegenüber intolerant, ist, so könnte man meinen, an Dreistigkeit, Empathielosigkeit und Absurdität kaum zu überbieten. Die Lehrerin bittet Amina hier quasi, die Säge in die Hand zu nehmen und sich vor den Augen ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler den ohnehin sehr wackeligen und instabilen Ast abzusägen, auf dem sie sitzt. Amina macht damit zum wiederholten Mal die Erfahrung, dass Lehrerinnen und Lehrer explizit rassistisches Wissen vertreten, von dem sie persönlich in Form von Rassismuserfahrungen betroffen ist. Dennoch macht Amina ihnen keinen Rassismusvorwurf. Sie geht nicht davon aus, dass ihre Intentionen rassistische Ausgrenzung und Abwertung sind, geschweige denn sie als Person meinen. Stattdessen, so Amina, handelt es sich bei ihrem Realschullehrer und bei der „Lehrerin, die Werte Normen unterrichte[n]“ um Unwissenheit. Es sind Lehrkräfte, deren Aufgabe zwar die Wissensvermittlung zum Thema Religion ist, die „aber selber keine Ahnung [haben].“ Diese, in ihren Augen zu Rassismuserfahrungen und Diskriminierung führende Unwissenheit wiegt jedoch angesichts des Kontextes besonders schwer: Denn in der Schule als Anstalt der Wissensvermittlung, der qua institutionellem Auftrag die Aufgabe des Unterrichtens im ‚richtigen‘ Wissen zukommt, stellen Lehrerinnen und Lehrer die (Lehr-)Autoritäten dar, deren Wissen bereits aufgrund ihrer Funktion der überzeugende Anstrich von Legitimation und Wahrheit innewohnt. Damit kommt ihnen das Privileg zu, machtvoll ‚falsches‘ Wissen als ‚richtiges‘ Wissen vermitteln zu können, sie besitzen die Definitions- und Repräsentationsmacht, gegen die Amina sich in diesem Kampf um Bedeutungen aus ihrer weitaus schwächeren Position als Schülerin und Repräsentierte zu stemmen versucht. Amina kommt der Aufforderung ihrer Lehrerin nicht nach. Denn sie ist überzeugt, dass sie sich im Recht befindet und es besser weiß als diese: „weil ich weiß, dass es nicht so ist und im […] Koran steht ja auch, dass man halt auch andere Religionen, außer Islam, halt auch respektieren soll. […] Und, ich weiß nicht, wenn ich dann .. besser weiß, dass es nicht so ist, kann sie kaum von mir verlangen, dass ich das sage.“ (Amina IA, 274)

In ihrer Rolle als Aufklärerin betrachtet Amina die Nachfrage ihrer Lehrerin am Ende ihres Referats – „‚warum hast du es halt nicht gesagt?‘ […] dass die halt die Terroristen [sind]‘ […], dass […] im Koran steht, dass die sich töten, und andere auch töten, die ungläubig sind“ – daher in erster Linie als Hinweis darauf, dass ihr Referat nicht gut genug aufgebaut war, um einer solchen Frage zu entgehen, indem sie – wie es eigentlich ihr Plan war – quasi vorauseilend das ‚falsche‘ Wissen durch die Präsentation des ‚richtigen‘ Wissens delegitimiert. So denkt sie selbstkritisch darüber nach, dass sie dem Thema Terrorismus und Islam in ihrem Referat nicht

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ausreichend Platz eingeräumt hat, es, obwohl sie „auch ein bisschen, ganz wenig darauf eingegangen“ ist, letztlich doch zu „kurz und knapp“ abgehandelt hat (Amina IA, 274). „Ich hätte auch ruhig mehr darauf eingehen können“, überlegt Amina. Und das „habe [ich] ihr auch gesagt“. Dies jedoch, um Überzeugungsarbeit in eigenem Sinne zu leisten, nicht, um sich als authentische Stimme instrumentalisieren zu lassen: Aber selbst, wenn „ich mehr darauf eingegangen wäre“, so Amina, „hätte ich auch nicht das gesagt“ (Amina IA, 274). Zu ihrer Rolle als Expertin gehört mithin trotz des Wissens um die Schwierigkeit des Überzeugens und die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns sowohl die Hoffnung, mit ihren Argumenten, mit ihrem ‚Wissen‘ überzeugen zu können, als auch die Erwartung anderer, dass sie die dominanten Bilder mit ‚authentischer Stimme‘ bestätigt. Womit Amina sich in Äußerungen, die auf die Aufforderung, als Expertin zu sprechen oder aber auf Zuschreibungen, die im Unterricht ohne direkte Ansprache vermittelt werden, reagieren, der stetigen Gefahr aussetzt, sowohl für den Wissenszuwachs der ‚(Nicht-)Anderen‘ als auch als ‚authentische Stimme‘ für die Be kräftigung des dominantes Wissen instrumentalisiert zu werden und dieses zu reproduzieren, statt, was sie eigentlich möchte, eben diese Bedeutungskonstruktionen zu widerlegen, als ‚gültig‘ angenommene Bedeutungszusammenhänge zu irritieren und geläufige Artikulationen zu re-artikulieren. Reproduktionen von Macht und Ungleichheit Gesellschaftliche Machtverhältnisse manifestieren sich in Aminas Lebenswelt überdeutlich und sorgen als Handlungsherausforderungen für ein enges Geflecht von Dilemmata, in denen Amina sich in Bezug auf Rassismus- und Otheringerfahrungen zwischen Selbstschutz und Widerstand zu bewegen bemüht. Sie – und andere in ähnlichen Strukturen – ist mit institutionalisierten, von Schülerinnen, Schülern, Lehrerinnen und Lehrern praktizierten Dominanzverhältnissen konfrontiert, mit denen es umzugehen gilt. Das Zusammenspiel spezifischer Kontexte und gesellschaftlicher Verhältnisse verhindert – hier und anderswo –, dass Prozesse der Selbstpositionierung Anerkennung und marginalisierte Stimmen Gehör finden, wie an Aminas Beispiel deutlich wird. Ich möchte diesen Punkt hier noch einmal in aller Deutlichkeit schildern und die bereits beschriebenen Kontext- und Verhältnisbestimmungen zuspitzen, indem ich mich noch einmal der Diskussion zuwende, die in obigem Zitat von Amina bereits kurz zur Sprache gekommen ist: die Diskussion um das Kopftuch in ihrer Klasse. Amina berichtet in unserem Gespräch von einer Situation, die sich im Rahmen des Politikunterrichts zugetragen hat: In einer Unterrichtsstunde ging es um die Frage, ob Frauen, die Kopftuch tragen, als Lehrerinnen unterrichten dürfen – und gemeint ist hier natürlich das Kopftuch als Teil des islamischen Glaubens.

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Amina war in dieser Diskussion „der Meinung, dass die es dürfen. Aber- Und wenn die es nicht dürfen, hätte ich auch nichts gegen, aber dann halt […] aus dem einen Grund, dass halt Religion und Bildung getrennt wird, aber allgemein dann halt. So wie ich es mitgekriegt habe, dürfen Nonnen ja auch an den […] normalen Schulen, unterrichten. Mit ihren Kopftüchern und so was, Gewand und was auch immer die anhaben. Und, ja, und dann müsste halt, Gleichberechtigung, dass dann alle nicht dürfen. […] Und wenn ich das so sage […] [die anderen, W.S.] so: ‚Ja, nee‘. Und ich wurde auch an dem Tag sowieso voll komisch angeguckt, weil ich war die einzige, die halt dafür war und alle anderen waren dagegen. Und ich habe ja auch gesagt, ich wäre auch […] dagegen sozusagen, dass die, die Kopftuch tragen, nicht dürfen, aber auch nur aus dem einen Grund, wenn alle das nicht dürfen, so. […] Und ich saß ja dann als einzige, hab ja auch ganz viele Argumente gebracht, wo die eigentlich auch gesagt haben: ‚Ja, okay, das stimmt‘ und so. Und die haben ja dann Argumente gebracht, wo ich auch widerlegt habe, aber trotzdem am Ende so: ‚Ja, nee, ist so.‘ .. Haben sich auch nicht wirklich viel überzeugen lassen. Und deswegen. Und da war ich auch ziemlich sauer, habe auch gar nichts mehr geredet. Bei so was hat man dann auch, ich weiß nicht, auch wenn ich meine Noten dadurch verschlechtere. Aber trotzdem, da hat man dann auch keine Lust mehr irgendwas zu machen. Sitzt man dann einfach so: ‚Nee, egal, mache ich jetzt einfach nicht mehr.‘ Ist besser als sich hier jetzt noch mehr aufzuregen, als irgendwas zu sagen. .. Ja.“ (Amina IA, 198)

In dieser, im Rahmen des Politikunterrichts inszenierten Diskussion ist Amina „die einzige, die dafür war und alle anderen waren dagegen“. Alleine argumentiert sie gegen den dominanten Klassenkonsens, sie spricht sich für Gleichberichtigung aus: Wenn Nonnen mit Kopftuch unterrichten dürfen, dann dürfen auch Musliminnen mit Kopftuch unterrichten. Im Umkehrschluss ist sie bereit, sich der Klassenmeinung, dass das Unterrichten mit islamischem Kopftuch verboten sein sollte, dann anzuschließen, wenn Religion und Bildung für alle getrennt werden würde, wenn also auch Nonnen nicht mehr in christlichem Gewand unterrichten dürfen, wenn für alle die gleichen Regeln und Rechte gelten würden. Amina ist davon überzeugt, dass ihre Argumentation logisch und gut begründet ist, sie hat „ganz viele Argumente gebracht“ und für diese auch Zustimmung aus der Klasse bekommen. Jedoch, in letzter Konsequenz, wird Amina die Zustimmung trotz der guten Argumente verweigert. Der Klassenkonsens ist mächtig genug, das allgemein als gültig erachtete Wissen durchzusetzen – und das aus Aminas Perspektive auch ohne gute Argumente, nämlich mit Argumenten, die sie „widerlegen“ konnte. Auf Nachfrage wird deutlich, dass die Begründungen und Argumente ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, gegen die Amina versucht, sich argumentativ zu wehren, ein soziales Wissen transportieren, wie es aus herrschenden öffentlichen Debat-

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ten zum Thema Islam, Muslime und auch zum ‚Kopftuch‘ bekannt ist, die laut Amina jedoch nicht wirklich etwas mit dem Unterrichtsthema zu tun haben. Stattdessen „kamen [da] so Argumente, die mich halt schon verletzt haben. So, die eigentlich gar nicht wirklich mit Kopftuch zu tun hatten. So: ‚Ja, nee, die müssen sich auch-‘ Das mit dem Anpassen und so. Obwohl ich davor über mein Thema geredet habe, was jetzt genau für die Anpassen ist, und so.49[…] [U]nd wenn eine Lehrerin in der Schule mit Kopftuch unterrichtet, ist sie Autoritätsperson und die Schüler können ja beeinflusst werden […]. Und dann haben die halt wieder so ein anderes komisches Argument gebracht, dass, ja: ‚Wenn wir im Ausland sind, müssen wir uns ja auch anpassen.‘ […] Und dann hat sie gesagt: ‚Ja, und warum- wenn wir 49 Amina war aufgefordert, im Rahmen eines Referats über Integration zu sprechen. In ihren Worten: über Anpassung. Das Wort Integration benutzt sie nicht. Amina macht die Erfahrung, dass andere „Anpassung“ von ihr verlangen; was ob der Unbestimmtheit des Be griffs (nicht nur) Verwirrung stiftet und sie erregt fragen lässt: „Ja, wem soll man sich denn jetzt genau anpassen? Was meint ihr mit anpassen? Wie viel muss man sich anpassen? […] Man kann sich ja auf verschiedene Arten anpassen. Und so verschiedenen Leuten anpassen! Aber wem soll man sich jetzt genau anpassen? Das ist für die, typisch Deutsch, sozusagen. So zu sagen, ja, .. jetzt .. ich weiß nicht. Nur um meine Religion auf zugeben, weil- Ist das typisch Deutsch? Ist das anpassen? Ich weiß nicht“ (Amina IA, 288). In Aminas Erfahrungen kommt die nach wie vor wirkmächtige Konstruktion Deutschlands als national-homogen zum Ausdruck, welche die Legitimation von Anpassungsforderungen darstellt. Zugleich entspricht dieses Konstrukt aber keineswegs Aminas Erleben einer sehr heterogenen Gesellschaft, was die Forderung nach ‚Anpassung‘ absurd macht. In Anbetracht fehlender Konkretisierungen dessen, was ‚Anpassung‘ ist – „Es wird auch nie gesagt so, wie viel man jetzt wirklich anpassen muss […], was jetzt für die wirklich anpassen ist“ (Amina IA, 292) – und was Anpassung – jenseits von Deutsch sprechen, europäische Kleidung tragen, Haare blond färben und das ‚Aufgeben der eige nen Religion‘ (vgl. Amina IA, 288, 292) bedeuten soll –, bleiben die Anpassungsforde rungen insbesondere in ihrer Gleichzeitigkeit mit erlebter Ausgrenzung und Anpassungsbemühungen von Amina, die sich „teilweise“ anpasst, uneindeutig und unerreichbar. Vor dem Hintergrund der eigenen Biografie ist die Forderung nach Anpassung für Amina zudem überaus zynisch: „Wir sind ja hierher geflüchtet, weil da halt, diese- nicht diese Meinungsfreiheit gab. Und meine Eltern wurden ja halt wegen der Politik- und mein Vater war für eine andere Partei, und die Partei war total in der Zeit total unbeliebt und überhaupt die Leute, die für die Partei waren, wurden halt verfolgt und überhaupt, ins Gefäng nis reingesteckt und so. Und mein Papa hat ja auch so einiges durchgemacht deswegen. Und deswegen sind wir hierher gekommen. Und wenn wir hierhergekommen sind, und uns gesagt wird: ‚Ja, ihr müsst euch anpassen‘ ist auch ziemlich behindert. So weil, wir sind eigentlich hierher gekommen, weil wir da uns nicht anpassen wollten und jetzt müssen wir uns hier anpassen!“ (Amina IA, 288).

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nicht wollen, dass die Kopftuch tragen, dann müssen die auch nicht, in Deutschland.‘ […] So Argumente, wo ich mich ziemlich angegriffen gefühlt habe. Ja, eine hat ja auch gesagt: ‚Ja, all die werden ja sowieso gezwungen.‘ Und bei manchen kann man sich ja denken, dass die gezwungen werden, deswegen haben die vielleicht Vorteile, wenn man sagt, dass die es in der Schule nicht tragen dürfen. Aber was ist mit den Leuten, die halt freiwillig machen? Müssen die dann ihren Job aufgeben? Habe ich auch schon gesagt. Und ich habe auch ganz viele Ar gumente gebracht, aber irgendwie hat das, glaube ich, gar nichts gebracht.“ (Amina IA, 200)

Anpassungsforderungen, die Überzeugung, als ‚deutsche Mehrheit‘ entscheiden zu können, was ‚die‘ in Deutschland tun müssen, negativer Einfluss auf ‚deutsche‘ Kinder durch muslimische Lehrerinnen, ‚Rettung‘ und ‚Befreiung‘ der muslimischen Frau vor der Unterdrückung durch das muslimische Patriarchat, Gleichsetzung des Status ‚Gast im Ausland‘ bei eigenen Urlaubsreisen mit in Deutschland geborenen und/oder aufgewachsenen und lebenden Menschen. Auch Aminas Mitschülerinnen und Mitschüler machen sich hier in gewisser Weise zu Stellvertreterinnen und Stellvertretern und präsentieren ein eingängiges und in Diskursen weithin geteiltes soziales Wissen, das im Zusammenhang mit Debatten über ‚den Islam‘ oder ‚die Muslime‘ allgegenwärtig zu sein scheint; mit dem Thema des Unterrichts, ob eine muslimische Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch tragen dürfen sollte, darauf weist Amina hin, aber eigentlich gar nichts zu tun hat. Das ‚Wissen‘, auf das die Schülerinnen und Schülern in der Debatte zurückgreifen, transportiert homogenisierende Verallgemeinerungen und rassistische Zuschreibungen, die sich auf Muslime im Allgemeinen und Musliminnen im Besonderen beziehen; es vermag damit Amina, als sich mit dieser Gruppe identifizierende und identifiziert werdende Person, zu ‚verletzen‘ und ‚anzugreifen‘. Im Gegensatz zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, bezieht Amina sich in ihrer Argumentation auf einen ganz anderen, nämlich auf einen Universalismusdiskurs, wie er zu den vermeintlich grundlegenden Prinzipien unserer Gesellschaft gehört, wie er auch im internationalen Kontext gern vom ‚Westen‘ genutzt wird und wie er auch in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 1: Alle Men schen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren) 50 und im deutschen Grundgesetz (Art. 3(1): Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich) 51 steht. Neben den Spielregeln einer politischen Diskussion (Überzeugen mit Argumenten) bedient Amina sich hier gewissermaßen zudem der vorgeblichen Spielregeln der Gesellschaft, indem sie sich auf das Grundgesetz bezieht – was insbesondere in politischen Diskursen als Voraussetzung und Indiz für ‚gelungene‘ Integration dargestellt wird.52 Dieser vielgepriesene Gleichheitsgrundsatz ist die ‚große Logik‘, die große Erzählung, auf der unsere Gesellschaft vermeintlich fußt, die aber in der Lebens50 http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Documents/UDHR_Translations/ger.pdf 51 http://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01.html

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welt von Amina – wie in der Gesellschaft auch – nicht unbedingt gültig zu sein scheint. Implizit, so ließe sich mit Birgit Rommelspacher sagen, wird diese Ungleichheit in einer vom universellen Wert der Gleichheit geprägten Gesellschaft mit der „Legitimationslegende“ Rassismus gerechtfertigt (vgl. Rommelspacher 2009, 26). Es sind eben doch nicht alle Menschen gleich. Gleichheit und Gerechtigkeit scheinen vielmehr nur für jene Gültigkeit zu besitzen, die die herrschende ‚Normalität‘ und die soziale Ordnung der Dinge nicht ‚gefährden‘. Zwischen gesamtgesellschaftlichen rassistischen Verhältnissen und dem Unterrichtsdiskurs sind in diesem Beispiel deutliche Parallelen erkennbar: So herrschen sowohl in der Klasse als auch auf gesellschaftlicher Ebene – repräsentiert durch das Diskussionsthema im Unterricht, in welchem die Organisation gesellschaftlicher Ordnungen mittels Verboten, die nur bestimmte Gruppen betreffen, als Selbstverständlichkeit diskutiert und nicht in Frage gestellt wird – Ungleichheit anstelle von Gerechtigkeit vor, wird in beiden Kontexten mit zweierlei Maß gemessen. Die im Unterricht geführte ‚Kopftuch-Debatte‘ ist dementsprechend keineswegs nur eine sachliche Diskussion, ein Austausch von individuellen Meinungen, der sich auf das Unterrichtssetting beschränken ließe. Vielmehr wiederholt sich in der Klasse ein dominanter Diskurs, der in der Öffentlichkeit häufig unter Bezugnahme auf rassistische Elemente geführt wird, der mit Kulturalisierungen und Benachteiligungslegitimationen gespickt ist. So macht Amina, die in diesem Unterrichtssetting einer initiierten politischen Debatte argumentativ zu überzeugen versucht, nicht nur die Erfahrung, dass auf Gerechtigkeit basierende Argumente gegen die Definitionsmacht der Mehrheit nicht ausreichen, sondern auch, dass Benachteiligungen legitimierende Argumentationen in manchen Fällen offenbar wirkungsvoller sind. Dies macht sie – verständlicherweise – nicht nur „ziemlich sauer“ und führt dazu, dass sie sich letztlich aus der Diskussion zurückzieht, sich – trotz des Notendrucks – nicht mehr am Unterricht beteiligt. Sie muss darüber hinaus, als der betroffenen marginalisierten und in der Diskussion ‚entrechteten‘ Gruppe der Musliminnen zugehörig, Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung machen, erfahren, dass ihr als Muslimin in Deutschland nicht die gleichen Rechte zugestanden werden wie Christinnen.

52 So ist etwa in der 2011 vom Bundesministerium des Innern herausgebrachten Broschüre mit dem Titel ‚Migration und Integration‘ im Abschnitt „Deutsche Islam Konferenz (DIK)“ – deren Ziel laut Verfasser übrigens „eine bessere institutionelle und gesellschaft liche Integration der rund vier Millionen Muslime in Deutschland und ein gutes Miteinander aller Menschen, gleich welchen Glaubens“ (84) ist – gar nachzulesen, dass „bereits wesentliche Ergebnisse […] erreicht“ worden sind. Als ‚wesentliches Ergebnis‘ wird „das Bekenntnis zur deutschen Rechtsordnung und der Werteordnung des Grundgesetzes von muslimischer Seite“ benannt (85). (Vgl. kritisch zur Islamkonferenz: Tezcan 2012; Bada wia 2009).

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Und zwar nicht einmal von vertrauten Menschen aus ihrem sozialen Umfeld: von Lehrkräften, Mitschülerinnen und Mitschülern. Dass es sich hier um eine Unterrichtsstunde und also auch um ein pädagogisches Setting handelt, welches die Diskussion kontextualisiert, kann leicht in Vergessenheit geraten: Schon über die Sinnhaftigkeit der Diskussion bzw. über die mit einer Fragestellung wie jener, ob muslimische Lehrerinnen mit Kopftuch überhaupt unterrichten dürfen implizit verbundenen Vorannahmen und Wertungen und das Einbringen einer solchen Fragestellung als demokratisch zu diskutierendes Thema in den Politikunterricht lässt sich streiten. Darüber hinaus steht ihr Lehrer Amina aber auch in der dann stattfindenden Diskussion nicht bei, er weist nicht auf Spielregeln hin, hinterfragt den Gruppenkonsens nicht oder achtet auf die Fokussierung der Diskussion auf das eigentliche Thema der Stunde. Im Gegenteil, „der hat sich eigentlich ganz zurückgehalten“ (Amina IA, 214), was Amina „[e]igentlich schon scheiße“ fand, da sie so „halt wirklich die Einzige [war], die halt .. da- dagegen .. gekämpft hat“ (Amina IA, 216). Dennoch, obgleich Amina erkennt, dass das NichtHandeln ihres Lehrers den verletzenden Effekt der rassistischen Erfahrung durch ausbleibende Unterstützung indirekt unterstützt, wirft sie ihm dies nicht vor. Denn Amina vermutet, dass ein solcher Effekt von ihrem Lehrer „nicht wirklich“ intendiert war. Stattdessen interpretiert sie dies als ungewolltes Resultat von ‚Gleichbehandlung‘, denn „[er hat] sich, wie bei den anderen Themen, auch zurückgehalten. Also hab ich jetzt nicht wirklich gedacht: ‚Ja, hat er jetzt bestimmt mit Absicht gemacht‘ oder so. Hat er bei den anderen ja auch“ (Amina IA, 216). In Aminas Perspektive war das Handeln ihres Lehrers also in gewisser Weise dennoch ‚fair‘ und die Verletzung nicht intendiert. Amina relativiert damit seine Verantwortung – auch wenn sie sich, darauf weist auch das wiederholte „ich weiß nicht“ hin, sich nicht wirklich sicher ist, ob ihr Lehrer den Effekt, den sein Nicht-Handeln hat, nicht doch erkennt und in Kauf nimmt. 53 Die Nicht-Positionierung des Lehrers verunsichert Amina. Sie „weiß nicht, was er jetzt zu diesem Thema gesagt hätte oder nicht“. Amina jedoch „hätte gerne […] gewusst“, was er – insbesondere auch in seiner Funktion als Autorität in der Klasse – denkt: Ist er im Zweifelsfall auf ihrer Seite? Oder kann sie auch in anderen Situationen nicht mit seiner Unterstützung rechnen? Vertritt er selbst stereotypisierende Ansichten und Rassismen? Auf die Frage, was sie sich in dieser Situation gewünscht hätte, antwortet Amina: „Klar hätte ich mir gewünscht, wenn er auch was gesagt hätte!“ (Amina IA, 220)54 53 In gewisser Weise relativiert sie so auch die rassistische Erfahrung; denn allein der Ge danke, dass in ihrer Klasse Rassismus als intendierte Praxis gegen sie vollzogen würde, wäre wohl schier unerträglich. 54 Nur einmal greift der Lehrer Amina zufolge in die Diskussion ein. Als eine Schülerin mit den Verhältnissen „in der Türkei“ argumentiert, verweist er auf rechtliche Unterschiede zwischen Deutschland und der Türkei: Da „hat er auch gesagt: ‚Ja wir sind ja in Deutsch -

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Der Lehrer scheint seine Aufgabe jedoch vornehmlich darin zu sehen, alle, die sich melden, gleichberechtigt, und das heißt vermutlich in der Reihenfolge ihrer Meldungen, zu Wort kommen zu lassen, was in Aminas Augen jedoch keineswegs zu einer gerechten Debatte geführt hat: „Ich hab mich auch gemeldet und der hat alle drangenommen, und ich bin auch teilweise am Ende drangekommen, deswegen habe ich auch ein bisschen dazwischengequatscht, weil, ich finde zu so einer Diskussion, sollte man halt so Gegenargumente bringen, oder überhaupt Ar gumente.“ (Amina IA, 200)

Hier wird die ‚Gleichbehandlung‘ durch die Lehrkraft aufgrund des Machtungleichgewichtes in der Schulklasse zur didaktischen Katastrophe. Das offenbar vorherrschende Verständnis von Gleichheit als Gleichbehandlung führt zu einer Verstärkung von Ungleichheit, Rassismus und Marginalisierung. Denn eine Sensibilität für die unterschiedlichen Positionierungen innerhalb der Klasse, dafür, dass die an der Diskussion Beteiligten auf unterschiedliche Weise in das Thema involviert sind und unterschiedliche Machtpositionen in der Gesellschaft und auch im Klassenraum einnehmen, lässt der Lehrer gänzlich vermissen. Amina bleibt so während der gesamten Diskussion mit ihrem Einstehen für Gleichberechtigung und Gerechtigkeit, wie es den Menschenrechten und dem Grundgesetz entspricht, in der marginalisierten Position und erfährt die Macht der Majorität und ihre auf Kulturalisierungen basierenden und Benachteiligungen legitimierenden Argumentationen ohne jegliche Unterstützung, die sie in dieser Situation aber „gebraucht“ hätte: „Unterstützung eigentlich. Weil ich habe mich echt so total alleine in der Klasse gerade gefühlt“ (Amina IA, 486). Sie sagt rückblickend, dass das oppositionelle Argumentieren in dieser Diskussion „eigentlich zu viel für mich [war]“ (Amina IA 478), sie sich an diesem Tag, obwohl „es wichtig ist“, wegen der „Note“ nicht mehr „mündlich“ beteiligt hat, weil „ich konnte einfach nicht mehr, weil ich so wütend war […] dachte land und wir haben ja unser Grundgesetzbuch und da stehen andere Gesetze‘, hat er dann halt als Argument gesagt“ (Amina IA, 214). Dieses „Argument“, das wohl dazu dienen sollte, die Diskussion auf den deutschen Kontext zu beschränken, ist für Amina jedoch bedeutungslos, denn es enthält keine Aussage darüber, „was er sich jetzt darüber gedacht hat“ (Amina IA, 214). Besonders zynisch erscheint der Verweis auf das Grundgesetz vor dem Hintergrund der Fragestellung als solcher, des ausbleibenden Sich-Positionierens, des Eingreifens; insbesondere, wenn man bedenkt, dass es Amina ist, die sich in ihrer Argumentation vehement und nachdrücklich im Gegensatz zu allen anderen auf Gleichberechtigung, wie sie Teil des Grundgesetzes ist, stützt. Dass sie die einzige ist, die sich in ihrer Argumentation auf im Grundgesetz verankerte Rechte von ‚Gleichheit‘ bezieht, während ansonsten mit stereotypen Zuschreibungen ‚argumentiert‘ wird, scheint dem auf das Grundgesetz verweisenden Lehrer nicht aufzufallen.

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ich, ja, egal, lieber jetzt nichts sagen, bevor du hier anfängst zu weinen, und so, und deswegen nur bemitleidet wirst […] dann lieber gar nichts sagen. Weil, Mitleid bringt ja auch nichts“ (Amina IA, 480). Unterricht als pädagogischer Raum, als schützender Raum, als sozialer Raum, als demokratischer Raum, in dem Lehrkräfte sensibel und unter Berücksichtigung von Machthierarchien, Gruppendynamiken und diskriminierenden Zuschreibungen agieren, versagt hier. Amina ist vielmehr Rassismus ausgesetzt, gegen den sie sich argumentativ zu wehren versucht, indem sie auf den vermeintlichen Gleichheitsgrundsatz unserer Gesellschaft aufmerksam macht. Die Übermacht ihrer ‚Gegnerinnen und Gegner‘ jedoch, die sich auf gänzlich andere Diskursfragmente beziehen, und auch die fehlende Unterstützung durch den Lehrer lassen Amina in ihrem Kampf gegen die vorgebrachten Zuschreibungen kaum eine Chance. Sie „glaub[t] eher nicht“, dass sie das noch mal machen würde, „weil ich habe ja gesehen, dass es nichts gebracht hat. Weil ich habe ja die ganze Zeit diskutiert und mich umsonst aufgeregt und die […] haben ja immer noch die gleiche Meinung“, und darüber hinaus „haben die jetzt herausgefunden, was ich denke“ (Amina IA, 484), womit sie sich als ‚Andere‘ zusätzlich angreifbar und verletzbar macht. In den schulrelevanten Machtverhältnissen ist Amina folglich in einer schwachen Position: Es sind ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer, die – in Anlehnung an öffentliche Debatten und Diskurse – machtvoll definieren, welches Wissen gültig und legitim ist, was ‚normal‘ ist und wer aufgrund welcher Merkmale und Meinungen selbstverständlicher Bestandteil dieser ‚Normalität‘ ist, wer dazugehört – und wer nicht, wer qua Position in einer gesellschaftlichen Ordnung offenbar selbstverständlich und legitim Benachteiligung erfährt. Aminas Einstehen für gleiche Rechte, auch für kopftuchtragende Frauen, untermauert insbesondere vor dem Hintergrund ihres eigenen Glaubensbekenntnisses ihre Position als ‚Andere‘ in der Klasse und also eine Position des ‚Nicht-so-wiedie-anderen-Seins‘, ‚Nicht-normal-Seins‘ und auch des ‚Nicht-gleichberechtigtSeins‘. Ihre Klasse und ihr Lehrer hingegen scheinen zwischen Amina und ‚den Musliminnen‘ zu unterscheiden, Amina nicht als von der Diskussion in besonderer Weise Betroffene wahrzunehmen. Dies scheint auch Aminas Gefühl zu sein, was – hier und an anderer Stelle – in ihrer Unsicherheit sowohl bezüglich ihrer als prekär wahrgenommenen sozialen Position in der Klassengemeinschaft als auch gegenüber den Intentionen, die mit solchen Argumentationen einhergehen, zum Ausdruck kommt. So erfährt während der ‚abstrakten‘ Diskussion, in der dominante Zuschreibungen und Benachteiligung unkritisch reproduziert werden, deren ‚reale‘ Konsequenzen für konkrete Lebenswelten aber nur Amina bewusst zu sein scheinen, nicht nur ihre soziale Positionierung, sondern auch ihre subjektive Position Missachtung. Denn Amina ist nicht nur ob ihrer sozialen Zugehörigkeit, sondern auch aufgrund ihrer subjektiv-individuellen Auseinandersetzungen mit der Thematik in besonderer

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Weise von dem in ihrer Klasse reproduzierten antimuslimischen Rassismus betroffen. Die Kopftuch-Diskussion gehört in der Lebenswelt von Amina zu jenen Themen und „Situationen“, in die „man sich halt auch so hineinversetzen [kann]“ (Amina IA, 208), denn „eine Zeit lang“, so Amina, hat sie sich „ziemlich viel über Religion Gedanken gemacht und […] alle Religionen angeguckt und so, und Islam dann halt auch intensiver“. Eine „Zeit lang“, fährt fort, habe sie auch „gebetet“ und „wollte […] halt auch Kopftuch“ tragen (Amina IA, 208). In der Diskussion in der Klasse ging es für sie nicht nur um Gleichheit und Ungleichheit, nicht nur um die vergleichsweise abstrakte, gesellschaftlich ‚normalisierte‘ Legitimation der Ungleichbehandlung einer marginalisierten sozialen Gruppe, der sie sich zugehörig fühlt, sondern auch um die daraus ganz konkret resultierende, individuell relevante und schmerzhafte rassistische Benachteiligung für sie, für ihr Leben: „Bei dem Kopftuch könnte ich mir auch hundert Pro vorstellen, was die- […] ich könnte mir vorstellen, wenn man jetzt die Gelegenheit hat, jetzt Lehrerin zu werden, was ich auch viel leicht machen wollte, so, und ohne Kopftuch zu tragen, ich weiß nicht, […] wo ich jetzt sagen würde: ‚Ja, das ist mir wichtiger.‘“ (Amina IA, 208) „Dann habe ich halt darüber nachge dacht, wie es sein würde, wenn ich da jetzt Kopftuch anhabe. […] Und wenn ich so mitkrie ge, was wenn ich da jetzt wirklich Kopftuch an hätte, dann würden die halt total scheiße sein.“ (Amina IA, 202)

Herausforderungen in machtvollen Verhältnissen Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass Rassismus sich machtvoll auch an vermeintlich ‚sicheren‘ und integrativen Orten wie etwa der ‚demokratischen‘ Institution Schule manifestiert. Jugendliche sind in ihrem (Schul-)Alltag u.a. mit Situationen konfrontiert, in denen abwertende und stereotypisierende Zuschreibungen implizit und selbstverständlich im Unterricht geäußert und/oder über Fragen vermittelt werden, die mit Interesse, Lernen- und Verstehen-Wollen oder gar als Didaktik und Methode des Unterrichts legitimiert werden, und die in ihren Konsequenzen diskriminierend und verletzend sind. Nicht zuletzt handelt es sich bei den beschriebenen Situationen auch um Formen institutionellen Rassismuses, bei denen in der Schul- und Unterrichtskultur rassistisches Unterscheidungswissen selbstverständlich präsent ist und effektvoll zum Einsatz kommt (vgl. Gomolla/Radtke 2007; Flam 2007; Exkurs in Kap. 2.6). Weil diese Form des Rassismus außerhalb der verfügbaren Deutungsmuster zu Rassismus liegt, werden die ausgrenzenden und schmerzhaften Praktiken häufig weder von den Betroffenen mit rassistischer Diskriminierung in Zusammenhang gebracht, noch werden sie von jenen als rassistisch und als soziale Ordnung strukturierende Größe erkannt und hinterfragt, die sich mittels machtvoller Artikulationen auf diese (institutionalisierte) ‚Normalität‘ beziehen. Helena Flam betont in ihrer empirischen Studie zu institutio-

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neller Diskriminierung, und ich möchte mich ihr anschließen, dass obgleich diese strukturell verankert ist, und Lehrerinnen und Lehrer daher auch als „Spielzeug in den Händen“ (Flam 2007, 19) unzureichender Strukturen und „Opfer der Politik und Verwaltung“ (ebd.) erscheinen mögen, sie doch keineswegs von ihrer Verantwortung zu entlasten sind: Denn obwohl viele Lehrkräfte, so Flam, bezugnehmend auf die eigene Untersuchung, „sich selbst gern als Opfer“ sehen (ebd.), so tragen sie doch Verantwortung für diskriminierende Entscheidungen, da sie „pauschalisierenden, politisch-medialen oder alltagsrassistischen Diskurse[n]“ folgen, statt „den kritischen, wissenschaftlich-pädagogischen Stimmen, die in Deutschland sehr wohl vertreten sind“ (ebd.). Die Jugendlichen, die von diesen Selbstverständlichkeiten der Unterscheidung, Objektivierung und Entindividualisierung qua Religion und nationaler Herkunft in negativer Weise betroffen sind, verweisen vor allem auf individuelle, medial verbreitete ‚Vorurteile‘ und ‚Unwissenheit‘. Dies umso mehr, je mehr davon ausgegangen wird, dass die ausgrenzenden Effekte der Fragepraxis nicht intendiert sind; Diskriminierung, gar Rassismus werden auch im Zusammenhang mit diesen Erfahrungen kaum als beschreibende Begriffe benutzt – was wiederum Rückschlüsse auf das zugrunde liegende Rassismusverständnis zulässt bzw. sich mit dem Diskriminierungsverständnis der Jugendlichen deckt (vgl. oben). Kein Zweifel besteht bei den betroffenen Jugendlichen hingegen daran, dass solche Zuschreibungen und Fragen, die diese transportieren, nicht legitim, dass sie falsch sind. Ihre Unzulässigkeit und ihre Effekte sind jedoch augenscheinlich vor allem einseitig, nämlich aus marginalisierter Position heraus als abwertend und ausgrenzend sicht- und erfahrbar; für jene, die sich selbstverständlich der dominanten Majorität zuordnen und dieser zugeordnet werden, bleiben sie den Erfahrungen der Jugendlichen zufolge unsichtbar. Ein Grund dafür ist in ihrer sozialen Positionierung als Privilegierte in rassistischen Verhältnissen zu sehen: denn diese soziale Position in der herrschenden Normalität sowie die gesellschaftliche Ordnung bleiben durch solche Zuschreibungen unangetastet, werden nicht irritiert, sondern im Gegenteil über eben diese immer wieder machtvoll hergestellt und abgesichert. Die unmittelbaren, konkreten sozialen Bedingungen (hier die spezifischen Verhältnisse im Klassenraum) und die gesellschaftlichen Bedingungen (rassistischer Verhältnisse) bilden als komplexes Zusammenspiel verschiedener Machtverhältnisse ein wirkungsvolles Geflecht, das zum einen diese Art der Reproduktion von Dominanzverhältnissen und der rassistischen Erfahrung erst ermöglicht und zum anderen den Rahmen herstellt, der für Personen, die von Rassismus betroffen sind, außerordentlich dilemmatröse Handlungs(un)möglichkeiten bereithält. Der Klassenraum, so ließe sich formulieren, ist als „Ort des Wissens […] zugleich ein Ort der Machtausübung“ (Bublitz 2003, 59). Denn durch die diskursive Produktion von Wahrheiten, die durch das Zusammenwirken von Macht und ‚Wissen‘ ermöglicht

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wird, wird Macht ausgeübt (vgl. ebd.). Überaus deutlich kommen anhand von Aminas Beispiel Dilemmata zum Ausdruck, die sich in dem Möglichkeitsraum abbilden, gegen rassistische Zuschreibungen, gegen Aspekte dominanter Macht-WissenKomplexe, aus einer marginalisierten Position heraus zu handeln. Handlungsspielräume zwischen subjektiven Normalitäts- und Zugehörigkeitswünschen auf der einen und intervenierenden, widerständigen, soziale Bedeutungen re-artikulierenden Ansprüchen auf der anderen Seite stellen sich vor dem Hintergrund von konkret-sozialen und gesellschaftlich dominanten Zugehörigkeits- und Wahrheitsregimen als überaus eng und ambivalent dar. Verhältnisse, in denen die Macht, soziale Gruppen zu repräsentieren und zu definieren, welches Wissen als wahr und gültig gilt, nicht bei jenen liegt, deren Anliegen es ist, dominante soziale Bedeutungskonstruktionen zu hinterfragen und zu verschieben, präsentieren sich als überaus wirkmächtige, wenig Spielraum lassende und risikoreiche Bedingungen des Handelns für in diesen Verhältnissen marginalisiert Positionierte. Kein Wunder also, dass Amina, wenn sie im Unterricht unvermittelt „dann halt gefragt wird, […] auch gar nicht so [weiß]“ was zu tun ist, sondern sich immer wieder aufs Neue die Frage stellt: „[J]a, antworten? Nicht antworten? Und wenn, wie antworten?“ (Amina IA, 346). Innerhalb kürzester Zeit und im Rahmen enger, riskanter Handlungsspielräume sind Jugendliche in solchen Situationen aufgefordert, eine möglichst angemessene Handlungsentscheidung zu treffen und etwaige Konsequenzen abzuwägen: Denn das Sprechen in solchen Situationen geht einher mit der Einnahme und also der Verstärkung der Subjektposition der oder des ‚Anderen‘, mit ‚Selbstausgrenzung‘, wie Amina es nennt. Zudem ist widerständiges Sprechen verbunden mit dem Risiko der weiteren Ausgrenzung, wenn Inhalte und Artikulationen vertreten werden, die von den dominanten Bedeutungskonstruktionen abweichen. Hinzu kommt nicht nur das Risiko, als ‚Expertin‘ auf Kosten der eigenen Individualität und Privatsphäre für den Wissenszuwachs der ‚Nicht-Anderen‘, sondern auch als ‚authentische Stimme‘ für ein Wahrheitsregime instrumentalisiert zu werden, das den eigenen Interessen entgegensteht. Darüber hinaus können je spezifische Kontexte, wie in diesem Fall die fehlende Unterstützung und Solidarität55 sowie Abhängigkeiten als Schülerin von

55 Wie andere betont auch Amina mit Blick auf ihre Handlungsmöglichkeiten, dass sie die ‚einzige‘ in der Klasse ist, die zur ‚fremden Expertin‘ gemacht wird. An Gymnasien ist nach wie vor eine eklatante Unterrepräsentation von Schülerinnen und Schülern festzustellen, die als ‚mit Migrationshintergrund‘ gelten. Jedoch, obwohl viele Schulklassen heterogener sind, ist ein ‚Mehr an Heterogenität‘ in der Schulklasse noch kein Garant für ein ‚Weniger an Rassismus‘. Allerdings, darauf weisen die Erfahrungen von Amina, Samir und Milot hin, sind die subjektiven Möglichkeiten sich gegen Rassismus in der Schule zu wehren für diejenigen, die Solidarität erfahren, größer. Und Solidarität erfahren die Jugendlichen vor allem, aber nicht nur, von jenen, die ähnliche Erfahrungen machen.

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der Entscheidungsmacht über Noten der Lehrerinnen und Lehrer, für eine zusätzliche Verengung des Möglichkeitsraumes sorgen. Handeln angesichts herausfordernder Verhältnisse Auch im Rahmen von Schule sehen Jugendliche sich also vor immense Handlungsherausforderungen gestellt, wenn sie intervenierend und/oder widerständig gegen rassistisches Unterscheidungswissen agieren wollen. Wie Amina diesen Herausforderungen begegnet, wann sie entscheidet welche Subjektpositionen wie einzunehmen, um möglichst aussichtsreich und zugleich risikoarm zu sprechen, wird im Folgenden rekonstruiert. Den Kontext der Rede ändern Amina ist bestrebt, gegen ‚Unwissenheit‘, die in ihren Augen der Grund für geäußerte Zuschreibungen und Rassismen ist, anzugehen.Vor dem Hintergrund des beschriebenen, für sie engen und risikoreichen Entscheidungs- und Handlungsrahmens hat sie eine Taktik entwickelt, mit der sie versucht, zum einen weniger angreifbar und verletzlich, zum anderen wirkungsvoller und hörbarer zu (wider-)sprechen und den „Angriff auf das rassisierte Repräsentationsregime“ (Hall 2004b, 158) zu wagen: Wann immer es geht, versucht sie über eine Kontextualisierung ihres (widerständigen) Sprechens, die der spontanen Objektivierung ihrer Person durch andere in normalisierten Praxisformen des Fragens entgeht, ihre Position und Rolle und damit auch die Rezeption ihres Sprechens von Seiten der Zuhörenden zu beein flussen und auf diese Weise letztlich auch auf Artikulationen und Bedeutungskonstruktionen verändernd einzuwirken. Eine solche Chance bieten für Amina Referate, denn als institutionalisierte und akzeptierte Form der Wissensvermittlung innerhalb des Unterrichts, die spezifischen, allgemein bekannten und anerkannten Regeln unterliegt und zudem mit besonderen Bedeutungszuschreibungen einhergeht, eröffnen sie Amina die Möglichkeit, legitimierter und damit auch geschützter zu sprechen, als dies für sie in anderen Kontexten zu den gleichen Themen möglich ist. Amina hat, so erklärt sie, die Referatsthemen ‚Islam‘ und ‚Zuwanderung‘ „freiwillig gewählt. Erstens, weil ich dann halt am meisten davon weiß, und zweitens, weil ich halt, die andere Sichtweise zeigen wollte, wie es eigentlich wirklich ist. Nicht so wie die denken“ (Amina IA, 262).56 Amina weiß, mit welchen Bedeutungen diese 56 Die Fragestellung des Referats bzw. das eigentliche „Thema [war], ob die, Migranten sich gut integrieren oder nicht“ (Amina IA, 172; vgl. unten). Bereits die einseitige Perspektive der Fragestellung verweist auf die normalisierte und dominante Position, aus der heraus die Aufgabe gestellt wird, sowie auf damit implizit einhergehende Vorannahmen. Zudem lässt die Tatsache, dass diese Aufgabe in Anwesenheit von Amina in der Klasse gestellt (und letztlich von ihr übernommen) wird, erkennen, dass die Lehrkraft wenig Empathie für Aminas Lebenswirklichkeit aufbringt und mit dieser einhergehende Effekte der Mar-

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Themen in ihrer Klasse aufgeladen sind – „wie die halt immer geredet haben“ (Amina IA, 262) – und begründet ihre Wahl auch hier mit der Notwendigkeit und dem Willen, in ihrer Klasse Aufklärungsarbeit zu leisten, indem sie gegen herrschende, in ihren Augen falsche Perspektiven und Bedeutungsannahmen angeht. Dabei verortet Amina die dominanten Wissensbestände, gegen die sie in Opposition geht, keineswegs nur in ihrer Klasse – obwohl sie sich hier für sie am konkretesten manifestieren. Auch über die Grenzen des Klassenraumes hinausgeht es ihr darum, dem etwas entgegenzusetzen, „wie andere Leute halt überhaupt, allgemein über Ausländer reden, denken“ (Amina IA, 268). ‚Klassenkonsens‘ und ‚gesellschaftlicher Konsens‘ unterscheiden sich in Aminas Perspektive offenbar nicht oder kaum bzw. sind in ihren Inhalten gleichermaßen revisionsbedürftig. Von dieser intervenierenden Motivation nicht zu trennen ist Aminas erste Begründung für ihre Wahl in der oben zitierten Aussage: Sie gibt an, dass es ihre Absicht war, über die Auseinandersetzung mit einem Thema im Zuge der Vorbereitung eines Referates zur Expertin zu werden; zum Beispiel, indem sie „zu Migrantengeschichte in Deutschland […] ziemlich viel recherchiert“ (Amina IA, 270). Ein in dieser Weise selbst erarbeiteter Expertinnenstatus bildet die wesentliche Grundlage ihrer Darstellungen und ihrer (oppositionellen) Argumentation im Rahmen eines Referats. Dieser eigentlich ganz normal Ablauf ist hier deshalb besonders betonenswert, weil Amina in der Schule häufig ein naturalisierter Expertinnenstatus zugeschrieben wird, dessen Gehalt nach Belieben benutzt, akzeptiert oder abgelehnt werden kann. Dieser Unterschied in den ‚Expertinnenstati‘ ist ein entscheidendes Moment in Aminas Wahl der Widerstandstaktik Referat. Zwar nimmt sie auch hier eine Expertinnenrolle ein, jedoch ist diese aufgrund des Kontextes anders konnotiert: Denn im Referatsrahmen spricht sie in erster Linie als Referentin, als Schülerin, die sich mit einem Thema auseinandergesetzt hat, um gut vorbereitet Informationen und Wissen zu diesem weiterzugeben. Diese, durch die institutionalisierte Unterrichtskultur Referat bestimmte Expertinnenrolle, die sich aus einem erarbeiteten, thematischen ‚Wissensvorsprung‘ speist, unterscheidet sich eklatant von der ihr in anderen Situationen zu geschriebenen Rolle, in der sie qua Glauben oder qua Geburtsland zur Expertin für alles Mögliche, bis hin zu „anderen Ländern“ im Allgemeinen erklärt, be- und ausgefragt sowie funktionalisiert wird. Mit einer in dieser Weise institutionalisierten Sprecherinnenposition gehen für Amina erweiterte Möglichkeiten des widerständigen Sprechens einher, denn die Einnahme der Referentinnenrolle bedeutet die Einnahme einer Subjektposition, welche mit anderen Erwartungen und Bedeutungszuweisungen von Seiten der Zuhörenden verbunden ist als jene der ‚ethnisierten Expertin‘, die Amina sonst so häufig einzunehmen aufgefordert ist: Das Gesprochene erhält in diesem Setting eine ginalisierung, unter Umständen auftretenden Rechtfertigungsdruck und potenzielle Verletzungen nicht erkennt.

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andere Funktion und erfährt damit zugleich eine andere Legitimation. Im Zuge eines Referats über den Islam zu sprechen, so begründet Amina ihre Wahl dieses Referatsthemas zum einen in Abgrenzung zu den von ihr als gescheitert wahrgenommenen Argumentations- und Überzeugungsversuchen im Rahmen der im Politikunterricht initiierten ‚Kopftuch-Diskussion‘, zum anderen als Handlungsoffensive vor dem Hintergrund der schlechten Erfahrungen mit ihrem Realschullehrer und seiner Form der Wissensvermittlung zum Thema Islam (vgl. oben), 57 ermöglicht es ihr, „da ein bisschen mehr zu sagen“ (Amina IA, 278). Denn „dann“, so begründet Amina dieses Mehr an Sprechmöglichkeiten, „würde ich ja wegen Referat da stehen. Wegen Schule und so. Das ist dann wieder eine andere Sache“ (Amina IA, 282). Dass es sich hier um „eine andere Sache“ handelt, liegt an dem allgemein geteilten Funktions- und Bedeutungswissen zu dieser kulturellen Praxis des Unterrichts, über das Schülerinnen und Schüler verfügen: Diesem zufolge geht es hier nämlich nicht darum, Mitschülerinnen und -schüler von persönlichen Perspektiven zu überzeugen, sondern darum, mit dem erarbeiteten Wissen vor der Lehrkraft zu glänzen und möglichst gute Noten zu erreichen. Infolge der Spielregeln dieser Praxis, nach denen mit Wissen und nicht mit eigenen Meinungen und Standpunkten gearbeitet wird, wird ein (widerständiges) Sprechen Aminas im Rahmen eines Referats von Seiten der Zuhörenden in erster Linie als eine Pflichtübung zwecks Leistungsnachweis gedeutet: Ein Sprechen „ja, wegen Schule, Referat, muss[…] man ja gute Note kriegen, und so, ne. Dann denken die dann: ‚Okay ja musste sie ja deswegen ma chen‘ und so“ (Amina IA, 282). Wenn Amina in diesem Rahmen für bestimmte Standpunkte argumentiert, so führt die geteilte Bedeutungszuschreibung des Settings im Schulkontext dazu, dass Amina nicht sofort unterstellt wird, sie wolle aus Zugehörigkeits- oder Glaubensgründen andere von ihrer Meinung überzeugen. Stattdessen wird eher vermutet: „‚Okay, die hat sich deswegen entschieden‘“, einen bestimmten Standpunkt zu vertreten, weil sie aufgrund ihrer Referentinnenrolle, weil sie „‚deswegen vielleicht mehr Argumente‘“ hat (Amina IA, 284). Im Gegensatz zu Diskussionssettings, in denen Amina mit harschem Widerspruch rechnen muss, wenn sie Standpunkte vertritt, die dem Klassenkonsens entgegenstehen, ist es im Referatskontext so, dass „die […] dann halt nicht so genau darauf ein[gehen]“ (Amina IA, 284). Das Referatssetting ermöglicht es Amina somit sowohl, die Inhalte und die Form der Wissensvermittlung relativ autonom – wenngleich nicht unabhängig von erwarteten Erwartungen und Reaktionen der Zuhörenden – zu bestimmen, womit ein höheres Maß an strategisch-didaktischen Planungsmöglichkeiten und Kontrolle einhergeht, als auch eigene Standpunkte zu vertreten. Dies spiegelt sich auch in ihrer Begründung für die Wahl des Referatsthemas „Zuwanderung“ wi57 Amina übernimmt auf diese Weise Verantwortung für eine Wissensvermittlung zum Thema Islam im Unterricht, der von in ihren Augen unqualifizierten Lehrerinnen und Lehrern unzulänglich und/oder ‚falsch‘ nachgekommen wurde.

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der: Mit diesem ging es ihr darum, deutlich zu machen, dass Zugewanderte, „wo seit Generationen die Familie hier ist“, „auch dazugehören. .. Und auch so behan delt werden [müssen]“, statt „ausgegrenzt [zu] werden“ (Amina IA, 270). In Abgrenzung zu diesen Sprechbedingungen markiert Amina Sprechkontexte außerhalb von Referaten als deutlich andere: „[K]lar, da wird man dann wieder anders angeguckt. Das ist dann wieder aus einer anderen Sicht. Dann, ich weiß nicht, dann sagt man eigene Meinung“ (Amina IA, 284); und Aminas eigene Meinung stört in der Regel den allgemeinen Konsens und wird daher – im Gegensatz zu Argumenten, die sie im Referat vermittelt, abgewehrt: „[W]enn ich dann da so stehe[…] und so sage: ‚Ja, nee, das passt mir nicht, und dies ist so und das ist so‘ das ist wieder was anderes. Dann wird man wieder schräg angeguckt, wenn man da was sagt“ (Amina IA, 282). Denn „dann sagt man die eigene Meinung und meistens, wenn manche Leute halt die Meinung von anderen nicht akzeptieren oder so, wird man natürlich wieder komisch behandelt“ (Amina IA, 284). Argumentiert Amina außerhalb der spezifischen Referatslogik, wird, wie oben bereits ausführlich dargelegt, ihr Sprechen schnell als ‚Überzeugungsversuch‘ interpretiert, der kausal auf ihre marginalisierte, soziale Positionierung, ihre Zugehörigkeiten zurückgeführt wird, und damit als marginalisierte, persönliche Haltung bewertet, häufig kulturalisiert – bzw. meist religionisiert – und infolgedessen als ‚falsch‘, nicht objektiv und ‚manipuliert‘, als ‚religiös verblendete‘ subjektive Meinung delegitimiert. Kein Wunder also, dass das widerständige Sprechen im Referatsrahmen Amina weniger riskant erscheint und „das dann halt auch vom Gefühl ein bisschen anders so“ ist (Amina IA, 284). Aminas Taktik ist es also, ihren Widerstand, ihre Aufklärungsbestrebungen in eine Form des Sprechens zu kleiden, die im Kontext Unterricht akzeptiert ist und mit Bedeutungen und Sprechbegründungen assoziiert wird, die ihr die Möglichkeit geben, mit ihren Anliegen gewissermaßen unerkannt Gehör zu finden. So agiert Amina aufklärerisch und widerständig unter dem Deckmantel eines Referats als Setting ‚objektiver‘ Wissensvermittlung und zugleich lästiger Schüler/innen-Pflicht: „[D]ass ich das wirklich auch wegen- aus einem anderen Grund gemacht habe. Und nicht nur wegen meinen Noten“, so Amina, „[daran] denken die gar nicht“ (Amina IA, 282). Amina verfügt über ein im Kontext von Schule offenbar allgemeingültiges Wissen zu den kulturellen Regeln und Codes unterschiedlicher Unterrichtspraktiken, das sie sich zu Nutze macht. Diesem zufolge bieten Referate im Gegensatz zu anderen didaktischen Settings, in denen Unterrichtsdynamik oder -logik verlangen, das Vertreten eines eigenen Standpunktes und das Argumentieren zu üben, eine institutionalisierte Rahmung, die sowohl die Wahrscheinlichkeit, dass das Thema und nicht Amina als ‚Andere‘ im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht als auch die Chance, Gehör und Anerkennung für das vermittelte Wissen zu erfahren, deutlich

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erhöht. Die vergleichsweise machtvolle Subjektposition ‚Referentin‘ stellt zudem einerseits eine Form des Selbstschutzes dar, und bietet andererseits die Möglichkeit der ‚Selbstnormalisierung‘ im Klassenkontext. Aminas Praxis des Widerstandes, ihre Berücksichtigung des Kontextes als relevante Bedingung ihres Sprechens, kann im Sinne Michel de Certeaus auch als Taktik beschrieben werden:58 Als „Kalkül, das nicht mit etwas eigenem rechnen kann und somit auch nicht mit einer Grenze, die das Andere als eine sichtbare Totalität abtrennt. Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie dringt teilweise in ihn ein, ohne ihn vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können“ (de Certeau 1988, 23). Die Taktik, so de Certeau, hat keinen ‚eigenen Ort‘ (vgl. ebd., 89), wo sie sich „Unabhängigkeit gegenüber den Umständen bewahren“ könnte (ebd., 23). Sie muss stattdessen „mit den Ereignissen spielen, um ‚günstige Gelegenheiten‘ daraus zu machen“ (ebd.), sie ist ein „Handeln aus Berechnung“ (ebd., 89). Aminas Taktik beruht im Wesentlichen darauf, die Bedeutungen, die verschiedenen Kontexten des Sprechens zugewiesen werden, für sich und ihre Interventionsabsichten zu nutzen. Sie ergreift die Möglichkeit des Referats als „‚günstige Gelegenheit‘“ und nutzt sie, um „ihren Vorteil ‚im Fluge zu erfassen‘“ (ebd., 23). So gelingt es ihr mit der Rolle der Referentin innerhalb der akzeptierten Schulstruk turen und der dominanten Klassenkultur, in der sie sonst vergleichsweise marginalisiert ist, eine relativ machtvolle Position zu besetzen. Sie gebraucht den Referatsrahmen, um seine Funktion für ihre Ziele zu nutzen. Sie wendet eine „Praktik der Umfunktionierung“ (ebd., 75) an, indem sie seine Funktion, ‚objektives‘, ‚gültiges‘ Wissen zu vermitteln, für die Vermittlung ihrer Perspektive, des in ihren Augen, in Relation zu den dominanten Wissensbeständen, ‚richtigen‘, alternativen und oppositionellen Wissens, nutzt. Mit Foucault, auf den auch de Certeau in seinen Überlegungen Bezug nimmt, lässt sich dieses Handeln Aminas als Widerstand beschreiben: Ihm zufolge „liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht“ (Foucault 2008/1983, 1100). Vielmehr existieren vielfältige „Widerstandspunkte“ (ebd.) als Teil der Machtbeziehungen, die „die andere Seite, das nicht wegzudenkende Gegenüber“ von Macht darstellen (ebd., 1101). Und von hier aus, so formuliert Sarasin, funktioniert Widerstand nach Foucault „als Versuch einer taktischen Umkehrung der lokalen Machtverhältnisse“ (Sarasin 2010, 153). Mit dem Kontext des Spre58 De Certeau hat Handlungsweisen als Taktiken – ‚Handlungsweisen der Schwachen‘ (vgl. de Certeau 1988, 23) – und Strategien – Handlungsweisen, die in Kräfteverhältnissen möglich werden, in denen ein Subjekt, das mit Macht und Willenskraft ausgestattet ist, von einer ‚Umgebung‘ abgelöst werden kann (vgl. ebd.) – im Kontext seiner Untersuchungen von Verbrauchern in der ‚Konsumgesellschaft‘ konzeptionalisiert (vgl. ebd.). Vgl. auch die Forschungsarbeit ‚Der Habitus der Überlebenskunst‘ von Louis Henri Seukwa (2006), der u.a. mit de Certeaus Konzept die Handlungskompetenzen und -taktiken geflüchteter Jugendlicher in Deutschland untersucht.

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chens verschieben sich in Aminas Schulklasse nicht nur Subjektpositionen, Rollenund Bedeutungszuschreibungen, sondern auch die lokalen Machtbeziehungen, womit sich auch die Bedingungen des Sprechens ändern und Aminas Möglichkeitsraum des (widerständigen) Handelns weiter wird. Jedoch ist allein dies noch kein ‚Freifahrtschein‘ für ein risikofreies Sprechen innerhalb dieser Bedingungen. Nicht zu vernachlässigen und mindestens ebenso wichtig wie der gewählte Rahmen des Sprechens, ist das taktisch kluge Sprechen innerhalb dieses Rahmens. Dekonstruierendes Sprechen als Balanceakt Wenngleich der Referatsrahmen Amina eine gute oder zumindest bessere Ausgangsposition für das Verfolgen ihres Anliegens bietet, so geht sie auch hier davon aus, dass ihre Zugehörigkeiten bei der Rezeption des von ihr Gesprochenen relevant sind und rechnet mit möglichen Widerständen. So beschreibt Amina ihre Sorge, dass Inhalte ihres Referats zu Zuwanderung von ihrem Lehrer abgewehrt werden könnten, weil ihre Rede als ‚Fürsprache‘ für ‚ihre Gruppe‘ und damit als subjektiv begründet statt objektiv informierend bewertet wird, wenn sie sagt: „[Z]u meinem Referat hatte ich auch […] am Anfang irgendwie so ein bisschen Angst, dass mein Lehrer irgendwas sagt, dass ich zu sehr parteiisch bin oder zu sehr so sage: ‚Ja, die sind gar nicht- Die Ausländer sind ja gar nicht so.‘“ (Amina IA, 262)

Sie antizipiert in ihren Überlegungen also mögliche Zuschreibungen und Abwehrreaktionen, wie sie durchaus ihren Erfahrungen entsprechen und bezieht diese in die Planung ihrer Referate mit ein, wie an verschiedenen Stellen im Material deutlich wird.59 In diesem Fall befürchtet sie, dass ihre Aussagen zum Themenkomplex ‚Ausländer‘/Integration/Zuwanderung aufgrund ihrer Kategorisierung als ‚Ausländerin‘ grundsätzlich dem Verdacht der Interessengeleitetheit und Subjektivität unterliegen und damit womöglich als nicht den Anforderungen eines Referats entsprechend bewertet werden könnten – womit der gewählte Rahmen des Sprechens für Amina seine Funktion verlöre.60 Sie versucht dieses Risiko der Abwehr aufgrund ei59 Bei ihrem Referat zum Thema Islam berücksichtigt Amina etwa die zuvor auf der Real schule gemachte Erfahrung und greift ‚Terrorismus‘ als Aspekt ihres Themas auf, um diesbezügliche, von ihr antizipierte Bedeutungszusammenhänge zwischen ‚Islam‘ und ‚Terrorismus‘ von Seiten der Zuhörenden argumentativ zu entkräften, noch bevor sie ge äußert werden. Sie ergreift die Initiative, obwohl das Aufgreifen des Themas riskant ist, denn Amina kann nicht davon ausgehen, dass ihre Argumente Gehör finden. Tatsächlich macht sie hier die Erfahrung, dass ihre Taktik nicht aufgeht (vgl. oben). 60 Eine so begründete Unterstellung würde im Umkehrschluss bedeuten – und dies entspricht Aminas Erfahrungen –, dass Angehörige der Mehrheitsgesellschaft über vermeint-

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ner unterstellten ‚Fürsprache‘ zu vermeiden, indem sie bereits zu Beginn ihres Referats deutlich macht, dass sie davon ausgeht, dass Menschen einer Gruppe, bei der „man sagt: ‚Ja, die gehören zusammen‘“, niemals „alle gleich sind“ (Amina IA, 262); und dass das auch für die Gruppe der sogenannten ‚Ausländer‘ gilt. 61 Damit nutzt sie ein Argument, das in doppelter Weise in ihrem Sinne ist: Zum einen macht sie so deutlich, dass es ihr Anliegen ist, gegen homogenisierende Negativ-Zuschreibungen zu sprechen, zum anderen macht sie mit demselben Argument klar, dass es vor diesem Hintergrund nicht ihr Anliegen sein kann, eine ganze Gruppe im positiven Sinne zu verallgemeinern, es ihr also keineswegs um eine ‚Fürsprache‘ geht. Vor diesem Hintergrund der zwar reduzierten, aber noch stets drohenden Gefahr der Abwertung und einer diesbezüglich notwendigen Sensibilität geht es Amina in ihren Referaten, wie oben herausgearbeitet, darum, sowohl Informationen zu liefern, die sie recherchiert, als auch eigene Perspektiven mitzuteilen, die auf das Er fahren von Welt in spezifischer, nämlich – im Kontext von Diskursen zu ‚Islam‘ und ‚Zuwanderung‘ – in marginalisierter Perspektive zurückzuführen sind, um so gegen dominante Wissensbestände anzugehen. Dazu knüpft Amina sowohl in ihren vorbereitenden Recherchearbeiten als auch in ihrer didaktischen Vorgehensweise zunächst an dominante Diskurse an, was ihr unerlässlich scheint, um von hier aus einen Gegendiskurs zu etablieren. So erklärt Amina mir: „Klar, einerseits habe ich mich auch selber dazu informiert, wie die 62 halt denken, aber andererseits“, fährt sie, ihr Vorgehen während des Referats zu ‚Zuwanderung‘ beschreibend, fort, „habe ich auch halt so gesagt, so wie ich denke, und wie es eigentlich so manchmal ist. Und nicht so, wie die es denken. Und mit diesen Vorurteilen“ (Amina IA, 262). Was Amina hier beschreibt, ist nicht nur als Vorgehensweise und Anliegen, sondern auch als methodisch-taktische Überlegung sowie als didaktische Herausforderung zu verstehen, der ein Balanceakt inhärent ist: Die Wissensbestände, die in ihrer Klasse und in der Gesellschaft vorherrschen, berücksichtigend, versucht sie ihr Referat so aufzubauen, dass sie, an diese anknüpfend, eine erweiterte oder gegenteilige Per-

lich ‚objektives‘ und ‚neutrales‘ Wissen verfügen würden und dass – z.B. in Diskussionen – nicht mit interessengeleiteten Argumentationen und Aussagen zu rechnen wäre. So wird über die Konstruktion der ‚Anderen‘ als subjektiv und irrational eine Selbstbeschreibung hergestellt, die die Eigengruppe als neutral, objektiv, rational und wissend präsentiert. 61 Trotz einer verallgemeinernden Redeweise, mit der Amina sich häufig vom Rest der Klasse oder auch von ‚den Deutschen‘ abgrenzt, ist eine ihrer Grundüberzeugungen, dass es keine homogenen Gruppen gibt: „Es gibt ja in jeder- in jedem Land gibt es verschiedene Leute und überhaupt in jeder Gruppe ist jeder anders eigentlich.“ (Amina IA 262) 62 Als ich Amina frage, wer mit ‚die‘ gemeint sei, gibt sie an, dass sie sich zum einen auf „[m]eine Klasse“ bezieht, zum anderen aber auch darauf, „wie andere Leute halt über haupt, allgemein über Ausländer reden, denken“ (Amina IA, 264, 268).

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spektive so aufzubauen vermag, dass Neu- und Re-Artikulationen auf offene Ohren und nicht auf Abwehr stoßen. Das didaktische Geschick, das Amina an den Tag legt, wenn sie ihre Taktik in die Tat umsetzt, wird auch deutlich, wenn sie erklärt, wie sie im Zuge dieses Referats den (auch) von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern unhinterfragt genutzten Begriff ‚Ausländer‘ und seine Effekte so zu kritisieren versucht, dass ihre Zuhörerschaft sich auf ihre Erläuterungen einlässt und nicht mit Abwehr reagiert. Sie beschreibt ihr diesbezügliches Vorgehen, nachdem ich sie frage, ob sie während ihres Referates „zu Zuwanderern […] dann auch von Ausländern gesprochen [hat]“ (Interviewerin IA, 171): „Am Anfang. Ich habe am Anfang davon gesprochen. […] [W]eil alle diesen einen Begriff kennen, […] hab ja teilweise auch mit Absicht so gemacht, um zu sagen, damit die auch das sagen, damit die wirklich darauf erst mal so, unbeabsichtigt das sagen, und dann später darauf einzugehen, was für die Ausländer bedeutet. Hab ja so ein bisschen so gemacht, damit die ins Diskutieren kommen. Weil es war ja in Politik. Und, dann hab ich halt über Ausländer was, dass die halt natürlich durch diesen Begriff allgemein schon ausgegrenzt werden. Und ich hatte ja Thema ob die, Migranten sich gut integrieren oder nicht. […] Wir haben erst mal Be griffe gesammelt, und dann kam auch der Begriff Ausländer. Habe ich halt erst mal damit weiter gemacht, und irgendwann habe ich halt auch gesagt, eigentlich heißt es ja auch nicht Ausländer, so, finde ich, weil, es wird ja natürlich dadurch automatisch ausgegrenzt. Und da, wenn man ausgegrenzt wird, kann man sich halt nicht gut integrieren.“ (Amina IA, 172)

Amina schildert, sie habe mit ihrer Klasse „erst mal Begriffe gesammelt, und dann kam auch der Begriff Ausländer.“ Sie greift den Begriff auf und benutzt ihn „am Anfang“ selbst, und zwar „mit Absicht“, wie sie betont; also überlegt und im Hinblick auf ihren didaktischen Referatsaufbau und die damit verfolgten Ziele. Sie tut dies zum einen, wie sie sagt, „weil alle diesen einen Begriff kennen“, zum anderen aber auch, damit ihre Mitschülerinnen und Mitschüler während der Diskussion zunächst selbstverständlich auf den Begriff zurückgreifen, „damit die das auch sagen, damit die […] unbeabsichtigt das erst mal sagen“. Während Amina den Begriff also aus methodischen Überlegungen heraus und reflektiert „mit Absicht“ benutzt, benutzen ihre Mitschülerinnen und Mitschüler ihn „unbeabsichtigt“ und damit im Modus der Alltäglichkeit und unreflektiert. Der Umstand, dass der Begriff auf diese Weise dann als unhinterfragter Alltagsbegriff im Raum bestätigt ist, bietet Amina in einem nächsten Schritt die Möglichkeit, „dann später darauf einzugehen, was für die Ausländer bedeutet“, ohne dass der selbstverständliche Gebrauch des Begriffes abgestritten werden kann. Nachdem die Klasse über den Ausländerbegriff „ins Diskutieren [ge]kommen“ ist – „weil es war ja in Politik“ (ein Hinweis auf die Fachund Unterrichtskultur und die gestellten Anforderungen auch im Hinblick auf die

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Note) –, hat Amina sich „irgendwann“ eingeschaltet und versucht, ihren Punkt in Bezug auf den Begriff ‚Ausländer‘ deutlich zu machen: Nämlich, „dass die halt natürlich durch diesen Begriff allgemein schon ausgegrenzt werden.“ Amina weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sie „ja [das] Thema [hatte] ob die, Migran ten sich gut integrieren oder nicht“ und wiederholt vor diesem Hintergrund noch einmal pointiert, was sie in ihrem Referat vermitteln wollte: „[E]igentlich“, so erklärt Amina gegenüber ihrer Klasse, „heißt es ja auch nicht Ausländer, so, finde ich, weil, es wird ja natürlich dadurch automatisch ausgegrenzt. Und da, wenn man ausgegrenzt wird, kann man sich halt nicht gut integrieren.“ In Aminas Erzählung offenbart sich sowohl ihr Bestreben, Verständnis hinsichtlich der Effekte für die als ‚Ausländer‘ Bezeichneten zu erzeugen, als auch, eine gänzlich andere Perspektive auf die ihr vorgegebene Fragestellung des Referats, „ob sich Migranten integrieren oder nicht“, zu werfen – womit sie implizit auch die Sinnhaftigkeit dieser Fragestellung hinterfragt. An unterschiedlichen Punkten, so wird in dieser kleinen Szene deutlich, weist Amina auf Bedeutungskonstruktionen hin, hinterfragt und kritisiert diese: den unreflektierten Gebrauch von Begriffen, die normalisiert einseitige Perspektive, mit der aus der Dominanzposition auf die ‚Integrations(un)willigkeit‘ der ‚anderen‘ geschaut wird, die fehlende Inblicknahme der eigenen Verantwortlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft im Hinblick auf Integration und Integrationsdiskurse. Amina kritisiert mit ihrem Referat jedoch nicht nur einseitig geführte Debatten und unhinterfragte dominante Normalitäten. Sie bietet auch eine alternative Deutung, neue Artikulationen und Bedeutungszusammenhänge, eine andere Perspektive auf das Thema Integration an: „[W]enn man ausgegrenzt wird, kann man sich halt nicht gut integrieren.“ Ihre Bemühungen, einen Perspektivwechsel vorzunehmen und auf diese Weise als selbstverständlich geltende Perspektiven und Bedeutungen, die von einer alleinigen Verantwortung von Migrantinnen und Migranten ausgehen („ob Migranten sich integrieren oder nicht“), zu kritisieren, gehen indirekt auch mit einem Angriff auf die ihr Zuhörenden einher, die solche Wissensbestände und Perspektiven offen und unreflektiert vertreten – wie z.B. in der Fragestellung zu Aminas Referat deutlich wird. In diesen Verhältnissen eine Dekonstruktion vermeintlicher ‚Wahrheiten‘ vorzunehmen, die mit einem Perspektivwechsel und einer veränderten Einstellung beim Publikum einhergeht, wie es Aminas Ziel ist, kommt einem Balanceakt gleich, den es gilt mit viel Fingerspitzengefühl über die Bühne zu bringen. Daher, obwohl es Aminas erklärtes Ziel ist, im Rahmen des Referats zu „erzählen, wie es eigentlich wirklich ist, und wie manche sich halt fühlen“, und sie, zu mindest indirekt, ihre Klasse für das gelebte Paradoxon kritisieren will, „[d]ass die halt allgemein selber schon Ausländer ausgrenzen und dann sagen die, dass die sich nicht gut integrieren“ (Amina IA, 262), achtet sie darauf, dass sie die Balance zwischen ‚objektiven Informationen‘ und ‚subjektiven Perspektiven‘ nicht verliert und

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im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen austariert. Dazu gehört es auch, dass sie zum einen ihre Inhalte didaktisch wohl überlegt äußert, zum anderen alternative Deutungen und eigene Meinungen, Haltungen und Perspektiven wohl dosiert platziert. Diesen risikoreichen und angstbesetzten Balanceakt, den es zu bewältigen gilt, beschreibt Amina folgendermaßen: „Und .. da habe ich halt versucht teilweise, so meine Meinung zu sagen, aber halt auch nicht zu sehr .. eine eigene Meinung zu haben und das halt anderen auch zu verklickern, damit die halt-, mein Lehrer nicht denkt: ‚Ja, okay, die hat das jetzt nur so gemacht, um andere zu be einflussen‘ oder so, irgendwie so was. Hatte ich dann auch ein bisschen Angst.“ (Amina IA, 262)

Zwar bietet das Halten eines Referats – im Vergleich zu anderen möglichen Schulsettings – einen günstigen Rahmen für widerständiges Handel, das Verschieben von dominanten Bedeutungen und das Irritieren von vermeintlichen Eindeutigkeiten, wie sie in ihrer Schulklasse und in Teilen der Gesellschaft auszumachen sind. Angesichts der Tatsache, dass Amina nicht nur Kritik anstrebt, sondern auch ihre soziale Position in der Klasse nicht gefährden und gute Noten erreichen möchte, ist es allerdings höchst problematisch, dass Amina von den positiven Reaktionen jener abhängig ist, die sie (indirekt) kritisiert. Auch dieser Rahmen des widerständigen Sprechens, in dem Risiken abwehrender Reaktionen weiterhin bestehen, kann mithin keine Sicherheit, keinen Erfolg garantieren. Obwohl Aminas Expertinnenrolle im Referatsrahmen ihre Handlungsmöglichkeiten stark erweitert, bleiben diese doch von der Mehrheitsmacht bzw. ungleichen Kräfteverhältnissen limitiert, bleibt die Taktik des Referatehaltens eine Herausforderung, ein Kraft- und ein Balanceakt. Im Rückblick ist für Amina insbesondere ihr Referat zu ‚Zuwanderung‘ eine relative ‚Erfolgsstory‘. Denn es ist ihr nicht nur gelungen, eigene Perspektiven deutlich zu machen, ohne größere Verletzungen davon zu tragen. Darüber hinaus war Amina „echt froh, dass ich dieses Thema hatte“, weil sie die berechtigte Hoffnung hat, dass sie mit ihrem Referat etwas in den Köpfen der Zuhörenden bewegen konnte. Zwar sagt sie, dass sie „nicht [weiß], ob das wirklich was gebracht hat […], ob die jetzt wirklich darüber nachgedacht haben“, aber es gibt Indizien, die auf einen Erfolg hinweisen: Denn an den Diskussionen, die sie initiiert hat, „haben [die] sich halt beteiligt, haben Meinungen gesagt und so“, und das in spezifischer, ‚erfolgreicher‘ Form, wie Amina betont. Denn ihre Mitschülerinnen und Mitschüler haben in der Diskussion „auch meistens nicht nur jetzt was gegen mich“ gesagt, sondern „auch was dafür“ (Amina IA, 490), haben ihr „auch teilweise zugestimmt“ (Amina IA, 172), und das, so Amina, „hat mich dann auch ein bisschen gefreut. […] [S]o was dann […] mitzukriegen, das ist auch wieder gut dann“ (Amina IA, 490). Und obwohl sie ihr Referat zum Thema ‚Islam‘ im Nachhinein selbstkritisch betrachtet

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und meint, dass sie dieses besser hätte aufbauen und planen müssen, um ihre Perspektive auf den Aspekt ‚Islam und Terrorismus‘ wirkmächtig einbringen zu können (vgl. oben), wertet sie auch dieses Referat im Rückblick positiv, ist stolz darauf, dass sie die sich ihr bietenden Möglichkeitsräume nutzt, um auf die herrschenden Wissensbestände Einfluss zu nehmen: „[B]ei dem Islamthema da, war ich auch froh, dass ich das dann gemacht habe, dass ich dann ein bisschen was von meiner Religion dann genauer darstellen kann, und so. Ja .. so was, darauf bin ich dann stolz“ (Amina IA, 490). Amina hat mit dem Halten von Referaten offensichtlich einen Weg gefunden, ihren Handlungsspielraum innerhalb der machtungleichen und risikoreichen Verhältnisse taktisch klug maximal auszuschöpfen. Jedoch bedeutet das, wie zu sehen war, nicht, dass es ihr so gelingt, alle Ambivalenzen und Bedrohlichkeiten zu umgehen. Eher bietet ihre Referats-Taktik ihr die Möglichkeit, diese unter den gegebenen Umständen zu minimieren. So erscheint zum Beispiel auch das Einnehmen einer so konnotierten Expertinnenrolle nach wie vor ambivalent: Sie bietet ihr zwar die in ihren Augen sicherste Möglichkeit, „zu zeigen wie es eigentlich wirklich ist“, indem sie einen Raum nutzt, in dem eine sensible Mischung aus Expertinnenwissen und eigener Meinung durch die Unterrichtskultur legitimiert wird und die Wahrscheinlichkeit, mit ihren Inhalten und Perspektiven Gehör zu finden, am größten ist, ohne dass Amina als ‚besondere Andere‘ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Aber dennoch übernimmt sie bei dieser Gelegenheit auch „freiwillig“ die Expertinnenrolle, die Lehrende wie Schülerinnen und Schüler ihr so häufig zuweisen, ohne dass sie diese möchte: Die Rolle einer Expertin für ‚Migrationsfragen‘. Ein Teufelskreis und ein Dilemma. 2.5 Rassismusverdacht als Rassismuserfahrung Wie in der obigen Analyse von Aminas Sprech(un)möglichkeiten in ihrer Schulklasse deutlich geworden ist, tragen alltägliche, reduktionistische, auf migrationsgesellschaftliche Bedeutungskonstruktionen Bezug nehmende Praktiken der Unterscheidung dazu bei, dass Amina „sich […] irgendwie doch anders fühl[t] und nicht mit den anderen .. vergleichen“ (Amina IA, 374) kann, dass sie sich „auch manchmal total fremd“ fühlt (Amina IA, 372). Häufig werden solche Erfahrungen als nicht-intendierter Nebeneffekt, z.B. von Unwissenheit, interpretiert und vor dem Hintergrund des Wissens um verallgemeinernde soziale Bedeutungskonstruktionen gegenüber sozialen Gruppen, denen sie zugeordnet werden, zwar als Angriff auf diese und damit indirekt auch auf sie selbst, jedoch nicht unbedingt als gewollter,

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direkter Angriff auf die eigene Person gedeutet und so relativiert. 63 Amina etwa sagt, auf ihre Schulklasse Bezug nehmend: „Gegen mich haben die glaube ich nicht wirklich direkt was […]. So gegen mich persönlich“ (Amina IA, 228). Allerdings bleibt auch dies lediglich eine Vermutung – bzw., so klingt ebenfalls an, eine Hoff nung. Trotz Konsequenzen wie Gefühlen von Unsicherheit, Nicht-Zugehörigkeit, ‚Anders-Sein‘ und Diskriminierung, die subtile wie manifeste ab- und ausgrenzende Praktiken hervorbringen, sprechen Jugendliche in ambivalenter Weise über ihr (Nicht-)Dazugehören. Immer wieder berichten sie, dass sie zu jenen, die mit ihrem Handeln für solche Effekte verantwortlich sind, durchaus auch dazugehören. So werden Erzählungen über Ausgrenzungssituationen mit Aussagen relativiert, die mich darüber informieren, dass man „mit denen […] eigentlich gut befreundet [ist], aber“ (Amina IA, 11), dass „die […] ja so immer nett zu uns [sind] eigentlich, aber“ (Milot IM, 11; fast wortgleich Samir IS, 248) oder man „aber mittlerweile [dazu]gehöre“ (Samir IS, 91). Ein Großteil der von den Jugendlichen erlebten Othering- und Diskriminierungspraktiken resultiert in ihren Augen nicht aus einer grundsätzlichen Ablehnung; in der Regel, weil sie mit den gleichen Gruppen und Personen auch Zugehörigkeitserfahrungen machen bzw. keine prinzipielle Ausgrenzung erfahren. Darüber hinaus erleben sie in ihrem Alltag Situationen, in denen die Gründe für Ausgrenzung und Ungleichbehandlung nicht expliziert werden und kein eindeutiger Bezug zu ihrer Konstruktion als ‚Nicht-Deutsche‘ auszumachen ist, der es in den Augen der Jugendlichen rechtfertigen würde, hier tatsächlich von Diskriminierung oder gar Rassismus zu sprechen. Das Kommunizieren und Deuten solcher Rassismuserfahrungen trotz Zugehörigkeitsmomenten oder ‚ohne Beweise‘ stellt sich als überaus schwierig heraus. Die Möglichkeit, dass es sich um Situationen rassistischer Diskriminierung handeln könnte, versuchen Jugendliche häufig zu negieren, die verunsichernden, verletzenden und ausgrenzenden Effekte zu relativieren, etwa indem sie 63 Dieser Logik folgend sehen z.B. Milot und Samir im ‚Kennenlernen‘ eine potenzielle Möglichkeit, sich aus der rassistischen Homogenisierung zu ‚befreien‘. So äußert u.a. Mi lot, dass er und Freunde in Diskotheken Einlass gewährt bekämen, weil die Türsteher sie kennen würden (vgl. Milot IM, 195). Samir formuliert die Hoffnung, dass jene, die ihn als ‚Ausländer‘ kategorisieren und ihm mit stereotypen Bildern begegnen, ihr Bild nach einem Kennenlernen ändern und ihn – als anderen unter den ‚Anderen‘ – aus der Verallgemeinerung entlassen könnten: „[S]päter, wenn die mich kennen lernen, dann wissen die, dass ich hier geboren bin, dass ich auch vielleicht anders denke als andere. Ja“ (Sa mir IS, 115). Obgleich beide sowohl die Erfahrung machen, keinen Einlass gewährt zu bekommen, auch wenn sie die Türsteher kennen, als auch Ausgrenzung zu erfahren, obwohl sie jene, die ihnen mit stereotypen Bildern begegnen, gut kennen (vgl. unten), ist die Handlungsoption ‚Kennenlernen‘ für beide relevant, da sie von ihnen in anderen Situationen auch als wirksam erfahren wurde.

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nach möglichen anderen Begründungen für das Handeln der anderen suchen, darauf verweisen, dass negative Effekte von den Handelnden nicht intendiert waren, es sich lediglich um ‚Spaß‘ handle oder um eine ‚normale‘ Handlung unter Jugendlichen oder Kindern ginge. Der Verdacht, dass es sich in Situationen erfahrener Ausgrenzung und Benachteiligung um Rassismus bzw. Diskriminierung handeln könnte, wird kaum ausgesprochen, sondern steht in der Regel implizit zwischen den Zeilen des Gesagten. ‚Kann auch sein halt, weil wir .. ja, Ausländer sind. Kann sein.‘ Die Erfahrung, dazuzugehören und gleichzeitig doch nicht dazuzugehören stellt für die Jugendlichen eine Herausforderung bei der Bestimmung ihrer Position in sozialen Zusammenhängen wie etwa der Schulklasse dar. Zweifel an der Verlässlichkeit vermeintlicher Freundschaften oder eben des Dazugehörens drücken sich unter anderem in Unsicherheit und Skepsis aus. Amina sagt über ihre Position im sozialen Gefüge der Klassengemeinschaft: „So manchmal auch so, in- In meiner jetzigen Klasse fühle ich mich auch meistens so, wo ich denke, ja, manchmal bin ich gar nicht so willkommen. Weil, ich weiß nicht, die sind- Auch, wenn die in der Pause total lieb zu mir sind und so, aber manchmal […] ich weiß nicht, manchmal kommt es so rüber als würden die mich so ein bisschen ausschließen.“ (Amina IA, 5)

Wie bereits betont, nimmt Amina von außen betrachtet keine Außenseiterinnenposition in ihrer Klasse ein. Sie ist Teil der Klassengemeinschaft und es gibt „drei Leute“, so sagt sie, mit denen sie „eigentlich gut befreundet“ ist (Amina IA, 11). Den noch kommt es – auch mit den dreien – immer wieder zu Situationen, die dazu führen, dass sie sich „nicht wirklich“ zugehörig fühlt. Dieses Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und des Ausgeschlossen-Seins ist diffus und nur schwer zu beschreiben. Noch schwerer fällt es ihr, dieses Gefühl mir gegenüber zu begründen, denn ihre Erfahrungen sind widersprüchlich: Sie fühlt sich „fremd“ und „nicht so willkommen“, obwohl Mitschüler und -schülerinnen eigentlich „total lieb“ zu ihr sind. Ihrem subjektiven Gefühl stehen auf einer faktischen Ebene Argumente gegenüber, die das subjektiv Gefühlte ‚objektiv‘ betrachtet zu widerlegen scheinen. Zu diesen gehört auch, dass Amina als Person eigentlich keinen Anlass dafür gibt, etwas ‚gegen sie zu haben‘. Amina sagt von sich: „[I]ch bin ja halt so ein Mensch- Ich weiß nicht, ich verstehe mich mit allen gut und so. Ich bin eigentlich auch so ne Liebe und so. Und, ich weiß nicht, wenn die auch in der Schule auch Hilfe braucht, helfe ich ihr auch und so. Ich bin ja nicht so, dass ich sage: ‚Nee, mach ich jetzt- kriegst du nicht‘, oder überhaupt, wenn Hausaufgaben abschreiben oder so. Und, ja, ich

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weiß nicht, gegen mich können die ja gar nicht was sagen, so. So gegen mich persönlich.“ (Amina IA, 228)

Amina hat einen deutschen Pass, sie ist in Deutschland aufgewachsen und nennt es ihre „Heimat“, sie sagt: „[T]eilweise passe ich mich auch an“ (Amina IA, 288) und ist „eigentlich auch so ne Liebe“, die sich „mit allen gut [versteht]“, außerdem ist sie hilfsbereit. Folglich, so ihre logische Schlussfolgerung, „können die ja gar nicht was sagen“, können die anderen eigentlich nichts ‚gegen sie persönlich‘ haben. ‚Theoretisch‘ gehört Amina also dazu. Alle von ihr aufgeführten Argumente sprechen dafür. Dennoch ist ihr (Zugehörigkeits-)Gefühl ein anderes: Es zeichnet sich durch die Unsicherheit, nicht zu wissen, ob sie ‚jetzt wirklich dazugehört‘, durch ‚Unwohlsein‘ und ‚Fremdsein‘ aus. In Aminas Ausführungen verschränken sich verschiedene Begründungen für dieses Gefühl des Nicht-Dazugehörens. Einerseits spricht sie von einer eher unsicheren Beziehung mit den dreien, mit denen sie angibt, ‚eigentlich‘ befreundet zu sein, oder anderen in der Klasse, andererseits erzählt sie von Praktiken, die ihr implizit deutlich machen, dass sie nicht zur imaginierten ‚deutschen Gemeinschaft‘ und damit auch nicht zum ‚Wir‘ ihrer Schulklasse dazugehört, in der sie die Einzige ist, die solche Erfahrungen machen muss und weder Empathie noch Verständnis oder gar Solidarität erfährt.64 Eine weitere Rolle spielen die Beständigkeit der Zuschreibungserfahrungen – „wenn ich so die ganze Zeit höre, wie die anderen von mir denken“ – und der Benennungspraxis – „immer Ausländer, Ausländer“ – sowie die Selbstverständlichkeit, mit der „die ganze Zeit gesagt wird: ‚Du kommst ja ursprünglich aus Z-Land‘ und so was, immer darauf, auf dieses eine Thema […], da fühlt man sich automatisch dann auch fremd, wieder so ein Punkt, wo man anders ist“ (Amina IA, 374). Amina wird immer wieder auf eine Position als ‚Andere‘ ver wiesen. Sie meint infolge dessen, dass ihr das Gefühl, nicht dazuzugehören, „teilweise […] auch eingeredet [wird]“ (Amina IA, 374) – womit sie im Prinzip ihre eigenen Gefühle bzw. deren Grundlage als ‚real‘ anzweifelt. Diesem Zweifel, so lässt sich interpretieren, ist auch ein Moment des Versuchs inhärent, mit dem Zugehörigkeitsregime, dem sie sich ausgesetzt sieht, umzugehen: Indem sie ihre Gefühle relativiert und sich bemüht, dem Faktischen mehr Relevanz, mehr ‚Macht‘ einzuräumen als ihrem Gefühl und damit Zugehörigkeit herzustellen. 64 Amina spricht etwa davon, sich in der Konstellation mit den dreien nicht immer gleichberechtigt, sondern zuweilen wie ein drittes Rad am Wagen zu fühlen – etwa wenn die drei Geheimnisse teilen und Amina nicht einweihen oder über Themen sprechen, bei denen sie sich nicht eingeladen fühlt, mitzusprechen (vgl. Amina IA, 6-27). An anderer Stelle berichtet sie von Verletzungen, die auf Zuschreibungen oder rassistische Sprüche zurückgehen würden, die jedoch nicht so schlimm seien, weil sie von Jugendlichen, mit denen sie „eigentlich gut befreundet“ ist und „nur aus Spaß“ artikuliert wurden (vgl. unten).

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Grundlegend bleibt jedoch die Verunsicherung, auch im Sprechen über das Erfahrene und Gedeutete. Ambivalenzen sind auszumachen zwischen Gefühlen und manifesten Handlungen, zwischen Dazugehören und Nicht-Dazugehören, zwischen sich ausgeschlossen fühlen und ausgeschlossen werden. Amina formuliert vorsichtig, bemüht sich um Relativierungen und die Vermeidung von anklagenden Worten. Sie wird häufig mit stereotypen Bildern konfrontiert, die auf ihre nationale Herkunft Bezug nehmen, was sie wütend macht und dazu führt, dass sie sich ausgegrenzt fühlt. Und dennoch berichtet sie von diesen Erfahrungen häufig nicht, ohne auch zu betonen, dass sie mit jenen, die durch ihr Handeln diese Ausgrenzungsgefühle hervorbringen, auch „befreundet“ ist, diese gleichzeitig „auch total lieb“ zu ihr sind. Es stellt für sie eine wiederkehrende und widersprüchliche Erfahrung dar, dass „man […] so kleine Diskussionen [hat], die eigentlich gegen einen sind, aber trotzdem versteht man sich mit den Leuten gut“ (Amina IA, 426). Solche Ambivalenzen zwischen Dazugehören und Nicht-Dazugehören, prekäre Zugehörigkeiten und unsichere Freundschaften sowie damit einhergehende Versuche der Relativierung sind auch bei anderen Jugendlichen zu erkennen. So erklären Samir und Milot, die gemeinsam eine Schulklasse besuchen, während der Forschungswerkstatt, dass die „Stimmung“ in ihrer Klasse „echt Bombe“ ist, sie sich als Teil der Klassengemeinschaft verstehen. Gleichzeitig jedoch berichten sie von Erlebnissen, bei denen sie als Einzige ihrer Klasse – in der sie „die einzigen Ausländer“ sind (Milot IM, 37) – von sozialen Verabredungen außerhalb der Schule ausgeschlossen wurden. Trotz „eigentlich ganz gut[er]“ Stimmung, „[war es] ab und zu […] halt komisch“, erklärt Samir im Einzelinterview (Samir IS, 248). Anders als in dem vorherigen Beispiel handelt es sich bei den Fällen, von denen Milot und Samir berichten, nicht um subtile Ausgrenzungen, sondern um sehr explizite: So wird Samir, als er den Mitschüler, bei dem ein gemeinsames Treffen stattfinden soll, vorfreudig fragt: „‚Geile Sache. Ey Luca, bin ich auch dabei?‘“ (Samir IS, 256) von diesem abgewiesen: „‚Nein Mann, tut mir leid, keinen Platz mehr‘ […]. Habe ich gesagt: ‚Meinst du das gerade ernst?‘ und so ‚Ja Mann, echt, tut mir leid‘. Ja und dann dachte ich so, okay, alles klar. Vor al lem die ganze Klasse geht dahin, außer wir beide dann. Milot wollte gar nicht erst fragen dann. Milot hat gesagt: ‚Ja, wenn für dich kein Platz ist, ist für mich bestimmt auch kein Platz‘, hat er nicht gefragt.“ (Samir IS, 256)

Sich auf ein anderes Ausschlussereignis beziehend erklärt Milot, dass „es nicht das erste Mal war, dass die Klasse […] uns so ausgeschlossen hat“, was dann im Nach hinein mit „so Ausreden“ gerechtfertigt wurde (Milot IM, 9). „Und dann“, so Milot, „denkt man halt so, ja, ob das halt stimmt oder nicht, das ist dann immer so ne Fra ge“ (Milot IM, 9). Diese Frage stellt sich auch Samir. Auch er weiß nicht so recht,

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wie er dieses ‚komische‘ Verhalten seiner Mitschüler einzuordnen hat. Als Milot seine Klassenkameraden zur Rede stellt und diese mit ihrer Wut und ihrem Unverständnis konfrontiert – „‚Warum? Warum habt ihr das gemacht? Warum? Was ist los?‘“ (Samir IS, 262) –, sagen die „nicht wirklich“ etwas; was Samir nicht weiter wundert. Denn: „Was soll man dazu noch sagen? Dazu fällt dir ja nicht mehr viel ein“ (Samir IS, 264). Im Nachhinein, so berichtet Samir, haben die Mitschüler sich jedoch „voll entschuldigt“ und „die ganze Zeit […] auf uns eingeredet: ‚Ja, es tut uns leid […] und dies und das‘“ (Samir IS, 248). Zwar geht er davon aus, dass die Entschuldigungen, die im Anschluss an die Entlassungsfeier aus der Schule und nach einigen Bieren geäußert wurden, wohl ‚ein bisschen wahr‘ sind; denn Samir „finde[t], wenn man voll ist ein bisschen, dann sagt man auch ein bisschen so die Wahrheit“ (Samir IS, 248).65 Die Unsicherheit bleibt dennoch. Das lässt sich nicht nur an dem ‚bisschen Wahrheit‘ erkennen, die unter Umständen in den Entschuldigungen enthalten war, sondern auch in Samirs rückblickendem Resümee: „Weiß nicht, ist eigentlich voll komisch, aber- Aber eigentlich sind die doch alle eigentlich ganz nett. Ab und zu kommt vielleicht ein komischer Gedanke bei denen, aber, ich ich finde es ist schon eine Klassengemeinschaft“ (Samir IS, 248); obwohl es „[e]igentlich schon seltsam“ ist und die Frage bleibt: „‚Warum ist das so? Warum machen die so was?‘“ (Samir IS, 270). Und wenngleich Samir sagt, dass die Stimmung jetzt wieder gut sei, sagt er auch, dass er in Zukunft nicht wieder fragen würde, um sich Enttäuschung und Bloßstellung zu ersparen, sich „nicht so zum Doofen [zu machen]“, wenn „eine Antwort mit ‚Nein‘ [kommt]“. Denn wenn er „gar nicht erst frag[t]“, dann „[w]ürde es gar nicht dazu kommen, dass so was passiert“ (Samir 65 An anderer Stelle, im Zusammenhang mit einer Situation, in der es zu einer Schlägerei „mit den Glatzköpfen“ kam, mit denen es „immer Ärger [gab]“, weil „wir […] die Ausländer [waren]“, berichtet Samir, dass die Begegnungen mit diesen immer ähnlich abge laufen seien: „[E]rst mal war alles okay und so, alle gut verstanden, immer getrunken und dann später kam irgendwie Ärger bei raus […] dann kam dieses: ‚Scheiß Ausländer‘ oder auch von den Ausländern vielleicht auch: ‚Scheiß Nazis‘“ (Samir IS, 21). Samir versucht auch diese Situation zunächst mit dem konsumierten Bier zu erklären – nur dass es dieses Mal nicht für das Aussprechen von ‚ein bisschen Wahrheit‘, sondern für die Erinnerung an „schlechte Zeiten“ verantwortlich ist: „Das ist voll stumpf halt, wenn man vorher zu sammen trinkt und dann, dass so was dabei rauskommt. Irgendwie passt das eigentlich gar nicht. Aber vielleicht, wenn man voll ist sag ich mal, wenn man viel getrunken hat, denkt man an schlechte Zeiten oder was weiß ich. Vielleicht hatten die ja mal schlechte Zeiten mit Ausländern oder so. Ja“ (Samir IS, 23). In einer zweiten Zusammenhangsvermutung meint er, dass es auch sein könne, dass „jemand aus Spaß gesagt [hat] so: ‚Ha, ihr scheiß Ausländer‘ oder so und dann hat- fand irgendein Ausländer das nicht witzig und so. Dann hat der zurück geantwortet und dann ist es eskaliert halt, ist irgendwie mehr draus geworden, obwohl das irgendwie vielleicht nur Spaß war vorher“ (Samir IS; 25).

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IS, 272). Ein klarer Hinweis darauf, dass Samir davon ausgeht, dass „so ein komischer Gedanke bei denen“ immer wieder kommen kann, sich Ausgrenzungssituationen wie diese jederzeit wiederholen können. Milots Rückblick ist ebenfalls von Fragen und Unsicherheiten geprägt. Auch er weiß nicht, wie er solche Situationen einzuschätzen hat, was mögliche Gründe für die Ausgrenzungen sein könnten. Er stellt diesbezüglich zunächst die Vermutung an, dass diese mit dem Alter zu tun haben könnten: „[V]ielleicht, weil die halt alle ein bisschen älter sind als wir“; nur, um im selben Atemzug zu erklären: „[A]ber ich glaube nicht, dass das wirklich der Fall ist. Kann auch sein“, so fährt er fort, „halt, weil wir .. ja, Ausländer sind oder so was. Kann sein, also ich unterstelle denen gar nichts, so, weil die sind ja so immer nett zu uns eigentlich, aber ja, es kann daran liegen halt“ (Milot IM, 11). Milot begründet seine Vermutung damit, dass „ab und zu […] halt solche Sprüche [kommen] […] alles Mögliche eigentlich so: ‚Nee, du blöder Kanacke‘ und so was“ (Milot IM, 15, 17). Es fällt ihm ganz offensichtlich schwer, diese Vermutung auszusprechen. Und er versucht sie in gewisser Weise zu ‚legitimieren‘ bzw. einem etwaigen Widerspruch meinerseits zu entgehen, indem er mir gegenüber zum Ausdruck bringt, dass er a) sich durchaus auch über alternative Begründungen Gedanken macht und b) es keinesfalls darum ginge, falsche Anschuldigungen zu machen, es tatsächlich nur eine Vermutung sei, die nichts mit den wahren Gründen zu tun haben müsse. Für Anschuldigungen fehlen quasi die Beweise, und das Erfahrene passt auch nicht zu seinem Verständnis von Rassismus bzw. von Diskriminierung, wie es zu Beginn der Forschungswerkstatt offenbar wurde; nicht zu der sonst ‚eigentlich‘ guten Stimmung in der Klasse, nicht zu den vielen Momenten, in denen sie sich zugehörig fühlen und auch nicht zu den „Ausreden“, den ‚Entschuldigungen‘ und nicht zu den „Sprüchen“. Letztere wären nämlich, so Milot, „auch mehr so spaßeshalber“, oder zumindest „kommt [das] so rüber jedenfalls“ (Milot IM, 15), „halt immer so mit Lachen dabei und so was, deswegen“, so Milot, „weiß ich nicht, ob das jetzt, ein Grund sein könnte“ (Milot IM 17). Beziehungsweise, „[o]b die das ernst meinen weiß ich halt nicht“ (Milot IM, 15). Zwar, so Milot, „könnte ich mir schon vorstellen, dass das Spaß ist so, aber ich könnte mir auch richtig gut vorstellen, dass bei einigen, dass die das richtig ernst meinen, so. Aber als Spaß teilweise rüberbringen“ (Milot IM, 19). Die Rassismuserfahrungen, die Milot und auch Samir hier in Form eines vagen Verdachts des Rassismus, den explizit auszusprechen ihnen kaum legitim erscheint, beschreiben, stellen sich als kompliziert und, vor dem Hintergrund der eigenen Definitionen verschiedener Diskriminierungsformen (vgl. Kap. 1), nur schwer zu deuten dar. In ihren Schilderungen werden sowohl ‚Verdachts-Deutungen‘ offenbar, in denen sie eine (‚schlimme‘, ‚eigentliche‘, ‚ernste‘) Diskriminierung vermuten oder zumindest nicht ausschließen, als auch Deutungen, in denen Unsicherheit über die tatsächliche Ernsthaftigkeit von als ‚Spaß‘ gelabelten Handlungspraktiken deutlich

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zum Vorschein kommt. Ob es sich um eine jugendkulturelle ‚Spaßpraxis‘, um nicht ernstgemeinte, sondern neckende, ‚normale‘ Umgangsformen unter Freunden handelt, ist längst nicht immer eindeutig erkennbar. Diese Formen der Erfahrung stellen sich nicht nur angesichts einer rekonstruierbaren Tabuisierung der Thematisierung sowohl des Rassismusverdachts als auch von Rassismuserfahrungen als problematisch dar, sondern sind auch deshalb in besonderer Weise herausfordernd, weil sie in Verhältnissen von ‚eigentlicher‘ Freundschaft und Zugehörigkeit stattfinden, auf dem Boden teilweise prekärer Zugehörigkeiten und offenbar instabiler sozialer Beziehungen. Das Gefühl zur eigenen sozialen Position zwischen erlebter Zugehörigkeit und gleichzeitiger Ausgrenzungserfahrung ist diffus, die Grenze zwischen ‚Spaß‘ und ‚Ernst‘ verschwimmt und kann kaum mehr eindeutig bestimmt werden. Das Problematisieren solcher Praktiken sowie das Thematisieren von Unsicherheiten und Verletzungen scheint auf dieser Grundlage kaum eine Möglichkeit zu sein; ginge dies doch immer auch mit einem Tabubruch und dem Risiko einher, (unsichere) soziale Beziehungen zu gefährden. ‚War ja nur Spaß‘ Die Erfahrung, dass von Freundinnen und Freunden, Mitschülerinnen und Mitschülern und auch von Lehrkräften ‚Späße‘ gemacht werden, die soziale Bedeutungskonstruktionen der Unterscheidung transportieren und/oder an rassistische Wissensbestände anschließen, machen alle Jugendlichen.66 Zweifelhafte ‚Späße‘ von vermeintlich Vertrauten, Unsicherheiten bezüglich ihrer Intentionen und Differenzen zwischen vermuteten Intentionen und erfahrenen Effekten stellen eine komplexe und verunsichernde Alltäglichkeit dar. Spaß oder Nicht-Spaß? Unterscheidungs- und Grenzkriterien Als Artikulationen, die der subjektiven Deutung und Bewertung, ihrer Decodierung durch die von ihnen Adressierten bedürfen, sind als ‚Spaß‘ codierte Praktiken für die Jugendlichen je nach Kontext ‚manchmal witzig‘, häufig aber auch verunsi66 Sprachhandlungen dieser Art können in sprachanalytischer Perspektive auch als Pejorisierungen, als „gesellschaftlich relevante sprachliche Handlungen der Diskriminierung“ (Hornscheidt 2011, 17) bzw. als sprachlicher Ausdruck struktureller Diskriminierung (ebd., 25) bezeichnet werden. Hornscheidt klassifiziert mit Pejorisierung bzw. – in Bezug auf jene Sprachhandlungen, die im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses stehen – mit ‚adressierenden Adressat_innenpejorisierungen‘ (vgl. ebd., 40) in Abgrenzung zu Beschimpfungen solche je zu kontextualisierenden Sprachhhandlungen, mit denen Aspekte struktureller Diskriminierung transportiert werden, welche jedoch, da „von allen Beteiligten in der Regel (internalisiert) normalisiert“ (ebd., 26), weder mit einer diskriminierenden Absicht noch mit einer Rezeption der Adressatinnen oder Adressaten einer solchen Praxis als diskriminierend einhergehen muss.

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chernd oder verletzend, nervig oder grenzüberschreitend. So antwortet Milot etwa auf meine Frage, die sich auf das von ihm oben Geschilderte bezieht: „[W]enn die das so rüberbringen als sei das Spaß, wie kommt das bei euch an?“ (Interviewerin IM, 28): „Also manchmal ist es ja ganz witzig, weil in manchen Sachen haben die ja auch ab und zu so recht, so was- was uns dann angeht, also nicht so die Allgemeinheit, aber was uns [gemeint sind Samir und er, W.S.] so angeht haben die ja manchmal so recht und so. Aber so, manchmal wenn dann so, wenn dann halt einfach (man?) ankommt so, dann nervt das total so. Also dann, irgendwann ist das einfach zu viel dann.“ (Milot IM, 29)

In seiner Beschreibung dessen, was ‚manchmal ganz witzig ist‘, wiederholt Milot im Einzelinterview einen essentiellen Bestandteil der zu Beginn der Forschungswerkstatt etablierten Definition von jugendlicher ‚Spaßpraxis‘: Die Scherze beziehen sich auf konkrete, einzelne Personen, nicht auf „die Allgemeinheit“, nicht auf eine homogenisierte Gruppe. Wenn dies so ist, Scherze über persönliche Merkmale und Handlungsweisen gemacht werden, die einen ‚Wiedererkennungswert‘ und einen, auch in der Perspektive der Adressierten, ‚wahren Kern‘ haben, weil sie zum Beispiel auf etwas Bezug nehmen, was von den Adressierten selbst thematisiert wurde, dann können diese auch ‚manchmal witzig‘ sein. Die den Formen jugendkultureller ‚Spaßpraxis‘ implizit gegenüberstehende Kategorie der (‚schlimmen‘) Diskriminierung (vgl. Kap. 1.2) ist für Milot offenbar schwieriger zu beschreiben und erschließt sich vor allem aus dem angedeuteten Spiegelbild der Aussage, dem Gegenteil dessen, was witzig ist: Nicht witzig sind demnach ‚Späße‘, die „die Allgemeinheit“ betreffen und sich nicht auf konkrete Sachverhalte beziehen, mit denen Milot sich als Person identifizieren kann (wenn die anderen nicht ‚recht haben‘), die offenbar grundlos, ‚einfach‘ so gemacht werden. Wenn dies der Fall ist, so Milot, dann „nervt das total […] dann, irgendwann ist das einfach zu viel“, und „[w]enn das ganz extrem ist, dann werde ich so richtig wütend“ (Milot IM, 29). Solche ‚extremen‘ Sachen, die er „gar nicht leiden [kann]“, sind „zum Beispiel wenn man irgendwas mit Religion sagt oder so“ (Milot IM, 31), oder wenn es heißt: „‚Ihr seid sowieso alle gleich‘“ (Milot IM, 33). Auch Amina sagt: „Klar, ich lache ja manchmal mit […]. Bei manchen Sachen, ist ja klar, kann man ja sagen, ja, ist Spaß und so, aber .. irgendwann hört ja auch Spaß auf, wenn man die ganze Zeit so was hört“ (Amina IA, 232). Eine (vage beschriebene) Grenze ist für sie dann erreicht, wenn diese als ‚Spaß‘ deklarierten Äußerungen irgendwann einfach nicht mehr witzig sind, weil sie ständig wiederholt werden, es sich nicht um einen einmaligen Witz handelt, sondern die Praxis womöglich gar zur Gewohnheit wird. Zudem betont sie, dass ein Merkmal von jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ die wechselseitige Spaßbeziehung ist, bei der ‚alle mal dran sind‘, „dass es nicht immer die eine Person ist […], wenn

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es wirklich Spaß ist“ (Amina IA, 232). In der Umkehrung ist nachvollziehbar, dass an dem vermeintlich intendierten Spaßcharakter einer Praxis gezweifelt wird, wenn sich die immer gleiche, als ‚Spaß‘ benannte Praxis immer nur auf eine Person, auf die eigene Person richtet. Artikulationen rassistischer Bedeutungskonstruktionen, an rassistische Wissensbestände anknüpfende und soziale Gruppen homogenisierende Aussprüche, die in der direkten Kommunikation mit den Jugendlichen als ‚Spaß‘ verpackt werden, gehören ihren Berichten zufolge zu ihrem Alltag. Sie sind offenbar Teil des normalisierten Inventars der Kommunikation unter Jugendlichen und erinnern in diesem Zusammenhang stark an die Diskussionen über Praktiken, mit denen Jugendliche sich untereinander ärgern und aufziehen, wie sie in der ersten gemeinsamen Gruppendiskussion geführt wurden (vgl. Kap. 1.2). Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass jene Kriterien, die in diesem Rahmen übereinstimmend als Grenze zwischen legitimem ‚Spaß‘ und illegitimer Diskriminierung festgelegt wurden und in den hier aufgeführten Schilderungen einmal mehr bestätigt werden, von Mitschülerinnen und Mitschülern nicht eingehalten werden. Zudem bleibt eine weitere zentrale Prämisse, die Formen jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ in der Perspektive von Milot, Samir und Amina von Diskriminierung unterscheidet, offensichtlich unerfüllt: Nämlich eine stabile soziale Beziehung als Fundament solcher Praktiken. Tatsächliche ‚Spaßpraktiken‘ zeichnen sich den Jugendlichen zufolge durch eine wechselseitige Praxis und Beziehung auf gleicher Augenhöhe, unter Freunden, aus (vgl. Kap. 1.2). Hingegen finden die als ‚Spaß‘ gelabelten Praktiken oftmals in sozialen Zusammenhängen statt, in denen die Jugendlichen, trotz vermeintlicher Zugehörigkeit und ‚Wohlgesonnenheit‘, immer wieder auch Erfahrungen unsicherer oder verweigerter Zugehörigkeit machen und normalisiertem Othering ausgesetzt sind. Als ‚Spaß‘ gelabelte Praktiken haben insbesondere vor diesem Erfahrungshintergrund das Potenzial, Erfahrungen von Nicht-Zugehörigkeit und von rassistischer Ausgrenzung direkt zu verstärken und/oder zu produzieren; und zwar ganz unabhängig davon, ob dies intendiert oder nicht intendiert ist. So erklärt Samir in Bezug auf ihm bekannte Jugendliche, mit denen er in der Vergangenheit oft Zeit verbracht hat und es regelmäßig Ärger wegen rassistischer Sprüche gab: „[M]eistens bringen die das nur aus Spaß rüber, aber das ist gar nicht aus Spaß. So, viele sa gen das immer: ‚Scheiß Ausländer‘ und lachen dabei und so und finden das voll witzig und bringen das so locker rüber, weil wir die kennen, aber im Endeffekt so denke ich bestimmt denken die wirklich so.“ (Samir IS, 27)

Diese Begegnungen sind für Samir das Gegenteil von ‚spaßig‘. Er begründet dies, indem er auf den Otheringeffekt hinweist, die Konsequenz der rassistischen Erfah-

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rung, die mit dieser Praxis einhergeht, als ich ihn frage: „Und wie ist das für dich, wenn du so was hörst?“ (Interviewerin IS, 28) „Ja, nicht gut eigentlich, weil ich bin selber hier geboren, […] ich lebe hier, ich […] verhalte mich auch wie die alle hier. Ist ja nicht so, dass ich ganz anders bin nur weil ich […] eine andere Haarfarbe [habe], ja, ich bin schwarz.“ (Samir IS, 29)

Statt der erlebten Ausgrenzung durch Sprüche wie in der geschilderten Situation, in der er davon ausgeht, dass die Jugendlichen ‚bestimmt wirklich so denken‘, wie auch in anderen Situationen, in denen diskriminierende Artikulationen mit dem Label ‚Spaß‘ versehen werden und er unsicher ist, ob diese nicht vielleicht doch ernst gemeint sein könnten, würde Samir sich insgesamt und insbesondere von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern, zu denen er ‚eigentlich‘ ein gutes Verhältnis hat, etwas anderes wünschen: „Ich würde mir wünschen, dass die so was einfach nicht sagen, sondern weiß ich nicht, dass sie […] vielleicht mich einfach so akzeptieren wie ich bin so und nicht einfach nur das denken was in den Medien oder so berichtet wird. Ja, weil die müssen mich ja besser kennen als was weiß ich wer.“ (Samir IS, 197)

Statt der Wiederholung homogenisierender, stereotyper Bedeutungskonstruktionen in ‚Spaßform‘, statt „einfach nur das [zu] denken was in den Medien oder so berichtet wird“, wünscht Samir sich, als Person (an-)erkannt zu werden. Und dies vor allem von jenen, mit denen er die gleiche Klasse besucht, die ihn besser kennen, als, so ließe sich interpretieren, Fremde, die mit den gleichen Zuschreibungen hantieren. Denn, so könnte man diesen Gedanken Samirs weiterführen, wenn nicht einmal die, die ihn „besser kennen als was weiß ich wer“, in der Lage sind, Samir als Individuum wahrzunehmen, das nichts mit medial verbreiteten stereotypen Bildern zu tun hat: Wer denn dann? Von wem sonst, wenn nicht von jenen, die ihn gut kennen, kann er dann einen differenzierten Blick auf seine Person erwarten? Perspektivitäten und Unsicherheiten Unsicherheiten, die aus solchen Erfahrungen in Bezug auf die hinter den als ‚Spaß‘ gelabelten Praktiken stehenden Intentionen und tatsächlichen Meinungen hervorgehen, vervielfältigen sich. Als Erfahrungswissen halten sie Einzug in das Deutungsrepertoire von Jugendlichen und manifestieren sich als Unsicherheiten in Bezug auf Zugehörigkeitsfragen in weiteren Situationen ähnlicher Art. Amina etwa erlebt, dass von Mitschülern, in der Absicht sie zu ärgern, in provokanter Weise auf ihre nationale Herkunft Bezug genommen wird. Amina meint diesbezüglich: „Manchmal, so, denke ich ja, okay, die ärgern mich, weil ich auch leicht zu ärgern bin, und so. Weil

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ich mich leicht aufrege und so“ (Amina IA, 441). 67 Sie führt hier zunächst eine Begründung für das Verhalten ihrer Mitschüler an, die nichts mit ihren Erfahrungen zu tun hat, als ‚nicht-deutsch‘ kategorisiert und mit entsprechenden sozialen Bedeutungskonstruktionen und Benachteiligungen konfrontiert zu sein. Zudem, so erklärt Amina weiter, gab es außer ihr noch ein „Mädel“, das „auch immer geärgert“ wurde.68 Dass Amina nicht „nur als einzige da geärgert [wird], sondern andere auch“ (Amina IA, 441), ist für sie ein weiteres Indiz, das dafür spricht, dass es sich hier um eine weitgehend ‚normale‘ Praxis des Ärgerns handelt, die alle Jugendlichen – und nicht nur sie in besonderer Weise – betrifft, es sich in den Augen derer, die sie ‚ärgern‘, also vermutlich ‚lediglich‘ um eine jugendliche ‚Spaßpraxis‘ handelt. Zudem macht sie die Erfahrung, dass, „wenn ich die auch ärgere, dass die halt […] das [nicht] zu ernst nehmen“ (Amina IA, 441), womit auch das Kriterium der Wechselseitigkeit von jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ erfüllt wäre. Doch trotz all dieser Indizien fällt Aminas Resümee mit Blick auf solche Erfahrungen eher verhalten aus, können auch diese sie und ihr Gefühl nicht davon überzeugen, dass sie eine Schülerin wie alle anderen auch ist, dass die Verhaltensweisen der Mitschüler nichts mit ihrem Status als ‚Andere‘ in der Klasse zu tun haben. Sie kommt zu dem Schluss, dass die anderen sie „nicht vielleicht nur, weil ich anders bin“, ärgern (Amina IA, 441). Die Unsicherheit bleibt überdeutlich bestehen. Die von Amina angeführten ‚Indizien‘ sind meiner Meinung nach vor allem als Hinweis auf unterschiedliche Perspektiven zu lesen, die den gleichen Praktiken eine sehr unterschiedliche Bedeutung und also Wirkung zukommen lassen: Während es sich für diejenigen, die Amina ärgern wollen, so vermutet Amina selbst, wohl ‚nur‘ um ‚Spaß‘ handelt, sind diese Handlungsweisen und ihre Effekte für Amina keineswegs immer ‚spaßig‘, sondern häufig grenzüberschreitend und darüber hinaus längst nicht immer eindeutig als ‚spaßig-gemeint‘ zu decodieren: Als „die Person selber, die Betroffene“ so Amina, „merkt [man] manchmal, dass es Spaß ist, aber

67 Besonders „leicht zu ärgern“ ist sie, wenn sich ‚Späße‘ auf ihre nationale Herkunft beziehen: Sie erklärt, dass sie sich zunächst, als sie von Mitschülern „so aus Spaß, immer mit Papier abgeworfen“ wurde, nicht hat ärgern lassen, dann jedoch „der eine irgendwann mal so angefangen [hat] über Z-Land zu reden, und damit mich zu ärgern. Weil ich mich halt mit Papier nicht ärgern lassen habe. Und dann hatte er das gesagt und das halt- war ich- da fühlte ich mich dann natürlich angegriffen“ (Amina IA, 426). 68 Obwohl Amina dies nicht expliziert, kann sowohl im Kontext der Interviewpassage als auch vor dem Hintergrund, dass Amina häufig betont, dass sie in ihrer Klasse die Einzige ist, die als ‚Andere‘ konstruiert wird, davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem „Mädel“ um ein Mädchen handelt, das nicht die Erfahrung machen muss, als ‚nichtdeutsch‘ konstruiert zu werden, das nicht unter Bezugnahme auf ethnisierende, kulturalisierende, religionisierende oder ähnliche Wissensbestände geärgert wird.

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auch, bei manchen Sachen, so, ja, dass es auch manchen zu viel ist, und dass die übertreiben“ (Amina IA, 441). Nicht nur die Jungs, die Amina provozieren, merken nicht, „dass die übertreiben“, Aminas Grenze des ‚Spaßes‘ überschreiten und es ihr „zu viel ist“. Auch ihre drei ‚Freunde‘ bzw. jene „drei“, mit denen sie „eigentlich gut befreundet“ ist (Amina IA, 11), bemerken dies Amina zufolge wahrscheinlich nicht. Denn grundsätzlich geht Amina davon aus, dass diese sie eigentlich nicht diskriminieren wollen. Ihre Vermutung basiert auf normativen Grundsätzen, wonach ‚Freunde‘ nicht die Absicht haben können (oder sollten?), zu diskriminieren. Dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass Amina selbst betont, dass „die drei“ es nicht ernst, nicht verletzend meinen, sondern – zumindest in ihrer Perspektive – lediglich eine ‚Spaßpraxis‘ verfolgen. So berichtet sie, dass „[d]ie drei, mit denen ich eigentlich am meisten […] zu tun habe […] ja auch aus Spaß [sagen]: ‚Ja, komm, wir diskriminie ren Amina jetzt‘ so. Aus Spaß aber“ (Amina IA, 230). Obwohl Amina also den in tendierten ‚Spaß-Charakter‘ der diskriminierenden Aufforderung betont, handelt es sich bei einer solchen Sprachhandlung um eine im (vermutlich nicht-intendierten) Effekt gewaltvolle Erfahrung für Amina. Denn bei dieser Art der als ‚Spaß‘ codier ten Praxis liegt für die einen, die die Praxis Ausübenden, der ‚Spaß‘ offenbar bereits in der – für Amina bedrohlichen – Ankündigung, während sich zugleich das, was angekündigt wird, für die andere, für Amina, in der Ankündigung selbst vollzieht: Diskriminierung. Sprache präsentiert sich hier einmal mehr als diskriminierende Handlungsmacht, wie auch Judith Butler herausarbeitet hat (vgl. Butler 2006): „[I]n gewissem Sinne vollzieht die Drohung bereits, was sie androht“ (ebd., 21f.) – „Aus Spaß aber“. Und damit stellt sich auch hier die Frage der Perspektivität: Spaß für wen und mit welchen Effekten? Denn die ausgesprochene Drohung bedeutet auch, dass selbst wenn die Umsetzung der Drohung scheitern sollte, dies doch „nicht den Status des Sprechakts als Drohung in Frage“ stellt (ebd., 25). Zuweilen versucht Amina, ihren drei Mitschüler_innen subtil deutlich zu machen, dass ihre Bemerkungen und Sprüche für sie nicht immer nur ‚spaßig‘, sondern auch diskriminierend sind. Bezüglich der Wirkungen dieser ‚Hinweise‘ meint sie: „Ich weiß es nicht, ob die was gemerkt haben, aber, weil .. ich glaub eher kaum. Weil, weil die ja manchmal ja immer noch so komische Sätze sagen. Aber trotzdem .. Ich weiß nicht, manchmal nehme ich das auch gar nicht so ernst, weil, ich merke auch so, die sind ja auch lieb, trotzdem total lieb zu mir und so. […] Da denke ich dann au- so, ja okay, manche, man che Sachen sollte man vielleicht doch nicht zu ernst nehmen, und so.“ (Amina IA, 234)

Wenngleich Aminas Formulierungen Spielraum dafür lassen, dass die drei die diskriminierende Wirkung ihrer Bemerkungen vielleicht doch erkennen, ihr Verhalten aber dennoch nicht ändern, argumentiert sie für die gegenteilige Vermutung. Aber

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auch diese stellt für Amina keineswegs eine gesicherte Überzeugung dar. Auch hier können die Unsicherheit, die Relativierung des verletzenden Effekts sowie die Verantwortung, mit diesen umzugehen, die Amina sich selbst gibt („es nicht zu ernst nehmen“), nicht losgelöst von unsicheren Zugehörigkeitsverhältnissen und anderen Rassismuserfahrungen, die sie unter anderem in ihrer Klasse macht, gelesen werden, wie sie oben thematisiert wurden. Die von Milot, Samir und Amina vorgebrachten Erlebnisse der Konfrontation mit als ‚Spaßpraxis‘ codierten und gelabelten Artikulationen von Mitschülerinnen und Mitschülern erfüllen nicht ihre Spielregeln der legitimen jugendlichen ‚Spaßpraxis‘, folgen nicht den Kriterien, die ‚Spaß‘ von Diskriminierung unterscheiden, wie sie in den oben angeführten Interviewpassagen deutlich sowie in der Eröffnungsdiskussion des Forschungsprozesses gemeinsam mit den anderen teilnehmenden Jugendlichen abgesteckt wurden. Im Gegenteil entsprechen sie, sofern man die Kriterien aus der ersten Gruppendiskussion zur Bewertung des Erlebten heranzieht, eher ihrem Verständnis von Diskriminierung. An rassistische Bedeutungskonstruktionen anschließende Artikulationen, die als ‚Spaß‘ gelabelt werden, überschreiten die subjektive Grenze zwischen ‚Spaß‘ und ‚Ernst‘ bei den Jugendlichen und führen zu Ausgrenzungs- und Otheringerfahrungen sowie, unter anderem, zu Wut und Verletzungen. Darüber hinaus bringen sie Unsicherheiten hervor: Denn vor dem Hintergrund eines allgemein geteilten Wissens über eine unter Jugendlichen gepflegte Kommunikations- und Umgangskultur des legitimen ‚Sich-Ärgerns und -Neckens aus Spaß‘, an der sie selbst in anderen Situationen auch als Akteure und Akteurinnen partizipieren, entsteht eine große Unsicherheit im Hinblick auf die hinter solchen Praktiken liegenden Intentionen und tatsächlichen Meinungen. Diese wiederum erschweren das Deuten und bringen gleichsam Unsicherheit bezüglich ihrer sozialen Beziehungen zu jenen mit sich, die ‚Späße‘ und Sprüche dieser Art artikulie ren. Spaß-Labeling als legitimatorische Praxis Das Label ‚Spaß‘ wird aber nicht nur als Form der Artikulation (etwas ‚spaßig‘ rüberbringen), als Intentionsbestimmung (Spaßerzeugung im Sinne einer jugendlichen ‚Spaßpraxis‘) und als inhaltliche Distanzierung (nicht ernst gemeint) für Äußerungen, ‚Scherze‘ und ‚Sprüche‘ genutzt. Es ist wiederum Amina, die von ihrer Erfahrung berichtet, dass das ‚Spaß-Label‘ darüber hinaus als quasi defensive Praxis verwendet wird, um Gesagtes im Nachhinein zu legitimieren und einer ernsthaften Auseinandersetzung zu entgehen: So berichtet sie etwa, dass sie sich zwar angegriffen gefühlt hat, als eine Mitschülerin „über so einen Laden geredet, und dann [ge]sagt [hat]: ‚Nee, da kaufe ich nicht ein. Da kaufen nur die Ausländer‘“ (Amina IA, 172), diese jedoch nicht darauf angesprochen hat. Der Grund dafür ist, dass

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Amina antizipiert, dass sich das Mädchen auf eine Frage wie „‚Ja, warum sagst du das denn?‘“ (Amina IA, 174) mittels des ‚Spaß-Labelings‘ als legitimatorischer Praxis aus der Affäre ziehen würde. Sie „würde sagen: ‚Ja, ist doch nur Spaß‘“ (Amina IA, 174), was zur Konsequenz hätte, dass, so Amina, „ich dann voll schlecht dargestellt [werde]. So: ‚Ja, du verstehst ja keinen Spaß‘ und was weiß ich. So: ‚Voll Spaßverderberin‘ und überhaupt so was. Und ernst, wenn sie es ernst meinen würde, keine Ahnung, ob sie es meint, aber, ich weiß nicht. Wenn ich sagen würde: ‚Ja, meinst du es ernst?‘ ‚Nee, meine ich nicht.‘“ (Amina IA, 174)

„Spaß“ als Label für kulturalisierende, ethnisierende, religionisierende oder ähnliche essentialisierende und homogenisierende Artikulationen ermöglicht es also nicht nur a) der ernsthaften Auseinandersetzung und Anklage zu entgehen, b) letztlich nicht preiszugeben, ob etwas ernst gemeint war oder einen ernsthaften Gehalt hatte, sondern die tatsächliche Bedeutung gleichsam in der Uneindeutigkeit zu belassen, c) einfach abzustreiten, dass jene Bedeutungskonstruktionen, auf die vermeintlich ‚spaßig‘ Bezug genommen wird, Teil der eigenen Überzeugungen sind, sondern d) zudem, den Spieß gewissermaßen umzudrehen und aus denen, die Begründungen und Intentionen für solche Aussagen hören wollen, aus denen, die gegen sie protestieren wollen, die ‚Spaßverderber‘ zu machen und damit ihre ernsthafte Nachfrage und Anklage quasi wiederum ins ‚Lächerliche‘ zu ziehen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung kann mithilfe des ‚Spaß-Labels‘ auf diese Weise geschickt umgangen werden; was ‚nur Spaß‘ ist, kann kaum ernst thematisiert werden. Herausforderungen in prekären Verhältnissen Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die als ‚Spaß‘ codierten Praktiken, die von den von ihnen Adressierten keineswegs immer als ‚Spaß‘ empfunden und/oder decodiert werden, von verschiedenen, miteinander verwobenen kontradiktorischen Spannungsverhältnissen und Perspektivitäten begleitet werden, die ihr Deuten und Thematisieren erschweren. Zentral steht hier meines Erachtens u.a. das Spannungsverhältnis zwischen einem vermeintlich gegebenen Konsens unter Jugendlichen über die generelle Legitimität von ‚Spaßpraktiken‘ auf der einen und der je subjektiv und perspektivisch zu bestimmenden Grenze, an der aus einer legitimen jugendlichen ‚Spaßpraxis‘ illegitime Diskriminierung wird, auf der anderen Seite. Die Tatsache, dass für alle Beteiligten ‚Spaßpraktiken‘ Teil eines jugendlichen commitments der Kommunikation untereinander sind, macht es schwer, jene Praktiken und Äußerungen, die subjektive Grenzen überschreiten und nicht den ‚eigenen‘ Spielregeln, die über Legitimität und Illegitimität entscheiden, gehorchen, zu problematisieren. Auch die Jugendlichen, die hier von diskriminierenden Handlungsweisen, die als Teil jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ gelabelt werden, berichten,

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greifen in anderen Situationen selbst auf die Konvention der jugendkulturellen ‚Spaßpraxis‘ als Teil und Zeichen eines vertrauten Umgangs miteinander zurück, können in spezifischen Kontexten und Konstellationen solche ‚Spaßpraktiken‘ als ‚Spaß‘ decodieren und – sofern für sie subjektive Grenzen nicht verletzt und Spielregeln, die ‚Spaßpraktiken‘ von Diskriminierung trennen, eingehalten werden – über diese lachen. Während also ein Konsens über jugendliche ‚Spaßpraxis‘ als Teil von Jugendkultur zu bestehen scheint, herrscht ganz offenbar kein Konsens über die Spielregeln, die in den Augen der an dieser Forschung teilnehmenden Jugendlichen die Grenze zwischen jugendlichem ‚Spaß‘ und Diskriminierung festlegen; ebenso wenig wie über die je individuellen Grenzen, an denen aus ‚Spaß‘ ‚Ernst‘ wird und die es einzuhalten gilt, damit ‚Spaß‘ tatsächlich ‚Spaß‘ sein kann. Obgleich es sich also um relevante subjektive Grenzziehungen handelt, kann dennoch nicht, darauf weisen u.a. die gemeinsam konstruierten Spielregeln hin, ausschließlich von individuellen Relevanzen und Deutungen der als ‚Spaß‘ gelabelten Praktiken gesprochen werden. Vielmehr ist davon auszugehen, auch darauf deuten die empirischen Daten hin, dass jene, die keine Rassismuserfahrungen in ihrem Alltag machen müssen, nicht den gleichen Konsens über die Grenze, die jugendliche ‚Spaßpraktiken‘ von Diskriminierung trennt, teilen wie jene, die um die Ambivalenzen rassistischer Erfahrungen, zu denen auch Vermutungen, Verdächtigungen und Uneindeutigkeiten gehören, die mit verweigerter und unsicherer Zugehörigkeit, instabilen sozialen Beziehungen und starken Machthierarchien im Zusammenhang stehen, wissen, die wissen, was es heißt, in diesen Verhältnissen zu versuchen, die Balance zu halten. Zudem ist zu vermuten, dass jene, die diese Erfahrungen machen und sich in der theoretischen, zumindest annähernden Bestimmungen einer solchen Grenze einig sind,69 auch wissen, dass sie nicht davon ausgehen können, dass dieser Konsens von Jugendlichen generell, insbesondere nicht von jenen, die diese Erfahrungen nicht machen, geteilt wird. Als Adressaten und Adressatinnen der hier thematisierten rassistisch konnotierten Handlungsweisen müssen Jugendliche stattdessen vielmehr davon ausgehen, dass die Effekte dieser von jenen, die sie ausüben und als ‚Spaß‘ labeln – zumal wenn es sich bei diesen um ‚Freunde‘, Vertraute oder Bekannte handelt, oder wenn sie in einem Kontext stattfinden, in dem die Jugendlichen sich ‚eigentlich‘ auch zugehörig fühlen – nicht intendiert sind und also für sie unsichtbar bleiben. Mehr noch: Dass sie, im Gegenteil, von den sie praktizierenden Jugendlichen gar als ein verbindendes Element, nämlich als geteilter Spaß zwischen Jugendlichen intendiert sein könnten; als Beziehungsarbeit, Kontaktaufnahme, gemeinsames Spiel. So stellt sich je nach Perspektive eine als exkludierend empfundene Praxis womöglich zugleich als inkludierend intendierte Praxis dar. 69 Und die im konkreten, vorliegenden Fall im Kontext der Gruppendiskussion eben diesen Grenz-Konsens gemeinsam ausführlich diskutiert haben, bevor sie ihn in Worte fassen konnten.

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Ob die als ‚Spaß‘ gelabelten Praktiken Ernst oder Spaß sind, ist zudem deshalb häufig kaum sicher zu deuten, weil sie innerhalb von Zugehörigkeitsregimen stattfinden, in denen die Jugendlichen selbst eine marginalisierte, eher machtarme Position einnehmen. Sie sind in ihrem Alltag regelmäßig mit stereotypen Wissensbeständen und Rassismus konfrontiert und wissen, dass eben solche Bedeutungen für viele eine ‚Wahrheit‘ darstellen. Dass solche Artikulationen ‚Spaß‘ darstellen, entspricht mithin nicht der erfahrenen Wirkmächtigkeit dieser Wirklichkeitskonstruktionen. Hingegen ist die Möglichkeit, dass der vermeintliche ‚Spaß‘ auch in den Augen jener, die ihn ausüben, eigentlich keiner ist, vor diesem Erfahrungshintergrund nicht eben gering. Darüber hinaus machen Jugendliche die Erfahrung, dass das Label ‚Spaß‘ auch für Praktiken Verwendung findet, die ausgrenzend intendiert oder ernst gemeint sind, da das Label ‚Spaß‘ ein ideales Versteck und eine hervorragende Legitimation für eine als ‚Ernst‘ nicht zu legitimierende Praxis bietet. Auf diese Weise können die Diskriminierenden einer Anklage mittels des Spaß-Mantels geschickt entgehen. Das Labeln einer Praxis als ‚Spaß‘ macht in Bezug auf Diskriminierung also etwas möglich, was als ‚ernste‘ Praxis nicht legitim wäre. Was ‚nur Spaß‘ ist, entzieht sich gewissermaßen der ‚ernsten‘ Thematisierung oder Anklage; ein Umstand, der sich nicht nur für das Deuten, sondern auch für den Umgang mit solchen Praktiken als herausfordernd darstellt. In Kontexten ineinandergreifender sozial-nahräumlicher und gesellschaftlicher (Macht-)Beziehungen sowie jugendlicher Kommunikationskulturen mitsamt der daraus hervorgehenden unterschiedlichen sozialen Positionierungen, Perspektiven und Erfahrungen stehen die Jugendlichen, die von solchen als ‚Spaß‘ codierten Praktiken adressiert werden, vielschichtigen Herausforderungen gegenüber: Sie sind bei der Interpretation solcher Handlungen hinsichtlich möglicher Intentionen, Bedeutungen und Begründungen aufgefordert, unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen, die sich aus gesellschaftlichen wie konkret-sozialen Positionierungen ergeben, ebenso in ihre Analyse mit einzubeziehen, wie auch den jeweiligen situationsspezifischen Kontext. Damit ergibt sich situationsspezifisch eine Vielzahl kaum eindeutig zu beantwortender Fragen: Sind Bemerkungen tatsächlich, wie behauptet oder ‚rübergebracht‘, nicht ernst gemeint? In wessen Perspektive handelt es sich wann um eine legitime Form jugendkultureller ‚Spaßpraxis‘? In wessen Perspektive wird wann die Grenze zwischen Spaß und Ernst überschritten? Welches sind die Intentionen einer als ‚Spaß‘ gelabelten Praxis? Wann fungiert das ‚Spaß-Label‘ als Versteck, wann als Legitimation für eigentlich ernst Gemeintes? Auf welcher sozialen Grundlage findet die als ‚Spaß‘ codierte Praxis statt? Und: welche Handlungsoptionen und -spielräume präsentieren sich vor diesem Hintergrund der Uneindeutigkeiten? Auf dieser Grundlage Aussagen über die Ernsthaftigkeit von als ‚Spaß‘ codierten Praktiken, über das ‚Gemeinte‘ und die Intentionen, zu treffen, stellt also einer -

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seits ein überaus herausforderndes Unterfangen dar; ist andererseits aber zugleich hinsichtlich der Selbstverortung in sozialen Beziehungen sowie für das Nachdenken über Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten für die Jugendlichen subjektiv überaus relevant. Die Bedingungen, die zum einen das Ausüben solcher ‚Spaßpraktiken‘, zum anderen das Erleben dieser als verunsichernde und diskriminierende Erfahrungen lediglich einseitiger Sichtbarkeit ermöglichen, stellen sich demnach ebenfalls als komplex dar: Denn vor dem Hintergrund sich wiederholender Rassismus- und Otheringerfahrungen im Alltag sowie sozialer Beziehungen, Positionierungen und Zugehörigkeitsverhältnisse im sozialen Nahraum gehen solche Praktiken für die durch sie adressierten Jugendlichen nicht nur mit Unsicherheiten in Bezug auf diese Beziehungen sowie ihre Handlungsmöglichkeiten einher. Vielmehr verweisen sie darüber hinaus auf gesellschaftliche Verhältnisse, in denen soziale Positionierungen und mit ihnen in Zusammenhang stehende Perspektiven von Subjekten grundlegend Einfluss darauf nehmen, was von wem als ‚legitim‘ oder ‚normal‘ definiert bzw. was von wem als ‚Spaß‘, was als Verletzung erfahren bzw. erkannt wird und welche Definitionen und Perspektiven sich letztlich machtvoll als ‚wahr‘ und akzeptiert durchsetzen können. Gesellschaftlich virulente stereotypisierende Wissensbestände und Rassismen finden sich in jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ bzw. in Praktiken, die als ‚Spaß‘ codiert und gelabelt werden, manifestiert wieder und erfahren hier eine Form der dominanzkulturell legitimen Artikulation. Parallel zu den Erfahrungen, die Amina in Bezug auf stereotypisierende Unterrichtspraktiken schildert, verweisen die Erfahrungen mit vermeintlichen jugendkulturellen ‚Spaßpraktiken‘ auf gleiche Rahmungen und Möglichkeitsbedingungen: Während rassistische Artikulationen, etwa in der Gestalt jugendkultureller ‚Spaßpraxis‘ oder auch der selbstverständlichen Expertisierung und Zuschreibungspraxis im Unterricht, zu ‚legitimen‘, normalisierten Artikulationen werden, die sich durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie in den Lebenswelten der Jugendlichen ausgeübt werden, reproduzieren und weiter normalisieren, sind die Skandalisierung und Problematisierung solcher Praktiken, denen ein Vorwurf der Produktion rassistischer Effekte in Richtung der Handelnden inhärent ist, keineswegs normal und legitim. Während für die Artikulation von diskriminierenden Bedeutungskonstruktionen Strukturen und Bedingungen, die diese ermöglichen, vorhanden sind, fehlen eben solche Strukturen bzw. Möglichkeitsräume offensichtlich für eine ebenso selbstverständliche Problematisierung dieser. Zu diesen ermöglichenden bzw. behindernden Strukturen gehört ein eklatantes Machtungleichgewicht im Hinblick auf die konkreten Beziehungs- sowie MehrMinderheitsverhältnisse, die in den vorliegenden Beispielen sowohl auf die sozialen Abhängigkeitsverhältnisse im sozialen Nahraum als auch auf den ‚Normalisierungsgrad‘ rassistischer ‚Spaßpraktiken‘ (bzw. stereotypisierender Unterrichtspraktiken)

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auf der einen und ihren ‚Sichtbarkeitsgrad‘ als verletzend und diskriminierend auf der anderen Seite Einfluss nehmen. Nicht zuletzt trägt wohl auch die Tatsache, dass die Praxis des ‚Spaßes‘ (bzw. jene der stereotypisierenden Unterrichtsformen) mit unintendierten oder nicht nachweislich intendierten Effekten nicht in die allgemein gültige Definition dessen passt, was in der Regel unter Rassismus verstanden wird, zu den erschwerten Bedingungen des Thematisierens und Skandalisierens entsprechender Artikulationen bei. Eine Thematisierung, gar Problematisierung dieser Praktiken als rassistisch wäre in den Augen der Jugendlichen entsprechend nicht nur aufgrund der fehlenden Übereinstimmung von Rassismus-Konzept und rassistischer Wirklichkeit unpassend, sondern avancierte unter Umständen gar zu einem Angriff, der eine Gleichsetzung von ‚Handeln mit rassistischen Effekten‘ und ‚Rassist-Sein‘ nahelegte. Eine – im Kontext dominanter Diskurse – schwerwiegende Anschuldigung, die von Jugendlichen selbst bei Ausgrenzungspraktiken, die mit einem explizit rassistischen Argument begründet werden, keine Verwendung findet – geschweige denn in Situationen, in denen lediglich ein Verdacht besteht, dass mit den Handlungspraktiken (noch zudem von ‚Freunden‘) nicht nur unintendierte Effekte einhergehen könnten und die sich zudem auf eine jugendkulturelle Praxis berufen, die sie prinzipiell selbst unterstützen. Handeln angesichts herausfordernder Verhältnisse Gleichzeitig mit dem Erleben von als ‚Spaß‘ codierten Praktiken präsentiert sich den Jugendlichen, wie dargelegt, eine ganze Palette von Ambivalenzen, die sich sowohl auf das Deuten von Situationen als auch auf das Umgehen mit diesen Situationen, auf die Handlungsoptionen und -weisen auswirken. Welche Handlungsherausforderungen sich Jugendlichen subjektiv stellen, welche Handlungsoptionen Jugendliche für sich sehen und wahrnehmen, wenn ihre persönliche Spaßgrenze überschritten wird und/oder wenn sie den Verdacht haben, dass der Mantel des Spaßes als Mantel des Schweigens insofern fungiert, als dass abwertende und homogenisierende Rückgriffe auf rassistische Bedeutungskonstruktionen tatsächlich ernst gemeint70 sind und lediglich ‚als Spaß rübergebracht‘ werden, um sich einer Anklage geschickt zu entziehen, und worauf ihre Handlungsentscheidungen verweisen, wird im Folgenden herausgearbeitet. Relativierung und Normalisierung Bereits die Tatsache, dass die Jugendlichen, die hier in ambivalent-unsicherer Weise von als ‚Spaß‘ codierten und gelabelten Praktiken berichten, häufig betonen, dass Verletzendes von Mitschülerinnen und Mitschülern nur aus Spaß gesagt würde, kann verschiedene Funktionen haben und als Form des Umgangs mit solchen Er70 Entweder, weil die Inhalte von den Spaßmachern und -macherinnen tatsächlich vertreten werden oder gar, weil eine verletzende Intention mit ihrem Handeln einhergeht.

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fahrungen interpretiert werden. So scheint es, dass quasi entschuldigend statt anklagend auf die ihnen bekannte Konvention jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ als Kommunikationsform verwiesen wird. Die ‚Schuld‘ für diskriminierende Effekte, die aus als ‚Spaß‘ codierten Praktiken mitunter hervorgehen, wird so nicht bei jenen, die diese ausüben, verortet bzw. zumindest relativiert. Mit einer solchen Relativierung geht einher, dass den Handelnden keine verletzende Intention unterstellt wird, womit zugleich die Tragik der eigenen Opferrolle relativiert wird: Zum einen, indem über etwas gefühlt Tragisches als ‚Spaß‘ gesprochen wird, zum anderen aber auch, weil ‚deren Spaßpraxis‘ so als unabhängig von der eigenen Person gedeutet werden kann: als rein egoistische Praxis, die dem eigenen Vergnügen, vielleicht sogar einem vom Gegenüber angenommenen gemeinsamen Vergnügen dienen soll. Wenn etwa im Rückblick eine als verletzende Diskriminierung wahrgenommene Kategorisierungspraxis – die es im Falle von Amina noch nach neun Jahren Wert ist, er zählt zu werden, was auf die Brisanz und Bedeutung dieser hindeutet (vgl. Kap. 2.1) – als ‚normaler Kinderkram‘, als kindliches Sich-Ärgern abgetan wird (vgl. Amina IA, 67), dann werden so auch Rassismuserfahrungen relativiert; allerdings werden sie nicht nur relativiert, sondern auch normalisiert. Aus Gründen des Selbstschutzes kann dies in subjektiver Perspektive durchaus Sinn machen: So ist eine ‚normale‘ Praxis eben eine, von der man nicht als Einzige oder Einziger betroffen ist, die es folglich nicht Wert ist, individuell ‚überproblematisiert‘ zu werden. Diese Normalisierung geschieht unter Umständen auch vor dem Hintergrund der antizipierten Erwartung, solche, in den Augen der Adressierten keineswegs spaßigen Praktiken akzeptieren und verstehen können zu müssen; weil sie Teil dieser jugendlichen Konventionen sind und auch, weil mit Anerkennung und Verständnis für ihre Problematisierung ohnehin nicht zu rechnen ist. Auf diese Weise wird zugleich aber auch das Gefühl der eigenen Verletzung normalisiert: Es tritt in der Relevanz hinter die (zwar als schmerzhaft erlebte) ‚Normalität‘ zurück, die so akzeptiert und gewissermaßen mit ‚ertragen müssen‘ gleichgesetzt wird. Eine Deklaration solcher Praktiken als ‚Spaß‘ durch jene, die diese eigentlich keineswegs als ‚Spaß‘ empfinden, dient somit auch der Selbstnormalisierung und also dem eigenen Schutz. Auf diese Weise kann die eigene soziale Position gewahrt und die Beziehung zu den die Praktiken Ausübenden aufrechterhalten werden sowie eine eigene Normalisierung stattfinden, die es erlaubt, Teil des sozialen Gefüges zu bleiben und weiterhin an dem sozialen Spiel jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ teilzunehmen. Verbunden mit Formen der Relativierung und (Selbst-)Normalisierung solcher Ereignisse ist jedoch auch eine Fortführung der Normalisierung von Rassismus, von rassistischen ‚Spaßpraktiken‘, von Rassismuserfahrungen. Generell ist es im beschriebenen Kontext normalisierter ‚Spaßpraktiken‘ als Teil von Jugendkultur für Jugendliche schwierig, vermeintlichem Spaß mit Ernst zu begegnen. Und dies nicht nur, weil damit die Anerkennung und Objektivierung sol-

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cher unsicher gedeuteten, als ‚Spaß‘ gelabelten Praktiken als ernstzunehmende Verletzungen und Teil von Otheringprozessen einherginge. Auch etwa die Gefahr, auf diese Weise als ‚Spaßverderber‘ oder ‚Spaßverderberin‘ (weiter) ins Abseits zu geraten, ist groß. Darüber hinaus ist es für Jugendliche, die grundsätzlich selbst an dieser Praxis teilnehmen schwer, ausgewählte Praktiken anderen, mit denen ‚eigentlich‘ eine generelle Übereinkunft über die Legitimität der Kommunikationsform ‚Spaßpraxis‘ besteht, zum Vorwurf zu machen, oder sie auch nur als problematisch zu thematisieren. Ignorieren Samir berichtet von Situationen, bei denen er sich ziemlich sicher ist, dass es sich nicht nur um ‚Spaß‘, sondern eigentlich um ‚Ernst‘ handelt, dass etwa auf der Grundlage des Sich-Kennens versucht wird, Ernstes als Spaß zu tarnen: Er erzählt, dass es „öfters“ passiert, dass zu ihm „nur so aus Spaß: ‚Ja, du Terrorist‘ und so, ‚ihr Moslems seid Terroristen‘ und so was“ gesagt wird, was „aber immer aus Spaß rübergebracht“ wird (Samir IS, 191). Oder, dass „viele […] immer [sagen] ‚Scheiß Ausländer‘ und lachen dabei und so und finden das voll witzig und bringen das so locker rüber, weil wir die kennen“ (Samir IS, 27). Allerdings ist er sich – trotz aller Vorsicht in seiner Formulierung – offenbar recht sicher, dass diese Aussagen nicht nur Spaß sind: „Aber ich weiß ja auch, dass die irgendwie ein bisschen schon was Ernstes dagegen haben“ (Samir IS, 191), dass „meistens […] die das nur aus Spaß rüber[bringen], aber das ist gar nicht aus Spaß […] im Endeffekt so denke ich bestimmt denken die wirklich so“ (Samir IS, 27). Wenn so etwas passiert, so Samir, dann findet er das zwar nicht spaßig, im Gegenteil, aber dennoch „lache ich [dann] ein bisschen und sag: ‚Ist okay.‘“ (Samir IS, 31), zumindest, so konkretisiert er, „vor denen […] erst mal“ (Samir IS, 35). Samir, so lässt sich seine Aussage deuten, zeigt den ‚Spaßmachern‘ in diesen Situationen nicht, dass er ihre vermeintlichen ‚Späße‘ gar nicht spaßig findet. Im Gegenteil lässt er sich vor ihnen auf die Definition der Praxis als Spaß ein und tut so, als könne er darüber lachen bzw. als würde er den ‚Spaß‘ zumindest keines weiteren Kommentars wert finden („‚Ist okay‘“). Auch wenn Samir diese Sprüche keineswegs lustig findet, unterbricht er die Praxis nicht, hinterfragt nicht deren Spaß-Label, sondern trägt sie mit, ‚lacht erst mal vor denen‘, versucht „das nicht so ernst [zu nehmen]“ (Samir IS, 35) und denkt sich: „[S]cheißegal“ (Samir IS, 193). Es ist anzunehmen, dass Samir in solchen Situationen, in denen er vermutet, dass als ‚Späße‘ deklarierte rassistische Sprüche keineswegs nur spaßig gemeint sind, keine Schwäche zeigen möchte, kein ‚Spielverderber‘ sein will, sondern demonstrieren möchte, dass er mit solchen Sprüchen weder zu ärgern noch zu provozieren ist – was womöglich lediglich weitere Sprüche dieser Art oder eine andere Form der Eskalation nach sich zöge. Samir begründet sein Handeln zum einen da-

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mit, dass es in seinem Leben zu viele derartige Situationen gibt, die, würde er sie ernst nehmen, andauernde Auseinandersetzungen bedeuteten, zum anderen mit den möglichen Konsequenzen, wenn er anders reagierte: „Also vor denen lach ich erst mal (so ich? natürlich? also ich?), nehm das nicht so ernst, weil wenn ich das immer ernst nehmen würde so richtig, dann, dann müsste ich mich am Tag wer weiß wie oft mit Irgendwelchen auseinandersetzen wegen so was. Oder, keine Ahnung, vielleicht würde da auch mehr rauskommen, Prügelei oder so. Ja, bringt einfach nichts. Besser einfach stumpf, zuhören, grinsen und (dann ist okay?).“ (Samir IS, 35)

‚Erst mal‘ mitzulachen, die vermeintliche ‚Spaßpraxis‘ zwar nicht zu stören, aber eben auch nicht auf etwaige Provokationsversuche einzugehen, sondern die vermutete Intention und die mit dem nicht-spaßigen ‚Spaß‘ transportierten Beleidigungen und rassistischen Artikulationen zu ignorieren, stellt sich so als Handlungstaktik heraus, die es Samir erlaubt, nicht klein bei zu geben, Teil der ‚Spaßgemeinschaft‘ zu bleiben und sich selbst, so ließe sich interpretieren, vor zu vielen Gedanken und Grübeleien sowie Auseinandersetzungen zu schützen, die unter Umständen zu schmerzhaften Realisierungen oder Problematisierungen alltäglicher Situationen führen könnten. Als weiterer Aspekt kommt hinzu, dass das Ignorieren und Mitspielen in solchen Situationen Samir deshalb ‚vernünftig‘ erscheint, weil er in seinen Augen auf diese Weise weitere Konflikte bzw. eine Eskalation vermeiden kann: Zwar fänden diese ihren Ursprung in den rassistischen Beleidigungen anderer, jedoch zeigt Samir sich dennoch für mögliche Konsequenzen verantwortlich. Er macht damit deutlich, dass er handlungsfähig ist, dass es von seiner Entscheidung abhängig ist, wie sich die Situation weiter entwickelt. Samir schützt mit seiner Reaktion sich selbst. Er macht sich so nicht zum Spaßverderber und Outsider und kann zudem vermitteln, dass er über den Provokationen der anderen steht – obwohl das nicht seinem Gefühl entspricht. Jedoch schützt er so gleichzeitig auch die ‚Spaßpraktiken‘, die in seiner Perspektive keine sind, die in ihrer selbstverständlichen Form auch dann, wenn die Inhalte rassistischen Charakter haben, nicht hinterfragt werden; womit er letztlich auch eine Normalität des Rassismus schützt, von der er in der konkreten Situation betroffen ist und wohl auch in Folgesituationen wieder betroffen sein wird. In Samirs Perspektive „bringt [es] einfach nichts“, solche Situationen ‚immer ernst zu nehmen‘ (Samir IS, 35) und entsprechend zu reagieren. Subjektiv gesehen ist es für Samir entlastender, sie zu ignorieren, „einfach stumpf, zu[zu]hören [und zu] grinsen“ (Samir IS, 35). Die Konsequenzen des Ernstnehmens würden in seinen Augen schwerer wiegen. Amina, die sich im Gegensatz zu Samir in obigem Beispiel auf Situationen bezieht, bei denen sie ‚eigentlich‘ nicht glaubt, dass die als ‚Spaß‘ codierten Artikulationen ernst gemeint sind, meint ebenfalls: „Bringts auch meistens, wenn man ein-

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fach ignoriert“ (Amina IA, 61). Wenn jene, mit denen sie sich ‚eigentlich gut versteht‘, die „trotzdem total lieb zu mir“ sind (Amina IA, 234), denen sie also eigentlich keine böse Absicht unterstellt, dennoch „scheiße zu mir sind“ (Amina IA, 236), „dann denke ich […] manche Sachen sollte man vielleicht doch nicht so ernst nehmen“ (Amina IA, 236). Ihre Begründung klingt ähnlich wie die von Samir: „Weil, wenn man zu ernst nehmen würde, würde man ja die ganze Zeit alles so- .. Ja, ich weiß nicht“ (Amina IA, 234). Amina beendet ihren Satz nicht. Doch es ist anzunehmen, dass sie zum Teil ähnliche Gründe für das Ignorieren solcher, in ihren Augen nicht-spaßiger ‚Spaßpraktiken‘ hat wie Samir. Mit dem Unterschied jedoch, dass Amina – aufgrund des anderen Kontextes – vermutlich keine Prügelei fürchtet, sondern das Risiko, ihre soziale Beziehung zu ‚den dreien‘ in ihrer Klasse, mit denen sie sich am ehesten versteht, aufs Spiel zu setzen. Als ich anmerke, dass sich „das […] ganz schön schwierig an[hört]“, (Interviewerin IA, 235), entgegnet Amina: „Ja, klar“ und begründet ihre Handlungsweise, dass man solche ‚Späße‘, die keine sind, „manchmal […] halt auch so .. einfach ignorieren [muss]“ (Amina IA, 236), indem sie über die Folgen eines alternativen Handelns nachdenkt: Was solle man schon tun, so Amina: „[E]s bringt ja nichts so zu sagen: ‚Ich werde ja nur scheiße behan delt, weil ich so Ausländerin bin‘“ (Amina IA, 236). Die Alternative zur Ignoranz wäre Amina zufolge ein Rassismusvorwurf. Der allerdings brächte nichts und stellt daher keine wirkliche Option dar. Auch die Möglichkeit, auf die ausgrenzenden Sprüche der anderen Bezug zu nehmen und über diese zu sprechen, „so richtig genau darauf eingehen“, stellt keine wirkliche Handlungsmöglichkeit für Amina dar. Das, so Amina, „will ich ja auch nicht weil .. die sagen: ‚Ja, nein, ist doch nur Spaß‘ und ‚Du brauchst das nicht ernst zu nehmen‘“ (Amina IA, 236). Amina kann sich gut „vorstellen […], was die genau sagen werden“ und begründet so, dass „das dann ja halt nichts [bringt] zu diskutieren“: „‚War ja nur Spaß‘“ (Amina IA, 236, 238). Solche Praktiken, die als ‚Spaß‘, im Sinne von nicht-ernst gemeint, gelabelt werden, manifestieren sich in Aminas Lebenswelt als Rassismuserfahrungen, die in ihren Effekten von den ‚Spaßmacherinnen und -machern‘ nicht nur nicht ernst gemeint sind, sondern auch nicht ernst genommen werden. Das Labeln einer Praxis als ‚Spaß‘ und damit die Konstruktion einer diskriminierenden Praxis als ‚Spaßpraxis‘ ist eine Praxis, die das ernsthafte Sprechen über diese verunmöglicht. Das Verpacken von Rassismus als ‚Spaß‘ ist insofern nicht nur im Rahmen jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ eine vermeintlich ‚harmlose‘ und legitimierte Möglichkeit, Rassismus zu äußern, sondern auch ein einfaches und sicheres, weil vor moralischen Verurteilungen und Rassismusvorwürfen relativ geschütztes, Mittel diffamierenden, rassistischen Sprechens. Der Versuch, dennoch ernsthaft zu sprechen, ist in diesem Fall entweder zum Scheitern verurteilt, weil ein Einspruch mit einem lapidaren „[w]ar ja nur Spaß“ weggewischt würde, oder weil Amina als Spielverderberin aus dem Kreis

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der Spielenden ausgeschlossen würde und sie so die fragile Zugehörigkeit zumindest zu den dreien in ihrer Klasse riskierte, so ihre Befürchtung. Wenn sie tatsächlich ihre „Meinung einfach so sagen würde“, so Amina, „würde ich denken, dass die dann halt auch mich so komisch behandeln werden […] werden die halt auch so scheiße zu mir sein?“ und bezieht sich bei ihren Überlegungen auf eine Mitschülerin in ihrer Klasse, die „sofort ihre Meinung [sagt]“ und über die daher „jeder in der Klasse [redet]“ (Amina IA, 246). In einer Situation, in der Rassismuserfahrungen, ausgelöst von vermeintlichen ‚Freundinnen und Freunden‘, im Setting einer Schulklasse stattfinden, in der zum einen eine starke Mehrheit definiert, was oder wer warum dazugehört, relevant und/oder richtig ist, zum anderen rassistische Ressentiments ein Teil der dominanten Mehrheitsmeinung sind (vgl. Kap. 2.4), führt für Amina der Spagat zwischen Zugehörigkeit und Widerstand dazu, dass dies „eine Situation [ist], wo man lieber dann leise ist, als überhaupt was zu sagen“ (Amina IA, 246). Rassistische, als ‚Spaß‘ gelabelte Artikulationen zu ignorieren bzw. eigene Verletzungen nicht zuzugeben oder anzusprechen bedeutet für Amina mithin nicht nur das schweigsame ‚Ertragen‘ der ‚Sprüche‘ und (nicht-spaßigen) ‚Späße‘ und damit einen Beitrag zur weiteren Normalisierung dieser Praktiken, sondern auch einen Schritt auf dem Weg zur Normalisierung ihrer selbst und ihrer sozialen Positionierung innerhalb der Schulklasse. Ironie als Taktik: Im Spaß über nicht-spaßigen Spaß sprechen Eine Taktik, mit der Amina versucht, diese ‚Ziele‘ nicht zu gefährden und von der sie sich zugleich zumindest etwas widerständiges Potenzial erhofft, besteht darin, den vermeintlichen ‚Spaß‘ der anderen aufzugreifen und zu versuchen, innerhalb dieses legitimierten Sprechrahmens, und also ohne die Praxis als ‚Spaßpraxis‘ zu hinterfragen und sich damit ins soziale Abseits zu befördern, widerständig zu handeln. Diese Form des Handelns mit dem Ziel, verletzende, als ‚Spaß‘ gelabelte Praktiken zu stoppen, ohne jedoch den Rahmen dieser zu verlassen oder zu kritisieren, kann nach de Certeau ebenfalls als Taktik beschrieben werden: Amina versucht, die die Klassenkultur dominierenden Regeln des ‚Spaß-Machens‘ nicht zu „unterwander[n]“, „indem sie sie ablehnt[...] oder verändert[...], sondern durch die Art und Weise, wie sie sie […] gebraucht[...]“ (de Certeau 1988, 14). Sie unternimmt den Versuch, mittels des „Gebrauch[s] der herrschenden Ordnung“ „dieser Ordnung [zu entfliehen], ohne sie zu verlassen“ (ebd.). Amina berichtet von einer Situation, in der sie versucht hat, mittels spaßigen Sprechens über eine nicht-spaßige ‚Spaßpraxis‘ Unterstützung bei ihrer Lehrerin zu finden. Es handelt sich um eine Situation, in der drei Mitschüler sie „immer geärgert haben“, und sich einer dieser Mitschüler schließlich mit eben dieser Intention provozierend auf Aminas Geburtsland bezieht:

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„[D]ie drei Jungs die halt neb- hinter mir saßen, sie haben mich ja halt natürlich immer geär gert und so. Aber halt, so aus Spaß, immer mit Papier abgeworfen und so. Dann hat der eine irgendwann mal so angefangen über Z-Land zu reden, und damit mich zu ärgern. Weil ich mich halt mit Papier nicht ärgern lassen habe. Und dann hatte er das gesagt und das halt- war ich- da fühlte ich mich dann natürlich angegriffen. Und dann, hab natürlich dann angefangen mit ihm zu diskutieren und so.“ (Amina IA, 426)

Während Amina die drei zunächst ignoriert, lässt sie sich, nachdem das Reden über Z-Land als Provokation genutzt wird, auf eine ‚Diskussion‘ ein. Ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine Praxis, bei der ein Ignorieren für sie keine Möglichkeit mehr darstellt, sondern sie „natürlich“ interveniert – obwohl sie weiß, dass es sich in den Augen ihres Mitschülers auch hier lediglich um eine ‚Spaßpraxis‘, eine Praxis des Ärgerns und der Provokation handelt. Allerdings, weil sie „so wütend war[, w]eil, ich weiß nicht, das sind ja wieder diese Vorurteile die er hatte“ (Amina IA, 426) und also davon ausgeht, dass ihr Mitschüler sie nicht nur ärgern möchte, sondern tatsächlich „diese Meinung hat“ (Amina IA, 438), handelt es sich für Amina keineswegs lediglich um eine ‚Spaßpraxis‘. Es geht ihr darum, gegen die Zuschreibungen ihres Mitschülers zu argumentieren, sie versucht, gegen diese anzudiskutieren; in ihrer Perspektive jedoch leider ohne Erfolg: Denn „er hat seine Meinung ja nicht geändert“ (Amina IA, 438). Aminas Bemühungen schlagen fehl und sie gerät in der Auseinandersetzung an ihre Grenzen. Wohl überlegt formuliert sie daher eine an ihre Lehrerin gerichtete Klage über ihren Mitschüler (vgl. unten), die sie mit der Absicht in spaßiges Sprechen verpackt, Unterstützung in der Unterbrechung der diskriminierenden, als ‚Spaß‘ deklarierten Praxis zu bekommen, nicht aber „als Kameradenschwein da[zu]stehen, wenn ich ihn dann, wegen so was verpfeifen würde“ (Amina IA, 438). Obwohl diese, auf ihre nationale Herkunft Bezug nehmende Provokation bei Amina eine sehr andere Wirkung entfaltet als andere Formen des Ärgerns, scheint es keine andere Kategorie für rassistische Handlungsweisen, die als ‚Spaß‘ codiert werden, zu geben, mit der es möglich wäre, diese als illegitim und grenzüberschreitend, sich jenseits der jugendlichen ‚Spaßkategorie‘ bewegende, diskriminierende Praktiken anzuklagen; und das „[a]uch wenn es halt ein anderes Thema ist, wo es vielleicht .. wichtiger ist, so, anderen zu sagen: ‚Ja, es passt mir nicht‘“ (Amina IA, 438). Deutlich wird vielmehr, dass, obwohl Amina eigentlich denkt, dass es hier um ein „anderes Thema“ geht, bei dem es wichtiger ist zu inter venieren als etwa bei dem Werfen mit Papier, die Kategorie der jugendlichen ‚Spaßpraxis‘ dennoch die relevante Dimension ist, anhand derer Handlungsmöglichkeiten abgewogen werden. Eine qualitativ andere Kategorie für qualitativ andere Praktiken existiert nicht. So erklärt Amina vergleichend: „Weil bei anderen Sachen, wo ich auch geärgert wurde, oder wo ich die auch geärgert habe, haben die mich auch nicht verpfiffen“ (Amina IA, 438). Amina hat Skrupel, hier offensiv anzuklagen. Sich in

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ihrer Entscheidung an den dominanten Jugend- oder Klassen-Konventionen und ihren Erfahrungen in der Klasse orientierend meint Amina: „[D]ann denke ich, dass es sich nicht gehört, wenn man so sagen würde“ (Amina IA, 438). Amina ist Teil dieser Jugendkultur. Und als solcher fühlt sie sich ganz offenbar mitverantwortlich, weil sie sich auf die Diskussion, also eine als ‚Spaß‘ deklarierte Praxis, eingelassen und folglich ‚mitgemacht‘ und diese unterstützt hat, wenn sie sagt, dass sie auch nicht will, dass „er jetzt total Ärger kriegt […] nur weil ich jetzt mit ihm diskutiert habe und er diese Meinung hat“ (Amina IA, 438). Am Ende relativiert Amina die sie wütend machenden Äußerungen als Meinungsverschiedenheit, die – vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheitsnorm, die Amina vertritt – in ihren Augen sowieso nicht legitimiert anklagbar ist. Es geht Amina um das Stoppen dieser von ihr keinesfalls als ‚Spaß‘ empfundenen Praxis – von der sie weiß, dass sie den ‚Spaßpraxiskonventionen‘ der Klassengemeinschaft zufolge lediglich als eine jugendliche ‚Spaßpraxis‘ wie andere auch gilt – bei gleichzeitigem Schutz ihrer sozialen Beziehungen. Daher entscheidet sie sich – parallel zu den ‚Späßen‘ der Jungen, die diese als Vehikel für stereotype Zuschreibungen nutzen, mit denen sie Amina ärgern können – ihre Anklage ebenfalls als Spaß zu tarnen: Sie sagt zu ihrer Lehrerin „so aus Spaß […]: ‚Ja, er nimmt mei ne Stifte weg‘ und, dann halt, erst mal alle anderen Sachen aufgezählt, und ‚Er […] ärgert mich, weil ich aus Z-Land komme‘“ (Amina IA, 438). Amina tarnt die Anklage des erfahrenen Rassismus als ‚Spaß‘ und versteckt sie darüber hinaus in einer Reihe von anderen, vergleichsweise harmlosen Formen des Ärgerns. Leider weiß Aminas Lehrerin Aminas ironisierte, spaßig artikulierte Anklage nicht als eigentlich ernst zu decodieren. Sie hat nicht gemerkt, dass Amina „an dem Tag richtig aufgeregt war und wütend war“ wegen „dieser Vorurteile, die er hatte“, und reagiert auf der gleichen Ebene, nämlich spaßig, auf Aminas spaßige Anklage: „[H]at die Lehrerin halt, auch aus Spaß so gesagt: ‚Ja, Victor, geh, setz dich mal in eine andere Ecke‘ […] halt auch so, halt so ironisch gemeint. […] Ich weiß nicht, das wurde an dem Tag dann auch gar nicht so ernst genommen, obwohl ich ziemlich ernst mit ihm diskutiert habe“ (Amina IA, 426). Aminas Taktik, sich selbst zu schützen, indem sie sich innerhalb des legitimierten Sprech-Rahmens, den das dominante Verständnis von jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ in ihrer Schulklasse vorgibt, zu wehren versucht, spaßig, aber eben auch anklagend, über eine in ihren Augen nicht-spaßige (‚Spaß‘-)Praxis spricht, geht hier nicht auf. Ihr eigentliches Anliegen, eine ernsthafte Problematisierung dieser Situation, eine Verurteilung der Praxis der Mitschüler durch die Autorität der Lehrerin, kommt nicht zur Umsetzung. Denn in den Augen der Lehrerin ist diese Situation vermutlich ebenfalls eine Alltagssituation, nichts anderes als das Werfen mit Papier: lediglich eine jugendliche Praxis des gegenseitigen Ärgerns. Ihre Lehrerin identifiziert das Handeln der Mitschüler nicht als rassistisch und Aminas Erleben der Situation

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nicht als Rassismuserfahrung.71 Mit ihrer Tarnungs-Taktik gelingt es Amina nicht, die Deutung ihrer Lehrerin, die nicht zwischen verschiedenen Qualitäten jugendlicher ‚Spaßpraktiken‘ und Perspektiven auf diese bzw. zwischen legitimer jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ und illegitimer rassistischer Praxis unterscheidet, zu irritieren und sichtbar zu machen, dass es in ihrer Perspektive hier einen entscheidenden Unterschied gibt. Ganz im Gegenteil sogar: Wenn die Taktik, sich selbst des Spaßes zu bedienen, um Anklage zu erheben, ohne sich zu gefährden, fehlschlägt, besteht die Gefahr, dass die Annahme, rassistische Diskriminierung sei eine legitime jugendliche ‚Spaßpraxis‘ wie andere auch und unterscheide sich nicht vom Werfen mit Papier, weiter unterstützt wird. Ähnliches erlebt Amina, wenn sie diese Taktik im direkten Umgang mit jenen anwendet, die sie mit rassistischen ‚Spaßpraktiken‘ konfrontieren, wenn sie den vermeintlichen Spaß aufgreift und versucht, seine Effekte offensiv, aber ironisiert, und damit versteckt, zurückzuspiegeln. So reagiert Amina auf den „nur halt aus 71 Barry Troyna und Richard Hatcher haben in ihrer Studie ‚Racism in children‘s lives‘ (1992) mit Kindern an drei „mainly-white primay schools“ festgestellt, dass das sogenannte ‚racist name-calling‘ die zentrale Erfahrung mit Rassismus in ihrem Schulleben ist. Dies sind Praktiken, bei denen das Herkunftsland oder die Hautfarbe von Schülerinnen und Schülern zum Anlass für verbale Abwertung und Diskreditierung genommen werden. Troyna und Hatcher betonen, dass diese Praktiken immer in ihrer situativen Be deutung betrachtet und im Kontext von „children‘s cultures, relationships and processes of interaction“ (ebd., 197) analysiert werden müssen: z.B. als Verhandlungen sozialer Identität, als ‚spaßiges‘ Necken „for pleasure“ (ebd., 57), als spontane Ausbrüche in hitzigen Diskussionen etc. Deutlich wurde in der Studie auch, dass racist name-calling für Schwarze Kinder in der Regel subjektiv verletzender ist, als jede andere Form des namecalling (vgl. ebd.). Zum Umgang der Schule und der Lehrkräfte mit racist name-calling konstatieren Troyna und Hatcher, dass in den von ihnen untersuchten Schulen Schulre geln erlassen wurden, die das racist name-calling verbieten. Von den Schülerinnen und Schülern wurde dies begrüßt und zum Teil zwar als wirkungsvoll beschrieben, häufig berichteten die Kinder aber auch davon, dass Lehrerinnen und Lehrer diese Regeln nicht ernst nähmen und durchsetzten. Dies wiederum führt teilweise zu der Annahme, Lehrerinnen und Lehrer „where biased against black children“ (ebd., 164). Kinder erklärten, dass ihnen nicht zugehört würde und sie zuweilen selbst aufgrund einer Beschwerde in Schwierigkeiten gerieten (vgl. ebd. 199). Infolgedessen berichten Kinder nicht von ihren Erfahrungen: „‚I‘ve learnt since infants at my old school every time you try and tell the teacher they say ‚Stop telling tales‘“ (ebd., 166). Viele Kinder, so Troyna und Hatcher, „told us that the most important thing that teachers could do, and the precondition for effective action, was to listen to children who felt that they were being unfairly treated, whether on racist or other grounds“ (ebd.). Ähnliches konstatieren auch John Wrench, Harbhajan Brar und Paul Martin (vgl. Wrench/Brar/Martin 1993, 30ff.).

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Spaß“ gesagten ‚Spruch‘ „‚Ja‚ geh weg, du bist schwarz‘“, indem sie die Gruppe verlässt, zu anderen Mädchen geht und auf die offenbar besorgte und verständnislose Nachfrage einer der dreien, die an dieser Spaßpraxis beteiligt waren, wo sie denn gewesen wäre, „teilweise aus Spaß gesagt [hat]: ‚Ja, jetzt rede ich nicht mit euch‘ […] ich bin weggegangen. Ihr diskriminiert mich ja nur‘“ (Amina IA, 230). Auch diese ironisierte Anklage wird nicht hinreichend verstanden: „[H]aben die dann halt auch wieder so gesagt: ‚Ja, ist doch nur Spaß‘“ (Amina IA, 230). Wenngleich Amina „manchmal merk[t], dass so manche Sprüche“ wie „‚Ja, geh weg, du bist sowieso schwarz‘ […] eigentlich nur Spaß“ sind und sie „das […] auch nicht so persönlich [nimmt]“, ist sie sich ihrer Sache doch nicht immer sicher. Amina eignet sich den Spruch selbst mit der Absicht an, ihn quasi als Spiegel auf ironisch-widerstän dige Weise zu gebrauchen. So verwendet sie den Spruch, „wenn die so scheiße zu mir sind“, um ihnen einen ironisierten, als Spaß getarnten Rassismusvorwurf zu machen, indem sie „aus Spaß so [sagt], ja: ‚Nur weil ich schwarz bin‘“. Jedoch zeigt auch dieser Versuch der ironisierten Irritation keine befriedigende Wirkung: Amina „weiß nicht, ob die es dann merken“ (Amina IA, 236). Darüber hinaus versucht Amina mithilfe des Spruchs provokativ zu testen bzw. spaßig-ironisch verpackt die Frage zu stellen, ob sie vielleicht gerade tatsächlich ausgegrenzt wird, ‚weil sie schwarz ist‘: „wenn ich irgendwie mich doof behandelt fühle, sag ich auch immer so aus Spaß wenn ich wütend bin: ‚Ja, nur weil ich schwarz bin‘ so, weil, ich weiß nicht, wenn man ausgegrenzt wird, fragt man sich ja warum und so (lacht) und dann sag ich halt aus Spaß immer ‚Ja, nur weil ich schwarz bin?‘“ (Amina IA, 410)

Eine solche Reaktion kann nicht nur als Frage vor dem Hintergrund der unsicheren Bestimmung von Gründen für ‚Spaßpraktiken‘, sondern auch als Intervention gelesen werden. Denn was Amina hier als Frage verpackt, ist zugleich ein Hinweis an die anderen, dass ihre Späße durchaus das Potenzial haben, als Rassismus interpretiert und bewertet zu werden – eine indirekte Aufforderung zur Reflexion. Was hier als ‚Spaßpraxis-Stopp‘ wirksam werden könnte, ist die Artikulation zwischen den ‚Späßen‘ und Rassismus und damit eine Verbindung zwischen ihren Mitschülerinnen und Mitschülern und einer rassistischen Praxis. Die Bedingungen erlauben es Amina in ihrer Perspektive nicht, Rassismus bzw. rassistische Effekte dieser als ‚Spaß‘ deklarierten Praktiken direkt anzusprechen, was auch mit dem allgemein gültigen Verständnis von Rassismus als ‚extremistisches‘ und intendiert ausgeübtes Vergehen zusammenhängt, womit Rassismus als schwerwiegender Vorwurf kategorisiert und tabuisiert wird, was in Aminas Klassensetting mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zur konstruktiven Besprechbarkeit der rassistischen ‚Nicht-Spaßpraktiken‘ beiträgt. Angesichts der Tatsache, dass Rassismus bzw. das Ansprechen von

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rassistischen Handlungen oder Handlungen mit rassistischem Effekt ein stark tabuisiertes und sensibles Thema ist, kann davon ausgegangen oder zumindest gehofft werden, dass auch jene, die solche Sprüche unter dem Label ‚Spaß‘ artikulieren, nicht mit Rassismus in Zusammenhang gebracht werden wollen und eine Praxis, die ironisch befragt wird, ob die Gründe für diese nicht ‚Schwarzsein‘ und damit Rassismus sein könnten, aufgrund der so hergestellten Artikulation eingestellt wird. Auch dies eine Taktik, der Versuch der herrschenden Ordnung zu entfliehen, ohne sie zu verlassen, indem die Spielregeln dieser Ordnung genutzt werden (vgl. de Certeau 1988, 14). Gleiches gilt auch für die folgende Handlungspraxis: Eine weitere Form des intervenierenden ‚Spaßpraxis-‘ bzw. Rassismus-Tests wendet Amina in einer „Zeit“ an, als „die ja nur, mich so .. diskriminiert [haben], sag ich mal so, voll so verarscht“ (Amina IA, 232). Amina, deren Erfahrungen „eine Zeit lang“ nicht zu den eigentlichen Spielregeln der ‚Spaßpraktiken‘ passen, sondern eher zu jenen Merkmalen, die Diskriminierung ausmachen, beruft sich in ih rem Test auf jene Spielregel jugendlicher ‚Spaßpraxis‘, die vorsieht, dass jede und jeder mal zur Zielscheibe von ‚Spaßpraktiken‘ wird, dass es sich um eine Praxis unter Freundinnen und Freunden handelt, die sich ihre ‚Opfer‘ abwechselnd wählt. Ironisch formuliert sie unter Verweis auf einen Jungen in ihrer Klasse, der offen homosexuell ist: „‚Ja, wir können ja ihn auch diskriminieren‘ […] Hab ich auch gesagt, ‚Ja, warum mich?‘ […] Halt, wenn es wirklich Spaß ist, warum dann immer die eine Person?“ (Amina IA, 232). Amina stellt die anderen damit auf die Probe: Wenn es sich bei den ‚Verarschungen‘ und ‚Diskriminierungen‘, die ihr entgegengebracht werden, tatsächlich nur um ‚Spaß‘ handelt, wie behauptet wird, und wie sie es eigentlich auch gerne glauben möchte, dann, so Aminas Aufruf: Beweist es! Ist es tatsächlich ‚Spaß‘, dann will Amina gerne Teil dieser ‚Spaßpraxis‘ sein – solange sie die Regel beherzigen, dass nicht nur sie im Mittelpunkt der diskriminierenden Aufmerksamkeit steht. Tatsächlich scheint diese Taktik der Aneignung der Spielregeln zur Legitimation der Verschiebung des Fokus zu funktionieren: „Dann haben wir halt so ein anderes Mädel diskriminiert, aus Spaß so, damit […] es nicht immer die eine Person ist“ (Amina IA, 232). Geschickt befreit Amina sich aus der Rolle der (alleinigen) Adressatin diskriminierender Praktiken, indem sie sich auf offenbar allgemein gültige Spielregeln beruft. So gelingt es ihr, taktisch klug innerhalb des akzeptierten Rahmens, und damit risikoarm, zu handeln und zumindest für den Moment, die persönliche Bedrohung des Spiels zu relativieren und den anderen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Amina ergänzt dieses ‚Ablenkungsmanöver‘, mit dem sie es nicht nur schafft aus dem Objektstatus auszubrechen und damit das eigene Verletzungsrisiko zu reduzieren, sondern zudem Zugehörigkeit über das Mitmachen und also den Wechsel in die Subjektposition im ‚Spaßpraktiken‘-Kontext zu organisieren, mit einer weiteren Argumentation: Sie betont im Zuge und in Unterstützung des Verlassens der

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Opfer-Position die Vielfältigkeit ihrer Identität, ihrer sozialen Zugehörigkeiten, und relativiert so auch ihre Nicht-Dazugehörigkeitserfahrungen: „Und außerdem“, so Amina, „kann ich ja dazu- zu der Gruppe gehören, weil ich Mädchen bin und so. Hab ich auch gesagt. Und gesagt: ‚Ja, dann würde Mattis ja nicht dazugehören.‘ und so, ne. Hab ich ihr halt so, so Sachen gesagt, wo ich dann halt dazugehören würde, aber eine von denen nicht und so.“ (Amina IA, 232)

Amina vervielfältigt quasi die Ausgangssituation, macht auf unterschiedliche soziale Gruppen und damit einhergehende Zugehörigkeiten aufmerksam, die sowohl sie als auch andere in heterogener Weise betreffen. Damit betont sie, dass ihr vermeintliches ‚Anders-Sein‘ lediglich eine Frage der Perspektive, des Fokus ist, dass ihre nationale Herkunft oder ihr vermeintliches ‚Ausländer-Sein‘ sie keineswegs ausmachen. Um dies zu unterstreichen, sagt Amina ihren Mitschülerinnen „so Sachen […], wo ich dann halt dazugehören würde, aber eine von denen nicht“. Auf diese Weise dreht sie den Spieß um und hält den anderen einen Spiegel vor: Je nach Blickwinkel ändern sich auch die Zugehörigkeitsverhältnisse, ist sie unter Umständen diejenige, die dazugehört und sind die anderen die Nicht-Dazugehörigen – und damit die potenziellen Opfer für die nächste Diskriminierungs- (oder Spaß-?) Praxis. Die ironische Form des Sprechens im Rahmen einer dominanten, jugendlichen ‚Spaßpraxiskultur‘, in der nicht in ihrem Sinne zwischen legitimen jugendlichen ‚Spaßpraktiken‘ und illegitimer Diskriminierung bzw. rassistischen Inhalten unterschieden wird, stellt für Amina eine Möglichkeit dar, die ausschließlich in ihren Augen problematischen Situationen anzusprechen, ohne ihre sozialen Beziehungen, ihre fragile Zugehörigkeit in der Klasse zu gefährden. Damit ist diese Art der Artikulation ihres Unbehagens der Versuch, innerhalb der für sie übermächtig erscheinenden Verhältnisse dennoch widerständig zu handeln: die Regeln zu erfüllen und doch gleichzeitig auch zu sabotieren – eine Taktik. Ironie präsentiert sich Amina als Beobachterin hier einerseits als Produkt der Widersprüchlichkeit der Verhältnisse, als Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, quasi als Ironie der Verhältnisse (vgl. Japp 1983, 53-56), und andererseits gleichsam als Instrument, das es ihr in diesen Verhältnissen erlaubt, an den vorherrschenden Konsens bezüglich der Definition jugendkultureller Praxis anzuknüpfen und auf das eigene Erleben von Situationen, ihre Unsicherheiten und Rassismuserfahrungen aufmerksam zu machen. Und das, ohne dass sie zur anklagbaren Anklägerin wird, aber dennoch in der Hoff nung, dass verstanden wird, was sie eigentlich meint. Damit verbundenen ist ein Brechen der Kultur, die Artikulation rassistischer Bedeutungskonstruktionen als

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‚Spaß‘ zu labeln und so als Form jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ zu legitimieren, ein Stoppen diskriminierender Praktiken. Als konstitutives Merkmal der Ironie gilt, dass nicht gesagt wird, was gemeint ist (vgl. etwa die Beiträge in Aßmann/Krüger 2011). In Aminas Fall würde es wohl besser passen zu sagen, dass a) nicht all das gesagt wird, was gemeint ist, und b), dass das, was gesagt wird, zwar auch gemeint ist, dies aber in einer Art und Weise artikuliert wird, dass das Gesagte (und Gemeinte) nicht eindeutig auch als tatsächlich Gemeintes zu identifizieren ist. Ironie bleibt in diesem Sinne uneindeutig und lässt Spielraum für mögliche Interpretationen. Sie belässt die Dinge unbestimmt und ist in dieser Eigenschaft, so Britta Hoffarth und Paul Mecheril, „ein Mittel der Wahrnehmung und Artikulation von Ambivalenz, das Sicheinlassen auf Verhältnisse, für die die Gleichzeitigkeit von Ja und Nein konstitutiv ist“ (Mecheril/Hoffarth 2011, 32). In diesem Zusammenhang ist Ironie eine Einladung zur Reflexion, z.B. zur Reflexion des eigenen Handelns und der Tatsache, dass dieses sowohl in unmittelbaren als auch in gesellschaftlichen Verhältnissen stattfindet; womit auch die Notwendigkeit der Verantwortungsübernahme für das eigene Handeln sowie „zum Zusammenhalt trotz […] Differenz“ (ebd.) angesprochen ist. Häufig umschließt diese Einladung zudem eine „Handlungsofferte“ (ebd., 31). Eine ironische Aussage ist mithin „immer Einladung und Aufforderung zu einer speziellen Deutungsleistung“, ihr formaler Gehalt „kann als Einladung verstanden werden, die symbolische und soziale Ordnung in einem nicht systematischen Sinn zu ‚thematisieren‘“ (ebd., 34). Das Risiko der Ironie besteht nunmehr darin, dass sie in ihrer Intention nicht verstanden wird, oder, dass die Einladung, die mit ihr ausgesprochen wird, nicht angenommen wird. Amina bewahrt sich mithilfe der Ironie als Vehikel ihrer Kritik an dem vermeintlich selbstverständlich geltenden sozialen Sachverhalt der legitimen, rassistischen ‚Spaßpraxis‘ Zugehörigkeit und Handlungsmöglichkeiten innerhalb der sozialen Gemeinschaft des ‚Freundeskreises‘ oder der Schulklasse – und wenn es auch nur die Möglichkeit ist, ihre Wut in Sprechen, in eine Reaktion zu bringen. Solche ‚Spaß‘-Situationen der (wahrscheinlich) nicht intendierten rassistischen Ausgrenzung ernsthaft zu skandalisieren, das Wechseln von der Spaß- auf die Ernst-Ebene, bedeutete das Ausbrechen aus der im Klassenkontext allgemein gültigen Kommunikations- und Sprechpraxis. Dies wiederum würde unter Umständen bedeuten, die gültigen Spielregeln als ‚Spielverderberin‘ in Frage zu stellen und ginge zudem mit dem Risiko einher, des Rassismusvorwurfs angeklagt zu werden. Allerdings ist dies weder das, was in Aminas Augen und ihrer Definition von Diskriminierung/Rassismus zufolge zu der Situation passt – denn vermutlich handelt es sich ja ‚nur‘ um nicht-intendierte Effekte, nicht um vorsätzliche rassistische Ausgrenzung –, noch wäre ein solcher Vorwurf ihren sozialen Beziehungen in der Klasse zuträglich. Da sie, was in anderen Passagen sehr deutlich wird (vgl. z.B. Kap.

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2.4), nicht mit Verstehen und Empathie bezüglich rassistischer Effekte und Verletzungen rechnen kann, macht es für sie vermutlich auch wenig Sinn, ein solches Risiko auf sich zu nehmen und entsprechende Praktiken ernsthaft zu thematisieren. Der Rückgriff auf Ironie als subversive Taktik macht für sie daher Sinn. Jedoch stellt sich ihre Taktik, sich die Spaßpraxis-Spielregeln selbst zu eigen zu machen und zu versuchen, mittels ironisierter Anklageformulierungen, Reflexionseinladungen und spezifischer Deutungsaufforderungen innerhalb dieses machtvoll legitimierten Rahmens widerständig zu sein, um das Risiko zu vermeiden, das mit der Skandalisierung der vermeintlichen ‚Spaßpraktiken‘ und ihrer Spielregeln in Bezug auf rassistische, als ‚Spaß‘ deklarierte Handlungsweisen einherginge, als ambivalent und widersprüchlich dar: Denn Ironie als Handlungstaktik bewegt sich hier zwischen Widerstand und Anpassung. Amina kleidet ihren Widerstand in Anpassung. Infolgedessen besteht die Gefahr, dass das Widerständige der Ironie nicht erkannt oder abgelehnt wird und die Anpassung, die die Ironie auch ist, als Unterstützung der herrschenden Verhältnisse fungiert. In den konkreten Situationen geschieht offenbar häufig genau das. Aminas Taktik stellt sich im Effekt als eher schwache, in Bezug auf die angestrebten Veränderungen oftmals wirkungslose Praxis dar, die ob der Verkennung ihrer eigentlichen Intention oder dem Ausschlagen der so überbrachten Einladung zudem eher kontraproduktive Wirkungen im Hinblick auf die weitere Normalisierung diskriminierender Praktiken mit sich bringt. Der normalisierte Rahmen, die Definitionsmacht jener, die keinen Unterschied zwischen legitimen jugendlichen ‚Spaßpraktiken‘ und illegitimer rassistischer Diskriminierung machen, ist ganz offensichtlich zu machtvoll, als dass dieser durch Ironie wirkungsvoll irritiert werden könnte. Gleichwohl bietet die Ironie Amina, wie oben geschildert, die Möglichkeit, sich aktiv ins Verhältnis zur machtvollen sozialen Ordnung zu setzen und ihr gegenüber subversiv zu handeln, indem sie diese mittels ironisierter Intervention trotz der herausfordernden Verhältnisse in der Hoffnung auf Veränderung zu kritisieren versucht. „Ironie“, so bemerkt Thomas Barfuss, wie ich finde passend,72 „zielt auf subjektive Beweglichkeit unter schwierigen Bedingungen. Dabei ist es primär […] die blockierende Anordnung, das Dispositiv des gesellschaftlichen Ganzen mit seinen Einräumungen und Ausgrenzungen, das der Kritik unterzogen werden muss, nicht die Beweglichkeit des Subjekts. Allerdings trennt eine solche grobe Richtungsangabe, was in Wirklichkeit nicht zu trennen ist: die Subjektivierung von ihren gesellschaftlichen Bedingungen“ (Barfuss 2003, 716). Kontrastierend möchte ich, dieses Kapitel abschließend, bemerken, dass Milots widerständiges Handeln gegenüber rassistischen Praktiken, die als ‚Spaß‘ gelabelt werden, sich sehr viel direkter und einfacher liest; was wohl auch an den Bedingungen liegt, die in seinem Fall anders aussehen als bei Amina. Im Gegensatz zu ihr 72 Obwohl er sich dabei auf ein gänzlich anderes Thema, nämlich Praktiken des Konsums im Kapitalismus bezieht.

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fühlt er sich in seiner Klasse generell wohl und hat zudem das Glück, diese gemeinsam mit seinem besten Freund zu besuchen. Vermutlich ist es auch dieser Hintergrund, der sein Handlungskonzept um einiges weniger kompliziert erscheinen lässt: „Also dann, irgendwann ist das einfach zu viel“, so Milot, auf als ‚Spaß‘ deklarierte Praktiken Bezug nehmend, die an Bedeutungskonstruktionen rassistischer Unterscheidung anschließen und in seinen Augen nicht spaßig sind, „dann fangen wir auch halt an die zu beleidigen oder so, dann hören die meist auf, oder-“, so fährt er mit der zweiten Handlungsvariante fort, „wenn das ganz extrem ist, dann werde ich so richtig wütend und so und dann sag ich denen das auch, dass die damit aufhören sollen, dann klappt das meistens“ (Milot IM, 29). 2.6 Rassismus als verschwiegene Erfahrung Die im vorherigen Kapitel geschilderten Erfahrungen äußern sich als Rassismusverdacht, der auf soziale Interaktionen zwischen Jugendlichen Bezug nimmt und über den kaum gesprochen wird. In den erfahrenen Situationen kommt ein Spannungsverhältnis zum Ausdruck, das durch (‚eigentliche‘ bzw. prekäre) Zugehörigkeit auf der einen bei gleichzeitiger Erfahrung von Zuschreibung und Ausgrenzung auf der anderen Seite gekennzeichnet ist. In diesem Rahmen ist es weder möglich, die als unangemessen und ausgrenzend empfundenen Handlungen als intendierte oder als nicht-intendierte, als ernst oder als nicht ernst gemeinte Praxis zu bestimmen, noch risikofrei, über das Erfahrene zu sprechen. Unsicherheiten in der Deutung von Erfahrenem und der Konstruktion von möglichen Zusammenhängen sowie damit einhergehende Handlungsherausforderungen wie in diesen Beispielen ziehen sich durch das gesamte Datenmaterial. Die Thematisierung von als rassistisch, als ausgrenzend und diskriminierend empfundenen Handlungsweisen, so wird deutlich, erscheint Jugendlichen aus unterschiedlichen Gründen oftmals nicht legitim und/oder (zu) risikoreich – und zwar sowohl gegenüber jenen, die Teil der Situation sind, als auch gegenüber Dritten. Dies deutet sich bereits in der anfänglichen Begriffs- und Gegenstandsbestimmung während der ersten Gruppendiskussion an, in der ein Verständnis von Diskriminierung bzw. Rassismus offenbar wird, das diese/n mehrheitlich als intentionalen Akt begreift, der mit einer Verletzungsabsicht einhergeht. Bezüglich der Thematisierung von Diskriminierungserfahrungen während der Forschungswerkstatt ist dann festzustellen, dass es offenbar sowohl den Mädchen als auch den Jungen leichter fällt oder naheliegender erscheint, über ‚manifeste‘, gemäß ihrer Definition, relativ ‚offensichtliche‘ Diskriminierungssituationen zu sprechen bzw. eben diese als solche zu kategorisieren.73 ‚Sicher‘ und direkt als Rassismus/Diskriminierung thematisiert werden vor73 Es kann zudem durchaus auch sein, dass ein Zusammenhang zwischen berichteten Situationen und mir als Forscherin besteht: Entweder insofern, als Jugendliche aufgrund ihrer

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nehmlich Situationen, in denen a) absichtsvolle körperliche und/oder verbale Gewalt eine Rolle spielt, b) eine gemeinsame, geteilte Erfahrung, etwa im Hinblick auf die Konfrontation mit Zuschreibungen, eher abstrakt geschildert wird oder c) die Begründung für erfahrene Diskriminierung von Handelnden expliziert wird bzw. der Bezug zu diskriminierenden Zuschreibungen und Bedeutungskonstruktionen sehr deutlich ist. Von Erfahrungen, die nicht in eine dieser Kategorien passen, wird nur sehr vorsichtig und meist ohne explizit auf Deutungen Bezug zu nehmen, die auf Diskriminierung/Rassismus verweisen, berichtet. Ich gehe daher davon aus, dass insbesondere subtile Rassismuserfahrungen – etwa Erfahrungen, die auf einem nicht zu belegenden und daher kaum (mit) zu teilenden Verdacht beruhen – zwar einen Großteil ihrer Erfahrungen ausmachen, insgesamt, und also auch in meinem Material, jedoch verhältnismäßig wenig artikuliert werden. 74 Aber nicht nur über subtilen Rassismus wird geschwiegen. Auch manifeste, explizit rassistisch begründete Diskriminierung kommt aus vielfältigen Gründen nicht direkt zur Sprache. Ähnlich wie im vorangegangenen Abschnitt zeichnen sich auch die im vorliegenden Abschnitt aufgegriffenen Erzählungen von Jugendlichen dadurch aus, dass zwar Rassismuserfahrungen zur Sprache kommen, diese aber nicht selbstverständlich als solche geschildert werden. Ich möchte mich im Folgenden zum einen auf eben diese Nicht-Artikulationen, das mit Rassismus verbundene Schweigen konErwartungserwartungen hinsichtlich meines Forschungsinteresses nur von jenen Situationen berichten, von denen sie glauben, dass ich zu diesen etwas erfahren möchte, oder dass sie von bestimmten Situationen aufgrund meiner sozialen Zugehörigkeit zur Kategorie jener, für die andere Formen rassistischer Diskriminierung ihrer Erfahrung zufolge ge meinhin unsichtbar bleiben und nicht nachvollzogen und verstanden werden, nicht berichten. Jedoch halte ich insbesondere letztere Begründung zum einen aufgrund der ge meinsamen ‚Vorarbeit‘ und des Verhältnisses zueinander, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass die Studien von Essed (1991), Terkessidis (2004) und Melter (2006) zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der thematisierten ‚Fälle‘ kommen und mit Blick auf die Kontinuität, mit der von den Jugendlichen nur bestimmte Situationen direkt und deutlich als Diskriminierung thematisiert werden, für eher unwahrscheinlich. (Im Falle zweier Schilderungen von Samir und Jamil, die im Folgenden zentral stehen, war ich zudem nicht anwesend, als sie diese erzählten. Stattdessen sprachen sie im Kreis von Vertrauten und ebenfalls Rassismus erfahrenden jungen Männern). Daher führe ich dies vor allem auf den dominanten Diskursrahmen zurück, innerhalb dessen Rassismus in Deutschland öffentlich verhandelt wird sowie auf das sich aus diesem ergebende, bei den Jugendlichen (und bei anderen) (nicht) vorhandene und explizierbare Erklärungswissen. 74 Sowohl Essed (1984, 1991) als auch Terkessidis (2004), Melter (2006) und Schramkow ski (2007) berichten davon, dass Interviewpartnerinnen und -partner auf die Frage nach Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen sagten, sie würden keine machen, um im Gespräch dann ausführlich von diskriminierenden Erlebnissen zu berichten.

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zentrieren, zum anderen auf die verschiedenen Weisen und Taktiken des verdeckten und impliziten Artikulierens der Erfahrung mit Rassismus. In den Erlebnissen, um die es im Folgenden gehen soll, wird Rassismus im doppelten, aufeinander verweisenden Sinne verschwiegen: Zum einen wird über die Erfahrung mit Rassismus, der sich den betroffenen Jugendlichen häufig als vage, latent und undeutlich präsentiert, geschwiegen; zum anderen werden auch die Bedeutungskonstruktionen, die einem benachteiligenden, ausgrenzenden, (vermutlich) rassistischen Handeln auf Seiten der Handelnden zugrunde liegen, verschwiegen. Es geht also gewissermaßen um die unausgesprochene Erfahrung mit etwas Unausgesprochenem, um eine doppelte Lücke. Bezüglich dieses doppelten Schweigens wird nun der Versuch unternommen, sowohl die Lücken, das unvollständig Ausgesprochene, das Unausgesprochene, das Nicht-Artikulierte in der Perspektive der Jugendlichen zu rekonstruieren als auch die Bedingungen, die diese Lücken ermöglichen oder nahe legen. Dazu folgen im Anschluss an eine relativ knappe Schilderung der Deutung des Verhaltens eines Lehrers von Amina drei ausführliche Analysen aus den Lebenswelten von Samir und von Jamil, anhand derer verschiedene Varianten des verdeckten Sprechens beschrieben und die Gründe für das Schweigen bzw. indirekte Sprechen der Jugendlichen über Rassismuserfahrungen rekonstruiert werden, um so auch die Möglichkeitsbedingungen, die Möglichkeitsräume des (Nicht-)Sprechens zu rekonstruieren. Im Unterschied zu den vorangegangenen Kapiteln wird es hier keine das Kapitel abschließende Zusammenfassung der Deutungs- und Handlungsherausforderungen geben. Stattdessen werden ausführlichere Theoretisierungen innerhalb des Unterkapitels Raum bekommen und eine Zusammenfassung, insbesondere auch in Form der Darstellung der Möglichkeitsbedingungen im Hinblick auf das Sprechen über Rassismuserfahrungen, im Fazit dieser Arbeit erfolgen. ‚Ich kann mir bei einem Lehrer denken, dass er was gegen mich hat‘ Amina berichtet, zunächst abstrakt und ohne auf eine konkrete persönliche Erfahrung mit einem Lehrer Bezug zu nehmen, allgemein von „Lehrern“, die „einen, aus dem Grund, dass du halt .. irgendwie Ausländerin bist oder so, scheiße behandeln“ (Amina IA, 136). Dass es diese Lehrer gibt, so scheint es angesichts dieser klaren Aussage, steht außer Frage. Jedoch ist es im Konkreten schwierig, dies zu beweisen, weil dieser Grund als Grund für Ungleichbehandlung durch Lehrerinnen und Lehrer nicht expliziert wird. Ohne Explikation jedoch gibt es auch keine Beweise, bleibt es bei einem Rassismusverdacht, der lediglich durch andere, die Ähnliches erleben, bestätigt, jedoch nicht bewiesen werden kann. Die Erfahrung von subtilem Rassismus und das Vermuten rassistischer Benachteiligung verbleiben als geteiltes Wissen deshalb höchstens im Kreis der Rassismus-Erfahrenden. „Ich zum Beispiel“, so Amina,

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„kann […] mir bei einem Lehrer denken, dass er was gegen mich hat und so. Aber ich sage es niemandem so, ich sag: ‚Ja, ich weiß es nicht‘, kann ich ja nicht bestätigen. Hat er auch nie gesagt, dass er was gegen mich hat. Wäre auch so ein Vorurteil, wenn ich sagen würde. Aber .. man kann sich denken. Und wenn man von anderen hört und so, dann kann man sich erst recht denken: ‚Ja, okay, dann kann es wirklich daran liegen.‘ Es- gibt es so eine Bestätigung.“ (Amina IA, 136)

Amina sieht sich außerstande, ihr subjektives Erleben, ihren Verdacht mit anderen als mit jenen zu teilen, die die gleichen Erfahrungen machen, die, „wenn man sich ungerecht [behandelt] fühlt […] einen halt verstehen [können]“ (Amina IA, 134). 75 Für jene, die diese Erfahrungen nicht machen, davon geht Amina aus, wäre ihr Erleben kaum nachvollziehbar (vgl. Amina IA, 140). Aus Angst, falsche Anschuldigungen zu machen, weil sie ihren Verdacht nicht beweisen kann und unbedingt ‚Vorurteile‘ vermeiden möchte, erzählt sie sonst niemandem davon. Amina vermag den „Grund auch gar nicht so [zu] nennen“ (Amina IA, 140), kann nicht eindeutig sagen, „warum er gegen mich […] was hat“ (Amina IA, 140) und würde sich stattdessen eigentlich Gewissheit wünschen: „Ich würde es gerne wissen!“ (Amina IA, 140). Allerdings ist es nicht einfach, Gewissheit zu erlangen, denn die direkte Frage an den Lehrer würde zum einen wohl kaum dazu führen, dass dieser eine so begründete Ungleichbehandlung zugeben würde, zum anderen, so ihre Vermutung, würde eine Konfrontation mit ihrem Rassismusverdacht zu einer Verschlechterung der Situation führen, denn dann „würde er [der Lehrer, W.S.] erst recht was gegen mich haben“ (Amina IA, 140). Was ihr bleibt, sind lediglich Indizien. Nach dem Ausschlussverfahren sucht Amina nach anderen möglichen Gründen für ihre Behandlung durch den Lehrer. Rassismus scheint die letzte ihr verbleibende Möglichkeit zu sein, ihr Erleben zu erklären: „[I]ch weiß nicht, wenn er sagen würde: ‚Ja, in Mathe bist du schlecht.‘ Und deswegen. Und er mag die schlechten Schüler nicht. Ich bin ein normaler Schüler. Also, ich bin nicht immer gut, aber ich bin auch nicht immer schlecht. […] Und wenn er sagen würde, ich würde stören. Ich bin auch so eine, die immer total ruhig ist im Unterricht, und immer eine, die aufpasst und mitschreibt. Kann man eigentlich auch nicht sagen, dass ich so eine bin, dass ich deswegen, weil ich so Krawall mache .. Kann man sich eigentlich nicht denken warum eigentlich. .. Ja, ich war auch noch nie frech zu ihm oder so, dass man auch so denken würde: ‚Ja, deswegen‘ und so. Aber er war schon gleich am Anfang so ziemlich komisch zu mir, ich weiß nicht.“ (Amina IA, 144)

75 Jene anderen, von denen Amina hier spricht, sind die Schülerinnen, die sich in der Cafe teria am sogenannten ‚schwarzen Tisch‘ treffen (vgl. Kap. 2.1).

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Rassismus, so scheint es, ist – zumindest mir gegenüber – erst dann ein legitimes Deutungsmuster, wenn alle anderen Begründungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden können. Aminas Schilderung verweist auf Bedingungen, die Rassismus nicht oder nur sehr schwer besprechbar machen. Einen Rassismusverdacht auszusprechen ist keine leichtfertige Angelegenheit. Auch im Gespräch mit mir, zu der sie, so meine Einschätzung, Vertrauen hat, mit der sie bereits intensiv über Rassismuserfahrungen gesprochen hat und die ihren Lehrer nicht kennt, die jedoch selber auch keine Rassismuserfahrungen machen muss, bleibt der Begriff ‚Rassismus‘ unausgesprochen – obwohl deutlich ist, worum es geht. 76 Ein ‚Rassismus ohne Beweise‘, wie er den Jugendlichen in unterschiedlicher Form in ihrem Alltag begegnet – z.B. auch in der Form von als ‚Spaß‘ gelabelten und/oder codierten Praktiken, bei denen es sich den dominanten Konventionen der Sprechgemeinschaft zufolge lediglich um eine legitime Form jugendlicher ‚Spaßpraxis‘ handelt –, präsentiert sich als subtiles, schwer nachweisbares und zu besprechendes, vor allem subjektiv empfundenes, zuweilen diffuses Phänomen. Die Zwickmühle, in der Amina sich befindet, wird deutlich: Ihr Erleben und ihre Deutungen der als benachteiligend empfundenen Situationen mit ihrem Mathelehrer sind für sie einengend, sie fühlt sich „scheiße behandel[t]“. Für andere in ihrer Klasse jedoch ist dieses Erleben eines subtilen Rassismus offenbar nicht sichtbar, und da sie keine ‚Beweise‘ im Sinne des vorhandenen generellen Wissens zu Rassismus, sondern lediglich ein Gefühl hat, schweigt sie in der Regel über ihre Er fahrungen, lässt sich lediglich von jenen, die in einer ähnlichen Position sind, bestätigen, dass ihre Deutung keineswegs haltlos ist. Solange sie keine ‚Beweise‘ hat, sieht Amina sich nicht in der Lage, gegen die ‚gefühlte‘ Ungleichbehandlung vorzugehen. Aus ihrer Position heraus, als einzige Schülerin mit Rassismuserfahrungen gegenüber einem Lehrer, den sie der rassistischen Benachteiligung verdächtigt, ist es ihr kaum möglich, Handlungsoptionen jenseits des Suchens nach Bestätigung und Selbstvergewisserung durch andere Betroffene zu sehen.77

76 Ob Amina ihren Rassismusverdacht sich selbst oder mir oder uns beiden gegenüber durch das Mittel des Ausschlussverfahrens legitimiert, kann nicht eindeutig geklärt werden. 77 Darüber hinaus kann ich mir vorstellen, dass ein beständiges Gefühl der Unsicherheit, der Skepsis und des Verdachts überaus anstrengend ist und Eindeutigkeit, auch aufgrund ei ner dann anderen Handlungsgrundlage, zuweilen sogar besser zu ertragen ist. Und zwar auch dann, wenn eine solche Vergewisserung potenziell zugleich eine schmerzhafte Realität schonungslos und relativ unumstößlich ans Licht bringt. Dennoch ist häufig eher das Gegenteil festzustellen: die Angst vor der Eindeutigkeit einer möglichen Antwort auf die Frage nach den Begründungen für eine ausgrenzende, benachteiligende Praxis.

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‚Diskriminierung, aber halt nicht mit Gewalt‘ Samir berichtet von Beobachtungen bzw. Erfahrungen in der Schule, die er zwar deutlich als Diskriminierung klassifiziert, die für ihn aber dennoch mit großen Herausforderungen des Verstehens und vor allem des Sprechens einhergehen. Im vorliegenden Kapitel konzentriere ich mich zunächst vor allem auf die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens, die hier deutlich werden, sowie auf die Umgangsweisen mit diesen. Am Ende dieses Kapitels wende ich mich zudem in einem Exkurs den vielfältigen Verweisen auf den Bildungsdiskurs sowie Formen institutioneller Diskriminierung in der Schule zu, die im Zuge der deutenden Auseinandersetzung mit der von Samir geschilderten Situation in der Gruppe, aber auch in den Schilderun gen anderer Jugendlicher deutlich werden. Samirs Erzählung ist Teil der Gruppendiskussion, die am letzten Tag der Forschungswerkstatt unter den Jungen stattfindet und von Ahmet moderiert wird. Ahmet initiiert die Diskussion, indem er zunächst einen Blick auf die vergangenen Tage wirft und relativ ausführlich darauf aufmerksam macht, dass das Thema Gewalt bisher viel Raum in den Auseinandersetzungen der Jungs eingenommen hat. Relativ unvermittelt leitet er dann die Diskussion mit einem nur kurzen Satz ein: „Habt ihr darüber hinaus noch, und da bitte ich euch untereinander zu diskutieren, so zum Thema Ungleichbehandlung, auch Beispiele?“ (Interviewer GD2J, 8) Ahmet fragt also nach Erfahrungen von Ungleichbehandlung, die nicht mit Gewalt – bzw. nicht mit körperlicher und verbaler Gewalt in Form von Beleidigungen, wie sie bisher von den Jungen thematisiert wurden – zu tun haben. Im Mittelpunkt der folgenden Diskussion, so Ahmet, sollen Erfahrungen der Ungleichbehandlung stehen, die sich nicht durch offensichtlich gewaltvolles Handeln auszeichnen. Trotz der recht komplexen Einleitung kommt Samir, kaum dass Ahmet seine Frage formuliert hat, seiner Aufforderung nach. Er antwortet mit einem Beispiel aus der Schule und versichert (sich und den anderen) während des Erzählens, dass diese Situation tatsächlich „nichts mit Gewalt zu tun [hat]“ (Samir GD2J, 11): Samir:

„Ja, zum Beispiel an der Schule, ein Lehrer, wir s- zum Beispiel ein Ausländer ist in der Klasse, das kam auch schon vor, muss ja- muss ich Namen nennen oder?“

Interviewer: Samir:

„Nö, musste /nicht/“ „/Nicht un/bedingt, ne? Kam schon vor, ein Schüler in der Klasse, das hat ja dann nichts mit Gewalt zu tun wenn die .. sag ich mal, die Deut schen, die Inländer, fragen irgendwie Fragen stellen oder so, dann, wird die vom Lehrer beantwortet, dem wird geholfen und so. Wenn ein Ausländer fragt, dann wird nicht geholfen. Zum Beispiel: ‚Ja, musst du selber zu Hause nochmal nachgucken‘ oder so. Wird nicht erklärt wie bei Anderen. Das ist zum Bei spiel auch Diskriminierung, aber halt nicht mit Gewalt.“ (GD2J, 9-11)

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Die Mehr-Minderheitsverhältnisse, die Samir in seinem Beispiel beschreibt, zeigen, wie in anderen Beispielen zuvor, ein Bild, das eine Übermacht von ‚Deutschen‘ einem einzelnen als ‚nicht-deutsch‘, als „Ausländer“ markierten Schüler gegenüber stellt. Er berichtet von der Ungleichbehandlung von „Deutschen“ bzw. „Inländer[n]“ und einem „Ausländer“ durch den Lehrer, wenn diese im Unterricht Fragen haben: Während die Fragen der ersten Gruppe „vom Lehrer beantwortet“ werden und ihnen „geholfen“ wird, wird, „[w]enn ein Ausländer fragt, […] nicht geholfen“, sondern stattdessen „zum Beispiel“ gesagt: „[M]usst du selber zu Hause noch mal nachgucken“ (Samir GD2J, 11), also dazu aufgefordert, sich zu Hause selber zu helfen. Die Verantwortung für die Vermittlung von nicht Verstandenem oder die Beantwortung offener Fragen übernimmt der Lehrer in Samirs Erzählung nur im Falle der „Deutschen“. Im Falle des fragenden ‚Ausländers‘, so Samir, würde dieser dem so kategorisierten Schüler diese Verantwortung übertragen und seine Aufgabe als Lehrer, als ‚Wissensvermittler‘ oder ‚Lernunterstützer‘ nicht wahrnehmen. In Samirs Beispiel der vermeintlich ‚gewaltfreien‘ Ungleichbehandlung geht es um die Gewährung bzw. Verwehrung von Unterstützung und also um Chancengleichheit bzw. -ungleichheit bei der Aneignung von Wissen – und damit einhergehend auch um Bildungserfolg, der in diesem Kontext in Form von Noten gemessen wird, die machtvoll den weiteren Bildungsweg mitbestimmen. Darüber hinaus geht es aber auch um die Anerkennung und das Ernstnehmen von Schülerinnen und Schülern. Mit der Verweigerung von Hilfe und Unterstützung – noch dazu solcher, für die ein Lehrer doch eigentlich primär die Verantwortung zu tragen hätte – verweigert der Lehrer in Samirs Erzählung dem betreffenden Schüler nicht nur die ihm zustehende Unterstützung, es ist zudem ein Akt der Ignoranz und des Alleine-Lassens, seines Ausschlusses aus dem Lehr-Lernbündnis. Es handelt sich bei Samirs Beispiel also um eine manifeste Benachteiligung; jedoch bleibt die geschilderte Ausgrenzungspraxis dennoch insofern subtil, als sie auf einer subjektiv wahrgenommenen Ungleichbehandlung basiert, etwaige Gründe werden vom Lehrer nicht expliziert. Die von Samir formulierte, eine Antwort verweigernde Reaktion des Lehrers auf die Frage eines als „Ausländer“ markierten Schülers, er solle noch mal zu Hause nachgucken, klingt im Gegenteil sogar recht freundlich, nicht beleidigend oder aggressiv und impliziert keineswegs eine benachteiligende Intention. Obgleich Samir die Situation deutlich als Diskriminierung markiert, ist sie daher dennoch um ein Vielfaches weniger offensichtlich als Diskriminierungsbeispiele, wie sie von den Jungen bis dato vornehmlich thematisiert wurden, und von denen diese Situation bewusst abgegrenzt wird: Situationen, in denen körperliche Gewalt und Beleidigung eine zentrale Rolle spielen. Trotz des latenten Charakters, der vermeintlichen Freundlichkeit und der Subtilität, mit der die Ungleichbehandlung von einem bestimmten Schüler realisiert wird, handelt es sich hier in Samirs Augen doch eindeutig „auch [um] Diskriminierung, aber halt nicht mit Gewalt“ (Samir GD2J, 11).

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Samirs Sprecherposition An der zitierten Passage fällt zunächst auf, dass Samir in seiner Positionierung zu dem Geschehen, von dem er berichtet, schwankt. Es scheint, als suche er in gewisser Weise nach dem ‚angemessenen Abstand‘, den er selbst als Erzähler der Sequenz zu ihrem Inhalt einnehmen möchte: Die Tatsache, dass Samir ohne zu zögern an Ahmets Aufforderung anknüpft und sein ‚Beispiel‘ mit einem bestätigenden und erkennenden „Ja“ beginnt, bringt zum Ausdruck, dass ihm unmittelbar eine Situation einfällt, die zu Ahmets Frage passt, und diese ihm sehr präsent ist. Er führt wei ter aus: „[Z]um Beispiel an der Schule, ein Lehrer, wir s-“, und dort, nach dem schnellen Einstieg in die Situation, die ihm nah und präsent zu sein scheint, bremst Samir die Erzählung ab und hebt seinen Redebeitrag auf eine abstraktere und distanziertere Ebene, wenn er fortfährt: „[Z]um Beispiel ein Ausländer ist in der Klasse“. Auf das „wir“ folgt zunächst eine Unterbrechung des Satzes und dann ein Fortführen der Erzählung, in der nun nicht mehr von einem ihn integrierenden „wir“, nicht von ‚meiner‘ oder ‚unserer‘ Klasse die Rede ist, sondern, so macht es im Kon trast zunächst den Eindruck, beispielhaft verallgemeinert von „der“ Klasse. Die Schulklasse, um die es in der Erzählung geht, scheint zu einer beliebigen zu werden und rückt so weiter von Samir weg. Jedoch ist das „der“, der bestimmte Artikel, immer noch ein Hinweis darauf, dass es sich um eine bestimmte, nicht nur um ‚(irgend-)eine‘ Klasse handelt. Indem Samir sich im weiteren Verlauf der Erzählung als Teil der beschriebenen Situation ausnimmt, nimmt er automatisch eine distanziertere Position zum Geschehen ein. Der plötzliche Wechsel von einer konkreten zu einer abstrakteren Ebene legt die Vermutung nahe, dass es sich hier um eine Entscheidung zur Distanzierung handelt. Samir scheint sich auch bewusst zu sein, dass die – vermutlich intendierte – Distanzierung durch seine Sprechweise im – vermutlich nicht-intendierten – Nebeneffekt auch dazu führen könnte, dass Zuhörende vermuten, es handle sich um ein fiktives Beispiel. Dies mag der Grund sein, warum er deutlich betont, dass es sich keineswegs um ein erdachtes Beispiel handelt, indem er zweimal darauf hinweist, dass das, was er zu berichten hat, tatsächlich ‚schon vorkam‘ und er die Geschichte personalisieren und mit Namen belegen könnte, wenn er müsste. Samir entschließt sich offenbar, die Situation aus der Rolle eines Beobachters zu beschreiben. Er thematisiert sich selbst nicht als Beteiligten; jedoch weisen die Spontaneität der Aussage, das „wir“, nach dem die sich selbst involvierende Rede plötzlich abgebrochen wird, der wiederholte Hinweis auf den Wahrheitsgehalt seines Berichtes sowie die in die Schilderung eingeflochtene wörtliche Rede des Lehrers darauf hin, dass Samir selbst Teil der Geschichte ist. Dieser Verdacht erhärtet sich an späterer Stelle des Gesprächs, als Jamil Samir im Zuge des Nachdenkens über mögliche Gründe für das Handeln des Lehrers sehr selbstverständlich fragt: „Bist du dir sicher, dass er das so meint? Vielleicht denkt er auch, du willst gar nicht

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lernen, du fragst jetzt einfach so, da- damit du ihn verarschst“ (Jamil GD2J, 25). Und auch Milot spricht ihn im Anschluss an Jamils Frage direkt an: „[D]amit er denkt du wolltest was zu- dazu beitragen“ (Milot GD2J, 26). Samir wehrt sich nicht gegen die Ansprachen der Jungen, die ihn ohne Umschweife als den Fragenden in seiner Erzählung identifizieren, sondern beteiligt sich ohne Widerspruch, eher als sei es ihm nicht aufgefallen, weiter an der Kommunikation über die von ihm geschilderte Situation. Ich gehe daher davon aus, dass Jamil und Milot mit ihrer sehr selbstverständlich geäußerten, nicht fragenden, sondern feststellenden Identifikation Samirs als Hauptperson der Erzählung sehr wahrscheinlich richtig liegen. Damit stellt sich die Frage, warum Samir sich bemüht, eine möglichst große Distanz zwischen sich selbst als Person und dem geschilderten Ereignis aufzubauen, indem er eine verallgemeinernde, passive Sprache benutzt. Verallgemeinerte Kontextbestimmung: Die De-Thematisierung von Rassismuserfahrungen Die von Samir geschilderte Episode gehört, wie auch die in den letzten beiden Abschnitten thematisierten Situationen, zu jenen Szenen von Rassismus, die nicht selbstverständlich als solche geschildert werden. Sie steht für ähnliche andere, in denen eher die Analyse des Kontextes, in dem die Erzählung stattfindet, darauf verweist, dass bei den erzählenden Jugendlichen der dringende Verdacht besteht, das Erlebte, eine Ungleichbehandlung oder ein (häufig diffuses) Gefühl der Ausgrenzung seien auf ihre Kategorisierung als vermeintlich ‚nicht-deutsch‘ und damit in Zusammenhang stehende Zuschreibungen zurückzuführen. Solange es aber an ‚Beweisen‘ mangelt, der Verdacht nicht objektiviert werden und nicht damit gerechnet werden kann, von anderen Verständnis zu erfahren, sind die Jugendlichen überaus zurückhaltend mit Deutungen, die auf rassistische Begründungsmuster bzw. soziale Bedeutungskonstruktionen verweisen, die Ausgrenzung und Diskriminierung mit ihrem vermeintlichen ‚Anders-Sein‘ legitimieren. Ein gewichtiger Grund hierfür ist vermutlich die Erfahrung, dass insbesondere solche eher subtilen, subjektiven Erfahrungen der Unterscheidung und der Ungleichbehandlung, werden sie mit Rassismus in Zusammenhang gebracht, von außen hinterfragt, abgewiegelt und bagatellisiert werden, anstatt dass sie als rassistische Erfahrung ernst genommen werden. Und dies geschieht nicht nur auf der Ebene öffentlicher Diskurse, bezüglich derer Messerschmidt konstatiert, dass das Benennen rassistischer Praktiken und Erfahrungen häufig nicht zu einer Skandalisierung des Rassismus, sondern zu einer Skandalisierung der Kategorisierung dieser als rassistisch führt (vgl. Messerschmidt 2010, 42), sondern auch auf der Ebene der direkten Interaktionen, wie auch in dieser Arbeit anhand vorausgegangener Analysen bereits deutlich wurde (vgl. auch Essed 1991, 289; Terkessidis 2004; Melter 2006). Auch hier finden individuelle Reaktionen der Abwehr statt, verweigern Men-

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schen, die selbst keine Rassismuserfahrungen machen, die reflektierte Auseinandersetzung mit berichteten Rassismuserfahrungen – und das auch dann, wenn sie selbst nicht persönlich angesprochen sind. Diese Beobachtung Messerschmidts, die sich auf Erfahrungen mit Studierenden der Pädagogik in Hochschulseminaren bezieht (vgl. Messerschmidt 2010, 43f.), wird auch von anderen Autorinnen und Autoren beschrieben: Dass Abwehrreaktionen wie etwa Bagatellisierung, Infragestellung, Umdeutung oder auch eine Täter-Opfer-Umkehrung Reaktionsweisen auf Rassismuserfahrungen von Pädagoginnen und Pädagogen sind, konnte Melter (2006) in seiner Untersuchung in der Jugendhilfe belegen. Vergleichbare Abwehrreaktionen stellen Mecheril und Castro Varela in der Reflexion eines Workshops mit Fachkräften der „Migranten-Sozialberatung“ fest (vgl. Mecheril 2005, 464f.). Scharathow und Leiprecht (vgl. Scharathow/Leiprecht 2011) können in der Reflexion von Erfahrungen in Fortbildungen mit Pädagoginnen und Pädagogen bzw. Lehrerinnen und Lehrern sowie einer Veranstaltung mit Politikerinnen und Politikern ebenfalls vielfältige Abwehrreaktionen ausmachen. Und auch in Gruppendiskussionen, die Dilafruz Iskandarova mit Lehrerinnen und Lehrern im Rahmen ihrer Untersuchung zu „Wahrnehmungen und Sichtweisen von Lehrerinnen und Lehrern […] zu Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen“ geführt hat, kommen verschiedene Abwehrreaktionen deutlich zum Ausdruck (vgl. Iskandarova 2011). Leiprecht konnte abwehrende und umdeutende Erklärungsmodelle für Rassismus wie jenes der Opfer-Täter-Umkehr in seiner Untersuchung mit Jugendlichen in Deutschland und den Niederlanden feststellen (Leiprecht 2001).78 Messerschmidt interpretiert solche abwehrenden Reaktions- und Umgangsweisen mit Rassismuserfahrungen als angelegt in einem fehlenden reflexiven Verständnis von Rassismus als einem gesellschaftlichen Verhältnis: „Ich möchte das so deuten, dass darin eine Ahnung von der strukturellen Präsenz von Rassismus ausgedrückt wird, die aber als unreflektierte und nicht artikulierte in der Form rhetorischer Zurückweisung auftritt. Würde das Gefühl, selbst in einem gesellschaftlich verankerten strukturellen Rassismus involviert zu sein, formuliert, könnte eine Auseinandersetzung damit stattfinden“ (Messerschmidt 2010, 43). Diese Interpretation ist quasi analog zu meiner, aber auch zu Esseds (1991), Terkessidis (2004) und Melters (2006) Interpretation der verkürzten Deutungen von Rassismus bzw. des fehlenden (Erklärungs-)Wissens zu Rassismus zu lesen. Statt den Rassismus zu skandalisieren, wird die Benennung von Erfahrungen und Phänomenen als rassistisch skandalisiert, womit das Hinweisen auf Rassismus problematisiert wird und nicht der Rassismus: Nicht nur die eigene Involviertheit in rassistische Verhältnisse, son-

78 Melter beschreibt diese Form der indirekten Unterstützung von Rassismus durch Abwehr in Anlehnung an Judith Lichtenberg und sekundären Antisemitismus als sekundären Rassismus (vgl. Melter 2006, 311ff.).

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dern Rassismus als Teil gesellschaftlicher Verhältnisse und Normalität, Rassismus als genuiner Bestandteil von Lebenswirklichkeiten wird so ausgeblendet. 79 Statt also Rassismuserfahrungen, auch als Teil gesellschaftlicher Realität, ernst zu nehmen und sich mit ihnen bzw. der eigenen Involviertheit in diese auseinanderzusetzen, so wird sowohl in den Erzählungen der Jugendlichen als auch in den Re flexionen und Untersuchungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern deutlich, werden Rassismuserfahrungen abgewehrt. Häufig wird die Begründung für Rassismuserfahrungen gar im Verhalten der Diskriminierten selbst gesucht: nach dem Motto: ‚Irgendetwas musst du doch gemacht haben, dass du so eine Behandlung/Reaktion erfährst.‘ Eine Opfer-Täter-Umkehr: Diskriminierten wird unterstellt, sie hätten sich falsch verhalten, gestört, provoziert usw., oder der sozialen Gruppe, der einzelne zugeordnet werden, werden verallgemeinert legitimierende Eigenschaften zugeschrieben. Insbesondere in alltäglichen Situationen, die nicht von den mit Rassismus üblicherweise verbundenen Gewaltphantasien bzw. -erfahrungen gekennzeichnet sind, in der stereotype Zuschreibungen als Handlungsprämissen nicht expliziert werden, welche Rassismus unter Umständen vielleicht noch als Rassismus akzeptiert benennbar machen, sind diese abwehrenden Deutungsmuster virulent – und zwar nicht nur bei jenen, die von Rassismus privilegiert sind, son dern auch bei jenen, die durch ihn benachteiligt sind. Es handelt sich um ein Deu tungsangebot, auf das auch die Jugendlichen selbst in dem Versuch, sich Erfahrenes bzw. das diskriminierende Handeln anderer zu erklären, zurückgreifen, wie beispielsweise in Kapitel 2.2 und 2.3 zu sehen war; und wie auch in Samirs Beispiel noch zu sehen sein wird. Da Rassismus in der Regel nicht als alltägliches Phänomen verstanden wird, das auch ‚unbeabsichtigt‘ wirkungsvoll ist, wird Rassismus als Erklärung kaum in Betracht gezogen und nach anderen Erklärungsmöglichkeiten gesucht. Vor diesem (Erfahrungs-)Hintergrund wird die rassistische Ungleichbehandlung, von der Samir berichtet, nur sehr schwer thematisierbar. Denn ihre direkte Thematisierung ist risikoreich. Liefe er doch Gefahr, nicht ernst genommen zu werden und stattdessen selbst mit dem eigenen Verhalten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt zu werden. Statt Reflexivität auf Seiten des Lehrers, statt Solidarität und Empathie von Mitschülern und -schülerinnen sowie den Teilnehmenden der Gruppendiskussion stünde womöglich am Ende einer solchen Erzählung die Notwendigkeit, sich selbst verteidigen und rechtfertigen zu müssen. 79 Dabei identifiziert Messerschmidt in solchen Abwehrreaktionen auch eine spezifisch deutsche, bzw. postnationalsozialistische Komponente, sofern diese mit dem Verweis auftreten, ständig für etwas die Schuld zugewiesen zu bekommen, für die man keine trage. Dann wird hier nicht nur die Abwehr von Rassismus, sondern auch die einer imaginierten Beschuldigung sichtbar, welche auch in der Genealogie einer Täternachfolge des Nationalsozialismus zu finden ist und als Ausgangspunkt für die Vorstellung eines eigenen Opferseins genutzt wird (vgl. Messerschmidt 2010, 45).

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Distanzierung: Samirs Taktik des risikoarmen Sprechens und der Selbstvergewisserung Die Einnahme einer Erzählperspektive, die jener eines unbeteiligten Beobachters, eines Journalisten gleicht, ermöglicht es Samir nicht nur, Distanz zu der Szene her zustellen, von der er in der Gruppe berichtet. Mit der Einnahme einer Position, die abstrakt und neutral ist, ist es Samir auch möglich, sich selbst als Person weniger angreifbar zu machen. Sie schützt Samir davor, als betroffene Person identifiziert und in seinem Erleben und Deuten von Rassismus hinterfragt und verkannt zu werden. Sie schützt vor einer weiteren antizipierten Rassismuserfahrung, quasi einer Rassismuserfahrung zweiten Grades: Jener der Bagatellisierung und des Abstreitens von Rassismuserfahrungen, von ‚sekundärem Rassismus‘, wie Melter (vgl. 2006) sagen würde. In diesem Sinne kann der distanzierte, beschreibende Blick Samirs auch als eine Taktik gewertet werden, um von rassistischen Handlungsformen in der Schule zu berichten und diese anzuklagen, ohne sich persönlich angreifbar oder verletzbar zu machen. Eine Taktik des verdeckten Sprechens über verdeckten Rassismus, wie auch Amina sie im Hinblick auf ‚Spaßpraktiken‘ in ähnlicher Weise nutzt (vgl. Kap. 2.5). Diese Form des Sprechens ermöglicht es Samir, die eigenen Erfahrungen indirekt, indem er sie als die Erfahrungen eines anderen verkauft, zu thematisieren, um sich ein ‚Feedback‘, eine Reaktion von anderen zu holen, ohne das Risiko eingehen zu müssen, persönlich für die gemachte Erfahrung verantwortlich gemacht oder falscher Unterstellungen bezichtigt zu werden und so Verletzung und Ignoranz statt Empathie und Bestätigung zu erfahren. Das verklausulierte Sprechen über die eigene Diskriminierungserfahrung wird so zu einer risikoärmeren Taktik der Selbstvergewisserung. Damit läge eine Begründung für Samirs Erzählverhalten in der Spannung zwischen öffentlicher Tabuisierung und Dethematisierung bzw. der Verkennung der Vielfältigkeit von Rassismus im öffentlichen Diskurs einerseits bei gleichzeitiger Normalität des Erfahrens von (latentem) Rassismus andererseits. Die bedrohliche Frage nach den Gründen für rassistische Diskriminierung Dass eine solche Sorge Samirs unter Umständen die Begründung für die gewählte Taktik des Wechsels der Erzählperspektive ist bzw. vielleicht auch, dass diese Sorge nicht unberechtigt ist, zeigt sich in der Frage von Jamil, die direkt auf Samirs Schilderung der Situation folgt und vor allem in Samirs Reaktion auf diese. Jamil fragt: „Gibt es bestimmte Gründe, warum sie [die Lehrer, W.S.] das [Fragen von ‚Ausländern‘ beantworten, W.S.] nicht machen?“ (Jamil GD2J, 12) Er fragt nach möglichen Gründen, die zu einer solchen Handlungsweise führen. Er möchte die Situation genauer verstehen: Was sind die Gründe für das Handeln des Lehrers bzw. der Lehrer, wie Jamil hier verallgemeinert? Bezüglich der möglichen Gründe liegen an dieser Stelle zunächst zwei mögliche Blickrichtungen nahe: Den Blick auf Lehrkräfte richten oder den Blick auf fragende Schüler oder Schüle-

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rinnen richten; zu fragen: Wieso behandelt ein Lehrer oder eine Lehrerin seine bzw. ihre Schülerinnen und Schüler ungleich? Oder zu fragen: Was hat der fragende Schüler bzw. die fragende Schülerin gemacht, dass Lehrkräfte so agieren? Eine dritte Möglichkeit läge in der Frage nach dem Kontext, in dem die Interaktion stattfindet: Was tragen die (gesellschaftlichen, institutionellen, sozialen) Rahmenbedingungen zu einer solchen (Re-)Aktion bei? Der Frage von Jamil nach den Gründen für das Verhalten von Lehrern ist somit zugleich die Möglichkeit implizit, dass es sich bei der von Samir geschilderten Situation nicht um eine Situation der rassistischen Diskriminierung handelt und dass Samir eine (Mit-)Schuld an der konkreten Situation trägt. Ob und welche möglichen Gründe Jamil bei seiner Frage im Kopf hat, bleibt an dieser Stelle offen. Sie sind auch für Samir nicht deutlich zu erkennen. Und so rea giert er auf Jamils Frage … zunächst einmal gar nicht: Jamil:

„Gibt es bestimmte Gründe, warum sie das nicht machen? ..“

Interviewer:

„Er hat eine Frage zu dir.“

Samir:

„Ach so, war das eine Frage?“

Jamil:

„Ja.“

Samir:

„Gute Frage .. Gegenfrage, keine Ahnung.“ […]

Samir:

„Das frage ich mich auch.“ (GD2J, 12-18)

Jamils Frage folgt unmittelbar auf Samirs Schilderung. Im Raum befinden sich Ahmet, Milot, Jamil und Samir, die zusammen in einer Sitzecke sitzen. Dass Samir die Frage überhört hat oder sich nicht angesprochen fühlt, ist unwahrscheinlich, denn zum einen spricht Jamil klar und deutlich, zum anderen bezieht seine Frage sich ganz offensichtlich auf das von Samir Berichtete. Es entsteht eine Pause, und Ahmet spricht Samir schließlich an und macht ihn darauf aufmerksam, dass Jamil gerade eine Frage an ihn gerichtet hat. Samir reagiert überrascht und antwortet nicht auf die Frage. Vielmehr macht es den Anschein, als wolle er nicht antworten, als versuchte er eine Antwort weiter hinauszuzögern, vielleicht auch einer Antwort aus dem Weg zu gehen, sie zurück oder weiter zu geben. Vielleicht weiß er auch keine Antwort. Warum Samir sich an dieser Stelle nicht zu Jamils Frage äußert, kann verschiedene Gründe haben. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Analyse erscheint es mir jedoch naheliegend, dass ihm die Situation gewissermaßen zu brenzlig wird. Er hat die Diskussion mit einer konkreten Diskriminierungssituation, der Konstruktion, Unterscheidung und Ungleichbehandlung von ‚Deutschen‘ und ‚Ausländern‘ eröffnet und sich entschieden, in einer distanzierten Position über eine Diskriminierungssituation zu sprechen, in der ihm mit großer Wahrscheinlichkeit selbst die Hauptrolle des fragenden und also diskriminierten Schülers zukommt. Es ist

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eine reale Situation von Diskriminierung, wie Samir sie beobachtet und erlebt hat. Jamils Frage fordert nicht nur zur weiteren Erklärung einer Situation auf, die unter Umständen für Samir als Beteiligten mit Emotionen wie Unverständnis oder Wut verbunden ist, die er als unfair erlebt hat und die gleichermaßen eine unerklärliche, weil irrationale, nicht in die gängigen, vielfach geteilten Deutungsmuster (von Rassismus) passende Situation darstellt, sondern sie legt implizit auch eine Verbindung zu ihm vermutlich bekannten Erklärungsmustern, die das Erleben subtiler rassistischer Situationen und Handlungsweisen verharmlosen und verkennen. An dieser Stelle der Diskussion meldet sich dann schließlich Milot zu Wort, um auf Jamils Frage zu antworten, warum der Lehrer Samir bzw. den als ‚Ausländer‘ markierten Schüler, von dem Samir spricht, anders behandelt haben könnte als die anderen Schülerinnen und Schüler der Klasse. Mit seiner Deutung der Situation, in die Samir dann enthusiastisch einfällt, verweist Milot zum einen auf öffentliche Debatten und Diskurse, in denen der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern mit sogenanntem Migrationshintergrund verhandelt wird, und zum anderen auf die Erfahrungen der Jugendlichen mit institutionellem Rassismus in der Schule. Milot und Samir kommen in ihren Ausführungen zu dem Schluss, dass der Lehrer seine Schüler aufgrund von Zuschreibungen ungleich behandelt. Diese interessante und aufschlussreiche Passage des Gespräches, in der auf öffentliche Debatten und Diskurse Bezug genommen wird und ein deutlicher Link zu den eigenen Lebenswelten hergestellt wird, werde ich, wie in der Einleitung bereits angekündigt, als Exkurs, in dem ich auch die Erfahrungen anderer Jugendlicher mit institutionellem Rassismus thematisiere, am Ende dieses Kapitels ausführlich aufgreifen. Nachdem Milot und Samir auf Jamils Frage ihre Zusammenhangskonstruktionen bezüglich der möglichen Gründe für ein solches Handeln von Lehrern geschildert haben, fragt Jamil erneut nach. Dieses Mal jedoch hinterfragt er die Deutung der Situation als eine Situation rassistischer Ungleichbehandlung, wie sie im Anschluss an die anfängliche Schilderung einer Benachteiligungssituation von einem als ‚nicht-deutsch‘ markierten Schüler von Milot und Samir in ihrer Deutung weiter ausgeführt wird, explizit: „Bist du dir sicher, dass er das so meint? Vielleicht denkt er auch, du willst gar nicht lernen, du fragst jetzt einfach so, damit du ihn verarschst“ (Jamil GD2J, 25). Jamil gibt sich mit der ‚Rassismuserklärung‘, die in Milots und Samirs Deutungen noch weiter ausgebaut und expliziert wird, nicht zufrieden, er führt seine Suchbewegung fort, fragt nach alternativen Erklärungsmöglichkeiten. Damit stellt Jamil zugleich auch in Frage, was Samir, unterstützt durch Milots Interpretation, mutig und einem Tabubruch gleich, „mal direkt gesagt“ (Samir GD2J, 24) hat: Nämlich – und so direkt hat er es dann tatsächlich nicht gesagt (vgl. ebd.; Exkurs unten) –,

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dass sein Verdacht ist, dass das benachteiligende Handeln des Lehrers auf homogenisierende Zuschreibungen gegenüber als ‚Ausländer‘ kategorisierten Schülern zurückzuführen ist, es sich also um Rassismus handelt. Jamil verschiebt mit seiner Nachfrage den Fokus, lenkt den Blick von gesellschaftlich-diskursiv virulenten Bedeutungskonstruktionen, auf die der Lehrer sich in der Deutung Samirs und Milots in unzulässiger Weise bezieht, auf das Verhalten von Samir als möglicher Ursache für sein Handeln – was natürlich ebenfalls eine denkbare Erklärungsmöglichkeit ist. Mit dieser Perspektive auf das Geschehen erfahren sowohl die Begründungsfrage als auch die Verantwortungsfrage eine neue Konnotation: Statt gesellschaftliche Diskurse und machtdurchdrungene soziale Bedeutungskonstruktionen, die sich wirkmächtig in der Institution Schule und im Handeln des Lehrers manifestieren, in den Blick zu nehmen und hier Verantwortlichkeiten zu lokalisieren, wird das individuelle Verhalten von jenen, die von der Benachteiligung betroffen sind, als möglicherweise verantwortlich ausgemacht. Die Verantwortung für die erlebte Ungleichbehandlung, so impliziert Jamils Nachfrage, liegt unter Umständen (auch) bei Samir – bzw. dem Schüler, von dem Samir (vermutlich stellvertretend) spricht – und nicht (nur) beim Lehrer. Unbestreitbar kann das Handeln des Lehrers unterschiedlichste Begründungen haben und muss keineswegs auf Zuschreibungen basieren oder rassistisch motiviert sein. Jedoch verweisen die angestellten Deutungsversuche von Samir und Milot, die einen Rassismusverdacht zum Ausdruck bringen, auch auf einen ‚Erfahrungsschatz‘ der rassistischen Benachteiligung, auf alltägliche Rassismuserfahrungen dieser, ähnlicher oder anderer Art sowie auf das Wissen um dominante Bedeutungskonstruktionen und gesellschaftliche Diskurse, die sie als Angehörige einer sozialen Gruppe in spezifischer Weise betreffen, und die insofern als Folie der Interpretation einer solchen Situation überaus naheliegend erscheint. Festzustellen ist hier wie in anderen Situationen auch, und das ist überaus wichtig, dass das subjektive Erleben und Deuten einer solchen Situation für Jugendliche, die Rassismuserfahrungen machen, unabhängig von der tatsächlichen Intention ernstzunehmende Effekte zeitigt. Vor diesem Erfahrungshintergrund ist das Infragestellen einer Situation als rassistisch, die subjektiv als rassistisch erlebt wurde, ein gängiges Instrument, mit dem Rassismuserfahrungen relativiert, bagatellisiert oder für ungerechtfertigt erklärt werden; womit zugleich subjektive Gefühle und Verletzungen nicht anerkannt, nicht ernst genommen, sondern quasi zu nicht-legitimen Gefühlen erklärt werden. Das Abstreiten von Rassismus als Begründungsaspekt für Handlungsweisen – mit dem zuweilen noch eine Umkehrung einhergeht und jene, die solche Situationen als rassistische Benachteiligung erfahren, wie in diesem Fall, verantwortlich gemacht werden – stellt nicht nur eine wiederkehrende Erfahrung dar, sondern auch ein Deu tungsangebot, dessen sich auch die Jugendlichen bedienen. Mit großer Wahrscheinlichkeit entspricht Jamil mit seiner Nachfrage im Gespräch eben diesen Befürchtun-

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gen Samirs, die ihn zum einen dazu veranlasst haben, zunächst als nicht-involvierter Beobachter der Situation zu sprechen und zum anderen Jamils erster Nachfrage auszuweichen.80 Wie schon in anderen Situationen erweist sich auch hier das Nachdenken über mögliche Intentionen und Handlungsbegründungen, die Frage, ob rassistische Effekte gewolltes oder ungewolltes Produkt von Handlungen sind, als überaus wackelige Prämisse für das Thematisieren und Problematisieren von und den Umgang mit Diskriminierungserfahrungen. Denn diese bleiben in der Regel undeutlich und vieldeutig. Rassistisches Handeln, das sich nicht als Gewaltszene manifestiert, dessen Gründe nicht expliziert werden, bleibt im alltäglichen Erleben der Jugendlichen ein ‚Rassismus ohne Beweise‘ und damit ein Phänomen, das zwar machtvoll auf ihr (Er-)Leben einwirkt, jedoch von außen oftmals nicht als (potenziell) rassistisch reflektiert und anerkannt wird. Diese Praxis ist vor dem Hintergrund der Tabuisierung von Rassismus und der Dethematisierung insbesondere eines nicht-intentionalen, aber dennoch effektvollen Rassismus in der Mitte der Gesellschaft und der in dominanter Perspektive meist unsichtbar bleibenden rassistischen Wirkmächtigkeit von kulturalisierenden, religionisierenden, nationalisierenden und ethnisierenden Zuschreibungen zu betrachten. An seinen Effekten, etwa der Tatsache, dass Samir (bzw. ein anderer, der in seiner Geschichte aber die gleiche konstruierte Gruppe und damit gewissermaßen auch ihn repräsentiert) sich in dieser Situation nicht nur ungerecht, sondern aufgrund seiner Zuordnung zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch ungleich behandelt sieht, ändert die verdeckt bleibende, unausgesprochene Intention oder die Motivation des Lehrers für sein Handeln zunächst nichts. Darauf macht auch Samir in gewisser Weise aufmerksam, wenn er Milot – der in Jamils Suchbewegung nach alternativen Erklärungsmöglichkeiten eingefallen ist und ebenfalls vorschlägt, dass der Lehrer gedacht haben könnte, Samir wolle ihn mit seiner Frage lediglich ‚verarschen‘ (vgl. Milot GD2J, 26) – unterbricht und, an statt auf die Spekulationen der beiden einzugehen, betont: „[A]ber als Lehrer sollte man nicht so denken“ (Samir GD2J, 27). Generell legitimiert weder die Zuschreibung von vermeintlichen Eigenschaften noch von eventuellen Absichten von Schü80 Womit sich auch das zuweilen als verlässlich und kohärent imaginierte Konzept unbedingter Sicherheit, getragen von Solidarität und Verständnis zwischen jenen, die Rassismuserfahrungen machen, als brüchig erweist: Auch jene, die Rassismuserfahrungen machen, stellen unter Umständen berichtete Rassismuserfahrungen in Frage, und Samir weiß offenbar um die generelle Möglichkeit. Jedoch, und auch das ist wichtig, aus einer gänz lich anderen Position und Motivation heraus – z.B. Rassismus als alltägliche Bedrohung aus dem Alltag so gut es geht zu verdrängen und stattdessen andere, weniger gewaltvolle und gesellschaftlich deplatzierende, nämlich kontextbedingte Erklärungen zu finden, die es erlauben, mit dem eigenen Handeln auch eine andere Entwicklung von Situationen (eine, die nicht rassistisch diskriminierend ist) zu denken.

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lerinnen und Schülern, so kann dieser Einwurf von Samir gelesen werden, ihre ungleiche Behandlung. Vielmehr haben Lehrinnen und Lehrer sich qua Beruf an gewisse Spielregeln zu halten und Aufgaben wahrzunehmen, so Samir: Statt darüber nachzudenken, was Schülerinnen und Schüler wollen und können und diese Vermutungen zur Prämisse von Handlungsentscheidungen zu machen, tragen Lehrerinnen und Lehrer die Verantwortung für die Wissensvermittlung. Ein Lehrer sollte denken: „[I]ch bin Lehrer, ich muss dem was beibringen, die lernen von mir, also muss ich denen auch was beibringen. Und wenn die Fragen haben muss ich, muss ich soweit ich kann, die beantworten“ (Samir GD2J, 29). Die Aufgabe von Lehrkräften ist für Samir klar: Sie sollen Wissen vermitteln. Und zwar an alle Schülerinnen und Schüler. Und dazu gehört es, Fragen nach bestem Wissen zu beantworten. Wie in der gesamten Sequenz wird auch hier nicht die berichtete ungleiche Behandlung als solche hinterfragt. Dass diese stattgefunden hat, wird von keinem der Jungen in Zweifel gezogen. Anlass des Fragens und Suchens, des Deutens und Interpretierens ist die ungeklärte Frage nach dem Warum, nach den Begründungen für die Ungleichbehandlung, der der Verdacht des Rassismus implizit ist. Distanzierung: Auch Jamils Taktik des risikoarmen Sprechens und der Selbstvergewisserung Im Anschluss an Samirs Statement zu den Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern fragt Ahmet Jamil nach dem Grund für seine Fragen und stellt dabei einen möglichen Zusammenhang zu eigenen Erfahrungen her, die Jamil dazu veranlasst haben könnten, diese Fragen zu stellen: „Warum fragst du da? Hast du da irgendwie Erfahrungen […]?“ (Interviewer GD2J, 30). Jamil unterbricht und betont, dass es ihm ein Anliegen sei, die geschilderte Situation und das Handeln des Lehrers zu verstehen. Es gehe ihm um das Warum, eine Begründung. Er verneint die implizierte Vermutung, dass seine Fragen etwas mit seinen eigenen Erfahrungen zu tun haben: „Nee, ich wollte das nur so gerne wissen, warum- warum das eigentlich so ist“ (Ja mil GD2J, 31). Ahmet expliziert daraufhin, welche Art der möglichen Erfahrungen er meint: nämlich die Erfahrung, nicht ernst genommen zu werden, die für ihn in der Spekulation Jamils mitschwingt, dass der Lehrer vielleicht denkt, Samir wolle ihn nur „verarschen“ und deshalb so gehandelt haben könnte. Erst daraufhin berichtet Jamil in einem längeren Absatz von seiner Geschichtslehrerin und alltäglichen Situationen, in denen deutlich wird, dass sie ihn in seinem Erleben des Klassenalltags im Gegensatz zu den anderen Jugendlichen seiner Klasse nicht ernst nimmt, ihn nicht so wie die anderen, sondern anders, eben ungleich behandelt: „[J]eder sagt zu ihr: ‚Guten Morgen, guten Morgen‘ und wenn ich dann sage: ‚Guten Morgen Frau Schmidt‘ sagt sie so: ‚Ach, du willst mich doch verarschen‘“ (Jamil GD2J, 33). Auch seine Versuche, der Lehrerin gegenüber zu versichern, dass er es ernst meine, werden ihm zufolge von dieser abgewunken und nicht ernst genommen (vgl.

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Jamil GD2J, 33), ebenso wie Entschuldigungen nicht ernst genommen werden; und zwar „nur, weil ich es gesagt habe“ (Jamil GD2J, 33). In Jamils Erzählung wird deutlich, dass er dieses Verhalten ungerecht findet, und dass es ihm darüber hinaus vor allem nicht verständlich ist. Auch hier fehlt ihm die Antwort auf das Warum: „[I]ch verstehe das einfach nicht“ (Jamil GD2J, 33). Jamil sucht nach Antworten, die eine von ihm (und auch eine von Samir) erfahrene Ungleichbehandlung durch Lehrer und Lehrerinnen plausibel und damit verstehbar machen könnten und bedient sich bei seiner Suche Samirs Geschichte. Beide, Samir und Jamil, nutzen eine Taktik des verdeckten Sprechens über einen verdeckten Rassismus(-verdacht). Sprech-Taktiken angesichts herausfordernder Verhältnisse Obwohl es Jamil also ganz offensichtlich nicht nur um das Verstehen der von Samir geschilderten Situation, sondern auch um mögliche Erklärungen für die eigene Erfahrung geht, berichtet er erst auf Nachfrage von dieser. Statt seine eigene Geschichte preiszugeben, versucht Jamil über die Geschichte Samirs an mögliche Erklärungen für seine eigenen Erfahrungen zu kommen. Samir wiederum, so die naheliegende Vermutung, tarnt seine Geschichte als die Geschichte eines anderen. Diese Sprech- bzw. Nicht-Sprech-Taktiken weisen meiner Meinung nach auf mindestens zweierlei hin: Auf die Schwierigkeit des Sprechens über Rassismuserfahrungen einerseits und auf ein taktisches Vorgehen, mit dem dieser begegnet wird, andererseits. Die Formen des verdeckten Sprechens von Samir und Jamil sind ein weiteres Indiz dafür, dass das Sprechen über Situationen erlebter Ungleichbehandlung, in denen die Jugendlichen einen Rassismusverdacht hegen, insbesondere dann schwer fällt, wenn sie sich mit ihrem Verdacht ‚alleine‘ wähnen: Wenn es weder einen Kontext gibt, in dem davon ausgegangen werden kann, dass solche Formen der Ungleichbehandlung überhaupt von anderen wahrgenommen, geschweige denn als potenziell rassistisch erkannt werden, noch relevante Zeugen oder aussagekräftige Beweise für eine rassistische Ungleichbehandlung vorhanden sind, die andere verlässlich überzeugen könnten. Das subjektive Erleben dieser Situationen als rassistische Diskriminierung ist vor dem Hintergrund des dominierenden Verständnisses von Rassismus weder für sie selbst noch für andere mittels Beweisen zu objektivieren, die rassistischen Effekte der Ungleichbehandlung kaum in Worte zu fassen und verständlich zu machen. Die Chance, mit ihrer Perspektive auf ein solches Geschehen auf Antworten auf die Frage nach dem ‚Warum‘ für Ungleichbehandlung oder auf Solidarität und Verständnis zu stoßen, wird von den Jungs hier vermutlich ebenso gering eingeschätzt wie etwa auch von Amina in jenen Situationen, von denen sie berichtet (vgl. Kap. 2.4; 2.5). So wiederholen sich hier, wie auch in anderen Fällen, Rassismuserfahrungen quasi als Rassismuserfahrungen zweiten und dritten Grades: Rassismuserfahrungen werden auch gemacht im Erfahren und Antizipieren von Unverständnis für Rassismuserfahrungen, im Erfahren und Antizipieren von

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Ablehnung und Bagatellisierung von Rassismuserfahrungen. Rassismus wirkt so als zweifache, als dreifache Gewalt. Das Sprechen über eigene Rassismuserfahrungen ist jedoch nicht nur im Hinblick auf antizipierte Abwehrhaltungen und Relativierungen risikoreich. Es erscheint zudem in mehrfacher Hinsicht ambivalent: So schwingt in den Suchbewegungen der Jugendlichen, in den Fragen Jamils nach möglichen alternativen Begründungen für die Ungleichbehandlung Samirs, aber auch in anderen Situationen neben dem Wunsch nach ‚Wissen‘, nach expliziten Begründungen, Eindeutigkeiten und Verstehen – unter Umständen, um sich so eine etwas sicherere Handlungsgrundlage zu schaffen – auch die Angst davor mit, so ließe sich dieses Suchen nach Alternativen deuten, dass ein bestehender Rassismusverdacht sich womöglich bestätigen könnte. Relativ häufig finden sich im Datenmaterial Passagen, in denen Rassismus, ihre Fremdkategorisierung als ‚nicht-deutsch‘, von den Jugendlichen als letztmögliche Erklärung für Erfahrenes herangezogen wird. Denn würde Rassismus als Ursache für ihre Erfahrungen ausgemacht werden, so würde dies auch bedeuten, sich die eigene marginalisierte Position sowohl im jeweiligen (Unterrichts-)Kontext als auch in der Gesellschaft vergegenwärtigen zu müssen. Und diese geht einerseits mit relativ geringen Möglichkeiten der Einflussnahme auf dieses Ungleichheitsverhältnis und mit ihm im Zusammenhang stehende Ungleichbehandlungen einher – insbesondere im Vergleich zu Ursachen, die im eigenen Handeln begründet liegen, etwa solchen, die als ‚Unterrichtsstörungen‘ zusammengefasst werden könnten –, andererseits ist diese Feststellung unter Umständen mit dem Gefühl von (weiterer) Fremdkategorisierung und Ausgrenzung, einer weiteren Reproduktion des vermeintlichen ‚Anders-Seins‘ verbunden. Bei einem offenen Austausch über Rassismusverdachtserfahrungen und einer damit verbundenen Selbstthematisierung und -vergewisserung bestünde darüber hinaus noch die Gefahr, dass andere (Jungen) das Erleben und Deuten solcher Situationen als rassistisch als ‚Signal der Schwäche‘ oder als unangemessene Einnahme einer Opfer-Position in einer doch eigentlich ‚lapidaren‘ Alltagssituation interpretieren könnten. Scham und das Gefühl, sich selbst als ‚Opfer‘ oder hilflos zu stilisieren, könnten – unter Umständen insbesondere vor dem Hintergrund von Vorstellungen über Männlichkeit – ein weiterer Grund für eine ausbleibende offensive Thematisierung von Erfahrungen mit (latentem) Rassismus oder von Rassismusverdachtssituationen sein. Allerdings bleibt mit dem NichtSprechen über diese Erfahrungen auch die Möglichkeit des Erkennens und Verstehens sowie der Selbstvergewisserung über den Austausch mit anderen aus. Verstehen, Begreifen, Plausibilisieren, Selbstvergewisserung jedoch sind – trotz aller Risiken und Ambivalenzen – zentrale Anliegen; sowohl von Jamil in dieser Situation als auch von Jugendlichen in vielen anderen Situationen, in denen die (gemeinsame) Suche nach Begründungen für Diskriminierung auszumachen ist.

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Vor dem Hintergrund dieser Sprechbedingungen lässt sich sowohl in der gewählten Herangehensweise Samirs als auch in jener Jamils eine Taktik des Sprechens erkennen, mit der die erwähnten Risiken des direkten Sprechens minimiert werden können und gleichzeitig die Suche nach plausibilisierenden Hinweisen, nach Erklärungen, die die Situationen verstehbarer und damit weniger vage und unsicher machen, in Kommunikation und Austausch mit anderen ermöglicht wird. Der Austausch mit anderen dient bei diesen Suchbewegungen nach Ursachen und Gründen auch der Selbstvergewisserung, der Vergewisserung der eigenen Deutung erfahrener Diskriminierung. Indirekt ist dabei zugleich die Frage relevant, ob und wie diese subjektiven Erfahrungen von Rassismus objektiviert werden können, ob das eigene Erleben und Deuten auch für andere plausibel ist oder gemacht werden kann. Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum und nach Beweisen, Selbstvergewisserung bzw. Rückhalt in der eigenen Deutung und Objektivierungsmöglichkeiten sind auch deshalb relevant, weil nur so eine Skandalisierung des erfahrenen Rassismus einigermaßen risikoarm möglich scheint. Jedoch ist bereits der Weg dorthin, das Abtasten von Einschätzungen, das bloße Thematisieren von Rassismuserfahrungen, wie bereits geschildert, risikoreich. Und das offenbar selbst in diesem Kontext, der als geschützter Raum beschrieben werden kann: Denn an dem Gespräch nehmen lediglich drei Jugendliche und ein Erwachsener teil, die sich untereinander gut kennen, einander Vertrauen entgegenbringen, bereits intensiv über Rassismus und Rassismuserfahrungen sowie Diskriminierung gesprochen haben und im Zuge dieses Austausches erkennen konnten, dass sie zum einen alle selbst in ihrem Alltag mit Rassismuserfahrungen konfrontiert sind und zum anderen Rassismus und Diskriminierung von allen Beteiligten als ernstzunehmende, nicht zu bagatellisierende Phänomene begriffen werden. Doch selbst in diesem Rahmen bleiben Erfahrungen mit einem ‚Rassismus ohne Gewalt‘ und ohne Beweise eine Herausforderung für das Sprechen – und Samir und Jamil bedienen sich der Taktik eines distanzierten Sprechens, um das kaum Besprechbare auf diese Weise doch thematisierbar zu machen. Beide versuchen, über eine Art des verdeckten Sprechens das Erlebte indirekt zu thematisieren und Antworten zu finden, ohne sich selbst angreifbar zu machen: Samir, indem er die eigene Erfahrung als die Erfahrung eines anderen schildert und selbst die Rolle des Beobachtenden einnimmt, Jamil, indem er versucht, Antworten auf Fragen, die seine eigene Erfahrung betreffen, anhand von Samirs Beispiel, das stellvertretend für diese steht, zu finden. Exkurs: Bildungsdiskurse und institutioneller Rassismus in der Schule An dieser Stelle soll den Deutungen und Zusammenhangsannahmen Aufmerksamkeit geschenkt werden, die Milot und Samir bezüglich der möglichen Begründungen für das Handeln des Lehrers in Samirs Erzählung anstellen.

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Zur Erinnerung: Jamil fragt Samir, nachdem dieser sein Beispiel für Ungleichbehandlung vorgetragen hat – nämlich die Ungleichbehandlung eines Schülers, der als ‚Ausländer‘ markiert wird, durch einen Lehrer, der nur diesem eine Frage im Unterricht nicht beantwortet –, was die Gründe für das Handeln des Lehrers sein könnten. Samir antwortet auf Jamils Frage zunächst nicht, zögert sie offenbar hinaus oder weiß nicht, was er darauf entgegnen soll. Es ist Milot, der an dieser Stelle ins Gespräch eingreift: Er ist derjenige, der auf Jamils Frage antwortet; vielleicht, weil er merkt, dass sein Freund Samir sich in der Situation unwohl fühlt und er ihn mit seinem Einsatz entlasten möchte. Vielleicht aber auch deshalb, weil er eine Antwort weiß und Samir keine einfällt. Milot stellt fest: „Ja, das ist halt so weil- […] Die denken- Bei den meisten Ausländern denken die: ‚Ja, wenndem muss ich das jetzt noch zwei, drei Mal erklären und so, dann besser ich sag ihm er soll sich das zu Hause angucken. Wenn er das macht, hat er Glück gehabt, wenn nicht dann nicht.‘“ (Milot GD2J, 19)

Aus dem Lehrer, von dem Samir anfangs berichtet, werden erst bei Jamil (vgl. oben) und dann auch bei Milot die Lehrer. Samirs Erlebnis mit einem Lehrer wird auf eine Gruppe von Lehrern verallgemeinert. Diese Verallgemeinerung, die sowohl Jamil als auch Milot benutzen, kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass ihnen diese oder ähnliche Situationen nicht fremd sind, dass es sich gewissermaßen um ein verallgemeinerbares (Erfahrungs-)Wissen handelt. Die Tatsache, dass fast alle Jugendlichen von ähnlichen Erfahrungen mit Lehrerinnen oder Lehrern berichten, ist ein weiterer Hinweis. Dementsprechend ist auch Milots Erklärung für die Situation keine Einzelfallerklärung, sondern eine, die auf einer verallgemeinerten, abstrahierten Ebene liegt. Milot geht in seiner Deutung von einem eher generellen Pro blem aus. Die Prämissen für ein solches Handeln liegen ihm zufolge in einer verallgemeinerbaren Art des Denkens über jene, die als „Ausländer“ markiert und als ‚nicht-deutsche‘ von den als ‚deutsch‘ konstruierten Schülerinnen und Schülern unterschieden werden. Diese, in seinen Augen generalisierbare Denk-Logik beinhaltet neben einer solchen Unterscheidungslogik zudem ein ihm bekanntes, allgemein als gültig akzeptiertes ‚Wissen‘ über die so Konstruierten, das in der Institution Schule in spezifischer Weise wirkt: „Bei den meisten Ausländern denken die“, dass diese – und implizit steht hier: im Gegensatz zu den ‚Nicht-Ausländern‘ – im Unterricht zu langsam seien und die Dinge nicht verstehen würden, dass diese Gruppe besonders ‚zeitaufwendig‘ sei, weil sie einen ‚besonderen Bedarf‘ häte, der über das ‚normale Maß‘ des Erklärens, das Lehrern im Unterricht legitim erscheint, hinausgeht. Das, was über den von Lehrern als legitim definierten Erklärungsbedarf hinausgeht, wird dann in den privaten Verantwortungsbereich verschoben – wobei das Überschreiten einer solchen, von Lehrern konstruierten Grenze bei bestimmten Schülern bereits

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im Vorfeld erwartet und also vorauseilend zugeschrieben wird. Lehrer entlasten sich Milots Erklärungsansatzes zufolge also bereits antizipierend von der Verantwortung einer Lehrkraft: In der Erwartung, dass die „meisten Ausländer“ zu viele ihrer Zeitressourcen benötigen würden, bis sie verstanden haben, was andere, nämlich als ‚Nicht-Ausländer‘ markierte Schülerinnen und Schüler, längst verstanden haben. Samir greift Milots Erklärungsansatz engagiert auf. Er unterbricht Milot und begründet den vermeintlichen Mehraufwand, den Lehrer Milot zufolge voraussetzen, wenn es darum geht, den als ‚Ausländer‘ kategorisierten Schülerinnen und Schülern Inhalte zu erklären, sowie die infolgedessen ausbleibenden Erklärungsbemühungen damit, dass Lehrer denken: „Der kann sowieso kein Deutsch, dem brauch ich das gar nicht zu erklären, weil er es nicht versteht. […] Er soll es lieber selber machen, auf seiner Sprache. (verlegenes Lachen) So, jetzt mal direkt gesagt.“ (Samir GD2J, 22, 24)

Milots und Samirs Deutungsversuche, die Suche nach einer Begründung für die beobachtete oder erlebte bzw. eine vergleichbare Ungleichbehandlung im Unterricht, schließen an Erklärungsmuster und Zuschreibungen an, die sowohl Teil des öffentlichen Diskurses als auch der eigenen Erfahrungen sind: Erfahrungskontext I: Diskurse und Debatten zum Thema Bildung In Diskursen und Debatten zu ‚Integration‘ und in wissenschaftlichen Studien zum Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen wird immer wieder festgestellt, dass ‚Ausländer‘ bzw. ‚Migranten‘ oder ‚Jugendliche mit Migrationshintergrund‘, wie es dort heißt, weniger bildungserfolgreich sind. Prominente Begründung für den mangelnden Bildungserfolg sind fehlende bzw. mangelhafte Sprachkenntnisse im Deutschen, das fast schon geflügelte Wort der ‚Sprache als Schlüssel zur Integration‘. Nach wie vor werden im dominanten Diskurs mehr oder weniger kausal erscheinende Zusammenhänge zwischen Sprachkenntnissen, Schulleistungen bzw. Bildungserfolg und (Arbeitsmarkt-)Integration konstruiert. Verkürzte Diskussionen von statistischen Erhebungen zum Bildungserfolg von ‚Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘, ihrer gesellschaftlichen ‚Integration‘ und ihren gesellschaftlichen ‚Aufstiegschancen‘ blenden strukturelle Bedingungen, etwa des Arbeitsmarktes, und strukturelle Diskriminierung im Bildungssystem und in der Institution Schule sowie sich aus diesen begründende Zugangsschwierigkeiten aus. Stattdessen erscheinen die Jugendlichen, die im Mittelpunkt solcher Studien stehen, häufig impliziert als defizitäre, homogene Gruppe, die über geringere intellektuelle und unzulängliche sozial notwendige Fähigkeiten verfügte. Es besteht die Tendenz, die Verantwortung für Gelingen bzw. ‚Scheitern‘ von ‚Integration‘ und Bildungserfolg im Zuge dieser Debatten nicht etwa bei den Bildungseinrichtungen und der Bildungspolitik zu ver-

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orten, sondern in den Bereich des Privaten zu verschieben: Mangelnde Leistungsbereitschaft und mangelnde individuelle Fähigkeiten sowie fehlende Ressourcen und Bildungsaspirationen im Elternhaus werden als verantwortlich ausgemacht. Mit dieser Fokussierung geraten Bedingungen für ‚Integrations-‘ und Bildungserfolg bzw. -misserfolg, die auf gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen zurückzuführen und auf struktureller Ebene zu verorten sind, aus dem Blick: Institutionelle Diskriminierung, wie Gomolla und Radtke (2007) und Flam (2007) in ihren Studien sie (in der Grundschule) als überaus wirkmächtig belegen konnten, sowie die „Normalität des Rassismus, die zur Schlechterstellung von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund beiträgt“ (Quehl 2010, 184), stehen weit weniger zur Diskussion, wenn es um den Bildungserfolg von Jugendlichen mit sogenanntem Migrationshintergrund geht: Ein selektives Schulsystem, das nach wie vor auf Homogenität der ‚zu belehrenden‘ Schülerinnen und Schüler rekurriert, die ungenügende Ausbildung und Vorbereitung von Lehrerinnen und Lehrern bezüglich des Umgangs mit sozial heterogenen Klassen und auch das diskriminierende, alltagsrassistisch geprägte Handeln von Lehrerinnen und Lehrern, die als ‚Gate-Keeper‘ fungieren (vgl. Flam 2007, 86; 93ff.), finden nur wenig bzw. weniger wirkmächtig Beachtung. Auch Vorstellungen über Sprache und Sprachkompetenz spielen im Diskurs über Bildungsbzw. Schulerfolg und seine Ermöglichungsbedingungen eine zentrale Rolle (vgl. Gomolla/Radtke 2007, 266f., 273; Flam 2007, 19; ebd. 2009, 243; Gogolin 1994). Helena Flam zufolge sind sie „das Hauptbewertungskriterium, das Lehrer und Lehrerinnen anlegen, um über die Notenvergabe für Schüler und Schülerinnen und damit, durch Empfehlung für eine (höhere) Schulart, auch über deren weiteren Bildungsweg sowie weitere Bildungschancen zu urteilen“ (Flam 2009, 243). Solche Formen des institutionellen Rassismus erfahren auch die Jugendlichen der vorliegenden Studie; jedoch ohne dass sie ihre Erfahrungen als institutionalisierten Rassismus deuten. Während ihnen dieses Konzept offenbar nicht bekannt ist, so kennen sie doch zu Genüge die öffentlichen Debatten und Diskurse, in deren Mittelpunkt u.a. das ungenügende Beherrschen der deutschen Sprache als Faktor identifiziert wird, der Migrantinnen und Migranten in Deutschland – und also auch sie als mit dieser Kategorie ebenfalls ‚Gemeinte‘ – als defizitär, verantwortlich für mangelnden Bildungserfolg, integrationsunwillig und -unfähig ausweist. Als Subjekte, die um die dominanten Diskurse und Debatten wissen und zudem in besonderer Weise, nämlich negativ, von ihnen betroffen sind, knüpfen Milot und Samir an die bekannten Erklärungsmuster von mangelnder Leistungsfähigkeit und ungenügender Beherrschung der deutschen Sprache an. Die bekannten Diskursinhalte stellen für die beiden Deutungsmöglichkeiten dar, mit denen sie versuchen, sich die erlebte Ungleichbehandlung zu erklären. Im Gegensatz zum öffentlichen Diskurs, in dem mangelnde Sprachkenntnisse in der Regel als Faktum und selbstverständliche Begründung für ausbleibende ‚Integration‘ diskutiert und das

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schlechte Abschneiden von ‚Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘ in und unter Bezugnahme auf Schulleistungsstudien immer wieder festgestellt werden, beziehen sich Milot und Samir jedoch auf dieses soziale Wissen, indem sie auf die Effekte solcher diskursiven Verhandlungen und dominanter, undifferenzierter ‚Wahrheiten‘ aufmerksam machen: Sie produzieren Zuschreibungen, die sich in Form von Handlung, nämlich Ungleichbehandlung, wirkmächtig im Alltag von Subjekten, von Milot und Samir manifestieren: als rassistische Diskriminierung. Erfahrungskontext II: Institutioneller Rassismus in der Schule In Anbetracht der Abstraktion und Verallgemeinerung, die die ursprüngliche Situation Samirs im Laufe der Diskussion letztlich erfährt, und vor dem Hintergrund von in anderen Passagen geschilderten Erfahrungen kann davon ausgegangen werden, dass die hier im Mittelpunkt stehende Situation und ihre Interpretation stellvertretend für ähnliche Situationen stehen. Bereits in der ersten Gruppendiskussion haben mehrere Jugendliche berichtet, dass sie in ihrem Alltag damit konfrontiert sind, dass man ihnen nicht zutraut, intelligent, gut in der Schule oder fürs Studium geeignet zu sein, und dass sie sich über die Maßen anstrengen und mehr als andere leisten müssten (vgl. Kap. 2.2). Milot kann sich daher auf eine kollektive Erfahrung beziehen und davon ausgehen, dass das Wissen um Lehrer, die Schülerinnen und Schüler benachteiligend behandeln, und die Erfahrung, dass ihnen weniger Leistungsfähigkeit und/oder -bereitschaft, Sprachkenntnisse oder Ähnliches zugeschrieben werden, von anderen in der Runde geteilt wird. Die Bildungsbiografien der Jugendlichen sprechen darüber hinaus dafür, dass auch auf der institutionellen Ebene Benachteiligungsmechanismen, Zuschreibungen zu Leistungsfähigkeit und/oder -bereitschaft, zu Sprachkenntnissen oder Ähnlichem wirkmächtig werden, die viele von ihnen in ähnlicher Weise betreffen: Fast alle blicken zum Zeitpunkt der Erhebung auf eine formale Bildungskarriere mit Umwegen zurück, in vier Fällen werden während der Interviews deutliche Bezüge zu institutionellem Rassismus deutlich. Drei von ihnen möchte ich im Folgenden kurz vorstellen, Jamils Geschichte ist ein eigenes, nämlich das folgende Kapitel gewidmet. Eine dieser Geschichten ist die von Rima. Als sie mir während unseres Gespräches von ihrer Schullaufbahn erzählt, fängt sie an zu weinen. Sie berichtet, dass ihre Lehrerin sie mit der expliziten Begründung, sie könne kein Deutsch sprechen, von der dritten Grundschulklasse auf die Sonderschule geschickt hat. 81 – Eine Entscheidung ihrer damaligen Lehrerin, die sowohl Gomolla und Radtke (2007) als auch Flam (2007) in ihren Studien als eine zentrale Komponente von institutionellem Rassismus identifizieren. Rimas Eltern, die zu dem Zeitpunkt noch nicht so gut 81 Sie macht im weiteren Verlauf ihres formellen Bildungsweges den erweiterten Hauptschulabschluss auf der Sonderschule, dann ihren Realschulabschluss auf einer Berufs schule und hat zum Zeitpunkt des Interviews gerade ihr Fachabitur bestanden.

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Deutsch sprachen, so Rima, hätten nicht verstanden, was da passiert und hätten sie „dann halt einfach geschickt“ (Rima IR, 275). Bei der Erinnerung an ihre Lehrerin und die Weiche, die diese in ihren Augen eigenmächtig und unberechtigt in diese Richtung stellt, beginnt Rima zu weinen. Sie erklärt, dass sie gut war in der Schule, und, dass sie sich in ihrer Klasse wohlgefühlt hat, nur ihr Deutsch halt nicht perfekt gewesen sei. Im Rückblick sagt sie: „Ich glaube die Lehrerin hatte was gegen Ausländer“ (Rima IR, 265) und erzählt, dass es drei „Ausländerkinder“ in ihrer Grundschulklasse gegeben hätte: Einen hätte sie sitzen lassen, einen in eine andere Klasse und sie zur Sonderschule geschickt. „Mit den Deutschen war nichts“, so Rima vergleichend (Rima IR, 295). Als Rima zu weinen beginnt, frage ich sie, ob „wir aufhören sollen“ oder sie „eine Pause“ braucht (Interviewerin IR, 266). Sie wehrt ab und erklärt dann ihre Tränen, bevor sie weiter berichtet: „Das ist das erste Mal, dass ich darüber rede“ (Rima IR, 269). Als ich sie am Ende unseres Gespräches frage, wie es kommt, dass sie nie darüber gesprochen hat, beginnt sie erneut zu weinen und sagt, dass sie nie jemand gefragt hat; und dass sie sich gewünscht hätte, es hätte sie mal jemand gefragt (vgl. IR, 417-419). Nesrin berichtet bei unserem Gespräch davon, dass sie in der dritten Klasse eine Lehrerin hatte, die ihren Eltern ganz offensichtlich immer wieder unterstellte, sie würden ihre Tochter zu Hause nicht unterstützen. Auch dies, die Verschiebung der Verantwortung für den Schulerfolg ins Elternhaus und ein Anzweifeln der Fähigkeit oder des Willens der Eltern, den Bildungserfolg ihrer Kinder zu unterstützen, indem auf kulturalisierende Erklärungen verwiesen wird, ist ein prominenter Aspekt institutioneller Diskriminierung, mit dem beispielsweise die Nicht-Überweisung auf eine höhere Schule legitimiert wird (vgl. Flam 2007, 48ff.; Gomolla/Radtke 2007, z.B. 34f.; Terkessidis 2004, 156ff.). Nesrin berichtet mir daraufhin ausführlichst, als müsse sie mich vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen überzeugen, dass sie gemeinsam mit ihren Eltern jeden Tag Hausaufgaben gemacht hat: „Wir haben alles schrittweise zusammen gemacht […] einer saß links, einer saß auf der rechten Seite, meine Mutter guckt meine Arbeiten an, mein Papa hilft mir. […]. Und die saßen ja jeden Abend, wirklich jeden Abend, saßen die neben mir und wir haben alle zusammen Hausaufgaben gemacht.“ (Nesrin IN, 35)

Ganz offensichtlich glaubt Nesrins Lehrerin ihr aber nicht; was sich in Nesrins Worten wiederholt so anhört: „Sie hat halt Scheiße gelabert“ (Nesrin IN, 31, 35). Nes rins „Papa ist da voll ausgerastet, weil er weiß, dass das nicht stimmt“ (Nesrin IN, 35), und ihre Mutter hat Nesrin zufolge zu ihrer Lehrerin gesagt: „‚[I]ch möchte nicht, dass Sie weiterhin meine Tochter unterrichten‘“ (Nesrin IN, 29). Und so entscheiden letztlich ihre Eltern, dass es besser ist, wenn Nesrin nicht mehr die Klasse dieser Lehrerin besucht, in der sie zudem als „Außenseiterin“ (Nesrin IN, 19)

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schlimme Mobbing-Erfahrungen macht. Da eine Querversetzung in eine Parallelklasse nicht möglich ist, wiederholt Nesrin die Klasse. 82 Als ich Nesrin nach ihren Ausführungen über die ‚Lügen‘ ihrer Lehrerin frage: „Und warum meinst du hat deine Lehrerin das gemacht?“ (Interviewerin IN, 36), formuliert auch sie, wie andere Jugendliche in ähnlichen Situationen, zunächst vorsichtig und zögerlich sowie unter Verweis auf andere Stimmen und eine Vergleichssituation: Nesrin:

„Ja, ich weiß nicht. Alle meinten so .. also auch andere Eltern, die meinten auch alle so ja, wie soll ich sagen jetzt, nur bei Ausländern. Also, es gibt ja Lehrkräfte, die gegen wirklich gegen was Ausländer haben und so. Und, ja, ein Junge der wirklich jeden Tag in der Woche, jeden Tag wirklich irgendeinen Teil, sagen wir nicht komplett Hausaufgaben sondern einen Teil immer von den Hausaufgaben vergessen hat, kriegt nur Striche und keinen Anruf und wird weiter .. in die vierte Klasse versetzt. Und ich wo ich jeden Tag permanent meine Hausaufgaben mache und keinen Stress gar nichts habe und nicht frech zu den Lehrern bin und so, wird auf einmal gesagt, ich mach nicht meine Hausaufgaben ... Ja.“

Interviewerin: „Und du meinst es könnte was damit zu tun haben, dass sie was gegen Auslän der hat.“ Nesrin:

„Auf jeden Fall.“ (IN, 37-39)

Die gleiche Lehrerin ist auch dafür verantwortlich, dass Kinder aus ihrer Klasse, die als ‚Ausländer‘ identifiziert werden, auf die Hauptschule geschickt werden, was 82 Nesrin erzählt während ihres Interviews ausführlich davon, wie schlecht es ihr in der Grundschule ging, weil sie gemobbt wurde, weil sie „schon etwas pummelig“ war. Sie wurde als „Außenseiterin“ betitelt und behandelt, was dazu geführt hat, dass sie morgens nicht in die Schule gehen wollte, kaum noch gegessen hat und in der Schule schlechter geworden ist. In der neuen Klasse, erzählt sie, „war es nicht extrem, aber da war es auch nicht anders“ (Nesrin IN, 19). Der Vorteil in dieser Klasse, so Nesrin, war, dass sie dort nicht die einzige „Außenseiterin“ war und sie sich mit denen angefreundet hat, „die auch runtergezogen wurden“ (Nesrin IN, 19). An viel späterer Stelle im Interview, als es um den fehlenden Zusammenhalt in der Klasse und den bestehenden Zusammenhalt zwischen den Ausgegrenzten geht (die Nesrin die Gruppe der „Opfer“ nennt), frage ich sie, ob sie alle ausgegrenzt wurden, „weil sie pummelig waren […] oder was waren die Gründe?“ (Interviewerin IN, 60, 62); woraufhin Nesrin sehr still und nachdenklich wird und sich selbst die Frage leise noch einmal stellt: „Was waren die Gründe“ (Nesrin IN, 63), um dann relativ plötzlich und offenbar überrascht zu antworten: „[A]ber was komisch war, diese Opfers, die waren auch alle nur Ausländer! .. Wirklich. .. Auch wenn die ande ren perfekt dünn, schlank und so, aber weiß nicht. .. Keine Ahnung. […] was mich grad so- also was mich wundert, das waren halt nur alle Ausländer“ (Nesrin IN, 65, 67).

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Nesrin überaus wütend macht: „[I]ch find es halt scheiße, dass die so die Menschen behandeln, weil .. […] ganz ehrlich- Warum behandeln die dann uns so?!“ (Nesrin IN, 43). Nesrin hebt besonders eine Schülerin hervor, die nach ihrer Meinung und auch nach der Meinung anderer Lehrer zweifellos direkt aufs Gymnasium gehört hätte, von ihrer Klassenlehrerin jedoch lediglich eine Hauptschulempfehlung erhält. Dieses Mädchen, das nach der Hauptschule erst ihren erweiterten Realschulabschluss und jetzt ihr Abitur macht, so Nesrin, hat diese Entscheidung zwar schwer getroffen, aber sie hatte glücklicherweise auch „die ganze Familie und […] auch die Freunde […] hinter ihr. Also, das auch nur mit Motivation, also die haben immer gesagt: ‚Du wirst es schaffen, du wirst es schaffen‘“ (Nesrin IN, 67). Nesrin zeichnet mit dieser Schilderung ein gänzlich anderes Bild über die Faktoren, die für den Bildungserfolg relevant sind: Die Familie, das soziale Umfeld und vermeintliche fehlende Ressourcen sind hier nicht der Grund für das Scheitern, sondern, im Gegenteil, die Ressource, die der ungerecht selektierenden Institution und ihren benachteiligenden Konsequenzen entgegengehalten wird. Nicht die Schule motiviert und unterstützt und trägt zum Bildungserfolg bei, sondern Familie und Freunde. Nicht Eltern scheitern, sondern die Schule scheitert. Das gängige Bild des dominanten Diskurses steht Kopf. Samir erklärt im Einzelinterview, dass Diskriminierung in der Schule „halt nicht so extrem auf[fällt]“ (Samir IS, 205). So komme es ihm zufolge vor, dass Lehrer trotz gleicher Leistung unterschiedliche Noten geben und Samir findet, „da ist schon ein bisschen Diskriminierung oder Ungerechtigkeit bei so. Weil, warum sollte der Eine eine bessere Note kriegen als der Andere, obwohl die genau gleich geschrieben haben“ (Samir IS, 205). Diese Praxis, erklärt Samir, ist ihm „selber auch schon passiert“ (Samir IS, 205) und führt dazu, dass „man auch ein bisschen so ins Nachdenken [kommt] und warum ist das so“ (Samir IS, 207). Woraufhin ich ihn frage: „Und warum ist das so meinst du?“ (Interviewerin IS, 208). Ähnlich wie in dem Beispiel, das er während der Gruppendiskussion zur Sprache bringt, erklärt er, jedoch zunächst expliziter, dass er einen Zusammenhang zwischen dieser Praxis der Ungleichbehandlung und seiner Kategorisierung als „Ausländer“ vermutet: „Bei uns in der Klasse sind jetzt nur Milot und ich Ausländer, vielleicht liegt das auch da ein bisschen daran“ (Samir IS, 209). Jedoch ist dies nur eine Erklärungsmöglichkeit. Er rudert nach seiner bereits vorsichtig formulierten Aussage sofort zurück und relativiert diese, indem er zunächst ein „Ich weiß es nicht“ anfügt und dann, als alternative Begründung für die Ungleichbehandlung, erklärt: „[O]der ich habe bestimmt vorher irgendwann mal was Schlechtes gemacht, also vielleicht mal Hausaufgaben vergessen“ (Samir IS, 209). Samir wiederholt, dass er den Grund nicht weiß und macht deutlich, dass ihn das unzufrieden macht: „[I]rgendwo muss das ja herkommen. Irgendwas muss es ja dafür geben“ (Samir IS, 209). Jedoch, obwohl er nicht sicher ist und keine Beweise liefern kann, er selbstkritisch auch ‚selbstver -

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schuldete‘ Begründungsmöglichkeiten in Betracht zieht, stellt er schließlich auch fest, dass diese Ungleichbehandlung nur Milot und ihn betrifft: „[B]ei anderen ist das ja nicht so in unserer Klasse, das ist dann wenn nur bei uns so“ (Samir IS, 211). Eine ähnliche Praxis führt dazu, dass Samir in der zehnten Klasse von der Realauf die Hauptschule wechselt: „Ich war im ersten Halbjahr noch auf Realschule und da hatte ich eine fünf im Zeugnis und ein Anderer aus meiner Klasse, ich war der einzige Ausländer übrigens da in der Klasse. Und das waren zwei Andere sogar, die hatten drei Fünfen im Zeugnis, dann hat sie [die Lehrerin, W.S.] zu denen gesagt: ‚Ja, ihr schafft das, ihr packt das und so bis Ende des Jahres‘. Zu mir hat sie gesagt: ‚Ja, ne Fünf sieht doch schlecht aus auf dem Zeugnis, willst du nicht auf Hauptschule überwechseln und so, vielleicht kriegst du da deinen besseren Abschluss ohne eine Fünf im Zeugnis‘ und so. Dachte ich mir auch so: ‚Ja, wenn die das schaffen mit drei Fünfen, dann kann ich das doch auch schaffen mit einer Fünf.‘ Ja und dann habe ich- habe ich trotzdem gewechselt. So ich dachte, wenn- wenn sie das schon so sagt, dann vielleicht will sie das gar nicht irgendwie, dass ich das dann hier schaffe, also wenn ich hier bleiben sollte, vielleicht werde ich es dann wirklich nicht schaffen oder weiß ich nicht, obwohl man mit einer Fünf eigentlich durchkommt. Bin ich auf jeden Fall trotzdem gewechselt. Dann habe ich es ja auch geschafft ohne Fünf. Ohne Vieren sogar.“ (Samir IS, 211)83

Wie andere Beispiele ist auch diese Erfahrung von Samir Teil eines institutionalisierten Rassismus, wie etwa Gomolla/Radtke (2007) und Flam (2007) ihn in ihren Studien beschreiben. Solche, auf institutionalisierten Mechanismen der Diskriminierung basierende Ungleichbehandlungen, die sich etwa in unterschiedlichen Erwartungen an Schüler, Schülerinnen und auch ihre Eltern manifestieren, wie von Rima, Samir und Nesrin exemplarisch geschildert und im obigen Beispiel von Milot abstrahiert, führen unter anderem dazu, dass Schule für Jugendliche zu einem ständigen Test in einem ungleichen Machtverhältnis wird. Ein Test für jene, die statt einer Antwort „zum Beispiel“ gesagt bekommen: „Ja musst du selber zu Hause noch mal nachgucken“ (Samir GD2J, 11), die jenen, die letztlich über Noten und Schulempfehlung entscheiden, beweisen müssen, ob sie in der Lage und willens sind, sich über die Maßen anzustrengen und mehr zu leisten als andere, als jene, die das Privileg haben, Antworten zu erhalten und nicht mit der Zuschreibung konfron tiert sind, weniger zu können oder zu verstehen. Nachgewiesenermaßen gehört die Verschiebung der Verantwortung für Bildungserfolg von der Institution Schule ins Private, wie bereits zu lesen und empirisch zu sehen war, zu den überaus wirkmächtigen Mechanismen von institutionellem Rassismus. Milot und Samir erscheint es – berechtigterweise – paradox, dass es 83 Samir hat im Anschluss seinen Realschulabschluss nachgeholt und zum Zeitpunkt des Interviews sein Fachabitur gemacht.

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ihrem Erleben zufolge offenbar Lehrkräfte gibt, die mit Verantwortungsabgabe statt mit einem Mehr an Unterstützung auf einen solchen zugeschriebenen oder tatsächlichen Bedarf reagieren: Nicht mehr Lehrende und Lernende als im Rahmen institutioneller Regelungen zusammen Arbeitende teilen sich die Verantwortung für den Lernerfolg. Stattdessen wird Lern- und Bildungserfolg zur Privatsache erklärt, die von individuellen Anstrengungen abhängig ist. Die Schülerinnen und Schüler, die diese Verantwortung und die damit einhergehende Herausforderung annehmen, so Milot, haben „Glück“, denn sie versuchen auch ohne Unterstützung bildungserfolgreich zu sein und haben damit eine Chance, weiterhin ‚teilzuhaben‘ – am Unterricht, am gesellschaftlichen Leben, am Arbeitsmarkt. Interessieren tut das die entsprechenden Lehrkräfte in Milots Deutung dann allerdings nicht mehr. In seiner Interpretation denken diese: „‚Wenn er [der Schüler, W.S.] das macht, hat er Glück gehabt, wenn nicht dann nicht‘“ (Milot GD2J, 19). Verantwortung übernimmt die Institution Schule, repräsentiert durch Lehrkräfte, für den Lern- oder Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler, die als ‚Ausländer‘ markiert und mit entsprechenden Zuschreibungen konfrontiert werden, in dieser Deutung nicht mehr. So naheliegend die sozialen Bedeutungen und Artikulationen, auf die Milot und Samir sich als Erklärung für das Erlebte und Beobachtete beziehen, erscheinen, so unsicher bleiben doch die von ihnen geäußerten Zusammenhangsvermutungen. Obwohl Milot seine Interpretation der Situation zunächst in einem Habitus der Selbstverständlichkeit vorträgt, so weiß auch er letztlich nicht, was den Lehrer zu seinem Handeln veranlasst hat. Und auch in dem zweiten Beispiel von Samir, das in diesem Exkurs zur Sprache kam, beschreibt dieser zwar zunächst eine Lehrerin, der er zutraut, dass sie ihn nicht in der Klasse haben möchte und ihm den Schulerfolg verun möglichen könnte, weshalb er sich letztlich für einen Schulwechsel entscheidet, wenig später jedoch merkt er dann zu möglichen Beweggründen an, dass „die Lehrerin […] vielleicht mir was Gutes tun wollte […], geglaubt [hat], dass ich vielleicht im nächsten Halbjahr schlechter werde“ (Samir IS, 218). Und so bleibt es hier, wie in anderen Sequenzen auch, bei einer Suchbewegung, bei der sich auf bekannte, dominante und wirkungsmächtige Konstruktionen und Erfahrungen bezogen wird, an deren Ende aber nur Möglichkeiten stehen und keine ‚Wahrheit‘, wenn Milot am Ende seiner Deutung relativiert: „Würde ich mir jetzt so vorstellen“ (Milot GD2J, 19) und zugibt: „[M]ir ist das noch nie passiert, dass mir jemand was nicht beantwortet hat, […] wenn ich gefragt habe, aber-“ (Milot GD2J, 19). Das „aber“, mit dem er den Satz unvollendet abbricht, weist darauf hin, dass er seine Interpretation dennoch für wahrscheinlich hält; auch wenn er die konkrete Situation noch nicht erlebt hat – „aber“ vielleicht eine ähnliche. Auch Samir beschließt seinen Erklärungsversuch der Motivation des Lehrers für sein Handeln, die er am Ende noch einmal pointiert zusammenfasst – „Er soll es lieber selber machen, auf seiner Sprache“ (Samir GD2J, 24) – mit einem verlegenen Lachen und dem Zusatz: „So, jetzt mal di-

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rekt gesagt“ (Samir GD2J, 24). In seinem Lachen kommt Unsicherheit zum Ausdruck und in dem abschließenden Satz steckt eine Relativierung, die darüber hinaus deutlich macht, dass er sich bewusst ist, dass er sich mit seinem Verdacht, seiner Deutung einigermaßen weit aus dem Fenster lehnt. Er bricht damit in gewisser Weise ein Tabu, spricht etwas aus, was eigentlich nicht ausgesprochen wird, was normalerweise nicht und schon gar nicht direkt thematisiert wird: einen Rassismusverdacht. Wie so viele andere Situationen bleibt auch diese letztlich offen. Über die Gründe für die Ungleichbehandlung kann nur spekuliert werden, der Rassismusverdacht bleibt ein Verdacht. Mit den Beweisen, die den Verdacht erhärten könnten, oder einer Explikation der Gründe fehlt auch der Bezugspunkt für ein mögliches Handeln oder Reagieren in solchen und auf solche Situationen. Letztlich bleibt es bei einem subjektiven Erleben von Ungleichbehandlung, das einen schalen Beigeschmack und Unsicherheit hinterlässt und das Thematisieren (des Verdachts) der rassistischen Ungleichbehandlung kaum besprechbar macht. ‚Weil ich da wieder keine Freunde hatte‘ In der folgenden Analyse von Passagen meines Gesprächs mit Jamil geht es um das Nicht-Thematisieren von Erfahrungen mit explizitem Rassismus. Im Mittelpunkt von Jamils Erzählung stehen seine Erfahrungen in der Schule, die von Nicht-Zugehörigkeit gekennzeichnet sind. Daran, dass ein Zusammenhang zwischen den erfahrenen Ausgrenzungen und seiner Konstruktion als ‚nicht-deutsch‘ besteht, zweifelt Jamil nicht. Dennoch spielt dieser Aspekt in seiner Erzählung (zunächst) keine Rolle. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, zu rekonstruieren, was Gründe für Jamil sind, spezifische Erfahrungsaspekte und Begründungszusammenhänge nicht (mit) zu teilen, um von hier aus zugleich die Frage nach gesellschaftlichen und sozialen Faktoren zu stellen, die den subjektiven Möglichkeitsraum des Sprechens über Rassismuserfahrungen (und andere Handlungsweisen) begrenzen und auf die seine Gründe verweisen. Die ausführliche Passage, um die es im Folgenden gehen wird, schließt im Prinzip direkt an meine Eingangsfrage an, die das Interview mit Jamil eröffnet: Nachdem ich nach Situationen und Erlebnissen frage, die etwas mit Dazugehören oder Nicht-Dazugehören zu tun haben, verdeutliche ich die Frage auf Nachfrage Jamils noch einmal und frage, ob er sich an Erlebnisse oder Situationen erinnern kann, „die was damit zu tun haben, dass du irgendwo dazugehört hast bei- bei einer Gruppe zum Beispiel von Leuten oder bei denen du irgendwie nicht dazugehört hast, aber bei denen du gerne dazugehören wolltest“ (Interviewerin IJ, 8). Jamil antwortet unmittelbar: „Ja, in der Grundschule, da als ich […] in die erste Klasse kam“ (Jamil IJ, 9). In einem ausführlichen Bericht über den Verlauf seiner Schulzeit bis

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zur fünften Klasse, der sich als Monolog über mehrere Minuten erstreckt, berichtet Jamil daraufhin zunächst von seiner Grundschulzeit. Zugehörigkeitsmanagement Die Grundschulzeit ist für Jamil eine Zeit, in der er sich nicht zugehörig zu seiner Schulklasse fühlt. Als Ursache dafür benennt er die Klassenraumkultur, in der es unruhig, laut und unkonzentriert zuging und die damit dem Gegenteil dessen entsprach, was Jamil von Schule erwartete und worauf sein Vater ihn beim gemeinsamen Lernen schon vor seiner Schulzeit vorbereitet hat, damit er im Prozess des Ankommens in Deutschland und des Einstiegs in die deutsche Schule keine schlechten Noten bekommen würde (vgl. Jamil IJ, 9). Sein Nicht-Dazugehören begründet Jamil mit seiner Unfähigkeit, sich dieser Klassenkultur anzupassen: „Ich saß zu Hause still mit meinem Papa und hab gelernt, und die werfen überall herum und […] fan gen an zu schreien, und dann […] konnte ich mich so da nicht so richtig einfügen“ (Jamil IJ, 9). Während seine Erwartungen und sein Bedürfnis nach Ruhe in der Schule also nicht dem entsprachen, was er in der Klassenraumkultur erfuhr und er sich dieser auch nicht anpassen konnte, um sich ‚einzufügen‘ und dazuzugehören, betont Jamil im direkten Anschluss, mit einem „Aber“ einleitend, die Fähigkeit bzw. das Instrument, mit dem es ihm dann doch gelang, Anerkennung und damit auch Zugehörigkeit zu erwerben: Jamil ist überaus sportlich und bereits in der ersten Klasse schaffte er es, „die beste Urkunde von den ersten, zweiten und dritten Klassen“ (Jamil IJ, 9) zu erwerben, „obwohl ich noch in der ersten“ war. Seine überdurchschnittlichen sportlichen Fähigkeiten stellen für Jamil eine Zugehörigkeits-Ressource dar, die ihm Zugang zu einer Gruppe von „ein paar Drittklässlern“ (Jamil IJ, 9) verschafft. Ihre Anerkennung seiner sportlichen Leistungen ermöglicht es ihm, von nun an zu dieser Gruppe dazu zu gehören. Dabei wird in Jamils rückblickender Erzählung auch deutlich, dass die ‚Freundschaft‘ zu diesen Jungen für ihn – zumindest im Nachhinein – eher in Ermangelung anderer Freundschaften entstand. Die Gruppe, der er sich nach den Bundesjugendspielen anschloss, nachdem diese zu ihm gekommen war und ihm ihre Anerkennung ausgesprochen hatte, und seine Beziehung zu ihr schätzt Jamil im Rückblick folgendermaßen ein: „Und, dann war ich schon mit denen befreundet […], die waren aber eher so, Schläger und so, die […] hatten bestimmt so Probleme zu Hause und hatten […] im Schulhof alles dann ausgelassen so, […] waren so wütend immer an manchen Tagen und […] haben sich sogar gegenseitig geschlagen so. Und haben gesagt: ‚Ja, lass mal den schlagen und den schlagen.‘ […]. Dann hatte ich so eher so ein paar Freunde, obwohl das nicht sehr gut war, finde ich, die waren […] ein bisschen, ja, wie soll man sagen, ja so (....) schlecht oder so, keine Ahnung. […] Und da ich aber keine Freunde hatte, weil die anderen haben immer überall herumgeschrien und […] ich war eher so der Außenseiter in meiner Klasse, aber zu denen […] die hat-

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ten mich dann richtig gern und haben gesagt: ‚Ja, du bist jetzt unser- einer unser besten Freunde.‘ Und dann war ich mit denen so eher befreundet.“ (Jamil IJ, 9)

Alltagssprachlich ließe sich das, was Jamil hier im Rückblick über seine Beziehung zu seinen damaligen Freunden sagt, wohl auch als ‚schlechter Umgang‘ beschreiben und vielleicht ist es das, was Jamil von außen auch zu hören bekommen hat; denn Jamil schloss sich der Gruppe an und hat mit ihnen zusammen „sozusagen so eher Scheiße gebaut so in der Schule.“ Und das, obwohl Jamil eigentlich „auch nicht so wirklich mit denen so viel befreundet sein [wollte], ich wollte nicht, dass ich auch dann so werde. […] Ich wollte einfach nur irgendwelche Freunde haben, die mit mir dann in der Schule abhängen“ (Jamil IJ, 9). Darüber hinaus scheint es relevant für ihn zu sein, zu erwähnen, dass der ‚schlechte Einfluss‘ der Gruppe sich auf die Zeit in der Schule beschränkte und versucht sich so von seinen ‚Freunden‘ weiter abzugrenzen – obwohl sie die einzigen waren, die ihn in einer Weise anerkannten, dass er sich zugehörig fühlte: „Und nach der Schule habe ich mich mit denen ja nicht getroffen […] ich habe nur mit denen meine Pausen verbracht“ (Jamil IJ, 9). Jamils Sportlichkeit stellt sich in punkto Zugehörigkeitsbemühungen als eine Ressource heraus, mit der er nicht nur bei den „Schläger[n]“ punkten kann. Auch im weiteren Verlauf seiner Grundschulzeit, so berichtet er, führt sie dazu, dass er „so eher jetzt so beliebter [war], […] weil ich so jedem Turnier und so, Meisterschaften alles […] war ich da immer der erste Platz. Und dann haben die mich alle gemocht“ (Jamil IJ, 9).84 Neben seiner Sportlichkeit bringt Jamil noch eine weitere Ressource ins Spiel, die ihm zugutekommt: Im Gegensatz zu seinen ‚Freunden‘ war er „noch gut in der Schule“, was ihm zufolge die Begründung dafür ist, dass „die […] immer richtig viel Ärger bekommen [haben], […] einer von denen wurde suspendiert“, er selbst „aber nie Ärger bekommen [hat]“ (Jamil IJ, 9). Diese Ressource ist jedoch offenbar weniger anschlussfähig, wenn es um das Finden von Freunden geht und keineswegs als Zugehörigkeitsressource zu charakterisieren; eher im Gegenteil.85 Jamil ist überdurchschnittlich gut in der Schule, „denn ich […] habe ja die

84 Dieser Aspekt von Jamils Erzählung erinnert an die Erfahrungen von Schwarzen Fußballspielern oder Fußballspielern ‚mit Migrationshintergrund‘, die, für einige ‚Fans‘, solange akzeptierter Teil der Mannschaft sind, wie sie Tore schießen und gute Leistungen bringen, also ‚nützlich‘ sind (vgl. z.B. die Biografie von John Barnes: Out Of His Skin von David Hill) – was wiederum an dominante Einwanderungs- und Intergrationsdebatten erinnert, die im Zeichen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung stehen und unter der Prämisse der ‚Nützlichkeit‘ geführt werden. 85 Vgl. zu Männlichkeitsvorstellungen von Jungen und ihrem Einfluss auf ihre Schulleistungen Stephen Frosh, Ann Phoenix und Rob Patman (2003): „Popular masculinity involves

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ganze Zeit doch mit meinem Papa zu Hause gelernt“, so seine Erklärung dafür, dass er in Anbetracht seines Verhaltens „trotzdem noch ziemlich gut in der Schule [war]“ (Jamil IJ, 9). Jamil beschreibt sich zu Beginn seiner Schulzeit als „so ein Stillerer“ und „Schüchterner“, der sich nicht traut, die Lehrerin zu fragen, wenn er etwas nicht verstanden hat, damit „die [nicht] denken ich wäre dumm“ – denn, so ein paar Sätze später, „ich konnte ja nicht so richtig gut Deutsch“ 86 (Jamil IJ, 9). Das ändert sich ihm zufolge jedoch am Ende der zweiten Klasse: „Und dann konnte ich Deutsch auch noch ganz gut [neben den drei anderen Sprachen, die Jamil zu der Zeit beherrscht, W.S.] und dann habe ich die dritte Klasse übersprungen“ (Jamil IJ, 9). Das Überspringen der dritten Klasse führt dazu, dass Jamil nun mit einigen seiner ‚Freunde‘, die sitzen geblieben sind, in einer Klasse ist. Als diese mitbekommen, dass Jamil im Unterricht ein sehr guter Schüler ist, „so eine Art Streber“ (Jamil IJ, 9), entwickelt sich ein ambivalentes Verhältnis. Zum einen „wollten die nicht mehr sehr viel mit mir zu tun haben […], sie wollten nicht so gerne mit mir befreundet sein, weil ich- weil ich- weil die denken ich wäre so ein Streber“, zum anderen „waren [wir] trotzdem […] befreundet, weil die mich ja mochten“ (Jamil IJ, 9). Nach der vierten Klasse gehen Jamils ‚Freunde‘ auf die „Realschule“, die „Hauptschule“ und auf die „Sonderschule“. Jamil kommt aufs Gymnasium. Auch auf dem Gymnasium gibt es eine Geschichte zum Thema „Dazugehören“ und „Nicht-Dazugehören“ – meiner Eingangsfrage – zu berichten: Jamil erzählt, dass er die fünfte Klasse trotz eines guten Notendurchschnitts auf Anraten seiner Mutter wiederholt hat, weil „da alle so älter waren als ich und […] ich […] da wie der keine Freunde [hatte]“ (Jamil IJ, 9). Auch in diesem Zusammenhang – Wiederholen der Klasse, um die Aussicht auf Freunde zu haben – wiederholt Jamil, fast im gleichen Wortlaut, wie er es im Zusammenhang mit seiner Grundschulclique getan hat: „[I]ch wollte zu denen gehören, aber ich wollte nur mit denen abhängen. So dass ich so ein bisschen beliebter bin, aber so richtig befreundet wollte ich gar nicht mit denen sein“ (Jamil IJ, 9). Mit diesem Statement beendet Jamil die Erzählung aus der fünften Klasse und fügt noch hinzu: „Und das war es. Das war die mit denen“ (Jamil IJ, 9). Er wechselt dann zu seinem Bemühen, sich vorzeitig in der Schülervertretung engagieren zu dürfen (was eigentlich erst ab Klasse sieben möglich war), und zu seinem Engagement als Jahrgangsvertreter, womit er seine zehnminütige Eingangserzählung beendet.

‚hardness‘, sporting prowess, ‚coolness‘, casual treatment of schoolwork and being adept at ‚cussing‘, attributes which are regulated or ‚policed‘ in peer culture“ (ebd., 3). 86 Ähnlich wie im Beispiel von Samir und Milot scheint sich auch Jamil vor dem Hintergrund von Erfahrungen und dominanten Diskursen sicher zu sein, dass das nicht perfekte Beherrschen der deutschen Sprache möglicher Anlass für die Zuschreibung „dumm“ ist.

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Selbstpräsentation: Betonen von Handlungsfähigkeit In einer recht flüssigen Erzählung berichtet Jamil minutenlang und ohne eine Frage meinerseits von seinen (Nicht-)Zugehörigkeitserfahrungen in der Schule und reflektiert diese im Rückblick: Er sieht Zusammenhänge zwischen seinen Ambitionen und Vorstellungen in Bezug auf Schule und Unterricht, der unerwarteten ‚Unruhe‘ im Klassenraum und seiner Unfähigkeit, sich dort „ein[zu]fügen“, er sieht einen Zusammenhang zwischen seinen Schulleistungen bzw. seinem Ruf als „Streber“ und der Schwierigkeit, Freundschaften zu schließen, und er sieht einen Schlüssel zu Zugehörigkeit – wenn auch nicht zu ‚richtiger‘ Freundschaft – in seiner Sportlichkeit. Jamil erzählt, dass er sich in der Grundschule und im Gymnasium Zugehörigkeit gewünscht hat; nicht einmal enge Freunde, sondern einfach „irgendwelche“, mit denen er „in der Schule abhängen“ kann. Dafür nimmt er in der Grundschule auch die ‚eher schlechte‘ Gesellschaft jener Jungs in Kauf, die ihn ob seiner Sportlichkeit einladen, ihrer Gruppe anzugehören. In einer kurzen Episode macht Jamil seine mangelnden Deutschkenntnisse für seine Schüchternheit verantwortlich, die er aber dann bald eigenständig durch das Lernen von Deutsch überwinden kann. Seine Sprachkenntnisse stehen in Jamils Erzählung jedoch nicht mit seinen sozialen Kontakten und Zugehörigkeitserfahrungen in Zusammenhang, sondern ausschließlich mit seinen Schulleistungen: Das Erlernen und Beherrschen der deutschen Sprache ermöglichen es ihm, im Unterricht besser mitzuarbeiten, der Lehrerin Fragen zu stellen und schließlich die dritte Klasse zu überspringen. Als verantwortlicher Akteur in seinen Erzählungen zu (Nicht-)Zugehörigkeiten bzw. seinen Zugehörigkeitsbemühungen taucht ausschließlich Jamil selbst auf: Er setzt auf Sportlichkeit und Maskulinität, er lässt sich auf die Freundschaft mit den „Schläger[n]“ ein, erfährt von ihnen Zugehörigkeit und Anerkennung und schafft irgendwie die Balance zwischen „Schläger“-Sein und „Streber“-Sein, die es ihm ermöglicht, sowohl Zugehörigkeit zu erfahren als auch gut in der Schule zu sein, 87 87 Seinen Beitrag resümierend stelle ich zu seiner Erzählung in der Grundschule fest: „[D]u wolltest dazugehören, aber eigentlich nicht mit denen befreundet sein“ (Interviewerin IJ, 16), woraufhin Jamil ausführt, dass mit seiner Zugehörigkeit zu der Gruppe auch so etwas wie „Respekt“ oder „Angst“ vor ihm einherging. Damit wiederum nahmen auch Beleidigungen, die es zuvor gab, ein Ende (vgl. Jamil IJ, 17). Hier stellt Jamil seine ‚Freundschaft‘ noch deutlicher als strategisches Handeln dar: „Ich habe einfach so einen Weg gesucht mir so diesen Namen ‚Streber‘ wegzumachen. Und so habe ich das“ (Jamil IJ, 17). Als er in der vierten Klasse war, so Jamil, und, seine ‚Freunde‘, weil sie erkannten, das er ein sehr guter Schüler ist (vgl. oben), „die ja nicht mehr so richtig befreundet sein wollten, haben mich auch noch die anderen gemocht: ‚Ja, der ist jetzt kein Schlägertyp mehr. Er ist auch kein Streber, weil er […] ist zwar gut in der Schule, aber […] er ist auch gut im Sport und er ist auch […] schlau‘ und dann haben die mich auch nicht mehr Streber genannt, war ich so eher mit denen allen ganz gut befreundet“ (Jamil IJ, 17).

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und er geht zur Schülervertretung und fragt, ob er mitmachen, dazugehören darf, auch wenn er noch nicht in der siebten Klasse ist. Mit Ausnahme seiner Mutter, die ihm rät, die fünfte Klasse zu wiederholen, berichtet er hier weder von Unterstützung von außen, z.B. von Lehrerinnen oder Lehrern, noch von Ausgrenzungspraktiken anderer. Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen thematisiert Jamil nicht. Die Lücke in Jamils Erzählung: Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen Erst als ich im Anschluss an Jamils Erzählung die einzelnen Zeitabschnitte resümiere und teilweise nachfrage, führt Jamil weiter aus und berichtet von Beleidigungen als „Streber“ (vgl. Jamil IJ, 17), von Ausgrenzung in der ersten Klasse, wenn es z.B. um Gruppenarbeiten ging und niemand mit ihm zusammenarbeiten wollte (vgl. Jamil IJ, 19), und von seiner Angst davor, „dass ich immer etwas Falsches sage und die mich dann auslachen, weil ich ja noch nicht so gut Deutsch konnte“ (Jamil IJ, 21). Dennoch bleibt Jamil aktiv und offensiv, präsentiert sich als Akteur, wenn er fortfährt: „Und dann bin ich immer zu denen hingegangen und dann habe ich zwar […] nichts gesagt, aber ich hatte dann […] versucht so ein bisschen mich mit denen zu unterhalten, aber die ha ben mir dann auch nicht mehr zugehört. Die haben gesagt: ‚Nein, geh weg du Streber‘. Und dann fand ich das- fand ich das halt blöd und dann wollte ich auch nicht mehr mit denen befreundet sein.“ (Jamil IJ, 21)

Auf meine Frage nach Erfahrungen mit Zugehörigkeit bzw. mit Nicht-Zugehörigkeit erzählt Jamil mir also ausführlichst von seinen ersten fünf Schuljahren und berichtet von allerlei Zusammenhängen, die für ihn diesbezüglich Relevanz besitzen. Aber dass er in der Schule, nämlich in der fünften Klasse, darüber hinaus auch massive Rassismuserfahrungen gemacht hat, erwähnt Jamil weder in seinem Eingangsstatement noch auf meine Einladung hin, genauer von seiner Zeit in der Fünften zu erzählen. Erst an späterer Stelle im Interviewverlauf entschließt er sich, mir auch von diesen Erfahrungen zu berichten: Ich frage ihn im Anschluss an seine Ausführungen zu seinen ersten Schuljahren: „Und gibt es Gruppen, wo du heute sagen würdest, da fühlst du dich besonders wohl […]?“ (Interviewerin IJ, 22). Jamil nennt seine Familie und bezeichnet diese als seine „Community“ (Jamil IJ, 25), als den Ort, wo es nur Menschen gibt, mit denen „man gut reden kann“, wo man „mit jedem befreundet“ ist, jedem „trauen“ und „alles besprechen“ kann (Jamil IJ, 27). Im Gegensatz zur Klassengemeinschaft und zur Peergroup stellt für Jamil seine Familie den Ort dar, an dem keine Anstrengungen notwendig sind, um Respekt und Anerkennung zu erfahren, sondern er fraglos und selbstverständlich dazugehört, sich wohlfühlt, über alles sprechen und allen vertrauen kann. Und es ist der Ort, an dem

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er Verständnis und Unterstützung erfährt, und wo Erfahrungen geteilt werden: „So zum Beispiel meine Schwestern, […] wenn ich sage so: ‚Ja, ich habe- ich habe Probleme da in der Schule mit dem Lehrer.‘ Dann sagen die so: ‚Ja, ich hatte auch mal Probleme mit diesem Lehrer‘ oder sagen die: ‚Ja, musst du zum Besprechung-, also diesem Sprechlehrer gehen, der- der dir hilft‘ und so was“ (Jamil IJ, 27). Auf meine Frage, ob er tatsächlich Probleme mit seinem Lehrer hatte oder ob das nur ein Bei spiel gewesen sei, berichtet Jamil: „In der fünften Klasse hatte ich so Probleme mit meinem Deutschlehrer, denn der hatte immer irgendwelche Scherze gemacht, die ich nicht verstanden habe. Aber ich hab- Als ich das zu Hause mit meiner Schwester besprochen hab, hat sie gesagt- hat sie gesagt das wären so eher rassistische Sprüche.“ (Jamil IJ, 31)

Als Jamil ins Gymnasium kommt, war er in seiner Klasse „der einzige Ausländer“ ( Jamil IJ, 31) und „alle waren älter in der ersten fünften Klasse“ (Jamil IJ, 33) als er, weil er ja eine Klasse übersprungen hatte. Jamil berichtet, dass der Lehrer „ihn nicht so richtig [mochte]“ und er „sogar ganz weit außen [saß]“ im Klassenraum (Jamil IJ, 31). Er illustriert seinen als symbolisch für die Situation zu betrachtenden Platz am Rand der Klasse und außerhalb der Gemeinschaft, indem er mir mit den Händen auf dem Tisch zeigt: „[H]ier war die Klasse und ich saß so rechts außen von der Klasse“ (Jamil IJ, 33). Im Verlauf seiner Erzählung wird nun schnell deutlich, dass Jamil in der Klasse nicht nur mit seinem Platz im Raum ausgegrenzt ist. Jamil fasst die Zeit in dieser ersten fünften Klasse folgendermaßen zusammen: „[I]ch war so eher ein Ausgeschlossener und […] der Lehrer war auch nicht sehr gut und deswegen war das so blöd“ (Jamil IJ, 47). In der Schilderung seines Verhältnisses zu seinen Mitschülerinnen und Mitschülern erwähnt Jamil zwar, dass „die […] mich beleidigt haben“, betont aber vor allem seine eigene Entscheidung, „nichts mit denen zu tun haben“ zu wollen – womit er auch die symbolische und faktische Randständigkeit seines Sitzplatzes und dessen Bedeutung relativiert: „Das [die Sitzordnung, W.S.] fand ich zwar richtig blöd, aber ich konnte- ich wollte ja auch nichts- ich wollte auch nichts mit denen zu tun haben, denn die waren- die waren auch irgendwie, keine Ahnung, die haben mich beleidigt und ich- und ich wollte erst gar nicht zu denen hinkommen oder irgendwie, dass die- dass die irgendwie nach irgendwas fragen oder was weiß ich was. Ich wollte gar nicht mit denen reden oder mich mit denen unterhalten.“ (Jamil IJ, 33)

Seine Situation in der Klasse fand Jamil „so blöd“ (Jamil IJ, 47), „einfach blöd“ (Jamil IJ, 33), „richtig blöd“ (Jamil IJ, 33), „ziemlich blöd“ (Jamil IJ, 35) und „voll blöd“ (Jamil IJ, 47). Gewünscht hätte er sich von der Klasse, „dass die mich eher

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akzeptieren“ (Jamil IJ, 47). Insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Jamil sich von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern nicht akzeptiert fühlt, setzt er seine Hoffnung in die Solidarität und Unterstützung durch seine Lehrer: „[I]ch dachte vielleicht wäre ich ja trotzdem mit meinen Lehrern befreundet“ (Jamil IJ, 33). Leider erfährt Jamil von ihnen jedoch keine ‚Freundschaft‘; im Gegenteil. Jamil hat in der Klasse, in der er von seinen Mitschülerinnen und Mitschülern und von der Sitzordnung ausgegrenzt, am Rande platziert wird, zudem einen Deutschlehrer, der „Scherze“ macht, die Jamil nicht „so richtig verstanden hat“ (Jamil IJ, 33), wie er mehrmals betont (vgl. Jamil IJ, 31, 33, 35): „Er hatte irgendwas immer so auf Hochdeutsch irgendwas gesagt so, irgendwie so: ‚Ja, dein Immigrationshintergrund ist ziemlich, was weiß ich was‘ oder irgendwas hat der gelabert. Und ich wusste ja nicht mal wie das geschrieben wird.“ (Jamil IJ, 35)

Obwohl er die „Scherze“ seines Lehrers nicht richtig versteht, bekommt Jamil mit, dass diese auf seine Kosten gehen. Denn „immer wenn der Lehrer irgendwas gesagt hat, hatten die einfach so auch noch mit angefangen zu lachen oder so und ich hab das nicht so richtig verstanden“ (Jamil IJ, 35). Dass auch „die Anderen […] gelacht [haben]“, wenn der Lehrer seine „Sprüche“ gemacht hat, trug dazu bei, dass Jamil sich „immer so ausgeschlossen [fand]“ (Jamil IJ, 35). Die Tatsache, dass sein Lehrer nicht nur in einer für ihn unverständlichen, aber ‚gefühlt‘ abwertenden Weise mit und über ihn spricht, sondern zudem noch kollektiv darüber gelacht wird, fühlt sich nicht nur „blöd“ an, sondern macht ihn zudem zu einem „Ausgeschlossene[n]“ (Jamil IJ, 47). Da er das Erlebte allein nicht einzuschätzen vermag, sucht Jamil Rat bei seinen Schwestern, die ihn darauf aufmerksam machen, dass es sich hier um „eher so rassistische Sprüche“ handelt (Jamil IJ, 31). Herausforderungen des Sprechens über Rassismuserfahrungen Jamils Situation in der Klasse ist von Ausgrenzung durch seine Mitschülerinnen und Mitschüler und durch seinen Lehrer gekennzeichnet. Er nimmt eine Rolle als „Ausgeschlossener“ und „Außenseiter“ ein. Und obwohl konkrete Bezüge zu seiner Identifikation als ‚nicht-deutsch‘ in Praktiken der Ausgrenzung manifest sind und explizit hergestellt werden, entschließt Jamil sich, den rassistischen Gehalt der erfahrenen Ausgrenzung und ihr Ausmaß (zunächst) nicht zu benennen. Dies kann auf mehrere mögliche Begründungsaspekte zurückgeführt werden. Selbstverständlich kann ein Grund für sein anfängliches Schweigen meine Person als seine Gesprächspartnerin sein: ein nicht ausreichendes Vertrauen mir gegenüber, die Gefahr der möglichen Bagatellisierung seiner Erzählung oder des Nicht-Ernst-Nehmens von meiner Seite aus und/oder Scham mir gegenüber, sich selbst als ‚Opfer‘ und ‚Ausgegrenzter‘ zu präsentieren, die ihn daran hindert, mir von dem Ausmaß seiner Mar-

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ginalisierung zu erzählen. Letzteres erscheint auch angesichts eines von mir vermuteten Bestrebens, sich selbst als erfolgreichen Akteur zu präsentieren, plausibel. Auch den Sprech-Taktiken von Samir und Jamil, die im vorherigen Kapitel herausgearbeitet wurden, liegen vermutlich ähnliche Beweggründe zugrunde. Vor diesem Hintergrund fällt es Jamil unter Umständen nicht leicht, (mir und sich) einzugestehen, dass er sich einer Situation ausgesetzt sah, in der ihm allein aufgrund seiner ‚Verstehensschwierigkeiten‘ und der Übermacht jener Anderen, ihn Ausgrenzenden in der Klasse weniger Möglichkeiten des aktiven Handelns, des Herstellens von Zugehörigkeit offen standen. Denn obwohl er auch in dieser Situation aktiv und mutig handelt, gelingt es ihm in diesem Kontext letztlich nicht, Zugehörigkeit herzustellen und die rassistischen „Scherze“ des Lehrers für ihn zufriedenstellend zu stoppen (vgl. unten). Neben unserem persönlichen Verhältnis und Überlegungen Jamils zu seiner Selbstpräsentation sind vermutlich auch die Verhältnisse in der geschilderten Schulsituation von entscheidender Relevanz. Denn diese führen dazu, dass sich ihm der rassistische Gehalt der erfahrenen Ausgrenzung trotz Explikationen in gewisser Weise lediglich subtil und versteckt offenbarten, es ihm vermutlich auch daher schwerfällt, Rassismus direkt als solchen zu benennen und zu skandalisieren. So ist anzunehmen, dass die Sprache des Lehrers, die Jamil nicht „verstanden“ hat – vermutlich, weil er sich zu eloquent für Jamil ausdrückt, der zu dem Zeitpunkt erst etwa zehn Jahre alt war und „nicht so richtig ganz Deutsch sprechen konnte“ (Jamil IJ, 122) –, und die es dem Lehrer aufgrund der erzeugten ‚Unschärfe‘ ermöglicht, seine Botschaften subtil zu vermitteln, eine gewichtige Rolle spielt. Des Weiteren macht der Lehrer „Scherze“ und „so Sprüche“. Die Form der Vermittlung ausgrenzender Inhalte ist mithin neben einer komplizierten, für Jamil kaum zu durchdringenden Sprache zudem noch von einem den Gehalt verschleiernden ‚Spaß-Label‘ gekennzeichnet. Dass als ‚Spaß‘ gelabelte oder codierte Aussagen mit rassistischen Inhalten nur schwer zu deuten, als rassistisch bzw. diskriminierend zu kategorisieren und vor allem zu skandalisieren sind, wurde in Kapitel 2.5 ausführlich herausgearbeitet. Hinzu kommt in diesem Fall noch das Fehlen einer Begründung, mit der Jamil in der Lage wäre, das rassistische Handeln eines Lehrers für diesen als subjektiv sinnvoll zu deuten. In Jamils Augen gibt es keinen Grund für das Handeln des Lehrers, keinen Anlass. Seine Motivation bleibt für Jamil unerklärlich – insbesondere vor dem Hintergrund seiner Erwartung an Lehrer, sich in Bezug auf eine Klassengemeinschaft eigentlich ganz anders zu verhalten (vgl. Jamil IJ, 47). In unserem Gespräch fällt es Jamil schwer zu beschreiben, was da eigentlich passiert ist. Er formuliert, dass der Lehrer „auf einmal [an]fing […] mich einfach so zu beleidigen. Naja, nicht so richtig beleidigen, aber er hat- er hatte so rassistische Ausdrücke so. Keine Ahnung“ (Jamil IJ, 33). Jamil erklärt sich das rassistische Verhalten des Lehrers ihm gegenüber – in einer Klasse, in der er auch von seinen Mitschülerinnen

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und Mitschülern Ausgrenzung erfährt, unter anderem, indem sie ihn dafür „ausgelacht [haben], […] dass ich den Lehrer nicht verstanden hatte“ (Jamil IJ, 122) – schließlich damit, dass „der Lehrer […] so ein bisschen ein Dümmerer [war,] [d]er […] eher wohl Probleme mit so Ausländern gehabt [hatte]“ (Jamil IJ, 33). Ge wünscht hätte Jamil sich in dieser Klasse hingegen, „dass der Lehrer wenigstens irgendein netter Lehrer wäre und, und dann hätte er vielleicht sogar irgendwas hinvielleicht irgendwas hingekriegt, dass die anderen auch mit mir befreundet wären oder so“ (Jamil IJ, 47).88 In Jamils Erzählung wird überaus deutlich, dass er in seiner Klasse, in der er „der einzige Ausländer“ (Jamil IJ, 31) und aufgrund des Überspringens der dritten Klasse zudem der Jüngste ist, unter dem ausgrenzenden Verhalten seiner Mitschülerinnen und Mitschüler, die ihn u.a. als „Streber“ ausschließen und ihn „beleidigen“, sowie unter dem rassistischen Verhalten seines Lehrers leidet. Und dies obgleich er sich in seiner Erzählung immer wieder bemüht, die Erfahrung zu relativieren, indem er betont, dass er mit denen, die ihn ausgrenzen, auch „nichts zu tun haben“ wollte, dass jetzt aber „alles gut“ sei oder es ihm auch „egal“ gewesen sei. Beispielhaft wird dies etwa in folgender Passage deutlich, in der er seine Einschätzung des Lehrers expliziert: „Der hatte eher wohl Probleme mit so Ausländern gehabt, denn auf einmal fing er an mich einfach so zu beleidigen. Naja, nicht so richtig beleidigen, aber er hat- er hatte so rassistische Ausdrücke so. Keine Ahnung. Ich hatte das zwar nicht so richtig verstanden, mir war das dann aber auch egal, aber es hat sich dann alles gebessert.“ (Jamil IJ, 33)

Jamil stellt im Verlauf des Interviews einen zunächst überaus vorsichtig und eher defensiv formulierten Zusammenhang zwischen der Rolle und dem Verhalten seines Lehrers und seiner Nicht-Zugehörigkeit, seiner Ausgrenzung in der Klasse her, bevor er, wie in obigem Zitat, explizit wird. Einen Zusammenhang, den er zunächst ausgelassen, den er nicht erwähnt hat. Jamil sieht sich in der fünften Klasse nicht nur symbolisch, durch die Sitzordnung, an den Rand gedrängt, sondern im sozialen Kontext der Schulklasse einer breiten Front von Mitschülerinnen, Mitschülern und dem Lehrer, und zudem als einziger in der Klasse, einem mehr oder weniger subtilen Rassismus ausgesetzt, dem er wenig entgegensetzen kann; weil er die Anspielungen, „Sprüche“ und „Scherze“ gar nicht richtig versteht, weil er in seiner Klasse von niemandem Unterstützung oder Solidarität erwarten kann und weil der Lehrer zudem die Autorität in der Klasse darstellt, der sich darüber hinaus der Unterstützung des Restes der Klasse gewiss sein kann und quasi die Lacher auf seiner Seite weiß. 88 Jamil verweist hier auf seinen „Lehrer in der sechsten Klasse“: „[D]er hatte immer dafür gesorgt [...], dass wir so ein Team bleiben“ (Jamil IJ, 47).

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Umgangsweise I: Widerständiges Handeln innerhalb des Rahmens Ebenso wie deutlich wird, dass Jamil durch die Verhältnisse in der Klasse ausgegrenzt wird und er sich unwohl fühlt, wird auch überaus deutlich, dass Jamil aktiv handelt und die Verhältnisse zu verändern versucht. Er wehrt sich gegen die Zustände in seiner Klasse. Jamil ist zuerst auf seinen Lehrer zugegangen und hat „das zu ihm gesagt“ (Jamil IJ, 31). Jamil expliziert das „das“ nicht weiter. Was genau er sagt, wird nicht deutlich; und in Anbetracht der Tatsache, dass auch die Situationen, in denen sein Deutschlehrer „so rassistische Ausdrücke“ benutzt, für ihn undeutlich sind, es ihm auch im Gespräch mit mir schwerfällt, das Erlebte in passende Worte zu kleiden, ist das kaum verwunderlich. Jedoch ist klar, dass Jamil seinen Lehrer trotz der Herausforderung des Sprechens über das Erlebte in irgendeiner Weise auf seine Redeweise, seine als ‚Spaß‘ und ‚Scherz‘ gelabelten, diskriminierenden Sprüche anspricht und sein Missfallen diesen gegenüber zum Ausdruck bringt. Vor dem Hintergrund des oben skizzierten Kontextes finde ich Jamils konfrontatives Agieren überaus mutig. Der Lehrer jedoch wiegelt ab und geht nicht auf Jamil ein, nimmt ihn offenbar nicht ernst: „[E]r hat gesagt, nee, er meinte das nicht so ernst, […] er hat das nur einfach so gesagt“ (Jamil IJ, 31). Diese Reaktion macht Jamil „wütend, naja, warum er- warum er mich nicht mochte, denn ich- ich war der einzige Ausländer in meiner Klasse“ (Jamil IJ, 31). Jamils Wut resultiert dieser Schilderung zufolge aus der Tat sache, dass ein rassistischer Gehalt der Redeweise des Lehrers durch diesen abgestritten wird, obschon dieser für Jamil relativ offensichtlich zu sein scheint; auch, weil er der „einzige Ausländer“ in seiner Klasse ist, was einen Zusammenhang zwischen dieser Markierung und der ihn von anderen trennenden Praxis des Sprechens über ihn nahe legt. Hinzu kommt die Wut, und wohl auch die Enttäuschung, wie oben deutlich wurde, über die persönliche Ablehnung, das ‚Nicht-Mögen‘ von Jamil, das dieser auf seine ‚Ausländer-Markierung‘ zurückführt. Auf diese Weise, durch das Abstreiten einer rassistischen Intention, die Nicht-Anerkennung von Jamils Gefühlen des Ausgegrenzt-Seins, der von ihm als Rassismus erfahrenen Redeweisen sowie die fehlende Unterstützung durch den Rest der Klassengemeinschaft bleibt der vom Lehrer ausgeübte Rassismus subtil und latent, nur für Jamil sichtund spürbar und nicht beweis- und anklagbar. Jamil erfährt keine Anerkennung seiner Perspektive und der subjektiven Konsequenzen einer als rassistisch empfundenen und ausgrenzenden Redeweise und damit auch keine Anerkennung seiner Person und seiner Bedürfnisse. Ohne das explizite Zugeben, dass es sich bei der Handlungsweise um den unzulässigen Rückgriff auf Zuschreibungen oder Verallgemeinerungen mit rassistischen Effekten gehandelt hat, dass es um die Ablehnung von Jamil als Stellvertreter für die Gruppe der ‚Ausländer‘ ging, ohne die Unterstützung von ‚Zeugen‘, bleibt die Rassismuserfahrung Jamils eine ‚private‘, eine subjektive, wird sie nicht zu einer öffentlich sichtbaren und damit skandalisierbaren Praxis. Mit

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der Weigerung des Lehrers, sich mit den Inhalten und Konsequenzen seiner Redeweise auseinanderzusetzen und Jamil in seiner Perspektive und seinem Anliegen ernstzunehmen, bleibt Jamil mit seiner Erfahrung quasi allein und der praktizierte Rassismus im Verborgenen, unter dem Deckmantel der vermeintlichen ‚Scherze‘, im Kontext der dominanten Gemeinschaft der ‚Nicht-Anderen‘ seiner Klasse, auf die die ‚Scherze‘ des Lehrers offenbar ebenfalls erheiternd wirken, als nicht-ernstgemeinte und nicht-rassistisch-intendierte Praxis legitimiert. Auf diese Weise bleibt so in letzter Konsequenz auch der allgemeine Mythos vom Nicht-Vorhandensein von Rassismus in der Mitte der Gesellschaft, in der Schule, bei Lehrern, im Alltäglichen, weiter bestehen und wird nicht in Frage gestellt. Jamil ist nach dieser Reaktion zunächst ratlos, fühlt sich hilflos und weiß nicht, was er angesichts seiner Lage machen, wie er mit seiner Situation umgehen soll: „mich [haben] alle ausgelacht […] und ich [habe] nichts verstanden […], ich so, ja, wieso, was soll ich jetzt machen, wie soll ich jetzt damit umgehen? Die lachen mich alle aus, jeder ist gegen mich, ich habe keine Freunde da und sogar der Lehrer ist gegen mich. Und das, wie soll das, was soll ich da machen?“ (Jamil IJ, 176)

In der Schule sieht Jamil keinerlei Unterstützungsmöglichkeiten und hat sich dort „hilflos gefühlt“ (Jamil IJ, 176). Unterstützung erfährt er „zu Hause […], bei meiner Community, da bin ich zu meinen Schwestern gegangen, habe darüber gesprochen und meine ältere Schwester hat gesagt: ‚Geh zum Besprechungslehrer und falls du nicht zu ihm hingehen kannst, dann geh ich für dich mal.‘“ (Jamil IJ, 176)

Jamil befolgt den Ratschlag seiner Schwester, gibt sich mit der Antwort des Lehrers nicht zufrieden und sucht nun Unterstützung beim Vertrauens- bzw. Besprechungslehrer seiner Schule. Dieser versichert Jamil, dass er noch einmal mit seinem Deutschlehrer reden wird; was er auch tut. Jedoch hat das Jamil zufolge „nicht sehr viel gebracht“ (Jamil IJ, 31). Das Resultat dieses Gesprächs zwischen den beiden Lehrern war, dass Jamils Deutschlehrer „sich zwar entschuldigt […], aber ab dann“, so Jamil, „hat er mit mir gar nicht gesprochen“ (Jamil IJ, 45). „Er hat einfach mit mir aufgehört zu reden“ (Jamil IJ, 31). Das Ergebnis von Jamils offensivem Vorgehen gegen Rassismus, so ließe sich zusammenfassen, ist, dass er nun noch eine weitere Form der Ausgrenzung erlebt: nämlich Missachtung und Ignoranz. Jamils ‚Randständigkeit‘ in der Schulklasse wird vom Lehrer nun nicht mehr verbal zum Ausdruck gebracht, sondern, indem er Jamil „einfach sozusagen aus dem Weg gegangen“ ist (Jamil IJ, 45), mittels verweigerter Anerkennung und Beachtung. Seinem Wunsch nach Zugehörigkeit, danach, dass seine Mitschüler und Mitschülerinnen ihn „akzeptieren“, danach, dass sein Lehrer „irgendein netter Lehrer wäre“, der

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ihn mag, mit dem er vielleicht „befreundet“ sein kann oder der ihn darin unterstützt, „vielleicht irgendwas hinkriegt, dass die anderen auch mit mir befreundet wären“, kommt er nicht näher. Die Verkennung von Rassismus Der in der Klasse praktizierte Rassismus bleibt weiterhin verdeckt und unsichtbar. Er wird nicht problematisiert oder besprochen. Vielmehr wird Rassismus hier dethematisiert auf eine Lappalie reduziert, auf eine Unstimmigkeit im Schulalltag, die in den Augen der beteiligten Lehrer mittels einer ‚Entschuldigung‘ überwunden und verschwunden zu sein scheint: Der Deutschlehrer „hat sich zwar entschuldigt“, grenzt Jamil danach jedoch weiterhin, wenngleich mit anderen Mitteln, aus, und der Besprechungslehrer sieht seine Pflicht offenbar erfüllt, nachdem Jamil „zum Besprechungslehrer gesagt [hat]: ‚Er hat sich bei mir entschuldigt‘“ (Jamil IJ, 45). Wie ein Streit zwischen Kindern, die sich ‚entschuldigen und wieder vertragen‘ sollen, scheint auch dieses ‚Problem‘ in seinen Augen mittels einer ritualisierten, möglichst unaufwendigen Formel (Beschwerde + Entschuldigung = Friede) gelöst werden zu können. Der erfahrene Rassismus und seine Folgen für Jamil werden hier von Jamils potenziellem Unterstützer entweder nicht erkannt oder nicht ernst genommen. Rassismus wird stattdessen auf ein einmaliges Missverständnis reduziert, das letztlich anhand der (angenommenen) Intention eine Bewertung erfährt: Weil ‚es nicht so gemeint war‘, ist es auch nicht weiter schlimm. Weil ‚es nicht so gemeint war‘, ist es zudem – folgt man den gängigen Definitionen von Rassismus – kein Rassismus. Denn dieser zeichnet sich durch Intentionalität als einem tragenden Element aus. Infolgedessen können rassistische Handlungen von den sie Praktizierenden nach diesem Muster weggewischt werden und rassistische Effekte von den von ihnen Betroffenen nicht in angemessener Weise skandalisiert und angeklagt werden. Im Gegenteil erscheint Jamil, bzw. erscheinen jene, die mit solchen subtilen Rassismen konfrontiert sind, als würden sie zu Unrecht Anklage erheben. Der Spieß dreht sich um und aus den ‚Opfern‘ von Rassismus werden ‚Täter‘, die ungerechtfertigt Anklage erheben, die ‚zu sensibel‘ sind oder – ähnlich wie bei den als ‚Spaß‘ gelabelten und codierten Praktiken in Kapitel 2.5 – keinen Spaß verstehen. Diese wiederkehrende Erfahrung im Leben der Jugendlichen, die Bagatellisierung und das Abstreiten von Rassismuserfahrungen, halte ich für einen zentralen Aspekt, der das Sprechen über Rassismuserfahrungen so sehr erschwert. 89 Es ist die Furcht, mit den eigenen Erfahrungen zurückgewiesen und nicht ernst genommen zu werden, aber auch die Unsicherheit, die auf diese Weise entsteht, ob das, was erfahren wird, tatsächlich Rassismus ist, ob legitimiert problematisiert und skandalisiert werden darf. Rassismus als ein gesellschaftliches Verhältnis, das sich auf vielfältige Weise in den Lebenswelten von Jugendlichen zeigt, wird hier ebenso verkannt wie die daraus re89 Vgl. auch Essed 1984, 46, 66 und Melter 2006.

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sultierenden, sich wiederholenden, alltäglichen Rassismuserfahrungen, die weitreichenden Einfluss auf gesellschaftliche und soziale Zugehörigkeitsverhältnisse, Fremd- und Selbstbilder sowie Identitätsarbeit und Subjektivierungen 90 von Jugendlichen nehmen. Umgangsweise II: Verlassen bzw. Veränderung des Rahmens Entsprechend hat sich an Jamils Situation in der Klasse trotz seines aktiven Handelns nichts Wesentliches geändert, die ‚Intervention‘ des Besprechungslehrers stellt für Jamil keine befriedigende Unterstützung dar. Jamil sieht seine Handlungsmöglichkeiten, innerhalb des Rahmens seiner Schulklasse etwas zu verändern, damit erschöpft. In der Konsequenz gilt sein nächster und letzter Schritt der Veränderung des Rahmens, um seine Situation zu verbessern. Jamils Unwohlsein in der „ersten fünften Klasse“ des Gymnasiums, so wird im Folgenden deutlich, begleitet ihn in seiner Erinnerung von Anfang an. Bereits „nach einer Woche oder so“ – so seine rückblickende zeitliche Einschätzung – hat er seine unglückliche Situation mit seinen Eltern besprochen. Entweder bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, vielleicht aber auch erst bei einem zweiten Gespräch nach einem halben Jahr in der Klasse, das wird in seiner Erzählung nicht deutlich, hat er gemeinsam mit seinen Eltern darüber nachgedacht, die Klasse zu wechseln. Diese boten ihm an: „wenn du nicht mehr kannst, dann reden wir mit den Lehrern, dass sie dich in eine andere fünfte Klasse […] schicken“ (Jamil IJ, 41). Aus Angst, dass sich das Problem mit einem Wechsel der Klasse nicht lösen lassen würde, weil Jamil sich „so mal gedacht“ hat, dass der Grund für seine Ausgrenzungserfahrung mit dem Alter seiner Mitschülerinnen und Mitschüler zu tun haben könnte, dass „die vielleicht auch noch alle gleich [sind]. Denn […] vielleicht“, so spekuliert Jamil, „ist jeder in diesem Alter so merkwürdig“ (Jamil IJ, 41), entscheidet Jamil sich letztlich dagegen, die Klasse während des laufenden Schuljahres zu wechseln. Stattdessen beschließt er, dass er „das Jahr noch zu Ende“ macht: „[I]ch [halte so] durch und dann wiederhole ich“ (Jamil IJ, 41). Und das tut er dann auch. Er ‚hält durch‘, indem er sich zurückzieht, zu Hause lernt, sich auf seine Freunde konzentriert und seine Unterrichtspausen allein mit einem Buch verbringt (vgl. Jamil IJ, 43); und dann wiederholt er die fünfte Klasse auf dem Gymnasium – wie er es mir in seiner Eingangserzählung ja auch schon berichtet und begründet hat: „Weil ich dort wieder keine Freunde hatte.“ Fazit: Lücken, die Lücken produzieren Es ist an erster Stelle die verweigerte Zugehörigkeit, das „Außenseiter“- und „Ausgeschlossener“-Sein in der Klassengemeinschaft, was Jamil so unzufrieden macht. An zweiter Stelle steht sein Lehrer, der nicht nur nicht nett ist und ihn nicht darin 90 Vgl. zu Subjektivierungsprozessen in rassistischen Verhältnissen Rose 2012.

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unterstützt, mit den anderen befreundet zu sein und der auch nicht mit ihm befreundet sein will, sondern ihn ganz offensichtlich nicht mag und zudem rassistische Sprüche macht und ihn beleidigt. Während Jamil in der Grundschule in seiner ausgegrenzten Situation noch eine Gruppe gefunden hatte, bei der er mit Sportlichkeit und Maskulinität punkten konnte, wo er zu den „Schläger[n]“ dazugehörte und sich so taktisch klug Zugehörigkeit und Anerkennung verschaffen konnte, findet er auf dem Gymnasium zunächst weder eine Gruppe, zu der er dazugehört, noch eine Ressource, die seine Zugehörigkeitsbemühungen begünstigen würde, und keinerlei Unterstützung in seinem Bemühen um Zugehörigkeit durch andere im Kontext Schule. Am wenigsten von seinem Deutschlehrer, von dem er dies zwar erwarten würde, der jedoch selbst einen beträchtlichen Teil zu seiner Nicht-Zugehörigkeit beiträgt. Weder sein Deutschlehrer noch sein Besprechungslehrer übernehmen die notwendige menschliche und professionelle Verantwortung; nicht für Jamil und das Ernstnehmen seiner Bedürfnisse und seines Anliegens, nicht für das eigene Verhalten und produzierte rassistische Effekte und auch nicht für die Ausgrenzung Jamils in seiner Klasse. Jamils Taktiken, im Rahmen seiner Schulklasse etwas an seiner Situation zu ändern, scheitern trotz aller (mutigen und offensiven) Bemühungen an einem Setting, in dem er keine Ressourcen zum Einsatz bringen kann, die das ungleiche Machtverhältnis verschieben könnten, das zwischen ihm als Einzelnen und seinem Deutschlehrer und zwischen seiner subjektiven Perspektive und einer gesellschaftlich und auch in diesem Rahmen dominanten Perspektive auf die Bestimmung dessen, was Rassismus ist, existiert. In der „ersten fünften Klasse“ tut sich keine Lücke auf, die es Jamil erlaubt, sich ‚innerhalb‘ einzurichten. So bleibt ihm letztlich nur, den Kontext zu verschieben bzw. diesen zu verlassen. Jamil, so möchte ich meinen, reizt seinen Möglichkeitsraum des Handelns, des möglichen Umgangs mit Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung, aus. Letztlich jedoch ist dieser Möglichkeitsraum durch machtvolle Verhältnisse und Bedingungen begrenzt, die ein in seinem Sinne gelingendes, die Situation veränderndes Handeln nicht zulassen. Diese sind sowohl auf einer gesellschaftlichen Ebene zu verorten, wo das Bild einer homogenen Gesellschaft nach wie vor die legitim erscheinende Bestimmung von ‚Anderen‘ zur Folge hat, die über ‚Normalität‘ und ‚Abweichung‘ entscheidet, und die mit gesellschaftlicher Privilegierung bzw. Benachteiligung einhergeht, wie sie sich in Strukturen beispielsweise der Institution Schule, z.B. in Form eines selbstverständlichen „monolingualen Habitus“ (Gogolin 1994), niederschlagen. Auf der institutionellen Ebene sind darüber hinaus fehlende Unterstützungsstrukturen und Anlaufstellen für Schülerinnen und Schüler, die sich, wie Jamil, mit rassistischer Diskriminierung konfrontiert sehen, zu konstatieren. Zudem ist festzustellen – wie viele der hier vorgestellten Erzählungen von Jugendlichen und nicht nur Jamils Erzählung belegen –, dass Lehrerinnen und Lehrer Rassismus in seinen verschiedenen Manifestationsformen und

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Artikulationen in der Institution Schule, im eigenen Verhalten und als rassistische Effekte in den Lebenswelten ihrer Schülerinnen und Schüler offenbar verkennen und verharmlosen. Dies, so kann vermutet werden, hängt auch mit einem diskursiv dominanten und wirkmächtigen, unzureichenden und verkürzten Alltagsverständnis von Rassismus zusammen, das zum einen (indirekt) das Sprechen über eigene Rassismuserfahrungen erschwert, wenn nicht gar verhindert und zum anderen ungenügend ist, um alltägliche Formationen und Artikulationen des Rassismus, wie sie sich in der Schule und in den Lebenswelten von Jugendlichen, vor allem aber auch im Verhalten von professionellen Pädagoginnen und Pädagogen manifestieren, als solche zu erkennen. Als ‚Analysebrille‘ und ‚Perspektive‘ ist ein solches Verständnis von Rassismus, wie es in Kapitel I 1.2 thematisiert und im empirischen Material implizit immer wieder sichtbar wird, unzureichend für die notwendig differenzierte Betrachtungsweise einer vielfältig rassistischen Normalität und ihrer Ausdrucksformen sowie ihrer Konsequenzen für gesellschaftliche und soziale Verhältnisse; auch innerhalb der Schule oder der Schulklasse und insbesondere für Schülerinnen und Schüler, die Rassismus erfahren. Vor allem aber verunmöglicht es den Blick auf die eigene Involviertheit in alltägliche Manifestationen des Rassismus wie auch in das gesellschaftliche System des Rassismus, womit nur allzu oft, wie zum Beispiel in Jamils Fall, aber auch in vielen andere Fällen zu sehen ist, der Lehrerinnen und Lehrern obliegenden Verantwortung für das eigene (professionelle) Handeln und dem angemessenen Eingreifen in Situationen der unzulässigen Unterscheidung, Kategorisierung, Zuschreibungen und Ausgrenzung nicht nachgekommen wird. Man könnte auch sagen, dass die Lücken im dominanten (Nicht-)Rassismusdiskurs wiederum Lücken produzieren: In den Handlungsmöglichkeiten von Jamil, in seiner Erzählung über Rassismus und in der Reflexivität seiner Lehrer bei Konfrontation mit einem Rassismusvorwurf. ‚Warum trauen die sich jetzt nicht, was zu sagen?‘ Wie schon in den vorausgegangenen Analysen dieses Kapitels, aber auch in anderen Beispielen angeklungen ist, steht das Schweigen über Rassismuserfahrungen bzw. stehen Herausforderungen des Sprechens über Rassismuserfahrungen, das Thematisieren dieser als solche und insbesondere ihre deutliche Anklage und Verurteilung in engem Zusammenhang mit dem Schweigen der Diskriminierenden bzw. der ausbleibenden Explikation von Begründungen für Ausgrenzung und Ungleichbehandlungen. In der Szene, die im Folgenden analysiert wird, geht es um das Nicht-Spre chen jener, die zu ihren Motiven für eine Jamil ausgrenzende Verhaltensweise schweigen. Und es geht um Jamils Bedürfnis und Handlungsweisen, jene, die ihn ausgrenzen, zum Sprechen zu bringen.

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Jamil berichtet von dieser Situation im Rahmen der Gruppendiskussion der Jungen, die am letzten Tag der Forschungswerkstat stattfindet. Ahmet führt während der Diskussion folgendermaßen ein neues Thema ein: „Mit Blick auf […] diese Flüsse vom Leben, ihr habt ja auch ein paar Beispiele gebracht, wo ihr Ausgrenzungserfahrungen gemacht habt. Wo habt ihr da selber Gewalt ausgeübt?“ (Inter viewer GD2J, 85)

Ahmet möchte von den Jungen etwas zu Gewalt erfahren, die sie selbst ausgeübt haben. Er verknüpft diese Aufforderung – „Wo habt ihr da selber Gewalt ausgeübt?“ – mit zweierlei: zum einen mit der Biografie-Übung ‚Fluss des Lebens‘, die zwei Tage zuvor in der Forschungswerkstatt stattgefunden hat (vgl. Kap. IV 2.1), zum anderen mit Ausgrenzungserfahrungen, die sie gemacht haben. Damit wird die Aufforderung, über Gewaltausübung zu sprechen, in den Kontext der eigenen Biografie und in den Zusammenhang mit eigenen Ausgrenzungserfahrungen gebracht. Es geht also um Begebenheiten, die nicht aktuell sein müssen, sondern irgendwann im Laufe des Lebens der Jugendlichen stattgefunden haben können, und – implizit – um solche Situationen, die eine besondere Rolle in ihrer Biografie einnehmen: Denn die Aufgabe beim ‚Fluss des Lebens‘ bestand darin, ihnen wichtige Ereignisse und Erlebnisse in ihrem Leben mithilfe des Flusses zu symbolisieren bzw. in diesem zu markieren. Zudem geht es um Situationen, in denen die Jungen „Ausgrenzungserfahrungen gemacht“ und „selber Gewalt ausgeübt“ haben (Interviewer GD2J, 84).91 Nachdem Jamil von Ahmet direkt angesprochen wird – „Hattest du was?“ (Interviewer GD2J, 88) –, berichtet dieser von einem Erlebnis im Freibad. Jamil schildert, wie er von mehreren Kindern oder Jugendlichen, 92 die dort ein Spiel spielen, ausgegrenzt wird, indem sie ihn ignorieren, als er mitspielen will, und wie er in dieser Situation gehandelt hat: „Einmal beim Freibad da […] gab es so ein Spiel, das ist so was ähnliches wie ‚Die Bombe platzt‘ und dann hatte jeder- da musste aber jeder immer ganz schnell aneinander. Und als ich 91 Die ‚Aufgabenstellung‘ ist relativ anspruchsvoll; sowohl in ihrer Verbindung von erlebter Ausgrenzung und gleichzeitig ausgeübter Gewalt als auch durch die Frage als solche: Denn Jugendliche thematisieren selbst ausgeübte Gewalt gegenüber Erwachsenen und Pädagogen nicht unbedingt gern und selbstverständlich. Jedoch war Gewalt immer wieder ein Thema, über das Ahmet und die Jungen gesprochen haben. Neben den Erfahrungen der Jugendlichen ist hier vermutlich auch eine besondere Aufmerksamkeit gegenüber Gewaltthemen, die Ahmet als Anti-Gewalt-Trainer mitbringt, von Bedeutung. 92 Weder, ob es sich um Kinder oder Jugendliche handelt, noch, wie lang das Erlebnis zurückliegt, geht aus Jamils Erzählung hervor.

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die gefragt habe […], ob ich mitspielen kann haben die mich alle ignoriert so ne. Und dann habe ich einfach so mal mitgespielt- habe ich einfach so mitgespielt und dann haben die so getan als würde ich nicht mitspielen, sind ein bisschen weiter zur Seite gegangen. Ich habe gewartet bis sie irgendwas sagen oder so, bis sie- bis sie sagen so: ‚Ja, du spielst- spiel doch jetzt nicht mit‘ und mir den Grund nennen, warum ich nicht mitspielen darf. Hab ich mich einfach dazugestellt, habe ich mich dazugestellt und der- der eine, der hat mich probiert so wegzuhauen, den habe ich halt probiert so wegzuhauen und dann habe ich einfach auch so ihn zur Seite gestupst und habe- und habe einfach so mitgespielt. Das Merkwürdige daran war, die waren dann trotzdem noch ruhig, obwohl das denen nicht gefallen hatte, dass ich mitspie le haben die- haben die nichts gesagt. Und dann- und dann bin ich ja lieber selbst- selbst weggegangen, habe ich gesagt: ‚Ja, die sind sogar mehr, warum trauen die sich jetzt nicht was zu sagen‘, ich sage so: ‚Ja, sag doch was? Was ist los?‘ Und die sind einfach nur stehen geblie ben. Und das ist- das war jetzt nicht gerade () richtig Gewalt ausüben, aber ich habe versucht irgendwie, mal den Grund rauszubekommen […].“ (Jamil GD2J, 89)

Die verschwiegenen Spielregeln der Ausgrenzung Jamil berichtet von einem Spiel, das von anderen gespielt wird, und bei dem er ger ne mitspielen möchte. Also fragt er die Spielenden, ob er mitspielen könne. Jedoch erhält er auf seine Frage nicht nur keine Antwort, sondern gar keine Reaktion. Er wird von „alle[n] ignoriert“. Jamils Frage an Kinder oder Jugendliche, die er vermutlich nicht oder zumindest nicht gut kannte, und die daher in gewisser Weise auch als mutig zu interpretieren ist, und die darauf folgende Nicht-Reaktion kann hier nicht nur als Ausdruck des Wunsches nach ‚Mitspielen‘ und der Verwehrung dieses Wunsches gelesen werden, sondern auch als Wunsch nach dem Dabei-Sein, dem Mitmachen gemeinsam mit anderen, als Wunsch nach Zugehörigkeit zu der Gruppe der Spielenden. Entsprechend ist die ausbleibende Antwort, die Ignoranz, die er daraufhin erfährt, auch als eine Absage an diesen Wunsch des Mitmachens, des Dabei-Seins, der Zugehörigkeit zu interpretieren. Jamil gibt sich jedoch nicht damit zufrieden, dass er keine Antwort erhält. Er spielt „einfach so mal mit“. Aber auch auf diesen nächsten Schritt hin bekommt er keine Reaktion von den anderen, die lediglich „so getan [haben] als würde ich nicht mitspielen“ und „ein bisschen weiter zur Seite gegangen [sind].“ Es ist diese Ignoranz, die Jamil keine Ruhe lässt. Sie ist letztlich beides: keine Absage und doch mehr als eine Absage. Zum einen handelt es sich hier um keine deutliche Verneinung, es wird nicht ausgesprochen, dass er nicht mitmachen darf und schon gar nicht begründet, warum. Stattdessen wird das Nicht-Sprechen zur ersten symbolischen Äußerung, das Zur-Seite-Gehen zur zweiten. Es wird ihm nonverbal gezeigt, dass er nicht mitspielen darf, dass er unerwünscht ist. Mit Jamil wird nicht gesprochen, er bekommt keine verbale Antwort auf seine Frage, sondern wird stattdessen auf seine eigene Interpretation der Symbolik zur Deutung und Sinnge-

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bung der Situation verwiesen. Zum anderen wiegt diese ‚Absage ohne explizierte Absage‘ schwerer, als es eine verbale Verneinung täte. Denn mit dem Ignorieren seiner Frage geht hier auch ein Ignorieren seiner Person einher. Damit kommt implizit auch zum Ausdruck, dass er den anderen Kindern bzw. Jugendlichen offenbar nicht einmal so viel Aufmerksamkeit wert ist, ihn wahrzunehmen, geschweige denn ihn mit seinem Wunsch zu erkennen, sein Anliegen in Betracht zu ziehen oder gar mit ihm zu sprechen. Vermittelt wird vielmehr: ‚Du bist für uns gar nicht da.‘ Hier kommt nicht nur die Definitions- und Entscheidungsmacht zum Ausdruck, über die die Gruppe verfügt. Die Tatsache, dass innerhalb der Gruppe zudem Einigkeit darüber zu bestehen scheint, dass Jamil es nicht einmal wert ist, als potenzieller Mitspieler überhaupt in Betracht gezogen zu werden und dass über diesen Konsens offenbar noch nicht einmal gesprochen werden muss, es keiner Rückversicherung in der Gruppe bedarf, lässt die vermittelte Geringschätzung in einem noch grelleren Licht erscheinen. Darüber hinaus bleiben mit einer verbalen Absage auch mögliche Anknüpfungspunkte für eine verbale Reaktion aus, z.B. für ein Diskutieren des Ablehnungsgrundes oder Überredungskünste Jamils. Mit der Begründung der Spielenden bleiben für Jamil auch spezifische Handlungsmöglichkeiten aus. Begründungssuche in ungleichen Machtverhältnissen Obwohl die Zeichen ziemlich klar zu deuten sind, bleibt die Situation für Jamil nicht nur unbefriedigend, sondern auch erklärungsbedürftig. Er gibt sich mit der symbolischen Verneinung seiner Frage nicht zufrieden. Jamil möchte explizit gesagt bekommen, dass er nicht mitspielen darf, und er möchte eine Begründung dafür hören. Das Bedürfnis nach verbalisierter Klarheit und Begründung des Ausschlusses und der Nicht-Reaktion ist so stark, dass Jamil sich trotz der ausgrenzenden Situation, die vermutlich nicht angenehm für ihn ist, nicht aus dieser zurückzieht. Stattdessen hat er „gewartet bis sie irgendwas sagen […], bis sie sagen so: ‚Ja, du spielstspiel doch jetzt nicht mit‘ und mir den Grund nennen, warum ich nicht mitspielen darf.“ Seine Entscheidung in dieser Situation, trotz der offensichtlichen Ausgrenzung dennoch ‚einfach so mitzuspielen‘, sich ‚einfach dazuzustellen‘ lässt sich als Versuch lesen, die Gruppe zu zwingen, ihn wahrzunehmen und sich zu positionieren, eine Erklärung von Seiten der Gruppe zu provozieren. Im Laufe des (Ausgrenzungs-)Spiels kommt es dann schließlich zu einer körperlichen Konfrontation, in der Jamil und ein Junge aus der Gruppe sich gegenseitig versuchen „wegzuhauen“ und Jamil diesen „zur Seite gestupst“ hat. Auch das hält Jamil aber nicht davon ab, weiter einfach mitzuspielen. Dies, so meint Jamil, sei nun ein Maß an Provokation – egal, ob als Teil des Spiels, das er aktiv mitzuspielen versucht, oder als körperliche Auseinandersetzung –, das ausreichen müsste, um eine verbale Reaktion zu erhalten. Diese bleibt jedoch ‚merkwürdigerweise‘ aus: „Das Merkwürdige daran war, die waren dann trotzdem noch ruhig, obwohl das de-

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nen nicht gefallen hatte, dass ich mitspiele haben die […] nichts gesagt.“ Jamil gelingt es nicht, die Situation für ihn befriedigend aufzulösen. Weder folgt auf die physische Auseinandersetzung eine verbale Begründung dafür, dass er nicht mitspielen soll, noch auf seine explizite Aufforderung: „Ja, sag doch was? Was ist los?“ Die Reaktion bleibt nonverbaler Art: „[D]ie sind einfach nur stehen geblieben.“ Sein Handeln in dieser Situation ist für Jamil „jetzt nicht gerade () richtig Gewalt ausüben“ – ‚aber vielleicht ein bisschen‘, so ließe sich ergänzen. Nach dem Motto ‚der Zweck heiligt die Mittel‘ ist sein Handeln für Jamil legitim: „[A]ber ich habe versucht irgendwie, mal den Grund rauszubekommen“. Trotz seines offensiven Handelns bleibt die Situation für Jamil letztlich ungeklärt. Resümierend fragt er sich, was der Grund für das Schweigen der Gruppe war und sieht in mangelndem Mut eine mögliche Erklärung für ihr Schweigen: „Ja, die sind sogar mehr, warum trauen die sich jetzt nicht was zu sagen“. Die Ausgren zungsbegründung auszusprechen, erfordert Jamil zufolge also offenbar Mut, sie auszusprechen, muss man sich trauen. Diese selbstverständlich formulierte Einschätzung Jamils kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass er eine Vermutung hat, was die Begründung ist. Ausgesprochen wird diese jedoch nicht. Es ist aber auch denkbar, dass Jamils Vorstellung von ‚sich trauen‘ (zudem) mit körperlicher Überlegenheit einhergeht und er deshalb den Widerspruch betont, der für ihn damit einhergeht, dass der Gruppe offenbar Mut fehlte, obwohl sie ihm gegenüber in der Mehrheit und damit klar im Vorteil war. Das Kräfteverhältnis, das hier zum Tragen kommt, ist allerdings keines, das primär auf körperliche Stärke rekurriert. Die Macht der Spielenden wirkt subtiler. Ihre Überlegenheit kommt gerade durch die Möglichkeit des „ruhig“ und gelassen Bleibens und des Schweigens zum Ausdruck. Ihre Stärke und ihre Macht zeigt sich in ihrer Kontrolle über die Situation, in der Verfügungsgewalt, die ihnen über den Möglichkeitsraum zukommt, und die ihnen das gleichmütige Ignorieren von Jamils Provokation erlauben. Ganz offensichtlich ist sich die Gruppe der Spielenden dieses sie privilegierenden Machtverhältnisses bewusst, das es ihnen ermöglicht, die Spielregeln des Spiels zu bestimmen. Sie haben die Macht zu entscheiden, wie gespielt wird und wer mitspielt. Und sie haben auch die Möglichkeit, an diesem von ihnen definierten und besetzten Ort, einem Machtbereich, über den sie verfügen, zu schweigen und die Spielregeln symbolisch zu verdeutlichen – ohne sie explizieren oder begründen zu müssen. Jamils Möglichkeitsraum und Handlungstaktik Indem Jamil versucht, die Spielenden zur Explikation, Erklärung und/oder Begründung ihrer Inklusions- und Exklusionsregeln zu bringen, versucht er nicht nur, die Situation für sich nachvollziehbar und verstehbar zu machen, sondern vor allem auch, sie zu vereindeutigen. Im Gegensatz zu vielen anderen Situationen, von denen er und auch andere in Interviews und Gruppendiskussionen berichten, beschränkt

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sich seine Suche nach Gründen, nach Klarheit und Deutlichkeit hier nicht auf den Austausch mit anderen im Nachhinein. Jamil wählt eine Taktik, wie de Certeau die Handlungsform ‚der Schwachen‘ (vgl. de Certeau 1988, 92) theoretisiert hat, um sein Ziel, das Beseitigen von Vagheit und Uneindeutigkeit in der Situation, zu erreichen: Er beschreibt, er habe „irgendwie, mal [versucht] den Grund rauszubekommen“, mit dem seine Exklusion schweigend legitimiert wird. Das „irgendwie“ deutet darauf hin, dass sein Handeln nicht geplant ist, sondern eher einem spontanen Versuch gleichkommt, das „mal“, dass es sich bei dieser Situation, in der er Diskriminierung erfährt, ohne dass es eine logische und nachvollziehbare Begründung dafür gibt, nicht um einen Einzelfall handelt, sondern diese quasi stellvertretend für andere, ähnliche Situationen steht, er also für verschiedene Situationen „den“ gleichen Grund vermutet. Spontan, weil die Gelegenheit günstig zu sein scheint, so macht es den Eindruck, nutzt Jamil Ort und Zeit (vgl. de Certeau 1988, 23), nutzt er, stellvertretend für andere, diese Situation, um in den Machtbereich der Machthabenden einzudringen und mittels einer provozierenden Intervention – ‚einfach mitspielen‘, „obwohl das denen nicht gefallen hat“ – „irgendwie mal den Grund rauszubekommen“, auf den sich andere bei ausgrenzendem Verhalten verschwiegen und verdeckt und ohne ihn zu explizieren beziehen. Mit seiner Taktik der Präsenz und Provokation, „die nur den Ort des Anderen [hat]“ (ebd., 89), sieht Jamil an diesem spezifischen Ort, in dieser Situation, seine Chance auf Antwort. Dafür muss seine Taktik „mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“ (ebd.). Er bewegt sich in einem Raum, der jenseits seiner Kontrolle liegt, der von den anderen, vom „Feind“ (ebd.), kontrolliert und organisiert wird. Auf diesem unsicheren Boden versucht Jamil situativ, spontan, offensiv und provokativ die sich ihm bietende Gelegenheit zu nutzen, eine Antwort auf die Frage nach dem Warum, nach den Spielregeln des Ausgrenzungsspiels zu erhalten. Jamil schätzt sein Handeln letztlich, zumindest im Hinblick auf sein eigentliches Ziel, als erfolglos ein. Er resigniert in der Situation schließlich: „[D]ann bin ich ja lieber selbst- selbst weggegangen.“ Auf Nachfrage von Ahmet, der ihn im Anschluss an seine Erzählung fragt: „[W]ie war das für dich?“ (Interviewer GD2J, 94), betont Jamil, dass es vor allem das Scheitern seiner Taktik, die trotz aller Anstrengungen offenbleibende Frage nach den Gründen und die für ihn nicht nachvollziehbare (Nicht-)Reaktion der anderen sind, die bei ihm „ein merkwürdiges Gefühl“ erzeugten (Jamil GD2J, 95): „Das war ein merkwürdiges Gefühl sozusagen. Ja die- da- da die auch noch nicht mal mir einen Grund genannt hatten und immer einfach nur stehen geblieben sind, konnte ich ja nichts machen. Bin einfach weg und bin einfach meinen Weg gegangen.“ (Jamil GD2J, 95)

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Dieses ‚merkwürdige Gefühl‘, ein Gefühl also der Uneindeutigkeit, vielleicht auch der Ratlosigkeit, das zum einen der für ihn nicht nachvollziehbaren (Nicht-)Reaktion der Spielenden und der Uneindeutigkeit der Situation geschuldet ist, zum anderen aber auch im Zusammenhang mit der Tatsache steht, dass er seine Handlungsmöglichkeiten nach der Nicht-Reaktion der anderen erschöpft sieht, steht bei seiner Antwort im Mittelpunkt. ‚Merkwürdig‘ ist eine Gefühlsbeschreibung, die in Bezug auf Emotionen relativ distanziert wirkt. Ähnlich wie in der vorherigen Erzählung Jamils präsentiert er sich auch hier in erster Linie als handlungsfähig und lösungsorientiert. Emotionen nehmen in seinen Schilderungen hingegen sehr wenig Platz ein.93 Und so betont er auch im Anschluss an die Frage nach seinem Gefühl weniger die emotionale als vielmehr eine handlungsorientierte Ebene: Durch die Reaktion bzw. Nicht-Reaktion der spielenden Gruppe, durch die Tatsache, dass sie ihm „noch nicht mal […] einen Grund genannt hatten“, sondern „immer einfach nur stehen geblieben sind“, so Jamil, „konnte ich ja nichts machen“ (GD2J, 95). Sie bieten Jamil keinerlei Handlungs- und Anknüpfungsmöglichkeit, die seinem Ziel mitzuspielen oder zumindest der Klärung der Spielregeln und einer expliziten Positionierung der Gruppe zu ihrer Ausgrenzungspraxis zuträglich gewesen wäre. Für ihn bleiben damit die Logik des ‚Ausgrenzungsspiels‘ und die Folgen seiner Intervention unverständlich, der Ausgrenzungsgrund weiterhin latent und subtil und nicht manifest und deutlich, was zum einen unbefriedigend ist und zum anderen einem Handeln, das die Situation verändern könnte, ihn zum Mitspieler machte, verunmöglicht. Jamil löst sich letztlich aus diesem Abhängigkeitsverhältnis, in dem er zu den Spielenden – die bestimmen können, wer mitspielt und wer nicht – steht, indem er sich entschließt, aus ihrem Spiel auszusteigen. Er verlässt den Machtbereich der Gruppe, der es ihnen ermöglicht, über den Möglichkeitsraum seines Handelns in entscheidendem Maße zu bestimmen. Jamil, so scheint es in seiner Selbstpräsentation, erkennt letztlich, dass er in dieser, ihm unverständlich und merkwürdig erscheinenden Situation nichts mehr ausrichten kann und entscheidet sich daraufhin selbstbewusst, den ‚Ort der anderen‘ zu verlassen und sich wieder ‚dem eigenen‘ zuzuwenden: „Bin einfach weg und bin einfach meinen Weg gegangen“ (Jamil GD2J, 95). Fazit: Leerstellen, Schweigen und Sprachlosigkeit Im Mittelpunkt von Jamils Erzählung steht das Streben nach Eindeutigkeit, nach einer Erklärung, die die bloßen Vermutungen ersetzt. Er setzt einiges daran, „irgend93 Mecheril interpretiert dieses Phänomen als „Verletzungsabwehr“ (1997a, 188). Auch Rava, dessen Erzählung Mecheril analysiert, nutzt, wie Jamil, das Wort ‚merkwürdig‘ und spricht nicht von Wut, Trauer oder Ähnlichem. „Das ‚Negative‘ darf nicht bestehen bleiben, es wird in das ‚Positive‘ der Handlungsorientierung umgewandelt“ (ebd.), so Mecheril. Eine Interpretation, die auch für Jamils Beispiele überaus passend ist.

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wie mal den Grund rauszubekommen“, „wartet bis sie irgendwas sagen“, ihm „den Grund nennen, warum […] [er] nicht mitspielen darf“ (Jamil GD2J, 89). Ähnlich wie in Erzählungen anderer Jugendlicher kommt auch in Jamils Erzählung nicht nur der Wunsch nach Verstehen zum Ausdruck. Auch die Begründung für seinen Ausschluss bleibt, wie in anderen Situationen, unausgesprochen; ebenso wie der von ihm vermutete Grund für seinen Ausschluss. Sowenig wie die Gruppe eine Begrün dung expliziert, expliziert Jamil eine vermutete Begründung. Aus dieser doppelten Dethematisierung ergibt sich quasi eine doppelte Leerstelle im Sprechen über und Thematisieren von Rassismus. Verhandelt wird in Jamils Erzählung etwas Unausgesprochenes – vermutlich, genau wissen wir es nicht, Rassismus. 94 Die Nicht-Benennung von Rassismus(-erfahrungen) durch betroffene Jugendliche betrifft sowohl das Sprechen in der Diskriminierungssituation selbst als auch die während der Forschung häufig zu beobachtende Form des Sprechens über die Situation: ihre nichtexplizierenden, vorsichtigen, verdeckten Thematisierungspraktiken. Auch hier gibt es also eine Art doppeltes Schweigen über Rassismus, kann eine durch rassistische Verhältnisse erzeugte doppelte Sprachlosigkeit, oder vielleicht eher: -behinderung, konstatiert werden. Die gesellschaftliche Dethematisierung von Rassismus setzt sich auf diese Weise im Konkreten, bei unterschiedlichen Akteuren und Akteurinnen und auf unterschiedlichen Ebenen des (Nicht-)Sprechens fort bzw. um. 2.7 Rassismus als unsichtbare Erfahrung In den bisherigen Schilderungen und Analysen wurde deutlich, dass Rassismus sich den Jugendlichen häufig nicht als eindeutig zu bestimmendes, sondern als absurdes, undeutliches und häufig diffuses Phänomen präsentiert, das in verunsichernder, ausgrenzender und vielfach restriktiver Weise Einfluss auf ihre Lebenswelten und Möglichkeitsräume nimmt. Auf unterschiedlichste Weise und mit meist ambivalenten Effekten verhalten sich Jugendliche in komplexen und widersprüchlichen Verhältnissen zu als diskriminierend, verletzend, nervig, verunsichernd, merkwürdig, komisch etc. empfundenen Handlungsweisen, von denen sie wissen, merken oder vermuten, dass sie sich auf ihre Konstruktion als ‚Andere‘ und stereotypisierende Zuschreibungen beziehen.

94 Obwohl Jamil keine Vermutung expliziert, legt der Kontext, in dem seine Erzählung stattfindet, doch nahe, dass er die Begründung für seinen Ausschluss in seiner Markierung als ‚nicht-deutsch‘ vermutet. Warum Jamil keine Vermutung ausspricht, ob er davon ausgeht, dass alle in der Runde wissen, worum es geht, ob er selbst sich bezüglich der Begründung zu unsicher ist oder auch ihm, ähnlich wie er es den Spielenden unterstellt, der Mut fehlt, rassistische Zuschreibungen als (vermutete) Begründung auszusprechen, wo ihm doch die Beweise dazu fehlen, solange die anderen schweigen, bleibt unklar.

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In den Erzählungen der Jugendlichen sind darüber hinaus zuweilen aber auch solche Aspekte und Formen des Rassismus auszumachen, die von ihnen selbst zwar mitunter als ‚lästige‘, nicht aber unbedingt als unangemessene Ungleichbehandlung und Ausgrenzung empfunden bzw. erkannt werden. Um diese Erfahrungen soll es im Folgenden gehen. Insofern unterscheidet sich dieses letzte Kapitel der Datenanalyse von den vorausgegangenen dadurch, dass hier nicht die unterschiedlichen Deutungen und Handlungsweisen der Jugendlichen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Denn die Erfahrungen, um die es hier geht, sind Erfahrun gen, die nicht als Rassismuserfahrungen und auch nicht als irritierend, verletzend, ausgrenzend o.Ä. wahrgenommen werden. Sie scheinen mitunter als strukturell und institutionell verankerte Rassismen selbstverständlicher und ‚legitimer‘ Bestandteil ihrer Lebenswelt zu sein und werden – im Gegensatz zu individuellen Handlungen – kaum hinterfragt.95 Als in dominante Diskurse und Strukturen involvierte Mitglieder der Gesellschaft greifen auch die Jugendlichen auf Deutungsmuster zurück, die keinen Zusammenhang zwischen sozialen Praktiken, rechtlichen Regelungen oder institutionalisierten Abläufen sowie Selbstverständlichkeiten und rassistischer Benachteiligung herstellen. Benachteiligende Regelungen werden akzeptiert, wenngleich mitunter widerwillig, und unter Rückgriff auf Deutungsmuster legitimiert, die sie selbst als (gefährliche) ‚Andere‘ konstruieren. Dass auf solche Deutungsmuster zurückgegriffen wird, um erlebte Ungleichheitserfahrungen sinngebend zu interpretieren, kam in dieser Arbeit bereits mehrfach zum Ausdruck. Ein etwas anderes Beispiel im Hinblick auf strukturellen Rassismus liefert Milot, der auf die Frage, was er in der Gesellschaft ändern würde, wenn er es könnte, u.a. sagt: „Zum Beispiel, es gibt ja Leute so, die die dürfen halt nicht nach Deutschland kommen und so was und, also ich würde das gut finden, wenn man in Europa oder so so was halt macht, dass man halt überall hin kann und so. Ich weiß nicht, ist ja sinnlos, dass ich zum Beispiel, wenn mein Onkel oder so was mich besuchen will hier in Deutschland, dass er das nicht kann oder mein Opa, den ich halt nur einmal im Jahr sehe und der halt schon ziemlich alt ist und so was. Dass man extra immer ein Visum haben muss und dafür so viel Geld bezahlen muss und so was. Das wollte ich schon immer mal ändern, auch als ich klein war. Weil früher, als ich halt keinen deutschen Pass hatte, konnte ich nicht nach Y-Land. Das war- Damals wollte ich 95 Eine auffällige Ausnahme bildet neben der wiederholten Medienkritik auch die Diskussion um das Verbot, als muslimische Lehrerin ein Kopftuch zu tragen. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung bzw. in den Monaten zuvor wurde das ‚Kopftuchverbot‘ in Medien und Politik breit diskutiert. Nicht nur in meinem Gespräch mit Amina war diese Diskussion – die in ihrem Politikunterricht in Form einer ‚Pro-Kontra-Diskussion‘ aufgegriffen wurde (vgl. Kap. 2.4) – Thema. Auch in der Gruppendiskussion der Jungen wurde ausführlich darüber gesprochen und das Bestreben, das Tragen eines Kopftuches für berufstätige Frauen generell zu verbieten, als diskriminierend abgelehnt (vgl. GD2J, 211-254).

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das schon immer ändern, so. Nur es hat halt nicht jeder einen deutschen Pass, der dann halt dahin kann oder so was. Also das hat jetzt nicht unbedingt was mit Diskriminierung zu tun, aber-“ (Milot IM, 349).

Milot ist sich unsicher, ob diese von ihm im Zusammenhang mit Familienbesuchen als „sinnlos“ eingeschätzten Maßnahmen der Visapflicht und der Ein- und Ausreisebeschränkungen „was mit Diskriminierung zu tun haben“; zumindest aber haben sie ihm zufolge „nicht unbedingt was mit Diskriminierung zu tun“. Das „nicht unbedingt“ signalisiert ebenso wie das „aber“, nach dem er seinen Satz abbricht, einen Zweifel Milots daran, ob diese Einschränkungen von Bewegungsfreiheit für spezifische Personen tatsächlich nichts mit Diskriminierung zu tun haben. Ich frage nach: Interviewerin: „Findest du nicht?“ Milot:

„Nicht unbedingt so jetzt, weil ist klar, man will ja nicht, dass jetzt zum Bei spiel jeder Terrorist oder so was, hier in sein Land rein kommt oder so was, wer weiß. Hat schon seine Gründe bestimmt, aber ich wollte das halt immer schon so haben. Ja.“ (IM, 350-351)

Milot geht davon aus, so schildert er in unserem Gespräch, dass diese Regelungen, obwohl sie ihn und vor allem Familienmitglieder benachteiligen und ihm „sinnlos“ erscheinen, dennoch legitim sind. Bei seinem Erklärungs- und Sinngebungsversuch für diese Regelung bezieht Milot sich auf bekannte Diskursinhalte: Die restriktiven Einreisebestimmungen dienen der inneren Sicherheit des Landes. Zwar ist er sich keineswegs sicher, was genau der Grund für diese Bestimmungen ist, aber er geht dennoch davon aus und vertraut letztlich darauf, dass diese auf struktureller Ebene verankerten diskriminierenden Regelungen, auch wenn sie ihm aus persönlichen Gründen missfallen mögen, Gründe haben, die diese legitimieren, dass diese Regelungen schon ihre Richtigkeit haben werden. An der generellen Legitimität dieser staatlichen Maßnahmen der Ausgrenzung scheint Milot nicht zu zweifeln: „Hat schon seine Gründe bestimmt“. Auch wenn er sich also durchaus nicht sicher ist, ob diese Regelungen nicht vielleicht doch etwas mit Diskriminierung zu tun haben, akzeptiert er sie letztlich als vermutlich, aus ihm nicht bekannten Gründen, ‚richtig‘ und berechtigt. In ähnlicher Weise wie Milot akzeptiert auch Filiz restriktive rechtliche Bestimmungen, ohne sie zu hinterfragen. Filiz ist zum Zeitpunkt unseres Gespräches 17 Jahre alt, will Lehrerin werden und besitzt keine deutsche Staatsangehörigkeit. Im Zuge unseres Gespräches, in dem es an dieser Stelle um das Leben in V-Land und Deutschland und um Aufenthaltsbestimmungen geht, sage ich zu ihr in einer Mischung aus Frage und Feststellung: „Aber du könntest deutsche Staatsbürgerschaft

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beantragen, oder?“ (Interviewerin IF, 78). Filiz antwortet, dass sie das mit 18 Jahren kann und auch vorhat. Sie begründet dies folgendermaßen: „Ja, mit 18 aber erst. Und das mach ich dann auch. Und das muss ich als Lehrerin auch ha ben, soweit ich das so mitgekriegt habe. Das kann man aber auch irgendwo verstehen, das ist halt nicht so, dass die jetzt sagen: ‚Ja, alle Beamten müssen deutsche Staatsangehörigkeit ha ben‘. Das kann ich irgendwo verstehen.“ (Filiz IF, 79)

Filiz hinterfragt die staatliche Bestimmung des Beamtenrechts, die mit Bevor- und Benachteiligung in Abhängigkeit von der Staatsangehörigkeit einhergeht, zunächst nicht,96 sondern akzeptiert diese als gegeben und geht offenbar davon aus, dass diese Bestimmung keine Diskriminierung ist. Stattdessen gibt sie an, dass sie diese Regelung versteht, obgleich sie für sie persönlich zumindest mit Handlungsbedarf und dem Beantragen der deutschen Staatsbürgerschaft einhergeht (wobei sie gleichzeitig klarmacht, dass sie auf keinen Fall ‚Deutsch‘ genannt werden will). Ich frage sie nach den Gründen für ihr Verständnis, bzw. einfach nur „Warum?“ (Interviewerin IF, 80), und es wird deutlich, dass Filiz eine Begründung für dieses ‚Verstehen‘ nicht parat hat, dass sie sich darüber oder gar über eine etwaige Notwendigkeit einer Begründung für eine solche Regelung auch noch nie Gedanken gemacht hat, sondern sie als gesetzliche Bestimmung einfach akzeptiert. Vielmehr scheint es, dass Filiz, ähnlich wie Milot, davon ausgeht, dass diese Regelung auf Begründungen zurückzuführen ist, die sie legitimieren, sich aber außerhalb ihres Wissens und also ihres Begründungs- und Urteilsvermögens befinden. Filiz:

„Warum. Jetzt lass mich das mal begründen … Ich weiß nicht, das ist so. .. Keine Ahnung, wie soll ich das begründen, Wiebke. Du stellst so komische Fragen.“

Interviewerin: „Ja, ich frage mich halt warum sollen denn nur Deutsche Lehrer sein dürfen.“ Filiz:

(vehement) „Nein, ich- Wenn ich eine deutsche Staatsangehörigkeit habe, dann will ich nicht, dass irgendjemand zu mir sagt: ‚Du bist Deutsch‘.“

Interviewerin: „Mhm, okay. Also, warum dürfen nur Leute mit deutscher Staatsangehörigkeit?“ Filiz:

„Ich weiß nicht, das ist so ein Gesetz und das muss man halt akzeptieren. […] Das kannst du einfach nicht beantworten. Das ist so und das musst du akzeptieren. Du lebst in dem Land so.“ (IF, 81-87)

96 Zudem ist festzuhalten, dass Filiz offenbar nicht weiß, dass Lehrerinnen und Lehrer auch im Angestelltenverhältnis an Schulen arbeiten und die deutsche Staatsangehörigkeit in diesem Fall nicht notwendig ist; oder aber, dass ein Angestelltenverhältnis, das auch mit finanziellen Nachteilen gegenüber verbeamteten Lehrerinnen und Lehrern einhergeht, für sie, die die Option auf die deutsche Staatsangehörigkeit hat, nicht in Frage kommt.

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Es scheint mir, als wisse Filiz mit meiner Frage nichts anzufangen. Sie ist nicht überfordert, weil sie die Antwort nicht weiß, sondern weil ihr das Stellen der Frage, so mein Eindruck, einigermaßen unverständlich ist, sie vielleicht auch nicht weiß, worauf ich hinaus will. Denn, so lässt sich vermuten, die Tatsache, dass es sich hier um ein zu akzeptierendes Gesetz handelt – nicht um ein zu hinterfragendes, womöglich zu veränderndes –, scheint für Filiz absolut selbstverständlich. Ich versuche daher meine Frage zu erklären bzw. zu rechtfertigen und begründe, warum ich ‚Warum?‘ gefragt habe; worauf Filiz ihre ursprüngliche Aussage, auf die sich meine Frage bezog, zurücknimmt: Interviewerin: „Ja. Ich glaube ich habe nur gefragt, weil du gesagt hast, du kannst es verste hen.“ Filiz:

„Ja, ich kann- ich kann- Also ich kann das- also verstehen würde ich sagen, okay, war vielleicht falsch (), ich kann das akzeptieren so. Weil es in jedem Land irgendwas so gibt so was für die halt so ist […]. Und das macht dann ja auch jeder. […] Da passt sich- da passt man sich einfach an.“ (IF, 88-89)

Filiz ‚akzeptiert‘ die Bestimmung, ohne die Sinnhaftigkeit oder die Konsequenzen dieser, aber auch anderer gesetzlicher Regelungen, die mit aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen verbunden sind, zu hinterfragen. In ähnlicher Weise betont sie auch bezüglich der Notwendigkeit einer Niederlassungserlaubnis, bevor eine geschäftliche Selbstständigkeit in Deutschland möglich ist, sowie der Abhängigkeit der (Form der) Arbeitserlaubnis vom Aufenthaltstitel in Deutschland: „Das ist auch wieder so ein Ding, so einfach so akzeptieren. Keine Ahnung“ (Filiz IF, 91). Als ich Filiz daraufhin frage: „Und wie findest du das?“ (Interviewerin IF, 92), wird deutlich, dass sie diese Regelungen – zumindest im Kontext dieses Gespräches, in dem sie als Person mit ihren Perspektiven und Erfahrungen im Mittelpunkt steht – nicht als diskriminierend und folgenreich insbesondere für jene erkennt, die nicht, wie sie, die Möglichkeit haben, mit 18 Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen. Statt einer strukturellen Ebene hat sie die individuelle bzw. ihre spezifische persönlich-individuelle Ebene bei der Beurteilung dieser Maßnahmen im Blick: „Ich finde es nicht schlimm, weil es ändert nichts an der Persönlichkeit, es ist einfach nur ein Pass, den du da vorzeigst. […] Es kommt drauf an wie du denkst und nicht das was auf dem Papier da steht, ob da Deutsch oder V-Ländisch steht .. Ja.“ (Filiz IF, 92)

So wie Filiz und Milot machen Jugendliche in dieser Gesellschaft also auch Rassismuserfahrungen, die zwar konsequenzenreich sind, als Rassismuserfahrung aber auch für sie selbst quasi ‚unsichtbar‘ bleiben; womit auch einhergeht, dass Jugendli-

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che sich diesen strukturellen Rassismen gegenüber kaum ablehnend oder widerständig positionieren (können), sondern sie gleichfalls als ‚normal‘ akzeptieren.

VI Resümee

In der Analyse des Datenmaterials sind mannigfaltige Komplexitäten, Widersprüchlichkeiten und subjektiv unterschiedliche Weisen des Erfahrens gesellschaftlicher Verhältnisse deutlich geworden. Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Subjekt und Gesellschaft bzw. zwischen Subjekt und Diskurs als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse konnten anhand der Erzählungen der Jugendlichen ebenso herausgearbeitet werden wie die vielfältigen Weisen des Sich-in-BeziehungSetzens und Umgehens mit gesellschaftlichen Verhältnissen und ihren Manifestationen. Das Verfassen eines zusammenfassenden Fazits stellt vor diesem Hintergrund insofern eine Herausforderung dar, als damit auch die Gefahr einhergeht, komplexe, widersprüchliche und subjektiv besondere Verhältnisse, Deutungs- und Umgangsweisen in unzulässiger Weise zu verallgemeinern und zu vereindeutigen und somit ihrer Subjektivität, Komplexität und Widersprüchlichkeiten zu berauben. Aus diesem Grund liegt der Fokus dieses Resümees weniger auf einer Zusammenfassung als vielmehr auf der Darstellung des Allgemeinen, auf das die je besonderen Erzählungen der Jugendlichen verweisen (vgl. Kap. IV 3): Im Vordergrund steht die resümierende Darstellung jener Aspekte, Strukturen und Verhältnisse, die das Deuten und Handeln der Jugendlichen in Situationen von Zuschreibungs-, (Nicht-)Zugehörigkeits- und Rassismuserfahrungen rahmen und als Handlungsvoraussetzungen und -herausforderungen Teil ihrer Möglichkeitsräume sind. Hierzu werden zunächst auf einer allgemeinen Ebene Aspekte einer festzustellenden Normalität von Rassismus1 und des Wissens über Rassismus herausgearbeitet. In einem weiteren Schritt werden diese grundsätzlichen Rahmungen anhand der Rekonstruktion der Kontextaspekte, die die auszumachende Schwierigkeit, explizit über Rassismuserfahrungen zu sprechen, begründen, konkretisiert und in Hinblick auf ihre sozial-nahräumlichen Auswirkungen auf und Wechselwirkungen mit jugendliche/n Lebenswelten ergänzt. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen zu den komplexen Verhältnissen und Bedingungen, die die Möglichkeitsräume der Jugendlichen,

1

Vgl. auch Mecheril 2007: Die Normalität des Rassismus.

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in Bezug auf rassistische Erfahrungen zu handeln, stark einschränken, werden dann die ambivalenten und widerständigen Handlungsformen der Jugendlichen in diesen restriktiven Verhältnissen resümiert. Abschließend werden die Ergebnisse der vorliegenden Studie im Hinblick auf eine zu etablierende rassismuskritische pädagogische Praxis gewendet und entsprechende Hinweise formuliert.

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Rassismus manifestiert sich in den Lebenswelten von Jugendlichen, die als ‚Andere‘, als ‚nicht-deutsch‘ kategorisiert werden, in vielfältiger, häufig subtiler Weise. Die Deutungen und Zusammenhangsannahmen, mit denen die Jugendlichen versuchen, sich Situationen, in denen sie Rassismus erfahren, zu erklären, sowie ihre diesbezüglichen Handlungsbegründungen verweisen auf subjektiv relevant werdende, diskursiv zur Verfügung stehende soziale Bedeutungen sowie sozial-nahräumliche und gesellschaftliche Verhältnisse, die die Kontexte ihrer Erfahrungen und ihres Handelns bilden. Die zentralen, für Jugendliche im Zusammenhang mit Rassismuserfahrungen relevant werdenden Aspekte dieser Verhältnisse, die auch als Teile rassistischer Normalität beschrieben werden können, werden im Folgenden skizziert. Die Kontrafaktizität des Wissens über Rassismus Festzustellen ist, dass das Wissen, auf das die Jugendlichen in ihren Erzählungen deutend Bezug nehmen, sich vielfach als ungenügend erweist, um ihre Rassismuserfahrungen einordnen und verstehen zu können. Die ihnen zur Sinngebung zur Verfügung stehenden Deutungsangebote vermögen das Erfahrene oftmals nicht zu erklären und so stellt sich ihnen die erfahrene Realität oftmals als komplexer dar, als es das vorhandene Erklärungswissen ist. Es lässt sich also häufig eine Lücke zwischen ihren Erfahrungen mit Rassismus und ihrem Wissen über Rassismus konstatieren. Diese Diskrepanz ist ein Grund dafür, dass die Jugendlichen über ihre Rassismuserfahrungen und deren Ursachen in der Regel nicht wissend, sondern vor allem fragend und suchend sprechen. In ihren Suchbewegungen zeigen sich damit zwei verschiedene – sich teilweise überschneidende, häufig aber auch sich widersprechende – Wissenskategorien zu Rassismus: Zum einen verfügen die Jugendlichen über ein Erfahrungswissen, das sich aus den erlebten Situationen generiert, zum anderen über ein generelles abstraktes, aber ungenügendes Wissen, das sich im Verhältnis zu ihren Erfahrungen häufig als kontrafaktisches Wissen offenbart. Die Wissensbestände dieser letzten Wissenskategorie, auf die die Jugendlichen in Ermangelung eines alternativen Erklärungswissens in ihren Deutungen zurückgreifen, spiegeln Aspekte eines gesellschaftlich dominanten und unterkomplexen

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Verständnisses von Rassismus wider, wie es im deutschen Diskurs als vorherrschend auszumachen ist (vgl. Kap. I 1.2): Auf der Grundlage des von den Jugendli chen genutzten Deutungswissens, der zur Sinngebung genutzten sozialen Bedeutungen, lässt sich ein Rassismuskonzept rekonstruieren, in dessen Mittelpunkt homogenisierende ‚Vorurteile‘ gegenüber als ‚Ausländer‘ und ‚Ausländerinnen‘ kategorisierten Personen stehen, welche sich diskriminierend bzw. rassistisch Handelnde individuell und Bezug nehmend auf Medien, eigene Erfahrungen oder andere Personen ihres Umfeldes angeeignet haben und in der Regel mit abwertender und diskriminierender Intention zum Einsatz bringen. Ein wesentlicher Aspekt dieses Konzeptes ist, dass mit ihm in erster Linie die interaktionale Ebene von Rassismus bzw. ein individuelles Handeln in den Blick gerät, dessen Begründung auch vornehmlich auf dieser Ebene verortet wird. Gesprochen wird vor allem über Diskriminierung, Rassismus wird als gesellschaftlich weitgehend tabuisierter Begriff zur Benennung alltäglicher Phänomene oder diskriminierender Handlungen auch von den Jugendlichen kaum genutzt, obwohl im Forschungsprozess zuweilen ein synonymes Verständnis der Begrifflichkeiten deutlich wurde. Gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, strukturelle Bedingungen, historische Entwicklungen von Rassismus und rassistischen Bedeutungskonstruktionen sowie Manifestationen von Rassismus auf anderen als der individuellen Ebene sind hingegen kaum Bestandteile der Diskurse, auf deren Deutungsangebote die Jugendlichen zurückgreifen, wenn sie Zuschreibungs- und Ausgrenzungserfahrungen thematisieren. Auf ein politisiertes Wissen zu Rassismus, wie es beispielsweise in antirassistischen Bewegungen diskutiert wird und in entsprechenden Diskursen zur Verfügung steht, greifen die Jugendlichen nicht zurück. Ein solches Wissen ist nicht Bestandteil ihres Deutungsrahmens. Während also lediglich solche Wissensbestände, die als Teil des gegenwärtigen Wahrheitsregimes zu Rassismus beschrieben werden können, den Jugendlichen als Erklärungswissen explizit zur Verfügung stehen, bleibt das gleichfalls vorhandene Erfahrungswissen der Jugendlichen, das jedoch nicht Teil dieses gesellschaftlich weitgehend akzeptierten Wissens ist, in der Regel undeutlich, implizit und unausgesprochen. – So repräsentiert das explizierbare generelle Wissen der Jugendlichen über Rassismus nicht zuletzt auch den Rahmen, innerhalb dessen das Thematisieren und das Deuten des Erlebten in den Kontexten, in denen die Jugendlichen sich bewegen, nahegelegt und mehr oder weniger akzeptiert möglich ist.2

2

Damit ist Terkessidis (vgl. 2004), der das Nicht-Sprechen über Rassismuserfahrungen auf ein mangelndes generelles Wissen und auf eine fehlende Sprache unter Rassismuserfah renden zurückführt, zwar zuzustimmen. Jedoch ist diese Deutung, wie im Folgenden noch genauer expliziert werden wird, um weitere Begründungsaspekte zu ergänzen.

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Konsequenzen begrenzter Deutungs- und Benennungsmöglichkeiten Die beschriebene Diskrepanz zwischen legitimiertem Wissen auf der einen und den subjektiven Erfahrungen der Jugendlichen auf der anderen Seite führt dazu, dass Jugendliche sich in ihrem Alltag mit allerlei Ambivalenzen und Herausforderungen konfrontiert sehen, die sich nicht nur in ihrem eigenen Deuten, ihren eigenen, oft als unzureichend empfundenen Zusammenhangs- und Bedeutungskonstruktionen zeigen. Sie manifestieren sich darüber hinaus vor allem als machtvolle Möglichkeitsbedingungen, die das Umgehen mit Rassismuserfahrungen, das Handeln und Kommunizieren der Jugendlichen in Bezug auf einen als solchen zwar nicht (an-)erkannten, aber dennoch erfahrenen Rassismus stark beeinflussen. So hat bereits die Limitierung ihrer Erklärungssuche auf die individuelle Ebene, das Verorten von möglichen Begründungen für erfahrenen Rassismus in der Motivation der diskriminierend Handelnden, bei sich selber oder in der gemeinsamen Interaktion, bei gleichzeitigem Ausblenden struktureller (Macht- und Gewalt-)Verhältnisse oder institutionalisierter Ungleichbehandlung, Auswirkungen auf ihre Handlungsfähigkeit. Denn sie begrenzt nicht nur ihre Möglichkeiten des Verstehens von Rassismuserfahrungen und lässt die Suche nach Erklärungen so an Grenzen stoßen. Sie führt auch zur Schwierigkeit der Identifikation und der Problematisierung sowohl von institutionalisierten und strukturellen Rassismen als auch von subtilen und latenten Formen des Rassismus. Insbesondere letztere – etwa Erfahrungen mit im Modus der Selbstverständlichkeit artikulierten Zuschreibungs-, Unterscheidungs- und Verweisungspraktiken – werden zwar von den Jugendlichen oft als unangemessen, diskriminierend und ungerecht identifiziert, das explizite Kategorisieren und Problematisieren dieser Erfahrungen als rassistisch und/oder diskriminierend fällt aufgrund der allgemein anerkannten Wissensbestände zu Rassismus und Diskriminierung, welche diese Erfahrungen oftmals nicht einschließen, allerdings schwer. Das sich für die Jugendlichen als Kategorisierungs-, Erklärungs- und Benennungsproblem und damit letztlich auch als Handlungsherausforderung darstellende Paradox zwischen den gemachten Rassismuserfahrungen auf der einen Seite und einem sich als ungenügend herausstellenden Deutungsrahmen, wie er in Form dominanter Bedeutungskonstruktionen auf der anderen Seite zur Verfügung steht, führt unter anderem dazu, dass Jugendliche – neben etwa Verletzungen, Wut und Genervt-Sein – häufig ein eher diffuses, als ‚komisch‘ oder ‚merkwürdig‘ beschriebenes Gefühl zu Praktiken und Situationen empfinden, das sich als kaum artikulierund noch weniger erklärbar darstellt. So präsentieren sich Rassismuserfahrungen den Jugendlichen häufig nicht nur als irritierende und undeutliche, von Unsicherheiten gekennzeichnete Erfahrungen. Sie präsentieren sich auch als absurde Erfahrungen: als sehr reale Erfahrungen von etwas, das die ihnen bekannten, dominanten Bedeutungskonstruktionen nicht nur nicht zu erklären vermögen, sondern das die-

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sen zufolge gar nicht existiert. Dies wiederum erschwert das Sprechen über Rassismuserfahrungen erheblich. Ein Denken und Argumentieren jenseits der machtvollen Wissensbestände erweist sich als überaus schwierig. Soziale Positionierungen und Perspektiven auf Normalität In Ermangelung eines differenzierten Begriffs von Rassismus/Rassismuserfahrungen werden jene Erfahrungen, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, jedoch nicht nur von den Jugendlichen selbst nicht eindeutig als Rassismus identifiziert, sondern sie werden vor allem von ihrem Umfeld in der Regel nicht als solcher erkannt. Der weitaus größte Teil der rassistischen Othering-, Ausgrenzungs- und Ungleichheitserfahrungen der Jugendlichen, die sie häufig in vermeintlich ‚sicheren‘ sozialen Zusammenhängen machen müssen, sind daher zwar als überaus wirkmächtig zu beschreiben – etwa im Hinblick auf Selbstverständnisse, soziale Zugehörigkeitsverständnisse und Handlungsmöglichkeiten –, sie sind für die Jugendlichen in den dargelegten Verhältnissen jedoch kaum als solche kategorisier-, benenn- und anklagbar. Dabei verweisen die beschriebenen Perspektiven und Erfahrungen der Jugendlichen, ihre Unsicherheiten und Irritationen nicht zuletzt auch auf eine herrschende soziale Ordnung und Normalität, in die sie in spezifischer Weise involviert sind: Zwar sind Jugendliche, die in Deutschland Rassismuserfahrungen machen müssen, von den gleichen Verhältnissen und Diskursen umgeben wie jene Menschen, die in Deutschland keine Rassismuserfahrungen machen; und auch sie greifen auf dominante Deutungsmuster zurück, um sich die Manifestationen dieser Verhältnisse zu erklären. Jedoch tun sie dies aus einer spezifischen Position heraus. Ihnen gegenüber präsentiert sich eine gesellschaftliche Normalität, deren Bestandteile ein stetig zur Verfügung stehendes, rassistisches Wissenssystem sowie verschiedenste Formen seiner Manifestation sind, in gänzlich anderer Form als jenen, für die Rassismus nicht aufgrund einer persönlichen Betroffenheit zum Problem und zur alltäglichen Herausforderung wird. So kommt es bei den Jugendlichen aufgrund der beschriebenen Widersprüchlichkeit zwischen subjektivem Erfahren und legitimiertem Wissen fast notwendigerweise zu Irritationen, die mit den im Diskurs produzierten Ausschlüssen in engem Zusammenhang stehen. Für andere jedoch, in der Regel für jene, die keine Rassismuserfahrungen machen müssen – so die Erfahrung der Jugendlichen –, bleiben eben diese Aspekte (der Erfahrung) von Rassismus, die aus dem dominierenden Wissensbestand und Deutungsrahmen zu Rassismus ausgeschlossen bleiben, im normalisierten Rahmen privilegierter Selbstverständlichkeit und eigener unhinterfragter Zugehörigkeit unsichtbar. Praktiken mit potenziell rassistischen und ausgrenzenden Effekten werden so nicht als solche erkannt und in ihren potenziellen Konsequenzen auch nicht hinterfragt. Im Gegenteil: Der normalisierte Rahmen dominant-diskursiver Selbstverständlichkeiten sorgt nicht nur für die weitreichende ‚Unsichtbarkeit‘ von Rassismus und Rassismuserfahrungen. Viel-

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mehr ermöglicht er sowohl ein aktives Abwehren und Verleugnen von Rassismus als einem gesellschaftlichen Phänomen, womit das Infragestellen der ‚Normalität‘ einer etablierten sozialen Ordnung verhindert und privilegierte Positionen in dieser gesichert wird, als auch die vielfach selbstverständlich vorgenommenen Praktiken der Unterscheidung als weithin legitimierte, kaum hinterfragte Praxis. Rassismus bezieht sich so einerseits auf dominante Normalitätsvorstellungen und eine als selbstverständlich und legitim erscheinende soziale Ordnung und bringt diese andererseits zugleich wirkmächtig hervor. Normalisierungs- und (De-)Thematisierungsstrukturen Festzustellen ist, dass es ganz offenbar in alltäglichen Settings, in denen die Jugendlichen sich bewegen, Strukturen gibt, die zwar das Artikulieren ausgrenzender Zuschreibungen ‚normalisiert‘ und selbstverständlich möglich machen (z.B. in Form der Expertisierung im Unterricht oder der jugendkulturellen ‚Spaßpraktiken‘), zugleich aber keinerlei Strukturen in diesen Settings vorhanden sind, die das Thematisieren und Problematisieren solcher Praktiken legitimiert und selbstverständlich ermöglichen würden – wobei beides als in engem Zusammenhang stehend zu betrachten ist. Die Bedingungen, die die Möglichkeitsräume der Jugendlichen in entscheidender Weise beeinflussen und vor allem den offensiven Umgang mit Rassismuserfahrungen erschweren, liegen in nicht unerheblichem Maße in einem dominanten Rassismusverständnis begründet, das psychologisch-individualisierend oder ideologisch-politisch argumentiert und lediglich intentionale Ausgrenzung und Ungleichbehandlung umfasst, jedoch kaum Raum für subtile Ausgrenzungsmechanismen und nicht-intendierte Effekte von individuellen und institutionalisierten Praktiken lässt. Ein dominierendes ‚Nicht-Wissen(-Wollen)‘, ein Wissen zu Rassismus, das u.a. die hier beschriebenen Praktiken rassistischer Unterscheidung nicht umfasst, sondern aktiv ausgrenzt sowie die damit einhergehende systematische Dethematisierung von Rassismus führen nicht nur zu Schwierigkeiten des Erklärens, Verstehens und Benennens und begrenzen damit gleichsam die Möglichkeiten des ‚legitimen‘ und also ‚hörbaren‘ Sprechens über Rassismus und über rassistische Erfahrungen. Mit der Nicht-Thematisierung und dem Nicht-Zur-Kenntnis-Nehmen von Rassismuserfahrungen wird zudem, so Mecheril (vgl. 2005, 462), die bestehende soziale Ordnung bestätigt. Die Perspektive jener, die Rassismuserfahrungen machen, wird ausgeblendet und so eine ‚Wahrheit‘ reproduziert, die weiterhin behauptet, es gäbe keinen solchen Rassismus in Deutschland. Die Stimmen und Wirklichkeiten jener, die im System des Rassismus marginalisiert werden, bleiben ungehört und ungesehen. Angesichts dessen liegt die Vermutung nahe, dass ein solches reduktionistisches Rassismusverständnis bzw. die stark verkürzte Perspektive auf Rassismus in Deutschland auch ein Grund dafür ist, dass es für Jugendliche kaum (professionelle) Anlaufstellen oder Unterstützungsangebote gibt, auf die sie bei

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Rassismuserfahrungen zurückgreifen können (wie es etwa bei Anlaufstellen und Beratungsangeboten bei sexueller Diskriminierung und Gewalt der Fall ist) bzw. eine entsprechende Relevanz und Notwendigkeit offenbar kaum gesehen wird. Jugendliche, die Rassismuserfahrungen machen, sehen sich also regelmäßig mit einem Phänomen konfrontiert, für das es zum einen ‚keinen Namen‘, keinen legitimierten Definitions- und Deutungsrahmen gibt und das zum anderen oftmals nur von ihnen als problematisch erfahren wird, für viele Personen ihres Umfeldes aber unerkannt bleibt und/oder in seiner Relevanz abgewehrt wird. Zugleich kann konstatiert werden, dass das Erklärungs- und Wissenssystem Rassismus sowie das gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnis Rassismus sich auch in den Lebenswelten der Jugendlichen als ‚normal‘, als unerkannte und unhinterfragte Selbstverständlichkeit manifestiert. Dies gilt zum einen für Formen struktureller und institutioneller Rassismen, zum anderen aber auch für grundlegende Elemente und Mechanismen, wie kategoriale Verallgemeinerungen und soziale Bedeutungskonstruktionen, die von den Jugendlichen zuweilen affirmativ bestätigt und/oder handelnd reproduziert werden. Normalität von Rassismus bedeutet hier also sowohl Alltäglichkeit als auch die machtvolle, weithin unhinterfragt bleibende Gültigkeit spezifischer sozialer Wissensbestände, die effekt- und wirkungsvoll definieren, wer oder was normal und damit selbstverständlicher Teil von Normalität ist und wer oder was von dieser Vorstellung abweicht; etwa, wer dazugehört und wer nicht, was Rassismus ist und was nicht.3 Während Rassismus also zentral auf Vorstellungen zu Normalität rekurriert, produziert er gleichsam eine Ordnung der Normalität (vgl. auch Mecheril 2007). Vor dem Hintergrund unterschiedlicher sozialer Positionierungen in der Gesellschaft hat diese Normalität jedoch sehr unterschiedliche Bedeutungen bzw. wird diese von Menschen sehr unterschiedlich erfahren: So präsentiert sich die gesellschaftliche Normalität des Rassismus jenen, die von diesem Ungleichheitsverhältnis privilegiert sind, als eine Normalität, die unhinterfragt und selbstverständlich Privilegien – wie etwa Repräsentations- und Definitionsmacht – sichert. Den Jugendlichen, die in diesem Ungleichheitsverhältnis deprivilegiert positioniert sind, präsentiert sich eben diese Normalität vielfach als problematische, restriktive Normalität. Für sie als in dieser Gesellschaft vermeintlich ‚gelungen normalisierte‘ bzw. ‚integrierte‘ Jugendliche ergeben sich tagtäglich Normalitätsprobleme. In diesen Verhältnissen rassistischer Normalität sind Jugendliche nun stetig aufgefordert, sich zu Rassismus zu verhalten und mit Rassismuserfahrungen umzuge3

Demzufolge ließe sich auch formulieren, dass es in Deutschland, im Sinne von Alltäg lichkeit, eine Normalität des Rassismus gibt, die sich dadurch auszeichnet, dass nur spezifische Bestandteile dieser rassistischen Alltagsnormalität vor dem Hintergrund normalisierter Wissensbestände als Rassismus anerkannt werden.

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hen. Die beschriebenen Verhältnisse von machtvollem Wissen und subjektivem Erfahren sowie unterschiedlichen Perspektivitäten und sozialen Positionierungen führen jedoch dazu, dass sich den Jugendlichen in einer Vielzahl der erfahrenen Situationen eines als ausgrenzend, verletzend, diskriminierend oder rassistisch empfundenen Handelns, das unter Bezugnahme auf ihre (ihnen unterstellte) nationale, kulturelle oder religiöse Herkunft häufig in einem Modus der Selbstverständlichkeit zum Ausdruck kommt, als möglicher Ansatzpunkt für die (widerständige) Thematisierung dieser lediglich das eigene subjektive Erleben und (unsichere) Deuten anbietet. Diese jedoch bilden vor dem geschilderten Hintergrund aus vielerlei Gründen eine außerordentlich unsichere und risikoreiche Handlungsgrundlage.

2 A MBIVALENTER W IDERSTAND IN RISIKOREICHEN V ERHÄLTNISSEN Obwohl die Möglichkeitsräume der Jugendlichen in den beschriebenen Verhältnissen also sehr eng sind und sie in der Regel eine unsichere Handlungsposition ein nehmen, präsentieren sie sich in den Gesprächen und Diskussionen keineswegs als handlungsunfähige ‚Opfer der Verhältnisse‘, sondern als handlungsfähige Subjekte, als Akteurinnen und Akteure, die an Situationen immer auch selbst handelnd beteiligt sind. Sie handeln, wie in den Analysen zu sehen war, in komplexen sozialen (Macht-)Verhältnissen auf unterschiedliche Weise mit verschiedenen, zumeist ambivalenten Effekten. Bevor ich die Umgangs- und Handlungsweisen, die in der Analyse ausführlich herausgearbeitet wurden, resümiere, möchte ich jedoch eine Handlungsweise und ihre Bedingungen ausführlich thematisieren: Das offensive Ansprechen und Anklagen rassistischer Diskriminierung bzw. das explizite Thematisieren ausgrenzender Zuschreibungs- und Otheringpraktiken. Diese verdient meines Erachtens aus dreierlei Gründen besondere Aufmerksamkeit: Zum ersten, da sie in der vorliegenden Analyse deshalb besonders augenscheinlich in den Vordergrund rückt, weil sie so gut wie gar nicht vorkommt. Zum zweiten, weil sich genau deshalb an ihr besonders gut aufzeigen lässt, welches die oftmals zentralen erschwerenden Handlungsbedingungen sind, denen die Jugendlichen sich im Umgang mit Rassismuserfahrungen ausgesetzt sehen. Und zum dritten, weil das Sprechen über und das Thematisieren von Rassismus bzw. das Hören und das Anerkennen von Rassismuserfahrungen in pädagogischer Perspektive einen zentralen Aspekt pädagogischer Professionalität ausmacht bzw. ausmachen sollte. Indem im Folgenden die Bedingungen und Verhältnisse rekonstruiert werden, die diese Lücke des expliziten Sprechens über Rassismuserfahrungen erst ermöglichen, die einen offensiv-widerständigen Umgang mit ihnen erst risikoreich erscheinen und zur Herausforderung werden lassen, werden die zuvor beschriebenen, die

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Möglichkeitsräume der Jugendlichen einschränkenden Aspekte rassistischer Normalität, konkretisiert und ergänzt. 2.1 Risikoreiche Verhältnisse Im Zentrum der das Sprechen behindernden Verhältnisse stehen die marginalisierte Positionierung der Jugendlichen innerhalb einer sozialen Ordnung und das bereits beschriebene reduktionistische, gesellschaftlich aber weithin als ‚wahr‘ akzeptierte Wissen zu Rassismus in Deutschland, welches die Erfahrungen der Jugendlichen quasi als nicht-existent erscheinen lässt. Dies führt einerseits zu absurden Erfahrungen sowie Deutungsschwierigkeiten für die Jugendlichen und andererseits zu von ihnen erfahrenen und antizipierten Unsichtbarkeiten des erfahrenen Rassismus – vor allem auf Seiten derer, die keine Rassismuserfahrungen in Deutschland machen müssen. Die Möglichkeitsräume der Jugendlichen, das Erfahrene zu thematisieren und gegen Rassismus zu protestieren, zeigen sich in diesen Verhältnissen als außerordentlich enge, vielfach beschnittene Räume. Intentionen und Effekte Die wiederkehrend zu beobachtenden Deutungs- und Sprechunsicherheiten von Jugendlichen sind u.a. der Tatsache geschuldet, dass die Bestimmung erfahrener Otheringpraktiken, Ausgrenzung und Ungleichbehandlung als rassistisch oder diskriminierend in der Regel in einen bedingenden Zusammenhang mit den vermeintlichen Intentionen der Initiatorinnen und Initiatoren solcher Praktiken gebracht werden: Sie erscheinen nur dann als rassistisch bzw. diskriminierend legitim und ‚sicher‘ kategorisier- und benennbar, wenn mit ihnen auch eine entsprechende Absicht von Seiten der Akteure und Akteurinnen einhergeht. Das vorherrschende Verständnis von Rassismus als intendierter individueller Handlung lässt die Frage nach den Handlungsmotiven und -intentionen jener, deren Handlungen ausgrenzende, rassistische Effekte haben, als unabdingbar erscheinen. Jedoch ist diese Frage für die Jugendlichen aufgrund der tendenziellen Vieldeutigkeit des Erlebten nicht nur nicht einfach zu beantworten. Es ist auch außerordentlich ambivalent, sie überhaupt zu stellen – und zugleich, den Ambivalenzen zum Trotz, ist das Stellen dieser Frage für die Jugendlichen überaus relevant. Ambivalent und relevant ist die Frage für sie zum einen hinsichtlich der eigenen Verortung sowohl in den unmittelbaren sozialen Beziehungen als auch innerhalb der gesellschaftlichen sozialen Ordnung. Denn in Bezug auf Zugehörigkeitsverhältnisse geht allein die Frage nach den Motiven mit einer Verunsicherung der eigenen Position in diesen einher und ist die Antwort zugleich entscheidend für die Selbstpositionierung in sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen. Mit ihr ist immer auch das Risiko verbunden, eigene prekäre oder ausgegrenzte Positionen in

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unmittelbaren sozialen Beziehungen sowie marginalisierte und deprivilegierte Positionen in Bezug auf das Ungleichheitsverhältnis Rassismus festzustellen und/oder sich diese (erneut) vergegenwärtigen zu müssen. Dies wiederum bedeutet unter Umständen nicht nur eine weitere Reproduktion des Status der oder des vermeintlich ‚Anderen‘, sondern auch, sich die relativ geringen Möglichkeiten der Einflussnahme auf dieses Ungleichheitsverhältnis bewusst machen zu müssen. Und so stellt die Frage nach den Motiven und Intentionen im Hinblick auf die soziale Positionierung der Jugendlichen sowohl in ihren unmittelbaren sozialen Zusammenhängen als auch mit Blick auf das gesellschaftliche Gefüge der Verhältnisse eine Frage dar, die insofern riskant zu stellen ist, als eine vereindeutigende Antwort unter Umständen nicht nur weniger Unsicherheit oder eine ggf. bessere Handlungsgrundlage darstellen könnte, sondern immer auch ein weiteres Verletzungs- und Prekarisierungspotenzial birgt. Zum anderen ist die Frage hinsichtlich der ‚legitimen‘ Skandalisierbarkeit des Erfahrenen und also quasi der ‚Sprechlegitimation‘ außerordentlich relevant, jedoch ebenfalls zugleich ambivalent. Denn da die Antwort auf diese Frage zu einem zentralen Bezugspunkt für die wahrgenommenen Handlungs- und Sprechmöglichkeiten wird, ist sie für die Jugendlichen bezüglich ihres (Re-)Agierens von elementarer Bedeutung. Allerdings entsteht so auch eine ihre Handlungs- und Sprechmöglichkeiten beeinflussende und vor allem einengende Abhängigkeit: Weil die sozial legitimierte und damit einigermaßen risikoarme Thematisierung von Rassismuserfahrungen und ihre Problematisierung in den Lebenswelten der Jugendlichen nur dann möglich scheint, wenn es um solche Elemente und Formen des Rassismus geht, die Teil des dominanten Wissens zu diesem Phänomen sind, die einem gesellschaftlichen Konsens zufolge als Rassismus anerkannt werden, gelten nur jene Handlungen als problematisierbar, die in dem Wissen um rassistische Effekte bzw. in diskriminierender Absicht vollzogen werden. Nur in diesem Fall ist die Kategorisierung der Handlung als rassistisch sowohl für die Jugendlichen als auch für andere einigermaßen sicher möglich. Ist dies nicht der Fall, wird der Grund für ausgrenzendes Handeln anderer nicht expliziert, ist er nicht offensichtlich oder zu beweisen, haben auch die betroffenen Jugendlichen lediglich Vermutungen, kann die eigene Deutung als ausgrenzend und rassistisch weder von anderen bezeugt noch, so die begründete Befürchtung, nachvollzogen werden und/oder gehen die Jugendlichen selbst – was häufig der Fall ist – davon aus, dass Handlungen nicht ausgrenzend und verletzend intendiert waren, dann ist die als diskriminierend empfundene – und also in ihren Effekten unabhängig von den Motiven außerordentlich realeund wirkmächtige – Handlung von Seiten der Jugendlichen kaum offensiv und direkt als unangemessen thematisier- und problematisierbar. Jugendliche sehen sich als potenziell Sprechende daher in der Beweispflicht; und damit also in der Legitimationspflicht einer möglichen Beschwerde. Problematisieren Jugendliche ihre Erfahrungen ohne einen

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entsprechenden ‚Beweis‘, so besteht für die Handelnden immer die Möglichkeit, ihr Handeln nach eben diesem Muster, ‚weil es nicht so gemeint war‘, zu bagatellisieren und damit indirekt sowohl die Effekte, die ihr Handeln hatte, zu banalisieren als auch diejenigen, die dieses Handeln problematisieren, nicht ernst zu nehmen. Der Großteil der gemachten Rassismuserfahrungen der Jugendlichen passt allerdings nicht in das zur Thematisierung notwendige Schema, nur in Ausnahmefällen können Jugendliche Motivationen deutlich als rassistisch bestimmen. Über Intentionen rassistischer Praktiken lässt sich häufig nur spekulieren (wobei es schwierig ist, etwas über Beweggründe und Absichten von Akteuren und Akteurinnen zu erfahren, wenn selbst die Effekte ihrer Praktiken nicht besprechbar sind). Dies ist sicher lich ein Grund dafür, dass über Rassismuserfahrungen kaum gesprochen wird. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass, aufgrund gesellschaftlicher und diskursiver Bedingungen, wenngleich auf unterschiedliche Weise, eine Argumentation, die nach den möglichen Begründungen oder Intentionen für das effektvolle Handeln von anderen fragt, um von hier aus Rassismus und Rassismuserfahrungen zu thematisieren und anzuklagen, eine ebenso unsichere Angelegenheit ist, wie die, die das eigene Erleben zum Ausgangspunkt der Problematisierung wählt. So erscheint im ersten Fall die Barriere, die es zur allgemein anerkannten, ‚legitimen Thematisierung‘ zu überwinden gilt, in den Rassismussituationen, von denen Jugendliche hier berichten, schier unüberwindbar. Mit dem ‚Schweigen‘ aber, bleiben ihre Perspektiven, Erfahrungen, Verletzungen, Irritationen und Unsicherheiten unausgesprochen – was im Nebeneffekt wiederum zu einer weitergehenden Normalisierung eben solcher, vor allem aus rassistisch-privilegierter Perspektive zu selten hinterfragter Praktiken und der sie rahmenden Bedingungen einer rassistisch strukturierten sozialen Machtordnung, wirkmächtiger sozialer Bedeutungszuschreibungen und eines spezifischen Rassismusdiskurses führt. Im letzteren Fall bildet die eigene, marginalisierte Deutung und ‚gefühlte‘ Erfahrung der Jugendlichen ohne eine Explikation der Handelnden und ohne ‚Beweise‘, mit denen sie den erfahrenen Rassismus gegenüber sich selbst, vor allem aber für andere als solchen plausibilisieren können, eine äußerst unsichere Grundlage der Anklage im Rahmen der herrschenden diskursiven Wahrheiten, die Rassismus am Rande der Gesellschaft verorten und lediglich offenen, verbal und körperlich offensichtlich gewaltvollen Rassismus thematisieren, nicht jedoch die subtilen und latenten Formen der Ausgrenzung. Beide möglichen Ausgangspunkte für eine offensive und explizite Skandalisierung von Rassismus und Rassismuserfahrungen entpuppen sich angesichts der diskursiven und gesellschaftlichen Rahmungen als nur wenig aussichtsreiche Bezugspunkte für eine ‚gelingende‘ Widerständigkeit und sind für die Anklagenden mit mannigfaltigen Risiken verbunden.

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Der Rassismusvorwurf Die Tatsache, dass in der gängigen Bedeutungskonstruktion zu rassistischem Handeln oder Handeln mit rassistischem Effekt dieses intentional geschieht und mit ‚Rassist-Sein‘ gleichgesetzt wird, trägt im Zusammenspiel mit der moralischen Verurteilung und normativen Ablehnung von Rassismus nicht nur dazu bei, dass das Erfahrene für die Jugendlichen selbst nicht zu ihrem Verständnis von Rassismus passt und daher nicht als solcher thematisiert wird. Es führt auch dazu, dass jedem Ansprechen von Rassismus und Rassismuserfahrungen auch ein Rassismusvorwurf implizit ist, der dem Vorwurf des Rassist-Seins gleicht. Aus Angst, einen so schweren Vorwurf womöglich ungerechtfertigt und/oder implizit zu äußern, sprechen Jugendliche daher oft gar nicht über ihre Erfahrungen und Perspektiven. Hinzu kommt die – diese These bestätigende – Erfahrung der Jugendlichen, dass bereits mit dem Ansprechen von unangemessenen Verallgemeinerungen und Zuschreibungen in der Regel Abwehrreaktionen jener einhergehen, die mit den Effekten, die ihr Sprechen und Tun auslösen, konfrontiert werden. Ein impliziter Rassismusvorwurf und, damit verknüpft, die drohende Titulierung als Rassist sind es offensichtlich, die Abwehr als Versuch der Distanzierung hervorrufen. Statt geschilderte Perspektiven ernst zu nehmen und das eigene ‚Wissen‘ und Handeln zu hinterfragen, kommt es etwa zu Bagatellisierungen und/oder zu Legitimierungsversuchen, bspw., indem darauf bestanden wird, dass Kulturalisierungen lediglich ‚gut gemeintes‘ Interesse seien. Sehr schnell stehen dann nicht mehr die Empfindungen und Perspektiven der Betroffenen sowie das kritische Hinterfragen von Bedeutungskonstruktionen und sozialen wie gesellschaftlichen Bedingungen, sondern die Motive und Intentionen (bzw. die Nicht-Motive und -Intentionen) des oder der Handelnden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang machen Jugendliche auch Erfahrungen der Opferumkehr (‚blaming the victim‘), indem nach ihrem Handeln als möglicher Ursache für Ausgrenzungserfahrungen gefragt wird. Als Risiken des Sprechens gehören diese (antizipierten) Erfahrungen der Negation, der Abwehr und der Bagatellisierung zu den Prämissen des risikoreichen Sprechens über Rassismuserfahrungen. Marginalisierte Position und Perspektive Ein weiterer Faktor, der als soziale Rahmung das Sprechen über Rassismus und Rassismuserfahrungen, das Ausmaß des Risikos der Thematisierung in entscheidender Weise mitbestimmt, ist der unmittelbare soziale Kontext, in dem die Jugendlichen sich bewegen, Rassismuserfahrungen machen und eine Problematisierung stattfindet bzw. nicht stattfindet. Wie bereits erwähnt machen Jugendliche, die hier zu Wort kommen, oftmals die Erfahrung, mit ihrer Perspektive und ihrem Erleben von rassistischen Normalitäten, die für andere selbstverständlich erscheinen, alleine zu sein. Sie berichten vielfach

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von Situationen, die sich in der Schule zutragen, und betonen in diesem Zusammenhang, dass sie die einzigen Schülerinnen oder Schüler ihrer Klasse sind, die Rassismuserfahrungen machen und in ihren Schulklassen weder von Lehrerinnen und Lehrern noch von Mitschülerinnen und Mitschülern Verständnis und Unterstützung erwarten können, wenn es darum geht, sich gegen subtile Rassismen oder Otheringprozesse zur Wehr zu setzen. Im Gegenteil sind diese häufig aktiv an rassistischen Praktiken beteiligt; wohingegen etwa Amina, Jamil, Rima, Samir und Nesrin deutlich explizieren, dass sie sich zumindest von ihren Lehrerinnen und Lehrern, aber auch von ihrer Klasse Unterstützung wünschen.4 Zumeist jedoch sehen die Jugendlichen sich mit ihrem Erleben im Kontext ihrer Schulklassen vor allem mit einer machtvollen, ‚Normalität‘ selbstverständlich definierenden Mehrheit konfrontiert, gegenüber der das Thematisieren z.B. der Unangemessenheit von rassistischen ‚Scherzen‘ risikoreich erscheint. Denn ihre Perspektive, z.B. auf selbstverständlich geäußerte, in ihren Effekten wirkmächtige Zuschreibungen, weicht oftmals von der im jeweiligen Kontext dominanten und normalisierten Perspektive ab. Ihr Erleben von Wirklichkeit und Normalität als „komisch“, verunsichernd, „merkwürdig“, als rassistisch und diskriminierend wird ganz offensichtlich mehrheitlich nicht geteilt, wird ihren Erfahrungen und Befürchtungen zufolge nicht empathisch und verstehend nachvollzogen, sondern abgewehrt. So treibt es Filiz etwa zur Verzweiflung und zu Tränen, wenn sie erzählt, „dass das halt keiner versteht und dass die Leute sagen ich übertreibe immer voll“ (Filiz IF, 253), wenn sie von ihren Rassismuserfahrungen berichtet. Gesellschaftliche Verhältnisse spiegeln sich so wirkungsvoll im Klassenraum wieder. Repräsentationen und soziale Zugehörigkeiten Die Risiken der Thematisierung und Problematisierung von Rassismus und Rassismuserfahrungen vor dem Hintergrund solcher gesellschaftlicher, diskursiver und sozial-nahräumlicher Bedingungen, wie sie Jugendliche in ihrem Alltag, in ihren Schulklassen erfahren, sind vielfältig und wirken auf der Ebene der subjektiven Möglichkeitsräume des Handelns als Sprechbarrieren. So haben von Jugendlichen erfahrene und antizipierte Abwehrreaktionen nicht nur zur Folge, dass über Rassis4

Dass dieser Rahmen ein zentrales Moment im Zusammenhang mit der Besprechbarkeit von Rassismus ist, wird auch durch ‚Gegenbeispiele‘ deutlich: So berichtet Amina im In terview von ihrer früheren Realschulklasse, in der Schülerinnen und Schüler sich gemeinsam gegen rassistische und diskriminierende Äußerungen gewehrt haben und Amina sich absolut zugehörig gefühlt hat. Duygu, die an dem Filmprojekt teilgenommen hat, verfügt als Ressource – neben einer persönlichen Stärke – auch über eine Klassenlehrerin und einen Klassenzusammenhang, dem sie immerhin soweit vertraut, dass sie den Film mit in die Schule nimmt und ihre Lehrerin bittet, eine Schulstunde zum Thema Diskriminierungserfahrungen gestalten und den Film zeigen zu dürfen.

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muserfahrungen nicht ernsthaft gesprochen, Rassismus und verallgemeinerte Zuschreibungen nicht als problematisch und wirkungsvoll thematisiert werden. Jugendliche machen mit ihnen auch die Erfahrung bzw. haben die Sorge, in ihrem Erleben, ihren Perspektiven und ihren Belangen nicht anerkannt und ernst genommen, sondern missachtet zu werden. Damit wiederum geht nicht nur die Gefahr von Verletzungen, sondern auch von spezifischen Zuschreibungen und Repräsentationen einher, von denen Jugendliche in keinem Fall belangt werden möchten: etwa als ‚il legitime Ankläger‘, als ‚Spaßverderber‘, als ‚wehrlose Opfer‘, als ‚überempfindlich‘ oder ‚zu sensibel‘. Bei den Jungen kann zudem davon ausgegangen werden, dass hier bestimmte Vorstellungen zu Männlichkeit und die Furcht, diesen nicht zu genügen, relevant werden.5 Diese erfahrenen und antizipierten Konsequenzen einer bagatellisierenden und abwehrenden Reaktion nehmen in sozialen Settings wie der Schule, wo sich verschiedene soziale Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse überlagern, und vor dem Hintergrund von Zugehörigkeitsverhältnissen, in denen die Jugendlichen häufig ohnehin prekär positioniert sind, Einfluss auf eben diese sozialen Beziehungen und Zugehörigkeitsverhältnisse. Relevant sind hier sowohl Machtverhältnisse und -dynamiken, die die Beziehungen zu Lehrerinnen und Lehrern strukturieren, als auch solche, die auf der Ebene von Peerbeziehungen wirksam sind. Hinzu kommt die Tatsache, dass, wollen Jugendliche latenten, subtilen oder lediglich einseitigsichtbaren Rassismus problematisieren, sie ihre Selbstthematisierung als ‚Opfer‘ eben aufgrund des – ob des Fehlens eines differenzierten, geteilten Rassismusbegriffes – notwendigerweise anzuführenden Begründungszusammenhangs, der das eigene Erleben und Deuten einer in dominanter Perspektive offenbar oder

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So betonen etwa Jamil und Samir, die in der Gruppendiskussion der Jungen ausführlich von Situationen berichteten, in denen sie selbst Diskriminierung erfahren haben, auf die Frage des Interviewers gegen Ende der Diskussion, ob es „mit Blick auf dieses Wochen ende hier […] Sinn [mache] so was [das Thema Diskriminierung/Rassismus, W.S.] zu thematisieren“ (GD2J, 267), ihre ‚Täterschaft‘: Sie seien durch das Wochenende aufmerksamer gegenüber dem eigenen diskriminierenden und beleidigenden Handeln geworden (vgl. GD2J, 271-286). Und dass Jamil während der Diskussion überhaupt von seinem Freibad-Erlebnis berichtet (vgl. Kap. V 2.6), hat, so vermute ich, auch mit der Frage Ahmets nach Situationen der Ausgrenzung, in denen sie selbst Gewalt ausgeübt haben, zu tun. Jamil wird durch diese eingeladen, von einer Situation zu berichten, in der er auch ‚Täter‘ bzw. aktiv Handelnder war. Und er berichtet von einer Ausgrenzungssituation, die es ihm ermöglicht, sehr plastisch darzustellen, dass er aktiv gehandelt hat und nicht lediglich ‚Opfer‘ von Diskriminierung war. Diese Selbstpräsentation als handlungs fähig in Zusammenhang mit Männlichkeitsvorstellungen geht in ambivalenter Weise einher mit der Einnahme und Reproduktion einer ihnen diskursiv nahegelegten Subjektposition: nämlich jener des ‚gewaltvollen, migrantischen, männlichen Jugendlichen‘.

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vermutlich unproblematisch erscheinenden Situation in den Mittelpunkt rückt, kaum vermeiden können. Aufgrund der (erfahrungsbasierten) Befürchtung, sich mit einer Thematisierung ihrer Perspektive auf für andere in ihrem sozialen Umfeld offenbar ‚normal‘ und legitim erscheinende Äußerungen und Handlungsweisen ohne Unterstützung in Opposition zur machtvollen Mehrheit und/oder zur Autorität von Lehrkräften zu positionieren und eine ohnehin marginalisierte Position so noch zu verstärken sowie unsichere Zugehörigkeiten und Beziehungen oder auch Schulnoten zu gefährden, sprechen die Jugendlichen kaum offensiv und direkt über ihr Erleben. Widerständiges Sprechen bedeutet in einem solchen Kontext, der stark durch den Wunsch nach Zugehörigkeit und ‚Selbstnormalisierung‘ innerhalb dieses Kontextes geprägt ist, immer auch die Einnahme einer Position als der oder die ‚Andere‘ und damit die Verfestigung von Positionen der Nicht-Zugehörigkeit sowohl in Bezug auf den sozialen Nahraum ‚Klassengemeinschaft‘ als auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Zugehörigkeitsordnung. Konsequenzen der Dethematisierung von Rassismus Rassismus, so kann gefolgert werden, ist mit vielschichtigen Sprechbarrieren und auch mit Sprachlosigkeiten verbunden. So wenig wie ausgrenzende Handlungen explizit rassistisch begründet werden oder sich vor dem Hintergrund gültiger Wissensbestände als rassistisch kategorisieren lassen, so wenig werden diese Erfahrungen als rassistische Erfahrungen von den betroffenen Jugendlichen expliziert. Letzteres geschieht häufig weder in den konkreten Situationen noch im Gespräch über diese. Rassistische Ordnungsstrukturen manifestieren sich demnach nicht nur über Zuschreibungen in konkreten Ausgrenzungspraktiken, sondern vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Machtverhältnisse vor allem auch über die diskursive Macht der ‚Wahrheit‘, des Sagbaren, der Bestimmung dessen, was Rassismus ist und was nicht. Dies wiederum äußert sich sowohl in der gesellschaftlichen Dethematisierung von Rassismus als auch in der damit einhergehenden Schwierigkeit des Sprechens über Rassismus – insbesondere über jene Formen, die außerhalb der gemeinhin als gültig akzeptierten Definition von Rassismus liegen (oder intentional so zum Einsatz gebracht werden, dass sie außerhalb dieser zu liegen scheinen). Die festzustellende Dethematisierung, die Schwierigkeiten des Sprechens und Thematisierens wiederum erschweren auch die Möglichkeiten des Widerstandes, der Verschiebung und der Umdeutung von Bedeutungen und Artikulationen, die Teil von Rassismus sind. Verunmöglichen die Bedingungen des Sprechens das Sprechen über (erfahrenen) Rassismus, so trägt dieses Schweigen auch dazu bei, dass Rassismus weiterhin ein dethematisiertes und tabuisiertes, in seiner ‚offiziellen‘ Definition nicht den Erfahrungen der von ihm Marginalisierten entsprechendes, für eine machtvolle Mehrheit ‚unsichtbares‘, weil normalisiertes Phänomen bleibt, das jenseits seiner radika-

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len Äußerungsformen, die ‚am Rande‘ verortet werden, kaum Aufmerksamkeit und Anerkennung als problematischer Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit erfährt – was wiederum das Sprechen erschwert. Ein Teufelskreis. 2.2 Ambivalenter Widerstand Das beschriebene machtvolle Wahrheitsregime zu Rassismus und seine lebensweltlichen Konsequenzen – die Diskrepanz zwischen Erfahren und Wissen, das sprechlegitimatorische Abhängigkeitsverhältnis zwischen Intention und Effekt, das Wissen um die Tragweite eines (womöglich ungerechtfertigten oder falschen) Rassismusvorwurfes und die Erfahrung bzw. Befürchtung, dass solche Erlebnisse von anderen bagatellisiert oder bestritten werden – tragen in Kombination mit einer marginalisierten Position der Jugendlichen und ihrem Anliegen, soziale, häufig prekäre Zugehörigkeiten im sozialen Nahraum oder auch Schulnoten nicht gefährden und sich selbst als handlungsfähig und keineswegs als ‚Opfer‘ präsentieren zu wollen, dazu bei, dass Jugendliche zum einen selbst gegenüber dem Erlebten und den eigenen Deutungen unsicher sind und zum anderen kaum offensiv und selbstbewusst über ihre Erfahrungen sprechen (können). Die Handlungsspielräume der Jugendlichen erweisen sich angesichts dieser machtvollen Verhältnisse, der geschilderten Ambivalenzen und Herausforderungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen, in der Regel als außerordentlich eng. Dennoch begegnen sie Rassismuserfahrungen auf vielfältige Weise – jedoch ohne dabei den rahmenden Widersprüchlichkeiten entgehen zu können und mit zumeist ambivalenten Effekten. Bevor ich auf diese Handlungsweisen eingehe, möchte ich betonen, dass Jugendliche, wie zu sehen war, in Abhängigkeit von anderen sozialen Zugehörigkeiten bzw. Differenzkategorien wie etwa Gender, mitunter mit sehr unterschiedlichen Formen von Rassismus konfrontiert sind. Rassismus ist daher immer auch als mit anderen Differenzverhältnissen zusammenwirkend zu betrachten. Ähnliche Manifestationen von Rassismus wiederum können Jugendliche durchaus sehr unterschiedlich erfahren. So wurde im Forschungsprozess deutlich, dass Jugendliche sich mit sozialen Praktiken konfrontiert sehen, die von einigen Jugendlichen als weitgehend unproblematisch akzeptiert werden, während andere sie als alltägliche Ausgrenzung erleben. Ein solches Beispiel ist etwa ihre Benennung als ‚Ausländer‘ oder ‚Ausländerin‘; oder auch unterschiedliche Perspektiven und Meinungen zu der Tatsache, dass der eigene Name außerhalb der Familie zu einem anderen wird: Weil sich dieser – angeblich – nicht aussprechen ließe und daher ‚eingedeutscht‘ wird, weil entweder die vermeintliche Unfähigkeit des korrekten Aussprechens oder aber die mit einem ‚fremden‘ Namen einhergehende Diskriminierung und Benachteiligung – etwa auf dem Arbeitsmarkt – bereits antizipiert und sich von vornherein mit einem deutschen Äquivalent des eigenen Namens vorgestellt wird oder weil der ei-

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gene Name zu einem anderen Namen geworden ist, als dieser bei der Ankunft in Deutschland auf dem Amt nicht richtig geschrieben wurde. So verschieden wie die Jugendlichen selbst sind, und die Kontexte, in denen sie Rassismuserfahrungen machen, so unterschiedlich sie Unterscheidungs-, Ausgrenzungs- und Benachteiligungspraktiken subjektiv erfahren, so sehr variieren auch ihre Einschätzungen und Handlungsweisen. In den Diskussionen und Gesprächen präsentieren die Jugendlichen sich auf unterschiedlichste Weise: als nachdenklich, wütend, verletzt, kämpferisch, ehrgeizig, resigniert, ironisch, traurig, verunsichert, kreativ, mutig und widerständig – und immer als Handelnde. Sie greifen, in Abwägung ihrer Bewertung verschiedener Aspekte, die je konkrete Situationen rahmen, auf unterschiedliche Handlungsweisen zurück. Handlungsentscheidungen treffen sie unter anderem unter Berücksichtigung der den potenziellen Handlungsweisen beigemessenen Erfolgsaussichten bezüglich je spezifisch gesetzter Ziele (z.B. Widerstand gegen stereotype Zuschreibungen leisten, Einlass in die Diskothek gewährt bekommen etc.) bei gleichzeitigem Abwägen ihrer Risiken. Dabei sind, wie oben dargelegt, die kontextspezifischen Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt, mitunter zahlreich, außerordentlich komplex und ambivalent. Und so bedeutet die Entscheidung für eine spezifische Umgangsweise in der Regel auch eine – nicht immer bewusste – Entscheidung für spezifische Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten. Da explizite Auflehnung und oppositionelles Sprechen gegenüber Zuschreibungen sowie das Problematisieren von rassistischen Praktiken für Jugendliche einerseits mit zahlreichen Risiken der weiteren Verletzung und Ausgrenzung einhergeht und andererseits immer auch mit der Einnahme einer Subjektposition als ‚Andere‘ oder ‚Anderer‘ verbunden ist, ist es wenig verwunderlich, dass eine ganze Reihe von Handlungsweisen auszumachen sind, mit denen primär Schutz vor (weiteren) Zuschreibungs- und Ausgrenzungserfahrungen angestrebt wird. Es handelt sich hier um Handlungsweisen, die quasi als widerständig gegenüber der (antizipierten) Erfahrung von Rassismus und Nicht-Zugehörigkeit beschrieben werden können. Solche präventiven und selbstschützenden Handlungsweisen kommen etwa zum Einsatz, wenn Jugendliche versuchen, sich mit vermeintlich machtvollen Schlüsselpersonen wie Türstehern gut zu stellen, sie spezifische Fragen, deren Antworten ein potenzielles Ausgrenzungsrisiko beinhalten, gar nicht erst stellen oder sie Marker, die erfahrungsgemäß Anlass für Zuschreibungen sind, mit denen Ausgrenzungen und Benachteiligung legitimiert werden, mittels vorausschauender Anpassung zu kaschieren versuchen. Beispielsweise, indem Jugendliche sich bemühen, ein besonders gutes Deutsch zu sprechen oder andere Signale ‚gelungener Integration‘ zu vermitteln. Auch das Suchen nach Schutzräumen, in Form des Zusammenschlusses von Jugendlichen in Gruppen mit Normalitäten lokaler Ordnung (vgl. Dausien/Mecheril 2006), in denen sie positive Zugehörigkeitserfahrungen machen können und darüber hinaus nicht der Bedrohung durch Rassismuserfahrungen ausgesetzt sind,

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sondern, im Gegenteil, oft die Möglichkeit besteht, sich eigener unsicherer Wahrnehmungen und Interpretationen zu vergewissern sowie Unterstützung und Solidarität in Bezug auf Rassismuserfahrungen zu erhalten, ist eine solche selbstschützende und im obigen Sinne zugleich widerständige Umgangsweise in Verhältnissen rassistischer Normalität. Ähnliche Handlungsweisen angesichts fortwährender Ausgrenzung mittels Zugehörigkeitsverweigerung sind auch in den ambivalenten (Selbst-)Benennungen der Jugendlichen zu sehen. Bei allen positiven Effekten wie etwa des Schaffens von (gefühlt) sicheren oder zumindest sichereren Situationen und Schutzräumen gehen zumindest die beiden letzten Umgangsweisen jedoch auch mit der Ambivalenz einher, ihre Position als ‚Andere‘ auf diese Weise weiter zu verfestigen. Einzelne Jugendliche sprechen hier gar von ‚Selbstausgrenzung‘. So münden die erfahrenen Zugehörigkeitsverweigerungen vor dem Hintergrund einer binären Ordnungsstruktur nicht selten in Deutungs- und Handlungsweisen, die dieser Binarität nicht zu entkommen vermögen und in Ermangelung von auszumachenden Alternativen letztlich die bestehende Binariät sozialer Gruppen mit aufrechterhalten. Der in einigen Handlungsweisen auszumachende Versuch, die eigene Zugehörigkeitsposition zu behaupten, geht darüber hinaus zuweilen mit der Reproduktion einer kategorisierenden Zugehörigkeitsordnung sowie der Legitimation von Ungleichheitsverhältnissen einher, indem argumentativ an entsprechende Bedeutungskonstitutionen und also an rassistische Logiken angeschlossen wird, etwa, wenn die ‚ethnische Eigengruppe‘ positiv konnotiert homogenisiert wird, um so abwertenden stereotypen Bildern etwas entgegenzusetzen. Ähnliches ist mitunter zu beobachten, wenn Jugendliche nach Begründungen für diskriminierendes Handeln suchen, indem sie sich bemühen, dieses empathisch nachzuvollziehen und dabei zu einer verstehenden, manchmal gar entschuldigenden Erklärung neigen, anstatt die diskriminierenden Praktiken zu kritisieren und anzuklagen. Dabei greifen Jugendliche zuweilen auf dominante, homogenisierende Bedeutungskonstruktionen zurück, die die Ursachen für diskriminierendes Handeln in den vermeintlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen einer in diesen Situationen auch von ihnen konstruierten Gruppe der ‚Ausländer‘ verorten. Die kategoriale Trennung sowie rassistische Zuschreibungen, die an anderer Stelle für Wut und Ärger sorgen, werden so von Jugendlichen selbst reproduziert, die Ursache für diskriminierendes Handeln wird bei den Diskriminierten verortet. Zugleich stilisieren die Jugendlichen sich in diesen Situationen als ‚Ausnahme-Angehörige‘ der, in ihren Ausführungen ansonsten homogen erscheinenden Gruppe. Sie grenzen sich als andere ‚Andere‘ positiv ab und versuchen so ihre legitime Zugehörigkeit zu behaupten; allerdings stellen sie dabei implizit auch eine eher individualisierte Delegitimierung von Rassismus und Diskriminierung in den Vordergrund und greifen zudem indirekt auf eine bekannte Logik rassistischer Argumentation zurück und wiederholen diese: Soziale Gruppen werden als

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homogen und statisch gedacht und Personen, die nicht in dieses Konstrukt passen, werden als positive ‚Ausnahme von der Regel‘ konstruiert, womit das etablierte Konstrukt als solches nicht als unpassend delegitimiert wird, sondern unhinterfragt gültig bleiben kann. Solche Formen des – letztlich selbstschädigenden und kontraproduktiven – Handelns, der Argumentationen und Verortungen, die deutliche Bezüge zu gesellschaftlichen Dominanzdiskursen und Mechanismen erkennen lassen, können im Rahmen ihres Zugehörigkeitsmanagements aber trotz aller Widersprüchlichkeiten und unintendierter Effekte dennoch als Versuch des Widerstands gegenüber ihrer Ausgrenzung als ‚Andere‘ beschrieben sowie als Bemühung interpretiert werden, das eigene Leben innerhalb binärer Entweder-Oder-Strukturen als sinnhaft zu deuten und zu organisieren. Handlungsweisen wie diese, in denen der Wunsch nach einer Form der ‚Selbstnormalisierung‘ zum Ausdruck kommt, nach Unauffälligkeit und Zugehörigkeit, nach ‚Normal-Sein‘ und ‚So-wie-die-Anderen-Sein‘, können ebenfalls als Versuch beschrieben werden, sich vor Rassismus und seinen unterscheidenden und ausgrenzenden Mechanismen zu schützen, sich diesen Erfahrungen zu widersetzen. Zu diesen Handlungsweisen gehören Versuche, Merkmale, die zu ihrer Konstruktion als ‚Andere‘ herangezogen werden könnten, zu kaschieren, ebenso wie die vielen verschiedenen Spielarten des Relativierens, Ignorierens oder Negierens, des Sich-Distanzierens von Rassismus und Rassismuserfahrungen, die herausgearbeitet wurden. Mit solchen Distanzierungsversuchen gelingt es Jugendlichen zuweilen, einerseits Zugehörigkeit herzustellen bzw. unsichere Zugehörigkeitspositionen im sozialen Gefüge ihrer Lebenswelten nicht zu gefährden und andererseits, durch die zeitgleich stattfindende Relativierung von verunsichernden, verletzenden und ausgrenzenden Effekten, auch die Tragik der eigenen marginalisierten Position zu relativieren. Diese Umgangsweisen des Relativierens und Negierens, mit denen sie sich zuweilen auch vor schmerzhaften Realisierungen oder Problematisierungen alltäglicher Situationen und sozialer Beziehungen schützen, gehen allerdings mit weiteren Effekten einher. So werden zum einen eigene Gefühle, etwa der Verletzung oder der Beschämung über die eigenen, als überempfindlich interpretierten Emotionen, nicht nur relativiert, abgewertet, nicht ernst genommen und verdrängt, sondern auch normalisiert. In der Konsequenz werden diese zu einer ‚Normalität‘, mit der individuell umzugehen ist (etwa durch eine verbesserte Fähigkeit des Ignorierens und Verdrängens) und die es im Zweifelsfall ‚auszuhalten‘ und zu ‚ertragen‘ gilt. 6 Zum anderen werden auch die Praktiken, die den Emotionen zu Grunde liegen, auf diese Weise normalisiert. Verbunden mit Umgangsformen der Negierung und Relativierung so6

Zudem bleibt mit der Thematisierung von Rassismuserfahrungen bzw. dem Austausch über diese auch die Möglichkeit einer Rückmeldung darüber aus, dass es sich bei den Erfahrungen keineswegs um individuelle und individuell zu bewältigende Probleme, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen handelt.

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wie angestrebter ‚Selbstnormalisierung‘ ist daher auch die Fortführung der Normalisierung von Rassismus und von Rassismuserfahrungen. Neben den bisher resümierten Handlungsweisen, die primär das Abwehren antizipierter Nicht-Zugehörigkeits- und Rassismuserfahrungen durch das Schaffen von Zugehörigkeit und Schutz vor Rassismus und Ausgrenzungsgefühlen zum Ziel haben, wurden zudem zahlreiche, mitunter risikoreiche, zuweilen zwischen Selbstschutz und Widerstand balancierende Handlungsweisen und Taktiken herausgearbeitet, mit denen Jugendliche sich gegen Ausgrenzungspraktiken wehren, indem sie gegen das rassistische Wissenssystem aufbegehren und das Anliegen verfolgen, dominante, ihr Leben in restriktiver Weise beeinflussende soziale Artikulationen zu bekämpfen sowie Bedeutungsverschiebungen vorzunehmen. Diese reichen von Handlungsweisen, mit denen antizipierten stereotypen Zuschreibungen mit präventiver ‚Richtigstellung‘ zuvorzukommen versucht wird, über das Einbringen von alternativen Perspektiven zu dominanten Deutungen und dem Verschieben von Aufmerksamkeitsrichtungen bis hin zu Taktiken, mit denen Jugendliche innerhalb der ungleichen Machtverhältnisse für sich Lücken und Möglichkeiten entdecken und nutzen, in den Machtbereich anderer einzudringen, sich dominante Spielregeln zu eigen zu machen und so trotz einengender und bedrohlicher Kontextbedingungen (subversiv-)widerständig zu agieren, ohne die eigene soziale Position im konkreten Kontext übermäßig zu gefährden. Zudem, so können die Umgangs- und Handlungsweisen, die in der Analyse zum Ausdruck kamen, noch ergänzt werden, nutzen Jugendliche Räume und Gelegenheiten, die ihnen in ihrer Perspektive eine ernstzunehmende Möglichkeit bieten, sich über Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen auszutauschen, Unterstützung und Solidarität zu erfahren, sich mit ihren Positionen und Stimmen zu Wort zu melden und diese nach außen zu artikulieren und zu vertreten: Sie engagieren sich in Forschungswerkstätten, Kunstprojekten und Dokumentarfilmen gegen Rassismus und Diskriminierung. Auf vielfältige Weise, so kann konstatiert werden, arbeiten Jugendliche in ihrem Alltag an Bedeutungsverschiebungen, an Perspektivwechseln und an der Veränderung dominanter Selbstverständlichkeiten; sie rütteln so auch an der sozialen Ordnung dieser Gesellschaft, die kontingent und veränderbar ist. Doch einerlei, wie und mit welchen Konsequenzen die Handlungen und Umgangsweisen der Jugendlichen sich letztlich in spezifischen Situationen und Kontexten konkretisieren, gemein ist allen Handlungsweisen, dass sie immer in komplexe und widersprüchliche soziale und gesellschaftliche Spannungs- und Machtverhältnisse eingelassen sind, die auf die Möglichkeitsräume der Jugendlichen außerordentlich wirkmächtig, meist restriktiv, Einfluss nehmen. Handlungsspielräume zwischen subjektiven Normalitäts-, Zugehörigkeits- und Anerkennungswünschen einerseits und intervenierenden, widerständigen Ansprüchen andererseits präsentieren sich vor dem Hintergrund machtvoller Zugehörigkeitsordnungen und Wahrheitsre-

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gime, in die die Jugendlichen vielfältig involviert sind, in der Regel als außerordentlich eng und ambivalent und das Handeln in diesen Verhältnissen geht meist auch mit ambivalenten, mitunter, auch im Hinblick auf Rassismus, kontraproduktiven Konsequenzen einher und ist längst nicht immer von dem gewünschten Erfolg gekrönt. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen ist abschließend zu betonen, dass zum einen weil und zum anderen obwohl Subjekt und Gesellschaft in wechselseitigem Verhältnis zueinander stehen und nicht zu trennen sind, es weniger die Handlungsweisen der Subjekte sind, die es zu kritisieren und zu verändern gilt, als vielmehr die einengenden und begrenzenden Bedingungen und Verhältnisse, innerhalb derer Jugendliche sich gegen Rassismus behaupten, schützen und zur Wehr setzen sowie an Bedeutungsverschiebungen und Perspektivwechseln arbeiten. Nachdrücklich begründen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass das Thema Rassismus weder in der Wissenschaft noch in pädagogischen Arbeitsfeldern länger ignoriert oder marginalisiert werden darf. Stattdessen, so wurde deutlich, besteht die dringende Notwendigkeit, Aufmerksamkeitsrichtungen sowie Diskurskulturen und Umgangsweisen mit Rassismus(-erfahrungen) zu entwickeln, die der Komplexität rassistischer Verhältnisse und der Eingebundenheit der Subjekte in diese gerecht werden und das Potenzial haben, diese restriktiven und ausgrenzenden Verhältnisse sowie rassistische Bedeutungskonstruktionen zu verändern.

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Die vorliegende Forschungsarbeit macht insbesondere auf subtile und alltägliche Formen von Rassismus und ihre Bedeutungen für Jugendliche in einschränkenden, machtvollen Verhältnissen aufmerksam, die auch in der Pädagogik noch viel zu wenig Beachtung finden. Für die Realisierung einer angemesseneren, einer rassismuskritischen pädagogischen Praxis liefern die gewonnenen Erkenntnisse einige wichtige Hinweise. So macht die in dieser Untersuchung eingenommene Subjektperspektive auf von Rassismus geprägte Lebenswelten von Jugendlichen, die in Deutschland als ‚Andere‘, als ‚Ausländer‘ machtvoll markiert und platziert werden, deutlich, dass Fragen nach den individuellen oder gar gruppenspezifischen Defiziten sowie das Einleiten entsprechender pädagogischer Fördermaßnahmen – wie beispielsweise in Integrations- sowie pädagogischen Diskursen vielfach üblich – hier nicht nur ungenügend, sondern auch unangemessen sind und Rassismus perpetuierende Folgen haben können. Entsprechend kann die Konsequenz der beschriebenen Untersuchungsergebnisse auch nicht einseitig darin liegen, mit den von Rassismus betroffenen Jugendli-

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chen und an ihren ‚Bewältigungsfähigkeiten‘ zu arbeiten. Denn es wurde ersichtlich, dass die Jugendlichen, die an dieser Untersuchung partizipierten, in ihrem Alltag keinesfalls in erster Linie durch ‚unzulängliche‘ individuelle Kompetenzen oder Eigenschaften herausgefordert sind. Vielmehr sind es normalisierte rassistische Wissensbestände, Ungleichheitsstrukturen und Machtverhältnisse sowie die Dethematisierung von Rassismus, mit denen sie alltäglich – auch in pädagogischen Räumen – konfrontiert sind. Und diesen Strukturen kann nur sehr bedingt mit individueller Stärkung und der Förderung individueller Fähigkeiten begegnet werden. Wenn es um die Veränderung und Verbesserung der Lebensqualität von Jugendlichen in Verhältnissen rassistischer Normalität geht, so erscheint es vor dem Hintergrund der eingenommenen Perspektive und der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung stattdessen naheliegend, in erster Linie die rassistische Realität, der die Jugendlichen in ihrem Alltag ausgesetzt sind, zu ändern – und nicht die Jugendlichen. Das bedeutet, dass die pädagogische Aufmerksamkeit zum einen auf jene kontextspezifischen Verhältnisse und sozialen Bedeutungen zu richten ist, die Rassismus in vielfältiger Weise zu einer komplexen Herausforderung für Jugendliche in ihrem Alltag werden lassen. Zum anderen heißt es, danach zu fragen, welche Faktoren und Verhältnisse ein Sprechen über und ein widerständiges Handeln gegen Rassismus vielfach erschweren und verunmöglichen. Von hieraus muss schließlich über Optionen der Verhinderung von Rassismus und der Ermöglichung des Sprechens und widerständigen Handelns nachgedacht werden; und dies, indem den subjektiven Perspektiven von Jugendlichen besondere Bedeutung beigemessen wird und sie als handelnde, umgehende, gestaltende Akteure und Akteurinnen anerkannt werden. So verstanden konzentriert sich rassismuskritisches pädagogisches Handeln vornehmlich auf zweierlei: Einerseits auf das Verhindern und andererseits auf das Ermöglichen. Genauer: In pädagogischen Handlungsfeldern muss es um das Arbeiten an pädagogischen Kontexten, Strukturen und sozialen Beziehungen gehen, die zum einen Rassismuserfahrungen verunmöglichen und die zum anderen das Thematisieren von Rassismuserfahrungen und das Anklagen von Rassismus ermöglichen. Dabei scheint mir die Einnahme einer analytischen Perspektive sinnvoll, die nach sub jektiven Bedeutsamkeiten fragt und Subjekte, gesellschaftliche Verhältnisse und soziale Kontexte als in wechselseitigen Verhältnissen zueinander stehend betrachtet. Denn in einer solchen mehrdimensionalen, Machtverhältnisse berücksichtigenden Perspektive ist es möglich, das eigene Wahrnehmungsspektrum zu erweitern und so quasi ‚mehr zu sehen‘: Nicht nur offen rassistische und intentionale Ausgrenzung gerät so in den Blick, und auch nicht nur (selbstverständlich erscheinende) Distinktions- und Zuschreibungspraktiken können so in ihrem Zusammenwirken etwa mit gegenderten oder auf die soziale Schicht bezogenen Bedeutungskonstruktionen erkannt werden. Sondern eine solche Perspektive ermöglicht es auch, Sensibilität gegenüber möglichen und faktischen subjektiven Bedeutungen, den je konkret wir-

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kenden Machtverhältnissen und solchen Effekten dieser Praktiken zu entwickeln, die sich nicht unmittelbar und offensichtlich präsentieren. Dies ist relevant, denn ein zentrales Ergebnis dieser Untersuchung ist es, dass, wenn Jugendliche nicht über Rassismuserfahrungen sprechen, dies weder heißt, dass sie keine Rassismuserfahrungen machen, noch, dass es ihnen kein Bedürfnis wäre, über das Erlebte zu reden und sich auszutauschen, oder dass diese Erfahrungen keine Relevanz für sie hätten – im Gegenteil. 7 Alle Jugendlichen, die an dieser Forschung partizipiert haben, geben an, dass das Sprechen und der Austausch über Rassismuserfahrungen mit Vertrauten ihnen wichtig ist 8 – unter anderem, „weil du merkst so, dass du nicht die einzige Person bist und dass andere Leute auch total komische Erfahrungen haben […] wo dann auch wieder Gemeinsamkeiten und so bestehen“ (Filiz IF, 251). Vor allem aber auch, weil Sprechen und entgegengebrachtes Verständnis entlasten: „Wenn ich ein Problem habe“, so etwa Filiz, „und mit irgendjemandem darüber spreche, dann mache ich mir nicht immer so viele Gedanken darüber […] da fühl ich mich irgendwie frei“ (Filiz IF, 253). Und fast wort gleich formuliert Samir: „Ich finde das gut darüber zu reden. Wenn man es so für sich behält ist irgendwie voll das komische Gefühl. So dann denkt man die ganze Zeit darüber nach, aber wenn man es erzählt, dann fühlt man sich so frei, dann ist es weg irgendwie“ (Samir IS, 240). Rassismus im Alltag zu thematisieren, stellt für die 7

Das macht u.a. die Auswertung der Forschungswerkstatt deutlich, während der von Jugendlichen betont wurde, dass es gut war, dass „endlich mal jemand mit echtem Interesse“ nach ihren Perspektiven und Erfahrungen gefragt hat und z.B. der Wunsch geäußert wurde, auch nach der Forschungswerkstatt „weiter über Diskriminierung [und] über neue Erfahrungen [zu] sprechen“ und sich „[w]ieder [zu] treffen, wenn bei jemandem was passiert, worüber wir reden müssen“. Auch das Anliegen, gemeinsam gegen Rassismus und Diskriminierung aktiv zu sein und weitere Jugendliche, „die Interesse haben [zu] integrieren“ wurde geäußert. Rima ist zudem nicht die einzige, die sowohl während der Forschungswerkstatt als auch während des Interviews sagt, dass sie über berichtete Erfahrungen noch nie gesprochen habe. U.a. weil sie noch nie jemand danach gefragt hätte, sie sich aber genau das wünschen würde.

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Unterstützung und Verständnis erfahren die Jugendlichen vor allem von ihren Geschwistern, Freundinnen und Freunden, die ähnliche Erfahrungen machen. Rima gibt an, dass diese Erfahrungen in ihrem Freundeskreis nie Thema seien. Einige Jugendliche nennen auch Pädagoginnen aus der offenen Jugendarbeit, die selber keine Rassismuserfahrungen machen müssen, als Personen, denen sie sich anvertrauen und von denen sie Unterstüt zung und Verständnis erfahren. Milot erwähnt einen Beratungs- und Klassenlehrer, mit dem er, wie er sagt „darüber ganz gut reden [konnte]“ und der „dann halt auch immer gleich was dagegen unternommen [hat]“ (Milot IM, 244). Auch die Forschungswerkstatt und einzelne Interviews werden als ‚wohltuende‘ Möglichkeiten des Sprechens über Diskriminierungserfahrungen und des Erfahrens von Unterstützung benannt.

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von Rassismus betroffenen Jugendlichen jedoch, wie oben ausgeführt, in den meisten Kontexten ihrer Lebenswelten ein außerordentlich risikoreiches und herausforderndes Unterfangen dar. Von verlässlichen Strukturen, die den Austausch über Rassismuserfahrungen und vor allem das selbstverständliche Ansprechen und Problematisieren insbesondere auch von subtilen und latenten Formen einer rassistischen Unterscheidungspraxis möglich machen, kann bezüglich der Lebenswirklichkeiten der Jugendlichen keine Rede sein. Dass über Rassismuserfahrungen auch in pädagogischen Settings kaum gesprochen wird, sondern in der Perspektive der Jugendlichen ein großes Missverhältnis zwischen ihren Erfahrungen und Wünschen und dem diesbezüglichen (Nicht-)Agieren von Pädagogen und Pädagoginnen auszumachen ist, ist nicht nur Ergebnis dieser Untersuchung. Auch Melter kommt in seiner Forschungsarbeit zu dem Resultat, dass Jugendliche mit Pädagogen und Pädagoginnen, mit denen sie in einem Betreu ungsverhältnis im Rahmen der Jugendhilfe stehen, nicht über Rassismus sprechen. 9 Jugendliche machen die Erfahrung, dass, wie Mecheril es stilisiert ausdrückt, „über Rassismuserfahrungen […] eigentlich niemand etwas wissen“ will (Mecheril 2005, 462). Auf diese Weise tragen auch Pädagoginnen und Pädagogen dazu bei, dass Rassismus als Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit, als subjektiv bedeutsames und Lebensqualitäten einschränkendes alltägliches Phänomen gesellschaftlicher Realität, ausgeblendet wird. „Nicht wissen zu wollen, was Rassismus denen bedeutet, die ihn erfahren“, so Grada Ferreira (2003, 151), „ist eine Weise, eine andere ‚Wahrheit‘ zu erfinden, in der die Schwarze Perspektive nicht existent ist.“ Im Folgenden möchte ich nun etwas konkreter werden und aufzeigen, was es mei ner Ansicht nach für eine pädagogische Praxis braucht, die Rassismus und Rassismuserfahrungen ernst nimmt, die zum einen Unterscheidungspraktiken, die an rassistisches Erklärungswissen anschließen und stereotypisierende Bedeutungskonstruktionen bemühen, möglichst verhindert und zum anderen das Sprechen über Rassismus und Rassismuserfahrungen möglichst ermöglicht.10 Deutliche Positionierung gegen Rassismus Pädagoginnen und Pädagogen, aber auch pädagogische Einrichtungen und Institutionen sind grundsätzlich dazu angehalten, sich deutlich gegen Rassismus zu positionieren und Jugendlichen, die von Rassismus potenziell betroffen sind, so ihre 9

Melter führt dies auf das mangelnde Interesse und Nachfragen sowie auf Abwehr und Bagatellisierung von Rassismuserfahrungen durch Pädagogen und Pädagoginnen zurück (vgl. Melter 2006, 295f.).

10 Antirassistische und rassismuskritische pädagogische Ansätze werden seit einigen Jahren entwickelt und diskutiert (vgl. z.B. DGB-Bildungswerk Thüringen e.V. 2003; Mecheril 2004, 200ff.; Elverich/Kalpaka/Reindlmeier 2006; Scharathow/Leiprecht 2009).

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diesbezügliche Parteilichkeit und Anwaltschaft bzw. Unterstützung zu signalisieren. In der Praxis bedeutet eine solche deutliche Positionierung etwa, aufmerksam, kritisch und widerständig gegenüber Gesetzen, Vorgaben, Abläufen, Strukturen, Äußerungen, Erklärungen, Argumentationen, Legitimationen und Begründungen zu sein, die Binaritäten reproduzieren und auf (rassistische) Unterscheidungsmuster und entsprechende Bedeutungskonstruktionen zurückgreifen und hier intervenierend zu agieren. Dies ist es auch, was Jugendliche in der vorliegenden Untersu chung mehrfach als Wunsch geäußert haben: Sie wünschen sich Lehrerinnen und Lehrer – aber auch Mitschülerinnen und Mitschüler –, die nicht die Akteure und Akteurinnen rassistischer Zuschreibungen und Ausgrenzungen sind, sondern sie vor Rassismuserfahrungen schützen, sie unterstützen und sie ernst nehmen. Ein rassismuskritisches und ein dementsprechend intervenierendes Auftreten ist ein elementarer Bestandteil des notwendigen Schaffens von Voraussetzungen, die sowohl Kritik an binären Zugehörigkeitsregimen, an Praktiken des Othering und der Ausgrenzung erlauben als auch Selbstpositionierungen und -beschreibungen jenseits von Entweder-Oder-Binaritäten zulassen. Von entscheidender Bedeutung für die Möglichkeit der Einnahme einer solchen rassismuskritischen Perspektive und eines entsprechenden konsequenten interventionistischen pädagogischen Handelns sowie der Etablierung von institutionellen Strukturen, die zum einen einer rassistischen Realität entgegenwirken und zum anderen ein (gemeinsames) widerständiges Handeln und Sprechen über Rassismus und Rassismuserfahrungen befördern, sind sowohl theoretisches Wissen über Rassismus als auch eine diesbezügliche Reflexionsfähigkeit. Das bedeutet, dass Pädagoginnen und Pädagogen dazu angehalten sind, ihr Wissen über Rassismus mit unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten und alltäglichen Kontexten und Situationen zusammen zu denken und in Handeln umzusetzen. Wissen über Rassismus Grundlegend ist damit die Aneignung eines differenzierten theoretischen Wissens über Rassismus/Rassismuserfahrungen, das Pädagoginnen und Pädagogen in die Lage versetzt, auch subtile und latente Spielarten von Rassismus sowie grundlegende Mechanismen, wie die häufig selbstverständlich anmutende Unterscheidung in ein ‚Wir‘ und ein ‚Nicht-Wir‘, auch in alltäglichen und normalisierten rhetorischen Handlungen, wie etwa als Teil einer jugendkulturellen ‚Spaßpraxis‘ oder in harmlos erscheinenden Fragen im Unterricht, als illegitime, potenziell verletzende und ausgrenzende Praktiken zu identifizieren. Ein solches theoretisches Wissen über Rassismus, das hilft, Rassismus im pädagogischen Alltag zu erkennen, dient nicht nur einer verbesserten Aufmerksamkeit gegenüber Handlungen auf interaktionaler Ebene. Auch diskursive, strukturelle und institutionelle Formen von Diskriminierung geraten so als – auch für pädagogische Kontexte – relevante Manifestationen von

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Rassismus in den Blick. Das bedeutet, dass neben dem notwendigen theoretischen Wissen über Rassismus auch ein Wissen um aktuelle Debatten und Diskurse, über Diskriminierung im Bildungssystem und in der Schule sowie Kenntnisse zu Staatsbürgerschafts- und Aufenthaltsrecht vorhanden sein sollte. Diese Formen der Diskriminierung gilt es als für Jugendliche und ihre Lebenswelten potenziell relevant zu berücksichtigen. Sie manifestieren sich in ihrem Alltag u.a. als Zuschreibungen, die an aktuelle Debatten anschließen, als Chancenungleichheit in der Schule, als Optionszwang, der nach derzeitigem Recht auf einige Jugendliche zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr zukommt, und als Privilegierungen/Deprivilegierungen in sozialen und gesellschaftlichen Kontexten bzw., allgemein gesprochen, als Rassismuserfahrungen. Um ein solches Wissen über Rassismus als Teil pädagogisch notwendigen Wissens gewährleisten zu können, ist es dringend erforderlich, dass die Vermittlung von theoretischem Wissen über Rassismus, aber auch zu Ergebnissen aus der Rassismusforschung, zum grundständigen Bestandteil der pädagogischen sowie der Lehrer- und Lehrerinnenausbildung wird. Darüber hinaus sollte nicht nur die kontinuierliche Möglichkeit zur Fort- und Weiterbildung in diesem Bereich bestehen, sondern die Teilnahme an solchen Angeboten auch von Arbeitgeberinnen und -gebern gewollt und gefördert werden. (Selbst-)Reflexivität Neben dem Erarbeiten von Wissen zu Rassismus sind Pädagoginnen und Pädagogen, wie bereits erwähnt, vor allem dazu angehalten, eine Reflexivität auszubilden, die sich verbindend sowohl auf ihr Wissen als auch auf die Lebenswelten von Jugendlichen bezieht, darüber hinaus aber auch konkrete Konstellationen in pädagogischen Einrichtungen (bspw. der Schule, dem Klassenraum, dem Jugendzentrum) und Situationen in den Blick nimmt. Dies ist es, was ich weiter oben als eine auch für die pädagogische Praxis sinnvolle analytische Perspektive markiert habe, die kontextbezogen sowohl die beteiligten Subjekte als auch gesellschaftliche und soziale (Macht-)Verhältnisse berücksichtigt. Auf diese Weise wird es sowohl möglich, jeweils konkret nach möglichen ausgrenzenden und benachteiligenden Effekten, etwa von verbalen Äußerungen oder didaktischen Konzeptionen, zu fragen, als auch die Beschaffenheit der jeweiligen Möglichkeitsräume unter die Lupe zu nehmen, die das Problematisieren benachteiligender und ausgrenzender Erfahrungen ermöglichen sollen. Zu einer solchen analytischen Aufmerksamkeit und Reflexivität gehört die Berücksichtigung verschiedener Differenzverhältnisse und ihres möglichen Zusammenwirkens in konkreten Situationen. Auch wenn in der vorliegenden Untersuchung Rassismus als subjektiv relevant werdendes Ungleichheitsverhältnis fokussiert wird, so gilt es doch, immer auch aufmerksam gegenüber den möglichen intersektionalen Verschränkungen verschiedener Differenzkonstruktionen zu sein; so

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etwa gegenüber dem Auftreten gegenderter rassistischer Zuschreibungen oder der Verknüpfung dieser mit Zuschreibungen, die auf soziale Schicht Bezug nehmen. Für pädagogisches Handeln und Intervenieren bedeutet dies, Fragen an die konkrete Situationen zu stellen: Welche Differenzen und Bedeutungskonstruktionen sind in diesem Kontext gerade warum für wen in welcher Weise relevant? Beispielsweise auch: Inwiefern beeinflussen spezifische Männlichkeitskonstruktionen in dieser Situation möglicherweise das Sprechen über Erfahrungen? Immanenter und zentraler Bestandteil einer solchen Reflexionsfähigkeit ist es, die eigene Person immer als Teil dieser Konstellationen und als involviert in von Macht durchzogene Ungleichheitsverhältnisse zu begreifen und mitzudenken. Zwangsläufig gehört dazu auch die reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen sozialen Positionierungen und Involviertheiten in privilegierenden und deprivilegierenden Differenzverhältnissen. Dies beinhaltet auch ein Nachdenken über die Wirksamkeiten, Bedeutungen und Konsequenzen, die die eigenen sozialen Positionierungen in konkreten Situationen möglicherweise entfalten. So ließe sich diesbezüglich, und insbesondere im Hinblick auf Pädagoginnen und Pädagogen, die selbst keine Rassismuserfahrungen machen, etwa die Frage stellen, welche Erfahrungen ernst genommen werden, welche nicht und warum das so ist. Gibt es den Reflex, Rassismuserfahrungen abzuwehren, zu bagatellisieren und zu negieren? Besteht die Angst vor einem Rassismusvorwurf? Und was hat das mit der eigenen Position im rassistisch strukturierten gesellschaftlichen Gefüge zu tun? Wesentlich ist im Zusammenhang mit der hier geforderten Reflexivität auch das Infragestellen der eigenen normalisierten Perspektiven auf soziale Wirklichkeit. Insbesondere, wenn es sich um Perspektiven handelt, die im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse dominant sind, erscheinen diese oftmals als selbstverständlich und tendieren in dieser Normalisierung des eigenen Blickes dazu, andere, insbesondere marginalisierte Perspektiven und subjektive Bedeutsamkeiten zu verkennen. Angesichts dessen gilt es, eigene Deutungen selbstkritisch immer auch auf potenziell homogenisierende, essentialisierende und reduktionistische Inhalte zu befragen und über etwaige alternative Interpretationen und Perspektiven nachzudenken. Auch die Verschiebung von Aufmerksamkeitsrichtungen geht mit diesem Punkt einher: So ist es relevant, den Blick statt allein auf die Intentionen einer Handlung vor allem auf ihre möglichen Effekte zu richten: Inwiefern evoziert etwa eine Perspektive auf Jugendliche als ‚ethnisch Andere‘ Handlungsweisen, welche diese Jugendlichen als ‚Andere‘ hervorbringen und auf diese Weise ausgrenzen? Ergänzend ist zudem festzuhalten, dass vor dem Hintergrund dieser Ausführungen nicht nur individuelle Handlungsweisen, sondern auch Strukturen – etwa jene, in die das pädagogische Handeln eingebettet ist – hinsichtlich ihrer Funktionen und ihres Beitrags zur (Re-)Produktion ‚Anderer‘, ungleicher Verhältnisse und Möglichkeiten zu befragen sind.

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Mit Blick auf die Etablierung von rassismuskritischen Kontexten, die das Sprechen über Rassismus und Rassismuserfahrungen rahmen sollen, bedeuten diese Überlegungen zu sozialen Positionierungen auch, dass bereits die Kommunikation über Rassismus in einer Gesellschaft, für die die Unterscheidung in Dazugehörig und Nicht-Dazugehörig konstitutiv ist, immer auch von Ungleichheitsverhältnissen und also auch – insbesondere in der Konstellation ‚Andere‘ – ‚Nicht-Andere‘ – durch Rassismus strukturiert ist. Das bedeutet, dass Rassismus, ebenso wie andere Differenzverhältnisse, nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Kommunikation strukturierender Faktor Aufmerksamkeit erfahren muss, wenn es um das Sprechen über Zugehörigkeiten und Zugehörigkeitserfahrungen, Zuschreibungen und Zuschreibungserfahrungen sowie Rassismus und Rassismuserfahrungen geht. Rassismuskritische Möglichkeits-, Kommunikations- und Erfahrungsräume Auf einer solchen reflexiven Grundlage und in dem Wissen darum, dass das Sprechen über Rassismus immer auch Gefahr läuft, ungleiche Verhältnisse zu reproduzieren, ist es dann möglich, pädagogische Rahmungen und Kontexte zu etablieren, die ein rassismuskritisches Thematisieren von Rassismus und Rassismuserfahrungen mit Jugendlichen zulassen. Auf einer kognitiven Ebene gilt es hier, in einer Art und Weise über Rassismus zu sprechen, die nicht einen verkürzten und moralisierenden Zugang zum Thema wählt, sondern es Jugendlichen ermöglicht, ihre Perspektiven auf Rassismus zu erweitern, Unsicherheiten abzubauen und sich ein differenziertes Wissen zu Rassismus anzueignen. In diesem Zuge lassen sich Bedeutungsverschiebungen aufbauen, die es ermöglichen, nicht nur rechte Gewalt und intentionale Abwertungen und Ausgrenzungen als Rassismus zu identifizieren und zu benennen, sondern auch subtile, sozial normalisierte Praktiken rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung. Ein sozialer Kontext, in dem ein erweitertes, differenziertes Verständnis von Rassismus geteilt wird, erleichtert das rassismuskritische Sprechen über Rassismus. Für die Thematisierung und Problematisierung von Rassismuserfahrungen stellt dies, die selbstsichere und auch von außen ‚legitimierte‘ Identifikation sozialer Praktiken als (potenziell) ausgrenzend, rassistisch und illegitim, wie in der Auswertung der Daten zu sehen war, einen zentralen Aspekt dar. Wenn es um die Kommunikation über Rassismuserfahrungen geht, so scheint mir das zentrale Kriterium für ein angemessenes Sprechen zu sein, dass artikulierte Rassismuserfahrungen nicht relativiert, bagatellisiert, umgedeutet und abgewehrt, sondern ernst genommen und als Erfahrungen anerkannt werden. Es geht hier nicht darum – und es kann in Anbetracht der Subjektivität von Erfahrung auch gar nicht darum gehen –, aus einer Außenperspektive heraus darüber zu spekulieren, ob diese Erfahrung gerechtfertigt ist oder nicht. Dies impliziert auch, dass die Aufmerksamkeit nicht zuvorderst den Intentionen jener Akteure und Akteurinnen gelten sollte, die mit ihrem Handeln oder ihren institutionalisierten Strukturen Rassismuserfah-

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rungen hervorbringen, sondern ihren Effekten. Räume, die die Auseinandersetzung mit Rassismuserfahrungen ermöglichen sollen, müssen so organisiert sein, dass subjektive Gefühle und Empfindungen, auch ohne dass die Frage nach solchen Intentionen und Motivationen zuvor beantwortet wird, geäußert werden können und ihre Berechtigung haben. Mit der Anerkennung und dem Ernstnehmen von Rassismuserfahrungen verbunden ist auch die Anerkennung von rassistisch strukturierten Ungleichheitsverhältnissen und Zugehörigkeitsordnungen sowie ihren Manifestationen als machtvoll, potenziell bedrohlich und verletzend wirkend; und, darüber hinaus und von zentraler Wichtigkeit, auch die Anerkennung und das Ernstnehmen jener Personen, die von Rassismuserfahrungen berichten. Mecheril hat hier als Leitsatz, an dem sich pädagogisches Handeln in Bezug auf Rassismuserfahrungen orientieren sollte, formuliert: „Niemand kokettiert mit der Opfer-Rolle“ (Mecheril 2005, 465). Die Forderung, die subjektiven Erfahrungen, Bedeutungen und Perspektiven jener, die Rassismus erfahren, zum Ausgangspunkt einer angemessenen Kommunikation über Rassismuserfahrungen zu nehmen, geht allerdings auch mit mindestens zwei Herausforderungen einher: Zum einen kann weder davon ausgegangen werden, dass Rassismuserfahrungen noch, dass die tatsächlichen Bedeutsamkeiten, die gemachte Erfahrungen für Einzelne haben, immer auch offen und direkt artikuliert und mitgeteilt werden (können). Denn das Thematisieren von Rassismuserfahrung ist, wie zu sehen war, risikoreich und herausfordernd. Daher bedarf es neben der Etablierung von rassismuskritischen pädagogischen Räumen, die das Kommunizieren über Zugehörigkeitsverständnisse und Rassismus sowie das Artikulieren und Problematisieren von Rassismuserfahrungen unterstützen, zudem einer Sensibilität auch gegenüber vorsichtigen Andeutungen oder ‚versteckten‘ Äußerungen, die auf Rassismuserfahrungen verweisen, wie etwa ironisierten oder als ‚Spaß‘ verpackten Anklagen, die, wie zu sehen war, mitunter bereits eine Kraftanstrengung und Überwindung, ein mutiges Unterfangen darstellen. Zum anderen stellt das komplette Ausblenden der Frage nach Intentionen und Motiven, so problematisch sie auch ist, in mehrfacher Hinsicht keine gute Option dar, wenn es um das Thematisieren von Rassismuserfahrungen geht; und so besteht eine zweite Herausforderung darin, beides zu thematisieren, ohne dass dabei Rassismuserfahrungen relativiert, bagatellisiert und abgewehrt werden, ohne dass dabei die grundlegend wichtige Anerkennung der Erfahrung ausgehebelt wird. So konnte in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeitet werden, dass insbesondere in Situationen, in denen Rassismuserfahrungen vor dem Hintergrund vermeintlich ‚guter‘ sozialer Beziehungen und in relevanten sozialen Zusammenhängen, wie etwa der Schulklasse, gemacht werden, für Jugendliche, die Rassismuserfahrungen machen, die Frage nach den Intentionen zwar ambivalent, aber gleichfalls auch relevant ist: etwa, wenn es um das Einschätzen der sozialen Beziehungen und der eige -

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nen Zugehörigkeitsposition in diesen geht. Wichtiger erscheint mir darüber hinaus jedoch, dass, wenn es das Ziel pädagogischen Handelns ist, rassistischen Realitäten entgegenzuwirken und Rassismus als ein Verhältnis zu thematisieren, in das alle, wenngleich sehr unterschiedlich, involviert sind, auch jene in die Auseinandersetzung mit Rassismus und Rassismuserfahrungen einbezogen werden müssen, deren Handlungen ungewollt zu rassistischen Effekten führen. Dabei darf mit der Identifizierung von Handlungspraktiken als rassistisch in pädagogischen Kontexten, die sich dies zum Ziel setzen, nicht automatisch eine ‚Entlarvung‘ der Handelnden als Rassisten einhergehen, sondern diese sollten auch in ihrer ‚Nicht-Intention‘ ernst genommen werden. Unter diesen Prämissen bietet meines Erachtens eine Konzentration auf die Effekte von Handlungsweisen eine aussichtsreichere Grundlage für eine rassismuskritische Intervention als die Strategie des Entlarvens. Der kommunikative Rahmen, in dem über solche Effekte nachgedacht und gesprochen wird, sollte dabei von der Einsicht getragen sein, dass es schwierig ist, in dieser Gesellschaft nicht rassistisch zu sein, um es in Anlehnung an Kalpaka und Räthzel (1994/1986) zu formulieren. Das hier deutlich werdende Spannungsverhältnis, in dem es zu balancieren gilt, zeichnet sich also dadurch aus, in diesem Zusammenhang weder Rassismuserfahrungen, Gefühle und etwaige Verletztheiten zu relativieren und zu bagatellisieren noch jene Personen oder Institutionen, die durch ihr Handeln, wenngleich ungewollt, rassistische Effekte produzieren, von ihrer Verantwortlichkeit für diese freizusprechen. Verantwortung übernehmen wiederum bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur, dies oder jenes nicht wieder zu tun oder zu sagen oder sich für ‚Un gewolltes‘ zu entschuldigen. Verantwortung übernehmen bedeutet hier vielmehr das Reflektieren der eigenen Einbindung in ungleiche Verhältnisse und das damit einhergehende Hinterfragen und Vervielfältigen von sozialen Bedeutungskonstruktionen, Perspektivitäten, vermeintlichen Normalitäten und Selbstverständlichkeiten, wie ich es oben auch als (selbst-)reflexive Anforderung an Pädagogen und Pädagoginnen beschrieben habe. Hier geht es auch um das Einüben von Sensibilität für die möglichen Effekte des eigenen Handelns vor dem Hintergrund von diskursiv dominanten Bedeutungskonstruktionen, gesellschaftlichen und sozial-nahräumlichen Ungleichheitsverhältnissen und unterschiedlichen Positionierungen in diesen Verhältnissen. Dazu kann (gemeinsam) etwa folgenden Fragen nachgegangen werden: Welche diskursiven, gesellschaftlichen und sozial-nahräumlichen Verhältnisse ermöglichen es, dass Rassismuserfahrungen gemacht werden – und zwar auch dann, wenn keine degradierende Absicht hinter Handlungen steckt? Welche Deutungsund Erklärungsmuster stehen Menschen angesichts sich stetig wiederholender Erfahrungen mit verweigerter Zugehörigkeit, stereotypisierenden Zuschreibungen und Benachteiligung auf unterschiedlichen Ebenen zur Interpretation von Situationen

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bereit? Wer entscheidet darüber, ob Gesagtes oder Getanes verletzend, abwertend und ausgrenzend ist? Zwar braucht es an dieser Stelle notwendigerweise einen Blick, der sich den Kontexten zuwendet, in denen Subjekte sich bewegen und Erfahrungen machen, und die Einfluss nehmen auf ihr Erklärungs- und Deutungswissen, ihre Empfindungen und ihr Handeln sowie ihre Möglichkeitsräume. Jedoch ist in einer solchen Perspektive unbedingt auch darauf zu achten, Jugendliche, die Rassismuserfahrungen machen, nicht einseitig zu reduzieren oder in eine ‚Opferrolle‘ zu manövrieren, sondern sie als handelnde Subjekte in spezifischen Möglichkeitsräumen anzusprechen, die mit vielfältigen Identitätsaspekten umgehen. Auch ihre Widersprüchlichkeiten und ambivalenten Handlungsweisen gilt es daher zu thematisieren. Dazu gehören Deutungs- und Umgangsweisen in Bezug auf Rassismuserfahrungen, die an zentrale Logiken von Rassismus anschließen und diese so reproduzieren, wie etwa binäre Kategorisierungen, Homogenisierungen und Zuschreibungen. Aber auch eigenes diskriminierendes Handeln oder erkennbare abwertende Einstellungen, die auf andere Differenzverhältnisse Bezug nehmen, dürfen nicht ignoriert werden. Unter Berücksichtigung der beschriebenen Anforderungen, ist es also Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen, pädagogische Räume so zu gestalten, 11 dass Jugendliche als handlungsfähige, in Verhältnisse ambivalent involvierte Subjekte mit eigenen Belangen ernst genommen werden und ihnen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, die sie nutzen können, um ihren ‚Suchbewegungen‘ in einem vertrauensvollen und begleiteten Setting nachzugehen. Darüber hinaus müssen diese kommunikativen Orte es ermöglichen und dazu ermuntern, (Rassismus-)Erfahrungen, Meinungen und Selbstpräsentationen – insbesondere solche, die sich binären entweder-oder-Schemata verweigern – zu artikulieren und zu besprechen. Auf diese Weise können Reflexionsprozesse angeregt werden, die z.B. auch helfen, Zusammenhänge, Widersprüchlichkeiten oder Ambivalenzen zu erkennen und Möglichkeitsräume und Handlungsoptionen zu erkunden. Die vorliegende Untersuchung hat deutlich gemacht, wie notwendig Gelegenheiten sind, die es Jugendlichen, die als ‚Andere‘ markiert werden, ermöglichen, sich untereinander über Erfahrungen mit Diskriminierung sowie über Umgangsund Handlungsmöglichkeiten auszutauschen. Dies ernst zu nehmen bedeutet auch, dass Zusammenschlüsse von Jugendlichen, beispielsweise an sogenannten „Black Tables“, pädagogisch nicht zu sanktionieren, sondern – unter bestimmten Voraussetzungen – sogar zu fördern sind (vgl. Tatum 2003, 71ff.). Darüber hinaus verweisen die Ergebnisse, die vielfach auch Intersektionalitäten widerspiegeln, darauf, dass es 11 Vgl. zum theoretischen Verständnis sowie zu Funktionen und Möglichkeiten pädagogi scher Räume als Reflexionsräume in rassismuskritischer Perspektive und der Beschreibung und Reflexion eines konkreten Umsetzungsversuches die Erläuterungen zur Konzeption der Forschungswerkstatt in Kapitel IV 2.1.

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überaus sinnvoll ist, solche Räume auch als genderreflexive Räume zur Verfügung zu stellen, u.a. weil in einer Vielzahl der rassistischen Erfahrungen der Differenzkategorie Gender eine bedeutsame Rolle zukommt und der Austausch in entsprechenden Gruppen für die Jugendlichen, die an der vorliegenden Studie partizipiert haben, subjektiv relevant war. In solchen, in Bezug auf Rassismuserfahrungen ‚homogenisierten‘ Settings geht es neben Reflexionsprozessen ganz wesentlich auch um Solidarisierung und Empowermenteffekte, die mit dem Teilen, der Anerkennung, der ernsthaften Diskussion und dem Bestätigen von Erfahrungen einhergehen. Auf diese Weise wird nicht nur der Individualisierung und Vereinzelung entgegengewirkt, sondern auch gegenseitige Unterstützung gefördert. Ein gemeinsames politisiertes Handeln gegen Rassismus kann eine Folge solcher Prozesse sein.

4 S CHLUSSBEMERKUNG Jugendliche, die in Deutschland Rassismuserfahrungen machen müssen, sind gewiss nicht zu handlungsunfähigen Opfern der Verhältnisse zu erklären. Dies sind sie keineswegs, wie in der vorliegenden Forschungsarbeit deutlich zum Ausdruck kam. Sie handeln – wenngleich, in Bezug auf Rassismus, in begrenzten und risikoreichen Möglichkeitsräumen. Und sie handeln als Subjekte, die in rassistisch strukturierte gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, öffentliche Diskurse und soziale Beziehungen auf vielfältige Weise involviert sind: widerständig, unsicher, taktisch klug und mutig, aber auch widersprüchlich und mitunter kontraproduktiv. Rassismuskritische Pädagogik und rassismuskritische Forschung haben sich nicht zuletzt auch diesen Verhältnissen und Kontexten, die Handlungsmöglichkeiten und Lebenswirklichkeiten von vielen Menschen in Deutschland entscheidend mitbestimmen, mit der Absicht ihrer Veränderung zuzuwenden. Ich habe zu Beginn der vorliegenden Arbeit formuliert, dass es mein Anliegen sei, mit dieser Kritik an rassistischen Verhältnissen zu üben und ein Wissen bereitzustellen, das es ermöglicht, Ungleichheitsverhältnisse zu hinterfragen und ins Wanken zu bringen. Ich hoffe, dies ist gelungen.

Epilog

Das Schlusswort zu dieser Arbeit sollen die Jugendlichen haben. Unkommentiert finden sich diese Arbeit abschließend die, wie ich finde, vielsagenden und eindrücklichen Antworten von Milot, Amina, Samir, Jamil, Nesrin, Rima, Qerim und Filiz auf die Frage nach ihren Wünschen und Utopien, die ich ihnen am Ende unserer Gespräche im Einzelinterview jeweils stellte: „Wenn du irgendwas ändern könntest, hier in der Gesellschaft, was wäre das?“

Milot: „Wenn ich irgendwas ändern könnte .. Ja, es wäre schon geil, wenn wir halt alle so zusammengehören würden so. Dass man halt nicht immer sagt so, dass man so einteilt so, nur weil jetzt zum Beispiel ein paar Ausländer Scheiße bauen, dass die dann- dass man halt immer sagt: ‚Oh, die Ausländer und so.‘ Obwohl die vielleicht auch einen deutschen Pass haben oder so was. Aber wenn man halt immer trotzdem sagt: ‚Die Ausländer‘, also ‚die Migranten‘ oder so was keine Ahnung. Also, weil das halt, so was, das stört halt jeden so. Dann sagen die Deutschen halt: ‚Ah, immer die Ausländer‘ und die Ausländer sagen immer: ‚Ah, die Kartoffeln‘ und so und ja, dann führt das ja immer irgendwie zu Streitigkeiten so. Also so was, wenn das ginge, würde ich das sofort ändern, weil das fuckt selber total voll ab so, weil man kriegt das halt täglich mit so. Eigentlich beinahe täglich so: ‚Hast du schon gehört was der ge macht hat? Dieser blöde Ausländer?‘ und so, dies und das, erzählt man halt eigentlich fast so. Wenn man das halt so ändern könnte, weil es ist ja jetzt nicht so, dass nur Ausländer Scheiße bauen oder so was, dass die deutschen Kinder ja auch Scheiße bauen. Keinen Plan. Und wenn ich noch was ändern könnte, ja wär halt so das, diese Sachen so. Zum Beispiel, es gibt ja Leu te so, die die dürfen halt nicht nach Deutschland kommen und so was und, also ich würde das gut finden, wenn man in Europa oder so so was halt macht, dass man halt überall hin kann und so. Ich weiß nicht, ist ja sinnlos, dass ich zum Beispiel, wenn mein Onkel oder so was mich besuchen will hier in Deutschland, dass er das nicht kann oder mein Opa, den ich halt

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nur einmal im Jahr sehe und der halt schon ziemlich alt ist und so was. Dass man extra immer ein Visum haben muss und dafür so viel Geld bezahlen muss und so was. Das wollte ich schon immer mal ändern, auch als ich klein war. Weil früher, als ich halt keinen deutschen Pass hatte, konnte ich nicht nach Y-Land. Das war- Damals wollte ich das schon immer än dern, so. Nur es hat halt nicht jeder einen deutschen Pass, der dann halt dahin kann oder so was. Also das hat jetzt nicht unbedingt was mit Diskriminierung zu tun, aber-“ (IM, 349).

Nesrin: „Zusammenhalt. Sei es, auch wenn Maike jetzt nicht hier ist Zigeuners [Maike ist die Leiterin des Jugendtreffs. Das Wort ‚Zigeuner‘ ist dort streng verboten und wird mit Liegestützen ge ahndet, W.S.], sei es Penners, sei es Deutsche, sei es Ausländer, sei es was weiß ich was. Das sind alles Menschen, die haben keinen Unterschied, finde ich. Also, Deutsche haben keinen Unterschied mit Ausländer, das heißt jetzt nicht vom Charakter her, aber das sind halt auch Menschen. Einfach zusammenhalten, egal was ist. .. Politik, da machen die doch auch so, Deutsche auf eine Seite, Ausländer auf eine Seite, den die auf eine Seite, dass die halt alle zu sammenhalten, dass sie sagen- ja, dass Deutsche sagen: ‚Ja, aber Ausländer sind doch auch Menschen, man muss denen doch auch helfen‘ und dass Ausländer sagen: ‚Ja, aber Deutschedas ist nicht fair, dass Deutsche so und so behandelt werden‘. Einfach zusammenhalten, was ich auch in der Klasse viel gewünscht habe, .. weil, sobald man zusammenhält, kann gar nichts irgendwie euch auseinanderbringen oder so, dann ist man viel viel viel viel stärker als, was weiß ich als was, als ein Tornado oder sonst was. Also, meiner Meinung nach. Aber so was gibt es halt nicht, ne.“ (IN, 327)

Samir: „Ja, dass Leute Vorurteile haben gegenüber Anderen. Am besten würde ich in deren Kopf oder Gehirn ein bisschen rumschrauben so, dass da, dass da gar nicht erst der Gedanke kommt: ‚Ja, die Person ist schlecht‘, obwohl ich die noch nicht kenne oder so. Ja, das auf jeden Fall und .. Ja … Ja oder jetzt, wenn irgendwo, keine Ahnung, jemand beleidigt wird oder so, ich meine erst mal in dem Kopf von dem Anderen da: ‚Warum beleidigt der überhaupt?‘ Vielleicht ein bisschen verdrehen seinen Kopf, warum er so was tut. Aber falls es halt nicht anders geht, ist er trotzdem beleidigt. Bei dem anderen vielleicht irgendwie ihn dazu bringen, dass er gar nicht erst darauf antwortet oder nicht dass er gleich sofort zuschlägt oder so, dass er lieber diesen Problemen aus dem Weg geht. Ja. Ist auf jeden Fall irgendwie Probleme lösen, gar nicht erst dazu kommen lassen. Gar nicht erst beleidigen oder diskriminieren oder auch die Sache mit diesen Jungs, wo ich unterwegs war mit denen. Am besten, dass er so was gar nicht sagt anstatt zu sagen: ‚Oh man, der tut mir voll Leid‘ und so, so was. Ja, dass er so was sagt anstatt, keine Ahnung irgendwie, den auslacht oder so. So was auf jeden Fall.“ (IS, 274)

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Filiz: „Dass die Leute einfach () dass die Leute einfach die anderen so akzeptieren, wie sie sind, da mit wäre Diskriminierung eigentlich komplett weg. Haarfarbe, Herkunft, Aussehen, dies das und alles Mögliche. Also ich finde das muss nicht sein, ich meine würde jeder gleich aussehen, dann wäre das ja auch irgendwo langweilig ne. Deswegen also, wenn man irgendwas ändern könnte dann das. .. Und Krieg und so ne, das auch noch .. Aber das entsteht ja auch irgendwo durch Diskriminierung, Krieg ..“ (IF, 256)

Qerim: „Dass die Politik also nicht gegen uns wäre. Wenn die nicht so was schreiben würden wäre das eigentlich ganz anders. Weil die müssen ja nicht immer ‚ausländische Jugendliche‘ schreiben, das reicht wenn die nur Jugendliche hinschreiben. Das sind ja auch nur Jugendliche, ist doch egal ob wir aus einem anderen Land kommen oder nicht. Ja. [Interviewerin: Und ist das die Politik, die das schreibt?] Ja, weiß ich nicht. Die Politik hat eh irgendwas mit den Medien so am- die haben eh was am Hut zusammen und so. Also ich glaube schon, dass das mit der Politik mit zu tun hat .. Ja.“ (IQ, 300-302)

Amina: „Wenn ich es jetzt so darauf bezogen, ich würde jetzt schon irgendwie wollen, dass Politik und Religion, auch wenn ich schon gläubig bin, dass es alles nicht geben würde. Dass es alle so- Oder, ich weiß nicht, ist auch doof, wenn die alle gleiche Meinung haben, oder überhaupt, dass die diese Einsicht haben, dass es nicht wichtig ist. Dass die das nicht so hochpuschen. Dass Politik so hochgepuscht wird, dass Religion immer so hochgepuscht wird, dass es immer so wichtig ist für alle. Und dadurch dann andere immer so Kriege entstehen und so was halt. Dass es nicht so wichtig dargestellt wir- sein soll, wie es wirklich jetzt wird. [Interviewe rin: Was meinst du mit Politik?] Ja, ist ja auch meistens auch so Politik so, was die Politiker immer so sagen, ist auch immer wichtig. Und überhaupt so, ich weiß nicht, Politik ist auch so ein Thema, wo ich eigentlich total gegen bin, weil ich finde, dadurch entstehen auch die meis ten Probleme. Auch wenn die versuchen, ja, so dass Mit- das Leben miteinander zu erleich tern, oder so durch Regeln oder wie auch immer, dadurch wirds- ich finde, machen die es eigentlich schlechter. Weil die nie genau- .. Keiner kann eine Person dann genau einschätzen, weil jeder anders ist. Und die Politiker versuchen das immer so einzuteilen. Ja dies- .. Ich weiß nicht, .. Ich find Politik- Ich mag Politik nicht.“ (lacht, Interviewerin lacht mit) (IA, 494-496)

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Jamil: „Ja, Toleranz und nicht immer- Sich mal hinzusetzen und, einfach nicht- keinen Blödsinn zu machen und nichts sozusagen. Zum Beispiel diese ein paar die, die sozusagen den Ruf von Ausländern schlecht machen, und zum Beispiel wenn in den Nachrichten, da hat ja so der eine, der vorgeschlagen hat jeder Moslem stellt sich auf und geht nach Israel, und wir werden den Krieg nicht aufhören. Das hat doch dieser Hisbollah-Anführer gesagt in Palästina. Und jeder Islamist und was weiß ich was. Und das finde ich ja ziemlich blöd, die so ja, er stellt die Religion als Kriegsreligion dar und das stimmt doch gar nicht. Die Religion ist eher wohl, mehr wohl was Friedliches, anstatt was, womit man Krieg führen sollte. Und das finde ich ziemlich blöd und deswegen würde ich das ziemlich gerne ändern, dass man- dass die, die andere Religionen haben zwar Toleranz haben, aber jetzt nichts- Ja, die haben zwar Toleranz und so, dass sie sagen könnten, ja, zum Beispiel wenn einer sagt: ‚Nee, ich höre diese Musik nicht, das heißt jüdische Musik oder so‘ und dann sagt der und dann hatte er keine Toleranz. Man sollte schon für jedes Teil dastehen, aber man sollte es nicht negativ machen und deswegen würde ich das gerne ändern oder das nicht jeder diskriminiert wird. Und so würde ich das sagen.“ (IJ, 198)

Rima: „Es gibt bestimmt was man so einiges ändern könnte, aber .. ich weiß grad nicht. .. Es gibt bestimmt viele Dinge, die man ändern könnte. Vielleicht da, dass es diese Wirtschaftskrise nicht mehr geben würde oder dass arme Leute nicht mehr geben würde oder dass sie genug Geld hätten, genug Essen oder so. Aber wie kann man so was ändern, ist dann die andere Frage. [Interviewerin: Ja das wäre die nächste. Und wenn du an dein Leben denkst, gäbe es da irgendwas was du ändern wollen würdest?] Eigentlich ist mein Leben so verlaufen, wie ich es bis jetzt gestaltet habe. Aber halt diesen einen Punkt damals mit der Grundschule.“ (IR, 391-393)

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Jg. 12, H. (1) Art. 7, 41 Absätze. Online verfügbar unter http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:0114-fqs110171, zuletzt geprüft am 25.07.2011. Winter, Rainer (2009b): Lawrennce Grossberg: Populärkultur und Handlungsfähigkeit. In: Hepp, Andreas/Krotz,Friedrich/Thomas, Tanja (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies. 1. Aufl. Wiesbaden: VS, S. 200-209. Winter, Rainer (2010): Symbolischer Interaktionismus. In: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.): Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: VS, S. 79-93. Witzel, Andreas (1982): Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Überblick und Alternativen. Frankfurt a.M., New York: Campus. Witzel, Andreas (2000): Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum Qualitative Social Research, 1(1), Art. 22 [25 Absätze]. Online verfügbar unter http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1132/2520, zuletzt geprüft am 20.12.2011. Wollrad, Eske (2005): Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion. Königstein/Taunus: Helmer. Wrench, John/Brar, Harbhajan/Martin, Paul (1993): Invisible minorities. Racism in new towns and new contexts. Coventry: Centre for Research in Ethnic Relations, University of Warwick. Zick, Andreas (1997): Vorurteile und Rassismus. Eine sozialpsychologische Analyse. Münster, New York: Waxmann. Zick, Andreas/Küpper, Beate (2009): Rechtsextremismus. Erscheinungsformen, Strategien und Ursachen. In: Beelmann, Andreas/Jonas, Kai J. (Hg.): Diskriminierung und Toleranz. Psychologische Grundlagen und Anwendungsperspektiven. Wiesbaden: VS, S. 283-302.

Transkriptionsregeln

Zeichen , .. ... (lachen) betont () (Diskriminierung?) besondist das nicht auch/finde ich auch/ [Diskothek in der Nähe, W.S.] = Und er so: ‚Na typisch!‘ […]

Bedeutung kurzes Absetzen, sinngemäß eingefügtes Satzzeichen kurze Pause deutliche, längere Pause nicht-sprachliches Ereignis oder Charakterisierung von Sprechweisen besondere Betonung oder Lautstärke unverständlich unsichere Transkription, vermuteter Wortlaut Wortabbruch Satzabbruch gleichzeitiges Sprechen von mir eingefügte Erörterungen ohne Pause direkt anschließend Zitat innerhalb einer Äußerung im Interview Auslassungen im Transkript bei zitierten Passagen

Der besseren Lesbarkeit halber wurde die Sprache zuweilen leicht geglättet: So wurden mitunter Punkte als Inhalte strukturierende und Verständlichkeit unterstützende Zeichen eingefügt und zusammengezogene Wörter ‚entzerrt‘ (aus ‚aufm‘ wird ‚auf dem‘). ‚Mhm‘ als ‚Zuhörsignal‘ sowie ‚ähm‘ und ähnliche ‚Suchlaute‘ wurden nicht transkribiert, sofern sie mir nicht bedeutungsvoll erschienen.

Kultur und soziale Praxis Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland August 2014, ca. 276 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Oktober 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

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Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich Januar 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6

Anamaria Depner Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim

Kristin Pfeifer »Wir sind keine Araber!« Amazighische Identitätskonstruktion in Marokko

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Kerstin Duemmler Symbolische Grenzen Zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch ethnische und religiöse Zuschreibungen

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Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage

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Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild Januar 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6

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